Der Pfad der Wölfin von Adrian Doyle
Rom, 3. Juni 1527
Auch diese Nacht war erfüllt von den Schreien der Sterbenden u...
60 downloads
845 Views
779KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Der Pfad der Wölfin von Adrian Doyle
Rom, 3. Juni 1527
Auch diese Nacht war erfüllt von den Schreien der Sterbenden und Gefolterten. Manchmal glaubte Ludwig, es nicht länger ertragen zu können. Seit die kaiserliche Armee in die Stadt eingefallen war, wurde diese vom Atem eines gräßlichen Tieres durchströmt. Es thronte unsichtbar auf den Hügeln, und sein Blick reichte bis in die verborgensten Räume eines Hauses hinein, so daß es immer neue Opfer fand. Menschliche Bosheit ballte sich zu etwas, gegen das weder Schwert nach Speer, nicht einmal die reinigende Kraft des Feuers zu helfen schien. Für dieses Untier, so wußte der Landsknecht, gab es nur einen Namen: DAS BÖSE …
Was bisher geschah … Fast drei Jahrhunderte lang hat Landru, einer der ältesten Vampire, nach dem Lilienkelch gesucht, dem Unheiligtum der Alten Rasse. Nur mit ihm können die Vampire Nachwuchs zeugen: indem sie Menschenkinder rauben, ihnen das Blut eines Sippenoberhaupts zu trinken geben und sie damit zu Vampiren machen. Der Lilienkelch spielte eine wichtige Rolle im Plan der Ur-Lilith, der ersten Frau Adams. Aus ihr ging das Vampirgeschlecht hervor, nachdem sie von Gott aus dem Garten Eden verstoßen wurde. Doch im Laufe der Jahrtausende überkam sie der Wunsch, sich mit dem Schöpfer zu versöhnen. Ein Kind beider Welten – halb Mensch, halb Vampir – sollte Werkzeug und Mittler sein: So wurde Lilith Eden geboren. Das Vorhaben gelingt. Gott vergibt der Ur-Lilith und »impft« den Lilienkelch mit einer Seuche, die, als Landru ihn benutzt, alle Sippenoberhäupter rund um den Globus infiziert. Deren »Kinder« werden von unbändigem Durst nach Blut befallen, den sie nicht zu löschen vermögen und rapide altern. Allein die Oberhäupter sind gegen die Seuche immun. Und dies ist Liliths künftige Bestimmung: die letzten überlebenden Vampire zu vernichten. Doch es gibt eine zweite große Gefahr: einen künstlichen, genmanipulierten Vampir, der unempfindlich gegen christliche Symbole ist und das Überleben der Blutsauger sichern soll. Von den Vampiren in New York erweckt, gerät der Homunkulus außer Kontrolle und flieht auf einen Tanker Richtung Alaska. Auf dem Schiff zeugt er Nachwuchs – aus sich selbst, denn er ist geschlechtslos. Die Besatzung fällt ihm nach und nach zum Opfer, bis der Kapitän das Schiff in eine Feuerhölle verwandelt. Der Blutsauger entkommt ins Eismeer, während seine »Kinder« in den Flammen sterben … In einem Nonnenstift in Maine, USA, zeigt die junge Ordensschwester Mariah plötzlich Spuren einer Schwangerschaft, obwohl sie nie mit einem Mann zusammen
war. Nur 666 Stunden später gebiert sie einen Knaben – und das Verhalten der anderen Nonnen ändert sich abrupt. Hatte man bisher vor, das Kind in ein Waisenhaus zu geben, soll es nun im Kloster aufwachsen. Mehr noch: Als der Monsignore, der von Zeit zu Zeit die Orden besucht, von dem Kind erfährt, wird er von den Schwestern aufgehalten und von Schatten zerfleischt. Kurz darauf kommt ein von der Seuche infizierter Vampir zum Kloster – und wird von dem Kind geheilt! Freudig verbreitet er die Kunde, doch die Vampire, die daraufhin zum Nonnenstift pilgern, werden brutal getäuscht. Der Knabe entzieht ihnen alle Kraft und Erfahrung und wächst dabei um gut drei Jahre. Lilith, die dem Pilgerzug der Blutsauger gefolgt ist, zieht die falschen Schlüsse und will das Kind retten. Die Schwestern stellen sich gegen sie, und Mariah flieht mit dem Kind. Dieses aber hat in Lilith seine Gegnerin erkannt …
Voll, rund und schwer hing der Mond am sternfunkelnden Himmel. Ein bleicher Geselle, der sich auf dem nobelsten Rang eines stadtumspannenden Amphitheaters eingerichtet hatte. Ganz Rom lag ihm zu Füßen; die Ewige Stadt, die zur Bühne für ein blutiges Spektakel verkommen war. Vor einem knappen Monat, am 6. Mai dieses Jahres, waren die Truppen von Kaiser Karl V. in die Mauern der Stadt eingefallen – auf dem Höhepunkt eines Krieges, den der Habsburger Kaiser gegen seinen französischen Rivalen König Franz I. um die Herrschaft über Italien führte. Ludwig war mit einer gewaltigen Armee, in der Hauptsache deutsche Landsknechte, ins Armeleuteviertel Trastevere auf der rechten Tiberseite eingefallen und hatte den Fluß von dort aus überquert. Tausende Bewohner Roms, nicht nur Soldaten, waren seither gestorben. Ihr Blut hatte die Straßen und Rinnsteine mit einer dunklen Patina überzogen, die in der Frühsommerhitze erbärmlich stank. In manchen Vierteln loderten die Scheiterhaufen Tag und Nacht, um die Leichen der Gefallenen zu beseitigen. Ludwig blickte kurz zur Engelsburg, in der sich der Papst feige eingeschlossen hatte. Das Kastell wurde seit Wochen belagert und mit denselben Kanonen bedroht, die bereits weite Teile der geschichtsträchtigen Stadt in Schutt und Asche gelegt hatten. Das Ultimatum war gestellt. Wenn der Papst sich nicht bald ergab, würde auch die Engelsburg fallen, wie einst die für uneinnehmbar gehaltenen Mauern Jerichos, und dann … Ludwig wurde speiübel, während er, gegen ein Wagenrad gelehnt, zu dem aufwendig gestalteten, in die Nacht gebetteten, festungsähnlichen Rundbau spähte, hinter dessen Fenstern und Zinnen kaum ein Lichtschein glomm. Hölzern stand der Deutsche auf. Wie jede Nacht trieb es ihn zu einem der Höfe hinter den annektierten Häusern, wo obdachlos gewordene Frauen, Kinder, Alte und Kranke eingepfercht gehalten
wurden. Einer der beiden Lagerwächter stammte aus demselben Dorf wie Ludwig und war sein Freund. Der andere würde für ein paar Münzen wegsehen. Als Bewacher eines solchen Zugangs konnte man mit etwas Geschäftssinn reich werden. Niemanden interessierte wirklich, was in den Elendslagern geschah, und ganz bestimmt nicht den Herzog von Bourbon, der die kaiserliche Armee gegen Rom geführt hatte und der seines Mangels an menschlichen Gefühls wegen berüchtigt war. Menschlichen Gefühls … Ludwigs mageres Gesicht verzog sich zur Grimasse. »Was für eine Nacht«, stöhnte auch Clemens, der seinen federgeschmückten Hut aufsitzen hatte, während an der Hüfte Schwert und Dolch baumelten. Das Wams war mit aufgenähten Lederflicken gepanzert, und die dürren Beine steckten in Bundhosen, die, eng geschnürt, dicht unter den Knien endeten. Sein besorgter Blick sog sich wie ein Blutegel an Ludwigs Gesicht fest, das vage in den Mondschatten zu erkennen war. »Du siehst schlecht aus, Kamerad. Noch übler als gestern. Warum gehst du nicht endlich zum Bader? Er sollte sich deine Wunden ansehen …« »Ich bin in Ordnung«, log Ludwig. Sein Blick irrte zu dem anderen Landsknecht, der bereits in Erwartung des Schweigegelds nervös von einem Fuß auf den anderen trat. Sein Name war Eberhard. Zwischen ihm und Clemens stand eine windgeschützte Kerze auf dem Pflaster. Nachdem Ludwig die Münzen in Eberhards Hand hatte gleiten lassen, bückte sich dieser und zählte im Kerzenschein nach. Sein Brummen klang unzufrieden, aber es hinderte ihn nicht, zur Seite zu treten. »Wie du in solchen Nächten an so etwas denken kannst …«, hörte Ludwig die verständnislose Stimme seines Freundes, der – welche Ironie! – ebenso hieß wie der in die Engelsburg geflüchtete Papst. »Ich begreife dich nicht! Aber sei auf der Hut. Wenn herauskommt,
daß wir dich –« »Keine Sorge«, versicherte Ludwig, ehe er, ohne sich noch einmal umzudrehen, in den Innenhof trat, wo die Finsternis schwärzer war als draußen vor dem Tor. Und wo er die Angst der Menschen riechen konnte, deren Nähe und Ohnmacht die letzte Hemmschwelle in ihm niederriß. Er war nicht gekommen, um den niederen Trieb zu bedienen, an den Clemens dachte. Er war hier, um jene Begierde zu stillen, von der seine Existenz abhing. Seit er in Trastevere gestorben war …
* Die Finsternis, durch die er sich schlafwandlerisch sicher bewegte, übte einen bizarren Zauber auf Ludwig aus. Die Dunkelheit hatte sich verwandelt – seit er sich gewandelt hatte. An jenem Abend in Trastevere, unmittelbar vor der Überquerung des Tibers. Ludwig hatte einen Mann, der ihm den Zutritt zu seinem Haus verwehren wollte, erschlagen, und später, beim Durchwühlen der Schränke, war er plötzlich von hinten von einer festen, völlig angstfreien Stimme angesprochen worden. Im Umdrehen hatte er einen in rötlich gefärbte Seide gekleideten Mann erblickt, dessen Augen ihn streng gemustert hatten. Er mußte den Enthaupteten draußen im Gang gesehen haben. Aber offenbar erschütterte ihn dies nicht sonderlich, obwohl er sagte: »Welche Verschwendung. Ich hatte ihn noch nicht lange. Er war ein treuer Diener …« Ludwig hatte sich gewundert, daß er den Fremden verstand, denn dieser benutzte die italienische Sprache, und die Laute, die dieser Kälte verbreitende Mann von sich gab, waren ebenso abstoßend wie faszinierend. Ihre morbide Melodie transportierte das, was sie be-
deuteten, tief in Ludwigs Hirn und löste dort ein gespenstisches Bedürfnis nach devotem Gehorsam aus … Die Hand des Landsknechts lag auf dem Schaft seines Schwertes. Aber er war nicht in der Lage, die Klinge zu ziehen. »Wer – seid Ihr?« »Sein Herr. Und nun bald der deine …« Das Verhängnis – falls man es als solches bezeichnen konnte – war nicht aufzuhalten gewesen. Der Mann war nicht aufzuhalten gewesen. Er war über Ludwig gekommen. Das Edle seiner Züge war verschwommen wie eine Maske aus Wachs, die greller Hitze ausgesetzt wurde. Und darunter … Ludwig erinnerte sich nicht mehr an den Schmerz, als der Vampir die Zähne in seine Halsschlagader gestoßen hatte. Aber er wußte noch genau, wie das Sterben gewesen war. SCHRECKLICH. Anfangs, mit dem Verlust des Blutes und der lähmenden Schwäche, die sich in ihm ausgebreitet hatte, war das Bewußtsein des Landsknechts von trügerischer Wärme und einschläfernder Gleichgültigkeit betäubt worden. Doch dann hatte sein Herz ausgesetzt – und der Tod hatte sein wahres Gesicht gezeigt. Hatte seine Klauen in Ludwigs Seele geschlagen und sie durch einen lichtlosen, von Dämonen bewohnten Tunnel fortzureißen versucht … … bis etwas einen Gegensog geschaffen und das schwindende Ich des Deutschen zurückgeholt hatte. Ludwig war erwacht, wo er zuvor gestorben war. Und von da an hatte er sein Schattendasein geführt. Eingekerkert in einen toten Körper, als Diener eines Wesens, das sich Kraft und Jugend mit dem Blut seines Opfers erhalten hatte. Fortan hatte auch Ludwig auf die Jagd nach diesem Elixier gehen müssen. Um den Verfall seines Leichnams aufzuhalten, der nun von
finsterster Magie bewegt wurde, als steckte immer noch das ursprüngliche Leben darin. Aber dieses Leben war neu, war verdorben. Eine grausame Farce, in Gang gesetzt von etwas, was der Vampir in Ludwig gepflanzt hatte. Eine magische Signatur, ein Keim, der die schwindende Seele zurückgeholt, eingekerkert und domestiziert – zum blinden Gehorsam erzogen – hatte …
* Durch die helle dunkle Nacht schlich sich der durstige Landsknecht zwischen den in Decken gehüllten Menschen hindurch. Nicht alle schliefen. Manch altes, gramgefurchtes Weib kauerte aufrecht in der Nacht, brütete allein vor sich hin oder streichelte den Kopf eines Kindes, der in seinen Schoß gebettet war. Nirgends brannte ein Licht. Es war verboten. Auch wer Ludwigs Schritte hörte, konnte den Verursacher nicht erkennen. Höchstens erahnen. Augen von Sterblichen waren nicht sehend in der Grabesschwärze … »He, du! Komm her zu mir! Ich hatte lange keinen Kerl!« Die Stimme, obwohl nur ein rauchiges Flüstern, elektrisierte den Untoten. Sein Kopf ruckte dorthin, woher zu ihm gesprochen worden war. Die tür- und fensterlose Mauer eines Hauses türmte sich vor ihm in den Himmel. So hoch wie die anderen Fassaden, die das Geviert des Innenhofs bildeten. Bis hierher drang der Lärm der Greuel. Geräusche, die abstumpften. Besonders, wenn man tot war. Ludwig entdeckte ein Tuch, das sich schräg von der Steinfassade
weg zum Boden spannte und heftig flatterte – obwohl kein noch so schwacher Hauch die Luft bewegte. Es sah aus, als hätte sich jemand ein schlichtes Zelt gebaut. Von jenseits der Stoffwand war die Stimme erklungen, die jetzt erneut ertönte: »Was ist? Hast du Angst? Oder Sorge, ich könnte dir nicht gefallen?« Leises Kichern kam auf. Als es endete, prahlte die Stimme: »Ich wüßte keinen, der sich je beschwert hätte! Schlüpf zu mir unter das Tuch. Es ist magisch. Darunter werden deine geheimsten Wünsche wahr …« Mein geheimster Wunsch, dachte Ludwig, wäre es, wieder zu sein, wie vor dem Tod in Trastevere. Wieder zu wissen, was für ein Glück ein verführerisches Weib wie du einem Manne schenken kann … außer seinem warmen Blute … »Wieso kannst du – mich sehen?« fragte er stockend. Langsam ging er auf die Wand zu. »Sehen? Ich erkenne ein gestandenes Mannsbild an seinen Schritten. Du mußt sehr stark sein – ich hoffe, in jeder Beziehung …« »Was erwartest du von mir?« Das Kichern wurde koketter. »Was erwartest du von mir?« Ruhe, dachte Ludwig. Ein paar Stunden der Ruhe. Die Stimme in meinem toten Fleisch und Gedärm soll verstummen. Soll sich satt und zufrieden geben … Will mich irgendwo verkriechen. Bis zur nächsten Nacht. Zum nächsten Erwachen der unstillbaren Gier … Und das über Monate, Jahre, vielleicht – wie sein Herr es versprochen hatte – Jahrhunderte! Er würde immer dort sein, wo auch sein Meister war. Dies war das Los des Dieners. Und wenn der Krieg – dieser Krieg – zu Ende ging, würden sie zum nächsten weiterziehen. Oder hier den nächsten entfachen. Im Krieg fiel es nicht auf, wenn Menschen starben oder verschwanden. Ludwig erreichte das wie eine Plane gespannte Tuch. Einen Moment glaubte er, die Konturen einer Frau zu erkennen, die sich scherenschnittartig darauf abzeichneten, als hätte sie eine
Kerze dahinter entzündet. Doch da brannte kein Licht. Nur in seinen Augen brannte es. In seinen Eingeweiden. Müde … Der Tag und die Hitze hatten ihn müde gemacht. Er mied die zersetzende Kraft der Sonne, wo immer es ging. Aber um nicht aufzufallen, konnte er sich nur in den Schatten seines breitkrempigen Hutes und den vagen Schutz seiner Landsknechtkluft zurückziehen. Die Nacht war seine Freundin. Seine Verbündete. Unter ihrem Mantel schwelgte er in Erinnerungen an die Vergangenheit – und in dumpfen Träumen von der Zukunft. Seiner Zukunft … Ludwig zögerte nicht länger. In seinen oberen Augzähnen pulsierte die Kraft der Metamorphose, die seine Züge veränderte, während er den linken Arm unter das Stoffdach schob, um es ein wenig anzuheben. Die Berührung pflanzte sich wie ein Schock durch seinen Körper. Ludwig begriff nicht, was geschehen war. Er ließ los und glitt geduckt unter die Überdachung. Das Mädchen lag da wie hingegossen. Knabenhaft schlank und dennoch von solch verführerischer Aura umgeben, daß Ludwig einen Moment lang, während er beobachtete, wie sie sich am Boden rekelte, die absurde Hoffnung hegte, sein taubes Gefühl in den Lenden könnte davon tatsächlich neu belebt werden. Aber er verwarf den Gedanken rasch wieder. Totes war nicht dazu da, sich mit Lebendigem zu paaren. Es wäre über den Akt purer Mechanik nicht hinausgekommen … zumindest nicht, was das Tote anging. Das Mädchen war blutjung, fünfzehn oder sechzehn.
(Junges Blut …) Ihr helles Haar umrahmte ein selbstbewußtes, beinahe verwegenes Gesicht, das Ludwig sonderbar bewegte. Ihre Augen hatten die Farbe reifer, aus ihren stacheligen Schalen befreiter Kastanien. Ein ganz eigener Stachel schien sich darin zu verbergen. Eher dem Gift einer Hornisse verwandt … Während Ludwigs Blicke das Bild des biegsamen, gertenschlanken Körpers in sich aufnahm und kurz auf ihren kleinen, perfekt mit den sonstigen Proportionen harmonierenden Brüsten verharrte, sagte sie kehlig: »Worauf wartest du? Zieh dich aus!« Erst jetzt fiel ihm auf, daß sie akzentfreies Deutsch sprach. Sie wirkte auch keineswegs südländisch. Der kühle Norden hätte eher ihre Heimat sein können … Irritiert schalt sich Ludwig, weil er sich darüber überhaupt einen Gedanken machte. Er war nicht gekommen, um … »Nein?« Es war, als erriete sie seine geheimsten Gedanken. Sie starrte dorthin, wo er stand. Ihre Augen standen weit offen, und plötzlich war er sicher, daß sie ihn ebenso taxierte, wie er sie. »Wer bist du?« schnarrte er. »Und du?« Es war sinnlos. Zeitvergeudung. Ludwig warf sich nach vorn. Mit seinem ganzen Gewicht fiel er auf das zierliche Mädchen, an dem ihn nur interessieren konnte, was sie bei aller Blöße immer noch verbarg: jener kostbare Strom, der sich unermüdlich durch die unsichtbaren Kanäle ihres jugendlichen, so makellos und gesund wirkenden Körpers wälzte – wie die dunklen Wasser durch die unterirdischen Aquädukte Roms … Als seine drohenden Zähne auf ihren Hals hinabstießen, um sie zur Ader zu lassen, versank sein Denken in einem hemmungslosen Rausch, der jede andere Wahrnehmung dämpfte.
So entgingen ihm die Warnzeichen, und bis ihm auffiel, wie sie sich verändert hatte, war es bereits zu spät …
* Es ist meine erste Begegnung mit IHNEN. Nie zuvor prallte ich mit einer Kreatur von solch abstoßendem Fleische zusammen … Sie sieht aus wie ein Mensch. Aber sie fletscht die Zähne wie ein Tier! Sofort geht sie mir an die Gurgel, ihre Züge verzerren sich, und ich fliehe in den Impuls, der meine andere Seite schlagartig erweckt. Haar sprießt. Knochen knirschen. Meine Knochen. Alles ändert sich. Selbst mein Denken verschiebt sich zu Mustern, die nur eine Befriedigung kennen. Der Jagdtrieb nimmt mich nun vollends in Besitz … Seit wenigen Tagen halte ich mich in dieser Stadt auf, deren Sagen mich zur beschwerlichen Reise über die Alpen animierten. Ich kam kurz vor dem Einfall der kaiserlichen Armee an und hielt mich versteckt, bis die Macht des Gestirns, das mein Dasein bestimmt, seinen allmonatlichen Höhepunkt erreichte. Als die Gezeiten des Fluchs das Fieber in mir wie den Spiegel eines Ozeans ansteigen ließen, suchte ich mir Plätze, an denen ich meinen Begierden nach Herzenslust frönen konnte. Heute Nacht entschied ich mich für dieses Armenlager, von dem ich weiß, daß es immer wieder von Übergriffen der Landsknechte heimgesucht wird. Bei Tag ließ ich mich, mit El Nabhals Tuch vermummt, hier einsperren. Dieses Tuch verlieh mir das Aussehen einer gebrechlichen alten, aussätzigen Frau. Und nun … Nun töte ich – was bereits tot ist. Ich sehe das Grauen, das in den Augen meines Opfers lodert. Tote Augen, die dennoch nicht gegen Entsetzen gefeit sind und in denen etwas glimmt, das sich vom Leben kaum unterscheidet. Etwas – Anrührendes …
Aber dies bedenke ich nur tief in meinem Kern. Zu tief, als daß es den Gedanken gelingen könnte, emporzusteigen und noch Einfluß auf mein Handeln zu nehmen. Auf die Hand, die zuschlägt. Die klauenbewehrte Pranke, die die Kehle des Wesens verheert, das ich für einen Landsknecht gehalten habe. Für einen Sterblichen, der für seinen fernen Kaiser in den Krieg gezogen ist. Vielleicht war er dies einmal. Doch nun ist er es nicht mehr. Nun ist er ein … es ist seltsam, daß gerade ich dieses Wort gebrauche … ein Ungeheuer! Das sich wehrt. Selbst mit zerfetztem Hals, aus dem die Luft- und die Speiseröhre wie gekappte Taue heraushängen, WEHRT ES SICH! Ich rieche den Gestank, der aus der offenen Wunde strömt und an eine lange verschlossene Gruft erinnert. Dann spüre ich seine Klauen. Messerscharfe Nägel bohren sich durch das Haarkleid meines Körpers. Durch das Fell meiner zweiten Natur. Ich unterdrücke das Grollen, das aus meinem Rachen drängt. Wir sind nicht allein. Der Hof ist voller hysterischer Menschen, die nur die Erschöpfung noch diszipliniert. Aber ein Funke genügt, dann bricht hier die Panik aus, und die Armee wird sie mit einem Massaker ersticken. Vor dem Krieg lebten etwa 35.000 Menschen in Rom. Und wenn der Papst nicht bald kapituliert, wird diese stolze Stadt zu einem Friedhof. Einem gigantischen Mausoleum … Der gespenstische Landsknecht röchelt etwas, das sich nicht verstehe. Seine Klauen reißen Haarbüschel aus meinen Schultern. Seine auseinanderklaffenden Kiefer enthüllen Zähne, die es mit meinen nicht aufnehmen können – dennoch sind sie anders als die eines Menschen. Wer –
Als er die langen Eckzähne in meinen Hals schlagen will, greife ich in seinen Schopf und reiße ihn mit einem entschiedenen Ruck nach hinten. Es kracht. Dieses Splittern muß bis in den letzten Winkel des Lagers zu hören sein – so kommt es mir vor. Aber in der jäh einsetzenden Stille höre ich nur die schon vertraut gewordenen Atemgeräusche, das Husten, Nasehochziehen, Spucken und Schnarchen der Zusammengepferchten. Verblüfft schaue ich auf das erschlaffte Bündel in meinen Armen. Gebrochene Augen, in denen nun endgültig jeder Funke fehlt, starren ins Nichts. Ich habe sein Genick gebrochen. Den Hals eines Toten … WAS GEHT HIER VOR? Der Mann beginnt unter meinen Händen zu knistern. So wie an besonders heißen Tagen die Luft, wenn sich ein Gewitter ankündigt. Dann tanzen plötzlich blaue Funken über morsches Fleisch. Ich stoße den Kadaver von mir. Die Lust zu töten, etwas zwischen meinen Fängen zu zerreißen, in Blut zu baden und fremdes Fleisch heiß und roh zu verzehren, ist noch nicht gestillt. Noch lange nicht. Dann scheint das magische Tuch, El Nabhals Geschenk, von einem der Funken erfaßt zu werden und Feuer zu fangen. Es glüht auf, löst sich aus den Befestigungen und schwebt langsam herab. Mich meidet es. Zumindest erscheint es so, denn es kriecht sofort zu dem von kalten Flämmchen umzüngelten Leichnam. Leise raschelnd bedeckt es ihn, als wollte es versuchen, die kleinen Brände zu ersticken. Es fällt in sich zusammen, und als ich Sekunden später nach ihm greife, ist von dem Landsknecht nur noch seine Kleidung übrig.
Und Staub. Asche, die keine Wärme ausstrahlt. Mich schaudert. Es ist meine erste Begegnung mit einem IHRER Dienergeschöpfe. In dieser Nacht finde ich keine Ruhe. Ich werde sie nirgends in dieser vom Krieg zernarbten Stadt finden. Nicht, solange die Gezeiten mein Blut quälen und an ihm zerren, als wäre es Teil eines aufgewühlten Meeres, das vom Magnetismus des Mondes durch mein Gehirn geschoben wird …
* Zwischenspiel Mandschurei, Gegenwart »Weiter! Du mußt weiter zurück! Das ist noch nicht der Moment, an dem dein Leben begann – und deine Verdammnis! Warum sträubst du dich? Geh zurück bis zu deinen allerersten Anfängen … Es muß sein. Ich kenne keinen anderen Weg, deine Seele zu heilen und wieder zusammenfügen, was von diesem eifersüchtigen Narren zerbrochen wurde. Gehorche! Ich werde dich auf deiner Seelenreise begleiten. Ich bin immer für dich da, du mußt mir nur vertrauen …! Aber wenn du noch lange zögerst, kann ich nichts mehr für dich tun. Seine Rache hat dich angesteckt wie eine Krankheit, die sich tiefer und tiefer in die Schichten deiner Seele gräbt. Du mußt dich reinwaschen davon … und das geht nur, wenn du noch einmal durchlebst, noch einmal durchleidest, was dich in deiner frühesten Jugend geprägt hat! Du mußt noch einmal die Hölle durchwandern, dieselben Fehler begehen, dieselben Bekanntschaften machen und deiner Seele den Stempel aufdrücken, der dich zu jener Persönlichkeit reifen ließ, die du bis vor kurzem warst …
Komm jetzt, ich nehme dich bei der Hand … Du mußt weiter … Noch einmal sechzehn Jahre zurück. In den kalten Winter des Jahres 1511. In die kleine Stadt in den französischen Pyrenäen, von der du manchmal sprachst …« Ich erinnere mich nicht, dachte sie. jedenfalls nicht an die Anfänge. Wie sollte ich mich an meine eigene Geburt erinnern? »Ich helfe dir dabei. Ich bin der Hüter vieler Wahrheiten, vieler Realitäten und Begebenheiten. Oder hast du auch das vergessen?« Laß mich, Chiyoda! Ich möchte nur schlafen. Ich bin so müde. »Wenn du sterben oder dem Wahnsinn verfallen willst …« NEIN! »Dann begib dich endlich in den Moment, da du plärrend in die Welt getreten bist! Ich werde auch dort sein. Auf der Türschwelle, wo man dich damals fand …«
* Perpignan, 2. Februar 1511 Als der Morgen mit der Farbe geschmolzenen Bleis am Horizont hinter dem Wald heraufzog und die Raben in ihren Schlafbäumen erwachten, kroch der Idiot durch die Küche seiner kleinen Behausung, wo er frierend neben der erloschenen Feuerstelle zu sich gekommen war. Er hatte wieder geträumt. Und auch wenn er sich, wie üblich, nicht mehr erinnern konnte, was genau ihn im Schlummer heimgesucht hatte, war er innerlich doch so aufgelöst, daß ihm die Tränen über die stoppelbärtigen Wangen rollten. Mühsam zog er sich an der Tischplatte nach oben und kam zum Stehen. Es roch noch nach dem faden Brei, den er sich am Vorabend gekocht hatte. Doch die Milch, die er vom Bauern für ein wenig Stall-
arbeit bekommen hatte, mußte verdorben gewesen sein, denn Pierre fühlte sich schlechter als jemals zuvor. In seinem Bauch rumorte es, als hätte er etwas Lebendiges verspeist, das nun mit allen Mitteln zu entkommen suchte. Er steckte sich den Finger in Hals und würgte, aber außer ein wenig gallebitterer Magenflüssigkeit kam nichts dabei heraus. Benommen sah er sich im Zwielicht um. Er besaß keinen Spiegel, und in diesem Moment war er froh darüber. Die Leute verspotteten ihn auch sonst schon genug, aber wenn er sich jetzt selbst hätte sehen können, wäre ihm vielleicht klar geworden, warum sie ihn für einen Idioten hielten … Pierre taumelte zur Tür. Er war zwanzig. Oder dreißig. Seine Mutter war letzten Sommer gestorben und ohne Grabkreuz verscharrt worden. Niemand hätte es bezahlen können. Drei Jahre vorher war mit seinem Vater, der bei der Feldarbeit tot umgefallen war, ähnlich verfahren worden. Pierre war also allein, und im allgemeinen hatte er sich damit abgefunden. Nur mit sich selbst als Gesellschaft fühlte er sich sogar wohler als bei Leuten, die ihn doch nur herumscheuchten und tyrannisierten. Tu dies, Pierre, tu das, Pierre! Sei nicht so lahm, beim Essen bist du doch auch immer der erste …! Er hob den Fallriegel der Tür an und zog sie auf. Er wollte nach draußen, denn er brauchte Holz, um das Feuer wieder in Gang zu bringen. Die grimmige Kälte machte vor keiner Türe halt. An manchen Tagen, wenn das Feuer ausging, überzog sie das Wasser im Eimer neben der Küchenbank mit einer dünnen Eisschicht! Pierre hatte es gesehen. Mit eigenen Augen. Aber darüber konnte er mit keinem reden. Niemand interessierte sich für die unglaublichen Dinge, die er manchmal entdeckte.
Die Leute waren ja so dumm … Fast wäre Pierre gestolpert. Im letzten Moment bremste er das Bein, das an das vor der Tür liegende Bündel stieß. Es sah aus wie ein Nest. Mehrere Wolldecken umschlangen etwas, das in diesem Moment aus seiner Starre erwachte und laut zu schreien begann. Ein Kind. Auf der Schwelle seiner Hütte lag ein Kind! Und wie klein es war … gerade erst geboren. Nicht älter als einen Tag. Die rosige Haut noch gar nicht richtig sauber, sondern mit einer käsigen Schmiere und mit getrockneten Blutresten bedeckt … Pierre stand da, als hätte ihn der Schlag getroffen. Von einem Moment auf den anderen war ihm überhaupt nicht mehr kalt … … aber das winzige Menschenbündel mußte frieren! Ein Wunder, daß es nicht tot war, daß ihm das Blut nicht längst in den Adern geronnen und zu Eis erstarrt war …! Wer tat so etwas? Wer legte ein neugeborenes Kind vor eine fremde Tür und rannte dann davon? Es konnte niemand aus der Stadt gewesen sein. Jeder in Perpignan kannte Pierre, und wer ihn kannte … Auf-hö-ren! dachte er, als hätte ihm jemand einen Tritt in den ohnehin schmerzenden Bauch verpaßt. Ich schließe jetzt die Augen, und wenn ich sie wieder aufmache, ist es weg! Das träume ich nur! Ich bin noch gar nicht wirklich wach … Doch das Kind in den Decken war wirklich. Es schrie auch weiter, als er die Lider so fest schloß, daß ihm schwindelig wurde. Er preßte die Fäuste erst gegen die Schläfen, dann gegen die Ohren, aber es hörte nicht auf. Es wurde nur ein wenig leiser. Pierre hielt sich am Türrahmen fest und streckte den Kopf nach draußen. Über den Säugling hinweg. Seine Hütte berührte fast den Wald, der die Gebirgsausläufer säumte, und eigentlich gehörte sie nicht mehr richtig zur Stadt. Erst
einen Steinwurf entfernt begann die Straße, an der sich Haus an Haus schmiegte. Pierre bedauerte, daß trotz der Kälte der letzten Tagen kein Neuschnee gefallen war. So konnte er nicht unterscheiden, welche der Spuren, die zu seiner Tür führten, von ihm selbst und welche von dem gewissenlosen Schuft stammten, der den Säugling hier abgelegt hatte … Vielleicht, dachte Pierre, hatte er – oder sie – sogar an die Tür geklopft. Aber im Schlaf hatte Pierre es nicht gehört, und damit wäre er selbst fast mitschuldig am Tod dieses hilflosen Wesens geworden! Nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, daß draußen niemand war, der ihn beobachtete, bückte er sich, hob das sich windende Kind samt Decken auf und trug es zum Tisch. Dort legte er es hin und war ratlos. Das einzige, was er tun konnte, war, in die Stadt zu rennen und den Pfarrer zu verständigen, der seinen Eltern das Armeleutebegräbnis gegeben hatte … Pierre knetete seine Hände. Als er spürte, wie kalt sie waren, tastete er nach den Händen des Säuglings, die fast glühten. Es hat Fieber, dachte er. Es wird sterben. ES DURFTE NICHT STERBEN! Völlig außer sich, wie von Sinnen, ging Pierre im Raum auf und ab. Sein eigenes Unwohlsein war längst verdrängt. Er verschwendete keinen Gedanken mehr daran. Das Kind. Das arme Kind … Schließlich rannte er hinaus und holte doch Holz. Begleitet von dem unablässigen, durchdringenden Geplärre des Säuglings entfachte er die unter der Asche schwelende Glut und legte soviel Scheite auf, daß sich der Raum in kürzester Zeit erwärmte. Pierre kehrte immer wieder zu dem Bündel auf dem Tisch zurück. Er hätte es nicht in Worte fassen können, warum er zögerte.
Warum er keine Hilfe holte. Je länger er das kleine Wesen betrachtete, desto sonderbarer wurde ihm zumute. Einmal, mit zehn oder zwanzig, hatte er ein Kätzchen gehabt. Das einzige Überlebende eines Wurfs. Sein Vater hatte die anderen in einen Sack gesteckt und in den Fluß geworfen. Pierre hatte gedacht, sein Vater müßte es merken, daß eines der schnurrenden kleinen Bälger fehlte. Aber er hatte nichts gemerkt, hatte nicht nachgezählt. Pierre hatte das Kleine mit Kuhmilch großgezogen. Nun ja, beinahe. Leider war es schon nach ein paar Wochen von einem Marder, der in den geheimen Verschlag eingebrochen war, totgebissen worden. Aber wenn nicht, dann hätte Pierre es aufgepäppelt! Ganz bestimmt …
* »Fieber?« fragte die Bäuerin zweifelnd. »Du siehst nicht aus, als hättest du Fieber! Verschwinde, geh wieder nach Hause – oder mach dich hier ein bißchen nützlich!« Pierre griff sich an die Stirn und dann an den Hals. Dazu ächzte er übertrieben. Er wußte selbst, daß es nicht echt klang, aber besser konnte er es nicht. »Bitte«, jammerte er. »Es geht mir schlecht.« Nun griff er sich auch noch an den Bauch, dorthin, wo der einzige wirkliche Schmerz bohrte. »Fieber. Ich habe hohes Fieber!« Die dicke Bäuerin zog beide Brauen nach oben. Ihr Gesicht war gerötet. Einmal, als ihr Mann vom Heuwagen gefallen und wochenlang ein gebrochenes Bein auskuriert hatte, war sie zu Pierre in den Stall gekommen und hatte seine Hand unter ihren Rock, oben zwischen die Beine, geschoben. Es hatte ihm gefallen. Aber offenbar hat-
te er sich tölpelhaft angestellt, denn nach einer Weile war sie schimpfend aus dem Stall gerannt. Danach hatte sie nie wieder etwas ähnliches versucht. »Deine Stirn ist eiskalt«, sagte sie, nachdem sie ihn kurz angefaßt hatte. »Es ist kaltes Fieber. Bitte, gebt mir etwas, um es zu senken! Ein Kraut. Ihr verstehst Euch doch mit Kräutern …« Sie überlegte. Ihre Brauen wuchsen noch ein Stückchen enger zusammen. Schließlich sagte sie in gottergebenem Ton: »Komm morgen zeitig und versorge das Vieh. Wenn du damit fertig bist, koche ich dir einen Sud …« »Nein!« Pierre sah, wie sie zusammenzuckte. Und vielleicht wunderte er selbst sich noch mehr als sie über seine Kühnheit, zu widersprechen. »Ich brauche es jetzt. Nicht erst morgen. Morgen kann ich tot sein. Aber wenn Ihr mir helft, schwöre ich, noch vor Sonnenaufgang hier zu sein und das Kraut abzuarbeiten! Ich koche es mir auch selbst. Ihr müßt nur sagen, wie …« In diesem Augenblick klopfte jemand laut gegen die Tür. Pierre schrak zusammen, und die Bäuerin ließ ihn stehen, um zu öffnen. Einige Männer aus der Stadt standen draußen. Sie waren dick angezogen. Nebel stieg aus ihren Mündern. Pierre kannte die meisten vom Sehen, aber nicht namentlich. »Alles in Ordnung bei euch?« fragte der Wortführer der Gruppe, ein großer, energisch auftretender Mann mit Vollbart. »Natürlich! Was wollt ihr? Sucht ihr jemanden?« »Das kann man sagen.« »Wen?« »Ein wildes Tier! Es ist ins Haus des Krämers Fleuroir eingebrochen. Heute nacht. Und es hat seine Tochter zerfleischt!« Die Bäuerin wankte leicht, und auch Pierre hatte ein brennendes Gefühl in der Brust, als käme erneut Galle hoch und als müßte er sich doch noch übergeben.
»Zerfleischt?« »Ja. Es muß ein Wolf gewesen sein. Alle Bürger werden gewarnt, besonders die Bauern, die Vieh halten. Es könnte sein, daß die tollwütige Bestie sich noch irgendwo versteckt hält, wo sie noch mehr Beute wittert.« »Da kommt sie bei uns gerade recht! Mein Mann schlägt sie tot!« Der Blick ihres Gegenübers flackerte. »Stellt es Euch nicht zu einfach vor. Der Fall ist … noch erschreckender, als Ihr ahnen könnt.« »Was meint Ihr?« Er sah zu Pierre. »Wer ist das? Euer Sohn?« »Gott bewahre! Nein, dieser Einfaltspinsel hilft nur hin und wieder bei der Ernte und was sonst so anfällt …« Der Blick des Mannes senkte sich in Pierres Augen. Nach einer Weile fragte er: »Ist er nicht ganz richtig im Kopf?« Die Bäuerin zuckte die Achseln. »Er ist kräftig. Ich brauche keine Geistesgrößen, um einen Stall zu misten. – Aber worauf wolltet Ihr eben hinaus? Was ist erschreckender, als ich ahnen kann …?« Der Mann räusperte sich, während er von draußen gedrängt wurde, die Suche endlich fortzusetzen und sich nicht so lange aufzuhalten. »Es sieht so aus, als hätte der Wolf nicht nur die Frau getötet, sondern auch ihr Kind mitgenommen!« »Ihr Kind?« »Ja, es ist kompliziert. Nicht einmal die Eltern der Toten wußten offenbar etwas von der Schwangerschaft.« »Schwangerschaft?« »Die Tote wurde neben anderen tödlichen Wunden mit zerfetztem Bauch aufgefunden. Und der Arzt stellte fest, daß sie hochschwanger war. Bis zuletzt verbarg sie ihren Zustand offenbar unter einem eng geschnürten Korsett. Aber unter dem Bett, auf dem sie starb, wurde die Nachgeburt gefunden. Es stimmt also: Sie stand kurz vor der Entbindung … und die Bestie hat das Kind offenbar aus ihrem Leib
geholt und entführt …«
* Pierre war wie betäubt, als er die Tür zu seiner Hütte aufstieß. Die Wärme prallte ihm wie eine Wand entgegen. Ernüchtert machte er hinter sich zu. Das Kind lag nicht mehr auf dem Tisch. Er hatte es auf dem Lager zurückgelassen, wo er selbst die Nächte verbrachte. Neben der Ofenbank. Die Stille, die ihn empfing, war so erdrückend, daß Pierre sofort ahnte, zu spät gekommen zu sein. Er stöhnte. Die Hand, die den Beutel mit Trockenkräutern den ganzen Weg fest umklammert gehalten hatte, entspannte sich, als wüßte auch sie, daß es keinen Wert mehr hatte. Pierre stellte die Kanne voll Milch, die er der Bäuerin auch noch abgeschwatzt hatte, auf den Tisch. Nach dem Besuch der Männer, die den Wolf verfolgten, hatte Pierre alles von ihr bekommen, worum er bat. Offenbar hatte die Geschichte sie tief getroffen. Ihn auch. Ja, ihn auch … Eine ganze Weile stand er völlig regungslos war dem Tisch, dem Kind den Rücken zugekehrt. Er ertrug es nicht. Was mußte dieser winzige Wurm erlitten haben, wenn es jener war, der von dem Wolf … Etwas stimmte nicht. Selbst Pierres beschränkter Verstand genügte, um ihn erkennen zu lassen, daß kein Wolf ein entführtes Neugeborenes (das noch dazu grausamst seiner Mutter entrissen worden war) in Decken gegen die Kälte hüllte und auf einer Türschwelle ablegte!
Ruckartig drehte er sich um. Er mußte das Kind verschwinden lassen – sonst bekam er noch etwas angehängt … Solange es ging, vermied er es, in den Wust von Decken zu blicken. Er wollte das tote – Das plötzliche Glucksen nagelte ihn am Boden fest. Pierre riß die Augen auf und sah zu dem Neugeborenen, das mit glühendem Gesicht und voller Urvertrauen zu ihm aufschaute. Es lebte! Es atmete! Auch wenn es immer noch unter hohem Fieber zu leiden schien – es war ihm nicht weggestorben wie das Kätzchen … Pierre eilte ungelenk auf das Kind zu. Er kniete neben ihm und streichelte, nur mit der Spitze eines seiner schwieligen Finger, behutsam über die heiße, immer noch verkrustete Wange. Ich muß es waschen, dachte er. Aber erst, wenn das Fieber weg ist … Er zwinkerte dem Säugling zu, als wollte er ihm sagen: Das wird schon wieder, Kleines! Es schrie nicht mehr, was er für ein gutes Zeichen hielt (zumindest wollte er das glauben!). Zunächst legte er etwas Holz nach. Im Kessel, den er vor dem Weggehen aufgehängt hatte, kochte bereits das Wasser. Damit setzte er, wie die Bäuerin es ihm erklärt hatte, den Sud auf. Es war leicht. Schwierig wurde nur das Warten, bis der Kräutertee lange genug gezogen hatte. Schwermütig dachte Pierre an das, was der Mutter des Kindes widerfahren war. Aber wer hatte das Bündel vor die Tür seiner Hütte gelegt? Wer? Pierre wußte, daß in den Wäldern Wölfe hausten. Jeder wußte das. Normalerweise wagten sie sich jedoch nicht über die Grenze des
Waldes. Vermutlich hatte der Futtermangel aufgrund des überaus strengen Winters sie dazu getrieben … Aber eine Frau in ihrem Heim zu überfallen und sie dann … Nein! Es blieb unfaßbar. Die einzige Erklärung, die Pierre für sich selbst fand, war, daß es ein Zeichen des Schicksals war. Seines Schicksals. Der Herr im Himmel hatte ihn nicht vergessen. Er hatte Vater und Mutter zu sich geholt, aber ihn nicht ganz vergessen. Er hatte ihm eine Aufgabe gegeben. Etwas, worin er sich bewähren und mit dem er zeigen konnte, daß er gar kein so schlechter, kein so dummer Mensch war, wie die Leute redeten …
* Am nächsten Tag ging das Fieber zurück. Pierre hatte herausgefunden, daß es dem Kind in seinem kranken Zustand besser ging, wenn die Hütte nicht so überheizt war. Deshalb hielt er die Temperatur fortan kühl, aber nicht kalt. Und er lüftete öfter, denn der Sud, den er dem Säugling mühsam einflößte, hatte einen penetranten Geruch. Zumindest glaubte er das zunächst. Bald darauf stellte er jedoch fest, daß der Gestank von dem rührte, was das Kind ausschied. Es machte schon die ganze Zeit, seit Pierre ihm den Kräutertee einflößte, in die Decken! Es war nicht besonders viel, und hätte er es nicht so lange übersehen, hätte es vermutlich nicht einmal besonders streng gerochen. So aber … Bei dieser Gelegenheit machte er die Entdeckung, daß es sich nicht, wie er es angenommen hatte, um einen Jungen wie ihn, sondern ganz offensichtlich um ein Mädchen handelte. Es machte ihm nichts aus, im Gegenteil.
Sie war ihm schon die ganze Zeit über wie ein Engel vorgekommen … Er beseitigte die Bescherung mit einem in warmes Wasser getauchten Lappen, und der lange verstummte ›Engel‹ begann wieder lautstark zu schreien. Die Waschung gefiel ihm nicht. Aber sie mußte sein. Und als alles vorüber war – Pierre hatte bei der Gelegenheit auch gleich die anderen Verkrustungen beseitigt – blickte das kleine Mädchen ihn wieder aus diesen klaren, freundlichen Augen an, daß ihm ganz anders zumute wurde. Am dritten Tag verabreichte er ihm erstmals etwas lauwarme Milch. Das Kind erbrach und wand sich wie unter Krämpfen. Pierre war ratlos. Noch am selben Tag melkte er, ohne zu fragen, eine Ziege und versuchte es mit deren Milch. Es ging besser. Nach einer Woche hatte Pierre sich schon einige Routine im Umgang mit dem Kindchen angeeignet und suchte – als gäbe es nichts Wichtigeres – händeringend nach einem passenden Namen. Pierre entschied sich, dem Kind den Namen der toten Krämerstochter zu geben, von der er annahm, daß sie die Mutter war. Der mörderische Wolf war immer noch nicht gefunden worden, obwohl die ganze Gegend auf den Kopf gestellt wurde. Pierre taufte sein Findelkind in aller Heimlichkeit und ohne die Hilfe eines Pfaffen selbst mit etwas Brunnenwasser. Er taufte es auf den Namen der ihm unbekannten Toten. Nona …
*
Die Monate und Jahre vergingen. Bis in Nonas beginnendes viertes Lebensjahr gelang es Pierre, sie mit immer größerem Aufwand und immer mehr Anforderungen an sein Geschick vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Doch er wußte, daß dies nicht mehr lange gutgehen konnte. Das Kind wurde temperamentvoller. Es stellte die Hütte auf den Kopf, und nach Einbruch der Dunkelheit ging er mit ihm in den Wald, wo es herumrennen und sich austoben konnte. Nur zu Vollmond durfte Nona nicht hinaus. Bis es drei wurde, verlangte es dafür keine Erklärungen. Aber dann begann die Zeit, da es Pierre Löcher in den Bauch zu fragen begann und sich auch nicht länger gefallen lassen wollte, tagsüber eingesperrt zu sein. Daraufhin faßte Pierre schweren Herzens einen Entschluß, den er sich, bevor Nona auf so wundersame Weise in sein Leben getreten war, nie auch nur im Traum hätte vorstellen können. Er entschied sich, Perpignan, seine Heimat, zu verlassen und mit dem Kind auf Wanderschaft zu gehen, bis sie irgendwo einen Ort fanden, wo sie sich, ohne Angst vor Verfolgung, niederlassen konnten. Es war sicher, daß man ihm das Kind abnehmen würde, sobald die Öffentlichkeit von ihm erfuhr. Selbst wenn die Eltern der Toten keine Ansprüche geltend gemacht hätten – der Obhut eines Mannes, den die meisten für einen zurückgebliebenen Trottel hielten, würde man ein kleines Mädchen unter keinen Umständen überlassen … Das bösartige Tier trieb noch immer ungestraft sein Unwesen. Nicht mehr in der Stadt, aber doch in direkter Umgebung. Jäger hatten in einem Gestrüpp die stark verweste Leiche eines seit Monaten vermißten Waldarbeiters gefunden, halb verscharrt unter Laub und Erde. Irgend etwas hatte ihm ganze Stücke seines Fleisches von den Knochen gerissen.
Der hinzugerufene Arzt, der den Totenschein ausstellte, meinte, es handelte sich nicht nur um die Spuren eines Wolfs, obgleich auch sie zu finden waren. Aber die lange Zeit, die der Leichnam schon im Wald gelegen hatte, hatte noch anderes aasfressendes Getier angelockt. Man erzählte, der Tote sei voll mit Würmern, Maden und krabbelnden Käfern gewesen. Da dies nicht der einzige Vermißte war, wurde mit Hunden und dressierten Schweinen, die sonst für die Trüffelsuche abgerichtet waren, nach weiteren Toten gesucht. Gestern erst war ein neues Opfer entdeckt worden. Ein Riese von einem Kerl, der sich im Wirtshaus gebrüstet hatte, das verdammte Wolfsbiest ganz allein zur Strecke zu bringen – seither war er nicht mehr gesehen worden. Schon lange vorher erzählte man von Bürgern der Stadt, die ausnahmslos bei Vollmond verschwunden oder nicht wieder heimgekehrt waren. Auch die Krämerstochter, soviel wußte Pierre sicher, war in einer solchen Nacht getötet worden – und am Morgen danach hatte Nona vor seiner Tür gelegen. Um dem Kind keine Angst zu machen, enthielt er ihm den Grund vor, warum es ausgerechnet dann, wenn die Nächte am hellsten waren, nicht draußen im Wald spielen durfte. Verstanden hätte es ihn gewiß – Nona war ein aufgewecktes Kind mit schneller Auffassungsgabe –, aber sich auch gefürchtet. Nein, sie mußten fort von hier. Je eher, desto besser!
* Ich erinnere mich, wie wir das Haus bei Neumond verließen. Klammheimlich, zu tiefster Mitternacht. Ein Käuzchen schrie und folgte uns unsichtbar ein Wegstück, ehe es Beute fand und uns bei-
de, Vater und mich, die wir Hand in Hand nebeneinander durch den Wald gingen, uns selbst überließ. Ich war damals dreieinhalb. Und es war für mich ein großes Abenteuer. Der Hütte trauerte ich keine Sekunde nach, und der Stadt, die ich nicht kannte, erst recht nicht. Vater hatte keinen Versuch unternommen, sein Hab und Gut zu verkaufen, um auf diese Weise etwas Startkapital für das Leben unterwegs oder anderswo zu erhalten. Damals wußte ich noch nicht, daß er Angst hatte, ins Gerede zu kommen. Daß man sich ihn und seinen Besitz sehr viel bewußter ansehen würde als je zuvor, und daß man Spuren von mir finden könnte … Wir liefen die ganze Nacht, nur mit einem Sack auf Vaters Rücken, in den er etwas Proviant und Flickzeug gestopft hatte. An Kleidung brauchten wir nicht viel. Es war August, und selbst die Nächte waren warm. Ich wunderte mich selbst über meine Ausdauer. Der Boden schien unter meinen Füßen hinwegzufliegen, obwohl ich viel mehr Schritte machen mußte als Vater. Ich glaube, ein wenig war es auch die Angst, die mich beflügelte. Angst vor dem Unbekannten. Als ich dann irgendwann doch nicht mehr konnte, hob mich Vater auf die Schultern und hielt mich an den Beinen fest. Die schaukelnden Bewegungen hoch oben schläferten mich ein, und als ich morgens zu mir kam, kauerte ich noch immer dort, wo ich eingenickt war. Meine Wange lag auf Vaters Haar. Er lachte, als er merkte, daß ich aufgewacht war. Der Wald lag hinter uns. »Siehst du die Häuser dort unten?« »Ja.« Sie schienen wie Adlerhorste am Fuß der Berge zu kleben. »Wo sind wir?« Er lachte wieder. »Wenn ich das wüßte. Aber weit – weit von Zuhause.« »Es tut dir leid, daß wir gegangen sind …«
»Mir tut nichts leid«, sagte er, »was uns zusammenhält.« Solche Sachen sagte er häufig. Aber wenn ich ihn fragte, wie er es meinte, wich er aus. Er zeigte noch einmal zu dem Dorf hinab. »Wenn ich Arbeit finde, werden wir dort ein paar Tage bleiben.« »Und dann?« »Dann zeige ich dir das Meer!« »Das Meer? Was ist das?« fragte ich. Er kicherte. »Ich weiß es nicht. Ich habe auch nur davon gehört. Eine riesengroße Fläche nur mit Wasser. Und dieses Wasser kann man nicht trinken. Es ist versalzen …« »Was macht man mit dem vielen Wasser, wenn man es nicht einmal trinken kann?« fragte ich kopfschüttelnd. »Schiffe fahren darauf …« »Schiffe?« »Sei nicht so ungeduldig! Wir werden es beide herausfinden – einverstanden?« »Einverstanden.« So gelangten wir nach Verdette.
* Im Dorf begegnete uns keine Feindseligkeit, gleichwohl Vater argwöhnisch beäugt wurde, und auch ich litt unter den Blicken. »Woher kommt ihr?« erkundigte sich der Bauer, bei dem Vater zuerst nach Arbeit fragte. »Ist das deine Tochter?« »Ich bin Pierre«, sagte Vater, »das ist Nona. Wir sind auf Wanderschaft, seit meine Frau starb.« »Woran ist sie gestorben? Am Schwarzen Tod?« »Nein, nein. Eines Tages wurde sie krank. Eine Spinne hat sie gestochen, im Schlaf. Von ihrem Ellenbogen lief ein roter Strang bis
hinüber zum Herzen. Ihr Blut war vergiftet …« Ich sah ihn an und nagte an meiner Unterlippe. »Kommt ihr von weit her?« »Vom anderen Ende der Berge.« »Und wohin wollt ihr?« »Zum Meer!« rutschte es mir heraus. Ich wußte nicht, was daran so komisch sein sollte, doch der schmerbäuchige, rotgesichtige Mann schüttete sich schier aus vor Lachen. »Da habt ihr noch etwas vor euch …« Obwohl er wieder ernst wurde, schien der Bann gebrochen. Nicht mehr ganz so ablehnend wie zuvor sagte er: »Ich habe genug Mäuler zu stopfen. Aber fragt bei Lecock. Ihm ist letzte Woche ein Knecht weggestorben. Vielleicht hat er Verwendung für einen wie dich. Aber das Kind … Das Kind wird ihm nicht gefallen. Lecock haßt Kinder, und er besteht darauf, selbst nie eins gewesen zu sein … Tut mir leid, aber mehr kann ich euch nicht raten. Versucht oder laßt es. Und das Meer … Nun, das Meer läuft euch schon nicht davon. Und wenn, kommt es wieder …« Ich verstand nicht, was er meinte. Wie sollte ich auch? Wir folgten der Wegbeschreibung, die uns zum Hof des Bauern Lecock führen sollte, und unterwegs, nun nicht mehr auf Vaters Schultern, sondern auf eigenen Beinen, sagte ich: »Erzähl mir von Mutter. Wie war sie? Habt ihr euch gern gehabt?« Er stolperte, obwohl kein Stein auf dem staubigen Weg lag. »Gern gehabt?« echote er. »Du erzählst nie von ihr«, sagte ich. »War sie … eine schlechte Frau?« »Wo schnappst du bloß all den Unsinn auf?« fragte er mürrisch. Ich sagte ihm nicht, daß ich ein paarmal Leute belauscht hatte, die sich draußen vor der Hütte mit ihm unterhalten hatten. Dabei waren Dinge zur Sprache gekommen, die ich nie verstanden hatte. Sie
klangen auch nicht, als wären sie für die Ohren eines Kindes bestimmt – aber sie hörten sich interessant an. Nachdem wir eine Weile stumm nebeneinander gelaufen waren, kratzte er sich hinter dem Ohr und sagte: »Sie war eine wundervolle Frau.« »Wirklich?« Mein Herz hüpfte wie ein kleiner Vogel, der aus seinem Nest springen will, weil es ihm zu eng geworden ist. »Ja, wirklich. Sie war schön. Die Leute neideten sie mir, so schön war sie.« »Sind die Leute deshalb manchmal so … böse zu dir?« »Ja, deshalb.« »Wie sah sie aus? Sag!« »Sie hatte Haare wie du. In der Sonne glänzten sie wie goldene Ähren auf einem Feld.« »Und die Augen?« »Sie hatte … freundliche Augen.« »Die Farbe!« »Wie deine.« »Ich weiß nicht, was für eine Farbe meine Augen haben!« Vater zögerte, sah sich um, dann lächelte er plötzlich und zeigte hinauf zum Himmel. »Diese Farbe!« »Und«, strahlte ich, »habe ich auch solche blütenweißen Tupfer darin?« Ich zeigte zu den Wolken. »Einen«, schmunzelte er. »In jedem Auge einen. Darin schwimmt das Blau …« »Erzähl mir mehr über Mutter! Alles …« »Nicht jetzt.« »Wann dann?« »Wir haben andere Sorgen. Laß mich erst Arbeit finden …«
*
Lecock war ein Schinder. Ich lernte schnell, was dieses Wort bedeutet, denn Vater bekam Arbeit bei ihm – zunächst auf ›Bewährung‹, wie sich der kleinwüchsige Mann mit dem schiefen Gesicht und den häßlichen Zähnen ausdrückte. Mich nahm er dabei wie ein unvermeidliches Übel mit in Kauf. Ich mochte ihn gleich nicht, und diese Abneigung vertiefte sich mit jedem Tag, die wir dort waren. Und mit jeder Nacht. Es gab zuviel Schlimmes, was ich mitansehen und – hören mußte. Besonders unerträglich war, wie man mit Vater umsprang. Er mußte im Haus schlafen, um sich schon einmal daran zu gewöhnen, denn über Winter sollte er dafür sorgen, daß das Feuer im Herd nie ausging. Mich wollte Lecock nicht im Haus haben. Er wies mir eine Stelle im Heuschober zu, und als mein Vater einwarf, daß ich noch zu klein sei, um über Nacht irgendwo alleine zu sein, hatte er nur hämisches Lachen geerntet. »Allein? Dort draußen im Heu ist niemand allein. Die Mäuse und Ratten werden ihr schon Gesellschaft leisten! Und ein bißchen Fürchten schadet nicht. Vielleicht lernt dein Balg dadurch, daß man einen Erwachsenen nicht ständig mit diesem hochnäsigen Blick anstarrt, wie sie es mit Vorliebe tut … Nona! Wie kann man sein Kind auch nach einer spanischen Hure benennen?« Auf meine Frage, was eine spanische Hure sei, erwiderte Vater nur achselzuckend, daß er nicht einmal wüßte, was eine französische Hure sei. Zumindest habe er nie mit einer zu tun gehabt. »Und Mutter?« »Deine Mutter war keine Hure!« Allein daran erkannte ich, daß dieses Wort auf keinen Fall Gutes bedeutete. Aber einstweilen ließ ich es damit bewenden. Lecock hatte selbst keine Kinder. Die Frau, mit der er verheiratet
gewesen war, so hieß es, sei ihm fortgelaufen. Es fiel nicht schwer, dies zu glauben. Er war innen wie außen häßlich. Nachts wünschte ich ihm die Krätze an den Hals, während ich ewig lange im Heu wachlag und mir vorzustellen versuchte, was all die Geräusche bedeuteten, die ich hörte. Überall knisterte, scharrte und raschelte es. Auch das Gebälk ächzte, und wenn es draußen windig war, heulte es schaurig durch die Dachöffnungen. Eines Nachts – abends hatte ich in Vaters Armen geweint und ihn angebettelt, mit mir fortzugehen, keinen Tag länger bei diesem schrecklichen Kerl zu bleiben, der ihm täglich die härteste Knochenarbeit abverlangte – stürmte es, wie ich es bis dahin noch nicht erlebt hatte. Irgendwo gab es lose Bretter, die von Böen immer wieder gegen die Wand geschmettert wurden. Erst hörte ich nur fernes Grollen, dann entlud sich ein Gewitter direkt über dem Dorf. Der Regen prasselte wie unzählige Hammerschläge auf das Dach herab. An Schlaf war nicht zu denken. Das einzige Gute daran war, daß ich die Geräusche, die mich sonst peinigten, in dem Sturmtoben nicht mehr hören konnte. Dies war jedoch nur ein schwacher Trost; eigentlich gar keiner. Ich fürchtete mich schrecklich und stellte mir vor, was geschähe, wenn einer der Blitze die Scheune träfe. Ich würde verbrennen. Bei lebendigem Leib verbrennen … Plötzlich wurde die Scheunentür aufgerissen, und ein Licht tanzte herein. Sofort wurde das Tor wieder zugeworfen, und ich dachte erleichtert, Vater wäre gekommen, um mir beizustehen. Aber es war nicht Vater. Es waren der Knecht und die Magd, die ebenfalls unter Lecocks Knute standen, aber seit wir da waren, nicht mehr so schlimm wie zuvor, weil Lecock die Gemeinheiten nun unverhohlen auf Vater
konzentrierte. Die Magd hieß Bernadette und redete manchmal mit mir. Sie war ganz in Ordnung. Ihr üppiger Busen hatte mich anfangs fasziniert, und einmal fragte ich Vater, ob Mutter von ähnlicher Statur gewesen sei. Er hatte mit verkniffenem Mund verneint. Der Knecht hieß Eugene. Mit ihm hatte ich noch nie ein Wort gewechselt. Beide waren jünger als Vater. Daß sie zu mir kamen, verstand ich anfangs nicht – bis ich begriff, daß alles eine andere Bedeutung hatte. Eugene flüsterte zwischen zwei Donnerschlägen: »Komm schon! Zier dich nicht so; früher konntest du bei Sturm auch nie genug bekommen …« »Aber die Kleine schläft hier!« »Und wenn schon – sie schläft. Wenn das Gewitter sie nicht geweckt hat, werden wir es auch nicht schaffen …« »Sie hat uns vielleicht schon gehört und beobachtet uns!« »Und wenn schon! Sie versteht doch gar nicht, was wir hier tun …« »Mach wenigstens die Lampe aus!« »O nein! Ich will meinen Spaß haben, und dazu gehört, daß ich dich sehe!« »Du hast die Wahl – entweder Licht aus, oder …« Er fluchte. Dann erlosch der Schimmer, der die beiden aus der Dunkelheit gerissen hatte. Ich sah nicht, was sie taten, aber ich hörte eigentümliche Geräusche zwischen dem Tosen des Sturms, der immer stärker wurde. Ich lag oben auf dem Heuschober, stützte das Kinn in die Hände und schloß die Augen. In Gedanken wünschte ich mich ans Meer. Mit Vater.
Da wurde erneut die Scheunentür aufgerissen. Vom Lärm aufgeschreckt, sah ich hinab. Im hellen Schein einer Laterne stürmte Lecock herein. Er schwang er eine Mistgabel und schrie: »Habe ich euch endlich erwischt! Unter meinem Dach Unzucht treiben … das habe ich gern …!« Er fuchtelte drohend mit der Mistgabel, und ich sah, daß Bernadette mit bis zum Hals hochgeschobenem Kleid und Eugene mit heruntergelassener Hose übereinanderlagen. Als der Bauer näherkam, sprang Eugene auf, zerrte die Hosen hoch und rannte an ihm vorbei aus der Scheune. Die Flüche Lecocks folgten ihm. Als auch Bernadette ihre Kleidung ordnen und aufstehen wollte, erschreckte Lecock sie, indem er die Zacken der Mistgabel neben ihr in den festgestampften Boden der Scheune rammte. Sie erstarrte. »Heh!« rief sie lahm. »Was –« »Halt’s Maul, wenn dir deine Arbeit lieb ist!« Mehr sagte er nicht. Dann hob er die Laterne und blies die Flamme darin aus. Ich erwartete weitere Proteste und Gegenwehr von der Magd. Aber sie sagte kein einziges Wort. Und kurz darauf hörte ich den mickrigen Leuteschinder im Dunkeln stöhnen. Nur ihn. Von Bernadette war gar nichts zu hören, als gäbe es sie überhaupt nicht. Nach einer Weile verstummte Lecocks Stöhnen, und das Scheunentor schlug. Zweimal kurz hintereinander, ohne daß noch einmal ein Licht aufgeflammt wäre. Das Gewitter verzog sich ebenfalls, nur der Wind und der Regen nicht. Tiefer als je zuvor kroch ich unters Heu und sehnte den neuen Tag herbei. Ich begann diesen Ort zu hassen, ohne recht zu wissen, warum. Gleich als es hell wurde, stieg ich die Leiter hinunter.
Die Mistgabel steckte immer noch im Boden. Sonst deutete nichts mehr auf die Geschehnisse der Nacht hin. Doch als ich ins Freie trat, herrschte draußen heller Aufruhr. Lecock brüllte. Er stand auf dem Hof und hielt den abgerissenen, blutigen Kopf eines Schafes in der Hand. Mir wurde schlecht. Vater kam mir entgegen und sagte, daß während der stürmischen Nacht ein Tier in die Stallungen eingebrochen sei und dort ein fürchterliches Massaker angerichtet hätte. Offenbar hatte niemand die Schreie des Viehs gehört – und wenn doch, mochte er geglaubt haben, das Gewitter trüge Schuld daran. »Ich bin ruiniert!« schrie Lecock und sein anklagender Blick richtete sich auf Vater, als hätte er in ihm den Schuldigen seines Ruins ausgemacht. »Du und dein Balg – ihr habt Unglück über mein Haus gebracht! Verschwindet! Verschwindet, bevor ich mich vergesse!« Vater drehte sich, leicht geduckt, zu ihm um. Er nickte. »Ihr schuldet mir noch den Lohn für all die Tage, die ich hier bin. Gebt ihn mir, und wir gehen.« Es sah aus, als füllte sich ein durchsichtiges Gefäß mit Blut, als Lecocks schiefes Gesicht sich rot einfärbte. Sein flackernder Blick irrte von Bernadette zu Eugene, die stumm neben dem Wortgewaltigen standen und betreten zu Boden schauten. »Habt ihr diesen Wahnsinnigen gehört? Er stellt Forderungen! Er bringt mich an den Bettelstab und verlangt auch noch eine Belohnung dafür …!« Vater hob mich auf den Arm und trug mich zum Haus. »Wo willst du hin?« Die Stimme des Bauern überschlug sich. Während Vater ihm den Rücken kehrte, konnte ich ihn weiter sehen. »Bleib stehen, du dämlicher Hund!« Ich schluckte, aber Vater ging unbeirrbar weiter, trat ins Haus und stopfte sich den Sack, mit dem wir gekommen waren, voll mit Brot und Wurst und einem verkorkten Krug, über dessen Inhalt ich
nichts wußte. Er hatte mich auf dem Boden abgesetzt, und ich blickte immer wieder zur offenen Tür, weil ich jeden Moment damit rechnete, daß der Bauer hereingestürzt kam, um Vater und mir etwas anzutun. Ich traute ihm alles zu. Aber wir blieben unbehelligt, und als wir wieder hinaustraten auf den Hof, drohte Lecock nur noch einmal von weitem und rief hämisch: »Verschwindet! Ich hoffe, ihr findet euer Meer … Ich hoffe, ihr ersauft darin …!« Das waren die letzten Worte, die wir von ihm hörten. Und das letzte, was ich von ihm sah, war, wie er den blutigen Schafskopf durch die Luft schleuderte. Das arme Tier erschien mir selbst in diesem Zustand weniger häßlich als Lecock, dessen Kopf noch fest auf den Schultern saß …
* Die nächsten Stationen unserer Wanderschaft führten uns, wenn man den Wegweisungen der Leute, die wir trafen, glauben durfte, direkt dem Meer entgegen. Aber wir brauchten den ganzen Herbst, bis wir es das erste Mal sahen. Bis wir die Gestade erreichten, gegen die es brandete. Ich wurde nun bald vier, und die gemeinsamen Erlebnisse schweißten Vater und mich immer enger zusammen. Ich liebte ihn wie keinen Menschen sonst – und ich litt, wenn ich feststellte, daß andere ihn mit gezielten oder unbedachten Bemerkungen in den Schmutz zogen. Niemand außer mir schien den Kern zu sehen, der unter seiner manchmal etwas ungeschickten, groben Schale verborgen lag. Aus Lecocks Verhalten hatte er jedenfalls eine Lehre gezogen. Seither blieben wir höchstens ein paar Tage an ein und demselben
Fleck. Vater ließ sich auszahlen, und wir setzten unsere Reise fort. Wohin wir eigentlich wollten – von dem verschwommenen Wunsch abgesehen, einmal das Meer zu bestaunen –, schien Vater selbst nicht zu wissen. Er erschien mir von Natur aus ruhelos, und manchmal abends, an einem Feuer, kam es mir vor, als verberge er etwas Wichtiges vor mir. Wenn ich die Sprache auf Mutter brachte, verstärkte sich dieser Verdacht noch. »Du bist zu jung«, wich er aus. »Wenn du einmal älter bist, reden wir darüber.« Abend für Abend sagte ich: »Ich bin jetzt älter – wieder einen Tag. Reden wir jetzt über Mutter?« Manchmal amüsierte es ihn, meistens aber verärgerte es ihn eher. Es änderte nichts an meinen Gefühlen ihm gegenüber. Und auch nicht an seinen für mich. In diesem Auf und Ab der Stimmungen erreichten wir im Spätherbst 1514 (die Jahreszahl hatte ich aufgeschnappt und mir ganz stolz gemerkt) die Hafenstadt Marseille. Die beeindruckendste Ansammlung von Häusern, die ich je zu Gesicht bekommen hatte. Aber noch überwältigender war das, woran die Stadt grenzte. Ein Anblick, den ich mein ganzes Leben lang nicht wieder vergaß. Den Moment schloß ich tief und unauslöschlich in meine Seele ein. Den Moment, als meine Füße zum ersten Mal durch eisig kaltes, salziges Gewässer wateten …
* Die verräucherte Hafenspelunke barst fast vor Matrosen von den Seelenverkäufern, die im Hafen ankerten. Vater hatte nicht gewagt, mich draußen warten zu lassen. Er war der felsenfesten Überzeugung, daß mich jemand stehlen könnte. Als er es mir gesagt hatte, quälte ich mir ein Lächeln ab. Aber tief im In-
nern wußte ich gleich, daß seine Sorge nicht aus der Luft gegriffen war. Es wimmelte hier von Galgengesichter. Nicht nur in der Kneipe, mehr noch in den mit Menschenmassen gefüllten Gassen und auf den Landungsstegen, wo ebenfalls ein unablässiges Kommen und Gehen herrschte, besonders wenn ein Schiff seine Ladung löschte. Vater hatte mich die ganze Zeit getragen, sonst wäre ein kleines Kind wie ich wahrscheinlich totgetrampelt worden. Obwohl … ich sah auch Kinder, kaum älter und größer als ich, die sich zu behaupten wußten. »Sie sind hier aufgewachsen«, erklärte Vater, als ich ihn darauf aufmerksam machte. »Es sind keine Kinder wie du. Ihnen fehlt die Unschuld. Ich wette, sie würden uns ein Messer in die Rippen jagen, wenn sie Aussicht hätten, ein paar Münzen zu ergattern und sich ungeschoren davonzumachen …« Ich war schockiert. Aber ich glaubte ihm. Auf seine Art war Vater immer ein weiser Mann. Überall, wo er nach Arbeit fragte, hatte man ihn weggeschickt; nicht selten war ich der Grund, denn niemand wollte sich einen Vater mit seinem Kind aufladen. Der Hafen war Vaters letzte Hoffnung. Er hatte von Afrika gehört. Afrika lag jenseits des Meeres und war von dieser Küste aus nicht zu erblicken. Die Reise mit einem Schiff dauerte Wochen, bei schlechten Winden konnte ein Schiff ins Nirgendwo getrieben werden. Seit er hier in Marseille die Geschichten über die ferne Insel Afrika aufgeschnappt hatte, träumte Vater von einem Leben dort. Eines Abends hatte er es mir gestanden. Wir hatten uns in eine Nische zwischen zwei Häusern gedrückt, um die Nacht hungrig und frierend, eng aneinandergeschmiegt, zu überstehen. Es war eine der schönsten Nächte überhaupt geworden, denn seit
langem war Vater wieder einmal aus sich herausgegangen. Ähnlich wie damals, als er mich noch in seiner Hütte vor den bösen Menschen versteckte, von denen er glaubte, sie wollten mich ihm wegnehmen. In dieser Nacht hatte er mir einiges verraten, was ich noch nicht wußte. Zum Beispiel, daß er fürchtete, der Wolf, der Lecocks Hof heimgesucht hatte, könnte uns gefolgt sein. Von Perpignan nach Verdette. »Wie kommst du nur darauf?« Da erzählte er mir, daß dieser Wolf über Jahre sein Unwesen in den Pyrenäen und in der Stadt getrieben hatte. Und daß auch Mutter ihm zum Opfer gefallen war. Ich war zu Tode erschrocken und verlangte mehr darüber zu hören. Aber er lächelte traurig und verwies mich, wie so oft, auf später. Wenn ich älter wäre. Und dann, ehe ich ihn weiter drängen konnte, hatte er mir von seinem Traum erzählt. Der Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit, in einem weiten Land, wo wir beide von niemandem gehänselt oder verstoßen werden konnten und wo die Frage, wie man sich das nächstemal sattessen konnte, nicht den ganzen Lebensinhalt bestimmte. Er beschrieb mir seine Vision in allen Einzelheiten: Ein Land, in dem genügend Essen für jedermann auf den Bäumen wuchs. Es gehörte niemandem und allen. Die Sonne brannte Sommer wie Winter von einem wolkenlosen, strahlend blauen Himmel. (Wie deine Augen! hatte Vater geschwärmt. Ganz ohne Tupfer? hatte ich zurückgefragt.) Angeblich, so erzählte man sich, regnete es so selten, daß dies die einzige Schattenseite des Paradieses war. Aber dies war für uns, die wir so oft von Regen durchweicht worden waren, kein nachvollziehbares Übel. Damals nicht … »Was wollt ihr?« Die dröhnende Stimme holte mich wieder in die Gegenwart und
in diesen Schmelztiegel unterschiedlichster Naturen zurück. Vater hatte sich zum Wirt vorgekämpft, und dieser beugte sich mißmutig über die schmutzige Theke zu ihm herüber. »Ich suche Arbeit!« Ich merkte, daß er all seinen Mut zusammennahm, aber der Wirt, in dessen Narbengesicht eine plattgedrückte rote Nase prangte, fluchte nur und schlug mit der Faust so heftig auf den Tresen, daß ein paar leere Krüge zu wackeln und gegeneinander zu klirren begannen. »Ich meinte, was ihr trinken wollt! Hier ist keine Anlaufstelle für schwer vermittelbare Landratten oder bärtige Kindermädchen!« Die Quittung dieser hinausposaunten Beleidigung war Gelächter, das nun auch auf die Umstehenden übergriff. Daraufhin fielen noch boshaftere Bemerkungen. Vater und ich erhielten Stöße und Knuffe von allen Seiten. Ich fing an zu jammern, in der Hoffnung, sie hätten ein Einsehen. »Vielleicht … kennt Ihr ja jemanden, der Männer sucht, die sich für nichts zu schade ist …«, sagte Vater kleinlaut. Das Gejohle verstummte auf eine Geste des Wirts hin, der seine Gäste voll im Griff zu haben schien. Dann wurde deutlich, daß er nur Ruhe befohlen hatte, um selbst noch brutaler dazwischenschlagen zu können. »Für nichts zu schade, he? Mach, daß du wegkommst! Und nimm deinen Braten mit, sonst kommt er in die Pfanne!« Er holte mit der Faust aus, als wollte er Vater die Nase brechen. Er wich zurück. Ich duckte den Kopf unter seine Achselhöhle, während er sich mit mir durch die jauchzenden und auf den Dielenboden trampelnden Matrosen zur Tür kämpfte. Als wir endlich wieder draußen auf der Hafenstraße standen, keuchte Vater: »Diese gewissenlosen Kerle!« Ich wollte ihn trösten, doch in diesem Augenblick schwang über uns ein zuvor verschlossener, doppelflügeliger Fensterladen auf,
und eine zwar resolute, aber durchaus wohlgesinnte Stimme rief: »Kommt herauf! Wir müssen reden!« Es war eine Frau, aber man hatte kaum etwas von ihr sehen können. Sie war wieder ins Innere des Zimmers zurückgetreten. Vater blickte hinauf, dann wieder dorthin, wo wir gerade hochkant herausgeflogen waren. »Aber –«, setzte er an. »Nichts aber! Nehmt die Hintertreppe! Ihr stoßt genau darauf, wenn ihr die Lücke neben dem Wirtshausschild entlanggeht …« Vater sah mich an. Ich erwiderte seinen Blick und nickte. Die Stimme hatte etwas Besonderes; etwas, von dem ich meinte, ihm vertrauen zu können. Ich närrisches Kind, ich …
* Vater klopfte an die Holztür. »Es ist offen!« rief die Stimme von drinnen. »Es ist immer offen …« Ich stand zu Vaters Linken, als er öffnete und wir nebeneinander in den dämmrigen Flur traten. Es waren die letzten Nachmittagsstunden dieses Novembertages. Die Sonne hatte sich hinter dunstige Wolkenschleier zurückgezogen, als wollte sie ihr Antlitz vor all dem Elend verhüllen, das sich in Marseilles Gassengewirr und auf den Planken wenig stolzer Schiffe, die hier am Kai lagen, eingenistet hatte. Vater hatte sich einen Vollbart stehen lassen, der seine Züge nicht unbedingt verschönte, ihn aber – wie er es ausdrückte – respektabler wirken ließ. Von unten rumorte der aggressive Stimmenchor durch die Decke der Kneipe zu uns herauf, und aus einem der Nebenräume hier oben meinte ich leises Gestöhn zu hören. Dann trat uns die Frau entgegen, die uns gerufen hatte, und ich vergaß alles andere um uns herum.
Mit einem Wort ausgedrückt war sie wunderschön, und ich wünschte mir spontan nichts sehnlicher, als daß Mutter so ausgesehen habe. Seltsam fand ich nur, wie offenherzig sie uns entgegenkam. In ein Gewand gehüllt, das so hauchdünn und seidig war, daß sich alles darunter abzeichnete. Die Rundungen dieser Frau waren nicht nur zu ahnen, sie waren zu sehen. Und allem Anschein nach legte sie es sogar darauf an … Ihr kastanienbraunes Haar fiel lockig bis auf ihre Schulterblätter und Brüste, die nicht halb so üppig waren wie die von Bernadette, aber auch bei weitem nicht so haltlos herabhingen, sondern straff und fest mit den harten Spitzen gegen den feinen Stoff stießen. Ich hörte Vater neben mir schlucken. Offenbar war auch er gefangen von soviel Schönheit. »Tretet näher«, sagte sie, und diesmal lenkten ihre Worte alle Aufmerksamkeit auf das Gesicht. Auf die dunkel durchbluteten Lippen und die schwelgerische, künstliche Blässe ihrer Haut. Zum erstenmal begegnete ich einer Frau, die sich gepudert hatte. Bei ihr paßte es. Bei ihr paßte alles. Als Vater zögerte, stieß ich ihn an, und wir gingen der madonnenhaften Erscheinung gemeinsam entgegen. »Ihr werdet Ärger bekommen«, sagte Vater, nachdem er sich ein paarmal geräuspert hatte. »Wie kommst du darauf?« »Der Wirt unten im Haus hat uns gerade hinausgeschmissen.« »Und du denkst, er hat hier das Sagen?« Vater blickte ein wenig ratlos. Dann nickte er. »Er ist ein plumper Hund, der nur mit den Fäusten und dem Schwanz denken kann«, sagte sie, nicht einmal in abfälligem Ton. »Einer wie er verschafft sich den nötigen Respekt bei den betrunkenen, oft streitsüchtigen Matrosen – ich kann schließlich nicht überall sein und aufpassen!«
Nun schauten wir beide sie verblüfft an. Ihren Worten war zu entnehmen, daß sie hier bestimmte. Eine Frau … »Gehört – Euch dieses Haus?« fragte Vater. »Natürlich.« Kopfschüttelnd beugte er sich zu mir herunter und flüsterte: »Wir gehen. Komm.« Ich stand immer noch wie gebannt. »Sei nicht töricht!« sagte sie und trat so nahe zu uns, daß ich ihren Duft einfing. Sie roch nach blühenden Sommerblumen. Ich war wie verzaubert. »Willst du, daß dein Kind aus dummem Stolz heraus stirbt? Du suchst Arbeit, hast du dem Wirt erzählt, und behauptet, dir für nichts zu schade zu sein … Beweise es!« Vater richtete sich wieder auf. Er mied es, sie anzusehen. »Wie?« fragte er. »Ich habe Gefallen an dir gefunden«, sagte sie unverblümt. »Schick die Kleine nach draußen, und ich erkläre dir, was ich von dir erwarte.« Ich sah, wie Vater die Hände zu Fäusten ballte. Eine Weile stand er nur da. Dann entspannten sich seine Hände, und seine Linke fuhr zärtlich durch mein glattes Haar, das mehr und mehr die Farbe von Kupfer annahm. »Geh«, sagte er weich, aber hinter dieser Sanftheit vibrierte eine Spannung, wie ich sie nie bei ihm erlebt hatte. »Warte draußen. Ich komme gleich zu dir …« Ich nickte. Dann sah ich zu der Frau. »Wie heißt du?« fragte ich. »Es wurde auch Zeit, daß mich jemand fragt«, lächelte sie. »Lucrezia. Meine Heimaterde liegt in Italien, in Rom, nicht hier im Frankenreich.« Lucrezia. Der Name war wie eine fremdartige Melodie, die ich mit nach
draußen nahm. Als ich durch die Tür trat, kam mir gerade ein torkelnder Matrose die Treppe entgegen. Ich erschrak. Aber dann rief Lucrezia in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: »Jetzt nicht! Komm später wieder!« Und der Angetrunkene machte so abrupt auf dem Absatz kehrt, daß er fast die Stufen hinunterstürzte. Lucrezias Zähne blitzten, als sie mir ein letztes Lächeln schenkte. Dann schloß ich die Tür. Meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Vater blieb lange bei ihr. Sie mußten viel zu bereden haben. Erstaunlicherweise schnappte ich nicht einmal ein noch so gedämpftes Gemurmel auf. Die Tür schloß absolut dicht. Nur einmal wurde sie aufgerissen. Ein hinkender, älterer Mann trat heraus. Er schien nüchtern, obwohl sein Gesicht gerötet war. Er beachtete mich kaum, und ich erhaschte einen Blick in den Flur, der nun verlassen war. Weder von Vater noch von Lucrezia sah ich eine Spur. Sie mußten in eines der Zimmer gegangen sein. Wieder verging eine Spanne Zeit, bis Vater endlich zu mir zurückkam. Er wirkte fast fröhlich, und das war es, was ich am wenigsten erwartet hätte. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er und hob mich zu sich hinauf, um mir einen Kuß auf die Wange zu drücken. »Sie hat mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ausschlagen konnte … Wir bleiben hier, zumindest den Winter über!« »Was mußt du tun?« Er setzte mich wieder ab. Vielleicht täuschte ich mich, aber ich glaubte einen Schatten über sein Gesicht huschen zu sehen. »Die Räume in Ordnung halten. Botendienste erledigen … Dies und das eben …«
Ich fragte nicht weiter. Aber sonderbar kam es mir schon vor. »Und ich?« fragte ich. »Kann ich bei dir bleiben, oder muß ich wieder in irgendeinem Schuppen schlafen?« »Du erhältst eine eigene Kammer – ist das nicht toll?« »Und du?« »Es ist alles geregelt.« Er nahm mich an der Hand und ging mit mir hinein. Drinnen lernte ich Marie und Chantalle kennen, die für Lucrezia arbeiteten – was auch immer sie unter Arbeit verstanden. Noch ehe ich vier war, bekamen meine Augen und Ohren vieles von dem mit, was Frauen und Männer miteinander trieben, nur um die Zeit totzuschlagen. Aber es blieb mir ein Rätsel, wie man daran auch noch Spaß finden konnte …
* Marseille, 2. Februar 1515 »Denkst du noch manchmal an Afrika?« Ich hatte die Frage leise gestellt. Wir spazierten auf den Klippen, und unter uns waren die Wellen der Brandung mit Gischtkronen gesäumt. Wir waren weit aus der Stadt gelaufen. Ich hatte lange darum bitten müssen, bis Vater einwilligte, mir diese paar Stunden der Zweisamkeit zum Geburtstag zu schenken. Er war anders geworden, seit wir in Marseille waren. Es war, als würden wir einander von Tag zu Tag fremder. Anfangs hatte ich nicht gewußt, woran dies liegen könnte. Doch inzwischen war ich mir sicher, daß Lucrezia die Schuld daran hatte. Sie vereinnahmte Vater völlig. Nicht mit Arbeit oder Botengängen, von denen er gesprochen hatte, sondern einfach indem sie sich mit
ihm in ihr Zimmer zurückzog, zu dem ich keinen Zutritt hatte. Dort blieben sie stunden-, nächtelang. Wenn ich Vater darauf ansprach, daß ich mich einsam fühlte, gab er mir Geld. Ja, er hatte plötzlich Geld – mehr als je zuvor. Lucrezia bezahlte ihn – für was, wurde mir immer schleierhafter. Einige Male hatte ich versucht, durch das Schlüsselloch zu spionieren. Aber obwohl kein erkennbarer Schlüssel darin steckte, war es finster wie ein Mauseloch. Und kein Laut drang von drinnen nach draußen. Im Gegensatz zu den anderen Zimmern, wo Chantalle und Marie ihren Besuch empfingen … »Afrika?« fragte Vater geistesabwesend. Es tat weh zu spüren, wie fern er mir auch jetzt in seinen Gedanken war. »Wir wollten doch nach Afrika – du und ich!« Er wischte sich über die Augen und hielt inne. Das Gesicht zum Meer gewandt setzte er sich auf einen aus dem Boden ragenden Fels. Ich blieb stehen. Winzige Tropfen sprühten uns, von einer frischen Brise getragen, entgegen. Ich schloß die Augen zu zwei schmalen Schlitzen. »Wer weiß, wie es in Afrika ist«, sagte er. »Die Wirklichkeit sieht meistens anders aus als das, was man erträumt …« Was mir früher weise erschienen wäre, konnte ich nun kaum ertragen. »Du Verräter!« platzte es aus mir heraus, und ich begann mit meinen Fäusten auf seinen Rücken zu trommeln. »Wir wollten immer zusammen sein! Nur wir beide …!« Ich ließ die Arme baumeln und fing an zu schluchzen. Die Betroffenheit in seinen Augen gab mir Genugtuung. Ja, etwas anderes zu behaupten, wäre Lüge. Für einen Moment hoffte ich tatsächlich, ihn wachgerüttelt zu haben.
Doch dann senkte er den Blick und sagte: »Geht es uns nicht gut? Gebe ich dir nicht genug Geld, damit du dir in der Stadt Spielzeug und Kleider kaufen kannst? Das hatten wir früher nicht. Du weißt nicht, was für ein Leben ich führte – schon lange bevor du da warst …« Ich spürte, wie die Kraft aus mir wich. »Wie sollte ich das wissen – wenn du nie darüber redest.« »Es gibt nichts zu reden. Vorbei ist vorbei. Ich weiß nur sicher, daß ich nie wieder die Zielscheibe von Hohn und Spott sein möchte. Lucrezia schützt mich davor. Sie respektiert mich und nimmt mich ernst …« »Ich auch!« »Natürlich. Aber das ist etwas anderes …« Ich nickte, und dann sagte ich in meiner Bitterkeit etwas, das ungewollt alles nur noch schlimmer machte: »Manchmal glaube ich, sie hat dich verhext!« Er zuckte zusammen, als hätte ihn ein Schlag ins Gesicht getroffen. Dann stand er auf und redete den ganzen Weg zurück nicht mehr mit mir. Die nächsten Wochen wurden die Hölle. Ich sah ihn kaum. Und wenn, war sie bei ihm. Damals war es mir noch nicht bewußt, daß ihre immerwährende Freundlichkeit, mit der sie mir begegnete, kaltem Kalkül entsprang. So lähmte sie mich regelrecht. Eines Tages nahm sie mich beiseite, ohne daß Vater in der Nähe war, und sagte: »Ich weiß, was in dir vorgeht. Pierre hat mit mir darüber gesprochen. Es tut ihm weh, wie du dich seinem Glück versperrst. Er wäre der glücklichste Mensch, wenn auch du glücklich wärst …« Das Parfüm, mit dem sie sich umgab, war ein anderes als bei unserer ersten Begegnung – zumindest kam es mir so vor. Es erinnerte nicht mehr an eine Blumenwiese, sondern an die Dämpfe, die ich im
Geschäft eines Tierpräparators roch. Etwas, womit er die ausgestopften Vögel und anderes Getier behandelt hatte, um sie zu konservieren … In diesem Augenblick spürte ich zum erstenmal, in welcher Gefahr ich schwebte. Es war wie ein eisiger Hauch, der mich streifte, und während mich fröstelte, während sich mein ganzer Körper vom Kopf bis zu den Zehen in einer Gänsehaut kräuselte, glaubte ich zu erkennen, daß von meiner Antwort und Reaktion jetzt mein ganzes künftiges Schicksal abhing. Ob ich weiterleben durfte oder nicht … So verrückt es sich anhörte, so überzeugt war ich davon. Und mit einer Leichtigkeit, die mich selbst verblüffte, sagte ich: »Wenn es so ist, will ich ihm nicht im Wege stehen. Ich will nichts mehr, als daß er glücklich ist – dann bin ich es auch!« Das Lächeln um ihren Mund sah aus wie gemalt. Aber nicht wie ein Original, sondern wie eine Fälschung. »Schön. Das wird ihn freuen. Ich werde es ihm sagen – oder willst du es selbst tun?« Ich zuckte die Achseln. »Dann tue ich es«, rief sie. Und ließ mich auf dem Flur stehen. Das Stöhnen aus Chantalles Zimmer erschien mir plötzlich realer als alles, was ich um mich herum sehen oder anfassen konnte.
* Die folgende Zeit wurde die schlimmste meines bisherigen Lebens. Ich fing an, Vater etwas vorzuspielen, und verstieg mich so sehr darin, daß ich an manchen Tagen selbst meinte, alles wäre in Ordnung. Das Erwachen aus diesem Trug war jedesmal um so niederschmetternder. Im Haus ging alles seinen gewohnten Lauf, und seit ich vorgab,
mich mit Vaters Sinneswandel angefunden zu haben, nahm mich Lucrezia auch nie wieder beiseite. Während ich aber nach außen hin nun mit dem Erhalt eines falschen Idylls beschäftigt war, ging ich innerlich vor die Hunde. Ich verstand nicht, warum Vater mir das antat. Schlimmer: Ich traute auch ihm kaum noch über den Weg. Wann immer ich ihn traf, schien er mir im Geiste so unerreichbar, als hätte er das ferne Afrika bereits betreten und nur vergessen seinen Körper nachzuholen. Damals begann ich mich immer öfter draußen bei den Gassenkindern herumzutreiben. Es stimmte nicht, wie Vater über sie geurteilt hatte. Viele hatten einen guten Kern und waren durch pure Not auf die schiefe Bahn geraten. Sie lebten vom Stehlen, und einige prahlten auch damit, betrunkene Matrosen erst ausgeplündert und dann über den Kai ins Hafenbecken gestoßen zu haben. Was davon stimmte, wußte ich nicht. Ich schloß Freundschaft mit Aurel. Er war der Sohn eines italienischen Fischers, den es irgendwann hierher verschlagen hatte. Aurels Mutter war Französin gewesen, aber beide Eltern lebten nicht mehr. Ein Brand hatte ihre Hütte zerstört, und Aurel hatte nur überlebt, weil er die Nacht bei einem Freund verbracht hatte. Zu jener Zeit war er nur ein Jahr älter gewesen als ich heute, und jetzt war er acht. Anfangs sah es nicht aus, als könnten wir Freunde werden. Bei unserer ersten Begegnung wollte er mich verprügeln, aber als sich alle aus seiner Bande gegen mich wandten, nahm er mich plötzlich in Schutz gegen sie – er hat mir diesen jähen Sinneswandel nie erklärt. Aurel war hübsch (dasselbe behauptete er übrigens von mir). Seine lockigen Haare und die Augen waren von ein und demselben glänzenden Schwarz. Ich weiß, es ist kindisch, aber im Rückblick glaube ich, ich hatte mich damals ein wenig in ihn verliebt. Anders natürlich als ich es in späteren Jahren tat, aber möglicherweise nicht weniger stark.
Die anderen Jungen und Mädchen der Bande begannen bald über uns zu spotten. Aber wir ließen uns nicht beirren. Eines Tages schlenderten wir im Hafen, weil ein Schiff, das von weither zu kommen schien, Anker geworfen hatte. Wir sahen eine Schaluppe der Hafenwache hinüberrudern und dachten uns noch nichts Besonderes dabei. Aber dann sahen wir, wie die Wache, statt auf die Galeone zu klettern, unten im Boot blieb, und es kam zu einem lautstarken, fast halbstündigen Disput, der nicht zu verstehen war, aber hier drüben auf den Hafenmauern immer mehr Publikum versammelte. Schließlich nahm die Schaluppe wieder Kurs auf die Anlegestelle, und kurz darauf ging ein Stöhnen durch die Menge. Auf der Galeone war eine Flagge gehißt worden. »Was ist?« fragte ich Aurel. »Was haben die Leute?« Aurels Augen glommen. »Sie haben Angst.« »Angst?« »Dort drüben wurde die Quarantäneflagge gehißt!« Er erklärte mir, was es damit auf sich hatte, und danach wurde auch ich ganz verhalten vor Sorge. »Die Pest?« wiederholte ich seine letzten Worte. »Das oder eine andere ansteckende Krankheit«, sagte er. »Vielleicht ist es eine reine Vorsichtsmaßnahme …« »Das wollen wir hoffen.« Er gab mir ein Zeichen, und ich folgte ihm, ohne danach zu fragen, wohin es ihn drängte.
* »… wenn du mich fragst, wollen sie davon ablenken, daß eine Seuche sie erwischt hat, die bereits die Hälfte der Besatzung hinweggerafft hat. Die Geschichte ist doch nichts anderes als ein Ammenmärchen!« hörten wir einen der Männer nach ihrer Rückkehr ins Hafen-
kontor sagen. Aurel und ich hatten uns hinter das Gebäude geschlichen und eine Lücke in der Bretterwand gefunden. Durch sie waren wir unter den Dielenboden gelangt, und hier unten, wo es nach Kot roch, hörten wir, was die Angestellten des Kontors weiter beredeten. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. »Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte ein anderer düster. »Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde als …« »Berichtet noch einmal der Reihe nach, was ihr erfahren habt«, fuhr eine sehr energische Stimme dazwischen. Eine Weile herrschte Stille, als würde man sich nicht einig, wer dem Befehl folgen sollte. Dann sagte derjenige, den wir zuerst gehört hatten: »Die Galeone lief vor acht Wochen mit Kurs auf die Kapverdischen Inseln hier in Marseille aus. Man hatte Gewürze an Bord und kam ohne besondere Vorkommnisse, bei günstigen Winden, schnell ans Ziel. Dort wurde die Ladung bei den Portugiesen gegen Bananen und Zuckerrohr eingetauscht, und man machte sich auf die Rückreise, während der das Unheil seinen Lauf nahm. Eines Tages ging einer der Matrosen trotz ruhiger See über Bord. Niemand sah, wie es dazu gekommen war, aber ein anderer Matrose beobachtete es, und sofort wurden Rettungsmaßnahmen eingeleitet. Als sich ein beherzter Mann mit einem Strick um die Brust selbst in die Wogen stürzte, bekam er den Verunglückten zu fassen, und beide wurden an Bord gezogen, bevor die Haie kamen. Dort aber konnte nur noch der Tod des Verunglückten festgestellt werden. Er war ertrunken, obwohl ihn jeder als geübten Schwimmer kannte. Manche, die ihn noch im Meer treibend beobachtet hatten, wollten bemerkt haben, daß er überhaupt keine Anstalten gemacht hatte, sein Ertrinken zu verhindern …« »Unsinn! Fakten … Beschränke dich auf die Fakten!«
Der andere Mann lachte verunsichert. »Ich wünschte, man hätte uns Fakten genannt. Aber alles weitere hört sich noch viel abstruser an …« Offenbar erhielt er ein Zeichen, trotzdem fortzufahren. Er schilderte mit schwankender Stimme: »Man bereitete den Toten für eine ordentliche Seebestattung vor. Der Segelmacher wurde angewiesen, ihn in ein Tuch einzunähen, und die Zeremonie für den nächsten Morgen anberaumt. Doch soweit kam es nicht. Am darauffolgenden Tag wurden der Segelmacher und der Leichnam vermißt. Obwohl man das Schiff nach ihnen auf den Kopf stellte, wurde keine Spur von ihnen gefunden – bis auf eine Blutlache dort, wo der Tote zuletzt gelegen hatte, auf Deck nahe der Reling. Und damit begann das unheimliche Sterben und Verschwinden an Bord. Beinahe jede Nacht wurde ein weiteres Mitglied der Besatzung vermißt – eines Tages sogar der Kapitän. Manchmal fand man ein paar Blutspuren, mehr aber auch nicht. Und das, obwohl die Wachen verdoppelt und nachts überall Lampen aufgestellt wurden. Gerade unter den Wachen kostete es die meisten Opfer. Am Ende war man soweit, daß man sich – trotz des Risikos, vom Kurs abgetrieben zu werden – nachts gemeinsam in einer der Mannschaftskajüten einschloß und bei Kerzenschein zusammen betete. Daraufhin verschwand tagelang niemand mehr. Die See war einigermaßen ruhig, so daß man das Ruder bei Einbruch der Dunkelheit vertäuen und darauf hoffen konnte, Marseille in spätestens einer Woche zu erreichen. Der wuchernde Aberglaube löste manchen Koller aus, aber letztlich siegte nach Tagen der Ruhe doch der Glaube, dem Klabautermann ein Schnippchen geschlagen zu haben. Doch die sechste Nacht, in der sie sich in eine der Kajüten zurückgezogen hatten, belehrte sie eines schlechteren. Gegen Morgen wurde urplötzlich die Luke aufgerissen, und eine brüllende Gestalt stürzte völlig von Sinnen zu ihnen herab. Den Männern gerann das
Blut in den Adern, als sie erkannten, wer sich vor ihren Augen auf den nächstbesten von ihnen stürzte und ihm mit den bloßen Zähnen die Kehle durchbiß: Es war jener Matrose, der zu Beginn der Rückreise von den Kapverden ertrunken an Bord zurückgeholt worden war – um sich dann scheinbar in Luft aufzulösen …!« »Wie können sie erwarten, daß wir ihnen so einen Unsinn abkaufen?« »Sie schwören, daß es die Wahrheit ist!« »Wenn keine Krankheit an Bord gewütet hat und noch wütet, will man womöglich eine Meuterei vertuschen! Ich werde eine Untersuchung veranlassen! – Wie will man überhaupt mit diesem lebenden Leichnam fertiggeworden sein? Kann man ihn uns zeigen?« »Nein. Einer der Matrosen behauptet, ihm mit einer Harpune durch den Rücken ins Herz gestoßen zu haben, woraufhin er …« »Woraufhin er?« »… zu Asche zerfiel.« »Asche.« »So wurde uns versichert …« »Na, großartig. Ich werde selbst hinüber rudern und aus ratsamer Distanz mit den Überlebenden sprechen. Niemand verläßt einstweilen das Schiff! Die Ärzte müssen informiert werden, ebenso der Rat der Stadt! Die Quarantäne wird frühestens nach der üblichen Inkubationszeit der uns bekannten Seuchen aufgehoben – und danach wird wegen Meuterei ermittelt! Unter keinen Umständen darf es dazu kommen, daß eine Krankheit in die Stadt eingeschleppt und verbreitet wird …!«
* »Was hältst du von dem, was sich an Bord abgespielt haben soll?« fragte ich Aurel, als wir unser Versteck verlassen hatten und wieder durch die Gassen stromerten.
»Es ist die Pest«, erwiderte er. »Bestimmt ist es die Pest … o Mann!« »Ist das eine schlimme Krankheit?« »Du bekommst überall Geschwüre und schwarze Beulen, spuckst Blut und fällst um!« »Das ist ja widerlich!« »Sag ich doch.« Nach einer Weile wollte ich wissen: »Wo liegen die Kapverden? In Afrika?« »Wieso in Afrika?« »Eines Tages will ich dorthin. Es soll schön sein … Und die Pest gibt es dort bestimmt nicht!« Er zuckte die Achseln. »Mag sein. Wie willst du dorthin kommen?« »Ich gehe mit meinem Vater.« Er verzog das Gesicht. »Wenn ich noch einen Vater hätte, würde er mich auch dorthin mitnehmen.« Ich berührte seine Hand, und wir blieben beide in der hastenden Menge stehen. »Du kannst mit uns kommen«, sagte ich. »Mein Vater hat bestimmt nichts dagegen …« Er setzte eine zweiflerische Miene auf. Dann rempelte ihn ein Hafenarbeiter an, und der Zauber des Moments verflog.
* Der Sommer verging wie im Fluge. Und obwohl Aurel und ich unzertrennlich waren, fehlte mir etwas. Vater fehlte mir. Ich war nur noch nachts Gast in der Matrosenabsteige über dem Wirtshaus, und obwohl es mir niemand erklärte – auch Aurel nicht, bei dem ich alles, was damit zu tun hatte, totschwieg – erfaßte ich mit kindlicher Intuition, was hier vorging.
Zumindest kratzte ich an der Oberfläche dieser Dinge. Das wahre Ausmaß jedoch blieb mir noch verschlossen. Die Galeone, auf der sich das Unheimliche abgespielt haben sollte, wurde irgendwann aus der Quarantäne entlassen, weil unter ärztlicher Aufsicht über Wochen kein Krankheitsfall innerhalb der übriggebliebenen Besatzung festgestellt werden konnte. Damit blieben zwei Möglichkeiten: Entweder war es zu einem bewaffneten Aufstand an Bord gekommen – oder die gruselige Geschichte stimmte. Lange Zeit blieb die LEVIATHAN, so der Name des Schiffes, in der Stadt Tagesgespräch. Doch irgendwann schwand ganz allmählich das Interesse, und auch Aurel und ich fanden neue Dinge, die uns brennender interessierten. Ich hätte viel für ein Mittel gegeben, das es geschafft hätte, mich schneller altern zu lassen, als die Natur es vorsah. Aurel behandelte mich zwar nie wie ein kleines Kind, dennoch konnte ich mir selbst gegenüber nicht verleugnen, daß ich eines war. Ein ganz kleines, von seinem Vater verlassenes Mädchen …
* Dann ließ mich auch noch Aurel in dem Winter, in dem ich fünf wurde, im Stich. Tage vorher war mir drastisch klargemacht worden, daß Vater völlig in Lucrezias Bann stand. Und daß es nie wieder zwischen uns sein würde wie zu Zeiten unserer Wanderschaft – oder in den Nächten, da wir unter den Sternen und beschirmt vom Dach des Waldes eine beispiellose Vertrautheit zueinander aufgebaut hatten. All dies zerrann nun wie trockener feiner Sand unaufhaltsam zwischen den Fingern. Als ich abends in meine Kammer hatte gehen wollen, sah ich Vater auf dem Flur.
Er hörte mich und drehte sich um. Offenbar hatte er nicht mich erwartet, denn er wirkte fürchterlich erschrocken. Und ich erschrak auch. Über sein Aussehen! Erst jetzt wurde mir bewußt, wie lange ich ihn nicht mehr gesehen hatte. Er war völlig abgemagert. Die Augen lagen tief in den Höhlen, auch die Wangen waren eingefallen. Die Knochen des Gesichts wurden von fahler, wächserner Haut überspannt. Seine Lippen waren nur noch dünne Striche. Ich mußte leise aufgeschrien haben, denn er zuckte abermals zusammen und wankte dann zögernd auf mich zu, öffnete den Mund, um etwas zu sagen. In diesem Augenblick kam sie aus ihrem Zimmer, faßte ihn am Arm und lenkte ihn dorthin, wo er seine meiste Zeit verbrachte: in Lucrezias Reich. Ich wollte etwas rufen, streckte den Arm aus … In diesem Augenblick drehte mir Lucrezia das Gesicht über die Schulter zu – und all meine Vorsätze erstickten unter ihrem gnadenlos kalten Blick. Fröstelnd wandte ich mich ab, betrat meine Kammer, wie sie ihr Zimmer betraten. In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Ich dachte über alles nach. Jedenfalls über das Wichtigste. Und ich gelangte zu dem Schluß, daß ich keinen Tag länger in diesem Haus bleiben wollte. Natürlich sann ich anfangs nach Wegen, wie ich Vater aus dem Bann dieser schrecklichen Frau befreien könnte. Doch nachdem ich mich eine Weile in einen Plan hineingesponnen hatte, erwachte ich jedesmal mit der ernüchternden Einsicht, daß er nicht durchzuführen war. Ich hatte es zu oft erlebt: Vater war Lucrezia verfallen, war ihr hö-
rig – und nach dem heute aufgefangenen Blick wußte ich, was ich zu erwarten hatte, wenn ich auch nur den Versuch unternahm, ihr Vater abspenstig zu machen. Sie war zu allem fähig … Ich nicht. Ich fühlte mich matt und kraftlos, als ich am Morgen so tat, als verließe ich das Haus wie jeden Tag – als wäre ich nicht fest entschlossen, nie mehr wiederzukommen. So schnell ich konnte, rannte ich zu Aurels Unterschlupf, einem Schuppen am Hafen, wo sich auch andere Kinder verkrochen. Ruhig hörte er sich meine Erklärung an, mit der ich ihm beibrachte, daß ich von heute an bei ihm leben wollte. Nach all den Enttäuschungen machte ich mich auf Ablehnung gefaßt. Aber er war so lieb, so einfühlsam, nahm mich in den Arm und stellte keine Fragen, woher dieser plötzliche Entschluß rührte. Er meinte nur: »Dann werden wohl nur wir beide nach Afrika gehen – du und ich. Das könnte mir gefallen …« Und dann sagte er noch etwas, was Tage später eine makabre Bedeutung erhalten sollte – nur konnten weder er noch ich das in diesem Moment ahnen: »Sieht aus, als müßte ich nun für uns beide sorgen – na, es wird schon gelingen …« »Ich habe etwas Geld«, sagte ich. Und er lächelte: »Das werden wir für unsere Reise aufheben, du weißt schon …« Wenn ich gewußt hätte, wie bald er tot sein würde. Wenn ich es nur geahnt hätte …
* 13. Januar 1516 Es schneite, aber es war kein richtiger Schnee, nur nasse Pampe, die
ins Schuhwerk drang, die Füße wie mit Eis ummantelte und seine Kälte in jeden Winkel des Körpers ausstrahlte. Die Menschen waren noch mürrischer als sonst. Seit Tagen ließ sich die Sonne nicht blicken. Der Himmel lag so tief, als versuchte er den Boden zu berühren. Ich hatte Halsweh und Schnupfen, wohl auch ein wenig Fieber, und Aurel war unterwegs, um mir eine Arznei zu besorgen. Mir war schwindelig, aber im Sitzen ging es, und so hockte ich vor einem Loch in der Verbreiterung des Hafenschuppens und starrte aufs Meer hinaus. Die Sicht war schlecht. Auch hier verhinderte ein nebliger Vorhang, daß man die Schiffe, die draußen ankerten, sehen konnte. Von manchen erkannte ich vage Umrisse, von anderen nichts oder nur die verschwommenen Flecke ihrer Positionslichter. Ich saß einfach da und ließ meine Gedanken treiben. In der letzten Nacht hatte ich vom Tod geträumt. Von meinem Tod, wie ich glaubte. Ich war wach geworden, und urplötzlich war ich mir bewußt geworden, daß jedes Leben früher oder später vorüberging. Und dann hatte ich zu ergründen versucht, wie es wohl sein mochte, zu sterben. Wenn das Herz aufhörte zu schlagen und der Atem stockte. Wenn die Finsternis kam … Irgendwie war ein tiefe Traurigkeit über mich gekommen. Angst nicht. Nur Ohnmacht, Hilflosigkeit. Im Leben konnte man gegen vieles ankämpfen – aber gegen den Tod nicht. Wie seltsam … Plötzlich ging die Tür des Schuppens auf, und Jeanne, ein älteres Mädchen, das nur noch ein Auge und an einer Hand nur zwei Finger hatte, stürmte herein. Ich hatte nicht viel mit ihr zu tun, aber jetzt rief sie: »Komm schnell! Schnell! Aurel …« Ich wußte sofort, daß etwas Schreckliches geschehen war. Ich las
es in Jeannes Gesicht, deren blindes Auge mir bis in den Grund meiner Seele zu starren schien. »Ich komme …«, sagte ich. Der Schwindel in meinem Kopf zählte nicht mehr. Ich schlüpfte nicht einmal in meine Schuhe, die ich ausgezogen hatte. Ich rannte einfach hinter ihr her. Stadteinwärts. Eine Menge Leute hatten sich vor der Apotheke versammelt. Von den Kindern aus Aurels Bande sah ich keines. Nur Jeanne, die plötzlich kehrt machte und davonlief. Ich glaube, sie weinte. Ich hatte sie nie vorher weinen sehen. Langsam ging ich näher. Meine Beine schienen mit Blei ausgegossen zu sein. Ich weiß nicht mehr, wie ich mir einen Weg durch die Leiber bahnte. Aber plötzlich war vor mir eine Lücke, und dort auf dem Boden lag … »Kennt ihn jemand?« rief eine Männerstimme fast ohne Gefühl, als ginge es nur darum, einen Namen für eine Grabesinschrift zu erhalten – dabei war klar, daß Aurel nie ein Kreuz erhalten würde. »Ich! Ich kenne ihn …!« Alle Augen richteten sich auf mich. Es war mir egal. Ich hatte nur Augen für ihn. Er lebte ja noch! Ich sah doch, daß seine Lippen und seine Lider zuckten – aber ich sah auch das Blut. Seine ganze Kleidung war vor der Brust dunkel durchnäßt, Wams und Hemd durchstochen. Es spielte keine Rolle, was sie dachten, als ich neben ihm kniete und seine Hand in meine Hände nahm und dabei das Gefühl hatte, die Kälte, die bereits Besitz von ihm genommen hatte, griffe nun auch nach mir, wollte auch mich mitreißen ins ewige Dunkel … Ich hörte nicht, was um mich herum gesagt, geflüstert oder gestikuliert wurde. Aurel öffnete die Augen. Er mußte mich gespürt haben.
»Ich bin … so froh …«, krächzte er heiser. Froh? »Dich noch einmal … zu sehen …« Ich hörte auf, ihn zu sehen. Immer mehr Tränen drängten sich zwischen ihn und mich. Und als ich sie endlich wegwischte, war er tot, ein gefrorenes Lächeln wie eine Eisblume auf den Lippen. »Da kommt endlich jemand …« Der Ruf riß mich in die Wirklichkeit zurück. Ich stand auf. »Wer hat das getan – und warum?« Ich klang so beherrscht, aber in Wirklichkeit wäre ich in der Lage gewesen, einen Mord zu begehen. Derbe Hände packten mich am Arm. Jemand rief: »Gehört sie dazu? Ist sie seine Komplizin?« Neben mir war ein Büttel, vor mir trat der Apotheker aus der Tür seines Ladens. Er hielt noch in der Hand, was Aurel getötet hatte. Als sich unsere Blicke begegneten, errötete er, wich mir aus und sagte zu dem Polizisten: »Nein. Er war allein. Laßt sie gehen …« Die Hand an meinem Arm zögerte, dann gab sie mich frei. Ich wurde weggestoßen. Einige aus der Menge äußerten Unmut darüber, daß man mich gehen lassen wollte. Aber der Apotheker lenkte alle Aufmerksamkeit auf sich, indem er laut schilderte, was geschehen war. Während ich einen Fuß vor den anderen setzte, hörte ich genug, um zu begreifen, daß Aurel versucht hatte, die Kasse zu stehlen. Warum? Zum Teufel, warum? Da fiel mir ein Satz von ihm ein, an dem Tag gesprochen, da ich meinen Vater verließ: »Sieht ans, als müßte ich nun für uns beide sorgen – na, es wird schon gelingen …« Warum hatte ich es ihm nicht ausgeredet? Warum hatte ich nicht erkannt, wie er dieses Versprechen meinte?
Jetzt war es zu spät. Nichts würde ihn wieder lebendig machen. Nichts.
* »Sieh an, unsere Ausreißerin! War es draußen doch etwas zu ungemütlich? Hat dir unsere Gesellschaft vielleicht doch gefehlt, ebenso wie dein warmer Platz zum Schlafen und das gute Essen …?« Marie grinste hinterhältig, der Kerl neben ihr schäbig. Ich sah es beiden nach. Ohne ein Wort zu erwidern ging ich in die Kammer, die noch so aussah, wie ich sie verlassen hatte. Die Zeit schien hier stillgestanden zu haben. Ich war immer noch barfuß, aber ich machte mir keine Gedanken wegen der Kälte oder des Drecks an meinen Füßen. Rücklings legte ich mich auf das schmale Bett, griff in meine Hosentasche und tat, was ich für richtig hielt. Je mehr Blut aus meinen Handgelenken lief, desto befreiter von aller Last fühlte ich mich. Wenn man dazu bereit war, war das Sterben leicht. Kinderleicht …
* Da war ein Licht am Ende des Tunnels. Langsam, Zoll für Zoll, trieb ich ihm entgegen. In mir war vollkommene, jeder Last entledigte Leere, und dies war nach all den Erfahrungen, die ich zu Lebzeiten hatte machen müssen, eine wahre Wohltat. Hätte ich gewußt, daß Sterben, daß der Tod so beschaffen ist, hätte ich alles versucht, Vater mit auf diese Reise zu nehmen. Er hätte auch Ruhe verdient gehabt …
Plötzlich war ich sicher, Aurel wiederzufinden. Irgendwo dort, wo die Schwärze endete und wohin ich mich wie durch einen engen Schacht auf einen Ort von strahlender Helligkeit zubewegte … Ich fühlte meinen Körper nicht mehr. Weder Kälte noch Hitze konnten mir etwas anhaben. Ich war beschränkt auf meine bloßen Gedanken, die nicht mehr vergiftet waren von Trauer, Selbstmitleid oder Haß anderen gegenüber. Ich bedauerte nicht, es getan zu haben. Selbst die Schnitte in beide Pulsadern waren nur noch abstrakte Bestandteile meiner Erinnerung. Ich trieb … wie auf einem weiten Meer. Vielleicht würde am Ende des Tunnels etwas ähnliches wie Afrika liegen. Ein Ort des Friedens und der Sorglosigkeit. Des ewigen Zusammenseins mit freundlichen Geistern. Aurel … Mutter … Plötzlich ging alles ganz schnell. Ich fühlte den Sog. Der mich in die andere Richtung zerrte! Fort vom Licht! Ich stürzte rückwärts in die Finsternis, und es kam mir vor, als fiele ich geradewegs von einer Himmelsleiter hinab zur Hölle! Ich hörte einen Schrei. Einen schrecklichen Schrei. Er kam aus meinem Mund, über mir, nah über meinen Augen, tauchte wieder ein Licht auf, anders, armselig gegenüber dem, das ich zuvor gesehen hatte und dem ich überall hin gefolgt wäre. Bis ans Ende der Ewigkeit. Dieses hier rührte von einer hin und her schaukelnden Laterne, und daneben schwebte ein bartloses Gesicht. Vater …?
* Ich hatte keine Schmerzen, gar keine, und nicht nur deshalb fiel es
schwer zu glauben, daß ich lebte. Aber der Ort, an dem ich das Bewußtsein wiedererlangte, war einfach zu gewöhnlich, um zu einem jenseitigen Reich zu gehören. Und Vater … »Wo – sind wir?« Meine Stimme klang eingerostet. Ich erschrak über das Gekrächze, das meinem Mund entwich. Zuerst glaubte ich auch, mir wäre immer noch schwindelig, weil ich das Gefühl hatte, hin und her bewegt zu werden. Doch nicht zuletzt an der Lampe über meinem Kopf wurde deutlich, daß das Schaukeln real war. »Auf einem Schiff«, sagte Vater. »Auf … einem … Schiff?« Er nickte. Die Rasur enthüllte den Umfang seines körperlichen Verfalls noch gnadenloser als bei unserer letzten Begegnung. Wie mager und mitgenommen er aussah … … aber ich konnte mir denken, daß ich kein sehr viel besseres Bild abgab. Mein Blick suchte die Handgelenke, aber sie lagen unter einer Decke, die mir bis zum Hals hinaufreichte. »Ich dachte, du würdest sterben«, sagte Vater dumpf. Er war meinem Blick gefolgt und wußte, woran ich dachte. »Ich auch«, sagte ich leise. »Aber … warum?« »Du weißt es.« Eine Weile verlor sich ein Blick in Fernen, die ich fürchten gelernt hatte. Dann nahm er mich wieder wahr, und er sagte: »Ja, ich weiß es.« Ich versuchte den Kopf zu heben, aber das ließ er nicht zu. Sanft drückte er mich wieder zurück auf das Bündel Decken. Zum erstenmal nahm ich das Gemisch aus salzigen Gerüchen und
Moder wahr, das in der Luft hing. »Ich verstehe es immer noch nicht … Wie – kommen wir hierher? Und … wohin gehen wir?« Seine Augen funkelten fast wie in alten Tagen. »Über das Wohin reden wir später … Wichtig ist nur, daß wir ihr entkommen sind. Sie wäre unser beider Untergang geworden.« »Lucrezia?« »Ja, Lucrezia!« Er zerbiß den Namen zwischen den Zähnen. »Aber darüber reden wir, wenn du dich erholt hast. Du hast lange geschlafen. Sehr, sehr lange …« »Wie lange?« »Vier Tage. Ich habe dir immer wieder etwas eingeflößt. Du hast es brav geschluckt, sonst gäbe es dich wahrscheinlich nicht mehr. Aber einmal meinte ich, du würdest daran ersticken …« Er schloß kurz die Augen, wodurch sein Gesicht noch größere Ähnlichkeit mit dem eines aufgebahrten Toten erlangte. »Vier …?« setzte ich an, verstummte dann aber. Ich hatte keinen Grund, es nicht zu glauben. Er sah mich wieder an. »Ich will sehen, daß ich eine Brühe für dich auftreibe. Ich rede mit dem Mann in der Kombüse …« Ich sah ihm nach, als er davonging. Er versuchte seine Schwäche zu verbergen. Aber es war unübersehbar, wie sehr er sich zwingen mußte, sich aufrecht den Weg zwischen Fässern und zusammengerollten Tauen zu bahnen. Tränen liefen über mein Gesicht. In diesem Moment glaubte ich, es wäre besser gewesen, wenn ich das Ende des Tunnels hätte erreichen dürfen. Ich zog die Hände unter der Decke hervor und betrachtete die Verbände. Dort, wo sich die Schnitte verbargen, waren sie dunkel verfärbt. Es fiel schwer, dem Wunsch zu widerstehen, die kaum verheilten Wunden neu aufbrechen zu lassen.
Aber irgendwo in mir glomm ein winziger Funke Hoffnung, den ich mir von meiner Reise durch den Tunnel bewahrt hatte. Ich hatte Aurel verloren, aber vielleicht dafür Vater wiedergewonnen – auch wenn er mir die Erklärung, wie es zu dieser unerwarteten Wendung hatte kommen können, noch schuldete …
* 22. Januar 1516 – der 8. Tag auf See Heute verließ ich zum erstenmal mein Lager und stieg mit Vaters Hilfe an Deck der holländischen Karavelle. Es war Nacht, und irgendwie fühlte ich mich zurückversetzt in die Zeit, als ich nur nachts hatte draußen sein dürfen. Die Sichel des Mondes hing am Himmel. Atemfahnen lösten sich von unseren Mündern. Es war kalt, aber erträglich, weil beinahe windstill. Das Schiff hatte kaum Fahrt, seine Segel hingen schlaff an den Rahen. »Eine vorübergehende Flaute, sagt der Kapitän.« Aus Vaters Worten war das Bemühen herauszuhören, mich zu beruhigen. Dabei war ich gar nicht in Sorge. Das Firmament funkelte, als hätte jemand einen Beutel voller Edelsteine auf ein Polster aus schwarzem Samt geschüttet. Als wäre dort oben unten und hier unten oben … Verrückt. »Ist es nicht schön?« fragte Vater. »Wunderschön«, sagte ich, denn in dieser Schärfe und Gewaltigkeit hatte ich das Gewölbe des Himmels noch nie erlebt. »Ob dort oben wirklich Gott wohnt?« »Gott? Nein. Bestimmt nicht …« Ich zuckte zusammen, denn da war sie wieder: die Verlorenheit, die Verzweiflung, von der ich gehofft hatte, Vater hätte sie endlich
überwunden – so wie ich allmählich von den Gedanken ans Sterbenwollen loskam. Aber Vaters Gram wurzelte offenbar sehr viel tiefer, und seine dumpfe Verbitterung hatte er in den vergangenen Tagen unter Deck nur vor mir versteckt gehalten; verborgen unter einer zum Zerreißen gespannten, hauchdünnen Haut. Ich überlegte, ob ich ihm von den Empfindungen berichten sollte, die ich während meiner viertägigen Ohnmacht gehabt hatte. Diese absolute Friede, dieses Licht … Es mußte etwas mit dem zu tun haben, den sie Gott nannten! Womit sonst …? Aber er lenkte das Gespräch auf etwas anderes, und ich schluckte den Köder. »Dieses Schiff«, sagte er, »bringt uns nach Afrika. Nach Tunis.« Tunis. Das klang fremd, aber auch faszinierend. Ich stützte mich mit den Händen auf die hölzerne Reling. Das Schiff ächzte und stöhnte in jeder seiner Verstrebungen, obwohl kaum ein Lüftchen wehte. Alles war in Bewegung, alles war im Fluß … »Wie ist Tunis?« »Es ist eine andere Welt. Wir können dort ganz von vorn anfangen.« Das Unterschwellige, das in seiner Stimme mitschwang, wollte ich nicht hören. Ich wollte an unsere Zukunft glauben … »Wie – hast du den Kapitän dazu gebracht, uns mitzunehmen?« »Ich habe ihn fürstlich bezahlt.« »Woher hattest du soviel Geld?« »Von ihr.« »Sie hat es dir einfach so gegeben?« »Sie brauchte es nicht mehr.« »Warum nicht?« »Weil sie tot ist.« Vater hieb mit den Handballen auf die Reling,
und sein Atem wurde schneller. »Tot!« »Aber –« »Genug! Sie kann uns nicht mehr schaden. Keinem von uns beiden! Und wir brauchen auch keine Angst vor Verfolgung zu haben! Es ist alles in Ordnung. Alles.« »Vater!« Sein Kopf ruckte herum – nicht in meine Richtung, sondern zu dem erhöhten vorderen Kastell, auf dem der Steuermann hinter seinem Ruder stand. Er konnte uns nicht gehört haben, dafür hatten wir zu leise gesprochen. Doch sein Anblick schien Vater zu sich kommen zu lassen. »Es ist alles gut, wirklich«, sagte er in wieder beherrschtem Ton. »Das Geld war sie mir schuldig. Es ist nicht so, als wenn ich es gestohlen hätte. Laß uns nicht mehr davon reden …« Als ob das so einfach wäre. Wir konnten schweigen, ja, aber die Gedanken daran waren nicht so einfach abzustellen.
* 24. Januar – der 10. Tag auf See Nach der Flaute kam ein Sturm, der uns, so stand zu befürchten, weit vom Kurs abbringen und unsere Reisedauer unabsehbar verlängern würde. Vater und ich waren unter Deck. Ich hörte ihn öfter fluchen, und manchmal entschlüpfte ihm eine Bemerkung wie: »Es geht nicht! Das darf nicht geschehen! Er hat mir zugesichert, daß die Überfahrt nicht länger …« Meistens verstummte er plötzlich wieder, als würde ihm meine Anwesenheit im letzten Moment bewußt und als fühlte er sich bei etwas ertappt, was nicht für meine Ohren bestimmt war.
Alles Nachfragen, was ihn denn so nervös machte, nützten nichts. Er schob es auf den Sturm, der immer wieder hohe Wellen gegen die Karavelle warf, daß wahre Sturzbäche von Wasser in den Schiffsbauch geschwemmt wurden. Wir hatten uns auf gut vertäute Frachtstücke gerettet und dort mit Seilen angebunden. Die komplette Mannschaft, fünfundzwanzig Matrosen, die Offiziere und der Kapitän eingerechnet, befand sich an Deck oder in den Rahen, um den orkanartigen Winden zu trotzen. Vielleicht war der Lärm hier unten noch ohrenbetäubender als oben. Die Geräusche von allem, was uns die entfesselte Natur entgegenwarf, schienen sich in dem mächtigen hölzernen Schiffsrumpf zu stauen. Ich betete im stillen. Nicht nur für Vater und mich, sondern für jede Seele an Bord. Vielleicht half es, denn obwohl das Unwetter sich bis zum nächsten Morgen fortsetzte, war am Ende kein Menschenleben zu beklagen, und bei Tagesanbruch fanden wir uns in der zwar aufgewühlten, aber wieder beherrschbar gewordenen hohen See wieder. Vater eilte sogleich zum Kapitän. Als wir uns wiedertrafen, war er kreidebleich. »Was hast du?« »Es wirft alle meine Pläne um«, sagte er. »Wir werden noch mindestens eine Woche brauchen, ehe wir Tunis erreichen – und das auch nur, falls uns nicht noch ein Sturm ein weiteres Mal zurückwirft!« »Na und? Wichtig ist doch nur, daß wir leben, daß das Schiff in Ordnung ist. Auf ein paar Tage mehr oder weniger kommt es doch nicht an. Was sollte uns davonlaufen? Oder werden wir erwartet?« »Erwartet?« Seine Augen flackerten. »Nein, natürlich nicht. Wer sollte uns erwarten?« Er ließ mich stehen und stieg wieder das Kastell hinauf, wo der
Kapitän und seine Offiziere standen. Vater redete auf die Versammelten ein, bis sie ihn offenbar nicht gerade freundlich und mit Nachdruck fortschickten. Ich konnte sie verstehen. Ihn nicht. Was war nun schon wieder in ihn gefahren? Warum führte er sich so auf? Was hatte Lucrezia mit ihm angestellt? Manchmal kam es mir vor, als hätte sie Schlimmes mit seinem Geist getan. Mit seinem Ich … Aber darüber redete er so wenig wie über die Umstände, unter denen sie gestorben war. Die vier Tage zwischen meinem Einschlafen und dem Erwachen auf dem Schiff waren und blieben eine dunkle Leere, die nur Vater mit Wahrheit hätte füllen können. Und das würde er nicht tun. Zumindest sah es nicht danach aus.
* 31. Januar 1516 – der 17. Tag auf See Der holländische Kapitän der Karavelle hieß van Vindt. Ich hatte noch nie ein Wort mit ihm gewechselt, aber heute kam er auf mich zu, als ich frische Luft an Deck schnappte. »Wo ist dein Vater?« Er beherrschte meine Sprache redlich. »Unten«, sagte ich verschüchtert, denn der hagere Mann mit dem wind- und wettergegerbten, von Furchen durchzogenen Gesicht flößte mir gehörigen Respekt ein. »Ich habe ihn seit Tagen nicht mehr gesehen.« »Es geht ihm nicht gut.«
»Was fehlt ihm? Er sah schon schlecht aus, als er an Bord kam …« In diesem Moment begriff ich, worum er sich Sorgen machte. »Nein«, beruhigte ich ihn. »Es ist keine ansteckende Krankheit!« »Wenn du es sagst …« Er blickte an mir vorbei in die Richtung, in der offenbar alle bald Land auftauchen zu sehen erwarteten. Die tunesische Küste. Aber es stellte sich heraus, daß sich van Vindt mehr für die Wolken interessierte, die eine auffällige Rötung aufwiesen. »Das gefällt mir nicht. Übermorgen müßten wir Tunis erreichen – aber wenn uns noch einmal eine Schlechtwetterfront erwischt, kostet uns das weitere Tage …« Entmutigt sah ich zu ihm auf. »Können wir nichts tun, um den Hafen vor dem Schlechtwetter zu erreichen?« Er lachte zynisch. »Du kannst dich oben aufs Kastell stellen und kräftig in die Segel pusten – vielleicht hilft es. Du und dein Vater habt ja keine Ahnung. Dabei solltet ihr froh sein, wenn wir mit einiger Verspätung davonkommen. Jetzt, im Winter, sind wir wenigstens einigermaßen sicher vor Piraten. Die hocken jetzt alle in ihren Schlupfwinkeln und warten auf den Frühling!« »Piraten?« »Nie davon gehört, wie?« »Doch, aber ich wußte nicht –« »Kleines, wir schippern direkt vor ihren Nasen herum! Algier ist von Tunis nur einen Katzensprung entfernt, und Algerien ist ein einziges dreckiges Seeräubernest!« Mit diesen Worten stapfte er davon. Ich kehrte wenig später unter Deck zurück. »Ich habe alles gehört«, sagte Vater aus dem Dunkel heraus. »Noch eine Verzögerung ertrage ich nicht. Ich kann nicht mehr. Ich halte es keinen Tag mehr länger aus …!«
*
Als es dunkel wurde, verließ Vater erstmals seit langem wieder den Bauch des Schiffes. Mit heiserer Stimme sagte er, er müsse noch einmal mit dem Kapitän sprechen. Unbedingt. Und dann drückte er mich und streichelte durch meine Haare, wie er es lange nicht mehr getan hatte. »Es wird alles gut«, flüsterte er. »Du wirst sehen, daß ich recht hatte mit Afrika. Du wirst es sehen …!« Ich unternahm nichts, ihn davon abzuhalten, obwohl ich wußte, wie sinnlos es war, die Reisezeit mit Diskussionen abkürzen zu wollen. Lieber versuchte ich, etwas Gutes darin zu sehen, daß Vater aufgehört hatte, sich hier unten selbst einzukerkern, als hätte er bereits mit sich und der Welt abgeschlossen. Er blieb lange weg. Als es mir zu einsam unter Deck wurde, kletterte ich nach oben und schlenderte in Richtung der Kapitänskajüte. Einer der Matrosen, der auch ein paar Brocken Französisch beherrschte und auf einer Bank vor der Tür saß, sagte, ohne das Tau, in das er kunstvolle Knoten flocht, aus der Hand zu nehmen: »Wenn du deinen Vater suchst … Der ist gerade da hinüber gegangen …« Und mit der Hand zeigte er zum entgegengesetzten Schiffsende. Ich bedankte mich und schlug die angegebene Richtung ein. Es war kalt und böig, aber das befürchtete Ausmaß erneuten Schlechtwetters schien auszubleiben. Die Wolkenfront am Himmel riß für Sekunden auf, und der runde Mond ergoß sein silbriges Licht über Schiff und Wasser. Vor mir, an Steuerbord, sah ich die Silhouetten zweier Gestalten. Dann schloß sich die Lücke am Himmel auch schon wieder, und windige Schwärze umgab mich aufs Neue. Die über mir am Mast schaukelnde Laterne erhellte kaum die Nacht. Ich wollte nach Vater rufen – aber in diesem Moment wurde
mein Leben endgültig zerstört. Ich hörte einen furchtbaren Schrei aus der Richtung, in die ich blickte. Es gab keinen Zweifel, daß es Vater war, der dort in höchster Not brüllte. Sofort fing ich an zu rennen. Vor mir war schattenhafte Bewegung. Und dann sah ich nur noch, wie ein Ungeheuer ihn über die Reling wuchtete und in die tosende See kippen ließ! Orientierungslos vor Entsetzen prallte ich irgendwo mit dem Kopf dagegen, und mein Bewußtsein zerstob in einem schwarzen Blitz.
* Als ich zu mir kam, war es, als erwachte ich auf einem Geisterschiff. Bis auf das Knarren der zur Hälfte gerefften Segel und das übliche Knacken in den Planken war nur noch das Meer selbst zu hören. Das Schiff schaukelte führungslos auf den Wellen. Der Wind war abgeschwächt, sonst hätte die Tatsache, daß niemand am Ruder stand, vielleicht schon die Katastrophe herbeigeführt … Es war immer noch Nacht, aber der Mond hatte sich durchgesetzt. Er streute sein fahles, silbriges Licht auf mich und meine Umgebung herab, und ich brauchte eine ganze Weile, bis ich mich erinnerte, warum ich das Bewußtsein verloren hatte – und wovon ich unmittelbar davor Zeugin geworden war … Plötzlich begann ich am ganzen Leib wie Espenlaub zu zittern. Ich wollte den Druck der Spannung, die sprunghaft in mir anstieg, durch einen Schrei lindern. Ein Ventil schaffen. Aber dann wurde mir klar, daß die Stille und die Verlassenheit um mich herum einen Grund haben mußten. Was war geschehen? Vater war tot!
Ein Ungeheuer, wie ich es mir in den schlimmsten Träumen nicht auszumalen vermocht hätte (damals noch nicht), hatte ihn einfach ins Meer geworfen! Ein schrecklich behaartes Monster, das ich im ersten Moment für einen Menschen gehalten hatte. Aber die Umrisse seines Kopfes hatten eher zu einem zähnefletschenden Hund – oder zu einem Wolf gepaßt. Und seine Hände … Plötzlich erinnerte ich mich, was Vater mir bei unserer Ankunft in Marseille offenbart hatte – bevor er in Lucrezias Bann geraten war. Er hatte von seiner Befürchtung erzählt, Lecocks Vieh könnte von demselben Wolf zerrissen worden sein, der auch schon in Perpignan sein Unwesen trieb – und dort Mutter tötete. Mutter … Nie hatte er mir Näheres über die Umstände ihres Todes verraten. Es war auch kaum denkbar, daß uns ihr vierbeiniger Mörder zum Hof des Bauern Lecock und anschließend weiter nach Marseille gefolgt war, dort lange, lange abgewartet und sich schließlich mit an Bord der Karavelle geschlichen hatte … Nein, das war schlicht unmöglich! So sehr ich mir dies auch einreden wollte, es fand keinen großen Nachhall in mir. Es war ja kein Wolf gewesen, der Vater umgebracht hatte – es war etwas vollkommen Absonderliches, auf zwei Beinen Stehendes und nur in Details wölfisch Wirkendes gewesen! Und dieser Monstrosität, von deren Existenz mir niemand je berichtet hatte, traute ich manches zu … … auch daß sie immer noch an Bord war. Irgendwo auf oder unter Deck. Irgendwo auf der Suche nach weiteren Opfern, die es … Ein Geräusch unmittelbar hinter mir zerschnitt den Gedankenfluß. Und dann berührte es mich –
* Ich wirbelte herum. Der Schrei, der aus meiner Kehle drängte, wurde von einer fleischigen Hand, die sich mir auf den Mund preßte, erstickt. Ich erschrak mich fast zu Tode. Bis ich Gijsbrecht, den Smutje, erkannte, der mich nach meinem Erwachen aus der Ohnmacht mit kräftiger Brühe, Suppe und frischem Obst wieder aufgepäppelt hatte. Obwohl Gijsbrecht ein wortkarger Mann und viel älter als Vater war, hatte ich einige Zuneigung für ihn entwickelt. Wenn er redete, beherrschte er Französisch wie seine Muttersprache. Und jetzt raunte er mir zu: »Still! Irgendwo hier ist es …« Es erübrigte sich nachzufragen, wovon er sprach. Ich nickte, und er löste die Hand von meinen Lippen. Im Mondenschein sah ich, daß er ein gewaltiges Kombüsenmesser umklammert hielt. »Zum Kastell!« flüsterte er weiter. »Lauf vor mir her …« Ich gehorchte stumm. Entsetzen und Angst in einer nie erlebten Dimension lähmten meine Zunge. Vor uns lag quer über den Boden ein Hindernis. Wir konnten es nicht umgehen. Es hätte zuviel Zeit gekostet. »Sieh nicht hin«, wisperte Gijsbrecht. Er steckte das Messer in den Gürtel, um mich unter den Achseln fassen zu können, und hob mich über den Toten hinweg. Ich hatte natürlich längst gesehen, daß es ein übel zugerichteter Matrose war, dessen Kopf nur noch vom Rückenwirbel gehalten, unmöglich verdreht und wie eingeklemmt unter einem seiner Arme lag. Nur eine durch und durch blutrünstige, gewissenlose Bestie konnte so etwas anrichten. Es erinnerte beklemmend an den Schafskopf, mit dem Lecock damals in der Luft herumgefuchtelt hatte …
Als ich ein tiefes Knurren hörte und einen Luftzug spürte, mit dem etwas hinter mir auf die Planken des Schiffes prallte, blickte ich reflexartig über die Schulter und sah gerade noch, wie Gijsbrecht mit zu Boden gerissen wurde. Sein Schrei verendete in einem gurgelnden Röcheln, als befände sich sein Mund unter Wasser. Ich hörte ihn noch stöhnen: »Lauf!« – dann folgte ein unmenschliches Gebrüll und Fauchen, und ohne noch einmal hinter mich zu blicken, rannte ich auf das Kastell zu, dessen Tür sich unmittelbar vor mir bereits öffnete, während meine Gedanken noch um die Frage kreisten, was ich tun sollte, wenn sie verschlossen war. Alles ging so schnell, daß ich kaum Zeit hatte, an Gijsbrecht zu denken. Und dann kauerte ich zwischen den anderen, die – um den Kapitän geschart – im Licht einer Kerze saßen und aussahen, als hätten sie den Leibhaftigen gesehen. Endlich stammelte ich: »Gijsbrecht – er …« Van Vindt schnitt mir das Wort ab: »Er war nicht davon abzubringen, nach dir zu schauen. Dieser Narr! – Wo ist dein Vater?« Mir schossen die Tränen in die Augen, und die nächsten Minuten war ich nicht fähig, irgend etwas zu sagen. Jemand legte eine Decke um meine Schultern, und schließlich schilderte ich, was ich gesehen hatte, bevor ich ohnmächtig wurde. »Dann hat es deinen Vater als ersten erwischt …« Van Vindt erklärte mir, daß mit Gijsbrecht nun vermutlich insgesamt vier Mann seiner Besatzung Opfer der schrecklichen Kreatur geworden waren, von der niemand sagen konnte, wann und wie sie an Bord gekommen war. Als ich zu erzählen anfing, was ich mit Aurel im Hafenkontor von den Geschehnisse auf der LEVIATHAN erlauscht hatte, hingen alle an meinen Lippen. Bis van Vindt fluchend dazwischenfuhr. »Verdammt, hör auf, sol-
che Märchen zu erzählen! Du machst alles nur noch schlimmer!« Aber die Matrosen drängten mich, weiter zu berichten, und schließlich beugte er sich zähneknirschend dem Willen der Mehrheit. Am Ende verfielen alle in wilde Spekulationen. Erst als draußen mit einem Knüppel gegen die Tür geschlagen wurde, hielten alle den Atem an. Jeder dachte dasselbe: Hoffentlich hält die Tür! Es war beängstigend: Obwohl ich bei einigen der Männer Pistolen sah, wagte es niemand, von innen auf die Tür zu feuern oder gar hinauszugehen. Wären alle auf einmal ins Freie gestürmt, vielleicht … Ich gab es auf, darüber zu grübeln, obwohl ich sicher war, daß sie im Falle eines Piratenüberfalls ganz genau gewußt hätten, wie sie sich ihrer Haut zu wehren hatten. Aber hier war etwas Übernatürliches im Spiel. Einige hatten die Silhouette des Monsters mit eigenen Augen gesehen, andere hatten von ihnen oder mir erfahren, wie es aussah, und einer behauptete sogar, es mit einer Kugel mitten in die Brust getroffen zu haben – allerdings ohne die geringste Wirkung zu erzielen! Dies alles genügte, die Phantasien und Ängste jedes einzelnen zu schüren, so daß letztendlich jeder froh war, als die Geräusche draußen endlich von selbst verstummten und irgendwann der Morgen graute. Erst als es richtig hell und die Sonne sichtbar wurde, wagte man sich geschlossen hinaus. Ich zögerte kurz, dann folgte ich ihnen, denn ich hatte beschlossen, auf diesem Schiff nie mehr eine Sekunde allein irgendwo verbringen zu wollen – egal wo. Mein Hauptinteresse galt Gijsbrecht, der mit zerfetzter Kehle auf den Planken lag, unmittelbar neben dem Toten, über den er mich noch hinweggehoben hatte.
Erst beim zweiten Hinsehen sah ich, daß er das Messer in der Faust hielt. Und daß die Klinge voller Blut war, das nicht von ihm stammen konnte. Es war ihm also noch gelungen, nicht nur Fürchterliches einzustecken, sondern auch auszuteilen. Auch wenn ihn dies nicht mehr lebendig machte, erfüllte es mich doch mit einer mir bis dahin unbekannten Form der Befriedigung …
* 1. Februar 1516 – der 18. Tag auf See Mein Geburtstag stand vor der Tür, morgen, aber einen Grund zum Feiern gab es nicht. Nicht den geringsten. Ich war zur Vollwaisen geworden. Erst heute, nach dieser furchtbaren Nacht, wurde mir richtig klar, daß ich Vater verloren hatte. Was sollte ich in Afrika – ohne ihn? Immer wenn ich van Vindts Blick begegnete, sah er mich ganz merkwürdig an. Ich wußte nicht, was hinter seiner Stirn vorging, aber ich ahnte, daß er mich in Tunis den Behörden übergeben würde. Man würde mich in ein Heim stecken – oder ich würde in der Gosse enden, wie die Bandenkinder von Marseille … (Ach, Aurel …) Nun hatte man es doch gewagt, Kommandos zu bilden, die – jedes drei, vier Mann stark – das Schiff nach der Bestie absuchten, die uns alle terrorisierte. Sie mußte noch da sein. Niemand erwartete ernsthaft, daß sie sich nach ihren Untaten selbst im Meer ertränkt hatte. Trotzdem blieb alle Suche bis zum Mittag ohne Erfolg – und dann tauchte vor uns, ohne daß Möwengekreische es angekündigt hätte, ein von Hügeln durchsetzter Landstreifen auf. Heller Sand leuchtete
in der Mittagssonne so enorm, daß ich es zuerst für Schnee hielt. Aber dafür war es zu mild. Die Suche nach dem Monster geriet ins Stocken und wurde schließlich ganz abgebrochen. Auch ich fühlte mich in der Mittagssonne sicher – seltsam. Als ob nur die Nacht ihre Gespenster besäße … Alles sammelte sich auf dem Aufbau des Kastells, und ich hörte, wie sie sich miteinander besprachen und darüber stritten, wie man die Vorkommnisse an Bord im Hafen von Tunis am geschicktesten publik machen konnte – ohne daß der Verdacht aufkam, es wäre zu gewalttätigen Auseinandersetzungen unter der Mannschaft gekommen. Meine Auskünfte über die LEVIATHAN hatten sie vorsichtig gemacht. Niemand achtete auf mich, und ich trat ganz nah an die Reling, um mehr von dem näherrückenden Land zu erkennen, das ein Teil von Afrika sein sollte. Der Rand, von dem aus man in die märchenhaften Gefilde tief im Innern gelangen konnte, von denen Vater mir vorgeträumt hatte und an deren Zauber ich nur allzu gern geglaubt hätte. Als mein Name geflüstert wurde, begriff ich es nicht gleich. Aber dann, beim zweiten Mal, war mir, als rammte mir jemand einen Dolch direkt ins Herz. Meine Hände krampften sich um das Geländer der Reling, und ich wagte nicht, mich umzudrehen. »No-na …« Die Stimme war so leise, daß nur ich sie hören konnte. Niemand dort oben, wo van Vindt seine Leute um sich scharte, wurde aufmerksam. Trotz der geringen Lautstärke gab es nicht den geringsten Zweifel, wem die Stimme gehörte. Einem spukenden Geist, der offenbar keine Ruhe auf dem Grund
des Meeres fand. Meinem – Vater …!
* »Paß auf, daß dich niemand sieht … Niemand!« Ich sah ihn durch die handhoch angehobene Decksluke, die in einen der Laderäume führte. Die Sonne schien genau auf seine eingefallenen Züge und beendete jeden Glauben an einen Spuk. Er war kein Geist. Er lebte! Aber – wie konnte das sein …? »Komm!« Hatte er sich vor dem Monster versteckt? Mir schwirrte der Kopf, denn ich hatte doch gesehen, wie er über Bord gegangen war. Ich konnte mich doch nicht so getäuscht haben … Und warum wollte er nicht, daß die anderen auf ihn aufmerksam wurden? Ich sah zum Kastell. Es achtete immer noch niemand auf mich. Van Vindt hatte ein Fernrohr auseinandergezogen und ans Auge gesetzt, und die Umstehenden lauschten erwartungsvoll seinen Kommentaren, die er zu dem, was er von der näherrückenden Küste sehen konnte, abgab. Ich machte ein paar zitternde Schritte auf die Luke zu. Und dann flüsterte Vater etwas Eigenartiges: »Du brauchst dich … nicht zu fürchten!« Dabei verursachte mir sein Anblick nicht Furcht, sondern unbändige Freude und vor Erleichterung zitternde Knie … Ein letzter Blick zum Kastell, dann zögerte ich nicht länger, sondern hob die Luke und kletterte hinein. Durch den verbleibenden Spalt fiel genügend Licht herein, um meinen in der Ecke kauernden
Vater zu erkennen. »Hat dich jemand gesehen?« »Nein! Aber ich verstehe nicht …« »Setz dich … zu mir!« Er zeigte auf eine Stelle vor sich. Ich gehorchte und sah das Blut. Es war aus zwei Wunden ausgetreten, einer großen am Bauch, wogegen er beide Hände preßte, und einer kleineren, die sich in seiner rechten Brust befand. Dieser zweiten schenkte er kaum Beachtung, obwohl auch sie nicht ungefährlich schien. Er folgte meinen Blicken und sagte: »Es sieht nur aus, als ob ich daran sterben müßte – ich wünschte mir, ich würde, aber so einfach ist es nicht!« Diese Worte zerstörten jede Wiedersehensfreude in mir. »Was redest du da?« »Die Wahrheit«, entgegnete er leise. »Und du wirst mir gleich recht geben – gleich …« Ohne mein Zutun ballten sich meine Hände zu Fäusten. Was tat er mir jetzt schon wieder an? Was hatte ich ihm getan, daß er mich behandelte wie … »Du hast mich so oft nach deiner Mutter gefragt«, sagte er und zog die Luft ein, als könnte er sie für immer in sich behalten. »Du hattest jedes Recht der Welt, es zu tun. Aber ich … habe dich immer belogen.« »Belogen?« Er nickte. Einen Moment lang lösten sich die Hände von seinem Bauch, und ich glaubte Bewegung darunter zu erkennen. Bewegung seines auseinanderklaffenden Fleisches, das sich langsam wieder … zusammenzog. Ich saß da, als hätte jemand mein Rückgrat durchtrennt – unfähig, das zu tun, was ich in diesem Moment am liebsten getan hätte: Fliehen! »Es ist viel verlangt, wenn ich dich bitte, daß du mir glaubst. Ich
selbst habe die Wahrheit erst von Lucrezia erfahren. Die ganze scheußliche Wahrheit über den Fluch, dem niemand, der davon befallen ist, entkommen kann …« »Welcher – Fluch?« Ich hörte mir zu, wie ich die Frage stellte, und ich hätte geschworen, daß nicht ich es war, die es wissen wollte. »Der Reihe nach. Laß es mich … der Reihe nach erklären. Lucrezia war der Schlüssel. Sie öffnete mir die Augen über mich und meine Taten. Und das konnte sie nur, weil sie selbst … kein Mensch mehr war …« »Ich weiß, daß sie kein Mensch war! Sie war eine Hexe – eine schreckliche Frau, die –« »Sie war eine Vampirin.« Er ließ das Wort wirken, und als ich schwieg, weil ich darauf wartete, daß er es mir erklärte, fuhr er fort: »Die Welt ist nicht nur von Menschen bewohnt – es gibt auch andere Wesen darauf. Wesen mit großer Macht, die irgendwann einmal Menschen waren, aber schon als Kinder zu etwas verwandelt wurden, das …«, er suchte nach Worten, »das anders ist. Das über die anderen Menschen herrschen kann!« »Hör – auf, bitte!« »Ich kann nicht. Es ist zu spät. Ich kann nicht noch mehr Schuld auf mich laden. Meinst du, ich würde dich damit quälen, wenn ich einen anderen Ausweg wüßte, um mein Gewissen wenigstens ein bißchen zu erleichtern? Hätte mich dieser Matrose letzte Nacht nur nicht daran gehindert, ins Meer zu springen! Dann würdest du nun zwar allein, aber befreit durchs Leben gehen! Nun muß ich es tun, um meinetwillen! Ich bin nicht schlecht – nur dieses … andere in mir ist so verdorben! Ich war immer ehrlich zu dir! Nur dieses …« Er brach ab. Er merkte, daß er mich immer mehr verwirrte, statt mich begreifen zu lassen, was er mir sagen wollte. »Der Reihe nach …«, wiederholte er, als würde er sich selbst zureden. »Ja, der Reihe nach …« Er hustete.
Das Herz in meiner Brust kam mir vor wie ein mürber Schwamm, der sich mühevoll mit Blut vollsog und es wieder, wie von einer Faust zusammengequetscht, zurück in den Körper entließ. Ich wollte nicht hören, was Vater zu sagen hatte – womit er sein Gewissen zu erleichtern hoffte. Ich war plötzlich so müde. Wollte mich nur noch irgendwo hinlegen, einschlafen, nicht mehr aufwachen … »Es war kein Zufall, daß Lucrezia uns damals ein Dach über dem Kopf anbot. O nein, ich bin kein Mannsbild, in das man sich Hals über Kopf verlieben könnte! Aber sie erkannte von Anfang an, was sich tief in mir drin verbarg. Sie sah, wovon ich selbst nichts ahnte!« Er senkte die Stimme. »Ich bin ein Ungeheuer, Nona! Ich bin das Ungeheuer, das deine Mutter und viele andere auf dem Gewissen hat!« Mein Atem erstarb. Der letzte Rest von Kraft wich aus meinem Körper. Aber dieser Körper wollte etwas, was ich selbst mir am liebsten verweigert hätte: weiterleben. Und so nahm er den Atem wieder auf. »Ich bin ein Ungeheuer – aber nur zu einer bestimmten Zeit des Monats, wenn der Mond am Himmel seine Macht über mich ausschüttet! Ich war es, der die Krämerstochter schwanger machte! Aber sie wollte nicht, daß ihre Eltern, daß die Stadt erfuhr, mit wem sie sich heimlich auf der Wiese eingelassen hatte! Mit dem Idioten. Mit dem tumben Kerl, der in seiner Hütte am Waldrand hauste … Oh, ich beschwor Nona – so hieß nämlich auch deine Mutter – ich beschwor sie mehr als einmal, mit mir fortzugehen. In einer anderen Stadt ein anderes Leben anzufangen. Aber sie lachte mich nur aus! Ich glaube, auch sie hielt mich für einen Schwachsinnigen, der nur für ein kurzes Vergnügen gut sein konnte …« Er machte eine kurze Pause, und ich sah eine Träne aus seinem rechten Auge fließen. Eine Träne, die ihn, nicht aber mich zu rühren mochte. Mein Gefühl war wie in einen Gletscher eingeschlossen. »Heimlich unternahm sie mehrere Versuche, sich das Kind, das in
ihrem Bauch heranwuchs, selbst wegzumachen. Ihre Eltern oder einen Fremden ins Vertrauen zu ziehen, das wagte sie nicht. Sie tat mir weh. Ich wollte sie nie wiedersehen … Aber etwas in mir konnte sie nicht vergessen. Etwas verließ die Hütte zur Mitternacht und schlich sich in Nonas Zimmer, wo es sie … wo es sie strafte für ihre Schlechtigkeit, ihre Treulosigkeit, ihre …« Vater gab einen erstickten Ton von sich. Dann keuchte er: »Ich weiß nicht, ob ich jemals zuvor des Nachts in fremder Gestalt zum Töten auszog. In dieser Nacht jedenfalls geschah etwas Unbegreifliches mit mir. Der verfluchte Mond erweckte ein Tier in mir, das mich meine menschliche Seite vergessen ließ … Ich tötete Nona auf grausame Weise und stahl ihr das Kind aus dem Leib – unser gemeinsames Kind, das sie mir verwehrt hatte … Und danach vergaß ich meine Tat. Der menschliche Teil in mir muß sie ganz und gar verdrängt haben, denn als ich von dem schrecklichen Verbrechen erfuhr, kam mir nicht einmal in den Sinn, ich selbst könnte es verübt haben! Die Bestie aber, das blutrünstige Biest befreite sich von da an in den Tagen um jeden Vollmond aus seinem Versteck in mir und trieb sein Unwesen. Ich war es, der das Vieh des Bauern riß in jener Gewitternacht in Verdette. Und wenn du geschlafen hast, schlich ich mich viele Male davon und kehrte ohne jede Erinnerung an meine Taten zurück. Bis … bis wir Marseille erreichten. Lucrezia las in meinen Augen, wer … oder besser: was ich war! Sie muß Erfahrung in solchen Dingen besessen haben, und sie sagte mir auch, daß es solche wie mich zuhauf auf der Welt gäbe.« Er stöhnte leise und rieb sich den Bauch, der nun fast wieder geschlossen war. »Erst durch Lucrezia erhielt ich meine Erinnerung an das Tier in mir zurück – Stück für Stück, über all die Jahre hinweg. Vielleicht hätte sie mich sogar von dem Fluch erlösen können. Aber daran lag
ihr nicht. Im Gegenteil: Sie wollte noch mehr Macht über mich. Sie heuchelte Verständnis für meinen Trieb, denn auch sie litt, wie sie sagte, unter dem Preis ihrer Unsterblichkeit: Vampire müssen immer wieder menschliches Blut trinken, um sich Jugend und Schönheit zu bewahren …« Er sah mich an. Ich schauderte. »So verfiel ich immer mehr ihrem Bann – und ihrem Wissen über mich. Wie habe ich gefürchtet, sie könnte dir eines Tages alles enthüllen, dir sagen, was für ein Monster dein Vater ist! Bei mir brauchte sie keine Hypnose, um mich unter Kontrolle zu halten. Ich war ihr ergeben wie ein Schoßhund, zumal sie meine Lust befriedigen konnte wie keine andere, normale Frau …« Er lächelte düster. »Ich weiß, daß du das noch nicht verstehen kannst. Aber ich will, daß du alles über mich erfährst. Das habe ich heute nacht entschieden. So schlimm die Wahrheit auch für dich ist, du mußt sie erfahren.« Er hatte recht: Ich verstand seine Beweggründe nicht – ich haßte ihn für das, was er mir zugemutet hatte. »Wenn du ihr so verfallen warst, hast du sie nicht vor dem Tode bewahrt?« fragte ich. »Oder ist ihr angeblicher Tod auch nur eine Lüge?« »Nein. Er ist wahr – und wahr ist auch, daß ich sie getötet habe. In jener Nacht, als du versucht hast, dir das Leben zu nehmen, habe ich erkannte, daß der Wendepunkt erreicht war. So seltsam es klingt: Erst als ich dich in deinem Blut liegen sah, erst da war ich fähig, aus dem unsichtbaren Käfig auszubrechen. Ich pfählte sie mit einem spitzen Stock ins Herz, während sie neben mir lag. Ihr Körper zerfiel zu Asche. Noch im Morgengrauen floh ich mit einem Teil von Lucrezias Vermögen und dir auf den Armen aus dem Haus.« »Und Chantalle, Marie …?« fragte ich wie betäubt. »Sie waren nur eine Art von … Möbel für Lucrezia. Damit das
Haus wie eine normale Absteige aussah, wie es viele in Marseille oder anderswo auf der Welt gibt. So konnte sie sich die besten Matrosen aussuchen, um ihren ewigen Durst zu stillen. Und sie danach zu töten … Denn Vampire geben einen Keim an ihre Opfer weiter, Nona, der Macht über ihre Leichen gewinnt und sie als Untote auferstehen läßt – ebenfalls vom Durst nach Blut beseelt. Verhindern kann man dies nur, wenn man den Unglücklichen das Genick bricht, ihnen den Kopf abschlägt oder sie verbrennt …« Er zögerte kurz, dann fügte er hinzu: »Oder sie im tiefen Meer ersäuft.« Ich schluckte. »Ersäuft?« »Lucrezias Art war es«, erklärte er, »ihren Opfern durch Hypnose den Befehl zu geben, nach Rückkehr auf die hohe See Selbstmord zu begehen. Sie sollten sich nachts ungesehen über Bord werfen. Das geschah immer so fern von Marseille, daß niemand sie je damit in Verbindung brachte. Nur einmal ging es nicht so glatt …« »Die LEVIATHAN«, sagte ich. Er wirkte verwundert, aber er nickte. »Als ich im Verlauf der letzten Tage merkte, wie unaufhaltsam wir uns dem vollen Mond näherten, und ich mir vor Augen hielt, wie klein dieses Schiff ist – viel zu klein, um meine Schandtaten zu verbergen oder auf andere zu schieben –, da beschloß ich, es Lucrezias Opfern gleichzutun und mich im Meer zu ertränken … Aber dann kam dieser Matrose. Er wollte mich zurückhalten – und dann geschah es um mich. Als die Wolken den Mond freigaben, brach das Tier aus mir hervor. Und als ich erst einmal meine Zähne in sein Fleisch senkte, vergaß ich alle Vorsätze, dachte nur noch daran, ihn zu töten und zu fressen …« »Fressen?« Ich schauderte. Er schlug die Augen nieder und ging nicht näher auf das Schreckliche ein. »Bevor ich ging, um mich ins Meer zu stürzen«, fuhr er fort, »war
ich noch beim Kapitän. Ich gab ihm den Rest von Lucrezias Geld, für den Fall, daß mir etwas zustoßen würde. Ich schob meine Bitte auf meine schlechte Gesundheit, und offenbar konnte ich van Vindt überzeugen. Sorge dich also nicht. Er steht im Wort, dir eine gute Erziehung zukommen zu lassen. Er kennt genügend Leute in Tunis, denen man vertrauen kann, so daß er einen Vormund auswählen wird, in dessen Familie du aufwächst … Es wird alles gut! Du wirst es schaffen …« Es wird alles gut. Dieser Satz wollte mir nicht mehr aus dem Kopf, auch nicht, als er mir Lebewohl sagte und mich wegschickte und ich außerstande war, mich zu widersetzen. Ich stieg zurück an Deck, und kurze Zeit später war ich vielleicht die einzige, die das Platschen hörte, als ein schwerer Körper an Backbord ins Wasser fiel. Als ich noch einmal zu Vaters Versteck ging und die Luke hob, war der Raum, in dem er gekauert hatte, leer bis auf ein dunkle Lache seines Blutes, mit dem sich die Planken vollgesogen hatten …
* Noch bevor wir im Hafen anlegten, kam van Vindt zu mir und bat mich in seine Kajüte. Ich dachte, daß er mir nun mitteilen wollte, worauf mich Vater schon vorbereitet hatte – aber er beugte sich, nachdem er die Tür hinter mir verschlossen hatte, zu mir herab und hieb mir ansatzlos mit seiner Faust gegen die linken Schläfe. Der Schlag war so hart, daß ich augenblicklich das Bewußtsein verlor. Als ich wieder zu mir kam, war es finster um mich herum. Ich war an Armen und Beinen gefesselt, und in meinem Rachen steckte ein Knebel, der mit einem straff gebundenen Tuch gehalten wurde. Ich wußte sofort, was geschehen war. Und welche Absicht dahintersteckte. Van Vindt war nicht der Ehrenmann, für den Vater ihn gehalten
hatte. Van Vindt wollte das Geld, das meine Zukunft sichern sollte, für sich – und wer sollte es ihm jetzt noch streitig machen? Ich war sicher, daß er mich bei nächster Gelegenheit umbringen würde. Vielleicht wollte er nur abwarten, bis er wieder in See stach, und mich irgendwo weit draußen über Bord werfen. Bis dahin war ich aber vielleicht schon verhungert oder verdurstet … Doch dann kam er noch in derselben Nacht und schaffte mich im Schutz der Dunkelheit vom Schiff. Nur er. Einen Mitwisser wollte er sich anscheinend nicht leisten, und als ich ihm zuviel strampelte und mich wehrte, schlug er mich erneut besinnungslos. Als ich dieses Mal die Augen aufschlug, war es hell. Licht fiel durch ein kleines Viereck in der aus Steinen zusammengefügten, mörtelverputzten Wand in eine winzige Kammer, in der es weder Bett, Tisch noch Stuhl gab. Nur mich. Ich trug keine Fesseln mehr und keinen Knebel, aber eine dicke, von außen verriegelte Bohlentür verhinderte mein Entkommen. Meine Rufe, mit denen ich mich bemerkbar zu machen versuchte, wurden in fremder Sprache erwidert. Von Kindermund. Ich verstand kein Wort. Aber als sich gegen Ende des Tages die Tür endlich öffnete, lernte ich zu verstehen, wo ich war und warum ich hier war. Es war nur eine Station auf dem Weg meiner Leiden. Ich war auf einem geheimen Sklavenmarkt für Kinder gelandet. Van Vindt hatte mich dem Betreiber für eine unbekannte Summe verkauft und so zu dem kleinen Vermögen, das mein Vater ihm überließ, noch einen zusätzlichen Gewinn erzielt. Und noch am selben Tag wurde ich als einzig hellhäutiges unter sonst lauter dunkelhäutigen Kindern als Ware in einem großen Zelt
zur Schau gestellt …
* 2. Februar 1516 Es war so demütigend gewesen. Man hatte sich fast geprügelt und in einem fort gegenseitig überboten, um mich, die Exotin unter all diesen bedauernswerten Geschöpfen, zu erwerben! Ich wußte nicht, welches Schicksal all die Kinder, die mit mir verhökert wurden, erwartete. Aber in den meisten Augen, in die ich angewidert sah, blitzte ein Ausdruck, der mich ahnen ließ, daß es Schrecklicheres als den Tod gab. Abartige Spielarten, die man mit Wehrlosen betreiben konnte und die über pure Sklaverei weit hinausgingen … Ich war entschlossen, meinem Leben ein Ende zu setzen, um nicht erleiden zu müssen, was ein verdammenswerter, geldgieriger Schweinehund für mich ersonnen hatte. Und ich war auch sicher, daß dieser zweite Versuch gelingen würde. Nein, in der Willkür eines dieser Verbrecher wollte ich nicht landen! Dann kam er, und er unterschied sich von den anderen im Zelt Versammelten wie die Lichtfülle der Mittagssonne vom trüben Schein noch so vieler Kerzen. Die Sonne gab es nur einmal … … ebenso wie ihn. Doch das Erstaunlichste war, daß niemand auch nur halbherzige Versuche unternahm, ihm die getroffene Wahl – mich! – streitig zu machen! Er kam, schleuderte einen Beutel Münzen in den Sand vor dem Aufseher und nickte einem seiner Diener zu, der sich meiner annahm. Das war gestern abend geschehen, und seither befand ich mich in
diesem Zelt, das zu einer ganzen Anzahl gehörte, die am Rande der Stadt von einer Karawane aufgeschlagen worden war, weit weg von dem marktschreierischen, lasterhaften Getöse, mit dem Kinder an zahlungskräftige Kunden verhökert wurden … Ich hatte zu essen und zu trinken erhalten und ein neues, zartes Gewand, wie ich noch nie im Leben eines berührt, geschweige denn getragen hatte. Es umschmeichelte meine Haut, und irgendwo im Innern glaubte ich fast, es spendete mir Trost, so daß ich gar nicht auf den Gedanken kam, mir etwas antun zu wollen. Dabei wußte ich so gut wie nichts über den Fremden, dessen Haut schwarz und glänzend wie Ebenholz war. Und dessen Augen keineswegs voller Güte auf mich herabgeblickt hatte, sondern mit einer festen, mir jedoch verborgen gebliebenen Absicht, hinter der sich durchaus schlimmere Pein verbergen konnte als die, die manch anderes der Kinder erwartete. Aber bei all der Ungewißheit gab es doch auch eine Stimme in mir, die herausfinden wollte, wie es weiterging. Die mir zuredete, Ruhe zu bewahren, abzuwarten, voller Hoffnung zu sein … Gegen Mittag dieses Tages kam einer seiner stummen Diener und holte mich, um mich zu meinem Besitzer (was für ein Wort!) zu führen. Er empfing mich in seinem Prunkzelt und schickte wieder seinen Diener sogleich wieder fort, so daß er mit mir allein sein konnte. Auch er trug ein Gewand, und es war makellos weiß, so daß die makellose Schwärze seiner sichtbaren Haut noch unterstrichen wurde. Er wirkte auf mich schön wie ein junger Gott. Aber von Anfang an wußte ich, daß er nicht nur zu edlem, nicht nur zu uneigennützigem Handeln fähig war. Mit wohlklingender Stimme sagte er: »Darf ich dir das hier zum Geschenk machen?« Er zeigte auf ein zusammengefaltetes Tuch, das
ihm zu Füßen auf dem Teppich lag, wo er auf einem seltsamen Schemel Platz genommen hatte. »Ich denke, es ist der Feier des Tages angemessen. Man sollte nicht einfach darüber hinweggehen, wenn ein weiteres Lebensjahr vollendet ist … Dafür ist die Jugend zu kostbar.« Ich sah ihn an. Maßlos irritiert und zugleich bemüht, sein Alter zu schätzen. Es gelang mir nicht. Vater, dachte ich, frei von Spott, hätte ihn für zwanzig oder vierzig gehalten … »Woher wißt Ihr –« Er stoppte mich mit einer unmerklichen Geste und den Worten: »Ich bin ein Magier, und als solcher weiß ich vieles. Ich habe in meine Tücher geschaut und dich gefunden. Dein ganzes bisheriges Leben. Es war genauso bemerkenswert, wie ich es mir erhoffte, als ich dein Antlitz gestern zum ersten Mal schaute …« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Doch er wartete schweigend, bis ich mich einigermaßen gefaßt hatte. »Was … habt Ihr mit mir vor?« Mir fiel kaum auf, daß ich ihn und er mich mühelos verstand. »Wozu habt ihr mich … gekauft?« Seine Augen spielten mit meinen Blicken; ich wußte nicht, wie mir geschah. Und dann sagte er: »Um dir die Freiheit zu schenken. Um dich vor ihren schmutzigen Händen zu bewahren …« In meinem Hals bildete sich ein Kloß. Ich glaubte nicht, was ich hörte. Ich argwöhnte ein böswilliges Spiel dahinter. »Und die anderen?« fragte ich deshalb aufgebracht. »Waren sie es weniger wert, geschützt zu werden?« »Keines der anderen Kinder war wie du. Was aus ihnen wird, ist mir egal.« Da war es. Das Eingeständnis, auf das ich unbewußt die ganze Zeit gewartet
hatte. Das Geständnis, wie sehr die äußere Makellosigkeit und die Reinheit seines Gewandes täuschten! Zugleich nahm er mir aber auch jeden Angriffspunkt. »Du erwiderst nichts?« fragte er. »Was sollte ich? Was erwartet Ihr also von mir?« »Zur Zeit … nichts.« »Zur Zeit?« »Du kannst nicht nur gehen, du sollst. Ich habe keine Verwendung für dich. Was sollte ich mit einem Kind? Und was ich erwarte? Koste dein Leben aus – lebe es! Lerne die Welt kennen, und eines Tages, wenn du erwachsen bist, wenn du eine Frau bist, kehre zu mir zurück!« Ich versuchte zu ergründen, ob er dies wirklich ernst meinte. Ob er glaubte, man könnte einem Menschen im Kindesalter diktieren, als Erwachsener zu jemandem zurückzukehren, von dem man wußte, daß er einem irgendwann einmal aus undurchschaubaren Gründen, vielleicht nur aus purer Langeweile, die Sklaverei erspart hatte … »Ich würde nicht zu Euch zurückkehren!« »Das bleibt dir völlig überlassen …« Er log. Aber damals wußte ich noch nicht, woher er seine Gewißheit nahm, mich in der Zukunft wiederzusehen. Hatte er auch dies in seinen ›Tüchern‹ gelesen? »Wenn Ihr mich jetzt gehen laßt, komme ich nicht weit – und das wißt Ihr auch!« »Falsch«, entkräftete er gelassen meinen Vorwurf. »Ich mache keine sinnentleerten Geschenke. Das Gewebe, das hier vor liegt, ist durchtränkt von meiner Magie. Wenn du es umlegst, wird es dich behüten. Jeder Mensch, der dir begegnet, wird dich auf andere Weise sehen. Er wird eine Frau von hohem Alter und einem Äußeren sehen, das kein Echo in ihm hervorruft, so daß er dich sogleich wieder vergißt! Einen besseren Schutz als diesen gibt es nicht.« »Aber das ist nicht alles«, erriet ich, obwohl ich das gerade Gehör-
te noch nicht einmal bewältigt hatte. »Nein. Die darin schlummernde Magie wird es dir auch erleichtern, die Sprachen der Länder, durch die dich deine Wege führen, zu erlernen.« »Das ist immer noch nicht alles. Was nutzt es dir?« Zum erstenmal lockerte ein Lächeln seine Züge. »Du hast recht. Für mich selbst von Bedeutung ist, daß das Tuch all deine Abenteuer und deine Gefühle dabei, von dem Moment an, da du es dir um deinen Körper bindest, speichert. Solltest du dereinst zu mir zurückkehren, habe ich einen Schatz von Erlebnissen, der meiner Unterhaltung dienen wird …« Trotz dieses bereitwilligen Eingeständnisses war ich schockiert. »Mein Leben … meine Gefühle – für deinen Zeitvertreib …?« »Es ist ein Abkommen«, sagte er unbeeindruckt. »Zwischen dir und mir. Du kannst das Tuch auch zurückweisen. Dann trennen sich unsere Wege wahrscheinlich für immer.« Er meinte es ernst. Ich erkannte es sofort an den leisen Zwischentönen. »Ich weiß nicht einmal Euren Namen …« »El Nabhal. Ich bin El Nabhal, und ich werde dich jetzt verlassen. Du hast noch den ganzen Tag Zeit, dich zu entscheiden. Am Abend bauen wir unsere Zelte hier ab. Dann zieht meine Karawane weiter. Ohne dich. Mit oder ohne das Tuch …« Er stand auf und ging ohne einen weiteren Blick oder ein Wort an mir vorbei. Ich war schwankend wie ein Stück Holz, das in einem Bach dahintreibt. »Sag mir noch eins«, holte ihn meine Stimme ein. »Es ist wichtig für mich. Für meine Entscheidung und überhaupt für – mein Leben!« Wider Erwarten blieb er tatsächlich noch einmal stehen. Aber er sah sich nicht nach mir um. »Was willst du wissen?« »Offenbar ist deine Magie sehr mächtig. Kannst du mir sagen, ob
ich … ob ich …« »Ob auch du den Fluch deines Vaters in dir trägst?« »Ja!« »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich sehe nur, was ist – nicht, was einmal sein wird. – Aber ich halte es für wahrscheinlich, und falls es so ist, wirst du erkennen, daß sich damit leben läßt, wenn man es nur akzeptiert. Dein Vater tat dies nie. Daran ist er zugrunde gegangen …« Mit diesen Worten von geringem Trost ließ er mich allein. Für viele Jahre.
* Ich hatte das Tuch genommen. Wer hätte es nicht getan? Ich hatte es umgebunden und mich seinem Zauber übergeben. Seinem Hunger, ja fast könnte man sagen, seiner Gier nach Erlebnissen, die es für ihn aufsaugte, um sie ihm eines fernen Tages zum Geschenk zu machen. Wie er mir dieses Gewebe, das mich seither kleidet und begleitet, zu meinem fünften Geburtstag geschenkt hatte. Seither sind zehn Jahre verstrichen, in denen ich unbehelligt die verschiedensten Länder durchstreifte. Nur nicht Afrika – als wollte ich mir dies für ein Später aufsparen … Nachdem ich El Nabhals Karawane verließ – oder sie mich –, nahm ich das nächste Schiff, das mich an der Küste des Schwarzen Meeres absetzte, wo die Osmanen ein straff organisiertes Reich geschaffen hatten, das sich damals in seiner größten Ausdehnung befand. Das Tuch des Magiers diente mir nicht nur, um mich ›erwachsener‹ zu machen und männlichem wie weiblichem Interesse zu ent-
ziehen. In seiner Obhut legte mir nie ein Mensch auch nur das geringste Hemmnis in den Weg. So gut wie mittellos kam ich überall zurecht und litt auch keinen Hunger, denn wo ich darum bat, wurde mir reichlich zu essen und zu trinken angeboten. Almosen für eine Bettlerin … Ich bereiste Griechenland, Österreich, Deutschland und Italien. In Apulien verbrachte ich, mal hier, mal da, zwei unbeschwerte Jahre, die jäh endeten, als mich eines Nachts, als ich am verletzlichsten war und eigentlich kaum noch daran dachte, von einem langen Schatten eingeholt wurde. Es war der 16. Mai des Jahres 1524. Ich war dreizehn. Mein Körper hatte sich verändert – nicht mehr nur für fremde Betrachter, die von der Magie des Tuches betrogen wurden, sondern auch für mich selbst. Den ganzen Tag war ich schon nervöser als sonst gewesen. Ich hatte eine leerstehende Berghütte entdeckt, die offenbar niemandem mehr gehörte, und beschloß, die Nacht darin zu verbringen. Etwas Heu, das noch zu einem Lager aufgeschüttet war, genügte mir. Draußen war ein Brunnen mit sauberem Wasser, und den ganzen Tag hatte ich Früchte von Bäumen gepflückt, so daß ich keinerlei Appetit mehr verspürte. Ich ging früh schlafen an diesem Abend, denn irgendwie fühlte ich mich schlapp und erschöpft, und in meinen Lenden war ein ziehender Schmerz, wie ich ihn noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Ich schob es auf den steilen Aufstieg, den ich über die Pfade herauf genommen hatte, und legte mich hin. Tatsächlich meinte ich, daß es nach einer Weile besser würde, und schlief ein. Doch mitten in der Nacht weckte mich ein solch diabolischer Schmerz in meinen Eingeweiden, daß ich hochfuhr und laut aufschrie, als wäre mir ein glühendes Eisen in den Leib gefahren. Meine Hand tastete hinab – und erfühlte klebrige Nässe zwischen meinen
Beinen. Nässe, die nach … Blut roch! Wie von Furien gehetzt stürzte ich hinaus ins Freie, wo das glotzende Auge des Mondes auf mich herabsah. Die runde Scheibe leuchtete wie ein bleiches Fanal, und auch nachdem ich mir das Blut am Wasser abgewaschen hatte, ohne verhindern zu können, daß weiteres aus mir herauslief, begriff ich noch nicht, daß dies jede Frau, jedes Mädchen, wenn es die Geschlechtsreife erreichte, mitmachte – und ebenso erschrak wie ich. In diesem Moment glaubte ich wirklich, ich hätte mir eine innere Verletzung zugefügt und müßte nun daran verbluten. Doch diese Furcht hielt nicht ewig. Der unverwechselbare Geruch meines eigenen Blutes zündete noch einen anderen Vorgang in meinem Körper – ließ mich sprunghaft zu noch anderem als einer vollwertigen Frau reifen. Zu einem Ungeheuer. Zu dem, was schon mein Vater war und das offenbar nur darauf gewartet hatte, daß ich eine Schwäche zeigte, in die es hineinstoßen und die Herrschaft über mich an sich reißen konnte! Der Schmerz im Unterleib entrückte fast meiner Wahrnehmung. Weil andere, unermeßlich größere Qual die Knochen, Gelenke und das Fleisch meines Leibes vergewaltigte, umformte, so radikal seinem eigentlichen Aussehen entfremdete, als hätte ein Bildhauer einen tönernen Rohling auf einen Tisch gestellt und finge nun an, ihn von Grund auf umzuformen und am Ende etwas völlig Unerwartetes zu schaffen. In dieser Nacht tötete ich das erstemal. Es war nur ein Tier, das sich zwischen den Felsen von seiner Herde abgesondert hatte. Aber es bereitete mir eine so unermeßliche Befriedigung, daß ich, noch während ich ein Stück meiner Beute heiß und roh verschlang, meinem Vater alles verzieh, was er je in diesem ekstatischen Rausch getan hatte. Denn nun spürte ich selbst, daß während der Jagd im Mondlicht
keine Gewissensbisse an meiner Seele nagten und man sich keines Unrechts bewußt war … Am nächsten Morgen, als ich wie erschlagen in der Hütte wieder zu mir kam und nur noch vage Erinnerungen an die Nacht hatte, vernahm ich ein Scharren an der Brettertür, die ich bei meiner Rückkehr zugezogen hatte. Als ich öffnete, lag vor der Schwelle ein Wolf. Und rings um die Hütte kauerten weitere Wölfe im Gras, die mich alle nicht nur ansahen, als wäre ich ihresgleichen, sondern als beugten sie sich meinem Diktat! Ich fand nie heraus, ob sie mich in der Nacht bei meinem Tun beobachtet hatten oder ob lediglich ein tiefverwurzelter Instinkt sie zu mir gelockt hatte. Aber ihre Treue war ohne Falsch, und die Rangkämpfe, die wir ausfochten, waren stets von einem ehernen Kodex geprägt, nach dem ich bei den Menschen nicht nur damals, sondern auch in den Jahrhunderten danach immer vergeblich Ausschau hielt. Zwei Jahre hielt unsere Gemeinschaft. In den Nächten des vollen Mondes jagten wir gemeinsam, und auch in den Tagen dazwischen erhielt ich mir ihren Respekt. Sie erkannten mich als ihre AlphaWölfin an, und wie selbstverständlich verlegten wir die unausbleiblichen Rivalitäten in die Zeiten, da ich meine vollen Kräfte entfalten konnte und ihnen nicht nur im Haarkleid, sondern auch in der elementaren Natürlichkeit am ähnlichsten war. Als ich das Rudel verließ, tat ich es, weil ich noch mehr von der Welt erkunden wollte. El Nabhals Tuch nahm ich mit – wiewohl ich es beim Jagen bis dahin nie am Leib getragen hatte. Beim erstenmal noch unbewußt, verzichtete ich im späteren absichtlich darauf. Es war eine kleine Quittung für die Überheblichkeit des ebenholzschwarzen Magiers, der – falls ihn dieses Tuch eines Tages tatsächlich erreichen sollte – vieles, aber nicht alles nachempfinden sollte, was mir auf meinen Wegen zuteil wurde.
Ich kehrte Apulien und den Wölfen den Rücken und wandte mich gen Rom. Denn zuvor war mir schon zugetragen worden, daß es dort bald zum Kriege kommen sollte. Eine Armee von Landsknechten war unterwegs, um sich die römischen Stadtstaaten zu unterwerfen und den Papst in die Knie zu zwingen. In einer solchen Schlacht, einem solchen Schlachten, so dachte ich mir, müßte auch für mich etwas abfallen …
* Rom, 3. Juni 1527 Unbewußt habe ich die seltsame Kreatur auf jene Weise getötet, die Vater mich noch kurz vor seinem Tode lehrte. Ich brach ihr Genick, und das leblose, morsche Fleisch in der Kluft eines Landsknechts zerfiel zu nichts als feiner Asche … Ich hebe das Tuch auf und schüttele es aus, denn mich ekelt vor den Resten, die daran kleben. Dann binde ich es lose um meinen Hals und gehe auf das Tor zu, wo die Wachen stehen. Sie werden mich nicht aufhalten. El Nabhals Tuch ist die Gewähr dafür … Doch dann sind sie plötzlich da, kaum daß ich die beiden Wächter hinter mir gelassen haben! Sie enttarnen mich mühelos, kommen von links, rechts und oben, ja oben! Zuerst meine ich, eine Fledermaus wische mit ihren Schwingen über mein Haar – dann landet federnd vor mir eine Gestalt, die nur äußerlich einem Menschen gleicht und die mich anfaucht: »Das hast du nicht umsonst getan! Schafft sie fort!« Ich sehe in die Fratze eines Vampirs, der anderen Vampiren in seinem Gefolge gebietet!
Sie packen mich mit stählernem Griff. Noch weiß ich nichts von den Impulsen, die Vampire und ihre Kreaturen im Augenblick ihres Todes zu den Sippen abstrahlen, denen sie angehören. Noch ahne ich nicht, wie sie mich so gezielt abfangen konnten … … aber ich erfahre es bald. Er klärt mich auf. Er …
* »Gehört das dir?« Es ist noch immer dieselbe Nacht, und noch immer empfange ich die Kraft des Mondes in dem Kerker, in den mich die Übermacht geworfen hat. Wären es Menschen, ich hätte sie ohne Zögern attackiert. Aber zu tief verwurzelt war die Erinnerung an die Vampirin Lucrezia und das mitleidlose Regiment das sie geführt hatte. Vampire sind aus anderem Holze geschnitzt als die schwachen Menschen, von denen sie abstammen. Aber ich schwor mir, in dem Moment, da mir einer oder zwei von ihnen entgegentreten würden, zu beweisen, daß dies auch für mich galt! Und nun stand er vor mir – allein. Er hielt El Nabhals Tuch in der Hand. Und er lächelte. Maskenhaft. Ich merkte gleich, daß mit diesem Gesicht etwas nicht stimmte. Dennoch erlag ich sofort dem Charisma der Stimme und der ganzen Ausstrahlung, mit der sich dieser Vampir umgab. Und wie er schon in diesem Augenblick erfühlt haben mußte, worin ich mich von anderen meiner Art unterschied, so spürte ich dasselbe bei ihm. Er war nicht wie die Vampire, die mich auf dem Platz vor der En-
gelsburg überwältigt und verschleppt hatten. Aus seinem Kern heraus empfing ich soviel Lebendigeres und Vitaleres als bei ihnen … Ich vergaß mein Absicht, ihn abzugreifen. Zumindest schob ich sie hinaus. »Fühlst du es nicht?« fragte ich zurück. »Daß es dir gehört?« Er legte den Kopf schief, als müßte er erst lauschen. Dabei trat er weiter auf mich zu, in den Schein einer Fackel, die ich bereits in meinen Plan, auszubrechen, eingebunden hatte. Sie, so hatte ich es mir gedacht, wollte ich irgendeinem der Vampire in den Rachen stoßen. Aber nicht ihm. Ich weiß nicht, wie alles kam und was genau in mir vorging, als ich Landru zum erstenmal gegenüberstand. Aber es war so stark. So mystisch. Und ihm erging es ebenso. »Doch«, sagte er irgendwann. »Ich kann es fühlen. Aber ich fühle auch, daß da mehr ist in diesem Stoff. Stimmen, die du fürchten, denen du zumindest nicht vertrauen solltest …« Damals bezog ich dies alles auf El Nabhal, und achselzuckend erwiderte ich: »Wem kann man schon vertrauen?« »Mir.« Die Einfachheit der Worte, die zwischen uns gewechselt wurden, können nicht wiedergeben, was wirklich zwischen uns geschah. Kein Wort vermag dies. »Sind wir nicht Feinde?« fragte ich. »Feinde? Sind wir uns nicht zu ähnlich, um unsere Zeit mit Feindschaft zu vergeuden?« »Die, die mich hierher schleppten, sehen das anders.« »Sie sind noch jung.« Er lachte. »Aber sie sind lernfähig.« Er lachte wieder. »Du hast Glück, daß ich gerade hier war, um dem Oberhaupt viele neue Kinder zu schenken. Er wird mir eine so einfache
Bitte nicht abschlagen.« »Welche Bitte?« »Dir das Brechen eines Dienerhalses nachzusehen. Auch du bist noch sehr jung …« »… und lernfähig?« »Ich hoffe es.« Er warf mir das Tuch zu. Ich fing es auf und fragte verwundert: »Wieso täuscht es dich und die anderen nicht?« »Du meinst diesen Budenzauber, der es wagt, Häßlichkeit über etwas so einzigartig Schönes zu werfen?« Er schüttelte den Kopf. »Der Stümper, der das geschaffen hat, gehört gevierteilt. Ein Menschenauge mag es narren, aber zu mehr ist es nicht nütze!« Ich merkte kaum, wie ich auf ihn zuging. »Meinst du das, was du eben gesagt hast, ernst?« »Natürlich war es ein Stümper!« »Nein, ich meine das, was du über mich gesagt hast. Ich wäre … schön.« »Du kannst nicht ernsthaft daran zweifeln.« »Nein«, sagte ich und sank in seine Arme.
* Noch in derselben Nacht liebten wir uns, glücklicherweise nicht in dem Verlies, sondern in einem kostbar eingerichteten Raum, den uns das Oberhaupt der römischen Vampirsippe zur Verfügung stellte, nachdem Landru unter vier Augen mit ihm gesprochen hatte. Es zeugte von einem Vertrauen, das beinahe schon an Irrsinn grenzte, daß Landru mir schon in dieser ersten Nacht sein wahres Gesicht offenbarte. Er nahm die Maske vom Gesicht, die lebendige, von fremdem Blut durchströmte Maske, die sein Inkognito wahrte, wenn er von Sippe
zu Sippe, von Ort zu Ort reiste, um – wie er an diesem Tag und später ausgiebig schilderte – ein Ritual zu vollziehen, das mit Hilfe eines besonderen Kelchs Menschenkinder in vampirischen Nachwuchs verwandelte. Anders als über dieses Kelchritual vermochten die über die Menschen Herrschenden sich nicht zu vermehren. Untereinander waren sie nicht zeugungsfähig. Nach Wochen unseres Zusammenseins, da ich ihn auf all seinen Wegen begleitete, zeigte mir Landru eines Nachts jenen Kelch, der wie eine kurzstielige Lilie geformt war. Zuvor hatten wir uns leidenschaftlich geliebt, und zuletzt hatte ich Küsse auf seine Wangen gehaucht, die damals noch unversehrt gewesen waren. Nun stand er nackt vor mir und hielt jenes Gefäß in Händen, dessen Magie gewiß kein Budenzauber war – wie er El Nabhals Wirken verächtlich beschrieben hatte. »Es ist ein Gral«, sagte er mit dunkler Stimme. »Ein Unheiligtum, für das es keinen Ersatz gibt. Wenn ihm eines Tages etwas geschähe …« Er führte den Satz nicht zu Ende. »Solange du darüber wachst, wird dies nicht geschehen«, beruhigte ich ihn. Und meinte es ernst. Schweigend fuhr er mit den Fingern über die Oberfläche des Gefäßes. Dann hob er plötzlich wieder die Stimme und sagte: »Ich habe noch nie etwas anderes damit getan als Vampire erschaffen. Und ich werde auch nach dieser Nacht nie etwas anderes damit versuchen. Aber niemand kennt das Gift der Jahre, das Gift der Zeit besser als ich. Seit ich bin, gab es auch unter den Menschen solche, in denen ich mehr sah als ein Opfer meiner Gier. Ich sah Genies aufblühen und verwelken, Frauen, die mich ein Stück Weg begleiteten und von denen keine mit der Langsamkeit
Schritt halten konnte, die mein Altern bestimmt. Deshalb – und weil ich sicher bin, keine schlechte Wahl getroffen zu haben – tue ich heute das, was ich noch nie getan habe – und auch niemals wiederholen werde … Steh auf. Komm zu mir!« Ich gehorchte so gedankenverloren, als hätte mich seine Stimme in eine tiefe Trance versetzte. In der Rechten hielt er den Kelch, und die Linke, die vom Herzen kommende, hielt er über die Öffnung des blütenartigen Gefäßes. Wie von einer unsichtbaren Klinge herbeigeführt, bildete sich plötzlich ein Schnitt auf seinem Unterarm, aus dem schwarzes Blut herausrann. In die Schale, die purpurfarben aufglomm. Und die er mir, die ich wie zu Stein erstarrt und keines Wortes fähig dastand, schließlich an die Lippen hielt und mich daraus trinken ließ. Es gab kein Sträuben. Warm und anders, als je zuvor und je danach Blut den Weg durch meine Kehle gefunden hatte, bahnte sich der Nektar seinen Weg in mich. Nicht nur in meinen Magen, mein Gedärm … in jede Zelle meines Körpers! Damals wußte und begriff ich noch nicht, welche sonderbare Bluttaufe er mit mir vollführte – ein Ritual, bei dem ich nicht erst sterben mußte, um das zu erlangen, was jeder Vampir als selbstverständlich ansieht. Nicht die Unsterblichkeit. Aber ein langes, ganz, ganz langsam den Körper angreifendes Leben …
* Ich wurde Landrus Gefährtin. Über jenes Jahr und jenes Jahrhundert hinaus. Wenn wir uns trennten, geschah dies aus der Erkenntnis,
daß man die Zuneigung und das Begehren über eine so lange Zeit nur am Leben erhalten konnte, wenn man sich Pausen gönnte, in denen man ohne den anderen Erfahrungen sammelte. Als wir uns das erstemal Lebewohl sagten, wußte ich nicht, wohin er gehen und wo und wann wir uns wiedersehen würden. Aber ich hatte genaue Vorstellungen davon, wohin ich mich wenden wollte. Es gab noch immer ein Tuch voller Budenzauber. Und es erinnerte mich zwischen den Jahren an ein fernes Land, zu dem ich in früher Kindheit nur mit Vater – später dann auch mit Aurel – hatte reisen wollen. Ein Land, dessen Melodie nie ganz in mir verklungen war. Afrika …
* Mandschurei, Gegenwart Als ich die Augen aufschlug, hielt Mei-Li meine Hand, und Chiyoda, mein alter Mentor, stand auf der anderen Seite des Schlaflagers. Seine Augen leuchteten vor Freude. »Genug!« sagte er. »Du hast genug durchlitten. Das, was deine Seele vergiftete, ist nun vertrieben – weil du dich dazu bekannt hast! Aber ich verstehe jetzt, daß du nie über die ersten Jahre deines Lebens sprechen wolltest. Daß du sie immer tiefer in dich hinein vergraben hast …« Benommen richtete ich mich auf. »Ich verstehe nicht! Warum bin ich noch hier? Ich war unterwegs zu Landru … Nach deiner Weissagung, daß ihm und allen Vampiren Gefahr droht, wollte ich ihn warnen …« »… und hast dich im Geflecht der Wirklichkeiten verirrt«, nickte Chiyoda. »Ich warnte dich, als du aufgebrochen bist – aber du woll-
test nicht auf mich hören. Dabei müßtest du wissen, daß dieser Ort, an dem du Zuflucht fandest, etwas Besonderes ist. Er führt nicht nur in die eine Realität, in der du zu Hause bist, sondern in unzählige andere. Ohne einen Lotsen ist man darin verloren … Du hattest großes Glück, daß meine Tochter dir folgte.« Er nickte zu dem Mädchen mit der Pagenfrisur. »Aber was ist geschehen?« »Mei-Li fand dich in einer Welt, in der das Chaos herrschte, in der die Vampire von einer Sekunde auf die andere aus den Ämtern und Machtpositionen verschwanden, die sie bis dahin innegehabt hatten. Es gab keinen einzigen mehr, und die sich selbst überlassenen Menschen kamen mit ihrer Selbständigkeit nicht mehr zurecht. Überall flammte Gewalt auf. Auch Landru, dein Geliebter, war in dieser Welt nicht länger existent. Als du das erkanntest, hast du einen völligen Zusammenbruch erlitten. Mei-Li brachte dich zu mir zurück. Du warst dem Wahnsinn nahe. Nur eine bis in deine Wurzeln zurückreichende Behandlung konnte dir noch helfen …« »Und deshalb hast du mich noch einmal die Anfänge meines Lebens durchschreiten lassen …« Chiyoda nickte abermals. »Wie lange hat das gedauert? Und wie … sieht es inzwischen in der Wirklichkeit aus, in die ich zurück will?« »Auch dort ist es geschehen«, sagte Chiyoda. Mir wurde kalt. »Was ist geschehen? Das Sterben der Vampire? Aller Vampire? Und Landru – was ist mit Landru?« »Eine Seuche«, sagte Chiyoda. »Die Welt, in die du zurück willst, wird von einer absonderlichen Seuche heimgesucht. Eine Seuche, die Landru mitbrachte.« »Mitbrachte? Von wo?« »Das konnte ich nicht sehen.« »Dann nützt mir das ganze Gerede nichts!«
»Doch. Denn ich weiß, daß Landru nicht nur den Tod über seinesgleichen bringt, sondern über jeden, der irgendwann mit dem Lilienkelch getauft wurde und ihm nun gegenübertritt!« In meinem Magen schien sich ein eisiger Knoten zusammenzuziehen. »Was willst du damit sagen?« »Daß du, wenn du in deine Realität zurückkehrst, nur am Leben bleibst, wenn du Landru für immer meidest. Wenn nicht, überträgt er das qualvolle Sterben, das Siechtum bis zum Tode, auch auf dich!« »Das ist nicht wahr!« »Es ist wahr.« Ich schloß die Augen, und mit einemmal glaubte ich die einzige Erklärung zu kennen, wie Landru, der Kelchhüter, zu einem Vernichter des einst gesäten Lebens hatte werden können. »Dahinter«, schrie ich in explodierendem Haß, »kann nur sie stecken!« »Sie?« »Lilith Eden! Sag mir, wo ich sie finde! Sag es mir! Sie muß rückgängig machen, was sie tat – was sie Landru antat! Ich werde sie dazu zwingen – und wenn es das letzte ist, was ich tue! Das schwöre ich …!« ENDE
Glossar Craven, Robert – Ein Hexer, der ein gewaltiges magisches Erbe verwaltet und daher nicht sterben darf. 138 Jahre alt, lebt er in einem Anwesen nahe London. Durch die Halbvampirin Fee (>) hofft er seinen Tod hinauszögern zu können. (Craven ist eine Figur Wolfgang Hohlbeins aus der Serie DER HEXER.) Dienerkreaturen – Saugt ein Vampir einen Menschen zu Tode, so wird aus diesem kein vollwertiger Vampir; dazu bedarf es einer Taufe mit dem Lilienkelch. Er erwacht als Dienerkreatur, ein blutsaugendes Wesen ohne magische Fähigkeiten, das zwar theoretisch ewig leben kann, aber anfälliger ist als ein Vampir, so z. B. gegen Sonnenlicht. Der Vampir setzt sein Opfer als Diener und Handlanger ein; meist bringt er es aber durch Genickbruch um – im eigenen Interesse, denn die Vampire sind nicht bestrebt, die Erde mit blutsaugenden Kreaturen zu überziehen. Fee – Ein mißglücktes »Experiment« Felidaes. Fee gibt keinen voll wirksamen Vampirkeim weiter, sondern verlängert mit ihrem Biß das Leben des Opfers. In der Metamorphose erstarrt, trägt sie Fledermausschwingen statt Arme. Fee geriet in die Gewalt einer rumänischen Vampirsippe, die ihr den Verstand raubten. Von Lilith Eden befreit, lebt sie seitdem bei Robert Craven (>), der sich (auch im eigenen Interesse) um ihre Gesundung bemüht. Luther, Duncan – Ein früherer Mitstreiter von Lilith Eden, dem das Schicksal übel mitspielte. Einst war er Priesteranwärter – bis er die Halbvampirin kennenlernte. Dann wurde er in Indien von Vampiren getötet, in Landrus Auftrag aber wiedererweckt und als »Zeitbombe« zu Lilith zurückgeschickt. Als diese sein Blut trank und damit ihren Keim in Duncan pflanzte, entglitt
er Landrus Kontrolle und folgte dem Auftrag, den Zeitkorridor im antiken Uruk freizulegen. Am Anfang der Zeit schließlich erfüllte sich sein Schicksal, als er mit Liliths weiteren Helfern das Ritual zur Erweckung der Ur-Lilith ausführte und verbrannte. Mackinsay, Beth – Bislang einzige Freundin Liliths. Gleichgeschlechtlich veranlagt, verliebte sich die Reporterin des Sydney Morning Herald in die Halbvampirin und begleitete sie bei ihren Abenteuern – bis sie von Lilith, als diese aus dem Lilienkelch trank und damit ihre Menschlichkeit verlor, getötet wurde.
Vampire von Dietrich Haubold 3. Teil
Anfang des 18. Jahrhunderts überzog eine regelrechte Vampir-Seuche Südosteuropa. Geht man den Spuren nach, so beginnen sie im Frühjahr 1725. Und auch der Name des ersten dieser Blutsauger ist bekannt. Er hieß Peter Plogojowiz, Einwohner des serbischen Dorfes Kisolova. Sein Fall wurde minutiös dokumentiert – bis hin zu seiner Exhumierung, seiner »Tötung« mit einem zugespitzten Holzpfahl und seiner anschließenden Verbrennung. Es folgen weitere Berichte über Vampir-Attacken, und es kommen auch Ereignisse ans Licht, die schon einige Jahre zurückliegen. Das Schema ähnelt sich immer: Unerklärliche Todesfälle lösen den Verdacht aus, ein Blutsauger treibe sein Unwesen. Erkrankte siechen dahin und berichten, daß Nachtgeister ihnen die Kehle zuschnüren, den Atem abdrücken. Oft können sie auch die Namen derjenigen nennen, die ihnen in ihren Alpträumen erscheinen, ihnen auf diese Weise ihre Lebenskraft stehlen. Ist dann endlich der Vampir ausgemacht und wird sein Grab geöffnet, zeigt er die üblichen Anzeichen: keine Verwesungserscheinungen, Haare, Bart und Nägel sind gewachsen, der Körper macht einen gutgenährten Eindruck, oft schält sich die Haut, und darunter kommt eine neue Hautschicht zum Vorschein. Am Mund sind Blutspuren festzustellen, und männliche Leichen haben oft eine Erektion. Die Wissenschaft weiß heute, was mit Leichen in ihren Särgen passiert, welche Prozesse einsetzen, wie verschieden die Verwesung unter Luftabschluß tief in der Erde ablaufen kann. Für die kaum auf-
geklärten Menschen im 18. Jahrhundert allerdings waren solche Befunde eindeutig: Der Verstorbene mußte ein Vampir sein. Kam dann noch das vielfach bezeugte »Kauen und Schmatzen der Todten in Gräbern«* hinzu – so der Titel eines 1734 in Leipzig erschienenen Buches –, stieß die Leiche beim Pfählen noch einen Seufzer aus, sprudelte Blut aus ihrem Mund und aus der Wunde, dann konnte der Leichnam nicht wirklich tot sein, dann mußte noch ein wie auch immer geartetes Leben in ihm wohnen. Heute sind einige der Krankheiten bekannt, die den Vampirglauben nährten. Neben der Tuberkulose ist dies der Milzbrand. Wurde die Schwindsucht hauptsächlich in den Familien übertragen, so befiel der Milzbrandbazillus oft ganze Dorfgemeinschaften, die Fleisch von plötzlich verendeten Tieren aßen, die nach dem Glauben der Landbevölkerung ihrerseits einem Vampir zum Opfer gefallen waren. Die Symptome dieser Infektion finden sich in den Berichten über die Vampiropfer: hohes Fieber, Krämpfe, rascher Verfall – bis hin zu Atembeklemmungen und dadurch ausgelösten Wahnvorstellungen. Damit bleibt natürlich die Frage ungeklärt, ob es nicht vielleicht doch einige der nächtlichen Blutsauger gibt, die Anlaß waren zu der weitverbreiteten Furcht vor den Untoten. Die Wissenschaftler und Theologen der damaligen Zeit haben sich jedenfalls ausgiebig die Köpfe darüber zerbrochen – bis hin zu der Frage, ob der Satan mit den Vampiren nicht versuche, eine Art Auferstehung der Toten zu praktizieren, als Zerrbild des christlichen Auferstehungsglaubens und als Verhöhnung Gottes. Die Geistlichkeit jedenfalls schürte kräftig mit an der Furcht vor den Wiedergängern. Zahllose Leichen wurden in jenen Jahren geschändet – oft mit Zustimmung der weltlichen und geistlichen Obrigkeit –, und niemand war die ungestörte Totenruhe sicher. Selbst *Mag. Michael Ranft, Tractat von dem Kauen und Schmatzen der Todten in Gräbern, Leipzig 1734
kleine Kinder wurden aus ihren Gräbern gezerrt und als angeblich vom Vampirismus Infizierte verbrannt oder anderweitig »unschädlich« gemacht. Interessanterweise ebbte diese Vampir-Seuche – oder das, was abergläubische Menschen dafür hielten – ungefähr zeitgleich mit dem Erscheinen von Bram Stokers »Dracula« ab. Der bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts in Literatur und Kunst zu registrierenden Vampir-Mode tat »Dracula« allerdings keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: Das neue Medium Film begann alsbald, sich mit diesem Stoff auseinanderzusetzen. Immer wieder faszinierend: Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm »Nosferatu«, der erste einer schier endlosen Reihe von Vampirfilmen – bis hin zu solchen Meisterwerken wie Francis Ford Coppolas »Dracula« oder den Leinwandabenteuern von Anne Rice’s Helden Lestat de Lioncourt. Roman Polanski setzte mit seinem »Tanz der Vampire« den Sieg der Blutsauger über den Rest der Menschheit in Szene – unvergeßlich sein schwuler Vampir –, und Werner Herzog versuchte sich an einem Remake von Murnaus »Nosferatu« mit Klaus Kinski als dem tragischen Bösewicht. Ungezählt schließlich die B-Movies, in denen den Vampiren alles nur irgendwie Denkbare zum Opfer fällt – angefangen von Bikini-Mädchen bis zu Weltraum-Monstern. Der Faszination der Untoten erlag als einer der ersten der Geheime Hofrat Johann Wolfgang von Goethe (»Die Braut von Korinth«, 1797). Doch sollte er nicht der einzige bleiben. Weltliteratur und Kolportage, Theater und »Gothic Tales«, Malerei und Grafik – überall trieben im 18. und 19. Jahrhundert die Vampire ihr Unwesen. Und damals, in der Zeit der Romantik, wurde auch der Vampir als sexuelles Wesen entdeckt, als Verführer, als Verführerin, deren tödliche Küsse dem Sterblichen ungeahnte Wonnen versprechen. Ein Umdenken hatte eingesetzt: Galt der Vampir über Jahrhunderte und vielleicht Jahrtausende hinweg als Bestie, getrieben von einem nie zu stillenden Blutdurst, so wurde er jetzt zum romantischen Wesen, Opfer eines unerbittlichen Schicksals mit durchaus mensch-
lichen Emotionen, tragische Gestalt, nicht mehr seelenloses Monster. Diese Linie zieht sich durch bis heute, wo die Untoten fast schon zu positiven Gestalten geworden sind und selbst in den Kinderprogrammen des Fernsehens für Unterhaltung sorgen. Blickt man zurück in die Literaturgeschichte, dann stellt man voller Überraschung fest, daß das literarische Monster (nämlich Frankensteins Kreation) und der literarische Vampir (er trug den Namen Lord Ruthven) bei derselben Gelegenheit das Licht der Welt erblickten, nämlich 1816 am Genfer See im Kreis der englischen Literaten Shelley und Lord Byron. Die Erzählung »The Vampyre« wurde am 1. April 1819 veröffentlicht und sofort in fast alle europäischen Sprachen übersetzt. Befördert hat das natürlich der Name seines geistigen Vaters, der oft auch als Autor genannt wurde: Lord Byron. Das Werk, das im Gegensatz zu Mary Wollstonecraft Shelley’s »Frankenstein« heute nur noch für Historiker und Liebhaber des Genres interessant ist, stammte allerdings aus der Feder von Byrons Leibarzt John William Polidori. Glück hat es ihm jedoch nicht gebracht – ein paar Jahre später brachte er sich um, angeblich aus Kummer darüber, daß ihm literarischer Ruhm versagt geblieben war. Bereits ein Jahr später, I820, wurde »The Vampyre« als Theaterstück in Paris ein echter Straßenfeger. Adaptionen und Umdichtungen in anderen europäischen Ländern, Deutschland inbegriffen, waren ebenfalls Erfolge. Die Zeit schien reif für dieses Thema, denn es paßte in die Zeit der Romantik. Kein Wunder auch, daß in England »Varney the Vampire, or The Feast of Blood« zum Renner wurde – zunächst als Buch mit einem Umfang von 868 Seiten, später dann noch einmal als in Fortsetzungen herausgebrachter »Groschenroman«. Autor war Thomas Preskett Prest, ein Kolportageschreiber, der Mitte des 19. Jahrhunderts große Erfolge hatte und rund 200 Bücher verfaßt haben soll. »Varney der Vampir« mit seinem Untertitel »Die Blutorgie« erschien 1847.
Auch »Dracula« (erstmals herausgekommen 1897) wurde zum Bestseller – und zeitgleich zu Murnaus Bearbeitung des Stoffes im Stummfilm (1922) kam er ebenfalls auf die Bühne, in England ebenso wie in den USA. Diese Schauspiele waren erfolgreiche Kassenschlager, obwohl sich die Zeiten grundlegend geändert hatten: Man schrieb mittlerweile das Jahr 1925, von Romantik keine Spur, und eigentlich hatte der real existierende Horror der Literatur längst den Rang abgelaufen. Der Erste Weltkrieg mit seinen Millionen Toten lag erst einige Jahre zurück, die grausamen Materialschlachten, die Gasangriffe, das sinnlose Sterben waren noch längst nicht vergessen, und der Appetit des Publikums auf Horror hätte zunächst einmal gestillt sein müssen. Aber über Geschmack soll man ja bekanntlich nicht streiten. Die zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre sahen dann die Geburt der Science Fiction heutiger Prägung – und die ersten Horror-Stories modernen Zuschnitts. Graf Dracula und seine vielfältige Verwandtschaft zeigten sich den neuen Zeiten gewachsen. Sie hatten ihre Unsterblichkeit (und ihre Faszination für die »normalen«, die sterblichen Menschen) schon in den Zeiten des Biedermeier und der Romantik bewiesen; sie bewiesen sich auch als Überlebenskünstler in der beginnenden Industrialisierung. Sie hatten die Schrecken des Ersten Weltkrieges unbeschadet überstanden; sie überlebten die Weltwirtschaftskrise, Hollywood, den Zweiten Weltkrieg und alles, was folgte. Heute tummeln sie sich im INTERNET – ebenso wie ihre Fans. Wer mehr wissen will: Unter der Adresse »alt.vampyres« kann er (oder sie) alles weitere erfahren. In der nächsten Folge: – Vampir-Legenden aus aller Welt – Literaturquellen zum Thema
Para-Träume von Timothy Stahl Die Träume kamen plötzlich, mit brutaler Gewalt. Es war, als könnte Jennifer in eine andere Welt blicken. Eine Welt des Schreckens, des unsagbar Bösen. Eine Welt, die ihr fast real erschien. Sie wußte nicht, daß sie nicht die einzige war, die diese Träume hatte. Und daß man bereits fieberhaft nach ihr suchte. Denn die nächtlichen Visionen waren viel mehr als bloße Träume. Sie waren der Schlüssel zu einer Wahrheit neben der unseren, der sichtbaren Welt. Und wer immer diesen Schlüssel erlangte, der hielt die Vorsehung in Händen …