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Dennis Wheatley
Der schwarze Pfad Englischer Originaltitel: TO THE DEVIL – A DAUGHTER
Horror‐Roman ...
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Dennis Wheatley
Der schwarze Pfad Englischer Originaltitel: TO THE DEVIL – A DAUGHTER
Horror‐Roman
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 70 009 Horror-Bibliothek Ins Deutsche übertragen von Rosemarie Hundertmarck © Copyright 1953 by Brook-Richleau Deutsche Lizenzausgabe 1979
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Unseren guten Freunden DIANE UND PIERRE HAMMEREL Mit großer Dankbarkeit für ihre grenzenlose Gastfreundschaft gegen Joan und mich während unseres Besuches in Nizza; zu un‐ seren lebendigsten Erinnerungen daran gehört unsere anstren‐ gende, aber faszinierende Expedition (bei Tageslicht) in die Höhle der Fledermäuse I
In Molly Fauntain wuchs allmählich die Überzeugung, daß das Geheimnis, von dem die einsame Bewohnerin der Villa nebenan umgeben war, mehr Spannung barg als der Ro‐ man, an dem sie gerade arbeitete. Mollys Bücher, die sie in ihrem Häuschen an der Corniche d’Or hoch über dem blauen Mittelmeer schrieb, spielten im Agenten‐Milieu. Sie selbst war zwar keine Spionin gewe‐ sen, wie ihr Sohn John vermutete, hatte aber während des Krieges als Sekretärin des Secret Service das Milieu genau studieren können. Ihr Mann war in Afrika gefallen, und sie hatte nur zu schreiben begonnen, weil sie von der Witwen‐ pension allein nicht hätte leben können. Vor vier Tagen war ihre neue Nachbarin eingetroffen. Mol‐ ly hatte gerade auf ihrer kleinen Terrasse den Tee getrun‐ ken, als ein Taxi vorfuhr und das junge Mädchen ausstieg. Zu dieser Zeit konnte sie nicht mit dem Train Bleu, sondern nur vom Flughafen Nizza gekommen sein. Ein Mann mitt‐ leren Alters, der trotz seiner stämmigen und aggressiven Erscheinung etwas Verstohlenes an sich hatte, begleitete 3
sie. Seine Kleidung kam Molly merkwürdig vor. Das heißt, sie war nicht an sich merkwürdig, aber sie paßte zu einem Geschäftsmann der Londoner City und nicht zu einem Ur‐ lauber an der Riviera. Der Mann half dem Fahrer, das Ge‐ päck ins Haus zu tragen. Nach etwa zehn Minuten kehrte er zu dem wartenden Taxi zurück, fuhr davon und hatte sich seitdem nicht wieder blicken lassen. Seltsam war, daß auch sonst kein Mensch die Villa nebenan besucht hatte und daß das Mädchen, soviel Molly wußte, niemals ausging, wenigstens tagsüber nicht. In der letzten Nacht hatte sich das Geheimnis noch vertieft. Molly war kurz nach ein Uhr wach geworden, als ein loser Stein einen steilen Gartenweg hinunterkollerte. Sie stand auf und trat ans Fenster. Das Mondlicht fiel silbern auf die Kakteen zwischen den Pinien, und ihre Nachbarin stieg ge‐ rade die Stufen hinab, die von der Terrasse zur Straße führ‐ ten. Molly hatte sich ein Buch genommen und mit gespitzten Ohren auf die Rückkehr des Mädchens gewartet. Es dauer‐ te anderthalb Stunden, bis sie das Gartentor klicken hörte. Sie stand wieder auf und sah die Unbekannte ins Haus zu‐ rückkehren. Warum ging das junge Mädchen nachts spazieren, wenn es am Tag nie einen Fuß vor die Tür setzte? Zum zwanzigsten Mal an diesem Vormittag wanderten Mollys graugrüne Augen von der Schreibmaschine zum offenen Fenster. Die neue Nachbarin war die unschuldige Ursache, daß sie mit ihrer Arbeit nicht weiterkam, und, was wichtiger war, 4
sie würde nicht eher wieder Ruhe finden, bis sie nicht we‐ nigstens versucht hatte, dem Mädchen zu helfen, falls es in Schwierigkeiten steckte. Da gab es nur eins zu tun. An der Riviera war es nicht üb‐ lich, zeitweiligen Nachbarn Besuche abzustatten. Aber Molly hatte von ihrer Köchin erfahren, daß die Unbekannte Engländerin war. Das mochte als Vorwand ausreichen. Kurz entschlossen schob Molly ihren Stuhl zurück und stand auf. Vor ihrer Nase lag ein echtes Geheimnis, und sie würde es aufklären. II
Auf dem Weg in ihr Schlafzimmer zog Molly Fountain sich den leinenen Arbeitskittel über den Kopf. Niemand, der sie in diesem Augenblick gesehen hätte, würde sie auf fün‐ fundvierzig geschätzt haben. Ihre Figur war ausgezeichnet, und nur ihr graues Haar verriet ihr Alter. Sie nahm eine weiße, handgestickte Bluse und einen grauen Mantel mit passendem Rock aus dem Schrank, zog sich schnell an und ging zur Nachbarvilla hinüber. Als sie die steilen Stufen erklommen hatte, bog sie zur Terrasse ein. Das Mädchen hatte ihre Schritte gehört und erhob sich von einem Liegestuhl, machte aber keine Anstalten, Molly ent‐ gegenzugehen und zu begrüßen. Ihr Gesichtsausdruck war wachsam, und Molly meinte, in den dunklen Augen eine Spur von Furcht zu entdecken. Fröhlich begann sie: »Ich bin Molly Fountain, Ihre Nachba‐ rin. Da wir beide Engländerinnen sind, dachte ich . . .« 5
Die Augen des Mädchens weiteten sich. »Doch nicht die Molly Fountain?« rief sie lebhaft aus. Molly lächelte. Ihr Name war durchaus nicht allgemein be‐ kannt, aber diese Frage war ihr in den letzten zwei Jahren doch schon öfter gestellt worden. »Falls Sie an die Autorin von Secret‐Service‐Geschichten denken, dann werde ich es wohl sein.« »Ich finde Ihre Bücher unheimlich spannend«, versicherte das Mädchen. Molly nutzte den ihr so unerwartet zugefallenen Vorteil schnell aus. »Wenn Sie einige meiner Bücher gelesen haben, werden Sie mich hoffentlich nicht ganz als völlig Fremde betrachten. Bitte, entschuldigen Sie, daß ich Ihnen meinen ersten Besuch am Vormittag mache, aber die gesellschaftli‐ chen Formen werden hier weniger beachtet als zu Hause, und ich dachte, es wäre Ihnen vielleicht lieber so, als wenn ich am Nachmittag meine Karte abgegeben hätte.« Zum ersten Mal sah Molly das Mädchen von Angesicht zu Angesicht, und während sie sprach, betrachtete sie sie ge‐ nau. Sie war überdurchschnittlich groß und sehr dünn. Die Gehemmtheit, die sich in ihren Bewegungen ausdrückte, gab ihr das Aussehen eines zu lang geratenen Schulmäd‐ chens. Molly schätzte sie auf neunzehn. Über der breiten Stirn war das dicke, wellige dunkelbraune Haar in der Mit‐ te gescheitelt. Der Mund war voll und großzügig geschnit‐ ten. Eine Stupsnase raubte ihr jeden Anspruch auf klassi‐ sche Schönheit, und ihr Teint wirkte ein bißchen kränklich. Am schönsten an ihr waren ihre Zähne, die, wenn sie lä‐
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chelte, blendendweiß aufblitzten, und ihre großen, außer‐ gewöhnlich leuchtenden braunen Augen. Mollys Erwähnung der gesellschaftlichen Formen erinnerte das Mädchen an die Pflichten der Gastfreundschaft. Nah einem Augenblick des Zögerns forderte sie Molly auf »Möchten Sie nicht eintreten?« »Danke, gern«, antwortete Molly prompt. »Aber, wissen Sie, Sie haben mir Ihren Namen noch gar nicht genannt.« »Oh!« Wieder gab es eine kurze Pause. »Ich heiße Christina Mordant.« »Über einen steilen Gartenweg erreichten sie den Rasen‐ platz vor dem Haus. »Sind Sie zum ersten Mal an der Riviera?« fragte Molly. »Ja«, sagte Christina und führte ihren Gast durch eine Ter‐ rassentür ins Wohnzimmer. »Aber in Frankreich lebe ich schon seit einiger Zeit. Bis kurz vor Weihnachten war ich in einem Pensionat in Paris.« »Ich bin gern bereit, Ihnen etwas von dieser wunderschönen Küste zu zeigen«, bot Molly an. Jetzt war Christinas Zögern deutlicher zu merken. »Dan‐ ke«, stotterte sie, »zu nett von . . . aber . . . ich mache mir nicht viel daraus, auszugehen.« Voller Verlegenheit setzte sie hastig hinzu: »Nehmen Sie doch Platz. Ich werde Ihnen etwas zu trinken holen. Leider kann ich Ihnen keinen Cock‐ tail anbieten, aber Maria könnte schnell Kaffee kochen. Wir haben auch einen köstlichen Orangensaft.« Molly hatte gar keinen Durst, doch sie nahm die Gelegen‐ heit wahr, ihren Besuch zu verlängern. »Organgensaft wäre fein, wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht.« 7
Sobald Christina das Zimmer verlassen hatte, sah sich Mol‐ ly unter den Scheußlichkeiten aus billigem Holz und Chrom der möbliert vermieteten Villa um. Sie hoffte, ir‐ gendeinen Hinweis auf Christinas Persönlichkeit zu finden, und tatsächlich entdeckte sie auf einem Tischchen’ ein Ma‐ nikür‐Etui, das die Initialen E. B. trug. Christina kam mit einem Tablett zurück. »Und Sie leben das ganze Jahr über hier, Mrs. Fountain?« fragte sie und goß zwei Gläser voll. »Fast das ganze Jahr über. Den Juni verbringe ich meistens in London, und dann gönne ich mir im Herbst noch vier‐ zehn Tage Paris, aber ich kann es mir nicht leisten, mehr als sechs Wochen in einem Hotel zu wohnen.« Christina hob ihre dunklen Augenbrauen. »Ich hätte ge‐ dacht, Sie seien schrecklich reich. Ihre Bücher müssen Ih‐ nen doch Tausende einbringen.« »Das ist ein weitverbreiteter Irrglauben«, lächelte Molly. »Sicher, ich habe ein paar Bestseller geschrieben. Aber das meiste Geld schluckt die Steuer.« Weitere zehn Minuten gingen im Gespräch über Bücher und Autoren hin. Offenbar interessierte Christina sich sehr für Literatur. Als sie erwähnte, sie habe eine Vorliebe für historische Romane, bemerkte Molly: »Da überrascht es mich aber, daß Sie so gar keine Ausflüge machen. Diese Küste ist voller geschichtlicher Sehenswür‐ digkeiten, die bis auf die Zeiten der Phönizier zurückge‐ hen. Als ich in Ihrem Alter war, hätte ich alles darum gege‐ ben, diese Stätten besuchen zu dürfen.«
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Christina sah sie verlegen an, wendete dann die Augen ab und murmelte: »Mir macht es eben Spaß, im Garten zu fau‐ lenzen.« »Wie lange werden Sie hierbleiben?« »Noch drei Wochen. Die Villa ist für einen Monat gemie‐ tet.« »Fühlen Sie sich nicht sehr einsam? Haben Sie gar keine Bekannten, die Sie besuchen könnten oder die einmal zu Ihnen kommen?« »Nein. Ich kenne hier unten niemanden. Aber . . . aber ich bin gern allein.« »Es ist ein großes Glück, wenn man mit der eigenen Gesell‐ schaft zufrieden ist und nicht ständig nach neuen Zer‐ streuungen jagen muß«, meinte Molly. »Aber trotzdem fin‐ de ich, Sie müßten ab und zu ein wenig Abwechslung ha‐ ben. Gehen Sie wirklich nie aus?« Christina schüttelte den Kopf. »Heute nacht hielt mich ein spannendes Buch lange wach, und als ich dann aufstand, um mir Schlaftabletten zu holen, glaubte ich, Sie gerade durch den Garten nach Hause kommen zu sehen.« Christinas Gesicht blieb verschlossen. »Ja, ich habe einen kleinen Spaziergang gemacht. Nachmittags schlafe ich meistens. Aber wenn es dunkel wird, überkommt mich ei‐ ne seltsame Unruhe. Ich weiß auch nicht warum.« »So geht es manchen Menschen. Die Astrologen behaupten, unser ganzes Leben werde durch die Stunde unserer Ge‐ burt bestimmt, und wer am Abend geboren ist, werde im‐ mer abends munter.« 9
»Tatsächlich? Das scheint auf mich zu passen. Ich wurde abends um halb zehn geboren.« Nach einer Sekunde fügte Christina freiwillig die Information hinzu: »Ich habe am sechsten März Geburtstag. Nächsten Monat werde ich ei‐ nundzwanzig.« »Dann werden Sie an Ihrem Geburtstag noch hier sein. Das ist ja eine nette Gelegenheit, mit Verwandten oder Freun‐ den mal richtig zu feiern.« »Ich nehme an, ich werde ganz allein sein.« Molly dachte darüber nach, wie seltsam es doch war, daß dieses junge Mädchen keinen Menschen in der Welt hatte, der den Wunsch hegte, ihren 21. Geburtstag zu einem un‐ vergeßlichen Tag für sie zu machen. Aber damit war sie der Lösung des Geheimnisses noch keinen Schritt nähergekommen. Wie würde sich Colonel Crackenthorp, der Held ihrer Ro‐ mane, in einer solchen Situation verhalten? Natürlich wür‐ de er es mit einer Schocktaktik versuchen. Also wollte Mol‐ ly das auch tun. Sie sah dem Mädchen gerade in die Augen und fragte plötzlich: »Christina Mordant ist nicht Ihr richtiger Name, nicht wahr?« Das Mädchen zuckte zusammen und keuchte: »Woher ... woher wissen Sie das?« Gleich darauf erholte sie sich wieder von ihrem Schreck. Ihr Gesicht war weiß geworden, aber sie stand langsam auf. Ihre großen braunen Augen verengten sich und funkel‐ ten zornig. Sie zitterte am ganzen Körper.
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»Was geht das Sie an?« fauchte sie. »Sie haben kein Recht, in meinen Privatangelegenheiten herumzuspionieren! Was nehmen Sie sich eigentlich heraus? Auf der Stelle gehen Sie!« Colonel Crackenthorps Schocktaktik hatte in Mollys Bü‐ chern immer einen ganz anderen Erfolg. Das Mädchen wä‐ re zusammengebrochen, hätte an seiner breiten Schulter geweint und alles gestanden. Aber sie war auch kein gu‐ taussehender Bursche wie »Crack« sondern nur eine Ro‐ manschreiberin mittleren Alters. Sie erhob sich. »Bitte, entschuldigen Sie. Ich habe in der Tat kein Recht, Sie so auszufragen. Das war unhöflich von mir. Ich kann Ihnen versichern, das ist sonst gar nicht meine Art. Aber ich habe mir Sorgen um Sie gemacht. Ich hoffte, Sie würden mir anvertrauen, wenn Sie in Schwierigkeiten stecken. Sie sind noch so sehr jung und scheinen nieman‐ den zu haben, an den Sie sich wenden können. Immer wenn ich Sie auf Ihrer Terrasse sah, machten Sie einen so unglücklichen Eindruck. Jetzt kann ich Sie nur noch bitten, mir meine Einmischung zu verzeihen.« Mit dem Rest ihrer Würde neigte Molly kurz den Kopf und schritt durch die Terrassentür hinaus. Sie hatte den Rasen zur Hälfte überquert, als sie hinter sich einen verzweifelten Aufschrei hörte. »Oh, Mrs. Fountain! Kommen Sie zurück! Ich habe das nicht so gemeint. Sie sind so freundlich. Ich bin überzeugt, daß ich Ihnen vertrauen kann. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum ich hier bin, denn das weiß ich selbst nicht. Aber ich werde wahnsinnig vor Angst. Bitte, hören Sie mich an!« 11
Molly kehrte um, und im nächsten Augenblick weinte das Mädchen in ihren Armen. Ohne Überheblichkeit, jedoch mit einiger Überraschung stellte sie fest, daß die Technik; des guten alten »Crack« nun doch funktioniert hatte. III
Gut zehn Minuten vergingen, bis Christina wieder fähig war, zusammenhängend zu sprechen. Molly erfuhr nur, daß ihr Vater der Mann war, der vor vier Tagen mit dem Taxi gekommen und gleich darauf weggefahren war. Jetzt saßen sie im Wohnzimmer auf dem billigen Plüschso‐ fa. Molly hatte dem Mädchen einen Arm um die Schultern gelegt und wischte ihr mit einem kleinen Taschentuch die Tränen ab. »Mein Liebes«, sagte Molly, »hat Ihr Vater Ihnen wirklich gar keinen Grund genannt, warum er Sie allein hier zu‐ rückgelassen hat?« »Nur . . . nur daß ich . . . Feinde hätte, die mich verfolgten.« »Was für Feinde?« Christina fischte ihr eigenes Taschentuch hervor und putz‐ te sich energisch die Stupsnase. Mit festerer Stimme ant‐ wortete sie: »Ich habe keine Ahnung. Ich zerbreche mir immerzu den Kopf darüber.« Sie trank einen Schluck Orangensaft und fuhr fort: »Er sag‐ te, ich wäre in großer Gefahr, aber es könnte mir nichts passieren, wenn ich seinen Anweisungen aufs Wort folgte. Als ich ihn drängte, mir mehr zu verraten, meinte er, es wäre besser für mich, wenn ich nichts davon wüßte.« 12
»Armes Kind! Und Sie haben gar keinen Anhaltspunkt, worin die Gefahr besteht?« »Nein. Ich habe nie jemandem etwas zuleide getan, ehrlich nicht.« Molly dachte nach. »Sind Sie zufällig eine Erbin? Ist Ihr Va‐ ter sehr reich? Dann könnte es nämlich um eine Entführung gehen.« »Ich glaube schon, daß er mit seiner Maschinenfabrik viel Geld verdient, aber auch nicht mehr als eine große Zahl anderer britischer Industrieller. Ich wüßte nicht, warum Kidnapper gerade auf ihn kommen sollten.« »Maschinenfabrik?« nahm Molly den Faden auf. »Vielleicht ist Ihr Vater eine Schlüsselfigur in der Aufrüstung! Mög‐ lich, daß die Russen Sie entführen wollen, um von ihm In‐ formationen über geheime neue Entwicklungen zu erpres‐ sen.« Mit einem schnellen Kopfschütteln dämpfte Christina Mol‐ lys Eifer. »Das kann nicht sein, Mrs. Fountain. Mein Vater stellt nur langweilige Landmaschinen her.« Von neuem überdachte Molly das Problem. »Sind Sie, ehe Sie England verließen, wegen einer kleinen Operation in einem Privatkrankenhaus gewesen?« »Ja.« Die braunen Augen wurden rund vor Überraschung. »Woher wissen Sie das?« »Es war nichts als eine Vermutung. Aber es könnte eine Er‐ klärung sein. Ihr Vater mag Sie hergebracht haben, um Sie vor der Polizei zu verstecken.« »Das verstehe ich nicht. Es ist doch kein Verbrechen, sich operieren zu lassen.« 13
»So ungefähr habe ich es mir vorgestellt«, fuhr Molly un‐ beirrt fort. »Auch heutzutage kommt es noch vor, daß ein Mädchen neunzehn oder zwanzig wird, ohne genug vom Leben zu wissen, um auf sich aufpassen zu können. Als Sie feststellten, daß sie ein Kind bekamen, hat Ihr Vater Sie in ein Privatkrankenhaus gebracht, um es entfernen zu lassen. Er mag sich gedacht haben, daß es für Sie in Ihrem Kum‐ mer besser wäre, gar nicht erst zu erfahren, daß so etwas illegal ist. Aber das ist es, und alle Beteiligten können dafür ins Gefängnis kommen. Kein Wunder, daß Ihr Vater Sie für einige Zeit versteckt halten möchte, bis die Gefahr einer Entdeckung vorüber ist.« Christina hatte schweigend zugehört, aber nun begann sie zu kichern, und dann lachte sie mit strahlend weißen Zäh‐ nen laut heraus. Mollys mitfühlender Gesichtsausdruck veranlaßte sie, sich schnell wieder zu beherrschen. »Entschuldigen Sie, Mrs. Fountain. Ich bin Ihnen so dank‐ bar, daß Sie mir helfen wollen, aber auch Sie würden die komische Seite Ihrer letzten Theorie erkennen, wenn Sie wüßten, wie ich erzogen worden bin. Ich bin schon vor Jah‐ ren von anderen Mädchen aufgeklärt worden, doch ich ha‐ be bis zum Dezember vorigen Jahres fast mein ganzes Le‐ ben in Schulen verbracht‐ auch die Ferien. Und in sämtli‐ chen Schulen wurde ich vor allem, was Hosen trägt, so sorgfältig behütet wie in einem Kloster. Bis heute habe ich noch nie einen Freund gehabt, ganz zu schweigen von einem Verhältnis.«
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Molly kam sich ziemlich dumm vor. Sie versteckte ihre Verlegenheit unter einem Lächeln. »Um welche Operation handelte es sich denn?« »Mir wurden die Mandeln herausgenommen. Der Arzt meinte, es wäre nicht nötig, aber Vater bestand darauf. Er sorgte dafür, daß ich hinterher noch drei Wochen in dem Krankenhaus blieb, dann brachte er mich geradenwegs hierher.« »Das sieht so aus, als versuchte er schon seit Ende Januar, Sie zu verstecken.« »Kann sein. Anfangs war ich ganz gerührt, daß er sich so um mich kümmerte. Er scheint sich um mich früher nie viel Gedanken gemacht zu haben. Sicher haben Sie recht damit, daß er mich verstecken will, aber ich verstehe das Ganze nicht.« Mollys Herz öffnete sich immer mehr diesem mutterlosen, verlassenen Mädchen. »Wir werden der Sache schon ir‐ gendwie auf den Grund kommen, mein Liebes. Allerdings muß ich dazu mehr über Sie erfahren. Wollen Sie nicht da‐ mit anfangen, mir Ihren richtigen Namen zu nennen?« »Es tut mir leid. Ich werde Ihnen gern alles erzählen, was Sie wissen möchten, aber meinen Namen kann ich Ihnen nicht sagen. Vater ließ mich schwören, ihn niemandem zu verraten. Macht es Ihnen etwas aus, mich weiterhin Chris‐ tina zu nennen?« »Natürlich nicht, Liebes. Dann berichten Sie mir zuerst über Ihren Vater. Welche Gründe hatte er, Sie ständig in Internate zu schicken? Die Vergangenheit mag uns einen Anhaltspunkt für sein jetziges Verhalten geben.« 15
Christina nahm eine Zigarettenschachtel, bot Molly an und nahm sich selbst auch eine Zigarette. »Ich weiß es nicht genau«, begann sie, »aber ich nehme an, Vater hat mir nie besondere Zuneigung gezeigt, weil ich ein unerwünschtes Kind war. Damals gehörte er der arbei‐ tenden Klasse an. Er war ein Chauffeur, der das Hausmäd‐ chen geheiratet hatte. Aber er war von Jugend an sehr ehr‐ geizig, und ich muß für ihn eine zusätzliche Last gewesen sein, die ihn am Vorankommen hinderte.« Sie lächelte verlegen. »Ich bin in Essex geboren, in der Chauffeurswohnung über der Garage, die zum Haus einer reichen alten Dame gehör‐ te. Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen den Namen des Hau‐ ses und des Dorfes nicht nenne. Wir wohnen jetzt nämlich selbst in diesem Haus, und ich würde damit praktisch mein Versprechen brechen. Als ich ein paar Wochen alt war, gab mein Vater seine Stellung auf und kaufte sich in einem kleinen Geschäft in der nahe gelegenen Stadt ein.« Molly hörte gebannt zu. »Wir lebten in einer kleinen Wohnung. Wir waren keine glückliche Familie. Für Mutter muß es schrecklich gewesen sein. Vater war nicht direkt unfreundlich zu ihr, das heißt, er war es erst zum Schluß, aber er interessierte sich für nichts anderes als für seine Arbeit. Von seinen beiden Part‐ nern starb der eine nach ein oder zwei Jahren, und den an‐ deren kaufte er aus. Aber damit war er nicht zufrieden. Er gründete eine kleine Fabrik, in der er Motoren herstellte, die er größtenteils selbst erfunden hatte, und sie verkauften sich wie warme Semmeln. Als ich fünf war, zogen wir in 16
ein größeres Haus. Vater hatte noch weniger Zeit als frü‐ her, und für Mutter hatte er keinen Pfennig mehr übrig, weil er alles ins Geschäft steckte.« Die Erinnerung ließ ihre Augen matt glänzen. »Da Mutter gar kein Vergnügen und keine Bekannten hat‐ te, suchte sie Anschluß in einer Freikirche. Aus irgendei‐ nem Grund war Vater außerordentlich verärgert darüber. Sie stritten sich oft. Da er selbst Agnostiker ist und die christliche Lehre ablehnt, mußte ihn das natürlich in Wut bringen. Schließlich verbot er ihr, in die Kirche zu gehen. Aber sie tat es doch, und an meinem sechsten Geburtstag nahm sie mich mit. Es wurde für uns beide ein unangenehmes Er‐ lebnis. Ich mußte mich übergeben, noch ehe ich die Kirche betreten hatte, und Mutter brachte mich wieder nach Hau‐ se. Dieses peinliche Geschehen wiederholte sich noch zweimal. Warum Kirchen und Kapellen eine solche Wir‐ kung auf mich haben, weiß ich nicht. Kein Arzt konnte eine Erklärung finden. Deshalb wurde ich immer vom Gottes‐ dienst befreit. Noch heute kann ich keinen Blick in eine Kir‐ che werfen, ohne Brechreiz zu bekommen.« Sie lächelte verwirrt. »In meiner Kinderzeit war Schluß mit den Kirchgängen, weil ich mich Vater gegenüber verplapperte. Er reagierte wie ein Wahnsinniger, warf seinen Teller nach Mutter, sprang auf und jagte sie um den Tisch. Ich rannte schreiend nach oben in mein Zimmer. Eine Zeitlang, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, hörte ich, wie er sie schlug und verfluch‐ te. Sie mußte eine Woche im Bett liegen, und danach war 17
sie nie mehr dieselbe Frau wie früher. Immer klagte sie über Schmerzen, und die Hausarbeit fiel ihr ständig schwe‐ rer. Ihre Bekannten aus der Gemeinde machten sich Sorgen um sie und besuchten sie, und auch der Pastor kam ein‐ oder zweimal in der Woche, wenn Vater nicht da war, und las mit ihr in der Bibel. Einer dieser Besuche war eine Ursache, daß sie im Alter von achtundzwanzig Jahren sterben mußte. Vater kam ei‐ nes nachmittags unerwartet nach Hause und fand den Pas‐ tor vor. Ich war im Kindergarten und habe erst später da‐ von gehört. Vater packte den Geistlichen bei den Schultern und warf ihn aus dem Haus. Seltsamerweise hatte dieser Angriff auf einen Mann Gottes keine schlimmen Folgen für Vater. Einige Leute zogen sich von ihm zurück, und er mußte seinen Plan aufgeben, für den Stadtrat zu kandidieren. Aber seine beruflichen Erfolge wurden nicht geschmälert. Der Pastor hat ihn nicht wegen Körperverletzung angezeigt.« Sie machte eine Pause und sagte dann leise: »Als Vater am nächsten Morgen aufwachte, lag Mutter tot neben ihm im Bett. Allgemein wurde angenommen, der verzögerte Schock habe sie getötet. Eine Nachbarin allerdings, die ein leeres Röhrchen mit Schlaftabletten fand, behauptete, sie hätte sich selbst umgebracht, um dem Zusammenleben mit Vater zu entrinnen. Falls Vater die Wahrheit kennt, dann ist er der einzige.« Christina zündete sich eine neue Zigarette an und fuhr fort: »Für einige Zeit sah unsere Nachbarin nach mir. Im Herbst brachte mein Vater dann eine Frau namens Annie ins Haus. 18
Sie war dick und blond und faul, aber gutmütig. Sie versi‐ cherte mir, sie hätte sich immer eine kleine Tochter wie mich gewünscht, und mein Leben mit ihr war eine Folge von fröhlichen Spielen und kleinen Überraschungen. Zwei‐ fellos war sie gewöhnlich und ziemlich dumm, aber die neun Monate, die sie bei uns war, bedeuten für mich die glücklichste Zeit meines Lebens, und als sie fortging, war ich wochenlang untröstlich. Vater brach mit ihr, weil er so schnell vorankam. Er kaufte ein neues Haus in der besten Wohngegend, und in diese Umgebung paßte Annie nicht mehr. Sie machte keine Sze‐ ne. Sie hatte mehr Würde als manche gebildetere Frau, die ich kennengelernt habe. Für mich hatte das neue Haus dadurch allen Glanz verlo‐ ren. Bald haßte ich es geradezu. Vater ersetzte Annie durch ein Mädchen, das seine Sekretärin gewesen war. Sie mach‐ ten sich nicht die Mühe, vor mir zu verbergen, daß sie mi‐ teinander schliefen. Sie hieß Delia Weddel und stammte aus einer guten Familie, aber wenn ich je eine Hure gese‐ hen habe, dann sie. Erst ein gesundheitlicher Zusammenbruch rettete mich vor ihr. Der Arzt empfahl Seeluft für meine Gesundheit, und da ich bald acht wurde, sollte ich nach Weihnachten in ein Internat an der See kommen. Delia war nur zu froh, mich loszuwerden. Als ich Weihnachten das erste Mal nach Hause kam, stellte ich zu meiner Freude fest, daß es mit Delia ein ebensolches Ende genommen hatte wie mit Annie. Vater hatte ein Paar mittleren Alters namens Jutson ins Haus genommen, sie als 19
Köchin und Haushälterin und ihn für die schweren Arbei‐ ten und den Garten. Sie sind heute noch bei uns. Später fand ich heraus, daß Vater sich Wohnungen für seine wechselnden Mätressen in London hielt. Ich erfuhr über sie so gut wie nichts. Die Jutsons sind ehrbare, schwer arbeitende Leute, aber sie ist eine recht mürrische Person. Ich glaube, Vater hat sie immer sehr gut dafür bezahlt, daß sie über seine Angele‐ genheiten schweigen, denn immer, wenn ich einen der Jut‐ sons fragte, warum Vater so selten zu Hause wäre, erhielt ich die Antwort: »Wer nicht fragt, bekommt auch keine Lügen zu hören.« Nach dem Internat schickte mich Vater auf eine Haushalts‐ schule in Somerset. Dort blieb ich weitere zweieinhalb Jah‐ re. Ich war ganz zufrieden, aber kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag schrieb der Schulleiter meinem Vater, da ich nun alle Kurse mitgemacht und alle Examina abgelegt hät‐ te, könnte er mich nicht länger behalten. Vater steckte mich in ein Pensionat in Paris, und dort blieb ich bis zum De‐ zember vergangenen Jahres.« Wieder steckte Christina sich eine Zigarette an und setzte hinzu: »Ich vergaß zu erwähnen, daß die alte Mrs. Durn‐ sford starb und Vater The Grange kaufte . . .« Betroffen hielt sie inne. »Verdammt, jetzt habe ich eine Sa‐ che ausgeplaudert, die ich Ihnen nicht sagen wollte.« Molly lächelte. »Machen Sie sich keine Sorgen, mein Liebes. Ich werde keinen Versuch machen, aufgrund dieser Infor‐ mation Ihren Namen herauszufinden, und als Bruch Ihres 20
Versprechens kann man diesen kleinen Ausrutscher nicht bezeichnen.« »Nein, das wohl nicht«, stimmte Christina zu. »Für mich brachte es keine wesentliche Änderung, daß Vater in seine alte Heimat zurückkehrte. Die Jutsons wohnen jetzt in der Wohnung über der Garage, wo ich geboren bin. Anderes Personal hat Vater nicht im Haus, und er verkehrt mit nie‐ mandem – außer dem alten Kanonikus Copely‐Syles.« Etwas ungeschickt endete Christina: »Und das ist alles.« »Ach, Sie armes Kind! Doch erzählen Sie mir von diesem Kanonikus.« »Ich kenne ihn schon seit meiner frühesten Kindheit. Er wohnt nur eine Meile von uns entfernt auf dem Weg ins Dorf, in der Priorei. Auch als wir in ... in der Stadt lebten, besuchte er uns von Zeit zu Zeit.« »Es kommt mir recht merkwürdig vor, daß Ihr Vater mit seinem Vorurteil gegen die Kirche einen Kanonikus zum einzigen Freund hat.« »Kanonikus Copely‐Syles übt kein kirchliches Amt aus, und ich vermute, er hat Vater zu seinem beruflichen Start verholfen. Sie kannten sich schon zu der Zeit, als Vater noch Chauffeur bei Mrs. Durnsford war. Es kann zum Teil meinetwegen gewesen sein, daß der Kanonikus immer dann zu uns kam, wenn ich für ein paar Tage zu Hause war. Er ist nämlich mein Pate.« »Wissen Sie etwas darüber, was Ihr Vater für Pläne mit Ih‐ nen hat, wenn der Monat, für den die Villa gemietet ist, vorbei ist?«
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»Ja und nein. Das gehört mit zu den Dingen, die mich be‐ unruhigen. Er sagte, wenn alles gut gehe, würde er kom‐ men und mich abholen. Käme er nicht, solle ich nach Eng‐ land zurückkehren und mich an das Hauptbüro der Natio‐ nal Provincial Bank in London wenden. Er habe für mich so gut vorgesorgt, daß ich, ohne arbeiten zu müssen, mein ganzes Leben lang ein ausreichendes Einkommen haben werde.« »Großer Gott!« rief Molly aus. »Daraus kann man doch nur schließen, daß Sie beide von dieser Gefahr bedroht werden und daß es sich um etwas Schlimmeres handelt als Erpres‐ sung oder das Risiko einer Gefängnisstrafe.« Christina nickte. »Ja, und mir schaudert bei dem Gedanken, daß er jetzt vielleicht schon tot ist und daß auch ich, wenn man mich findet, noch vor Ende dieses Monats sterben muß.« Molly versuchte, sie zu beruhigen. »Mein liebes Kind, so etwas dürfen Sie nicht denken. Leider muß ich gestehen, daß ich trotz allem, was Sie mir erzählt haben, noch immer nicht weiß, welche Gefahr Ihnen droht.« Eine Viertelstunde lang stellten sie alle möglichen Vermu‐ tungen an. Als Molly sich erhob und Abschied nehmen wollte, meinte Christina: »Sie sind so freundlich zu mir gewesen, Mrs. Fountain. Für mich bedeutet es schon eine große Erleichterung, daß ich mich einmal aussprechen durfte.« Molly gab ihr, auf Zehenspitzen stehend, einen Kuß. »Das freut mich sehr, und, nicht wahr, Sie kommen zu mir herü‐ ber, wann immer Sie möchten? Wenn wir uns in der Zwi‐ schenzeit nicht sehen, erwarte ich Sie morgen zum Lunch. 22
Aber wenn Sie auch nur den geringsten Anlaß haben, sich zu fürchten, zögern Sie nicht, sofort zu mir zu kommen.« Zusammen traten sie hinaus in den Sonnenschein und klet‐ terten den steilen Gartenweg hinab. Auf halbem Weg ra‐ schelte es im Unterholz, und ein freudiges Bellen erscholl. »Das ist Fido, mein Cockerspaniel«, erklärte Molly. »Der böse Hund muß mich gesehen haben und durch die Hecke geschlüpft sein.« Geschickt vermied der Hund die stachligen Kakteen und sprang auf seine Herrin zu. Als er in Christinas Nähe kam, blieb er plötzlich stocksteif stehen. Seine Nackenhaare sträubten sich, Speichel tropfte von seinen Lefzen, und er ließ ein furchtsames Winseln hören. »Was kann denn nur mit ihm los sein?« rief Molly erstaunt. »So etwas habe ich bei ihm noch nie erlebt!« »Ich kann nichts dafür«, sagte Christina mit kläglichem Ge‐ sicht. »Aber alle Tiere schrecken vom ersten Augenblick an vor mir zurück.« IV
Es war der erste März, und an diesem Morgen war John Fountain, Mollys Sohn, eingetroffen. Er war dreiundzwan‐ zig Jahre alt und in einer Firma für Innenarchitektur tätig. Gerade hatten er und seine Mutter ihren Lunch beendet, und er lehnte sich mit einem zufriedenen Seufzer zurück. »Welch ein Vergnügen, wieder einmal französische Küche zu genießen! Aber jetzt erzähl mir mal ein bißchen mehr über das Mädchen von nebenan.« 23
»Viel mehr ist da wohl nicht zu erzählen, Johnny. Sie fürch‐ tet sich immer noch, tagsüber das Grundstück zu verlassen, doch unlogischerweise macht es ihr nachts nichts aus. Sonntags esse ich der Abwechslung wegen immer in einem Restaurant, und da fragte ich sie, ob sie Lust habe, mit mir ins ,Reserve’ nach St. Raphael zu gehen. Sie sagte nein, und dann tauchte sie etwa um halb sieben auf und meinte, ob sie es sich noch anders überlegen dürfe. Natürlich sagte ich ja, und ich bin überzeugt, es hat ihr Freude gemacht.« »Nimmst du ihr die Geschichte tatsächlich ab?« »Ja. Sie hat ein so aufrichtiges Gesicht, und ich kann mir auch nicht vorstellen, aus welchem Grund sie mich täu‐ schen sollte. Jeder Verdacht, sie wolle sich Geld von mir leihen oder so etwas, wird hinfällig durch die Tatsache, daß ich mich ihr genähert habe und nicht umgekehrt. Und schließlich beweist die Art, wie ihr der Name ihres Hauses und der der früheren Besitzerin entschlüpfte, daß sie keine geübte Lügnerin ist.« »Mit einem alten Telefonbuch von Essex wäre es eine Klei‐ nigkeit, das Dorf, aus dem sie stammt, festzustellen. Die Initialen auf dem Maniküre‐Etui machen es so gut wie si‐ cher, daß ihr wirklicher Name mit einem B beginnt.« »Es wäre aber nicht recht, wenn wir das täten.« »Es könnte notwendig werden, wenn die Leute, die hinter ihr her sind, plötzlich auf der Bildfläche erscheinen.« »Das wollen wir nicht hoffen! Johnny, könntest du ihr, so‐ lange du hier bist, nicht ein bißchen von deiner Zeit wid‐ men? In Begleitung eines Mannes wird sie wahrscheinlich weniger Angst haben, tagsüber auszugehen, und ein biß‐ 24
chen Abwechslung würde ihr sehr guttun.« Johnny grinste. »Zweifellos, aber was ist mit mir? Schließlich bin ich hier auf Urlaub. Glaubst du, daß sie meine Kragenweite ist?« »Ehrlich gesagt, nein, das glaube ich nicht. Sie ist praktisch ein neugeborenes Lamm, und wahrscheinlich wird sie dich nur langweilen. Doch sie hat noch so gut wie gar nichts von ihrem Leben gehabt und ist so schrecklich einsam, daß es eine gute Tat wäre, wenn du ihr ab und zu eine oder zwei Stunden schenken würdest.« »Das riecht doch eine Meile nach Verkuppelungsabsich‐ ten!« lachte John. »Idiot! Ich versichere dir, an eine ernsthafte Beziehung zwi‐ schen dir und diesem jungen Mädchen habe ich überhaupt nicht gedacht. Es ist einfach so, daß sie die Gesellschaft von jungen Menschen nötig hat und . . .« »Na gut. Ehe ich mich schlagen lasse . . .« Er verstummte, denn auf dem Kiesweg vor der Fenstertür knirschten Schritte. Im nächsten Augenblick fiel ein langer Schatten über das Parkett, und Christina stand auf der Schwelle. »Ich hoffe, ich störe nicht, Mrs. Fountain«, begann das Mädchen atemlos. »Ich wußte, daß Ihr Sohn heute ange‐ kommen ist, und ich habe gewartet, bis ich dachte, jetzt müßten Sie mit dem Lunch fertig sein. Ich muß Sie drin‐ gend sprechen.« »Sie stören gar nicht, Liebes. Treten Sie nur näher«, antwor‐ tete Molly. Sie stellte die beiden jungen Leute einander vor. Sie nickten höflich und lächelten. Keiner von beiden streck‐ te die Hand aus. John dachte: »Mein Gott, was für eine Na‐ 25
se! Die Augen sind allerdings bemerkenswert.« Christina hingegen schoß es durch den Kopf: »Er sieht ganz nett aus. Nur schade, daß er einen so vorstehenden Adamsapfel hat.« »Setzen Sie sich doch.« Molly bot Zigaretten an, und Chris‐ tina nahm sich eine. John erkundigte sich: »Wie wäre es mit einem Likör?« »Danke, nein«, gab Christina schnell zurück. »Ich trinke keinen Alkohol.« »Es wird Ihnen sicher lieber sein, wenn John uns allein läßt«, bemerkte Molly nach einer Pause. »Er hat sich auch so mit Essen vollgestopft, daß er kaum noch die Augen of‐ fenhalten kann.« John seufzte. »So wird man von der eigenen Mutter ver‐ jagt!« Christina warf schnell ein: »Sie haben doch vorgeschlagen, Ihrem Sohn von mir zu erzählen, weil uns die Hilfe eines Mannes von großem Wert sein könnte, und ich habe zuges‐ timmt. Wenn es ihm nichts ausmacht, zu bleiben, kann er von mir gleich hören, welche neue Entwicklung eingetreten ist.« »Seien Sie überzeugt, daß ich Ihnen gern helfen werde«, versicherte John, und Molly fragte: »Hat der Feind Sie be‐ reits aufgespürt?« »Nein, aber ein Freund – oder wenigstens ein alter Bekann‐ ter. Ich war dermaßen überrascht, als ich ihn durch das Gartentor kommen sah, daß ich einen Augenblick lang glaubte, ich hätte einen Sonnenstich. Es war Kanonikus Copely‐Syles.« 26
»Da er ein guter Freund Ihres Vaters ist, kann es ja sein, daß Ihr Vater ihm anvertraut hat, wo Sie sich versteckt hal‐ ten.« »Nein, das ist ja gerade das Seltsame daran. Er hat mich durch reinen Zufall entdeckt. Für ein paar Tage hält er sich in Cannes auf, und heute vormittag fuhr er nach St. Ra‐ phael. Da sah er mich auf meiner Terrasse sitzen. Er bat seinen Freund, der den Wagen fuhr, anzuhalten, und kam zu mir.« »Daran scheint nichts Beunruhigendes zu sein«, bemerkte John. »Doch!« widersprach Christina. »Seine ersten Worte waren nämlich: ,Mein liebes Kind, was tust du hier in Südfrank‐ reich? Warum bist du nicht in England bei deinem Vater?’ Ich antwortete: ,Warum sollte ich das?’ Er machte ein ganz betroffenes Ge‐ sicht. »Ja, hat dich denn niemand benachrichtigt, daß er bei einem Autounfall schwer verletzt worden ist? Ich erfuhr es gestern durch einen Brief von einem gemeinsamen Freund. Ich würde dich nie aufregen, wenn es nicht einen triftigen Grund dafür gäbe, aber wie die Dinge stehen, muß ich dir sagen, daß um sein Leben zu fürchten ist!’« Molly, deren Gedanken sich im Rahmen von Thriller‐ Handlungen bewegten, kombinierte: »Dieser Autounfall könnte von seinen Feinden arrangiert worden sein. So et‐ was ist schon häufiger geschehen.« »Ja, möglich ist es. Jedenfalls sagte der Kanonikus, er kehre morgen nach England zurück, und er bot mir an, mich mit‐ zunehmen.« 27
»Dann wollen Sie uns also verlassen?« »Nein.« Christina schüttelte den Kopf. »Vater hat mir ein‐ geschärft, ich müsse bleiben, ganz gleich, welche Botschaf‐ ten man mir überbringe. Auch dann, wenn sie angeblich von ihm stammten. Ich solle warten, bis er mich persönlich abhole, oder, falls er nicht käme, bis zum zwanzigsten März.« »Damit wollte er natürlich verhindern, daß Sie Ihren Fein‐ den in die Falle gehen, aber er kann dabei doch unmöglich an den Kanonikus gedacht haben. Haben Sie nicht bei un‐ serm ersten Gespräch erwähnt, er sei Ihr Pate?« »Ja, nur bedeutet das nicht viel. Er hat mir immer zu mei‐ nem Geburtstag ein kleines Geschenk geschickt, und ich habe ihm einen Dankeschön‐Brief geschrieben. Näher sind wir uns nie gekommen. Ich habe ihn vielleicht dreißig‐ oder vierzigmal in meinem Leben gesehen, aber niemals längere Zeit, und immer in Gegenwart meines Vaters, so daß ich mit ihm stets nur höfliche Redensarten gewechselt habe.« »Trotzdem verbindet ihn eine lebenslängliche Freundschaft mit Ihrem Vater. Daher fürchte ich, mein Liebes, an seinen schlechten Nachrichten kann kaum gezweifelt werden.« »Der Meinung bin ich eigentlich auch«, seufzte Christina. »Aber ich muß unabsichtlich bei Ihnen einen falschen Ein‐ druck über seine Verbindung mit Vater hervorgerufen ha‐ ben. Es muß sich zwischen ihnen eher um gemeinsame Interessen als um wirkliche Freundschaft handeln. Vater sagte mir einmal, sollte mich der Kanonikus jemals in die Priorei einladen, dann sollte ich mit einer Ausrede absagen. 28
Damals dachte ich, er fürchte, ich könne religiös werden wie Mutter. Doch auch abgesehen davon bin ich überzeugt, Vater mag ihn im Grunde nicht, und mir geht es ebenso.« »Ist Ihnen, abgesehen von dieser persönlichen Antipathie, etwas Nachteiliges über ihn bekannt?« »Nein, absolut nichts. Er wird im Dorf sehr geachtet.« »Dann ist es also unwahrscheinlich, daß er mit fragwürdi‐ gen Vorgängen in Verbindung steht oder sich dazu herge‐ ben würde, Sie auf eine so brutale Art zu täuschen?« »Das ist wirklich kaum anzunehmen. Und trotzdem habe ich das Gefühl, ich sollte mich lieber an Vaters Anweisun‐ gen halten und bleiben, wo ich bin.« »Was hat der Kanonikus gesagt, als Sie sein Angebot, Sie morgen mit nach England zu nehmen, ablehnten?« erkun‐ digte sich John. »Er hat sich viel Mühe gegeben, mich zu überreden, und als es ihm nicht gelang, stellte er mich als gefühllose Toch‐ ter hin.« »Womit haben Sie Ihre Weigerung begründet?« »Ich sagte, der Freund, der ihm von Vaters Unfall geschrieben habe, müsse die Gefahr übertreiben, denn wenn meine Rückkehr nach England wirklich nötig sei, hätte Vaters Büro mich be‐ stimmt benachrichtigt. Vorsichtshalber teilte ich dem Ka‐ nonikus noch mit, daß ich zur Zeit unter dem angenomme‐ nen Namen Christina Mordant lebe, und bat ihn, meine Identität niemandem hier unten zu enthüllen. Natürlich machte er ein sehr erstauntes Gesicht, aber er versprach es mir, ohne weiter zu fragen.«
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»Kluges Mädchen«, lächelte John. »Es gibt eine ganz einfa‐ che Möglichkeit, die Wahrheit über Ihren Vater herauszu‐ finden. Rufen Sie doch einfach zu Hause oder in seiner Fabrik an.« »Nein, das darf ich nicht. Er hat mir verboten, ihn anzuru‐ fen, ganz gleich, was geschehen möge. Außerdem könnte der Anruf zurückverfolgt und damit mein Versteck ent‐ deckt werden.« Sie diskutierten noch einige Zeit, ergebnislos. Dann machte Molly den Vorschlag: »Johnny und ich wollten heute abend zum Dinner nach Cannes fahren, und wir würden uns freuen, wenn Sie mitkämen. Wir dachten an das Carlton, aber falls Sie kein Abendkleid mithaben, ist uns ein ruhige‐ res Restaurant ebenso recht.« »Das ist riesig nett von Ihnen.« Christina zögerte eine Se‐ kunde. »Aber ich finde, es schickt sich nicht für mich, wo Vater vielleicht im Sterben liegt.« »Wie Sie wollen, Liebes. Nur fände ich es besser, Sie gingen mit uns aus, statt zu Hause zu sitzen und über unerfreuli‐ che Möglichkeiten nachzugrübeln. Ich will Sie nicht drän‐ gen, aber sollten Sie Ihre Meinung ändern, dann kommen Sie um halb acht herüber.« Wie am Abend zuvor änderte Christina tatsächlich ihre Meinung und erschien um zwanzig nach sieben für einen Besuch im Carlton angezogen. Als sie aus dem dämmeri‐ gen Garten in das hell erleuchtete Zimmer trat, fiel es Molly ebenso wie John schwer, ihr Erstaunen zu verbergen. Sie trug ein langes Kleid aus austernfarbenem Satin. Es war rückenfrei und hatte ein trägerloses Dekollete, das ihren 30
Hals und ihre Schultern von der besten Seite zeigte. Im Augenblick hatte sie jedoch ein kurzes Cape aus dunklem Skunk darübergeworfen. Mutter und Sohn hatten sie bisher noch nie anders gesehen als in sehr alltäglichen und ziemlich kindlichen Kleidern. Deshalb wirkte diese Aufmachung umwerfend. Sie sah mehrere Jahre älter und sehr mondän aus, und das wurde unterstrichen durch einen ganz neuen Gesichtsausdruck und ein viel sichereres Auftreten. Molly dachte: »Möchte wissen, wo sie gelernt hat, sich so anzuziehen? Das muß ja ein tolles Pensionat gewesen sein! Das Parfüm ist sicher von Dior. Dafür ist sie noch zu jung. Ein Jammer, daß sie nicht etwas weniger Exotisches ge‐ wählt hat. Ihr Vater mag sie vernachlässigt haben, aber mit Geld muß er sehr großzügig sein.« Johns Gedanken hätte man ungefähr so in Worte fassen können: »Donnerwetter! Und heute mittag habe ich sie noch mit der Skelett‐Lizzy verglichen, dem größten Mäd‐ chen in der sechsten Klasse. Na ja, sie muß auch fast ebenso groß sein wie ich. Aber wenn der Verstand unter diesem braunen Haar ihrem jetzigen Aussehen entspricht, dann kann sie längst nicht so langweilig sein, wie ich befürchtet hatte. Jedenfalls kann keiner, der uns zusammensieht, mich beschuldigen, ich hätte sie aus der Wiege geraubt.« Er war gerade dabei, Cocktails zu mixen, stellte ein drittes Glas zurecht und fragte: »Kann ich Sie in Versuchung füh‐ ren?« »Warum nicht?« erwiderte sie leichthin. »Wenn bei unseren gesellschaftlichen Abenden in Paris Getränke angeboten 31
wurden, durften wir Mädchen nur Sherry nehmen, aber irgendwann muß man ja wohl mit schärferen Sachen an‐ fangen. Sagen Sie es mir rechtzeitig, falls ich einen Schwips bekomme.« Er lachte. »Da verlassen Sie sich lieber nicht auf mich, son‐ dern auf den zügelnden Einfluß meiner Mama.« Kurz nach acht waren sie in Cannes. Die Winter‐Saison be‐ fand sich auf ihrem Höhepunkt, und so war das große Res‐ taurant im Carlton ziemlich überfüllt. Alle Gäste waren in Abendkleidung, und in dem Raum schwirrte es von sämtli‐ chen Sprachen, die diesseits des Eisernen Vorhangs gespro‐ chen werden. Doch schon während des Dinners wurde Molly klar, daß ihre kleine Party ein Mißerfolg wurde. Johnny und Christi‐ na hatten keine gemeinsamen Interessen, keine gemeinsa‐ men Bekannten und waren unter völlig verschiedenen Be‐ dingungen aufgewachsen. Dazu kam, daß Johnny sich mit‐ tags offenbar überfressen hatte, und die zwei Gläser Champagner, die Christina trank, vermochten nicht, ihr die Zunge zu lösen. Es war schade um den teuren Abend. Als der Kaffee serviert wurde, kam Molly auf den Gedan‐ ken, daß die beiden jungen Leute vielleicht ihre Hemmun‐ gen verlieren würden, wenn sie nicht dabei war. An einem Tisch in der Nähe entdeckte sie ein älteres amerikanisches Ehepaar, das sie seit Jahren kannte und das nicht weit von ihrer Villa wohnte. Sie hatte Johnny schon zu Hause einen größeren Betrag in Francs zugesteckt, so daß er bezahlen konnte. Molly schluckte ihre Enttäuschung tapfer hinunter und erklärte: 32
»Ihr beide wollt doch sicher tanzen, und mir ist heute abend gar nicht danach, lange aufzubleiben. Ich habe mich in letzter Zeit ein bißchen überarbeitet, und das rächt sich nun mit Kopfschmerzen. Bitte entschuldigt, wenn ich euch im Stich lasse. Dort drüben sitzen meine Freunde, die Pil‐ kingtons, die sicher gleich aufbrechen werden. Sie werden mich gern mitnehmen, dann kann ich euch den Wagen da‐ lassen.« Es tat ihr wohl, daß John protestierte, aber umstimmen ließ sie sich nicht mehr. Am nächsten Morgen wachte John erst kurz vor elf auf, frühstückte im Bett, trödelte eine Stunde mit Baden und Anziehen herum und kam erst um halb eins nach unten. »Wie hat sich der gestrige Abend noch entwickelt?« erkun‐ digte Molly sich. »Ich hoffe, mein kleiner Schützling hat dich nicht zu sehr gelangweilt.« »Gelangweilt?« Er hob in scherzhaftem Erstaunen die Au‐ genbrauen. »Glaub mir, Mumsie, du kannst von Glück sa‐ gen, daß du mich heil zurückbekommen hast!« Molly strich sich lächelnd über das graue Haar. »Du über‐ treibst mal wieder.« »Was? Dies Mädchen ist eine menschliche Bombe! Also wirklich, dein neugeborenes Lamm, diese kleine Schwester des Heiligen Soundso, die gerade aus dem Kloster kommt, stellt eine Gefahr für die Öffentlichkeit dar!« »Komm, komm, Johnny! Mix dir einen Vermouth‐Cassis und mir auch einen, und dann zügele deine Phantasie und erzähl mir, was geschehen ist.«
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John begann zu mixen und sprach über die Schulter weg: »Also, wir tanzten zusammen. Die offensichtliche Tatsache, daß sie wenig Erfahrung darin haben kann, mit einem Mann zu tanzen, ist der einzige Beweis für deine Theorie, sie sei gerade erst aus dem Ei gekrochen. Aber ansonsten – Junge, Junge! Sie hat ein gutes Gefühl für den Rhythmus, so daß ich glaube, mit einiger Übung wird sie eine gute Tänzerin werden. Das meine ich jedoch nicht. Sie klammer‐ te sich an mich, als sei ich ihr Lieblingsteddy. Ich hatte schon Angst, sie würde mich mitten auf dem Tanzboden vernaschen. Und ihr Parfüm! Das ist eigens dazu geschaf‐ fen, den Geschlechtstrieb zu wecken.« »Johnny, werde nicht geschmacklos.« »Spiel nicht die Zimperliche, Mumsie. Jedenfalls, nachdem wir eine Weile getanzt hatten, sagte sie, jetzt würde sie gern einen Brandy versuchen. In der nächsten Stunde kippte sie drei Doppelte, ohne mit der Wimper zu zucken, und dann verlangte sie, ich solle sie ins Casino führen.« »Das hättest du leicht ablehnen können, weil sie noch keine einundzwanzig ist.« »Nun ja, ich hatte keine große Lust, aber andererseits war mir alles recht, wenn ich nur nicht weiter mit ihr tanzen mußte. Um Viertel vor eins waren wir im Casino. Und was glaubst du, was dann geschah?« »Woher soll ich das wissen, du Dummkopf!« »Die anderthalb Stunden, während ich vorsichtig mal hier und mal da kleine Summen setzte, spielte Klein‐Christina Bakkarat mit einem Pokergesicht, als sei sie mit den Karten
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in der Hand geboren worden, und am Ende hatte sie eine halbe Million gewonnen.« »Johnny, das gibt’s doch gar nicht!« »Doch, Mumsie, doch! Stell dir das vor, fünfhundert Pfund, und das steuerfrei.« »Es muß Anfängerglück gewesen sein.« »Sicher, aber der alte Kanonikus stand die ganze Zeit hinter ihrem Stuhl und riet ihr, was sie wann tun sollte.« »Was! Ihr Pate, Kanonikus Copely‐Syles?« Molly fuhr über‐ rascht hoch. »Ihn hast du bisher noch gar nicht erwähnt.« »Tut mir leid, ich habe die Geschichte ein bißchen gerafft, um die Pointe von ihrem großen Gewinn anbringen zu können. Der Kanonikus war schon da, als wir den Spielsaal betraten, und kam zu uns herüber.« »Was hältst du von ihm?« »Er ist ein netter alter Knabe. Eine ziemlich pittoreske Er‐ scheinung. Ganz in schwarzen Satin gekleidet, rosiges Ge‐ sicht, lange silberne Locken und sehr freundlich.« »Ich bin froh, daß er Christina nicht den Abend verdorben hat. Er hätte ihr auch Vorwürfe machen können, weil sie im Casino erschien, nachdem er ihr am Morgen mitgeteilt hat‐ te, ihr Vater sei in Lebensgefahr.« »Ich glaube, anfangs war er ein bißchen schockiert. Zufällig sah ich sein Gesicht, bevor Christina ihn entdeckte, und er starrte uns irgendwie besorgt oder verärgert an. Doch so‐ bald wir ins Gespräch gekommen waren, ließ er sich nichts mehr davon anmerken, und er erwähnte ihren Vater erst, als wir uns verabschiedeten.« »Sagte er irgend etwas Neues?« 35
»Nein, er stellte uns nur einem Freund vor, der an einem anderen Tisch spielte. Dabei bemerkte er, falls sie ihre Mei‐ nung ändern sollte und kurzfristig einen Flug buchen müs‐ se, könne dieser Herr ihr behilflich sein. Auch er war ein sehr distinguierter alter Knabe, nur zur Abwechslung groß und dünn. Mit einem roten Band quer über der Hemdbrust hätte er in einem Theaterstück als französischer Gesandter auftreten können. Für diese Rolle brauchte er nicht einmal seinen Namen zu wechseln. Es war der Marquis de Gras‐ se.« Molly ließ beinahe ihr Glas fallen. Der Mund blieb ihr of‐ fenstehen. Dann rief sie voller Bestürzung: »Oh, Johnny! Was mag nur hinter dieser ganzen Sache stecken? De Gras‐ se ist einer der berüchtigtsten Männer in ganz Frankreich.« V
Nach einer Weile fragte John: »Ich vermute, du bist mit dem Marquis aneinandergeraten, als du Molly Polloffski, die schöne Spionin, spieltest?« »Johnny, ich habe dir schon hundertmal gesagt, ich habe während des Krieges ganz normale Büroarbeit verrichtet. De Grasse bin ich nie begegnet. Aber ich habe eine Menge über ihn gehört.« »Ein Bursche dieses Namens war mit mir zusammen in Cambridge. Ich kannte ihn nicht näher, und am Ende mei‐ nes ersten Jahres ging er nach Frankreich zurück.« Molly nickte. »Das muß sein Sohn Comte Jules de Grasse gewesen sein. Der Vater war nie zu fassen. Im Krieg wech‐ 36
selte er von einem Lager zum anderen, und als die Franzo‐ sen die Kollaborateure vor Gericht stellten, kam er nur we‐ gen der Tatsache, daß er seinen Sohn 1940 nach England zur Schule geschickt hatte, um eine lange Gefängnisstrafe herum. Er warf mit Bestechungsgeldern nur so um sich, und letzten Endes ging er als freier Mann davon.« »Woher stammt sein vieles Geld?« »Nach außen hin ist er ein respektabler Reeder, doch er be‐ nutzt seine Schiffe für Schmuggelgeschäfte. Vor dem Krieg war er spezialisiert auf Drogen und Mädchenhandel, und neuerdings soll er Waffen in den Nahen Osten liefern.« »Woher weißt du das, Mumsie?« Molly errötete leicht. »Ach, manchmal schauen alte Kolle‐ gen bei mir herein, und dann reden wir über dies und je‐ nes.« John lachte. »Immer im Dienst, was? Ich habe schon lange den Verdacht, daß du deinen alten Kollegen Tips gibst, falls du hier unten über etwas stolperst, was in ihr Ressort fällt.« »Johnny, du hast nur Flausen im Kopf! Die Dienststelle, für die ich gearbeitet habe, ist gleich nach Kriegsende aufgelöst worden.« »Das mag sein, aber es gibt noch andere, zum Beispiel die deines Freundes Conky Bill. Der steckt seine große Nase doch in alle möglichen Angelegenheiten.« »Und wenn du nicht aufhörst, deine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken, wird sie dir eines Tages abge‐ schnitten werden.« »Touche !« grinste John. »Kehren wir zurück zu dem bösen Marquis. Was weißt du sonst noch über ihn?« 37
»Sein Hauptquartier war immer St. Tropez.« »Dort wohnt er im Augenblick auch. Er und seine Frau ha‐ ben ständig eine Suite im Capricorn, du weißt doch, das ist das große, moderne Hotel hoch über der Bucht. Als er hör‐ te, Christina sei noch nie in St. Tropez gewesen, meinte er, seine Frau und er seien entzückt, junge Leute zu Gast zu haben. Er werde ihr heute einen Wagen schicken, damit sie mit ihnen den Lunch nehmen könne.« Mollys Glas klirrte, als sie es heftig auf den Tisch stellte. »Um Gottes willen, sie hat doch abgelehnt?« »Nein, sie hat zugesagt. Anscheinend lehnt sie nur tagsüber Einladungen ab. Natürlich kann sie heute morgen ihre Meinung geändert haben.« »Ich fürchte, sie ist schon fort, denn ich habe sie nicht auf ihrer Terrasse gesehen. Oh, Johnny, lauf schnell hinüber und sieh nach.« Nach sieben oder acht Minuten kam John schnaufend zu‐ rück. Er breitete die Hände aus. »Keine Spur von ihr, Mumsie. Soviel ich aus der alten Katalanierin, die sie be‐ dient, herausbekommen konnte, wurde sie um zwölf von einem Herrn abgeholt, der Jules de Grasse gewesen sein muß. Sie wird tatsächlich ihre Meinung geändert haben, denn sie war nicht zum Ausgehen angezogen, und sie hat‐ ten so etwas wie einen Streit miteinander, bis sie zum Um‐ ziehen nach oben ging.« Molly stand auf und nahm sich eine Zigarette. »Hoffentlich passiert ihr nichts! Diese neue Entwicklung gefällt mir gar nicht. Wenn wir sie nur aus den Klauen dieser Menschen befreien könnten!«
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John zuckte die Schultern. »Wir können uns kaum mit Waf‐ fen aus deinem Privatmuseum ausrüsten und bei den de Grasses als Rollkommando aufkreuzen. Sie ist bei hellem Tageslicht aus eigenem freien Willen mitgegangen. Uns bleibt nichts weiter übrig, als zu warten, ob sie heil zurück‐ kommt, oder, wenn das nicht der Fall ist, die Polizei zu ru‐ fen.« Stunden später läutete das Telefon. John ging an den Appa‐ rat. Es war Christina. Atemlos teilte sie ihm mit: »Ich war zum Lunch bei den de Grasses, und ich bin immer noch bei ihnen. Wir sind gerade eben ins Hotel zurückgekommen, und ich rufe aus der Zelle in der Garderobe an. Aber in ei‐ ner Minute werden wir in ihre private Suite gehen. Sie ha‐ ben mir das Versprechen abgenommen, zum Dinner mit ihnen auf ihre Yacht zu gehen. Ich will aber nicht. Können Sie . . . können Sie nicht unter irgendeinem Vorwand her‐ kommen und ... und mich hier herausholen? Ach bitte, bit‐ te!« »Okay«, antwortete John sofort. »In einer Dreiviertelstunde sind wir da. Bleiben Sie, wo Sie sind, lassen Sie sich auf keinen Fall dazu überreden, das Hotel zu verlassen. Und halten Sie die Ohren steif.« John fühlte sich längst nicht so sicher, wie er gesprochen hatte. Auch Molly verriet ihre Besorgnis mit den Worten: »Wenn die de Grasses sie erst einmal auf ihrer Yacht haben, werden wir sie vielleicht nie mehr wiedersehen.« John nickte düster. »Sieht so aus, als sei der Marquis immer noch im Mädchenhandel tätig. Wenn wir nicht schnell handeln, landet das arme Ding womöglich in Port Said 39
oder in Buenos Aires.« »Das ist möglich, wenn sie nichts anderes im Sinn haben. Aber ich bin sicher, daß der Kano‐ nikus dahintersteckt. Er will sie vielleicht zwingen, etwas Bestimmtes für seine eigenen dunklen Zwecke zu tun.« »Ich will verdammt sein, wenn ich das zulasse!« entfuhr es John. Seine Mutter sah ihn verwundert an. »Also magst du sie doch?« Er zuckte grinsend die Schultern. »Hol’ du den Wagen«, befahl Molly. »Ich muß eben noch einmal nach oben.« Fünf Minuten später trat sie mit einer großen Krokodille‐ dertasche auf die Straße. »Du hast doch nicht das ganze Ar‐ senal mitgenommen?« fragte John argwöhnisch. Molly stieg ein. »Meine kleine Automatik«, gab sie zögernd zu. John lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Bevor ich auch nur einen Meter fahre, mußt du mir versprechen, daß du nicht herumballern wirst. Sonst landen nämlich wir im Gefängnis, und nicht die de Grasses.« »Nun gut, ich verspreche es«, seufzte Molly. »Aber das ist doch ein bißchen hart. Wieder entgeht mir die Chance he‐ rauszufinden, was für ein Gefühl das ist, wenn man jeman‐ den mit einer Pistole in Schach hält.« »Versuch’ das bei einer Gelegenheit, wo ich nicht dabei bin«, riet er. Unterwegs legten sie sich ihren Plan zurecht. Im Hotel an‐ gekommen, fragten sie nicht erst beim Empfang nach dem Marquis, sondern gingen geradenwegs zum Lift und nann‐ 40
ten dem Boy die Suite der de Grasses. Im obersten Stock‐ werk stiegen sie aus. Der Boy bezeichnete ihnen eine Tür am Ende des Ganges. John läutete. Einen Augenblick später öffnete Comte Jules die Tür. Er war ein kleiner, aber athletisch gebauter junger Mann Mitte Zwanzig mit schlanken Hüften, breiten Schultern und ei‐ nem runden Gesicht. Seine Augen waren sehr dunkel und seine Lippen etwas aufgeworfen. Die leicht nach oben ge‐ bogenen Mundwinkel verliehen ihm ein fröhliches, gutmü‐ tiges Aussehen. Ein paar Sekunden lang betrachtete er seine Besucher ver‐ ständnislos. Dann rief er: »Nein, so etwas! Wenn das nicht John Fountain ist!« »Zufällig habe ich gestern deinen Vater im Casino getrof‐ fen«, erklärte John, »und da erfuhr ich, daß du hier bist. Meine Mutter und ich haben heute nachmittag Freunde in St. Tropez besucht. Plötzlich kam mir der Einfall, ich könn‐ te dir guten Tag sagen, bevor wir zum Dinner in unsere kleine Villa zurückfahren.« »Wie nett! Ich bin entzückt.« Comte Jules Stimme verriet nichts als ehrliches Vergnügen. »Du wirst meine Mutter noch nicht kennengelernt haben«, sagte John. »Enchante, Madame.« Comte Jules ergriff Mollys Hand, als sei diese aus zerbrechlichem Porzellan, und führte sie in die Nähe seiner Lippen, ohne sie jedoch zu küssen. »Verzeihen Sie, daß ich Sie im Flur stehenließ. Bitte, treten Sie ein. Wir freuen uns so, Sie zu sehen.«
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Als Jules die Tür zum Salon öffnete, bemerkte John, daß Christina mit ängstlicher Erwartung in ihre Richtung starr‐ te. Molly überspielte diese Dummheit sofort, indem sie rief: »Nein, so etwas, da ist ja Christina!« »Sie kennen sich?« fragte Jules. »Ja, natürlich, wir sind doch Nachbarn«, gab Molly unbe‐ fangen zurück. Eine Frau, die auf den ersten Blick ziemlich jung aussah, erhob sich von einem Sofa. Jules wandte sich ihr zu. »Belle mere, darf ich dir Mrs. Fountain und ihren Sohn John, der mit mir in Cambridge war, vorstellen? – Meine Stief‐ mutter, die Marquise de Grasse.« Die Gesellschaft trank gerade Cocktails, und Jules mischte schnell neue für Molly und John. Christina erklärte: »Ma‐ dame la Marquise und Comte Jules sind reizend zu mir gewesen. Sie bestanden darauf, daß ich auch den Nachmit‐ tag mit ihnen verbringe. Comte Jules hat mich zum alten Fort und rund um den Hafen gefahren, und nun haben sie mich noch zum Dinner auf ihrer Yacht eingeladen.« »Ich wünschte, ich wäre noch so jung wie Sie«, erwiderte Molly lächelnd. »Wenn ich bis in die frühen Morgenstun‐ den aufgewesen wäre, würden mir jetzt die Augen zufal‐ len.« Christina fing den Ball geschickt auf. »Das ist ja das Prob‐ lem! Ich bin nicht daran gewöhnt, abends auszugehen, und jetzt habe ich Kopfschmerzen. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber mir wäre es wirklich lieber, ich könnte nach Hau‐ se gehen.«
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»Nein,nein«, protestierte Jules. »Ein oder zwei Tabletten werden Ihre Kopfschmerzen verjagen, und da wir erst um neun speisen werden, können Sie sich gern noch eine Stun‐ de hinlegen, bevor wir aufbrechen. Belle mere wird es Ih‐ nen in unserm Gästezimmer gemütlich machen.« »Nein, danke, das möchte ich lieber nicht.« Comte Jules zuckte die Schultern. »Unsere Freunde wollen sicher nicht gleich wieder gehen. Warten wir ab, wie Sie sich ein wenig später fühlen.« Zu John gewandt, setzte er hinzu: »Heute abend wird in Le Lavendou ein Feuerwerk veranstaltet, und wir wollen mit der Yacht um’ das Kap fahren, damit wir es uns ansehen können. Ich würde dich und deine Mutter zu gern auch einladen. Nur ist leider der Speiseraum auf unserem Schiff ziemlich klein, und unsere Gesellschaft ist schon vollzählig.« Darauf ließ er das Thema fallen und begann, mit John über gemeinsame Bekannte in Cambridge zu sprechen. Draußen wurde es schnell dunkel. Während der nächsten Viertelstunde bemerkte Molly an Christina eine deutliche Änderung. Sie wurde lebhafter, plauderte und lachte, und als Comte Jules die Lampen einschaltete und die Vorhänge zuzog, bemerkte sie, sie könne es kaum noch erwarten, noch einmal ihr Glück am Spieltisch zu versuchen. Molly, die in diesem Stimmungsumschwung Gefahr witter‐ te, sagte zu ihr: »John hatte die Absicht, morgen abend wieder mit Ihnen nach Cannes zu fahren. Aber dann müs‐ sen Sie sich heute nacht ausschlafen. Comte Jules wird Ih‐ nen sicher verzeihen und Sie ein anderes Mal auf die Yacht einladen. Am besten brechen wir jetzt gleich auf.« 43
»O nein, jetzt noch nicht!« rief Jules. »Sie sind kaum zwan‐ zig Minuten hier, und Christina sieht schon wieder besser aus. Ich bin überzeugt, sie wird ihr Versprechen halten und doch noch mit uns kommen.« »Wie spät wird es werden?« wollte Christina wissen. »Es braucht nicht spät zu werden. Wir setzen uns zum Dinner, sobald die Yacht den Hafen verläßt. Das Feuerwerk fängt um zehn an, und es dauert nur eine halbe Stunde. Ei‐ gentlich hätten wir dann noch ein Weilchen tanzen wollen, aber wenn Sie es wünschen, können wir danach nach Hau‐ se fahren, so daß Sie kurz nach Mitternacht im Bett wären.« »Ja, wenn das so ist . . .« Christina zögerte. Mit einer für sie ungewöhnlichen Forschheit verlangte sie: »Geben Sie mir noch einen Cocktail. Ich werde meinen Entschluß fassen, bis ich ihn ausgetrunken habe.« »Selbstverständlich!« Jules sprang auf. Es überraschte John, daß seine Mutter rief: »Mir auch einen, bitte.« Zu seinem Entsetzen öffnete sie ihre große Krokodilledertasche. Aber sie nahm nur eine Puderdose heraus. Als Jules die Gläser gefüllt hatte, machte Molly John auf eine ganz moderne Anordnung von Bücherregalen am an‐ deren Ende des Raums aufmerksam. Auch die Marquise zeigte Interesse für innenarchitektonische Fragen, und ein paar Minuten lang diskutierten sie über das Thema. Dann warf John zufällig einen Blick auf Christina. Ihr Ge‐ sicht war leichenblaß geworden. Auf seine Frage hin ge‐ stand sie, daß ihr gar nicht gut wäre. »Armes Kleines«, sagte die Marquise. »Möchten Sie gern ins Badezimmer? Kommen Sie, ich bringe Sie hin.« 44
»Nein«, murmelte Christina, »mir ist nicht übel. Ich fühle mich nur benommen.« Sie wies auf ihr Glas. »Dieser letzte Cocktail muß zuviel für mich gewesen sein.« »Ein Schluck zuviel, wenn man übermüdet ist, hat oft diese Wirkung«, ließ John sich hören. »Aber damit ist die Frage entschieden. Sie muß mit uns nach Hause fahren. Je eher, desto besser.« »Nein!« Jules’ Stimme hatte einen scharfen Ton angenom‐ men. »Sie wird hierbleiben, bis sie sich wieder erholt hat. Belle mere, könntest du die Güte haben, sie mit in dein Zimmer zu nehmen und dich um sie zu kümmern?« »Ich fürchte, das ist keine gute Idee«, erhob John Ein‐ spruch. »In ein paar Stunden wird es ihr noch schlechter gehen. Und dann fällt dir die wenig beneidenswerte Auf‐ gabe zu, sie in diesem Zustand nach Hause zu bringen.« Johns Worte wurden dadurch bekräftigt, daß Christinas Kopf trotz aller Bemühungen, ihn aufrechtzuhalten, nach vorn kippte. Dennoch gab Jules kalt zurück: »Für mich ist es eine Ehrensache, einen Gast, der sich nicht wohl fühlt, nach Hause zu fahren.« »Das glaube ich dir ja. Aber hast du auch bedacht, daß je‐ mand bei ihr bleiben muß und du deine Stiefmutter auf diese Weise um die Party bringst?« »Die Zofe meiner Stiefmutter kann für Christina sorgen.« »Nein«, mischte sich Molly ein. »Christina kommt mit uns. Wie peinlich muß es für sie sein, wenn sie sich, nachdem sie zuviel getrunken hat, in einem fremden Bett und unter Menschen, die sie kaum kennt, wiederfindet! Ich werde sie in ihre eigene Villa bringen.« 45
»Madame!« brauste Jules auf. »Ich lasse mich nicht auf die‐ se Weise kommandieren. In ihrem Zustand kann sie nir‐ gendwohin gebracht werden. Sie bleibt über Nacht hier, und ich werde einen Arzt für sie rufen.« »Tut mir leid«, warf John ein. »Meine Mutter kennt sie schon geraume Zeit und ist mehr oder minder für sie ver‐ antwortlich. Daher wird das getan, was meine Mutter anordnet.« Er war zu Christina getreten und zog sie hoch. Höflich bat er Jules: »Hilf mir, sie zum Lift zu bringen, ja?« Ganz plötzlich gab Jules den Kampf auf. Mit einem verzerr‐ ten Lächeln trat er vor, ergriff Christinas anderen Arm und führte sie gemeinsam mit John hinaus. Die Marquise bat Molly, sie am nächsten Tag anzurufen und Bescheid zu ge‐ ben, wie es Christina gehe. Voller Höflichkeit verabschiede‐ ten die beiden Damen sich voneinander. Auch Jules be‐ merkte noch John gegenüber, sein Vater werde es be‐ dauern, ihn verpaßt zu haben, und er müsse bald einmal wiederkommen. Endlich saßen Molly, John und Christina im Wagen. »Ein Glück, daß sie diesen letzten Cocktail verlangt hat«, meinte John. »Ohne ihn wäre sie nie von den de Grasses losge‐ kommen.« »Und ohne das, was ich ihr hineingetan habe«, antwortete Molly. »Mumsie!« Er drehte sich nach ihr um. »Was meinst du damit?« »Ich habe ihr einen Micky Finn gegeben, Darling. Oder, um genauer zu sein, ein Viertel davon. Ich habe ihn in meinen 46
Cocktail getan und dann die Gläser umgetauscht.« Molly kicherte vergnügt. »Gut gemacht, Mumsie.« Aus Johns Stimme sprach echte Bewunderung. »Aber damit hast du die Katze aus dem Sack gelassen. Meine letzten Zweifel daran, ob du Molly Polloffski, die schöne Spionin, gewesen bist, sind nun be‐ seitigt.« »Also wirklich, Johnny, ich versichere dir, ich habe nichts anderes als Büroarbeit verrichtet.« »Ha, ha«, machte Johnny. Da Christina nur eine geringe Dosis der Droge erhalten hat‐ te, waren die schlimmsten Folgen bald überwunden, und als sie vor Mollys Villa ankamen, konnte sie bereits ohne Hilfe gehen. Im Wohnzimmer setzte Molly sie in einen Armsessel, ging nach oben und holte ein Bromoseltzer. Christina war wieder bei Bewußtsein, aber in einer seltsa‐ men Stimmung, halb weinerlich und halb trotzig. Sie ent‐ schuldigte sich mehrmals für ihr Benehmen, doch schien ihr nicht klar zu sein, daß sie aus einer ernsten Gefahr ge‐ rettet worden war. Ganz im Gegenteil, sie kam immer wie‐ der darauf zurück, wie schade es sei, daß sie die Party und das Feuerwerk versäumt habe. Es war deutlich zu erken‐ nen, daß sie es Molly und John übelnahm, sie aus dem Capricorn weggebracht zu haben. Schließlich erklärte Molly: »Ich fürchte, mein Liebes, daß diese ganze Angelegenheit Ihnen auf die Nerven gegangen ist und Sie in keinem ganz normalen Zustand mehr sind. Wenn Sie es wären, würden Sie sich daran erinnern, daß Sie uns selbst darum gebeten haben, Sie den Klauen der de 47
Grasses zu entreißen.« Sie machte eine Pause, fischte etwas aus ihrer Handtasche und hielt es in ihrer Hand verborgen. »Unser einziger Wunsch ist, Ihr Problem zu lösen. Hier ist etwas, das uns und auch Ihnen dabei helfen kann.« Sie warf den Gegenstand Christina in den Schoß. »Fang!« Christina hob die Hände und fing den Gegenstand. Sie schrie vor Schmerz auf. Es war ein kleines goldenes Kruzifix. Als sei sie von weißglühendem Metall berührt worden, schleuderte sie es von sich. »Das habe ich befürchtet!« stellte Molly fest. »Jetzt wissen wir das Schlimmste. Jeden Abend, wenn es dunkel wird, werden Sie vom Teufel besessen.« VI
Mit funkelnden Augen sprang Christina auf. Dann, als ha‐ be sie einen plötzlichen Anfall, knickten ihre Beine zusam‐ men. Sie sank in den Sessel zurück. Kleine Schaumflocken erschienen in ihren Mundwinkeln. Molly füllte schnell ein Glas mit Perrier‐Wasser und kippte es Christina ins Gesicht. Das Mädchen wimmerte, der Krampf ließ nach. Sie richtete sich auf. Molly legte ihr eine Hand auf die Schulter und sagte freundlich: »Gott helfe dir, mein Kind. Aber ich habe recht, nicht wahr? Du bist nur tagsüber dein wirkliches Selbst, und bei Nacht bist du be‐ sessen.« Stöhnend verbarg Christina das Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus.
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Molly wandte sich John zu. »Sie sollte heute nacht besser hierbleiben. Ich habe Angele gesagt, wir würden vielleicht spät nach Hause kommen und brauchten dann nur einen kalten Imbiß. Lauf schnell in die Küche und sage ihr, mit dem Essen habe es noch eine halbe Stunde Zeit, und sie sol‐ le sofort das Gästezimmer fertigmachen.« John stand da mit leicht geöffnetem Mund und starrte Christina an. Jetzt nahm er sich zusammen, nickte und ver‐ ließ das Zimmer. Als er zurückkam, ließ Molly ihn bei Christina und ging in die Nachbarvilla, um für das Mädchen ein paar Sachen zu holen. Zu Johns Erleichterung gab es keine weitere Szene mehr, und die völlig erschöpfte Christina wurde zu Bett gebracht. »Ich werde in London anrufen und versuchen, ob ich Colo‐ nel Verney erreichen kann«, teilte Molly John mit. »Was! Conky Bill?« rief John erstaunt aus. »Ja. Er pflegt wochentags im Club zu dinieren, und er geht nie viel früher als um elf nach Hause. Wenn er nicht gerade bis über beide Ohren in der Arbeit steckt, kann ich ihn viel‐ leicht überreden, morgen hierherzufliegen und ein paar Tage bei uns zu bleiben.« »Ja aber, Mumsie, was soll das für einen Zweck haben? Ich weiß ja, daß du eine Schwäche für C. B. hast, und da kann man dir keinen Vorwurf machen, wenn du unter irgendei‐ nem Vorwand . . .« »Johnny, ich habe dir oft genug erzählt, daß ich während des Krieges die Kontakte zwischen meinem Chef und C. B. zu vermitteln hatte und daß er nach dem Tod deines Vaters 49
außerordentlich nett zu mir gewesen ist. Mehr steckt nicht dahinter.« »Nur, daß ihr beiden wie wild miteinander flirtet, wann immer ihr zusammenkommt. Ich halte ihn für einen gro‐ ßartigen alten Burschen, und ich wäre froh, wenn ihr heira‐ ten würdet. Aber darum geht es doch im Augenblick nicht. Ich komme nicht dahinter, warum du ihn als passenden Ersatz für einen katholischen Priester ansiehst, der einen Exorzismus durchführen kann.« »Wenn ich’ es dir erzählen soll, mußt du mir versprechen, es niemandem weiterzusagen.« »Schieß los. Bei wirklich wichtigen Dingen kann ich verschlossen sein wie eine Aus‐ ter.« »Nun, C. B. hat während der letzten Jahre seine Zeit größ‐ tenteils darauf verwendet, Geheimbünde zu überprüfen. Zu diesen gehören auch die Zirkel, in denen Schwarze Ma‐ gie praktiziert wird.« John hob die Augenbrauen. »Dann existieren solche Zirkel also tatsächlich? Ich erinnere mich an einen Zeitungsartikel, den ich vor einigen Monaten in der Sunday Empire News gelesen habe. Er war von Superintendent a. D. Robert Fabian und enthielt einen ganz schauerlichen Bericht darü‐ ber, wie junge Mädchen dazu verleitet würden, sich für alle Arten von obszönen Riten in geheimen Satanstempeln zur Verfügung zu stellen. Fabian behauptete sogar, er wisse, daß es solche Sekten in Kensington, Paddington und Bloomsbury gebe. Damals dachte ich allerdings, der pen‐ sionierte Superintendent habe sich das zurechtphantasiert, um sich auf leichte Weise ein bißchen Geld zu verdienen.« 50
»Nein. Fabian hat die Wahrheit berichtet. Und als er noch im Dienst war, hat er eng mit C. B. zusammengearbeitet. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für entsetzliche Dinge sie aufgedeckt haben.« »Und du glaubst wirklich, wenn C. B. herkommen kann, dann würde es ihm gelingen, sie von dem . . . äh . . . dem Problem zu befreien?« »Ich weiß es nicht, Johnny. Wir wollen es hoffen. Bei seiner Arbeit muß er eine Menge über das Vorgehen der Teufels‐ anbeter gelernt haben. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der uns in dieser Sache einen Rat geben kann. Ich bin überzeugt, er wird kommen, wenn es sich irgend ein‐ richten läßt. Es gebe ihm nicht nur eine Möglichkeit, dem Mädchen zu helfen, sondern auch, gegen die de Grasses vorzugehen.« Eine Dreiviertelstunde später war es Molly gelungen, Lieu‐ tenant‐Colonel William Verney an den Apparat zu be‐ kommen. Ihre Hoffnung, daß er ihrer Bitte nachkommen würde, erfüllte sich. Es wurde vereinbart, daß sie ihn am nächsten Tag am Flughafen Nizza abholen solle. Trotz der Sorgen, die sie sich um Christina machte, ging Molly glücklich zu Bett. Das junge Mädchen schlief fest nach dem ihr verabreichten Mittel, nur John lag noch lange wach und dachte über die unglaublichen Dinge nach, die er heute erfahren hatte. Am nächsten Morgen ließ ihn seine Mutter ganz gegen die sonst während seines Urlaubs herr‐ schenden Gewohnheiten wecken und ihm um halb neun sein Frühstück bringen. So kam er angezogen nach unten, lange bevor es zehn Uhr war. Er hörte von Molly, daß es 51
Christina in Anbetracht der Umstände ganz gut gehe und daß sie gerade in ihr eigenes Haus hinübergegangen sei, um sich umzuziehen. Sie habe jedoch versprochen, gleich wieder zurückzukehren. Tatsächlich trat sie eine Viertelstunde später durch die Ter‐ rassentür des Wohnzimmers ein. Sie sah ein bißchen nie‐ dergeschlagen, aber sonst völlig normal aus. Unter der hel‐ len Morgensonne und in dem mit Bauernblumen in Rot und Gelb bestickten Kleid wirkte sie so schlicht und mäd‐ chenhaft, daß man kaum glauben konnte, wie ihre Augen vor Haß gefunkelt hatten, als Molly ihr das Kruzifix zu‐ warf. Allen dreien war jedoch peinlich bewußt, daß man um die Sache nicht herumreden konnte. Mit gewohnter Entschlossenheit ergriff Molly das Wort. »Jetzt müssen Sie uns zwei Dinge sagen, nach denen ich Sie niemals fragen würde, wenn es nicht so außerordentlich wichtig wäre. Das sind ihr richtiger Name und die Adresse Ihres Vaters.« Christina schüttelte den Kopf. »Ich möchte mein ihm gege‐ benes Wort nicht brechen.« »Wie Sie wollen, Liebes. Aber als er Ihnen das Versprechen abnahm, konnte weder er noch Sie voraussehen, was sich seitdem ereignet hat. Wüßte er es, dann würde er Ihnen si‐ cher Ihr Wort zurückgeben. Sehen Sie, jetzt hat doch der Kanonikus Ihr Versteck ausfindig gemacht, und es sieht so aus, als habe er Verbrecher beauftragt, Sie in ihre Gewalt zu bekommen. Wir müssen damit rechnen, daß es ihnen ge‐ lingt, ganz gleich, was John und ich tun mögen, um Sie zu beschützen. Dann bliebe uns nichts anderes übrig, als die 52
Polizei zu benachrichtigen, und die muß Ihren Namen er‐ fahren und sich mit Ihrem Vater in Verbindung setzen, um Sie aufspüren zu können.« Christina dachte eine Weile nach. Dann faßte sie einen plötzlichen Entschluß. »Gut. Mein Name ist Ellen Beddows, und wir wohnen in The Grange, Little Bentford in der Nähe von Colchester. Mein Vater ist Henry Beddows, und seine Firma heißt Beddows Agricultural Tractors.« »Danke, mein Liebes. Natürlich werden wir Sie weiter Christina nennen, und Sie können sicher sein, daß wir Ihr Vertrauen nicht mißbrauchen. Nun ist da noch etwas. Ihr Vater muß den Schlüssel zu allem haben, zu Ihrem eigenen sonderbaren Zustand wie auch zu dem Geheimnis des Ka‐ nonikus. Warum will er Sie unbedingt in seine Gewalt be‐ kommen? Glauben Sie nicht, es sei jetzt an der Zeit, daß wir uns mit ihm in Verbindung setzen?« »Nein!« widersprach Christina fest. »Er sagte mir, es sei unwahrscheinlich, daß man in seinem Büro wisse, wo er sich aufhalte, und selbst wenn das der Fall sei, dürfe ich ihn unter keinen Umständen anrufen. Ich habe bereits ein Ver‐ sprechen, das ich ihm gegeben habe, gebrochen. Aber da er selbst in Gefahr sein kann, werde ich nichts tun, was diese vielleicht noch vergrößert.« Molly drängte nicht weiter. Sie mußte zum Flughafen fah‐ ren und schlug vor, John und Christina sollten einen Spa‐ ziergang unternehmen und ein Picknick veranstalten. Beide hielten das für eine gute Idee, und sobald Molly fort war, begannen sie mit den Vorbereitungen. Angele bereite‐ te ihnen einen Salat, und Christina belegte frische Brötchen 53
mit Schinken und Gruyere‐Käse. Währenddessen packte John Obst, eine Flasche Wein und Gläser in einen Korb. »Wenn wir zu Fuß gehen, sollte ich mir doch lieber ein Paar festere Schuhe anziehen«, meinte Christina. »Macht es Ih‐ nen etwas aus, wenn ich schnell noch einmal zu mir hinü‐ berlaufe?« »Natürlich nicht«, antwortete John. »Es ist noch nicht ein‐ mal halb zwölf, also haben wir jede Menge Zeit. Vor zwölf brauchen wir nicht zu gehen. Sie könnten einen Koffer pa‐ cken, denn, wie Mutter heute morgen sagte, wäre es wohl am besten, Sie wohnten für die nächste Zeit bei uns. Ich komme dann und hole Sie ab.« »Ich kann das nie wiedergutmachen, was Ihre Mutter und Sie für mich tun«, versicherte Christina dankbar. John rief ihr noch nach: »Bringen Sie auch ein Abendkleid mit! Es braucht nicht so umwerfend zu sein wie das, was Sie neulich anhatten. Nehmen Sie lieber ein einfaches. Con‐ ky Bill ist ziemlich altmodisch und hat es gern, wenn man sich zum Dinner umzieht. Der Tagesbefehl lautet also: Schwarze Krawatte und Seestiefel.« John selbst hatte auch zu tun, weil er sein Zimmer für den Colonel freimachen und selbst in eine Kammer ziehen mußte. Als er mit dem Picknickkorb in der Hand durch das Wohnzimmer auf die Terrassentür zuschritt, blieb er stirn‐ runzelnd stehen. Gerade stieg Comte Jules de Grasse den Gartenweg hoch. Der Comte erblickte ihn im selben Moment und rief mun‐ ter: »Guten Morgen! Da siehst du, wie prompt ich deinen Besuch erwidere!« 54
John stellte den Korb ab und ging Jules entgegen. Mit ei‐ nem Lächeln kaschierte er seine Verlegenheit. »Wie nett von dir. Es tut mir leid, daß wir dir Christina gestern ent‐ führen mußten, aber sie war wirklich nicht in dem Zu‐ stand, daß sie hätte bleiben können.« »Oh, dafür haben wir doch Verständnis. Wie geht es ihr heute morgen?« »Sie hat sich wieder völlig erholt.« Sie gingen zusammen zum Haus. Um einer weiteren Einladung für Christina vor‐ zubeugen, erklärte John: »Du hast mich gerade noch er‐ wischt. Ich werde gleich mit ihr ausgehen.« »So ein Pech. Da komme ich wohl recht ungelegen.« John hielt es für klüger, den scheinbar freundschaftlichen Umgangston beizubehalten. Außerdem wollte er gern wis‐ sen, warum der Comte ihn aufgesucht hatte. »Nein, nein, ein bißchen Zeit haben wir noch. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?« »Danke. Wenn du zufällig einen Pastis hättest, nehme ich gern ein Glas.« Sie betraten das Wohnzimmer. John fand eine Flasche Pas‐ tis und füllte zwei hohe Gläser. Comte Jules wies zur Terrasse. »Ihr habt hier ein entzü‐ ckendes Haus, und ich beneide euch um den Mimosen‐ baum direkt vor dem Fenster. Jetzt, wo er in Blüte steht, ist der Duft himmlisch.« »Mein Vater kaufte die Villa vor dem Krieg, und meine Mutter wohnt jetzt beinahe ständig hier.« Die Konversation geriet ins Stocken. Schließlich strich sich Jules über sein dunkles, krauses Haar und sagte: »Ich hätte 55
mit dir gern ein Wort ganz im Vertrauen gesprochen, mon ami. Könnten wir vielleicht unsere Gläser nach unten auf eure kleine Terrasse bringen?« »Natürlich, wenn du möchtest.« John war sehr gespannt darauf, was Jules ihm eröffnen würde. Zwischen Clementinen‐ und Zitronenbäumen stiegen sie den Weg zur Terrasse hinunter. Als sie es sich auf den wei‐ ßen Gartenstühlen bequem gemacht hatten, begann Jules von neuem: »Wie ist das Leben in England heutzutage? Ich meine, wirft dein Beruf als Innenarchitekt eigentlich genügend ab?« John zuckte die Schultern. »Mein Beruf macht mir Freude, aber mit dem Geld ist es so eine Sache. Die Steuern sind einfach zu hoch.« »Das habe ich mir gedacht, und in Frankreich ist es heute nicht mehr anders. Es ist noch kein halbes Jahrhundert her, da hatte meine Familie großen Landbesitz. Meinem Vater und mir ist nichts als unsere Intelligenz geblieben. Wenn wir also einigermaßen bequem leben wollen, müssen wir nehmen, was wir kriegen können.« »Ich dachte, dein Vater sei ein reicher Reeder«, bemerkte John. Jules schlug ein Bein über das andere, lehnte sich zurück und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Es stimmt, daß wir ein paar Schiffe besitzen, aber diese räuberischen Finanzbeamten haben ständig die Nase in unseren Büchern und nehmen uns das meiste vom Gewinn weg. Deswegen führen wir als Nebengeschäft Kommissionen gegen Bar‐ zahlung aus, die uns nicht nachgewiesen werden können.« 56
»Ach ja? Vermutlich meinst du damit, daß ihr Frachtgüter befördert, ohne sie zu deklarieren.« »Genau. Und kürzlich haben wir einen Auftrag angenom‐ men, über den ich dich als alten Freund anständigerweise informieren muß.« Jules machte eine kleine Pause und fuhr fort: »Wir haben uns verpflichtet, ein Mädchen, das du als Christina Mordant kennst, vor dem 6. März nach England zu schaffen. Sobald der Auftrag ausgeführt ist, erhalten wir dafür die Summe von eintausend Pfund.« »Ich verstehe«, sagte John ruhig. »Also nun!« Jules’ Lächeln wurde breiter. »Es hat den An‐ schein, daß du dich für Christina interessierst. Warum, fra‐ ge ich mich vergebens, denn ihr fehlen alle Eigenschaften, die eine Frau für Männer von unserem Niveau reizvoll ma‐ chen. Wenn du nichts dagegen unternimmst, daß ich Chris‐ tina aus ihrer Villa abhole, bringe ich dich gern mit einem Dutzend Damen dieser Gegend in Verbindung, die alle charmanter und weltgewandter sind als sie. Du kannst dir eine von ihnen aussuchen, um dich über deinen Verlust zu trösten. Bist du einverstanden?« »Nein«, antwortete John. »Das bin ich nicht.« Jules zuckte die Schultern. »Das hatte ich befürchtet. Ich mache dir einen anderen Vorschlag. Die Zeiten, in denen der Adel Vorrechte hatte, sind vorbei. Mein Vater und ich sind Geschäftsleute geworden. Wir können es uns nicht leisten, auf tausend Pfund zu verzichten. Aber unser Ver‐ trag ist nicht schriftlich niedergelegt, und niemand kann uns zwingen, ihn einzuhalten. Da dir offenbar so viel daran gelegen ist, auch weiterhin Christinas unschuldiges Ge‐ 57
plapper zu genießen, brauchst du uns nur zwölfhundert Pfund zu zahlen, und wir lassen sie in Frieden.« Johns Augen öffneten sich weit vor Erstaunen über diesen unverhüllten Erpressungsversuch. Er stand auf und fragte ärgerlich: »Zum Teufel, für was hältst du mich?« »Solltest du beide Angebote zurückweisen, müßte ich dich für einen Dummkopf halten.« Auch Jules war aufgestan‐ den, aber seine Stimme blieb gedämpft. »Wenn du, wie zu vermuten ist, das Mädchen heiraten willst, warum wendest du dich dann nicht an deine Mutter? Ihre Bücher müssen ihr viel Geld einbringen. Sie könnte dir die verlangte Sum‐ me leicht geben.« »Das kommt gar nicht in Frage«, fuhr John ihn an. »Ich werde es weder zulassen, daß du Christina entführst, noch dir einen Pfennig dafür bezahlen, daß du es nicht tust. Und jetzt mach, daß du wegkommst!« Jules’ Augen waren ganz schwarz geworden. »Ich bedaue‐ re, daß du dich als so unvernünftig erweist. Ich bin herge‐ kommen, weil ich hoffte, wir könnten ein freundschaftli‐ ches Arrangement treffen, und ich bin dir immer noch freundschaftlich genug gesonnen, um dir eine Warnung zu geben. Glaub nicht, weil du gestern abend die Oberhand behalten hast, du müßtest auch beim nächsten Mal wieder Glück haben. Mein Vater und ich haben uns nur nicht län‐ ger widersetzt, weil wir keinen Aufruhr in unserem Hotel wünschten. Solltest du noch einmal versuchen, dich in meine Geschäfte einzumischen, werde ich weniger zimper‐ lich sein.« 58
VII
John wartete, bis Comte Jules in seinem großen blauen Cit‐ roen davongefahren war, dann ging er zu Christinas Villa hinüber. Auf halbem Weg kam sie ihm entgegen. »Ich habe Sie mit Jules auf der Terrasse sitzen gesehen«, berichtete sie, »und da hielt ich es für klüger, mich nicht zu zeigen, bis er weg war. Was wollte er?« »Nichts als sich sehr besorgt nach Ihrer Gesundheit erkundigen.« »Ganz bestimmt ist er nicht nur deswegen von St. Tropez hergekommen. Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit, John. Mir ist es viel lieber, ich weiß Bescheid, wenn die de Grasses wieder etwas Neues gegen mich planen.« John überlegte und kam zu dem Schluß, daß sie recht hatte. Auch würde sie sich jeden Schritt noch sorgfältiger überle‐ gen, wenn sie gewarnt war. Als sie jetzt in gemächlichem Tempo die breite Straße entlangspazierten, erzählte er ihr alles über sein Gespräch mit Jules. »Er muß doch verrückt sein, wenn er geglaubt hat, Sie würden ihm zwölfhundert Pfund zahlen, nur damit er mich in Ruhe läßt«, meinte Christina. »Oh, das möchte ich nicht behaupten. Die meisten Leute haben die Vorstellung, daß bekannte Autoren enorme Summen verdienen. Er hat sicher gedacht, meine Mama könne mir den Betrag zur Verfügung stellen, ohne mit der Wimper zu zucken.« »Aber selbst wenn sie das könnte, wie kommt er auf die Idee, sie würde sich meinetwegen von so viel Geld tren‐ nen?« 59
»Sie vergessen, daß Sie eine Erbin sind«, erläuterte John. »In Jules’ Augen ist es für Mutter ein gutes Geschäft, wenn sie ihm zwölfhundert zahlt und dafür Sie als Frau für mich bekommt.« Christina lachte. »Zu einem solchen Geschäft würde ich nicht raten. Wie ich Ihnen bereits erzählt habe, weiß ich furchtbar wenig über das Privatleben meines Vaters. Ich glaube kaum, daß er wiedergeheiratet hat, aber möglich ist es. Er kann auch von seinen Mätressen Kinder haben, die er lieber hat als mich. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß der Hauptteil seines Vermögens, wenn er einmal stirbt, an Leu‐ te fällt, von denen ich noch nie gehört habe, und daß ich nur soviel bekomme, wie ich brauche, um vor regelrechter Not geschützt zu sein.« Sie wanderten durch einen Pinienwald, der ab und zu mit Anpflanzungen von Zitrusbäumen, Weinreben oder Ge‐ müse durchzogen war. Es ging steil aufwärts. Deshalb sprachen sie nicht viel. Schließlich erreichten sie einen Olivenhain, der wie ver‐ zaubert unter der Mittagssonne lag. Hier ließen sie sich nieder und packten ihren Lunch aus. »John, halten Sie es für möglich, daß die de Grasses versuchen werden, mich mit Gewalt zu entführen?« fragte Christina ernst. »Das bezweifle ich«, antwortete er mit vorgetäuschter Überzeugung. »Wir werden jedenfalls alles tun, um Sie zu beschützen. Wahrscheinlicher ist es jedoch, daß sie Sie mit einem Trick weglocken wollen, und da ist mir, als wir vor‐ hin den Berg hinaufkletterten, eine Idee gekommen.« »Ja? Ach bitte, erzählen Sie mir davon.« 60
John zögerte eine Sekunde. »Also, wenn es ihnen gelingen sollte, Sie durch List zu entführen, befinden wir uns in kei‐ ner sehr starken Position. Ich meine, wenn wir die Polizei bitten, Nachforschungen anzustellen, wird man uns natür‐ lich fragen, in welchem Verhältnis wir zu Ihnen stehen. Wären wir miteinander verwandt, so wäre alles ganz ein‐ fach.« »Ja, das ist ein Problem. Nur wüßte ich nicht, wie es zu lö‐ sen wäre.« »Es ist zu lösen. Mama und ich könnten die Polizei im Dreieck springen lassen, wenn Sie meine Verlobte wären.« Christina sah ihn mit ihren großen braunen Augen erstaunt an. »Das soll kein . . . Heiratsantrag sein, nicht wahr?« John hatte sich der Länge nach im Gras ausgestreckt. Jetzt setzte er sich auf und grinste. »Tut mir leid, es ist keiner. Es ist wohl vermessen von mir, wenn ich folgere, ich hätte in Ihrer jungfräulichen Brust falsche Hoffnungen erweckt. Unsere Verlobung soll nur so lange dauern, bis die Gefahr vorüber ist. Dann trennen wir uns wieder. Was sagen Sie dazu?« »Es ist schon ein wenig erschütternd, wenn aus dem mäd‐ chenhaften Träumen über den ersten Heiratsantrag eine Farce wird«, erwiderte Christina halb im Ernst. »Aber ich sehe ein, daß Sie dann in einer viel besseren Position sind, falls ich verschwinden sollte. Ich fühle mich jedoch ver‐ pflichtet, die Bedingung zu stellen, daß Ihre Mutter die Wahrheit erfahren muß.« »Selbstverständlich, und Conky Bill auch. Bei beiden möch‐ te ich nicht, daß sie später von mir denken, ich hätte Sie 61
sitzengelassen. Aber vor allen anderen Leuten müssen wir ein bißchen Theater spielen.« Er zog einen goldenen Siegelring von dem kleinen Finger seiner linken Hand und hielt ihn hoch. »Hier! Laß ihn dir auf deinen Ringfinger stecken. Er hat meinem Vater gehört, und ich betrachte ihn als einen meiner wenigen Schätze. Deshalb verliere ihn um Gottes willen nicht. Zeige ihn dei‐ ner alten Katalanierin und Angele und erzähle ihnen, ich wolle dir einen schöneren Ring kaufen, wenn wir nach Hause kommen, doch dieser sei in der Zwischenzeit das Symbol meiner unsterblichen Liebe.« »Nun denn, gut«, lachte Christina und hielt ihm ihre linke Hand hin. Sie war wohlgeformt, aber ziemlich groß, und er hatte einige Mühe, den Ring über den Knöchel zu ziehen. Es war unmöglich, daß sie ihn unbemerkt verlieren würde. Um sechs Uhr trafen sie wieder in Christinas Villa ein und holten den Koffer, den sie gepackt hatte. Bei Molly im Wohnzimmer saß bereits Colonel Verney. Er war ein großer, schlanker Mann mit ergrauendem Haar, der seinen Spitznamen Conky Bill (von Conch‐Tritonshorn (Anmerkung d. Übers.)– oder, wie die meisten seiner Freunde ihn nannten, C. B. – seiner vorspringenden Nase verdankte. Seine grauen Augen durchschauten einen schnell. Er sprach mit leiser, fast vertraulicher Stimme und vermittelte den sympathischen Eindruck, daß er imstande sei, alles mit Humor zu nehmen. Zu Christina sagte er: »Well, junge Dame, wie ich höre, werden Sie von bösen Buben verfolgt, aber von denen ver‐ speise ich täglich zwei zum Frühstück, deshalb müssen Sie 62
mich zu ihnen führen. Vielleicht können wir uns nach dem Dinner ein wenig miteinander unterhalten, damit ich mir überlegen kann, wie ich meine Fallen aufstellen soll.« Christina lächelte ihn an. »Ich glaube nicht, daß es noch etwas gibt, was ich Mrs. Fountain nicht bereits gesagt habe, aber ich werde gern Ihre Fragen beantworten.« Molly brachte Christina in das für sie hergerichtete Gäste‐ zimmer, und John trug ihren Koffer hinauf. Als er zurück‐ kehrte, sprach der Colonel ihn an: »Well, mein Sohn! Wie wirst du von der Welt behandelt?« »Ich kann mich nicht beklagen, Sir, danke«, gab John fröh‐ lich zurück. »Ich freue mich sehr, daß Sie wieder einmal bei uns sind.« »Um die Wahrheit zu sagen, ich war begeistert, als deine Mutter anrief. In den nächsten Tagen hätte ich mich mit langweiligen Statistiken beschäftigen müssen, und nun hat‐ te ich eine Entschuldigung, diese Arbeit auf einen meiner Assistenten abzuwälzen.« »Ich bin froh, daß Sie kommen konnten, Sir. Das ist eine ganz ungewöhnliche Angelegenheit, ich blicke da nicht ganz durch.« »Du meinst, weil Schwarze Magie mit hineinspielt, wie? Das ist von dir auch nicht zu verlangen. Diese Jungens sind Experten darin, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen. Des‐ halb hat die Öffentlichkeit kaum eine Ahnung davon. Und wenn doch einmal etwas über den Satanskult in der Presse erscheint, wird es als Unsinn abgetan.« »Darf ich Ihnen nachschenken, Sir? Vielleicht können Sie mir dann mehr darüber erzählen.« 63
»Tu das, John.« C. B. begann, sich eine sehr saubere, lang‐ stielige Pfeife zu stopfen. »Warum redest du mich eigent‐ lich neuerdings mit ,Sir’ an? Ich weiß, daß ich ein alter Kommißstiefel bin, aber du kennst mich lange genug, um mich C. B. zu nennen. Das hast du als kleiner Junge immer getan.« John grinste. »Nur habe ich in der Zwischenzeit meinen Militärdienst abgeleistet, und da hat man uns beigebracht, wir müßten einen Colonel erst mindestens dreimal mit ,Sir’ anreden, ehe wir ihm auf die Schulter klopfen dürften.« »Keine schlechte Vorschrift!« lachte der Colonel. John reichte ihm sein Glas und setzte sich auf das Sofa. C. B., der durch Molly schon gut über Christina und alle Ereignisse informiert war, stellte noch verschiedene Fragen. »Ich finde, heutzutage ist es ein bißchen schwer zu schlu‐ cken, daß ein Mensch vom Teufel besessen sein soll. Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter!« meinte John. »Glaub mir, John, ich habe schon mit vielen derartigen Fäl‐ len zu tun gehabt«, versicherte Conky Bill. »Wir können die Theorie deiner Mutter wenigstens vorläufig ruhig akzeptie‐ ren.« »Doch warum passiert so etwas ausgerechnet einem Mäd‐ chen wie Christina? Sie hat sich nie mit Spiritualismus oder dergleichen Dingen befaßt.« »Frag mich was anderes, mein Sohn. Ich nehme an, wir werden noch irgendein Verbindungsglied finden. Anderer‐ seits ist jedes j Mädchen, das so einsam ist wie sie, beson‐ ders verwundbar. Unter zehn Fällen von spurlos ver‐ schwundenen Mädchen handelt es sich bei neun um solche, 64
die keine Freunde oder Verwandten haben, die ihretwegen alle Hebel in Bewegung setzen. Wäre Christina, als sie noch in Paris war, von Verbrechern nach Buenos Aires ver‐ schleppt worden, hätte ihr Vater womöglich erst Monate später davon erfahren.« »In diesem Fall wußte er jedoch als erster, daß ihr etwas Gräßliches droht. Tatsache ist ja, daß er sie hergebracht hat, um sie hier zu verstecken.« C. B. nickte. »Da magst du recht haben.« »Glauben Sie, man will Christina an ein Bordell verscha‐ chern?« »Nein. Aber sie wird sich das fast wünschen, wenn diese Leute sie erstmal erwischt haben.« »Um Himmels willen, was haben sie denn mit ihr vor?« »Sie sind immer auf der Jagd nach Neophyten. Satan ist ein habgieriger Herr, und um sich seine Gunst zu erhalten, brauchen sie einen ständigen Nachschub an Körpern und an Seelen, die sie ihm opfern können. Um so größer wird ihre Macht.« In diesem Augenblick kam Molly wieder herein. »Christina hat mir deines Vaters Ring gezeigt und mir erklärt, warum sie ihn trägt. Sie hat mir auch über den Besuch von Comte Jules erzählt.« »Wir haben uns darüber schon unterhalten.« C. B. streckte seine langen Beine aus und fuhr nachdenklich fort: »In An‐ betracht der Drohung des jungen de Grasse sollten wir heute Nacht Wache halten. Wir können einen Sessel vor ihre Zimmertür stellen. Ich brauche sehr wenig Schlaf, des‐ halb werde ich mich bis zwei Uhr dorthin setzen. Wenn 65
John mich dann für drei Stunden ablöst, übernehme ich den Posten wieder ab fünf Uhr. Um sieben ist eure Köchin wach, so daß ich mich bis zum Frühstück noch zwei Stun‐ den aufs Ohr legen kann. Bist du damit einverstanden, John?« »Natürlich, und ich halte gern länger Wache als drei Stun‐ den. Schließlich brauche ich, da sie meine Verlobte ist, ja nicht draußen vor der Tür sitzenzubleiben.« »Noch irgendwelchen Unsinn dieser Art, und ich schicke dich nach England zurück!« erklärte seine Mutter streng. Er seufzte theatralisch auf und warf dem Colonel einen be‐ leidigten Blick zu. »Da sehen Sie, Sir, wie altmodisch sie in ihren Vorstellungen darüber ist, welche Freiheiten einem verlobten Paar zugestanden werden dürfen. Könnten Sie sie nicht ein bißchen in meinem Sinne erziehen?« Beide gerieten in Verlegenheit. C. B. betrachtete eingehend seine großen Füße. Molly errötete und sagte schnell: »Ei‐ gentlich bin ich nach unten gekommen, um Bescheid zu geben, daß es an der Zeit ist, sich zum Dinner umzuziehen, falls Sie das möchten.« Der Colonel erhob sich aus seinem Sessel. »Ganz wie es Ih‐ nen beliebt, meine Liebe. Da ich gewöhnt bin, vor dem Dinner ein Bad zu nehmen, finde ich, es macht keine zu‐ sätzliche Mühe, sich umzuziehen, und es frischt einen doch auch geistig richtig auf, wenn man zum Dinner in den Smoking schlüpft.« »Das weiß ich ja«, lächelte Molly, »und deshalb habe ich, solange Sie bei uns sind, das Dinner auf halb neun gelegt. 66
Aber Sie und John werden sich in das Gästebad teilen müs‐ sen, und es ist jetzt bereits halb acht.« Sie leerten ihre Gläser und folgten Molly aus dem Wohn‐ zimmer. Eine Stunde später fanden sie sich dort wieder ein. Mit heimlicher Belustigung stellte John fest, daß seine Mut‐ ter sich viel hübscher gemacht hatte als gewöhnlich. »Molly, meine Liebe, Sie sehen überwältigend aus!« rief C. B. »Wenn ich nicht wüßte, daß John Ihr Sohn ist, würde ich schwören, Sie seien keinen Tag älter als dreißig.« Molly lachte glücklich auf. »Sie sehen auch gar nicht übel aus. Kein Wunder, daß Sie sich so gern zum Dinner umzie‐ hen. Der Smoking macht Sie um mindestens zehn Jahre jünger.« »Ihr süßen Kinder«, schnurrte John und reichte ihnen ihre Cocktails. »Ich wünschte, ich wäre noch in eurem Alter. Dann hätte ich noch so viele neue Erfahrungen vor mir!« »Unverschämter junger Hund«, schalt C. B. gutgelaunt, und alle lachten. »Christina braucht aber lange zum Umziehen«, bemerkte Molly. »Wir wollen noch fünf Minuten auf sie warten.« Als sie bis dahin nicht erschien, schickte Molly John nach oben. Eine Minute später raste er die Treppe hinunter und rief: »Sie ist nicht da! Ihr Zimmer ist leer! Sie ist ver‐ schwunden!« VIII
»Haben Sie ein Telefonbuch da, Molly?« fragte C. B. »Ich suche eine Nummer. John soll Christina in ihrer Villa su‐ 67
chen, aber ich bezweifle, daß sie dort ist. Die de Grasses werden sie haben. Der junge Comte Jules sagte John heute morgen, sie hätten sich verpflichtet, sie vor dem 6. März nach England zu schaffen, und wir haben schon den drit‐ ten. Daher bleibt nicht mehr viel Zeit.« John stürzte davon. Molly brachte C. B. das Telefonbuch. »Da haben wir ihn! Malouet, Alphonse. Erinnern Sie sich noch an Malouet, Molly?« »An den Namen, ja. War das nicht der Polizei‐Inspektor, der während der Resistance in Nizza so gute Arbeit leiste‐ te?« »Das ist er. Der alte Junge ist seit ein paar Jahren pensio‐ niert. Offenbar lebt er jetzt draußen in Cimiez. Auch wenn er nicht mehr im Dienst ist, kann er mehr Fäden ziehen als irgend so ein Bursche, den ich nicht kenne, falls wir die Po‐ lizei hinzuziehen müssen.« Er blätterte von neuem in dem Telefonbuch. »Für den Fall, daß wir ihn heute Nacht nicht erreichen, sollte ich besser auch die Nummer der Präfektur von Nizza nachschlagen.« Er hatte sie gerade gefunden, als John hereingerannt kam. Atemlos stieß er hervor: »Es stimmt, die de Grasses haben sie! Jules hat sie vor etwa einer Stunde aus ihrer eigenen Villa geholt. Schnell! Ich hole den Wagen!« »Langsam!« mahnte der Colonel. »Berichte uns erst einmal alle Einzelheiten.« »Die alte Maria sagt, Christina sei um Viertel vor acht ins Haus zurückgekehrt. Sie lief nach oben und kam zwei Mi‐ nuten später wieder herunter. Sie trug einen kleinen Koffer und ging damit hinaus, kehrte aber sofort wieder um. Ma‐ 68
ria bemerkte, daß im Wohnzimmer das Licht eingeschaltet wurde. Durch ein Fenster sah sie Christina und einen Bur‐ schen, der der Beschreibung nach Jules war. Sie stritten über irgend etwas. Zwei Gläser standen auf dem Tisch. Maria hörte nicht, daß sie weggingen. Aber sie nimmt an, sie seien nicht viel länger als zehn Minuten im Wohnzim‐ mer gewesen. Zufällig blickte sie auf ihre Uhr, kurz bevor das Licht wieder ausging, und da war es noch nicht acht.« »Gut! Jetzt wissen wir wenigstens, welche Fragen wir zu stellen haben.« C. B. nahm den Telefonhörer ab. »Was haben Sie vor?« fragte John ungeduldig. »Die Polizei anrufen – oder vielmehr einen alten Freund von mir, der ein pensionierter Polizeioffizier von ganz be‐ sonderer Tüchtigkeit ist.« »Dann beeilen Sie sich um Gottes willen! Sie müssen jetzt schon ungefähr in St. Tropez sein. Wenn wir nicht sofort abfahren, kann er mit seiner verdammten Yacht längst in See gestochen sein, bis wir ankommen.« C. B. nannte die Nummer von Inspektor Malouets Wohnung. Dann bedeck‐ te er die Sprechmuschel mit der Hand und wandte sich zu John. »Hör mal zu, Partner. Solange ich es verhindern kann, wirst du deinen Kopf nicht in ein Wespennest ste‐ cken beziehungsweise in einer französischen Gefängniszel‐ le landen. Bis jetzt haben wir noch keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß Jules sie auf die Jacht gebracht hat, und . . .« »Wohin, zum Teufel, soll er sie sonst gebracht haben?« »Vielleicht in ein Versteck irgendwo zwischen Nizza und Toulon. Überleg doch, wenn er sie bis zum sechsten März nach England bringen muß, kann er das unmöglich auf 69
dem Seeweg tun. Wahrscheinlich wird er sie mit Drogen betäuben und sie dann mit einem Flugzeug nach Hause be‐ fördern lassen.« »Ja, aber daß er gestern abend versucht hat, sie auf die Yacht zu locken, ist der einzige Hinweis, den wir haben.« »Das stimmt, und wir werden dem nachgehen. Zuerst je‐ doch muß ich mein Telefongespräch führen.« »C. B., Sie machen mich wahnsinnig! Können Sie nicht spä‐ ter mit Ihrem Polizeifreund sprechen, falls wir Christina nicht auf der Yacht finden?« »Das reicht, John«, fiel Molly mit einiger Schärfe ein. »Co‐ lonel Verney weiß am besten, was zu tun ist.« »Verzeihung«, murmelte John. »Aber ich will verdammt sein, wenn ich Jules so einfach mit ihr verschwinden lasse!« Das Telefon gab schrille Pfeiflaute von sich. C. B. rief: »Al‐ lo!,Allo!« und wiederholte die Nummer, doch da sich am anderen Ende der Leitung nichts rührte, wandte er seine lächelnden grauen Augen wieder John zu. »John, wir haben strenggenommen überhaupt kein Recht, auf eigene Faust vorzugehen. Sie ist nicht mit Gewalt ent‐ führt worden. Sie ist aus eigenem freien Willen aus diesem Haus hinausmarschiert und hat eine Viertelstunde später ihre eigene Villa zusammen mit Jules verlassen. Dieser gilt als ehrbarer Bürger. Du bist nicht befugt, dich in seine An‐ gelegenheiten einzumischen.« »Ich bin Christinas Verlobter!« stellte John wütend fest. »Ja, und ich muß dich dafür loben, daß du auf diesen klu‐ gen Einfall gekommen bist. In Frankreich, wo eine Heirat viel enger mit Geld und Besitz verknüpft ist als in England, 70
hat ein Verlobter wesentlich mehr Rechte. Aber auch hier schließt das nicht ein, daß du ohne triftigen Grund in eine Privatwohnung eindringen beziehungsweise in diesem Fall die Yacht der de Grasses betreten darfst. Erst brauchen wir einen Durchsuchungsbefehl, und nachweisen, daß sie sich wirklich auf der Yacht befindet.« Wieder meldete sich das Telefon, und diesmal war es die von C. B. verlangte Nummer. Er nickte den anderen zu. »Wir haben Glück, es ist Malouet selbst.« Er sprach mehre‐ re Minuten lang in seiner eigenen Abart des Französischen, fließend, doch mit schauderhafter Aussprache. Er legte den Hörer auf. »Malouet bestätigt meine Ansicht. Sollten wir zufällig jemanden finden, der beobachtet hat, daß Christina mit Gewalt oder in bewußtlosem Zustand an Bord gebracht worden ist, werden die Behörden nichts ge‐ gen uns unternehmen. Aber sie wird die Yacht freiwillig betreten haben. Um alle schlimmen Folgen für John zu vermeiden, müßte er als ihr Verlobter eine eidesstattliche Erklärung abgeben, daß er Grund zu der Annahme hat, sie sei zu illegalen Zwecken auf die Yacht gelockt worden. Dann wird ein Durchsuchungsbefehl ausgestellt.« »Und dafür haben Sie zehn kostbare Minuten vergeudet!« bemerkte John sarkastisch. »Warum haben Sie nicht gleich Ihr Büro in Whitehall angerufen und um zweihundert Formulare zum Ausfüllen gebeten?« »Johnny!« rief seine Mutter aus. »Du wirst dich sofort ent‐ schuldigen!« »Entschuldigen Sie, C. B.«, brummte John mürrisch. »Aber um Himmels willen, lassen Sie uns etwas tun. 71
C. B. klopfte ihm gutmütig auf die Schulter. »In Ordnung, John. Du kannst jetzt laufen und den Wagen holen.« »Ich muß schnell noch einmal nach oben«, sagte Molly. John warf ihr einen schnellen Blick zu. »Willst du dich be‐ waffnen, Mumsie? Gut! Ich komme mit dir.« Seufzend entschied der Colonel, daß er ihnen folgen mußte. Er betrat Mollys Arbeitszimmer gerade in dem Augenblick, als sie sich vor einen Schrank kniete, auf dessen Boden eine Ansammlung höchst gefährlicher Gegenstände zu finden war: Pistolen, Bowie‐Messer, Granaten, eine Garotte, meh‐ rere Stilettos und Bleiknüppel, ein Totschläger und eine Stange Dynamit. C. B. sah Molly über die Schulter und fragte: »Ist an dieser Mills‐Bombe immer noch der Zünder dran?« »Natürlich!« antwortete Molly mit einem gewissen Stolz. »Andernfalls wäre sie ja ein unvollständiges Exemplar in meiner Sammlung.« »Sie sind wahnsinnig! Eines Tages wird ein Hausmädchen den glänzenden Einfall haben, sie abzustauben, und wenn sie den Stift herauszieht, geht die Bombe hoch.« »0 nein. Meine Sammlung ist mir so teuer, daß ich sie im‐ mer selbst abstaube«, gab Molly unbekümmert zurück. John stopfte in aller Eile 9‐mm‐Kugeln in das Reservema‐ gazin der größeren der beiden Automatiks. Mit einem überraschend schnellen und sicheren Zugriff nahm C. B. die Waffe an sich und steckte sie in seine eigene Tasche. »Nichts zu machen, Partner. Wenn du scharf bist, dir ein französisches Gefängnis von innen zu betrachten, ist das
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deine Sache. Aber ich werde es zu verhindern wissen, daß du mit einem Satz gleich auf die Guillotine springst.« Ärgerlich widersprach John: »Sie haben selbst gesagt, wenn jemand beobachtet hätte, daß sie schanghait worden ist, dürften wir die Yacht stürmen, ohne auf die Polizei zu war‐ ten. Der gesunde Menschenverstand verlangt, irgendeine Waffe mitzunehmen.« C.B. bückte sich und wählte einen Bleiknüppel aus. »Dann nimm den hier. Hau bloß niemandem auf den Kopf damit. Ein Schlag auf die Schulter genügt, um einen Mann für eine Woche ins Krankenhaus zu schicken.« Mit undankbarem Brummen steckte John den Knüppel ein. C. B. wandte sich Molly zu und nahm ihr die kleinere Au‐ tomatik ab, die sie gerade in ihrer Handtasche verstauen wollte. Mit mildem Vorwurf meinte er: »Häschen, ich kann Ihnen wirklich nicht erlauben, herumzulaufen und Leute abzuknallen.« Er nahm das Magazin heraus, gab ihr die Waffe zurück und setzte hinzu: »Aber allen Spaß will ich Ihnen nicht rauben. Jetzt können Sie nach Herzenslust die Pistole auf jedermann richten, und das wird genauso wir‐ kungsvoll sein.« »Ach bitte, Bill, nur eine Kugel! Es könnte doch sein, daß . . .« »Nun kommt endlich!« schrie John von der Tür her. Unterwegs nahm John den Fuß nicht vom Gas. Die Yacht war ausfindig gemacht. Aber was nun? Malouet war noch nicht da.
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»Von Nizza bis hierher braucht er bestimmt zwei und eine halbe Stunde«, gab C. B. zu bedenken. »Vor Mitternacht können wir ihn kaum erwarten.« »Und bis dahin kann die Yacht abgesegelt sein«, regte John sich auf. »Ich weiß«, antwortete der Colonel. »Jules wird sich sagen, daß es nicht mehr lange dauern kann, bis Verfolger auftau‐ chen.« »Also was ist Ihre Alternative dazu, auf Malouet zu warten und das Risiko einzugehen, daß die Yacht uns entkommt?« C. B. legte einen Finger an seine große Nase, blinzelte und flüsterte: »Mitfahren.« IX
John sah C.B. mit verwirrtem Stirnrunzeln an. »Wie sollen wir das denn fertigbringen?« Der Colonel schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, von ,Wir’ kann nicht die Rede sein. Ich bin Staatsbeamter und habe eine sehr fest umrissene Verantwortung. Wenn man mich hierbei erwischt und ich meinem Vorgesetzten nicht klar‐ machen kann, daß ich das Interesse Großbritanniens ver‐ folgt habe, dann wird die Hölle los sein. Und was schlim‐ mer ist, es würde die Lösung anderer Probleme, mit denen ich mich zur Zeit beschäftige, ernstlich behindern.« »Ich verstehe. Was soll ich tun?« fragte John. »Du mußt unbemerkt an Bord gehen.« »Und dann?«
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»Dann versteckst du dich. Ist die Yacht um Mitternacht noch hier, kommen wir mit Malouet, du kannst dich zeigen und Anspruch auf Christina erheben. Legt die Yacht bis dahin ab, fährst du als blinder Passagier mit.« »Aber sei vorsichtig, John«, flüsterte Molly ängstlich. »Du hast gar keine Erfahrung in solchen Sachen.« Er küßte sie schnell auf die Wange. »Sei unbesorgt, Mum‐ sie. Ich werde schon aufpassen.« John schaute in den schwarzen Abgrund hinunter, der zwi‐ schen dem Kai und der Reling der riesigen Yacht gähnte. Sein Herz verkrampfte sich. Er war wesentlich breiter, als er gedacht hatte. Drei Meter tiefer gurgelte das ölige Was‐ ser. Kam er nicht hinüber und fiel hinein, dann konnte sich das leicht als Todesfalle erweisen. Der Abstand zwischen Schiff und Kaimauer wirkte unten viel schmaler, und er könnte von Bug und Mauer zerquetscht werden. Jede Se‐ kunde war kostbar. Er überwand die Furcht und sprang. Der Sprung war zu weit. Statt mit den Händen, kam er mit dem Magen auf der Reling auf. Die Luft blieb ihm weg. Er schlug wild mit Armen und Beinen. Eine Sekunde lang war er in Gefahr abzustürzen, bevor er Halt fassen konnte. Ein verzweifeltes Zappeln rettete ihn. Er kippte vornüber, den Kopf nach unten, seine Beine nach oben, und er fiel auf das Deck. Erschreckt über den Lärm, den er verursacht hatte, kroch er hastig auf die nächste Deckung zu. Es war ein hölzerner Lukendeckel. John kauerte sich dahinter und überlegte, was er jetzt tun solle. Eigentlich hätte er unter Deck schlei‐ chen und nach einem Versteck suchen müssen, aber wäh‐ 75
rend er an der Reling zappelte, hatte er etwas entdeckt, das vom Kai aus nicht sichtbar gewesen war. Auf beiden Seiten des langen Achterdecks befanden sich drei große schräge Oberlichter, und die vier nächsten waren alle erleuchtet, woraus zu schließen war, daß sich in den Räumen darunter Leute aufhielten. Schlich er sich diesen Niedergang hinun‐ ter, mußte er fürchten, daß er sofort mit jemandem zu‐ sammenstieß. John spähte hinter dem Lukendeckel hervor. Vorn war alles still. In der Gegend der Brücke war es dunkler. John kroch aus seiner Deckung. Wenn es ihm gelang, unbemerkt bis zur Mitte des Schiffs zu kommen, würde er dort sicher eine andere Treppe finden. Er hielt sich steuerbords. Als er das erste Oberlicht erreich‐ te, hielt er an und sah hindurch. Unter ihm lag die Kombü‐ se. Der Koch und ein Steward aßen gerade zu Abend. Ge‐ rade wollte er weiter, als er ein Lachen hörte, das nur von Christina stammen konnte. Es kam von dem gegenüberlie‐ genden Oberlicht, das offenstand. Obwohl mit jeder Sekunde die Gefahr größer wurde, daß der Wachtposten ihn entdeckte, kroch John nach Backbord hinüber. Durch das Oberlicht blickte er in einen Salon, der auf der Backbordseite ebensoviel Platz einnahm wie auf der Steuerbordseite der Speiseraum und die Kombüse zu‐ sammen. Wenn er den Kopf schief hielt, konnte er sowohl Jules als auch Christina sehen. Sie saß in einer Ecke und hatte ihre Beine auf die Bank ge‐ zogen. Ihr gegenüber versank Jules in einem Sessel. Zwi‐ schen ihnen auf einem Tischchen standen zwei tulpenför‐ 76
mige Gläser und eine Flasche Grand Marnier. Sonst war niemand anwesend, und sie plauderten und lachten mitei‐ nander wie alte Freunde. X
Für John gab es kein Halten mehr. Er stürmte die Treppe hinunter, drehte den Schlüssel in der Tür zur Kombüse um, riß die zum Salon auf, trat ein und machte sie hinter sich zu. Aus Mangel an Erfahrung verschenkte er den einzigen Vor‐ teil, den er hatte. Jules saß mit dem Rücken zur Tür. Ein Gangster oder ein ausgebildeter Agent hätte den Knüppel bereits beim Betreten des Salons in der Hand gehalten und Jules gar keine Gelegenheit mehr gegeben, sich umzudre‐ hen. John dagegen tat erst ein paar Schritte vor und mußte dann stehenbleiben und den Knüppel aus dem Hosenbund zerren. Diese kurze Verzögerung genügte Jules vollauf um hochzuspringen, John zu erblicken und ihm den Sessel, in dem er gesessen hatte, vor die Füße zu werfen. John stolperte, fiel halb über den Sessel und warf die Arme nach vorn. Sofort verpaßte Jules ihm mit der rechten Faust einen heftigen Schlag ins Gesicht und umklammerte mit der Linken Johns rechtes Handgelenk. Er drehte es so hef‐ tig um, daß John den Knüppel fallen ließ. Ein zweiter Hieb traf Johns linkes Auge. Einen Augenblick rangelten sie noch mit dem Stuhl zwi‐ schen sich, dann ließ Jules Johns Handgelenk los und stieß ihn zurück. John sah sich nach dem Knüppel um, doch der 77
war unter ein Sofa gerollt. Jules hatte das bemerkt. Nun, da er seinen Gegner entwaffnet hatte, fühlte er sich als Herr der Situation. Nicht einmal sein Atem ging schneller. Mit einem belustigten Lächeln erklärte er: »Dachte ich mir doch, daß du trotz meiner Warnung auf‐ kreuzen würdest. Ich sagte es meinem Vater, und dieser meinte, das sei völlig gleichgültig. Natürlich hatte er recht, denn du kannst keinerlei Anklage gegen uns erheben.« »Sei da nur nicht zu sicher«, zischte John. Seine Augen wanderten zu Christina hinüber. Als er in den Salon geplatzt war, hatte sie ihre seidenbe‐ strumpften langen Beine von der Bank genommen und sich, eine eben angezündete Zigarette zwischen den Fin‐ gern, halb erhoben, doch dann hatte sie sich wieder hinge‐ setzt. Jetzt hatte sie beide Ellenbogen auf den Tisch ge‐ stützt, rauchte in Gemütsruhe und beobachtete die beiden Männer, als sei sie Zuschauerin bei einem Theaterstück. Jules lachte. »Wenn du dir einbildest, mein charmanter Gast werde mit dir an Land gehen und der Polizei erzäh‐ len, ich hätte sie mit Gewalt hergebracht, irrst du dich ge‐ waltig. Du hingegen bist heimlich an Bord gekommen und hast mich angegriffen. Wir warten nur noch auf meinen Va‐ ter, bis wir in See stechen. Ich werde ihm die Entscheidung überlassen, ob wir dich ins Wasser werfen lassen oder der Polizei übergeben.« John war inzwischen wieder zu Atem gekommen, und nun, wo er sich in wirkliche Schwierigkeiten gebracht hat‐ te, arbeitete sein Gehirn mit unerwarteter Klarheit. Es war offensichtlich, daß er von Christina keine Hilfe zu erwarten 78
hatte. Aber wenn es ihm gelang, um den Sessel herumzu‐ kommen, hatte er eine Chance, sich auf Jules zu stürzen und ihn außer Gefecht zu setzen. Ohne die Augen von John abzuwenden, befahl Jules: »Christina! Gleich hinter Ihnen ist ein Klingelknopf. Bitte läuten Sie nach dem Steward. Er ist ein richtiger Gorilla, daher genau der Richtige für unseren ungebetenen Gast. Wir können dann unser unterbrochenes Gespräch fortset‐ zen.« »Nein«, antwortete Christina stillvergnügt, »mir macht das Spaß. Ihr beide könnt es untereinander ausmachen.« Jules, in seiner Selbstgefälligkeit erschüttert, warf ihr einen überraschten Blick zu. Das gab John die Gelegenheit, auf die er gehofft hatte. In derselben Sekunde, in der Jules die Augen abwandte, flog der Sessel zur Seite, und John stürz‐ te sich auf Jules. John war der leichtere von beiden, aber er war kein schlechter Boxer. Jules riß die Fäuste hoch und konnte die ersten Schläge abwehren. Dabei wurde er in den rückwär‐ tigen Teil des Salons gedrängt. John landete eine Linke an seinem Kinn, und Jules’ Kopf knallte gegen die Holztäfe‐ lung. Der Comte riß den ’Mund auf, um nach Hilfe zu schreien. Eine Rechte in den Magen hinderte ihn daran. Keuchend krümmte Jules sich zusammen. Er war im Au‐ genblick so völlig kampfunfähig, daß es John widerstrebte, noch einmal zuzuschlagen. Es wäre jedoch Wahnsinn ge‐ wesen, auf die Chance, den Gegner endgültig fertigzuma‐ chen, zu verzichten. Einen Schritt zurücktretend, traf er mit aller Kraft die Stelle unter Jules’ linkem Ohr. Der Franzose 79
kippte zur Seite, schlug mit dem Kopf gegen ein Stuhlbein und blieb bewegungslos liegen. »Gut gemacht!« keuchte Christina atemlos, lief auf John zu, warf ihm die Arme um den Hals und preßte ihren Mund auf den seinen. Es war ein Kuß von der Art, die einen Mann von Sinnen bringen kann, und John war keine Aus‐ nahme. Aber sein Verstand sagte ihm, daß jetzt keine Zeit für Leidenschaft war. Außerdem handelte es sich hier nicht um ein normales Gefühl. Es war Nacht, und Christina war nicht ihr wirkliches Selbst. John wurde beinahe übel bei dem Gedanken, daß Christina ihren glühenden Körper in diesem Augenblick an Jules drängen würde, wenn er der Sieger gewesen wäre. Er faßte ihre Handgelenke, löste ihre Arme von seinem Hals, schob sie zurück und rief: »Christina! Nimm dich zu‐ sammen! Wir müssen weg von hier, und zwar sofort!« Das schien sie zu ernüchtern. »Gut«, murmelte sie, aber als sie sich umwandte, um von einer Sessellehne einen schwe‐ ren Tweedmantel aufzunehmen, warf sie ihm einen ver‐ drossenen Blick zu und meinte: »Was ist denn so eilig, jetzt, wo du die Sache mit Jules geregelt hast?« Er half ihr in den Mantel. »Die Gründe werden nachgelie‐ fert.« Er hielt es für besser, sie aufzuheitern, als sie einzu‐ schüchtern. »Jedenfalls wird Zeit genug sein, daß du mir dies Ding ab‐ nehmen kannst.« Er hatte mit Erstaunen bemerkt, daß sie Handschuhe trug. Sie streifte den linken ab und streckte ihm ihre Hand hin. »Meinst du meinen Ring?« fragte er verwirrt. 80
»Natürlich, du Dummkopf!« Sie wandte die Augen ab. »Er bereitet mir den ganzen Abend Schmerzen. Es ist, als trüge ich ein glühendes Band um den Finger. Ich kann ihn nicht einmal ansehen, denn wenn ich es tue, blendet er mich.« John starrte auf den Siegelring. Blenden tat er ihn nicht, aber das Gold hatte einen ungewöhnlich leuchtenden Schein, den er noch nie bemerkt hatte. Der Knöchel über dem Ring war rot und geschwollen. »Wie dich sehe, hast du selbst schon vergeblich versucht, den Ring abzuziehen. Also wird es mir erst recht nicht ge‐ lingen.« »Das war Jules«, antwortete sie. »Ich habe ihn darum gebe‐ ten und ihm angeboten, ihn zu küssen, wenn er es schaffe. Er hat es nicht geschafft, und so habe ich ihn auch nicht ge‐ küßt. Aber du hast mir den Ring angesteckt, und deshalb mußt du ihn auch wieder abbekommen.« John fuhr es durch den Sinn, daß der Ring vielleicht einen kleinen Schutz gegen das Böse täte und ihre bei Nacht auf‐ tretende Neigung sich selbst in die Hände ihrer Feinde zu liefern, dämpfen würde. Daher schüttelte er den Kopf. »Nein. Ich nehme dir den Ring morgen früh ab, wenn du es möchtest, aber jetzt haben wir keine Zeit dazu. Komm!« Er faßte ihren Arm und zog sie zur Tür. »Jules kann uns nicht mehr aufhalten, aber andere. Der Kapitän kann je‐ manden schicken, und sobald Jules gefunden wird, geht die Jagd los. Alarmklingeln, Scheinwerfer und Gott weiß was sonst noch. Wir müssen vorher an Land sein.« Der Korridor war leer und still. Der Koch und der Steward konnten weder den Kampf im Salon gehört noch bereits 81
gemerkt haben, daß sie eingeschlossen waren. John zerrte Christina die Treppe hinauf. Als sein Kopf in Höhe des Decks war, erblickte er vor einem Poller auf dem Kai einen Mann. Er machte den Eindruck, als warte er auf den Befehl, die Leinen der Yacht loszuwerfen. Aber das Schiffsdeck lag immer noch im Dunkeln. »Ganz ruhig jetzt«, flüsterte John Christina zu. »Es muß so aussehen, als wären wir an Bord zum Dinner gewesen und ich brächte dich jetzt nach Hause. Wenn wir Glück haben, hält der Wachtposten mich für Jules. Am besten wäre es, wir könnten über irgend etwas lachen. Nur fällt mir im Augenblick absolut nichts Komisches ein.« »Aber mir«, gab Christina leise zurück, während sie über das Deck schritten. Laut fuhr sie fort: »Kennst du die Ge‐ schichte von den fünf Bräuten, die sich von den Ereignissen in der Hochzeitsnacht erzählten? Die erste sagte: ,Mein Mann war genau wie Roosevelt, er . . .’« Der Rest des Satzes ging in dem Hupen eines Wagens un‐ ter. Im nächsten Augenblick durchdrangen seine Schein‐ werfer die Dunkelheit auf dem Kai. Der Fahrer brachte den Wagen genau vor der Gangway zum Stehen. »Verdammt!« rief John. »Das wird der Marquis sein! Schnell, wir müssen uns verstecken!« Es war zu spät. Von der Brücke her kam ein schrilles Pfei‐ fen, und alle Lichter gingen an. Sie standen mitten auf dem Deck im hellsten Licht. Aus dem Wagen stiegen zwei große Männer und ein klei‐ nerer. Ein bärtiger Offizier, der der Kapitän sein mochte, beugte sich über die Reling der Brücke und sah zu ihnen 82
herüber. Ein zweiter Mann stand neben dem Kapitän. Auf beiden Seiten der Gangway postierte sich je ein Seemann. John warf hastig einen Blick zurück. Er hätte mit drei Schritten die Reling vorne erreichen, hinüberklettern und zurück auf den Kai springen können. Nun wußte er ja, daß der Abgrund nicht unüberwindlich war. Aber die Dinge lagen anders als vorhin. Auf der Yacht brauchte bloß jemand zu rufen: »Haltet den Dieb!«, und der Mann, der an dem Poller stand, würde ihn in dem Augen‐ blick, wo seine Füße den Boden berührten, in Empfang nehmen. Und Christina? Ihre Beine waren lang genug für einen Sprung, doch mit dem schweren Mantel konnte sie es nicht schaffen. Christina hatte währenddessen ein paar Schritte vorwärts getan, und die neuangekommene Gruppe schritt ihr über das Deck entgegen. John rechnete damit, in der nächsten Minute angegriffen zu werden. Doch der Marquis verhielt sich ganz anders, als er erwartet hatte. Der Marquis zog den Hut und verbeugte sich lächelnd vor Christina. »Verzeihen Sie mir, Mademoiselle, daß eine er‐ müdende Geschäftsangelegenheit mich hinderte, Ihnen schon früher Gesellschaft zu leisten. Und das ist Mr. Foun‐ tain, nicht wahr? Welch ein unerwartetes Vergnügen! Als wir uns neulich in Cannes trafen, wußte ich nicht, daß Sie ein alter Freund von Jules sind. Er hat sich doch gut um Sie beide gekümmert?« John war so verwirrt, daß ihm nicht gleich eine Antwort einfiel. Die wilde Hoffnung stieg in ihm auf, der Marquis habe wirklich das gemeint, was er gesagt hatte. Hastig stieß 83
er hervor: »Danke, Sir. Ja, es war großartig. Es tut mir leid, daß wir gerade jetzt, wo Sie eintreffen, gehen müssen.« Der Marquis hatte Christinas Hand ergriffen und führte sie galant an seine Lippen. In diesem Augenblick klang von unten ein Hämmern herauf. Der Koch und der Steward mußten festgestellt haben, daß die Kombüsentür von außen abgeschlossen war. Der Marquis zuckte die Schultern. »Ich fürchte, es sind ein paar recht undisziplinierte Burschen in der Mannschaft. Zweifellos ist das der Grund, daß Jules Sie nicht begleitet. Er wird sich gerade bemühen, einen Streit zu schlichten. Ich bin untröstlich, daß Ihr Besuch einen so unerfreulichen Abschluß findet. Erlauben Sie mir, Sie an die Gangway zu führen.« Erzog auf väterliche Art Christinas Hand durch seinen Arm und schritt mit ihr auf die Gangway zu. John traute seinen Augen und Ohren kaum. Automatisch ging er hinterher und fand sich inmitten der Gruppe, die dem Marquis folgte. Darunter waren die beiden Männer, die mit im Auto gewesen waren, der Kleine und ein großer R.A.F.‐ Typ mit buschigem Schnurrbart. Der Marquis war mit Christina an der Gangway ange‐ kommen. Jetzt blieb er stehen, sah zurück, zeigte mit seiner freien Hand auf John und rief »Werft ihn durch die Luke!« XI
Ehe John noch einen Finger heben konnte, waren der Mann mit dem Schnurrbart und einer der Seeleute über ihm. Vor der Kajütentreppe gab es eine nur kurze Schlägerei. Bald 84
waren Johns Arme mit festen Griffen umklammert, und er wurde vorwärts gezerrt. Im nächsten Augenblick flog er mit dem Kopf voran die Treppe hinunter. Seine Angreifer folgten ihm. Einer trat ihm in die Rippen, zwei andere packten seine Schultern und rissen ihn hoch. Schwankend hing er zwischen ihnen. Der Mann mit dem Schnurrbart landete seine Faust auf Johns Kinn. Sterne und Kreise tanz‐ ten vor einem tiefschwarzen Hintergrund. Dann gaben Johns Knie nach, und er verlor das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, fühlte er zunächst nichts ande‐ res als ein Hämmern in seinem Kopf, einen schrecklichen Schmerz in seinen Rippen, einen ebensolchen im rechten Unterarm und verschiedene andere wunde Stellen im Ge‐ sicht und am Körper. Er erinnerte sich, wie es dazu ge‐ kommen war, und es wurde ihm klar, daß er sich immer noch an Bord der Yacht befand. Eine Weile blieb er still liegen. Das Schiff stampfte leicht, mußte also jetzt auf See sein. Nach und nach wandte er seine Aufmerksamkeit seiner Umgebung zu. Er lag auf einer harten Koje in einer engen, trübe beleuchteten Kabine. Sie hatte kein Bullauge, also be‐ fand sie sich unter der Wasserlinie. Das Licht fiel durch ein eisernes Gitter in der Tür. Wahrscheinlich wurde dieser Raum nicht zum ersten Mal als Gefängnis benutzt. Deshalb also, schloß er, hatte man sich nicht die Mühe gemacht, ihm Hände und Füße zu fesseln. Mühsam erhob er sich und ging an die Tür. Sie war aus Stahl und hatte an der Innenseite weder einen Riegel noch eine Klinke und nicht einmal ein Schlüsselloch. An Möbeln 85
war in der Kabine nur ein Stuhl und ein kleines, schmutzi‐ ges Waschbecken mit einem zersprungenen Spiegel darü‐ ber vorhanden. In der Fassung an der Decke fehlte die Glühbirne. Aber allmählich gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht. Vor dem Spiegel inspizierte er sein Ge‐ sicht erst von der einen und dann von der anderen Seite. Sein Haar war zerrauft, und er war sehr schmutzig. Die linke Seite seines Kinns war angeschwollen und empfind‐ lich, und da außerdem sein linkes Auge halb geschlossen und verfärbt war, was von Jules’ Schlag herrührte, sah sein Gesicht ganz schief aus. John ließ aus dem mit Knopfdruck zu betätigenden Hahn Wasser in das Becken laufen und wusch sich mit seinem Taschentuch seine Wunden. Das kalte Wasser klärte seinen Kopf ein bißchen, aber gegen seine Verletzungen half es nichts. Nachdem er festgestellt hatte, daß seine Taschen nicht ge‐ leert waren, fiel es ihm ein wenig verspätet ein, auf die Uhr zu sehen. Er hielt sie dicht an das Gitter in der Tür. Das Deckglas war zerbrochen, doch sie ging noch. Zu seiner Überraschung war es erst zwanzig Minuten nach elf. Da es nicht gut möglich war, daß er mehr als zwölf Stunden be‐ wußtlos dagelegen hatte, mußte die Yacht eben erst den Hafen verlassen haben. Welches Ziel sie auch haben moch‐ te, es würde noch Stunden dauern, bis sie es erreichte. John entschied, daß er sich am besten wieder auf die Koje legte. Er mußte eingeschlafen sein, denn er wachte davon auf, daß die Stahltür der Kabine aufschwang und klirrend an die Wand schlug. Zwei Seeleute mit gewaltigen Muskeln 86
und harten Augen standen im Eingang. Der eine winkte ihm herzukommen. »Bleiben Sie zwischen uns, die Hände an der Hosennaht«, befahl er. »Sonst geht es Ihnen schlecht.« Die Schiffsmotoren schwiegen, und die einzige Bewegung war ein leichtes Steigen und Fallen. Sie mußten in einem Hafen oder einer geschützten Bucht Anker geworfen ha‐ ben. John warf rasch einen Blick auf seine Uhr. Es war Vier‐ tel nach drei. Danach mußten sie vierzig bis fünfzig Meilen an der Küste entlanggefahren sein, nur wußte er natürlich nicht, in welcher Richtung. Offensichtlich hatte es keinen Sinn, sich zu widersetzen. Deshalb ließ John sich schwei‐ gend von den beiden Seeleuten an Deck bringen. Beim Licht der Sterne erkannte John, daß sie sich tatsäch‐ lich in einer Bucht befanden. Er wurde an Land gebracht. Der Sprecher der beiden Seeleute zog ein häßlich ausse‐ hendes Messer hervor. »Sollten Monsieur den Wunsch verspüren, schwimmen zu gehen, werden Sie mit dem hier in der Leber das Wasser erreichen. So lautet mein Befehl.« Der Mann mußte der Meinung sein, für einen Mann‐ schaftsdienstgrad schicke es sich nicht, die Kabine des Mo‐ torbootes zu betreten, denn er schob John zum Bug hin, ließ ihn sich mit dem Rücken gegen die Kabine setzen und nahm neben ihm Platz. Einen Augenblick später hörte John Stimmen, darunter die von Christina. Also hatte der Mar‐ quis sie nicht mit dem Auto weggebracht, sondern sie auf der Yacht behalten!
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Sofort erwachte John aus seiner Lethargie. Bisher hatte er geglaubt, er werde vielleicht mehrere Tage festgehalten werden oder doch wenigstens solange, bis Christina auf dem Weg nach England war. Er hatte damit gerechnet, er werde sie niemals wiedersehen. Aber jetzt schien es, als würden sie beide zu dem Haus gebracht, dessen Lichter durch die Dunkelheit schimmerten. Vielleicht bekam er ei‐ ne letzte Chance, sie zu retten oder alleine zu fliehen und C. B. zu benachrichtigen, wo sich Christina befand, ehe sie weitertransportiert wurde. Als sie zwei Drittel des Weges zum Ufer zurückgelegt hat‐ ten, wurden diese Hoffnungen mit einem Schlag vernichtet. Das Motorboot fuhr an einem kleinen Wasserflugzeug vor‐ über. John mußte sofort an den großen Mann mit dem bu‐ schigen Schnurrbart denken. Er sah wie ein typischer Pilot aus, und sicher war das sein Flugzeug. Wahrscheinlich würde es mit Christina an Bord im Morgengrauen starten. In einer so kurzen Zeit war es unmöglich, sie zu retten oder C. B. und Inspektor Malouet herbeizuholen. Das Boot steuerte einen kleinen Privathafen an, der von ei‐ ner langen, gebogenen Mole gebildet wurde. Die Gesell‐ schaft, die in der Kabine gesessen hatte, stieg zuerst aus. John stellte fest, daß sie aus Christina, dem Marquis, Jules, dem Piloten und dem kleinen Mann, der wie ein Kammer‐ diener aussah, bestand. Johns Begleiter zeigte erneut sein Messer und bedeutete ihm, den anderen zu folgen. Durch ein Tor in einer niedrigen Mauer betraten sie, der Marquis und Christina an der Spitze, einen Garten. Wegen der Bäume war es hier dunkler als auf dem Wasser, aber 88
John konnte genug sehen. Am Ende des leicht ansteigenden Grundstücks stand das Haus. Es war ein mit Giebeln ver‐ ziertes Chateau aus dem achtzehnten Jahrhundert. Die Eingangstür führte in eine Halle mit Steinfußboden und niedrigem Deckengewölbe. Sie stiegen eine Treppe mit schmiedeeisernem Geländer hinauf. Oben angekommen, öffnete der Marquis den Flügel einer hohen weißen, schwer vergoldeten Doppeltür und ließ Christina mit einer Ver‐ beugung den Vortritt in einen hell erleuchteten Salon, der mit echten Louis‐Seize‐Möbeln eingerichtet war. Die ande‐ ren folgten. Zu dem Seemann, der mit John den Schluß machte, sagte Jules: »Sie können jetzt gehen, Chopin. Monsieur Upson und ich werden uns um Ihren Gefangenen kümmern.« Inzwischen sprach der Marquis mit dem kleinen Mann, der ganz bestimmt ein Kammerdiener war. John hörte: »Frederick, sehen Sie nach, ob in dem du‐Barry‐Zimmer alles in Ordnung ist. Mademoiselle wird sich vor ihrer Rei‐ se vielleicht gern ein bißchen ausruhen wollen. Dann tref‐ fen Sie unten die Vorbereitungen für den Aufenthalt von Mr. Fountain. Er wird für einige Tage unser Gast sein.« Diese Anweisungen bestätigten Johns Verdacht, daß Chris‐ tina innerhalb weniger Stunden mit dem Wasserflugzeug weggebracht werden sollte. Zum ersten Mal, seit sie auf der Yacht getrennt worden waren, konnte er sie richtig anse‐ hen. Sie hielt den Kopf halb von ihm abgewendet, doch ih‐ re Stimmung erkannte John auch so. Ärgerlich fragte sie den Marquis: »Wohin schicken Sie mich?« 89
»Nach England, Mademoiselle.« Er wies auf den Piloten, der jetzt nachlässig an einem Marmortisch lehnte. »Mr. Reg Upson habe ich Ihnen bereits vorgestellt. Er war im Krieg ein As unter den Fliegern. Sie brauchen deshalb um Ihre Sicherheit auf dem Flug nach Hause keine Sorge zu haben.« Jules und John standen immer noch in der Nähe der Tür. John schien es eine gute Gelegenheit zu sein, daß die Auf‐ merksamkeit aller Anwesenden auf Christina gerichtet war. Schnell tat er einen Schritt zurück und griff nach der Tür‐ klinke. Aber Upson war noch schneller. Er riß eine kleine Automa‐ tik aus seinem Schulterhalfter und rief. »Halt, oder ich schieße!« Angesichts der Pistole ließ John die Klinke wieder los und zuckte resigniert die Schultern. Jules packte ihn beim Arm, zog ihn in die Mitte des Salons und drückte ihn in einen Sessel. Der Flieger legte seine Automatik auf die Tischplatte und erklärte mit schleppender Stimme: »Gut, daß Sie vernünftig reagiert haben. Sonst hätte ich Sie in die Wade geschossen.« John gab heftig zurück: »Wenn Sie wirklich ein R.A.F.‐ Offizier sind, sollten Sie sich schämen.« »Von irgendwas muß man leben«, meinte Upson unge‐ rührt. »Und ich werde verdammt gut dafür bezahlt, daß ich auf Unruhestifter wie Sie aufpasse.« Christina starrte immer noch den Marquis an. Plötzlich rief sie: »Ich will nicht nach Hause geschickt werden! Ich will hier in Südfrankreich bleiben!«
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»Auf Ihre Wünsche können wir keine Rücksicht nehmen, Mademoiselle«, antwortete der Marquis kalt. »Sie werden genau das tun, was man Ihnen sagt.« Sie stand nur einen Schritt von Upson entfernt. Dieser wandte sich ihr zu und sagte: »Und solange Sie in meiner Obhut sind, Fräulein, versuchen Sie nur nicht, irgendwel‐ chen Blödsinn anzustellen. In einem kleinen Flugzeug wie dem meinen kann ich das nicht zulassen. Wenn Sie sich nicht ruhig verhalten, bekommen Sie eins auf Ihre Stubsna‐ se, aber so, daß Sie es fühlen. Verstanden?« Mit funkelnden Augen fauchte sie: »Ich komme nicht mit Ihnen! Ich kratze Ihnen die Augen aus, wenn Sie mich zwingen wollen!« Upson sah seinen Arbeitgeber an. »Monsieur le Marquis, Sie werden mir beipflichten, daß es gefährlich wäre, sie in diesem Zustand an Bord zu bringen. Darf ich vorschlagen, daß sie eine Spritze mit einem Betäubungsmittel be‐ kommt?« Der Marquis nickte. Jules fiel ein: »Wir dachten uns, daß so etwas notwendig werden könnte. Es wird vor dem Start erledigt.« Christina zeigte die Zähne. »Das lasse ich mir nicht gefal‐ len! Dem ersten, der mich berühren will, zerfetze ich das Gesicht!« Nach einer Pause setzte sie in ganz anderem Ton hinzu: »Ich werde nur dann gehen, wenn Sie John Fountain mit mir kommen lassen.« »Das ist unmöglich«, erklärte der Marquis fest.
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Jules drehte sich zu John um. »Ich kann dir ebensogut er‐ zählen, was wir mit dir vorhaben. Ich warnte dich ja, daß ...« Da feuerte Christina auf den Marquis einen Schuß ab. XII
John hatte nicht gesehen, wie Christina die Pistole von dem Marmortisch nahm. Er sah Jules an, und Jules, der Marquis und Upson sahen alle John an. Diesen Moment hatte Chris‐ tina ausgenutzt. Gleichzeitig mit dem Krachen des Schusses griff der Mar‐ quis nach seiner rechten Schulter. Er taumelte zurück und brach auf einem Louis‐Seize‐Sofa zusammen. Das war sein Glück, denn Christina drückte ein zweites Mal ab. Die Ku‐ gel schlug in den Gobelin hinter seinem Kopf. Upson reagierte als erster. Er schlug nach Christinas Kopf, doch sie duckte sich und richtete die Pistole auf ihn. In ih‐ ren Augen stand Mord. Er erbleichte und streckte in einer sinnlosen Gebärde seine Hände aus, als wolle er die Kugel abwehren. Christina war nicht viel mehr als einen Meter von ihm ent‐ fernt, und Upson wäre sicherlich erschossen worden, hätte John ihn nicht in diesem Augenblick ins Gesicht geschla‐ gen. Upson verlor beinahe das Gleichgewicht und drehte sich. Christinas dritte Kugel pfiff harmlos über seine Schul‐ ter hinweg. Jules stand neben dem Tisch mit den Getränken. Er packte eine Flasche Dubonnet am Hals und warf damit nach 92
Christina. In der Luft flog der Korken heraus, und die kleb‐ rige Flüssigkeit bespritzte ihr Gesicht und ihren Hals, aber die Flasche verfehlte sie. Mit einem Wutschrei raste sie auf ihn zu und feuerte im Laufen. Mit außergewöhnlicher Behendigkeit warf er sich auf die Seite, drehte eine Pirouette wie ein Ballettänzer und trat ihr gegen den Oberschenkel. Christina fiel hin, und die Pistole krachte zum fünften Mal. Ihr vierter Schuß war an Jules vorbeigegangen, aber der fünfte hatte eine unerwarte‐ te Wirkung. Der Kammerdiener öffnete gerade die Tür und schaute herein. Die unabsichtlich abgeschossene Kugel zer‐ splitterte das Holz nur einen Zentimeter von seinem Kinn entfernt. Mit vor Angst hervorquellenden Augen riß er den Kopf zurück und knallte die Tür zu. Christina lag der Länge nach auf dem Fußboden. Jules rannte zu ihr hin, aber er stieß mit John zusammen. Jules fiel nach hinten und schlug mit dem Kopf auf das Parkett. Er rollte weiter, kam mühsam auf die Knie und klammerte sich an einem Sessel fest. Aber zu mehr war er nicht mehr fähig. Christina war wieder aufgestanden. Die Automatik hielt sie noch fest in der Hand. Auch der Marquis war schwankend auf die Füße gekommen und riß mit seinem gesunden Arm an einem seidenen Klingelzug. Christina war ihm schon ganz nahe. Sie richtete die Pistole auf sein Herz. Gerade noch rechtzeitig, um sie an einem Mord zu hindern, schlug John die Waffe zur Seite. Die Kugel zer‐ schmetterte die Mittelscheibe eines Glaskabinetts, in dem ein kostbares Sevres‐Speiseservice stand.
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In das Klirren von Glas und Porzellan mischte sich das Donnern über das Parkett laufender Füße. Von hinten rannte Upson auf John und Christina zu. Er hielt einen Ses‐ sel über seinem Kopf. Beide fuhren herum. Zeit zum Aus‐ weichen war nicht mehr, ja, Christina hatte nicht einmal mehr Zeit, ihre Pistole zu heben. John gab ihr einen Stoß, daß sie auf eine Chaiselongue fiel. Er senkte den Kopf und rammte ihn dem Flieger in den Magen. Upson ließ den Stuhl fallen. Er krachte hinter Johns Rücken zu Boden. John gelang es, auf den Füßen zu bleiben, aber Upson brach zu‐ sammen und krümmte sich vor Schmerzen. Seit Christinas erstem Schuß waren nicht mehr als eine oder zwei Minuten vergangen, doch schon hörte man, wie sich eilige Schritte der Tür näherten, durch die der Kam‐ merdiener seinen Kopf gesteckt hatte. John faßte Christina am Arm, zog sie auf die Flügeltür zu, durch die sei einget‐ reten waren, und rief: »Schnell! Die Diener kommen! Hier entlang, oder sie fan‐ gen uns!« Christina lief hinaus. John folgte ihr. Er hatte die Geistesge‐ genwart, den großen, verzierten Schlüssel, der im Schloß steckte, umzudrehen. Mit drei Schritten war er an der kur‐ zen Steintreppe. Christina war schon halb hinuntergelau‐ fen. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus und fiel die letzten Stufen hinunter. »Hast du dich verletzt?« keuchte John und half ihr auf die Füße. Sie versuchte ein paar Schritte und verzog schmerzlich das Gesicht. »Der Knöchel ist mir umgeknickt.« 94
Sie hatte die kleine Automatik fallen lassen, aber es hatte sich kein Schuß gelöst. John bückte sich, hob sie auf, legte die Sicherung um und steckte die Pistole in die Tasche. »Wirst du laufen können?« »Es muß gehen!« Christinas Augen blitzten vor Entschlos‐ senheit. »Stütze dich auf meine Schulter!« Sie legte einen Arm um seinen Hals. Als sie die Halle durchquert hatten und die Eingangstür öffneten, hörten sie das Hämmern an die Tür des Salons und aufgeregtes Schreien. »Marcel! Henri! Fre‐ derick!« brüllte Jules. »Wo, zum Teufel, bleibt ihr?« Der Garten kam den Flüchtlingen nach dem hell erleuchte‐ ten Raum stockfinster vor. Der Weg, auf dem sie gekom‐ men waren, führte zum Hafen, und dort war keine Hilfe zu erwarten. John hielt es für besser, nach einem Seitenein‐ gang Ausschau zu halten. Er bog nach rechts und zog Christina bis zur Ecke des Gebäudes. Dort schloß sich eine Mauer an, in der ein Tor zu den Ställen führte. Als sie den Torbogen erreicht hatten, waren die Fenster des Salons aufgerissen worden, und mehrere Personen waren auf den Balkon gerannt. Jules rief den Dienern zu: »Hinaus in den Garten! Beeilt euch! Schnell!« John stieß das Tor auf. Im gleichen Augenblick hörten sie ein wütendes Bellen, und ein großer Wolfshund sprang auf sie zu. Christina schrie, und John schloß das Tor schnell wieder. Zwei Männer, die gerade aus der Eingangstür stürzten, folgten dem Lärm und rannten in Richtung der Ställe los.
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John und Christina waren schon auf einem Pfad ver‐ schwunden, der an der Seitenmauer des Gartens entlang‐ führte. Vom Chateau war er durch Bäume und dichte Bü‐ sche verdeckt. Fünfzig Meter weiter stieß John auf das, was er sich verzweifelt gewünscht hatte: ein Seitentürchen. Und es war nicht verschlossen. Er und Christina, die sich immer noch auf ihn stützte, traten hinaus ins Freie. Ein Blick nach links und nach rechts, und Johns Herz sank. Sie standen auf einer Straße zwischen zwei hohen Mauern. Nirgends war eine Nische, und hinter sich hörten sie die Schritte ihrer Verfolger. Christina wimmerte vor Schmerz. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. John zog sie zurück und flüsterte: »Wir müssen uns verste‐ cken. Das ist unsere einzige Chance.« Er ließ das Türchen weit offen und führte Christina ein Stück weiter den Gartenpfad hinunter, wo sie sich in den Büschen verbargen. Ihre Herzen klopften. Sie versuchten, ihren keuchenden Atem zu dämpfen. Das alles geschah gerade rechtzeitig, denn schon näherten sich ihre Verfolger. Wie John gehofft hatte, ließen sie sich durch das offene Tor täuschen und rannten hinaus. John und Christina schlichen weiter. An der Mauerecke ragte über ihnen ein Gebilde in den Sternenhimmel, das wie ein Quadrat mit einem Dreieck darauf aussah. Eine Se‐ kunde später hatte John erkannt, was es war. »Das ist ein Gazebo«, flüsterte er. »Wenn wir Glück haben, werden sie denken, wir seien über die Straße entkommen. Vielleicht sehen sie hier gar nicht nach. Auf jeden Fall ist es unsere einzige Chance. Wir müssen es riskieren.« 96
»Ein was?« murmelte Christina. »Ein Gazebo – ein Pavillon, der der schönen Aussicht we‐ gen auf einer Mauerecke errichtet ist.« Vorsichtig stiegen sie die hölzerne Treppe hinauf. Die Tür des Pavillons war nicht verschlossen, aber sie quietschte ein bißchen. Sie zogen sie vorsichtig hinter sich zu. Einen Au‐ genblick lang konnten John und Christina nichts sehen. Dann merkten sie, daß sie sich in einem sechseckigen Raum befanden, der in jeder Wand ein Fenster hatte. Durch Um‐ hertasten entdeckten sie Korbstühle mit Kissen, einen Tisch und einen niedrigen Schrank. Sie ließen sich in zwei Stühle fallen und horchten angstvoll auf die Geräusche von drau‐ ßen. Gedämpft durch die Holzwände des Gartenhauses dran‐ gen immer noch die Rufe der Verfolger zu ihnen. Einmal hörten sie schwere Schritte ganz in der Nähe, und in einem der Fenster zur Gartenseite hin fing sich der Schein einer Taschenlampe. Eine Viertelstunde später verstummten je‐ doch alle Geräusche. Es hatte den Anschein, daß die Suche eingestellt worden war. Bis dahin hatten sie nicht gewagt, ein Wort miteinander zu wechseln. Jetzt flüsterte John: »Was macht dein Knöchel?« »Es ist nicht mehr schlimm«, wisperte Christina. »Beim Laufen tat er mir scheußlich weh, aber seit ich den Fuß hochgelegt habe, hat der Schmerz stark nachgelassen. Ich glaube nicht, daß der Knöchel verrenkt ist – nur ver‐ staucht.« »Eine kalte Kompresse wäre gut, nur ist das hier unmög‐ lich. Allerdings könnte ich dir einen festen Verband anle‐ 97
gen. Das wird dir helfen, wenn wir weiterlaufen müssen. Soll ich mal versuchen, was ich fertigbringe?« »Kannst du denn genug sehen?« »Ich könnte mein Feuerzeug anknipsen, aber man könnte das Licht vom Haus aus sehen.« Er kniete sich nieder und tastete nach ihrem Fuß. Nachdem er ihr den Schuh ausge‐ zogen hatte, befühlte er den Knöchel vorsichtig mit den Fingerspitzen. Er war nicht allzusehr geschwollen. John zog sein seidenes Taschentuch hervor und faltete es, so gut es im Dunkeln ging, über Eck zu einem langen Streifen. Dann sagte er: »Du solltest besser den Strumpf ausziehen.« Sie rollte das seidige Etwas herunter. John legte ihr die Bandage an. Es war das Taschentuch, mit dem er sich in der Kabine das Gesicht gewaschen hatte, deshalb war es noch feucht und kalt. John streifte Christina den Strumpf über den Fuß und sagte ihr, sie könne ihn hochziehen. Sie lachte leise. »Nein, tu du es für mich, Darling. Meine großen Füße wer‐ den dir vielleicht nicht gefallen, aber auf meine Beine kann ich wirklich stolz sein. Sie sind gut gewachsen und ober‐ halb der Knie so weich wie Seide. Fühl doch mal, hier, bei den Strumpfbändern.« Damit ergriff sie seine Hand und führte sie an die Innensei‐ te des Oberschenkels bis dahin, wo der andere Strumpf en‐ dete. Ihr Fleisch fühlte sich an wie ein Kissen aus Schwa‐ nendaunen unter einer straff gespannten, seidenpapier‐ dünnen Gummischicht. Es hatte diese undefinierbare Ei‐ genschaft, im ersten Augenblick der Berührung kühl zu 98
sein und dann sofort glühendheiß zu werden. Nur eine Se‐ kunde dauerte es. Dann entriß ihr John seine Hand und stieß hervor: »Schluß damit! Zieh dir deinen Strumpf selbst an!« Christina schwieg einen Augenblick. Sie schien den Tränen nahe zu sein. »Oh, John, du bist unfreundlich. Liebst du mich denn gar nicht?« flüsterte sie. Mit einemmal fühlte sich sein Mund ganz trocken an. Er schluckte, und doch kamen seine Worte in der Dunkelheit heiser heraus. »Wenn du es darauf anlegst, verführt zu werden, fordere mich morgen früh auf, deinen Strumpf festzumachen. Ich werde dich nicht anrühren, solange du unter diesem verfluchten Einfluß stehst.« Sie seufzte. »Aber ich will dich jetzt. Wenn ich nicht so müde wäre, würde ich dich dazu bringen.« Er lachte auf. »Und du würdest vermutlich damit Erfolg haben, wenn ich selbst nicht ebenso müde wäre. Mir tut der ganze Körper weh. Es muß schon vier Uhr vorbei sein. Das heißt, daß wir seit mehr als zwanzig Stunden nicht mehr geschlafen haben.« Er machte ihr ein Lager aus Kissen zurecht, und sie streckte sich darauf aus. Einem plötzlichen Impuls folgend, der alle seine Vernunftgründe hinwegschwemmte, küßte er sie leicht auf die Stirn und murmelte: »Ich liebe dich, Christi‐ na. Ich liebe dich.« Drei Stunden später herrschte volles Tageslicht. John stand vorsichtig auf und achtete darauf, daß man ihn durch die Fenster des Pavillons nicht sehen konnte.
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Der Garten lag verlassen vor ihm, und die eisernen Rollä‐ den des Chateaus waren noch alle heruntergelassen. Seine Uhr zeigte kurz nach halb acht. Da die Bewohner des Cha‐ teaus erst um halb fünf ins Bett gekommen waren, war es nicht verwunderlich, daß sie noch alle schliefen. In gebückter Haltung schlich John an die Fenster zur See‐ seite. Die friedliche Stille auf dem Wasser machte seine Hoffnung zunichte, wenigstens einige Fischer zu entde‐ cken, die er in einem Notfall zu Hilfe rufen konnte. Im Ha‐ fen lagen nur eine kleine Segelyacht, ein Dinghi, ein Renn‐ boot und Upsons Wasserflugzeug. Die große Yacht, mit der sie gekommen waren, ankerte etwa eine Viertelmeile vor der Mole. Das Motorboot, mit dem sie an Land gebracht worden waren, und ein größeres Fahrzeug, das wie ein umgebauter U‐Boot‐Jäger aussah, hatten bei ihr festge‐ macht. John überlegte gerade, ob sie unbemerkt zu dem Rennboot hinauszuschwimmen und damit fliehen könnten, als der U‐ Boot‐Jäger sich von der Yacht löste und auf den Hafen zu‐ hielt. Geschickt legte er am äußeren Ende der Mole an, und zwei Seeleute mit Leinen sprangen an Land und machten das Schiff fest. Darauf wurde eine Gangway ausgelegt, und einige Leute gingen an Land. John richtete sich plötzlich auf und rief »Christina! Wir sind gerettet! Da ist Mumsie! Ihren komischen Hut würde ich überall erkennen. Und C. B. ist auch dabei! Sie haben Poli‐ zei mitgebracht. Sie müssen herausgefunden haben, wohin die Yacht verschwunden ist.«
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Christina, die noch geschlafen hatte, rappelte sich auf und trat zu ihm ans Fenster. Die Menschen auf der Mole waren jetzt deutlich zu erkennen. Es waren außer Molly Fountain und C. B. ein sehr großer alter Mann mit einem hängenden grauen Schnurrbart und drei Polizisten in Uniform. »Komm!« rief John. »Wir laufen ihnen entgegen. Wirst du es mit deinem Knöchel schaffen?« Sie legte ihr Gewicht auf den verletzten Fuß. »Ja, es ist schon viel besser. Wenn du mir deinen Arm gibst, wird es gehen. Oh, John, welch ein Glück, daß sie uns hier gefunden haben!« John zog die kleine Automatik aus der Tasche. »Die werde ich bereithalten für den Fall, daß uns jemand aufhalten will.« Sie stiegen die Holzstufen hinunter. Der Garten lag immer noch verlassen da. Auf dem Weg zum Tor meinte John: »Wir müssen vorsichtig sein mit dem, was wir der Polizei sagen. Wenn ich heute nacht die Gelegenheit und die Geis‐ tesgegenwart gehabt hätte, mir diese Pistole zu schnappen, hätte ich zweifellos selbst damit auf jemanden geschossen. Aber solche Taten haben Folgen. Allerdings glaube ich nicht, daß der Marquis dich anzeigen wird. Mir macht nur Sorgen, daß Körperverletzung durch eine Feuerwaffe eine Sache für den Staatsanwalt sein könnte. Wenn das zutrifft und die französische Polizei davon erfährt, wirst du festge‐ nommen. Deshalb sollten wir über deine Schießübungen lieber schweigen.« Christina zuckte die Schultern. »Erzähl ihnen, was du willst. Ich war in dem Augenblick nicht ich selbst, und so kann ich von Glück sagen, daß ich niemanden umgebracht 101
habe. Aber jetzt fühle ich mich kein bißchen wie ,Annie, get your gun’.« John lächelte. »Nur wäre es gemein von mir, wenn ich den Anschein erwecken würde, ich hätte dich gerettet, wo es in Wirklichkeit doch gerade umgekehrt war. Ich werde sagen . . .« »Das ist doch Unsinn, John! Ohne dich wäre ich niemals weggekommen. Je weniger du über meine Mitwirkung sagst, desto besser. Sie werden es viel wahrscheinlicher finden, daß du alle Drachen erschlagen und mich auf dei‐ ner Schulter davongetragen hast. Nun, jedenfalls werde ich das Sprechen dir überlassen.« Durch das offene Gartentor gingen sie geradewegs auf die Gruppe zu, die jetzt nur noch fünfzig Meter von ihnen ent‐ fernt war. In stürmischen Begrüßungen zeigten Retter und Gerettete ihre große Erleichterung. Molly war so überwältigt, ihren Jungen heil und gesund wiederzusehen, daß sie aus Angst, in Tränen auszubrechen, ihn nicht zu küssen wagte. Zu seinem Erstaunen schüttelte sie ihm statt dessen heftig die Hand. Er lachte, hob sie in die Höhe und drückte sie. Molly wiederum drückte Christina. C. B. stellte den großen alten Mann als Inspektor a. D. Malouet vor und den leitenden Polizeibeamten als Sergeant Bouvet. Zehn Minuten vergin‐ gen in einem Durcheinander von Fragen und Erklärungen. Nachdem sie den Sergeanten überzeugt hatten, daß sie kei‐ ne Anklage gegen de Grasse erheben wollten, gingen sie an Bord, und das Boot legte ab. Sergeant Bouvet zog sich takt‐ voll zurück, nachdem er Molly, Christina, Monsieur Ma‐ 102
louet, C. B. und John in der Kabine untergebracht hatte. So konnten sie ungestört miteinander reden. Malouet hatte vorgeschlagen, nicht nach St. Tropez zu‐ rückzukehren, sondern zwischen den Inseln und der Küste entlangzufahren und einen Ort namens Cavalaire anzulau‐ fen, wo es ein gutes Hotel gab. Unterwegs schilderten John und Christina dem Ex‐Inspektor mit dem Walroßschnurr‐ bart ausführlich, was sie in der vergangenen Nacht alles erlebt hatten. Sie ließen nur aus, daß Christina geschossen hatte. Malouet forderte das Mädchen auf, von ihren frühe‐ ren Zusammenkünften mit den de Grasses zu erzählen und auch von allen sonstigen Ereignissen, die mit ihrem Fall in Zusammenhang stehen könnten. Und Christina berichtete von Anfang an. Gegen halb neun lief der umgebaute U‐Boot‐Jäger in eine kleine Bucht ein, die von zerklüfteten Felsen umgeben war. Mit herzlichem Dank für ihre Hilfe verabschiedete sich die Gesellschaft von Sergeant Bouvet und dem Kapitän des Bootes. Langsam stiegen sie den steilen Pfad zum Hotel hoch. Es war noch nicht für die Saison geöffnet, aber der Besitzer und seine Frau erklärten sich gern bereit, die unerwarteten Gäste mit einem Frühstück zu versorgen. Ein kleiner Junge wurde mit einem Fahrrad losgeschickt, um im Dorf Crois‐ sants zu holen. »Monsieur« stürzte sich in die Vorbereitun‐ gen für ein großes Schinkenomelette, und »Madame« führ‐ te die Besucher zu fünf Schlafzimmern mit fließendem Wasser.
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John war noch in Hemdsärmeln und frisierte sich mit ei‐ nem geliehenen Kamm, als es leise an seine Tür klopfte. »Herein!« rief er. Christina humpelte über die Schwelle und schloß die Tür. Sie streckte ihre linke Hand aus. Der Ringfinger war dick mit Seifenschaum bedeckt. »Ich möchte, daß du mir den Ring abziehst«, sagte sie. »Der Knöchel ist immer noch ein bißchen geschwollen, aber mit Hilfe des Seifenschaums müßte es gehen.« »Warum möchtest du den Ring nicht mehr tragen?« fragte er. »Du hast mir versprochen, ihn mir abzunehmen. Gleich nach dem Kampf mit Jules im Salon der Yacht.« »Das habe ich nicht ernst gemeint. Ich wollte dich in diesem Augen‐ blick nur beruhigen. Du weißt doch, daß du nachts nicht dein wirkliches Selbst bist.« John sah den hellschimmern‐ den Ring. Sein Vater, dem er früher gehört hatte, war ein aufrichtiger und furchtloser Mann gewesen. Dies schien sich auf den Ring ausgewirkt zu haben. Sie mußte ihn be‐ halten! Christina errötete, wandte den Kopf ab und stammelte: »Ich . . . ich möchte über letzte Nacht . . . lieber nicht spre‐ chen. Ich meine, über das ... was zwischen uns war. Ganz genau erinnern kann ich mich nicht mehr, aber ich muß mich abscheulich benommen haben. Ich schäme mich so.« »Das brauchst du nicht«, lächelte er. »Du warst sehr süß, als wir uns in dem Pavillon eingerichtet hatten.« »Ich nicht. . . aber du. Du hast gesagt, du liebst mich, und das werde ich nie vergessen.« Überstürzt sprach sie weiter: 104
»Ich weiß, daß es nicht stimmt und daß du es wahrschein‐ lich nur gesagt hast, um mich zu trösten, aber bitte, gib das jetzt nicht zu und streite es auch nicht aus Höflichkeit ab. Ich glaube, daß du es in diesem Moment vielleicht wirklich so gemeint hast. Jedenfalls möchte ich es gern glauben, denn dann kann ich eine so schöne Erinnerung mit mir nehmen.« »Mit dir nehmen?« wiederholte. »Wovon redest du eigent‐ lich?« Sie hielt ihm wieder ihre Hand hin. »Deshalb möchte ich dir ja den Ring zurückgeben. Ich habe mir alles gut über‐ legt. Für die Freundlichkeit deiner Mutter habe ich mich mit einer Nacht voller Verzweiflung revanchiert, und du hättest durch mich leicht das Leben verlieren können. Das darf nicht sein. Diese gräßliche Geschichte betrifft nur mich und meinen Vater. Wenn irgendwer für mich verantwort‐ lich ist, dann ist er es. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich gegen seine Anweisungen handeln muß. Ich werde zu ihm nach England fahren.« XIII
John protestierte heftig gegen ihre Abreise. Auch die ande‐ ren hielten dies für falsch. Gemeinsam versuchten sie, Christina klarzumachen, daß sie in Frankreich schlimm‐ stenfalls noch einmal von den de Grasses gekidnappt wer‐ den könnte. Hätte sie aber erst einmal den Kanal überquert, begebe sie sich ins teuflische Netz derer, vor denen sie ihr Vater habe schützen wollen. Es sei absurd, daß sie freiwil‐ 105
lig nach England wolle. Hier hingegen würden ihre Freun‐ de alles tun, um sie von dem furchtbaren Fluch zu befreien. Christina leistete hartnäckigen Widerstand, doch schließ‐ lich willigte sie ein, wenigstens bis zum 6. März zu bleiben. Was auch immer gegen sie geplant war, es mußte offenbar bis dahin geschehen sein. Um ihren Freunden nicht noch mehr Kummer zu bereiten, gab Christina schließlich nach. Nach und nach sah sie ein, daß man sich trotz des Verbotes mit ihrem Vater in Ver‐ bindung setzen müsse. Anfangs hatte sie noch Einwände, doch Malouet und C. B. betonten, daß nur er allein den Schlüssel zu dem Geheim‐ nis besitze. Es sei nicht nur unvernünftig, sondern auch un‐ logisch, wenn sie ohne jeden Anhaltspunkt für sie kämpfen sollten. C. B. schlug vor, er werde am Nachmittag nach England zurückfliegen und mit allem gebotenen Takt mit ihrem Vater sprechen. Endlich stimmte sie zu. »Können wir den de Grasses keinen Knüppel zwischen die Beine werfen, indem wir sie doch wegen Kidnapping und tätlichen Angriffs anzeigen?« fragte Molly. Malouet schüttelte den Kopf. »Dazu würde ich nicht raten, Madame. Ich habe unseren guten Freund Sergeant Bouvet aus gutem Grund weggeschickt. Mademoiselle ist freiwillig an Bord der Yacht gegangen, und Ihr Sohn heimlich. Daß man sie später mit Gewalt festgehalten hat, wird keiner der Mannschaft bezeugen. Ganz im Gegenteil, Ihr Sohn könnte in ernstliche Schwierigkeiten geraten, wenn wir schlafende Hunde wecken wollten.«
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»Immerhin ist zu bedenken, daß die de Grasses nur als Be‐ auftragte handeln«, warf John ein. »Es könnte doch sein, daß sie die Nase voll haben und aufgeben.« »Vielleicht.« Malouet zog gedankenverloren an seinem langen Schnurrbart. Die Entführung sollte eine Summe von tausend Pfund einbringen, nicht wahr? Das ist kein bedeu‐ tender Betrag für Monsieur le Marquis, und Sie werden bemerkt haben, daß er selbst in dieser Angelegenheit noch wenig in Erscheinung getreten ist. Mir scheint, er hat die‐ sen »kleinen Fisch« deshalb Comte Jules überlassen. Mög‐ lich, daß Monsieur le Comte, inzwischen zu der Ansicht gelangt ist, diese tausend Pfund seien zu mühsam zu ver‐ dienen. Aber ich finde, es wäre zu gefährlich, wenn wir von dieser Voraussetzung ausgingen.« »Außerdem ‐« C. B. warf John einen Blick zu – »ist es eben‐ so denkbar, daß Jules auf Rache sinnt. Für uns ist es auf alle Fälle besser, wir richten uns auf einen weiteren Schlag ein.« John mußte zugeben, daß seine Idee auf Wunschdenken beruhte. Keinesfalls habe er gemeint, sie brauchten jetzt weniger aufmerksam auf Christina aufzupassen. Das brachte die Diskussion wieder zu dem Punkt zurück, was nun mit ihr geschehen solle. Eins stand fest: Weder Christinas noch Mollys Villa boten Sicherheit, und wenn man das Mädchen in irgendein Hotel an der Riviera brachte, würden die de Grasses schnell auf ihre Spur kommen. »Können wir sie nicht in ein privates Pflegeheim für Geis‐ teskranke bringen und sagen, sie habe einen Nervenzu‐ sammenbruch?« schlug John vor. »Die Schwestern und 107
Wärter in solchen Anstalten würden einer Patientin nie ge‐ statten, mitten in der Nacht davonzuspazieren.« C. B. schüttelte den Kopf. »Da irrst du dich, John. Wir kön‐ nen den Leuten dort ja nicht sagen, daß wir Christina vor einer Entführung schützen wollen. Die übliche Betreuung aber ist in diesem Fall nicht sicher genug. Unser unbekann‐ ter Feind hätte Christina im Handumdrehen herausgeholt.« »Im Krieg hätte ich das Problem leicht für Sie lösen kön‐ nen«, schmunzelte Malouet. »Wenn für einen Wider‐ standskämpfer der Boden zu heiß wurde, taten wir so, als verwechselten wir ihn mit einem Berufsverbrecher, nah‐ men ihn unter dessen Namen fest, erhoben irgendeine Anklage gegen ihn und steckten ihn ins Gefängnis. Die Bo‐ ches haben nie herausbekommen, daß wir die Gefängnisse als Verstecke benutzten. Sobald die Jagd abgeblasen war, ließen wir unsern Freund entfliehen. Wäre es doch nur möglich, Mademoiselle für ein paar Tage hinter Gitter zu bringen! Dann könnten weder die de Grasses noch ein gan‐ zer Haufen von Satanisten sie zu fassen kriegen. Unglückli‐ cherweise kann man heutzutage einen Menschen nicht mehr wegen einer falschen Anklage verurteilen.« John saß neben Christina. Er warf ihr einen Blick zu, dann nahm er Upsons Pistole aus der Tasche und zeigte sie ihr unter dem Tisch. Sie nickte. John legte die Pistole auf den Tisch und erklärte: »Christina und ich glauben, daß der rechte Moment für ein Geständnis gekommen ist. Marquis de Grasses wurde heute nacht kurz nach halb drei von Christina angeschossen.«
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Diese Worte schlugen ein wie eine Bombe. Zuerst wollte keiner glauben, daß sie es gewesen war, die die Schüsse abgefeuert hatte. . Doch der lebhafte Bericht der beiden über ihr Abenteuer beseitigte jeden Zweifel. Mit einem nei‐ dischen Blick auf Christina rief Molly aus: »Oh, Sie Glückliche! Was gäbe ich nicht darum, diese Er‐ fahrung gemacht zu haben!« »Glücklich ist sie, weil sie ihn nicht getötet hat«, kommen‐ tierte C. B. grimmig. »Wäre das der Fall, käme sie an einer Mordanklage nicht vorbei, und da sie die Yacht freiwillig betreten hat, würde sie auch die Berufung auf Notwehr nicht vor einer Verurteilung wegen Totschlags retten.« »Nichtsdestotrotz beglückwünsche ich Mademoiselle zu ihrem Mut.« Der alte Malouet machte zu Christina eine höfliche kleine Verbeugung. »Jetzt kann ich alles für Sie ar‐ rangieren. Ich werde Sie nach Nizza bringen, wo ich die meisten Beamten gut kenne, und ich werde Sorge tragen, daß Sie jeden Komfort erhalten, der in einem Gefängnis möglich ist.« »Danke«, antwortete Christina. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Wie lange wird man mich denn dort behalten?« »Heute haben wir Donnerstag, den 4. März. Monsieur le Marquis wird höchstwahrscheinlich aussagen, alles sei ein Unfall gewesen, und Sie seien hinterher in Panik geflohen. Aber Sie läßt man auf keinen Fall vor Montag wieder frei. Wenn Sie einmal in Haft genommen sind, müssen Sie drinbleiben, bis der Magistrat Sie offiziell entläßt. Sie wer‐ den also das Wochenende im Gefängnis verbringen. Und
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das ist wichtig, denn Samstag, der 6. März, scheint der Tag zu sein, an dem Ihre Feinde Sie in England haben wollen.« Christina lächelte kläglich. »Mein Geburtstag hat mir nie viel bedeutet, aber trotzdem ist es ein bißchen hart, daß ich den einundzwanzigsten im Gefängnis verbringen muß.« »Was ist das?« rief C. B. aus. »Sie werden am 6. März ei‐ nundzwanzig? Warum haben Sie uns das bisher nicht ge‐ sagt?« »Tut mir leid«, fiel Molly ein. »Christina hat es mir gleich bei unserer ersten Unterhaltung erzählt. Als ich Ihnen ge‐ stern über ; Christina berichtete, war mir diese Einzelheit ganz entfallen.« »Warum kann das so wichtig sein?« er‐ kundigte sich Christina. »Die Zahl 21, also dreimal die Sieben, hat eine besondere magische Bedeutung«, erläuterte C. B. »Da es Teufelsanbe‐ ter sind, die Sie verfolgen, erklärt das, warum sie Sie unbe‐ dingt an diesem bestimmten Tag in ihrer Gewalt haben wollen. Es sieht so aus, als planten sie ein bestimmtes Ri‐ tual, für das sie ein unverheiratetes einundzwanzigjähriges Mädchen brauchen. Möglicherweise verstärkt es ihre dä‐ monischen Kräfte.« »Wenn wir Christina also bis Sonntag beschützen können, wird die Gefahr für sie vorüber sein?« fragte John eifrig. C. B. nickte. »Die schlimmste Gefahr, ja. Aber dann müssen wir noch versuchen, sie von diesem Zauber – oder was es ist – zu befreien, der des Nachts einen bösen Einfluß auf ihre Persönlichkeit hat. Ihr Vater muß den Schlüssel dazu haben. Daß wir Christina ins Gefängnis stecken, ändert
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nichts an meinem Entschluß, ihn aufzusuchen und seine Hilfe zu verlangen.« John sah seine Mutter an. »Wenn Christina im Gefängnis in Sicherheit ist, gibt es nichts, was ich hier tun könnte. Wenn es dir recht ist, Mumsie, werde ich mit C. B. nach England fliegen. Es kann ja auch sein, daß Christinas Vater sich C. B.’s Einmischung verbittet. Dann kann ich ihm sagen, daß ich ihr Verlobter bin. Vielleicht arbeitet er dann mit uns zu‐ sammen.« »Ja, das ist richtig. Geh nur mit C. B., mein Junge.« »Aber wenn nun der alte Herr dich für einen geeigneten Schwiegersohn hält«, grinste C. B., »kann diese Scheinver‐ lobung für dich damit enden, daß er dich des Bruchs eines Heiratsversprechens bezichtigt.« »Ganz im Gegenteil«, lachte John. »Falls sie mich sitzenläßt, werde ich klagen. Sie vergessen, daß sie eine Erbin ist.« Christina errötete, stimmte aber doch mit in das allgemeine Gelächter ein. C. B. sah auf die Uhr. »Es ist halb elf. Wenn John und ich heute noch nach England fliegen wollen, müssen wir an den Aufbruch denken.« Malouet übernahm das Telefonieren, und zehn Minuten später wurden sie von einem alten Auto aus dem Dorf ab‐ geholt. Nach einer Fahrt von einer Dreiviertelstunde er‐ reichten sie Mollys Villa. Christina, John und C. B. packten in aller Eile ihre Koffer und nahmen Abschied von Molly. Dem Fahrer wurde ein großzügiges Trinkgeld versprochen, so daß Malouet und Christina nach einer weiteren Dreivier‐
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telstunde die beiden Reisenden am Flughafen von Nizza absetzen konnten. Das Taxi brachte Malouet und Christina in das Stadtzent‐ rum von Nizza. Um zwei Uhr war Christinas Name im Ge‐ fängnisregister eingetragen, und eine fette, nach Knoblauch riechende Wärterin brachte sie in eine Zelle. C. B. hatte seinen Wagen am Flughafen Northolt stehengel‐ assen. Er und John trafen um sechs in Colchester ein. Sie nahmen sich Zimmer im Red Lion, stellten ihre Koffer ab, erkundigten sich nach dem Weg zur Fabrik von Beddows Agricultural Tractors und fuhren sofort dorthin. Wegen der Nachtschicht herrschte in der Fabrikhalle reger Betrieb. Auf ihre Frage nach Mr. Beddows erfuhren sie, er sei nicht da und habe sich schon seit einer Woche oder län‐ ger nicht mehr im Büro sehen lassen. C. B. betonte, es handele sich um eine persönliche Angele‐ genheit von äußerster Dringlichkeit. Daraufhin wurden sie in ein protziges Wartezimmer geführt, und bald erschien ein Mr. Hicks, der sich als einer der Direktoren vorstellte. Er versicherte, sein Chef sei schon vor zehn Tagen ins Aus‐ land gereist, habe weder eine Adresse noch ein genaues Datum für seine Rückkehr angegeben und ihm alle ge‐ schäftlichen Vollmachten übertragen. Für C. B. und John war dieser Fehlschlag eine große Ent‐ täuschung. Sie fuhren in das Red Lion zurück, wo sie bis zum Dinner deprimiert herumsaßen und Gimlets tranken. Auch das Essen, das sie mit einer Flasche Ciaret und einer
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halben Flasche Portwein hinunterspülten, konnte sie nicht aufheitern. Die Möglichkeit, daß sie in Beddows Haus etwas erfahren konnten, machte sie wieder munter. Deshalb holten sie um halb neun den Wagen heraus und nahmen die ostwärts nach Walton‐onthe‐Naze führende Straße. Nach einigen Meilen mußten sie über schmale, gewundene Wege weiter. Zweimal bogen sie falsch ab, aber schließlich kamen sie in ein Dorf, das sich als Little Bentford heraus‐ stellte, und erfuhren, daß The Grange zwei Meilen außer‐ halb an der Straße nach Tendring lag. Sie fuhren an einer alten Steinkirche mit einem kurzen, viereckigen Turm und an einem mittelgroßen Privathaus in scheußlicher viktorianischer Gotik vorüber. Danach ging es durch einen Wald und wieder durch offenes Land. Nach der Beschreibung, die C. B. erhalten hatte, fanden sie The Grange ohne Schwierigkeiten. Es lag etwas abseits von der Straße. Über eine gekrümmte Zufahrt, die in etwa ei‐ nem Hohlweg glich, gelangte man zu der alten Villa. Im Licht der Wagenscheinwerfer erkannten sie, daß es eines jener geschmacklosen Bauwerke war, die man so oft in ländlichen Gegenden Englands findet. Jede Generation hat‐ te in ihrem jeweiligen Stil Erker oder Türmchen angebaut. In keinem Fenster schien Licht. Trotz des niederfallenden Regens verhüllte dichter Nebel das Haus bis zum ersten Stock. Es wirkte kalt und unheildrohend. C. B. stieg aus und läutete die Glocke an der Eingangstür. Er konnte ihren Klang drinnen hören, aber niemand mach‐
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te auf. Nach ein paar Minuten läutete er zum zweiten Mal. Nichts rührte sich. John trat zu ihm. »Mir fällt gerade ein, daß Christina er‐ zählt hat, die einzigen Dienstboten seien ein Ehepaar na‐ mens Jutson, und sie lebten in der Wohnung über der Ga‐ rage, wo Christina geboren ist. Kommen Sie, wir sehen nach, ob sie da sind.« Auf der Rückseite des Hauses fiel Licht aus zwei Fenstern über einem Anbau und ließ eine schmale Tür neben den breiten Garagentoren erkennen. C. B. läutete. Schritte eilten die Treppe hinunter, und eine sauer aussehende Frau mitt‐ leren Alters mit magerem Gesicht öffnete die Tür. Auf C. B.’s Frage antwortete sie: »Nein, Mr. Beddows ist nicht da. Ich kann Ihnen nicht hel‐ fen.« C. B. klimperte mit dem Silbergeld in seiner Tasche. »Uns ist außerordentlich daran gelegen, mit ihm in Verbindung zu kommen. Können Sie uns vielleicht einen Rat geben, wie ...« Von innen rief eine Männerstimme: »Wer ist da, Mary?« Gleich darauf erschien Jutson selbst und schob seine Frau beiseite. Er war ein kleiner Mann mit grauem, an den Seiten kurz geschnittenem Haar. Sein schmallippiger Mund drückte Ärger aus. Er war in Hemdsärmeln. Von oben lärmte ein Radio Sportnachrichten. Unfreundlich erklärte er: »Der Herr ist schon seit beinahe vierzehn Tagen weg. Keine Ahnung, wann er wiederkommt.«
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»Wissen Sie niemanden, der uns vielleicht weiterhelfen könnte?« versuchte John ihm zuzureden.»Wir sind Freunde von Miss Chris . . . Miss Ellen Beddows.« »Na und? Ich sage Ihnen, er ist nicht da, wir wissen nicht, wo er ist. Geht uns nichts an. Sie können es sich sparen, mit Ihrer Brieftasche unter meiner Nase herumzuwedeln. Gute Nacht.« Jutson knallte die Tür zu und ließ sie im Regen stehen. Auf dem Weg zum Wagen meinte John verdrießlich: »Welch ein Pech! Alles hängt davon ab, daß wir ihn zu fassen krie‐ gen. Wie sonst könnten wir Christina helfen, von dem teuf‐ lischen Einfluß frei zu werden’? Es muß eine Möglichkeit geben, Beddows aufzuspüren!« Sie fuhren nach Little Bentford zurück. Eine halbe Meile vor dem Dorf, gerade gegenüber der Kirche, stand ein Briefkasten. Im Vorbeifahren erfaßten die Wagenschein‐ werfer einen Mann, der einen Brief einwarf. Er wandte ih‐ nen den Rücken zu, und doch flüsterte John aufgeregt: »Ich möchte schwören, daß das Kanonikus Copely‐Syles war. Christina sagte, er lebe hier im Dorf in einem Haus, das die Priorei genannt wird.« C. B. drehte sich auf seinem Sitz um und blickte zurück. Er sah, daß der ältliche Kleriker schräg über die Straße auf das pseudogotische Haus zuging. »Halt an, John!« rief er. »Mir kommt eben eine Idee.« John brachte den Wagen zum Stehen. Einige Minuten lang, während C. B. eine Zigarette rauchte, saßen sie schweigend da.
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»John, wende und fahre ein Stück zurück, so daß du im Schatten der Bäume dort parken kannst.« C. B. drückte sei‐ ne Zigarette aus. »Ich werde dem alten Knaben einen Be‐ such abstatten. Vielleicht kommt nichts dabei heraus, aber mit ein bißchen Glück kann ich von ihm eine Menge erfah‐ ren.« Als John den Wagen geparkt hatte, murmelte C. B. in ver‐ schwörerischem Flüsterton: »Hör zu, Partner. Dieser Vogel kann gefährlich sein. Wenn er mich durchschaut, kann mir allerhand Unangenehmes zustoßen. Unternimm nichts Voreiliges, denn um ihn auszuhorchen, werde ich vielleicht geraume Zeit bei ihm bleiben müssen. Aber wenn ich bis Mitternacht nicht zurück bin, fährst du ins Dorf, telefo‐ nierst mit der Polizei und holst mich da heraus.« XIV
Der gleichmäßig fallende Regen ließ die Spitztürmchen auf dem steilen Giebel nur als verschwommenen Umriß erken‐ nen. C. B. patschte durch die Pfützen. Das Gestrüpp zwan‐ zig Meter zu seiner Rechten lag bereits in tiefster Finsternis, aber die hohen alten Eiben auf dem Friedhof hoben sich wie düstere Schildwachen von dem grauen Himmel ab, der eine pechschwarze Nacht versprach. Unter dem gotischen Vorbau befand sich eine solide Ei‐ chentür, wie ein Portal, die mit einem seltsamen Muster von Nagelköpfen verziert war. Daneben fiel ein schwaches Licht auf einen mit Arabesken geschmückten Glockenzug. Er riß kräftig daran. Aus einem entfernten Teil des Hauses 116
klang ein hohles Bimmeln. Ohne daß irgendwelche Schritte zu hören gewesen waren, schwang die Tür lautlos auf gut geölten Angeln zurück. Vor dem trüben Licht, das eine maurische Laterne in der Mitte einer kleinen, quadratischen Diele verbreitete, stand ein Diener, wie man ihn in einem Dorf in Essex kaum er‐ wartet hätte. Er trug einen roten Fez und einen weißen Burnus. Seine Haut war sehr dunkel. C. B. erkannte in ihm sofort einen Ägypter. Der Diener kreuzte die Hände vor der Brust, verbeugte sich tief und wartete darauf, daß C. B. ihn ansprach. »Ist Kanonikus Copely‐Syles zu Hause?« Wieder verneigte sich der Mann und antwortete in ausge‐ zeichnetem Englisch: »Mein Meister hat sich soeben zum Schreiben hingesetzt, und dabei möchte er nicht gern ge‐ stört werden. Wenn Sie mir jedoch Ihren Namen nennen wollen, Sir, werde ich ihn fragen, ob er bereit ist, Sie zu empfangen.« »Mein Name ist Verney, doch das wird ihm nichts sagen. Melden Sie ihm einfach, ich sei heute nachmittag aus Nizza eingetroffen.« C. B. trat in die Diele, und der Ägypter entfernte sich ge‐ räuschlos auf seinen Filzpantoffeln. Zwei Minuten später kam er zurück. Lächelnd verbeugte er sich und murmelte: »Erlauben Sie mir, Sir, Ihnen Ihre Sachen abzunehmen. Wenn Sie mir dann bitte folgen möchten . . .« Nachdem C. B. seinen nassen Mantel abgelegt hatte, wurde er in ein Zimmer auf der Rückseite des Hauses geführt, das in völligem Gegensatz zu dem bisher gesehenen stand. Es 117
war ganz wie die Studierstube eines wohlhabenden, aber phantasielosen Klerikers eingerichtet. Der Reichtum zeigte sich an den wertvollen Büchern, die die Wände vom Fuß‐ boden bis zur Decke bedeckten, die Phantasielosigkeit an der Tatsache, daß der Eigentümer die kunstvoll geschnitzte viktorianische Einrichtung aus heller Eiche unverändert übernommen hatte. Es war ein großer, niedriger Raum, der, alles in allem, soliden Komfort ausstrahlte. Drei Lam‐ pen warfen einen warmen Schein auf den Goldschnitt der Bücher. Der Kanonikus stand breitbeinig vor dem offenen Kaminfeuer. Er sah ganz so aus, wie John ihn beschrieben hatte. Mit gütigem Lächeln trat er einen Schritt vor und streckte ihm seine weiche Hand entgegen. »Ich nehme an, Sie haben Neuigkeiten für mich, Mr. – äh – Verney. Wie freundlich von Ihnen, in diesem entsetzlichen Wetter herzukommen.« »Ja, es ist ein scheußlicher Abend«, gab C. B. zurück. »Aber ich habe Ihnen eine dringende Botschaft von Unserem ge‐ meinsamen Freund de Grasse auszurichten. Da er wußte, daß ich heute nach England zurückflog, bat er mich, Sie aufzusuchen.« Der Kanonikus rückte einen Sessel näher ans Feuer. »Neh‐ men Sie Platz, Mr. Verney, und wärmen Sie sich auf.« Er trat an einen Tisch und setzte hinzu: »Und jetzt einen Whisky mit Soda?« Lieber hätte C. B. in diesem Hause nichts zu sich genom‐ men, aber da er das Vertrauen des Kanonikus gewinnen wollte, stimmte er zu.
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»Hoffentlich wollen Sie mir nicht erzählen, de Grasse habe die Sache verpfuscht«, bemerkte sein Gastgeber. »Sie ist für mich von äußerster Wichtigkeit.« »Das weiß ich.« C. B. begann, nachdem er höflich um Er‐ laubnis gebeten hatte, seine Pfeife zu stopfen. »Ich fürchte deshalb, Sie werden über meine Mitteilung nicht sehr er‐ freut sein. Ich kann Ihnen versichern, daß de Grasse kein Verschulden trifft, sondern allein dieser verfluchte John Fountain, der alles verdorben hat.« Der Kanonikus winkte unwirsch ab. »Also hat de Grasse die Sache verpfuscht! Das ist mehr als ärgerlich. Bei den Hilfsmitteln, die ihm zur Verfügung stehen, hätte er mit einem Jungen wie diesem Fountain fertig werden müssen. Es gibt keine Entschuldigung für ihn. Gar keine Entschul‐ digung! Doch erzählen Sie mir, was geschehen ist.« Der Colonel kam diesem Wunsch nach und schloß damit, daß Ellen – wie er sie jetzt nannte – entkommen sei. Der Kanonikus, der in höchster Aufregung war, versuchte sich zu beruhigen: »Sicher wird de Grasse heute abend den Fountains das Mädchen wieder wegnehmen, und sollte er dazu Gewalt anwenden müssen.« »Es wird ihm wohl nicht gelingen«, behauptete C. B. »Warum nicht? Wenn seine Wunde ihn hindert, kann er doch Jules und einige seiner Leute schicken.« C. B. war sicher, daß mit der nächsten Post ein Brief für den Kanonikus eintreffen würde, in dem de Grasse ihm detail‐ liert die neuesten Entwicklungen schilderte. Deshalb hatte es wenig Sinn, sie geheimzuhalten. »So einfach ist das
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nicht. Das Mädchen hält sich nicht mehr bei Mrs. Fountain auf. Sie ist im Gefängnis.« »Was!« Copele‐Syles kippte sein Glas um und sprang auf. »Was sagen Sie da? Im Gefängnis! De Grasse kann doch kein solcher Idiot sein, daß er sie wegen des Schusses ange‐ zeigt hat?« »Nein, das hat er nicht getan.« »Was denn?« »Wir wissen es selbst nicht. Oder vielmehr, de Grasse wuß‐ te es zu der Zeit, als ich ihn verließ, nicht. Er hat nur he‐ rausgefunden, daß sie seit heute morgen in Haft ist. Viel‐ leicht glaubt sie, sie habe de Grasse getötet, und hat sich selbst gestellt. Oder, da sie unter falschem Namen lebt, kann es auch etwas mit ihrem Paß zu tun haben.« »Das ist eine Katastrophe!« Die schwere Unterlippe des Kanonikus zitterte, und sein babyhaftes Gesicht verzog sich. Für einen Augenblick dachte C. B., er werde in Tränen ausbrechen. Dann wurde ihm klar, daß es Zeichen der Wut waren. Der Kanonikus verlor jede Selbstbeherrschung. Er stampfte im Zimmer hin und her, fuchtelte mit den Armen und schimpfte in den unflätigsten Ausdrücken auf de Grasse. Darauf verfluchte er C. B. als den Überbringer die‐ ser schlechten Nahrichten. C. B. sah dem Schauspiel interessiert zu, zog an seiner Pfei‐ fe und bemerkte ruhig: »Dies Fluchen und Schimpfen kann Ihrem Fall nur schaden.« Sofort faßte der Kanonikus sich. »Sie haben recht«, mur‐ melte er. »Sie trifft überhaupt keine Schuld, und Flüche sollte man nur mit feierlicher Absicht aussprechen.« 120
»Genau. Wenn Sie möchten, daß de Grasse doch noch die Kastanien für Sie aus dem Feuer holt, sollten Sie sich hüten, seine Maßnahmen auch nur durch die leichtesten Schwin‐ gungen schlechter Wünsche zu stören.« Copely‐Syles streifte ihn mit einem flüchtigen Blick. »Was wissen denn Sie von diesen Dingen?« »Oh, nur ein biß‐ chen.« C. B. hielt es für richtig, das Thema vorläufig mit ei‐ nem Achselzucken abzutun. »Aber warum regt es Sie ei‐ gentlich so auf, daß das Mädchen im Gefängnis ist? Wahr‐ scheinlich wird sie vor Ende der Woche wieder draußen sein, und dann ist es für de Grasses Jungens eine Kleinig‐ keit, sie sich zu schnappen.« »Ende der Woche!« Copely‐Syle warf die Hände hoch. Sei‐ ne Wut war so groß, daß die Äderchen seiner Augen platz‐ ten. »Dann nützt sie mir nichts mehr! Ich habe de Grasse doch sicher genügend klargemacht, wie eilig die Sache ist?« C. B. nickte ernst. »Das haben Sie bestimmt. Das muß der Grund dafür sein, daß er heute morgen so außer Fassung war. Aber er hat es mir nur in groben Zügen erzählt. War‐ um haben Sie es so eilig damit, das Mädchen nach England zu schaffen?« »Weil heute der 4. ist. Ich muß sie am 6. hier haben.« »Können Sie Ihre Pläne nicht ändern, so daß ein paar Tage Aufschub keinen Unterschied machen?« »Ebensogut könnten Sie vorschlagen, ich solle versuchen, die Sterne in ihrem Lauf aufzuhalten«, fauchte der Kanoni‐ kus. »Der 6. März ist ihr Geburtstag, die Stunde Viertel vor zehn abends. Wenn ich sie zu diesem Zeitpunkt nicht unter
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meiner Kontrolle habe, sind meine jahrelang gehegten Hoffnungen zerstört.« »Aha, ich verstehe, es handelt sich um eine Familienange‐ legenheit. Ist sie mit einem Mann davongelaufen?« fragte C. B. »Nein! Sie hat immer ein sehr zurückgezogenes Leben ge‐ führt.« »Dann besteht also Hoffnung, daß sie noch Jungfrau ist?« Bei dieser Frage verengten sich die blassen Augen des Ka‐ nonikus. »Was bringt Sie auf diesen Gedankengang?« »Nun, dreimal die Sieben kombiniert mit Jungfräulichkeit hat eine ungeheure mystische Bedeutung. Da schoß es mir durch den Kopf . . . Ich möchte mich nicht in Ihre Angele‐ genheiten einmischen.« Das fette Gesicht des Kanonikus’ verlor den babyhaften Ausdruck. Er sah jetzt alt aus, aber stark und bedrohlich. »Sie haben entweder zuviel oder zuwenig gesagt. Erklären Sie sich, oder machen Sie sich auf das Schlimmste gefaßt«. C. B. blieb äußerlich ganz ruhig. Er brachte sogar ein klei‐ nes Lächeln zustande. »Ruhig Blut, Kanonikus. Ich habe Ihnen doch wohl zu verstehen gegeben, daß ich keiner von de Grasses Gorillas bin. Unsere Verbindung ist die zweier Menschen, die sich von Zeit zu Zeit gegenseitig einen Ge‐ fallen getan haben. Sie brauchen nicht zu fürchten, daß de Grasse argwöhnt, warum Sie ein Interesse an dem Mäd‐ chen haben, und Sie eventuell erpressen wird. Ich selbst wäre nie auf einen Verdacht gekommen, hätten Ihre eige‐ nen Worte ihn nicht erregt und wäre da nicht außerdem die Tatsache, daß wir einander schon einmal begegnet sind.« 122
»Wir? Wann?« »An das genaue Datum erinnere ich mich nicht, aber ich weiß, daß es bei Aleister Crowley war.« »Dieser Scharlatan! Ich habe ihn kaum gekannt.« Um den Eindruck zu erwecken, er sei ein Bruder in der Schwarzen Kunst, hatte C. B. einen Schuß ins dunkle ris‐ kiert. Ein Mann in Copely‐Syles’ Alter und mit seinen Interessen mußte irgendwann einmal mit dem berüchtigten Aleister Crowley in Kontakt gekommen sein. Die Reaktion des Kanonikus enttäuschte ihn, aber jetzt konnte er seine Behauptung nicht mehr rückgängig machen. Um festeren Boden unter den Füßen zu bekommen, kramte er Erinne‐ rungen an den toten Magier hervor. »Wenn Sie Aleister so gut gekannt hätten wie ich, würden Sie ihn bestimmt nicht als Scharlatan einstufen. Natürlich war er in seinen späteren Jahren nur noch eine klägliche Gestalt, die überall herumschmarotzte, um Leib und Seele zusammenhalten zu können. Aber als junger Mann war er ganz anders. Ohne Frage hatte er Macht. Schon als Student bewies er, wie weit er auf dem Pfad zur Linken fortge‐ schritten war. Der Master des John’s College hatte es ihm untersagt, ein unzüchtiges griechisches Schauspiel einzus‐ tudieren. Vielleicht haben Sie davon gehört, wie er sich da‐ für rächte.« Der Kanonikus sah C. B. gespannt an, und die‐ ser fuhr fort: »Er fertigte ein Wachsbild des Masters an und brachte es eines Nachts, als der Vollmond schien, mit eini‐ gen Freunden auf eine Wiese. Sie bildeten den üblichen Kreis, und Crowley sprach die Beschwörung. Er hielt die Nadel in der Hand und wollte sie an der Stelle in das 123
Wachsbild stechen, wo bei einem Menschen die Leber sitzt, als es einer seiner Kumpane mit der Angst bekam und den Kreis brach. Crowleys Hand wurde abgelenkt, und die Na‐ del fuhr in den linken Knöchel. Das war ein Glück für den Master des John’s College. Statt an Leberkrebs zu sterben, rutschte er nur aus und brach sich den linken Knöchel, als er am nächsten Tag im College die Treppe hinunterging. Bis dahin hatten Crowleys Freunde das Ganze als Scherz angesehen, hinterher fürchteten sie sich vor ihm zu Tode und waren zu beeindruckt, um den Mund halten zu kön‐ nen. An ihren Darstellungen besteht kein Zweifel.« Copely‐Syles zuckte nur die Schultern. »Natürlich ist das durchaus möglich, und jetzt fällt mir auch wieder ein, daß ich davon gehört habe. Was Sie betrifft, kann die Geschich‐ te jedoch nichts anderes als Hörensagen sein. Sie sind viel zu jung, um seinerzeit mit Crowley in Cambridge gewesen sein zu können.« »Das allerdings. Ich habe ihn erst Jahre später kennenge‐ lernt, als er in der Mitte seines Lebens und auf dem Höhe‐ punkt seiner Macht stand.« Nach kurzer Pause brachte C. B. die Lüge an: »Ich bin von ihm in die Abtei de Thelema eingeführt worden.« »Tatsächlich? Ich war der Meinung, Crowley wäre zu nichts anderem mehr fähig gewesen, als mit seinem Ruf als Mystiker junge Neurotiker anzulocken und dort zu seinem eigenen Vergnügen ein privates Bordell zu halten.« »Die meisten seiner Hausgenossen waren junge Leute, und da man seine Lehre unter dem Motto »Das einzige Gesetz lautet: Tu, was du willst« zusammenfassen kann, war all‐ 124
gemein Promiskuität die Konsequenz. Neue Brüder und Schwestern verloren schnell ihre Hemmungen, und danach war es leicht, sie zwecks Ausführung bestimmter Riten zur Teilnahme an sexuellen Orgien zu überreden. Sie können mir jedoch glauben, daß er sein Handwerk verstand und daß die Perversitäten, die unter seiner Anleitung prakti‐ ziert wurden, nur Mittel zum Zweck waren. Sie werden wie ich wissen, daß bestimmte satanische Wesenheiten sich von den Ausstrahlungen ernähren, die von Menschen wäh‐ rend sexueller Betätigungen niedrigster Form ausgehen. Für Crowley waren die Orgien nur der Köder, mit dem er diese Wesenheiten in der Abtei locken und Macht über sie gewinnen konnte.« Der Kanonikus hatte sich wieder hingesetzt. Sein Interesse schien aufs lebhafteste geweckt zu sein. »Dann sind Sie tat‐ sächlich überzeugt, daß er echte satanische Rituale voll‐ führte und diesen Hokuspokus nicht einfach als Vorwand benutzte, eine Reihe von jungen Frauen besitzen zu kön‐ nen?« »Hinter jedem seiner Rituale steckte eine bestimmte Ab‐ sicht. Ich weiß, daß viele zu dem gewünschten Ergebnis führten. Stets bestand er darauf, daß alle Anwesenden sich mit der größten Feierlichkeit benahmen. Er brachte es sogar fertig, seiner Haltung eine gewisse Würde zu verleihen, wenn er den osculam infame, den abscheulichen Kuß, emp‐ fing, Sein Gedächtnis war ein wahres Wunder. Es bereitete ihm überhaupt keine Schwierigkeiten, die ganze römisch‐ katholische Kommunion rückwärts zu rezitieren.«
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»In christlichen Ländern gibt es wenige Zeremonien, die wirkungsvoller sind als die Schwarze Messe«, warf der Ka‐ nonikus ein. »Aber so wie ich mich an Crowley erinnere, wundert es mich außerordentlich, daß er dazu imstande gewesen sein soll.« »Ich habe nie eine bessere Ausführung gesehen«, versicher‐ te C. B. ernsthaft, »obwohl er natürlich die technischen Er‐ fordernisse nie ganz erfüllen konnte.« »Sie meinen, weil sich unter seinen weiblichen Neophyten nie eine Jungfrau befand, die als Altar benutzt werden konnte?« »Nein, das meinte ich eigentlich nicht. Zwar waren die meisten jungen Frauen dort nicht mehr unerfahren, aber ich weiß, daß es ihm zweimal gelang, Jungfrauen dafür zu gewinnen. Und Schwierigkeiten mit der Beschaffung von Hostien zum Zwecke der Entweihung und dergleichen hat‐ te er natürlich nie. Ich spielte vielmehr auf die Tatsache an, daß die Schwarze Messe nur dann hundertprozentig wirk‐ sam sein kann, wenn sie von einem katholischen Priester zelebriert wird, und Crowley ist nie ordiniert worden.« »Richtig, richtig. Das ist ein Manko, doch es kann über‐ wunden werden, wenn der Fürst durch Blutopfer versöhn‐ lich gestimmt wird. Hat Crowley jemals auf diese Weise die Apotheose erreicht?« »Genaues weiß ich nicht darüber. Im Mittelalter war ein menschliches Leben so wenig wert, daß Eingeweihte wie Gilles de Rais zur Förderung ihrer magischen Unterneh‐ mungen ein Dutzend Pfarrgemeinden dezimieren konnten, ohne daß diejenigen, die die Macht dazu gehabt hätten, 126
sich veranlaßt sahen einzugreifen. Aber heutzutage ist das natürlich anders. Die italienische Polizei muß eine recht genaue Vorstellung über das gehabt haben, was in der Ab‐ tei vor sich ging, aber ihre Toleranz und die Bestechungs‐ gelder ließ sie schweigen. Daher hatten wir mit den Leuten nie irgendwelchen Ärger. Trotzdem wären sie beim gering‐ sten Verdacht auf Menschenopfer eingeschritten. Für ge‐ wöhnlich benutzte Crowley Katzen oder Ziegen, und ein‐ mal erlebte ich, daß ein Affe mit dem Kopf nach unten ge‐ kreuzigt wurde. Nachdem ich die Abtei verlassen hatte, hörte ich Gerüchte, in den umliegenden Dörfern wären zwei oder drei Kinder verschwunden. Ich neige aber zu der Annahme, daß es sich dabei nur um böswillige Verleum‐ dungen durch Crowleys Feinde handelte.« Die blassen Augen des Kanonikus waren in weite Ferne ge‐ richtet. »Ah, für den Höhepunkt derartiger Rituale gibt es nichts Wirkungsvolleres als das warme Blut eines noch nicht entwöhnten Kindes.« C. B. biß heftig auf den Stiel seiner Pfeife, um einen Schau‐ der zu unterdrücken. Doch da er Copely‐Syles zu komp‐ romittierenden Mitteilungen veranlassen wollte, mußte er den eingeschlagenen Weg weiterverfolgen. Für eine Weile sahen beide schweigend in das Kaminfeuer. Dann meinte der Kanonikus: »Nach dem, was Sie mir be‐ richtet haben, muß Crowley zumindest den Grad eines Magus erreicht haben, wenn nicht den eines Ipsissimus. Ich kann nicht verstehen, wieso aus ihm, als ich ihn Mitte der Dreißiger Jahre kennenlernte, ein impotenter Windbeutel
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geworden war, der außer einer Handvoll leichtgläubiger alter Weiber niemanden mehr beeindrucken konnte.« »Das ist leicht zu erklären. Es ist auf diese unglückliche Ge‐ schichte in Paris Ende der Zwanziger Jahre zurückzufüh‐ ren. Vorher stand er tatsächlich im Rang eines Ipsissimus, doch in jener Nacht wurde er über den Abgrund zurückge‐ schleudert. Er verlor seine ganze Macht, und danach wäre ihm in einem astralen Konflikt auch ein ahnungsloser Neo‐ phyt überlegen gewesen.« »Ein schreckliches Los für einen Eingeweihten! Hat er etwa widerrufen und eine vollständige Beichte abgelegt, um wieder in den Schoß der Kirche aufgenommen zu werden? Denn was sonst könnte eine so fürchterliche Strafe nach sich ziehen?« »O nein, es war nichts dergleichen. Vielmehr war sein Ehr‐ geiz so groß, daß er sich übernahm«, fuhr C. B. in seinem Bericht fort. »Wenn er Pan seinem Willen hätte unterwerfen können, wäre er das mächtigste Wesen der Erde geworden. Wäre Pans Flöte nach seinen Anweisungen erklungen, hät‐ ten selbst Regierungen nach ihr tanzen müssen. Er versuch‐ te den Meister zu bezwingen, aber er war nicht stark genug dazu. Folglich mußte er den Preis für sein Versagen zahlen. Das ist alles.« »Das finde ich außerordentlich interessant«, erklärte Cope‐ ly‐Syles mit leiser Stimme. »Sind Ihnen Einzelheiten be‐ kannt?« »Ja, denn ich gehörte damals noch zu seinen Schü‐ lern und war selbst dabei.« C. B. bekam jetzt festeren Boden unter den Füßen, da er seinerzeit von einem der jungen
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Männer Crowleys einen Bericht aus erster Hand erhalten hatte. »Es war in Paris. Crowley stellte eine Gruppe von dreizehn Personen zusammen, ihn mitgerechnet. Wir waren für die‐ sen bestimmten Zweck natürlich lauter Männer. Wir wohn‐ ten in einem kleinen Hotel am linken Seine‐Ufer. Der Besit‐ zer war einer von uns. So konnten wir für diese Nacht das ganze Haus belegen. Das Personal hatte bis zum Mittag des nächsten Tages vierundzwanzig Stunden freibekommen. Im obersten Stockwerk befand sich ein idealer, großer Raum. Am Nachmittag entfernten wir daraus jedes Möbel‐ stück und säuberten ihn sorgfältig. Abends nahmen wir alle an den Reinigungsriten teil. Crowley hatte entschieden‐ und das war, wie sich später herausstellte, ein Glück für uns ‐, daß ihm bei der eigentlichen Beschwörung niemand anders als sein fortgeschrittenster Schüler, ein Bursche na‐ mens McAleister, assistieren sollte. Um zehn Uhr kleideten wir übrigen die beiden an und gin‐ gen hinaus. Crowley schloß hinter uns die Tür ab. Er hatte uns streng befohlen, wir dürften unter gar keinen Umstän‐ den versuchen, den Raum zu betreten, ganz gleich, was wir hören sollten, und wenn es Hilferufe wären. Dergleichen könnte ein Trick Pans sein, der sich ihm entziehen wollte, und jede Störung des Rituals würde den Zauber zunichte machen. Wir hatten den ganzen Tag gefastet. Deshalb hatte unser Verbündeter, der Hotelbesitzer, unten im Speise‐ zimmer ein ausgezeichnetes kaltes Büfett für uns hergerich‐ tet. Sehr fröhlich war unsere Mahlzeit nicht, denn wir alle waren uns bewußt, welche gewaltige Aufgabe der Meister 129
sich vorgenommen hatte. Wir hatten großes Vertrauen in seine Macht, aber wahrscheinlich war es Jahrhunderte her, daß ein Adept es gewagt hatte, den Gehörnten Gott selbst heraufzubeschwören. Verständlich, daß wir ein wenig ner‐ vös waren. Um Mitternacht hörten wir von oben die ersten Geräusche. Es fing mit Poltern und Schreien an, und dann schien die Hölle loszubrechen. Es klang, als würden Kartoffelsäcke umhergeworfen, und dahinein mischte sich durchdringen‐ des Kreischen. Wir hatten den Eindruck, das ganze Gebäu‐ de schwanke. Tatsächlich begann der Kronleuchter über uns zu schwingen, die Gläser klirrten auf der Kredenz, und mit lautem Krach fiel ein Bild von der Wand. Es war genau wie bei einem Erdbeben. In dem Speisesaal, in dem wir uns aufhielten, war es plötzlich eiskalt geworden. Wir alle waren irgendwann einmal Bewohner der Abtei gewesen und im Standhalten bei satanischen Manifestatio‐ nen ziemlich abgehärtet. Aber bei der Gelegenheit packte uns abgrundtiefes Entsetzen, und keiner von uns gab sich Mühe, das zu verbergen. Wir saßen nur da, weiß um die Nase und wie gelähmt bei dem Gedanken, daß das entsetz‐ liche Wesen da oben jede Sekunde über uns herfallen konn‐ te. Dann verstummte das höllische Spektakel, und wir ver‐ suchten, uns zusammenzureißen. Mit vor Kälte klappern‐ den Zähnen debattierten wir darüber, ob wir Crowleys Be‐ fehl nicht doch besser ignorieren und nachsehen sollten, was passiert war. Allmählich wurde es im Speisesaal wie‐ der wärmer. Da es auch weiterhin still blieb, hofften wir, 130
Crowley habe die Schlacht gewonnen und mit der Unter‐ werfung Pans Erfolg gehabt. Dann aber hätten wir durch unser Dazwischenplatzen immer noch alles verderben können, und Crowleys Zorn wäre unbeschreiblich gewe‐ sen. Das wollte keiner von uns riskieren. Also kamen wir zu dem Schluß, gar nichts zu unternehmen und was mich betraf, so war ich damit durchaus einverstanden. Die Angst zerrte an unseren Nerven, und wir begannen zu trinken. Doch aus irgendeinem Grund zeigte der Alkohol keinerlei Wirkung. So saßen wir da, Stunde für Stunde, und sprachen kaum ein Wort. Endlich war die entsetzliche Nacht vorüber. Im Morgeng‐ rauen hofften wir, Crowley werde bald herunterkommen, sein fettes Gesicht strahlend vor Triumph. Und unsere Ängste würden uns nur noch lächerlich erscheinen. Aber er kam nicht. Wir warteten bis sieben Uhr. Dann wagten wir es, uns nach oben zu schleichen. Eine Weile standen wir alle elf eng zusammengedrängt auf dem Treppenabsatz und lauschten. In dem großen Raum blieb es still. Einer meinte, Crowley und McAleister könnten in einem Schlaf der Erschöpfung liegen, und dieser Gedanke gab uns für einen Augenblick neue Hoffnung. Einer klopfte laut an die Tür, aber nichts rührte sich drinnen. Da blieb uns keine an‐ dere Wahl mehr, als die Tür aufzubrechen.« XV
C. B., der ein Meister darin war, eine Geschichte spannend zu erzählen, machte eine Pause und klopfte seine Pfeife 131
aus. Copely‐Syles ruckte mit dem Kopf nach vorn und stieß in einem atemlosen Flüstern heiser hervor: »Weiter, Mann, weiter! Was haben Sie gefunden?« C. B. sah ihm gerade in die Augen. »McAleister war tot. Er lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken, und sein Gesicht trug einen Ausdruck des Entsetzens, den ich nie wieder sehen möchte. Überall auf dem Boden lagen Fetzen von Crowleys Priesterrobe. Er selbst kauerte nackt in einer Ecke. Aus ihm war ein sabbernder Idiot geworden.« Der Kanonikus nahm schnell einen Schluck. »Entsetzlich, entsetzlich!« »Crowley hatte noch Glück«, fuhr C. B. fort, »daß er nach einem sechsmonatigen Sanatoriumsaufenthalt den Ver‐ stand zurückgewann. Aber er wollte über diese Angele‐ genheit nie mehr sprechen, und ich bezweifele, ob er sich überhaupt genau daran erinnerte. Sie werden jetzt verste‐ hen, warum er von da an nur noch ein Waschlappen war und auf Sie, als Sie ihn kennenlernten, keinerlei Eindruck machte.« »Ja«, nickte der Kanonikus, »das erklärt alles – bis auf die Frage, wo wir beide uns begegnet sind.« Wieder begab sich C. B. aufs Glatteis. Er wußte, daß Crow‐ ley sich in den Dreißiger Jahren viel in London aufgehalten hatte und daß sich die Satanisten meistens in Privathäusern trafen. Deshalb sagte er: »Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, bei welcher Gelegenheit es war, aber mir scheint, es war bei einer Party in Regent’s Park oder in St. John’s Wood.«
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»Ah! Dann muß es in Mocatas Haus gewesen sein oder vielmehr in dem Haus eines reichen jungen Juden, der sein Schüler geworden war und es ihm als Hauptquartier zur Verfügung gestellt hatte.« In der Hoffnung, daß Copely‐Syles ihm damit keine Falle gestellt hatte, antwortete C. B.: »Natürlich! Und wenn ich mich nicht täusche, befand sich das Haus am Medina‐ Platz.« »Richtig! Ich war verschiedene Male dort, und nie waren weniger als zwanzig Personen anwesend. Kein Wunder, daß ich Sie nicht gleich auf den ersten Blick wiedererkannt habe. Das oberste Stockwerk des Hauses war als Observa‐ torium eingerichtet. Das war für bestimmte Rituale sehr nützlich.« »Crowley nahm mich mit dorthin, aber nur einmal.« Glücklicherweise stellte der Kanonikus C. B. keine Fragen über Mocata, sondern verlor sich in Erinnerungen: »Armer Mocata! Auch er hat zu hoch gegriffen und ist dabei gefal‐ len. Das muß kurz nach unserer Begegnung gewesen sein, denn das Haus in St. John’s Wood war seine letzte Adresse. Auf der Suche nach dem Talisman des Seth stieß er mit ei‐ nem Weißen Magier zusammen, der mächtiger war als er selbst. Eines Morgens fand man Mocata tot vor einem Haus namens Cardinal’s Folly in Worcestershire. Natürlich wur‐ de bei der amtlichen Leichenschau Herzversagen festges‐ tellt, doch ich zweifele nicht daran, daß ein Fluch, den er ausgesandt hatte, auf ihn zurückfiel und ihn tötete.« »Ich hoffe, Ihr Vorhaben ist weniger gefährlich«, meinte C. B. 133
Copely‐Syle stand auf und begann, erregt hin‐ und her zu laufen. »Ich hätte nicht die geringste Befürchtung, wenn das verdammte Mädchen mir nicht entkommen wäre. In weniger als achtundvierzig Stunden muß ich sie in meiner Gewalt haben. Und da sie nun im Gefängnis sitzt, ist de Grasse überfordert. Ich muß selbst handeln.« »Was werden Sie unternehmen?« »Ich fliege morgen nach Frankreich. De Grasses Gorillas werden mir wenigstens mit ihren Kenntnissen über die Ge‐ fängnisse und die Wärter von Nutzen sein können.« »Eine Flucht – oder, was noch schwieriger ist, eine Entfüh‐ rung‐ läßt sich nicht so kurzfristig planen«, warf C. B. ein. »Sie werden Zeit brauchen, bis sie einen oder mehrere be‐ stechliche Beamte ausfindig gemacht haben, und dann muß man noch darauf warten, daß die Bestochenen gerade Dienst tun.« »Nein, nein!« rief der Kanonikus ungeduldig. »Hier hilft nur der Einsatz okkulter Waffen, sonst schaffe ich es nicht mehr rechtzeitig. Ich werde de Grasse anrufen. Er soll aus‐ findig machen, welche Wärter morgen nacht im Dienst sind und mir ein paar ihnen gehörende Dinge besorgen. In einer so kurzen Frist sind abgeschnittene Fingernägel oder Haare zuviel verlangt, aber ungewaschene Unterhosen oder Py‐ jamas tun es auch. Die sollten leicht zu stehlen sein. Damit kann ich sie zeitweilig zu meinen Sklaven machen. Das Mädchen wird sowieso nach Sonnenuntergang von Asmo‐ deus beherrscht. Sie wird gehorchen.«
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»Ja«, nickte C. B. »Auf diese Weise habe ich selbst wahrend des Krieges in Frankreich mehrere Gestapo‐Agenten aus den Klauen der Gaullisten befreit.« »Welchen Grad haben Sie erreicht?« erkundigte Copely‐ Syles sich interessiert. »Ich habe acht Kreise und drei Quadrate.« »Tatsächlich! Dann haben Sie den Abgrund überwunden und sind Magister Templi.« »Und das seit der Walpurgisnacht 1946.« C. B. hoffte, der Kanonikus fasse genug Vertrauen zu ihm, um ihn um seine Unterstützung zu bitten. Deshalb setzte er hinzu: »Die Tat‐ sache, daß Sie eine Jungfrau von dreimal sieben Jahren für Ihr Vorhaben brauchen, verrät mir, daß es sich um ein ma‐ gisches Unternehmen von ganz außergewöhnlicher Bedeu‐ tung handelt. Nach fünfundzwanzigjähriger Praxis bin ich nur noch an den selteneren Beschwörungen interessiert. Wäre es zuviel verlangt, wenn ich Sie bitte, mir mitzuteilen, welchen Zweck Sie verfolgen? Würden Sie mir auch erlau‐ ben, Ihnen bei dem Ritual zu assistieren?« Copely‐Syles dachte einen Augenblick nach. »Nun, Sie ha‐ ben den Abgrund überwunden. Deshalb kann ich Ihnen die Formeln, die ich dabei benützen werde, verraten. Wäre ich nicht selbst Ipsissimus, würde ich es nicht wagen, Sie zu der Zeremonie zuzulassen. Da Sie jedoch ein Eingeweihter sind, der nur noch zwei Kreise gewinnen und zwei Quad‐ rate verlieren muß, um den höchsten Grad zu erreichen, sehe ich keinen Grund, Ihnen Ihre Bitte zu verweigern. Trotzdem möchte ich Sie warnen. Es wäre der helle Wahn‐ sinn, wenn ein Geringerer als ein Ipsissimus sich auf ein 135
solches Risiko einließe. Denn dies ist das größte aller Gro‐ ßen Werke.« C. B. strich sein graues Haar zurück. »Das größte Werk ist, Gott gleich zu werden.« »Jawohl. Niemand wird leugnen, daß die Verwandlung niedriger Metalle in Gold oder die Destillierung des Le‐ benselixiers Große Werke sind, aber ich habe mein Leben seit vielen Jahren einem größeren geweiht. Jetzt habe ich einen Punkt erreicht, wo ich nur noch eins brauche, um Gott gleich zu werden. Am 6. März werde ich, Augustus Copely‐Syles, ebenfalls Leben erschaffen.« C. B. mußte sich zusammennehmen, daß er sein Erschre‐ cken nicht verriet. »Homunkuli?« murmelte er. Das Lächeln des Kanonikus enthüllte häßliche, verfärbte Zähne. »Ja, Homunkuli, und wenigstens eins dieser Ge‐ schöpfe wird des Denkens und Sprechens fähig sein.« Schnell ging C. B. in Gedanken durch, was er über dieses abartige und scheußliche Thema wußte. In allen alten Kul‐ turen war die Magie weit verbreitet gewesen. Sie galt als passende Beschäftigung für die Priesterschaft und als selbstverständliches Studienfach für jeden, der nach Bil‐ dung strebte. Die babylonischen Tontafeln, die ägyptischen Papyri und die Geheimschriften der großen Mittelmeervöl‐ ker enthielten viele Hinweise auf Bemühungen, eine Ur‐ zeugung hervorzurufen. Darin wurde oft von mehr oder minder großen Erfolgen berichtet. Die Ausbreitung des Christentums hatte die alten Religio‐ nen in den Untergrund getrieben, aber das von zahllosen Generationen heidnischer Priester erworbene Wissen konn‐ 136
te es nicht ganz ausmerzen. Diese Priester hatten ihre Leh‐ ren mehr auf der Beobachtung der Natur als auf blindem Glauben aufgebaut. Als tausend Jahre später das Zeitalter der wissenschaftlichen Forschung anbrach, waren schon viele Geheimnisse endgültig verlorengegangen. Andere wiederum waren über die Jahrhunderte überliefert wor‐ den. Viele kühne Männer und Frauen hatten den Tod auf dem Scheiterhaufen riskiert, indem sie mit magischen Kräf‐ ten versuchten, Macht, Reichtum oder Weisheit zu erwer‐ ben. Zu ihnen gehörte ein gewisser Graf von Küffstein. C. B. erinnerte sich, über seine Experimente, die er 1775 in sei‐ nem Tiroler Schloß gewagt hatte, gelesen zu haben. Dem Grafen war es gelungen, zehn lebende Geschöpfe zu pro‐ duzieren, die kleinen Männern und Frauen glichen. Trotz‐ dem waren sie eher Fische als Säugetiere zu nennen gewe‐ sen, denn sie mußten in mit Flüssigkeit gefüllten Glaskrü‐ gen gehalten werden. Einmal in der Woche wurden die Krüge geleert und mit reinem Regenwasser, dem bestimm‐ te Chemikalien und menschliches Blut zugesetzt waren, neu gefüllt. Von dem Blut ernährten sich die Homunkuli. Daß sie denken und empfinden konnten, bewies die viel‐ leicht seltsamste aller Liebesgeschichten. Es hieß, eines der männlichen Wesen sei aus seinem Krug entkommen und an Erschöpfung gestorben, als es versuchte, in den Krug mit dem hübschesten der Weibchen zu gelangen. Auch an die Geschichte des großen deutschen Wissen‐ schaftlers Paracelsus von Hohenheim mußte C. B. denken. Dieser hatte in seinen Vorlesungen an der Universität Basel 137
behauptet, seine Versuche, unbelebte Materie mit Leben zu erfüllen, seien zu seiner vollsten Zufriedenheit verlaufen. All das raste C. B. in wenigen Sekunden durch den Kopf, während er mit ausgestreckten Beinen vor dem Kamin saß und in das runde, aufgeregte Gesicht des Kanonikus blick‐ te. Nach dem, was er gelesen hatte, konnte etwas derartig Phantastisches gerade eben noch möglich sein. Es ließ sich nicht mit einem Achselzucken als vollkommener Unsinn abtun. Für wahrscheinlicher hielt C. B. jedoch, daß dieser böse kleine Mann wahnsinnig war. »Sie glauben mir nicht, wie?« Copely‐Syles zeigte ein agg‐ ressives Grinsen. »Kommen Sie mit! Ich werde es Ihnen beweisen.« Er führte C. B. durch einen Korridor, der den Wohntrakt mit einem älteren Gebäude verband, bis vor eine schwere Eisentür, die er mit einem modernen Sicherheitsschlüssel öffnete. Sie standen am Beginn einer Steintreppe und sahen auf ei‐ nen Raum hinab, der auf den ersten Blick wie eine Kapelle oder eher wie eine Krypta wirkte. Eine Doppelreihe schlanker Säulen trug das Dach. Am entgegengesetzten Ende stand auf drei breiten, niedrigen Stufen ein Altar, den Vorhänge teilweise verbargen. Darauf brannte eine Kerze vor einem im Schatten liegenden Etwas, das C. B. nicht er‐ kennen konnte. Von der Kerze abgesehen, gab es kein an‐ deres Licht als das rötliche Glühen eines großen Ofens rechts von der Steintreppe. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, hatte C. B. den Eindruck, ins Mittelalter verschlagen worden zu 138
sein, denn der Raum enthielt alle Gerätschaften eines Alchimisten: seltsam geformte Flaschen, Waagen und Re‐ torten, ein Astrolabium, ein menschliches Skelett und einen Mumiensarg. In einem Seitengang entdeckte C. B. eine Rei‐ he seltsamer Gegenstände, die wie riesige Teewärmer aus‐ sahen, und in einem anderen eine Anzahl großer Hühner‐ käfige. Das Trippeln kleiner Füße und ein Wimmern verrie‐ ten, daß der Zauberer dort für seinen Gebrauch Tiere hielt. Der Kanonikus schloß die Tür hinter ihnen zu und schalte‐ te das elektrische Licht ein. Jetzt wurde offenbar, daß es sich nicht nur um ein Alchi‐ mistenlabor, sondern auch um einen Satanstempel handel‐ te. Auf dem einen Altarvorhang war die Gestalt eines hochsteigenden Bocks eingestickt, auf dem anderen die ei‐ ner Frau mit sieben Brüsten und einem Schlangenschwanz. Auf dem Altar stand ein zerbrochenes Kreuz, an das eine große Fledermaus mit dem Kopf nach unten genagelt war. Außerdem waren dort ein juwelenbesetztes Schwert, ein in Pergament gebundenes Buch und ein goldener Kelch zu sehen. Das goldene Tuch, das vor dem Altar herabhing, war stellenweise mit getrocknetem Blut befleckt. »Ich habe Glück gehabt, dies Haus mit seinem jahrhunder‐ telang geweihten Altar zu finden«, erklärte Copely‐Syles stolz. »Natürlich verstärkt er die Wirksamkeit meiner Un‐ ternehmungen ungemein.« Er beschäftigte sich mit dem Ofen. Dieser war von der Art, wie sie früher die Schmiede benutzten. Ein paarmal auf den Blasebalg gedrückt, und die untere Kohlenschicht würde bald in Weißglut sein. Im Augenblick war hier und da ein schwaches Glimmen zu 139
sehen, auch das verschwand, als der Kanonikus neuen Koks auflegte und ihn für die Nacht mit Wasser bespreng‐ te. Nun begab er sich an einen der vier Refektoriumstische, die in der Mitte des Tempels standen. Darauf lagen Blaupau‐ sen, die in allen Einzelheiten Teile des menschlichen Kör‐ pers zeigten. Flaschen mit Glasstöpseln enthielten Stücke von Haut, Muskeln, Sehnen, Adern, Nieren, Lebern und anderen Eingeweiden in Spiritus. »Bei meiner Arbeit tue ich anfangs nichts, was ein durchschnittlicher Biologe mit dem erforderlichen Material und sehr viel Geduld nicht auch könnte«, erläuterte der Kanonikus. »Auch später gibt es wenig, wozu ein Wissenschaftler nicht auch in der Lage wäre. Vorausgesetzt, ich würde meine Geheimnisse verra‐ ten und der Pöbel könnte daran gehindert werden, eine de‐ rartige Arbeit aufgrund seiner kindlichen Vorurteile zu sa‐ botieren, gibt es eigentlich keinen Grund, warum Homun‐ kuli nicht in unbegrenzter Zahl hergestellt werden könn‐ ten.« C. B. schauderte es bei dem Gedanken an eine auch nur be‐ grenzte Zahl von seelenlosen Kunstmenschen, die, sollten sie der Kontrolle ihres Schöpfers entkommen, jeden Au‐ genblick zu mörderischen Wahnsinnigen werden konnten. Um sein Entsetzen zu überspielen, bemerkte er: »Würde dadurch nicht bald ein Mangel an einundzwanzigjährigen Jungfrauen auftreten, wenn die Hilfe einer solchen bei der Schaffung jedes Homunkulus notwendig ist?« Der Kanoni‐ kus nahm die Bemerkung ernst. »Ja, anfangs könnte das zu Schwierigkeiten führen, denn wie die Maultiere sind die 140
Prototypen der Homunkuli nicht fortpflanzungsfähig. Zweifellos wird die Wissenschaft einen Weg finden. Doch in der Zwischenzeit könnte eine Regierung eine große Zahl von Mädchen bis zu ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr absondern und über ihre Jungfräulichkeit wachen. Sie ver‐ stehen, für jedes Land wären die Homunkuli im Kriegsfall eine Waffe von unschätzbarem Wert. Als Selbstmordkom‐ mandos wären sie patriotischen Menschen haushoch über‐ legen. Sie brauchten keine andere Nahrung als das Blut aus den Körpern ihrer Feinde, und sie würden die hypnoti‐ schen Befehle ihrer Herren mit der erbarmungslosen Tüch‐ tigkeit von Maschinen vollziehen.« C. B. standen die Haare zu Berge. Irgend etwas mußte er antworten. Ihm fiel nichts anderes ein als: »Bei den Bewoh‐ nern von Atlantis war dergleichen schon bekannt, nicht wahr? Nur weil ihre Magier in großem Umfang Homunku‐ li herstellten, wurde der ganze Kontinent von den Weißen Mächten durch Feuer und Wasser zerstört.« »Das ist richtig, aber ich bin überzeugt davon, daß es den Brüdern des Pfades zur Rechten heutzutage nicht mehr so leicht fallen würde, eine Sintflut hervorzurufen.« Der dicke, kleine schwarzgekleidete Mann zuckte die Schultern und setzte hinzu: »Nun, wann und wie die Schlacht geschlagen werden soll, wird der Herr dieser Welt selbst entscheiden. Uns muß es genügen, daß wir für ihn arbeiten und daß unsere Belohnung groß sein wird. Kom‐ men Sie und sehen Sie sich meinen Beitrag zum Wirken unseres Meisters an.«
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Er ging zu der Reihe der Teewärmer. Jeder war ungefähr einen Meter zwanzig hoch, und als Copely‐Syles einen da‐ von lüftete, sah C.B., daß das dickgepolsterte Material ei‐ nen Glaskrug mit mehr als sechzig Zentimeter Durchmes‐ ser geschützt hatte. C.B. traute seinen Augen kaum. In der klaren Flüssigkeit, die die Riesenflasche füllte, befand sich ein nacktes weibli‐ ches Ungeheuer. Es hatte die Größe eines Kindes von acht Jahren, war aber viel breiter mit seinen schweren Brüsten und dicken Schenkeln. Seine Beine waren zusammenge‐ wachsen und endeten in winzigen, verstümmelten Füßen, so daß es einer abstoßenden Nixe glich. Das Fleisch war ro‐ sa. Weder auf dem Kopf noch am Körper hatte die schreck‐ liche Nixe ein einziges Haar. Als C. B. sie anstarrte, öffnete sie langsam ihre rotgeränderten, wimperlosen Augen und blinzelte ihm zu. C. B. bezwang seinen Abscheu und gab die Ausrufe des Erstaunens und des Interesses von sich, die von ihm erwar‐ tet wurden. Dann erkundigte er sich: »Müssen ihre Beine so bleiben, oder können Sie sie durch eine Operation, sei sie magischer oder gewöhnlicher Art, voneinander trennen?« Der Kanonikus schüttelte sein silbernes Haupt. »Nein, dar‐ an kann ich gar nichts tun. Sie werden feststellen, daß auch die meisten anderen Exemplare unvollkommen sind. Ich füge die Grundbestandteile für die Entstehung von Fleisch, Muskeln, Knochen, Blut und Drüsen zusammen, aber es ist unmöglich, vorauszusagen, wie sie sich entwickeln wer‐ den. Mit zunehmender Erfahrung verbessere ich meine Mi‐ schungen. Diese Ergebnisse hebe ich nur auf, um meine 142
Fortschritte kontrollieren zu können und um festzustellen, wie lange sie am Leben bleiben.« Er zog die Schutzhülle wieder über die Flasche und zeigte seinem Gast die ande‐ ren Homunkuli. Ein männliches Wesen hatte Stümpfe anstelle der Arme, ein anderes war viel kleiner als die übrigen, doch dafür mit ungeheuren Geschlechtsteilen versehen. Weiter gab es ei‐ nen Hermaphroditen, ein weibliches Geschöpf mit zwei Köpfen und eins, dessen Kopf ohne die Spur eines Halses direkt aus den Schultern wuchs. Nur noch ein zweites Exemplar war kahl. Die männlichen Homunkuli hatten alle spärliche Barte. Sämtliche Gesichter waren häßlich, und der Blick sprach von steinerner Bösartigkeit. Allein das letzte Wesen hatte keine offensichtlichen Deformierungen. Wie das erste war es eine dicke, abstoßende Frau. Im Ge‐ gensatz zu verschiedenen anderen hatte sie sowohl Haare als auch Fingernägel, die eher wie Klauen wirkten. Ihr Mund war sehr groß. Sie öffnete und schloß ihn langsam wie ein Fisch. Als die Schutzhülle von ihrem Krug entfernt wurde, schien sie zu schlafen, aber beinahe sofort erwachte sie zu entsetzlichem Leben. Sie schnitt den Betrachtern Grimassen und kratzte wütend an dem Glas, als wolle sie sie zerreißen und verschlingen, wenn sie könnte. Copely‐Syles lächelte stolz auf sie hinab. »Siehe, das ist mein Geschöpf! Die erste einer neuen Rasse. Nicht viel mehr als vierzig Stunden, und der endgültige mystische Ritus wird ihr die Fähigkeit geben, ebenso Luft zu atmen wie wir. Dann kann sie in die Welt gehen. Obwohl ihr Leib niemals Frucht tragen wird, ist sie doch die Urmutter vieler 143
anderer ihrer Art. Sie ist die Antwort des Herrn Satans auf Eva.« »Ich halte es für ein großes Privileg, sie noch in der Flasche sehen zu dürfen«, bemerkte C. B. »Aber halten Sie es nicht für gefährlich, Sie freizulassen, wenn sie in ihrer gegenwär‐ tigen Stimmung bleibt?« »Nein. In diesem Stadium ist sie noch ein Tier. Daher wehrt sie sich auch wie ein Tier gegen die Einsperrung. Sobald sie aus der Flasche steigt, wird sie ein ganz anderes Wesen sein. Sie wissen, daß Gott Adam seinen Odem in die Nase blies, um ihm Leben zu geben, aber in die Nasen der von ihm geschaffenen Tiere blies er nicht. Leben in diesem Sinn ist folglich zu unterscheiden von bloßen Instinkthandlun‐ gen. Der Ritus, den ich am 6. ausführen werde, gleicht je‐ nem letzten Schöpfungsakt, durch den der Mensch über das Tier erhoben wurde. Es trifft sich übrigens gut, daß El‐ len Beddows ein Mädchen von sanfter Gemütsart ist.« »Also wird Ellens Persönlichkeit Einfluß auf den sich bil‐ denden Charakter dieses Geschöpfes haben?« »Das nehme ich an, denn ihr Geist wird ja in den Homun‐ kulus einfließen.« C. B. schluckte heftig. Er hatte geglaubt, der Kanonikus ha‐ be die Absicht, auf Christinas Körper die Schwarze Messe zu zelebrieren und sie hinterher bestimmten Obszönitäten zu unterwerfen. Falls sie nicht zuerst hypnotisiert und be‐ wußtlos gemacht wurde, mußte der Schock für sie furchtbare Folgen haben. Jetzt wurde er gewahr, daß der Magier etwas noch Schlimmeres mit ihr vorhatte. Er wollte ihrem Körper den Geist entziehen. Damit bestand die 144
grauenhafte Möglichkeit, daß irgendein Elementarwesen auf Dauer von ihr Besitz ergriff und sie des Tags und des Nachts in eine Wahnsinnige verwandelte. Nach einem Au‐ genblick des Nachdenkens fragte er: »Wie lange wird die Zeremonie dauern?« »Nicht sehr lange«, gab Copely‐Syles in Gemütsruhe zu‐ rück. »Natürlich werde ich zuerst die Messe zelebrieren, wobei der Körper des Mädchens als Altar dient. Es folgt die Formel des Heiligen Grals und die des Tempels König Sa‐ lomos, um die Einheit mit dem Kosmos zu erreichen und die Vollendung des Großen Werkes anzuzeigen. Der Krug mit dem Homunkulus wird links neben dem Altar auf dem Boden stehen, und das Mädchen wird so liegen, daß ihr Kopf über der Öffnung des Kruges hängt. Ich werde den gnostischen Namen der Sieben Vokale verkünden, um die Seele der Natur zu erwecken, und Unsere Frau Babylon als meine Zeugin anrufen. Ich brauche nur mit dem geweihten Messer die Kehle des Mädchens zu durchschneiden und mich zu vergewissern, daß ihr Geist mit ihrem Lebensblut richtig in den Krug fließt.« C.B. blieb die Zunge am Gaumen kleben. Ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können. Aber er wußte, wenn er sich sein Entsetzen anmerken ließ, war er sofort als Schwindler bloßgestellt. Vergeblich kämpfte er darum, der Situation Herr zu werden. Sein Verstand verweigerte ihm den Dienst. Passende Worte, die Verständnis und Billigung ausgedrückt hätten, wollten einfach nicht kommen. Ein lautes Klopfen an der Eisentür rettete ihn. Der Kanoni‐ kus stülpte schnell die Hülle wieder über den Homunku‐ 145
lus, drehte sich um und eilte die Stufen hinauf. C. B. holte tief Atem, zog sein Taschentuch hervor und wischte sich schnell den verräterischen Schweiß von der Stirn. In der Türspalte wurde das weiße Gewand des ägyptischen Die‐ ners sichtbar. Copely‐Syles wechselte mit ihm ein paar Sät‐ ze auf arabisch. Dann blickte er über die Schulter zurück und sagte: »Bitte entschuldigen Sie mich. Ich werde gleich wieder hier sein.« Er trat hinaus, schloß die Tür ab und ließ C. B. allein in dieser Schreckenskammer. Bald darauf hatte der Colonel sich wieder gefaßt. Er sah auf seine Uhr. Es war kurz vor halb zehn. Also befand er sich seit einer Viertelstunde in diesem Haus. Diese Zeit hatte er gut genützt. Er hatte alle Pläne des Schwarzen Magiers er‐ fahren, und damit stiegen seine Aussichten, sie zunichte zu machen. Ihm blieb nichts weiter übrig, als sich von Copely‐ Syles mit Anstand zu verabschieden. C. B.’s Aufmerksamkeit wurde von dem Kratzen, Quiet‐ schen und Wimmern abgelenkt, das von der anderen Seite der Krypta herkam. Er ging in den Seitengang mit den Kä‐ figen hinüber. Jeder enthielt ein Tier, ein Säugetier, einen Vogel oder ein Reptil. Er sah schwarze Hähne und weiße Hennen, Fledermäuse, Kröten und Tauben, die offenbar Opferzwecken dienen sollten. Dann entdeckte er eine neue Scheußlichkeit. Die Vögel und die Reptilien konnten sich in ihren Käfigen frei bewegen, aber die Säugetiere nicht. Alle krümmten sich mit gefesselten Gliedern in unnatürlichen Stellungen. Da waren Hunde, Katzen, Kaninchen, ein Dachs, ein Mungo und vier Affen. Sie lebten noch, aber an allen war irgendei‐ 146
ne Operation vorgenommen worden. Bei vielen waren die Genitalien entfernt worden, anderen fehlten die Beine, die Augen oder die Klauen. Aus den Verbänden einiger Tiere ragten kleine Flaschen und Reagenzröhrchen hervor, in die die Flüssigkeit aus ihren Wunden floß. C. B. wurde bei diesem herzzerreißenden und Übelkeit er‐ regenden Anblick von wilder Wut erfaßt. Am liebsten hätte er sofort gehandelt und die armen kleinen Geschöpfe von ihrer Qual erlöst. Aber er mußte seine Gefühle unterdrü‐ cken. Es stand zuviel auf dem Spiel, als daß er sich vorzei‐ tig verraten durfte. Er wußte nicht, wie lange er vor diesen Opfern des Bösen gestanden hatte, als er hinter sich ein leises Geräusch ver‐ nahm. Von ihm unbemerkt war der Kanonikus zurückge‐ kehrt. Immer noch mit dem Aussehen eines wohlwollenden, ge‐ lehrten Prälaten aus einem anderen Zeitalter fragte er lä‐ chelnd: »Sie interessieren sich wohl für meine Tierchen?« Trotz seines Alters und seiner grauen Haare beherrschte C. B. sich nur mühsam, dem Kanonikus nicht ins Gesicht zu schlagen. Statt dessen stopfte er nur seine Hände tief in die Hosentaschen und zwang sich zu einer Art Grinsen. Der Kanonikus fuhr fort: »Sie sind mir für meine Arbeit unent‐ behrlich. Zur Herstellung von Homunkuli braucht man große Mengen von Drüsensekreten. Bedauerlicherweise muß ich mich mit Tieren begnügen, worauf natürlich die schlecht proportionierte Unförmigkeit meiner Geschöpfe zurückzuführen ist. Stünden mir Menschen zur Verfügung, könnte ich Männer und Frauen mit wohlgestalteten Kör‐ 147
pern und schönen Gesichtern erzeugen. Aber der Tag wird noch kommen.« Er stand da mit einem fanatischen Leuchten in seinen blas‐ sen Augen. Dann änderte sich sein Verhalten ganz plötz‐ lich. Im Gesprächston meinte er: »Nun habe ich Ihnen mein großes Geheimnis gezeigt, und wir haben hier weiter nichts mehr zu tun. Draußen gießt es in Strömen. Ich würde Ihnen gern für die Nacht ein Bett anbieten, damit Sie nicht in dies Unwetter hinaus müssen.« »Besten Dank, das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich habe ein Taxi ins Dorf bestellt, und ich habe im Red Lion in Colchester ein Zimmer«, lehnte C. B. ab. »Es ist wohl bes‐ ser, daß ich dorthin zurückfahre, denn morgen früh muß ich den ersten Zug nach London erreichen.« »Ganz wie Sie möchten.« Copely‐Syles machte ein paar Schritte auf die Tür zu. »Ah! Etwas hätte ich beinahe ver‐ gessen. Da Sie mir bei dem letzten Ritual assistieren wollen, müssen wir uns vor Ihrem Abschied unbedingt noch aus dem Kelch der Bruderschaft zutrinken.« C. B. widerstrebte die Zeremonie von ganzem Herzen, und er hatte nicht die geringste Lust, irgendein entsetzliches Gebräu zu schlucken. Aber wenn er nicht in letzter Minute noch Verdacht erregen wollte, mußte er zustimmen. Zum Trost sagte er sich, in wenigen Minuten werde er diesen Satanstempel verlassen können. Der Kanonikus nahm den goldenen Kelch vom Altar, holte aus einem Schränkchen eine Korbflasche und goß etwa den Inhalt eines Weinglases in den Kelch. Er kehrte vor den Al‐ tar zurück, beugte dreimal das Knie vor der gekreuzigten 148
Fledermaus, hob den Kelch und rezitierte mit sonorer Stimme ein Abrakadabra, das C. B. für Hebräisch hielt. Er legte den Kopf zurück und hielt den Kelch einen Augen‐ blick an die Lippen. Dann setzte er ihn ab, wischte sich den Mund mit dem Handrücken und reichte das Gefäß mit ei‐ ner höflichen Verbeugung seinem Gast. C. B. erwiderte die Verbeugung und nahm einen kleinen Schluck. Zu seiner Überraschung war es kein Teufelstrank aus den Testikeln von Fröschen und den Schwänzen von Molchen, sondern ein köstlich gewürzter Wein. Deshalb trank er noch ein wenig, bevor er den Kelch senkte. Copely‐Syles bemerkte mit einiger Schärfe: »Sie müßten als Magister Templi wissen, daß man von Wein, der als Sak‐ rament angeboten worden ist, nichts übriglassen darf.« »Ich wollte nichts übriglassen. Ich nehme mir nur Zeit, die‐ sen wundervollen Geschmack zu genießen«, gab C. B., der Verdacht in den Augen seines Gastgebers aufblitzen sah, schnell zurück. Er hob das Gefäß wieder an die Lippen und leerte es. Der Kanonikus begann zu lachen. Es war ein schadenfrohes Gemecker, das sich zu einem bösartigen Kichern steigerte. Schreckliche Angst überfiel C. B. Er fühlte, wie seine Glie‐ der steif wurden. In Sekundenschnelle schien sein Körper ein unerträgliches Gewicht anzunehmen. Es gelang ihm noch, sich umzudrehen und ein paar Schritte in Richtung der Tür zu taumeln, aber er wußte, er konnte sie nicht mehr erreichen. Seine Knie knickten ein. Der Kanonikus gab ihm einen Stoß. C. B. sank in einen ge‐ schnitzten Ebenholzsessel neben den Altarstufen. Jetzt war 149
ihm klar, daß er eine Droge geschluckt und sich dem skru‐ pellosesten Satanisten, dem er je begegnet war, auf Gnade und Barmherzigkeit ausgeliefert hatte. XVI
Das Gesicht des Kanonikus, dessen gütiger Ausdruck ver‐ schwunden war und das jetzt nichts anderes mehr zeigte als das Böse in seiner Seele, sah auf C. B. hinab. Er zischte durch seine verfärbten Zähne: »Sie elender Schwachkopf! Sie hätten besser daran getan, nackt in einen Löwenkäfig zu spazieren als hierherzu‐ kommen Wie konnten Sie es wagen, sich gegen mich zu stellen – mich, einen Ipsissimus? Sie haben mich eine Stun‐ de lang getäuscht, aber länger als einen Tag lang wäre es Ihnen auf keinen Fall gelungen.« C. B.’s Gesicht, Gehör und Verstand waren in keiner Weise beeinträchtigt, nur seine Glieder waren schwach und nutz‐ los geworden. Mit aller Willenskraft versuchte er, sich auf die Füße zu kämpfen. Es gelang ihm nicht. Der Kanonikus fuhr höhnisch fort: »Eben ist ein echter Bote von de Grasse gekommen. Nach meiner Beschreibung identifizierte er Sie als einen Freund von Mrs. Fountain. Nun weiß ich, wer Sie sind, Colonel Verney, und ich versi‐ chere Ihnen, ich werde Sie mit den Geheimnissen, die Sie hier erfahren haben, nicht davonkommen lassen.« »Wenn Sie mich nicht freilassen, wird es böse für Sie aus‐ gehen«, murmelte C. B. mit schwerer Zunge. »Sie haben keine Möglichkeit, mir Schaden zuzufügen.« 150
»Im Augenblick vielleicht nicht. Aber ... meine Freunde wissen, daß ich hier bin. Wenn . . . wenn ich nicht zu ihnen zurückkehre, werden sie Ihnen einige . . . sehr lästige Fra‐ gen stellen.« »Sie werden keine Fragen stellen, die ich nicht zu ihrer vol‐ len Zufriedenheit beantworten kann. Sie haben mein Haus etwa um elf Uhr verlassen. Wegen des schlechten Wetters entschieden wir, Sie sollten durch meinen Garten eine Ab‐ kürzung zum Dorf nehmen. Mein Diener wird aussagen, daß er Sie zur Hintertür hinausließ und Ihnen den Weg be‐ schrieb. Am Ende des Obstgartens ist ein Törchen. Dahinter liegt eine Eisenbahnlinie. Der letzte Zug aus London fährt um fünf Minuten nach elf vorbei. Morgen früh, wenn man Ihre Leiche . . .« »Meine Leiche!« keuchte der Colonel. »Sie haben doch nicht vor . . .« »Sie zu ermorden?« beendete der Kanonikus den Satz für ihn. »Warum denn nicht? Allerdings wird niemand einen Verdacht gegen mich haben. Wenn man Ihre zerquetschte Leiche findet, wird man annehmen, Sie seien im Dunkeln über die Schienen gestolpert, hingefallen und bewußtlos liegengeblieben.« C. B. hatte nicht oft in seinem Leben wirkliche Angst emp‐ funden, doch jetzt hatte er sie. »Selbst wenn in der nächsten halben Stunde jemand nach Ihnen fragen sollte«, grinste der Kanonikus, »brauche ich nur zu sagen, Sie seien bereits fort. Dann müssen Ihre Freunde sich erst einmal in Ihrem Gasthof erkundigen. Morgen wird es heißen: »Welch ein unglücklicher Unfall! 151
Daß er gerade einem so sympathischen Menschen wie Co‐ lonel Verney passieren mußte!« Obwohl Sie für mich ein Fremder sind, werde ich, da Sie gleich nach Verlassen mei‐ nes Hauses den Tod gefunden haben, einen Kranz schi‐ cken. Welche Blumen ziehen Sie vor? Weil Ihr Dahinschei‐ den auf die Tatsache zurückzuführen ist, daß Sie in Süd‐ frankreich Ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten ge‐ steckt haben, hielte ich Nelken und Mimosen für passend.« »Sie... Sie werden dafür hängen!« krächzte C. B. »Die Leute, die wissen, daß ich Sie aufsuchen wollte, wissen auch, wel‐ chen Verdacht ich gegen Sie hatte. Wenn ich tot aufgefun‐ den werde, zerlegen sie dieses Haus in Stücke. Sie werden entdecken, was ich entdeckt habe. Sobald Ihnen ein Motiv für den Mord an mir nachgewiesen ist, liegt Ihnen der Strick schon um den Hals.« Mit vor Wut verzerrtem Gesicht trat der Kanonikus einen Schritt vor und schlug C. B. immer wieder und wieder mit seinen kleinen, fetten Händen ins Gesicht. »Schwein! Schwein! Schwein!« kreischte er. »Ihretwegen besteht jetzt also die Gefahr, daß mein Sanktuarium ent‐ weiht wird! Sollen Bauernlümmel, die die Bedeutung des höchsten Mysteriums nicht zu fassen imstande sind, hier herumtrampeln, meinen unschätzbaren Besitz und mein Lebenswerk zerstören? O nein! Wenn Sie, der Sie eine Ah‐ nung von diesen Dingen haben, erst einmal aus dem Weg sind, werde ich mit den anderen schon fertig werden.« Seine Wut verrauchte ebenso plötzlich, wie sie aufgef‐ lammt war. Sehr viel ruhiger setzte er hinzu: »Wir befinden uns in England. Niemand wird es wagen, ohne einen 152
Durchsuchungsbefehl in mein Haus einzudringen. Es wird hier auch gar nichts zu suchen geben, denn ich halte Sie ja nicht gefangen, sondern man wird Ihre Leiche auf den Schienen finden. Sie haben von meinen Homunkuli nichts gewußt, bevor ich Ihnen davon erzählte. Deshalb können Ihre Freunde gar keinen Verdacht schöpfen, an welchem Werk ich arbeite. Sie können weiter nichts wissen, als daß ich geplant hatte, Ellen Breddows entführen zu lassen. Es wird mir ein leichtes sein, jeden, der herkommt und Nach‐ forschungen anstellen will, zum Narren zu halten.« »Sie irren sich.« Es kostete C. B. große Mühe, zu sprechen, aber er wußte, daß er um sein Leben kämpfte. »Meine Freunde werden auf einer Autopsie bestehen, und dabei wird dies teuflische Gift in meinem Körper entdeckt wer‐ den. Das liefert Sie an den Galgen.« Der Kanonikus lachte auf. »Falsch, ganz falsch! Wie die meisten Drogen, die den Körper lähmen, aber das Gehirn nicht beeinflussen, wird auch diese schnell abgebaut. Bis Ihre Leiche gefunden wird, ist auch nicht eine Spur mehr davon vorhanden.« Neue Hoffnung glomm in C. B. auf. Wenn er den Kanoni‐ kus im Gespräch hinhalten konnte, gewann er vielleicht den Gebrauch seiner Gliedmaßen soweit zurück, daß er ei‐ ne heftige Bewegung machen konnte. Copely‐Syles man‐ gelte es offensichtlich sowohl an Muskeln als auch an Steh‐ vermögen. Er würde einfach umkippen, wenn er von ei‐ nem wesentlich schwereren Mann plötzlich angesprungen wurde.
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Unmittelbar darauf mußte er diese Hoffnung aufgeben. Als habe er die Gedanken seines Opfers gelesen, erklärte der Kanonikus: »Bei einem so großen Mann wie Ihnen, Colonel Verney, könnte die Wirkung der Droge von ungewöhnlich kurzer Dauer sein, und von einem so musterhaften Exemp‐ lar britischer Männlichkeit ist kaum zu erwarten, daß es sich angesichts des nahen Todes ruhig verhält. Da möchte ich doch lieber eine weitere Vorsichtsmaßnahme treffen.« Aus dem Schränkchen, in dem er auch den Wein verwahr‐ te, holte er ein Knäuel Kordel und eine Schere. Mit ge‐ schickten Bewegungen schnitt er Stücke von der Kordel ab und band C. B.’s Arme an den Lehnen und seine Knöchel an den Beinen des Sessels fest. C. B. war noch zu schwach, um nennenswerten Widerstand zu leisten, und als er ein‐ mal gefesselt war, hätte er sich auch im Vollbesitz seiner Kräfte nicht mehr losreißen können. »Zweifellos hoffen Sie, Sie hätten noch eine Chance, sobald wir Sie auf den Schienen allein gelassen haben«, bemerkte Copely‐Syles. »Geben Sie sich bloß keinen Illusionen hin! Wie Sie wissen, werden die Homunkuli mit menschlichem Blut gefüttert. Glücklicherweise habe ich bei der Beschaf‐ fung keine Schwierigkeiten, denn ich habe in London einen tüchtigen Mann, der für mich jede Woche ein paar Flaschen aus einem Krankenhaus stiehlt. Ihr Besuch bietet mir die Möglichkeit, ein bißchen Geld zu sparen.« C. B. überlief ein Schauder bei dem Gedanken, daß sein Blut benutzt werden sollte, um die scheußlichen Kreaturen in den Glaskrügen am Leben zu erhalten.
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»Blutspendern wird für gewöhnlich ein halber Liter ent‐ nommen«, murmelte der Kanonikus überlegend. »Das hat kaum eine Wirkung auf sie. Also werde ich Ihnen mindes‐ tens die doppelte Menge abzapfen. Das verstärkt die Wir‐ kung der Droge. Noch mindestens eine Viertelstunde lang werden Sie zu schwach sein, auch nur einen Finger zu he‐ ben. Und zehn Minuten genügen für unsere Zwecke.« C. B. fühlte bereits seine Kraft zurückkehren. Er machte verzweifelte Anstrengungen, sich loszureißen. Die Kordel schnitten ihm ins Fleisch, aber es gelang ihm nicht, seine Fesseln zu lockern. Der Kanonikus lächelte verächtlich. »Sobald ich hörte, daß Sie ein Betrüger sind, eilte ich hierher zurück, weil ich fürchtete, Sie könnten sich in meiner Abwesenheit an den Homunkuli vergreifen. Jetzt muß ich mir erst in allen Ein‐ zelheiten schildern lassen, was de Grasses Bote zu berich‐ ten hat. Es wäre ein Fehler, Sie zu früh auf die Schienen zu legen, denn dann könnte irgendwer über Sie stolpern. Folg‐ lich lasse ich Sie solange hier. Achmed kann allerdings schon den Schubkarren holen, mit dem Sie an den Schau‐ platz Ihrer Exekution gebracht werden.« Mit auf dem Rücken verschränkten Händen wanderte er gemessenen Schrittes den Mittelgang hinunter. Er schaltete alle Lampen bis auf zwei aus und schloß die Eisentür hinter sich ab. C. B. fühlte, wie ihn Verzweiflung überkam. Cope‐ ly‐Syles hatte in kürzester Frist einen so perfekten Mord‐ plan ausgeheckt, daß schon ein Wunder geschehen mußte, wenn er ihm nicht gelingen sollte.
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Kalter Schweiß trat C. B. auf die Stirn, als er überlegte, wie unwahrscheinlich solch ein Wunder war. Die Hoffnung, daß er von John gerettet werden könnte, hatte er bereits aufgegeben. Er hatte ihn angewiesen, um Mitternacht die Polizei zu holen. Bis dahin würde er schon fünfundfünfzig Minuten tot sein, wenn der Zug pünktlich war. Es gab kei‐ nen Grund zu der Annahme, daß John entgegen seinen Anweisungen handeln sollte, außer wenn . . . C. B. versteifte sich in seinem Sessel. Außer wenn John den Boten gesehen und als einen von de Grasses Leuten er‐ kannt hatte. Dann konnte er sich an allen fünf Fingern ab‐ zählen, daß C. B. ausgespielt hatte. Was würde John unter diesen Umständen tun? Läutete er an der Vordertür und fragte nach ihm, erhielt er die Antwort, Mr. Verney habe das Haus bereits durch die Hintertür verlassen und nehme eine Abkürzung zum Dorf. Auch wenn John das nicht glaubte, mußte er, schon um die Polizei zu verständigen, erst ins Dorf fahren. Und dann? Er würde zurückkehren und versuchen, ins Haus einzudringen. Gelang ihm das und er wurde entdeckt, stand er allein gegen drei Männer. Und selbst wenn John nicht entdeckt wurde, wußte er nicht, wo er C. B. zu suchen hatte. Die Fenster der Krypta waren alle zugemauert. Von außen gab es also keinen di‐ rekten Zugang, und die Eisentür konnte John unmöglich aufbrechen. Es blieb nur eine winzige Chance: John mochte die Satanisten dabei überraschen, wie sie ihr Opfer hinaus in den Garten trugen. Aber auch diese Hoffnung war vergebens. John würde be‐ stimmt erst zehn Minuten nach der Ankunft des Boten war‐ 156
ten, ob C. B. nicht unbeschadet das Haus verließ. Damit würde sich alles Weitere verzögern. Bis John wieder zurück sein konnte, war der Londoner Zug längst über C. B.’s Körper gedonnert. Als C. B. zu diesem Schluß gekommen war, stieß er einen Laut aus, der eher einem Stöhnen als einem Seufzer glich. Er war rettungslos verloren, und er mußte sich damit ab‐ finden. Ihm blieb kaum noch eine Viertelstunde zu leben übrig. Doch er war ein Mann, der bis zum letzten Atemzug nicht aufgab. Für kurze Zeit gelang es ihm beinahe, seine Furcht zu überwinden, und er brachte es sogar fertig, seinen ra‐ senden Herzschlag zu verlangsamen. Wieder und wieder sann er auf Mittel zur Flucht oder ein Argument, das den Kanonikus veranlassen könnte, die Exekution zu verschie‐ ben. Es fiel ihm nichts ein. Vor seinem geistigen Auge tauchte das Bild auf, wie er in der dunklen Nacht hilflos auf den Eisenbahnschienen lag und sie bei der Annäherung des Zuges vibrieren fühlte. Er begann zu beten, aber das Bild wollte nicht verschwin‐ den. Es wurde zu einer Folge von Bildern. Er wurde halb bewußtlos mit einer Schubkarre durch den Garten gefah‐ ren, und seine langen Beine baumelten zu beiden Seiten he‐ runter. Der Kanonikus und der Ägypter legten seinen schlaffen Körper auf die Schienen. Der Zug raste auf ihn zu. Der zerquetschte Rumpf und der abgetrennte Kopfla‐ gen im Morgengrauen immer noch dort. Eisenbahnarbeiter fanden ihn auf dem Weg zur Arbeit.
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In diesem Augenblick kam ihm ein Einfall. Er konnte sich nicht retten, aber er konnte sich an dem Kanonikus rächen. Wenn er mit aller Kraft an seinen Fesseln zerrte, schnitten sie ihm so tief ins Fleisch, daß die Wunden noch lange nach seinem Tod sichtbar blieben. Beim Auffinden seiner Leiche konnte kein Zweifel daran bestehen, daß er gefesselt gewe‐ sen war und es sich um Mord handelte. Dann hatte Kano‐ nikus Copely‐Syles den Unfall umsonst vorgetäuscht und würde unter Anklage gestellt werden. C. B. biß die Zähne zusammen, drehte seine Handgelenke hin und her und bewegte seine Knie. Der Schmerz ließ ihn aufstöhnen, aber er hörte nicht eher auf, bis beide Handge‐ lenke blutig waren. Als er schwer atmend in dem Sessel zusammensank, fiel ihm noch etwas ein. Die Wunden, die er sich selbst beigeb‐ racht hatte, konnten ihm das Leben retten. Sobald Copely‐ Syles zurückkehrte, wollte er sie ihm zeigen. Der Kanoni‐ kus war kein Dummkopf, und selbst mit Hilfe der Magie würde es ihm nicht möglich sein, innerhalb der wenigen Minuten, die ihm noch zur Verfügung standen, blutende Verletzungen spurlos verschwinden zu lassen. Er mochte ein krimineller Besessener sein, aber geistesgestört im ei‐ gentlichen Sinn war er nicht. Er würde sofort erkennen, daß er seinen ursprünglichen Plan aufgeben mußte. Was er dann auch aushecken mochte, es bedeutete eine Verzöge‐ rung, und eine halbe Stunde konnte schon genügen, um John und nach ihm die Polizei auf der Bildfläche erscheinen zu lassen. Während er voller Aufregung darüber nachdach‐
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te, merkte C. B. plötzlich, daß am anderen Ende der Krypta irgend etwas vorging. Ein schwaches »Plop« war an seine Ohren gedrungen. Er drehte den Kopf und starrte auf den Ofen. Von dort kam ein Zischen. Die beiden Lampen, die der Kanonikus nicht ausgeschaltet hatte, befanden sich in der Nähe des Altars, so daß der vordere Teil des Tempels in tiefem Dunkel lag. Der große offene Ofen sah wie eine schwarze Höhle aus, und doch kam es C. B. so vor, als stiegen jetzt von der Koksschicht graue Rauchwölkchen auf. C. B. holte tief Luft. Sein Herz begann zu hämmern. Eine neue Furcht überfiel ihn, eine, die sich völlig von den Äng‐ sten unterschied, die er seit dem Einnehmen des Gifttrun‐ kes gehabt hatte. Die Wände dieser alten Steinkammer waren Zeugen vieler schrecklicher Rituale gewesen. Nur Gott und der Teufel konnten wissen, zu welchen Greueln Copely‐Syles Zu‐ flucht genommen hatte, um seinen Homunkuli Leben zu verleihen, jenes augenblicklich noch fischartige Leben, das ihnen nicht gestattete, die Krüge zu verlassen. Der ganze Raum roch nach dem Bösen. Für seinen höllischen Schöp‐ fungsakt hatte der Kanonikus die Hilfe der mächtigen Geis‐ ter gebraucht, die die vier Elemente Erde, Luft, Feuer und Wasser beherrschen. Er mußte auch jene Wesenheiten aus dem Abgrund gerufen haben, die auf einer niedrigeren Ebene leben, aber ständig danach gieren, in diese Welt überzuwechseln, und die unter geeigneten Umständen nicht nur von menschlichen Augen gesehen werden, son‐ dern auch scheußliche feste Formen annehmen können. Es 159
war sogar möglich, daß er zur Vollendung seines teufli‐ schen Werkes eine der eisigen Intelligenzen aus dem Äuße‐ ren Kreis hatte beschwören müssen. Einen Dämon, neben dem selbst die Schrecken der Hölle verblaßten, einen von der Art, wie er Crowley und McAleister erschienen war. Voller Angst vor dem, was er zu sehen bekommen würde, versuchte C. B., mit seinen Augen das Dunkel zu durch‐ dringen. Innerhalb von Sekunden nach dem zweiten »Plop« wußte er, daß seine Sinne ihn nicht getäuscht hat‐ ten. Die Kohlenschicht lag nicht mehr flach da. Sie schien in der Mitte einen Klumpen bekommen zu haben. In dem Rauch und Qualm materialisierte sich irgendein gräßliches Ding. Der Klumpen erhob sich. In der Mitte der unförmi‐ gen Gestalt war ein heller Schimmer zu erkennen. C. B. hörte genau, wie der Koks unter dem Wesen knirschte. Gleich darauf wuchtete es sich aus dem Ofen und landete mit einem Plumps auf dem Fußboden. Jetzt wurde das Ding durch die Tische vor C. B. verdeckt, dessen Rückgrat sich in Eis verwandelte. Er drückte sich in den Sessel und umklammerte die Armlehnen, und der kal‐ te Schweiß brach ihm aus. Bitterkeit erfüllte ihn bei dem Gedanken, daß er, gerade als er eine Möglichkeit gefunden hatte, sich vor dem Kanonikus zu retten, einer satanischen Macht zum Opfer fallen sollte. Er konnte das Ungeheuer herumkrabbeln hören. C. B. schloß die Augen und begann zu beten. Inständig flehte er zu dem Gott der Gnade, des Friedens und der Liebe, ihm in seiner tiefen Not zu helfen. Über den Steinfußboden der Krypta kam etwas schnell auf ihn zu. Als C. B. glaubte, der Klumpen in seiner Kehle 160
müsse ihn ersticken, wurde sein Gebet beantwortet. Laut, klar und unmißverständlich rief Johns Stimme ihn beim Namen, und eine Sekunde später faßte eine menschliche Hand seine Schulter. C. B. öffnete die Augen, und John sprudelte hervor: »Gott sei Dank, daß ich Sie gefunden habe. Vor zwanzig Minuten kam ein Taxi an. Als der Fahrgast den Fahrer bezahlte, konnte ich einen Blick auf sein Gesicht werfen. Es war Up‐ son, de Grasses Pilot. Da konnte ich mir denken, daß es für Sie Ärger geben würde. Ich schlich mich ums Haus, bis ich ein Fenster fand, durch dessen Vorhänge Licht fiel. Es stand einen kleinen Spalt offen. Ich lauschte und erkannte die Stimme des alten Knaben. Er kreischte vor Wut. Soviel ich verstand, warteten Sie auf ihn in der Kapelle, und Sie würden jetzt etwas erleben, etwas sehr Unangenehmes. Zehn Minuten gingen mir verloren, weil ich erst nach ei‐ nem Zugang zum Haus suchen mußte. Schließlich kletterte ich aufs Dach. Ein Oberlicht war nicht da, aber der Kamin war breit genug. Deshalb warf ich zuerst meinen Regen‐ mantel hinunter für den Fall, daß unten ein Feuer brannte, und dann sprang ich hinterher.« »Gut gemacht!« keuchte C. B. »Wenn du mich nicht gefun‐ den hättest, wäre ich morgen früh tot gewesen. Wir haben keinen Augenblick zu verlieren. Der Feind kann jede Se‐ kunde zurückkommen. Auf dem Altar liegt ein Schwert. Schneide mich damit los.« Gehorsam faßte John nach dem Schwert, doch als er den Griff packte, warf er einen furchtbaren Blick über die Schul‐ ter und brummte: »Mir läuft es eiskalt den Rücken hinun‐ 161
ter. Was ist das hier für ein grauenhafter Ort?« »Kümmere dich jetzt nicht darum. Um Gottes willen, zerschneide diese Fesseln!« verlangte C.B. ungeduldig. Die Klinge des sakralen Schwertes war scharf wie ein Ra‐ siermesser, doch die kurze Zeit, die John brauchte, um die Kordel zu zertrennen, kam C. B. wie eine Ewigkeit vor. Der Gedanke, der Kanonikus könne sie überraschen, war längst in den Hintergrund getreten. Ihm war vielmehr, als wolle in der Krypta eine fremde, noch unsichtbare Macht ihr Ent‐ kommen verhindern. Als die letzte Kordel fiel, sprang C. B. auf die Füße, und John, dessen Gesicht jetzt kreidebleich war, stieß hervor: »Um Jesu Christi willen, machen wir, daß wir hier weg‐ kommen!« Seite an Seite setzten sie sich in Bewegung, aber ihre Füße waren wie aus Blei. Alle Kraft entströmte ihren Körpern. Bei den Refektoriumstischen angekommen, konnten sie sich nur noch langsam voranschleppen. Die Luft war eis‐ kalt geworden und leistete ihnen Widerstand wie Wasser. Mit erstickter Stimme begann C. B., das Vaterunser zu sprechen. »Vater unser, der du bist im Himmel . . .« Beinahe sofort ließ der Druck nach, und sie konnten auf den kaminartigen Ofen zutaumeln. John hatte seinen Re‐ genmantel auf den Boden geworfen. Als er ihn aufnahm, blickte sich C. B., der immer noch laut betete, hastig um, ob er nicht etwas anderes finden könne, das ihre Füße schüt‐ zen konnte. Sein Blick fiel auf die Roben, die der Kanonikus trug, wenn er als Teufelspriester amtierte. Sie waren aus schwerer, scharlachfarbener Seide, mit magischen Zeichen 162
in Schwarz bestickt und hingen an einem Garderobenstän‐ der unweit der Tür. Während John die obere Koksschicht mit Wasser besprengte, holte C. B. die Gewänder, warf sie auf die zischende Glut und rief: »Los! Steig hinauf!« John sah auf die blutenden Handgelenke und zögerte, aber C. B. stieß ihn vorwärts. Zwei Minuten später hatten sie sich beide an den eisernen Handgriffen, die früher die Ka‐ minkehrerjungen benutzten, nach oben gearbeitet. Voller Ruß und halb erstickt standen sie nebeneinander auf dem Dach der Kapelle. Doch das Böse, das aus dem unter ihnen liegenden Tor zur Hölle hervorströmte, war so mächtig, daß sie sich noch längst nicht in Sicherheit fühlten. Ohne Rücksicht auf die Gefahr, auf dem nassen Dach auszurutschen, kletterten sie die Schräge bis zur nächsten Regenrinne hinunter und lie‐ ßen sich aus einer Höhe von drei Metern fallen. In wortlo‐ sem Einverständnis rafften sie sich sofort aus dem nassen Gras hoch, rannten um das Haus, durch den Garten und beinahe eine Viertelmeile die Straße hinunter, ehe die fri‐ sche Nachtluft und der Regen, der ihnen ins Gesicht schlug, sie endlich überzeugt hatten, daß sie draußen im Freien waren. In ihrem Entsetzen waren sie am Wagen vorbeigerast. Nun kehrten sie um, stiegen ein und verbanden C. B.’s Wunden, so gut das mit ihren Taschentüchern möglich war. Dann zündeten sie sich Zigaretten an. C. B. berichtete John über seine Erlebnisse im Hause des Kanonikus. Bei der Be‐ schreibung der Homunkuli wurde es John beinahe übel, aber daraus wurde helle Wut, als er erfuhr, welches Schick‐ 163
sal Christina zugedacht war. Den Mordplan, dem C. B. zum Opfer gefallen wäre, hätte er ihn nicht befreit, sah John als ausreichenden Grund an, sofort die Polizei zu ho‐ len. C. B. legte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Langsam, Partner! So einfach geht das nicht. Der alte He‐ xenmeister, sein ihm ergebener Diener und der Pilot wür‐ den aussagen, sie hätten mich gefesselt, weil sie mich bei einem Einbruch ertappten, und Tatsache ist, daß du wirk‐ lich eingebrochen bist. Wir hätten keinen Beweis. Unser Wort stände gegen ihres.« »Die Polizei würde Ihnen glauben, C. B. Ihre Dienststelle in London könnte für Sie bürgen.« »0 ja. Auf einen Telefonanruf bei der Abteilung hin käme morgen bestimmt jemand, um mich zu identifizieren und sich für mich zu verbürgen. So ungefähr hatte ich mir unser Vorgehen gedacht, als ich noch der Meinung war, mir kön‐ ne in jenem Haus nichts Schlimmeres passieren, als in ei‐ nem Keller eingesperrt zu werden. Jetzt bin ich unendlich glücklich, daß du mich herausgeholt hast, ohne erst die Hü‐ ter des Gesetzes zu Hilfe zu rufen. Ich kann dir nie genug dankbar sein, John.« »Aber wir sollten die Polizei jetzt benachrichtigen«, beharr‐ te John auf seiner Meinung. »Es wäre doch eine Unge‐ heuerlichkeit, wenn dieser Wahnsinnige mit seinem Mord‐ versuch und all den anderen Teufeleien, die er vorhat, un‐ geschoren davonkäme.« »Das werden wir nicht zulassen, John. Aber wir müssen unsere Karten vorsichtig ausspielen. Bevor wir den näch‐ 164
sten Schritt tun, brauchen wir ein paar handfeste Beweise gegen ihn.« »Verstößt es nicht gegen das Gesetz, daß er diese Homun‐ kuli im Haus hat?« »Das möchte ich bezweifeln. Soviel ich weiß, gibt es keinen Präzedenzfall, und seit es keine Kir‐ chengerichte mehr gibt, ist eine Verfolgung wegen Hexerei nicht wieder vorgekommen. Auch könnte er sich immer auf ein wissenschaftliches Experiment hinausreden. Wie dem auch sei, ich wünschte, wir hätten genug Zeit gehabt, die Krüge zu zerschlagen und die scheußlichen Wesen, die sich darin befinden, zu töten.« John schüttelte es. »Ich glaube nicht, daß ich es fertiggeb‐ racht hätte. Ich meine, mich dort einen Augenblick länger aufzuhalten, als ich unbedingt mußte. Als ich durch den Kamin rutschte, hatte ich gar keine Angst, doch als ich einmal unten war, hatte ich immerzu das Gefühl, etwas Unsichtbares lauere in den Schatten hinter mir und beo‐ bachte mich und werde mir gleich in den Nacken springen. Kurz bevor Sie zu beten begannen, meinte ich, ich müsse ersticken, und ich fürchtete, wir würden nie mehr ent‐ kommen.« C. B. nickte. »Genauso ist es mir auch ergangen. Die Erklä‐ rung ist, . daß die Krypta zum Tummelplatz einiger beson‐ ders unangenehmer Elementargeister geworden sein muß. Als Hausgeister des Kanonikus wollten sie auf ihre blinde, ungeschickte Weise natürlich unsere Flucht verhindern. Wären wir länger geblieben, hätten sie sich vielleicht mate‐ rialisiert. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, gleich sei es so‐ weit, und mir standen vor Angst die Haare zu Berge. Ich 165
konnte an nichts anderes mehr denken als daran, so schnell wie möglich davonzulaufen.« John drückte seine Zigarette aus und ließ den Motor an. »Nachdem wir glücklich entkommen sind, bin ich froh, daß wir dem Haus einen Besuch abgestattet haben. Sie haben schon sehr viel herausgefunden, und wir wissen jetzt we‐ nigstens, gegen was wir kämpfen. Am liebsten wäre mir natürlich, wir könnten die Sache noch heute nacht zu Ende führen, die Polizei rufen und den Kanonikus ins Gefängnis bringen lassen. Aber da Sie gute Gründe dagegen haben, ist das Beste, was wir tun können, einen heißen Grog zu trin‐ ken, unsere nassen Klamotten auszuziehen und ins Bett zu springen.« »Noch nicht, mein Junge«, antwortete C.B., während der Wagen an Geschwindigkeit gewann. »Ich will gerne den Barmixer aus dem Schlaf reißen, damit wir unseren Grog trinken können, sobald wir nach Colchester zurückkom‐ men. Aber ich habe nicht die Absicht, das gleich zu tun. Zuerst müssen wir noch ein wenig Beweismaterial gegen Seine satanische Hochwürden sammeln.« John verlangsamte die Fahrt, wandte sich zu ihm und starr‐ te ihn an. »Sie ... Sie wollen doch nicht etwa noch einmal in dies höllische Haus gehen?« »Nein, das nicht. Nur wird die Zeit so knapp, daß ich mich entschlossen habe, ein Risiko auf mich zu nehmen. Ich darf gar nicht daran denken, was mein Chef sagen wird, wenn die Sache schiefgeht, und du hältst dich am besten ganz he‐ raus. Ich habe vor, in ein Privathaus einzubrechen.« 166
XVII
John stieß einen Pfiff aus. »Ich will einem alten Hasen keine Lehren erteilen, aber . . . wollen Sie denn Ihre Karriere rui‐ nieren?« »Das ist möglich. Wir haben es hier leider nicht mit einem Amateur in der Schwarzen Magie zu tun, der das Wohlbe‐ finden eines einzigen jungen Mädchens bedroht, sondern mit einem Satanisten erster Klasse, der dabei ist, ein Grau‐ en über die Welt zu bringen, wie es sein Herr, der Teufel, selbst hätte erfinden können. Um ihn aufzuhalten, bin ich zu allem bereit.« »So gesehen haben Sie absolut recht. Wo ist denn das Haus, in das Sie einbrechen wollen?« »Ich meine The Grange.« »Aber Beddows ist doch gar nicht da!« »Wir könnten immerhin Anhaltspunkte für seinen Auf‐ enthaltsort und seine Verbindung mit dem Kanonikus fin‐ den.« John war nicht allzu begeistert. »Ich könnte mir vorstellen, daß es auch in The Grange irgendwelchen unheimlichen Spuk gibt. Reicht es Ihnen denn für eine Nacht noch nicht?« »Um ehrlich zu sein, John, doch, ich habe genug davon«, antwortete C. B. leise. »Aber im Augenblick kennen wir nur die Hälfte der Geschichte. Beddows kann uns die andere Hälfte liefern. Wir müssen in Erfahrung bringen, warum der Kanonikus ausgerechnet Christina als sein Opfer auser‐ sehen hat und warum ihr Vater sie in Südfrankreich zu verstecken suchte. Kann sein, daß Copely‐Syles ihn erpreßt. 167
Wenn das der Fall ist oder wenn Beddows uns einen Hin‐ weis auf eine kriminelle Handlung geben kann, können wir mit gesetzlichen Mitteln gegen ihn vorgehen. Dazu müssen wir erst einmal Beddows ausfindig machen. Mir scheint, unsere größte Chance liegt in der Durchsuchung seines Hauses. Mit ein bißchen Glück finden wir Papiere, aus de‐ nen wir entnehmen können, wohin er sich abgesetzt hat.« »An so etwas hatte ich nicht gedacht«, gestand John. Er trat aufs Gas, und zwei Minuten später parkte er den Wagen hundert Meter vom Tor zu The Grange entfernt auf einem Seitenweg. C. B. zog unter dem Sitz eine große Taschenlampe hervor und ging an den Kofferraum, aus dem er einige ungewöhn‐ liche Gegenstände holte. Sie folgten der Straße bis zum Eingang. Hier blieb C. B. stehen. »Also diesmal . . .« »Nichts zu machen, C. B.«, unterbrach John ihn. »Mir ist viel zu kalt und zu naß, um hier zu warten. Ich komme mit Ihnen.« »Dann werden wir, wenn man uns schnappt, beide wegen Einbruchs eingelocht werden.« »Nein, einer von uns wird wahrscheinlich entkommen können. Ich konnte Sie nicht zu dem Kanonikus begleiten, weil er mich wiedererkannt hätte. Hier ist das etwas ande‐ res. Wirklich, ich finde, wir werden beide viel sicherer sein, wenn wir zusammenbleiben.« C. B. grinste John in der Dunkelheit an. »Ich kann nicht leugnen, daß ich froh über deine Begleitung bin. Dann komm.« 168
Hintereinander schlichen sie über den Grasstreifen neben der Zufahrt bis zur Hinterseite des Hauses. In keinem Fens‐ ter war Licht zu sehen, und jetzt hörte man auch das Radio nicht mehr. Aber da es erst kurz nach elf war, fürchtete C. B., die Jutsons könnten noch wach sein. Deshalb bewegte er sich auch weiterhin mit größter Vorsicht. »Ob sie wohl einen Wachhund haben?« flüsterte John. »Wenn sie einen haben, ist das ein ziemlich sicherer Beweis dafür, daß hier nichts Schlechtes vorgeht. Hunde bleiben nicht in einem Haus, in dem es Geister gibt. Sie laufen da‐ von.« Sie umrundeten das Haus und blieben vor der Vorderfront stehen. C. B. streifte ein paar Gummihandschuhe über und sagte John, er solle seine waschledernen anziehen. Dann wählte er ein kleines Fenster in einem zweistöckigen, halb‐ runden Turm an der Vorderseite und öffnete es geschickt mit einer kurzen Brechstange. Er kletterte hinein, und John folgte ihm. Für eine Sekunde schaltete C. B. seine Taschen‐ lampe ein. Vor ihnen lag ein kurzer Flur und eine mit grü‐ nem Flies bespannte Tür. Sie öffneten sie lautlos, blieben stehen und lauschten. Nichts rührte sich. C. B. schaltete er‐ neut seine Taschenlampe ein und ließ ihren Strahl erst langsam ringsherum, dann nach oben und unten wandern. Die Tür führte in die Eingangshalle des Hauses. Auf der einen Seite stieg eine breite Treppe nach oben, und auf der anderen Seite befand sich eine schmale Galerie. Den Ein‐ dringlingen gegenüber war die Haustür, und zu beiden Seiten davon gab es weitere Türen. C. B. ließ den Lichtkegel
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auf einer großen Eichentruhe unter der Treppe verweilen. Auf ihr stand ein Telefon. Leise ging er hin und schnitt die Leitung durch. »Sollten wir überrascht werden, erhöht das unsere Chan‐ cen, uns in Sicherheit zu bringen«, bemerkte er. »Es ist doch ein Trost, wenn man sein erstes Ding mit ei‐ nem Profi dreht«, antwortete John. Ein schwaches Geräusch, das von oben zu kommen schien, nahm ihm jede Lust zu weiteren Scherzen. Es hörte sich an wie das gedämpfte Klirren kleiner Metallstücke. C. B. knipste sofort die Taschenlampe aus. Eine Minute lang verharrten sie schweigend im Dunkeln. Dann flüsterte John ein wenig heiser: »Was war denn das? Geister rasseln doch nicht wirklich mit ihren Ketten, oder?« »Soviel ich weiß, nicht, aber es hörte sich genauso an«, gab C. B. zurück. »Sei jetzt ganz ruhig, damit wir es das nächste Mal deutlicher hören.« Drei Minuten, die John wie dreißig vorkamen, vergingen, ohne daß sich das Geräusch wiederholte. Dann knipste C. B. die Taschenlampe wieder an. Nichts war zu entdecken. »Ich glaube, das war nur falscher Alarm«, meinte C. B. »In alten Häusern gibt es manchmal seltsame Geräusche. Ge‐ hen wir weiter.« Er durchquerte die Halle und öffnete die Türe rechts vom Eingang. Sie führte in ein langgestrecktes Wohnzimmer mit niedriger Decke. Es roch muffig, als sei hier schon lange nicht mehr gelüftet oder geheizt worden. Die Einrichtung zeugte von wenig Geschmack. Einige Möbel hatten verbli‐ 170
chene Chintzbezüge, die anderen waren schwarz mit Spin‐ delbeinen. An den Wänden hingen Ölschinken in schweren Goldrahmen. Auf einem Tischchen entdeckte John eine Fo‐ tografie von Christina, die sie im Alter von etwa siebzehn zeigte. Er nahm sie in die Hand, betrachtete sie und meinte: »Man kann sich nicht vorstellen, daß ein so schönes Wesen mit dieser scheußlichen Umgebung auch nur entfernt in Verbindung stehen soll.« C. B., der an Christina nichts sonderlich Attraktives finden konnte, lag die Antwort auf der Zunge: »Ich habe besser aussehende Mädchen gekannt, die in den Slums von Hongkong oder New York aufgewachsen waren«, aber ihm fiel noch rechtzeitig ein, daß er John damit verletzen könn‐ te. Also leuchtete er schweigend weiter den Raum aus, bis er sich überzeugt hatte, daß ihnen für den Augenblick hier eine nähere Untersuchung nichts bringen würde. Der auf der anderen Seite der Halle liegende Raum war ein Speisezimmer. Auch dies schien lange nicht mehr benutzt worden zu sein. John ging geradewegs auf eine klotzige, viktorianische Kredenz zu, auf der drei Kristallkaraffen standen. Er zog aus einer den Stöpsel, roch daran und er‐ klärte: »Gut! Da ist Brandy. Leuchten Sie mal einen Mo‐ ment hierher, C. B., damit ich uns einen eingießen kann.« »Ich sehe, du wirst allmählich auch zum Profi«, lächelte C. B. John fand Gläser in einem Schrank, füllte sie und drehte sich grinsend um. »O nein, ich trete hier in meiner Eigen‐ schaft als Christinas Verlobter auf. Mr. Beddows würde be‐
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stimmt von seinem zukünftigen Schwiegersohn erwarten, in seiner Abwesenheit den Gastgeber zu spielen.« »Mir kommt es ganz so vor, als liege dir sehr viel an dem Mädchen. Und dabei kennst du sie noch kaum eine Wo‐ che.« »Wir haben aber in kurzer Zeit zusammen sehr ungewöhn‐ liche Dinge erlebt«, antwortete John. »Da habe ich natürlich ein persönliches Interesse daran, ihr in dieser Angelegen‐ heit zu helfen.« »Dann trinken wir auf unseren Erfolg.« C. B. hob sein Glas. Der Brandy war von keiner sehr guten Qualität, aber er tat ihnen wohl. Johns Schuhe waren vom Stehen auf nassem Boden völlig durchgeweicht, und C. B. hatte Mantel und Hut im Haus des Kanonikus zurücklassen müssen. Beiden war kalt, und obwohl sie es sich nicht anmerken lassen wollten, hatten sie sich von den Schrecken der Krypta noch nicht wieder ganz erholt. Auch das Speisezimmer enthielt kein Möbelstück, das so aussah, als würden Papiere darin aufbewahrt. Deshalb kehrten sie in die Halle zurück und versuchten es mit einer Tür unter der Treppe. Sie fanden einen Flur mit Steinfuß‐ boden, der offenbar in die Küchenregionen führte. C. B. schloß die Tür wieder und schob den Riegel vor. Sollten die Jutsons wach werden, konnten sie sie auf diesem Weg nicht mehr überraschen. Endlich entdeckten sie die Bibliothek. »Ah, das sieht viel‐ versprechend aus.« C. B. leuchtete auf einen großen Schreibtisch, der mit einer Lamellen‐Jalousie verschlossen war. »Stell du dich an die Tür, John, und halte die Ohren 172
offen. Gib mir sofort Bescheid, wenn du jemanden an der Tür zur Küche hörst. Wir haben dann noch genug Zeit, zu‐ rück ins Wohnzimmer zu gehen und aus einem der vorde‐ ren Fenster zu steigen. Da die Fenster der Bibliothek auf den Hinterhof hinausgin‐ gen, zog C. B. die Vorhänge zu. Er nahm ein Bündel mit merkwürdig geformten Schlüsseln aus der Tasche und probierte sie an dem Schreibtisch aus. In weniger als einer Minute hatte er die Jalousie geöffnet. Mit geübten Fingern ging er die kleinen Fächer eines nach dem anderen durch. Sie enthielten Abrechnungen, Briefpa‐ pier, Scheckbücher, Bleistifte, Radiergummis und so weiter. Aus keiner der Rechnungen oder Quittungen ließ sich ent‐ nehmen, daß etwas anderes als ganz normale Geschäfte dahintersteckte. C. B. wollte den Schreibtisch gerade schließen, als John schnell hereinkam und flüsterte: »Ich habe das Klirren der Kette wieder gehört.« Beide traten an die Tür und lauschten angespannt. Es blieb völlig still. Nach einer Weile murmelte John verlegen: »Tut mir leid, ich hätte schwören können, irgendwo oben im Haus werde eine Kette über den Fußboden geschleift, aber ich muß mich geirrt haben. Das sind wohl die Nerven.« »Die dumpfe Atmosphäre hier genügt, um jedem auf die Nerven zu gehen«, erwiderte C. B. verständnisvoll. »Wahr‐ scheinlich hat sich durch den Regen in einem der Kamine Ruß gelöst.« Er begab sich wieder an den Schreibtisch, schloß ihn ab und machte sich an das Öffnen der Schubladen zu beiden 173
Seiten. Sie enthielten eine Anzahl von Briefmarken‐Alben und die Gerätschaften, die ein Philatelist braucht. C. B. blät‐ terte die Alben durch. »Das ist interessant, John. Beddows hat offensichtlich mit einer allgemeinen Sammlung von Marken des britischen Empire angefangen. Dann, als er ein reicher Mann gewor‐ den war, spezialisierte er sich auf Barbados, Cypern und andere Raritäten. Schließlich wurden die neuen Sammlun‐ gen zu wertvoll, um sie bei den anderen zu lassen. Deshalb nahm er seine Lieblingsmarken heraus und klebte sie in ein besonderes Album.« »Wieso ist das interessant?« fragte John erstaunt. »Mein lieber Watson, du weißt doch sicher, daß ein fanati‐ scher Briefmarkensammler seine Lieblingsstücke nie in sei‐ nem Büro aufbewahren würde, wo er sie des Abends nicht betrachten könnte. Die Tatsache, daß die herausgelösten Marken nicht hier sind, sagt mir, daß es irgendwo im Haus einen Safe geben muß. Hat Christinas Papa aber einen Safe, so legt er in diesen auch private Unterlagen, die uns wei‐ terhelfen könnten.« »Das klingt logisch. Könnten Sie denn auch einen Safe öff‐ nen?« »Vielleicht, wenn es ein altes Modell ist. Auf jeden Fall wä‐ re ein Versuch die Mühe wert.« C. B. verstaute die Alben in den Schubladen und schloß wieder ab. Er hatte an einer Wand zwischen zwei Bücher‐ regalen bereits eine Tür entdeckt. Diese öffnete er jetzt und blickte hindurch. Ein paar Modezeitschriften, eine Schale mit getrockneten Blüten und ein Arbeitskorb verrieten, daß 174
dieses Zimmer bei den seltenen Gelegenheiten, wo sie zu Hause war, von Christina benützt wurde. C. B. sah sich darin um. Dann kehrten beide in die Halle zurück. Neben dem Flur, der zur Küche führte, lag noch ein Frühs‐ tückszimmer und daran anschließend eine Kammer, die halb Anrichte, halb Blumenzimmer war. Hier konnte der Safe nicht sein. Höchstwahrscheinlich befand er sich oben in Beddows’ Schlafzimmer. Am Fuß der Treppe blieben sie stehen, und C. B. richtete seine Taschenlampe nach oben. Nichts war zu sehen oder zu hören, doch gerade die Stille in diesem eisigen Haus hatte etwas seltsam Bedrohliches, so daß C. B. und John mit angehaltenem Atem ganz vorsichtig hinaufstiegen. Sie waren noch zwei Stufen von dem ersten Treppenabsatz entfernt und konnten schon die enge Treppe sehen, die ins oberste Geschoß des Hauses führte, als sich das Klirren wieder vernehmen ließ. Diesmal gab es keinen Zweifel. Das Geräusch wurde von einer über einen Holzfußboden geschleiften Kette verur‐ sacht. In dem dunklen, verlassenen Haus klang das so un‐ heimlich, daß ihnen das Blut in den Adern zu gefrieren schien. Einen Augenblick lang waren sie wie gelähmt. Doch gerade das Entsetzen, das ihnen die Kehlen eng machte und ihre Muskeln verkrampfte, bewahrte C. B. da‐ vor, sich den Hals zu brechen. Er hatte nämlich gerade seinen rechten Fuß auf den Trep‐ penabsatz setzen wollen und hielt ihn vor Schreck mitten in der Luft an. Dann setzte er den Fuß sehr zögernd auf den Teppich. 175
Der Teppich gab nach, als sei er ein Federbett. Ein schwa‐ ches Klicken und das Rutschen eines großen Teppich‐ stücks, das von der obersten Stufe nach unten fiel, war zu hören. Es enthüllte zwischen Treppengeländer und Wand ein großes, viereckiges schwarzes Loch. Jeder, der seinen Fuß fest aufgesetzt hätte, wäre viereinhalb Meter tief in die Halle gestürzt. C. B. keuchte, taumelte und gewann das Gleichgewicht zu‐ rück. Er leuchtete mit der Taschenlampe in das Loch und murmelte: »Mein Gott, das war um Haaresbreite! Das ist eine Oubliet‐ te, eine Todesfalle, wie französischen Könige sie in ihren Schlössern für lästige Edelleute vorbereiteten. Diese muß erst kürzlich eingebaut worden sein. Sieh mal die Schnitt‐ kanten der Fußbodenbretter an.« »Aber das Werk von Geistern ist es nicht«, bemerkte John. »Es ist ein handfester Beweis dafür, daß Freund Beddows hier oben etwas verbirgt. Er hat Angst, irgendwer könne es entdecken, daß er nicht davor zurückschreckt, einen Ein‐ dringling zu töten.« In diesem Augenblick erklang das Kettenrasseln erneut. Es war ein nervenzerfetzendes Geräusch. Obwohl sie gera‐ de festgestellt hatten, hier seien keine Geister am Werk ge‐ wesen, wurden beide Männer kreidebleich und wechselten einen schnellen Blick. »Ich nehme an, es ist eine mechanische Vorrichtung, die Besuchern Angst einjagen soll«, meinte John nicht sehr überzeugt.
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»Vielleicht.« C. B. zögerte. »Andererseits, wenn Copely‐ Syles und Beddows Kumpane sind, kann es auch etwas ganz anderes sein. Trotzdem, wenn du bereit bist, gehen wir weiter.« Beide hatten so ziemlich den Mut verloren, und John hätte viel für eine gute Ausrede gegeben. Aber weil er vor C. B. das Gesicht nicht verlieren wollte, antwortete er mit leiser Stimme: »Gut. Aber wenn wir den Treppenabsatz überqueren, soll‐ ten Sie lieber das Vaterunser aufsagen, wie Sie es in der Krypta getan haben, und ich werde mitbeten.« C. B. hän‐ digte John die Taschenlampe aus, packte den Geländerp‐ fosten und schwang sich über die Lücke. Ehe er den Pfos‐ ten losließ, prüfte er die Festigkeit des Fußbodens. John gab ihm die Lampe zurück und folgte ihm. Gemeinsam began‐ nen sie, laut zu beten. Schritt für Schritt tasteten sie sich vorsichtig bis zu der weiter nach oben führenden Treppe vor. C. B. setzte behutsam den Fuß auf die unterste Stufe und leuchtete hinauf. Der Lichtschein zeigte ihnen etwas, das sie mitten im Gebet abbrechen ließ. Die Kette klirrte laut. Wie auf Kommando sprangen sie zurück. Für einen Augenblick hatten sie eine geduckte Gestalt und zwei rötliche Augen erblickt. Das Wesen hockte auf halber Höhe der engen Treppe. Mit erstickter Stimme stieß John hervor: »Um Gottes willen, weg von hier !« Er drehte sich um und wollte davonlaufen. C. B. standen die Haare zu Berge, und die Zunge klebte ihm am Gaumen. Aber er brachte es doch fertig, John nach‐
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zurufen: »Vorsicht! Gib auf das Loch acht!« Und dann rannte auch er. John blieb so plötzlich stehen, daß C. B. mit ihm zusam‐ menprallte. Die Taschenlampe wurde ihm aus der Hand geschlagen, polterte über den Fußboden und erlosch. Wie eine Decke senkte sich absolute Finsternis auf sie he‐ rab. John taumelte ein paar Schritte zur Seite. Er hatte die Orientierung verloren und wußte nicht mehr, ob der Ab‐ grund vor oder links von ihm gähnte. Einige wenige Schrit‐ te in einer von beiden Richtungen, und er konnte in die Halle hinunterstürzen. Die Kette rasselte jetzt heftig. Dazu kamen neue Geräusche. Es hörte sich an, als hopse ein weicher, schwerer Körper auf den oberen Stufen herum und als schnappten in schnel‐ ler Folge scharfe Zähne zusammen. John fühlte, wie ihm am ganzen Körper kalter Schweiß ausbrach. Sosehr er sich vor dem Ding im Hintergrund fürchtete, wagte er doch keinen Schritt zu tun, um sich nicht den Hals zu brechen. Währenddessen suchte C. B. un‐ ter wütendem Fluchen auf Händen und Knien die verlore‐ ne Taschenlampe. Wenige Sekunden später stieß seine rechte Hand dagegen. Er schaltete sie ein und fühlte unendliche Erleichterung. Er richtete den Schein auf das Loch. Dort war nichts als der schwarze Abgrund. Auch waren keine sie verfolgenden Schritte zu hören. Aber das Klirren, Hopsen und Zähneflet‐ schen ging immer weiter.
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Nur seine Loyalität hinderte John daran, mit einem Satz über das Loch zu springen und die Treppe hinunterzura‐ sen. Er brüllte: »Kommen Sie! Auf was warten Sie noch?« C. B., immer noch auf den Knien, leuchtete jetzt nach oben. »Bleib hier, John. Ich möchte mir das noch einmal genauer ansehen.« John drehte sich wieder um. Mit Entsetzen beobachtete er, wie C. B., von neuem mit dem Vaterunser beginnend, auf‐ stand und voranschritt. Am Fuß der Treppe machte er vor seinem Gesicht das Zeichen des Kreuzes. Das Licht der Taschenlampe fiel zum zweiten Mal auf die geduckte Gestalt und die brennenden Augen. Rund um die Augen war dunkles, zottiges Haar zu erkennen. Darunter knirschten zwei Reihen gelblicher Zähne in einem großen Maul. Das Geschöpf schnatterte wütend und sprang auf und ab. Seine langen Gliedmaßen warfen groteske Schatten auf die Stufen hinter ihm. C. B. stellte mit ruhiger Stimme fest: »Die Tatsache, daß es nicht die Treppe herunterkam und uns angriff, brachte mich zu der Überlegung, daß dieses spezielle Schreckgespenst an der Kette liegen muß. Die Ket‐ te ist an dem Pfosten auf dem obersten Absatz befestigt.« John trat neben ihn. Sie betrachteten das Geschöpf auf der Treppe. Es war ein großer Menschenaffe, nicht ganz so groß wie ein Pavian, aber doch durchaus imstande, einen Menschen übel zuzurichten. »Dies hübsche Tierchen ist ein weiterer Beweis, daß Bed‐ dows oben im Haus etwas hat, das er um jeden Preis vor einer Entdeckung schützen will«, sagte C. B. 179
»Ja, aber wie sollen wir hinaufkommen?« fragte John. »Wie du weißt, kann ich recht gut mit Tieren umgehen. Hätte ich eine oder zwei Stunden Zeit, kann ich den Bur‐ schen so zahm machen, daß er uns vorbeilassen würde. Aber da wir uns beeilen müssen, bleibt nichts anderes üb‐ rig, als Gewalt anzuwenden.« Mit diesen Worten öffnete C. B. die nächste Tür auf dem Flur. Dahinter lag ein Schlafzimmer. Neben dem Bett hing ein altmodischer Klingelzug. Er stieg auf einen Stuhl, nahm das Band ab und reichte es John. »Zieh das eine Ende durch den Ring und wirf es unserem haarigen Freund über den Kopf. Achte darauf, daß die Schlinge über seine Schultern rutscht und ihm die Arme festhält. Aber gib acht, daß er nicht mit den Füßen nach dir greift.« C. B. nahm sich das Federbett, kehrte zur Treppe zurück und legte die Taschenlampe auf die unterste Stufe, so daß sie das ärgerlich knurrende Tier anleuchtete. Er stieg ein paar Stufen hinauf und wedelte mit dem Federbett, wie es ein Matador mit seiner Muleta tut. Der Affe wollte ihn ans‐ pringen, doch die Kette riß ihn zurück. C. B. sprang zwei weitere Stufen hoch, warf das Federbett über das Ungetüm und hielt es fest. »Schnell, John!« rief er, und im nächsten Augenblick hatte John die Schlinge über das ganze Bündel gezogen. Die Stärke und die Wut des Affen erschwerten die Aufgabe, ihn sicher zu fesseln, aber das Band war lang genug, es auch um seine Beine zu winden, und als das erst geschafft war, fiel da übrige nicht mehr schwer. Sie rollten das Tier 180
über seine Kette die Treppe hoch und schlangen, oben an‐ gekommen, die Kette auch noch um seine Füße. Das Überwältigen des Affen hatte ihre Aufmerksamkeit und ihre Kräfte so in Anspruch genommen, daß sie erst jetzt merkten, welche Überraschung noch für sie bereitge‐ halten wurde. Unter einer Tür im oberen Flur kam ein Lichtschein hervor. Er war hell genug, daß sie den Wassernapf des Affen und eine Zinnschüssel mit den Überresten seiner letzten Mahl‐ zeit erkennen konnten. Sie sahen sich an. Welches neue Geheimnis mochte hinter dieser Tür stecken? Wenn in diesem Zimmer mitten in der Nacht Licht brannte, mußte es einen Bewohner haben. Aber selbst wenn dieser geschlafen hatte, mußte er von dem Lärm längst aufge‐ wacht sein. Er wußte also, daß Eindringlinge auf dem Weg zu seinem so gut geschützten Heiligtum waren. Warum gab er kein Lebenszeichen von sich? C.B. drückte die Türklinke, doch die Tür bewegte sich nicht. Sie war abgeschlossen. Von drinnen war kein Laut zu hören. Abgesehen von dem Rumoren des eingewickelten Affen herrschte im Haus vollkommene Stille. John schlich die Treppe hinunter, holte die noch auf der un‐ tersten Stufe liegende Taschenlampe und leuchtete die Tür an. Es war zu vermuten, daß sie zu einem Abstellraum oder einem Dienstbotenzimmer führte. C. B. klopfte. Nichts rührte sich. Er klopfte lauter. Immer noch war kein Laut zu vernehmen. Er stemmte die Schulter gegen die Tür und drückte mit aller Macht dagegen. Der obere Teil gab ein wenig nach, aber das Schloß hielt. C. B. 181
nahm einen Anlauf und trat heftig gegen die Stelle, wo das Schlüsselloch saß. Das Holz splitterte, und die Tür flog auf. Das Zimmer war viel größer, als sie erwartet hatten, und so hoch, daß die Dachbalken in dem trüben blauen Licht, das von der Mitte des Fußbodens aufstieg, nur schwach zu er‐ kennen waren. Es war ein Dachboden, der die ganze Breite und etwa die halbe Länge des Hauses einnahm. Er enthielt kein Möbelstück, keinen Teppich und keinen Vorhang, und die drei Fenster waren mit braunem Papier zugeklebt. Der ganze Raum war leer wie das Innere einer Trommel bis auf eine einzige menschliche Gestalt und ein paar seltsame Ge‐ genstände in ihrer unmittelbaren Nähe. Als erstes sprang ein großer, fünfzackiger Stern ins Auge. Er wurde von langen Glasröhren gebildet, wie man sie für Leuchtreklamen verwendet. Durch sie zog sich ein elektri‐ scher Draht, von dem das kalte blaue Licht ausging. In je‐ der Zacke des Sterns stand eine hohe weiße Kerze, aber sie brannten nicht. Offenbar waren sie nur für den Notfall vor‐ gesehen, wenn der elektrische Strom versagte. Hinter jeder Kerze lag ein nagelneues Hufeisen. In den stumpfen Win‐ keln zwischen den Zacken standen fünf halb mit Wasser gefüllte kleine Silberschalen, dahinter je ein Kräuterbündel. Schwach zu erkennen waren zwei dick mit Kreide auf dem Fußboden gezogene Kreise. Der innere, der einen Durch‐ messer von gut zwei Metern hatte, verband die stumpfen Winkel des Sterns, der äußere, der viel größer war, die Spitzen. Zwischen den beiden Kreisen waren kabbalistische Formeln und die Tierkreiszeichen eingetragen.
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Im Mittelpunkt des Sterns saß unbeweglich ein Mann. Er war mit einem gestreiften Pyjama und Socken bekleidet. Darunter schien er mehrere Schichten Unterwäsche zu tra‐ gen, denn die Jacke spannte sich über seiner Brust. Er war klein, untersetzt, etwa fünfzig Jahre alt. Sein Haar war dunkel, sein Gesicht breit und sein viereckiges, entschlos‐ senes Kinn so blau von Bartstoppeln, als habe er sich seit einer Woche nicht rasiert. Er hockte mit gekreuzten Beinen auf einer dicken Lage von Bettüchern. Sein Rücken berühr‐ te eine große Teekiste. Seine ungebetenen Gäste hatten keinen Zweifel, wer er war. C. B. trat einen Schritt in den Raum hinein und sagte: »Wir bitten um Entschuldigung, daß wir auf diese Weise bei Ihnen eindringen, Mr. Beddows, aber wir kommen in einer Sache von äußerster Dringlichkeit.« Der Mann bewegte sich nicht und sprach nicht. »Sie sind Henry Beddows, nicht wahr?« fragte C. B. Der Mann starrte durch sie hindurch, als seien sie gar nicht da. »Antworten Sie!« rief John ungeduldig. »Wir sind eigens von Südfrankreich hergekommen, um mit Ihnen zu spre‐ chen. In Ihrer Firma wurde uns gesagt, Sie seien ins Aus‐ land gegangen und als wir uns hier im Haus erkundigten, haben die Jutsons uns angelogen. Jetzt, wo wir Sie trotz al‐ lem aufgespürt haben, spielen Sie um Himmels willen nicht den Taubstummen! Ihre Tochter Ellen ist in großer Ge‐ fahr.« Die Hände des Mannes begannen zu zittern. Er wandte die Augen ab, aber er sprach kein Wort. 183
John und C. B. traten näher. Letzterer bestätigte: »Was mein Freund gesagt hat, ist die reine Wahrheit, Sir. Im Au‐ genblick befindet Ihre Tochter sich im Gefängnis. Wir tun unser Bestes.« »Im Gefängnis!« stieß der Mann hervor und kam schnell auf die Füße. Dann wandelte sich sein Gesichtsausdruck von Überraschung zu Ungläubigkeit. Er streckte die Hand aus, machte das Zeichen des Kreuzes und schrie laut: »Hebe dich von mir, Satan!« John murmelte: »Großer Gott! Ich glaube, er ist wahnsin‐ nig.« C. B. schüttelte den Kopf. »Nein. Sein Benehmen erklärt al‐ le Geheimnisse, die wir in diesem Haus gefunden haben. Es ist jemand hinter ihm her, und er fürchtet sich zu Tode. Deshalb hat er sich in ein Versteck verkrochen. Die Oubliet‐ te und der Affe sollten verhindern, daß sein Feind ihm ei‐ nen persönlichen Besuch abstattet. Aber etwas anderes ängstigt ihn noch weit mehr. Er fürchtet, es könne von ei‐ ner der niedrigeren astralen Ebenen ein gräßliches Unge‐ heuer gesandt werden, um seine Seele zu holen. Darum hat er das Pentagramm gemacht. Er sitzt darin wie in einer ast‐ ralen Festung, und er glaubt nicht, daß wir echte Menschen sind. Er hält uns für böse Wesenheiten, die ihn aus der Si‐ cherheit in die Vernichtung locken wollen.« Plötzlich lachte Beddows trotzig auf. »Und das seid ihr auch! Euer schlaues Geschwätz kann mich nicht täuschen! Geht zurück zu dem, der euch gesandt hat!« »Reden Sie kein dummes Zeug!« fuhr John ihn an. »Wir sind wirklich, und wir sind Freunde. Sie sind der einzige Mensch, der uns 184
die Wahrheit über diese scheußliche Angelegenheit sagen kann, und wir müssen sie erfahren, damit wir Christina . . . Ellen retten können.« »Lügner! Laich des Vaters der Lügen! Geh dahin, woher du gekommen bist.« »Wir sind aus Fleisch und Blut«, gab John ärgerlich zurück. »Wenn Sie mir nicht glauben wollen, werde ich es Ihnen beweisen.« C. B. stieß einen Warnschrei aus, weil John Anstalten mach‐ te, in das Pentagramm zu treten. »Halt! Der Schock kann ihn töten!« Es war zu spät. John hatte die Linie blauen Lichts überquert und streckte eine Hand aus, um Beddows zu berühren. Das Gesicht des unseligen Mannes verzerrte sich vor Ent‐ setzen. Erwarf die Arme hoch, gab einen durchdringenden Schrei von sich und kippte John vor die Füße, als sei er von einer Axt getroffen. XVIII
Beddows war auf das Gesicht gefallen. Seine eine Hand hatte eine der kleinen Silberschalen, die in den stumpfen Winkeln des Pentagramms standen, umgeworfen, aber sonst hatte seine magische Festung weiter keinen Schaden erlitten, und der große fünfzackige Stern glühte unbeirrt weiter. C. B. rasten Bilder von der zu erwartenden polizeilichen Ermittlung durch den Kopf, aber er sprang schnell vor, um
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John zu helfen. Sie drehten den schlaffen Körper um und richteten ihn in sitzende Haltung auf. Im vollen Licht von C. B.’s Taschenlampe bot das Gesicht des Bewußtlosen einen häßlichen Anblick. Sein Kopf rollte jetzt haltlos auf der Kante der Teekiste hin und her, sein offener Mund bildete ein dunkles Loch zwischen den bläu‐ lichen Bartstoppeln, und unter den halb geschlossenen Li‐ dern konnte man das Weiße seiner Augen sehen. John öff‐ nete die Pyjama‐Jacke seines Opfers und zerrte verzweifelt an den Knöpfen der drei Unterjacken, die es darunter trug. Als er einen Ausschnitt der haarigen Brust freigelegt hatte, legte C. B. seine Hand darauf und seufzte erleichtert auf. »Sein Herz ist ziemlich stark, und es sieht nicht so aus, als habe er einen Schlaganfall. Er muß vor Entsetzen das Be‐ wußtsein verloren haben.« »Gott sei Dank«, murmelte John. »Ich dachte schon, ich hät‐ te ihn umgebracht.« C. B. richtete die umgefallene Silberschale wieder auf und goß die Hälfte des Inhalts einer zweiten hinein. »Aus welchem Grund tun Sie das?« erkundigte sich John. »Ich repariere die Bresche in der astralen Verschanzung.« »Glauben Sie wirklich, daß Kräuter, Hufeisen und Kerzen einen Menschen vor bösen Geistern beschützen können?« »Ja, das glaube ich. Sie müssen nur in Übereinstimmung mit den richtigen Formeln angeordnet sein. Es gibt Natur‐ gesetze, die, wenn sie auch von der modernen Wissen‐ schaft verachtet werden, ebenso wirkungsvoll ihren Zweck erfüllen wie Radarschirme oder unsere neuesten Compu‐ ter.« 186
John warf nervöse Blicke um sich. »Nachdem, was ich heu‐ te abend in der Krypta erlebt habe, zweifele ich nicht mehr daran, daß in einem Haus wie diesem überall schreckliche Dinge lauern können. Es beruhigt mich, daß Sie glauben, dieser ganze Hokuspokus sei ein wirksamer Schutz für uns.« »Um uns bin ich nicht ganz so besorgt wie um ihn.« C. B. schlug Beddows ins Gesicht, um ihn wieder zu Bewußtsein zu bringen. Als das keinen Erfolg hatte, legte er ihn in einer bequemeren Haltung hin und setzte hinzu: »Im Augenblick haben wir wohl nicht viel zu befürchten, aber er ist in aku‐ ter Gefahr, solange die Ohnmacht andauert.« »Wieso? Er ist doch mit uns in dem Pentagramm!« »Aber seine Seele hat vorübergehend seinen Körper verlas‐ sen. Das gibt seinen Feinden die Möglichkeit, sie zu fangen. Wenn sie schnell genug gewesen sind, können sie es schon getan haben, als wir den magischen Kreis betraten und das Weihwassergefäß umkippte. Ist das nicht geschehen, hat er die Chance, daß das wiederhergestellte Pentagramm ihn schützt. Nur weiß ich nicht genug über diese Dinge, um sicher zu sein. Eins steht fest: In seinem gegenwärtigen Zu‐ stand ist er zehnmal verwundbarer als wir. Wenn es also in diesem Raum irgendwelche bösen Mächte gibt, werden sie bestimmt ihn zuerst angreifen.« »Was . . . was wird geschehen, wenn sie Erfolg haben?« »Wenn er wieder zu sich kommt, wird er nicht mehr er selbst sein. Sein Körper wird nicht mehr von der Seele Henry Beddows bewohnt werden, sondern von einem Dä‐ mon.« 187
»So ähnlich, wie es mit Christina jede Nacht geschieht?« »Nein, weitaus schlimmer. Sie hat immer noch ihren Ver‐ stand. Er wird von unheilbarem Wahnsinn befallen sein.« »Ein bißchen verrückt muß er aber schon vorher gewesen sein«, meinte John. »Sonst hätte er sich doch nicht für die ganze Nacht in drei Garnituren Unterwäsche und einem Schlafanzug hierhergesetzt. Jeder vernünftige Mensch hätte Tageskleidung und einen Mantel angezogen oder zumin‐ dest einen warmen Schlafrock.« »Ganz im Gegenteil, seine Kleidung verrät, daß er genau weiß, was er zu tun hat.« C. B. leuchtete mit seiner Ta‐ schenlampe über den Fußboden. »Sieh dir das an! Der gan‐ ze Dachboden ist mit peinlicher Sorgfalt ausgeräumt und gesäubert worden, bevor er das Pentagramm anlegte. Es ist ihm also bekannt, daß Schmutz und Staub den Elementar‐ wesen helfen, sich zu materialisieren. Vor allem werden sie von den Unreinheiten des menschlichen Körpers angezo‐ gen. Als er sich hier verbarrikadierte, hat er jede Vor‐ sichtsmaßnahme getroffen, um dem Feind keinen Vorteil zu geben. Alle angeschmutzten Kleidungsstücke, Kissen und Teppichen könnten dem Bösen von Nutzen sein. Des‐ halb hat er sich mit Unterzeug und Bettlaken versehen, die frisch aus dem Leinenschrank kommen.« »Nach seinen Bartstoppeln zu schließen, sitzt er hier schon mehrere Tage. Deshalb nehme ich an, daß er das Pentag‐ ramm tagsüber doch dann und wann verlassen hat.« »Warum sollte er? Denkst du an seine natürlichen Funktio‐ nen?«
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»Ja. Wenn Sie mit den menschlichen Unreinheiten recht haben, würden seine eigenen inmitten des Pentagramms einen gefährlichen Brennpunkt bilden, und es ist doch nicht möglich, daß er sie sich in der ganzen Zeit, die sein Bart gewachsen ist, verkniffen hat.« »Ein indischer Fakir könnte es, und er auch, falls er sich in Joga geübt hat. Aber er hat das Problem auf andere Weise gelöst.« C. B. richtete die Taschenlampe auf die Teekiste. Mehr als die Hälfte ihres Raums nahm ein Metallbehälter mit luftdicht schließendem Deckel ein. Sonst befanden sich in der Kiste noch zwei Büchsen mit Keksen und ein Dutzend Flaschen, von denen die Hälfte noch mit Wasser gefüllt war. »Viel gegessen haben kann er nicht«, bemerkte John. »Er konnte es nicht wagen, Fleisch, Wild oder Fisch in das Pentagramm zu bringen«, antworte‐ te C. B. »Und selbst Obst würde nach einem oder zwei Ta‐ gen schlecht werden.« »Er muß zu Tode geängstigt gewesen sein, daß er sich hier eingeschlossen und auf eine Gefängnisdiät gesetzt hat.« »Ja«, stimmte C. B. zu und schaltete die Lampe aus, um die Batterie zu schonen. »Aber was haben wir für ein Glück, daß wir ihn hier gefunden haben! Wenn er nur wieder zu sich käme und wir mit ihm offen reden könnten! Solange er noch solche Furcht hat, werden wir das Rätsel lösen, wie Christina in diese schreckliche Geschichte hineingeraten ist.« »Das wissen wir doch schon. Dieser teuflische Kanonikus ist hinter ihr her, weil er mit ihrem Blut seine widerwärti‐ gen Homunkuli füttern will.« 189
»Wir müssen aber noch aufklären, wie sie überhaupt unter den Einfluß Copely‐Syles’ gekommen ist und in welcher Verbindung er mit ihrem Vater steht. Ich habe an Erpres‐ sung gedacht, doch es muß mehr als das dahinterstecken. Das Pentagramm verrät, daß Beddows selbst auch ein ziemlich fortgeschrittener Okkultist ist. Ich frage mich, ist er ein Schwarzer Magier, der mit dem Kanonikus in Streit geraten ist, oder ein Weißer, der im Kampf gegen ihn zu schwach war? Arbeiten er oder Copely‐Syles oder beide mit anderen Hexern zusammen? Wir wissen, daß der Tag der größten Gefahr für Christina der 6. März ist, und wir haben jetzt Hoffnung, daß wir sie vor den Klauen der Sata‐ nisten schützen können, bis dieser Tag vorüber ist. Aber wir müssen auch an ihre Zukunft denken. Diese Leute werden sie zu einer Hexe machen, wenn wir kein Mittel finden, es zu verhindern. Nur wenn wir die volle Wahrheit erfahren, können wir sie ein für alle einmal von dem bösen Einfluß befreien.« John nickte. »Und das müssen wir schaffen. Aber was ist, wenn Beddows aufwacht und wir feststellen, daß er beses‐ sen ist?« »Dann wird es für uns sehr unerfreulich werden«, gab C. B. grimmig zurück. »Er wird sich wahrscheinlich wie ein Tob‐ süchtiger benehmen und versuchen, uns zu töten.« »Indem Fall haben wir keine andere Alternative, als ihm auf den Kopf zu schlagen.« »Wenn er gewalttätig wird, ja. Er kann es auch mit List probieren und uns mit einer plausiblen Geschichte in Ge‐ fahr bringen.« 190
»Und was tun wir dann?« »Wir gehen eine Zeitlang auf ihn ein. Glücklicherweise sind die Elementarwesen, die von Menschen Besitz ergreifen, dafür bekannt, daß sie nur geringe Intelligenz haben. Für gewöhnlich verraten sie sich. Wir werden es merken, ob Beddows selbst mit uns spricht oder irgendein Scheusal, das sich seiner Zunge bedient. Sollten wir Zweifel haben, gibt es immer noch ein Mittel, uns zu vergewissern.« »Welches?« »In den kleinen Silberschalen ist Weihwasser. Ich werde ihn mit ein paar Tropfen besprengen. Ist er besessen, wird er schreien, als sei er verbrüht worden.« Beddows gab kein Zeichen von sich, daß sein Bewußtsein zurückkehrte. Deshalb setzten sich C. B. und John neben ihn und warteten. Das blaue Leuchten des Sterns war hell genug, daß man innerhalb des Pentagramms oder unmit‐ telbar daneben Großgedrucktes hätte lesen können, aber weiter weg verdichtete sich das Halbdunkel zu beinahe vollkommener Schwärze. Sobald sie nicht mehr miteinander sprachen, wurden sie sich wieder der unheimlichen Stille bewußt, die das alte Haus beherrschte. Der Affe draußen hatte seine Versuche, sich zu befreien, aufgegeben. C. B. überlegte, ob sie das ar‐ me Vieh erstickt hatten. Aber das war nicht gut möglich, denn wenn auch seine Arme festgebunden waren, blieb ihm zwischen den Falten des Federbetts noch genug Luft zum Atmen. Wahrscheinlich hatte sein Kampf ihn er‐ schöpft, und er war eingeschlafen.
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John versuchte, seine Gedanken auf Christina zu richten, aber sie schweiften immer wieder zu der Tatsache ab, daß der bewegungslose Körper neben ihm ihr Vater war und daß sie ihn in einer phantastischen Situation getroffen hat‐ ten. Es schien unglaublich, daß ein Industrieller des zwan‐ zigsten Jahrhunderts sich tagelang bei Keksen und Wasser in ein Pentagramm setzte, weil nur das ihm sicheren Schutz vor bösen Geistern gewährte. Von da war es nur ein Schritt zu der Überlegung, welche Wesen er zu sehen gefürchtet hatte, als er Tag für Tag und Nacht für Nacht hier hockte. John versuchte, die Augen zu schließen. Er fühlte den unwiderstehlichen Zwang, sich immer wieder zu vergewissern, daß sich in den Schatten nichts rührte, daß kein unreiner Bewohner der Ewigen Nacht in einer der dunklen Ecken Gestalt annahm. Es kam ein Augenblick, da hätte John schwören können, daß sich am anderen Ende des Raums ein buckliges Ding wie eine Schildkröte bildete, ein Ding, bei dem Pulsieren seines Rückens sein bösartiges Leben verriet. Er wollte sich nicht lächerlich machen. Trotzdem hatte er sich gerade ent‐ schlossen, C. B.’s Aufmerksamkeit auf das Ding zu lenken, als Beddows ein lautes Stöhnen von sich gab. John fuhr zusammen. C. B. schaltete die Taschenlampe ein. Der Lichtstrahl streifte die dunkle Ecke, die John beobach‐ tet hatte. Mit Erleichterung stellte er fest, daß entweder gar nichts dagewesen war oder der helle Schein das Wesen ge‐ zwungen hatte, sich zu entmaterialisieren. Beddows hatte die Augen geöffnet und leckte seine trocke‐ nen Lippen. Er stöhnte noch einmal, machte eine schwache 192
Handbewegung, als wolle er das Licht wegwischen, und kämpfte sich in sitzende Position hoch. John half ihm dabei, und C. B. senkte die Taschenlampe ein wenig. Keiner von beiden ließ sich seine Angst anmerken, aber sie dachten an nichts anderes als daran, wieviel von den nächsten Sekun‐ den abhing. War Beddows im Besitz seines Verstandes, mochte er ihnen die Wahrheit über die seltsame Verbin‐ dung zwischen seiner Tochter und dem Kanonikus mittei‐ len, und mit seiner Hilfe konnte das Band für immer gelöst werden. War er jedoch besessen, wurde er statt zu einer Hilfe zu einer furchtbaren Gefahr. Sein Benehmen war nicht dazu angetan, ihnen neuen Mut zu geben. Er stieß die beiden Männer zur Seite, richtete sich auf den Knien auf und schrie mit harter Stimme: »Wer seid ihr? Zum Teufel, wie seid ihr hier hereinge‐ kommen?« »Mein Name ist Verney«, stellte C. B. sich ruhig vor, »und der meines Freundes ist John Fountain. Wir wollen Ihnen nichts zuleide tun. Im Gegenteil, wir . . .« »Warum sollte ich das glauben?« brüllte Beddows. Er tau‐ melte auf die Füße und hatte offensichtlich die Absicht, aus dem Pentagramm hinauszuspringen. C. B. packte mit einem Rugby‐Griff seine Knie. Im nächsten Moment fiel Beddows der Länge nach auf die Bettlaken. Er versuchte hochzukommen, doch jetzt hielt auch John ihn fest. Er war ein starker Mann, und er kämpfte verzweifelt, aber es gelang ihnen, ihn unten zu halten. Das veranlaßte C. B. zu der Vermutung, er sei nicht besessen, sondern einfach 193
ein sehr geängstigter und wütender Mann. Als Beddows, dem der Atem ausging, sein Fluchen einstellte, redete C. B. ihn an: »Jetzt hören Sie einmal zu! Sie haben sich in eine ganz und gar unheilige Misere gebracht, und wir sind hier, um Ihnen herauszuhelfen.« »Das glaube ich nicht!« keuchte Beddows. »Wie sind Sie hereingekommen? Jutson oder seine Frau müssen Sie ein‐ gelassen und Ihnen von der Falle und dem Affen berichtet haben. Trotz all ihren Versprechungen haben sie mich an Copely‐Syles verraten!« »O nein, das haben sie nicht. Wir sind eingebrochen.« Beddows fauchte: »Wenn das wahr ist, werde ich Sie an‐ zeigen!« »Das werden Sie nicht. Stellen Sie sich einmal die Schlag‐ zeilen in der Zeitung vor: ,Vorstandsvorsitzender saß in magischem Pentagramm. Satanische Rituale in einem Her‐ renhaus in Essex’ und so weiter!« »Verdammt sollen Sie sein!« Beddows wäre es mit einer gewaltigen Kraftanstrengung beinahe gelungen, sich loszu‐ reißen. »Ruhig!« C. B. wechselte den Griff und drückte Beddows mit seinem ganzen Gewicht wieder nach unten. »Seien Sie kein Narr, Beddows. Gerade eben wollten Sie mit einem Satz aus dem Pentagramm springen. Das wäre doch die größte Dummheit gewesen, nicht wahr? Nur hier drinnen sind Sie sicher.« Beddows beruhigte sich. Seufzend fragte er: »Was, zum Teufel, wollen Sie von mir?« 194
C. B. spürte, daß der Widerstand des Mannes erlahmte. »Wir wollen die Wahrheit über Ihre Verbindung mit Kano‐ nikus Copely‐Syles wissen.« »Nein! Nein! Ich will nicht über ihn sprechen! Das würde die Gefahr für mich nur noch vergrößern!« »Nehmen Sie sich zusammen, Mann«, redete C. B. ihm zu. »Nicht Sie allein sind in Gefahr. Denken Sie doch an Ihre Tochter Ellen!« »Ellen«, wiederholte Beddows kläglich. »Ich dachte, es sei mir gelungen, sie herauszuhalten.« »Ganz und gar nicht. Der Kanonikus will ihr Blut. Das meine ich wörtlich, und ich würde jede Summe darauf wet‐ ten, daß Sie wissen, was er mit ihrem Blut vorhat. Fountain und ich sind aus Südfrankreich hergekommen, um Sie aus‐ findig zu machen. Sie werden uns alles erzählen, was Sie über den Kanonikus wissen.« »Nein! Ich habe mein Bestes für Ellen getan. Mehr kann ich nicht tun. Ich rede nicht. Es ist zu gefährlich.« »Doch, Sie werden reden«, versicherte C. B. »Sonst schlage ich das Pentagramm in Stücke, und dann gehen Fountain und ich weg und lassen Sie hier allein.« Beddows stierte ihn in panischer Angst an und keuchte vor Entsetzen. Schließlich murmelte er: »Nun gut. Was wollen Sie wissen?« »Wie lange kennen Sie Copely‐Syles?« »Seit etwas mehr als zwanzig Jahren.« »Wo haben Sie ihn kennengelernt?« »Hier.«
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C. B. hob seine Augenbrauen. »Ich dachte, Sie hätten dieses Haus erst 1949 gekauft?« »Das stimmt.« Nachdem Beddows sich einmal entschlossen hatte zu reden, sprach er mit ganz normaler Stimme. »Ich habe das Haus erst nach dem Tode der alten Hure gekauft. Ihr Name war Durnsford – die Honourable Mrs. Bertram Durnsford ‐, und ich war von 1927 bis 1931 ihr Chauffeur.« »Ich verstehe. Sie haben also den Kanonikus in der Zeit kennengelernt, als Sie hier als Chauffeur arbeiteten?« »Das ist richtig. Eigentlich kenne ich ihn beinahe schon fün‐ fundzwanzig Jahre, aber anfangs war es nur so, wie ein Dienstbote eben einen Besucher seiner Herrin kennt. Er war ein Busenfreund von dem alten Mädchen, und er war sehr oft hier.« »War sie eine Hexe?« »Ja. In Essex gibt es immer noch eine Menge davon. Sie war so lange hier Herrin des Hauses gewesen, daß sie sich selbst zur Gentry rechnete, aber das stimmte nicht. Sie hatte ihr Leben als Tochter der Dorfhexe begonnen, und es heißt, sie habe einen Zauber über einen jungen Squire geworfen, damit er sie heirate. Außerdem geht das Gerücht, daß sie, sobald sie ihn satt hatte, ein Wachsbild benutzte, um ihm eine tödliche Krankheit anzuhängen. Nach seinem Tod spielte sie die Königin und regierte das Dorf mit eiserner Faust. Sie starb mit achtzig, und in den letzten Jahren war sie schon ein wenig senil. Deshalb hatte sie viel von ihren okkulten Kräften und damit auch von ihrem Geld verloren. Aber sie war immer noch mächtig genug, mich, nachdem
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sie mein Kaufangebot abgelehnt hatte, mit ihren Mitteln daran zu hindern, sie aus dem Haus zu bekommen.« »Warum waren Sie so scharf auf das Haus?« fragte John. »Mein Herz hing daran«, war die unerwartete Antwort. »Ich kam als junger Mann von dreiundzwanzig hierher. Bald darauf begegnete mir die Liebe; und die ganz wenigen schönen Dinge, die ich in meinem Leben je gehabt habe, sind die Erinnerungen daran. Deshalb wollte ich ,The Grange’ haben. Natürlich schmeichelte es auch meiner Ei‐ telkeit, das Haus zu besitzen, in dem ich einmal Dienstbote gewesen war. Aber hauptsächlich wollte ich da leben, wo sie gelebt hatte.« »Kommen wir auf Copely‐Syles zurück«, mahnte C. B. »Wie kam es, daß Sie mit ihm in eine engere Verbindung traten als mit irgendeinem anderen Besucher Ihrer Herrin?« Beddows seufzte schwer. Dann zuckte er resigniert die Schultern. »Da Sie darauf bestehen, ist es wohl besser, ich erzähle Ihnen die ganze Geschichte von Anfang an.« XIX Mit flacher, monotoner Stimme, als spreche er mit sich selbst, begann Beddows: »Es ist Ihnen ja nicht neu, daß ich ein Selfmademan bin. Daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht. Ich wurde et‐ wa ein Dutzend Meilen von hier als Sohn eines Landarbei‐ ters geboren, und ich begann meine Laufbahn als Kleink‐ necht. Aber ich war ehrgeizig. Ich dachte, ein Weg hinaus aus diesem Elend sei, etwas über Motoren zu lernen. Des‐ 197
halb verwendete ich meine Pfennige nicht für Schundro‐ mane, sondern für Fachzeitschriften. Auf diese Weise lernte ich genug, um eine Stellung in einer Garage zu bekommen. Später ließ man mich einen Mietwagen fahren, dann über‐ nahm mich einer der Kunden, ein Arzt, als Privatchauffeur. Ich war achtzehn Monate bei dem Doktor, und in dieser Zeit besuchte ich Abendkurse am Technical College in Col‐ chester. Damals hatte ich den festen Vorsatz, Ingenieur zu werden. Aber ich hatte nicht genug Zeit, um zu Hause ler‐ nen zu können, denn der Chauffeur eines Arztes hat sehr viel zu tun. Deshalb wechselte ich zu Mrs. Durnsford über. Sie war schon über sechzig und fuhr nicht oft aus. Ein Jahr verging, in dem ich fleißig lernte, doch dann wur‐ den meine Gedanken von meinem Studium abgelenkt. Ers‐ paren Sie mir die Einzelheiten. Wie ich schon erwähnte, begegnete mir die Liebe, und hinterher.. . nun, hinterher hatte ich keine Lust mehr, von neuem mit der Arbeit anzu‐ fangen. Während ich noch in diesem deprimierten Zustand war, fing mich Hettie Weston ein. Sie war hier das Zimmermäd‐ chen, ein hübsches, oberflächliches junges Ding, und wäre ich es nicht gewesen, dann irgendein anderer. Ich interes‐ sierte mich gar nicht für sie, aber nie hat ein Bursche eine heißblütige junge Frau nötiger gebraucht als ich, um auf andere Gedanken zu kommen. Ausgerechnet mir passierte es, daß das dumme Ding in andere Umstände kam. Nun, so etwas geschieht auf dem Lande häufig, und dann wird entweder geheiratet, oder es fließen ein paar Tränen, und dann hängt das Mädchen das Kind einem anderen 198
Burschen an. Für gewöhnlich gelingt es ihr, wenn nicht beim zweiten, dann beim dritten Mal, einen vor den Trau‐ altar zu schleppen. Auch bei Hettie wäre es so gekommen, wäre die Alte nicht gewesen. Hettie verpetzte mich bei ihr, und ich mußte antreten. Hät‐ te ich ihr nur gesagt, sie könne mich sonstwo, dann wäre mir nichts Schlimmeres passiert, als daß ich meine Stellung verloren hätte und auf Alimentenzahlung verklagt worden wäre. Aber ich war in einem Zustand, in dem es mir ganz egal war, was mit mir passierte. Ich glaubte sowieso an keine Zukunft mehr, für die es sich zu kämpfen lohnte. Hinzu kamen verschiedene andere Dinge, und darunter war etwas, von dem ich nicht die geringste Ahnung hatte. Zunächst einmal waren junge Burschen meiner Klasse seit Generationen daran gewöhnt, sich den Befehlen der Herr‐ schaft zu fügen, besonders wenn es aussah, als hätte sie die Moral auf ihrer Seite. Dann war sie eine furchterregende Person. Wenn sie einen mit ihren schwarzen Knopfaugen durchbohrte, war es nicht leicht, nein zu sagen. Und schließlich, und das wußte ich eben damals nicht, war ihr alles über mich bekannt; wie ehrgeizig ich gewesen war und aus welchem Grund ich zeitweilig jeden Gedanken an ein Ingenieurstudium aufgegeben hatte. Sie hatte keine ed‐ len Motive, als sie darauf bestand, ich müsse Hettie heira‐ ten. Es war ihre angeborene Bosheit. Nach allem, was pas‐ siert war, bereitete es ihr ein Extravergnügen, mich an das Zimmermädchen zu binden und mir eine Verantwortung aufzuhalsen, die es einem jungen Arbeiter unmöglich machte, sich über seinen Stand zu erheben. 199
Wie dem auch sei, sie schüchterte mich so ein, daß ich aus Hettie eine ehrliche Frau machte. Wir zogen in die Woh‐ nung über der Garage, wo jetzt die Jutsons leben. Es dauer‐ te einige Zeit, bis ich merkte, daß ich mir selbst mein Leben verpfuscht hatte. Irgendwie fand ich nicht die Energie, mein Fernstudium wiederaufzunehmen. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg. Dann, drei Nächte bevor Ellen ge‐ boren wurde, schien sich mir plötzlich einer zu bieten. Ich war unterwegs gewesen und hatte ein bißchen gewil‐ dert. Als ich spät nach Hause kam, waren die Vorhänge vor einem der Wohnzimmerfenster nicht ganz zugezogen, und ich sah ein Flackern, als sei ein Feuer ausgebrochen. Ich spähte durch den Spalt, und was glauben Sie, was ich sah? Das Flakkern kam tatsächlich von einem Feuer, denn das Zimmer wurde nur von den flammenden Holzscheiten im Kamin erhellt. Alle Möbel waren zur Seite gerückt, und auf das Parkett waren Kreise und Figuren gemalt. In der Mitte standen meine Herrin und der Kanonikus. Beide waren völlig nackt. Er muß damals auf die Vierzig zugegangen sein. Er war also kein Jüngling mehr und hatte einen kleinen Bauch. Ich fand ihn eher komisch als abstoßend, aber an ihr war abso‐ lut nichts, worüber man hätte lachen können. Sie war zwanzig Jahre älter als er und von der hageren Sorte. Ihre vertrockneten Schenkel und hängenden Brüste machten sie zu der scheußlichsten Karikatur einer Frau. Sie können sich vorstellen, wie ich glotzte. Doch es dauerte kaum eine Mi‐ nute, da wurde meine Aufmerksamkeit viel mehr von dem Ding gefesselt, das zwischen ihnen stand. Ich kann es nur 200
als eine Art Amboß beschreiben, und darauf hatten sie mit dem Bauch nach oben eine lebende Katze gebunden. Allerdings war es nicht mehr lange eine lebende Katze. Der Kanonikus ergriff ein Messer und schnitt ihr die Kehle durch. Mutter Durnsford fing das Blut mit einem Altar‐ kelch auf. Dann tranken sie beide von dem Katzenblut. Mir drehte es den Magen um. Deshalb verpaßte ich einiges. Als ich wieder hinsah, hatten sie sich angezogen. Sie putzte die Kreidezeichnungen vom Fußboden, und er rückte die Möbel wieder an Ort und Stelle. Da ich ihren Ruf als Hexe kannte, hätte ich zwei und zwei zusammenzählen sollen, aber ich tat es nicht. Mich hatte am meisten beeindruckt, daß ich sie nackt erwischt hatte. Damals hielt ich ihn noch für einen richtigen Priester, und ich dachte, die Sache mit der Katze sei irgendeine sexuelle Perversion oder das Trin‐ ken des Katzenblutes könne ein Mittel sein, daß sich alte Leute wieder jung fühlten. Jedenfalls sah ich hier meine große Chance, aus der Sack‐ gasse, in die ich geraten war, auszubrechen. Die hundert Pfund oder so, die ich gehabt hatte, waren für die Woh‐ nungseinrichtung draufgegangen, und seit ich mit Hettie verheiratet war, hatte ich nichts mehr sparen können. War das Baby erst einmal da, würde es noch knapper werden. Ich war siebenundzwanzig. Zehn Jahre, die besten zehn Jahre meines Lebens, waren mir zwischen den Fingern zer‐ ronnen, ohne daß ich einen Schritt weitergekommen war. Nennen wir das Kind beim richtigen Namen. Ich dachte sofort an Erpressung. Der Kanonikus und die Alte würden sicher gern fünfhundert bezahlen, damit ich den Mund 201
hielt. Für ein Pfund pro Woche konnte ich Hettie und das Kind zu ihren Eltern abschieben. Dann würde ich nach London gehen. Mit vierhundert, die ich durch gelegentliche Nachtarbeiten in Garagen und dergleichen strecken wollte, konnte ich zwei Jahre an einer Ingenieurschule studieren. Mit dreißig hätte ich dann mein Examen und könnte eine gutbezahlte Stellung annehmen. Das alles hatte ich mir im Handumdrehen ausgerechnet. Sie konnten die Katze unmöglich im Wohnzimmer ver‐ brennen. Folglich würde der Kanonikus sie wahrscheinlich nach draußen zum Heizungsofen bringen. Ich schlich mich hin und versteckte mich hinter dem Boiler. Tatsächlich, ein paar Minuten später kam er, öffnete die Ofentür, schürte den Koks und warf die tote Pussy hinein. Kaum war er weg, da fischte ich das Tier heraus. Der Pelz war ein biß‐ chen angesengt, was bewies, daß man versucht hatte, es zu verbrennen, und die Kehle war von Ohr zu Ohr aufge‐ schlitzt. Mehr brauchte ich nicht, um ihm die Daumen‐ schrauben anzusetzen. Am nächsten Morgen konservierte ich die Katze in einem mit Lake gefüllten Austernfäßchen und versteckte es auf dem Dachboden. Abends radelte ich auf ein Schwätzchen mit dem Kanonikus zur Priorei hinüber. Aber mir wurde gesagt, er sei nach London gefahren und käme erst in einer Woche zurück. Zwei Tage später bekam Hettie ihr Baby. Ich brauchte den Kanonikus gar nicht mehr aufzusuchen, denn gleich am Tag seiner Rückkehr besuchte er die Alte. Ich wartete im Garten, bis er wieder herauskam. Zuckersüß
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gratulierte er mir und fragte, was ich für das Kind als Tauf‐ geschenk haben wolle. Ich sagte: »Fünfhundert Pfund in Ein‐Pfund‐Noten, die noch vor Ende der Woche an einem von mir zu bestim‐ menden Ort zu übergeben sind.« Darauf grinste er ganz komisch. Er mußte es wohl für eine Art Witz halten. Und als ich ihm gesagt hatte, was ich wuß‐ te, und daß ich es, wenn ich wollte, in der ganzen Nachbar‐ schaft herumerzählen könnte, wurde sein Grinsen noch komischer. Er erklärte sich bereit, den Kadaver der Katze mit fünfhundert Pfund zu bezahlen, und forderte mich auf, abends in die Priorei zu kommen, damit wir den Ort der Übergabe ausmachen könnten. Ich vermutete eine Falle, doch er meinte, solange ich die Katze hätte, hätte ich ihn ja in der Hand, und da stimmte ich zu. Am Abend empfing er mich in seiner Studierstube, bot mir zu trinken an und erkundigte sich, was ich mit dem Geld machen wolle. Ich sah keinen Grund, meine Pläne zu ver‐ heimlichen. »Dann macht es Ihnen also gar nichts aus, von Weib und Kind getrennt zu werden?« fragte er. Ich erwi‐ derte: »Warum sollte es mir etwas ausmachen? Hettie ist mir gegen meinen Willen aufgezwungen worden, und das Kind bedeutet mir überhaupt nichts.« Darauf wollte er wissen, in welcher Kirche das Kind getauft werden solle. Das schien mir bei einem Priester, und dafür hielt ich ihn damals noch, eine ganz natürliche Frage zu sein. Ich war anglikanisch erzogen worden, aber Hettie ge‐ hörte zu den Freikirchlern, und ich nahm an, sie wolle das 203
Balg in deren Kapelle taufen lassen. Das sagte ich dem Ka‐ nonikus auch. Er redete noch ein Weilchen über Religion, und dann fing er an: »Wissen Sie, Mr. Beddows, was Sie da neulich zufäl‐ lig gesehen haben, hatte nichts mit Sex zu tun. Es war ein religiöses Ritual – ein Opfer für einen Gott, der viel älter ist als Christus und der allgemein verehrt wurde, als die Erde ein viel glücklicherer Ort war als heute. Natürlich existiert er immer noch, denn ein Gott kann nicht sterben, und er wird auch immer noch im geheimen von uns wenigen, die wir seine Mysterien verstehen, angebetet.« In diesem Augenblick fiel mir das Dorfgeschwätz wieder ein, Mutter Durnsford sei nicht nur die Tochter einer Hexe, sondern selbst eine. Alles paßte zusammen, und deshalb bemerkte ich: »Ich nehme an, Sie sprechen vom Teufel?« Er nickte. Ich habe ein gutes Gedächtnis, und ich kann sei‐ ne Antwort heute noch Wort für Wort wiedergeben. Sie lautete: »Das ist ein Name, mit dem ihn die frühen Asketen verunglimpfen wollten, als sie noch darum kämpften, den Völkern den jüdischen Tyrannen Jehova als Gott aufzu‐ zwingen. Passender nennt man ihn den Herrn dieser Welt. Während der Gott der Christen seinen Gläubigen nichts anderes zu bieten hat als die wenig lockende Aussicht auf ein jenseitiges Leben in einem Himmel voller Strenge und Mäßigkeit, belohnt der Gott, dem ich diene, alle, die ihm die Ehre geben, hier und jetzt mit Reichtum und Glück. Ob es nun ein Leben nach dem Tode gibt oder nicht – das, was dieses Leben zu bieten hat, kommt von ihm. Das gibt sogar die christliche Kirche zu, und nur abergläubische Furcht 204
hindert die Menschen daran, zum alten Glauben zurückzu‐ kehren. Sie sollten mal einen Versuch machen, Mr. Bed‐ dows, denn mit etwas, das Sie nur wenig kostet, können Sie meinem Herrn ein Geschenk machen, das er äußerst groß‐ zügig belohnen wird.« Damals kapierte ich natürlich nicht, worauf er hinauswoll‐ te, und ich wußte auch nicht recht, ob das, was er von der alten Religion sagte, ernst gemeint war. Es hörte sich glaubwürdig an, daß die Katze ein Opfer gewesen sein soll‐ te. Ich hatte nicht den Eindruck, als sei bei ihm eine Schraube locker. Aber das mit dem Reichtum war schon ein bißchen schwer zu schlucken. Eigentlich nur, weil ich wis‐ sen wollte, welche Antworten er geben würde, begann ich, ihm Fragen darüber zu stellen. Was er mir erwiderte, klang ganz logisch. Trotzdem konnte ich ihm nicht glauben. Dann fragte er mich, ob ich gern einen Blick in die Zukunft tun würde. So etwas möchte ja jeder, und ich hielt es für nichts Schlimmes. Als ich zustimmte, führte er mich durch den alten Teil der Priorei in die Krypta. Sie war früher als Ka‐ pelle benutzt worden. Nun hatte er so eine Art Laborato‐ rium daraus gemacht. Er setzte mich vor einen Spiegel. Er war nicht aus Glas, sondern aus glänzend poliertem Metall. An den abgestoßenen Ecken konnte man sehen, daß er sehr alt war. Er gab mir eine große Messingschüssel, stellte ein paar Weihrauchkegel hinein. Er erklärte: »Innerhalb gewisser Grenzen haben alle Menschen einen freien Willen. Deshalb liegt ihre Zukunft nicht unwiderruf‐ lich fest. Sie hängt vielmehr von den Entscheidungen ab, 205
die sie treffen, wenn sie in ihrem Leben an einen Kreuzweg kommen. Ich werde Ihnen zeigen, wie Ihr Leben sich ent‐ wickeln wird, wenn Sie sich entschließen, sich meiner Füh‐ rung anzuvertrauen und ein Diener des Fürsten Luzifer zu werden. Richten Sie Ihre Augen auf den Spiegel, und durch den Rauch werden Sie Bilder erkennen.« Dann fing er hin‐ ter mir mit irgendeinem Singsang an, und mir wurde ein bißchen schwindelig. Sie wissen ja, daß in der Bibel steht, wie Satan unsern ... un‐ sern ... wie er J. C. auf einen sehr hohen Berg führte und ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zeigte. Also, für mich, der ich nur ein Chauffeur war, dem gegen seinen Willen Frau und Kind als Klotz ans Bein gehängt worden waren, war es nicht viel anders. Es war eine ziemliche Menge von Bildern, und hinterher brachte ich sie etwas durcheinander. Der allgemeine Eindruck war, daß ich selbst ein bißchen, aber nicht viel, älter in teurer Kleidung mit anderen reichen Männern speiste und trank und in Lu‐ xushotels Schäferstündchen mit schönen Frauen hatte. Aber einige Szenen blieben mir ganz klar in Erinnerung. In einer davon ging ich durch eine große Maschinenfabrik, in der Hunderte von Menschen arbeiteten, und aus der res‐ pektvollen Art, in der sie mich ansahen, war zu entnehmen, daß ich der Chef vom Ganzen war. Ein anderes Bild bestä‐ tigte das: Es zeigte meinen Betrieb in Colchester von außen, gerade so, wie er heute dasteht. In drei Meter großen Buch‐ staben stand über dem Eingang ,BEDDOWS ACRICUL‐ TURALTRACTORS’. Aber was mich richtig umwarf, war 206
ein Bild von mir selbst. Es zeigte, wie ich in einem karierten Anzug vor einem langen, niedrigen grauen Automobil stand. Dieser Wagen war ein Modell, das es in jenem Jahr noch gar nicht gab. Es war wirklich ein Blick in die Zu‐ kunft, und wenn Copely‐Syles mir auch in allem anderen blauen Dunst vorgemacht haben konnte, so etwas hätte er sich nicht ausdenken können. Als die Vorstellung vorbei war, sagte ich ihm sofort, er ha‐ be mich gewonnen, und fragte ihn, was ich tun müsse, da‐ mit die Bilder Wirklichkeit würden. Er erwiderte: »Das ist gar nicht so schwierig, wenn Sie nur willens sind, dem düs‐ teren Christengott und allen Seinen Werken abzuschwören. Bereiten Sie sich darauf vor, indem Sie von heute an jeden Abend das Vaterunser rückwärts aufsagen, kommen Sie in einer Woche zur gleichen Zeit wie heute wieder.« Erst als er mich ein paar Minuten später an der Haustür verabschiedete, fiel mir der Anlaß meines Besuches wieder ein, und ich hatte das Gefühl, verschaukelt worden zu sein. Deshalb sagte ich ziemlich scharf: »Wir haben noch gar nichts wegen dieser fünfhundert Pfund vereinbart.« »Nein«, antwortete er, »und wenn Sie einen Funken Ver‐ stand haben, ist das auch gar nicht mehr nötig. Sie täten gut daran, nächste Woche als erste Gabe die tote Katze mitzub‐ ringen. Tun Sie es nicht, werde ich sie Ihnen zu den heute morgen ausgemachten Bedingungen abkaufen. Aber bilden Sie sich nicht ein, das Geld werde Ihnen Segen bringen. In‐ dem Sie es annehmen, bereiten Sie sich eine ganz andere Zukunft als die, die ich Ihnen gezeigt habe. Sie haben die Wahl.« 207
In der folgenden Woche war ich hin‐ und hergerissen. Schließlich waren die fünfhundert Pfund für mich der Spatz in der Hand und ich wollte nicht auf sie verzichten, aber ich konnte das Zukunftsauto nicht vergessen, und als so eine Art symbolischer Anzahlung darauf quälte ich mich jeden Abend eine halbe Stunde mit der schwierigen Aufga‐ be, das Vaterunser rückwärts aufzusagen. Als die Woche vorbei war, hatte ich immer noch keine endgültige Ent‐ scheidung getroffen. Trotzdem nahm ich, als ich in die Priorei ging, die tote Katze mit. Copely‐Syles führte mich diesmal sofort in die Krypta und schob sofort die Katze in den Ofen, den er dort stehen hat. Dann sagte er zu mir: »Ich schlage vor, daß wir jetzt Fürst Luzifer anrufen, damit Sie Ihren Handel mit ihm machen können.« »Was für einen Handel?« fragte ich ziemlich erschrocken. »Nun, den üblichen natürlich«, gab er etwas gereizt zurück. »Als Herr dieser Welt wird er Ihnen an Erfolg, Vergnügen und Genuß geben, was Sie sich nur wünschen können, aber selbstverständlich will er dafür auch etwas. Sie müssen ei‐ nen Pakt unterschreiben, in dem Sie ihm Körper und Seele vermachen.« Das gefiel mir gar nicht, und das sagte ich ihm auch. »Keine Angst, Sie müssen ihn unterschreiben, mit Ihrem eigenen Blut, aber Sie brauchen ihn nicht zu erfüllen. Sie haben Glück, daß Sie eine Tochter bekommen haben. Sie brauchen, sie in dem alten Glauben taufen zu lassen und sich verpflichten, daß Sie sie an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag in die Krypta bringen. Dann sind Sie aller Ban‐ 208
de ledig und erhalten den Pakt zurück.« John entfuhr ein Ausruf des Entsetzens bei dieser fürchterlichen Enthüllung. C. B. jedoch, der sich so etwas schon gedacht hatte, faßte seinen Arm und warnte ihn davor, Beddows zu unterbre‐ chen. Der Industrielle hatte sich durch seine Beichte in eine Art Trance hineingeredet und fuhr fort: »Auch wenn mir das Balg verdammt egal war, schien es mir irgendwie nicht recht zu sein. Aber was sollte ich tun? Ich unterschrieb also den Pakt, und nachher mußte ich ein langes Ritual mitmachen, von dem ich nichts weiter ver‐ stand, als daß ich als Zeichen der Unterwerfung unter Luzi‐ fer Copely‐Syles Arsch zu küssen hatte. Darauf kam es auch nicht mehr an. Er gab mir Anweisungen für die Taufe des Kindes und schickte mich nach Hause. Drei Tage später gewann ich 723 Pfund im Lotto. Das war nicht gerade ein Vermögen, aber doch ein Zeichen, daß Fürst Luzifer es ehrlich meinte. Der folgende Samstagabend war für die Taufe vorgesehen. Ich mischte Hettie ein Schlafmittel, das Copely‐Syles mir gegeben hatte, in ihren abendlichen Kakao. Kaum war sie im Bett, da wickelte ich das Kind ein und trug es zu dem verabredeten Treffpunkt auf freiem Feld etwa eine Meile von The Grange entfernt. Es waren noch einige andere Leu‐ te anwesend, Männer und Frauen, unter ihnen auch Mutter Durnsford, was ich aber damals nicht wußte, denn sie tru‐ gen Mäntel und Tiermasken. Später, als ich richtiges Mitg‐ lied des Zirkels geworden war, lernte ich sie alle kennen. Allerdings hat sie mir niemals vergeben, daß ich versucht hatte, Copely‐Syles zu erpressen. Deshalb wollte sie mir 209
das Haus nicht verkaufen, ich konnte ihr anbieten, was ich wollte. Doch zurück zu meinem ersten Sabbat. Ich erlebte nur den Anfang mit, denn der Kanonikus hatte große Sor‐ ge, das Kind könne sich erkälten. Die Taufe selbst dauerte nicht lange, aber es war eine abstoßende Angelegenheit. Da Sie Ellen kennengelernt haben, werden Sie wissen, daß sie sich von anderen Mädchen unterscheidet. Sie kann kei‐ ne Kirche betreten, ohne daß ihr übel wird, und in den Stunden, in denen die Mächte der Finsternis wirksam sind, steht sie unter ihrem Einfluß. Tiere meiden ihre Nähe. Viele Jahre lang hatte ich keinen Grund, das, was ich getan hatte, zu bereuen. Copely‐Syles riet mir, nicht nach London zu gehen und zu studieren, sondern mich in eine kleine Firma in Colchester 1 einzukaufen, die mit gebrauchten Landmaschinen handelte. Mit meinem Eintritt begann sie zu florieren, und mir kamen laufend Ideen zu Erfindungen, auf die ich Patente bekam. Meine Partner waren ein alter Mann und dessen Sohn. Nach zwei Jahren kam der Sohn bei einem Autounfall um. Darauf verlor der Vater jedes Interesse am Geschäft, und ich konnte ihn für einen Apfel und ein Ei auszahlen. Ich gründete eine kleine Fabrik für Beddows Allzweck‐ Gartenmaschinen. Es wurde sofort ein Erfolg. Schon 1936 beschäftigte ich vierhundert Arbeiter. 1938 steckte ich eine halbe Million in die inzwischen zur GmbH umgewandelte Firma. Die große Fabrik war gerade noch rechtzeitig vor dem Krieg fertig. Als er zu Ende ging, schwamm ich im Geld und hatte noch an einem halben Dutzend anderer großer Firmen Beteiligungen. 210
Als mein Konzern mich mehr und mehr beschäftigte, verlor ich das Interesse daran, in der Großen Kunst weiter fortzu‐ schreiten. Ich beschränkte mich darauf, Fürst Luzifer ein‐ mal im Jahr beim großen Sabbat in der Walpurgisnacht meine Ehrerbietung zu erweisen. In der übrigen Zeit ver‐ schwendete ich nie einen Gedanken darauf, aus welcher Quelle mein Geld und mein Erfolg stammten. Wie andere Geschäftsleute, mit denen ich zusammenkam, bildete ich mir sogar ein, ich hätte alles meiner Intelligenz, meiner Ge‐ schicklichkeit und harter Arbeit zu verdanken. Erst nach der letzten Walpurgisnacht begann ich, mir eini‐ ge Sorgen zu machen. Plötzlich wurde mir klar, daß ich in zehn Monaten Ellen übergeben mußte. Doch selbst dann dachte ich nicht viel darüber nach, denn ich war ständig mit Geschäftsangelegenheiten beschäftigt. Dann, kurz vor Weihnachten, kam Ellen für immer nach Hause, und das gab mir einen richtigen Schock. Ich habe noch nicht erwähnt, daß die arme Hettie Selbst‐ mord beging, als Ellen noch ein kleines Mädchen war. Ich habe nicht wieder geheiratet, aber ich habe mit verschiede‐ nen Frauen zusammengelebt. Aus diesem Grund habe ich Ellen im Alter von acht Jahren in ein Internat geschickt. Der andere war das instinktive Gefühl, ich müsse sie, bis sie erwachsen sei, von Copely‐Syles fernhalten. Natürlich konnte ich nicht verhindern, daß er sie dann und wann sah, aber sie ist nie lange genug zu Hause gewesen, um wirklich unter seinen Einfluß zu geraten. Als sie zu alt für eine Schule geworden war, schickte ich sie in ein Pensionat nach Paris. 211
Im Dezember vorigen Jahres waren ihre zweieinhalb Jahre dort um, und ihre Rückkehr brachte mir die Tatsache zu Bewußtsein, daß die einundzwanzig Jahre, in denen ich al‐ les für nichts gehabt hatte, ihrem Ende verdammt nahe waren. Ellen hat mir in meinem Leben so wenig bedeutet, daß ich gar nicht erst behaupten will, ich sei von Gewissensbissen geplagt worden, weil ich sie als Baby an Luzifer verkauft hatte. Ich meinte, indem ich sie von Copely‐Syles fernzu‐ halten und von anständigen Leuten hatte erziehen lassen, hätte ich für sie das Beste getan, was ich unter den Um‐ ständen tun konnte. Natürlich mißfiel mir der Gedanke, daß ich sie dem Kanonikus übergeben mußte, aber ich hatte so ungefähr die Vorstellung, wenn sie erst einmal einund‐ zwanzig wäre, könnte sie für sich selbst sorgen und ihn zum Teufel schicken. Andererseits, wenn sie Lust hätte, ei‐ ne Hexe zu werden, wäre das ihre Angelegenheit. Es war reiner Zufall, daß ich herausfand, was der Kanoni‐ kus im Schilde führte. Ich hatte Copely‐Syles von Zeit zu Zeit finanzielle Tips gegeben, und er hat ganz hübsche Sümmchen in meine Gesellschaften investiert. Vor ein paar Monaten wollte ich ihm raten, bestimmte Aktien abzusto‐ ßen. Statt ihm wie üblich eine Zeile zu schreiben, sprach ich eines Abends auf dem Heimweg in der Priorei vor. Nach‐ dem wir ein Glas zusammen getrunken hatten, siegte seine Eitelkeit über seine Vernunft. Vielleicht glaubte er auch, ich verstehe weniger von magischen Unternehmungen, als es tatsächlich der Fall ist. Wie dem auch sei, er nahm mich mit
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in die Krypta und zeigte mir von ihm geschaffene Homun‐ kuli. Ich hatte nicht gewußt, daß er seit Jahren daran arbeitete. Einen hat er jetzt, der ist beinahe so perfekt, wie ihn ein Magier überhaupt herstellen kann. Ihm fehlt nur eins, da‐ mit er aus dem Krug steigen und wie ein menschliches We‐ sen funktionieren kann‐ das Lebensblut einer einundzwan‐ zigjährigen Jungfrau. Das rieb er mir natürlich nicht unter die Nase, aber zufällig wußte ich es. Blitzartig kam mir die Erleuchtung. Es löste auch eine Frage, die mich im Unterbewußtsein immer ein wenig beschäftigt hatte. Er hatte mich nie gedrängt, ihm eine Gelegenheit zu geben, Ellen besser kennenzulernen, und ihre Internatsaufenthalte hatte er gutgeheißen. Er hatte das Risiko verringern wollen, daß Ellen mit einem jungen Mann zusammenkäme und verführt würde oder sich ver‐ heiratete, bevor sie einundzwanzig war. Auch wenn ich keine besondere Liebe für das Mädchen empfand, konnte ich etwas so Entsetzliches doch nicht zu‐ lassen. Nach langem Nachdenken entschied ich, daß ich nur eins tun konnte – wir beide, Ellen und ich, mußten uns über den schicksalhaften Tag hinaus verstecken. In Ihren Ohren mag es seltsam klingen, aber es ist Tatsache, daß Fürst Luzifer sich wie ein fairer Sportsmann verhält. Er akzeptiert es, wenn man List gegen List setzt. Viele Leute haben schon seine Gaben angenommen und ihn am Ende betrogen. Ellen war gewöhnt, mir ohne Widerrede zu ge‐ horchen. Gleich nach Weihnachten hatte sie eine Halsent‐ zündung. Ich brachte sie in ein Krankenhaus in Brighton 213
und ließ ihr die Mandeln herausnehmen. Dann traf ich meine Vorbereitungen, um sie in aller Stille unter falschem Namen aus dem Lande und nach Südfrankreich zu brin‐ gen. Wenn ich Ellen nicht opferte, mußte ich nun aber meinen Pakt erfüllen, und da er sich in den Händen von Copely‐ Syles befindet, würde dieser die Einhaltung erzwingen. Ich verwarf den Gedanken, ihm zu entfliehen. Klein Flug nach Amerika oder Australien kann mich vor seinen okkulten Mitteln retten. Er würde mich überall finden und auf einer astralen Ebene angreifen. Nur hier in meinem Haus kann ich mich ungestört vor ihm schützen. Bis jetzt hat er weder versucht selbst einzudringen noch mich durch Magie zu bezwingen. Sie werden besser wissen als ich, womit er sich in der letzten Woche beschäftigt hat. Jedenfalls ist das alles, was ich Ihnen sagen kann.« Beddows’ Stimme hob sich plötzlich zu einem hysterischen Kreischen, als er hinzufügte: »Hätte ich freie Hand, würde ich Sie beide der Polizei übergeben, weil Sie hier eingebro‐ chen sind. Aber das kann ich nicht, denn Sie haben mir ge‐ droht, mich der fürchterlichsten Gefahr auszusetzen. Des‐ halb habe ich Ihnen alles gesagt, was es über meine gräßli‐ che Situation zu sagen gibt. Alles, verstehen Sie? Alles! Und nun verschwinden Sie! Lassen Sie mich meinen eigenen Kampf ausfechten!« Weder C. B. noch John hatten gewagt, Beddows’ langen Monolog zu unterbrechen, und auch jetzt verstrich noch eine gute halbe Minute bis C. B. sagte: »Wir sind Ihnen sehr dankbar, daß Sie so offen mit uns gesprochen haben, und 214
ich kann nur wiederholen, daß wir als Freunde, die Ihnen helfen wollen, gekommen sind. Wir sind in die Sache hi‐ neingezogen worden, weil John Fountains Mutter neben der Villa wohnt, die Sie für Ellen gemietet haben. Ich möch‐ te Ihnen jetzt erzählen, was sich ereignet hat, seit Sie Ihre Tochter dort zurückließen. Dann können wir einen Plan machen, wie unser gemeinsamer Feind am besten zu besie‐ gen ist.« »Dabei kann ich Ihnen nicht helfen«, fuhr Beddows auf. »Ich habe übergenug damit zu tun, mich selbst zu schüt‐ zen. Ich kann mir nicht auch noch andere Probleme aufhal‐ sen.« C. B. ignorierte diese Bemerkung und erstattete ihm einen ausführlichen Bericht. Als er zu Ende war, erklärte Bed‐ dows: »Jetzt verstehe ich, warum Sie hier eingebrochen sind, und ich bin Ihnen wirklich dankbar für alles, was Sie für Ellen getan haben. Aber trotzdem wäre ich froh, wenn Sie jetzt gehen würden.« »Sie können doch nicht einfach den Gedanken an Ihre Tochter beiseite schieben!« protestierte John. »Sie ist ja nicht mehr in Gefahr, weil Sie den glänzenden Einfall hatten, sie ins Gefängnis zu bringen. Die Verbrecher, die der Kanonikus eingespannt hat, haben zuviel Angst vor der Polizei, um den Versuch zu machen, sie aus einem französischen Gefängnis zu entführen.« »Sie vergessen den Kanonikus selbst«, warf C. B. ein. »Er kann sie mit seinen okkulten Kräften herausholen. Es ist so gut wie sicher, daß er gleich morgen früh nach Frankreich 215
fliegt. Wir wissen, daß er vor nichts haltmachen wird, um Ellen in seine Gewalt zu bekommen, und es bleiben ihm immer noch mehr als vierzig Stunden.« »Ich kann in dieser Sache gar nichts tun.« »Doch. Sie und Copely‐Syles müssen in viele Arten von merkwürdigen Geschäften verwickelt sein. Ein so skrupel‐ loser Mann wie der Kanonikus hat bestimmt einige Verbre‐ chen begangen, um seine Zauberei ausüben zu können, und Sie wissen davon. Er muß zum Beispiel Kirchenraub begangen oder angestiftet haben. Er brauchte Hostien zum Zwecke der Entweihung. Auch hat er aus Krankenhäusern Blutkonserven stehlen lassen. Kommen Sie mit uns zur Po‐ lizei und geben Sie darüber eine Aussage zu Protokoll. Daraufhin wird ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt wer‐ den. Selbst wenn er morgen nach Frankreich fliegt, kann ich dafür sorgen, daß er dort festgenommen wird. Nur auf diese Weise können wir Ellen sicher schützen, bis die Zeit der größten Gefahr für sie vorbei ist.« Beddows lachte kurz und hart auf. »Zum Teufel, für was halten Sie mich? Für einen Wahnsinnigen? Sehen Sie denn nicht ein, daß er jetzt, nachdem Sie ihm Ellen vor der Nase weggeschnappt haben, hinter mir her sein wird? Solange ich in diesem Pentagramm bleibe, kann ich noch hoffen, Luzifer zu betrügen, aber wenn ich es auch nur für einen Augenblick verlasse, kann er sich meine Seele holen, und mein Körper wird den Rest seines Lebens in einer Irrenans‐ talt verbringen. Nein, danke!« Zwanzig Minuten lang vermochten weder Johns Zorn noch C. B.’s Argumente Beddows umzustimmen. Schließlich 216
meinte C. B.»Es hat keinen Zweck, John. Wir müssen es al‐ lein durchstehen. Komm, wir fahren nach Colchester zu‐ rück.« Ehe sie die Treppe hinunterstiegen, lockerten sie die Fes‐ seln des Affen ein wenig. Sie kletterten aus dem Fenster, durch das sie hereingekommen waren. Es hatte aufgehört zu regnen. Dankbar und erleichtert, daß sie dem dumpfen, unheimlichen Haus entronnen waren, atmeten sie die kühle Nachtluft ein. Es ging auf drei Uhr morgens zu, als sie ihr Hotel erreich‐ ten. Mittlerweile waren sie zu müde, um sich noch einen Drink zu organisieren. Sie gingen sofort zu Bett und fielen wenige Sekunden später in den Schlaf der Erschöpfung. Am nächsten Morgen ließen sie sich das Frühstück in C. B.’s Zimmer servieren und diskutierten darüber, was sie als nächstes unternehmen sollten. Wie konnten sie es verhin‐ dern, daß der Kanonikus innerhalb der nächsten sechsund‐ dreißig Stunden Christina etwas zuleide tat? Upson, den de Grasse gestern abend als Boten geschickt hatte, war sicher mit seinem Wasserflugzeug gekommen. Also standen dem Kanonikus Transportmittel und Pilot zur Verfügung, und er konnte zu jeder ihm beliebigen Stunde abfliegen. Wenn er Christina rechtzeitig in seine Gewalt bekommen wollte, mußte er sich selbst nach Südfrankreich begeben und seine okkulten Kräfte gegen die Gefängnisbe‐ amten richten. Eine Tatsache mochte jedoch seine Abreise Um ein paar Stunden verzögern: Christina war nur zu be‐ einflussen, wenn es dunkel war.
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»Ich dachte zuerst, wir sollten sofort nach Northolt fahren und um 10.30 Uhr das Flugzeug nach Nizza nehmen«, sag‐ te C. B. »Aber mit der Nachmittagsmaschine kommen wir immer noch rechtzeitig dorthin. Und in der Zwischenzeit haben wir vielleicht eine Chance, Copely‐Syles, falls er noch nicht weg ist, ganz an der Abreise zu hindern.« »Mit Gewalt?« fragte John. »Ich bin dabei!« »Nein, nein. Ich habe vor, ihn wegen Tierquälerei anzuzei‐ gen und auf einer Hausdurchsuchung zu bestehen. Die Po‐ lizisten brauchen bloß einen Blick auf die armen Geschöpfe zu werfen, die ich gestern in der Krypta gesehen habe, und sie stellen eine Vorladung aus. Dann kann er das Land nicht mehr auf legalem Wege verlassen, und ich werde da‐ für sorgen, daß die Polizei ihn im Auge behält. Wenn er versuchen sollte zu verschwinden, wird er festgenommen.« »Donnerwetter! Das ist ein großartiger Einfall!« »Das muß sich erst noch herausstellen. Es nützt uns nichts, wenn er abreist, ehe die Polizei bei ihm eintrifft, und ein Durchsuchungsbefehl kann nicht vor zehn Uhr ausgestellt werden, weil das Gericht erst zu dieser Stunde öffnet.« »Nun, falls er schon weg sein sollte, habe ich eine andere Idee.« »Laß hören.« Johns Augen verengten sich ein wenig. »Der Kanonikus kann seine letzte Arbeit an dem Homunkulus nicht ohne Christina vornehmen, und Christina nützt ihm nichts ohne den Homunkulus. Das ist doch richtig, nicht wahr?« »Ja. Falls er sie nicht bis morgen abend herschaffen kann, ist sein Vorhaben gescheitert.« 218
»Aber wenn es ihm gelingt, müßte er seinen Plan trotzdem aufgeben, falls der Homunkulus nicht mehr in einem Zu‐ stand ist, in dem er Christinas Blut trinken kann. Wenn wir feststellen, daß Copely‐Syles nicht mehr in seinem Haus ist, habe ich die Absicht, in die Krypta zu gehen und den Ho‐ munkulus zu vernichten.« »Ein Punkt für dich, John.« C. B. lachte zum ersten Mal seit vielen Stunden. »Ich habe richtig wieder ein bißchen Hoff‐ nung bekommen. Es wird uns auf die eine oder andere Weise schon gelingen, den Kanonikus aufzuhalten. Sobald wir mit dem Frühstück fertig sind, werden wir zur Polizei gehen.« Auf dem Revier wurden sie zu einem älteren Inspektor namens Füller geführt. C. B. zeigte ihm seine Karte und ein kleines Abzeichen, das er bei sich trug. Darauf hörte der Inspektor dem, was er zu sagen hatte, mit beträchtlichem Respekt zu. Bei den meisten Menschen hätte schon C. B.’s leichte Andeutung der Hintergründe des Ganzen Ungläu‐ bigkeit hervorgerufen, aber erfahrene Polizeibeamte gehen zunächst einmal davon aus, daß bei einem kranken oder verbrecherischen Gehirn jede Verirrung möglich ist. Infol‐ gedessen nahm Inspektor Füller C. B.’s Anzeige wegen Tierquälerei ohne Kommentar entgegen und versprach, die Sache sofort in die Hand zu nehmen. Allerdings gab es dann beim Gericht eine Verzögerung, denn es bestand kein Grund, eine Anzeige wegen Tierquä‐ lerei mit Vorrang zu behandeln, und es lagen genug andere Dinge vor. Erst um Viertel vor elf wurde der Durchsu‐ chungsbefehl ausgestellt. John raste vor Ungeduld. 219
C. B. hielt es für besser, Inspektor Füller, der von einem Constable begleitet wurde, allein in das Haus des Kanoni‐ kus gehen zulassen. Es wurde ausgemacht, daß er und John im Wagen warten würden. Zwanzig Minuten nach elf parkten sie fünfzig Meter von der Priorei entfernt unter den Bäumen, und die beiden Po‐ lizisten stiegen aus. C. B. und John waren beinahe über‐ zeugt davon, daß der Kanonikus mittlerweile nach Frank‐ reich aufgebrochen war, und so hatten sie viel von ihrem morgendlichen Optimismus verloren. Schweigend saßen sie nebeneinander, beobachteten den langsam vorrücken‐ den Zeiger der Uhr auf dem Armaturenbrett und rauchten eine Zigarette nach der anderen. Der Inspektor und der Constable tauchten kurz vor zwölf wieder auf. In höchster Spannung stiegen C. B. und John aus und gingen ihnen entgegen. Mit enttäuschter Miene berichtete Inspektor Füller: »Der Kanonikus ist anwesend, Sir, und er hätte gar nicht entge‐ genkommender sein können. Aber im ganzen Haus ist kein Mensch, der Ihrer Beschreibung des Fliegers entspricht. Auch sind dort keine Tiere oder, wie Sie es beschrieben, menschenähnliche Fische in Glasbehältern zu finden. Wir haben uns die Krypta angesehen, und sie scheint als ein ganz normales Laboratorium benutzt zu werden. Vorhän‐ ge, auf denen der Teufel abgebildet ist, und dergleichen gibt es nicht. Wir haben das Haus vom Keller bis zum Dachboden durchsucht und nichts entdeckt, was eine ge‐ richtliche Vorladung rechtfertigen würde.«
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John warf C. B. einen verzweifelten Blick zu. Der Kanoni‐ kus war zu schlau für sie gewesen! Er war immer noch da, aber es stand ihm frei, das Land zu verlassen, wann er wollte, denn sie hatten keine gesetzlichen Handhabe, ihn zurückzuhalten. Außerdem hatte er seine Homunkuli ent‐ fernt. Damit war ihnen auch die Möglichkeit genommen, ins Haus einzudringen und sie zu zerstören. XX In dem hölzernen Gesicht des Constables rührte sich kein Muskel, aber C. B. war sicher, insgeheim belustigte es ihn, daß ein hohes Tier aus London sich zum Narren gemacht hatte. Der Inspektor jedoch wußte, daß Männer wie Colo‐ nel Verney nicht ohne guten Grund eine Hausdurchsu‐ chung verlangen. Er sagte: »Es tut mir leid, Sir. Anscheinend haben die Burschen Wind davon bekommen, daß Sie hinter ihnen her sind. Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen?« »Nur indem Sie nach einem Wagen telefonieren, der Sie zu‐ rück nach Colchester bringt. Ich möchte noch eine Weile hierbleiben. Gehen wir doch in die Wirtschaft und trinken ein Glas.« Nachdem C. B. im »Weavers Arms« eine Runde bestellt hatte und der Constable zum Telefon gegangen war, nahm C. B. den Inspektor beiseite. »Es gibt doch noch etwas, das Sie für mich tun können. Irgendwann heute vormittag muß eine große Kiste oder ein Korb, etwa ein Meter dreißig hoch und neunzig Zentimeter breit, auf einem Lastkraftwagen 221
oder einem Anhänger aus der Priorei weggebracht worden sein. In einem Dorf wie diesem ist es sehr wahrscheinlich, daß irgendwer gesehen hat, wie der Behälter aufgeladen oder vorbeigefahren wurde. Sprechen Sie einmal ein Wort mit dem Wirt. Sagen Sie ihm, er selbst und jeder, der eine Information für uns habe, erhalte ein Pfund Belohnung.« Wenige Minuten später wurde ein älterer Mann mit wet‐ tergegerbtem Gesicht in das Hinterzimmer geführt, wo die kleine Gesellschaft sich niedergelassen hatte. Sein Name war Sims, und er war Gärtner im Pfarrhaus. Er hatte um zehn Uhr einen Lattenverschlag von der angegebenen Grö‐ ße und einige kleinere Pakete vor der Priorei stehen gese‐ hen. Unter Aufsicht des Kanonikus hatten der farbige Die‐ ner und ein großer Mann mit einem hellen, buschigen Schnurrbart das Zeug auf einen LKW geladen. Er gehörte einem gewissen Joe Cotton, der sich nicht des besten Rufes erfreute. Er war in Richtung Weeley davongefahren. Kurze Zeit darauf fuhren C. B. und John, der am Steuer saß, die gleiche Straße entlang. Leider hatte der LKW zweiein‐ halb Stunden Vorsprung, und es war damit zu rechnen, daß der Krug mit dem Homunkulus inzwischen längst im Keller eines Teufelsbruders sicher versteckt war. In Weeley konnte ihnen niemand Auskunft über einen Lastkraftwagen geben, deshalb entschlossen sie sich, bis zur letzten Kreuzung zurück und dann in Richtung Osten nach Thorpe‐le‐Soken weiterzufahren. Dort hatten sie mehr Glück. Eine Frau hatte kurz nach Mittag einen LKW vorbei‐ fahren und die Straße nach Norden, Richtung Great Oak‐ ley, nehmen sehen. Allerdings war es möglich, daß es sich 222
um ein anderes Fahrzeug handelte, denn die Frau war si‐ cher, zwei Männer in der Fahrerkabine gesehen zu haben. Sie waren noch fünf Meilen von der Küste entfernt, aber jetzt kamen sie in ein Gebiet mit Seen, Bächen und Inseln, das als Hansford Water bekannt ist, eine menschenleere Gegend. Die Straße verlief schnurgerade und eben, so daß sie eine weite Sicht hatten. Zwei Meilen hinter Thorpe‐le‐ Soken kam ihnen ein Lastkraftwagen entgegen. C. B. rief aus: »Bei Gott! Ich glaube, das ist er. Halte dich in der Mitte der Fahrbahn, John, und gib ihm ein Zeichen zu stoppen.« Beide Wagen blieben wenige Meter voneinander entfernt stehen. C. B. stieg aus. Ein Blick zeigte ihm, daß der LKW leer war, aber er wie auch der Mann mit dem Frettchen‐ Gesicht, der allein in der Kabine saß, entsprachen den Be‐ schreibungen. »Guten Tag. Sie sind Joe Cotton, nicht wahr?« »Jawohl, Chef.« »Das dachte ich mir.« C. B. lächelte freundlich. »Sie sind mit der Arbeit schneller fertig geworden, als wir gedacht hatten. KanonikusCopely‐Syles wird mit Ihnen sehr zufrie‐ den sein. Aber er macht sich immerzu Gedanken, ob das Zeug auch sicher abgeliefert worden ist. Er hat uns hinter‐ hergeschickt, damit wir uns vergewissern, daß der große Lattenverschlag nicht beschädigt worden ist.« Cotton starrte C. B. zweifelnd an. »Wozu hat er mir dann den andern Gentleman mitgegeben, der beim Ausladen helfen sollte?«
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»Trotzdem. Kehren Sie lieber um und kommen Sie mit uns, damit wir ihm selbst berichten können, es sei alles in Ord‐ nung.« »Warum soll ich mit Ihnen kommen?« In Cottons eng bei‐ einanderstehenden Augen glomm plötzlicher Argwohn auf. »Kanonikus Copely‐Syles hat uns gesagt, welche Straße wir nehmen sollten, aber wir sind in dieser Gegend fremd, wenn wir uns in den Sümpfen verfahren, werden wir viel Zeit versäumen.« »Aha, Sie wollen mich ’reinlegen! Sie wissen nicht, wo ich gewesen bin, und jetzt soll ich Sie hinführen. Nichts zu ma‐ chen, Chef.« Cottons Frettchen‐Gesicht drückte eine Mi‐ schung aus Angst und Zorn aus. C. B. sah ein, daß dieser Mann nich nicht bluffen ließ. Er lächelte. »Nun gut, ich möchte aus privaten Gründen erfah‐ ren, wohin Sie diesen Lattenverschlag gebracht haben. Wie wäre es mit einem Zehner?« »Nicht für zehn und auch nicht für zwanzig Pfund.« Cot‐ ton ließ den Motor an, fuhr mit den Außenrädern über den Grasstreifen an C. B.’s Wagen vorbei und verschwand die Straße hinunter. »Verdammt!« rief John. »Jetzt haben wir heute schon die zweite Runde verloren.« »Nicht unbedingt«, gab C. B. zurück. »Kannst du nicht er‐ raten, wer der zweite Mann war, den die Frau in Thorpe‐le‐ Soken gesehen hat?« John überlegte. »Upson?«
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C. B. nickte. »Und wohin mögen sie die Kiste gebracht ha‐ ben?« »Alle Teufel! An Bord des Wasserflugzeugs!« »Gut kombiniert, mein lieber Watson! »Dann los! Vielleicht finden wir es noch, bevor es startet!« drängte John. »Ich fürchte, da ist nicht mehr viel Hoffnung. Diese Seen‐ kette bedeckt ein Gebiet, das doppelt so groß ist wie Bir‐ mingham, und Cotton hatte mehr als zwei Stunden Vor‐ sprung.« John machte seinem Herzen durch lautes Schimpfen Luft. »Dann hat der Kanonikus, dieser Mistkerl, uns schon wie‐ der ausgetrickst! Er hat den Homunkulus aus unserer Reichweite gebracht, damit wir ihn nicht zerstören können, wenigstens nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden. Ein verdammt schlauer Schachzug! Upson nimmt ihn auf seinem Flug an die Riviera mit und bringt ihn zu‐ sammen mit Christina, falls sie sie erwischen, rechtzeitig für die Zeremonie wieder her. Beten wir zu Gott, daß es ih‐ nen nicht gelingt. Der einzige Lichtblick ist, daß der Kano‐ nikus immer noch hier ist. Da kann er seine Zaubermittel nicht in Frankreich gegen die Gefängnisbeamten einset‐ zen.« »Mir bereitet diese Tatsache Kopfzerbrechen«, meinte C. B. Sie stiegen wieder in den Wagen. »Die Schaffung voll funk‐ tionsfähiger Homunkuli ist Copely‐Syles Lebenswerk, und deshalb wird er bis zum allerletzten Moment nicht aufge‐ ben. Als ich ihm berichtete, Christina sei im Gefängnis, ent‐
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schied er sofort, dann müsse er selbst nach Nizza. Warum ist er jetzt hiergeblieben?« »Vielleicht weil es eine fürchterliche Arbeit war, diesen Sa‐ tanstempel auszuräumen.« »Das stimmt, und es bringt mich auf einen scheußlichen Gedanken. Da er selbst so beschäftigt war, kann er einen anderen damit beauftragt haben, Christina aus dem Ge‐ fängnis zu holen. Schließlich leitet er einen Zirkel von Teu‐ felsanbetern. Er mag sich während der Nacht mit einem seiner Kumpane in Verbindung gesetzt haben. Wenn das zutrifft, ist dieser vielleicht schon heute morgen von Nor‐ tholt nach Nizza geflogen.« John stöhnte. »Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen.« »Du sagtest heute morgen, wir müßten verhüten, daß Christina und der Homunkulus zusammenkommen. Es handelt sich jedoch nicht um zwei, sondern um drei Fakto‐ ren«, erläuterte C. B. »Wenn die Zeremonie stattfinden soll, müssen der Kanonikus, Christina und der Humunkulus zu einer bestimmten Stunde vereint sein. Der Homunkulus wird hierher zurückgebracht werden, und möglicherweise Christina mit ihm. Halten wir nun den Kanonikus im Au‐ ge, können wir immer noch im letzten Augenblick ein‐ schreiten. Die Alternative dazu ist, daß wir so schnell wie möglich Nizza erreichen. Mit Malouets Hilfe wäre viel‐ leicht festzustellen, wo Upson sein Flugzeug gewassert hat, und dann zerstören wir den Homunkulus oder treffen Maßnahmen, daß Christina sicher im Gefängnis bleibt. Ich halte beide Wege für aussichtsreich. Da es deine Angele‐ genheit ist, John, überlasse ich die Entscheidung dir.« 226
Nach kurzem Nachdenken erklärte John: »Bis wir in Nizza sind, wird es dunkel sein. Hat Copely‐Syles einen Hexen‐ bruder dorthin geschickt, ist es möglich, daß dieser Christi‐ na bereits entführt hat. Außerdem scheint es mir ziemlich problematisch, daß Malouet in kürzester Frist das Wasser‐ flugzeug ausfindig machen kann. Deshalb halte ich es für günstiger, wenn wir hierbleiben und uns darauf konzent‐ rieren, den Kanonikus zu isolieren.« »Eine vernünftige Überlegung. Dann fahren wir jetzt nach Colchester zurück, holen im Red Lion unsere Koffer und siedeln nach Little Bentford ins Weavers Arms über. Von unserem neuen Hauptquartier aus können wir die Priorei vierundzwanzig Stunden am Tag bewachen und doch zwi‐ schendurch essen und schlafen.« Um halb drei zogen sie in Little Bentford ein. Sie warfen eine Münze, wer die erste Wache übernehmen solle. John verlor und machte sich auf den Weg. Er suchte sich im Ge‐ strüpp einen Platz, von wo er die Priorei gut sehen, aber selbst nicht entdeckt werden konnte, und er dankte seinem Geschick, daß das Wetter sich gebessert hatte. Er hätte sich keine Gedanken zu machen brauchen, wie das Wetter in der kommenden Nacht sein würde. Um Viertel nach drei raste er schon zurück in den kleinen Gasthof und rief C. B. zu: »Haben Sie den Wagen nicht vorbeifahren sehen? Das war er! Sein schwarzer Diener saß am Steuer. Sie haben die glei‐ che Richtung eingeschlagen wie heute morgen der LKW.« C. B., der sich mit einem frühen Tee für den ausgefallenen Lunch hatte entschädigen wollen, erhob sich seufzend. Drei 227
Minuten später waren sie nach Weeley unterwegs. Der Wagen des Kanonikus war nicht mehr in Sicht. Sie kürzten ihren Weg über Thorpele‐Soken und Great Oakley ab. Als sie an der Stelle vorüberkamen, wo sie vor zweieinhalb Stunden Joe Cotton begegnet waren, hatten sie Copely‐ Syles immer noch nicht eingeholt. Aber drei Meilen weiter bemerkte C. B. einen dunklen Punkt, der sich zu ihrer Rechten mitten durch das Sumpfgebiet bewegte. Eine Viertelmeile später fanden sie einen schmalen Weg, der seewärts führte. Als sie ihm ein paar Minuten durch hohes Schilfrohr gefolgt waren, sahen sie nicht nur den Wagen des Kanonikus, sondern auch die oberen Teile des Wasserflugzeugs. »Habe ich es mir doch gedacht!« schrie John verzweifelt. »Upson ist gar nicht nach Frankreich geflogen. Hätten wir vorhin doch nur nicht aufgegeben!« »In dieser Wildnis hätten wir tagelang vergeblich suchen können«, gab C. B. ruhig zurück. Es wurde ihnen bald klar, daß sie sich nicht auf demselben Weg befanden wie der von ihnen verfolgte Wagen, aber auch dieser führte zu dem Stück offenen Wassers, wo das Flugzeug lag. »Hakan, John«, sagte C. B. »Wir müssen zurück. Dieser Weg wird uns durch das Wasser abgeschnitten.« Der Wa‐ gen des Kanonikus hatte etwa dreihundertfünfzig Meter von ihnen entfernt angehalten. Vor ihm am Wasser stand ein niedriges Bootshaus. John hatte bereits abgebremst, als er sah, daß der Weg eine scharfe Kurve machte und genau in die gewünschte Richtung führte. Also fuhr er weiter. 228
Hohes Schilf verdeckte ihnen die Sicht. Als sie das Wasser wieder sehen konnten, war der Kanonikus ausgestiegen und zum Bootshaus gegangen. Ein breites Flachboot warte‐ te auf ihn. Darin stand ein Mann mit einer langen Stange in der Hand. Der Weg hatte sich in einen schmalen, holperigen Damm verwandelt. Der Kanonikus sah in ihre Richtung. Nur noch zweihundert Meter trennten sie von ihm. Er bückte sich und schien etwas aufzuheben. Mit einer schnellen Armbe‐ wegung schien er etwas nach ihnen zu werfen. John riß den Kopf zur Seite. Der Wagen kam gefährlich vom Weg ab. »Sieh auf den Damm – nicht auf ihn!« schrie C. B. Doch sein Warnungsruf kam zu spät. Das eine Vorderrad war über die Kante gerutscht. John riß mit aller Kraft das Lenk‐ rad herum, konnte jedoch nicht mehr verhindern, daß der Wagen die Böschung hinunterrutschte, zehn Meter weiter‐ rollte und dann bis zu den Achsen in Schlamm und Wasser steckenblieb. »Du Idiot!« schimpfte C. B. »Verdammt noch mal, warum hast du nicht auf den Weg geschaut?« »Ich habe mich instinktiv geduckt, weil er diesen Stein ge‐ worfen hat«, verteidigte John sich ärgerlich. »Er hat die entsprechende Bewegung gemacht, aber gewor‐ fen hat er gar nichts.« »Doch, einen verflucht großen Stein. Er sauste genau auf die Windschutzscheibe zu.« »Ich sage dir doch, es war nichts. Er hätte einen Stein gar nicht über diese Entfernung werfen können.« 229
»Wenn ich ihn doch gesehen habe!« »Ich zweifele nicht daran, daß du geglaubt hast, einen Stein zu sehen«, stellte C. B. voller Bitterkeit fest. »Das beweist, ein wie mächtiger Schwarzer Magier er ist.« Währenddessen waren sie aus dem Wagen geklettert und liefen den Damm entlang. Er endete an einem primitiven, hölzernen Landesteg. John stieß einen Fluch aus und wollte ins Wasser waten. C. B. packte ihn am Mantelkragen und rief: »Mach keine Dummheiten! Der Schlamm ist hier stel‐ lenweise metertief, und unter Wasser wächst auch Schilf. Du würdest bestimmt ertrinken.« Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als wütend und hilflos zu bleiben, wo sie waren, und den Triumph ihres Feindes zu beobachten. Der farbige Diener hatte bereits den Wagen des Kanonikus gewendet und fuhr davon. Copely‐Syles war in den Flach‐ kahn gestiegen und wurde zu dem Wasserflugzeug ge‐ stakt. Upson half ihm an Bord. Der Landarbeiter kam mit dem Kahn zurück. C. B. legte die Hände an den Mund und brüllte ihm zu, wenn er sie auf‐ nehmen würde, solle er dreimal soviel Geld erhalten wie von seinem letzten Fahrgast. Doch das war, wie schon er‐ wartet, vergebliche Mühe. Der Bursche beachtete C. B.’s Rufe gar nicht. Er stakte den Kahn in das Bootshaus und verschwand dann im Schilf. Inzwischen hatte Upson schon die Motoren angelassen. Zwei Minuten später drehte das Flugzeug sich in den Wind und hob ab.
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C. B. und John kehrten zu ihrem Wagen zurück und quäl‐ ten sich zwanzig Minuten damit ab, ihn wieder fertigzu‐ machen. Schließlich gaben sie es auf. »Es hat keinen Zweck, John«, meinte C. B. mit einem Blick auf die Uhr. »Jetzt, wo der Kanonikus abgeflogen ist, müß‐ ten wir unsern zweiten Plan ausführen und ihn in Nizza abfangen. Aber zu Fuß brauchen wir eine Stunde bis ins nächste Dorf. Einen Wagen mieten werden wir dort nicht können. Wir müssen erst in Colchester anrufen und uns einen schicken lassen. Bis wir Northolt erreichen, wird es acht Uhr sein, und die Flugzeuge des Privatflughafens dort sind nicht für Nachtflüge ausgerüstet.« »Wir könnten hier warten, bis der Kanonikus mit Christina zurückkommt«, schlug John vor. »Dann befreien wir Chris‐ tina und lassen ihn und Upson festnehmen.« C. B. schüttelte den Kopf. »Wir wußten, daß wir nur dann siegen könnten, wenn es uns gelänge, einen der drei Fakto‐ ren – den Kanonikus, den Homunkulus und Christina – daran zu hindern, mit den beiden anderen zusammenzut‐ reffen. Well, in ein paar Stunden werden alle drei in Nizza sein, und wir können nicht mehr eingreifen. Du kennst doch die Geschichte, daß der Prophet zum Berg gehen muß, wenn dieser nicht zu ihm kommen will? Copely‐Syles hat den Entschluß gefaßt, sein scheußliches Ritual in Süd‐ frankreich abzuhalten. Der Prophet ist gerade zum Berg unterwegs.« XXI 231
»0 Gott!« murmelte John. »Dann werden sich zwischen dem Feind und Christina in kurzer Zeit nur noch ein paar verschlossene Türen befinden. Können wir denn gar nichts tun, damit er sie nicht in seine Gewalt bekommt?« »Wir können Malouet telegrafisch informieren, daß der Kanonikus auf dem Weg nach Nizza ist«, antwortete C. B. »Wenn die französische Polizei ihn bei der Landung ent‐ deckt, kann sie ihn wegen illegaler Einreise festnehmen. Aber ganz bestimmt wird Upson an einem gut versteckten Ort landen. Ich fürchte, John, deine letzte Hoffnung ist die Sicherheit der französischen Gefängnisse und glaub mir, sie sind ganz hübsch sicher.« »Hoffentlich haben Sie recht! Trotzdem, je eher wir das Te‐ legramm abschicken, desto besser.« Nachdem sie sich auf einer Straßenkarte informiert und den Wagen abgeschlossen hatten, machten sie sich nach Great Oakley auf den Weg. Unglücklich dachte John darüber nach, was Christina in dieser ihrer letzten Nacht vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag alles zustoßen mochte. Er hätte viel darum ge‐ geben, bei ihr sein oder doch zumindest vor ihrem Gefäng‐ nis Wache halten zu können. Es machte ihn ganz verzwei‐ felt, daß er es gewesen war, der die Entscheidung getroffen hatte, in England zu bleiben und den Kanonikus zu beo‐ bachten. Doch was half es, sich jetzt Vorwürfe zu machen? Damals hatte es wie ein erfolgversprechender Plan ausge‐ sehen. Als sie um halb sechs Great Oakley erreichten, begann es bereits zu dämmern. Von dem Dorfwirtshaus aus gaben sie 232
telefonisch das Telegramm an Malouet durch. Dann bestell‐ ten sie in Colchester einen Abschleppwagen mit einem Suchscheinwerfer. Endlich waren sie zurück in Little Bentford. Aber es hatte keinen Zweck mehr, dort die Nacht zu verbringen. Also holten sie ihre Koffer vom Weavers Arms ab und fuhren mit John am Steuer nach Colchester. Da es nicht ganz aus‐ geschlossen war, daß der Kanonikus an seinen Startplatz im Hansford Water zurückkehren würde, wollten sie die Stelle von der Polizei beobachten lassen. Deshalb setzte John C. B. vor dem Revier ab und begab sich ins Red Lion, wo er zwei Zimmer nahm und ein Dinner bestellte. Es ging mittlerweile auf acht Uhr zu. Kurz darauf trat C. B. im Hotel ein, und sie aßen zusammen. Mit leiser Stimme besprachen sie ihre Situation und machten keinen Hehl daraus, daß sie weit mehr Grund zur Niedergeschlagenheit hatten als gestern abend. Immer wieder zermarterte sich John das Gehirn mit Über‐ legungen, wie sie entweder den Kanonikus daran hindern könnten, Christina zu entführen, oder auf irgendeine Weise Christina die Kraft geben könnten, seinem Einfluß zu wi‐ derstehen. Der einzige Vorschlag, den C. B. machte, bestand darin, sie sollten einen Pfarrer wecken, von ihm die Schlüssel zur Kirche erbitten und bis zum Morgen darin für Christina beten. John erwiderte, er sei gern bereit, die ganze Nacht auf den Knien zu liegen, doch habe er sich immer an das Wort »Hilf dir selbst, so hilft dir Gott« gehalten. Aber der
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Gedanke an das Gebet brachte ihn auf einen Einfall. Nach einer Weile erklärte er: »Ich bin immer noch überzeugt davon, daß wir über Bed‐ dows etwas erreichen müßten. Schließlich ist er nicht nur Christinas leiblicher Vater, er hat sie auch an den Teufel verkauft. Wenn wir ihn dazu überreden könnten, heute nacht für sie zu Jesus Christus zu beten, würde das be‐ stimmt Erfolg haben.« »Du gehst also von der Theorie aus, daß er, der durch ihre Teufelstaufe für alles verantwortlich ist, sie auch von die‐ sem Fluch befreien könnte, indem er widerruft?«« fragte C. B. zweifelnd. »Genau! Der Kanonikus muß erst einmal seinen Zauber über die Gefängnisbeamten werfen. Dann verläßt er sich darauf, daß Christina die Zelle freiwillig verlassen wird. Ist sie von dem Einfluß frei, wird sie sich seinem Willen wi‐ dersetzen und dort bleiben.« C. B. rieb seine große Nase. »Das ist eine logische Schluß‐ folgerung. Die Schwierigkeit besteht nur darin, daß Bed‐ dows sich nicht bereit finden wird, seinem Herrn abzu‐ schwören. Er ginge damit ein ungeheures Risiko ein. Mich würde es nicht wundern, wenn er danach vom Schlag ge‐ troffen tot umfiele.« »Und wenn er es nicht tut, wird der Kanonikus ihn jagen, bis er im Irrenhaus gelandet ist. Wir haben vielleicht nur eine Chance von tausend zu eins, daß wir ihn überzeugen können, sich der Gnade Gottes auszuliefern, aber es ist immer noch besser, wir versuchen es, als daß wir die ganze Nacht tatenlos herumsitzen.« 234
»Okay, Partner.« C. B. trank seinen Portwein aus. »Wir werden ihm einen zweiten Besuch abstatten.« Kurz nach zehn näherten sie sich The Grange. Diesmal war es ihnen gleich, ob die Jutsons sie hörten oder nicht, und so hielten sie direkt vor der Vordertür. Da sie wußten, es hatte keinen Zweck, zu läuten, betraten sie das Haus wieder durch das Fenster, das C. B. am Abend vorher aufgebro‐ chen hatte. Im Schein von C. B.’s Taschenlampe gingen sie durch die mit grünem Flies bespannte Tür, durch die Halle und die Treppe hinauf. Das Haus war immer noch kalt und un‐ heimlich, aber die Atmosphäre ging ihnen nicht mehr so auf die Nerven wie gestern. Sie schwangen sich über das Loch im Fußboden und schritten den Flur entlang zur zweiten Treppe. Das Klirren der Ketten verriet ihnen, daß der Affe wieder frei war. Sicher hatte Jutson ihn losge‐ macht, als er ihm am Morgen Futter und frisches Wasser gebracht hatte. Es erwies sich jedoch als unnötig, den Affen erneut einzufangen und zu fesseln. In dem Augenblick, als der Schein der Taschenlampe ihn traf, drückte sich das ängstliche Tier in die entfernteste Ecke. Ungehindert ka‐ men sie an ihm vorbei. Das Schloß in der Tür zu dem gro‐ ßen Dachboden war nicht repariert worden. Die Tür öffnete sich bei der ersten Berührung. Dahinter erwartete sie das gleiche unglaubliche, unvergeß‐ liche Bild wie gestern. Der Geschäftsmann aus dem zwan‐ zigsten Jahrhundert saß mit gekreuzten Beinen auf seinen Bettlaken, um sich die Gerätschaften mittelalterlicher He‐
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xenkunst. Das blaue Licht des Pentagramms spendete eine trübe Beleuchtung. Diesmal zeigte er keine Angst vor seinen Besuchern. Ihr Eintreten hatte ihn aus einem leichten Schlaf gerissen. Ohne besondere Herzlichkeit bemerkte er: »Ach, Sie sind’s schon wieder. Was wollen Sie denn jetzt?« C. B. wollte John das Sprechen überlassen. Taktvoll begann der junge Mann: »Seit wir gestern abend bei’ Ihnen waren, Mr. Beddows, ist eine Menge geschehen. Daher dachten wir, wir sollten vorbeikommen und es Ihnen berichten.« »Warum? Sie sind nicht meine Angestellten.« Beddows starrte ihn eisig an. »Das nicht, aber ich bin überzeugt, Chris ... Ellens Schicksal ist Ihnen nicht gleichgültig. Sonst hätten Sie sich ja nicht die Mühe gemacht, sie in Südfrank‐ reich zu verstecken. Außerdem ist es auch für sie selbst ja nicht gleichgültig, wie diese Sache ausgehen wird.« »Ich kann sie nicht am Reden hindern«, lautete die un‐ dankbare Antwort. »Aber wenn Sie sich einbilden, Sie könnten mich zu irgend etwas beschwatzen, sind Sie auf dem Holzweg.« »Wir sind auch deswegen zu Ihnen gekommen, weil wir Ihren Rat brauchen.« Beddows’ Feindseligkeit ließ etwas nach. »Na gut. Ein Rat kostet nichts. Schießen Sie los.« »Danke.« John trat einen Schritt vor und setzte sich außer‐ halb des Pentagramms auf den Fußboden. C. B. folgte sei‐ nem Beispiel. Zunächst erzählte John, was sich an diesem Tag ereignet hatte. Dann fuhr er fort: »Eine der Fragen, die wir Ihnen 236
stellen möchten, Mr. Beddows, ist: Kann der Kanonikus sein Ritual mit Ellen und dem Homunkulus überall ausfüh‐ ren, oder muß er sie dazu hierher in seine eigene Krypta bringen?« »Erbraucht sie nicht in die Krypta zu bringen, aber überall kann er die Zeremonie auch nicht abhalten. Er benötigt da‐ zu einen Altar, der vorschriftsmäßig dem Herrn Satan ge‐ weiht worden ist.« »Gibt es in Südfrankreich viele solcher Altäre?« »Einige. In jeder großen Stadt der Welt gibt es zumindest einen. In den ländlichen Gebieten findet man sie über Eu‐ ropa verstreut, zumeist in zerfallenen Abteien und derarti‐ gen Gebäuden.« »Kennen Sie die Standorte an der Riviera?« Beddows schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe nie einer Zeremonie außerhalb Englands beigewohnt.« John überlegte eine Weile. »Wie beurteilen Sie die Aussich‐ ten des Kanonikus, Ellen aus dem Gefängnis zu entfüh‐ ren?« »Es wird schwierig sein, aber es gibt nur wenige Dinge, die einem Ipsissimus unmöglich sind. Außerdem hat er einen Vorteil auf seiner Seite. Wenn es ihm gelingt, die Gefäng‐ nisbeamten so zu behexen, daß sie die richtigen Türen öff‐ nen, wird er mit Ellen selbst keine Schwierigkeiten haben. Er braucht sie nur auf der astralen Ebene zu rufen, und sie wird kommen.« »Ja, das ist es, was wir befürchten. Können Sie uns einen Vorschlag machen, wie wir ihr helfen sollen, seinem Willen
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zu widerstehen?« »Das würde nur ein Weißer Magier schaffen, der noch größere Macht hat als Copely‐Syles.« »Kennen Sie einen?« »Nein. Natürlich habe ich mich von jedem ferngehalten, von dem ich annehmen mußte, daß er den Pfad zur Rech‐ ten wandelt.« Wieder machte John eine Pause. Dann meinte er: »Aus dem, was Sie uns letzte Nacht erzählten, ging hervor, daß Ellens Gehorsam gegen die bösen Mächte nicht in ihrer Na‐ tur liegt, sondern allein der Tatsache zuzuschreiben ist, daß Sie . . . daß Sie sie in dem Teufelsglauben haben taufen las‐ sen?« »Das ist richtig.« »Wenn sie im christlichen Glauben neu getauft würde, könnte das dem Einfluß, unter dm sie während der Dun‐ kelheit steht, zerstören?« »Nein. Es hat keinen Sinn, Ihnen die Wahrheit zu verheim‐ lichen. Ich habe sie an den Teufel verkauft, also könnte ich allein sie wieder loslösen.« »Wie würden Sie das anfangen?« Beddows lachte hart auf. »Ich würde es überhaupt nicht anfangen. Ich müßte dazu Satan abschwören.« »Aber wenn Sie es doch täten? Gesetzt den Fall, Sie würden hier und jetzt, um Ellens und Ihrer selbst willen, Satan ab‐ schwören, hätte das eine sofortige Wirkung? Brächte sie dann den Willen auf, sich dem Kanonikus zu widersetzen und in ihrer Zelle zu bleiben, wenn er sie auf der astralen Ebene ruft?«
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»Ja. Die Wirkung würde im gleichen Augenblick eintreten. Natürlich könnte sie in Zukunft ebenso wie die Gefängnis‐ beamten oder andere normale Menschen hypnotisiert wer‐ den, aber heute nacht wäre das nicht möglich. Ein solcher Akt würde die Kräfte ihres Schutzengels, der all diese Jahre ohnmächtig war, wiederherstellen. Er würde sie mit einer schützenden Aura umgeben, an der alle bösen Gedanken abprallen müßten.« Beddows hielt inne. Dann fügte er in aggressivem Ton hin‐ zu: »Aber setzen Sie sich ja nichts in den Kopf. Ich denke nicht daran, so etwas zu tun. Ich könnte danach tot umfal‐ len und müßte dann in alle Ewigkeit braten.« »Glauben Sie das wirklich?« »Ja! Die Hölle gibt es wirklich. Glauben Sie den modernen Priestern nicht, die ihrer Gemeinde etwas anderes erzählen. Sie sind Narren. Ich weiß es, denn ich habe die Hölle gese‐ hen. Copely‐Syles zeigte sie mir in der Nacht, als er mich als Neophyten des Pfades zur Linken initiierte. Ihr gäh‐ nender Schlund mit den züngelnden Flammen ist für sol‐ che wie mich weit geöffnet – sollten sie den Herrn betrü‐ gen.« »Die Gnade Gottes ist unendlich«, antwortete John ruhig. »Schon möglich«, fauchte Beddows. »Aber erst muß man den Preis für das bezahlen, was man aus Satans Händen empfangen hat. Gott ließe mich tausend Jahre brennen, ehe er auch nur einen Blick auf mich würfe. Wenn Sie glauben, ich stelle einen Blankoscheck dieser Art aus, um Ellen zu retten, müssen Sie verrückt sein.«
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John schwieg lange genug, daß Beddows sich abkühlen konnte. Dann sagte er: »Wir möchten Ihnen noch eine Fra‐ ge stellen. Gestern abend erzählten Sie uns, Sie hätten Ihr Ingenieurstudium einige Zeit vernachlässigt, weil Ihnen die Liebe begegnet sei. Macht es Ihnen etwas aus, uns darüber Näheres mitzuteilen?« »Warum sollte ich? Es hat mit Copely‐Syles und Ellen nichts zu tun.« »Da bin ich nicht sicher. Jedes wichtige gefühlsmäßige Er‐ lebnis in Ihrem Leben muß einen gewissen Zusammenhang mit Ihrer jetzigen Situation haben. Bitte, erzählen Sie es uns.« Beddows zuckte die Schultern. »Wenn Sie wollen ... Alles übrige wissen Sie ja sowieso schon. Als ich damals zu Mrs. Durnsford kam, hatte sie eine Gesellschafterin, ein Mäd‐ chen namens Isobel. Sie war ein zartes, sanftes kleines Ding, sehr schön und von der Art, die zu gut ist für diese Welt. Die alte Hexe machte ihr das Leben zur Hölle, und sie mußte lächeln und es ertragen. Sie war nämlich eine arme Verwandte und hatte keine anderen Angehörigen mehr. Ihr fehlten die Ausbildung und der Mut, sich eine andere Stel‐ lung zu suchen. Da blieb ihr nichts anderes übrig, als zu bleiben. Nach einiger Zeit kam Mrs. Durnsford auf die Idee, ich sol‐ le Isobel das Autofahren beibringen. Sie hatte keine Lust dazu und ich auch nicht, denn das Ergebnis konnte sein, daß ich als Chauffeur überflüssig wurde und einen Tritt in den Hintern bekam. Aber Befehl ist Befehl. So, wie die Din‐ ge lagen, machte Isobel natürlich keine großen Fortschritte, 240
und deshalb war ich sehr oft mit ihr zusammen. Erst war sie schüchtern, doch nach und nach faßten wir Vertrauen zueinander. Ich stellte fest, daß hinter ihrem scheuen We‐ sen eine wundervolle, mutige Seele verborgen war. Isobel war ein völlig selbstloser Mensch, und sie hatte ihre eige‐ nen Anschauungen darüber, was im Leben wichtig sei. Geld, Geburt und Stellung hielt sie für nebensächlich. Wah‐ res Glück könne nur der finden, der andere glücklich ma‐ che. Gott sorge immer für seine Kinder, wenn sie das Rech‐ te täten. Man solle nicht nach Besitz streben, sondern hel‐ fen, daß die Menschen freundlicher zueinander seien, und man solle so leben, daß man jeden Tag dem Tod ins Ange‐ sicht sehen könne. Ich verliebte mich in sie, und sie, obwohl ich nie verstanden habe, warum, liebte mich wieder. Als wir die Fahrstunden nicht mehr zum Vorwand nehmen konnten, trafen wir uns heimlich weiter. Natürlich hatte ich ihr von meinen ehrgei‐ zigen Plänen erzählt. Sie war aber nicht damit einverstan‐ den. Teils lag es daran, daß ich dann in der Stadt hätte le‐ ben müssen, aber der Hauptgrund war, daß ich offen zu‐ gegeben hatte, ich täte es, um mehr Geld zu verdienen. Sie hatte eine kleine Erbschaft zu erwarten. Das Einkom‐ men aus dem Kapital stand noch für achtzehn Monate Mrs. Durnsford unter der Bedingung zu, daß sie Isobel bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag ein Heim gab. Iso‐ bel hatte die Absicht, sobald ihr das Kapital übergeben würde, eine kleine Schule für verkrüppelte und zurückge‐ bliebene Kinder zu gründen. Sie wollte den Unterricht im Klassenzimmer übernehmen, und ich sollte den Kindern 241
das Gärtnern, Schreinern und ein bißchen was über Moto‐ ren beibringen und die allgemeine Leitung haben. Das hört sich ganz anders an als das, was ich tatsächlich aus meinem Leben gemacht habe, aber ich wäre damit bestimmt glück‐ licher geworden. Überhaupt könnte kein Mann unglücklich werden, der eine Isobel zur Frau hat.« Beddows seufzte schwer. »Es sollte nicht sein. Noch vor ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag wurde Isobel krank. Sie war so zart, und nach einer Erkältung entwickelte sich bei ihr Tuberkulose. Sie wurde in die Schweiz geschickt. Ich war verzweifelt, aber es gelang mir, sie noch einmal vor ihrer Abreise allein zu sprechen. Wir schworen uns ewige Liebe, und natürlich wollten wir uns häufig schreiben. In den ersten paar Wochen bekam ich auch regelmäßig Briefe von ihr. Dann schrieb sie seltener, und schließlich gar nicht mehr. Wäre ich ein Stadtjunge gewesen, dann hät‐ te ich ihr wohl ein Telegrammgeschickt mit der Anfrage, was los sei, aber damals ging so etwas über das Vorstel‐ lungsvermögen eines jungen Burschen vom Lande hinaus. Ich meinte, der junge Doktor, von dem sie mir berichtet hatte, stecke dahinter. Ich hatte ja immer gedacht, ich sei nicht gut genug für sie. Deshalb schrieb auch ich nicht mehr und überließ mich ganz meinem Elend. Eines Tages, als Mrs. Durnsford gerade in den Wagen stieg, teilte sie mir beiläufig mit, Isobel sei tot. Es war eine schmutzige Lüge – möge ihre Seele verfaulen! Aber das fand ich erst viele Jahre später heraus, erst, als die alte Hexe selbst tot war. Damals kaufte ich das Haus. Die Möbel wollte ich nicht, aber ich fand, die Bücherschränke sähen 242
ohne ein paar Bücher so leer aus. Deshalb übernahm ich ihre Bibliothek. Darunter fand ich eine alte Familienbibel, die in der Mitte so ausgeschnitten war, daß sie eine Schach‐ tel bildete. Die Alte hatte darin ein Päckchen Tarock‐ Karten, eine Sammlung von Hexenrezepten und Isobels un‐ terschlagene Briefe aufbewahrt. Es muß Mutter Durnsford ein unendliches Vergnügen be‐ reitet haben, unsere Liebe und all unsere schönen Pläne zu zerstören. Sie hatte gute Arbeit geleistet. Isobels letzter Brief war an sie gerichtet, und daraus ging hervor, daß sie ihr geschrieben hatte, ich sei weggegangen und habe keine Adresse hinterlassen. Das war aber noch längst nicht alles, was sie Boshaftes an‐ gerichtet hat. Die Nachricht über Isobels angeblichen Tod hatte mich niedergeschmettert, aber ich war jung und ge‐ sund, und im nächsten Frühling begann ich, abends mit Hettie in die Scheune zu gehen. Der Rest ist ihnen schon bekannt. Aus Isobels Briefen wußte die Alte, daß ich mich weiterbilden wollte. Nichts konnte mich besser daran hin‐ dern als eine Heirat mit einem Mädchen aus der Unter‐ schicht, das ein Kind erwartete und wahrscheinlich weitere in die Welt setzen würde wie ein Kaninchen. Nun, so wurde es dann doch nicht. Allerdings hätte sie Er‐ folg damit, daß sie mir Isobel raubte, und Sie haben recht: Dieser Verlust hat mein ganzes späteres Leben bestimmt. Trotzdem verstehe ich nicht, was das mit dem Kanonikus und mit Ellen zu tun haben soll.« John hatte aufmerksam zugehört. Jetzt fragte er: »Haben Sie je in Erfahrung gebracht, was mit Isobel geschehen ist?« 243
»Ja. Nachdem ich diese Briefe gefunden hatte, stellte ich Nachforschungen an. Ein Jahr, nachdem die alte Durnsford mir von ihrem Tod berichtet hatte, ist Isobel tatsächlich ge‐ storben. Es quält mich der Gedanke, daß ein gebrochenes Herz die Ursache war.« »Wenn sie nun am Leben geblieben wäre, Mr. Beddows, und wenn Sie die Sache mit den Briefen eher entdeckt hät‐ ten – hätten Sie sie dann nach dem Tod ihrer ersten Frau geheiratet?« »Selbstverständlich!« »Aber Sie hätten ein so reines, edles Wesen unmöglich hei‐ raten können, ohne vorher dem Teufel abzuschwören. Ihre Ehe hätte Ihnen nicht das Glück gebracht, daß Sie sich er‐ hofften, wenn Sie insgeheim ein Satanist geblieben wären.« »Das sehe ich ein«, gab Beddows langsam zu. »Anderer‐ seits ist die Liebe die größte schützende Kraft, die es gibt. Ich glaube, Isobels Liebe wäre groß genug gewesen, um mich, abgesehen von dem Verlust meines materiellen Be‐ sitzes, gegen alles Böse abzuschirmen. Natürlich hätte ich ihretwegen abschwören müssen, aber für Isobel hätte ich alles gewagt.« »Sie müssen sie sehr geliebt haben.« »Mehr als alles andere in dieser oder der nächsten Welt.« »Dann werden Sie Verständnis für mich haben, Mr. Bed‐ dows. Ich liebe Ihre Tochter.« Beddows hob die Augenbrauen. »Tatsächlich? Sie kennen sie doch noch gar nicht sehr lange, nicht wahr?«
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»Das nicht, aber wir haben in der kurzen Zeit, die wir zu‐ sammen waren, Außergewöhnliches erlebt. Wir haben uns bereits verlobt.« In Beddows’ braunen Augen blitzte ein Funke von Humor auf. »Sind Sie heute abend hergekommen, um meine Zu‐ stimmung zu erbitten?« »Es würde uns glücklich machen, wenn Sie uns Ihren Se‐ gen gäben«, antwortete John ernsthaft. »Doch zunächst brauchen wir die Hilfe, die nur Sie uns leisten können. Und Sie wissen, wie verzweifelt wir sie brauchen.« »Tut mir leid. Wirklich. Aber es hat keinen Zweck, das noch einmal aufzurollen.« »Mr. Beddows, sie haben eben gesagt, daß Sie Isobel mehr als alles andere in dieser oder der nächsten Welt geliebt ha‐ ben. Daraus geht hervor, daß Sie ihre Seele immer noch lie‐ ben. Wäre sie heute nacht hier in diesem Raum – was ja durchaus möglich ist ‐ und könnte zu ihnen sprechen, was würde sie sagen? Sie wissen ebensogut wie ich, daß sie Sie anflehen würde, wie‐ der der Mensch zu werden, den sie gekannt und geliebt hat. Sie würde Sie drängen, Satan zu entsagen, um das Le‐ ben Ihrer Tochter und die Liebe eines anderen jungen Paa‐ res zu retten.« »Ja«, murmelte Beddows. »Das würde sie sagen.« »Also, wenn Sie sie immer noch lieben, tun Sie es um ih‐ retwillen.« Die Augen des Mannes in dem Pentagramm flammten plötzlich, und er brüllte: »Verdammt noch mal, hören Sie
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auf, mich zu foltern! Ich kann nicht! Ich will nicht! Gehen Sie zur Hölle!« John, der sich seinem Ziel schon ganz nahe gefühlt hatte, war schwer enttäuscht. Ein noch stärkeres Argument als die, die er bereits gebracht hatte, fiel ihm nicht ein. Trotz‐ dem versuchte er es noch einmal mit einem, das er für ziemlich schwach hielt. »Sie glauben doch, daß Isobels Liebe, falls sie am Leben ge‐ blieben wäre, Sie vor allem Bösen außer dem Verlust Ihres Besitzes geschützt hätte. Auch wenn Sie jetzt ein Geist ist, würde ihre Liebe Sie sicher immer noch schützen.« »Nein«, gab Beddows zurück. »In dem letzten Jahr ihres Lebens hat sie geglaubt, ich hätte sie im Stich gelassen. Vielleicht ist sie im Haß auf mich gestorben. Das Risiko ist mir zu groß. Es gibt nur eins, was mich schützen könnte. Ich müßte Satan hereinlegen, indem ich den von mir unter‐ zeichneten Pakt wieder an mich bringe.« Johns Muskeln spannten sich. »Wissen Sie, wo der Pakt ist?« »Copely‐Syles hat ihn.« »Das kann ich mir denken, aber er wird ihn nicht bei sich tragen. Wissen Sie nicht, wo er ihn aufbewahrt?« »Da kann ich nur raten. Vermutlich hat er ihn unter den Satansaltar in seiner Krypta gelegt.« »Dann . . .« John zögerte. Beddows streckte die Hände in einer Geste heftigen Wider‐ spruchs aus. »Nein, nein! Denken Sie nicht an so etwas! Vergessen Sie, was ich gesagt habe! Es wäre Wahnsinn, wollten Sie jenen Altar durchsuchen. Sie würden auf der 246
Stelle tot umfallen oder den Verstand verlieren. Meinem schlimmsten Feind möchte ich nicht zumuten, diesen Pakt zu holen.« John erhob sich langsam. »Wenn ich ihn hole und Ihnen zur Vernichtung übergebe, werden Sie mir dann bei Ihrer Liebe zu Isobel schwören, daß Sie sofort dem Satan entsa‐ gen wollen?« Beddows begann zu zittern. Mit vor Entset‐ zen hervorquellenden Augen starrte er John an. Schließlich keuchte er: »Gut! Ich schwöre es. Aber ich habe Sie ge‐ warnt! Ich habe Sie gewarnt! Sie laufen in Ihren Tod!« XXII Der Gedanke, die Krypta noch einmal betreten zu müssen, erfüllte John mit panischer Furcht. Wenn er in seinem Ent‐ schluß nicht wankend werden sollte, mußte er sofort han‐ deln. Er wandte sich zur Tür und erklärte kurz: »Vielleicht haben Sie recht, und ich bin in einer Stunde tot. Falls nicht, komme ich hierher zurück.« »He!« rief C. B. ihm nach. »Wir sollten lieber eine Waffe mitnehmen.« »Diesmal gehe ich allein«, erwiderte John. »Sie bleiben, wo Sie sind.« »Ist denn das die Möglichkeit!« ächzte C. B. »Wie könnte ich deiner Mutter jemals wieder vor die Augen treten, wenn ich dich allein gehen ließe?« Er wandte sich Beddows zu. »In diesen Silberschalen ist doch Weihwasser, nicht wahr? Haben Sie noch einen Rest?« Beddows reichte ihm
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eine kleine Flasche, die halb voll war. C. B. fragte weiter: »Haben Sie ein Hufeisen übrig?« »Nein, tut mir leid.« ’ »Das ist schade«, murmelte C. B. »Und eines von denen aus dem Pentagramm wage ich nicht zu nehmen, denn wäh‐ rend wir weg sind, könnte irgend etwas Sie angreifen. Ein Kruzifix haben Sie vermutlich nicht im Haus?« »Natürlich nicht. Ich kann es kaum ertragen, eins anzuse‐ hen, und berühren kann ich es erst recht nicht. Ich mußte schon sehr vorsichtig sein, als ich das Weihwasser eingoß. Ein Tropfen, der auf meine Hände gefallen wäre, hätte mich verbrannt.« Darauf folgte C. B. John, der voraus geeilt war. In der Halle rief er ihm zu: »Langsam! Wir müssen uns erst mit ein paar astralen Waffen versehen. Ich wünschte bei Gott, wir hätten genug Zeit, um die notwendigen Vorbereitungen zu tref‐ fen. Wir sollten uns Kränze aus Knoblauch und Teufels‐ dreckgras um den Hals hängen, ganz zu schweigen davon, daß wir uns mit dem Rauch süßer Kräuter reinigen und saubere Unterwäsche anziehen müßten. Helfen wir uns, so gut wir können.« Er lief durch das Frühstückszimmer zur Anrichte und zog eine Schublade nach der anderen auf. In der einen fand er Bindfaden und eine Schere, in einer ande‐ ren ein Bündel Anmachholz. »Hier, nimm das«, sagte er zu John. »Füge vier Hölzchen zu zwei Kreuzen zusammen. Mach lange Schlaufen daran, damit wir sie uns um den Hals hängen können.« C. B. leerte unterdessen zwei kleine Limonadenflaschen über dem Spülstein, füllte sie mit Weihwasser und schloß 248
sie mit Pfropfen aus zusammengedrehtem Zeitungspapier. Eine der Flaschen reichte er John. »Steck sie in deine Ta‐ sche, aber benutze sie nicht eher, als ich es dir sage.« Die zweite Flasche behielt er selbst. C. B. ergriff einen Besenstiel und brach über einem Wind‐ sor‐Stuhl ein Drittel davon ab. Mit Bindfaden band er die Stücke zu einem großen Kreuz zusammen, das man in der Hand tragen konnte. Dann öffnete er die Tür zu den hinte‐ ren Räumen. »Ich suche noch nach einem Gegenstand zum Hochstemmen der Altarplatte. Du kannst in der Zwischen‐ zeit ein paar Vorhänge abnehmen, sie mit Wasser tränken und in den Wagen bringen. Riegele die Eingangstür auf. Das spart Zeit.« John war noch dabei, die durchweichten Stoffbahnen vor den Rücksitzen zu verstauen, als C. B. mit einem Stemmei‐ sen zu ihm trat. »Viel größer als das im Wagen ist es ja nicht, aber etwas Besseres konnte ich nicht finden. Nimm du es. Ich trage das Kreuz.« Fünf Minuten später parkte John den Wagen unter den hundert Meter von der Priorei entfernten Bäumen, und sie stiegen aus. Die tropfenden Vorhänge zwischen sich tra‐ gend, nahmen sie den Weg, den John am Abend zuvor ein‐ geschlagen hatte. C. B. als der größere half John aufs Dach, reichte ihm das nasse Bündel und kletterte ihm dann nach. Sie balancierten zum Kamin hinüber. »Du weißt, daß wir uns in große Gefahr begeben«, flüsterte C. B. »Laß uns niederknien und beten.« Seite an Seite beteten sie still einige Minuten lang. Als sie sich erhoben, murmelte C. B.: »Ich wollte, ich könnte mich 249
an den 23. Psalm erinnern. Er soll ein besonderer Schutz gegen Dämonen sein. Weißt du ihn noch?« John schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es ist der, in dem es heißt: ,Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück’, aber genau kann ich es nicht sagen.« »Dann sollten wir uns lieber an das Vaterunser halten, und wenn sich dir irgend etwas Unerfreuliches nähert, rufst du laut: ,1m Namen Jesu Christi, hebe dich von mir, Satan!’« John ließ die Vorhänge in den breiten Kamin fallen und wollte ihnen folgen. C. B. schob ihn zur Seite. »Nein, John. Ich trage das Kreuz, daher mußt du mich vorangehen las‐ sen.. Und noch etwas. Wenn ich den Rückzug befehle, dann läufst du und bleibst nicht stehen, um darüber zu diskutieren. Damit rettest du nicht nur dich selbst, sondern du kannst auch Hilfe holen und mir dadurch die Chance geben, später ebenfalls gerettet zu werden. Ist das klar?« John nickte, und C. B. schwang seine langen Beine über den Rand des Schornsteins. Er fand die ersten eisernen Hand‐ griffe und verschwand. Das letzte Stück ließ er sich fallen. Unter den nassen Vorhängen knirschte der Koks, aber das Feuer brannte nur so schwach, daß er die Hitze kaum fühl‐ te. Die Krypta lag im Dunkeln. C. B. nahm das Kreuz in die linke und die Taschenlampe in die rechte Hand. Dann rannte er an die Eisentür und drückte sämtliche Schalter, so daß der Mittelgang hell erleuchtet wurde. Er steckte die Ta‐ schenlampe wieder ein, und erst jetzt ließ er seinen Blick durch das Gewölbe schweifen.
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Er hatte sich weniger verändert, als er nach dem Bericht Inspektor Füllers angenommen hatte. Die Altarvorhänge mit dem Bock von Mendes und der Frau mit den sieben Brüsten waren verschwunden und ebenso die Teufelspries‐ ter‐Roben, das Altartuch, die schwarze Kerze und das zer‐ brochene Kreuz mit der Fledermaus. Aber das Schwert, der Kelch und das Buch lagen noch da und sahen wie harmlose Dekorationsstücke aus. Das Skelett und der Mumiensarg konnten recht gut im Arbeitszimmer eines Amateur‐ Wissenschaftlers stehen. Das traf auch auf das Astrolabium und die übriggebliebenen sechs Glaskrüge, die die Ho‐ munkuli enthalten hatten sowie die Flaschen, Waagen und Retorten auf den vier langen Refektoriumstischen zu. Mehr hatte C. B. noch nicht gesehen, als John aus dm Ofen heraussprang und die jetzt dampfenden Vorhänge nach sich zog. Beide hatten nicht die Absicht, sich hier einen Au‐ genblick länger als notwendig aufzuhalten. Sie gingen so‐ fort auf den Altar zu. sie waren kaum zwei Schritte weit gekommen, als ein Hahn krähte. Der von dem Steingewölbe über ihren Köpfen widerhal‐ lende Schrei hörte sich an wie die Posaunen des Jüngsten Gerichtes. C. B. und John blieben wie angewurzelt stehen. Das Blut schien ihnen in den Adern zu gefrieren. Ihre Gesichter wandten sich der Reihe von Käfigen in dem linken Seiten‐ gang hinter den Säulen zu. Sie hatten aus dem Bericht des Inspektors geschlossen, der Kanonikus habe alle seine Tiere beseitigt. Das traf aber nur auf die Säugetiere zu, mit denen er Experimente angestellt 251
hatte. Die Hühner, Tauben und das andere Geflügel, das er zu Opferzwecken benutzte, waren alle noch da. Also war es kein Dämon gewesen! Sie atmeten erleichtert auf, aber nur für einen Augenblick. Etwas bewegte sich schnell hinter einer der Säulen. Beide erhaschten sie einen Blick auf einen im Schatten vorbeihuschenden Körper. Sie blieben stehen und starrten auf die Säulenbasis, hinter der er verschwunden war. Ehe sie sich noch entscheiden konnten, ob sie trotz des We‐ sens hinter ihnen weitergehen sollten, wurde ihre Auf‐ merksamkeit auf die Decke gelenkt. Ein schwaches Quiet‐ schen war hinter der Reihe der Lampen zu hören. Oben bewegte sich etwas, und dann verstummte das Quietschen wieder. »Kommen Sie!« sagte John. »Wir verschwenden unsere Zeit.« Indem er das sprach, machte sich das Ding hinter der Säule wieder bemerkbar. Es sprang hervor und ihnen genau in den Weg. Aus dem Aufstöhnen der beiden Männer wurde ein Seufzer der Erleichterung. Das häßliche Geschöpf sah nicht anders aus als eine außergewöhnlich große Kröte. John machte einen weiteren Schritt vorwärts. Sein Fuß hat‐ te den Boden noch nicht berührt, als etwas von oben auf seinen Kopf zustieß wie ein kleiner Bomber. Er stieß einen Angstschrei aus und duckte sich, aber er erkannte doch, was es war, und ärgerte sich über sich selbst, denn das Quietschen hätte ihm schon verraten müssen, daß da oben Fledermäuse hingen.
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Im nächsten Augenblick bekam er einen echten Grund zur Angst. Die Kröte hatte ihn mit ihren hellen, lidlosen Augen beobachtet. Plötzlich öffnete sie ihr Maul und lachte. Das tiefe, teuflische Gelächter, ausgestoßen von einem Rep‐ til, ließ ihnen kalte Schauer das Rückgrat hinunterlaufen. Instinktiv wichen sie zur Treppe zurück. »Wir müssen vorwärts«, befahl C. B. heiser. »Wenn wir jetzt die Nerven verlieren, sind wir erledigt.« Mit zwei Schritten waren sie wieder an der vorigen Stelle, aber die Kröte blieb auf ihrem Platz hocken. Dann geschah etwas Seltsames. Die Umrisse des Tieres verwischten sich, und es knisterte, bis es sich zu einem gelblich‐grünen Gas‐ ball verwandelt hatte. Gleich darauf saßen zwei Kröten an der Stelle, wo erst nur eine gewesen war. Ungläubig starrten sie auf die so geheimnisvoll entstande‐ nen Zwillingswesen. Da rauschte etwas über ihnen, und diesmal stürzten sich zwei Fledermäuse auf sie herab. Bei‐ de Männer duckten sich, die Kröten lachten, verwandelten sich in wirbelnde Kugeln und wurden zu vier Kröten. In diesem Moment gingen die Lichter aus. Ein paar Sekunden lang konnten sie in der Dunkelheit nichts sehen. Dann bemerkten sie einen Schimmer von Hel‐ ligkeit hinter sich. Sie fuhren herum und bemerkten, daß die Tür sich geöffnet hatte und der farbige Diener des Ka‐ nonikus in ihrem Rahmen stand. Er mußte es gewesen sein, der die Lichter ausgelöscht hatte, denn er hielt die Hand immer noch auf den beiden untersten Schaltern. Nach dem nervenzerrüttenden Erlebnis mit den Kröten jag‐ te ein menschlicher Feind den beiden nächtlichen Eindring‐ 253
lingen kaum noch Angst ein. Der Ägypter war so groß wie C. B., und der wallende weiße Burnus, der seine Gliedma‐ ßen verhüllte, ließ ihn beträchtlich stärker erscheinen. Aber John setzte ohne Zögern dazu an, die Stufen hinaufzusp‐ ringen. C.B. folgte ihm, wandte aber schnell den Blick ab und stieß einen Warnungsruf aus. »Sieh nicht in seine Augen! Sieh nicht in seine Augen!« Es war zu spät. John blickte bereits in die weiß umrandeten Augenbälle des Farbigen. Sofort wurde klar, warum dieser die Lampen ausgeschaltet hatte. Im Halbdunkeln leuchte‐ ten seine Augen auf. Sie hielten Johns Blick fest und schie‐ nen mit ungeheurer Schnelligkeit größer zu werden. John war nicht mehr fähig, sich vorwärts zu bewegen. Die Au‐ gen wuchsen und wuchsen, bis sie zu einem blendenden Lichtkreis verschmolzen. Ein unerträglicher Schmerz schoß ihm durch den Kopf, seine Knie gaben nach, und er brach auf der untersten Stufe zusammen. Der Ägypter hatte John innerhalb von Sekunden besiegt. C. B. dagegen war es gelungen, seinen Blick von dem bösen Licht in den Augen des farbigen Mannes abzuwenden. Er sah auf den Steinfußboden nieder, sammelte seine körperli‐ chen und geistigen Kräfte und murmelte ein kurzes Gebet. Dann warf er sich, ohne aufzublicken, gegen die Beine des Ägypters. Dieser trat C. B. gegen die Brust. Hätte der Mann Stiefel ge‐ tragen, wäre C. B.’s Brustbein zerschmettert worden, glück‐ licherweise trug er nur weiche Ledersandalen. Trotzdem blieb C. B. die Luft weg. Er hatte den Ägypter bei den 254
Knien fassen wollen, schaffte es aber nur, einen Knöchel zu packen. Dann warf er sich mit seinem ganzen Körperge‐ wicht rückwärts. Der Feind fiel zu Boden, aber er verlor keine Sekunde und trat mit seinem zweiten Fuß zu. Diesmal erwischte er C. B. am Kopf, und C. B. rollte die Stufen hinunter. Inzwischen war jedoch John ein paar Augenblicke von der lähmenden Wirkung des hypnotischen Blickes frei gewesen und wie‐ der auf die Füße gekommen. In der rechten Hand hielt er immer noch das Stemmeisen. Er raste die Stufen hinauf und traf den Farbigen mit dem ersten Schlag auf die Schul‐ ter, mit dem zweiten auf die Stirn. C. B. keuchte die Treppe hoch. Als er Johns Gesichtsaus‐ druck bemerkte, beruhigte er ihn: »Mach dir keine Gedan‐ ken, diese arabischen Typen haben Schädel wie Kanonen‐ kugeln. Du hast ihn nicht getötet. Aber er wird lange genug bewußtlos bleiben, um uns nicht mehr zu stören. Hilf mir, ihn in den Gang zu tragen.« Sie faßten ihn bei den Beinen und Schultern und zogen ihn von der Tür weg. Dann standen sie nebeneinander und schauten in die Krypta hinunter. Sie wurde jetzt durch das aus dem Gang fallende Licht schwach beleuchtet, und still war es längst nicht mehr dar‐ in. Von allen Seiten kamen verhexte, mißtönende Geräu‐ sche, als sei sie erfüllt mit entsetzlichen, halb menschlichem und halb tierischem Leben. Ein Kichern wie von einem Wahnsinnigen, mischte sich mit dem Meckern eines Zie‐ genbocks. Der Hahn krähte erneut, das Quietschen der Fle‐ dermäuse hatte sich verstärkt, als sei eine Legion dieser 255
Tiere vorhanden, ein Schwein grunzte, und das Hinter‐ grundgeräusch zu dem allem bildete das leise, rhythmische Klopfen von Voodoo‐Trommeln. »Je länger wir warten, desto schlimmer wird es werden«, drängte C.B. »Sie können uns nichts antun, solange wir standhaft bleiben und auf den Herrn vertrauen. Als ich den Scharlatan angriff, habe ich mein Kreuz unten an der Trep‐ pe fallen lassen. Du mußt mir einen Moment Zeit geben, damit ich es aufheben kann. Sobald ich es in der Hand hal‐ te, rufe ich. Knipse alle Lichter an, und dann kommst du wie der Blitz hinter mir her.« Indem rannte er schon die Stufen hinab, bückte sich, ergriff sein Besenstiel‐Kreuz, hob es hoch und rief: »O Herr, sei mit uns!« Die Lichter flammten auf. John sprang zu ihm. Zusammen stürzten sie vorwärts. Sie hatten fünfundvierzig Meter zurückzulegen. In der kurzen Zeit, die die Lampen ausgeschaltet gewesen waren, hatten sich die Riesenkröten vervielfacht. Jetzt verlegten Dutzende von ihnen vor, zwischen und hinter den Tischen den Weg. Von der Decke rauschte eine Wolke von Fleder‐ mäusen herab. Beim ersten Anlauf schafften C. B. und John fünfzehn Schritte. Dann wurden sie gebremst. Die Fledermäuse war‐ fen sich ihnen gegen Körper und Gesicht. Die Kröten spien Gift, das sich in grünlichen Wolken ausbreitete. Es hatte den gräßlichen Gestank von verwesenden Leichen. In Se‐ kunden hatte es eine Barriere gebildet, hinter der der Altar nicht mehr sichtbar war. Die Dämpfe stachen ihnen in die Augen und ließen ihre Kehlen brennen. 256
»Satan, hebe dich von mir!« rief C. B. »Satan, hebe dich von mir!« Und John stimmte ein: »O Gott, vernichte unsere Feinde! Lieber Gott, vernichte unsere Feinde!« Plötzlich ebbte der Lärm zu einem gedämpften, ärgerlichen Murmeln ab. Die Giftwolken lösten sich auf. Die Fleder‐ mäuse fielen hilflos zu Boden, und die Kröten welkten zu schlaffen, zusammengefallenen Wesen dahin. C. B. und John rannten von neuem vorwärts. Aber ein neuer Schrecken hielt sie auf. Die Lampen flackerten zwei‐ mal. Dann verlöschten sie beinahe ganz. Vor den beiden Männern begann der Fußboden in einem trüben roten Licht zu glühen und sich wie ein anschwellender, öliger Teich zu heben. Es sah aus, als habe er ein eigenes bösartiges Leben. Beim nächsten Schritt konnten sie durch die Sohlen ihrer Schuhe die Hitze spüren, und von dem Leder stiegen Rauchwölkchen auf. Die Steinplatten waren rotglühend geworden; vor dem Altar schmolzen sie regelrecht. Schulter an Schulter blieben C. B. und John geduckt stehen. Der Schmelztiegel vor ihnen blendete ihre Augen und drohte sie zu verschlingen, wenn sie sich ihm nur noch ein wenig näherten. Schreckliche Hitze versengte ihnen Ge‐ sicht und Hände. In ein paar Sekunden waren sie in Schweiß gebadet. »Bleib stark im Glaube , John!« wisperte C. B. »Wenn wir auf den Herrn vertrauen, können wir unbeschadet durch diesen Feuerofen schreiten. Wir müssen entschlossen wei‐ tergehen.« Sie beteten laut das Vaterunser und setzten ihren Weg zum Altar fort. Obwohl die Steinplatten weiterhin weißglühend 257
aussahen, verbrannten ihre Schuhe nicht, und sie fühlten auch keine Hitze mehr. Sobald sie den Altar erreichten, verglomm das Glühen der Steine. Erst jetzt bemerkten sie, daß sich auf dem Altar selbst etwas Grauenhaftes materialisierte. Die Lampen blieben trübe, und direkt vor ihnen bildete sich in den Schatten ein Ungeheuer, das sie vor Furcht erbleichen ließ. In der Mitte seines runden, fleischigen Körpers hatte es das Gesicht einer Frau. Das Gesicht war schön, aber unglaub‐ lich böse. Der Körper war mit eiternden Schwären bedeckt, und acht sich krümmende, polypenartige Tentakel wuch‐ sen daraus hervor und griffen nach ihnen. Voller Entsetzen sprangen sie zurück. Dann faßte C. B. sich wieder und zog die kleine Flasche mit Weihwasser aus der Tasche. Indem er mit der linken Hand das Kreuz hoch em‐ porhielt, zog er den Papierstöpsel mit den Zähnen aus der Flasche und schüttete mit der rechten Hand ihren Inhalt auf den Dämon. Die roten Lippen des Gesichts öffneten sich zu einem durchdringenden Schrei. Die Fangarme peitschten wild umher. Der lepröse Körper explodierte plötzlich in Wolken magentaroten Rauches. Ihr Gestank war so Übelkeit erre‐ gend, daß sich C. B. und John übergeben mußten. Als sie die Köpfe wieder heben konnten, war von dem abscheuli‐ chen Ding auf dem Altar keine Spur mehr zu entdecken. Es blieb ihnen nur Zeit für einen Blick, denn die trübe glim‐ menden Lampen flackerten noch einmal und gingen dann ganz aus. Die Krypta war in völlige Finsternis getaucht.
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Sofort kam ihnen zu Bewußtsein, daß mit dem Einbrechen der Dunkelheit alle Geräusche aufgehört hatten. Die Voo‐ doo‐Trommeln, das scheußliche Gelächter, das ganze grunzende Pandämonium der Bewohner des Abgrunds verstummte wie auf Befehl. Die unheimliche Stille war furchterregender als der nervenzerfetzende Lärm. Gleich‐ zeitig war es in der Krypta schlagartig kalt geworden wie in einem Kühlhaus. Als habe eine vollständige Lähmung sie befallen, blieben die beiden Männer bewegungslos stehen. Aus der Schwär‐ ze hinter ihnen erklang eine klare, silberne Stimme. Sie sag‐ te: »Mut habe ich immer bewundert. Ihr habt den euren be‐ wiesen, deshalb will ich euch das, weswegen ihr gekom‐ men seid, geben. Ihr braucht keine Angst mehr zu haben. Hier habe ich den Pakt, den Henry Beddows mit meinem Diener Copely‐Syles unterzeichnet hat. Dreht euch um, und ich werde ihn euch freiwillig zum Geschenk machen.« »Sieh nicht hin, John!« keuchte C. B. »Um Gottes willen, dreh dich nicht um! Schließe deine Ohren vor allem, was du hörst, und stemme die Altarplatte hoch.« Während er dies sprach, zog er seine Taschenlampe hervor und richtete ihren Strahl auf die Deckplatte. Die Stimme hinter ihnen fuhr leise und überredend fort: »Ihr Narren, der Pakt ist nicht dort. Ich halte ihn hier in meiner Hand. Für Menschen, die nicht bereit sind, mir wil‐ lig zu dienen, habe ich keine Verwendung, und noch nie‐ mand hat mich beschuldigen können, ich sei kleinlich. Ich halte keinen Mann bei seinem Wort, wenn er bereut, es mir 259
gegeben zu haben. Ihr könnt Beddows den Pakt bringen und ihm sagen, daß ich ihn von seinen Verpflichtungen entbinde.« Ohne den honigsüßen Worten Beachtung zu schenken, zwängte John die Kante des Stemmeisens unter die Deck‐ platte und wuchtete sie hoch. Der schwere Stein hob sich ein wenig. Noch ein Ruck, und eine Lücke von einigen Zen‐ timetern entstand. John ließ das Stemmeisen fallen, faßte mit beiden Händen unter die Platte und spannte alle Mus‐ keln an, um sie wie den Deckel einer großen Truhe zurück‐ zukippen. Wieder ließ sich die Stimme vernehmen, aber sie hatte sich verändert. Jetzt klang sie wie kalter Stahl und vibrierte mit einem drohenden Unterton. »Halt!« befahl sie. »Ich habe euch lange genug Zeit gelas‐ sen. Jetzt gebe ich euch noch zwei Minuten, um meinen Tempel zu verlassen. Bleibt ihr, wird sich die Hölle öffnen und euch verschlingen.« John, dem trotz der eisigen Kälte der Schweiß in Strömen über den Körper lief, strengte alle Kräfte an, aber die Platte bewegte sich nicht, und C. B. konnte ihm nicht helfen, weil er in der einen Hand die Taschenlampe und in der anderen das Kreuz hielt. Plötzlich erscholl ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Der Fußboden hob sich, die Wände schwankten. C. B. warf John den rechten Arm um die Schultern, hob das Kreuz hoch über ihren Köpfe und rief: »0 Gott, schütze uns!««
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Ein gleißender Blitz zuckte herab. Ein Lichterstrahl fuhr durch das Dach, traf die Deckplatte des Altars und zer‐ schmetterte sie in hundert Stücke. Gott hatte eingegriffen. Sofort brach ein wilder Lärm aus. Schreiend, kreischend, stöhnend und grunzend flohen die Bewohner der Hölle zu‐ rück in ihre dunkle Unterwelt. Noch ganz benommen leuchtete C. B. in die Höhlung des Altars. Zwischen den Trümmern lag ein kleiner, messing‐ beschlagener Kasten. John holte ihn heraus, hob das Stemmeisen auf und öffnete ihn. Etwa zwanzig Perga‐ mentblätter lagen darin. Alle trugen Unterschriften in ge‐ trocknetem Blut. Hastig blätterte John sie durch, bis er den Namen »Henry Beddows« fand. Dann stopfte er mit einem Seufzer der Erleichterung den ganzen Packen in seine Ta‐ sche. In ihrer Aufregung hatten C. B. und John bisher noch gar nicht bemerkt, daß alle Lichter wieder angegangen waren und daß dicke Regentropfen auf sie niederfielen. Jetzt wandten sie sich um. Die Krypta lag so friedlich und leer vor ihnen wie bei ihrem Eintritt. Ein Blick nach oben zeigte ihnen, daß in der Decke über dem Altar ein großes Loch klaffte. »Laß uns dort hinaussteigen«, schlug C. B. vor. Sie kletterten auf den Altar und wanden sich durch das Loch auf das Dach. Draußen goß es in Strömen, aber sie konnten an nichts an‐ deres denken, als daß sie aus wahrhaft teuflischer Gefahr gerettet worden waren.
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Mit ihrem Wagen hatten sie The Grange bald erreicht. C. B. sah auf die Uhr. Zu ihrer Verwunderung war es erst neun‐ zehn Minuten nach elf. Ihr Aufenthalt in der Krypta hatte nicht länger als sieben Minuten gedauert. Noch zwei Minuten, und sie waren oben bei Beddows. Er wollte ihnen nicht eher glauben, daß sie den Pakt hatten, bis John ihn ihm zeigte. Zuerst überwältigte Beddows das Erstaunen über diesen Erfolg. Dann, als er die erschöpften Gesichter seiner Besucher betrachtete, war er voll leiden‐ schaftlicher Dankbarkeit. C. B. nahm die übrigen Papiere an sich. »Ich werde sie Scotland Yard übergeben. Damit können die Verbündeten des Kanonikus aufgespürt wer‐ den, obwohl ich bezweifle, daß einer von ihnen gegen ihn aussagen wird. Aber die Menschen, die diese anderen Pak‐ te unterzeichnet haben, werden alle die Nachricht erhalten, daß sie jetzt frei sind.« Ertrat in das Pentagramm, leerte die Teekiste, stellte sie mit dem Boden nach oben hin, lehnte sein Besenstiel‐Kreuz an die Rückseite und setzte zwei der noch nicht angebrannten Kerzen darauf. Auf diese Weise entstand ein improvisierter Altar. C. B. zündete die Kerzen an und sagte zu Beddows: »Nehmen Sie den Pakt in ihre rechte Hand und verbrennen Sie ihn. Dann sprechen Sie mir folgende Worte nach.« Beddows hielt eine Ecke des Pergamentblattes in die Ker‐ zenflamme und wiederholte Satz für Satz: »Hiermit entsage ich, Henry Beddows, dem Satan und al‐ len seinen Werken, jetzt und in alle Ewigkeit, sowohl in meinem Namen als auch in dem meiner Tochter Ellen. Ich habe schwer gesündigt, aber im Vertrauen auf die göttliche 262
Gnade, die dem reuigen Sünder von unserm Herrn Jesus Christus versprochen ist, bitte ich darum, von Gott wieder angenommen zu werden. Im Namen Christi rufe ich den Erzengel Michael und seine Heerscharen an, diese Nacht meine Tochter Ellen zu beschützen, alle bösen Gedanken, die sich gegen sie richten, abzuwenden, und sie von dem Übel zu erlösen. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.« Dann knieten John und C. B. neben Beddows nieder und beteten. Sie dankten Gott für die Stärkung ihres Mutes und die Er‐ rettung aus der Krypta. Als sie alle aufstanden und Beddows aus dem Pentagramm trat, stellten sie mit Erstaunen fest, daß sein Äußeres sich seltsam verändert hatte. Er schien um zwanzig Jahre geal‐ tert zu sein. Seine breiten Schultern hatten sich gebeugt, sein Haar und seine Bartstoppeln waren weiß geworden. Nachdem er seinen Rettern gedankt hatte, erklärte er mit fester Stimme: »Gleich morgen früh werde ich nach Südfrankreich aufbre‐ chen. Ellen sollte in Sicherheit sein, aber ich werde Copely‐ Syles jagen und dafür sorgen, daß er in die Hölle fährt, in die er so viele andere geführt hat.« . »Wir werden Sie begleiten«, versicherte C. B. »Am besten kommen Sie jetzt mit uns nach Colchester und übernachten mit uns im Red Lion.« »Ja«, stimmte Beddows zu. »Ich muß mich nur noch anzie‐ hen und ein paar Sachen einpacken. Außerdem bin ich sehr 263
hungrig. Könnten Sie nicht inzwischen in die Speisekam‐ mer gehen und für uns alle ein paar Büchsen öffnen?« Während Beddows sich in sein Schlafzimmer begab, berei‐ teten C. B. und John einen Imbiß aus Sardinen, kaltem Schinken und eingemachten Pfirsichen vor. Auch sie fühl‐ ten sich ganz ausgehungert, und als Beddows zu ihnen ins Speisezimmer kam, langten sie alle kräftig zu. Kurz nach Mitternacht stiegen sie in den Wagen. Als Bed‐ dows seinen Koffer verstaute, gestand er: »Vielleicht wer‐ den wir Geld brauchen. Glücklicherweise hatte ich ein hüb‐ sches Sümmchen in meinem Wandsafe. Ich habe beinahe dreitausend Pfund in Fünf‐Pfund‐Noten in ein Paar Schuhe gepackt.« C. B. verzog einen Mundwinkel. »Mir wäre es lieber gewe‐ sen, Sie hätten es mir nicht erzählt. Hoffentlich wird beim Zoll Ihr Gepäck nicht durchsucht.« Im Red Lion angekommen, hinterließ C. B. beim Nachtpor‐ tier, sie wünschten um Viertel vor fünf geweckt zu werden. Danach rief er noch sein Büro an und bat den diensttuen‐ den Beamten, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um für sie drei Plätze für den Flug 7.16 nach Nizza zu buchen. Sobald sie sich in ihren Zimmern den schlimmsten Schmutz abge‐ waschen hatten, fielen sie in den Schlaf er Erschöpfung. Am Morgen wurde C. B. gleichzeitig mit dem Weckruf der Inhalt eines Telegramms durchgegeben, das sein Büro eine halbe Stunde früher erhalten hatte. Es lautete: »Aufgegeben von Polizei‐Hauptquartier Nizza Null Uhr zwanzig stop Christina unbefugt aus dem Ge‐
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fängnis entfernt um 23.15 Uhr stop seitdem spurlos ver‐ schwunden stop gezeichnet Malouet.« Kurz nach halb zwölf hatte Beddows dem Satan abge‐ schworen. Der Kanonikus hatte sie um etwa achtzehn Mi‐ nuten geschlagen. XXIII Auf der langen Fahrt zum Flughafen sprachen John und seine beiden Gefährten wenig. Sie hofften, daß die Polizei die verschwundene Gefangene bis zu ihrer Ankunft wieder aufgespürt hatte. Irgendwelche Überlegungen, was sie zu Christinas Rettung tun konnten, waren jetzt sinnlos. In Northolt empfing sie ein junger Mann aus C. B.’s Büro, der den Wagen übernahm und ihnen mitteilte, durch einen glücklichen Zufall sei es möglich gewesen, noch drei Plätze zu besorgen. C. B. beauftragte seinen Mitarbeiter, Molly te‐ legrafisch ihre Ankunft mitzuteilen und sie zu bitten, am Flughafen Nizza auf sie zu warten. Der Start der Maschine wurde verzögert, weil zwei Perso‐ nen einer mitfliegenden Reisegesellschaft, die mit dem Wa‐ gen von Schottland anreisten, noch nicht eingetroffen war‐ en. Die anderen schienen sich alle zu kennen. Sie waren Leute im mittleren oder vorgeschrittenen Alter. An ihrer Kleidung und ihrem Handgepäck ließ sich erkennen, daß sie sehr wohlhabend waren. Das ging auch aus einer Be‐ merkung hervor, die eine der drei anwesenden Frauen machte. Sie hatten sich im letzten Augenblick zu dem Flug
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entschlossen, nur um an einer Hochzeit teilnehmen zu können. Johns Gedanken waren anderweitig beschäftigt, aber als sie im Warteraum herumsaßen, bemerkte er doch, daß es sich ausnahmslos um besonders häßliche Menschen handelte. Dieser Eindruck verstärkte sich, als das Paar aus Schottland eintraf. Der Mann war sehr groß und so dünn, daß er wie ein Skelett wirkte, und die Frau schielte abscheulich. Die Flugbedingungen waren so gut, daß die Verspätung von zwanzig Minuten unterwegs fast wieder eingeholt wurde. Um zehn Minuten nach eins landeten sie bei strah‐ lendem Sonnenschein in Nizza. Molly und Malouet waren beide da. Nachdem Beddows vorgestellt worden war, sagte der Ex‐Inspektor: »Zu meinem Bedauern habe ich Ihnen nichts Neues mitzu‐ teilen. Aber ich habe hier im Flughafen‐Restaurant einen Tisch reservieren lassen, und während wir den Lunch nehmen, kann ich Ihnen alle Einzelheiten des mysteriösen Vorgangs berichten.« Offenbar war die Entführung für den Kanonikus eine Klei‐ nigkeit gewesen, denn er hatte mit seinen okkulten Kräften nur eine einzige Person beeinflussen müssen. Drei Nächte zuvor war in Nizza ein Mord geschehen. In einem Bistro der Altstadt war ein Seemann während eines Streits zwi‐ schen mehreren Männern durch einen Messerstich tödlich verletzt worden. Es stand nicht fest, wer der Schuldige war. Der Patron der Kneipe hatte ausgesagt, ein Mädchen na‐ mens Marie Courcelle müsse die Wahrheit kennen, denn um sie sei die Rauferei gegangen und sie sei während der 266
Tat nur um Armeslänge von dem Opfer entfernt gewesen. Prompt war Marie verschwunden. Gestern morgen hatte die Polizei sie jedoch in Marseille aufgespürt und nach Nizza in dasselbe Frauengefängnis gebracht, in dem sich auch Christina befunden hatte. Für den Abend war ein Lo‐ kaltermin anberaumt worden. An diesem Punkt mußte der Kanonikus ins Spiel gekom‐ men sein. Vermutlich war er von den de Grasses über die Angelegenheit informiert worden. Jedenfalls hatte der Untersuchungsrichter, der sich diese Verwechslung später selbst nicht erklären konnte, Christi‐ nas statt Maries Namen auf das Formular geschrieben, das die Vorführung zum Lokaltermin anordnete. »Als Christina mit einer ,Schwarzen Maria’ vor dem Bistro eintraf, stellte sich der Irrtum sofort heraus. Immer noch unter dem Einfluß des Kanonikus, ordnete der Untersu‐ chungsrichter an, ein Gendarm solle Christina in einem Ta‐ xi ins Gefängnis zurückbringen und statt ihrer Marie holen. Währenddessen blieb das Polizeifahrzeug mit den an der Schlägerei beteiligten Männern vor dem Lokal stehen. Der Taxifahrer mußte einer von de Grasses Männern gewe‐ sen sein. Nach ein paar hundert Metern war er in eine dunkle Seitengasse eingebogen, hatte angehalten und er‐ klärt, er wolle nur eben schnell in seine Wohnung springen und eine Thermosflasche mit heißem Kaffee holen, die sei‐ ne Frau ihm für die Nachtschicht bereithalte. Gleichzeitig riß ein zweiter Mann die Tür des Taxis auf. Als der Gen‐ darm sich zu ihm umdrehte, sprühte er ihm mit einer Spritzpistole Wasser in die Augen, und der Fahrer schlug 267
ihm von hinten auf den Kopf. Als der Polizist wieder zu sich kam, lag er gefesselt und geknebelt im Gebüsch. Es ge‐ lang ihm, sich auf den Weg zu wälzen und einen Passanten auf sich aufmerksam zu machen. Natürlich hatte er keine Ahnung, was aus dem Taxi und Christina geworden war. »Und haben Sie ausfindig machen können, wo Upson sein Flugzeug gewassert hat?« erkundigte sich C. B. Das war der Fall. Mehrere Personen hatten beobachtet, daß an einem Stausee unweit von Nizza ein Lastkraftwagen mit starken Scheinwerfern gestanden hatte, in deren Licht der Pilot eines Wasserflugzeugs auf dem See gelandet war. Doch was aus dem Lastkraftwagen geworden war, wußte niemand. »Ganz bestimmt war das Upson mit dem Kanonikus«, be‐ merkte John bitter. »Wie ist es ihm nur gelungen, in der kurzen Zeit, die ihm blieb, den Untersuchungsrichter mit seinen okkulten Kräften zu beeinflussen?« C. B. zuckte die Schultern. »Wenn die de Grasses bereits alles geplant und vorbereitet hatten, standen ihm noch zweieinhalb Stunden zur Verfügung. Andererseits war es vielleicht gar nicht nötig, Magie einzusetzen. Es gibt durch‐ aus Beamte, die sich bestechen lassen.« »Hier handelt es sich, wie ich glaube, um einen ehrenwer‐ ten Richter«, warf Malouet ein. »Aber sicher kann man in diesen Dingen nie sein. Außerdem ist da noch die Tatsache, daß der Satanismus weltweit verbreitet ist. Also kann es sich auch um einen geheimen Verbündeten des Kanonikus handeln, der einfach seinen Befehl ausführte.«
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»Haben Sie Grund zu der Annahme, daß hier unten häufig Schwarze Magie praktiziert wird?« erkundigte sich C. B. »Das möchte ich nicht behaupten. Unter den Bauern in den Bergdörfern hat Hexerei allerdings von alters her eine Rolle gespielt und tut es auch heute noch. Auch an der Küste gibt es einige Zauberer, aber die sind von ganz anderer Art und beschäftigen sich mit den Leuten, die zum Spielen her‐ kommen. Eingefleischte Spieler sind immer abergläubisch und fallen leicht Okkultisten zum Opfer, die ihnen Gewin‐ ne versprechen. Aber echte Satanisten dürften hier nicht häufiger sein als in Paris oder Marseille.« »Ich frage deswegen, weil ich es für unwahrscheinlich hal‐ te, daß der Kanonikus seine Zeremonie heute abend ganz allein durchführen wird. Er braucht mindestens einen He‐ xenbruder, der ihm mit dem Homunkulus hilft. Nun dach‐ te ich mir, wir könnten ihn vielleicht aufspüren, wenn Sie in dieser Gegend Leute kennen, die der Schwarzen Magie verdächtigt werden.« »Der Gedanke ist mir auch schon gekommen«, nickte Ma‐ louet. »Bei einem Antiquitätenhändler in Cannes, einer polnischen Gräfin hier in Nizza und zwei oder drei ande‐ ren könnten sich Nachforschungen lohnen. Ich wollte schon vorschlagen, daß wir versuchen, durch sie eine Spur zu finden.« »Und was ist mit den de Grasses?« fragte John. »Sie stecken bis über die Ohren in dieser Geschichte.« Der Ex‐Inspektor sah ihn mitleidig an. »Glauben Sie, Mon‐ sieur, daß wir sie vernachlässigt haben oder daß sie dumm genug waren, sich irgendwie zu exponieren? Monsieur le 269
Marquis leidet immer noch an seiner Wunde, und Comte Jules hat ein Alibi von sieben Uhr morgens bis Mitter‐ nacht.« »Trotzdem wissen sie Bescheid! Wir müssen die Wahrheit aus ihnen herausholen!« rief John ungeduldig aus. Molly legte die Hand auf seinen Arm. »Johnny, mein Lie‐ ber, sei nicht unvernünftig. Wenn ihnen nichts vorzuwer‐ fen ist, kann die Polizei sie auch nicht verhören, und ganz bestimmt werden sie nichts verraten.« »Wir müssen sie irgendwie dazu bringen, Mumsie«, wider‐ sprach er. »Für uns ist es die einzige Möglichkeit, in Erfah‐ rung zu bringen, was mit Christina geschehen ist. Und die Zeit ist so knapp! Ich werde Jules anrufen und mich mit ihm verabreden.« »Wenn du unbedingt willst.« C. B. zuckte leicht mit den Schultern. »Ich fürchte nur, daß du mit dem Kopf gegen die Wand rennst.« John sprang auf und ging zum Telefon. Nach ein paar Mi‐ nuten kam er zurück und berichtete: »Ich habe Jules im Capricorn erreicht. Er ist bereit, mich um vier Uhr zu emp‐ fangen. Du fährst mich hin, Mumsie, nicht wahr? Es wäre mir auch lieb, wenn Mr. Beddows mitkommen würde. Er hat gewisse Argumente, von denen ich annehme, daß sie Jules zum Sprechen bringen werden.« Beddows, der sich an dem Gespräch nur sehr wenig betei‐ ligt hatte, nickte schnell. »Ich verstehe, was Sie im Sinn ha‐ ben, und ich bin einverstanden.«
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Auch C. B. hatte verstanden. Er warf John einen ernsten Blick zu. »Ein Versuch könnte sich lohnen. Also viel Glück.« Sie brachen auf. Malouet meinte: »Colonel Verney und ich werden den Kontakt mit der Polizei aufrechterhalten und uns heute nachmittag um die der Schwarzen Magie ver‐ dächtigen Personen kümmern. Wenn Sie sich mit uns in Verbindung setzen wollen, rufen Sie Inspektor Drouet in der Prefecture in Nizza an. Ich werde ihn von Zeit zu Zeit benachrichtigen, wo wir uns befinden.« Außerhalb des Flughafens trennten sie sich. C. B. und Ma‐ louet nahmen ein Taxi in die Stadt, während Molly mit John und Beddows nach St. Tropez fuhr. Vor Mollys Villa machten sie kurz halt, um ihre Koffer abzustellen. Beddows stopfte das Paket Banknoten in seine Taschen. Kurz nach vier fuhren sie vor dem Capricorn vor. »Ich möchte lieber nicht mit hineinkommen, Johnny«, sagte Molly. »Ich bleibe im Wagen sitzen und spreche ein kleines Gebet, daß alles sich so entwickeln möge, wie du hoffst.« »Danke, Mumsie.« Er beugte sich vor und gab ihr schnell einen Kuß. »Bitte, bete weiter, bis wir wieder herauskom‐ men. Das bedeutet mir ungeheuer viel.« Jules öffnete die Tür zu der Suite der de Grasses. John stell‐ te Beddows vor, und Jules streifte Christinas Vater mit ei‐ nem prüfenden Blick. Dann führte er sie in den Salon. Sobald sie Platz genommen hatten, begann John: »Ich möchte sofort zur Sache kommen. Vor ein paar Tagen hast du mir angeboten, Copely‐Syles zu hintergehen, wenn 271
es sich für dich lohnen würde. Bist du dazu immer noch bereit?« Jules hob mit offensichtlicher Belustigung die Augenbrau‐ en. »Seitdem hat sich eine Menge ereignet, und da liegen die Dinge doch wohl anders als damals, nicht wahr?« »Du meinst, daß ich dir einen Haufen Ärger verursacht ha‐ be und ich schuld bin, daß dein Vater verletzt worden ist?« Zu Johns Überraschung antwortete Jules: »Nein, daran dachte ich nicht. Die Höllenkatze hätte sich die Pistole auch ohne deine Anwesenheit geschnappt. Außerdem habe ich gesehen, wie du die Waffe beiseite schlugst, als sie gerade auf das Herz meines Vaters zielte. Ich hänge sehr an mei‐ nem Vater, und weil du ihm das Leben gerettet hast, habe ich mich bereit erklärt, mir anzuhören, was du heute nachmittag zu sagen hast.« John lächelte ein wenig verlegen. »Das war mehr eine In‐ stinkthandlung. Aber was meinst du damit, daß die Dinge jetzt anders liegen?« »Nichts weiter als das: Wir haben die Ware ausgeliefert, und nun gibt es kaum noch etwas, was wir tun könnten.« »Du könntest uns auf die Spur der Helfer des Kanonikus bringen.« »Möglich, aber damit würde ich Freunde von mir einer ge‐ richtlichen Verfolgung aussetzen, und das zu tun, bin ich natürlich nicht bereit.« »Ich kann Sie recht hübsch dafür entschädigen, Comte«, fiel Beddows ein. »Eine ansehnliche Summe trage ich bei mir. Sollten Sie mehr brauchen, kann ich es mir zweifellos in der internationalen Zone in Tanger besorgen.« 272
»Danke, Sir.« Jules verbeugte sich kühl. »Es gehört nicht zu den Traditionen meiner Familie, unsere Diener zu verkau‐ fen.« John schluckte noch rechtzeitig die Bemerkung hinunter, es sei noch weitaus schändlicher, Drogen, Waffen und Frauen zu verkaufen. Statt dessen fragte er ruhig: »Weißt du, wo Christina jetzt ist?« Jules führte ein goldenes Taschenfeuerzeug an die Gitane, die ihm von den Lippen hing. »Ich habe keine Ahnung.« »Weißt du wenigstens, wo der Kanonikus heute abend sei‐ ne abscheuliche Zeremonie abhalten wird?« Ehrlich verwirrt fragte Jules zurück: »Was für eine Zere‐ monie?« Du bist dir doch sicher der Gründe bewußt, warum Cope‐ ly‐Syles Christina in seine Gewalt bringen wollte?« »Nein. Ich nahm an, er habe einen Bock auf sie. So etwas kommt bei alten Kerlen vor.« »Hier handelt es sich um etwas völlig anderes. Er will sie für etwas benutzen, was wir, in Ermangelung eines besse‐ ren Namens, eine Schwarze Messe nennen wollen.« »Tatsächlich?« Jules lächelte zynisch. »Hört sich aufregend an. Ellen oder Christina oder wie du sie nennen willst, muß sehr hübsch aussehen, wenn sie nackt auf dem Altar liegt. Ich hätte Lust teilzunehmen.« John mußte sich beherrschen, um ihn nicht zu schlagen. »Wenn du es tätest, könnte es mit einer Mordanklage ge‐ gen dich enden, denn der Höhepunkt des Rituals besteht darin, daß ihr die Kehle durchgeschnitten wird.«
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Jules stieß einen leisen Pfiff aus und erhob sich. »Es handelt sich also nicht nur um Spiel und Spaß? Ich wünsche ihr be‐ stimmt nichts Böses, auch wenn sie reichlich verdreht ist, aber ich fürchte, ich kann nichts für sie tun.« »Kannst du nicht herausbekommen, wo die Zeremonie stattfinden soll?« »Leicht würde es nicht sein. Ob du mir glaubst oder nicht, die Männer, die den Kanonikus mit seiner großen Latten‐ kiste und später die betäubte Christina in eine Villa außer‐ halb der Stadt brachten, konnten sich an nichts erinnern, als sie sich heute morgen bei mir meldeten. Sie wußten nicht mal, in welcher Gegend sie gewesen sind.« John stöhnte auf. »Der Kanonikus, dieser Teufel, muß sie hypnotisiert haben!« Jules nickte. »So wird es sein. Damit habe ich auch endlich eine Erklärung, warum die Männer sich so merkwürdig benahmen.« »Trotzdem könnten Sie versuchen, den Platz ausfindig zu machen«, schaltete sich Beddows ein. »Dazu brauchte ich eine ganze Reihe von Leuten, und sie müßten sehr schnell arbeiten«, erwiderte Jules. »Der Kano‐ nikus kann Christina inzwischen an jeden beliebigen Punkt zwischen Mentone und Marseille gebracht haben.« »Geld spielt keine Rolle«, ließ Beddows sich wieder hören. Jules sah ihn unfreundlich an. »Wenn ich überhaupt irgend etwas unternehme, tue ich es für John, weil er ihre verrück‐ te Tochter daran gehindert hat, meinen Vater zu töten.« Als falle es ihm nachträglich ein, setzte er hinzu: »Die Kosten
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müßten natürlich Sie tragen. Wieviel sind Sie bereit zu zah‐ len?« »Tausend Pfund sofort, und weitere tausend, bei Erfolg.« »Gut. Ich werde meine Leute beauftragen, alle seltsamen Vögel entlang der Küste zu beobachten. In Cagnes lebt ein alter Priester, der ziemlich berüchtigt ist, und in Monte Carlo weiß ich einen Wahrsager, der nicht nur die Karten legt. Auch in Nizza gibt es einen Mann, der etwas wissen könnte – falls er sich überreden läßt, es zu verraten. Er ist ein ältlicher Kabarettist, der in einer Spelunke auftritt, und eins seiner Kunststückchen besteht darin, daß er das Pater‐ noster rückwärts intoniert. Ich werde jetzt telefonieren, und dabei möchte ich allein sein. Bitte, machen Sie es sich in‐ zwischen in der Halle bequem.« Beddows legte tausend Pfund auf den Tisch, und John, der seinen Impuls, durch den er den Marquis gerettet hatte, segnete, bedankte sich bei Jules. Dann fuhren sie mit dem Aufzug nach unten, holten Molly aus dem Wagen und be‐ stellten sich Tee, um die Zeit totzuschlagen. Die folgende Stunde wurde für John die längste, die er je erlebt hatte. Was hatten sie eigentlich erreicht? Nur, daß Jules tausend Pfund angenommen hatte, um Nachfor‐ schungen anzustellen, die Malouet bereits umsonst vor‐ nahm. Und wie sollte es gelingen, an der Riviera im Hand‐ umdrehen einen Menschen aufzutreiben, der nicht nur das Vertrauen des Kanonikus besaß, sondern auch noch bereit war, ihn zu verraten?! Draußen schien die Sonne. Durch die breiten Fenster sahen sie die spiegelglatte blaue Bucht. Vor dem Capricorn stan‐ 275
den zwei Mimosenbäume in voller Blüte, eine Reihe gelb‐ gestreifter Kakteen und Töpfe mit leuchtendroten Gera‐ nien. Drinnen in der Hotelhalle kamen und gingen gutgek‐ leidete Männer und Frauen, die sorglos miteinander lach‐ ten und plauderten. Die Minuten schlichen dahin. In jeder einzelnen hatte John eine neue Vision von Christina. Im Augenblick mochte sie in einem Keller oder auf einem Dachboden mit vergitterten Fenstern eingesperrt sein. Man hatte ihr die Kleider weg‐ genommen, damit sie nicht entfliehen konnte. Sie lag halb betäubt auf einem Bett. Und heute abend – sie würde weg‐ gebracht werden, in einer Kiste fast ersticken, sich gegen ihre Entführer zur Wehr setzen, und diese würden sie schlagen, bis sie keinen Widerstand mehr leistete. Dann kauerte sie nackt zwischen einer Horde bis zum Wahnsinn erregter Unholde. Sie schrie, als das scharfe Ritualmesser ihre Kehle aufschlitzte. Dann lag sie still und tot da, und das Blut strömte aus ihrem Hals. Um halb fünf bestellte John eine Runde Martinis. Eine hal‐ be Stunde später hatte er fünf doppelte gekippt. Molly legte ihm ihre Hand auf den Arm. »Johnny, hast du jetzt nicht genug? Jedenfalls für den Au‐ genblick?« Sein Gesicht verzog sich zu einer Nachahmung seines al‐ ten, ihr so wohlvertrauten Grinsens. »Keine Angst, Mum‐ sie. Wenn sich jemand so jämmerlich fühlt wie ich, wird er nicht betrunken.« Um Viertel vor sieben trat ein Page an ihren Tisch und meldete, Comte Jules de Grasse bitte sie in seine Suite. Mol‐ 276
ly setzte sich in den Wagen. Die beiden Männer fuhren mit dem Lift nach oben. . »Ich glaube, ich habe die Information, die Sie brauchen«, erklärte Jules. »Aber zuerst muß ich eine Bedingung stellen. Ich verlange Ihr Ehrenwort, daß Sie sie weder direkt noch indirekt durch ihre Freunde an die Poli‐ zei weitergeben.« »Warum?« fragte John. »Weil du zu dem Platz, wo die Zeremonie stattfinden soll, Führer brauchst. Die einzigen, die ich in so kurzer Zeit auf‐ treiben kann, sind zwei Schmuggler, die von der Polizei gesucht werden. Sie sind in unserer Organisation Schlüssel‐ leute für Warenlieferungen über die italienische Grenze. Außerdem vertrauen sie mir. Ich kann ihre Sicherheit nicht aufs Spiel setzen, indem ich es zulasse, daß die Polizei gleichzeitig mit ihnen dort auftaucht.« »Der Kanonikus hat wahrscheinlich eine Reihe von Leuten bei sich«, wandte Beddows in sichtlicher Verlegenheit ein. »Ich fürchte, ich bin nicht mehr der Mann, der ich einmal war, wenn es zum Kampf kommt. John Fountain wäre übel dran, wenn er nur meine Hilfe hätte. Wir werden, statt El‐ len zu retten, eins über den Schädel bekommen.« »Das Risiko müssen Sie eingehen«, antwortete Jules achsel‐ zuckend. »Sobald meine Freunde Sie an jenen Ort gebracht und verlassen haben, ist es mir natürlich ganz gleich, ob und wie Sie sich Hilfe beschaffen. Es geht mir nur darum, daß Sie die Polizei nicht im voraus informieren. Also, was meinen Sie?« Beddows und John tauschten einen Blick aus, und John nickte. »Wir geben dir unser Versprechen.« 277
»Gut, ich akzeptiere es. Trotzdem ist es nicht nötig, daß ich das endgültige Ziel jetzt schon nenne. Es liegt in den Ber‐ gen hinter Nizza.« Jules beschrieb ihnen, wie sie in die kleine Stadt St. Pancrace gelangen konnten. Vor der Kirche würden zwei Männer auf sie warten, von denen einer einen roten Bart habe. »Viel Zeit habt ihr nicht mehr«, schloß er. »Das Treffen soll um neun Uhr beginnen.« »Ellens Geburtsstunde ist neun Uhr fünfundvierzig«, murmelte Beddows. »Sie werden das . . . das Opfer genau zur selben Zeit bringen wollen.« »Und es ist beinahe schon sieben!« rief John aus. »Kommen Sie! Wir haben keine Sekunde zu verlieren!« Beddows warf die zweiten tausend Pfund auf den Tisch. Sie verabschiedeten sich kurz von Jules und rannten hi‐ naus. Als Molly sie erblickte, ließ sie sofort den Motor an. John setzte sich ans Steuer, und sie fuhren nach Nizza zu‐ rück. »Vielleicht sollten wir erst zur Villa und ein paar Waf‐ fen holen«, überlegte John. »Nein, daran habe ich schon heute nachmittag gedacht«, verkündete Molly. »C. B. hat immer noch meine große Pis‐ tole, aber die kleine befindet sich in meiner Tasche, und hinten im Wagen habe ich zwei schwere Knüppel, Tot‐ schläger und Messer für euch. Auch zwei Taschenlampen und eine Flasche Brandy habe ich eingepackt.« »Gute, alte Mumsie! Du hast wirklich an alles gedacht. Aber ich wünschte, du würdest mir deine Kanone lassen.« »Nein, Darling. Daran hänge ich. Das ist die Chance meines Lebens, einmal zu sehen, wie sie funktioniert.«
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Als sie Cannes passierten, ging die Sonne unter. In Antibes glühte der Himmel orange‐ und lachsfarben, doch beim Überqueren des Flusses Var waren die Farben schon wie‐ der verblaßt. Es war halb acht, und das Tageslicht war ver‐ schwunden, als sie in St. Pancrace eintrafen. Im Licht ihrer Scheinwerfer entdeckten sie einen Mann auf den Stufen vor der Kirche. John bremste, und der Mann trat an den Wagen. Er hatte einen roten Bart. Leise fragte er: »Kommt Monsieur aus St. Tropez?« »Ja«, erwiderte John. »Wir sind die Freunde von Monsieur le Comte.« »Gut«, nickte der Mann. »Monsieur wird entschuldigen, wenn ich mich nicht vorstelle. Sie können mich Nummer Eins und meinen Gefährten, den Sie später treffen werden, Nummer Zwei nennen. Kennen Sie den Weg nach Fali‐ con?« John schüttelte den Kopf. »Er führt durch Gairaut und ist nicht weit, aber vielleicht wäre es am besten, wenn Madame mir erlauben würden, mich neben Monsieur zu setzen.« Molly stieg aus und nahm hinten neben Beddows Platz, während der Bärtige einstieg. Weiter ging es in Serpentinen bergauf. »Dürfen wir jetzt wissen, wohin Sie uns führen?« fragte John. »Monsieur hat doch Monsieur le Comte versprochen, sich nicht mit der Polizei in Verbindung zu setzen, bis mein Freund und ich uns wieder entfernt haben?«
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»Ja. Sie können sich auf uns verlassen.« »Dann will ich Ih‐ nen sagen, daß ich Sie zu der Höhle der Fledermäuse füh‐ re.« John überlief ein Schauder, weil ihm einfiel, daß er bei sei‐ nem ersten Besuch in der Krypta der Priorei eine gekreu‐ zigte Fledermaus gesehen hatte. Beddows erkundigte sich in einem gerade noch verständlichen Französisch: »Was ist das für ein Ort?« »Eine sehr ungewöhnliche Höhle, Monsieur. Die meisten Höhlen sind natürliche Risse in den Felsen und führen we‐ nigstens eine Strecke weit zu ebener Erde in den Berg hi‐ nein. Diese ist ganz anders. Man kann nur hineingelangen, indem man sich durch ein Loch fallen läßt. Sie muß von Menschen gegraben oder doch wenigstens ausgebaut wor‐ den sein, denn sie hat verschiedene Gänge von genau glei‐ cher Größe und eine ziemlich große, gewölbte Kammer. Nicht einmal die Archäologen, die sie von Zeit zu Zeit be‐ suchen, können sagen, welche Rasse die Höhle zuerst be‐ nutzt hat. Es gibt eine Überlieferung, die Phönizier hätten dort ihrem Gott Moloch Menschenopfer gebracht. Aber vie‐ le glauben, daß schon in vorgeschichtlicher Zeit beinahe hundert Meter unter der Oberfläche ein kleiner Tempel existiert habe, wo die damaligen Einwohner ihre geheimen Opfer an Tauben und Jungfrauen brachten.« John spürte, wie seine Handflächen am Lenkrad feucht wurden. Er hatte damit gerechnet, in eine kleine entweihte Kapelle am Wegesrand einbrechen zu müssen. Auch die Ruinen eines seit langem verlassenen Klosters hätten ihn nicht geschreckt. Aber dieses unterirdische Labyrinth, in 280
dem im Lauf der Jahrhunderte zahllose Ritualmorde statt‐ gefunden hatten, war weitaus furchterregender. Er begann zu beten, daß sie noch rechtzeitig vor den Sata‐ nisten eintreffen mochten. Sie näherten sich einer Gruppe von Häusern, und Nummer Eins sagte: »Das ist das Dorf St. Michael. Wir lassen den Wagen hier. Links von der Kreuzung ist ein Wirtshaus. Davor können Sie parken.« Als sie ausstiegen, löste sich eine Gestalt aus dem Schatten einiger Bäume und pfiff leise. Nummer Eins antwortete ihm in gleicher Weise, und der Mann kam näher. Es war Nummer Zwei. Mit heiserer Stimme meldete er: »Es stimmt, daß das Treffen hier stattfindet. Die Gesellschaft kam vor fast einer Stunde in fünf Wagen an. Es sind drei‐ zehn; neun Männer und vier Frauen. Aus einem Wagen wurden eine Kiste und ein Schrankkoffer, zwei Tragbah‐ ren, um sie darauf zu befördern, und ein paar andere Ge‐ päckstücke ausladen. Dann wurden die Wagen zurückge‐ schickt. Einer von den Männern ging als Führer voran, und die anderen folgten mit den Tragbahren. Alles war sehr gut organisiert. Keiner sprach ein Wort. Sie sind den Berg hi‐ naufgestiegen.« John zog die Luft ein. »Dann haben sie beinahe eine Stunde Vorsprung! Mir wurde gesagt, das Treffen werde um neun Uhr beginnen! Jetzt ist es erst zwanzig vor neun, und sie können schon angefangen haben!« »Nein, Monsieur.« Nummer Eins schüttelte den Kopf. »Vor neun können sie es gar nicht bis zur Höhle schaffen. Es
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geht über unwegsames Gelände bergauf, und sie haben schwer zu tragen.« Auch wenn John, Beddows und Molly nichts transportieren mußten, war das nur ein schwacher Trost. Den Kanonikus und seine Gesellschaft konnten sie nicht mehr einholen. Keiner von ihnen hatte mit einem langen Fußmarsch ge‐ rechnet. Die Satanisten würden schon in der Höhle ver‐ sammelt sein, wenn sie den Eingang erreichten. »Ich muß unbedingt erst noch einmal in die Wirtschaft«, erklärte Molly. »Wäre es nicht besser, wenn Madame dort bliebe?« schlug Nummer Eins vor. »Ja, Mumsie«, fiel John schnell ein. »Tu das. Du kannst nicht mit uns in diese Höhle gehen. Und außerdem können wir nicht warten.« Molly war schon unterwegs. »Ihr werdet warten!« rief sie zurück. »Sonst werde ich mich verlaufen, wenn ich versu‐ che, euch zu folgen, und ich falle bestimmt in einen Ab‐ grund.« John und Beddows nahmen die Waffen und Taschenlam‐ pen an sich. Molly kam nach wenigen Minuten zurück. Dann machten sie sich mit Nummer Zwei an der Spitze auf den Weg. Bald darauf wußten sie, wie unwegsam das Gelände tat‐ sächlich war. Der Pfad war nur einen Fuß breit und ver‐ schwand stellen weise ganz. Er wand sich um kniehohe Felsblöcke, zwischen denen Myrthen, wilder Thymian und ein niedriges, blattloses Gestrüpp mit scharfen Stacheln wuchsen. Ehe sie noch zweihundert Meter zurückgelegt 282
hatten, waren sie ein halbes Dutzend Mal über die Steine gestolpert und hatten sich die Knöchel aufgeschlagen. Mol‐ lys Nylons hingen in Fetzen. »Es ist für den Kanonikus und seine Leute bestimmt eine Schinderei gewesen, die beladenen Tragbahren hier he‐ raufzuschaffen«, brummte John. »Sie haben Taschenlampen benutzt«, antwortete Nummer Zwei. »Aber das wagen wir nicht, weil sie einen Wachtpos‐ ten aufgestellt haben könnten.« Weiter ging es im Zickzack den Hang hinauf, und Molly erkundigte sich ein paarmal atemlos, wie weit es noch sei. Sie mußten eine Reihe niedriger Terrassen überqueren, die verrieten, daß oben auf dem Berg einmal ein römisches Fort gestanden hatte. Als sie die letzte erreichten, blieb Nummer Zwei stehen. »Sehen Sie den weißen Fleck? Das ist eine kleine Steinpy‐ ramide, die den Eingang zur Höhle markiert.« Sie konnten sie gerade eben erkennen, aber Molly war, vor Erschöpfung schluchzend, auf einem großen, flachen Stein niedergesunken. »Es tut mir so leid«, keuchte sie, »aber ich kann nicht mehr! Ihr müßt allein weitergehen. Ich ... Ich folge euch, wenn ich mich ein paar Minuten ausgeruht habe.« »Pech für dich, Mumsie«, murmelte John, doch er blieb nicht stehen. Jetzt kam es auf jede Sekunde an. Nummer Zwei zeigte ihnen einen Schmugglerpfad und er‐ zählte, er führe in gerader Linie über die Berge bis an den Rhein, nur vierzig Kilometer von Straßburg entfernt. Dar‐
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auf fragte John ihn, ob er ihnen etwas über das Innere der Höhle berichten könne. »Ja«, antwortete er, »als Junge war ich einmal drinnen. Die Luft ist gut. Die Leute, die die Höhle anlegten, müssen für irgendein Ventilationssystem gesorgt haben, und es ist dort immer knochentrocken. Soweit ich mich erinnere, geht es vom Eingang aus etwa sechs Meter gerade nach unten. Am Grund findet man ebenen Boden und ein paar flache Stu‐ fen. Dann kommt ein ungefähr fünfzig Meter langer, steiler Abhang. An seinem Ende sind drei Gänge. Zwei von ihnen sind Sackgassen, aber welche das sind, weiß ich nicht mehr. Der dritte Gang ist, grob geschätzt, neunzig Meter lang und führt hier unter den Berg zurück. An seinem Ende befindet sich das, was die Opferkammer genannt wird.« Schnaufend und stolpernd arbeiteten sie sich weiter durch die Felsen, bis sie nur noch zehn Meter von der Pyramide entfernt waren. Ein Wachtposten war nicht da, und als das Rascheln ihrer Füße verstummte, herrschte unheimliche Stille. »Hier verlassen wir Sie, Messieurs«, sagte Nummer Eins. »Uns bleibt nichts weiter, als Ihnen viel Glück zu wün‐ schen.« »Kommen Sie mit uns«, radebrechte Beddows in seinem schauderhaften Französisch. »Es wird sich für Sie lohnen. Ich zahle jedem von Ihnen hunderttausend Francs.« »Nicht für eine Million«, gab Nummer Eins zurück, wäh‐ rend Nummer Zwei sich bekreuzigte und flüsterte: »Wir haben nur einen Verdacht, zu welchem Zweck diese drei‐ zehn Personen sich heute nacht hier zusammengefunden 284
haben, doch der reicht uns. Ich möchte mit den Heiligen Sakramenten versehen sterben, nicht Angesicht zu Ange‐ sicht mit dem Teufel.« »Dann beten Sie bitte für uns«, sagte John. »Das werden wir tun, Monsieur.« Damit verschwanden beide. John und Beddows näherten sich der Pyramide. Neben ihr lagen die beiden Tragbahren. An ihrer Basis gähnte ein großes Loch von ungefähr ovaler Form mit einer Länge von drei Metern und einer Breite von einem Meter zwanzig. An der einen Schmalseite waren zwei starke Eisenhaken einge‐ schlagen, an denen eine Strickleiter hing. Darunter herrsch‐ te undurchdringliche Finsternis. John leuchtete mit seiner Taschenlampe in das Loch. Sie konnten erkennen, daß das untere Ende der Strickleiter et‐ wa sechs Meter tiefer auf einem rauhen Steinboden auflag. John wollte sich an den Abstieg machen, als Beddows ihn beiseite schob und mit rauher Stimme verlangte: »Leuchten Sie mir. Ich bin schuld, daß das Mädchen da un‐ ten ist. Deshalb werde ich als erster gehen. Beten wir zu Gott, daß wir noch rechtzeitig kommen und daß wir es schaffen, sie herauszuholen.« Den ganzen Tag hatte seine gebeugte Haltung gezeigt, daß er seit der letzten Nacht ein schwacher alter Mann war. Aber nach diesem mühevollen Klettern war ihm keine Er‐ schöpfung anzumerken, und seine Stimme wie seine Be‐ wegungen kündeten von plötzlicher neuer Stärke. Er schwang sich über die Kante, stellte die Füße auf die Strickleiter und stieg hinunter. John hielt die Taschenlampe 285
und warf einen schnellen Blick auf seine Uhr. Es hatte sie Zeit gekostet, daß sie Molly mitgenommen hatten, denn für den Anmarsch von zwei Meilen hatten sie eine Dreiviertel‐ stunde gebraucht. Jetzt war ihr Spielraum auf dreizehn Mi‐ nuten zusammengeschrumpft. Sein Herz begann wild zu hämmern. Sobald Beddows den Grund erreicht hatte, folgte ihm John. Beide nahmen einen Knüppel in die rechte und eine Ta‐ schenlampe in die linke Hand. Nach fünf flachen, ausgetre‐ tenen Stufen kamen sie zu dem langen Abhang, der in die Eingeweide der Erde führte. Ihnen schauderte beim Ge‐ danken daran, wie oft schon Priester mit ihren Opfern die‐ sen Weg genommen haben mochten. Am Ende der schiefen Ebene stand der Schrankkoffer, in dem Christina befördert worden war, und die Kiste, die jetzt bis auf dicke Lagen Watte leer war. Daneben waren mehrere Koffer, ein Stapel Mäntel und eine Anzahl weicher Hüte abgelegt worden. John und Beddows rannten den nächsten Gang hinunter. Er war nur einen Meter zwanzig breit und endete nach dreißig Schritten vor einer nackten Wand. Sie eilten zurück und versuchten es mit dem näch‐ sten. Fünfundzwanzig Meter nach seinem Beginn machte der Gang eine leichte Krümmung, und dahinter sahen sie in der Ferne ein schwaches Licht. Beddows, der immer noch an der Spitze war, setzte sich in Marsch. John faßte ihn bei der Schulter und flüsterte hastig: »Um Gottes willen, gehen Sie langsam! Unsere einzige Chance ist, sie zu überraschen. Schalten Sie die Taschen‐ lampe aus und seien Sie so leise wie möglich.« 286
»Sie haben recht«, hauchte Beddows und mäßigte sein Tempo. Dreißig Meter weiter konnten sie einen Teil der Kammer überblicken. Die einzige Beleuchtung war das rote Glühen einer Kohlenpfanne, die in der Mitte stand. Die Leute, die sich darum versammelt hatten, warfen groteske Schatten. Sie hörten das Murmeln von Stimmen und eine dünne, mißtönende Musik, als werde aufs Geratewohl an den Sai‐ ten einer Violine herumgezupft. Auf Zehenspitzen schli‐ chen sie sich noch zwanzig Meter vor. Jetzt konnten sie schon besser erkennen, was in dem Tempel vor sich ging. Vor ihren Augen lag nur der mittlere Teil der Höhle, aber das genügte vollauf, um ihnen zu zeigen, daß das Ritual bereits begonnen hatte. Der Kanonikus stand mit dem Rücken zu ihnen und into‐ nierte etwas in hebräischer Sprache aus einem großen Buch. Zwei Männer standen links und rechts von ihm. Der eine erzeugte die Katzenmusik auf irgendeinem Saitenin‐ strument, der andere schwang ein Weihrauchgefäß, aus dem Wölkchen übelriechenden Rauchs aufstiegen. Alle drei trugen Teufelspriesterkleidung, über die sie auf dem Weg hierher, sicher die abgelegten Mäntel gezogen hatten. Mit dem Gesicht zu ihnen stand Christina. Die Gestalt des Kanonikus verdeckte sie beinahe völlig, aber John und Beddows konnten doch sehen, daß sie die Augen geschlossen hielt und anscheinend noch vollständig angezogen war. Zwei Frauen hielten sie an den Armen fest, doch machte es den Eindruck, als könne sie ohne Hilfe ste‐ hen. Ihr Haar war zerzaust, ein häßlicher Fleck verunstalte‐ 287
te ihre eine Wange, und von einer Platzwunde an ihrer Lippe rann ein Blutfaden. Die übrigen Teilnehmer an dieser teuflischen Zusammenkunft und der Homunkulus waren nicht im Blickfeld. Beddows war nun nicht viel weiter als zehn Meter vom Eingang entfernt. Er hatte gerade vier schnelle, vorsichtige Schritte vorwärts getan, als der Kanonikus mit seinem Vor‐ trag zu Ende war und das Buch schloß. Christina öffnete die Augen. Über die Schulter des Kanonikus hinweg ent‐ deckte sie das Gesicht ihres Vaters, das von der Glut in dem Kohlenbecken angeleuchtet wurde. Die Mischung aus Schreck und Hoffnung war zuviel für sie. Unfähig, sich zu beherrschen, stieß sie einen gellenden Schrei aus. Beddows und John stürmten in die Höhle und fielen, ihre Knüppel schwingend, über die Satanisten her. Diese waren so überrascht, daß sie in Panik gerieten und sich zu gegen‐ seitigem Schutz in Gruppen aneinanderklammerten. Bed‐ dows schlug einen auf den Kopf, und John traf einen ande‐ ren ins Gesicht. Christina riß sich von den beiden Frauen los und warf die kleinere von ihnen zu Boden. Für einen Augenblick sah es so aus, als werde den Kämp‐ fern des Lichts ein leichter Triumph gewährt, aber nur für einen Augenblick. Beddows fällte einen weiteren Mann, aber eine schwarzhaarige Frau mit fieberhaft glühenden Augen warf sich auf ihn wie eine Tigerkatze. Sie grub die Zähne in sein Kinn und schlang die Arme um ihn, so daß er nicht mehr ausholen konnte. Johns Knüppel landete kra‐ chend auf der Schulter eines vierten Mannes, der mit einem Schmerzensschrei zur Seite taumelte, doch in der nächsten 288
Sekunde wurde John am Arm gepackt und gegen die Höh‐ lenwand geschleudert. Die übrigen Satanisten warfen sich in zwei Gruppen auf die Eindringlinge und traten sie mit Füßen, bis sie am Bo‐ den lagen. Christina hatte indessen der zweiten Frau, die sie festgehalten hatte, die Faust ins Gesicht gerammt und versucht, aus der Höhle zu fliehen. Aber der Kanonikus fing sie am Eingang ab und zerrte sie zurück. Nachdem kurze Zeit Verwirrung geherrscht hatte, war bald darauf wieder so etwas wie Ordnung hergestellt. Zwei Teufelsbrüder lagen bewußtlos da und drei andere stöhn‐ ten vor Schmerzen. Doch es blieben immer noch acht, die keine Verletzungen davongetragen hatten, und diese hiel‐ ten John, Beddows und Christina fest. Keuchend und gei‐ fernd vor Wut redete der Kanonikus seine Gemeinde an: »Brüder und Schwestern in Satan! Werdet dieser Unterbre‐ chung unserer Zeremonie wegen nicht einen Augenblick wankend im Vertrauen auf den Schutz unseres Herrn! Es ist höchst bedauerlich, daß einige von uns verletzt worden sind. Fürst Luzifers Wille geschehe! Ich kenne diese Män‐ ner. Der eine ist der Vater des Mädchens Ellen und der an‐ dere ihr Möchtegern‐Liebhaber. Beachtet wohl, daß sie al‐ lein hierhergekommen sind, ohne Unterstützung durch die Sklaven des christlichen Gesetzes. Sie sind zu einem be‐ stimmten Zweck zu uns geschickt und in unsere Hände gegeben worden. Zweifellos ist es die Absicht des Stolzen, daß sie Zeugen des Opfers und des darauffolgenden Wun‐ ders werden sollen, das ein Zeichen Seiner Größe sein wird. Anschließend sollen auch sie die Kälte des Altars an 289
ihrem Rücken und die Schärfe des sakralen Messers an ih‐ ren Kehlen fühlen. Aber wir haben keine Sekunde mehr zu verlieren. Wir können uns jetzt nicht um unsere verletzten Brüder kümmern. Die schicksalhafte Stunde ist nahe. Nichts darf uns daran hindern, das Ritual zu vollenden, während der Geburtsstern des Mädchens im Zenith steht. Die Zeit ist gekommen, sie auszuziehen.« Die wie eine Trompete schmetternde Stimme des Kanoni‐ kus gab den Satanisten ihren Mut zurück. Es war nichts zur Hand, womit sie John und Beddows fesseln konnten, des‐ halb zwangen sie sie auf die Knie und hielten ihre Arme hinter ihren Rücken fest. Die Frauen fielen wie eine Horde Furien über Christina her. Sie wehrte sich verzweifelt, bis eine der Angreiferinnen ihr einen heftigen Schlag unter das Kinn versetzte, der sie halb bewußtlos machte. Selbst dann noch zogen sie ihr die Kleidungsstücke nicht eins nach dem anderen aus, sondern sie rissen sie ihr in Fetzen vom Kör‐ per, bis sie, nur noch mit Schuhen und Strümpfen beklei‐ det, schwankend dastand. Beddows hörte nicht auf zu fluchen. John biß die Zähne in stummer Qual zusammen. Er wußte, es gab keine Hoff‐ nung mehr, Christina zu retten. Sie hatten versagt. Er ver‐ suchte zu beten, aber die richtigen Worte fielen ihm nicht ein. Christina, die immer noch Widerstand leistete, wurde ge‐ gen den Altar gedrängt und auf dessen Platte gelegt. John konnte ihre langen, nylonbestrumpften Beine über die rech‐ te Kante baumeln sehen, ihren Oberkörper und ihr Gesicht aber nicht, weil einer der Akoluthen ihm die Sicht nahm. 290
Der Kanonikus hatte wieder zu rezitieren begonnen, dies‐ mal auf lateinisch. Er sagte die Messe rückwärts auf. Indem er die Bewegungen eines Priesters parodierte, gestikulierte er seinen Assistenten zu, die von Zeit zu Zeit mit heiserer Stimme respondierten. Copely‐Syles spuckte mehrmals in einen Kelch, murmelte, beugte das Knie und bröckelte Hos‐ tien, die aus einer Kirche gestohlen waren, hinein. Dann hielt er den Kelch der Reihe nach jedem Teilnehmer hin, damit sie einen Mund voll von der widerwärtigen, durch‐ weichten Masse nehmen konnten. Als er die Männer erreichte, die Beddows festhielten, muß‐ ten diese ihren Griff ein wenig lockern. Beddows machte eine gewaltsame Anstrengung, um Copely‐Syles den Kelch aus der Hand zu schlagen. Aber der Kanonikus schaffte es, sein Teufelssakrament zu schützen und es Beddows Wär‐ tern zu reichen. Als alle Teilnehmer außer den beiden, die noch bewußtlos waren, getrunken hatten, trug er den Kelch zum Altar zurück, hielt ihn über Christina und schluckte den Rest selbst hinunter. Darauf setzte er den Kelch ab. Einer seiner Assistenten reichte ihm ein kleines Metallgefäß, das Ruß zu enthalten schien. Copely‐Syles stippte den Finger hinein und begann, schwarze Symbole auf Christinas Arme und Beine zu zeichnen. Dabei sang er mit hoher, aufgeregter Stimme un‐ verständliche Worte. Schweißströme rannen ihm über sein fettes Gesicht. Im Fortlauf des neuen Rituals geriet die Ge‐ meinde in einen Zustand der Erregung, der sie tierische Laute ausstoßen ließ, und diejenigen, die die Hände frei hatten, rissen sich die Kleider vom Leibe. 291
Mit weit aufgerissenen Augen starrte John auf das furchtbare Schauspiel. Allmählich kam ihm zum Bewußt‐ sein, daß er einige dieser Gesichter schon einmal gesehen hatte. Zehn der Anwesenden gehörten zu der Reisegesell‐ schaft, die heute morgen mit ihnen von Northolt abgeflo‐ gen war. Bevor der Kanonikus gestern nachmittag England verließ, mußte er zehn der führenden Satanisten Großbri‐ tanniens benachrichtigt haben, daß sie sich mit ihm in Niz‐ za zu der Zeremonie treffen sollten. Die Bemerkung über die Hochzeit, die er gehört hatte, war bestimmt eine Kode‐ Bezeichnung für die spirituelle Vereinigung Christinas mit dem Homunkulus gewesen. Vielleicht waren die zwei, die den Kreis von dreizehn vervollständigten, französische Sa‐ tanisten, die die Höhle der Fledermäuse als passenden Ort für den unheiligen Akt ausgewählt hatten. Johns Blick wanderte zu dem Homunkulus hinüber. C. B. hatte ihn ihm beschrieben, aber gesehen hatte er ihn bisher noch nicht. Der große Glaskrug stand links von dem nied‐ rigen, aus dem Felsen gehauenen Altar. Darin wogte eine abstoßende weibliche Gestalt. Ihre Arme und Beine beweg‐ ten sich mit derselben scheinbaren Ziellosigkeit wie die ei‐ nes Polypen. Die rotgeränderten Augen wanderten lang‐ sam von einer Seite zur anderen. Der Mund öffnete und schloß sich wie bei einem Fisch. John standen die Haare zu Berge. Die Ungeheuerlichkeit dessen, was hier geschah, ging über menschliches Fassungsvermögen hinaus. Der Kanonikus war mit dem Zeichnen der Symbole fertig. Die Akoluthen warfen sich auf die halb bewußtlose Chris‐ tina, rissen sie vom Altar und stellen sie aufrecht hin. Eine 292
der Frauen hielt ein sackähnliches Gewand mit seltsamen Zeichen. Man warf es ihr über und zog ihre Arme durch die Schlitze an den Seiten. Eine andere Hexe drückte Chris‐ tina eine spitze Narrenkappe auf den Kopf und band sie ihr unter dem Kinn fest. John kam das Bild in den Sinn, wie unter der spanischen Inquisition Ketzer zum Scheiterhau‐ fen geführt wurden. Die Kleidung hatte offenbar den glei‐ chen Sinn, nur daß sie mit Symbolen des Teufels statt mit denen Christi geschmückt war. Eine dritte Hexe band Christina die Hände mit einem Streifen von ihrem zerrisse‐ nen Kleid zusammen. Im nächsten Augenblick hatten alle drei Frauen sie wieder über den Altar geworfen. Jetzt ruhte ihr Kopf auf der Öffnung des Kruges mit dem Homunku‐ lus. Die schwarzhaarige Hexe entfernte den großen runden Deckel. Krank vor Entsetzen schloß John die Augen und versuchte von neuem zu beten. Als er aufblickte, hatte der Kanonikus wieder zu singen be‐ gonnen, während die Hexen Christina festhielten. Die Ge‐ meinde kreischte Antworten. Beddows schrie und fluchte und wollte sich losreißen, aber er konnte sich weder von den Knien erheben noch die Männer, die seine Arme um‐ klammerten, abschütteln. Der Kanonikus zog ein langes krummes Messer aus seinem Gürtel und schwenkte es in der Luft. Plötzlich ins Englische verfallend, schrie er mit hoher Falsett‐Stimme: »Die Stunde ist da! Die große Stunde ist da! Ich, Augustus Copely‐Syles, Fürst der Fledermäuse und Priester unseres Herrn Satan, gebe meiner Schöpfung mit diesem Akt eine Seele!« 293
»Halt!« donnerte Johns Stimme durch das Gewölbe. »Halt, sage ich! Eure Zeremonie ist sinnlos geworden. Sie ist keine Jungfrau mehr. Ich habe ihr die Jungfräulichkeit genom‐ men, als wir die Nacht zusammen auf der Insel der de Grasses verbrachten.« Tödliche Stille trat ein. Der Kanonikus fuhr mit wutverzerr‐ tem Gesicht herum. »Das ist nicht wahr! Es kann nicht wahr sein!« »Doch! Ich schwöre es!« rief John. Copely‐Syles’ Augen traten hervor. Er ächzte. »Ich habe es befürchtet«, murmelte er. »Ich habe es von dem Augenblick an befürchtet, als ich Sie mit ihr im Casino sah.« Wie paralysiert blieb er stehen. Der Bann wurde durch Beddows gebrochen, der plötzlich in ein hartes, unnatürli‐ ches Gelächter ausbrach. Mit flammenden Augen sprang der Kanonikus auf John zu, schwang das Messer und kreischte: »Mein Lebenswerk ist zerstört! Ich werde dir das Herz herausschneiden!« Das Messer zischte durch die Luft. Es zielte auf Johns Hals oberhalb des Schlüsselbeins. In der nächsten Sekunde muß‐ te es die Halsschlagader treffen. Der eine der Männer, die John festhielten – es war der lan‐ ge, dünne, der aus Schottland gekommen war ‐, schlug im letzen Augenblick die Klinge zur Seite. »Nein, Fürst der Fledermäuse, nein! Du darfst das heilige Messer, mit dem auf dem Altar Opfer dargebracht werden, nicht verunrei‐ nigen! Tu mit ihm, wie du willst, aber nicht in blindem Zorn. Wir wollen nicht Zeugen eines gewöhnlichen Mordes werden. Ich verlange, daß er in gebührender Form geopfert 294
wird, auf daß sich sein Blut mit dem ihren vermische und der Altar beider Leben erhalte.« »Ja! Ja!« stimmten die anderen im Chor ein. Sie wurden übertönt von der Stimme der schieläugigen schottischen Hexe: »Aber die Frau zuerst! Sie ist bereit für das Messer, und wir warten.« Langsam drehte Copely‐Syles sich um. Er hatte die Fassung wiedergewonnen und murmelte: »Trotzdem kann die Be‐ schwörung wirksam sein. Es ist ihre Geburtsstunde, und sie ist einundzwanzig.« Er ging zum Altar zurück und hob entschlossen das Mes‐ ser. John hörte sich selbst aus voller Lunge rufen: »Christi‐ na, Darling! Ich liebe dich! Ich liebe dich!« Christinas Körper spannte sich. Mit einem heftigen Ruck zerriß sie den Streifen, der ihre Handgelenke fesselte. Ihre Hände flogen auseinander, und die linke traf das Glasgefäß mit dem Homunkulus. Johns Ring schmetterte mit lautem Klirren gegen das Gefäß. Das zentimeterdicke Glas erbebte und splitterte, als bestehe es aus papierdünnem Kristall. Der Krug zerbarst in Stücke, und die Flüssigkeit lief aus. Einen Augenblick lang stand der nackte, obszöne Homun‐ kulus zwischen den fallenden Scherben. Dann sprang er den Kanonikus an. Der Satanspriester taumelte mit einem schrillen Aufschrei zurück. Die Klauen des künstlichen Wesens gruben sich in seine Schultern, die Füße klammer‐ ten sich oberhalb seiner Knie um seine Beine. Wie in einem grauenhaften Kuß preßte sich das schleimige, tropfende Gesicht der seelenlosen Frau ein paar Sekunden lang an 295
das seine. Dann schlug sie mit vor Blutdurst hervorquel‐ lenden Augen ihre Zähne in seinen Hals. Das Wasser aus dem Krug flutete über das niedrige Koh‐ lenbecken. Die Kohlen zischten, ihr Glühen wurde zu ei‐ nem düsteren Glimmen. Es war, als breche die Hölle los. Schreiend, den Homunkulus immer noch an seinem Hals, fiel der Kanonikus zu Boden. Zwei der Männer, die Bed‐ dows und John hielten, stürzten zu seiner Hilfe herbei. Durch verzweifelte Anstrengung gelang es den beiden Ge‐ fangenen, die anderen abzuschütteln. Beddows zog seinen Totschläger aus der Tasche, John sein Messer. Sie schlugen und stachen wild drauflos. Schreie und Flüche verrieten ihnen, wo ihre Waffen getroffen hatten. Beddows warf das Kohlenbecken mit dem Fuß um. Die noch glimmenden Kohlen verzischten in dem Wasser auf dem Boden. Es wurde noch dunkler als vorher. Beddows rief John zu: »Bring das Mädchen hinaus! Ich werde die Schufte in Trab halten!« John hatte Christina bereits auf die Füße gezogen. Die schieläugige Hexe verstellte ihnen den Weg. Ohne zu zö‐ gern, hieb John mit dem Messer nach ihr. Über die zischen‐ den Kohlen sprangen John und Christina auf den Eingang zu. In dem sterbenden Licht konnten sie gerade noch er‐ kennen, daß der große Mann mit dem Totenkopf sich auf sie stürzen wollte. Nur Zentimeter an seinen zupackenden Händen vorbei gelangten sie in den Gang und rannten los. Auf halbem Weg zum Abhang merkte John, daß Christina die Kräfte verließen. Hinter sich hörten sie die Schritte der 296
Verfolger. John hatte Christina eine Hand um die Taille ge‐ legt und zerrte sie weiter. Keuchend und taumelnd haste‐ ten sie die Schräge hinauf, doch nach ein paar Schritten fiel Christina hin. Sie hatte das Bewußtsein verloren. John fühl‐ te übermenschliche Kräfte in sich, als er das Mädchen, das fast ebenso groß war wie er, mit einem Feuerwehr‐Griff auf seine Schultern hob und den steilen Anstieg fortsetzte. Doch bald mußte er einsehen, daß selbst ein Herkules sie nicht mehr rechtzeitig die Strickleiter hinaufschaffen konn‐ te. Das Rachegeheul der Satanisten kam immer näher. Plötzlich übertönte Beddows Stimme den allgemeinen Lärm. »Weiter, John! Ich halte sie auf!« Entweder war Beddows mit den im Tempel zurückgeblie‐ benen Teufelsanbetern fertig geworden, oder er war ihnen entkommen. Jedenfalls griff er jetzt die Gruppe am Fuß des Abhangs an. John taumelte noch ein paar Schritte. Mit der linken Hand hielt er Christinas Handgelenk, mit der rech‐ ten seine Taschenlampe. Dann brach er zusammen. Vergeb‐ lich strengte er sich an, wieder auf die Füße zu kommen. Immer wieder und wieder murmelte er: »0 Herr, Hilf uns, O Herr, hilf uns!« Und dann kam tatsächlich Hilfe. Füße schlitterten den Ab‐ hang hinunter, Lichtstrahlen trafen Johns Augen. Die Steinwände warfen das Echo von C. B.’s Stimme zurück. »John! John! Gott sei Dank, daß wir noch rechtzeitig kom‐ men!« Hilfreiche Hände nahmen John Christinas schlaffen Körper ab. Immer noch nach Luft ringend, stolperte er das letzte
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Stück hoch. C. B. und ein anderer Mann schafften Christina die Strickleiter hinauf. Ein dritter unterstützte John. Benommen trat er hinaus ins Mondlicht. Seine Mutter war da und schlang ihre Arme um ihn. Neben C. B. stand der alte Malouet, und sie hatten mehrere Gendarmen bei sich. Sie legten Christina auf eine der Tragbahren und bedeckten ihr Sackgewand mit warmen Mänteln. Aus dem Einstiegsloch drang wildes Geschrei nach oben. Die überlebenden Satanisten hatten die Öffnung erreicht. Molly und C. B. traten an die Kante. C. B. leuchtete mit sei‐ ner Taschenlampe nach unten. Eine Gruppe wilder, nach oben gewandter Gesichter war zu erkennen. Das von Beddows war dazwischen. Es war blutüberströmt, und doch schlug er immer noch nach den ihn umringenden Feinden. Es fiel etwas in ihre Mitte, das John für einen Stein hielt. In der nächsten Sekunde gab es einen blendenden Blitz und eine erschütternde Explosion. Mit einem Fluch riß C. B. Molly zurück. Zwei der Gendarmen kamen angerannt und fragten, was geschehen sei. Niemand konnte es ihnen sa‐ gen. Hatte vielleicht einer der Satanisten Explosivstoff in der Tasche getragen, der sich bei dem allgemeinen Durch‐ einander durch einen Schlag entzündet hatte? Als C. B. den Strahl seiner Taschenlampe erneut in das Loch richtete, be‐ leuchtete er ein Gewirr von toten und sterbenden Männern und Frauen. Alle Polizisten außer den beiden, die Christinas Tragbahre trugen, machten sich an die Rettungsarbeiten. Die anderen
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begannen mit dem Abstieg. Als John sich ein wenig erholt hatte, fragte er C. B.: »Wie haben Sie es fertiggebracht, noch gerade im letzten Moment hier zu erscheinen?« »Dafür hat deine Mutter gesorgt, mein Junge«, antwortete C. B. »Eine solche Frau gibt es nur eine unter einer Milli‐ on.« »Unsinn!« rief Molly, die vor ihnen ging, dazwischen. »Ich habe nur meinen gesunden Menschenverstand be‐ nutzt. An dein Comte Jules gegebenes Versprechen, die Po‐ lizei nicht zu informieren, war ich ja nicht gebunden.« »Nein, das wohl nicht«, meinte John langsam. »Aber wie in aller Welt hast du es gemacht?« »Deshalb bin ich doch in das Wirtshaus gegangen! Ich habe dort eine kurze Botschaft geschrieben und sie zusammen mit einer Fünfhundert‐Franc‐Note der Frau hinter der The‐ ke gegeben. Sie versprach, sofort Inspektor Drouet anzuru‐ fen. Damit unsere Freunde euch auch finden konnten, bin ich mit euch den Berg hochgestiegen. Sobald die Schmugg‐ ler uns den Eingang der Höhle gezeigt hatten, habe ich die schwache Frau gespielt. Ihr wart kaum außer Sicht, da bin ich zurück zu der Wirtschaft gelaufen, und als die Polizei eintraf, konnte ich ihr den richtigen Weg zeigen.« »Gott segne dich, Mumsie; du bist wirklich ein Wunder«, lachte John. »Und wenn es tatsächlich stimmt, daß der Sec‐ ret Service dich nicht als Molly Polloffski, die schöne Spio‐ nin, in seinen Listen führt, dann ist das ein großer Verlust für die Nation.« Es war noch nicht einmal elf Uhr, als sie in der Wirtschaft eintrafen. Im Ofen brannte ein Feuer, und Christina, die 299
wieder bei vollem Bewußtsein war, wurde es daneben ge‐ mütlich gemacht. C. B. bestellte Kaffee mit Kognak für alle, und als John zwei Tassen zu Christina hinübertrug, zogen sich die anderen diskret in die entfernteste Ecke des Raums zurück. John erzählte Christina, wie es mit Jules’ Hilfe gelungen sei, ihre Spur bis zu der Höhle der Fledermäuse zu verfolgen und wie geistesgegenwärtig seine Mutter gehandelt habe. Aber sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Es war klug von dir, dich an Jules zu wenden, und wun‐ dervoll von deiner Mutter, auf diese Weise Hilfe herbeizu‐ schaffen. Trotzdem wäre alles fehlgeschlagen, wenn du nicht in letzter Sekunde diese Eingebung gehabt hättest.« »Was meinst du damit?« Er sah sie verwirrt an. »Nun, die fürchterliche Lüge, ich sei keine Jungfrau mehr. Wir haben dadurch fünf Minuten gewonnen. Doch eigent‐ lich war es dein Ring, der uns beide gerettet hat.« »Ja. Es muß ein Segen in ihm stecken, daß er mit einem Schlag das dicke Glas zerschmettern konnte. Möchtest du ihn behalten?« »Willst du das denn?« Er zögerte. Dann fragte er »Weißt du, daß dein Vater tot ist?« »Das wußte ich noch nicht«, gab sie ruhig zurück. »Ich konnte es gar nicht glauben, als ich ihn erkannte. Wie kam es, daß er mit dir zusammen war?« »Das ist eine lange Geschichte. Ich werde sie dir morgen erzählen. Im Augenblick möchte ich dir nur sagen, daß ich ihn nach der Explosion in der Höhle gesehen habe. Es war
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... nun, er war so schwer verletzt, daß er nicht mit dem Le‐ ben davonkommen konnte.« »Armer Vater«, seufzte sie. »Ich bin traurig darüber, aber er hat mich nie geliebt und ich ihn auch nicht. Wie hast du ihn nur dazu gebracht, mit dir zu kommen?« »Bis gestern abend war er selbst ein Satanist. Er hat dich als neugeborenes Kind an den Teufel verkauft. Deshalb warst du, wenn es dunkel wurde, nicht dein wirkliches Selbst. Aber in der letzten Nacht hat er bereut und dich befreit.« »Deshalb fühlte ich mich so ganz anders, kurz nachdem ich aus dem Gefängnis entführt worden war!« »Ja. Er hat deinetwegen dem Satan und allen seinen Wer‐ ken abgeschworen, und dann hat er bei deiner Rettung mitgeholfen. Und jetzt ist er tot. Ich mußte es dir sofort sa‐ gen. Er hatte vor seinem Tod keine Möglichkeit mehr, sein Testament zu ändern. Deshalb weiß niemand, wem er sein Geld hinterlassen hat.« »Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst«, murmelte sie. »Ganz einfach. Ich möchte dich fragen, ob du mich heiraten willst, ehe bekannt ist, ob du eine Erbin oder ein armes Mädchen bist.« »Oh, John.« Sie lächelte. »Was hat das Geld damit zu tun? Nur eins zählt. Hast du es wirklich ernst gemeint, als du riefst: ,Darling, ich liebe dich!’?« »Natürlich.« Ihre großen, braunen Augen strahlten vor Glück. Sie beugte sich zu ihm und wisperte: »Dann sind deine ei‐ genen Worte meine Antwort.«
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Eine halbe Stunde später traf auch Inspektor Douet in der Wirtschaft ein. Er bestätigte, daß Henry Beddows unter den Toten sei, die man aus der Höhle geborgen habe. Er sprach mit Malouet über Christinas Situation. Juristisch gesehen, galt sie immer noch als aus der Untersuchungshaft entflo‐ hen. Schließlich stimmte er dem alten Ex‐Inspektor zu, daß man sie vorläufig entlassen könne. John, Christina und C. B. fühlten sich sehr müde, als sie hi‐ naus zu Mollys Wagen gingen, und Molly fuhr sie nach Hause. Als sie kurz nach ein Uhr die Villa erreichten, gin‐ gen John und Christina sofort auf ihre Zimmer, aber C. B. bat Molly noch um einen Schlaftrunk. Sie wußte, daß er Whisky mit Soda bevorzugte, und goß auch sich selbst ein Glas ein. Er erhob das seine, sagte »Cin‐ cin«, und fügte im Verschwörerton hinzu: »Können Sie mir einen triftigen Grund nennen, Mrs. Fountain, warum ich Sie nicht wegen Massenmordes der Polizei übergeben soll?« Beinahe wäre sie zusammengezuckt. Mit unschuldigem Lächeln fragte sie: »Wovon reden Sie, C. B.? Ich fürchte, diese ganze Aufregung ist ein bißchen zuviel für Sie gewe‐ sen.« »Nein, Molly«, antwortete er ernst. »Darüber können Sie nicht mit einem Lachen hinweggehen. Ich habe gesehen, daß Sie die Mills‐Bombe auf die Köpfe dieser unseligen Menschen fallen gelassen haben.« »Das mußte ich einfach tun«, erklärte sie. »Sie stellten eine Bedrohung für die Menschheit dar. Natürlich ist es um Beddows schade. Doch darüber konnte ich mir in dem 302
Moment keine Gedanken machen. Die Satanisten hätten ihn sowieso zerrissen. Und ich . . . ich hatte solche Angst vor diesen widerwärtigen Gestalten. Sie würden uns immer mit ihren schwarzen Künsten verfolgt haben.« »Ja. Ich stelle Ihre Handlung nicht aus ethischen oder fach‐ lichen Gründen in Frage. Mir macht nur Sorgen, daß je‐ mand anders Sie beobachtet haben könnte. Dann wären Sie jetzt im Gefängnis und schon auf dem Weg zum Schafott. – Wirklich, Molly, es ist an der Zeit, daß sich jemand findet, der auf dich aufpaßt.« »Sprichst du von dir selbst, C. B.?« Er rieb seine große Nase, dann sah er sie an. »Ja, meine Lie‐ be. Ich spreche von mir selbst.« Sie kam zu ihm herüber und setzte sich auf seine Knie. Plötzlich schluckte sie. »Ich habe etwas Entsetzliches getan, nicht wahr?« Sie brach in Tränen aus, preßte ihre Wange an sein Gesicht und flüsterte: »Oh, du hast ja so recht, Darling! Ich bin eine furchtbar verantwortungslose Frau. Bitte, bitte, paß auf mich auf;«
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