Kommissar X - Der Schwarze Würger von Manhattan von A. F. Morland ISBN: 3-8328-1124-9
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Kommissar X - Der Schwarze Würger von Manhattan von A. F. Morland ISBN: 3-8328-1124-9
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Er spürte, daß er verfolgt wurde, doch wenn er sich umwandte, konnte er niemanden sehen. Eine Gänsehaut überlief ihn. Zum Teufel, bei ihm war nichts zu holen. Seine Taschen hatten Löcher, doch selbst wenn sie zugenäht gewesen wären, hätte sich in ihnen kein einziger Dollar finden lassen. Wo auf der Welt gibt es schon einen Penner, der Geld hat? Howie Benson blieb stehen. Wie ein witterndes Wild zog er die Luft ein. Dabei lauschte er auch. Aber abgesehen von den natürlichen Geräuschen hier im Central Park herrschte eine geradezu bedrückende Stille. Benson fuhr sich mit der Hand über das von grauen Bartstoppeln übersäte Gesicht. Er trug Sandalen. Seine Strümpfe wiesen riesige Löcher auf, die Hosenbeine waren viel zu kurz, bedeckten nur die Hälfte der Waden, und das Hemd hing hinten heraus. Doch Howie Benson fand es nicht der Mühe wert, irgend etwas an seiner schlampigen Erscheinung zu ändern. So hatte ein Penner eben auszusehen. Punktum. Plötzlich stockte dem Mann der Atem. Er hatte das Schleifen von Schuhen vernommen. Nur einen winzigen Augenblick lang. Jetzt war es wieder totenstill. Howie Benson riß den Kopf herum. Wohin er sah: graue Buschwände, die geisterhaft raschelten, wenn der Wind über sie hinwegstrich. Benson versuchte mit seinen Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Stand da nicht jemand im Gebüsch? Stand da und starrte ihn durch die Zweige hindurch an... Benson schluckte trocken. Er war ein Mensch, der mit allen Leuten gut auskam, und er war stolz darauf, daß er nicht nur unter den Pennern Freunde hatte. Er wußte immer was Neues zu erzählen, kam viel in der Stadt herum, hörte dies und jenes. Wenn er manchmal so abgebrannt war, daß er seinen knurrenden Magen partout nicht zum Schweigen bringen konnte, weil weit und breit kein Cent in Sicht war, gab er sich sogar dazu her, für die Bullen Spitzeldienste zu leisten. Unschlüssig blieb er vor einem Gebüsch stehen. Stand da wirklich jemand? Oder bildete er sich das bloß ein. "He, Sie da! Kommen Sie raus!" krächzte Benson unsicher. Nichts tat sich daraufhin. "Hören Sie, was soll das denn werden?" fragte Benson nervös. Er trat einen Schritt näher an den Busch heran und mußte feststellen, daß er mit einem Baum redete, der hinter dem Busch aufragte. Er konnte den Stamm, den er für einen Menschen gehalten hatte, deutlich sehen. Er mußte lachen. "Mann, jetzt fängt der alte Howie Benson an, Gespenster zu sehen. In die Hosen macht er sich vor Angst! Wegen eines dämlichen Baumes!" Grinsend schüttelte er den Kopf. Die Furcht war verflogen. Er atmete erleichtert auf, seine Knie zitterten nicht mehr. Erlöst von dem unangenehmen Alpdruck wandte er sich um. Und dann prallte er mit einem heiseren Schrei zurück... Ein Mann stand vor ihm. Schwarz gekleidet, kaum zu sehen in der Dunkelheit. Er trug schwarze Handschuhe und hatte in seiner Rechten einen schwarzen Totschläger, mit dem er jetzt mitleidlos zuschlug... Copyright 2001 by readersplanet
* Aus Schreck und Furcht wankte Howie Benson einen Schritt zurück. Der Totschläger rasierte sein Ohr und knallte auf seine Schulter. Ein glühender Schmerz durchzuckte den Alten. Mit einem Mal konnte er die Schulter nicht mehr bewegen, sie war vom Schmerz gelähmt. Aufschreiend fuhr er herum. Der Schwarzgekleidete holte zum zweiten Schlag aus. Benson fing an zu rennen. Kalter Angstschweiß stand ihm auf der Stirn. Ein Wahnsinniger! schoß es ihm durch den Kopf. Bei Gott, das muß ein Wahnsinniger sein! Wem würde es sonst einfallen, auf einen armen alten Penner loszugehen? Er muß verrückt sein! Benson lief um sein Leben, aber er lief nicht schnell genug. Der schwarze Killer hetzte mit weiten, kraftvollen Sätzen hinter ihm her. Erneut flog der Totschläger hoch. Diesmal traf er sein Ziel ganz genau. Benson hatte das Gefühl, der Knochen wäre entzweigegangen. Mit verstörter Miene schraubte er sich herum. Und dann wurden seine Knie weich, er sank seufzend zu Boden. Der Kerl warf sich über ihn. Er hatte den Totschläger weggesteckt und fuhr ihm , nun mit seinen schwarzen Händen an die Kehle. Keuchend drückte er zu. Howie Benson versuchte sich verzweifelt zur Wehr zu setzen, aber der Mann war kräftig. Und Howie war von dem Schlag mit dem Totschläger halb bewußtlos. Grelle Kreise tanzten vor den Augen des Penners. Er strampelte mit den Beinen. Sein Gesicht war von einer panischen Angst verzerrt. Er versuchte zu kratzen, zu beißen, zu treten. Nichts fruchtete. Seine Bewegungen wurden sehr schnell unkontrolliert, waren bald nur noch ein knappes Zucken. Schließlich wurde Howie Benson ohnmächtig. Die nächste Stufe ist der Tod, dachte er noch...
* Tina Schwartz war siebzehn. Zu Hause oder im Kreise der Freunde, ja, da riskierte sie die ganz große Lippe. Wenn sie aber dann mit George Utley allein im finsteren Park war, zeigte sie ihr wahres Gesicht und bemühte sich krampfhaft um Ausreden, damit es nicht passierte. "George", sagte sie gerade. Er hatte sie heiß geküßt, und er wollte mehr. Seine harten Hände waren drängend und fordernd. "George, so nimm doch Vernunft an!" keuchte Tina. "Verdammt noch mal, ich laß mich nicht immer von dir aufdrehen und dann nach Hause schicken!" zischte George ärgerlich. "Ich hab's satt, immer stundenlang hinterher kalt duschen zu müssen, Baby. Wir zwei gehören doch zusammen, oder etwa nicht?" "Ja. Ja doch. Natürlich gehören wir zusammen." "Seit Monaten schon." "Ja, George", keuchte Tina und fing gerade noch im letzten Augenblick seine Hand ab, ehe sie unter ihren Rock rutschen konnte. "Alle wissen, daß wir zusammengehören", knurrte George an ihrem Ohr. "Deine und meine Eltern finden es okay, Baby...." "Und sie vertrauen uns", sagte Tina hastig. "Deshalb wäre es ihnen gegenüber nicht fair, wenn wir uns dieses Vertrauens nicht würdig erweisen würden." "Zum Henker, denkst du denn, die rechnen nicht damit, daß es längst passiert ist?" So ging das nun schon wochenlang. Sie kamen immer hierher, setzten sich auf diese Parkbank, die von drei Seiten mit Büschen abgeschirmt war, und wenn George dann so richtig in Fahrt gekommen war, versteckte sich Tina ganz schnell hinter irgendeiner fadenscheinigen Ausrede. Copyright 2001 by readersplanet
"Zum Teufel, heute kommst du nicht mehr ungeschoren davon!" sagte George heiser. In dem Moment, wo es mit ihrem Widerstand langsam, aber sicher zu Ende ging, wo sie sich mit dem Gedanken anfreundete, vom Mädchen zur Frau zu werden, hörten sie beide plötzlich einen angsterfüllten Schrei. George zuckte hoch. Mit großen Augen starrte er sein Mädchen an. "Hast du das auch gehört?" "Ja", hauchte sie, und sie verfluchte denjenigen, der gerade jetzt geschrien hatte. "Ein Überfall!" stieß George nervös hervor. "Ich glaube, da ist einer überfallen worden." Er sprang auf. Tina blickte ihn entgeistert an. "George, was hast du vor?" "Man muß helfen!" keuchte George Utley. "Mädchen, verstehst du denn nicht? Da wird einer ganz in unserer Nähe überfallen und wahrscheinlich ausgeraubt. Morgen oder übermorgen können wir in derselben Lage sein! Dann sind wir froh, wenn jemand den Mut aufbringt, uns zu Hilfe zu kommen." . "Wenn du fortläufst, überfällt während deiner Abwesenheit vielleicht mich jemand!" sagte Tina mit aufgerissenen Augen. "Du kommst mit mir!" entschied Utley. Er streckte seinem Mädchen die Hand entgegen und riß sie mit sich. Sie rannten um das Gebüsch herum. Tina kippte auf dem unebenen Boden immer wieder mit ihren hochhackigen Pumps um. Ihre Knöchel schmerzten. Sie stemmte sich gegen den Zug von George, zog die Schuhe aus und lief in Strümpfen weiter. Und dann sahen sie, was gerade passierte. Dem Mädchen stockte der Atem: George Utley fühlte ein entsetzliches Brennen in der Kehle. Die Szene hätte aus einem spannenden Kriminalfilm mit Horror-Touch stammen können. Dort lag jemand im Gras. Und ein schwarzer Kerl kniete über ihm und war gerade im Begriff, ihn mit seinen Händen zu erwürgen.
* Utley ließ sein Mädchen los. Mit verkanteten Zügen spurtete er auf den Würger zu. Tina Schwartz biß sich zitternd vor Aufregung in die Faust. "George!" stöhnte sie, und das hörte der Killer. Er sah Utley auf sich zukommen und ließ augenblicklich von dem Penner ab. Als George näher kam, sah er, daß der Mörder eine schwarze Strumpfmaske über den Kopf gezogen hatte. Das hauchdünne Nylongewebe verformte sein Gesicht so sehr, daß es kaum wiederzuerkennen sein würde. George legte seinen Mut und sein Herz in die Fäuste. Er warf sich auf den Killer. Seine rechte Faust explodierte an den Rippen des Kerls, während die linke den Kopf des Mannes traf. Zwei Treffer, die der schwarze Kerl ächzend einstecken mußte. Der junge Mann fühlte sich dem Maskierten überlegen, und er wagte etwas zuviel. Er ging zu nahe an seinen schwarzen Gegner heran. Dieser riß blitzschnell sein Knie hoch und traf voll. George stieß einen heiseren Schrei aus. Er japste nach Luft und war kampfunfähig. Beide Hände preßte er auf seinen Unterleib, währender mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie fiel. "George!" schrie Tina. Obwohl sie Angst vor dem schwarzen Kerl hatte, rannte sie los. Der Unbekannte sah die nächste Komplikation auf sich zukommen und gab Fersengeld. Er wandte sieh um und fing an zu laufen. Wenige Augenblicke später hatte ihn die Dunkelheit verschluckt. "George! O Gott, George!" schluchzte Tina. Sie nahm den Kopf des Jungen zwischen ihre Hände. Tränen rollten ihr über die Wangen, während sie sein Gesicht mit unzähligen Küssen bedeckte. "George, ist es sehr schlimm?" Copyright 2001 by readersplanet
Utley biß die Zähne zusammen. Tapfer kämpfte er sich hoch. "Ich bin so stolz auf dich!" sagte Tina. George streckte den Arm aus und drängte sein Mädchen zur Seite. "Was ist mit ihm?" fragte er und wies auf Benson. "Ich weiß es nicht", Tina war heilfroh, daß George wieder auf den Beinen stand. George beugte sich über den Ohnmächtigen. "Ein Penner", sagte er. "Lebt er noch?" "Ja", sagte Utley. "Er hatte verdammt viel Glück, Baby. Wenn wir nicht hier in der Nähe gewesen wären..." "O Himmel, er wäre ermordet worden. George, wer bringt einen Penner um? So einer hat doch kein Geld." "So einer hat gar nichts - außer seinem Leben", sagte George Ut1ey ernst. Der heftige Schmerz in seinem Unterleib ebbte allmählich ab...
* Wilkie Lenning war zweiundzwanzig Jahre alt, schlank, etwa einsvierundsiebzig groß und dunkelblond. Er spielte hervorragend Gitarre, und wenn irgendeine Pop-Größe Wert auf eine gute Studioaufnahme legte, rief er Wilkie an, um ihn zu bitten, bei der Sache mitzumachen. Zwischendurch lieferte Wilkie zu seinem Vergnügen sporadische Auftritte in der Blauen Eule, einem netten Lokal in Greenwich Village. Er hatte da eine Menge Fans, die ganz scharf auf seine Musik waren, und sie kamen immer wieder, wenn er dort spielte. Er spielte alle Beatles-Nummern aus dem Kopf und brauchte auch für die Songs von Gershwin kein Notenblatt. Frenetischer Applaus brandete auf, als Wilkie die Gitarre absetzte. Er saß auf einem Barhocker, der auf einem kleinen Podium stand. Wilkies Fans verlangten lauthals eine Zugabe. Es wäre die siebente gewesen, deshalb lehnte er lächelnd, aber sehr bestimmt, ab. Er begab sich zur Theke und verlangte vom Keeper einen Bourbon mit viel Eis. Zwei Mädchen drängelten sich an ihn heran. Sie hatten sich die Haare der Augenbrauen ausgezupft und statt dessen Brauen mit dem Pinsel gemalt. Ihre langen Wimpern konnten unmöglich echt sein. "Wilkie!" säuselte die eine und räkelte sich dabei mit schlangenhaften Bewegungen. "Wilkie, warum spielst du uns nicht noch was?" "Wir würden dir dafür auch sehr, sehr dankbar sein", flüsterte die andere und feuerte auf Lenning einen Blick ab, der ihn in Brand schießen sollte. "Sally und ich sind ganz verrückt nach Jungs, wie du einer bist. Du brauchst bloß mal mit deinen göttlichen Fingern zu schnippen, und schon begehen wir beide die größte Dummheit." Wilkie trank und sagte dann grinsend. "Mal sehen, Olga. Vielleicht komme ich irgendwann auf euer Angebot zurück." Wilkie wollte noch etwas erwidern, da schob ein Bursche, mit einem Kreuz wie ein Baum, die Puppen beiseite. "Macht euch doch nicht lächerlich, Mädchen. Wilkie Lenning ist ein faules Schwein. Wenn er mal gesagt hat, er will nicht mehr auf seiner Gitarre zupfen, dann bleibt er dabei. Da kann man ihm versprechen, was man will. Das geht ihm beim linken Ohr hinein und ungehört beim rechten Löffel wieder hinaus." Der Kerl fiel Wilkie an diesem Abend nicht zum ersten Mal unangenehm auf. Slim Case trank immer mehr als er vertragen konnte. Heute war er noch nicht so blau, daß er sich beim Gehen auf die Finger trat, aber der Alkohol, glänzte bereits wieder deutlich sichtbar in seinen großen Fischaugen.
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Wenn Case blau war, suchte er immer jemanden, mit dem er streiten konnte. Zumeist mündete die Auseinandersetzung dann in einer handfesten Schlägerei, die Slim in fast allen Fällen für sich entscheiden könnte. Diesmal hatte er sich Wilkie ausgesucht. Olga und Sally verdrückten sich ängstlich. Case hatte ein Bulldoggengesicht mit feuchten Lippen und einer häßlichen Knopfnase. Er grinste jetzt herausfordernd, und das machte ihn nicht viel schöner. "Hast du gehört, was ich gesagt habe, Wilkie?" knurrte er ganz hinten in der Kehle. "Du bist ein faules Schwein. Kassierst Geld für etwas, das du nicht tust. Du bist hier engagiert, damit du die Leute unterhältst. Statt dessen mimst du den großen Star, kommst, wann es dir Spaß macht, spielst nur, wenn du Lust dazu hast, und wenn jemand 'ne Zugabe haben will, antwortest du ihm durch die Blume, er soll dich am Ärmel lecken... Verdammt noch mal, das gefällt mir nicht an dir, Wilkie Lenning." "Mir gefällt auch vieles nicht an dir, Slim", erwiderte Wilkie gleichmütig. "So?" fragte Case mit schmalen Augen. "Laß mal hören!" "Vielleicht später, wenn du mal nüchtern bist und auch verstehst, was ich sage", gab Wilkie zurück. Er wandte sich von Case ab und widmete sich seinem Bourbon. Case stieß ihn gereizt an. "He, Mann, so kannst du mir nicht kommen. Du darfst mich nicht einfach wie einen Rotzjungen hier stehenlassen!" "Dann benimm dich gefälligst nicht wie ein solcher!" sagte Wilkie scharf. Case erachtete das als den rechten Anlaß dafür, den Rest der Unterhaltung mit den Fäusten fortzusetzen. Er holte aus - und Wilkie schlug trocken zu. Seine gestochene Gerade fegte den Betrunkenen wie der Blitz von den Beinen. Olga, Sally und noch einige andere Mädchen schrien erschrocken auf. Slim Case wurde von dem Treffer bis in die Grundfesten hinunter durchgerüttelt. Er kippte nach hinten weg und landete auf seinem Allerwertesten. Benommen schüttelte er den Kopf. Schallendes Gelächter setzte ein. Es gab niemanden in der Blauen Eule, der Case diese Niederlage nicht von Herzen gegönnt hätte. Als Case sich mit einem Wutgeheul hochkämpfte, packten ihn mehrere Arme. Er wurde hochgerissen und zur Tür geschleppt. "Laßt mich los!" brüllte Case und trat mit den Beinen um sich. Niemand reagierte auf das Geschrei des Betrunkenen. Alle zusammen warfen ihn auf die Straße hinaus. Wilkie gefiel diese Art von Teamwork so sehr, daß er eine Runde ausgab. Slim Case ließ sich in jener Nacht nicht mehr blicken. Aber jemand anders kam eine halbe Stunde nach diesem Ereignis zur Tür herein: Er blickte sich furchtsam um und trat schüchtern von einem Bein auf das andere. Er spürte deutlich, daß er hier drinnen nichts zu suchen hatte und daß es leicht passieren konnte, daß einer ihm am Genick packte und mit Schwung an die Luft beförderte. Wilkie zupfte die letzten Synkopen, als er Leo Richards bemerkte. Seine Fans hatten immer noch nicht genug, aber er machte nun unwiderruflich Schluß. Als er die Gitarre versorgte, trat der Wirt zu Leo und sagte ihm, er möge sich zum Teufel scheren. Richards, der heruntergekommene Penner, machte ein unglückliches Gesicht und warf Wilkie einen beschwörenden Blick zu. Lenning beeilte sich, vom Podium runterzukommen. Er durchquerte das Lokal und sagte zum Besitzer der Blauen Eule: "Laß nur, Leo ist mein Gast." Der Wirt schüttelte verständnislos den Kopf. "Leute kennst du." Wilkie grinste. "Leo hat einen prachtvollen Charakter." "Hast du mehr solche Bekannte?" "Aber klar." "Dann gib acht, daß du nicht unter die Räder kommst", sagte der Wirt und verdrückte sich. Richards lächelte dankbar, ergriff Lennings Hand und seufzte: "Vielen Dank, Wilkie." Copyright 2001 by readersplanet
"Keine Ursache, Leo", gab Lenning zurück. "Lange nicht gesehen, alter Junge. Wie geht es dir? Was möchtest du trinken?" Richards schüttelte verlegen den Kopf. "Ich bin nicht hier, um dir auf der Tasche zu liegen, Wilkie." "Hör mal, meine Freunde können von mir immer was zu trinken haben. Bist du meinetwegen hier?" "Ja. Ich muß dringend mit dir reden." "Okay. Komm. Wir setzen uns an den Tisch dort in der Ecke. Da sind wir ungestört." Leo Richards nickte und ging mit Wilkie. Lenning nahm sein Glas mit, und er bestellte noch mal das gleiche für Leo. Der Penner hatte ein ulkiges Gesicht. Es war schmal und hohlwangig. Das Kinn sprang weit nach vorn, und im Profil sah Richards aus wie eine Mondsichel. Der Bourbon kam. "Na, Leo. Wo plagen dich die Kummerläuse?" erkundigte sich Wilkie grinsend. "Wenn ich dir irgendwie helfen kann, laß es mich wissen. Du weißt, daß ich für meine Kumpels jederzeit da bin." Richards nahm einen kräftigen Schluck und wischte sich die Lippen dann mit dem Handrücken ab. Er schüttelte den Kopf. "Einen Jungen wie dich gibt es kein zweites Mal, Wilkie, das schwöre ich dir. Du hast ein Herz aus Gold." Lenning winkte lachend ab. "Komm, laß den Quatsch, Leo." "Ich meine das ehrlich, Wilkie." "Schon gut. Schon gut. Sag mir endlich, wo dich der Schuh drückt. Du siehst nicht gerade fröhlich aus." "Bin ich auch nicht, Wilkie", seufzte der Penner. Er hatte dreckige Hände mit Trauerrändern unter den Fingernägeln. "Ich habe Angst." "Angst? Wovor?" Richards mußte sich erneut stärken. "Gestern nacht", sagte er heiser, "hat einer Howie Benson im Central Park überfallen. Du kannst dich doch noch an meinen Freund Howie erinnern..." "Natürlich", sagte Wilkie und nickte. Richards schlug sich mit der flachen Hand auf den Kopf. Verständnislos stöhnte er: "Howie überfallen. Als ich's hörte, wollt' ich's nicht glauben. Und als ich's dann glaubte, dachte ich, nun würde die Welt wohl nicht mehr lange stehen. Kann es etwas Unsinnigeres als eine solche Tat geben? Howie Benson ist der ärmste Schlucker, den es gibt. Er besitzt nichts, was man ihm wegnehmen könnte. Er tut keiner Fliege was zuleide. Niemand haßt ihn. Die Leute mögen ihn entweder, oder er ist ihnen gleichgültig. Aber keiner hat einen Grund, ihn umzubringen. Trotzdem hat es gestern einer versucht. Howie hatte verdammt viel Glück wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von Glück reden kann. Ein Liebespärchen hat ihm das Leben gerettet. Die beiden haben den Killer verjagt. Howie liegt jetzt im Morningside Hospital. Er lebt und lebt wieder nicht. Der Schock hat ihn am Wickel, läßt ihn nicht los. Howie erkennt niemand. Er hat keine Ahnung, wo er sich befindet. Er liegt bloß in seinem Bett, starrt mit großen Augen zur Decke, atmet, seufzt hin und wieder...aber mehr tut er nicht." "Man kann ihn also nicht befragen, wer ihn überfallen hat", sagte Wilkie. "Es muß einer gewesen sein, der 'nen geistigen Defekt hat. Ein Irrer, verstehst du? Einer, der aus einem inneren Zwang heraus killen muß. Solche Typen gibt es. Jeder Psychiater wird dir das bestätigen." "Ich weiß." Leo Richards drehte das Glas zwischen seinen Handflächen hin und her. Er ächzte, als läge eine schwere Last auf seinen schmalen Schultern, die ihn allmählich niederdrückte. "Wenn ich an vorgestern nacht denke ... Es ist einfach nicht zu fassen, Wilkie..." Copyright 2001 by readersplanet
"Was war vorgestern nacht?" fragte Lenning. "Da haben wir uns - eine ganze Clique, der 'Doktor', der 'Guru', die 'Baronesse', und weiß der Teufel wer sonst alles noch - unter der Brooklyn Bridge getroffen. Mann, war das eine Fete. Wir feierten den Geburtstag der ,Baronesse'. Irgend jemand brachte ein paar Pullen Schnaps. Genug, daß wir alle davon blau waren. Howie war bester Laune. Er hat gelacht, getanzt, Sprüche geklopft... Und heute?" sagte Leo mit versiegender Stimme. "Heute ist Howie halb tot, weil ihm gestern nacht der schwarze Würger begegnet ist." Wilkie wollte eine Beschreibung des Killers hören, und Leo erzählte ihm das, was er auf Umwegen erfahren hatte. Da der Mann eine Stumpfmaske getragen hatte, fiel die Beschreibung sehr dürftig aus. Damit würde auch die Polizei nicht viel anfangen können. Leo leerte sein Glas. Der Eiswürfel rutschte ihm an die Zähne und klimperte auf den Glasboden, als Leo das Glas auf den Tisch zurückstellte. "Ein Unbekannter fängt plötzlich an, Penner zu überfallen", sagte Richards mit belegter Stimme. "Das beunruhigt mich, Wilkie. Gibt es etwas Harmloseres als uns? Wir sind friedlich und sind froh, wenn man uns in Ruhe läßt. Manche nennen uns den Abschaum der menschlichen Gesellschaft. Aber das stimmt nicht. Der Abschaum, das sind meiner Meinung nach die Verbrecher. Auch die, die in prächtigen Häusern sitzen und ihr Geld mit Rauschgift oder Prostitution machen. Das ist Abschaum. Nicht der Penner, der bloß ein bißchen mehr Freiheit haben will als andere Leute." "Noch einen Drink?" fragte Lenning. "Ich möchte nicht unverschämt ,sein", sagte Leo. "Ich werde deswegen nicht gleich Konkurs anmelden müssen", sagte Wilkie grinsend. Er schnippte mit dem Finger, und der Kellner brachte noch mal das gleiche für Leo Richards. "Irgendwie", fuhr Leo heiser fort", "hat sich in mir ein ekelhaftes Gefühl festgesetzt. Ich werde den Verdacht nicht los, daß der Überfall auf Howie ein Anfang war. Ein Auftakt, verstehst du? Ich habe Angst, der Kerl, der Howie umbringen wollte, macht weiter. Vielleicht streift er heute nacht schon wieder durch die Dunkelheit, auf der Suche nach einem anderen Opfer. Kannst du dir vorstellen, mit was für einem Gefühl ich heute auf meiner Parkbank die Augen schließen werde?" "Möchtest du bei mir übernachten?" Leo schüttelte ernst den Kopf. "Auf keinen Fall. Deswegen bin ich nicht hierhergekommen." "Weswegen denn?" "Ich wollte dich fragen, ob du nicht mal mit KX über die Sache reden könntest", sagte Leo, und in seinen Augen lag ein verzweifelter Ausdruck. "Du bist doch mit ihm befreundet. Du hilfst ihm hin und wieder. Ich bin sicher, Jo Walker könnte den schwarzen Würger in ganz kurzer Zeit fassen." "Vielleicht überschätzt du den guten Jo Walker da ein wenig, Leo. Kommissar X kocht auch nur mit Wasser - wenn es auch hin und wieder den Anschein hat, als wäre es nicht so." "Walker würde es schaffen, ich bin ganz sicher", sagte Leo überzeugt. "Wirst du mit ihm reden, Wilkie?" Lenning seufzte. "Ich fürchte, das wird nicht allzuviel nützen." Leo schaute ihn erschrocken an. "Wie meinst du das?" "Sieh mal, man kann es Jo Walker nicht verübeln, daß er an Jobs interessiert ist, die etwas einbringen. Er hat eine Menge laufende Ausgaben. Er ist Geschäftsmann, und er beginnt seine Fälle zumeist mit dem Rechenstift. Wo das meiste herausschaut, da hängt er sich dann hinein." Leo nickte so traurig, daß Wilkie fast das Herz brach. "Verstehe", sagte Richards benommen. "Wir armen Hunde sind einfach dazu verurteilt, zu krepieren, weil wir das Geld nicht aufbringen können, das Leute wie Walker verlangen, wenn sie einem helfen sollen." Wilkie holte tief Luft. "Ich will versuchen, Jo für die Sache zu interessieren."
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Leo versuchte ein dünnes Lächeln. "Du bist ein verdammt netter Junge, Wilkie. Ehrlich. Ich weiß, warum ich dich mag."
* Jo Louis Walker stand mit gesenktem Haupt da, er hielt seinen schwarzen Hut in der Hand und hörte den trostspendenden Worten des Priesters zu. Etwa hundertfünfzig Personen waren zu Georgia Sullivans Beerdigung gekommen. Georgia. Jo sah sie vor sich. Eine zarte, zerbrechlich wirkende Frau mit einer blassen, glatten Porzellanhaut, mit dunkelgrünen, klugen Augen, das blonde Haar, zu einem Pagenkopf geschnitten. Das war Georgia gewesen. Nett. Gesellig. Immer ein wenig kränklich. Aber steinreich, weil sie vor fünf Jahren die Baufirma ihres Vaters geerbt hatte. Jo hatte ihr vor einem Jahr einen Erpresser vom Hals geschafft, und als nun die Todesanzeige in sein Büro flatterte, erachtete er es als seine Pflicht, der jungen Frau das letzte Geleit zu geben. Georgia hatte vor drei Jahren den schwarzen Kommunalpolitiker Rick Sullivan geheiratet. Der Mann war bei seinen politischen Gegnern so unbeliebt wie der Satan bei den Christen, und das war die größte Auszeichnung, die ihm die anderen zuteil werden lassen konnten. Rick Sullivan stand ganz vorne, direkt am offenen Grab. Er starrte in die Tiefe, war erschüttert und konnte immer noch nicht begreifen, daß seine Frau nicht mehr lebte. Es hatte in allen Zeitungen gestanden. Sullivan war mit seiner Frau auf der neuen Jacht gewesen. Sie hatten einen herrlichen Tag auf dem Atlantik verbracht, und als sie abends den East River hochfuhren, war es passiert: Georgia hatte einen ihrer epileptischen Anfälle bekommen und war über Bord gefallen. Rick hatte es nicht sofort bemerkt, weil er mit dem Rücken zu seiner Frau am Steuer gestanden hatte... Die Wasserpolizei konnte nach stundenlangem Suchen nur noch die Leiche der Frau bergen. Sullivan wankte. Über seine Wangen liefen glänzende Tränen. Er preßte die Lippen fest aufeinander und versuchte, den Schmerz zu verkraften. Später schüttelten die Honoratioren der Stadt New York dem erschütterten Witwer die Hand. Als Jo an die Reihe kam, sagte er: "Was für ein tragischer Tod." Rick Sullivan nickte ergriffen. Er blickte Jo in die Augen und sagte: "Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Mr. Walker" "Das war für mich eine Selbstverständlichkeit", gab Jo zurück. "Georgia war ein guter Mensch..." Sullivan senkte den Kopf. "Ich habe sie mehr als mein Leben geliebt." "Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann..." Sullivan seufzte schwer. "Damit muß ich leider selbst fertig werden." "Sie können mich jederzeit anrufen", sagte Jo. "Ich danke Ihnen", erwiderte Sullivan, und Jo ging weiter. Sein Mercedes 450 SEL stand neben den vielen anderen Fahrzeugen vor dem Friedhof. Als Jo die Wagentür aufschloß, rief jemand seinen Namen. Er kannte die Stimme und rümpfte die Nase, als hätte er soeben einen verdammt üblen Gestank wahrgenommen. Langsam richtete er sich auf, und ebenso langsam wandte er sich um. Alec Iverness kam angewetzt. Schlecht rasiert wie immer. Schäbig gekleidet, schlampig vom breiten Scheitel bis zur schiefgelaufenen Sohle. Er grinste mit gelben, unregelmäßigen Zähnen. Jo mochte den Mann nicht. Er mochte ihn so wenig wie der Teufel das Weihwässer. Obwohl Iverness das wußte, störte ihn das nicht im mindesten. Er war daran gewöhnt, von niemandem geliebt zu werden. Seit seiner Kindheit war das so. Er hatte sich damit abgefunden - und es hätte ihn stark gewundert, wenn ihm mal einer mit aufrichtiger Sympathie begegnet wäre.
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"Mr. Walker" sagte Iverness außer Atem. Seine Rechte hielt eine teure japanische Spiegelreflexkamera. Er war Reporter, fiel allen möglichen Leuten Tag für Tag auf den Wecker, knipste sie von allen Seiten, auch dann, wenn sie's nicht gestatteten, schrieb zu seinen Bildern schlechte Texte und stand mindestens einmal im Monat wegen irgendeiner unwahren Geschichte vor Gericht. "Mr. Walker... Ein Glück, daß ich Sie noch erwischt habe." "Wieso Glück?" fragte Jo feixend. "Sie haben Mrs. Sullivan gut gekannt, nicht wahr?" "Ich hab' mal einen Job für sie erledigt." "Wie fanden Sie Georgia Sullivan?" "Nett. Sehr nett. Viel netter als Sie, Iverness. Und nun hören Sie mir bitte ganz genau zu: Sollten Sie die Absicht haben, irgendwelche Geschichten über mich und Georgia Sullivan in Umlauf zu bringen, sehen wir uns nicht vor Gericht, denn das würde Ihnen bei Ihrem dicken Fell nicht das geringste ausmachen. Eine Zeile nur, Iverness, die mir nicht gefällt und ich komme zu Ihnen und breche Ihnen sämtliche Knochen im Leib. Haben wir uns verstanden?" Alec Inverness lachte nervös. "Also ich hatte wirklich nicht im entferntesten die Absicht..." "Dann betrachten Sie das, was ich soeben gesagt habe, als gegenstandslos", fiel Jo dem Mann eiskalt ins Wort. Die meisten Wagen waren bereits fortgefahren, und Jo wurde allmählich ärgerlich. Er wollte sich von Iverness nicht mehr länger aufhalten lassen, öffnete den Wagenschlag und stellte einen Fuß in den silbergrauen Mercedes. "Das ist meine Tragik", sagte der Reporter und rollte mit den Augen. "Immer werde ich mißverstanden. Habe ich Ihnen schon mal Schwierigkeiten gemacht, KX?" "Noch nie." "Sehen Sie..." "Weil Sie dazu nicht in der Lage waren." Iverness befeuchtete seine Lippen. "Hören Sie, Walker, Sie sollten mehr Verständnis für meinen Job aufbringen. Schließlich leben Sie von der Gratisreklame, die ich Ihnen liefere, nicht schlecht, oder?" "Soll ich Ihnen 'ne Provision bezahlen?" fragte Jo grinsend. "Ich finde, Sie sollten mit der Presse enger zusammenarbeiten. Haben Sie was für mich?" "Nein." "Werden Sie an mich denken, wenn Sie mal ne gute Story haben?" "Bestimmt nicht", sagte Jo frostig und setzte sieh in den Mercedes. Iverness wiegte vorwurfsvoll den Kopf. "Wenn ich lauter solche Informanten hätte, könnte ich meinen Beruf an den Nagel hängen." "Vielleicht haben Sie sieh das selbst zuzuschreiben", sagte Jo und schlug die Tür zu. "Was verlangen Sie denn von mir? Daß ich ein anderer Mensch werde, oder was?" "Sie brauchen mich nur in Ruhe zu lassen, das genügt, mir schon", entgegnete Kommissar X und drehte den Startschlüssel im Zündschloß herum, Iverness hob die Stimme, um den Motorenlärm zu übertönen. "Im Central Park wurde vorgestern nacht ein Penner überfallen. Alle Zeitungen berichten von einem schwarzen Würger. Wäre das kein Fall für Sie?" Jo grinste. "Wer sollte mich engagieren?" "Einer der Penner." "Ich kriege hundert Dollar pro Tag, plus Spesen. Denken Sie, daß ein Penner den Betrag aufbringen könnte?" Es blitzte kurz in Iverness' Augen. Ihm schien eine Idee gekommen zu sein, die er für brillant hielt. "He, Mr. Walker! Sagen Sie mal, warum tun wir uns in dieser Sache nicht zusammen?" Copyright 2001 by readersplanet
"Wollen Sie mich erschrecken?" Iverness überhörte den Spott und fuhr hastig fort: "Ich engagiere Sie. Sie suchen den schwarzen Burschen, und wenn Sie ihn gefunden haben, kriege ich 'ne Superstory exklusiv von Ihnen." Jo schüttelte den Kopf. "So dringend brauche ich das Geld noch nicht. Ich kann es mir immer noch leisten, mir meine Klienten auszusuchen. Sorry." "Sie sollten sich die Sache noch mal in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen." "Sie haben meine Antwort. Bei der bleibe ich." "Ein Penner mehr oder weniger... Ich meine, die Penner sind mir vollkommen wurscht bei der Angelegenheit... Mich fasziniert die Geschichte, verstehen Sie? Wenn ich Sie nicht kriegen kann, Walker, gehe ich zur Konkurrenz. Einer Ihrer Kollegen wird bestimmt auf meinen Vorschlag eingehen." "Na denn...", sagte Jo mit grimmiger Mine. "Viel Glück." Er ließ die Kupplung kommen, und wenn Iverness nicht schnell zurückgetreten wäre, wäre ihm der Mercedes-Pneu über der Fuß gerollt.
* Immer noch verstimmt öffnete Kommissar X die Tür zu seinem Büro. Im Vorzimmer saß seine hübsche Mitarbeiterin April Bondy an ihrem Schreibtisch. Das blonde, vierundzwanzigjährige Girl trug eine weiße Bluse und enge Khakijeans. Wilkie Lenning stand vor ihrem Schreibtisch, mit dem Rücken zur Tür. Er hatte sich gerade warmgeredet und ereiferte sieh: "Geld, Geld, Geld. Was ist das schon? Wenn jemand keine Moneten hat, aber Hilfe braucht, soll man ihm dann nicht helfen? Findest du, daß eine solche Einstellung richtig ist?" "Wir leben nun mal in einer Gesellschaft, die vom Geld beherrscht wird", erwiderte April schmunzelnd. Sie hatte Jo bereits bemerkt. Wilkie wußte noch nicht, daß Walker vom Friedhof zurückgekommen war. "Ich bin der Auffassung, daß Jo auch für die Schwachen dazusein hat!" behauptete Wilkie mit fester Stimme. "Für die, die schutzbedürftig sind..." "So wie du?" fragte Jo und ließ die Tür ins Schloß fallen. Wilkie fuhr überrascht herum. "Ich kann mich zum Glück selbst schützen." "Von wem ist dann die Rede?" "Von denen, dies nicht können." "Und zwar?" Wilkie setzte sich auf die Kante von Aprils Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Jo kam näher. Wilkie sagte: "Gestern abend hat mich ein Freund namens Leo Richards in der Blauen Eule aufgesucht." Jos Augen verengten sich. "Den Namen habe ich aus deinem Mund doch schon mal gehört." "Möglich", erwiderte Wilkie. "Er ist einer von denen, die sich nicht selbst schützen können und die auch nicht das Geld für einen Mann wie dich aufzubringen imstande sind." "Ein Penner also." "Genau", sagte Wilkie aggressiv. "Vielleicht bin ich schief gewickelt, Jo, aber für mich sind Penner eben auch Menschen." "Denkst du, für mich nicht?" Wilkie hakte sofort ein. "Wirst du Leo helfen? Ich habe ihm versprochen, mit dir zu reden. Du hättest seinen Blick sehen sollen, Jo. Der Mann ist verzweifelt. Der hat entsetzliche Angst. Er fürchtet sich demnächst vor seinem eigenen Schatten." Copyright 2001 by readersplanet
Zum zweiten Mal wurde Jo innerhalb einer Stunde mit dem Überfall auf Howie Benson konfrontiert. "Du immer mit deinen Fürsorgefällen", sagte Jo kopfschüttelnd. "Tut mir leid, dich zu enttäuschen, Jo", sagte Wilkie angriffslustig. "Ich kann eben nicht so herzlos sein wie du." "Also jetzt mach aber ganz schnell nen Punkt, ja!" sagte Jo ärgerlich. "Überleg mal genau, was vorgefallen ist: Howie Benson trottet durch den Central Park, wird niedergeschlagen, und man versucht ihn zu erwürgen. Ein Liebespärchen verscheucht den Unbekannten, und Benson kommt ins Krankenhaus..." "Der Mann schwebt immer noch in Lebensgefahr!" ereiferte sich Wilkie. "Okay, Benson befindet sich in Lebensgefahr. Und was soll ich bei der Sache tun?" "Du könntest versuchen herauszufinden, wer den Penner überfallen hat und warum. Leo ist der Meinung, daß es bei diesem Überfall nicht bleiben wird." "Woher will Leo das denn wissen?" fragte Jo abwinkend. "Das ist doch eine ganz und gar haltlose Behauptung." Wilkie sprang vom Schreibtisch. Er kam ganz nahe an Walker heran. "Jo, vielleicht ist da ein Wahnsinniger unterwegs. Einer, der die Penne nicht riechen kann. Einer, der sie so sehr haßt, daß es zu einer fixen Idee von ihm wurde, die Stadt von diesen Leuten zu säubern. Muß wirklich erst noch einer sterben, damit du etwas unternimmst? Bedeutet dir denn Geld mehr als ein Menschenleben, Jo? Wenn das so ist, dann bin ich gern bereit, deine Honorarkosten für meinen Freund Leo zu übernehmen!" Blitzschnell stieß Lenning die Hand in die Hosentasche. Er riß mehrere zerknüllte Banknoten heraus und warf sie auf April Bondys Schreibtisch. Die Summe kurz überschlagend, sagte er heiser: "Das müßte für drei Tage reichen, nimmst du den Auftrag an?" Jo schüttelte langsam den Kopf. Der Fall, der für ihn eigentlich noch gar keiner war, nahm immer verrücktere Formen an. Zuerst wollte dieser unsympathische Reporter ihn engagieren, und nun wollte das sogar sein Mitarbeiter tun. Jo wies auf das Geld. "Steck die Scheine wieder ein, Wilkie. Wenn dir wirklich so viel an der Sache liegt, dann denke ich, daß ich auch über die Runden kommen werde, ohne Geld von dir nehmen zu müssen." Lenning atmete erleichtert auf. "Ich wußte, daß unter der rauhen Schale immer noch ein weicher Kern ist." Jo erwiderte schmunzelnd: "Du solltest diesen Kern allerdings nicht allzu sehr strapazieren, sonst wird auch er eines Tages hart." Wilkie schüttelte grinsend den Kopf. "Nicht bei dir, Jo. Du kannst dich zwar verdammt gut verstellen, aber du kannst trotzdem nicht ganz verbergen, daß du ein Herz für schutzbedürftige Menschen hast." "Deswegen werde ich auch noch mal im Schuldturm landen", sagte Jo und schlug Wilkie lachend auf die Schulter.
* Dr. Milt Dorcas lief den Krankenhauskorridor entlang. Er war ein großer, rotgesichtiger Mann mit hellblondem, fast weißem Haar, das er ganz kurz geschnitten trug, weil er der Meinung war, daß er es dadurch länger behalten würde. Er betrat den Bereitschaftsraum und war froh, daß keiner der Kollegen da war, denn die letzte Operation hatte ihn ziemlich angestrengt. Er wusch sich die Hände. Dann zündete er sich eine Zigarette an und inhalierte den Rauch mit geschlossenen Augen. Er trat ans Fenster und blickte in den Krankenhausgarten hinaus. Copyright 2001 by readersplanet
Er stippte die Asche von der Zigarette, betrachtete das Stäbchen, das er zur Hälfte geraucht hatte, und dachte daran, daß er auch wieder nach Howie Benson sehen mußte, der nach wie vor seinen Schock nicht überwinden konnte. Die Polizei war bereits zweimal dagewesen. Dr. Dorcas hatte die Beamten immer mit einem bedauernden Achselzucken empfangen und gesagt: "Tut mir leid, der Patient ist noch nicht ansprechbar." Er hatte den Männern versprochen, sie anzurufen, sobald sich Bensons Zustand gebessert hatte. Bis zur Stunde war dies jedoch noch nicht der Fall. Daß sich Howie Bensons Zustand nicht bessern, sondern sogar rapide verschlechtern würde, konnte Dr. Dorcas zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.
* Der schwarz gekleidete Mann betrat das Krankenhaus dort, wo normalerweise die Toten abtransportiert wurden. Er schloß die Tür behutsam hinter sich und huschte dann den sterilen Korridor entlang. Rechterhand befanden sich mehrere Türen, die alle irgendeine Aufschrift trugen. Vor der Tür, auf der WÄSCHEREI stand, blieb der Unbekannte kurz stehen. Sein finsterer Blick sicherte rasch nach beiden Seiten. Dann streifte er hauchdünne Gummihandschuhe über, faßte nach dem Türknauf, drehte ihn nach rechts und betrat den großen Raum. Zehn Industriewaschmaschinen standen nebeneinander. Sechs davon waren eingeschaltet. Sie liefen knurrend und gurgelnd, und die Wäsche überschlug sich vor dem großen Bullauge. Das Ganze hatte sehr viel Ähnlichkeit mit einer TV-Bildstörung. Der Mann holte aus einem Korb mit Schmutzwäsche einen Arztkittel, der zahlreiche Flecken aufwies. Schnell zog er ihn über. Er paßte. Nur in den Schultern spannte er ein bißchen, aber das würde wohl niemandem auffallen. Mit hastigen Schritten verließ der Mann die Krankenhauswäscherei. Er hatte sich gründlich informiert. Howie Benson lag im sechsten Stock. Zimmer 605. Howie, der Todeskandidat! Der falsche Doktor eilte zum Lastenaufzug, in dem die Kranken mitsamt den Betten transportiert werden konnten. Er drückte auf den Rufknopf und wartete ungeduldig. Schritte. Der Unbekannte fuhr erschreckt herum. Ein Krankenhelfer kam über die Treppe herunter. Der Killer wandte sich von ihm ab. Er hörte den Helfer etwas murmeln, das ein Gruß sein konnte und erwiderte das Gemurmel. Dann verschwand der kräftige Bursche in der Krankenhauswäscherei, um da wieder wie es seine Aufgabe war nach dem Rechten zu sehen. Inzwischen traf der Fahrstuhl ein. Der Mann riß die Tür auf, klappte sie hinter sich eilig zu und drückte auf den sechsten Etagenknopf. Was hätte jetzt noch Howie Bensons Ende verhindern können?
* Jo gab dem Wagenschlag einen sanften Schubs, worauf die Tür mit einem schmatzenden Geräusch zufiel. Er überquerte den Parkplatz, der vor dem Morningside Hospital lag. Das Krankenhaus war ein altehrwürdiges Gebäude, das dringend einer Renovierung vom Fundament bis zum Dachstuhl bedurft hätte. An den Fenstern blätterte der Lack ab. Der Verputz an der Vorderfront warf auch schon zahlreiche Blasen, die man mit dem Finger aufstechen konnte. Wer konnte in so einer Bude denn noch genesen?
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Jo öffnete die Eingangstür, und es hätte ihn gewundert, wenn sie nicht gequietscht hätte. Das Quietschen rief einen ebenfalls renovierungsbedürftigen Pförtner auf den Plan. "Guten Tag!" sagte der Pförtner, und es klang so, als hätte er gefragt: Was wollen Sie? "Howie Benson", sagte Jo und war um ein freundliches Lächeln bemüht, denn das Leben des Pförtners war wohl arm an solchen Gesten. "Benson? Zimmer sechshundertfünf", sagte der Mann. "Vielen Dank", meinte Jo. "Aber...jetzt ist keine Besuchszeit", sagte der Pförtner hastig. Jo kümmerte sich nicht um diesen Einwand. Er ging weiter. Das konnte der Pförtner aber unmöglich auf sich sitzenlassen. Es blieb ja an ihm hängen, wenn hier jeder aus und ein ging, wie es ihm paßte. Jo machte vier Schritte, da flitzte der Pförtner aus seinem Kämmerchen heraus. Er war fuchsteufelswild, spuckte Gift und Galle, sein Gesicht war knallrot angelaufen. "Mister, das geht aber wirklich nicht!" stieß der Pförtner aufgeregt hervor. Er reichte Jo noch nicht bis an die Schultern. "Was Sie sich da herausnehmen... Also, ich muß schon sagen... Laut und deutlich habe ich bemerkt, daß jetzt keine Besuchszeit ist! Auch für Sie nicht! Wir können keine Ausnahme machen. Wenn das einreißt..." "Warum denn so cholerisch?" fragte Jo lächelnd. Er blieb stehen. Der Pförtner wies auf die Tür und stieß unerbittlich hervor: "Sie werden sich gefälligst an die Besuchszeiten halten, Mister!" "Na schön", sagte Jo ernst. "Wann hat Dr. Milt Dorcas Besuchszeit?" "Dr. Dorcas?" fragte der Pförtner irritiert. "Was soll denn das? Der Doktor ist doch nicht krank." "Dann kann man ihn also während des ganzen Tages besuchen." "Wenn er damit einverstanden ist ja." "Dann rufen Sie ihn an und sagen Sie ihm, daß Jo Walker zu ihm unterwegs ist." Der Pförtner schüttelte grimmig den Kopf. "Einen Moment. Sie sagten doch vorhin, Sie wollten zu Benson!" "Das sagte ich nicht. Ich wollte von Ihnen nur hören, wo Benson liegt." "Mich können Sie doch nicht für dumm verkaufen!" begehrte der Pförtner auf. Er rollte mit den Augen und schnappte ärgerlich nach Luft. "Kein Wort sprachen Sie von Dr. Dorcas..." Jo erwiderte schmunzelnd: "Wenn Sie mich noch weiter belästigen, wird Dr. Dorcas Sie zum Wäschewaschen abkommandieren. Dann ist es vorbei mit dem ruhigen Pförtnerleben. Überlegen Sie sich's gut!" Dem kleinen Mann blieb vor Entrüstung der Mund offen. Als Jo sich umwandte, traf der Pförtner keinerlei Anstalten mehr, ihn am Weitergehen zu hindern. Man konnte nicht wissen, wieviel Einfluß dieser Jo Walker tatsächlich auf Dr. Dorcas hatte. Mit hängenden Schultern kehrte er in seine Kammer zurück. Unschlüssig schaute er das Telefon an. Dann griff er nach dem Hörer, um bei Dr. Dorcas anzuklingeln und ihm Jo Walker zu melden. Wenig später schüttelte Jo dem Arzt lächelnd die Hand. Dr. Milt Dorcas war ihm nicht fremd. Im Gegenteil. Dorcas kannte ihn besser als zum Beispiel Wilkie Lenning. Milt hatte bereits mehrfach Gelegenheit gehabt, sich Jo von innen anzusehen - das heißt, daß Dorcas mit seinem Chirurgenbesteck schon mehrfach an Jo herumgeschnipselt hatte. "Jo!" rief Dorcas erfreut aus. "Ist das aber eine Freude." "Wie geht's, Milt?" Der Arzt hob die Schultern. "Man hat so seine Probleme." "Wer hat die nicht." Dorcas wies auf das Telefon. "Sie hatten Ärger mit dem Pförtner?" "Nicht ich mit ihm. Er mit mir", erwiderte Jo grinsend. "Er wollte mich nicht zu Ihnen lassen." Copyright 2001 by readersplanet
"Er sagte, Sie wollten zu Benson." "Das ist richtig. Seinetwegen bin ich hier", gab Jo zu. "Der Mann ist leider noch nicht ansprechbar." "Das macht nichts. Ansehen wird man ihn aber wohl können", sagte Jo, und als Dorcas ihn fragend anschaute, erklärte er dem Arzt: "Ich bin gebeten worden herauszukriegen, wer Howie Benson das Leben nehmen wollte, und natürlich auch warum. Ist zwar kein lohnender Job, aber was tut man nicht alles für seine Freunde." Dorcas nickte. Er klopfte mit einem herzlichen Lächeln auf Jos Schulter und sagte: "Es ist eine Freude, Sie so gesund und vital wiederzusehen, Jo." "Ich stehe in der Blüte meines Lebens", entgegnete Jo grinsend. Dorcas winkte ab. "Ich kann mich an Tage erinnern, da wollte keiner mehr einen Cent für Ihr Leben geben. Als man Sie hier einlieferte, waren Sie schon mehr drüben als in dieser Welt..." "Das beweist, was für ein tüchtiger Arzt Sie sind", meinte Jo lächelnd. "Ich bin sicher, Sie werden auch Howie Benson über den Berg schubsen." "Wir tun unser Möglichstes. Er wird von uns mit allen Medikamenten vollgepumpt, die er braucht. Aber ein kleines bißchen muß er von sich aus zu seiner Genesung beitragen, und dazu ist er im Moment leider noch nicht in der Lage." "Ich schlage vor, wir machen mal einen Kurzbesuch bei dem Knaben", bemerkte Jo. Milt Dorcas nickte. "Das hatte ich ohnedies vor."
* Sechshundertfünf! Da war es. Der Killer warf einen Blick über die Schulter. Seine Hand legte sich auf den Türgriff. Vorsichtig drehte er ihn. Vorsichtig vergewisserte er sich, daß außer dem Patienten keiner im Raum war. Dann trat er schnell ein und zog die Tür hinter sich wieder zu. Howie Benson war nicht wiederzuerkennen. Man hatte ihn gewaschen, gekämmt, rasiert. Er sah wie neu aus. Aber bis jetzt war es den Ärzten noch nicht gelungen, den geistigen Defekt, den er in der vorletzten Nacht durch den erlittenen Schock bekommen hatte, zu beheben. Da war immer noch diese festgekrallte Blockade in Bensons Kopf, die trotz der vielen Medikamente krampflösender beziehungsweise auf die Psyche wirkender Art, nicht wegzuräumen war. Der Penner lag wie eine Schaufensterpuppe in seinem weißen Bett. Er hatte die Augen offen. Er atmete und lebte. Aber er konnte nicht denken, konnte sich an nichts erinnern, war nicht fähig, ein Wort zu sprechen. Der Killer löste sich von der Tür. Ein frostiges Lächeln huschte über seine Züge. Benson würde gar nicht merken, daß er nun die zweite Rate des Todes konsumierte. Diesmal würde nichts mehr schiefgehen, das hatte sich der Würger vorgenommen. Er erreichte das Fußende des Bettes. Seine Hände krampften sich zusammen, sahen aus wie Adlerklauen. Benson war der erste Mensch, der zweimal sterben mußte, damit er einmal richtig tot war. Einmal im Central Park und ein zweites Mal hier. Diesmal für immer. Der Mörder wollte die Tropfinfusion abnehmen. Da erschreckte ihn eine Stimme. Er kreiselte herum, seine fiebernden Augen suchten nach einem Versteck. Mit wenigen Sprüngen war er zwischen der Tür und einem weißen Schrank. Die Stimme, es war die einer Frau, sagte: "Ich komme gleich ins Schwesternzimmer nach. Du kannst inzwischen Kaffee kochen." "Ist gut", sagte eine zweite Stimme. Dann ging die Tür auf, und eine Krankenschwester trat ins Zimmer.
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Der Würger verkrallte seine Hände in dem Arztkittel. Kleine Schweißtröpfchen traten ihm auf die Stirn. Die Schwester schloß hinter sich die Tür. Sie ging zu Howie Benson, schüttelte die Decke ein wenig auf, kontrollierte den Tropf. Dann erblickte sie den Killer, der mit hocherhobenen Armen auf sie zugeflogen kam. Eigentlich sah sie nur seine Fäuste, und ehe sie einen Blick in sein Gesicht werfen konnte, knallte ihr die Rechte des Mannes bereits mit unwahrscheinlicher Wucht ans Kinn. Die Frau wurde nach hinten gerissen. Der Mörder schlug sicherheitshalber noch einmal zu, danach brauchte er sich um die grauhaarige Krankenschwester nicht mehr zu kümmern. Nun trat der Würger zum zweitenmal an das Bett des starren Patienten, der von alledem nichts mitbekommen hatte. Eiskalt nahm er dem Penner das Leben. Es mußte sein. Er hatte seine Gründe...
* "Was macht die Detektei, Jo?" erkundigte sich Dr. Dorcas, während sie im Fahrstuhl zum sechsten Stock hochgondelten. "Es gibt stets mehr Fälle, als ich bewältigen kann", erwiderte Jo. "Und wie läuft Ihr Geschäft, Doc?" "Es gibt stets mehr Patienten, als wir bewältigen können." "Das ist nicht sehr erfreulich", sagte Jo. "Ist es denn erfreulich, daß es so viele Verbrechen gibt?" "Auch nicht. Da haben Sie recht", versetzte Jo. Sie erreichten die sechste Etage. Die Fahrstuhltür glitt zur Seite, die Männer verließen die nach Karbol riechende Kabine und standen wenig später vor einer weißen Tür, die mit der Zahl 605 versehen war. Bevor sie eintraten, fragte Milt Dorcas: "Was erwarten Sie sich eigentlich von diesem Besuch, Jo?" "Ehrlich gesagt - nichts. Ich habe es mir einfach zur Gewohnheit gemacht, mir die Leute anzusehen, die einem Verbrechen zum Opfer fielen, das ich aufklären soll. Das bringt mich manchmal auf recht brauchbare Ideen." Dorcas grinste. "Jetzt haben Sie mich einen Blick in die Hexenküche des Kommissar X werfen lassen, was? Man erzählt sich von Ihnen ja die haarsträubendsten Geschichten." "Die sind alle erfunden", erwiderte Jo schmunzelnd. Dorcas öffnete die Tür. Im selben Moment stockte ihm der Atem. Auch Jo sah die Krankenschwester. Sie lag mit verdrehten Gliedern neben dem Bett auf dem PVC-Boden und regte sich nicht. Howie Benson starrte immer noch die Decke an, doch nun mit gebrochenen Augen. Der Mann war tot. Jo brauchte kein Arzt zu sein, um das festzustellen, und er sah auch von der Tür aus, daß Howie Benson ein gewaltsames Ende gefunden hatte. Der Mord mußte eben erst geschehen sein. Während sich Dr. Dorcas um die Krankenschwester bemühte, sah Jo Walker sich gehetzt um. Welchen Fluchtweg konnte der Mörder eingeschlagen haben? Jos Ansicht nach bot sich nur eine Möglichkeit an: der Weg über die Feuertreppe. Seine Züge wirkten jetzt hart wie Granit. Nun war der Mord auf Raten doch geglückt. Bei dem Gedanken, daß dem schwarzen Würger die Flucht bereits gelungen war, drehte sich Jo der Magen um. Er erreichte die Eisentür, durch die man auf die Feuertreppe gelangte. Er riß sie auf und hörte im selben Moment Schritte. Mit einem Sprung war er beim Geländer. Er blickte nach unten und bemerkte eine Etage tiefer einen Schatten über mehrere Stufen huschen. Das war der Mann! Copyright 2001 by readersplanet
Mit langen Sätzen jagte Kommissar X die Treppe hinunter. Seine Füße flogen über die Stufen. Mehrmals glitt er ab, und zweimal wäre er auf den glatten Stufen fast gefallen. Atemlos versuchte Jo näher an den Mann heranzukommen, der Howie Benson ermordet hatte. Fünfter Stock. Jo hörte keine Schritte mehr. Er vernahm nur noch ein heftiges Brausen in seinen Ohren, und sein Herz schlug wie verrückt. Im vierten Stock riß Jo seine 38er Automatic aus der Schulterhalfter. Während des Laufens entsicherte er die Pistole. Im dritten Stock gab es dann die verdammte Panne mit der er nicht gerechnet hatte. Für ihn hatte festgestanden, daß der Killer so schnell wie möglich versuchen würde, aus dem Krankenhaus rauszukommen, doch das war nicht der Fall gewesen. Als Jo an dem Kerl vorbeiwischte, schnellte dieser hinter einem Mauervorsprung hervor. Der Totschläger, mit dem schon Howie Benson Bekanntschaft gemacht hatte, landete knallhart auf Walkers Hinterkopf. Vor Jos Augen funkelten Sterne in allen Farben und Größen auf. Dann wurde es dunkel. Langsam und wie in Zeitlupe, brach Jo in die Knie. Die Automatic rutschte ihm aus der kraftlosen Hand. Sie schlitterte über den Boden und stieß gegen die Wand. Der Killer steckte den Totschläger weg, fetzte sich den schmutzigen Ärztekittel von den Schultern und warf ihn neben Jo auf den Boden. Dann stieg er über Kommissar X hinweg und setzte seine Flucht rasch, aber nicht überstürzt fort...
* Als Jo wieder zu sich kam, wußte er im ersten Moment nicht, wo er sich befand. Aber mit den Kopfschmerzen setzte auch seine Erinnerung wieder ein. Er griff sich an den Hinterkopf. Die Beule konnte sich sehen lassen. Ein wahres Prachtexemplar, tatsächlich fast wert, ausgestellt zu werden. Außerdem war ihm speiübel. Mühsam richtete sich Jo etwas auf. Er ächzte. Sein Gesicht verzerrte sich schmerzlich. Das Brummen unter seiner Schädeldecke hatte besorgniserregende Ausmaße angenommen. Auf allen Vieren kroch Jo zu seiner Pistole. Er steckte sie in die Schulterhalfter und zog sich langsam an der Wand hoch. Schwere Gleichgewichtsstörungen machten ihm zu schaffen. Er blickte an sich hinunter und fand, daß er ein Bild des Jammers bot. Zum Teufel, eine gute Figur hatte er wirklich nicht gemacht. Wie hatte er bloß so unvorsichtig sein können? So übereifrig! Langsam schleppte er sich zu Zimmer Nummer 605 zurück. Die Krankenschwester saß schluchzend auf einem Stuhl. Ihr Kinn war rot und geschwollen. Dr. Dorcas bemühte sich um sie. Howie Benson konnte keiner mehr helfen. Als Jo in der Tür erschien, wandte sich Dorcas halb um. "Haben Sie den Kerl noch erwischt, Jo?" Kommissar X schüttelte vorsichtig den Kopf. "Umgekehrt, Milt. Es war leider umgekehrt." "Was ist passiert?" fragte Dorcas erschrocken. "Er hat mich erwischt. Genau hier." Jo zeigte die Stelle. "Mit einem Totschläger." "Aber Sie wissen nun, wie er aussieht." Das klang hoffnungsvoll. Jo mußte wieder vorsichtig den Kopf schütteln. "Er kam von hinten, Milt." "Ach du Sch... Schreck." Jo wies auf die Krankenschwester. "Und wie ist's mit ihr?" Milt Dorcas hob die Schultern. Copyright 2001 by readersplanet
"Schwester Agatha kann sich nur an die Fäuste des Kerls erinnern." Jo lehnte sich seufzend an die Wand. "Also Mißerfolg auf allen Linien."
* Und dann kreuzte zu allem Überfluss auch noch Alec Iverness auf. Al Jo den Reporter den Gang entlang kommen sah, wurde ihm sofort wie der übel. Dr. Dorcas hatte Schwester Agatha inzwischen wieder auf die Beine gebracht und ihr geraten, zwei Tabletten zu schlucken und sich in Schwesternzimmer hinzulegen. Mi weichen Knien verließ die Frau das Krankenzimmer. Für Howie Benson konnte kein Arzt mehr etwas tun. Der Penner war so tot, wie ein Mensch nur to sein konnte. "Wir müssen die Polizei verständigen", sagte der Arzt. Jo nickte. "Das ist klar." In diesen Moment erblickte er Iverness, der mit schussbereiter Kamera die einzelnen Zimmernummern ablas. Be 603 war er schon. Dann kam er an 604vorbei und dann stand er vor Jo. Grinsend sagte er: "Neuerdings laufen wir uns häufig über den Weg. "Ich bedaure nichts mehr als das gab Jo giftig zurück. "Wie ich sehe, haben Sie sich nur doch in den Fall eingeschaltet. Ohne sich von mir engagieren zu lassen. Iverness hob die Schultern. "Da spart mir eine Menge Geld." "Was suchen Sie hier?" fragte Jo den Reporter schneidend. Iverness ließ die Augen wie Murmeln rollen. Er schaute an Jo vorbei in den Krankenraum hinein. Er sah Dr. Dorcas, und er entdeckte Howie Benson. Sofort schoß er mit der Robotkamera mehrere Aufnahmen von dem Toten. "Ich wollte mal sehen, ob der Knabe zu interviewen ist", sagte Iverness gleichmütig. Daß der Mann tot war, störte ihn nur beruflich. Menschlich war ihm das vollkommen gleichgültig. "Er wäre nicht in der Lage gewesen, auf Ihre stupiden Fragen zu antworten", sagte Jo gallig. Aber der Mensch, der Alec Iverness beleidigen konnte, mußte wohl erst noch geboren werden. Der Reporter zuckte die Achseln. "In einem Krankenhaus gibt es so viele Leute, die man befragen kann. Dr. Dorcas zum Beispiel..." Die Kamera rasselte wieder. Diesmal schoß Iverness vom Arzt einige Aufnahmen. Natürlich achtete er darauf, daß auch der tote Penner mit im Bild war. Dorcas kam aus dem Zimmer. Er schloß hinter sich die Tür. Iverness wandte sich sofort an ihn. "Zunächst möchte ich mich über das ungebührliche Benehmen Ihres Pförtners beschweren, Dr. Dorcas! Dieser schielende Bursche hat sich mir gegenüber anmaßend benommen. Ich verfüge immerhin über einen Presseausweis, auf dem gut zu lesen steht, daß man mich bei meinem Bemühen, die Öffentlichkeit zu informieren, nach Möglichkeit unterstützen soll. Der Mann hat genau das Gegenteil getan." Jo fletschte die Zähne. "Er wollte bloß verhindern, daß Sie mal wieder eine Falschmeldung publizieren." Iverness stemmte die Fäuste in die Seiten. Die Kamera baumelte an einem Lederriemen vor seiner Brust. "Sagen Sie mal, Walker, was haben Sie gegen mich?" "Alles, mein Lieber. Effektiv alles!" knurrte Jo. Er kehrte dem Reporter den Rücken und sagte zu Dr. Dorcas: "Kommen Sie, Milt. Gehen wir." "Einen Augenblick noch, Doc!" rief der Pressemann aufgeregt. Dorcas blieb stehen. "Ja?" "Hat der Schock den Penner umgebracht?" wollte Iverness wissen. "Es war nicht der Schock, sondern der Killer", erwiderte Dorcas bitter. Copyright 2001 by readersplanet
Iverness' Augen begannen zu leuchten. "He...", seine Stimme klang heiser. "He ...", er schluckte und mußte sich räuspern. "Das ist ja vielleicht 'n Ding! Wollen Sie damit etwa sagen, daß der Mörder hier im Hospital war?" "So ist es", sagte Dorcas ernst. Und Jo fügte der Antwort des Arztes hinzu: "Und jetzt verschwinden Sie, Sie gottverdammter Aasgeier."
* Als sie den Bereitschaftsraum der Ärzte betreten wollten, entdeckte Jo Walker einen seltsamen Typ: Schäbige Schuhe mit gesprungenem, zerkratztem Oberleder, Hosen, die mit einer Wäscheleine um die magere Mitte zusammengehalten wurden, über die Schultern trug der Mann einen grauen Kaftan. Das war unverkennbar ein Penner, Jo war sicher, daß er dieses schmale Gesicht mit den kleinen, lebendigen Fuchsaugen und der breiten Nase nicht zum ersten Mal sah. Natürlich. Das war Fred Tuckerman, den sie den "Doktor" nannten. Fred war früher Rechtsanwalt gewesen. Er kannte sich im Winkelwerk der Gesetze immer noch hervorragend aus, und für einen kleinen Schnaps konnte jeder zu ihm kommen und ihn fragen, welche Strafen für diese oder jene Tat in Betracht gezogen werden mußten. Tuckerman hatte stets sein Gesetzbuch bei sich, und es gab keine Rechtsfrage, mit der man ihn in Verlegenheit bringen konnte. Er wäre heute noch ein guter, wohlhabender Anwalt in Queens gewesen, wenn ihn damals nicht eine Liebesgeschichte völlig aus der Bahn geworfen hätte. Sie hatte ausgesehen wie zwanzig und hatte ihm auch versichert, daß sie zwanzig war, und so hatte er keine Bedenken gehabt, sich mit ihr ins Bett zu legen und das mit ihr zu tun, weswegen sie ihm schon seit Wochen wie eine läufige Katze nachgerannt war. Wer läßt sich in einer solchen Situation denn einen Ausweis zeigen? Besser wäre es für Tuckerman allerdings gewesen, wenn er sich das Geburtsdatum des frühreifen Mädchens Schwarz auf Weiß angesehen hätte, denn die Sache fiel den Eltern des Mädchens auf, und als der Vater zu toben anfing, da sagte das kleine Luder, der Anwalt hätte sie dazu gezwungen. So vielen Leuten hatte Tuckerman helfen können, aber als es ihm an den Kragen ging, war er hilflos. Nachdem er seine Strafe abgesessen hatte, spuckte ihn das Gefängnis ins Leben zurück. Er fand keine Halt mehr, hatte kein Anwaltspaten mehr, fing zu trinken an, besaß nichts mehr außer seinem Gesetzbuch, das ihm von da an eine groß Hilfe bei dem Bestreben war, sich wenigstens einigermaßen über Wasser zu halten. Dieser Fred Tuckerman kam nun den Gang entlang, und er schien etwas zu suchen. Jo blieb stehen "Fred", sagte er, und der "Doktor" kniff die Augen zusammen, unschärfer zu sehen. Seine Brille hatte er während des letzten Saufgelage unter der Brooklyn Bridge - als sie den Geburtstag der "Baronesse" gefeiert hatten verloren, und Geld für eine neue Brille war noch nicht auf getrieben. "Mr. Walker, welche Überraschung", sagte der "Doktor" und lächelte verlegen. Er kam näher, nickt mehrmals, verstärkte sein Lächeln "Leo hat mit Wilkie gesprochen, hat er mir erzählt. Werden Sie etwa gegen diesen schwarzen Würger unternehmen?" "Ja, das werde ich", sagte Jo ernst. Tuckerman nahm die Hände, die er hinter seinem Rücken versteckt hatte, nach vorn. Er zeigte Jo eine Zigarrenschachtel. Seine Hände waren schmutzig und zitterten. Das kam vom vielen Schnaps, den er täglich in sich hineinschüttete. "Ich bin mit Howie Benson befreundet", sagte der "Doktor" leise. "Er raucht so gern Zigarren, kann sie sich aber nie leisten. Die habe ich mir vom Mund abgespar... Der Pförtner wollte mich nicht reinlassen. Da habe ich gewartet, bis er wegging. Dann schlich ich an der Copyright 2001 by readersplanet
unbesetzten Loge vorbei... Ich möchte Howie sehen, Mr. Walker." Jo und Milt Dorcas wechselten einen schnellen Blick. Jo legte dem Penner die Hand auf die Schulter. ,;Es ist furchtbar nett, daß Sie Ihrem Freund etwas mitgebracht haben, Fred. Aber..." Der "Doktor" riß die Augen auf und blickte Jo erschrocken an. "Aber? Mr. Walker, Howie ist doch noch... Ich meine, er lebt doch noch, oder?" Jo schüttelte langsam den Kopf. Es schnürte ihm den Hals zu. Die schmerzhafte Beule war plötzlich vergessen. "Howie hat keine Verwendung mehr für Ihre Zigarren, Fred", sagte Jo mit belegter Stimme. Der "Doktor" zog die Luft pfeifend in die Lunge. "Mein Gott, stand es denn so schlimm um ihn? Ich dachte, er hätte bloß den Schock noch nicht überwunden..." Jo senkte den Blick. "Ihr Freund, Fred... ist ermordet worden." "Nein!" stöhnte Tuckerman erschüttert. Er fuhr sich mit der schmutzigen Hand an die Lippen. "Himmel, nein ... Er kann doch unmöglich hier drinnen... Dies ist ein Hospital. Hier werden Menschen gesund gemacht, nicht umgebracht." Jo erzählte in knappen Worten, was geschehen war. Unter dem dunklen Bart machte sich schlagartig eine Blässe breit. Tuckerman wankte, so schwer traf ihn diese schockierende Nachricht. Howie Benson war tot! Da stand er nun mit den teuren Zigarren, die er Howie bringen wollte mit einer ganzen Kiste voll Zigarren. Erschüttert biß er sich auf die Lippe. Dr. Milt Dorcas verständigte die Polizei. Jo wartete nicht auf ihr Eintreffen. Er sagte: "Wenn die Cops meine Aussage benötigen, sollen sie mich in meinem Büro anrufen." "Okay", sagte Dr. Dorcas, und Jo verließ mit dem verstörten Penner das Krankenhaus. "Wo darf ich Sie absetzen?" fragte Jo. Er wies auf seinen Mercedes. Der "Doktor" sah an sich hinunter und meinte: "Haben Sie keine Angst, daß ich Ihren Sitz beschmutze?" "Wohin möchten Sie?" fragte Jo noch einmal. "Wenn Sie am Central Park vorbei kämen..." "Das liegt auf meinem Weg", erwiderte Jo und öffnete für Tuckerman den Wagenschlag. Während der Fahrt fragte der "Doktor": "Was für ein Gefühl haben Sie?" "Kein gutes, wenn ich ehrlich sein soll." "Leo meint, es müsse sich um einen Wahnsinnigen handeln", sagte Tuckerman. Zu seinem größten Erstaunen schüttelte Jo daraufhin aber den Kopf. "Ich weiß noch nicht, wer den Mord begangen hat, und es ist mir auch noch schleierhaft, warum Howie Benson sterben mußte. Eines steht für mich aber unumstößlich fest, Fred: Das ist kein Verrückter, der wahllos tötet. Er hat die Tat verdammt bewußt begangen!"
* "Es geschah praktisch in meiner Gegenwart!" sagte Jo Walker grimmig zu April Bondy und Wilkie Lenning. Er tastete nach der Beule, die immer noch seinen Hinterkopf zierte. "Die kriegt er zurück, das schwör' ich!" knurrte er verdrossen. Weder April noch Wilkie war es bislang gelungen, sich einen Reim auf die Sache zu machen. Für sie gab es nach wie vor nichts Unsinnigeres, als einen Penner zu ermorden, und so dachte wohl jeder in der Stadt, der davon gehört oder gelesen hatte. Wilkie war inzwischen nicht untätig gewesen.
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Er hatte versucht, George Utley, den Jungen, der den schwarzen Würger in die Flucht geschlagen hatte, zu sprechen. George arbeitete in der 96. Straße West in einer Pizzeria, aber er war zum Nachtdienst eingeteilt und jetzt noch nicht zu erwischen gewesen. Zu Hause hatte Wilkie den Jungen auch nicht antreffen können, und ebenso negativ verlief sein Besuch bei Tina Schwartz. Vermutlich war das Mädchen mit Utley unterwegs. Das war's nun: Howie Benson tot. Sein Mörder auf freiem Fuß. Und eine Menge Penner, die ratlos die Hände über dem Kopf zusammenschlugen und nicht wußten, was das alles zu bedeuten hatte. Doch nicht nur sie stellten sich diese Frage. "Und wie geht's nun weiter?" erkundigte sich Wilkie. "Ich werde das Gefühl nicht los, daß wir auf ein totes Geleise geraten sind." Jo goß sich Johnnie Walker ins Glas und trank nachdenklich. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Jo hatte Hunger, und mit leerem Magen fiel es ihm schwer, konstruktiv zu denken, deshalb meinte er: "Ich schlage vor, wir wechseln jetzt mal die Tapeten. Was haltet ihr von einem kleinen Betriebsausflug in ein nettes Lokal, wo es saftige Steaks, keine fetten Pommes frites und Soßen gibt, die dem Gaumen schmeicheln." "Du redest von Musis Schuppen, nicht wahr?" grinste Wilkie. "Richtig", sagte Jo und nickte. "Ich bin dafür", meinte Wilkie. "Ich auch", sagte April. Gemeinsam verließen sie das Büro, Charley, der Mann hinter Musis Tresen, ein Großmaul, geschwätzig liebenswürdig und mit einem Pferdegesicht, rief Jo beim Betreten der Bar über alle Köpfe hinweg einen herzlichen Gruß zu. Musi kam persönlich angewetzt. Er war klein, hatte einen olivfarbenen Teint, einer dichten, schwarzen Dschingis-Khan-Bart und feurige Augen, in denen zwei Freudenflämmchen brannten. Grinsend und händereibend, aber auch ein wenig vorwurfsvoll sagte Musi: "Es grenzt an ein Wunder, daß Sie sich mit der gesamten Belegschaft mal wieder bei mir blicken lassen, Jo." Jo schmunzelte spitzbübisch. "Vielleicht sollten Sie die Schuld mal bei der Größe Ihrer Steaks suchen." "Sagen Sie bloß, Sie hätten sich bei mir mit dem Essen schon mal angeschmiert!" meckerte Musi beleidigt. Er war entweder Türke oder Armenier. Jedenfalls nahm Jo das an, denn Musi plauderte mit ihm über alles, nur nicht über seine Vergangenheit. Da die Steaks immer prachtvoll waren, sah Jo keinerlei Veranlassung, in Musis Vergangenheit herumzuschnüffeln. Während sie sich am Aperitif gütlich taten, meinte Jo gedankenverloren: "Vielleicht sollte man den Fall von der Pennerseite her aufrollen." Wilkies Augen fragten April: Was meint er damit? Und das blonde Mädchen zuckte die Achseln. Deshalb wandte sich Lenning an Jo. "Erklär uns beiden das bitte mit leicht verständlichen Worten." "Die Antwort auf die Frage, warum Howie Benson ermordet wurde, muß bei den Pennern liegen", sagte Jo. "Aber die Schnapsbrüder sind ratlos, Jo", sagte April. "Und sie haben Angst, daß das Ganze noch mal passiert", sagte Wilkie. Jo nickte und stieß den Zeigefinger auf den Tisch. "Das ist es. Es könnte noch mal passieren. Und wenn der schwarze Würger sich erneut auf die Jagd begibt, möchte ich dabeisein." "Du würdest auffallen wie ein Diamant unter Kieselsteinen", erwiderte Wilkie. "Wie sollte ein als Kieselstein getarnter Diamant auffallen?" fragte Jo schmunzelnd.
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Wilkie fächerte sich mit der Speisekarte Luft zu. Mit großen Augen fragte er: "Höre ich richtig? Du willst dich als Penner verkleiden?" Jo nickte. "Genau das habe ich vor. KX wird zum Penner, und er wird mit diesen Leuten ab morgen Tag und Nacht zusammen sein. Er wird mit ihnen leben, wird mit ihnen trinken, wird mit ihnen reden und wird vor allem auf sie aufpassen." "Du kannst nicht überall sein, Jo." "Ich werde ein Fest geben. Unter der Brooklyn Bridge." "Jede Nacht?" Jo zog die Brauen zusammen. "Komm schon, Wilkie, mach meine Idee nicht mies. Oder hast du eine bessere?" Lenning schüttelte ärgerlich den Kopf. "Leider nein." Das Essen kam. Während Jo sein mexikanisches Pfeffersteak mit Chilisoße zudeckte, kramte er in seinen Erinnerungen herum. Wie hatte der Knabe geheißen, der eine Zeitlang recht erfolgreich als Trickdieb gearbeitet hatte? Musser. Ja. Jack Musser war das gewesen. Er war ein Meister der Maske, und Jo hatte sich verdammt anstrengen müssen, um den Burschen zu erwischen. Heute war Musser über die Sache hinweg. Er hatte einen guten Job an einem Broadwaytheater, als Maskenbildner natürlich, und er war, dank Walkers Starthilfe, nie mehr straffällig geworden. Jack Musser. Jo machte im Geist ein Ausrufungszeichen hinter den Namen. Er würde ihn heute noch aufsuchen. Jo war optimistisch. Irgendwie mußte er es schaffen, einen zweiten Mord zu verhindern. Plötzlich blieb ihm der letzte Bissen im Hals stecken. Drei Tische weiter saß Alec Iverness. Der verdammte Kerl grinste, blickte ihn unverfroren an und erhob nun sein Weinglas und prostete ihm zu. "Er verfolgt mich wie eine ansteckende Krankheit", sagte Jo mürrisch. "Wer?" fragte April Bondy irritiert. "Iverness, die Kanalratte. Er braucht mal wieder eine gute Story. Die Penner-Sache scheint ihm genug herzugeben. Er hat mich im Krankenhaus gesehen. Er weiß, daß ich mich dieses Falles angenommen habe und will jetzt anscheinend am Ball bleiben." Wilkie fletschte die Zähne. "Auf deinen ausdrücklichen Wunsch trenne ich ihn furchtbar gern für eine Weile vom Ball." April bekam kleine rote Flecken an den Wangen. "Du, Chef, ist das nicht der unverschämte Knabe, der mal in einem Artikel zwischen den Zeilen durchblicken ließ, daß wir zwei was miteinander haben?" "Das ist er." "Dann gehe ich jetzt gleich zu ihm rüber und gebe ihm zwei schallend Ohrfeigen!" schnaufte April und wollte sich schon erheben. Jo konnte gerade noch ihr Handgelenk erwischen und sie zurückhalten. "Nimm doch Rücksicht auf Musi", sagte er eindringlich. "Du kannst Iverness die Backpfeifen gern draußen geben. Da gibt es dann wenigstens keine Zeugen, auf die er sich berufen könnte, denn Wilkie und ich werden davon bestimmt nichts sehen." "Er sieht widerlich aus", sagte April wütend. "Da siehst du mal wieder, was für einen sympathischen Chef du hast" grinste Jo amüsiert. Iverness erhob sich und setzte der Frechheit die Krone auf, indem er schlendernd auf Walkers Tisch zukam. "Na, Herrschaften", sagte er leutselig und grinste in die Runde "Hat's geschmeckt?" "Solange ich Sie nicht entdeckt hatte ja", erwiderte Jo eisig. "Übrigens, meine Sekretärin wollte gerade zu Ihnen rüberkommen und Ihnen zwei Ohrfeigen geben."
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Iverness lachte kratzend. "Aber, aber, Miß Bondy. Was habe ich Ihnen denn getan, daß ich bei Ihnen so sehr in Ungnade fiel?" "Sie wissen es nicht mehr?" fragte April heiser. "Ich bin mir keiner Schuld bewußt", entgegnete Iverness mit einem überheblichen Lächeln. Blitze flogen aus Aprils Augen. Jo sah, wie es in der Halsschlagader des Mädchens pochte, und sagte: "Besser, Sie trollen sich wieder, Iverness. Der Vulkan steht kurz vor dem Ausbruch." Der Reporter sah Jo voll an. "Nun ist der alte Knabe kaputt", sagte er, und alle wußten, daß er Howie Benson meinte. "Wissen Sie schon, was Sie gegen den schwarzen Würger unternehmen werden, KX?" "Ich habe einen Plan." Iverness spitzte aufmerksam die Ohren. Jo lächelte frostig. "Ich würde mir lieber die Zunge abbeißen, als Ihnen davon auch nur eine Silbe zu verraten, Alec." Der Reporter lachte. "Hören Sie, KX, wir werden uns doch nicht wegen dieser toten Schmeißfliege in die Wolle geraten. Sie kennen meine Einstellung. Ein Nichtsnutz weniger!" Jo schnellte so unvermittelt hoch, daß Iverness einen erschrockenen Schritt zurück machte. "Wenn Sie jetzt nicht auf der Stelle Raum gewinnen, Mann, kann es passieren, daß ich meine gute Kinderstube vergesse. Und das würde Ihnen eine lange Zeit im Streckverband einbringen!" Iverness wußte, wann ein Bogen überspannt war. Seufzend machte er auf den Absätzen kehrt, und Jo rief ihm noch heiser nach: "Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir nicht mehr über den Weg liefen, Alec. Es könnte leicht sein, daß wir einander mal an einem Tag begegnen, an dem ich mit dem linken Bein zuerst aus dem Bett gestiegen bin..."
* Wirt und Penner waren kaum zu unterscheiden. Vielleicht war der Wirt etwas besser genährt als seine Gäste, das war aber auch der einzige Unterschied, und selbst den entdeckte man erst, wenn man zweimal hingesehen hatte. Der Mann hinter dem Schanktisch hatte einen verfilzten Vollbart, in den er immer wieder mit einer Hand hineinfaßte und darin herumkratzte. Er trug ein kariertes Wollhemd mit riesigen Schweißflecken unter den Achseln. Sein Haar war struppig. Er machte denselben gepflegten Eindruck wie ein seit Monaten umherstreunender Hund. Zu ihm kamen ausschließlich Penner. Er schenkte scheußlichen Fusel aus, aber das störte keinen. Das Zeug mußte billig sein, und das war es. Es mußte in der Kehle brennen, und man mußte davon einen Rausch kriegen können. Die Wände der Kneipe starrten vor Dreck. Die batteriegetriebene Reklameuhr über dem Eingang zeigte neun. An acht Tischen saßen verwegene Gestalten. Einige von ihnen waren jetzt schon blau. Andere würden es in ein paar Stunden sein. Und wiederum andere waren zur Nüchternheit verurteilt, weil sie nicht genug Geld in ihren Taschen hatten und weil der an und für sich freigiebige, gutmütige Wirt ihnen keinen Kredit mehr geben wollte. Leo Richards starrte kopfschüttelnd in sein halb volles Glas. Der "Doktor" saß neben ihm auf der Bank. Neben dem "Doktor" schnarchte einer so laut, daß man ihn trotz des herrschenden Lärms klar und deutlich vernehmen konnte. "Tot", sagte Richards bedrückt. "Jetzt ist er tot, ,Doktor'." Er hob den Blick und schaute Tuckerman benommen an. "Wir werden unseren Kumpel nie mehr wiedersehen..." "Zigarren", sagte Fred Tuckerman geistesabwesend. "Die teuersten Zigarren, die ich kriegen konnte, habe ich für ihn gekauft, aber er konnte sie nicht mehr rauchen..." Der "Doktor" hatte die Zigarren mit Verlust weiterverkauft. Jetzt war er wieder flüssig. Er konnte es sich sogar Copyright 2001 by readersplanet
leisten, Leo zu einem Glas einzuladen. "Du warst doch mit ihm genauso oft zusammen wie ich", sagte Richards gedehnt. "Hat er dir gegenüber mal irgendwas erwähnt?" "Was?" fragte Tuckerman. "Na, daß einer hinter ihm her war oder so." "Kein Wort hat er gesagt", erwiderte Tuckerman kopfschüttelnd. Richards tippte sich mit dem Finger auf die Stirn. "Es will einfach nicht da hinein, verstehst du? Ich kann es nicht begreifen, daß einer so was Unsinniges tut. Ich würde noch mitkommen, wenn einer einen Penner erschlägt, weil dieser ihm geklaut hat. Aber Howie Benson hat ganz bestimmt niemals etwas gestohlen. Dazu war er eine viel zu ehrliche Haut. Howie und klauen - undenkbar." Der "Doktor" erzählte zum dritter mal von seinem Besuch im Morningside-Krankenhaus, wo er Kommissar X getroffen hatte, und er sagte nun: "KX ist der Ansicht, daß der Killer kein Irrer ist." "Nicht?" fragte Leo Richards perplex. "Er sagt, der Kerl weiß ganz genau, was er tut." "Woher nimmt KX denn die Weisheit?" "Das hat er mir nicht gesagt", anwortete Tuckerman und hob die Schultern. Ein Penner stieß ihn an bat ihn, ein Stück zur Seite zu sehen, wollte eine Rechtsauskunft von ihm haben. Der "Doktor" wechelte seinen Gesichtsausdruck, wurde amtlich und fragte: "Du weist, daß ich's nicht umsonst mache kann." "Genügt ein Klarer?" fragte der andere. "Okay. Ein Klarer für mich und einer für Leo." "Zwei Klare?" fragte der andere enttäuscht. "Mensch, fang bloß nie zu wuchern an." Tuckerman warf dem Mann eine ärgerlichen Blick zu. "Gefeilscht wird nicht. Entweder du akzeptierst, oder du verziehst dich. Solltest froh sein, daß es dir besser geht als Howie Benson, du elender Geizkragen." "Na schön. Zwei Klare", sagte der andere und bekam die Auskunft, die er von Tuckerman haben wollte. Die Sache fiel zufriedenstellend aus. Er bestellte beim Wirt die Schnäpse. "Hast mir sehr geholfen", sagte der Mann. "Kannst jederzeit gern wiederkommen", gab der "Doktor" zurück, und dann kippten er und Leo den spendierten Schnaps mit geschlossenen Augen. Die Tür ging auf, und die "Baronesse" torkelte in die Schnapskneipe. Sie hatte rotgeweinte Augen und war so betrunken, daß sie nicht mehr gerade gehen konnte. Eine blaue Rose aus Papier und ein samtenes Halsband waren ihr Markenzeichen, und wenn sie nüchtern war, ging sie, als hätte sie einen Besenstiel verschluckt. Deshalb nannte man sie überall nur "Baronesse": Ihr richtiger Name war Annie Aarons. Sie kam zu Tuckerman und Richards. Sie kannte alle anderen im Lokal zwar auch, aber Leo und den "Doktor" mochte sie mehr als die übrigen Penner. Schwer seufzend setzte sie sich. "Howie ist tot", sagte Leo einleitend. Die "Baronesse" nickte und heulte sofort wieder. Schluchzend erwiderte sie: "Der ,Guru' hat es mir erzählt. So ein netter Junge wie Howie kommt nicht mehr wieder." "Warum mußte es überhaupt einer von uns sein?" fragte der "Doktor" barsch. Annie Aarons kramte in ihren Taschen herum, fand ein Stück Stoff, in dem schon allerlei glitzerte, und putzte sich die Nase. "Howie war der netteste Kerl, den ich gekannt habe", jammerte sie. "Oja, das war er", sagte Leo. Copyright 2001 by readersplanet
Mit tränenerstickter Stimme fuhr die "Baronesse" fort: "Ich werde nie vergessen - mein ganzes Leben werde ich daran denken - wie rührend er war, als er an meinem Geburtstag dieses Gedicht aufgesagt hat. Das war so was von feierlich. Könnt ihr euch daran erinnern?" Richards und der "Doktor" nickten stumm. "Es, ist eine verdammte Sache!" knurrte Leo. "Es lag nicht der geringste Grund vor, Howie zu ermorden..." Er erhob sich. "Haltet mir den Platz frei, ja? Bin gleich wieder zurück. Muß nur mal schnell austreten." Die "Baronesse" nickte aufgelöst. Richards zwängte sich hinter dem Tisch hervor. Er ging den schmalen Schlauch zu den Toiletten entlang. Plötzlich meinte er, einen feinen Luftzug über seinen Nacken streichen zu spüren. Seit Howie überfallen worden war, lebte er in der permanenten Furcht, daß ihn das gleiche Schicksal ereilen könnte. Er wußte nicht, warum er das befürchtete. Die Angst war einfach da. Erschrocken drehte sich Richards um. Und da stand er. Der schwarze Würger!
* Jo brachte zuerst April Bondy nach Hause und setzte dann Wilkie Lenning in Greenvich Village ab. "Kann ich heute noch irgend etwas für dich tun?" fragte Wilkie. Er stand bereits auf dem Bürgersteig. "Mach dir noch einen netten Abend", antwortete Jo, drückte aufs Gas und fuhr weiter. Zehn Minuten später entdeckte er auf dem Broadway einen Parkplatz. Den Rest des Weges legte er zu Fuß zurück. Das Theater, in dem Jack Musser arbeitete, spielte eine Neufassung von "Annie Get Your Gun". Jo gab dem livrierten Waschlappen, der ihn nicht zu Musser vorlassen wollte, zehn Dollar, und die Sache lief. Jo kletterte eine Wendeltreppe hinunter und gelangte in einen schmalen Gang. Hübsche Mädchen kamen ihm plappernd und kichernd entgegen. Ein Anblick, der jedes Männerherz erwärmte. Eines der Girls quetschte sich absichtlich so knapp wie möglich an ihm vorbei. Sie hatte Beine, die sich sehen lassen konnten, und auch das übrige verdiente mehrere Oscars. "He, Süßer, du willst doch nicht etwa zu mir?" fragte sie kichernd. "Das ist betrüblicherweise nicht der Fall", sagte Jo und grinste. "Ich hätte im Moment sowieso keine Zeit. Mein Auftritt, du verstehst?" Das Girl lief mit wackelndem Hinterteil davon. Grinsend ging Jo weiter. Verflixt, er hatte ganz vergessen, zu fragen, wo er Jack Musser finden konnte. Jack war zu beneiden. Abend für Abend mitten in diesem prachtvollen Bienenschwarm. Überall waren Lautsprecher montiert, über die die laufende Vorstellung übertragen wurde, damit man jederzeit wußte, was auf der Bühne los war. Eine schmale Nachzüglerin kam den Gang entlanggekeucht. Jo hielt sie auf, und sie sagte ihm atemlos, wo Jack steckte. Dann stand er in der Tür. Jack war geschlaucht. Er streckte alle viere von sich, und es war ein Wunder, daß er die Zunge nicht zum Mund heraushängen ließ. "Jack", sagte Jo schmunzelnd. Musser hob den Kopf. "Jo." Er seufzte. "Dreißig Mädchen. Dreißig Wildkatzen habe ich soeben abgefertigt." "Ich habe sie gesehen. Sie sehen Zucker aus."
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"Es ist jedesmal die Hölle mit ihnen. Sie sind so verdammt eitel. Eine will schöner als die andere sein. Sie zanken sich, bleiben niemals still sitzen, manchmal fallen sie sogar übereinander her, dann muß ich auch noch den Schiedsrichter machen, und immer bin ich in Zeitdruck, denn wenn die Girls durch meine Schuld nicht rechtzeitig auf der Bühne stehen, bin ich meinen Job los. Ich muß meschugge sein, weil ich den Kram immer noch nicht hingeschmissen habe. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir und sagen Sie mir, daß ich nicht alle Tassen im Schrank habe." "Gib's zu, du machst es trotz allem gern Jack." Musser breitete erledigt die Arme aus. "Ist das nicht der beste Beweis dafür, daß ich verrückt bin?" Jo und Jack lachten. Kommissar X bot Musser eine von seinen Pall Malls an, aber der Maskenbildner lehnte mit einem dürftigen Lächeln ab. "Ich darf nicht mehr so wie einst im Mai." Er wies auf sein Herz. "Die Pumpe macht hin und wieder Schwierigkeiten." "Es ist doch nichts Ernstes, oder?" fragte Jo teilnahmsvoll. "Zweimal bin ich ganz schön erschrocken, aber der Doktor sagt, daß ich trotz allem weit über hundert Jahre alt werden kann, wenn ich nicht früher sterbe. Ich muß nur das Rauchen einschränken. Noch lieber sähe er es, wenn ich überhaupt keine Zigarette mehr ansehe. Ich bin ein gefälliger Mensch. Warum soll ich dem Arzt die Freude nicht machen?" Jo brannte sich ein Stäbchen an und blies den Rauch zu Boden. Musser fuhr sich mit der Hand über die graugrünen Augen. Er hatte ein paar Pfunde zugenommen, seit Jo ihn das letztemal gesehen hatte. Also ging es ihm nicht so schlecht, wie er sich im Augenblick fühlte. Jacks Gesicht war breit, und er selbst hatte einmal gesagt, bei ihm bestünde eine permanente Fluchtgefahr, denn er hätte ein fliehendes Kinn und eine fliehende Stirn, und wenn man auf ihn nicht aufpasse, würde der Rest auch noch abhauen. "Was führt Sie zu mir?" fragte er. "Ein ausgefallener Wunsch, den nur du mir erfüllen kannst", erwiderte Jo. "Sie kennen Jack Musser. Für seine Freunde tut der glatt alles", grinste der Maskenbildner. "Wahrscheinlich habe ich mich deshalb sofort an dich erinnert", bemerkte Jo. Er war ernst geworden, seine Brauen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen. "Du hast vermutlich in der Zeitung von diesem Kerl gelesen, den sie den schwarzen Würger nennen..." "Ja", knurrte Musser mit flackerndem Blick. "Ein Schwein ist das. Was hat ihm der Penner denn getan?" "Nichts, wie's scheint", sagte Jo. "Und wegen nichts kam Howie Benson zum Handkuß?" Jo nickte. "So sieht's aus. Ich versuche gerade, Licht in dieses verdammte Dunkel zu bringen." "Sie sind hinter dem schwarzen Würger her?" fragte Musser begeistert. "Und ich soll Ihnen dabei helfen? Jesus, Sie ahnen nicht, was Sie mir damit für eine große Freude machen, Jo. Was soll ich tun? Sagen Sie's, und ich mach's." "Kannst du aus mir einen wasch- und kochechten Penner machen, Jack?" fragte Jo. Musser nickte hastig. "Nichts leichter als das. Sie werden staunen, Jo. Ich verändere Ihr Gesicht so sehr, daß Ihre eigene Mutter Ihnen die Tür vor der Nase zuknallt. Niemand wird Sie erkennen. Haben Sie vor, sich in die Penner-Clique einzuschleichen?" Jo nickte. "Aber zu keinem darüber ein Wort, ja?" Musser machte große Augen, legte den Zeigefinger auf die Lippen und tönte dahinter: "Ehrensache. Ich kann verschlossen sein wie 'ne Auster!" "Wann kann ich morgen kommen?" erkundigte sich Jo. Musser zuckte die Achseln. "Wann Sie wollen. Ich wohne in einem der Blöcke der General Grant Houses. Nummer 5867. Apartment D. Sie sind mir ab sechs Uhr morgens Copyright 2001 by readersplanet
willkommen." "Vielen Dank, Jack, und... ich werde mich schon erkenntlich zeigen." Musser starrte ihn böse an. "Moment, Jo! Sie haben doch nicht etwa vor, mich zu beleidigen, he?" "Wieso?" "Hören Sie, es ist mir eine große Ehre, Ihnen helfen zu dürfen. Ich will von Ihnen dafür nichts kriegen, verstehen Sie? Keinen Whisky. Und schon gar kein Geld, sonst machen Sie mich sauer, ist das klar? Wenn Sie mir unbedingt für meine Mühe danken wollen, dann tun Sie's, indem Sie dem verfluchten schwarzen Würger das Handwerk legen. Dazu beigetragen zu haben, bedeutet mir mehr als alles Geld." Jo legte dem Maskenbildner die Hand auf die Schulter. "Alle Achtung, Jack. Sie haben sich zu einem wertvollen Menschen gemausert." Musser kicherte. "Wer hätte das vor ein paar Jahren noch gedacht, wie?"
* Nach wie vor beklagte die "Baronesse" den Tod von Howie Benson. Sie heulte, als würde sie dafür bezahlt bekommen, und dem "Doktor" war ihr Jammern so unangenehm, daß er alle Anstrengungen machte, sie zu trösten und zu beruhigen. "Es war Gottes Wille", sagte er und strich ihr über das fettige, strähnige Haar. "Das Ende bleibt uns allen nicht erspart, Annie. Vielleicht ist das die einzige Gerechtigkeit auf dieser Welt. Sterben müssen alle. Die einen früher, die anderen später. Aber dem Schnitter mit der Sense ist noch keiner entkommen." Annie Aarons wischte sich die Tränen ab. "Er war so ein herzensguter Mensch." "Sein Tod ist für uns alle ein schlimmer Schock, Annie." "Ob er gelitten hat?" "Bestimmt nicht. Er war ja geistig nicht da. Er hat es nicht mitgekriegt. Begriffen hat er nur das, was ihm im Central Park zugestoßen ist." "Das war schlimm genug", seufzte Annie Aarons. "Das Leben geht weiter, so grausam das auch klingen mag. Wir werden Howie Benson vergessen müssen. Wir können nicht bis an unser Ende um ihn trauern. Das würde er auch gar nicht wollen. Er war ein lebens-lustiger Mensch. Trauer war ihm verhaßt." "Ich kann ihn nicht vergessen", ächzte die "Baronesse". "Möchtest du was trinken?" "Ich hab' kein Geld mehr." "Brauchst du nicht. Ich bezahle." Annie blickte den "Doktor" mit glasigen Augen an. "Warum tust du das?" Tuckerman hob die Schultern. "Weil du mir leid tust, und weil ich keine Frau weinen sehen kann. Das war schon immer so. Wenn meine Mutter mich geschlagen hat, wurde ich nur noch störrischer, aber wenn ich eine einzige Träne in ihren schönen Augen sah, war ich hin. Dann konnte sie von mir haben, was sie wollte." Der "Doktor" erhob sich und holte zwei Schnäpse. Er nahm einen kleinen Schluck, denn er wollte sich das Zeug einteilen. Der letzte Dollar war soeben draufgegangen. Wenn heute keiner mehr kam, um von ihm eine Rechtsauskunft zu erbitten, war es nach diesem Schnaps zu Ende mit dem Trinken. Er leckte sich die Lippen, legte der "Baronesse" den Arm um die Schultern und zog sie an sich. "Vielleicht ist es ganz gut, daß unser Freund Howie auf diese Weise starb, Annie."
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Die "Baronesse" riß sich von ihm los, starrte ihn mit aufgerissenen Augen an und fragte: "Sag mal, bist du nicht bei Trost?" Tuckerman holte sie mit begütigender Miene wieder zurück. "Du weißt nicht, was ich von Howie weiß." "Ich weiß sehr viel von ihm. Ich war oft mit ihm zusammen. Wir haben viel miteinander gesprochen. Ich kenne sein ganzes Leben... und jetzt auch seinen Tod." "Du kennst vermutlich nicht alles", sagte Tuckerman und blickte in sein Glas. "Er hat mit niemandem darüber gesprochen. Er war jederzeit zu Späßen aufgelegt, man sah ihn kaum mal ernst, aber das war alles nur Fassade, Annie. Glaube mir, ich weiß es. Tief in seinem Herzen trug er den Schatten eines großen Kummers. Er hat sich mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut. Bestimmt hätte er es nicht getan, wenn er nüchtern gewesen wäre, aber zu dem Zeitpunkt, wo er mit mir darüber sprach, war er so stockbesoffen, daß er nicht mehr auf seinen eigenen Beinen stehen konnte." Die "Baronesse" sah Tuckerman erwartungsvoll an. "Was war denn los mit ihm, ,Doktor'?" "Jetzt", sagte Tuckerman, "wo er nicht mehr lebt, wird es ihm wohl nichts mehr ausmachen, wenn ich sein Geheimnis preisgebe..." "Was sollte er jetzt noch dagegen haben?" "Eben." "Nun rede schon, Fred!" sagte die "Baronesse" drängend. "Er hatte was im Bauch, unser Freund Howie. Einen bösartigen Tumor." "Wer hat ihm das gesagt?" "Keine Ahnung. Aber er schien damit zu rechnen, daß er wohl nicht besonders alt werden würde, und er war sicher, daß sein Tod verdammt schmerzhaft werden würde. Damals, als er mit mir darüber sprach, weinte er wie ein kleines Kind. Ich kann dir nicht beschreiben, wie elend ich mich neben ihm fühlte. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Was sagt man einem, der weiß, was für eine beschissene Zukunft er vor sich hat? Soll man ihm einreden, das wäre alles Blödsinn, es würde schon nicht so schlimm kommen? Hätte ich ihm sagen sollen: ,Nun komm schon, alter Junge. Du wirst noch auf meiner Beerdigung tanzen! Gott, das sind alles so idiotische Sprüche, die wir klopfen, wenn wir einen totkranken Menschen vor uns haben und uns so verdammt hilflos fühlen..." Die "Baronesse" griff erschüttert nach ihrem Glas. Plötzlich ein Schrei, so entsetzlich, daß alle in der Kneipe meinten, er könne von keinem Menschen ausgestoßen worden sein. Die Penner, der Wirt... alle erstarrten. Das Blut gerann ihnen fast in den Adern. Der "Baronesse" fiel das Glas aus der Hand. Dann sprang der "Doktor" auf, als wäre ein Stromstoß durch die Holzbank gefahren, auf der er gesessen hatte. "Leo!" brüllte er bestürzt. "Gott im Himmel, das war Leo!" Er rannte los, stieß alle zur Seite, die ihm im Weg standen, erreichte atemlos die Toiletten... Da lag Leo. Vor den Muscheln. Lang ausgestreckt und...tot.
* Vom Broadway fuhr Jo Walker zur 96. Straße West. Die Pizzeria, in der George Utley arbeitete, war gerammelt voll mit hungrigen Gästen. Das Lokal, über dessen Umsatz sich der Besitzer nicht beklagen konnte, gehörte einem Italiener namens Dino Petrucci. Er war ein kleiner Mann mit schwammigen Weiberhüften, Plattfüßen und schwarzem, pomadigem Haar. Er watschelte Jo mit einem geschäftstüchtigen Lächeln entgegen. "Guten Abend, Sir. Im Augenblick ist leider nur ein Platz am Tresen frei. Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus. Wenn ich Ihnen unsere Pizza ,Quattro Stagioni empfehlen dürfte, die ist heute besonders Copyright 2001 by readersplanet
lecker..." Jo wies auf seinen Hals und erwiderte schmunzelnd: "Mir steckt das Steak, das ich vor kurzem gegessen habe, immer noch hier." "Dann versuchen Sie unseren vorzüglichen Lacrimae Christi. Sie werden es nicht bereuen." "Sehr gern", meinte Jo und enterte den freien Hocker. Vom Tresen aus konnte man in die Pizzaküche sehen. Drei Öfen waren angeheizt, und die Kerle, die davor standen, hatten alle Hände voll zu tun. Sie trugen weiße Jacketts, karierte Hosen, ein rotes Halstuch und Kochmützen. Einer von den dreien mußte George Utley sein. Jo ließ es sich einen Fünfer kosten. Er schob den Schein über den Tresen und sagte zu dem dunkelhäutigen Burschen, der ihn bediente: "Ich muß dringend mit George reden. Läßt sich das arrangieren?" Der Junge grapschte sich die Banknote, eilte in die Küche, löste George ab, redete ein paar Worte mit ihm und wies mit dem Daumen über die Schulter dorthin, wo Jo saß. Utley kam. Er sah Jo reserviert an. "Sie wünschen?" "Mein Name ist Walker. Jo Walker. Ich bin Privatdetektiv. Vielleicht haben Sie schon mal von mir gehört." "Man nennt Sie Kommissar X, nicht wahr?" "Genau", sagte Jo und nickte. "Darf ich Sie zu irgend etwas einladen, George?" "Der Chef sieht es nicht gern, wenn wir während der Arbeitszeit trinken. Er sieht es auch nicht gern, wenn wir während der Arbeitszeit mit Gästen reden." Jo schmunzelte. "Ich verstehe. Ihr Chef ist ein Sklaventreiber. Wo hat er denn seine Peitsche?" "Er bezahlt gut und kann dafür gute Arbeit verlangen", erwiderte Utley. "Wenn Sie jetzt bitte zur Sache kommen wollen." "Können Sie sich nicht vorstellen, weshalb ich hier bin?" "Wie kann ich Ihnen helfen?" fragte der Junge zurück. "Indem Sie mir so präzise wie möglich den Mann beschreiben, den Sie verjagt haben... Das war übrigens eine lobenswerte mutige Tat." Utley hob die Schultern. "Da mußte ich schon Captain Rowland enttäuschen." Jo hob eine Braue. "Ach, er leitet die Untersuchungen?" "Ich war im Police Headquarters in der Centre Street 110..." Jo nickte. "Meine zweite Heimat." "Captain Rowland war bei der Einvernahme dabei. Da es sich aber um keinen Mord handelte, überließ er, nachdem er mir etliche Fragen gestellt hatte, den Fall seinen Kollegen." "Mittlerweile wurde aus dem Fall ein Mord. Anzunehmen, daß der Captain sich den Fall nun unter den Nagel gerissen hat", sagte Jo. "Versuchen Sie haarscharf nachzudenken, George. Es ist äußerst wichtig, wie Sie sich denken können, von dem Kerl eine genaue Personenbeschreibung zu haben." "Er war kräftig. Und er trug eine graue Strumpfmaske über dem Kopf. Aus Nylon. Sein Gesicht war total verformt. Wenn er jetzt so wie Sie vor mir stehen würde, würde ich ihn nicht wiedererkennen." "Wie war er angezogen?" forschte Jo unverdrossen weiter. "Schwarz." "Schuhe, Hosen, Jackett... alles schwarz?" "Deshalb wird er ja der schwarze Würger genannt. Auch die Handschuhe, die er trug, waren schwarz." "Lederhandschuhe?" Copyright 2001 by readersplanet
"Ja." "Billige Kleidung? Von der Stange? Oder nach Maß und teuer?" versuchte Jo weiter in den Jungen zu dringen, doch auf alle seine Fragen kam nur noch ein bedauerndes Achselzucken und die Feststellung, daß es im Central Park stockfinster gewesen wäre. Dino Petruccis Luchsaugen erspähten George Utley am Tresen, obwohl der Junge in die Küche gehörte. Der kleine Italiener kam sofort angewetzt, sah George streng und Jo freundlich an und fragte dann mit einem Lächeln pflichteifrig: "Ist irgend etwas nicht in Ordnung; Sir?" Jo legte das Geld für den Wein auf das Pult und meinte grinsend: "Oh, ich bat den Jungen nur um das Rezept Ihrer köstlichen Pizza."
* Den "Doktor" überlief es heiß und kalt zugleich. Die anderen Penner kamen mit starren Gesichtern angewankt. Der Wirt puffte sie zur Seite und erreichte vor ihnen allen die Toilette. Als er Leo Richards auf dem Boden liegen sah, schlug er die Hände zusammen und schrie heiser: "Heilige Muttergottes!" Fred Tuckerman fiel ein, daß der Killer noch keinen großen Vorsprung haben konnte. Er fuhr herum und hastete zum Hinterausgang. Sein Herz trommelte aufgeregt gegen die Rippen. Auf seinem Gesicht perlte der Schweiß. Nach Howie Benson war nun auch Leo Richards umgebracht worden. Das wurde immer unsinniger. Tuckerman schleuderte die Tür zur Seite. Er sprang in den dunklen Durchlaß und hatte den Eindruck, eine schwarze Gestalt davonhuschen zu sehen. Eine furchtbare Wut übermannte ihn. Er wußte nicht, was er tun würde, wenn er den Kerl eingeholt hatte. Er war unbewaffnet, und vielleicht würde er genauso enden wie Howie und Leo. Aber daran dachte der "Doktor" in diesem Augenblick nicht. Dort lief der schwarze Würger, und Tuckerman wollte ihn um keinen Preis entkommen lassen. Wie von Furien gehetzt jagte der "Doktor" durch den schmalen Durchlaß. Er hörte Kisten umfallen. Wenig später hatte er die Holzkisten erreicht, die hinter einer geschlossenen Fischbraterei aufgestapelt waren. Der Mörder überkletterte soeben einen Maschendrahtzaun und verschwand Augenblicke später auf dem weiten, finsteren Areal eines Autofriedhofs. Tuckerman folgte dem Unbekannten. Verbissen turnte er an dem Gitter hoch. Er verausgabte sich, verlangte seinem Körper buchstäblich alles ab. Die Wut stachelte ihn zur Höchstleistung an. Trockenes Erdreich knirschte unter seinen schiefgelaufenen Schuhen. Er war völlig außer Atem. Es fiel ihm entsetzlich schwer, die Luft anzuhalten und in die Dunkelheit hineinzuhorchen. Da! Er hatte das leise Klappern eines Blechs vernommen. Sofort wandte er sich in diese Richtung. Seine Hände ballten sich zu Fäusten Er ging vier Schritte und stieß mit der Schuhspitze gegen eine handliche Eisenstange. Er bewaffnete sich damit, fühlte sich nun sicherer. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er wußte, daß er es nicht tun durfte, aber gleichzeitig wußte er, daß er es tun würde: Er würde dem gottverfluchten Killer mit dieser Eisenstange den verdammten Schädel einschlagen. Howie Benson und Leo Richards waren seine besten Freunde gewesen. Sein Haß suggerierte ihm, daß er ein moralisches Recht auf das Leben des Mörders hatte. Seine kurzsichtigen Augen versuchten die Dunkelheit zu durchdringen. Links und rechts ragten Berge von Autowracks auf, und irgendwo - ganz in der Nähe - hatte sich der schwarze Würger verkrochen, hatte sich in eines dieser Wracks zurückgezogen und sich damit so gut wie in Luft aufgelöst. Er brauchte bloß den Atem anzuhalten und vollkommen stillzusitzen, dann würde der "Doktor" ahnungslos an ihm vorübergehen. Tuckerman blieb stehen.
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Zum Teufel, wo war diese Bestie in Menschengestalt hingekommen? Der Penner drehte sich einmal um die eigene Achse. Und dann passierte das, was Tuckerman insgeheim befürchtet hatte. Der gefährliche Killer stand plötzlich vor ihm. Er konnte nicht schnell genug reagieren. Dieses blitzschnelle Auftauchen war die größte Stärke des tödlichen Unbekannten. Damit überrumpelte er seine Opfer. Tuckerman blieb das Herz stehen, als er den Kerl auf sich zuspurten sah. Wo war bloß seine Eisenstange? Weit unten. Ehe er sie hochreißen konnte, traf ihn schon der Totschläger des schwarzen Würgers. Der Boden stellte sich mit einem Mal schräg und Fred Tuckerman kippte ab. Noch einmal schlug der Mörder zu. Tuckerman war schwer benommen. Er spürte die Hände des Mörders an seiner Kehle, und alles in ihm schrie, daß es nun mit ihm vorbei sein würde. Da kam ihm der Himmel zu Hilfe. Laut heulende Polizeisirenen irritierten den Mörder. Seine schwarz behandschuhten Hände zuckten zurück. Der Mann stieß ein unwilliges Knurren aus, schnellte hoch, blickte sich gehetzt um, fing plötzlich zu laufen an und verschwand so unglaublich rasch, wie er aufgetaucht war...
* Jo kickte die Tür hinter sich zu. Ende. Das war's für heute. Die letzte Nacht in einem weichen, warmen Bett stand ihm bevor. Keiner konnte voraussagen, wie lange er ab morgen den Penner spielen mußte. Und es war noch fraglich, ob die ganze Sache überhaupt etwas bringen würde. Vielleicht lag sich Jo Nacht für Nacht auf irgendeiner Parkbank den Rücken wund, ohne daß der schwarze Würger nochmals zuschlug. Vielleicht war das Problem des Killers mit dem Tod von Howie Benson aus der Welt geschafft. Aber das waren Dinge, über die Jo morgen und während der darauffolgenden Tage immer noch gründlich nachdenken konnte. Er nahm sich einen Drink, zündete sich eine Pall Mall an, lockerte den Krawattenknopf und begab sich zum Schreibtisch, um sich anzuhören, was der automatische Anrufbeantworter während seiner Abwesenheit aufgezeichnet hatte. Anruf Nummer eins war ein Mädchen, mit dem Jo vor zwei Monaten ein paar schöne Tage in Acapulco verbracht hatte. Sie bat ihn, doch mal wieder anzuklingeln, und er schmunzelte und war froh, daß April Bondy dieses Band nicht abhörte. Dann kam der zweite Anruf. Eine schnarrende Stimme, mit der man Ungeziefer vertreiben konnte. Das war unverkennbar Tom Rowlands Organ. Der Leiter der Mordkommission Manhattan C/II nannte eine Fuselkneipe, die Jo als Pennertreffpunkt ersten Ranges bekannt war. "Da bin ich gerade", sagte, Tom, und Jo mußte lachen. Er dachte: Weit hat er's gebracht, mein guter Freund. "Wenn du das Band vor Mitternacht abhörst, solltest du deinen dicken Hintern sofort wieder in den Silberling schwingen und hierherkommen", fuhr der Captain fort. "Es hat nämlich schon wieder einen Penner erwischt: Diesmal ist es Leo Richards." Jo stand da, als hätte ihn jemand mit Eiswasser übergossen. Richards! Verdammt noch mal, jetzt ging es auf einmal Schlag auf Schlag! Es herrschte das übliche Getümmel vor der Schnapsbude. Auf den Dächern der Patrolcars zuckten die Rotlichter. Cops versuchten Ordnung zu schaffen. Sie trieben die Neugierigen, die sich angesammelt hatten auseinander. "Weitergehen!" riefen sie mit harter Stimme. "So gehen Sie doch weiter, Herrschaften! Hier gibt es nichts zu sehen!" Jo geriet an einen Beamten, der ihn kannte. Der Mann nickte ihm freundlich zu und sagte: "Captain Rowland ist dort drinnen." "Wie sieht Leo aus?" fragte Jo. "Mir hat's den Magen umgedreht. Ich werde mich an so was wohl nie gewöhnen." Copyright 2001 by readersplanet
"Vielleicht muß das so sein", erwiderte Jo. "Wenn Sie erst mal abgestumpft sind, wenn Sie so etwas kalt läßt, dann sind Sie kein guter Polizist mehr." Die Penner hockten stumm an den Tischen. Wohin Jo sah, überall begegnete er dem gleichen verstörten Ausdruck. Ron Myers, der schlaksige, sommersprossige Lieutenant, er war Rowlands Stellvertreter kam ihm entgegen. "Jo", sagte er ernst und nickte grüßend. "Eine scheußliche Sache. Tom ist auf hundert. Das ist nun schon der zweite Pennermord. Und wir haben nicht die blasseste Ahnung, weshalb das passiert. Der Kerl schlägt blitzschnell zu und verschwindet augenblicklich wieder. Langsam sieht es so aus, als hätten wir's mit 'nem Phantom zu tun." Ron Myers wiegte den Kopf. "Der District Attorney wird morgen Tom zu sich beordern und sich von ihm berichten lassen, und was wird der Captain ihm sagen können? Daß wir in dieser Sache einfach nicht weiterkommen." Ron seufzte. "Morgen möchte ich nicht in Toms Haut stecken..." Jo lächelte. "Und ich nicht in deiner." Ron sah ihn verwirrt an. "Weshalb nicht?" "Gewöhnlich gibt Tom das Donnerwetter an seine Untergebenen weiter. Es wird morgen Gewitterstimmung in der Centre Street herrschen." Der Lieutenant nickte mit geplagter Miene. "Daran habe ich noch gar nicht gedacht." Jo ging weiter. Ron verließ das Lokal kurz. Plötzlich geriet Jos Blut in Wallung. Schon' wieder Alec Iverness. Verdammt noch mal, jetzt war das Maß aber bereits randvoll. Der widerliche Reporter bequasselte einen Cop. Der Uniformierte konnte einem leid tun. Iverness ließ ihn nicht mehr aus seinen Fängen. Er bombardierte den Mann mit unzähligen Fragen, gab Kommentare zur Arbeit der Polizei ab, äußerte Mutmaßungen, gab sich selbstherrlich und tat so, als ob keiner besser über alles Bescheid wüßte als er. Jetzt nickte er gerade mit einer furchtbar wichtigen Miene. "Ja, ja. Da fegt einer mit einem ganz harten Besen unsere verdreckte Stadt sauber, mein Lieber!" Als der Reporter Jo entdeckte, zuckte er kurz zusammen, dann machte er einen großen Bogen um Kommissar X und strebte dem Ausgang entgegen. Jo ging zu Tom weiter. Als er Iverness erwähnte, sagte der Captain verdrossen: "Ich krieg' noch mal einen Gallenanfall wegen dieser Filzlaus". "Warum sagst du ihm nicht, du willst ihm nicht mehr begegnen?" fragte Jo. "Meinst du, das habe ich noch nicht getan? Er hält sich ja nicht daran." "Vielleicht solltest du mal einen Vorwand finden, um ihn für vierundzwanzig Stunden einzusperren." Tom nickte mit grimmiger Miene. "Eine gute Idee. Das werde ich beim nächstenmal tun. Dem Burschen was anzuhängen ist sicherlich nicht schwierig. Und wenn man ihn nur wegen seines dämlichen Gesichts bestraft...Ich habe erfahren, daß du hinter dem schwarzen Würger her bist." "Genau wie du", sagte Jo. "Und wie's aussieht, mit demselben Erfolg wie ich", knurrte der schwergewichtige Captain ärgerlich. Jo warf einen Blick auf den Toten. Dann erzählte er dem Captain, daß Leo sich an Wilkie Lenning um Hilfe gewandt hatte, als Howie Benson im Central Park überfallen worden war. "Mal wieder so ein Caritas-Fall, der dir nichts einbringt, wie?" sagte Tom. Jo hob die Schultern. "Man kann nicht immer nur ans Geld denken." Tom nickte. "Das tun bloß die Schotten." Jo wies auf den toten Penner. "Wie ist es passiert?" "Das läßt du dir am besten von Fred Tuckerman erzählen", antwortete Captain Rowland. Jo sah sich um. "Wo ist er?" Copyright 2001 by readersplanet
"Er muß hier irgendwo mit einem dicken Brummschädel herumhängen. Er hat versucht, den Killer zu erwischen. Der Bursche hat ihm eins auf die Rübe gegeben, und wenn ihn die Polizeisirenen nicht verjagt hätten, hätte es auch noch einen dritten Toten gegeben." "Wie denkst du über diesen Fall, Tom?" "Willst du wirklich meine Meinung hören?" "Würde ich sonst fragen?" "Der Fall kotzt mich an!" schnaubte Tom Rowland. "Entweder haben wir's hier mit einem Irren zu tun, oder der schwarze Würger ist ein verdammt schlauer Kerl, der seine Mordlust auf diese Weise abreagiert. Ich muß mal mit unserem Psychiater über diesen Fall reden. Vielleicht kann er mir einen brauchbaren Denkanstoß liefern." "Meiner Ansicht nach verübt der Bursche diese Morde nicht ohne Motiv", sagte Jo ernst. Tom blickte ihn verwundert an. "Hast du dafür einen konkreten Beweis?". Jo schüttelte den Kopf. "Leider nein. Es ist nur ein Gefühl." Tom zog die Mundwinkel nach unten. "Mit 'nem Gefühl kann ich nicht vor dem Staatsanwalt brillieren. Der will knallharte Fakten geliefert bekommen, und verdammt noch mal, ich bin nicht imstande, sie aufzutreiben. Vielleicht werde ich langsam alt, wer weiß..." "Dann werde ich jetzt mal den ,Doktor' suchen", sagte Jo. Tom hielt ihn am Ärmel fest, als er sich umdrehen wollte. "Ich habe hier noch zu tun. Kann sein, daß wir uns später aus den Augen verlieren, deshalb will ich dir das Versprechen jetzt gleich abnehmen: Du hältst mich über deine Ermittlungen auf dem laufenden, okay? Du weißt schon. Eine Hand wäscht die andere..." Jo nickte schmunzelnd: "Und beide das Gesäß." "Dafür revanchiere ich mich bei Gelegenheit vielleicht auch mal mit einem brauchbaren Tip." Jo nickte. "Ich ruf' dich an, sobald ich aus den Startlöchern rauskomme." "Mehr kann ich nicht verlangen", sagte Tom und kehrte zu seinen Leuten zurück. Der "Doktor" hockte in einer Ecke und regte sich nicht. Der Polizeiarzt hatte ihm einen weißen Turban verpaßt. Tuckerman starrte vor sich hin, schien nicht ansprechbar zu sein. Jo deutete einem Penner, er möge ein Stück beiseite rücken. Nachdem der Typ das getan hatte, setzte sich Kommissar X neben den vor sich hin starrenden "Doktor". "Ich nehme an, Sie fühlen sich furchtbar elend, Fred", sagte Jo teilnahmsvoll. Ohne den Kopf zu heben oder die Sitzstellung auch nur um einen Millimeter zu verändern, antwortete Tuckerman mit tonloser Stimme: "Elend ist nur der Vorname, KX." "Würde Ihnen ein Schnaps auf die Beine helfen?" "Ich habe kein Geld mehr." "Ich sprach nicht vom Geld, sondern vom Schnaps", sagte Jo. "Er würde mir guttun", antwortete Tuckerman, und Jo holte welchen. Die Hände des "Doktors" zitterten so heftig, daß Gefahr bestand, daß er den ganzen Schnaps verschüttete, deshalb ließ Tuckerman das Glas stehen. Er beugte sich vor, kippte das auf dem Tisch stehende Glas und trank so. "Erst Howie. Nun Leo", sagte Jo ernst. "Ich bin dem Kerl nachgerannt", sagte Tuckerman heiser. "Mein Ehrenwort, ich hatte vor, ihm den Schädel einzuschlagen. Aber der Bursche ist schnell. So schnell wie der Blitz. Ich kam nicht mal dazu, die Eisenstange, die ich in meiner Hand hatte, hochzureißen. Ein Wunder, daß ich noch lebe..." Jo ließ sich, nachdem er den Schluß halbwegs kannte, den Anfang erzählen, und dann fragte er: "Was ist das für einer, Fred? Können Sie mir etwas über ihn sagen?" "Er ist grausam und eiskalt. Er kennt kein Mitleid, und eine Begegnung mit ihm ist eine furchtbar gefährliche Sache." Wie schon bei George Utley in der Pizzeria, wollte Jo nun wieder hören, wie der Unbekannte gekleidet gewesen war. Tuckerman seufzte und trank. "Mein Gott, was verlangen Sie von Copyright 2001 by readersplanet
mir, Mr. Walker? Es war finster wie in einer Gruft. Und der Überfall ging ruckzuck. Ich kam nicht einmal zum Denken. Was hätte mir in dieser Eile an dem Kerl auffallen sollen?" "Trug er einen Ring?" fragte Jo. "Er trug doch Handschuhe." "Also ist Ihnen doch etwas an ihm aufgefallen", sagte Jo. "Er war maskiert. Nylonmaske. Grau." "Sonst noch was?" fragte Jo. "Die Schuhe. Sie waren nicht billig." Jo nickte zufrieden. "Das ist ja schon mehr, als ich erwartet habe. Eine Frage noch, Fred. Können Sie morgen vormittag unter der Brooklyn Bridge sein?" "Ich bin fast immer da. Um welche Zeit?" "Paßt Ihnen zehn Uhr?" "Mir ist jede Stunde recht. Wollen Sie mich dort treffen?" "Ja. Westufer!" "Okay", sagte Tuckerman und Jo erhob sich. Man trug Leo Richards in einer verschraubten Zinkwanne aus der Schnapsbude. Alle Penner folgten dem klobigen Ding mit glanzlosen Augen. Tom verließ mit Jo die Kneipe. Tom sagte: "Übrigens, die ,Baronesse' erlitt einen Nervenzusammenbruch, als man ihr sagte, daß Leo ebenfalls dem schwarzen Würger zum Opfer gefallen war. Unser Doktor mußte ihr was spritzen. Kaum konnte sie wieder klar denken, ist sie ausgerissen und davongerannt." "Die Penner mögen die Bullen nicht so gern", sagte Jo schmunzelnd. "Wir tun ihnen doch nichts." "Ab und zu locht ihr sie ganz gern wegen Stadtstreicherei ein." "Bloß, um sie mal wieder zu entlausen", entgegnete der Captain lächelnd. Jo flog plötzlich ein Gedanke zu. Er grinste. "Ich hätte einen Täter für dich, der uns allen gefallen würde." "Wen?" fragte Rowland sofort. "Alec Iverness." "Den unsympathischen Zeitungsfritzen?" fragte Rowland verblüfft. "Der Bursche ist andauernd hinter irgendwelchen Sensationen her. Ein harter Job, wenn man's genau nimmt, denn wenn er seiner Redaktion eine Weile nichts bringt, setzt die ihn logischerweise an die Luft. Zeitungen leben nun mal von Sensationen. Und nun versetz dich mal für einen Moment in Iverness' Lage." "Brrr", machte Tom und schüttelte sich. "Nur für einen kurzen Augenblick. Du bist Iverness, und du kriegst auf einmal nirgendwo eine brauchbare Sensation her. Es ist wie abgerissen. Es tut sich nichts. Die in der Redaktion werden möglicherweise langsam unruhig. Sie behaupten, der gute Alec hätte seinen Riecher verlören, von dem wäre nichts mehr zu erwarten. Könnte es da nicht sein, daß Iverness anfängt, sich seine Sensationen selbst zu machen?" Tom riß die Augen auf. "Du meinst, indem er Penner erwürgt?" "Er haßt Penner", sagt Jo. Tom nickte hastig. "Darum kümmere ich mich. Jawohl, Jo, darum kümmere ich mich."
*
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Wenn es nichts nützte, schaden würde es auf keinen Fall, wenn Tom Rowland dem Reporter ein wenig die Hölle heiß machte. Iverness würde jetzt so viel zu tun kriegen, daß es unvorstellbar war, daß er noch Zeit finden würde, Jo ein weiteres Mal über den Weg zu laufen. Das erschien Kommissar X mehr als erfreulich zu sein. Tags darauf kreuzte Jo um acht bei den General Grant Houses auf. Jack Musser bereitete ihm einen Empfang, der einem Staatspräsidenten zur Ehre gereicht hätte. Nur der rote Teppich fehlte, aber dieses Manko machte Musser mit einer ehrlichen, überschwenglichen Herzlichkeit wett. Im Wohnzimmer saß eine aparte Polynesierin. Musser hatte sie am Theater kennengelernt. Sie teilten seit Monaten Tisch und Bett. Das Mädchen war klein und zierlich, hatte rabenschwarzes Haar, eine winzige Nase, große dunkle Augen und niedliche Brüste. Sie trug ein bunt bedrucktes Kleid, das salopp an ihrer gertenschlanken Figur hing. "Neely, das ist Kommissar X!" tönte Jack Musser, und es klang so, als wäre er auf nichts so stolz als auf diese Bekanntschaft. "Jo, das ist Neely, mein Baby." "Ganz bezaubernd", sagte Jo lächelnd. Neely gab das Lächeln zurück und sagte: "Jack hat mir schon viel von Ihnen erzählt, Mr. Walker. Er verdankt Ihnen sehr viel." "Oja. Ein paar Monate Gefängnis", sagte Jo lachend. "Er wäre danach immer wieder eingesperrt worden, wenn Sie ihm nicht auf den rechten Weg zurückgeholfen hätten, das werden wir beide Ihnen niemals vergessen." "Sie machen mich ganz verlegen", sagte Jo. "Trinken Sie Kaffee mit uns? Ich bitte Sie", sagte Neely und rauschte in die Küche ab. Musser strahlte über das ganze Gesicht. "Das ist sie. Das ist meine Neely. Ein Glückstreffer, sage ich Ihnen. Immer hilfsbereit. Keine Arbeit ist ihr zuwider. Und sie liest mir jeden Wunsch von den Augen ab." "Mit einem Wort, die Frau fürs Leben." "Das wird sie. Wenn sie endlich von dem Kerl geschieden ist, auf den sie hereinfiel. Er war unser Bühnenarchitekt, hat sie mal mit sich nach Hause genommen, hat sie mit Drogen vollgepumpt, ist mit ihr nach Las Vegas geflogen und hat sie da geheiratet, dieser verdammte Hurenbock, und gleich nach der Hochzeit hat er sie mit einem Haufen Schulden sitzen gelassen. Das sind Männer, was? Da schämt man sich beinahe, auch einer zu sein." Nach dem Kaffee ging Jack Musser an die Arbeit. Er lachte. "Ein Gesichtchen werde ich Ihnen verpassen, Jo, daß Ihnen, wenn Sie in den Spiegel sehen, speiübel wird." Jo hatte bei einem Trödler die unmöglichsten Klamotten gekauft. Die legte er für später bereit. Er lehnte sich im Sessel zurück, schloß die Augen und ließ Jack Musser die Arbeit tun. Dreißig Minuten fummelte der Maskenbildner an seinem Gesicht herum. Er bekam eine falsche Nase, falsche Brauen, dicke, aufgedunsene Backenknochen aus Weichplastik, und auf die glattrasierten Wangen klebte Musser einen scheußlichen Stoppelbart. Als Musser "fertig!" sagte, öffnete Jo die Augen. Der Maskenbildner bat Neely, den Wandspiegel aus der Diele zu holen. Sie trat damit vor Jo hin. Er war ehrlich erstaunt, was dieser Künstler aus seinem Gesicht gemacht hatte. Eine menschliche Ruine war das jetzt. Das Antlitz eines Ausgeflippten, der vom Leben nichts mehr zu erwarten hatte, außer Fußtritte. "Na", sagte Musser mit stolzgeschwellter Brust. "Zufrieden?" "Was heißt zufrieden", sagte Jo begeistert. "Überwältigt." "Sie sehen prachtvoll aus, Mr. Walker", sagte Neely. "Prachtvoll scheußlich", sagte Jo und lachte. Musser drückte ihm die alten Klamotten in die Hand und wies auf eine Tür. "Sie können sich dort drinnen umziehen, KX." Copyright 2001 by readersplanet
"Vielen Dank", erwiderte Jo und zog sich in Mussers Schlafzimmer zurück. Als er wiederkam, war er der lausigste Penner von New York. Musser applaudierte. "So, wie Sie jetzt aussehen, fliegen Sie aus jeder Bar raus, die etwas auf sich hält." Jo nickte zufrieden. "Genau das ist der Zweck der Übung." Musser gab Jo eine Tüte, in der er seine Kleider verstauen konnte. Der Maskenbildner und sein Mädchen brachten Jo zur Tür. Sie wünschten ihm beide viel Glück für sein Vorhaben. Er dankte ihnen und verließ ihr Apartment.
* Vor ihm war die schmutziggraue Brühe des East River, über ihm die Brooklyn Bridge, hinter ihm der Brückenpfeiler. Der "Doktor" war noch nicht da, obwohl es schon fünf nach zehn war, aber wie wollte man von einem Mann, der keine Uhr besaß und seit Jahren nicht mehr nach der Uhr lebte, Pünktlichkeit verlangen. Jo setzte sich, zog die Beine an, legte die Stirn auf die Knie und döste vor sich hin. Nach sechs oder sieben Minuten näherten sich ihm schlurfende Schritte. Er hob den Kopf und sah Tuckerman, der mit gelangweilter Miene auf ihn zukam. Zwei Meter vor ihm blieb der "Doktor" kurz stehen. Er schaute sich um und musterte dann Jo. Schließlich kam er näher und setzte sich unkompliziert neben Walker. "Na, Kumpel...." "Hm", brummte Jo. Er wollte mal sehen, ob er wirklich nicht wiederzuerkennen war. "Neu in der Gegend, was?" Tuckerman holte sein Gesetzbuch hervor. "Weißt du, was das ist?" "'ne Bibel?" fragte Jo. "Quatsch. 'n Gesetzbuch ist das." "Wozu brauchst du's? Als Kopfkissen?" "Ich war mal Rechtsanwalt." Jo grinste. "Ist nicht viel von damals übriggeblieben, was?" "Nur dieses Buch. Jeder, der mir 'nen Schnaps - oder auch zwei spendiert, kann mich um Rat fragen. Man nennt mich den ,Doktor'. Ich weiß über jedes Gesetz Bescheid. Natürlich kenne ich auch alle Novellen. Man hat mir zwar mein Patent weggenommen, aber in meinem Herzen bin ich immer noch Anwalt, das kann mir keiner aberkennen. Soll ich dir für den Anfang mal 'nen Gratisrat geben, Kamerad?" "Hm", machte Jo einsilbig. "Verdufte von hier." "Dies hier ist eine verdammt ungesunde Gegend geworden, Junge", sagte der "Doktor" eindringlich. "Zwei von meinen Freunden sind kurz hintereinander ermordet worden." "Weshalb?" Tuckerman hob die Achseln. "Keiner weiß es. Da geht einer um, der was gegen Penner hat." "Wieso verduftest du nicht, wenn das wirklich so ist?" fragte Jo. Tuckerman senkte den Kopf. "Ich gehöre hierher. Ich wüßte nicht, wohin ich gehen sollte..." Er schwieg einen Moment nachdenklich. Dann sagte er: "Sag mal, wie lange hockst du schon hier?" "Zehn Minuten - Viertelstunde..." "Ist dir ein Mann aufgefallen: einsachtzig groß, schlank, breitschultrig, durchtrainiert, schmales Gesicht, helle Augen, dunkle Haarfarbe. Er sieht aus wie ein eleganter, gepflegter Top-Manager." Copyright 2001 by readersplanet
Jo schüttelte amüsiert den Kopf. "So einer war bestimmt nicht hier." "Scheiße", brummte der "Doktor". "Da bestellt er mich hierher, und dann kommt er nicht." "Vielleicht ist er schon da." "Ah. Vielleicht sitzt du auf ihm drauf, wie?" "Vielleicht sitzt er vor dir", sagte Jo. "Du willst mich wohl verarschen." Jo brauchte zehn Minuten, um den "Doktor" davon zu überzeugen, daß er Kommissar X war. Tuckerman kam aus dem Staunen nicht heraus. "Na so was", stöhnte er immer wieder und schüttelte fassungslos den Kopf. "Na so etwas. Ich hab' Sie wirklich nicht erkannt, Mr. Walker" Jo erwiderte: "Von Penner zu Penner sollten wir doch du sagen." "Wenn ich darf...Jo." "Warum nicht?" erwiderte Kommissar X schmunzelnd. "Wozu soll die Maskerade gut sein?" fragte Tuckerman mit großen Augen. "Der schwarze Würger überfällt Penner. Nun bin ich ein Penner. Vielleicht überfällt er mich." Tuckerman fuhr sich erschrocken an die Lippen. "Gott behüte." "Ich hoffe, daß er es tut", sagte Jo ernst. "Schließlich bin ich nicht zu meinem Vergnügen in diese Klamotten geschlüpft, Hör zu, ,Doktor', ihr habt doch neulich hier ein großes Fest gefeiert." Tuckerman nickte traurig. "Da waren Howie und Leo noch am Leben. Den Geburtstag der ,Baronesse' haben wir hier gefeiert." "Ich möchte noch mal eine solche Fete steigen lassen. Kannst du alle, die damals dabei waren, zusammentrommeln?" "Das ist kein Problem." "Dann tu es. Ich sorge für die Getränke." "Wann sollen wir gestellt sein?" "Bei Einbruch der Dunkelheit", sagte Jo. "Das geht in Ordnung", nickte Tuckerman. Kein Penner ließ sich eine solche Gelegenheit entgehen. Die meisten von ihnen waren dem Alkohol rettungslos verfallen, und wenn ihnen einer ein Schnapsfest versprach, gab es nichts, was sie davon abhalten konnte, zuverlässig zu erscheinen. Wer nicht kam, der lebte nicht mehr...
* Der Abend kam, und Jo lernte sie alle kennen. Den "Guru", die "Baronesse", der es schon wieder blendend ging, Typen, die in Kanalröhren schliefen. Fünf Personen insgesamt. Annie Aarons war die einzige Frau, aber sie wurde von den anderen als geschlechtslos angesehen. Jo hatte für jeden eine Flasche Whisky mitgebracht. Johnnie Walker, Black Label. So etwas hatten die Penner entweder überhaupt noch nie, oder schon lange nicht mehr in ihren Hals rinnen lassen. Jo hielt sich beim Trinken zurück. Er hatte nicht vor, sich gleichfalls zu betrinken. Einer mußte schließlich wachsam und bei klarem Verstand bleiben. Die Penner schrien laut durcheinander. Sie lachten. Howie und Leo waren für eine Weile vergessen. Die "Baronesse" trug Jo ihren Lebenslauf vor. Mann, war das ein Auf und Ab gewesen, ehe sie für immer unten geblieben war, weil sie die Kraft nicht mehr aufgebracht hatte, sich noch mal nach oben zu boxen. Dreimal war sie verheiratet gewesen. Der dritte warf sie raus, sie landete in der Gosse, und sie begann sich da wohlzufühlen... Copyright 2001 by readersplanet
Der "Guru" spielte, als er die halbe Flasche geleert hatte, dummes Zeug auf der Flöte. Er hieß eigentlich Bobby Barr, aber kaum einer kannte ihn unter diesem Namen. Die meisten wußten nur, daß man ihn den "Guru" nannte. Das kam daher, weil er einige Jahre in Indien gelebt hatte. Dort hatte er Yoga gelernt. Wenn er hungrig gewesen war, hatte er sich mit seiner Kobra mitten auf die Straße gesetzt und die Schlange so lange beschworen, bis er genug Geld hatte, um sich was zu essen zu kaufen. Jo schaute sich um. Ein bunt zusammengewürfeltes Völkchen, das ihn hier umgab. Fünf Menschen. Fünf verschiedene Schicksale. Fünf gestrandete Existenzen, die ihr Leben auf ihre Weise zu meistern versuchten. Er gehörte zwar nicht zu ihnen, aber er sah genau wie sie aus, und das sollte ihm schon in der nächsten Minute einigen Ärger einbringen. Plötzlich, quietschten Autoreifen. Wagentüren wurden aufgerissen. Männer kamen gerannt. Es ging alles blitzschnell. Cops, die mit gezogenen Waffen von links und von rechts angekeucht kamen. Es gab keine Fluchtmöglichkeit für die Penner. Sie sprangen auf und schrien erschrocken. "Pfoten hoch!" donnerte eine kräftige Baßstimme. "Polizei! Gesicht zum Pfeiler! Stützt ihn mit den Händen! Und dann zwei Schritte zurück und Beine grätschen!" "Ich auch?" fragte die "Baronesse". "Warum du nicht! Keine Sorge, das, was du befürchtest, passiert dir schon nicht!" "Ein Überfall!" stöhnte Tuckerman perplex. Er stand neben Jo, die Hände am Brückenpfeiler, einen fassungslosen Ausdruck in den Augen. "Bei Gott, wir werden von der Polizei überfallen. Kannst du mir erklären, was das soll, Jo?" "Man wird es uns sagen!" knurrte Jo wütend. Die verdammten Cops hatten ihm sein ganzes Konzept über den Haufen geworfen. Ein stämmiger Lieutenant kam angewetzt. Er marschierte die Pennerfront ab und schnarrte: "Durchsucht die Brüder. Die Schwester selbstverständlich auch!" Die Cops gingen von einem zum andern. Als sie die "Baronesse" abkrabbelten, schrie sie: "An eurer Stelle würde ich mich schämen, ihr Ferkel. Faßt man so eine Dame an?" Die Cops lachten. "Wo ist denn hier eine Dame?" Tuckerman wartete, bis man ihn durchsucht hatte. Dann drehte er sich halb um und sagte zum Lieutenant: "Ich bin Anwalt..." "'n fieser Penner bist du!" gab der Polizist ärgerlich zurück. "Na schön. Heute bin ich Penner. Aber ich war mal Anwalt. Und ich kenne immer noch meine Rechte. Mit welchem Grund überfallen Sie uns hier..." "Ist 'ne Razzia, mein Lieber", sagte der bärbeißige Lieutenant mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. "In der Fulton Street wurden zwei Muttis überfallen. Alte Damen, die ein bißchen Geld in ihrer Handtasche hatten. Und jetzt rat mal, wer die Ladies überfallen hat... Zwei Penner waren es. Ihr feiert hier ein nettes Fest. Würde mich brennend interessieren, woher ihr das Geld für die prima Whiskymarke habt." In diesem Augenblick fanden die Cops bei Jo eine Automatic und ein zusammengerolltes Banknotenbündel. Sie brachten es dem Lieutenant. Der pfiff durch die Zähne und sagte: "Na also. Das war ja ein richtiger Griff ins Goldene. Abführen, die ganze Bande."
* Da standen sie nun in dem kleinen engen Affenkäfig, gepfercht wie Tiere, und der Lieutenant, er hieß Flagg - Herbert Flagg - rannte brüllend durch das Revier. Er schrie nach einem Sergeant, schimpfte, weil man ihn wegen einer Sache belästigte, die ihn nichts anging, und verlangte nach den beiden überfallenen Frauen, damit er endlich mit der Gegenüberstellung anfangen konnte.
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Dazwischen rief Tuckerman immer wieder, er und seine Freunde wären unschuldig, und die "Baronesse", die eine solche Behandlung unter ihrer Würde fand, quiekte dazu: "Ich auch! Ich auch!..." Es war ein Hexenkessel. Lieutenant Flagg winkte einen seiner Mitarbeiter zu sich und sagte: "Ich bitte Sie, bringen Sie diese Bande zum Schweigen, sonst drehe ich einem von ihnen den Hals um." Der Mann nickte und ging zum Käfig. Der "Guru" lehnte an der Wand und machte Yoga. Er hörte nicht, was um ihn herum passierte. Er hatte vollkommen abgeschaltet. Das machte er immer, wenn ihm etwas nicht behagte. "Jeremy!" rief der Lieutenant einen anderen Mitarbeiter grimmig. "Ja, Chef?" antwortete dieser. "Bring den, dem ihr die Kanone abgenommen habt, in mein Büro." "Okay, Chef." Jeremy Webster begab sich ebenfalls zum Käfig. "Ich protestiere!" kreischte die "Baronesse". "Ich protestiere!" "Ach, halt's Maul!" knurrte Webster unwillig. Der Mann, der von Flagg den Auftrag erhalten hatte, dafür zu sorgen, daß die Penner zu schreien aufhörten, sagte mit gelangweilter Stimme: "So nehmt doch Vernunft an, Leute. Was habt ihr davon, wenn ihr euch die Lunge aus dem Hals schreit..." "Ihr habt kein Recht...", fing Tuckerman wieder an. "Du!" sagte Webster. Er wies auf Jo. "Komm heraus." Er öffnete das Gitter. Sein Kollege hatte alle Hände voll zu tun, die anderen, die nachdrängten, abzufangen und zurückzustoßen. Webster brachte Jo in das Büro des Lieutenants. Ein enger Raum, vollgestopft mit einem Schreibtisch, einem Bücherregal und zwei Aktenschränken. Danach blieb kaum noch Luft zum Atmen. Flagg rauchte ein Kraut in seiner Pfeife, dessen Wolke die Fliegen reihenweise von den Wänden fallen ließ. Webster verdrückte sich wieder. Flagg hockte breit und feindselig an seinem Schreibtisch. Vor ihm lag die Pistole und daneben das Geld. "Das hast du dir so gedacht, was?" knurrte der Lieutenant eisig. Jo wies auf den Stuhl, der vor ihm stand. "Darf ich mich setzen?" "Du bleibst stehen, verdammt noch mal!" herrschte Flagg ihn an. "Sie gehören wohl auch zu den Leuten, die mit zweierlei Maß messen." Flagg erdolchte Jo beinahe mit seinen Augen. "Noch so ein Wort, Bürschchen, und du landest im Zuchthaus!" "Sie können mich nicht einschüchtern." "Ah, bist wohl auch Rechtsanwalt." "Ich bin Privatdetektiv." Flagg knallte mit der Faust auf den Tisch. "Das wird ja immer schöner. Ein Anwalt, ein Detektiv. Und wer bin ich? Der Kaiser von China etwa? Name?!" "Walker", sagte Jo gelassen. "Jo Walker." "Jetzt habe ich den Kanal aber gleich voll!" brüllte der Lieutenant mit seiner dröhnenden Baßstimme. Die Adern traten wie dicke Seile aus seinem Hals. Er wurde puterrot. "Du denkst wohl, wir sind hier im Kindergarten, was? Woher hast du die Kanone? Wem hast du sie geklaut?" "Niemandem. Sie gehört mir." "Und das viele Geld? Gehört das auch dir?" "Allerdings." "Und die beiden alten Damen in der Fulton Street? Nie gesehen, was?" Copyright 2001 by readersplanet
"So ist es", erwiderte Jo frostig. "Und wer soll dir das alles abkaufen?" "Sie." "Du hältst mich wohl für einen ausgemachten Idioten!" "Das haben Sie gesagt, Lieutenant", entgegnete Jo gleichmütig. "Dir wird dein freches Mundwerk schon noch vergehen, Freundchen!" knurrte der Lieutenant gereizt. "Wir haben genug Mittel, um aufsässige Typen wie dich kleinzukriegen." "Lassen Sie mich mit Captain Rowland telefonieren", verlangte Jo ernst. "Kommt nicht in Frage. Rowland hat selbst genug am Hals. Was willst du von ihm?" "Er ist mein Freund." Flagg sprang auf. "Sag mal, wie lange hast du vor, dieses irre Spiel noch zu spielen, he?" "So lange, bis Sie mir glauben. Ich bin Walker. Captain Rowland könnte es Ihnen bestätigen. Oder rufen Sie Wilkie Lenning in der Blauen Eule in Greenvich Village an. Oder April Bondy, meine Sekretärin." "Wir werden überhaupt niemanden anrufen, verstanden?" blaffte Flagg grimmig. "Hier wird nur eines passieren: du wirst den Überfall gestehen und wirst mir sagen, wer von diesen lausigen Kerlen dort draußen dein Komplize war." Jetzt wurde Jo wütend. ;,Ihnen muß man wohl erst eins mit dem Holzhammer geben, damit Sie begreifen. Wenn ich sage, ich bin Jo Walker, dann bin ich's. Und ich bin zum Penner geworden, weil ich hinter dem schwarzen Würger her bin. Die Automatic ist auf meinen Namen eingetragen. Nehmen Sie meinetwegen meine Fingerabdrücke ab und schicken Sie sie in die Zentrale. Dort wird man Ihnen bestätigen, daß ich die Wahrheit sage. Mann, Flagg, es hat mich eine halbe Stunde beim Maskenbildner gekostet, damit ich so aussehe, wie ich jetzt vor Ihnen stehe. Zwingen Sie mich nicht, den ganzen Krempel abzunehmen..." Jo faßte nach dem Klebefilm, auf dem sich die struppigen Bartstoppeln befanden. Er zog ihn ein Stück von seiner Wange herunter und fragte: "Genügt das, Lieutenant?" Dieser scharfe Ton von einem Penner machte Flagg stutzig. Unsicher betrachtete er sich Jo aus der Nähe. Er schien sich nicht entscheiden zu können. Da kamen ihm die beiden überfallenen Frauen zu Hilfe. Einer von Flaggs Leuten schleppte die Ladies an. Man konnte die Gegenüberstellung starten. Als die Frauen bestimmt und übereinstimmend feststellten, daß die Männer, die sie überfallen hatten, nicht in dem Haufen steckten, der ihnen vorgeführt wurde, erachtete es Lieutenant Flagg schweren Herzens als unumstößlich, sich bei Jo wegen seines Übereifers zu entschuldigen. Er lobte die Maske von Jo, redete sich auf die viele Arbeit aus, und daß er nicht genug Leute hätte, die ihn entlasteten. Da könne es dann schon mal passieren, daß er unabsichtlich übers Ziel hinausschieße. Dabei schielte er auf seine Karriere, die Captain Rowland möglicherweise mit Hindernissen pflastern würde... Sie wurden alle auf freien Fuß gesetzt. Und nicht nur das. Der Lieutenant entschuldigte sich in aller Form - es war ihm verdammt peinlich - bei den Pennern, und ließ sie mit Streifenwagen zur Brooklyn Bridge zurückbringen, wo schon nach einer Viertelstunde die von Jo ins Leben gerufene Party feuchtfröhlich fortgesetzt wurde.
* Sie waren daran gewöhnt, einen Ärger rasch hinunterzuschlucken, selbst wenn er noch so bitter war. Wenn es sogar Whisky gab, mit dem sie ihn hinunterspülen konnten, gab es für sie kein Problem mehr.
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Jo hockte zwischen der "Baronesse" und dem "Doktor". Der "Guru" musizierte auf seiner Flöte. Er spielte ein nervtötendes Gedudel, das einer Kobra gefallen mochte, für jedes menschliche Ohr aber eine glatte Beleidigung war. Dennoch, er war selig dabei, und warum sollte man ihm die kleine Freude nicht gönnen. Wem nicht gefiel, was er spielte, der brauchte ja nicht hinzuhören. Die Schnapsflaschen machten die Runde. Jo hatte eine neue Ladung kommen lasen, weil ein Teil der ersten Flaschen während der Polizeiaktion zu Bruch gegangen war. Wie ein Baby nuckelte die "Baronesse" an ihrer Pulle. Es gluckste hörbar, und Annies Adamsapfel hüpfte vor Freude über den vielen Schnaps. Bald war sie so blau, daß sie nur noch lallte, und es konnte nicht ausbleiben, daß sie wieder zu heulen anfing. Diesmal weinte sie um Howie Benson und um Leo Richards. Man ließ sie schluchzen. Niemand fand es der Mühe wert, sie zu trösten. Das hatte ja doch keinen Zweck. Je mehr man sie tröstete, desto mehr steigerte sie sich in ihre Wehmut hinein, und dann drehte sie den Wasserhahn überhaupt nicht mehr zu. Motorjachten tuckerten beleuchtet den schwarzen East River hinauf. Der "Doktor" lehnte den Kopf an den schmutzigen Brückenpfeiler. Er betastete seine Schädeldecke, die ihm der schwarze Würger beinahe eingeschlagen hätte, und sagte leise: "Alles hat sich geändert, Jo. Nichts ist mehr so, wie es war." "Wie meinst du das?" wollte Jo wissen. Fred Tuckerman zuckte die Achseln. "Wir feiern hier, wie wir es getan haben, als die ,Baronesse' Geburtstag hatte. Wir haben heute besseren Schnaps als damals, und doch herrscht heute eine ganz andere Stimmung. Der Tod zweier Freunde bedrückt uns. Wir können nicht mehr so ausgelassen und fröhlich sein, nicht mehr so unbeschwert, wenn wir es auch nicht gern zugeben: Tief im Inneren haben wir Angst, und ich glaube, für alle sprechen zu können, wenn ich sage, daß sich jeder von uns heimlich die Frage stellt: Wer wird der nächste sein?" Jo nickte. "Da hast du allerdings recht. Hier kann nicht einmal das doppelte Quantum Whisky Abhilfe schaffen. Erzähl mir von jener Nacht, Fred." Der "Doktor" schloß die Augen und schien von einem Traum zu sprechen. "Wir waren glücklich, wie wir es schon lange nicht mehr gewesen waren.. Wir freuten uns unseres Lebens. Wir genossen es, auf dieser Welt zu sein, atmen und trinken zu dürfen. Eine große, eingeschworene Familie waren wir. So volltrunken, daß wir nicht mal mehr wußten, wie wir hießen, aber was ist schon ein Name? Wir hatten alle denselben Namen oder gar keinen. Die ,Baronesse', Leo, Howie, der ,Guru' - wir alle empfanden in jener Nacht ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das ich mit Worten nicht beschreiben kann. Es war wundervoll." "Ihr wart alle stockbesoffen?" fragte Jo. "Ja. Alle. Ausnahmslos. Und wir fanden es herrlich. Wie oft kommt es schon vor, daß wir uns genügend Schnaps kaufen können..." "Wer hat die Pullen besorgt?" wollte Jo wissen. "Howie." "Woher hatte er das Geld dafür?" "Wir haben zusammengelegt." "Und wie endete das Besäufnis? Mit einer totalen Ohnmacht aller Beteiligten?" "Wir fielen übergangslos in einen tiefen Schlaf, aus dem wir am nächsten Morgen verkatert erwachten." "Hat sich in dieser Nacht irgend etwas ereignet, das ein Motiv für die beiden Morde in sich bergen könnte?" forschte Jo weiter. Tuckerman breitete die Arme aus. "Ich kann nur wiederholen, daß wir alle ganz dick blau waren...Wir haben nicht mal gemerkt, daß praktisch vor unseren Augen ein Mensch gestorben ist."
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Jo horchte auf. "Wie war das? Ihr wart hier sieben Personen, hast du gesagt. Wer starb in jener Nacht?" "Keiner von uns", lallte die "Baronesse". Sie legte ihren schäbigen Kopf auf Jos Schulter. "Wir haben es erst tags darauf erfahren", erzählte der "Doktor". "Es hat in sämtlichen Zeitungen gestanden. Hier, unter dieser Brücke, fiel die Frau von Rick Sullivan ins Wasser..." Georgia Sullivan! Jo war auf ihrer Beerdigung gewesen. Hier war sie also nach einem epileptischen Anfall ertrunken. "Genau in der Mitte des East River ist es passiert", sagte Tuckerman, "und wir Saufköpfe hatten davon keine Ahnung. Die Wasserpolizei muß hier stundenlang herumgeflitzt sein, aber wir hatten davon am nächsten Morgen keine Ahnung. Verschafft dir das ein Bild, in welchem Zustand wir uns befanden?" Jo lächelte kurz. "O ja. Jetzt kann ich mir's plastisch vorstellen." Die "Baronesse" raffte sich zu einem neuen Schluck auf. Sie trank so gierig, daß ihr ein kräftiger Schuß des scharfen Zeugs in die Luftröhre geriet. O Himmel, machte sie daraufhin ein Theater. Sie sprang auf, faßte sich an die Gurgel, riß Augen und Mund auf, als hätte sie Salzsäure getrunken, hustete, rang nach Luft und torkelte davon, um sich in die Büsche zu schlagen, die sich hinter dem Brückenpfeiler befanden. Sie spürte deutlich, daß sie sich gleich würde übergeben müssen. Sie hatte die grüne Wand kaum erreicht, da ging es auch schon mit Hochdruck los. Sie würgte, hustete und spuckte ganze fünf Minuten. Sie konnte sich nach dieser Anstrengung kaum mehr auf den Beinen halten und wollte schließlich zu den anderen zurückkehren. Da warnte sie plötzlich ihr sechster Sinn, der sich vom Alkohol nicht einnebeln lassen hatte. Sie fühlte sich aus der Dunkelheit heraus mit haßerfüllten Augen angestarrt. Unwillkürlich suchte sie diesen schrecklichen Blick, und in derselben Sekunde stand sie ihm gegenüber. Sie sah den schwarzen Würger!
* Alle hörten ihren grellen Schrei, der jäh abriß. Jetzt hatte der Totschläger ihren Kopf getroffen, sie mußte umgefallen sein. Jo Walker fuhr hoch und rannte los. In Rekordzeit erreichte er den Brückenpfeiler. Dahinter sah er die "Baronesse" auf dem Boden liegen. Etwas großes Schwarzes schien auf ihrer Brust zu hocken. Jo riß die Automatic, die er von Flagg zurückbekommen hatte, aus seiner zerlumptem Kleidung. Der schwarze Würger! Jetzt hatte er ihn! Als der Unhold Jos hämmernde Schritte hörte, ließ er von Annie Aarons ab. Er richtete sich in Gedankenschnelle auf und schlug sich in die Büsche. "Stop!" brüllte Jo mit verzerrtem Gesicht, doch der Killer reagierte nicht auf diesen Ruf. Ehe die Zweige hinter ihm zusammenschlugen, zog Kommissar X den Stecher seiner Waffe durch. Die 38er bäumte sich mit lautem Krachen auf. Der Knall des Schusses pendelte unter der Brücke auf und ab. Jo sah, wie der Kerl heftig zusammenzuckte. Er hatte den Mann getroffen. Seine Kugel war dem schwarzen Würger in die linke Schulter gefahren. Vielleicht war es aber auch nur ein Streifschuß... Die anderen Penner kamen mit verstörten Gesichtern gelaufen. Während sich Jo Walker in die Büsche warf, um den kaltschnäuzigen Killer zu verfolgen, kümmerten sich die Penner um Annie, die steif und reglos auf dem Boden lag. "Was ist mit ihr?" fragte der "Guru" ergriffen. Tuckerman kniete neben Annie. Er legte seine Hand auf ihre Halsschlagader. Er war zwar schwer betrunken, war aber doch noch in der Lage, ihren leise pochenden Puls zu ertasten. "Sie ist nur bewußtlos", sagte der "Doktor", und alle, die um ihn herumstanden, atmeten erleichtert auf. Copyright 2001 by readersplanet
Jo arbeitete sich durch das Zweigwerk. Verbissen schlug er die Blätter zur Seite. Er dachte an sein Erlebnis im Morningside Hospital. Ein zweites Mal sollte der Killer zu keinem so billigen Erfolg kommen, dafür würde er sorgen. Gespannt achtete er auf alles, was ihn umgab. Da vernahm er plötzlich das Aufheulen eines Motors. Wütend kämpfte er sich die letzten Meter durch das Buschwerk. Als er endlich das verdammte Gestrüpp hinter sich hatte, konnte er nur noch einen unbeleuchteten schwarzen Wagen in die Viadukt Street einbiegen sehen. Der Fluch, den er daraufhin ausstieß, war ihm ein Bedürfnis.
* Als die "Baronesse" mit einem tiefen Schnaufer zu sich kam und verdattert in die vielen Gesichter blickte, die sich über sie beugten, kam sie dem "Doktor" irgendwie verändert vor. "Sie ist verrückt geworden", stöhnte Tuckerman voll tiefem Mitleid. "Der verfluchte Kerl hat sie verrücktgeschlagen." Annie Aarons glotzte ihn an, als könne sie nicht mehr bis drei zählen. "Was machen wir mit ihr?" fragte der "Guru". "Ins Hospital muß sie", sagte Tuckerman. Plötzlich war Annie wieder voll da.. Sie sprang bestürzt auf und vollführte einen schrecklichen Veitstanz. "Ins Hospital?!" schrie sie. "Ihr wollt mich ins Hospital stecken? Habt ihr denn vergessen, was Howie im Krankenhaus passiert ist? Wollt ihr mich umbringen? Ihr Holzköpfe wollt mich dem schwarzen Würger in die Hände spielen, was? Aber da mache ich nicht mit. Ohne mich, Gents. Keine zehn Pferde kriegen mich ins Krankenhaus!" Tuckerman legte ihr seinen Arm um die Schulter. "Ist ja schon gut. Wenn du nicht ins Hospital willst, dann geht das schon in Ordnung. Ich sehe, du bist wieder einigermaßen klar. Es ist also nicht nötig, daß sich ein Arzt um dich kümmert." "Whisky ist besser als ein Arzt", sagte die "Baronesse". Dann wurden ihre Knie weich, sie sank seufzend zu Boden. Tuckerman und der "Guru" schleppten sie zu den Flaschen. Sie wimmerte und stöhnte. Jetzt fing der Schock erst zu wirken an. "Kann ich euch für eine Weile allein lassen?" fragte Jo Walker. "Wo willst du hin, Jo?" wollte der "Doktor" wissen. Seine Augen bettelten: Geh jetzt nicht weg. Laß uns nicht allein. Wir brauchen einen, der uns Mut macht. Einen Mann, an dem wir uns aufrichten können, der uns beschützt. Der Whisky. kann unsere Furcht jetzt nicht mehr vertreiben. Was machen wir, wenn der schwarze Würger wiederkommt? "Ich bin in einer halben Stunde wieder bei euch!" sagte Jo. "Mußt du wirklich gehen?" fragte die "Baronesse" mit zitteriger Stimme. Sie lag halb schräg am Brückenpfeiler und hatte eine Whiskyflasche in der wackelnden Hand. "Dreißig Minuten", sagte Jo. "Für uns ist das eine Ewigkeit", ächzte der "Doktor" und rollte furchtsam mit den Augen. "Der Kerl könnte noch mal kommen", sagte der "Guru". Jo schüttelte den Kopf. "Kaum anzunehmen. Ich habe ihm eine Kugel in den Pelz gesetzt. Der hat jetzt andere Sorgen. Außerdem... er fällt immer nur über einen her. Also bleibt während der nächsten halben Stunde eng beisammen wie eine Schafherde bei Gewitter, dann wird euch bestimmt nichts passieren." Tuckerman kräuselte die Stirn und ächzte: "Gott gebe, daß du recht behältst, Jo."
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Jo betrat die Blaue Eule, und es passierte sofort das, was ihm Jack Musser prophezeit hatte: Der Wirt kam mit ärgerlicher Miene auf ihn zu und wollte ihn sofort wieder an die Luft setzen. Kommissar X lachte und sagte: "Hör mal, ich bin Jo Walker" Er hatte Glück. Der Wirt erkannte ihn an der Stimme wieder und grinste über das ganze Gesicht. "Mann", sagte er feixend, "so gesalzen war deine Steuernachzahlung?" "Du bist nicht auf dem laufenden, alter Junge. Das trägt man heute in Paris", erwiderte Jo und wies auf seine Lumpen. "Clochard-Look... Ich muß dringend mit Wilkie sprechen. Ist er hier?" "Er ist in meinem Büro, liest sich gerade den Vertrag durch, den ich mit ihm machen möchte." "Du hast doch nicht vor, meinen Freund übers Ohr zu hauen." "Ich will ihn bloß ein bißchen fester an die Blaue Eule binden, das ist alles. Davon hätten wir beide eine Menge Vorteile...." "Darf ich mal?" fragte Jo und wies in die Richtung, in der sich das Büro befand. "Natürlich." Jo marschierte los. Viele Augenpaare folgten ihm. Die Leute schüttelten entrüstet die Köpfe und dachten wohl in diesem Moment, daß das Publikum in der Blauen Eule immer mieser wurde. Jo setzte sich mit Wilkie Lenning zusammen und erzählte, was geschehen war. Anschließend sagte er: "Hör zu, Wilkie, ich hab's verdammt eilig, deshalb bitte, wenn möglich keine Zwischenfragen. Ich muß, so schnell es geht, zu meinen Pennerfreunden zurück. Sie haben mich noch nie so dringend gebraucht wie jetzt." Wilkie nickte stumm und wartete auf das, was nach der Einleitung kam. Jo war in wenigen Minuten fertig. Nun wußte Lenning, was er für Jo erledigen sollte, und er kannte auch den Job, den April Bondy tun sollte. "Ich werde mich sofort mit April in Verbindung setzen", versprach Wilkie, und Jo wußte, daß er sich auf den Jungen verlassen konnte. "Ich danke dir", sagte Kommissar X. Er drückte Wilkie die Hand und verließ die Blaue Eule dann, um den Betrieb nicht noch mehr zu stören, durch den Hinterausgang. Sechsundzwanzig Minuten später war er wieder bei den Pennern unter der Brücke, und ein schlimmer Druck wich von seiner Brust, als er feststellte, daß sie noch alle am Leben waren.
* Mit dem Sonnenuntergang des nächsten Tages sollte die Existenz des schwarzen Würgers zu Ende gehen. Der "Penner" Jo Walker betrat zerlumpt und unkenntlich bis zur Selbstverleugnung das Haus des Mörders. Er läutete nicht an der Tür, denn er war sicher, daß man ihn nicht eingelassen hätte. Also ging er, obwohl ihm das nicht gestattet war, um das Haus herum, erreichte die in der rotgoldenen Sonne liegende Terrasse und betrat das Gebäude durch die offenstehende Terrassentür. Der Mann, dem sein Besuch galt, saß im Living-room. Vor ihm stand ein Glas Bourbon. Er zählte Geldscheine, und er bewegte seinen linken Arm so wenig wie möglich. Jo wußte warum. Dies war gleichzeitig auch ein untrüglicher Beweis dafür, daß er an der richtigen Adresse war. Der Mann saß mit dem Rücken zur Terrassentür auf einem breiten, mit grünem Stoff bezogenen bequemen Sofa. Jo schritt ungehört über den dicken Spannteppich. Als er die Mitte des Raumes erreicht hatte, blieb er mit vibrierenden Nerven stehen. Das war der Kerl, hinter dem er so verbissen her gewesen war. Der Mann, der zwei Morde auf dem Gewissen hatte. Fast mußte man sagen "nur" zwei, denn wenn ihm etwas mehr Zeit geblieben wäre, hätte er auch den "Doktor" auf jenem Schrottplatz und die "Baronesse" in der vergangenen Nacht umgebracht. Dann hätten sich vier Tote auf seinem Konto befunden. Jo räusperte sich, um sich bemerkbar zu machen. Copyright 2001 by readersplanet
Erschrocken fuhr der Mann von seinem Sitz hoch. Er starrte seinen Besucher entsetzt an. "Hallo, Rick Sullivan!" knurrte Kommissar X ganz hinten in der Kehle. Der Kommunalpolitiker war so perplex, daß er im ersten Moment dastand und keinen Ton hervorbrachte...
* Als Sullivan seine Stimme wiederfand, bellte er heiser: "Sagen Sie mal, was soll das? Was hat das zu bedeuten? Was fällt Ihnen ein, mein Haus zu betreten? Machen Sie, daß Sie rauskommen, aber sofort!" Jo bleckte die Zähne, die ihm Jack Musser ,weil er viel von Perfektion hielt ,gelb lackiert hatte. "Bin ich hier denn nicht richtig?" fragte er sarkastisch. "Ist dies nicht das Haus des schwarzen Würgers?" Sullivan riß sich nervös den Kragen auf. Seine Augen verengten sich. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. "Wie war das eben? Sagen Sie das noch mal!" fauchte er. Jo erwiderte gleichmütig: "Ich kam sehr bald darauf, daß hinter den Morden eine gewisse Methode steckte, Rick! Aber ich konnte Ihre Taten nicht motivieren!" Sullivans Finger zuckten nervös. Sein Herz klopfte. Er konnte sich nur noch mühsam beherrschen. "Wessen beschuldigen Sie mich?" fragte er wütend. "Sie wissen anscheinend nicht, wen Sie vor sich haben!" "O doch, das weiß ich!" "Ich bin Rick Sullivan!" brüllte der Politiker. "Das ist mir bekannt. Und außerdem sind Sie der Mann, den man den schwarzen Würger nennt!" sagte Jo schneidend. Sullivans Backenmuskeln begannen zu zucken. Sein Atem ging heftig. Sein Brustkorb hob und senkte sich schnell. "Sagen Sie mal, welcher Irrenanstalt sind Sie entsprungen?" zischte der Killer. Jo ließ sich nicht beirren. Er fuhr fort: "Sieben Namen standen auf Ihrer Totenliste! Zwei davon konnten Sie inzwischen abhaken: Howie Benson und Leo Richards. Und wenn Sie ein bißchen mehr Glück gehabt hätten, hätten Sie, den ,Doktor' und die ,Baronesse' gleichfalls bereits abhaken können." Sullivan verlor die Kontrolle über sich. "Sagen Sie, sind Sie wahnsinnig!" schrie er, so laut er konnte, mit wutverzerrtem Gesicht. "Verlassen Sie auf der Stelle mein Haus, sonst übergebe ich Sie der Polizei! Eine impertinente Frechheit ist das..." Jo lachte frostig. "Ich bin sicher, daß die Polizei mit uns beiden eine große Freude haben wird, Mr. Sullivan." "Wer sind Sie?" fragte der Politiker, während seine funkelnden Augen an Jo beunruhigt auf und ab huschten. "Ich bin der Penner, der Sie in der vergangenen Nacht an der Schulter verletzt hat!" erwiderte Jo kalt. "Mit meiner Schulter ist alles in Ordnung", behauptete Sullivan und rollte die rechte. "Links!" knurrte Jo. "Ich nehme an, meine Kugel hat Sie nur gestreift. Der Polizeiarzt wird das später feststellen. Ich hoffe, Sie werden keine Schwierigkeiten machen, wenn ich Sie bitte, mich zu Captain Rowland zu begleiten." "Verdammt noch mal, jetzt ist es aber genug!" schrie Sullivan gereizt. "Was erlauben Sie sich..." Jo hob die Hand, und Sullivan verstummte. "Ich will Ihnen sagen, wieso ich auf Sie kam, Sullivan. In der Nacht, als Sie Leo Richards aus dem Weg räumten, schlugen Sie den ,Doktor' auf dem Schrottplatz zusammen. Tuckerman erinnerte sich später daran, daß der schwarze Würger teure Schuhe getragen hatte..." Copyright 2001 by readersplanet
"Bin ich der einzige, der teure Schuhe trägt?" "Ich habe lange nach einem Motiv für die unsinnigen Taten gesucht. Warum bringt jemand harmlose Penner um, die keinen löchrigen Cent in ihrer Tasche haben? Das ergibt keinen Sinn. Jedenfalls sah das eine ganze Weile so aus. Aber dann kam mir die Erleuchtung. Ich brachte diese Morde mit dem Tod Ihrer Frau in Zusammenhang, und auf einmal war da ein Sinn zu erkennen. Georgia Sullivan ist nicht während eines 'epileptischen Anfalls' in den East River gefallen, wie Sie behaupteten, sondern Sie haben ihre Frau über Bord geworfen!" Rick Sullivan schüttelte fassungslos den Kopf. "Das nimmt ja immer schlimmere Formen mit Ihnen an. Warum hätte ich das denn tun sollen?" "Sie haben Ihre Frau ermordet, Mr. Sullivan. Georgia konnte nicht schwimmen, und es kam Ihnen sehr zugute, daß sie ab und zu an diesen Anfällen litt..." "Was reden Sie denn da für einen entsetzlichen Unsinn? Wie lange soll ich mir das denn noch anhören?!" "Ich bin gleich fertig, Sullivan. Glauben Sie mir, ich gebe mich mit Leuten wie Ihnen prinzipiell niemals länger ab, als ich unbedingt muß." "Sieben Penner feierten ein Fest unter der Brooklyn Bridge", fuhr Jo Walker mit scharfer Stimme fort. "Genau da, wo Sie Ihre Frau ins Wasser warfen..." "Mann, sehen Sie denn nicht, wie dumm Ihre Geschichte ist? Ich war mit meiner Frau den ganzen Tag auf dem Atlantik draußen. Wenn ich wirklich die Absicht gehabt hätte, sie umzubringen, hätte ich es doch dort draußen getan..." "Auch dafür habe ich eine Erklärung!" sagte Jo. "Es kam zwischen Ihnen und Georgia auf der Heimfahrt zu einem Streit, und der gab den Ausschlag. Deshalb warfen Sie sie erst unter der Brücke ins Wasser. Und gleich darauf bemerkten Sie die Penner unter der Brücke. Jetzt erst hörten Sie sie singen und grölen. Sie dachten, der Mord wäre von ihnen bemerkt worden. Aus diesem Grund zogen Sie los, um einen nach dem andern zu liquidieren. Soll ich Ihnen etwas sagen? Die Typen waren so betrunken, daß sie von all dem nicht das geringste mitbekommen haben." Rick Sullivan bebte vor Wut und Haß. "Wer sind Sie?" wollte er zum zweitenmal wissen. Seine Hände zitterten. Er begriff, daß er zwei Morde verübt hatte, die sinnlos gewesen waren. Zwei Morde zuviel! Er saß in der Falle. Jo griff nach der falschen Nase und warf sie zu Boden. Er riß sich den falschen Bart ab und auch alles andere, was ihm Jack Musser ins Gesicht geklebt hatte. Dabei ließ er den Killer nicht aus den Augen. Rick Sullivan verfolgte jeden Handgriff mit entsetzten Blicken. Als Jo mit der Demaskierung fertig war, stieß der Politiker entsetzt hervor: "Jo Walker!" "Das Spiel ist aus, Rick Sullivan!" erwiderte Jo scharf. "Meine beiden Mitarbeiter April Bondy und Wilkie Lenning waren heute den ganzen Tag unterwegs, um meine Anschuldigungen mit Beweisen zu untermauern. April sah Sie zusammen mit Ihrer attraktiven Sekretärin..." "Ist das denn verboten?" schrie Sullivan zornig. "Sie haben das Mädchen geküßt." "Na und? Küssen Sie Ihre Sekretärin nie?" "Mein Lieber, das waren keine väterlich-freundschaftlichen Küsse, berichtete mir meine Sekretärin!" erwiderte Kommissar X schneidend. "Und Mr. Lenning hat sich die Mühe gemacht, die Zofe Ihrer Frau, die Sie gleich nach Georgias Tod gefeuert haben, aufzusuchen. Loretta Mankowicz erzählte ihm, daß Sie sich mit Ihrer Frau ziemlich häufig stritten. Da war nichts mehr von aufrichtiger Liebe, Rick. Wie sagten Sie noch zu mir auf dem Friedhof, am Grabe von Georgia? "Ich habe sie mehr als mein Leben geliebt", sagten Sie. "Das war eine ganz unverschämte Lüge!" Plötzlich ließ auch Sullivan die Maske fallen. "Na schön. Sie gottverdammter Schlauberger. Ja, Sie haben recht. Alles, was Sie gesagt haben, stimmt. Ich habe Georgia gehaßt. Sie war immerzu krank. Mein Lieber, nichts ermüdet so schnell wie Mitleid. Sie ging mir auf die Nerven. Meine Sekretärin ist hübsch, kerngesund und attraktiver als Georgia jemals war. Ich hatte genug von Georgia, und als sie mal wieder einen von ihren hysterischen Anfällen bekam, gab ich ihr einen Kinnhaken und warf sie über Bord. Endlich war ich sie los. Und Copyright 2001 by readersplanet
obendrein gehörte mir auch noch ihr ganzes Vermögen. Sagen Sie selbst, Walker, hatte ich danach einen Grund, traurig zu sein?" Jo verzog das Gesicht. "Sie sind widerlich, Rick." "Es kümmert mich nicht, wie Sie über mich denken. Sie werden mit dem, was Sie über mich herausgefunden haben, ohnedies nichts mehr anfangen können, denn bei all Ihrer überheblichen Klugheit haben Sie eines übersehen: Sie kommen von hier nicht mehr lebend weg." Plötzlich lag eine Pistole in Sullivans Hand. Doch Jo erschrak nicht: "Sie sind noch viel dümmer, als ich dachte!" sagte Kommissar X verächtlich. "Wieso?" "Sie haben mich unterschätzt!" knurrte Jo. "Dachten Sie wirklich, ich wäre allein hierhergekommen? Ich habe natürlich April Bondy und Wilkie Lenning mitgebracht. Die waren ganz scharf darauf, den letzten Akt dieses Dramas aus nächster Nähe mitbekommen zu dürfen, und ich erfüllte ihnen diesen Wunsch. Ihre Waffen zielen in diesem Moment auf Sie, Sullivan. Sollten Sie auch nur einmal zuviel mit den Wimpern klimpern, dann spicken meine Mitarbeiter Sie auf der Stelle mit Blei!" Sullivan entdeckte April und Wilkie an den Fenstern. Es war also kein Bluff von Walker. Panik befiel den Politiker. Er schleuderte die Pistole nach Jo, wirbelte herum und wollte fliehen. Aber er kam nicht weit. Kommissar X setzte blitzschnell nach und stellte dem Mann im richtigen Moment ein Bein. Rick Sullivan stolperte und knallte dann hart auf den Teppich. Ehe er sich wieder aufraffen konnte, war Jo bei ihm. Er drückte ihn nieder. Etwas blitzte in seinen Händen: Handschellen. Jo riß Sullivans Arme brutal nach hinten, und dann machten die Achterspangen klick. Keuchend sagte Jo: "Die Dinger habe ich mir von Captain Rowland geliehen." Er riß Sullivan auf die Beine. "Kommen Sie, wir bringen sie ihm jetzt zurück. Er wird sich sicher freuen. Was man sich borgt, das darf man nicht behalten..."
Ende
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