K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
HERBERT L. SCHRADER ...
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K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
HERBERT L. SCHRADER
ANGSTTRAUM DER VERGANGENHEIT
VERLAG SEBASTIAN
LUX
MURNAU . MÜNCHEN . INNSBRUCK
BASEL
Totenklage (um 1540) O e i t 1720 gibt es die Pest nicht mehr in Europa. Die größte Geißel der Menschheit ist aus dem Abendland verschwunden. Aber was sie in vier Jahrhunderten angerichtet hat, ist unvergessen geblieben. Sie hat mehr Opfer gefordert als alle Kriege der Weltgeschichte zusammengenommen. Sie hat mehr Schrecken und Angst verbreitet als die schlimmste Tyrannei. Sie hat Kultur, Sitte und Denken oft verhängnisvoll beeinflußt. •• -,4 „Pestilenzen" gab es zu allen Zeiten. Um das Jahr 1000 v. Chr. wird ja von der „Pest der Philister" berichtet, die mehr als 50.000 Opfer,-Jt gefordert habe. Um 700 v. Chr. vertreibt die Pest ein Assyrerheer, das in Ägypten eingefallen ist. Um 540 ri. Chr. .erliegt die Hälfte der • Bevölkerung des byzantinischen Reiches der „Pest des Justinian". Auch aus anderen Zeitepochen wird von „Pestilenzen" berichtet. Ob diese Seuchen echte Pestepidemien waren, wird niemand : mehr nachträglich ergründen können. Die überlieferten Angaben j sind ungenau. Erst von jenem verhängnisvollen Herbst des Jahres 1347 an läßt sich die Ausbreitung dieser größten aller Katastrophen ... verfolgen.
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Der Tod segelt mit Die Nacht ist unruhig und belebt von unheimlichen Geräuschen. Keiner von den zweitausend Bürgern der Hafenstadt Caffa auf der Krim findet Schlaf in dieser dunstigen Herbstnacht des Jahres 1347, die für jeden von ihnen die letzte sein kann. Durch die Straßen schallen die anfeuernden Rufe der Hauptleute, während sie die müden und stumpfen Männer der Bürgerwehr auf die Wälle führen. Frauen und Kinder liegen in den Kirchen auf den Knien: „Herr, bewahre uns vor Mord und Brand!" Gabriel de Mussis, der junge italienische Rechtsgelehrte aus Piacenza, wälzt sich seit Stunden überwach auf seinem Lager. Ehe der Morgen graut, treibt ihn die innere Unruhe hoch. Er wirft den Mantel um und stürzt hinaus auf die von Unrat starrende Straße. Die Plätze und Winkel sind erleuchtet von flackerndem Fackellicht und dem letzten Sehein der erloschenden Lagerfeuer. Zerrissene Schlagschatten fallen in die Gesichter der Vorübergehenden. Mit wenigen Sätzen hat Gabriel de Mussis den niedrigen Wall erstiegen, hält inne, starrt und horcht angestrengt in die Finsternis. Er glaubt im Dunkeln die spitzen Jurten der Tataren zu erkennen, er lauscht prüfend auf das Klirren von Waffen und das Trappeln und Scharren der zähen Pferdchen. Unbekümmert laut sind die da drüben in dieser Nacht, denkt er, ungewöhnlich laut! Das Heer des Reitervolkes aus der Steppe belagert seit Wochen die fast zermürbte Stadt und wird sie zweifellos beim nächsten geballten Angriff erobern. Vielleicht schon heute im Morgengrauen. Vielleicht morgen, vielleicht auch erst übermorgen. Caffa, Vorposten christlicher Kultur und europäischen Handels, ist dem Untergang geweiht. Seine Bewohner werden wie ein Haufen welker Blätter verwehen, wenn die Stunde gekommen ist. Gabriel de Mussis wendet sich wieder der Stadt zu. Ganz in der Nähe hält Pater Piedro für die Männer, die sich nicht weit von den Wehrgängen entfernen können, eine Messe ab. Dicht gedrängt umstehen ihn die völlig Ermüdeten. In ihren Zügen verrät sich die bleiche Angst. Die Tataren kennen keine Gnade.
Wenige Stunden später, als es hell geworden ist, weiß Gabriel de Mussis, weiß ganz Caffa, was die nächtliche Betriebsamkeit im Tatarenlager bedeutet hat. „Die Zelte sind fort. Das Lager der Tata3
ren ist leer!" schreien die Mauerposten. Die Bewohner klettern hinauf in die Türme und in die Postenstellungen, um sich von der Wahrheit zu überzeugen. Wo vorher die Jurten der Tataren das Feld bedeckt haben, breitet sich ein Meer von weggeworfenem Gerät und von Abfall. Von den Belagerern ist weit und breit nichts mehr zu sehen. Niemand kann diese Wirklichkeit erfassen. Auf dem Wall umarmt der Bürgermeister, ein gebürtiger Genuese, den jungen Gabriel de Mussis. „Gott hat das Wunder geschehen lassen, um das wir ihn baten." Seine Worte gehen im brausenden Klang der Glocken unter. Ein Jubelsturm bricht los. Wieder füllen sich die Kirchen. Einer höheren Macht ist diese Wende des Schicksals zu danken. Im schmutzigen Viertel der Armen beginnt schon am frühen Morgen ein improvisiertes Fest. Spielleute ziehen durch die winkligen Gassen, bahnen sich einen Weg durch die lärmende, schwatzende, trinkende Menge. Weindunst kriecht aus den Kellern und liegt bald wie eine Wolke in den Straßenschächten. Die so lange angestaute Angst hat sich in einem Taumel der Hemmungslosigkeit gelöst. Gegen Mittag brechen einige der ausgelassensten Zecher in den Schenken zusammen. Blut quillt ihnen in dünnen Fäden aus dem Mund. Kaum einer kümmert sich um sie. In dieser Stunde will man vergessen. Eine Schar Soldaten wagt sich in das verlassene Lagergelände der Tataren vor und macht eine grausige Entdeckung. Zwischen den Überresten der Zeltstadt liegen Hunderte von unbestatteten Toten. Die meisten sind zusammengekrümmt, als hätten sie in ihrer letzten Stunde entsetzliche Qualen erlitten. Von der Stadtkirche klingt das Mittagsläuten herüber. Noch ist es nicht verklungen, als schrille Laute sich hineinmischen. Immer deutlicher wird das Schreien von den Mauern her: „Laßt ab von den Toten! Die Tataren haben die Pest ins Land gebracht. Die Pest ist in der Stadt." Wenige Augenblicke später sind die Straßen leergefegt. Die Menschen haben sich in ihre Häuser eingeschlossen, die reichen Ausländer sind, die wichtigste Habe auf dem Rücken mitschleppend, zum Hafen geeilt. Der Fluchtweg über das Meer, den die Tataren abgeschnitten hatten, liegt frei. Italiener und Griechen, Franzosen und Dalmatiner kennen nur noch einen Gedanken: Hinaus aus der schrecklichen Stadt! 4
Von Pechfaekeltragern begleitet und sich mit einem Schv/amm gegen „giftige Ausdünstungen" schützend, tritt der Arzt ans Bett des Pestkranken und fühlt ihm den Puls, um das verdächtige Fieber festzustellen (Venezianischer Holzschnitt, 1493)
Zwölf genuesische Galeeren liegen im Hafen. Sie sind in wenigen Minuten überfüllt. Gabriel de Mussis kommt sehr spät an Deck, da er sich erst mit eigenen Augen von den Vorgängen in der Altstadt überzeugen wollte. Mit vieler Mühe findet er einen Platz am Bug der letzten Galeere. Von den Dienern ist keiner mehr um ihn. Wie ein Bettler hockt er sich auf sein armseliges Bündel. Neben ihm sitzen bekannte und unbekannte Kaufleute mit ihren Angehörigen. Ärmer als sie gekommen sind, verlassen sie ihre zweite Heimat. Die Ruderer legen sich in die Riemen, nach drei Stunden ist Caffa, die zum Sterben verurteilte Stadt, am Horizont verschwunden. Die Flüchtenden haben den Seuchenherd hinter sich gelassen. Dieser Gedanke tröstet sie ein wenig über die Enge und Unbequemlichkeit. Am nächsten Morgen wachen einige mit Kopfschmerzen auf. Die verbrauchte Luft in den überfüllten Sdilafräumen mag daran schuld sein. Gegen Abend stellt sich leichtes Fieber ein. Die Ärzte helfen mit den Arzneien, die sie in der Eile der Flucht einpacken konnten. Ein Sechzigjähriger bekommt spät am Abend Nasenbluten. Ein anderer speit am Tag darauf beim Erwachen Blut. Sein Gesicht ist aufgedunsen. Mit einem schweren Schüttelfrost liegt er auf dem viel zu schmalen Lager. Pater Augustin, ein Florentiner Mönch, der sich vorübergehend in Caffa aufgehalten hat und von der Belagerung überrascht worden ist, bahnt sich einen Weg zu dem Kranken. Er kniet neben ihm nieder, tröstet ihn und beginnt zu beten. Von der Nachbargaleere wird der erste Tote ins Meer gesenkt. Es gibt keinen Zweifel mehr: Die Pest ist den Flüchtlingen gefolgt. Immer mehr Menschen zeigen die ersten Anzeichen der Krankheit. Gabriel de Mussis stellt sich den ganzen Tag in den Bugwind, um dem ekelerregenden Atem des Todes zu entgegen. Alle wissen, daß sie auf diesen winzigen Schiffen dem Verderben erbarmungslos preisgegeben sind. Nur eines könnte sie retten: an Land, ins Freie, in reine Luft zu kommen. Die Kapitäne verständigen sich, daß der erste italienische Hafen, Messina, angelaufen werden soll. In Messina stehen wie immer Neugierige und Nichtstuer am Kai. Viele Schiffe laufen hier täglich ein und aus, und für Müßiggänger gibt es eine Menge zu sehen. Die Nachricht, daß zwölf Galeeren aus dem Morgenland angelegt haben, verbreitet sieh schnell in der Stadt. Einige Kaufleute in Messina stehen mit Caffa in Handelsverbin6
düng. Sie haben erfahren, daß die Stadt von den Tataren eingeschlossen sei. Jetzt finden sie sich am Hafen ein, um Neues über das Schicksal ihrer Niederlassungen zu hören. Am nächsten Tag zeigen die ersten Bewohner von Messina Anzeichen der Erkrankung. Es bilden sich linsengroße Beulen an Armen und Beinen. Eine empörte Menge stürmt zum Hafen und vertreibt die unglücklichen Flüchtlinge. Die nur dürftig mit Vorräten und frischem Wasser versorgte Todesflotte muß von neuem Kurs auf das offene Meer nehmen. Sie treibt in das Nichts hinaus. Niemand weiß, wo sie geblieben ist. Niemand hat die Schreckensszenen überliefert, die sich auf den vom Tode gehetzten Galeeren abgespielt haben mögen. Die Reise der Gespensterflotte verliert sich im Dunkel der Vermutungen. Dennoch hat die Pest nicht alle Augenzeugen aus Caffa ermordert. Gabriel de Mussis rettete sein Leben. Die Briefe, die er viele Jahre später schrieb, sind uns erhalten geblieben.
Der schwarze Reiter Als die Seuche ihren Höhepunkt erreicht hat, fliehen die Einwohner Messinas in die Nachbarorte. Wenige Wochen später wütet die Pest in ganz Sizilien. In Catania, so heißt es, sei kein Einheimischer mehr am Leben. In Fischerbooten und größeren Schiffen versuchen einige Verzweifelte, aus den verpesteten Landstrichen zu entfliehen. Aber es ergeht ihnen wie den Flüchtlingen aus Caffa: Die Seuche fährt mit und steigt in den nächsten Hafenstädten mit an Land. Um Weihnachten hat der Schwarze Tod sich in allen italienischen und südfranzösischen Häfen festgesetzt. Reisende, die landeinwärts fahren, bringen erschütternde Nachrichten mit. Sie berichten ihre Erlebnisse so oft, daß sie bald nicht mehr wissen, was Wahrheit ist und was ihre erregte Phantasie hinzuerfunden hat.
* Der Franziskanermönch, der am Tage nach Weihnachten vor der Kirche Santa Croce in Florenz ankommt, läßt sich von den Neugierigen, die ihn umdrängen, nicht ausfragen. Er verlangt, sofort Pater Emerentio zu sprechen und erfährt, daß der Pater sich zur Zeit im Hause eines angesehenen Kaufmanns aufhalte. 7
Der Mönch trifft Pater Emerentio, den Kaufmann und seinen Sohn bei der Mittagstafel an. „Ich habe eine Nachricht für Euch, Confrater", sagt er. „Ich komme aus Messina und überbringe Euch Grüße von einem Manne, mit dem Euch lange Jahre der Freundschaft verbunden haben: von Pater Augustin!" Emerentio springt auf: „Welch gute Nachricht!" Ich habe oft für ihn gebetet, seitdem ich hörte, daß in Caffa die Pest ausgebrochen ist. Ihr werdet ihn kennen", wendet er sich an seine beiden Gastgeber. „Wer in Florenz kennt ihn nicht! Jeder hat es bedauert, daß er vor zwei Jahren nach Caffa berufen wurde.- Er ist also nach Messina zurückgekehrt . .. und auf dem Weg zu uns?" Der Franziskaner schüttelt den Kopf. „Der Herr hat ihn zu sich genommen. Als todkranker Mann kam Pater Augustin in Messina an. Die furchtbare Krankheit hat seinen Leib zerstört. Ich übermittle Ihnen seinen letzten Segenswunsch." Als der Mönch längst gegangen ist, bleibt die kleine Tischrunde in Schweigen versunken. Das gleiche Schicksal kann morgen oder übermorgen jeden von ihnen ereilen. Florenz liegt nur zwei gute Tagesmärsche von der Küste entfernt. Im benachbarten Pisa, so heißt es, hat die Seuche schon hundert Opfer gefordert. Ihr schlimmster Vorbote, die Angst, beherrscht ganz Italien. • Als das Frühjahr 1348 einzieht, beginnt auch in Florenz das große Sterben. Das Bild der Krankheit hat sich inzwischen gewandelt. Die Lungenpest, die bei den Flüchtlingen aus Caffa herrschte, gekennzeichnet durch Nasenbluten, Fieber und blutigen Auswurf, hat zwei anderen Krankheitsformen Platz gemacht. Die eine beginnt mit kleinen Beulen und leichtem Fieber. Bei der anderen bilden sich nur dunkle Flecken und Ringe auf Armen und Beinen. Lippen und Zunge verfärben sich bläulich. Die meisten dieser Kranken sterben ohne Schmerzen. Die Leichen werden nicht schwarz, wie so oft angenommen worden ist. Der Name „Schwarzer Tod" geht auf eine alte Sage zurück, worin ein schwarzer Riese oder ein Reiter auf schwarzem Roß, oder ein Totengerippe in schwarzer Karosse die Pest verkörpert. Das grauenhafte Sterben löst in Florenz eine Panik aus. Frauen lassen ihre Männer, Eltern ihre Kinder im Stich, wenn sie von der Krankheit befallen sind. Dem Stadium der Angst folgt eine Periode der Lebensgier und der Genußsucht. In der lebensfrohen Stadt am Arno verbreitet sich der Glaube, daß hemmungsloses Sichausleben der beste Schutz gegen die Krankheit sei. Gruppen finden sich zu8
Pestspital in Wien im Jahre 1679; zur Erinnerung an das Erlöschen der Seuche errichteten die Bürger 1687 die berühmte Pestsäule in der Straße „Auf dem Graben" (Zeitgenössischer Kupferstich) sammen, die regelmäßig Trinkgelage veranstalten. Die strenge Zucht des Mittelalters, die Jahrhunderte überdauert hat, löst sich in wenigen Tagen auf. Die Menschen kennen keine Zurückhaltung mehr. Viele fliehen mit ihren Freunden auf einsam gelegene Landsitze, schließen sich völlig ab und leben ungehemmt und ohne sieh ihrer zurückgelassenen leidenden Mitmenschen zu erinnern in den Tag.
Der Arzt Chauliac weiß ein Mittel .. . Auch Papst Clemens VI., zu dieser Zeit in dem südfranzösischen Städtchen Avignon im Exil, zieht sich in die Einsamkeit zurück. In seinen Gemächern brennen Tag und Nacht große Feuer, die den Pesthauch und die Ansteckung fernhalten sollen. 9
Diese Anordnung hat sein Leibarzt Guy de Chauliac getroffen, der den Papst mit künstlichen Riechäpfeln aus dem indischen Ambra versorgt. Alle von Angst und Verzweiflung diktierten Vorschläge zur Flucht des päpstlichen Hofstaates prallen an Guy de Chauliac nüchterner Gelassenheit ab. Als ärztliche Kapazität, auf die alle blicken, sieht er seine wichtigste Aufgabe darin, eine Panik zu verhüten. Er verordnet Aloepillen, läßt die verpestete Luft durch möglichst viele große Feuer reinigen, empfiehlt Duftmittel wie Theriak und Kampfer gegen den Pestgestank und nimmt bei den besonders Gefährdeten häufig Aderlässe vor. Er strömt Ruhe und Zuversicht aus. Erst später gesteht er ein, daß er der Seuche ebenso hilflos wie alle anderen Ärzte in Avignon gegenübergestanden habe. Denn beim Ausbruch der Pest in Avignon im Januar 1348 hatten die Ärzte sich zuerst mit Hingabe der Kranken angenommen und mit mannigfaltigen Heiltinkturen Hilfe zu bringen versucht. Dann aber hatten sie erkannt, daß sie machtlos waren, daß niemand helfen konnte. So waren die meisten mit den Wohlhabenden aufs Land geflohen. Wer fieberte und Blut spie, konnte auf ärztlichen Beistand kaum noch rechnen. Freigelassene Schwerverbrecher versahen den Dienst als Leichenträger und Totengräber. Es galt unter den Medizinern als erwiesen, daß schon der Anblick eines Pestkranken für eine Ansteckung genüge.
* Der Lungenpest, die in drei Tagen zum Tode führt, ist im März die Beulenpest gefolgt. Ein junger Adeliger wird als einer der ersten von ihr ergriffen. Als er die Beule entdeckt, schickt er einen Boten in den päpstlichen Palast und bittet Guy de Chauliac um Hilfe. Der Arzt weiß zwar, daß er nichts ausrichten kann. Doch der Kranke gehört zu seinen besten Freunden, und so entschließt er sich, einen wenn auch hoffnungslosen Versuch zu machen. Guy de Chauliac wendet zuvor an sich selber alle Maßnahmen an, die' ihm als Schutz gegen die Pest geeignet erscheinen. Er trinkt saure Milch und Essig, damit die Säure das Eindringen der Fäulnis in seinen Körper verhüte. Mit armenischem Ton regt er seine Säfte an. Als er in das Krankenzimmer tritt, preßt er einen Essigschwamm vor das Gesicht. Aufmerksam betrachtet er die walnußgroße Beule am Leib des Patienten. Dann läßt er sich in die Küche des Schlosses führen und bereitet eigenhändig eine Paste nach einem von ihm 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2007.01.14 08:46:44 +01'00'
selbst erdachten Rezept. Feigen, gekochte und gestampfte Zwiebeln, Sauerteig und Butter sind die Hauptbestandteile. Den zähen, klebrigen Brei trägt er auf die befallene Stelle und die sie umgebende Haut auf. In den nächsten Tagen beobachtet er gespannt das Befinden seines Patienten. Es wäre nicht ungewöhnlich, wenn der Kranke nach dieser noch nie erprobten Behandlung stürbe wie jeder andere. Als er den jungen Adligen wieder einmal aufsucht, ist die Beule jedoch weicher geworden und sieht einem reifen Geschwür ähnlich. Mit schnellem Entschluß schneidet Guy de Chauliac die gereifte Beule auf, tupft die Flüssigkeit ab und behandelt das Pestzeichen weiter wie ein gewöhnliches Geschwür. Der Kranke bleibt am Leben. Guy de Chaliacs Ruf als Besieger der Pest verbreitet sich schnell in der Stadt. Alle Kranken flehen ihn um Hilfe an, aber nur die wenigsten kann er retten. Wie erwartet, ist die in der Not erfundene Paste kein Allheilmittel gegen die schlimmste aller Seuchen. Nur hin und wieder gelingt es, die Beulen reifen zu lassen. Doch der Arzt läßt sich nicht abhalten, die Kranken in ihren Häusern zu besuchen. Was Guy de Chauliac dabei aufs Spiel setzt, kann nur der ermessen, der die krausen Anschauungen dieses Mannes über die Ursache der Seuche kennt. Chauliac weiß ja nichts von Bazillen und nichts über den Weg der Ansteckung. In seinen Schriften heißt es: „Was immer auch das Volk redet, die Wahrheit war, daß die Ursache des Sterbens eine doppelte war, eine allgemeine und eine besondere. Die allgemeine war die am 24. März 1345 erfolgte Konjunktion der drei großen Gestirne Saturn, Jupiter und Mars im Zeichen des Wassermanns, nach der in kurzer Zeit die Seuche im Orient ausbrach. Denn größere Konjunktionen verkünden gewaltige und schreckliche Ereignisse. Die besondere Ursache aber war die Veranlagung der menschlichen Körper zur Säfteverderbnis, Schwächung und Verstopfung der Poren. Daran starben die damit Behafteten und unrichtig Lebenden." Alle Achtung vor einem Arzt, der, nur mit einem so wirren Wissen ausgestattet, in die Wohnungen der Pestkranken geht und immerhin einigen das Leben rettet! Im Spätsommer hat die Stadt Avignon zwei Drittel ihrer Einwohner auf den Friedhöfen begraben; die Seuche klingt ab. Als einer der letzten spürt Guy de Chauliac das Fieber in sich aufsteigen. In der Leistenbeuge bildet sich eine Beule. Er läßt sofort den bewähr-
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ten Brei vorbereiten und versucht, die Beule reifen zu lassen. Seine Kräfte verfallen von Tag zu Tag mehr, obwohl er die Heilmittel anwendet, die bei der Behandlung anderer Kranker manchmal geholfen haben. Täglich schluckt er Aloepillen und schützt sich durch Kampferdämpfe gegen seinen todkranken Leib. Sechs Wochen lang wartet er stündlich auf den Tod. Schließlich aber wird die Beule reif und kann aufgeschnitten werden. Während das normale Leben in der Stadt wieder anläuft, kann Guy de Chauliac als Genesender seine ersten Spaziergänge machen.
Die Pest des Hasses \
Aber wie hat sich Avignon, wie haben sich alle Städte verändert, die den Durchzug der Pest erlebt haben! Viele Häuser stehen leer und verkommen. Niemand kehrt die Straßen, wenige arbeiten. Die Menschen sind in zwei große Gruppen geteilt: Die einen haben sich, gejagt von Angst und Schrecken, völlig den Jenseitsgedanken hingegeben, verbringen den größten Teil des Tages in den Kirchen, gedenken in Gebet, Opfer und Buße der schon Heimgegangenen; die anderen — sie sind vielleicht bei dem großen Sterben durch Erbschaft in den Besitz von Reichtümern gekommen — verlieren sich völlig an das Leben und warten das Ende der Seuche ab. Schlimm sieht es in den gewerblichen Betrieben und auf den landwirtschaftlichen Gütern aus. Arbeitskräfte werden überall gesucht. Doch niemand will diese Wochen und Monate, in denen er sich noch über das Geschenk des Lebens freuen kann, mit Arbeit beschweren. Um so leidenschaftlicher gehen die Dispute hin und her. Die überstandenen Schrecken bieten Gesprächsstoff genug. Und plötzlich wird überall die Frage gestellt: Wer ist eigentlich schuld an dieser Plage? Es muß doch einen Schuldigen geben, der das Gift der Pest ausgestreut hat. Schon bald glaubt man den Übeltäter gefunden zu haben.
* Irgendeiner hat das Gerücht aufgebracht, die Juden hätten die Pest verbreitet, um das Christentum auszurotten. Schon geht eine zweite Seuche über Europa hin, die Seuche eines verblendeten Hasses. In zahlreichen Städten werden unschuldige Menschen niedergemacht, ihre Häuser geplündert und zerstört. Für viele ist diese Judenver12
folgung eine willkommene Gelegenheit, sich unbequem gewordener Gläubiger zu entledigen. Eine dritte Epidemie fällt in diese Zeit. Vielleicht aus Bittprozessionen zur Abwehr der herannahenden Pest hervorgegangen, ziehen von Ort zu Ort lange Züge von Büßerscharen — man nennt sie „Kreuzbrüder", wegen ihrer Gewandung auch „Die Weißen" oder wegen ihrer Bußübungen „Geißlei". Sie fordern härteste Buße und Selbstgeißelung zur Besänftigung des göttlichen Zornes. Überall werden sie mit großen Ehren und überschwenglicher Begeisterung empfangen, obwohl der Papst und das Konzil die Geißlerfahrten verboten haben. Aber man erhofft von ihnen und ihren Bußübungen Bewahrung vor dem Übel; doch allzu oft schleppen sie die Seuche in Städte, die bis dahin verschont geblieben waren. Mancherorts hetzen sie dazu auf, die ungläubigen Juden zu töten, damit sich Gott mit den Christen wieder versöhnen könne. So beginnt das grausame Morden, noch ehe die Pest einzieht.
Das Testament des Ratsherrn „Das lobe ich mir, Hermann", poltert der Lübecker Bürgermeister Tidemann von Güstrow und läßt seinen massigen Körper auf einen Stuhl fallen. „Du bist der einzige Kaufmann, der jetzt noch im Kontor den Federkiel führt. Bei dir finde ich endlich eine Insel, auf der man nichts von Jammer und Tod hört. Im Rathaus ist es nicht mehr auszuhalten. Nichts als Klagen und Tränen und Elend!" Trinkst du ein Glas Rotwein mit mir, Tidemann?" fragt Ratsherr Hermann von Dülmen seinen Besucher. „Lieber nicht, Rotwein erinnert mich an Blut", entgegnet der Bürgermeister. „Irgendwo muß man doch einmal dieses grauenhafte Sterben vergessen können. Ich sehe, du schreibst Briefe. Recht so, die Geschäfte müssen weitergehen. Wer ist der Empfänger?" Der Ratsherr zwingt sich zu einem Lächeln: „Meine Erben." „Du schreibst dein Testament? Bist du etwa auch schon gezeichnet? Ich habe den Bettelmönchen gestern eine stattliche Summe geschenkt, sowas hilft besser als Testamentmachen und Beten gegen die Geißel Gottes, glaub mir! Die armen Leute beten mehr ale wir, und trotzdem werden sie einer nach dem anderen von der Pest geholt. Die Vornehmen sind weniger fromm, und sie hat der Herr bisher verschont."
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Der Ratsherr Hermann von Dülmen legt das Testament beiseite. Vor dem Fenster zieht schweigend ein Leichenzug vorüber zum neuen Friedhof vor dem Burgtor. Die Stadt hat ihn eiligst anlegen müssen, weil das alte Gelände nicht mehr ausreichte. „Du bist sicher, Tidemann, daß wir verschont bleiben, wenn wir Go'tt einen Teil unseres Besitzes opfern?" fragt er zögernd. „Es ist das einzige und beste, was ihm ein Kaufmann anbieten kann. Was sollen wir sonst tun? Nur mit einem solchen Opfer können wird die Seuche aufhalten. Mehr kann ich dir als Bürgermeister dieser Stadt nicht raten. Aber ich sehe schon, Hermann, auch mit dir kann man nur noch über diese ungeheuerliche Plage reden. Leb wohl, ich gehe zu deinem Schwiegervater Hermann Blomenrod! Die Jungen denken nur noch an den Tod, vielleicht kann man noch mit den Alten vernünftig reden. Wir wollen uns doch nicht alle gleich begraben lassen." Geräuschvoll wie ein alter Landsknecht stürmt der Bürgermeister hinaus. Er gehört den allmächtigen Adelsgeschlechtern dieser Stadt an. Hermann von Dülmen ist dagegen erst nach der Heirat mit der Tochter Hermann Blomenrods ratsfähig geworden. Als der Bürgermeister gegangen ist, spürt von Dülmen wieder diese verdächtige Müdigkeit des Leibes und des Geistes, deren er sich seit einigen Tagen nicht mehr erwehren kann. Er überfliegt den Text seines Testamentes: „ . . . sollen die Erben meines Besitzes meine Frau und meine sieben Kinder sein." Noch einmal greift er zur Feder und schreibt: „Gegeben zu Lübeck, den 18. Juli Anno 1350."
* Zwei Monate später, am 22. September, dem letzten Tag dieses Sommers, sitzt Ratsherr von Dülmen zur gleichen Nachmittagsstunde in seinem Kontor. Er scheint in dieser kurzen Spanne um zwanzig Jahre gealtert zu sein. Wieder schreibt er an einem Testament, denn das alte ist wertlos geworden. Die Seuche hat den Ratsherrn bisher verschont. Aber seine Frau und seine sechs Kinder liegen auf dem Friedhof. Nur sein Sohn Hermann ist am Leben geblieben. Viel ist in der kurzen Zeit geschehen. Ein einziger Tag, der 10. August, hat fünfhundert Todesopfer gefordert. Am Tage darauf ist der erste der siebenundzwanzig Ratsherren, Hinrich von Alen, beigesetzt worden, am 22. August der Bürgermeister Tidemann von Güstrow. Das reiche Lübeck, das „deutsche Venedig", ist eine Geisterstadt geworden. Mit fünfundzwanzigtausend Einwohnern war es 14
einmal die größte Handelsstadt im Norden. Übrig blieb, wie in vielen anderen Städten Europas, ein großer Friedhof. Hermann von Dülmen setzt in dem neuen Testament seinen Sohn Hermann als Alleinerben ein. Er glaubt nicht mehr, daß er dieses tödliche Jahr überleben werde. Seine Ahnung hat nicht getrogen. In den ersten Oktobertagen findet er an seinem Körper eine Pestbeule. Am 9. Oktober kommen die vermummten Leiehenträger ins Haus und bringen ihn zu seiner Familie auf den Gottesacker. Er ist der neunte von elf Lübecker Ratsherrn, die im Pestjahr 1350 sterben.
* Im nächsten Jahr überspült die Flutwelle der Pest Frankfurt an der Oder und dringt dann weiter in den Osten bis tief nach Rußland hinein vor. 1356 erreichen ihre Ausläufer, diesmal aus einer ganz anderen Richtung heranstürmend, wiederum die Stadt Caffa auf der Krim, von wo aus die Pest vor wenigen Jahren ihren Todeszug durch das Abendland angetreten hat. Der Kreislauf des Verderbens hat sich geschlossen. Nie vorher und nie später ist die Erde von einer solch schicksalsschweren Katastrophe heimgesucht worden. Papst Clemens VI. läßt die Opfer des Schwarzen Todes der Jahre 1347 bis 1350 errechnen. Die Schätzung ergibt über 42 Millionen Tote, die Hälfte der damaligen Bevölkerung Europas.
Die Pestheiligen des Tizian „0 glückseliges Enkelvolk, das solchen abgründigen Jammer nicht kennenlernt und unseren Bericht für eine Fabel halten wird!" Das ist der klagende Nachruf des Dichters Petrarca auf die Schrecken des Schwarzen Todes von 1347. Die Nachfahren aber können diesen „abgründigen Jammer" nicht so bald vergessen. Dafür sorgt die Pest selbst. 1356 sucht sie zum zweitenmal das Rheinland heim, 1365 ein drittes und 1383 ein viertes Mal. Wie ein schwelendes Feuer überzieht sie mehrmals in wenigen Jahrzehnten ganz Europa und lodert bald hier, bald da in hellen Flammen wieder auf. Italien, Petrarcas Heimat, durch dessen südlichstes Einfallstor die Pest Einzug ins Abendland gefunden hatte, wird in dieser Zeit noch mehrere Male Schauplatz des grausamen Dahinsterbens. Der 15
Maler Tizian hat während seines langen und reichen Lebens mit eigenen Augen die Hilflosigkeit der Menschen gegenüber der Pestseuche gesehen. Mit mehr als neunzig Jahren noch hält er den Pinsel in der Hand und malt den Heiligen Markus zwischen vier anderen Heiligen. Es wird später eines seiner berühmtesten Gemälde. Mit besonderer Liebe gestaltet er auf diesem Bild die Figuren des heiligen Sebastian und des heiligen Rochus. Beide gelten als Patrone der Pestkranken. Der römische Gardeoffizier Sebastian, ein frühchristlicher Märtyrer, den Kaiser Diokletian von Bogenschützen erschießen ließ, ist auf Tizans Bild ein schöner, von Pfeilen durchbohrter Jüngling. Der späteren Legende nach sind die Pfeile nur Symbole für den ärgsten Feind der Menschheit, die Pest; Sebastian habe die Geschosse auf sich gelenkt, damit andere Gläubige von ihnen verschont blieben. Deshalb beten die Frommen in jeder Pestepidemie zu Sankt Sebastian, daß er sie vor der Krankheit schützen möge. Die religiösen Bruderschaften, die sich selbstlos der Pestkranken annehmen, haben ihn zu ihrem Schutzpatron erhoben. Der französische „Nothelfer", der Heilige Rochus, pflegt während einer Pestepidemie in Italien die erkrankten Pilger aus Deutschland, England und Frankreich und zieht sich, als die Seuche ihn selbst befällt, in einen Wald zurück. Dort wird er von einem treuen Hund gepflegt und genest, so erzählt man sich. Ist es eine düstere Vorahnung, wenn Tizian in diesen beiden Schutzheiligen der Pest ein solch ergreifendes Denkmal setzt? Kurze Zeit später, im Jahre 1576, bricht die Pest wieder einmal in Venedig aus und tötet auch den neunundneunzigjährigen Maler. Die Mönche von St. Gallen „Mitbrüder! Das Übel hat nun auch in unserem Lande zu wüten begonnen. Wie uns mitgeteilt wird, sind die Pfarrherren von Sankt Georgen und Sankt Fiden an der Pest erkrankt, die unser Herr uns zur Strafe für unsere Sünden gesandt hat. Es ist nötig und ratsam, daß einer von uns hinausgehe, um den Sterbenden Trost zu bringen." Fürstabt Bernhard, der höchste geistliche Würdenträger im Kloster Sankt Gallen in der Nordschweiz, legt eine kleine Pause ein. Eifrig meldet sich der Dekan des Klosters. 16
Einem Pestkranken werden die Beulen aufgeschnitten (Holzschnitt vom Jahre 1482, aus „Spruch der Pestilenz" von Hans Folz)
„Hört erst, was ich noch zu sagen habe. Der, den wir hinausschicken, soll von den Fasten entbunden sein, damit sein Leib kraftig bleibe, er soll getrennt von uns wohnen und gute Bedienung haben. Ihm wird aufgetragen, zur Schonung seiner Gesundheit nicht in die Wohnungen der Pestkranken zu gehen. Er möge die Beichte von der Straße aus abnehmen und die Sterbenden nicht mehr berühren. Wer ist unter diesen Bedingungen willens, den Dienst zu versehen?" Viele der Brüder sind bereit. „Wir bitten, da er sich zu allererst entschlossen hat, den Pater Dekan, die Seelsorge für die Pestopfer in den Gemeinden Sankt Georgen und Sankt Fiden zu übernehmen." Zwei Wochen lang ist der Dekan Tag für Tag unterwegs. Zehn bis zwölf Häuser besucht er an einem Tage, nimmt die Beichte ab und spendet geistlichen Zuspruch. Dann trifft endlich von auswärts ein Priester ein und löst ihn ab. Der Dekan kehrt ins Kloster zurück, es wird ihm aufgetragen, obwohl er sich nicht krank fühlt, sich vorläufig in einem abgelegenen Flügel des Klosters aufzuhalten. Es gibt schon damals eine Art Quarantäne, eine vorsorgliche Isolierung. Nur wenige Mönche haben bei wichtigen Anlässen Zutritt zu dem tapferen Mann. Audi Pater Rennhas, der Kustos des Klosters, stattet ihm einen Besuch ab. Wenige Tage darauf fühlt sich Pater Rennhas nicht wohl. Der Arzt stellt stellt das Ungarische Fieber fest und erklärt, es bestehe keine Ansteckungsgefahr, gibt aber wenig Hoffnung für das Leben des Erkrankten. Die Mönche sitzen an seinem Lager und unterhalten sich lange mit ihm. Tags darauf ist der Pater tot. Der Bruder Totenwärter macht ihn für die Bestattung bereit und will ihm das Totenhemd überstreifen. Da entdeckt er auf Pater Rennhas' Brust Pestbeulen. Er fürchtet, die Nachricht werde unter den Bewohnern des Sankt Gallener Landes eine Panik erzeugen, und spricht nicht darüber. Dennoch sickert das Gerücht durch, daß der Dekan die Pest eingeschleppt habe. Ein Bäcker, ein Diener und der Einheizer werden aus dem Kloster fortgeschickt, da sie sich nicht wohlfühlen. In den nächsten Tagen fällt dem Klosterobern auf, daß einer der jüngeren Mönche sein Frühstück kaum anrührt. Der Mönch gibt an, die Speise sei kalt gewesen, als sie serviert wurde, und daß er plötzlich Ekel vor kalten Speisen empfinde. 18
Audi Pater Placidus mag drei Tage später nichts mehr essen. Er hat eine bittere Medizin gegen ein altes Leiden eingenommen. Die Arznei ist ihm noch nie bekommen, und so macht er sie auch diesmal für seinen schlechten Zustand verantwortlich. Der Arzt bestärkt ihn in diesem Glauben und läßt ihn nicht isolieren. Doch der Obere findet an der Brust und den Armen des Paters Anzeichen von Pestbeulen. Ein Mönch nach dem anderen stirbt. Auch der Dekan, der die Bazillen ius Kloster geschleppt hat, fühlt sich am Morgen des 18. September krank. Sein Hals ist rauh und geschwollen. Er nimmt ein Schwitzpulver, aber e3 will nicht recht helfen. Ihn friert erbärmlich, und er vermeidet zu den Mahlzeiten den Speisesaal, weil er nichts zu sich nehmen kann. Abends um neun Uhr kommt der Arzt und läßt ihn wegen Pestverdachts absondern. Neun Tage lang ringt der Dekan mit dem Tode. Sein robuster Körper wehrt sich lange gegen das heimtückische Gift. Am 27. September fühlt er seine Kräfte erlahmen und verlangt, daß man ihm noch bei Lebzeiten das Totenhemd anziehe. Nur Abt Bernhard, der gerade in Rorschach weilt und einige wenige Mönche des Klosters Sankt Gallen überleben die Pest von 1628. Pest in Oberammergau Drei Jahre später, in einer regnerischen Novembernacht, stehen zwei junge Männer am Dorfeingang von Oberammergau. Sie sind mit Mistgabeln bewaffnet und sollen darüber wachen, daß die Pest nicht in das Bergdörfchen eindringt. „Heda", schreit der eine plötzlich in die Nacht, „ist dort jemand?" Niemand gibt Antvyort, aber auf dem Hof des Häuslers Schüßler am Ortseingang fällt eine Tür ins Schloß. „Es war nichts", beruhigt der zweite Wächter den Gefährten. „Der alte Schüßler ist noch einmal rausgegangen." Die beiden Posten setzen ihren Kontrollgang fort. Seit zwei Jahren stellen die Bergbauern von Oberammergau Tag und Nacht Wachen vor ihr Dorf. Ringsum im Lande wütet die Pest und mordet die Menschen zu Tausenden. Sie ist schlimmer als der Krieg, der nun schon dreizehn Jahre tobt. Die Seuche hat jetzt offenbar nicht mehr einen einheitlichen .Marschplan wie zwischen 1347 und 1350, als sie wie eine Kriegs19
front über die Länder hinweggerollt ist. Sie führt einen Marodeurkrieg, flackert an vielen einzelnen Herden gleichzeitig auf und kehrt nach kurzer Zeit in die Städte zurück, die erst wenige Monate vorher eine Epidemie durchgemacht haben. Sie ist unstet geworden wie die vielen kleinen Heerhaufen, die in der letzten Periode des Dreißigjährigen Krieges einen Kleinkrieg auf eigene Faust führen, nur auf Morden, Plündern und Zerstören bedacht. In dieser Nacht, in der am Ortsausgang eine Tür ins Schloß fiel, hat sieh etwas Entscheidendes zugetragen. Caspar, dem Sohn des Häuslers Schüßler, ist es gelungen, sich heimlich ins Dorf zu schleichen. Der Caspar stammt aus Oberammergau, aber er hat zwei Jahre lang in einem Nachbardorf als Knecht gearbeitet. Bei Tage verwehrten ihm die Wachen, seinen Heimatort zu betreten. So hat er in einer dunklen, regennassen Nacht den Weg über die Felder gewählt. Mit ihm ist das Gift der Pest in das Dorf eingedrungen. Seine ganze Familie erkrankt, andere Dorfbewohner stecken sich an. Die Einwohner werden von unsagbarer Furcht ergriffen. Ängstliche wollen über die Berge flüchten, aber die Wächter befolgen streng ihre Befehle und jagen die Verzweifelten zurück. Die Ältesten der Gemeinde versammeln sich in der Kirche. Sie wissen, daß jetzt, da die Pest in den Ort Einlaß gefunden hat, nur noch ein Wunder helfen kann. Gebete erscheinen ihnen als Sühnemaßnahme zu gering. So beschließen sie, ein Gelübde abzulegen. Sie geloben, daß im Dorf alle zehn Jahre das Spiel von der Passion des Heilands aufgeführt werden solle, sofern Gott Oberammergau vor der Pest bewahre. Das Wunder geschieht. Die Seuche erlischt. Zum Dank werden seit 1634 einmal in jedem Jahrzehnt die Passionsspiele in Oberammergau aufgeführt.
* Dreißig Jahre lang, von 1618 bis 1648, zieht sich der völkermordende'Glaubenskrieg über die mitteleuropäischen Landschaften hin. Mit Steinschloßbüchsen, die alle zwei Minuten unter Donner und Pulverqualm einen Schuß aus ihren Mündungen entließen, mit Feldgeschützen, mit Mordbrand und Aushungerung suchen sich die Menschen gegenseitig umzubringen. Beim Friedensschluß leben von dreißig Millionen Deutschen nur noch fünf Millionen. Aber nur jedes zehnte Opfer ist durch Waffengewalt umgekommen. Alle anderen haben die Seuchen, vor allem die Beulenpest, getötet. 20
Pestarzt in Rom 1656. Das Bild trägt die Unterschrift: So gehen die Arzte in Rom, wenn sie Pestkranke besuchen, um sie gesund zu machen. Sie tragen, um sich gegen das Pestgift zu sichern, ein langes gewachstes Gewand, eine Maske vor dem Gesicht mit einer Glasbrille, einen Schnabel voll wohlriechender Kräuter, Handschuhe und einen Zeigestock für ihre Anordnungen.
Den Frieden von Münster und Osnabrück schließen die Fürsten untereinander. Die Pest unterzeichnet nicht. Sie holt siebzehn Jahre später, als die Nachkriegsgeneration herangewachsen ist, zu einem neuen Schlage aus.
Engel mit dem feurigen Schwert „Was wißt Ihr Neues?" fragt ein nach französischer Mode gekleideter Herr, der in einem Londoner Kaffeehaus seinen Mokka schlürft, den eben eingetretenen Gast. „Ich glaube, wir gehen einer schweren Zeit entgegen, Mister Pepys", erwidert der Angeredete. „Man spricht wieder von Pestfällen in der Stadt." „Lohnt der Aufregung nicht, kommt alle Jahre vor." Samuel Pepys spielt mit dem Knauf seines Spazierstocks und wischt ein Stäubchen von seinem Anzug. „Aber es ist immer wieder beängstigend." „Für mich nicht. Eine Klatschgeschichte vom Hof könnte mich mehr fesseln. Ich bin jetzt dreiunddreißig Jahre alt, mein Lieber, und es ist kein Jahr vergangen, in dem die Pest nicht ein paar hundert Londoner gefressen hätte. Unsere Stadt ist groß. Soviele müssen jährlich ins Gras beißen. Warum soll sich die Pest nicht ihren Zehnten holen?" „Du bist ein Zyniker, Pepys." „Unsinn, ich habe nur meinen gesunden Menschenverstand bewahrt. Es ist schon recht, wenn es eine Macht gibt, die den Spießern ab und zu ein wenig Angst einjagt." In den nächsten Tagen wird London von der gleichen Unruhe befallen wie in früheren Pestjahren, einem Gemisch aus Angst, Neugier, religiöser Erregung und Aberglauben. Bei dem geistreichen Schriftsteller Samuel Pepys überwiegt einstweilen die Neugier. Er streift beobachtend durch die Gassen der Altstadt, geht mit klopfendem Herzen an Häusern vorbei, in denen nach den Angaben von Passanten und Eckenstehern Pestkranke liegen. Die übrigen Stunden des Tages bringt er nach alter Gewohnheit in den Kaffeehäusern zu und tauscht mit Gleichgesinnten Nachrichten über die Pest aus. Am Johannistag, elf Tage nach Ausbruch der Epidemie, flüstert man sich zu, daß in einer Gasse von Westminster fünf Kranke der 22
Pest erlegen seien. Samuel Pepys erschrickt nicht. Er lächelt, wenn er an den zerlumpten Gestalten vorübergeht, die an den Straßenecken Amulette, gedruckte Beschwörungsformeln, schützende Tierkreiszeichen und duftende Wässerchen gegen die Pest anbieten. Und doch trägt er selbst wenige Tage später ein solches Fläschchen mit Duftwasser in seiner Rocktasche. Er hält es gut versteckt, damit er nicht zum Gespött seiner Kumpane wird. Aber wenn er einen Augenblick allein ist, zieht er es aus der Tasche und riecht daran. Er lächelt über sich selbst bei dieser Zeremonie, dann aber erkennt er, daß er Angst hat. Aber noch in der Angst läßt er sich von der Vernunft lenken. Er hat unter allen angepriesenen Schutzmitteln dasjenige herausgesucht, das ihm am meisten Erfolg gegen die Pestdünste verspricht. In den letzten Junitagen zeigt sich, daß die Krankheit in diesem Jahr nicht so harmlos verlaufen wird wie bisher. In den Kaffeehäusern wird es leerer. Der Hof rüstet zur Flucht aus der Stadt. Viele Adlige haben London schon verlassen. Die reichen Kaufleute und Ärzte sind ihnen gefolgt. Wer von Pepys' Freunden in der Stadt geblieben ist, schließt sich in seinem Hause ein. Einsam sitzt Samuel Pepys an seinem Stammplatz im Cafe und schreibt Briefe. Er ist völlig in seine Arbeit versunken und merkt nicht, daß Dr. Charles Houston, ein junger Gelehrter der Philosophie, an seinen Tisch getreten ist. „Du bist noch in London, Pepys?" fragt Houston überrascht. „Hast du den Ehrgeiz, mitzuerleben, wie London untergeht?" Pepys schiebt die Briefe beiseite und blickt in das Kaminfeuer, das der Wirt trotz der Hitze angezündet hat, weil es vor dem Pesthauch schützen soll. „Wahrlich, Houston, das müßte ein großartiges Schauspiel sein, der .. . Untergang . . . Londons. Mindestens so dramatisch wie der Untergang Roms. Zur Zeit des Perikles soll Athen einmal von der Pest vernichtet worden sein. Schaurig, aber auch faszinierend — dieser Untergang einer Weltstadt." „Faszinierend, wenn die Menschen zu Tausenden jämmerlich an Pestbeulen dahinsterben? Pepys, ich fahre auf das Gut meines Vaters in Essex. Du bist eingeladen, mein Wagen wartet vor der Tür." Samuel Pepys sieht den Gelehrten forschend an. „Ich hätte schon Lust, Houston. Etwas Landluft würde mir gut tun. Aber glaubst du wirklich, daß ich diese dramatisdien Stunden in London versäumen 23
möchte? Ich will Zeuge sein, wie sich die Menschen benehmen, wie ihnen die Angst in der Kehle sitzt, wenn der Tod vor ihnen steht. Sieh, Houston, das will ich nicht versäumen." „Und wenn im nächsten Jahr eines von den vielen tausend Gräbern die Aufschrift tragen wird: ,Hier ruht Samuel Pepys, geboren 1632, gestorben 1665 an der Pest und an der Neugier'?" „Wäre das ein so großes Unglück? Um mich wird niemand weinen. Und wenn du annimmst, meine Angst sei größer als mein Wissensdrang, dann irrst du. Ich bleibe in London. Ich habe seine guten Zeiten gesehen und will auch sein Ende miterleben." Dr. Charles Houston hebt bedauernd die Schultern und verabschiedet sich. Als Pepys eine Stunde später durch die Straßen schlendert, gerät er in einen Auflauf aufgeregter Bürger. In der Mitte eines Menschenknäuels windet sich ein schlaksiger Jüngling unter dem Zugriff der Menge. „Was ist denn hier los?" erkundigt sich Samuel Pepys bei einem der Umstehenden. „Schreckliche Zeichen, mein Herr. Der Engel mit dem feurigen Schwert ist am Himmel erschienen. Seht nur, dort oben . . . " Pepys legt den Kopf in den Nacken und sieht ein weißes Wölkchen, das einsam über den blauen Sommerhimmel segelt. „Und warum das Geschrei? Was ist mit dem jungen Mann?" „Er ist ein Gotteslästerer, mein Herr. Er sieht den Engel des Herrn nicht. Dreist hat er behauptet, es sei eine gewöhnliche Wolke." Pepys unterdrückt seinen Ärger, schiebt sich durch das Gewühl und versucht, bis zu dem Burschen vorzudringen. Aber der junge Mann hat sich losgerissen und ist in einer nahen Seitengasse verschwunden. So kommt es, daß diese beiden Gleichgesinnten sich nicht begegnet sind. Erst viele Jahre später erfährt Pepys, wer der lästernde Jüngling gewesen ist. Er heißt Daniel Defoe und und hat später im Gefängnis einen berühmten Roman, „Robinson Crusoe", geschrieben. Defoe berichtet, daß er nach dem Tumult, den er ausgelöst, hatte, weil er den Engel mit dem feurigen Sehwert nicht sehen wollte, noch oft angefeindet worden sei. Er verschanzte sich in seinem Haus „nicht gegen die Pest, sondern gegen die Dummheit", kaufte zwei Säcke Mehl zum Brotbacken und genügend Malz, um seine Fässer mit selbstgebrautem Bier füllen zu können. Samuel Pepys verzichtet auch in diesem Pestsommer nicht auf seine täglichen Spaziergänge. Er streicht oft durch die Gassen am Hafen und an den offenen Kanälen, obwohl ihm in dieser Gegend 24
vor Gestank übel wird. An jeder Ecke türmt sich der Kehricht zu hohen Haufen. Die Kanäle sind mit einer dicken Schicht modernder Abfälle bedeckt. Nur das Riechfläschchen hilft ihm, die tausenderlei Dünste zu ertragen. Wenn ihm Leichenzüge mit den auf rohe Holzbretter gebetteten Pestioten begegnen, weicht er schnell auf die andere Seite der engen Gassen aus. Er kritisiert alles mit Vernunft und Leidenschaft: das Verhalten der Londoner Bürger, die Zeitungen, die Theaterstücke, die ungenügenden Abwehrmaßnahmen gegen die Pest . . . Seiner Ansicht nach ist der stinkende Unrat in den Altstadtgassen schuld. Und die vielen Haustiere, die in diesem Morast wühlen. In jedem Londoner Haus gibt es drei bis vier Katzen. Viele sind schon an der Pest eingegangen. Man solle sie alle vernichten, meint er. Samuel Pepys ist nicht der einzige, der diese Forderung erhebt. Professoren der Universität sind in einem Gutachten für die Stadtverwaltung zu dem Schluß gekommen, daß die Katzen an der Verbreitung der Pest schuld seien. In keiner Stadt Europas gibt es so viele Katzen — in keiner Stadt wütet die Pest so schlimm wie in London. In den Vierteln mit den meisten Pesttoten gibt es auch die meisten Katzen. Es sind nur unsichere Anhaltspunkte, aber sie reichen aus, die Lieblingstiere der Londoner zu belasten. „Blutenden Herzens" erläßt der Bürgermeister im Spätsommer die Verordnung, daß die zweihunderttausend Katzen Londons gelötet werden sollen. Außerdem ist Gift gegen die Ratten zu legen, damit auch diese Übeltäter als mögliche Pestüberträger verschwinden. Der Erfolg dieser Massentötung ist nicht mehr festzustellen. An einem Herbsttag hüllen Rauchwolken die Stadt ein. Der größte Brand der Weltgeschichte vernichtet ganz London. Bettelarm sitzen die Bewohner auf den verkohlten Überresten ihrer Häuser. Sie haben alles verloren — alles, auch die Pest. Nach dem Brand ist sie wie vom Erdboden verschwunden. Wer dieses Jahr 1665 übersteht — und Samuel Pepys ist unter den Überlebenden —, braucht sich vor der Krankheit nicht mehr zu fürchten.
800 Reichsthaler für Dr. Bourel „Feuer reinigt die verpestete Luft", so verkünden die Stadträte von Köln. Das sei ein Radikalrezept zur Eindämmung der Seuche, die, nachdem sie die abgebrannte Stadt London endgültig verlassen 25
hat, wieder im Rhcintal aufgeflackert ist. Der Bürgermeister setzt ein umständliches Schreiben an Dr. Petrus Eigelmann, den Dekan der medizinischen Fakultät in Köln, auf. Er bittet den gelehrten Herrn, Vorschläge zur Bekämpfung der Seuche zu machen. Der Ratsbote bringt das versiegelte Schreiben ungeöffnet zurück. Der Dekan hat die Stadt Köln mit unbekanntem Ziel verlassen. „Vor der Pest geflohen", wettert der Bürgermeister. Er ist nicht gesonnen, die Flucht des ersten Arztes der Stadt so ohne weiteres hinzunehmen. Die Zeiten sind vorüber, in denen ein Arzt ungestraft seine Praxis im Stich lassen durfte, weil er glaubte, gegen die Pest machtlos zu sein. Im fortgeschrittenen siebzehnten Jahrhundert erwarteten die Menschen, daß ihnen auch während einer Epidemie ärztliche Hilfe geleistet würde. Dr. Petrus Eigelmann wird auf allgemeinen Ratsbeschluß als Dekan der Fakultät abgesetzt. Köln braucht einen Pestarzt, einen guten Mediziner, der mutig genug ist, alle sanitären Maßnahmen zu überwachen und die Kran- : ken zu besuchen. Ein jüngerer Mann namens Dr. Philipp Bourel meldet sich auf die Ausschreibung hin. Am 16. Dezember unterzeichnet er seinen Vertrag, nach dem ihm achthundert Reidisthaler ausgezahlt werden sollen, falls er nach einem halben Jahr noch am Leben ist. Schon nach wenigen Tagen kennt jedes Kind in Köln den Dr. Bourel. Aber die wenigsten wissen, wie er wirklich aussieht. Wenn j er in den Straßen auftaucht und seine Patientenbesuche macht, könnte man glauben, er wolle zu einem Mummenschanz gehen. Sein Gesicht ist unter einer Maske verborgen. Sie ist wie ein Entenschnahel vorgewölbt, damit die Nase genügend Luft bekommt. Auf dem Kopf trägt er einen flachen Zylinder, die Hände stedten in langen Handschuhen. Dr. Bourel hält seine Sprechstunde stets unter freiem Himmel ab. So bestimmen es die Berufsordnungen für Pestärzte, die von auswärtigen Universitäten aufgestellt worden sind. Wenn der Patient nicht auf die Straße kommen kann, gibt ihm der Arzt seihe Ratschläge durch eine Luke in der Haustür oder durch einen Spalt im Fenster. Viele der Pestärzte sind bei der Ausübung ihres Berufes gestorben. Dr. Bourel aber kann am 16. Juni 1666 bei bester Gesundheit seine achthundert Reichsthaler kassieren. Er hat sein Amt bis zum Ende der Kölner Pestepidemie am 15. März 1667 ohne Schaden ausgeübt. 26
„O, du lieber Augustin . . . " Es gibt merkwürdigerweise immer wieder Menschen, die gegen die Pestbazillen immun zu sein scheinen. Der fröhliche Sänger und Dudelsackpfeifer Max Augustin leidet unter der Wiener Pestepidemie von 1679 nur darum, weil niemand mehr in der Stimmung ist, seinen übermütigen Liedern zuzuhören. Um nicht mit der Freude am Spielen auch den Humor zu verlieren, hockt er sich in das Gasthaus „Zum roten Dachl" und ertränkt seinen Kummer in Alkohol. Nach dem fünften Gläschen summt er eine Melodie vor sich hin. Zuerst ganz unbewußt. Dann hört er sich selber zu und merkt, daß diese Melodie ein feines Lied ergeben könnte, wenn man einen passenden Text dazu hätte. Beim siebenten Gläschen beginnt Max Augustin den Text aufzuschreiben: „ 0 , du lieber Augustin, 's Geld ist hin, d' Freud ist hin. 0, du lieber Augustin, alles ist hin. Ach, und selbst das reiche Wien, arm jetzt wie Augustin, seufzt mit mir im gleichen Sinn: Alles ist hin. Jeder Tag war sonst ein Fest. Und was jetzt? Pest, die Pest! Nur ein großes Leichennest, das ist der Rest. O, du lieber Augustin, leg nur ins Grab dich hin, ach, du mein liebes Wien — alles ist hin." Augustins Gesang geht in schwerfälliges Lallen über. Der Betrunkene schwankt hinaus und tastet sich an den Häuserwänden der Gasse entlang heimwärts. In der Dunkelheit stolpert er über einen Pesttoten und schlagt hart aufs Pflaster. Leichenkärrner, denen es obliegt, die.Straßen nachjs von den Toten zu säubern, halten ihn für ein Opfer der Pest, laden ihn mit mehreren Leichen zusammen auf den Wagen und kippen ihre Fuhre in eines der Massengräber. Ehe der Morgen dämmert, erwacht Augustin mitten zwischen den Pestleichen. Er versucht, an den Wänden der Grube hochzuklettern, aber sie sind so glatt und steil, daß es ihm nicht gelingt. So muß er warten, bis am frühen Morgen die Kärrner mit neuer Fracht 27
kommen und ihn aus der Grube herauszerren. Das schaurige Abenteuer hat ihm nicht geschadet. Noch secbsundzwanzig Jahre kann er unentwegt Liedchen singen, bis er aus einem Rausch nicht mehr aufwacht.
Dr. Yersin findet die Schuldigen In der späteren Geschichte der Pest hatte es die medizinische Forschung schwer, das Unheil auf breiter Front anzugreifen. Denn die Pestfälle verteilen sich über verschiedene Landstriche. In Marseille sterben 1720 viele Tausende an der Seuche, Europa bleibt seitdem von ihr verschont, Jahrzehnte später werden Napoleons Soldaten in Ägypten infiziert. In Rußland, in Persien gibt es alle paar Jahre einen Pestalarm. Als aber die bakteriologische Forschung um 1880 Bakterien als Erreger zahlloser Krankheiten entdeckt, ist die Pest auch außerhalb Europas plötzlich verschwunden. Sie hat sich in die schwer zugängliche chinesische Provinz Yünnan zurückgezogen. Wie eine beleidigte Diva kehrt sie der Welt den Rücken. In dieser Zeit tritt der merkwürdige Fall ein, daß einige Menschen auf eine Seuche warten, vor der Millionen vorher entsetzt geflohen sind. „In Hongkong ist die Pest ausgebrochen, Dr. Yersin!" Der kleine gelbe Boy schwenkt aufgeregt ein Telegramm in der Hand. „Du sollst die für mich bestimmten Telegramme nicht vorher lesen", schnauzt der schmächtige Mann, der mit abwesendem Gesichtsausdruck vor seinem Sterilisator steht. „Der Telegraphenbote hat es schon in der ganzen Stadt erzählt, Herr Doktor. Es ist doch ein Staatstelegramm. In Hongkong gibt es Pestkranke. Das Kolonialministerium bittet Sie, nach Hongkong zu fahren." Der Schweizer, Dr. Alexander Yersin, Schüler der großen Ärzte und Bakteriologen Pasteur und Robert Koch, befindet sich seit längerer Zeit in Ostasien, um hier dem Pestbazillus auf die Spur zu kommen. Aber bisher sind ihm Krankheitsfälle nicht bekannt geworden. Er ist eine Zeitlang auf der Route zwischen den Philippinen und Französisch-Indochina als Schiffsarzt tätig. Als Dr. Calmette 1892 eine Außenstelle des Pasteurinstituts in dem schmutzigen indochinesischen Städtchen Nhatrang gründet, ist Yersin zur Bazillenjagd zurückgekehrt. In den vergangenen zwei Jahren hat er mehrere Expeditionen ins Landinnere gemacht. 28
Jetzt endlich sieht er die große Aufgabe vor sidi. Er löst alle bisherigen Bindungen und geht am 15. Juni in der Inselstadt Hongkong, einer britischen Kolonie vor der südchinesischen Küste, an Land. Er hat zwei halbwüchsige Eingeborene bei sich, die ihm die wenigen Instrumente tragen helfen. Sein erster Weg führt zum französischen Konsulat; er braucht einen Arbeitsplatz und die Unterstützung der Behörden, damit er Kranke untersuchen darf. Der Konsul hat eine interessante Nachricht für den hoffnungsfreudigen Arzt: drei Tage vorher sei eine japanische Kommission zum Studium der Pest eingetroffen. Wer sie leite? Ja, diese umständlidien Namen könne er sich nicht merken, sagt der Konsul. Aber wenn der Herr Dr. Yersin seine japanischen Kollegen besuchen wolle, so finde er sie im Krankenhaus Kennedy Town, einer früheren Polizeistation. Alexandre Yersin beschließt, mit der japanischen Delegation Verbindung aufzunehmen. Er läßt sich durch einen diinesisdien Diener bei dem Leiter der Forschungsgruppe anmelden. Ein Herr mittleren Alters in weißem Kittel steckt den Kopf durdi die Tür und reicht ihm die Hand: „Kitasato!" „Yersin, Alexandre Yersin! Dem Namen nach kennen wir uns, Herr Professor. Ich war 87 einmal kurz bei Koch in Berlin. Sie kamen wohl ein Jahr später dorthin." Er sudit mühsam deutsdie Vokabeln zusammen, in der Annahme, daß Kitasato nur diese Spradie verstehe. Doch der Japaner bleibt steif und förmlich. „Willkommen", sagt er mit kalter Höflichkeit. „Ich bin im Auftrag der französischen Regierung hier, natürlich aus dem gleichen Grund wie Sie, Herr Professor." „Ich wünsche Ihnen Glück, mein Herr." „Darf ich fragen, wie Ihre Versuche bisher verlaufen sind?" „Zufriedenstellend." Kitasato ist weder Freude noch Ärger, weder Überraschung noch Enttäusdiung anzusehen. Der Europäer macht einen letzten Versuch. Er ruft nach einem Dolmetscher, weil er vermutet, daß der Japaner seinen Worten nicht folgen könne. Aber es ist kein Übersetzer in der Nähe. Nach kühler Verbeugung gehen die beiden Männer auseinander. Yersin sucht vergeblich ein Laboratorium, in dem er den mitgebrachten Sterilisator und das Mikroskop aufstellen kann. Schließlich entsdieidet er sich für eine offene Veranda. Als er seine Instrumente aufbaut, sammeln sich neugierige Chinesen an. 29
„Hier können Sie doch nicht arbeiten, Doktor", ruft ihm ein europäischer Missionar zu. Er stellt sich vor. Pater Vigano heißt er und ist Italiener. „Sie sitzen hier ja wie ein wandernder Alchimist, der eine Vorstellung geben will." „Die Vorstellung wird leider ausfallen", antwortet Yersin bitter. „Alle dreihundert Pestleichen, die es bis heute in Hongkong gibt, sind für die japanische Delegation reserviert. Ich bekomme nicht einmal die Blutprobe eines Kranken in die Hand." „Gehen Sie zu Professor Kitasato, Doktor. Er ist etwas hölzern und unbeholfen, aber ein herzensguter Mensch. Er wird Ihre Bitte sofort erfüllen . . ." Noch einmal zu der Sphinx Kitasato? Dazu kann sich Yersin nicht entschließen. „Vor allem brauchen Sie ein festes Dach über dem Kopf", fährt