BUCH: Ein prachtvoll illustrierter Sammelband über die Belgariad und Malloreon Saga, vergleichbar mit Tolkiens SILMARIL...
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BUCH: Ein prachtvoll illustrierter Sammelband über die Belgariad und Malloreon Saga, vergleichbar mit Tolkiens SILMARILLION. Im RIVA-KODEX machen David und Leigh Eddings ihren Lesern endlich alles Hintergrundmaterial zu ihrer beliebtesten FantasyWelt zugänglich: Geschichten über ihre Helden, die Mythologie, Legenden und Sagen, Zeittafeln, Stammbäume usw. Der Band ist mit zahlreichen Illustrationen von Geoff Taylor ausgestattet – ein MUSS für jeden Fan und das ideale Geschenk!
BIBLIOTHEK DER PHANTASTISCHEN LITERATUR HERAUSGEGEBEN VON STEFAN BAUER
Die alten Texte Belgariads und Malloreons Ins Deutsche übertragen von Susi Grixa und Susanne Tschirner
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 20 438
Erste Auflage: Mai 2002
Vollständige Taschenbuchausgabe
Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe
Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Rivan Kodex © Copyright 1998 by David & Leigh Eddings © für die deutschsprachige Ausgabe 2000 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Scna & layout by mp All rights reserved Originaltitel: The Rivan-Kodex Lektorat: Wolfgang Neuhaus / Stefan Bauer Titelbild und Innenillustrationen: Geoff Taylor, by arrangement with HarperCollinsPublishers, London Kartenzeichnungen: Helmut W. Pesch Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg Satz: QuadroGestaltungSatz, Bensberg Druck und Verarbeitung: Eisnerdruck, Berlin
Printed in Germany ISBN 3-404-20438-7
Für Malcom, Jane, Joy, Geoff und das Team von Harper Collins. Es ist immer eine Freude, mit Euch zusammen zu arbeiten. Vielen Dank David & Leigh
INHALT
VORBEMERKUNG Gewiß waren es nicht zuletzt die vielen schmeichelhaften Zuschriften in den vergangenen Jahren, die mir den Entschluß leicht machten, diesen Band zu veröffentlichen. Einige dieser Briefe stammten von Studenten der unterschiedlichsten Semester, aber selbst Lehrer schrieben mir und teilten mir mit, daß sie ihre Schüler ermutigen, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Wissen sie denn nicht, daß man solange wartet, bis der Verfasser friedlich in der Erde ruht, ehe man sich so eingehend mit ihm befaßt? In ihren Briefen stellen die Studenten zumeist Fragen. Die Lehrer jedoch versuchen, mich mehr oder weniger direkt in den Lehrsaal zu locken. Wie bereits erwähnt, fühle ich mich sehr geschmeichelt, aber ich schreibe keine Semesterarbeiten mehr, und ich benote sie auch nicht, und ich reise nicht. Um es idiomatisch auszudrücken: ›Ich gehe nirgendwo hin; ich bin, wo ich sein will.‹ Dann gibt es noch die anderen Briefe, die ein wenig verschämten Eingeständnisse, ›selbst zu versuchen, Fantasy zu schreiben‹. Über diese Zuschriften mache ich mir keine großen Gedanken; es sind Anwandlungen, über die der Verfasser rasch hinwegkommt, spätestens sobald ihm klar wird, wie viel Arbeit damit verbunden ist. Ich bin überzeugt, daß die meisten sich schon bald lieber einfacheren Dingen zuwenden – wie Gehirnchirurgie oder Raumfahrttechnik. Ich habe es mir zur Regel gemacht, diese Briefe abzuheften und nichts von mir hören zu lassen. Längeres Schweigen trägt wahrscheinlich am ehesten dazu bei, daß die Verfasser bald selbst nicht mehr an ihre Werke denken. Dann fiel mir ein Gespräch mit Lester del Rey ein. Als ich ein grobes Expose für die Belgariad-Saga eingereicht hatte, rechnete ich
damit, wie üblich geraume Zeit auf eine Antwort warten zu müssen. Doch Lester reagierte mit übertriebener Eile, wie ich fand. Er wollte das Projekt sofort sehen. Ich aber war noch nicht bereit, es ihm zu zeigen – zumindest nicht sofort. Damals war ich damit beschäftigt, den Teil meines Werkes zu überarbeiten, der einmal Buch I. werden sollte, und da ich in jenen Jahren nebenbei auch noch ernsthafter Arbeit nachging, war meine Zeit ziemlich beschränkt. Allerdings lag mir daran, Lesters Interesse wachzuhalten; deshalb sandte ich ihm statt dessen meine ›Vorstudien‹ – ›damit Sie sich ein Bild über den Hintergrund machen können‹. Später erzählte Lester mir, er habe sich bei der Lektüre dieser Vorstudien gedacht, so etwas könne man unmöglich veröffentlichen, doch er gab zu, trotzdem weitergelesen zu haben. Zu diesem Zeitpunkt waren wir mit unserer Arbeit an der BelgariadSaga schon ziemlich weit vorangekommen. Lester hatte hinzugefügt: »Vielleicht sollten wir die Gedanken, die Sie ausgearbeitet haben, in Buchform veröffentlichen, sobald sämtliche Bände der Saga erschienen sind.« Schließlich fügte sich alles zusammen. Die Fragen, die man mir stellte, konnte ich mühelos beantworten; denn niemand, der mit ein bißchen System arbeitet, würde ein mehrbändiges Werk ohne gut durchdachte Aufzeichnungen angehen. Meine lagen abgeschlossen im Arbeitszimmer; ich hatte soeben einen Auftrag über fünf Bände fertiggestellt, und im Augenblick glühten keine neuen Eisen im Feuer. Daher hatte ich Zeit, mich ganz diesem Projekt zu widmen. Es bedurfte nur noch einer kurzen Einleitung und einiger Fußnoten, dann konnte es in Druck gehen. (Ich sollte vielleicht erwähnen, daß meine Definition von ›kurz‹ sich vermutlich nicht ganz mit der Ihren deckt. Ich brauche etwa hundert Seiten, nur um warm zu werden. Ist Ihnen das aufgefallen? Ja, das dachte ich mir beinahe schon.) Bedenken Sie bitte, daß diese Studien nahezu zwanzig Jahre alt und nicht durchgängig und einheitlich sind, sondern stellenweise
erhebliche Lücken aufweisen. Ich führte kein Tagebuch, um meine Ausbrüche von Inspiration festzuhalten. Ich gebe offen zu, daß vermutlich nicht mehr als die Hälfte dieser ›Geistesblitze‹ tatsächlich etwas gebracht haben. Manche hätten gewiß verheerende Folgen nach sich gezogen. Glücklicherweise stand mir meine gestrenge Mitarbeiterin zur Seite, die solche Mißgriffe rasch behob. Wie bei jeder Erfindung schlichen sich auch hier wohl unvermeidbare Fehlkonstruktionen ein. Dieses Buch soll anderen helfen, Fehler zu vermeiden, wie sie uns unterlaufen sind, und vielleicht gibt es den Adepten dieses Genres einen Einblick in den kreativen Prozeß – etwa in der Art: ›Man verbinde Draht A mit Draht B. Vorsicht! Verbinden Sie auf keinen Fall Draht A mit Draht C. Das Ganze könnte Ihnen um die Ohren fliegen.‹ Nun, da ich meine Absicht dargelegt habe, können wir die Lektion hinter uns bringen. (Sie haben sich doch nicht etwa eingebildet, Sie kämen ohne davon?) Als ich 1956 meine Dienstzeit bei der Armee beendete, kam ich den Genuß der Rechte, die sich aus den berühmten GI Bill ergaben. Meine Regierung war so großzügig, mir einen Hochschulbesuch zu finanzieren. Ich arbeitete ein Jahr lang, um wenigstens ein paar Dollar für das Notwendigste (Nahrung, Kleidung und Unterkunft) zur Seite legen zu können; dann schrieb ich mich für die Graduate School der Universität von Washington in Seattle ein. (In Seattle erachtet man einen Tag bereits als schön, wenn es nicht in Strömen gießt.) Ich wollte mich hauptsächlich mit modernen amerikanischen Schriftstellern wie Hemingway, Faulkner und Steinbeck befassen, wußte jedoch, daß mir das Examen für den Dr. Phil. bevorstand, also entschloß ich mich, auch ein wenig Zeit mit Chaucer, Shakespeare und Milton zu verbringen. Als ich mich dann mit dem Mittelenglischen vertraut gemacht hatte, war ich hellauf begeistert von Chaucer – im weiteren Verlauf auch von Sir Thomas Malory. Was wir heute als ›Epische Fantasy‹ bezeichnen, hat seinen Ursprung in den mittelalterlichen Ritterromanen; deshalb
verschafften meine Studien über Chaucer und Malory mir einen gewissen Vorsprung auf diesem Gebiet. ›Mittelalterliche Ritterromane‹ haben vom elften bis zum sechzehnten Jahrhundert eine lange und ehrenvolle Tradition; dann aber ging diese Ära mit den Abenteuern des Don Quichote zu Ende. In diesem Genre schwärmte man vom frühen Mittelalter und erhob eine Anzahl wahrhaft barbarischer Protagonisten fast zu Heiligen. Die Helden, mit denen sich die englisch sprechende Welt gewiß am meisten beschäftigt, sind König Artus und die Ritter seiner Tafelrunde. Es mag einen König Artus gegeben haben; aber das ist im Grunde gar nicht von Bedeutung. Wir dürfen jedenfalls nicht zulassen, daß uns bei einer guten Geschichte historische Fakten im Weg stehen, meinen Sie nicht auch? Aber da das Thema nun schon angeschnitten ist, sollten wir uns mit einer Person befassen, die historisch belegbar ist und großen Einfluß auf das damals zart erblühende Genre ausübte. Die fragliche Dame war die berühmt-berüchtigte Eleanor von Aquitanien. Eleanor lebte im zwölften Jahrhundert und war mit fünf (zählen Sie mit) verschiedenen Königen (oder Pseudokönigen) verwandt. Ihr Vater war der Herzog von Aquitanien (heute unter dem Namen Gascogne bekannt), und da er ein größeres Territorium beherrschte als der König von Frankreich, unterzeichnete er seine Dokumente mit ›König von Aquitanien‹. 1137 arrangierte Ludwig VI. (der Dicke) von Frankreich die Heirat zwischen seinem Sohn Prinz Ludwig und ›Prinzessin‹ Eleanor. Sie war keine treue Gattin; sie warf nur zu gern ein Auge auf andere Männer, und zumeist blieb es nicht beim Blickkontakt. Ihr Gemahl, der bald Ludwig VII. (der Fromme) von Frankreich wurde, war ein gottgläubiger Mann, der jedoch von seiner Gattin mit ihrem ausschweifenden Lebenswandel, die zur notorischen Ehebrecherin wurde, keinen Sohn geschenkt bekam. Schließlich gelang es Ludwig, im Jahre 1152 die Ehe annullieren zu lassen. Zwei Monate darauf heiratete Eleanor Henry Plantagenet, den Grafen von Anjou, der 1154 König Heinrich II.
von England wurde. Es stellte sich heraus, daß Eleanor keineswegs unfruchtbar war; sie gebar Heinrich vier Söhne und vier Töchter, was aber kein Zeichen für eine glückliche, harmonische Ehe war, wie man eigentlich meinen sollte: Die beiden kamen gar nicht gut miteinander aus. Doch Heinrich machte es sich leicht und ließ Eleanor einsperren, um Ruhe vor ihr zu haben. Nach seinem Tod schürte sie den Streit zwischen ihren Söhnen Richard und Johann, die beide später Könige von England wurden (Richard I. Löwenherz und Johann I. ohne Land). Auch sie sperrten ihre Mutter ein, damit sie kein weiteres Unheil anrichten konnte. Kein Wunder also, daß Eleanor viel Zeit hinter verschlossenen Türen verbrachte. Da sie nicht viel vom Sticken hielt, las sie Bücher. Im zwölften Jahrhundert mußten Bücher von Hand kopiert werden und waren sehr teuer; aber das kümmerte Eleanor nicht. Wenngleich sie nicht frei war, mangelte es ihr keineswegs an Geld, und so konnte sie es sich leisten, einige Mittellose mit literarischen Ambitionen dafür zu bezahlen, jene Art von Büchern zu schreiben, die es ihr angetan hatten. In Anbetracht ihrer Herkunft ist es verständlich, daß Eleanor Bücher lesen wollte, die von Königen handelten, von Rittern in schimmernder Rüstung, von edlen Junkern, die mit Hingabe Laute spielten und dazu schmachtende Liebeslieder sangen, und von schönen Maiden, die ihr Leben in Türmen fristeten. Ihrer literarischen Vorliebe verdanken wir die Troubadurdichtung – die höfische Liebesdichtung –, sowie ganze Bibliotheken französischer Liebesromane, die sich mit ›Britischen Themen‹ befassen (König Artus et al), sowie ›Französischen Themen‹ (Karl der Große und Co.). Lassen wir nun drei Jahrhunderte hinter uns. Während der Zeit der Rosenkriege lebte ein Ritter namens Sir Thomas Malory (vermutlich stammte er aus Warwickshire), der auf Seiten derer von Lancaster stand. Als die Partei von York die Vorherrschaft errang, wurde Sir Thomas ins Gefängnis geworfen. Genau genommen war er jedoch kein richtiger politischer Gefangener. Er saß im
Gefängnis, weil er offenbar eher ein Berufsverbrecher gewesen war als ein überzeugter Anhänger des Hauses Lancaster. Vielleicht hatten einige der gegen ihn erhobenen Anklagen tatsächlich einen politischen Hintergrund, doch seine Einkerkerung hatte keine politischen Gründe, sondern war darauf zurückzuführen, daß er wohl eine Art mittelalterlicher Jesse James war, der eine Bande von Gesetzesbrechern im südlichen England anführte. Man verurteilte ihn wegen Aufruhr, Mord und Mordversuch am Herzog von Buckingham, Rinder- und Pferdediebstahl, Plünderung von Klostern, Klosterschändung, Ausbruch aus dem Gefängnis und nicht selten wegen Vergewaltigung. Sir Thomas scheint ein sehr schlimmer Finger gewesen zu sein. Aber er war auch von Adel und zeitweise sogar Mitglied des Parlaments; deshalb konnte er seine Kerkermeister überreden, ihn die Bücherei besuchen zu lassen (unter Bewachung, versteht sich), die sich in der Nähe befand. Sir Thomas war sehr stolz auf seine ausgezeichneten Kenntnisse der französischen Sprache, und er vertrieb sich die vielen Stunden seiner Haft, indem er die unendlich langen französischen Romane übersetzte, die von König Artus handelten (wem sonst?). Die Früchte seiner Mühen kennen wir unter dem Namen Le Morte d’Arthur. Eine technische Errungenschaft dieser Zeit sorgte dafür, daß Malorys Werk weite Verbreitung fand. William Caxton hatte eine Druckerpresse, und er war es leid, religiöse Pamphlete zu drucken. Nun witterte er eine Marktlücke. Er nahm sich Malorys Manuskript an und überarbeitete es für den Druck. Ich finde, Caxtons Beitrag zum Le Morte d’Arthur wird vielfach unterschätzt. Den Literaturwissenschaftlern zufolge war Malorys Originalmanuskript ein Durcheinander von Geschichten, die keinerlei inneren Bezug aufwiesen. Erst Caxton ordnete sie zu einem zusammenhängenden Ganzen und präsentierte eine Geschichte mit einem Anfang, einem Mittelteil und einem Ende.
Lassen wir nun weitere vierhundert Jahre hinter uns. Königin Viktoria bestieg mit siebzehn den britischen Thron. Sie hatte eigene Ansichten und schätzte keine ›Unartigkeiten‹. Viktorias Hofdichter, Alfred Lord Tennyson, überarbeitete Malorys Arbeit, um seiner Königin ein Werk vorzulegen, das er Idylls of the King nannte. Dieses Werk ist eine typisch viktorianische Zensur. Es spiegelte die vorherrschende Meinung der Zeit wider, daß Le Morte d’Arthur wenig mehr war als ›offene unzüchtige Rede und Totschlag‹. Kleine pikante Details wurden übergangen; so verzichtete man beispielsweise auf Ginovers Rolle als Ehebrecherin, auf Artus’ inzestuöse Beziehung zu seiner Halbschwester Morgan le Fay, sowie auf andere Anstößigkeiten. Weitere hundert Jahre vergehen, und wir gelangen zu Papa Tolkien, der vermutlich noch prüder war als Königin Viktoria. Ist Ihnen schon aufgefallen, daß es bei den Hobbits keine Mädchen gibt? Es gibt zwar Hobbit-Matronen und weibliche HobbitHündchen, aber keine Hobbit-Mädchen. Die Viktorianer erhielten die Vorstellung aufrecht, daß Frauen unterhalb des Halses nicht existieren. Zeitgenössische Schriftsteller der Phantastik verneigen sich höflich vor Tennyson und Papa Tolkien, um sich dann auf der Suche nach Inspiration den alten Texten zuzuwenden – und davon gibt es reichlich. Im Englischen haben wir König Artus und seine Jungs; Siegfried und Brunhild finden wir in der deutschen Dichtung; Charlemagne und Roland sind der französische Beitrag; El Cid der spanische, und Sigurd der Völsung belebt die isländische Dichtung. Darüber hinaus finden wir einige der mächtigsten Ritter in einem halben Dutzend anderer Kulturen. Ohne Skrupel bedienen wir uns der mittelalterlichen Romane. Wir haben mit viel Mühe eine Liste verschiedener Bestandteile zusammengestellt, die bei guter Fantasy nicht fehlen sollten. Die erste Entscheidung, die ein ehrgeiziger Fantasy-Autor treffen muß, ist theologischer Art. König Artus und Karl der Große waren
Christen, Siegfried und Sigurd der Völsung Heiden. Ich persönlich finde, daß Heiden bessere Stories schreiben. Wenn ein Autor Spaß hat, zeigt es sich in seinem Werk, und Heiden haben nun mal mehr Spaß als Christen. Wir sollten Horaz gleich vergessen, ehe wir uns an die Arbeit machen. Wir schreiben aus Freude am Schreiben, nicht, um den Moralapostel zu spielen. Ich hatte mehr Spaß mit der Belgariad-Saga und der Malloreon-Saga als ihr, denn ich weiß, wo all die Witze sind. Nun denn, zu Punkt Numero eins: Ich wählte das Heidentum. (Bitte beachten Sie, daß Papa Tolkien, ein gläubiger Anglo-Katholik, denselben Weg einschlug.) Punkt Numero zwei auf unserer vorläufigen Liste ist ›die Suche‹. Wenn es keine Suche gibt, gibt es auch keine Geschichte. Die Suche erklärt, warum man herumzieht und Leute kennenlernt. Anderenfalls wäre man wahrscheinlich zu Hause geblieben und hätte Rüben angebaut oder was auch immer. Punkt Numero drei ist ›der magische Gegenstand‹ der Heilige Gral, der Ring der Macht, das Zauberschwert, das Zauberbuch, oder (Wunder über Wunder) DAS JUWEL. Jeder weiß, woher ich diese Idee hatte. Das magische Etwas ist für gewöhnlich, wenn auch nicht stets, das Objekt der Suche. Punkt Numero vier ist ›Unser Held‹ – Sir Galahad, Sir Gawaine, Sir Lancelot oder Sir Parzival. Galahad ist religiös; Gawaine ist loyal; Lancelot ist der beste Kämpe der Welt; und Parzival ist dumm – zumindest anfänglich. Ich habe mich an Parzival gehalten, weil er den meisten Spaß hat. Ein dummer Held ist der perfekte Held, weil er nicht die leiseste Ahnung hat, was eigentlich vor sich geht, und indem er die Dinge erklärt bekommt, kann der Autor auch dem Leser erklären, was geschieht. Nein, regen Sie sich nicht auf. Ich rede nicht schlecht von Garion. Er ist ziemlich gescheit, aber er ist ein Junge vom Lande und er hat noch nicht viel von der Welt gesehen. Seine Tante Pol wollte es so, und Polgara bekommt für gewöhnlich, was sie will.
Punkt Numero fünf ist der ›Zauberer‹ – beispielsweise Merlin oder Gandalf. Mächtig muß er sein, einflußreich und geheimnisvoll. Ich habe das sogleich von der Liste gestrichen und mich ohne Umschweife mit Belgarath befaßt. Ich glaube, es war die richtige Wahl. Belgarath ist ein heruntergekommener Vagabund mit schlechten Angewohnheiten – der ganz nebenbei Berge versetzen könnte, wenn er wollte. Ich beschloß, ihm als Gegenpart seine Tochter Polgara zur Seite zu stellen, eine Tochter, die nichts von seinen schlechten Angewohnheiten hält. Mit der Idee, Zauberer und Zauberin (Vater/Tochter) in die Geschichte einzubringen, habe ich wohl Neuland betreten. Punkt Numero sechs ist die Heldin – für gewöhnlich eine zarte blonde Maid, die sich in einem Turm nach ihrem schimmernden Helden verzehrt. Nicht bei mir. Ce’Nedra ist ein verwöhntes Gör, daran besteht kein Zweifel; aber sie ist auch ein Tiger, wenn es hart auf hart geht. Sie entwickelte sich besser, als ich erwartet hatte. Punkt Numero sieben ist der Bösewicht, der höllisch gute Beziehungen hat. Ich erfand Torak, und ich war sehr zufrieden mit ihm. Es gelang mir sogar, ihm eine glaubwürdige Motivation unterzuschieben. Dabei war Milton mir eine ziemliche Hilfe. Torak ist nicht unbedingt mit Luzifer gleichzusetzen, kommt ihm aber ziemlich nahe. Wie üblich gibt es natürlich auch eine Reihe böser Helfershelfer, die ihm die schmutzige Arbeit abnehmen. (Klappen Sie das Buch nicht zu! Ich bin gleich fertig!) Punkt Numero acht ist die unvermeidliche Gruppe der ›Gefährten‹, die Truppe muskelbepackter Typen aus verschiedenen Kulturen, die das Abschlachten der Feinde übernehmen, bis der Held groß und stark genug ist, selbst mit den bösen Gegnern fertigzuwerden. Punkt Numero neun sind die Maiden, die zu den starken Jungs (siehe Punkt Numero acht) gehören. Der Charakter jeder dieser
Damen muß gut durchdacht sein; auch sie brauchen ihre Eigenheiten und besonderen Vorlieben. Kommen wir schließlich zu Punkt Numero zehn. Das sind die Könige und Königinnen, Kaiser, Höflinge, Bürokraten und alle, die zum Regieren der Welt vonnöten sind. Nun, das ist das Ende der Liste. Wenn sie komplett ist, und Sie legen mit dem Schreiben los, sind Sie auf dem besten Weg, zeitgenössische Fantasy zu Papier zu bringen (wie Tausende anderer auch). Jetzt kommt der Test: ›Schreiben Sie eine phantastische Erzählung in nicht weniger als drei und nicht mehr als zwölf Bänden. Dann bieten Sie das komplette Werk einem Verlag an. Sie haben dafür zwanzig Jahre Zeit.‹ (Schicken Sie es nicht an mich. Ich habe keine Druckerpresse, und ich lese keine Fantasy. Auf diese Weise schütze ich mich vor möglicher unwillkommener Infiltration.) HALT!! Schrauben Sie die Füllerkappe noch nicht ab, ziehen Sie den Staubschutz nicht von der Schreibmaschine und lassen Sie auch den Computer ausgeschaltet. Eine gewisse Vorbereitung dürfte von Vorteil sein. Das Autofahren muß man auch erst lernen, ehe man sich ans Steuer setzt und quer durchs Land reist; ebenso sinnvoll ist es, in ein paar medizinischen Schriften zu blättern, ehe man Onkel Charlies Kopf aufsägt, um dort einen chirurgischen Eingriff vorzunehmen. Darauf will ich zu Beginn noch einmal hinweisen. So haben wir es gemacht. Es ist gewiß nicht die einzige Möglichkeit, ein solches Projekt anzugehen. Bei uns hat es ganz gut geklappt, aber andere Methoden führten ebenfalls zum Erfolg. Wenn Ihnen unsere Methode nicht gefällt, sind wir nicht beleidigt. Nun kommen wir notgedrungen zu einer kurzen Biographie. Diese Einleitung dient dazu, biographische Details in angemessenem Umfang zu bieten, um den Wissensdurstigen eine Beschreibung unserer vorbereitenden Studien zu vermitteln. Hoffentlich genügt es
Ihnen, denn mehr gibt es nicht. Mein Privatleben ist nun, es ist eben privat – und so wird es auch bleiben. Sie müssen ja nicht unbedingt wissen, was ich zum Frühstück esse. Ich wurde 1931 in Washington geboren (dem Staat, nicht der Stadt). Ja, ja, fangen Sie getrost an zu zählen. Deprimierend, nicht wahr? 1949 schloß ich die High School ab; danach ging ich ein Jahr lang ehrlicher Arbeit nach und schrieb mich anschließend in ein Junior College ein. Meine Hauptfächer waren Rhetorik, Literatur und Englisch. An diesem College hatte ich viel Erfolg. Ich gewann einen landesweiten Rhetorikwettbewerb und spielte die meisten männlichen Hauptrollen bei den Aufführungen des Schultheaters. Dann bewarb ich mich um ein Stipendium am Reed College in Portland, Oregon, das ich auch erhielt. In Reed hatte ich es nicht ganz so leicht. Um einen akademischen Grad zu erlangen, bedurfte es auf dem College einer Dissertation, und so schrieb ich einen Roman (was sonst?). Dann wurde ich eingezogen. Die Armee schickte mich nach Deutschland anstatt nach Korea – wo die Leute noch immer aufeinander schossen. Ich studierte Deutsch; so kam ich ganz gut zurecht, und wenn ich nicht mit Jeep und Maschinengewehr Soldat spielte, machte ich die obligatorischen Ausflüge nach Paris, London, Wien, Neapel, Rom und Berlin (vor dem Mauerbau). Es war sehr lehrreich, und ich wurde für meinen Aufenthalt sogar noch bezahlt. Als ich in die Staaten zurückkehrte, war auch meine Dienstzeit zu Ende. Dank dem GI Bill konnte ich vier Jahre an der Universität Washington studieren. Ich habe Ihnen das bereits erzählt; deshalb verliere ich jetzt nicht viele Worte. Während meiner Jahre am College verdiente ich mein Geld mit Teilzeitjobs in Supermärkten, ein idealer Job für Studenten, da man sich die Arbeitsstunden zum Stundenplan passend einteilen kann. Dann arbeitete ich für Boeing, die Raketen für den Weltraum bauten. (Ich war Einkäufer, kein Ingenieur.) Auf bescheidene Weise trug ich dazu bei, einen
Menschen zum Mond zu schicken. Dann heiratete ich eine junge Dame, deren Geschichte noch interessanter war als meine. Allerdings war ich ein wenig pikiert, als ich erfuhr, daß sie zu noch geheimeren Dokumenten und Bereichen Zugang hatte als ich. Ich dachte, ›Top Secret‹ sei die höchste Stufe, mußte meinen Irrtum aber eingestehen. Sie hatte mit Ressorts zu tun gehabt, von denen ich nicht einmal den Namen kannte; denn sie arbeitete bei der Air Force, während ich auf der Erde geblieben war. Bald fand ich heraus, daß sie ausgezeichnet kochen konnte und eine phantastische Anglerin war. Und als wir uns nicht darauf einigen konnten, ob das braune Ding hinter dem hundert Meter entfernten Baumstamm wirklich ein Reh war, bewies sie mir, daß sie obendrein eine treffsicherere Schützin war, indem sie dem armen Bambi genau zwischen die Augen schoß. Einige Jahre unterrichtete ich am College, bis die Verwaltungsangestellten Gehaltserhöhungen erhielten, der Lehrkörper aber nicht. Ich erklärte der Verwaltung, wohin sie sich meinen Job stecken könnten; dann zogen meine Frau und ich nach Denver, wo ich (wir) in unserer Freizeit High Hunt schrieben. Damals arbeitete ich wieder in einem Supermarkt und meine Frau als Zimmermädchen in einem Hotel. Wir verkauften High Hunt an Putnam – und damit hatte ich ein Buch veröffentlicht! Wir zogen nach Spokane. Dort arbeitete ich wieder in einem Supermarkt, damit wir regelmäßig zu essen hatten. Ich war überzeugt, ein ›ernsthafter Autor‹ zu sein und arbeitete lang und hart an einigen unveröffentlichten (und nicht zu veröffentlichenden) Romanen, süßliche, zeitgenössische Tragödien. Mitte der siebziger Jahre versuchte ich mich an ›Hunseckers Ascent‹, einer Story über das Bergsteigen. Sie war so mies, daß sie sogar mich selbst langweilte. (Nein, Sie können sie nicht lesen. Ich habe sie verbrannt.) Eines Morgens, ehe ich zur Arbeit aufbrach, kritzelte ich mit Bleistift auf ein Blatt Papier. Aus meinem Gekritzel entstand eine Karte von einem Ort, den es nie gab (und der
wahrscheinlich geographisch unmöglich ist). Dann legte ich das Blatt beiseite und fuhr zur Arbeit. Einige Jahre später besuchte ich eine Buchhandlung, die hauptsächlich Belletristik anbot. Ich schlenderte an den Regalen mit Science Fiction vorbei und entdeckte eine Ausgabe von Herr der Ringe. Ich murmelte: »Wird dieser alte Schinken immer noch verkauft?« Dann nahm ich den Band und stellte fest, daß es die siebenundachtzigste Auflage war!!! Ich war wie vom Schlag getroffen, ging nach Hause und grub das. zuvor erwähnte Gekritzel aus. Es schien mir doch mehr dahinterzustecken, als ich zunächst gedacht hatte. Dann machte ich mich methodisch wie immer an die Arbeit und kreuzte die zuvor erwähnten notwendigen Inhalte für eine gute mittelalterliche Geschichte an. Als ich mich auf meine Diplomarbeit vorbereitete, hatte ich Kurse in mittelenglischer Literatur belegt; deshalb war mir dieses Genre keineswegs fremd. Ich erkannte nun, daß es Konsequenzen hatte, wenn man eine Welt erschuf. So eine Welt mußte bevölkert werden, und das bedeutete, daß ich zusätzlich etliche ›-ologien‹ erdenken mußte, ehe ich mit dem Entwurf anfangen konnte. Das Resultat dieser Gedanken war der Rivanische Kodex. Ich war der Meinung, daß jede Kultur ein eigenes soziales Gefüge haben mußte, eine eigene Mythologie und eine eigene Theologie; die Völker sollten sich auch modisch unterscheiden, auf ihre eigene Art miteinander sprechen, und der nationale Charakter mußte sich unverwechselbar von dem anderer Nationen unterscheiden. Außerdem war ein eigenes Münzwesen vonnöten und geringfügig verschiedene Gewichte und Maße. Es war mir klar, daß ich das alles nicht in Büchern verwenden konnte, aber es war als Grundlage und Background unverzichtbar. Für die Vorbereitungen zur Belgariad-Saga brauchte ich fast zwei Jahre (1978 und 1979 – damals ging ich noch ehrlicher Arbeit nach, und meine Zeit war begrenzt). Wenn man es mit Zauberern zu tun hat, ist das größte Problem das ›Superman-Syndrom‹. Man hat da einen Burschen, der schneller
ist als eine Gewehrkugel und so weiter. Er kann Berge versetzen und den Lauf der Sonne anhalten. Kugeln prallen von ihm ab, und obendrein liest er Gedanken. Wer soll mit einem so schrecklichen Gegner in den Ring steigen? Vermutlich hätte ich auf Zaubersprüche und Anrufungen zurückgreifen können, um so einem Helden einen glaubwürdigen Hintergrund zu geben, aber dafür muß man sich zumindest ein paar Zaubersprüche ausdenken. Sobald es solche Zaubersprüche gibt, ist vielleicht ein Verrückter davon überzeugt, daß sie tatsächlich wirken und ihm Flügel verleihen, wenn er von einem Hochhaus springt. Oder aber, er glaubt, er würde zum Herrscher über das Universum, sobald er eine Jungfrau geopfert hat – und stellt euch vor, eine Pfadfinderin klopft an seine Tür –??? Ich glaube, es war ein Sinn für soziale Verantwortung, der mich von dieser Hokuspokus-Routine abweichen ließ. Wie dem auch sei, es war zu der Zeit, als ESP-Scharlatane verkündeten, sie könnten nur mit der Kraft des Geistes Schlüssel verbiegen (oder Stemmeisen oder was auch immer). Bingo! Der Wille und das Wort waren somit geboren. Und das SupermanProblem war vom Tisch. Der Gedanke, daß geistige Arbeit ebenso anstrengend ist wie körperliche, war der ideale Ausweg. Man mag in der Lage sein, mit Gedankenkraft einen Berg hochzuheben, aber danach wird man keinen Schritt mehr vor den anderen setzen können, das dürfen Sie mir glauben. Diese Methode funktionierte wunderbar, und sie führte zu einigen interessanten Aspekten in der Geschichte. Das Verbot, Dinge ungeschehen zu machen, fügten wir später ein, und somit hatten wir eine gut funktionierende Form der Magie, der einige häßliche Konsequenzen anhafteten, sollte man sich nicht an die Regeln halten. Nun hatten wir also eine Geschichte. Aber da sich tat die nächste Frage auf: Wie sollten wir sie erzählen? Da meine Wahl auf Sir Parzival fiel (Sir Dumpfbacke, falls Sie das vorziehen), kam der gehobene Stil nicht in Frage. Ich kann in ›gehobenem Stil‹
schreiben, wenn nötig (sehen Sie sich Mandorallen mit all seinen Ihrs und Euers an), doch Garion hätte sich vermutlich an seiner eigenen Zunge verschluckt, wäre er in die Verlegenheit gekommen. Außerdem ist Magie zwar keine alltägliche Sache, aber sie ist dennoch präsent in der Welt unserer Vorstellung; daher wollte ich Ausbrüche wie ›Grundgütiger!‹ und ›Seht doch!‹ vermeiden. Ich brauchte eine weitgehend alltägliche Sprache (mit einigen kulturellen Variationen), um dem zeitgenössischen Leser die ganze Sache schmackhaft zu machen, allerdings mit dosierten altmodischen Gepflogenheiten, um das mittelalterliche Flair zu wahren. Unter den literarischen Theorien, auf die ich während meiner Universitätszeit stieß, war auch Jungs Vorstellung vom archetypischen Mythos. Um diese Theorie zu belegen, muß für gewöhnlich sehr hart daran gearbeitet werden, Übereinstimmungen zwischen jüngerer (und auch nicht ganz so junger) Dicht- und Erzählkunst und griechischer Mythologie zu finden. (Empfand Hamlet wirklich dieselbe Hingabe, die Ödipus fühlte?) Mir schien, daß dieser Urmythos bei der Bewertung einer Geschichte nichts verloren hatte, aber könnte er vielleicht bei Ihrer Entstehung nützlich sein? Ich versuchte es, und es funktionierte. In den ersten Büchern der Belgariad-Saga versteckte ich mehr mythische Haken, als Sie in einem guten Angelgeschäft finden können. Ich sagte (vielleicht schon zu oft), daß ich Sie nach den ersten hundert Seiten der Belgariad-Saga am Haken habe. Danach werden Sie nicht mehr in der Lage sein, das Buch wegzulegen. Archetypischen Mythos zu verwenden ist das literarische Äquivalent zum Drogenhandel. Die vorbereitenden Studien zu Belgarath sind nicht in chronologischer Reihenfolge entstanden. Die Geschichte des Zauberers Belgarath wurde nach Abschluß der Studien geschrieben, als ich versuchte, den alten Knaben besser in den Griff zu bekommen. Vielleicht wollen Sie diese frühere Charakterstudie mit den ersten Kapiteln des jüngeren Romans Belgarath der Zauberer
vergleichen. Haben Sie die Ähnlichkeiten entdeckt? Ja, dachte ich es mir doch. Als ich mich an diese Studien machte, begann ich auch meine Arbeit an den Heiligen Büchern; das wichtigste davon ist das Buch Alorn. Genau betrachtet, trägt es den Keim der Geschichte. Danach kam gleich das Buch Torak; das gehörte sich schließlich. Das Testament des Schlangenvolkes war nur zum Angeben gedacht. (Ein Gedicht in Form einer Schlange? Hut ab!!) Die Hymne an Chaldan diente dazu, die Arender zu charakterisieren. Ein Kriegsgott ist nicht so ungewöhnlich. Die Marager sind ausgestorben; dennoch verdient das Volk die gleiche Beachtung wie all die anderen. Deshalb versuchte ich mich am leidgeprüften Gott Mara. Ich hatte viel Spaß mit den Sprüchen Nedras – sie sind eine theologische Rechtfertigung für reine Gier. Vielleicht komme ich mit der New Yorker Börse ins Geschäft, dann könnte man die Sprüche dort an der Wand lesen. Die Predigt Aldurs war ein Fehlstart, da dort überschwenglich vom ›Ungeschehenmachen der Dinge‹ berichtet wird, was UL sogleich darauf verbot. Das Buch Ulgo lehnt offensichtlich an das Buch Job an. Man beachte, daß ich selbst aus der Bibel stehle. Gorim gelang mir gut, finde ich. UL war ursprünglich ein Druckfehler. Es gefiel mir, wie es auf dem Papier aussah; deshalb blieb ich dabei. (Hätten Sie es lieber gehabt, wenn ich Göttliche Eingebung geschrieben hätte?) Jetzt werde ich wohl einige begeisterte Leser enttäuschen, denke ich. Sie werden feststellen, daß der Mrin-Kodex und der DarineKodex hier nicht vorkommen. Sie sind nicht erschienen, weil sie nicht existieren. Sie sind ein literarischer Kunstgriff, nichts weiter. (Einmal bot ich Lester im Scherz an, den Mrin-Kodex zu schreiben, falls er ihn als Schriftrolle verlegt, aber er lehnte ab.) Der Mrin-Kodex diente mir als plausible Erklärung, sobald Belkira und Beltira – oder wer auch immer – wieder einen Durchbruch geschafft hatten und dem Verlauf der
Handlung eine neue Richtung gaben. Ich wittere stets das Verlangen nach religiösem Inhalt, wenn jemand nach Kopien des ›Mrin‹ verlangt. Tut mir leid, Leute, es ist nicht mein Job, neue Religionen zu schaffen. Das sind ›Stories‹, und keine ›Enthüllungen‹. Ich bin ein Geschichtenerzähler und kein Prophet Gottes. Okay? Nach der Fertigstellung der Heiligen Bücher war ich bereit, mich an die Arbeit an der Geschichtsschreibung zu machen. Hier finden wir all die ›-ologien‹ – zusammen mit einer Chronologie. Wenn sich eine Geschichte über siebentausend Jahre hinzieht, ist es vorteilhaft, eine Chronologie zu haben und ihr überdies genaue Beachtung zu schenken; anderenfalls verliert man sich irgendwo im neununddreißigsten Jahrhundert. Der geschichtliche Hintergrund der Alorner ist am engsten mit der Romangeschichte verknüpft, doch es bedurfte der Geschichte des tolnedrischen Reiches, um sämtliche Lücken zu füllen. Vermutlich ist es Ihnen schon aufgefallen, wie ermüdend tolnedrische Geschichte ist. Wenn Sie glauben, es sei langweilig, sie zu lesen, dann versuchen mal, sie zu schreiben. Trotzdem war es sehr wichtig, sie niederzuschreiben, da sie einiges Hintergrundmaterial lieferte. Die meisten Ähnlichkeiten zwischen den Völkern dieser Welt und unserer erdachten Welt sollten eigentlich offensichtlich sein. Die Sendarer entsprechen der englischen Landbevölkerung. Die Arender den französischen Normannen, die Tolnedrer den Römern, die Chereker den Wikingern, die Algarier den Kosaken, die Ulgos den Juden, und die Angarakaner den hunnisch-mongolischmoslemischen Westgoten, die versuchten, die Welt mit dem Schwert zu bekehren. Ich brauchte keine Gegenstücke für die Drasnier, Rivaner, Marager oder Nyissaner. Sie sind Teil der Handlung und müssen nicht aus dieser Welt abgeleitet werden. Als wir bei der Historie der Angarakaner angelangt waren, wollten wir endlich mit der eigentlichen Geschichte beginnen; deshalb wurde dieses Volk ziemlich kurz abgefertigt. Ich wollte endlich weiterkommen.
Im Original dieser Studien gibt es Fußnoten, doch sie waren in den Text eingebettet (mit Zwischenraum). So hatten es sich die Gelehrten der Universität Tol Honeths irrtümlich vorgestellt. Die Fußnoten, die ich nun anbringe, sind dort, wohin sie gehören (am Fußende der Seite natürlich). Diese späteren Anmerkungen weisen für gewöhnlich auf widersprüchliche Inhalte hin. Manches aus der Vorarbeit ging in der eigentlichen Geschichte nicht auf, doch ich lasse keine gute Story nur deshalb fallen, um an einem veralteten Spielplan festzuhalten. Die Schlacht von Vo Mimbre war eine Ergänzung. Ich wußte, daß sich epische Fantasy von mittelalterlicher Erzählung ableitete, und um eben diese Herkunft zu unterstreichen, schrieb ich eine solche Erzählung. Die meisten Elemente einer guten, mitreißenden, mittelalterlichen Geschichte sind hier enthalten – natürlich auch die Schwachpunkte. Trotzdem bin ich mir sicher, daß Eleanor von Aquitanien Feuer und Flamme gewesen wäre. Ich wollte die Geschichte in ihrer ursprünglichen Fassung als Prolog für Die Königin der Zauberinnen verwenden, aber Lester del Rey sagte, »NEIN!« Ein Prolog von über siebenundzwanzig Seiten war nicht in seinem Sinne. An dieser Stelle lernte ich die Regeln. Ein Prolog ist nicht länger als acht Seiten. Lester legte den Streit bei, indem er ankündigte, er würde jeden überlangen Prolog mit einer stumpfen Axt kürzen. O ja, da gab es etwas früher noch einen anderen Streitpunkt. Lester gefiel der Name ›Aloria‹ nicht; er wollte es ›Alornia‹ nennen!!! Ich platzte fast vor Wut, aber meine Frau nahm in aller Gelassenheit den Telefonhörer und sagte, »Lester, mein Schatz, ›Alornia‹ klingt wie ein Name für Teegebäck.« Lester dachte eine Zeitlang darüber nach. »Da ist was dran. Na gut, dann eben Aloria.« Diesen großen Sieg konnten wir verbuchen. Ich erzähle Ihnen diese kleinen Klatschgeschichten nicht zum Spaß. In den meisten steckt ein wichtiger Kern. Diese Episode hier
verdeutlicht uns, wie wichtig der richtige Klang eines Namens in der High Fantasy ist. Wären Sie von Lancelot ebenso beeindruckt, wenn er ›Charlie‹ hieße oder ›Wilbur‹? Meine Jugendliebe verbringt Stunden damit, sich Namen auszudenken. Das war ihre Spezialität – und ist es noch. (Sie versteht sich auch wunderbar darauf, Kram über Bord zu werfen und großartige Endungen zu finden.) Ich selbst kann zwar auch Namen entwerfen, aber nicht so gut wie sie. Übrigens, die Silbe ›Gar‹ in den Namen ›Belgarath‹, ›Polgara‹ und ›Garion‹ leitet sich aus dem Ur-Indo-Europäischen ab. Sprachforscher haben jahrelang die Sprache zurückverfolgt, bis zur ursprünglichen Sprache der Barbaren, die vor etwa zwölftausend Jahren aus den Steppen Zentralasiens kamen. ›Gar‹ bedeutete damals Speer. Ist das nicht interessant? Als die Vorstudien abgeschlossen waren, schufen meine Mitautorin und ich eine Rahmenhandlung, überprüften die Charakterstudien und gingen ans Werk. Als wir den ersten Entwurf fertiggestellt hatten und hofften, daß daraus Band I würde, schickten wir es an Ballantine Books – und natürlich ging es auf dem Postweg verloren. Nach sechs Monaten schickte ich ein Schreiben an Ballantine. ›Sie hätten es wenigstens ablehnen können.‹ Die Antwort lautete: ›Meine Güte, wir haben Ihren Entwurf nie erhalten.‹ Beinahe hätte ich das ganze Projekt aufgegeben, und das nur wegen der Nachlässigkeit einer Regierungsbehörde. Ich schickte den Entwurf noch einmal. Er gefiel Lester, und wir unterschrieben einen Vertrag. Nun wurden wir fürs Schreiben bezahlt und konnten uns ganz und gar auf diese Arbeit konzentrieren. Ursprünglich hatte ich vor, eine Trilogie zu schreiben – drei Bücher, welche die Titel Garion, Ce’Nedra und Kal Torak erhalten sollten. Nachdem Lester mich mit der Realität des amerikanischen Verlagsgeschäfts vertraut gemacht hatte erkannte ich, daß diese Idee unhaltbar war. B. Dalton und Waldenbooks hatten ihre eigenen Regeln für Genre Fiction, und diese beiden Verlage beherrschten den Markt. Zu der Zeit wollten sie Genre Fiction als Taschenbuch,
das weniger als drei Dollar kostete und daher nicht länger als dreihundert Seiten sein durfte. »So werden wir es machen«, sagte Lester. (Beachten Sie das ›wir‹. Er meinte nicht wirklich ›wir‹, er meinte mich, David Eddings). »Wir teilen es in fünf Bücher auf statt in drei.« Mein ursprünglicher Plan ging über Bord. Ich schluckte und machte weiter. Die kurzen Titel waren Lesters Idee. Auch darüber war ich nicht begeistert. Ich wollte Buch V In der Gruft des Einäugigen Gottes nennen. Der Titel gefiel mir, aber Lester erklärte mir geduldig, daß ein langer Titel nicht genug Platz für Titelillustrationen ließe. Ich konnte nicht viele meiner Ideen einbringen. Lester ging mit seinen Autoren recht drastisch um. Einmal jedoch trug ich den Sieg davon – glaube ich. Lester hatte mir erklärt, ›Fantasy Fiction‹ wäre die zimperlichste Form aller Kunstformen. Ich wußte, daß er sich irrte. Ich habe die Romane gelesen, aus der sich zeitgenössische Fantasy ableitet, und ›zimperlich‹ ist eine äußerst unpassende Beschreibung (gewiß von Tennyson und Tolkien abgeleitet). Ich machte mich an die Arbeit, um feinfühlend anzudeuten, daß Mädchen tatsächlich nicht nur vom Hals aufwärts existieren. Hier muß ich eingestehen, einige Runden verloren zu haben, aber ich glaube, daß es mir schließlich doch gelungen ist, eine Geschichte zu präsentieren, in der einige Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen hervorgehoben sind, und das finden die meisten Leute interessant. Na gut, ›Auszeit‹. All jenen, die in meine Fußstapfen treten wollen, sage ich jetzt, was zu tun ist. Legen Sie sich eine vernünftige Schulbildung zu. Sie sind nicht qualifiziert, epische Fantasy zu schreiben, wenn Sie sich nicht mit mittelalterlicher Romankunst auskennen. Wie ich schon erwähnte, gibt es die verschiedensten Arten von mittelalterlicher Literatur. Sehen Sie sich die nördlichen Sagas an. Versuchen Sie es mit der germanischen Mythologie (Wenn Sie nicht in die Bücher schauen wollen, dann gehen Sie in Wagners ›Ring der Nibelungen‹).
Werfen Sie einen Blick nach Finnland, Rußland, Irland, Island, Arabien – oder sogar nach China und Indien. Das Bedürfnis, High Fantasy zu schreiben und zu lesen, scheint universell zu sein. Als nächstes sollen Sie das Schreiben üben. Ich fing mit zeitgenössischen Romanen an – High Hunt und The Losers. Letzteres wurde im Juni 1992 veröffentlicht, aber geschrieben habe ich es in den 70ern. Es ist genau genommen kein Roman, sondern eine Allegorie; der einäugige Indianer ist Gott und Jake Flood der Teufel. Beachten Sie bitte, daß ich es schrieb, ehe wir mit der Belgariad-Saga begannen. Wenn Sie ernsthaft schreiben wollen, tun Sie es jeden Tag, und sei es nur eine halbe Stunde. Streichen Sie die Worte ›Wochenende‹ und ›Urlaub‹ aus Ihrem Vokabular. (Wenn Sie sehr fleißig waren, dürfen Sie sich vielleicht Weihnachten einen halben Tag frei nehmen.) Schreiben Sie ungefähr eine Million Worte, und verbrennen Sie sie dann. Jetzt sind Sie fast so weit, daß Sie anfangen können. Ich habe zuvor bereits erwähnt, daß die meisten hoffnungsvollen Fantasy-Autoren schon sehr bald die Lust verlieren. Ich war etwa fünfzehn Jahre alt, als ich feststellte, daß ich zum Schriftsteller berufen war. Bitte beachten Sie, daß ich nicht sagte, ich wollte Schriftsteller werden. ›Wollen‹ hat fast gar nichts damit zu tun. Entweder ist man es, oder man ist es nicht. Wenn Sie dazu berufen sind, kann man nichts dagegen tun. Sie werden schreiben, ob Sie dafür Geld bekommen oder nicht. Dagegen kommen Sie nicht an. Geht es gut, ist es so, als würde man sich das Feuer vom Himmel holen. Es ist besser als jede Droge. Geht es nicht gut, bricht für Sie die Welt zusammen. Es ist Ihnen gewiß aufgefallen, daß in meinem Bericht einige Jahre fehlen. Ich war vierzig, als ich mein erstes druckreifes Buch schrieb. Eine Lehrzeit von fünfundzwanzig Jahren ist nicht jedermanns Sache. Ein Autor fantastischer Literatur muß zunächst eine Welt kreieren und eine Karte zeichnen. Entwerfen Sie die Karte zuerst, denn tun Sie es nicht, verlieren Sie den Überblick, und die besonders
aufmerksamen unter Ihren Lesern werden mit Wonne über diese Fehler herfallen. Dann beschäftigen Sie sich gründlichst mit den Vorstudien und den Entwürfen für die Charaktere. Nehmen Sie sich dafür mindestens ein Jahr Zeit, besser mehr. Die ›Suche‹, der ›Held‹, die Art der Magie und die ›Rassen‹ werden wahrscheinlich im Verlauf dieser Studien ins Leben gerufen. Wenn Sie sich darüber Gedanken machen, inwiefern diese Studien Ihr normales Leben beeinträchtigen, dann suchen Sie sich lieber eine andere Beschäftigung. Haben Sie sich dazu entschlossen, Schriftsteller zu werden, müssen Sie sich damit abfinden, einen großen Teil Ihres Lebens am Schreibtisch zu verbringen. Es gibt auch keine Erfolgsgarantie. Auch wenn Sie sich fünfzig Jahre lang abschuften, kann es sein, daß Sie niemals ein Werk veröffentlichen. Geben Sie den Job, der sie ernährt, nicht auf. Als wir das dritte Buch der Belgariad-Saga fertiggestellt hatten, lernten wir Lester und Judy-Lynn del Rey persönlich kennen. Wir aßen gemeinsam zu abend. Ich sagte Lester, daß wir genug Material für fünf Bücher oder mehr hätten und daß wir überlegen sollten, weitere Folgebände herauszugeben. Lester war durchaus interessiert, und Judy-Lynn wollte gleich einen Vertrag aufsetzen – auf einer Serviette. Das nenne ich Anerkennung. Wie finden Sie das? Wir beendeten die Belgariad-Saga und befaßten uns erneut mit unseren Vorstudien. Unser größtes Problem bei der Arbeit am Malloreon war, daß wir den Teufel am Ende der Belgariad-Saga umgebracht hatten. Doch ohne Bösewichte keine Geschichte; sie erfüllen schließlich auch ihren Zweck. Zandramas war auf recht obskure Weise das Gegenstück zu Polgara. Pol ist zwar als Mutterfigur in unserer Geschichte äußerst wichtig, spielt in der Belgariad-Saga aber nur eine untergeordnete Rolle; wir wollten sie jedoch im Mittelpunkt sehen. Im Malloreon gibt es weitaus mehr bedeutende weibliche Charaktere als in der Belgariad-Saga. Zandramas (ein wundervoller Name, den meine Frau sich
ausgedacht hat) ist Toraks Erbin als das ›Kind der Finsternis‹. Sie strebt nach Höherem, aber ich glaube, sie hatte sich etwas anderes vorgestellt, als zu einer Galaxie zu werden. Die Entführung Prinz Gerans löst die obligatorische Suche aus. Entführungen waren nicht ungewöhnlich in der mittelalterlichen Dichtkunst (wie auch in der realen Welt des frühen Mittelalters); somit blieben wir unserem Genre treu. Wir hatten die meisten unserer Hauptcharaktere – die Helden wie die Bösewichte – fertig umrissen, und ich wußte, daß Mallorea irgendwo im Osten lag. Dann kehrte ich an den Kartentisch zurück und dachte mir einen neuen Kontinent sowie die untere Hälfte des bereits vorhandenen aus. Kal Zakath war uns bei dieser Arbeit sehr behilflich. Der Junge mußte für einen Großteil des Malloreons herhalten. Als Dank legten wir ihn Cyradis zu Füßen. Ich gebe zu, daß ich mich von den Malloreanischen Evangelarien habe hinreißen lassen. Ich wollte die Dals mystisch erscheinen lassen; deshalb warf ich alle selbst auferlegten Verbote über Bord und schrieb etwas nahezu Biblisches, allerdings ohne die Unbequemlichkeiten des Judentums, der christlichen Religionen und des Islam. Dabei kristallisierte sich heraus, daß die Dals in die Zukunft zu sehen vermochten, was Belgarath auch konnte, wenn er dem Mrin-Kodex Beachtung schenkte. Die Prophezeiung ist allgegenwärtig in der Story – aber niemand kann sie so völlig deuten. Meine inzwischen auch der Öffentlichkeit bekannt gewordene Mitautorin und ich beendeten kürzlich die zweite Vorgeschichte zu diesem Werk. Jetzt haben wir, wenn Sie es so nennen wollen, einen Epos in zwölf Bänden vorliegen. Zwölf Bücher waren gut genug für Homer, Vergil und Milton und sind gewiß auch gut genug für uns. Wir beabsichtigen jedenfalls nicht, unserer inzwischen vollständigen Ilias auch noch unsere Version der Odyssee anzufügen. Die Story ist jetzt fertig. Es wird auch keine weiteren Garion-Abenteuer mehr geben. Das ist mein letztes Wort. Ende der Diskussion.
Na gut, ich denke, das sollte den Studenten genügen – und gewiß ist es genug, auch Möchtegernschreiber in kalten Schweiß ausbrechen zu lassen. Ich bezweifle, daß Leser, die an einer ausführlichen Biographie ihres Lieblingsautors interessiert waren, auf ihre Kosten kamen, aber schließlich kann man nicht jedem gerecht werden, nicht wahr? Vertragen Sie noch ein paar offene Worte? Genre Fiction wird geschrieben, um damit Geld zu verdienen. Große Kunst kommt in einer dem Kommerz verschriebenen Gesellschaft nicht so gut an. Nichts, was Franz Kafka schrieb, wurde zu seinen Lebzeiten gedruckt. Die Einsamkeit des Herzens (verfaßt vom Kafka-Bearbeiter Max Brod) fand keine öffentliche Beachtung. Große literarische Kunst ist schwer zu lesen, denn man müßte beim Lesen denken, und die meisten Leser verzichten lieber darauf. Epische Fantasy kann auch in dieser Welt handeln. Man braucht kein neues Universum zu erfinden, nur um eine Geschichte in diesem Genre zu schreiben. Mein ursprüngliches Gekritzel, das zur Landkarte wurde, ließ uns jedoch automatisch in diese von uns erfundene Welt eintauchen. Vermutlich liegt es an diesem von Tolkien erdachten ›Anderweltzauber‹, daß man Fantasy mit Science Fiction in einen Topf wirft; dabei haben unsere Bücher absolut nichts in den Regalen mit SF-Romanen zu suchen. SF-Autoren sind von Technologie begeistert und sehen großzügig über die Fußnote in Einsteins Relativitätstheorie hinweg, die klar darlegt, daß ein Objekt, wenn es sich der Lichtgeschwindigkeit nähert, eine Masse annimmt, die sich der Unendlichkeit nähert. (Soviel zum WarpAntrieb.) Wenn der alte Buck Rogers ein wenig zu fest aufs Gaspedal tritt, müßte er von Rechts wegen eigentlich selbst zum Universum werden. Fantasy-Autoren hingegen schwärmen von Magie und Rittern in schimmernder Rüstung. Sie beschäftigen sich mit so törichten Ideen wie ›dem Willen und dem Wort‹ oder anderem Hokuspokus. SF-Autoren wollen einen besseren Schraubenzieher erfinden, und wir wollen bessere Zaubersprüche.
Sie reisen in die Zukunft und wir in die Vergangenheit. Allerdings schreiben wir die besseren Geschichten. SF-Autoren erklären in allen Einzelheiten, wie eine Uhr funktioniert; wir sagen, wie spät es ist, und erzählen die Geschichte weiter. SF- und Fantasy-Autoren sollten sich nicht einmal miteinander unterhalten, aber versuchen Sie das einem Buchhändler beizubringen oder einem Verleger. Vergessen Sie’s. Nun noch eine letzte, etwas unerfreuliche Anmerkung. Wenn Ihnen beim Schreiben etwas nicht gelingt, dann werfen Sie es fort – auch wenn es bedeutet, daß mehrere hundert Seiten im Papierkorb landen und die Arbeit eines halben Jahres dahin ist. Viele Geschichten kranken allein daran, daß der Autor stur an einer verfahrenen Handlung festhält. Legen Sie die Geschichte einen Monat lang beiseite, und dann lesen Sie sie noch einmal kritisch durch. Vergessen Sie, wer die Story geschrieben hat, und stellen Sie sich vor, der Verfasser sei Ihnen unsympathisch. Dann setzen Sie den Rotstift an. Legen Sie die Story anschließend wieder eine Zeitlang beiseite, bevor Sie sie erneut lesen. Wenn sie Ihnen dann noch immer nicht gefällt, trennen Sie sich von ihr. Das überarbeiten ist das Kernstück beim Schreiben. Die Story steht im Mittelpunkt, nicht die Verliebtheit in Ihren eigenen schwülstigen Schreibstil. Akzeptieren Sie Ihre Verluste und machen Sie weiter. Das sollte vorerst genügen. Wir werden uns später weiter unterhalten. Nun lassen wir Belgarath zu Wort kommen.
VORWORT: DIE HÖCHSTPERSÖNLICHE GESCHICHTE DES ZAUBERERS BELGARATH*
Angesichts aller Geschehnisse ist dies zweifellos ein Fehler. Es wäre viel besser, das Ganze auf sich beruhen zu lassen, während der Staub der Jahre Ereignisse und Ursache gleichermaßen bedeckt. Läge es an mir, würde ich alles beim alten lassen. Meine eigensinnige Tochter jedoch bedrängt mich und mein Ururur- (und noch so einige Urs…) enkel fleht mich an; außerdem werde ich von dieser niedlichen, aber *
Bei dieser Schilderung bedienten wir uns der Ich-Form, um Belgaraths Wesen in den Griff zu bekommen – das ist inzwischen fast zwanzig Jahre her. Schon immer spürte ich, daß eine Geschichte darin steckt. Wie sich herausstellte, waren es sogar zwei: Belgarath der Zauberer und Polgara die Zauberin. Nachdem wir sowohl die BelgariadSaga wie die Malloreon-Saga verfaßt hatten, kannten wir das Ende der Geschichte und konnten an den Anfang zurückkehren, um darüber zu schreiben. Teil I von Belgarath der Zauberer ist zu einem großen Teil eine Erweiterung dieses alten Manuskripts, das die Ich-Form verlangte.
ungemein starrköpfigen und unbelehrbaren Person umgarnt und beschwatzt, seiner Frau – eine Bürde, die er sein ganzes Leben lang tragen muß. Wenn ich halbwegs Friede und Ruhe finden will, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als vom Ursprung dieser titanischen Ereignisse zu berichten, welche die Welt so grundlegend geprägt haben. Wenige werden es verstehen, und noch wenigere werden es glauben. Daran bin ich gewöhnt. Aber da nur ich allein den Beginn, den Verlauf und das Ende dieser Ereignisse kenne, obliegt es mir, dem vergänglichen Pergament mit Tinte, die verblaßt, noch ehe sie trocknet, die kurzlebige Schilderung dessen anzuvertrauen, was wirklich geschehen ist – und warum. Daher laßt mich nun die Geschichte dort beginnen, wo alle Geschichten beginnen, am Anfang.
Ich kam in einem Dorf zur Welt, das so klein war, daß es nicht einmal einen Namen hatte. * Unser Dorf war nicht reich; aber damals gab es keine reichen Dörfer. Friede herrschte auf der Welt, und unsere Götter lebten in unserer Mitte und waren uns wohlgesinnt. Es gab genug zu essen und Hütten, die uns Schutz vor dem Wetter boten. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wer unser Gott war oder welcherart sein Wesen, und auch nicht mehr an sein Bildnis. Schließlich liegt das alles sehr, sehr lange zurück. Ich spielte mit den anderen Kindern in den warmen, staubigen Straßen, rannte durch das hohe Gras der Wiesen und paddelte in dem glitzernden Fluß, der inzwischen von der See des Ostens verschlungen wurde; und auch das ist so unendlich lange her, daß man aufgehört hat, die Jahre zu zählen. Meine Mutter starb, als ich noch ziemlich klein war. Ich erinnere mich allerdings, daß ich lange um sie weinte. Doch ehrlicherweise muß ich gestehen, daß ich mir ihr Gesicht nicht einmal mehr vorstellen kann. Wohl aber entsinne ich mich ihrer Hände, und wie sanft sie mich berührten, und an den Duft von frisch gebackenem
*
Der Name des Dorfes wurde in Belgarath der Zauberer hinzugefügt, um seinen Namen linguistisch zu belegen. ›Garath‹ könnte in der archaischen Form einiger Sprachen ›aus dem Dorf Gara‹ bedeuten.
Brot, der ihren Kleidern anhaftete. Ihr Gesicht ist mir verborgen – aber ich habe so viele Gesichter gesehen. Die Leute in meinem Dorf sorgten für mich. Man kümmerte sich darum, daß ich zu essen hatte und Kleider auf dem Leib und in dem einen oder anderen Haus ein Platz zum Schlafen. Ansonsten aber wuchs ich allein auf, wild. Meinen Vater hatte ich nie gekannt, meine Mutter war tot, und ich war unzufrieden mit dem schlichten, dahinplätschernden Leben in dem kleinen namenlosen Dorf an dem glitzernden Fluß in der Zeit, als die Welt noch sehr jung war. Ich wanderte zu den Hügeln, die sich um das Dorf herum erhoben, und streifte dort umher, zunächst nur mit einem Stock und einer Schlinge und später mit weniger kindlichen Waffen – obwohl ich doch nur ein Kind war. Und dann, eines Tages, zu Beginn des Frühlings, als die Luft kühl war und die Wolken im frischen, jungen Wind dahinjagten, kletterte ich auf die höchste Hügelkuppe westlich unseres Flusses. Ich blickte hinunter auf den winzigen Fleck mit den erdfarbenen Hütten neben dem kleinen Fluß, der unter den dichten Wolken des Frühlings stumpf aussah und nicht glitzerte wie sonst. Dann spähte ich nach Westen auf ein weites Grasland, hinter dem sich ferne, schneebedeckte Berge erhoben. Zum Schluß warf ich einen letzten Blick auf das Dorf, in dem ich zur Welt gekommen war und wo ich vermutlich auch gestorben wäre, hätte ich an diesem Tag nicht den Hügel erklommen; ich wandte Gesicht und Schritte gen Westen und verließ das Dorf für immer. Im Sommer war alles einfach. Die weite Ebene bot genug Nahrung für einen jungen Abenteurer, dessen Beine schnell genug waren, dem Wild nachzusetzen, und dessen Appetit groß genug war, seine Beute zu verspeisen – egal wie zäh oder wenig gegart sie war. Im Herbst kam ich zu einer Siedlung mit Leuten, die so bleich waren, als hätte der Frost sie gestreift. Sie nahmen mich auf und weinten meinetwegen, und viele kamen, um mich zu berühren und zu betrachten, und dann weinten auch sie. Es war sehr eigenartig: Es
gab keine Kinder in der ganzen Siedlung, und meinen jungen Augen erschienen diese Leute schrecklich alt. Sie redeten in einer Zunge, die ich nicht verstand, doch sie gaben mir zu essen, und immerzu schienen sie darum zu streiten, wer mich in seinem Zelt aufnehmen durfte. Ich verbrachte den Winter bei diesen seltsamen Alten. Und wie es oft bei den Jungen ist, lernte ich während dieses Aufenthalts nichts. Ich kann mich nicht einmal an ein einziges ihrer Worte erinnern. * Als der Schnee schmolz und der Frost sich aus dem Boden verkroch und die lauen Frühlingslüfte wieder wehten, wußte ich, daß es an der Zeit war weiterzuziehen. Es bereitete mir ohnehin keine Freude, mich von einem Haufen schrulliger Großeltern verhätscheln zu lassen, die nicht einmal eine richtige Sprache redeten. Und so schlich ich mich, es war Anfang des Frühlings, eines Tages im Morgengrauen aus der Zeltsiedlung und eilte nach Süden zu einer niedrigen Bergkette, wohin die alten Beine der Dörfler mir nicht zu folgen vermochten. Ich kam rasch voran, denn ich war jung, wohlgenährt und recht kräftig. Dennoch war ich nicht schnell genug. Ich konnte das Wehklagen aus der Siedlung, das von unaussprechlichem Leid zeugte, noch lange hören. Ich erinnere mich sehr gut daran. In diesem Sommer trieb ich mich in den Bergen und im oberen Bereich des Tales im Süden der Siedlung herum. Falls es sich als nötig erweisen sollte, gedachte ich, den Winter wieder bei den alten Leuten zu verbringen. Doch südlich der Berge überraschte mich ein unerwartet früher Schneesturm; der Schnee türmte sich so hoch auf, daß ich den Weg zurück in mein Lager nicht mehr fand. Meine Nahrung war fort und meine Schuhe, die bloß zusammengebundene *
Diese alten Leute waren die Ulgos, die sieh dagegen entschieden hatten, dem Gorim nach Proglu zu folgen. ›Wie der abgehackte Ast siechen sie dahin und sterben.‹ (Denn ihre Frauen waren unfruchtbar.)
Beutel aus ungegerbtem Leder waren, lösten sich auf; ich verlor mein Messer, und es wurde bitterkalt. Schließlich kauerte ich mich hinter einen Felsen, der scheinbar geradewegs ins Herz des um mich tobenden Schneesturms ragte, und versuchte mich auf den Tod vorzubereiten. Ich dachte an mein Dorf und an die saftigen Wiesen, die ringsum lagen, und an unseren glitzernden Fluß, an meine Mutter, und weil ich noch sehr jung war, weinte ich. »Warum weinst du, Junge?« Die Stimme klang sehr sanft. Der Schnee wirbelte so dicht, daß ich nicht erkennen konnte, wer da sprach, doch aus irgendeinem Grund ärgerte mich der Tonfall. »Weil ich hungrig bin«, erwiderte ich, »und weil ich sterben werde und es nicht will.« »Warum stirbst du? Bist du verletzt?« »Ich habe mich verirrt«, antwortete ich, »und es schneit, und ich habe keinen Unterschlupf.« »Stirbt man denn gleich, wenn man von deiner Art ist?« »Genügt das denn nicht?« erwiderte ich immer noch verärgert. »Und wie lange, glaubst du, daß dein Sterben dauern wird?« Die Stimme hörte sich nur wenig neugierig an. »Das weiß ich nicht«, jammerte ich voller Selbstmitleid. »Ich bin noch nie zuvor gestorben.« Der Wind heulte, und der Schnee wirbelte noch dichter um mich herum. »Junge«, sagte die Stimme schließlich, »komm her zu mir.« »Wo seid Ihr? Ich kann Euch nicht sehen.« »Geh links um den Turm herum. Kannst du deine linke Hand von deiner rechten unterscheiden?« Ich zwang mich auf meine halb erfrorenen Füße und war wütender als je zuvor.
»Nun, mein Junge?« Ich ging um das herum, was ich für einen Felsen gehalten hatte, und tastete mich dabei mit den Händen daran entlang. »Du wirst zu einem glatten, grauen Stein gelangen«, sagte die Stimme. »Er ist etwas größer als du, und breiter, als du deine Arme ausstrecken kannst.« »Na gut«, knirschte ich mit klappernden Zähnen, als ich den Stein gefunden hatte. »Was nun?« »Sag ihm, er soll sich öffnen.« »Was?« »Sprich zu dem Stein«, sagte die Stimme geduldig, ohne darauf zu achten, daß ich in dem Sturm langsam zu Eis erstarrte. »Befiehl ihm, sich zu öffnen.« »Befehlen? Ich?« »Du bist ein Mensch. Das ist nur ein Fels.« »Was soll ich sagen?« »Sag ihm, er soll sich öffnen.« »Öffnen«, befahl ich halbherzig. »Das kannst du gewiß besser.« »Öffnen!« brüllte ich. Der Stein glitt beiseite. »Komm herein, Junge«, forderte die Stimme mich auf. »Steh in diesem Wetter nicht wie eine gebadete Maus herum.« Das Innere des Turmes – denn es war ein Turm – war sanft erhellt von Steinen, die in einem blassen, kalten Feuer leuchteten. Ich hielt das für eine feine Sache; allerdings wäre es mir lieber gewesen, wenn die Steine auch ein bißchen Wärme abgegeben hätten. Steinstufen, an denen die Jahrhunderte nicht spurlos vorübergegangen waren, führten als Wendeltreppe hinauf ins Dunkel. Ansonsten war nichts zu erkennen.
»Schließ die Tür, Junge.« »Wie denn?« »Wie hast du sie geöffnet?« Ich wandte mich der gähnenden Öffnung zu und befahl, ziemlich stolz auf mich selbst: »Schließen!«
Meinem Befehl gehorchend, schob der Stein sich mahlend wieder vor den Eingang. Dieses Geräusch ließ mir das Blut noch mehr gefrieren, als der Schneesturm es vermocht hatte. »Komm herauf, Junge«, befahl die Stimme. Ein klein wenig ängstlich, stieg ich die Stufen hinauf. Der Turm war sehr hoch, und es dauerte eine geraume Weile, bis ich oben angelangt war. Ich kam zu einem Gemach, das mit Wundern angefüllt war. Ich betrachtete Dinge, wie sie mir nie zuvor untergekommen waren. Erst dann blickte ich auf ihn, der mich mit seiner Weisung in den Turm geholt und mir so das Leben gerettet hatte. Ich war damals noch sehr jung, und meine Anlagen zum Dieb waren übermächtig, daß ich gar nicht an so etwas wie Dankbarkeit dachte. Neben einem Feuer, das – wie ich erstaunt feststellte – sichtlich ohne jeglichen Brennstoff züngelte und prasselte – saß ein Mann (glaubte ich), der unendlich alt zu sein schien. Sein Bart war lang
und voll und so weiß wie der Schnee, der mir beinahe das Leben nahm, doch die Augen des Mannes – seine Augen wirkten unglaublich jung. »Nun, Junge«, sagte er, »hast du dich entschlossen, nicht zu sterben?« »Wenn es nicht sein muß«, erwiderte ich tapfer; dabei prägte ich mir weiterhin die Kostbarkeiten in dieser Schatzkammer ein. »Brauchst du etwas?« fragte er. »Ich bin mit den Bedürfnissen deinesgleichen nicht vertraut.« »Etwas zur Stärkung vielleicht«, erwiderte ich. »Ich habe seit drei Tagen nichts gegessen. Und einen warmen Platz zum Schlafen. Ich werde Euch nicht zur Last fallen, Meister, und ich kann Euch zur Bezahlung meine Dienste anbieten.« Ich hatte schon vor langem gelernt, wie ich mich bei Leuten einschmeicheln konnte, die mir nützlich sein mochten. »Meister?« Er lachte so fröhlich, daß ich am liebsten getanzt hätte. »Ich bin nicht dein Meister, Junge«, sagte er. Dann lachte er wieder, und mein Herz jubelte aus Freude über seine Heiterkeit. »Wir wollen uns um deine Nahrung kümmern. Was brauchst du?« »Etwas Brot, vielleicht – nicht zu alt, wenn möglich.« »Brot? Nur Brot? Dein Magen kann doch gewiß mehr vertragen als nur Brot. Wenn du dich nützlich machen willst – wie du es versprochen hast –, müssen wir dich anständig nähren. Denk nach, Junge. Denk an all die Dinge, die du in deinem Leben gegessen hast. Was würde deinen großen Hunger am besten stillen?« Ich konnte es noch nicht einmal aussprechen. Vor mir sah ich Bilder von dampfenden Braten, fetten Gänsen, die in ihrer eigenen Soße schwammen, Berge frisch gebackenen Brotes und fette, goldene Butter, Sahnekuchen und Käse und dunkles Bier, dazu Früchte und Nüsse und Salz zum Würzen. Ich hatte die Bilder so deutlich vor Augen, daß ich glaubte, alles riechen zu können.
Und er, der am flackernden Feuer saß, das scheinbar nur Luft verbrannte, lachte, und wieder sang mein Herz. »Dreh dich um, Junge«, sagte er, »und iß dich satt.« Ich drehte mich um, und dort, auf einem Tisch, der zuvor nicht da gestanden hatte, lag alles, was ich mir vorgestellt hatte. Ein hungriger Junge fragt nicht, woher die Nahrung kommt – er ißt. Und so aß ich. Ich aß, bis mein Magen schmerzte. Über die Geräusche hinweg, die ich machte, konnte ich das Lachen des Alten neben dem Feuer hören, und mein Herz hüpfte fröhlich bei jedem Lachen. Und als ich fertig war und beinahe über meinem Teller einnickte, sagte er: »Möchtest du nun schlafen, Junge?« »Eine Ecke genügt mir, Meister«, antwortete ich. »Ein Fleckchen am Feuer, wenn es nicht zu viel Mühe macht.« Er deutete mit dem Finger. »Schlaf dort, Junge«, lud er mich ein, und plötzlich sah ich ein Bett, das ich zuvor ebensowenig bemerkt hatte wie den Tisch – ein großes Bett mit riesigen Kissen und weichen Daunendecken. Ich lächelte dankbar und schlüpfte unter die Decken, und weil ich jung und müde war, schlief ich fast sofort ein, ohne darüber nachzudenken, wie seltsam das doch alles war. Aber im Schlaf wußte ich, daß er, der mich aus dem Sturm geholt und gespeist hatte, nun während der langen kalten Nacht über mich wachte, und ich schlief noch besser in der Wärme seiner Fürsorge. Und so begann meine Dienstzeit. Mein Meister kommandierte mich nie herum, wie andere Herren es mit ihren Dienern zu tun pflegten; er machte vielmehr Vorschläge oder bat mich. Ich war selbst überrascht, wie gerne ich seinen Anweisungen Folge leistete. Zunächst waren die Aufgaben, die mein Meister mir stellte, einfacher Natur, doch sie wurden mit der Zeit immer schwieriger. Ich wünschte mir allmählich, ich hätte niemals hierher gefunden. Manchmal legte mein Meister seine Arbeit beiseite und sah mir zu
und wirkte sehr nachdenklich. Dann pflegte er zu seufzen und sich wieder seiner eigenen Arbeit zuzuwenden, die ich nicht verstand. Die Jahreszeiten kamen und gingen, wie es ihre Art ist, während ich mich scheinbar endlos mit schier unmöglichen Aufgaben abmühte. Dann, vielleicht drei Jahre – oder waren es fünf? –, nachdem ich zum Turm gekommen war und meinen Dienst angetreten hatte, plagte ich mich, einen schweren Fels zu entfernen, der meinem Meister im Wege war. Er rührte sich nicht vom Fleck, so sehr ich auch schob und mich anstrengte, bis mir die Glieder schmerzten. Schließlich konzentrierte ich mich gänzlich auf den Fels und zischte wütend: »Beweg dich!« Und er bewegte sich! Nicht widerspenstig, als sträube sich das gewaltige Gewicht gegen meinen Willen, sondern ganz leicht, als würde ein schlichter Fingerdruck genügen, ihn durch das ganze Tal hüpfen zu lassen. »Nun, Junge«, sagte mein Meister, und ich war überrascht, ihn plötzlich neben mir zu sehen. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauert, bis du es richtig machst.« »Meister«, stammelte ich verwirrt, »was ist geschehen? Wie kommt es, daß der große Fels sich so leicht bewegt hat?« »Er hat deinem Befehl gehorcht, Junge. Du bist ein Mensch, und das ist nur ein Fels.« »Kann auch anderes auf diese Art erledigt werden, Meister?« »Alles kann so getan werden, Junge. Setz deinen Willen ein und sprich das Wort. Alles wird so geschehen, wie du es möchtest. Ich habe mich sehr gewundert, Junge, daß du es vorgezogen hast, alle Dinge mit deinem Rücken zu erledigen statt mit deinem Willen. Ich habe mich sogar schon gefragt, ob mit dir etwas nicht stimmt.« Ich ging zu dem Fels, legte meine Hand darauf und flüsterte: »Beweg dich!« Und unter der Kraft meines Willens bewegte der Stein sich so leicht wie zuvor.
»Fühlst du dich wohler, wenn du den Stein berührst, um ihn zu bewegen, Junge?« fragte mein Meister mit einer Spur Neugierde in der Stimme. Die Frage gab mir zu denken. Ich betrachtete den Stein. »Beweg dich«, sagte ich zögernd. Der Stein rührte sich nicht. »Du mußt befehlen, Junge, nicht bitten.« »Beweg dich!« rief ich. Und der Fels bewegte sich und rollte dahin, nur getrieben von meinem Willen und dem Wort. »Das ist viel besser, Junge. Vielleicht besteht doch noch Hoffnung für dich. Wie heißt du, Junge?« »Garath«, sagte ich, und plötzlich wurde mir bewußt, daß er mich noch nie zuvor nach meinem Namen gefragt hatte. »Ein unschicklicher Name. Viel zu kurz und gewöhnlich, für jemanden mit deiner Gabe. Ich werde dich Belgarath nennen.« »Wie es Euch beliebt, Meister.« Beflügelt durch meinen Erfolg, wagte ich einen tapferen Vorstoß. »Und wie darf ich Euch nennen, Meister?« »Mein Name ist Aldur«, erwiderte er lächelnd. Diesen Namen hatte ich natürlich schon gehört, und ich fiel sogleich vor ihm auf die Knie. »Ist dir nicht wohl, Belgarath?« »O großer und mächtiger Gott«, rief ich zitternd, »vergib mir meine Unwissenheit. Ich hätte Euch sofort erkennen müssen.« »Hör auf damit!« sagte er gereizt. »Ich bedarf keiner Unterwürfigkeit. Erheb dich, Belgarath. Was du tust, ist unziemlich.« Furchterfüllt stolperte ich auf die Füße und wappnete mich gegen den vernichtenden Blitzschlag. Götter, das ist ja allbekannt, können nach Lust und Laune einen jeden, der ihnen mißfällt, mit einem Blitzschlag niederstrecken.
»Und was gedenkst du nun mit deinem Leben zu tun, Belgarath?« fragte er. »Ich würde gern bleiben, um Euch zu dienen«, sagte ich so bescheiden ich nur konnte. »Ich bedarf niemandes Dienste«, erwiderte er. »Was kannst du für mich tun?« »Darf ich Euch huldigen?« flehte ich ihn an. Ich war nie zuvor einem Gott begegnet und kannte mich deshalb mit ihren Eigenheiten nicht so recht aus. »Ich brauche auch deine Huldigung nicht.« »Laßt mich doch bleiben, Meister!« flehte ich ihn an. »Ich wäre Euer Jünger und könnte von Euch lernen.« »Dein Wunsch nach Unterweisung spricht für dich«, entgegnete er. »Aber es wird nicht einfach, Belgarath«, fügte er warnend hinzu. »Ich lerne schnell, Meister«, brüstete ich mich. »Ihr sollt stolz auf mich sein.« Und dann lachte er, und mir war, als wären meinem Herzen Flügel gewachsen. »Nun gut, Belgarath«, erbarmte er sich. »Ich mache dich zu meinem Schüler.« »Und zu Eurem Jünger, Meister?« »Das werden wir mit der Zeit sehen, Belgarath.« Und dann, weil ich immer noch sehr jung war und beeindruckt von meinen jüngst erworbenen Fähigkeiten, wandte ich mich an einen winterkahlen Strauch und sagte inbrünstig: »Blühe!« Und der Strauch brachte plötzlich eine einsame Blüte hervor. Ich pflückte sie und bot sie meinem Meister dar. »Für Euch, Meister«, sagte ich, »weil ich Euch liebe.« Da nahm er meine dürftige kleine Blüte, lächelte und hielt sie in den Händen. »Ich danke dir, mein Sohn«, sagte er. Zum erstenmal nannte er mich so. »Und diese Blume soll deine erste Lektion sein.
Ich möchte, daß du sie genau betrachtest. Sag mir alles, was du wahrnimmst.« Diese Aufgabe beschäftigte mich zwanzig Jahre, wenn ich mich recht entsinne. Jedesmal wenn ich mit der Blume, die niemals welkte oder verblaßte – oh, wie ich sie zu hassen begann! – zu meinem Meister ging und ihm berichtete, was ich gelernt hatte, sagte er: »Ist das alles, mein Sohn?« Dann setzte ich zerknirscht mein Studium der dummen kleinen Blume fort. Es gab so viele andere Dinge, die mich mindestens ebenso lange beschäftigten. Ich untersuchte Bäume und Vögel, Tiere, Insekten und Schädlinge. Allein vierzig Jahre verbrachte ich mit dem Studium von Gras. Irgendwann erkannte ich, daß ich nicht alterte wie andere Menschen. »Meister«, fragte ich ihn eines Nachts, als wir im hohen Turmgemach über unseren Studien saßen, »warum werde ich nicht alt?« »Würdest du gern alt werden, mein Sohn?« erwiderte er. »Ich habe nie einen Vorteil darin gesehen.« »Eigentlich lege ich auch keinen großen Wert darauf, Meister«, gab ich zu, »aber ist es nicht so üblich?« »Vielleicht« meinte er, »doch es muß nicht sein. Du hast noch viel zu lernen, und eine oder zehn oder selbst hundert Lebensspannen wären nicht genug. Wie alt bist du, mein Sohn?« »Ich schätze, inzwischen bin ich etwas über dreihundert Jahre, Meister.« »Ein passendes Alter, mein Sohn. Und du hast dich stets deinen Studien gewidmet. Sollte ich mich vergessen und dich jemals wieder ›Junge‹ nennen, so mache mich bitte darauf aufmerksam. Es schickt sich nicht, den Jünger eines Gottes ›Junge‹ zu nennen.«
»Ich werde daran denken, Meister«, versicherte ich ihm, beinahe überwältigt vor Freude, daß er mich seinen Jünger genannt hatte. »Ich war mir sicher, daß ich mich auf dich verlassen kann. Und was studierst du zur Zeit, mein Sohn?« »Ich möchte herausfinden, warum die Sterne fallen, Meister.« »Ein angemessenes Studium«, lobte er. »Und Ihr, Meister?« wollte ich wissen. »Was studiert Ihr – wenn es mir erlaubt ist, Euch zu fragen.«
»Mich beschäftigt dieses Juwel«, erklärte er und deutete auf einen grauen Stein von mittlerer Größe, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Es mag über die Zeit hinweg noch manch Rätsel aufgeben.« * »Daran zweifle ich nicht, Meister«, versicherte ich ihm. »Wenn es Eure Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat, ist es gewiß von großem Interesse.« Dann wandte ich mich wieder meinem Studium der Sterne zu, deren Helligkeit schwankt.
*
Erst im Malloreon kamen wir auf die außerirdische Herkunft des Steines zu sprechen, der als das Auge Aldurs bekannt wurde. Anfangs sahen wir in ihm nur einen ganz gewöhnlichen Stein, den Aldur in einem Flußbett aufgehoben und durch seine Berührung verändert hatte.
Im Laufe der Zeit kamen andere zu uns, einige zufällig wie ich; manche – wie Zedar – von vornherein mit der Absicht, von meinem Meister zu lernen. Ich traf Zedar in der Nähe unseres Turmes an einem goldenen Herbsttag. Er hatte einen schlichten Altar errichtet und verbrannte darauf den Kadaver einer Ziege. Der fettige Geruch, der von dem Opfer aufstieg, verpestete die Luft, und der Fremde kniete vor dem Altar und sprach ein Gebet im Singsang einer fremden Sprache. »Was tust du hier?« fragte ich ihn – ungehalten, wie ich zugebe, denn sein Geleier und der Gestank des Opfers hatten mich von einer selbstgestellten Aufgabe abgelenkt, die mich bereits ein halbes Jahrhundert beschäftigte. Er warf sich vor mir auf die Knie. »O mächtiger und allwissender Gott«, sagte er, »ich bin viele tausend Meilen gereist, um dein Antlitz zu schauen und zu dir zu beten.« »Mächtiger Gott? Steh schon auf und laß das Gejaule. Ich bin ebensowenig ein Gott wie du.« »Seid Ihr nicht der mächtige Aldur?« »Ich bin sein Jünger Belgarath. Was soll dieser Unsinn?« Ich deutete auf den Altar und die qualmende Ziege. »Damit will ich den Gott ehren.« Er erhob sich und säuberte seine Gewänder vom Staub. »Meint Ihr, er wird dieses Opfer annehmen?« Ich lachte spöttisch, denn ich mochte den Fremden nicht sonderlich. »Ich wüßte nicht, womit du ihn mehr erzürnen könntest.« Der Fremde blickte mich betroffen an; dann wirbelte er herum und streckte die Arme aus, als wollte er mit bloßen Händen nach dem schwelenden Tier greifen, um es zu verstecken. »Sei kein Narr!« fuhr ich ihn an. »Du wirst dich verbrennen!« »Ich muß es verbergen«, stieß er verzweifelt hervor. »Ich würde lieber sterben, als den mächtigen Aldur erzürnen.«
»Geh zur Seite«, wies ich ihn an. »Was?« »Geh aus dem Weg«, zischte ich gereizt. Dann sah ich mir den grotesken kleinen Altar an und ließ ihn mit einem einzigen Wort verschwinden. Nur ein paar Rauchfetzen schwebten noch in der Luft. Er warf sich wieder auf die Knie. »Du wirst deine Gewänder zuschanden richten, wenn du so weitermachst«, tadelte ich ihn, »und daran findet mein Meister wahrhaftig keinen Gefallen.« »Ich flehe Euch an, o mächtigster Jünger des erhabenen Aldur«, sagte er, als er wieder aufstand und seine Gewänder erneut vom Staub säuberte, »unterweist mich, auf daß ich den Gott nicht beleidige.« »Bleib bei der Wahrheit«, riet ich ihm, »und versuch nicht, ihn mit falschem Getue zu beeindrucken.« »Und wie werde ich sein Jünger?« »Du mußt erst sein Schüler werden«, antwortete ich. »Und das ist nicht einfach.« »Was kann ich tun, um sein Schüler zu werden?« fragte der Fremde. »Du mußt dich ihm zuerst als Diener anbieten«, erwiderte ich – zugegebenermaßen ein wenig herablassend. »Und dann werde ich sein Schüler?« »Mit der Zeit«, erwiderte ich, »wenn er es so will.« »Und wann darf ich dem Gott vor die Augen treten?« Da brachte ich ihn zum Turm. »Wird der Gott Aldur denn nicht meinen Namen wissen wollen?« fragte der Fremde.
Ich zuckte die Schultern. »Daran ist er nicht sonderlich interessiert. Wenn du Glück hast und dich als würdig erweist, wird er dir einen Namen seiner Wahl geben.« Dann wandte ich mich dem grauen Fels zu und befahl ihm, den Weg freizugeben, und wir traten ein. Mein Meister betrachtete den Fremden genau; dann fragte er mich: »Warum hast du diesen Menschen zu mir gebracht, mein Sohn?« »Er bat mich darum, Meister«, erwiderte ich. »Ich dachte, es sei nicht an mir, über ihn zu urteilen. Das muß ganz Euch überlassen werden«, fuhr ich fort. »Wenn er Euer Wohlwollen nicht verdient, bringe ich ihn nach draußen, schickte ihn ins Nichts und mache dieser Unterbrechung ein Ende.« »Das ist sehr lieblos gesprochen, Belgarath«, tadelte Aldur mich nachdrücklich. »Der Wille und das Wort dürfen nicht dieserart gebraucht werden.« * »Vergebt mir, Meister«, bat ich demütig. »Du wirst ihn unterrichten, Belgarath. Sollte er sich als tauglich erweisen, so laß es mich wissen.« »Das werde ich, Meister«, versprach ich. »Was studierst du zur Zeit, mein Sohn?«
»Ich untersuche das Wesen der Berge, Meister.« *
Ein früher Hinweis auf das Verbot, Dinge ungeschehen zu machen.
»Heb dir das für einen späteren Zeitpunkt auf, Belgarath, und studiere statt dessen diesen Mann. Dieses Studium mag dir von Nutzen sein.« »Wie Ihr wünscht, Meister«, fügte ich mich voller Bedauern. Ich hatte das Geheimnis der Berge beinahe erforscht und wollte nicht, daß mir dieses nahe Ziel wieder entglitt. Aber nun war es aus mit meiner Muße. Ich unterwies den Fremden, wie mein Meister es mir aufgetragen hatte. Ich stellte ihm die schwierigsten Aufgaben und wartete ab. Zu meinem größten Entsetzen entdeckte er das Geheimnis von Wille und Wort bereits innerhalb von sechs Monaten. Mein Meister nannte ihn Belzedar und nahm ihn als Schüler auf. Dann kamen nach und nach die anderen. Kira und Tira, die Zwillinge, waren Hüterjungen, die sich verlaufen hatten und so ins Aldurstal gelangt waren – und blieben. Makor kam von so weit her, daß ich nicht verstehen konnte, wie er jemals von meinem Meister erfahren hatte, und Din von so nahe, daß ich mich fragte, warum er nicht gleich seine ganze Sippschaft mitgebracht hatte. Sambar erschien einfach eines Tages und wartete, bis wir ihn aufnahmen. Und es war meine Aufgabe, jeden von ihnen zu unterweisen, bis sie das Geheimnis von Wille und Wort entdeckten – es ist übrigens kein Geheimnis, sondern wohnt jedem Menschen inne. Und zu gegebener Zeit wurde jeder von ihnen Schüler meines Meisters, und er gab ihnen Namen, wir er es bei mir getan hatte. Zedar wurde Belzedar, Kira und Tira wurden Beltira und Belkira. Makor und Din und Sambar wurden Belmakor und Beldin und Belsambar. An jeden der Namen fügte unser Meister das Symbol für den Willen und das Wort, und wir wurden seine Jünger. * *
Hier eine Anmerkung für den linguistisch Besessenen. ›Bel‹ mag – oder mag auch nicht – ›das Symbol für den Willen und das Wort‹ sein. Wahrscheinlich ist, daß es für ›Geliebter‹ steht. ›Bel‹ ist die männliche Form, ›Pol‹ die weibliche. Polgaras Name leitet sich direkt von dem ihres Vaters ab, denn es ist ein Patronymikon
Und wir bauten weitere Türme, damit wir nicht unseren Meister oder uns gegenseitig mit unseren Arbeiten und Studien störten. Anfangs quälte mich Eifersucht, weil mein Meister auch Zeit mit diesen anderen verbrachte; da Zeit bei uns jedoch keine Bedeutung hatte und ich wußte, daß die Liebe meines Meisters unendlich war und seine Liebe zu den anderen in keiner Weise die Zuneigung schmälerte, die er mir gegenüber empfand, überwand ich diese kindische Anwandlung rasch. Und je mehr das Band der Bruderschaft zwischen uns wuchs, desto stärker wurde meine Zuneigung zu den anderen. Ich fühlte ihren Geist, wenn ich arbeitete, und ich teilte ihre Freude mit jeder neuen Entdeckung, die sie machten. Weil ich der erste Jünger war, kamen sie oft wie zu einem älteren Bruder zu mir, wenn sie dem Meister irgend etwas zeigen wollten, aber zu verlegen waren, an ihn selbst heranzutreten. Ich leitete sie, so gut ich es vermochte. Dieserart vergingen etwa tausend Jahre, und wir waren zufrieden. Die Welt jenseits des Tales veränderte sich und die Menschen mit ihr, und keine neuen Schüler fanden mehr den Weg zu uns. Diesem Rätsel wollte ich stets nachgehen, fand aber nie die Zeit dazu. Vielleicht wurden die andern Götter eifersüchtig und untersagten ihren Anhängern, uns aufzusuchen. Vielleicht aber war dieser winzige Funken, der Born für Kraft und Willen ist und unweigerlich zu Aldur führt, im Laufe der Generationen erloschen. So blieben wir nur sieben, und wir waren anders als allen anderen Menschen auf der Welt. Und während dieser langen, langen Zeit des Studierens und Lernens beschäftigte Aldur sich mit unendlicher Geduld mit dem grauen Stein, den er mir in jener Nacht gezeigt hatte, in der er mich
wie beispielsweise im Russischen ›Iwan Iwanowitsch‹ (Iwan, Sohn des Iwan) oder ›Natascha Iwanowa« (Natascha, Tochter des Iwan). Man beachte, daß, es bei Pols Schwester nicht angewendet wurde. Ihr Vater nannte sie Beldaran, was darauf schließen lassen könnte, daß Belgarath sie mehr liebte als Pol.
als seinen Jünger akzeptierte. Einmal fragte ich ihn, wie er so viel Zeit damit verbringen konnte, und er lachte. »Wahrlich, mein Sohn«, sagte er, »ich arbeitete einst ebensolange, wenn nicht länger, um eine Blume zu erschaffen, die nun so gewöhnlich ist, daß niemand sie beachtet. Sie blüht an jedem staubigen Pfad, und die Menschen gehen daran vorüber, ohne sie auch nur anzuschauen. Aber ich weiß, daß sie da ist, und ich erfreue mich an ihrer Vollkommenheit.« Wenn ich heute zurückblicke – ich glaube, ich hätte mein Leben gegeben, das sich über so viele Jahre erstreckte, hätte mein Meister niemals das Geheimnis des grauen Steines entdeckt, der so viel Schmerz über die Welt gebracht hat. Der Stein, den er ein Juwel nannte, war grau (wie ich schon erwähnte) und weitgehend rund und besaß etwa die Größe eines menschlichen Herzens. Ich glaube, mein Meister fand ihn in einem Bachbett. Mir schien er ein recht gewöhnlicher Stein zu sein; aber mir ist so manches verborgen, das Aldur in seiner Weisheit ohne Mühe erkennt. Vielleicht war etwas in dem Stein, das nur er allein wahrzunehmen vermochte, oder es war ursprünglich tatsächlich nur ein schlichter grauer Stein gewesen, der durch Aldurs Bemühen zu dem wurde, was er war, weil er seinen Willen und seinen Geist in diesen Stein fließen ließ. Was auch immer es sein mag, ich wünschte aus vollem Herzen, er hätte sich niemals nach ihm gebückt. Nun, eines Tages, vor sehr langer Zeit, war sein Werk vollbracht, und unser Meister rief uns zusammen, damit er es uns zeigen konnte. »Betrachtet dieses Juwel«, wandte er sich an uns. »Ihm wohnt das Schicksal der Welt inne.« Und der graue Stein, ein gewöhnlich Ding, das des Meisters Hand über tausend Jahre und länger glatt poliert hatte, begann zu glühen, als würde ein winziges blaues Feuer tief in seinem Inneren flackern.
Und Belzedar, der geistig stets sehr rege war, fragte: »Großer Meister, wie kann ein Ding, das so klein ist, so wichtig sein?«
Und unser Meister lächelte, und der Stein leuchtete heller. In seinem Inneren schien ich schwach flackernde Bilder zu erkennen. »Hier drinnen ruht die Vergangenheit«, erklärte unser Meister, »und ebenso die Gegenwart und die Zukunft. Das ist nur ein kleiner Teil der Eigenschaften dieses Juwels, das ich geschaffen habe. Damit werden die Menschen – oder die Erde selbst – geheilt oder zerstört. Was immer einer tun mag, selbst jenseits der Kraft von Wille und Wort, mit diesem Juwel wird es zustande kommen.« »Das ist wahrhaft ein wunderlich Ding, Meister«, sagte Belzedar, und mir schien, als glitzerten seine Augen und als zuckten seine Finger. »Aber Meister«, warf ich ein, »Ihr sagtet, das Schicksal der Welt würde von diesem Juwel abhängen. Wie kann das sein?« »Es enthüllte mir die Zukunft, mein Sohn«, erwiderte der Meister traurig. »Dieser Stein wird die Ursache gewaltiger Auseinandersetzungen, bitteren Leides und großer Zerstörung. Seine Macht genügt, die Leben von noch Ungeborenen so leicht auszulöschen, wie du eine Kerzenflamme auszublasen vermagst.« »Dann ist es ein böses Ding, Meister«, sagte ich, und Belsambar und Belmakor pflichteten mir bei.
»Vernichte es, Meister«, beschwor ihn Belsambar, »ehe es diese Schrecken über die Welt bringen wird.« »Das kann nicht geschehen«, entgegnete unser Meister. »Gelobt sei die Weisheit Aldurs«, rief Belzedar. »Mit unserer Hilfe wird der Meister das wundersame Juwel zum Guten führen und Böses verhindern. Es wäre unentschuldbar, einen so wertvollen Gegenstand zu vernichten.«* »Zerstört ihn, Meister«, baten Belkira und Beltira vereint, ihre Gedanken wie stets im Einklang. »Wir flehen dich an, mach ungeschehen, was du da geschaffen hast.« »Das darf nicht sein«, sagte unser Meister erneut. »Es ist verboten, Geschehenes ungeschehen zu machen. Selbst ich kann nicht ungeschehen machen, was ich schuf.« »Wer kann dem Gott Aldur etwas verbieten?« fragte Belmakor. *Dies ist der erste Hinweis auf Belzedars Besessenheit von dem Juwel. »Das kannst du nicht verstehen, mein Sohn«, erwiderte unser Meister. »Dir und anderen Menschen mag meine Macht und die meiner Brüder grenzenlos erscheinen, aber dem ist nicht so. Und ihr sollt wissen, meine Söhne, ich würde das Juwel nicht ungeschehen machen, selbst wenn es erlaubt wäre. Seht euch um in dieser Welt, einer Welt in ihren Kinderjahren, und betrachtet die Menschheit, die an ihrem Anfang steht. Alles Lebende muß wachsen, oder es stirbt. Durch diesen Stein wird die Welt sich verändern, und die Menschheit wird erreichen, wozu sie geschaffen wurde. Dieses Juwel in sich selbst ist nicht böse. Das Böse besteht nur in den Gedanken und in den Herzen der Menschen – und der Götter.« Dann schwieg mein Meister und seufzte. Wir zogen uns zurück und überließen ihn seiner Traurigkeit. In den darauf folgenden Jahren sahen wir wenig von unserem Meister. Er blieb alleine in seinem Turm und sprach mit dem Geist
des von ihm erschaffenen Juwels. Es stimmte uns traurig, daß er nicht bei uns war, und wir hatten wenig Freude an unserer Arbeit. Eines Tages kam ein Fremder ins Tal. Er war schöner als jedes Wesen, das ich je gesehen hatte, und viel schöner, als jeder Mensch sein konnte. Und er schritt dahin, als schmähten seine Füße den Boden, auf dem sie gingen. Wie es Brauch war, liefen wir auf ihn zu und begrüßten ihn. »Ich möchte mit eurem Meister sprechen, meinem Bruder Aldur«, sagte er uns. Da wußten wir, daß wir einen Gott vor uns hatten. Als der älteste trat ich vor. »Ich werde meinem Meister melden, daß Ihr gekommen seid«, sagte ich höflich. Ich wußte nicht, welcher Gott er war, aber irgend etwas an diesem zu gut aussehenden Fremden ging mir gegen den Strich. »Das ist nicht nötig, Belgarath«, entgegnete er in einem Tonfall, der mich noch mehr verwunderte als sein Auftreten. »Mein Bruder weiß von meiner Anwesenheit. Bringe mich zu seinem Turm.« Ich drehte mich um und führte ihn, ohne es zu wagen, weiter zu ihm zu sprechen. Als wir den Turm erreicht hatten, sah mir der Fremde direkt ins Gesicht. »Ein Rat an dich, Belgarath«, sagte er, »um dir für deinen Dienst zu danken. Bleib auf der Ebene, die deinesgleichen geziemt. Es steht dir nicht zu, über mich zu urteilen. Ich hoffe zu deinem Besten, daß du dich meines Rates entsinnst und dich geziemender verhältst, wenn wir uns wieder begegnen.« Seine Augen schienen sich in die meinen zu bohren, und seine Stimme ließ mich frösteln. Aber weil ich immer noch war, der ich nun einmal war, und nicht einmal die zweitausend Jahre und mehr, die ich im Tal verbracht hatte, den wilden, rebellischen Jungen in mir zur Ruhe hatten bringen können, antwortete ich ein wenig bissig. »Ich danke Euch für den Rat«, sagte ich. »Wünscht Ihr noch etwas?« Er war schließlich ein Gott; warum also sollte ich ihm verraten, wo die Tür
war, oder wie man sie öffnete. Ich wartete und hoffte auf ein Zeichen von Verwirrung seinerseits. »Du bist unverschämt, Belgarath«, tadelte er mich. »Eines Tages werde ich dich mit Vergnügen in angemessenem Benehmen unterrichten.« »Ich bin stets bereit zu lernen«, erwiderte ich. Er drehte sich um, vollführte gleichmütig eine Geste, und der große Stein in der Turmwand öffnete sich. Dann ging er hinein. Wir erfuhren nie, was im einzelnen zwischen unserem Meister und dem fremden, wunderschönen Gott vorgefallen war. Sie unterhielten sich stundenlang, doch ein gewaltiges Gewitter brach über unseren Köpfen aus, und wir mußten Unterschlupf suchen. Da verpaßten wir die Abreise des seltsamen Gottes. Als das Gewitter zu Ende war, rief unser Meister uns zu sich, und wir begaben uns in seinen Turm. Er saß an dem Tisch, an dem er sich so lange mit dem Juwel beschäftigt hatte. Große Traurigkeit spiegelte sich in seinem Gesicht, und mein Herz weinte, als ich es bemerkte. Auf seiner Wange sah ich ein gerötetes Mal, das ich nicht deuten konnte. Belzedar jedoch verstand fast augenblicklich. »Meister!« stieß er mit Erschrecken in der Stimme hervor. »Wo ist der Stein? Wo ist das mächtige Juwel, das Ihr geschaffen habt?« »Mein Bruder Torak hat es mit sich genommen«, erwiderte mein Meister, und seine Stimme klang beinahe so, als schwinge ein Weinen darin. »Rasch!« rief Belzedar. »Wir müssen Torak verfolgen und das Juwel wieder zurückholen, ehe er uns entkommt! Wir sind viele, und er ist allein!« »Er ist ein Gott, mein Sohn«, sagte Aldur. »Wie viele ihr seid, ist ohne Bedeutung für ihn.«
»Aber, Meister«, rief Belzedar verzweifelt, »wir müssen uns das Juwel zurückholen!« »Wie bekam Euer Bruder den Stein von Euch, Meister?« fragte Beltira. »Ein unbezähmbares Verlangen nach dem Juwel überwältigte Torak«, erklärte Aldur, »und er bedrängte mich, es ihm zu überlassen. Als ich es ihm verweigerte, schlug er mich, nahm den Stein und floh.« Darauf packte mich die Wut. Zwar war es nur ein Stein, auch wenn er Wunderkräfte besaß; aber daß Torak meinen Meister geschlagen hatte, erzürnte mich über alle Maßen. Ich riß mir das Gewand vom Leib, formte mit meinem Willen und einem einzigen Wort ein Schwert, ergriff es und sprang zum Fenster. »Nein!« sagte mein Meister, und das Wort brachte mich zum Stehen, als wäre plötzlich eine Wand vor mir errichtet worden. »Öffne dich!« befahl ich und hieb mit dem soeben geschaffenen Schwert gegen die unsichtbare Wand. »Nein!« wiederholte mein Meister, und die Wand verwehrte mir den Durchlaß. »Er hat Euch geschlagen, Meister!« wütete ich. »Dafür werde ich ihn töten, und wenn er zehnmal ein Gott ist!« »Nein!« sagte mein Meister erneut. »Torak würde dich so leicht vernichten, wie du eine Fliege zertrittst, die dir lästig ist. Ich liebe dich sehr, mein ältester Sohn, und ich möchte dich nicht verlieren.« »Es muß Krieg geben, Meister«, sagte Belmakor. »Der Schlag und der Raub dürfen nicht ungesühnt bleiben. Wir werden Waffen schmieden, und Belgarath soll uns führen. Wir werden diesen Dieb bekriegen, der sich einen Gott nennt.« »Mein Sohn«, sprach Aldur zu ihm, »es wird Krieg genug geben, ihn dir leid zu machen, ehe dein Leben endet. Willig hätte ich Torak
das Juwel gegeben, hätte nicht der Stein selbst mir erzählt, daß er Torak eines Tages vernichten würde. Dies Schicksal hätte ich ihm gern erspart, doch sein Verlangen nach dem Juwel war zu groß, und er wollte nicht hören.« Er seufzte und richtete sich auf. »Es wird Krieg geben«, fuhr er fort. »Das ist nun unvermeidlich. Mein Bruder hat jetzt den Stein in seinem Besitz. Ihr wißt, daß dem Juwel große Macht zu eigen ist, und in Toraks Händen kann es schrecklichen Schaden anrichten. Wir müssen es wiedererlangen oder verändern, ehe Torak das volle Ausmaß dieser Macht erkennt.« »Verändern?« rief Belzedar entsetzt. »Meister, Ihr wollt dieses wertvolle Juwel doch gewiß nicht zerstören!« »Nein«, erwiderte Aldur. »Der Stein kann nicht zerstört werden. Er wird seine Kraft bis zum Ende aller Tage behalten. Aber wenn Torak sich zur Eile gezwungen sieht, wird er das Juwel auf eine Weise einsetzen, die es nicht dulden wird. Dieserart ist seine Kraft.« Belzedar starrte ihn an. »Die Welt ist unbeständig, mein Sohn«, erklärte unser Meister. »Aber Gut und Böse sind unwandelbar. Der Stein ist ein Ding des Guten, kein simpler Tand oder ein Spielzeug. Er besitzt Intelligenz; sie ist nicht wie die deine, aber er besitzt sie. Und er hat einen Willen. Hüte dich davor, denn sein Wille ist der Wille eines Steines. Wie ich schon sagte, ist er ein Ding des Guten. Wenn er benutzt wird, Böses zu tun, wird er jeden niederstrecken, ob Mensch oder Gott, der ihn mißbraucht. Daher bedarf es der Eile. Geht, meine Jünger, eilt zu meinen Brüdern und bittet sie, zu mir zu kommen. Ich bin der älteste, und sie werden kommen – wenn nicht aus Liebe, so aus Achtung.« Und so traten wir aus dem Turm unseres Meisters und verließen getrennt das Tal auf der Suche nach seinen Brüdern, den anderen Göttern. Da die Zwillinge getrennt voneinander nicht leben konnten, blieben Beltira und Belkira bei unserem Meister; wir
anderen jedoch zogen hinaus, um jeweils einen der Götter aufzusuchen. Da Eile geboten war und ich vermutlich den weitesten Weg zurücklegen mußte, um den Gott Belar zu finden, reiste ich eine Zeitlang in der Gestalt eines Adlers. Aber bald wurden meine Arme müde vom Flügelschlagen; außerdem hatten Höhen mich immer schon ein wenig schwindlig gemacht, und obendrein wurde mein Blick wieder und wieder von Bewegungen am Boden abgelenkt, und oft hatte ich das überwältigende Verlangen, hinabzustoßen und zu töten. Deshalb landete ich auf der Erde, nahm meine eigene Gestalt an und setzte mich eine Zeitlang nieder, um nachzudenken. Ich hatte noch nicht oft meine Gestalt gewandelt. Es war zwar einfach, brachte aber wenig Nutzen, wie ich fand. Und nun hatte ich auch noch einen großen Nachteil kennengelernt, den der Gestaltwandel in sich barg. Je länger man in der angenommenen Gestalt verweilte, desto mehr verwob sich der eigene Charakter mit dem der angenommenen Form. Der Adler ist trotz aller Würde eigentlich ein dummer Vogel, und ich wollte nicht von jeder Maus oder jedem Hasen, die unter mir über den Boden rannten, von meiner Mission abgelenkt werden. Ich erwog, die Gestalt eines Pferdes anzunehmen. Ein Pferd kann sehr schnell rennen, ermüdet aber auch rasch und ist nicht sehr klug. Eine Antilope ist in der Lage, über Tage hinweg zu laufen, doch auch sie ist ein dummes Geschöpf, das außerdem von zu vielen Raubtieren als Futter betrachtet wird. Und mir fehlte die Zeit, es jedem schmackhaft zu machen, sich sein Essen anderswo zu suchen. Dann wurde mir bewußt, daß von allen Tieren der Ebene und des Waldes der Wolf das klügste, schnellste und ausdauerndste war.
Es war eine gute Entscheidung. Bald gewöhnte ich mich daran, auf allen vieren zu laufen. Ich empfand die Gestalt des Wolfes als höchst zufriedenstellend, und sein Verstand war dem meinem verwandt. Nach kurzer Zeit stellte ich fest, daß es eine feine Sache war, einen Schwanz zu haben. Er eignet sich vorzüglich, das Gleichgewicht zu halten, und man kann sich des Nachts als Schutz gegen die Kälte außerordentlich gut darin einkuscheln. Ich wurde auf der Suche nach Belar und seinem Volk sehr stolz auf meinen Schwanz. Eine junge Wölfin, die ausgelassen herumtollte, hielt mich auf. Sie hatte, soweit ich mich erinnere, wohlgeformte Lenden und eine anmutige Schnauze. »Warum die Eile, Freund?« fragte sie scheu nach Wolfsart. Selbst in meiner Hast war ich überrascht, daß ich sie so deutlich verstehen konnte. Ich blieb stehen. »Was für einen wunderschönen Schwanz du hast«, bewunderte sie mich, und als sie bemerkte, auf welch fruchtbaren Boden ihr Kompliment gefallen war, beeilte sie sich hinzuzufügen: »und wunderbar feste Zähne.« »Danke«, erwiderte ich bescheiden. »Dein Schwanz kann sich auch sehen lassen, und dein Fell glänzt herrlich.«
»Meinst du das ehrlich?« fragte sie und putzte sich. Dann zwickte sie mich in die Flanke und sprang ein paar Sätze fort von mir, auf daß ich ihr nachjagte. »Ich würde gern ein wenig bleiben, damit wir uns näher kennenlernen«, versicherte ich ihr, »aber ich habe einen äußerst dringenden Auftrag.« »Einen Auftrag?« Sie lachte. »Wer hat je von einem Wolf gehört, der einen Auftrag zu erledigen hat und nicht nur seinen eigenen Wünschen folgt?« »Ich bin kein richtiger Wolf«, erklärte ich ihr. »Ach nein?« sagte sie. »Wie seltsam. Du siehst aus wie ein Wolf, du sprichst wie ein Wolf, und du riechst auch ganz gewiß wie ein Wolf, aber du sagst, du wärst keiner. Was bist du denn?« »Ich bin ein Mensch«, antwortete ich. Sie setzte sich und schaute überrascht drein. Sie mußte mir glauben, denn Wölfe können nicht lügen. »Du hast einen Schwanz«, meinte sie, »und ich habe noch nie zuvor einen Menschen mit einem Schwanz gesehen. Du hast ein schönes Fell. Du hast vier Pfoten. Du hast lange, spitze Zähne, scharfe Ohren und eine schwarze Nase, und doch sagst du, du wärest ein Mensch.« »Das ist sehr kompliziert.« »Das muß es wohl sein«, murmelte sie. »Ich denke, ich werde eine Weile mit dir laufen, da du diesen Auftrag erledigen mußt. Vielleicht können wir unterwegs miteinander reden, und du kannst mir diese Sache genauer erklären.« »Wenn du willst.« Ich mochte sie und freute mich über ihre Gesellschaft. »Allerdings muß ich dich warnen – ich laufe sehr schnell.« Sie rümpfte die Nase. »Alle Wölfe laufen schnell.« Und so rannten wir Seite an Seite über das endlose Grasland auf der Suche nach dem Gott Belar.
»Hast du vor, Tag und Nacht zu laufen?« fragte sie mich, nachdem wir einige Meilen zurückgelegt hatten. »Ich werde rasten, wenn es nötig ist.« »Da bin ich froh.« Dann lachte sie nach Art der Wölfe, zwickte mich in die Schulter und jagte davon. Und ich dachte über die moralische Seite meiner Situation nach. Obwohl meine Gefährtin mir in meiner derzeitigen Gestalt sehr gut gefiel, war ich mir doch sicher, daß sie an Reiz verlieren würde, wenn ich sie mit menschlichen Augen betrachtete. Abgesehen davon war es gewiß eine ehrenvolle Sache, Vater zu werden. Doch wenn ich erst zu meinem Meister zurückgekehrt war, wäre mir ein Wurf Wolfswelpen gewiß peinlich. Ganz zu schweigen davon, daß die Welpen keine reinrassigen Wölfe wären, und ich wollte nicht Stammvater einer Rasse von Monstren sein. Wölfe suchen sich ihren Partner für das ganze Leben, und wenn ich die Wölfin verließ – was ich unweigerlich irgendwann tun mußte – wäre sie wirklich allein, allein mit einem Wurf vaterloser Welpen, und die anderen Wölfe ihres Rudels würden mit Verachtung auf sie hinabblicken, denn für Wölfe sind Vernunft und Anstand äußerst wichtig. Deshalb beschloß ich, auf unserer Suche nach Belar standhaft zu bleiben. Ich hätte nicht soviel Zeit und so viele Worte über diesen Vorfall verloren, hätte ich nicht das Bedürfnis zu erklären, wie tückisch die Eigenarten der angenommenen Gestalt werden und wie sehr sie die eigene Einstellung beeinflussen können. Jeder, der sich dieser Kunst bedient, sei gewarnt. Zu lange in einer artfremden Gestalt zu verweilen, könnte ungewollt dazu führen, daß man die eigene gar nicht wieder annehmen möchte. Ich gebe offen zu, daß ich – noch ehe wir das Land des Bärengottes erreicht hatten – mir ernsthaft Gedanken über die Freuden der Jagd und des Höhlenlebens machte und über Welpen, die ihren Kopf an mir rieben, und über die feste und aufrichtige Beziehung zu einer Gefährtin.
Schließlich fanden wir eine Gruppe Bärenjäger am Rande des riesigen Urwaldes, wo Belar, der Bärengott mit seinem Volk lebte. Zur Verblüffung meiner Begleiterin nahm ich meine menschliche Gestalt an und näherte mich ihnen. »Ich habe eine Nachricht für den Bärengott«, verkündete ich. »Wie sollen wir wissen, daß du die Wahrheit sprichst?« fragten sie. »Ihr müßt es glauben, weil ich es sage«, erwiderte ich kurz angebunden. »Die Nachricht ist wichtig, verliert also keine Zeit.« Da entdeckte einer der Alorner meine Gefährtin und warf seinen Speer nach ihr. Ich hatte keine Zeit, etwas zu tun, das als normal und erklärbar erschien; also mußte ich ihnen meine Fähigkeiten offenbaren. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Speer mitten im Flug anzuhalten. Sie rissen die Münder auf, als sie sahen, daß der Speer zitternd in der Luft steckte, als hätte er einen Baumstamm getroffen. Verärgert brach ich den Speer mit Willenskraft entzwei. »Zauberei!« stieß einer der Jäger hervor. »Die Wölfin gehört zu mir«, erklärte ich ihnen streng. »Versucht ja nicht noch einmal, ihr etwas anzutun.« Ich winkte ihr zu, und sie kam zu mir und zeigte den Jägern ihre gefletschten Zähne. »Und jetzt führt mich zu Belar!« befahl ich. Der Bärengott schien sehr jung zu sein, ein Knabe noch, aber ich wußte, daß er viel älter sein mußte als ich. Er schien ein aufrichtiger, offener Gott zu sein, doch die Menschen, die ihm dienten, waren ein rüpelhafter, undisziplinierter Haufe, sich kaum der Würde ihres Meisters bewußt. »Gut dich zu sehen, Belgarath«, grüßte er mich, obwohl wir uns nie begegnet waren und ich niemandem meinen Namen genannt hatte. »Wie geht es meinem Bruder?«
»Nicht gut, Herr«, berichtete ich. »Euer Bruder Torak kam zu meinem Meister, schlug ihn und raubte ein wertvolles Juwel, das es ihm angetan hatte.« »Was?« brüllte der junge Gott und sprang auf. »Torak hat den Stein?« »So ist es leider, Herr. Mein Meister sandte mich zu Euch mit der Bitte, mich so rasch wie möglich zu ihm zu begleiten.« »Das werde ich, Belgarath«, versicherte mir Belar. »Ich werde umgehend Vorbereitungen treffen. Hat Torak das Juwel schon benutzt?« »Wir glauben nicht, Herr«, erwiderte ich. »Mein Meister rät uns, Eile walten zu lassen, damit wir bei ihm sind, ehe Euer Bruder Torak die Macht des Steines, den er geraubt hat, gänzlich ergründen kann.« »Wahrlich«, stimmte Belar zu. Er blickte auf die junge Wölfin, die zu meinen Füßen saß. »Sei gegrüßt, kleine Schwester«, sagte er höflich. »Geht es dir gut?« »Das ist alles höchst bemerkenswert«, sagte sie statt einer Antwort. »Mir deucht, ich befinde mich in der Gesellschaft ungemein wichtiger Wesen.« »Dein Begleiter und ich müssen uns beeilen«, erklärte Belar ihr. »Wäre es nicht so, würde ich angemessen für deine Bequemlichkeit sorgen. Kann ich dir etwas zu essen anbieten?« Sie warf einen Blick auf den Ochsen, der sich an einem Spieß über dem offenen Feuer drehte. »Das da riecht ganz gut«, sagte sie. Belar nahm ein Messer und schnitt ein riesiges Stück für sie heraus. »Ich danke Euch«, sagte sie, als sie einen gewaltigen Bissen herausriß und verschlang. »Der da – « sie wandte mir den Kopf zu – »war immer so in Eile, hierherzukommen, daß wir kaum Zeit hatten, uns unterwegs ein paar Kaninchen zu schnappen.« Sie verschlang den Rest des Fleisches mit zwei großen Bissen. »Ziemlich
gut«, stellte sie fest, »aber verzeiht, wenn ich mich frage, ob es nötig war, es zu verbrennen.« »Das ist ein Brauch, kleine Schwester«, erklärte er. »Oh, wenn es sich um einen Brauch handelt…« Sorgfältig leckte sie sich die Barthaare sauber. »Ich komme gleich zurück, Belgarath«, entschuldigte sich Belar und verschwand. »Er ist nett«, bemerkte meine Begleiterin. »Er ist ein Gott«, erklärte ich ihr. »Das bedeutet mir nichts«, erwiderte sie gleichmütig. »Götter sind Sache der Menschen. Wir Wölfe interessieren uns nicht sonderlich für dergleichen.« »Willst du vielleicht zurückkehren zu dem Ort, an dem wir uns zum erstenmal trafen?« schlug ich behutsam vor. »Ich werde noch eine Weile mit dir ziehen«, wies sie meinen Vorschlag zurück. »Ich war schon immer neugierig, und ich sehe, daß du es mit sehr bemerkenswerten Umständen zu tun hast.« Sie gähnte, streckte sich und rollte sich zu meinen Füßen zusammen. Die Rückkehr ins Tal, wo mein Meister auf uns wartete, dauerte bei weitem nicht so lange wie meine Reise ins Land des Bärengottes. Obwohl den Göttern Zeit nichts bedeutet, können sie, wenn Eile von Nöten ist, Strecken auf eine Art und Weise zurücklegen, auf die selbst ich nicht gekommen wäre. Wir brachen auf, und Belar stellte mir Fragen über meinen Meister und unser Leben im Tal, und die junge Wölfin trabte friedlich zwischen uns her. Nach einigen Stunden schließlich verlieh meine Ungeduld mir Mut. »Herr«, sagte ich, »verzeiht mir, aber auf diese Weise werden wir gewiß fast ein Jahr brauchen, ehe wir den Turm meines Meisters erreichen.«
»Nein, ganz so lange wohl nicht, Belgarath«, widersprach er freundlich. »Ich glaube, der Turm liegt schon hinter dem nächsten Hügel.« Ich starrte ihn an, denn es fiel mir schwer zu glauben, daß ein Gott so einfältig sein könnte, doch als wir oben auf dem Hügel anlangten, lag das Tal meines Meisters vor uns, und in der Mitte erhob sich sein Turm. »Bemerkenswert«, meinte die Wölfin, setzte sich auf die Hinterläufe und starrte mit ihren hellen gelben Augen ins Tal hinab. Ich war ganz ihrer Meinung. Die anderen Götter waren bereits bei meinem Meister im Turm, und Belar eilte, sich ihnen anzuschließen. Meine Brüder, die anderen Jünger Aldurs, erwarteten mich am Fuße des Turmes. Sie waren überrascht, als sie meine Begleiterin sahen. »Hältst du es für klug, ein solches Wesen hierher zu bringen, Belgarath?« fragte Belzedar. »Du solltest wissen, daß Wölfe nicht gerade vertrauenswürdig sind.« Meine Gefährtin quittierte die Bemerkung mit Zähnefletschen. »Wie heißt sie?« erkundigte sich der sanftmütige Beltira. »Wölfe brauchen keine Namen«, erklärte ich. »Sie wissen genau, wer wer ist.« Belzedar schüttelte den Kopf und wich ein paar Schritte von der Wölfin zurück. »Ist sie zahm?« wollte Belsambar wissen. »Ich frage mich, wie du unterwegs für so etwas Zeit gefunden hast, denn ich weiß, daß du nicht säumig warst.« »Sie ist keineswegs zahm«, erwiderte ich. »Wir trafen uns durch Zufall, und da hat sie beschlossen, mich zu begleiten.« »Sehr bemerkenswert«, sagte die Wölfin zu mir. »Stellen sie immer so viele Fragen?«
»Das liegt in der Natur der Menschen«, erklärte ich ihr. »Seltsame Wesen«, meinte sie kopfschüttelnd. »Wundervoll«, staunte Belkira. »Du hast die Sprache der Tiere erlernt. Sei so gut, lieber Bruder, und lehre mich diese Kunst.« »Ich würde das nicht als Kunst bezeichnen, Belkira. Ich nahm auf meiner Reise in den Norden die Gestalt eines Wolfes an. Die Sprache der Wölfe kam mit der Gestalt und blieb mir erhalten, als ich mich zurückverwandelte. Das ist nichts Besonderes.« Und dann saßen wir und warteten darauf zu erfahren, was unser Meister und seine Brüder wegen Torak unternehmen würden. Als sie herunterkamen, waren ihre Gesichter ernst, und die Besucher gingen, ohne ein Wort an uns zu richten. »Es wird Krieg geben«, teilte unser Meister uns mit. »Meine Brüder sind gegangen, um ihre Anhänger um sich zu scharen. Mara und Issa werden sich Torak vom Süden her nähern, Nedra und Chaldan aus dem Westen, Belar und ich vom Norden. Wir werden sein Volk, die Angarakaner züchtigen, bis er den Stein zurückgibt. So muß es geschehen.« »Dann wird es so geschehen«, sagte ich und sprach für uns alle. Wir bereiteten uns auf den Krieg vor. Da wir nur sieben waren, befürchteten wir, daß unser Meister von den anderen Göttern gering geachtet würde, sobald unsere Zahl den Heerscharen der anderen Götter bekannt wurde, aber dem war nicht so. Wir machten uns daran, gewaltiges Kriegsgerät zu bauen und Trugbilder zu schaffen, welche die Angarakaner, das Volk Toraks, des Verräters, verwirren sollten. Und nach einigen Schlachten trieben wir und die Heerscharen der anderen Völker Torak und sein Volk hinaus auf die gewaltige Ebene jenseits von Korim, das nicht mehr besteht.
Und dann hob Torak, dem bewußt geworden war, daß die Heerscharen seiner Götterbrüder ganz Angarak zerstören konnten, das von meinem Meister erschaffene Juwel in die Höhe und ließ damit die Fluten des Meeres ein. Nie zuvor hatte ich ein solches Geräusch vernommen. Die Erde kreischte und stöhnte, als die Macht des Steines und der Wille Toraks die wundervolle Ebene zerrissen. Mit einem Krachen wie Tausende von Donnerschlägen schob die See sich als tosendes, breites, schäumendes Band zwischen uns und die Angarakaner. Wie viele Menschen dabei ertranken, weiß niemand. Das zerrissene Land versank unter unseren Füßen, und die See verfolgte uns; sie verschlang die Ebene, die Dörfer und Städte, die darauf standen. Nun war das Dorf meiner Jugend für immer verloren, und der schöne glitzernde Fluß ertrank unter der endlos rollenden See. Die Heerscharen der anderen Götter erhoben ein großes Geschrei, denn die See, die Torak eingelassen hatte, verschlang ein Großteil ihres Landes. »Wie bemerkenswert«, sagte die junge Wölfin, die an meiner Seite saß. »Du sagst das zu oft«, wies ich sie ungewohnt scharf zurecht. »Findest du es denn nicht bemerkenswert?«
»Schon, aber man sollte es nicht zu oft sagen, damit man nicht für einfältig gehalten wird.« »Ich sage, was immer ich sagen will«, erklärte sie mir. »Du mußt ja nicht zuhören, wenn es dir nicht gefällt; und wenn du mich für einfältig hältst, ist das deine Sache.« Wer kann schon mit einem Wolf streiten – und schon gar mit einer Wölfin? Wir waren bestürzt. Die weite See lag zwischen uns und den Angarakanern, und Torak stand an einem Ufer und wir am anderen. »Was nun, Meister?« fragte ich Aldur. »Es ist vorüber«, antwortete er. »Der Krieg ist vorbei.« »Niemals!« entgegnete der junge Gott Belar. »Meine Anhänger sind die Alorner. Die See ist ihnen nicht fremd. Wenn es nicht möglich ist, den Verräter auf dem Landweg zu erreichen, werden meine Alorner eine große Flotte bauen, und wir werden ihm auf dem Seeweg zu Leibe rücken. Nein, der Krieg ist nicht vorüber! Er hat dich geschlagen, lieber Bruder, und hat geraubt, was dein ist, und nun hat er auch noch dieses schöne Land unter der kalten See begraben. Unsere Häuser, die Felder und Wälder sind nicht mehr. Hört meine Worte: Zwischen Alornern und Angarakanern wird Krieg herrschen, bis der Verräter Torak für seine Frevel bestraft wurde – ja, und wenn es bis zum Ende aller Tage dauern sollte.« »Torak ist bestraft«, entgegnete mein Meister ruhig. »Er hat den Stein gegen die Erde erhoben, und das hat der Stein ihm übelgenommen. Den Schmerz dieser Vergeltung wird Torak bis zum Ende seiner Tage ertragen müssen. Mehr noch, der Stein ist erwacht. Er wurde für großes Übel mißbraucht, und das wird er nie wieder zulassen. Torak hat ihn zwar in seinem Besitz, doch das wird ihm keine Freude bereiten. Er darf ihn nicht berühren, noch darf er ihn betrachten, es wäre sein Ende.«
»Trotzdem«, entgegnete Belar, »werde ich ihn bekriegen, bis der Stein wieder in deinen Händen ist. Dafür setze ich ganz Alorien ein. Und von nun an soll er als Auge Aldurs bekannt sein.« »Wie du möchtest, mein Bruder«, sagte Aldur. »Jetzt aber müssen wir gegen die gierige See einen Damm errichten, ehe sie noch alles Land verschlingt, das uns geblieben ist. Vereine deinen Willen mit meinem und laß uns tun, was getan werden muß.« Bis zu diesem Tag hatte ich nicht völlig erkannt, in welchem Maße sich Götter von Menschen unterscheiden. Während ich zuschaute, reichten sich Aldur und Belar die Hände und blickten über die Ebene hinweg und auf die näherkommende See. »Halt ein«, sagte Belar zur See. Seine Stimme war nicht laut, doch die See hörte ihn und hielt inne. Sie stieg an, zornig tobend hinter der Barriere eines einzigen Wortes. »Erhebe dich«, sagte Aldur ebenso sanft zur Erde. Mir schwirrten die Sinne bei dem Versuch, das Ausmaß dieses Befehls zu begreifen. Die Erde, so frisch verwundet durch Toraks schändliche Tat, stöhnte und schwoll an, und vor meinen Augen erhob sie sich. Hoch und höher schob sich die Erde, während die Felsen krachten und zerbarsten. Aus der Ebene wuchsen Berge, die zuvor nicht gewesen waren, und sie schüttelten die lose Erde ab, wie ein Hund sich das Wasser aus dem Fell schüttelt, und standen fest als ewige Barriere gegen die See, die Torak eingelassen hatte. Widerstrebend zog die See sich zurück. »Wie bemerkenswert«, sagte die Wölfin. »Allerdings«, stimmte ich diesmal zu. Und die anderen Götter und ihre Anhänger kamen und sahen, was mein Meister und Belar getan hatten, und bewunderten es. »Nun ist die Zeit der Trennung gekommen«, sagte mein Meister. »Das Land, das einst so schön war, gibt es nicht mehr. Was übrig ist, ist karg und kann uns nicht ernähren. Meine Brüder, nehme ein jeder sein Volk und ziehe weiter gen Westen. Jenseits der westlichen
Berge liegt ein fruchtbares Flachland – nicht so weit und auch nicht so schön wie jenes, das Torak versinken ließ –; aber es wird euch und eure Völker ernähren.« »Und was wirst du tun, Bruder?« fragte Mara. »Ich kehre zurück zu meinen Aufgaben«, antwortete Aldur. »Am heutigen Tag wurde hier auf Erden Böses entfesselt, dessen Macht gewaltig ist. Sorgt euch um eure Völker und stärkt sie. Das Böse kam als Folge einer meiner Studien auf die Welt. Daher ist es an mir, Vorkehrung zu treffen für den Tag, da Gut und Böse in der letzten Schlacht aufeinander treffen – in der Schlacht, in der das Schicksal der Welt entschieden wird.« »So soll es denn sein«, sagte Mara. »Lebe wohl, mein Bruder.« Er wandte sich um und die anderen Götter mit ihm, und sie machten sich in Richtung Westen auf den Weg. Der junge Gott Belar jedoch blieb noch zurück. »Mein Schwur und mein Versprechen binden mich«, erklärte er meinem Meister. »Ich werde die Alorner nordwärts führen, und dort werden wir einen Weg suchen, über den wir an den Verräter Torak und sein verkommenes Volk, die Angarakaner, herankommen. Dein Stein wird dir zurückgegeben. Vorher werde ich nicht rasten noch ruhen.« Dann wandte er sich um und blickte gen Norden, und seine hochgewachsenen Krieger folgten ihm. Dieser Tag bedeutete für uns im Tal eine große Wende. Bis dahin hatten wir unsere Zeit mit Lernen verbracht und mit Arbeiten, die wir selbst wählten. Nun aber gab unser Meister uns Aufgaben. Die meisten davon verstanden wir nicht, und keine Arbeit ist so langweilig wie jene, für die man den Grund nicht kennt. Unser Meister zog sich in seinen Turm zurück, und manchmal sahen wir ihn jahrelang nicht. Es war eine Zeit schwerer Prüfung für uns, und oft sank unser Mut.
Eines Tages fiel mir bei der Arbeit die Wölfin auf, die mir fast ständig zuschaute. Ob sie sich gerührt oder einen Laut von sich gegeben hatte, weiß ich nicht; jedenfalls hielt ich inne und blickte sie an. Ich konnte mich nicht erinnern, wie lange ich sie nicht mehr bemerkt hatte. »Es muß langweilig für dich sein, nur hier zu sitzen und zuzuschauen«, sagte ich. »Es ist nicht unangenehm«, erwiderte sie. »Gelegentlich tust du etwas Merkwürdiges oder Bemerkenswertes. Hier gibt es genug Unterhaltung für mich. Ich werde noch eine Weile bei dir bleiben.« Ich lächelte, und dann kam mir ein seltsamer Gedanke. »Wie lange ist es nun her, daß wir uns begegnet sind?« fragte ich sie. »Was bedeutet Zeit für einen Wolf?« fragte sie gleichgültig. Ich zog einige Aufzeichnungen zu Rate und stellte ein paar Berechnungen an. »Soweit ich feststellen kann, bist du schon mehr als tausend Jahre bei mir«, sagte ich.
»Und?« bemerkte sie auf ihre Art, die mich rasend machen konnte. »Findest du das nicht ein wenig bemerkenswert?« »Nicht besonders«, antwortete sie ruhig. »Leben Wölfe normalerweise so lange?«
»Wölfe leben so lange, wie es ihnen gefällt«, erwiderte sie, ein wenig selbstgefällig, wie mir schien. Eines Tages, kurze Zeit später, hielt ich es für nötig, meine Gestalt zu wandeln, um eine Aufgabe für meinen Meister zu erledigen. »Ah, so machst du das«, staunte die Wölfin. »Wie einfach.« Und prompt verwandelte sie sich in eine schneeweiße Eule. »Hör auf damit«, befahl ich ihr. »Warum?« fragte sie und putzte sich dabei sorgfältig die Federn mit dem Schnabel. »Es ist nicht schicklich.« »Was bedeutet einem Wolf – oder einer Eule – was ›schicklich‹ ist?« Dann breitete sie ihre weichen leisen Flügel aus und glitt aus dem Fenster. Danach hatte ich kaum noch Frieden. Nie wußte ich, was mich anstarren würde, sobald ich mich umdrehte – Wolf oder Eule, Bär oder Schmetterling. Es schien ihr viel Spaß zu machen, mich zu erschrecken, doch mit der Zeit schien sie an der Gestalt der Eule den größten Gefallen zu finden. »Was soll das mit den Eulen?« knurrte ich eines Tages. »Ich mag Eulen«, erklärte sie, als wäre nichts auf der Welt selbstverständlicher. »Während meines ersten Winters, als ich ein dummes kleines Ding war, jagte ich einem Hasen hinterher und hüpfte dabei durch den Schnee wie ein Welpe, und eine große weiße Eule kam aus der Höhe und schnappte sich den Hasen aus meinem Maul. Sie trug ihn zu einem nahen Baum und fraß ihn dort, ließ aber auch Stücke für mich herunterfallen. Ich dachte mir die ganze Zeit, daß es eine feine Sache sein würde, eine Eule zu sein.« »Es ist dumm«, brummte ich. »Vielleicht«, entgegnete sie und putzte dabei ihre Schwanzfedern, »aber es macht mir Spaß. Vielleicht wähle ich ja eines Tages eine andere Gestalt, die mir noch mehr Spaß macht.«
Ich brummte und wandte mich wieder meiner Arbeit zu. Einige Zeit später – Tage oder Jahre oder vielleicht sogar länger – rauschte sie durch das Fenster, wie es ihre Art war, hockte sich auf einen Stuhl und nahm ihre angeborene Wolfsgestalt an. »Ich werde eine Zeitlang fortgehen«, verkündete sie. »Ach?« bemerkte ich vorsichtig. Sie starrte mich mit ihren gelben Augen ruhig an. »Ich denke, ich möchte wieder einen Blick auf die Welt werfen«, sagte sie. »Ich verstehe«, entgegnete ich. »Die Welt hat sich stark verändert, glaube ich.« »Das ist möglich.« »Ich werde eines Tages zurückkommen.« »Wie du möchtest«, sagte ich. »Lebe wohl«, verabschiedete sie sich und verschwamm wieder in ihre Eulengestalt – und mit einem einzigen Schlag ihrer mächtigen Schwingen war sie fort. Seltsamerweise vermißte ich sie. Ich ertappte mich dabei, daß ich mich oft umdrehte, um ihr etwas zu zeigen. Sie war so lange Teil meines Lebens gewesen, daß ich meinte, sie müßte ewig da sein. Ich war jedesmal ein wenig traurig, wenn ich sie nicht an ihrem üblichen Platz fand. Und dann führte mich ein Auftrag meines Meisters nordwärts. Auf meinem Rückweg kam ich an einem kleinen, säuberlich mit Ried gedecktem Blockhaus vorbei, das inmitten einer Gruppe riesiger Bäume an einem kleinen Fluß stand. Ich kannte den Weg und hätte schwören können, daß ich das Haus dort nie zuvor gesehen hatte. Mehr noch, soweit mir bekannt war, gab es keine Siedlung innerhalb von fünfzehnhundert Meilen. In dem Haus lebte eine Frau, die sehr jung zu sein schien, und dennoch vielleicht nicht ganz so jung. Ihr Haar war von gelbbrauner Farbe, und ihre Augen erschienen mir eigenartig golden.
Sie stand an der geöffneten Tür, als ich mich näherte – es war beinahe so, als hätte sie mich erwartet. Sie grüßte mich auf geziemende Weise und lud mich ein, mit ihr zu essen. Ich nahm dankbar an; denn kaum hatte sie das Wort essen ausgesprochen, stellte ich fest, wie schrecklich hungrig ich war. Im Inneren der Hütte war alles ordentlich und freundlich. Ein Feuer flackerte im Herd, über dem ein großer Kessel blubberte. Aus diesem Kessel stiegen wundervolle Gerüche auf. Die Frau ließ mich am Tisch Platz nehmen, holte mir einen großen irdenen Teller und tischte mir ein Mahl auf, wie ich es seit Hunderten von Jahren nicht genossen hatte. Alle meine Lieblingsspeisen wurden mir aufgetragen, wenn ich mich recht entsinne. Als ich gegessen hatte – vermutlich mehr, als ratsam war, denn alle, die mich kennen, wissen, daß ich eine Schwäche für gutes Essen habe – unterhielten wir uns, die Frau und ich, und ich fand, daß sie außerordentlich klug war. Obwohl mein Auftrag der Eile bedurfte, ertappte ich mich dabei, daß ich nach Ausreden suchte, um nicht schon gehen zu müssen. Ich fühlte mich in ihrer Gegenwart aufgeregt wie ein Jüngling. Ihr Name, so sagte sie, sei Poledra. »Und wie heißt du?« fragte sie. »Man nennt mich Belgarath«, erwiderte ich, »und ich bin ein Jünger des Gottes Aldur.« »Wie bemerkenswert«, sagte sie und lachte. Ich glaubte, etwas undeutbar Vertrautes in diesem Lachen zu erkennen. Ich habe niemals die Wahrheit über Poledra erfahren, aber ich hatte natürlich so meine Vermutungen. Als die Dringlichkeit meines Auftrages mich zwang, das schöne Wäldchen und das hübsche kleine Blockhaus zu verlassen, sagte Poledra etwas äußerst Seltsames. »Ich werde mit dir gehen«, verkündete sie. »Ich war schon immer neugierig.« Und sie schloß die Tür des Hauses und begleitete mich ins Tal.
Eigenartigerweise erwartete mein Meister uns, und er begrüßte Poledra höflich. Ich könnte es nicht mit Gewißheit sagen, aber mir schien, die beiden tauschten heimlich einen Blick, als würden sie sich kennen und teilten ein Wissen, das mir verschlossen war. Wie ich schon erwähnte, vermutete ich so manches, doch mit der Zeit wurde das immer unwichtiger. Nach einer Weile dachte ich nicht einmal mehr darüber nach. Im darauf folgenden Frühjahr heirateten Poledra und ich. Obwohl mein Meister die Bürde trug, die Vorbereitungen für den Tag der letzten Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse zu treffen, segnete er selbst den Ehebund. Unsere Ehe war voller Freude und Glück, und ich dachte nie an jene Dinge, die ich wohlweislich zu ignorieren beschlossen hatte; aber das ist natürlich eine andere Geschichte. *
*
Das ist keine andere Geschichte. Es ist der Kern dieser Geschichte.
1 – DIE HEILIGEN BÜCHER
DAS BUCH ALORN*
Von den Anfängen ANMERKUNG
*
Die Sagen der Alorner erzählen von einer Zeit, als Menschen und Götter in Harmonie zusammenlebten. Es war die Zeit, ehe die Welt zerbarst und die Östliche See hereinbrach, um das Land zu verschlingen, in dem sie lebten, ein Land, das östlich des heutigen Cthol Murgos und Mishrak ac Thull lag. Das Zerbersten der Welt wird in der alornischen Mythologie das ›Entzweien‹ oder das ›Trennen der Völker‹ genannt. Für die Alorner ist es der Beginn der Zeitrechnung.
Dies ist ein Schöpfungsmythos mit Anklang an die Mythen mehrerer Kulturen dieser Welt. Unsere Sintflutmythen haben ihren Ursprung wahrscheinlich in der Gletscherschmelze nach der letzten Eiszeit vor etwa zwölftausend Jahren. Die Flut auf Garions Welt war auf einen Vulkanausbruch zurückzuführen, der in der Vorarbeit zum Malloreon in allen Einzelheiten beschrieben ist.
Am Anfang schufen die Götter die Welt und die Meere und auch das Festland. Die Sterne streuten sie über den Nachthimmel und setzten die Sonne ans Firmament, sowie ihren Gefährten, den Mond, auf daß die Welt Licht habe. Und die Götter ließen die Erde Tiere hervorbringen, im Wasser Fische schwimmen und Vögel durch die Luft fliegen. Und sie schufen den Menschen und teilten die Menschen in Völker auf. Nun waren die Götter ihrer sieben an der Zahl, und keiner war geringer als der andere, und ihre Namen waren Belar und Chaldan und Nedra und Issa und Mara und Aldur und Torak. Belar war der Gott der Alorner, und er lebte unter ihnen und liebte sie, und sein Zeichen ist der Bär. Chaldan war der Gott der Arender, und er lebte unter ihnen und war Richter über sie, und sein Zeichen ist der Stier. Nedra war der Gott des ihm benannten Volkes der Tolnedrer, und er fand Gefallen an ihren Huldigungen, und sein Zeichen ist der Löwe. Issa war Gott über das Schlangenvolk, und er nahm die Verehrung an, die sein Volk ihm mit stumpfem Blick entgegenbrachten, und sein Zeichen ist die Schlange. Mara war Gott über die Marager, die nicht mehr sind, und sein Zeichen war die Fledermaus. Seine Tempel sind zerfallen und leer, und der Geist Maras weint einsam in der Wildnis. Aldur hatte kein Volk; er lebte alleine und studierte in seiner Abgeschiedenheit die Sterne. Doch unter den Völkern der anderen Götter hörten einige von seiner Weisheit und erbaten die Gunst, bei ihm bleiben und seine Schüler werden zu dürfen. Widerstrebend gewährte er ihnen die Bitte, und sie wurden seine Anhänger und lebten vereint als seine Jünger in einer Bruderschaft, und Aldurs Zeichen ist die Eule.
Torak ist Gott über die Angarakaner, und ihre Verehrung und der Brandgeruch ihrer Opfer schmeichelten ihm. Und die Angarakaner verbeugten sich vor ihm und nannten ihn Herr der Herren und Gott der Götter, und in der Tiefe seines Herzens schwelgte Torak in diesen Worten. Und wisset, er lebte abseits der Bruderschaft der Götter und gab sich ganz der Anbetung der Angarakaner hin. Und sein Zeichen ist der Drache. Aldur schuf ein Juwel von Kugelform, und wisset, es war in etwa von der Größe eines menschlichen Herzens, und in diesem Juwel brach sich das Licht bestimmter Sterne des nördlichen Nachthimmels. Und groß war der Zauber, der von diesem Juwel ausging, das die Menschen alsbald das Auge Aldurs nannten, denn mit dem steinernen Auge konnte Aldur sehen, was einst war und was noch kommen wird – ja, wahrlich, selbst was die tiefsten Tiefen der Erde und die undurchdringlichste Dunkelheit verbargen. Darüber hinaus vermochte das Juwel in der Hand Aldurs Wunder zu wirken, wie weder Mensch noch Gott sie je zuvor erblickt hatten. Torak gelüstete es, seiner Schönheit und Macht wegen, nach dem Auge Aldurs, und in den tiefsten Abgründen seiner Seele beschloß er, das Kleinod in seinen Besitz zu bringen, selbst wenn Aldurs Tod der Preis dafür wäre. Und heuchlerisch begab er sich zu Aldur und sprach zu ihm. »Mein Bruder«, sagte er, »es geziemt sich nicht, daß du dich abseits hältst, fern der Gesellschaft und dem Rat deiner Brüder. Ich ersuche dich, nimm dich eines Volkes an und kehre zurück in unsere Mitte.« Und Aldur blickte auf Torak, seinen Bruder, und wies ihn zurecht. Er sagte: »Nicht ich bin es, der sich von der Bruderschaft abgewandt hat, um Herrschaft und Macht zu suchen.« Torak war beschämt ob der Worte Aldurs, seines Bruders, und blanker Zorn übermannte ihn. Er erhob sich wider seinen Bruder
und schlug ihn, und er streckte die Hand aus nach dem begehrten Juwel und nahm es an sich und floh. Aldur rief die anderen Göttern und berichtete, was sich zugetragen hatte. Da erhoben sich die Götter, und jeder von ihnen redete Torak zu, er möge seinem Bruder Aldur das Auge zurückgeben. Doch Torak weigerte sich. Und so kam es, daß jeder der Götter sein Volk anwies, zum Krieg zu rüsten. Und wisset, Torak hob das Auge Aldurs und ließ die Erde zerbersten; die Berge stürzten ein, und die See schwoll an und verschlang die Länder des Ostens, wo die Völker der Götter lebten. Und die Götter nahmen ihre Völker und flohen vor der herantosenden See. Aldur und Belar jedoch reichten sich die Hände und vereinten ihren Willen, ließen Berge sich erheben und setzten der See Grenzen. Und die Götter wurden voneinander getrennt, wie auch die Völker. Und die Zeitrechnung der Menschen begann von dem Tag an, da Torak das Land gespalten hatte. Nun geschah es, daß die sechs Götter mit ihren Völkern nach Westen zogen, während Torak die Angarakaner nach Osten führte. Und nun trennte die See die Angarakaner von den übrigen Völkern. Nicht ungestraft jedoch zerbrach Torak die Welt, denn die Wirkung des Auges war von solcher Art, daß es zu glühen begann, als Torak es auf die Erde und auf die Berge richtete. Seine Glut wuchs mit jedem Befehl Toraks. Und das blaue Feuer jener fernen Sterne verzehrte Toraks Fleisch. In seinem Schmerz zerschlug er die Berge und zerschmetterte rasend vor Pein die Welt. In Todesqualen ließ er die See das Land verschlingen. Und so mißbrauchte Torak die Macht des Auges für üble Zwecke. Wisset, die linke Hand Toraks wurde vom Feuer des Auges vollkommen verbrannt; die Finger flammten wie Zunder und zerfielen zu Asche. Und das Fleisch seiner linken Gesichtshälfte
schmolz wie Wachs im heiligen Feuer des Aldurauges, und sein eigenes Auge kochte in seiner Höhle. * Und Torak stieß einen gewaltigen Schrei aus und warf sich in die See, um den brennenden Schmerz zu stillen, doch selbst dies brachte keine Linderung. Wahrlich, es steht geschrieben, daß Toraks Qualen in alle Ewigkeit währen. Die Angarakaner waren verzweifelt ob der Pein ihres Gottes, und sie gingen zu ihm und fragten, was sie tun konnten, um ihn von diesem Schmerz zu befreien. Da rief Torak den Namen des Auges. Und sie versuchten, ihm das Auge zu bringen, doch das Feuer, das im Auge erwacht war, verschlang alle, die es berührten, so daß sie eine große eherne Truhe schufen, um das Auge darin zu tragen. Und wisset, als Torak die Truhe öffnete, brannte das Auge mit neu entfachtem Feuer, und Torak schrie auf und schleuderte es von sich. Da sprachen die Angarakaner zu ihm und sagten: »Herr, möchtet Ihr, daß wir dieses Ding zerstören oder in die See werfen?« Und wieder schrie Torak auf und rief: »Nein! Wahrlich, ich werde jeden vernichten, der die Hand gegen dieses Juwel erhebt. Auch wenn ich es nicht berühren, ja nicht einmal betrachten kann, habe ich es doch teuer erworben, und niemals werde ich mich davon trennen.« Und wisset, Torak, einst der schönste der Götter, stieg aus dem Wasser. Seine rechte Seite war unversehrt und anziehend, die linke Seite aber verbrannt und gezeichnet vom Feuer des Auges, das ihn solcherart für seinen Frevel bestraft hatte. *
Für die Verstümmelung eines Gottes gibt es in den Mythen dieser Welt keine Parallele. Milton verbannte allerdings Luzifer für alle Ewigkeit in die Gestalt einer Schlange, in der er Eva verführt hatte. Das Kainsmal mag ebenfalls als Beispiel gelten.
Torak führte sein Volk nach Osten und hieß es eine große Stadt bauen, und sie nannten sie Cthol Mishrak, die Stadt der Nacht, denn Torak schämte sich seiner Entstellung, und das Licht der Sonne bereitete ihm Pein. Die Angarakaner bauten ihm einen großen, ehernen Turm, auf daß er darin wohnen konnte und daß ihre Gebete und der Duft von Räucherwerk und der Rauch der Opferfeuer zu ihm emporsteigen und seine Pein zu lindern vermöchten. Und er ließ die eherne Truhe in das oberste Turmgemach bringen, und oft stand er vor der Truhe und streckte seine makellose Hand danach aus, als wolle er das Juwel berühren. Sein verbliebenes Auge sehnte sich danach, es zu betrachten; dann aber floh er weinend aus dem Gemach, bevor sein Verlangen übermächtig werden konnte und er die eherne Truhe öffnete und sein Ende fand. So geschah es tausend Jahre und noch einmal tausend Jahre lang im Land der Angarakaner, das die Menschen Mallorea nannten. Und die Angarakaner nannten den entstellten Gott mit der Zeit KALTORAK, ein Name, der zugleich König und Gott bedeutete. Die sechs anderen Götter waren mit ihren Völkern nach Westen gezogen und teilten sich auf. In den Süden und Westen, in düstere Urwälder und schlammige Flüsse begab sich der Schlangengott mit seinem Schlangenvolk. Nedra brachte die seinen in das fruchtbare Land nördlich des Urwaldes. Chaldan führte sein Volk, die Arender, an die nordwestliche Küste. Und Mara fand eine Heimstatt in den Bergen über der tolnedrischen Ebene. Doch Aldur zog sich schwermütig über den Verlust des Auges und das Unheil, das sein Juwel über die Welt gebracht hatte, in das Tal zurück, das an den Quellen des Flusses der Götter lag und seinen Namen trug, und er entzog sich den Blicken der Menschen und Götter – und niemand kam in seine Nähe außer Belgarath, sein ältester Jünger.
Nun geschah es, daß Belar, der jüngste der Götter und Aldurs liebster Bruder, sein Volk nach Norden führte und Tausende und Abertausende von Jahren nach einem Weg suchte, die Angarakaner zu unterwerfen und das Auge zurückzuholen, auf daß Aldur wieder aus seinem Turm käme und Menschen und Götter aufs neue in Freundschaft vereint wären. Und das Volk der Alorner, das Volk Belars, des Bärengottes, war verwegen und kriegerisch und kleidete sich in Bärenhäute und Felle von Wölfen und in Hemden aus geschickt ineinander gefügten Stahlringen, und gewaltig waren die Schwerter und Äxte, die sie schmiedeten. Und sie streiften durch den Norden – ja, selbst ins Land des ewigen Eises wagten sie sich, um einen Weg nach Mallorea zu ihren alten Feinden zu finden und sie zu vernichten und Aldur das Auge zurückzubringen. Und stolz hob jeder alornische Krieger auf seinem Weg ins Mannesalter sein Schwert oder seine Axt zu den ewigen Sternen empor, und dabei rief er seine Drohungen hinaus und verfluchte Torak mit Donnerstimme. Selbst in seinem ehernen Turm in Cthol Mishrak vernahm der entstellte Gott die Rufe und sah das kalte Licht des Nordens auf den Schwertklingen der Krieger funkeln. Da wuchs die Pein Kal-Toraks um ein Zehnfaches, und sein Haß auf seinen jüngsten Bruder und die unerschrockenen Krieger, die ihm folgten und ihre Drohung selbst den Sternen entgegenschleuderten, fraß an seiner Seele.
Von allen Königen der Alorner war Cherek mit den breiten Schultern der tapferste und der listigste, und er begab sich ins Aldurstal, um Belgarath aufzusuchen, den Jünger Aldurs. Und er sprach zu ihm: »Nun sind die Wege in den Norden offen, und ich habe sehr tapfere Söhne. Die Zeichen und Runen sind gut. Die Zeit ist reif, unseren Weg in die Stadt der ewigen Nacht zu suchen und dem Räuber das Auge zu entreißen.« Doch Belgarath verließ das Tal nicht gerne, denn seine Frau war guter Hoffnung und die Stunde ihrer Niederkunft nicht fern. Doch Cherek behauptete sich, und des Nachts stahlen sie sich davon und trafen hoch im Norden auf die Söhne Chereks. Der älteste wurde Dras genannt, und stark war er und geschickt. Der zweite Sohn hieß Algar; er war schnell wie der Wind und kühn. Und der Name des jüngsten war Riva; er war reinen Herzens und unerschütterlich und nichts, was er in die Hand nahm, konnte ihm mehr entkommen. Wisset, die Zeit der Dunkelheit lag über dem Norden, und es war die Zeit des Schnees und des Eises und des Nebels; und die Moore des Nordens glitzerten in der todbringenden Kälte unter den Sternen von Rauhreif und Eis. Und Belgarath der Zauberer nahm die Gestalt eines großen dunklen Wolfes an und schlich auf lautlosen Pfoten durch die dunklen, schneebedeckten Wälder des Nordens, wo in der schneidenden Kälte die Bäume krachten und barsten.
In jenen Tagen färbte der Frost Nacken und Schultern des großen Wolfes Belgarath silbern, und hinfort waren Haar und Bart des Zauberers Belgarath silbergrau. Die Gefährten wandten sich schließlich südwärts nach Mallorea und näherten sich unerschrocken der Stadt der Finsternis, Cthol Mishrak, in welcher der entstellte Gott hauste, der König der Angarakaner war. Und unermüdlich leitete sie der Wolf Belgarath, der mit seinen vom ewigen Frost silbernen Schultern und Nacken, den Bauch tief am Boden, vor ihnen lief. Schließlich erreichten sie die Stadt der Nacht, wo Kal-Torak und sein Volk wohnten, die Angarakaner. Und der Wolf Belgarath führte sie lautlos in die dunkle Stadt bis an den Fuß des ehernen Turmes. Dann erklommen sie mit umwickelten Sohlen geschickt und leise die rostigen eisernen Stufen, auf die seit zwanzig Jahrhunderten kein Gott oder Mensch mehr getreten war. Und Cherek mit den breiten Schultern, der einem Bären ähnlicher sah als sogar der Bärengott, ging voran, gefolgt von Algar dem Flinken, und Riva dem Unerschütterlichen, und den Rücken deckten ihnen Dras mit dem Stiernacken und der Wolf Belgarath.
Und sie stiegen hinein in die schwelende Finsternis des Turmes und kamen zu der eisenbeschlagenen Kammer des entstellten Gottes, in der Torak schmerzgepeinigt schlief. Sein Gesicht war bedeckt von einer Eisenmaske, die vor Menschen und Göttern das geschmolzene Fleisch und das verbrannte Auge verbarg, die er dem Juwel verdankte. Als sie durch die Kammer schlichen, regte sich der Gott im Schlaf und öffnete hinter der eisernen Maske das Auge, das verbrannt war vom Juwel. Und so gewaltig war die Macht des entstellten Gottes, daß das Auge, das nicht war, rot glühte, und der eherne Turm glühte gleichermaßen in schwelendem, rußigem Rot. Angst vor dem entstellten Gott erfaßte die sonst so furchtlosen Männer, als sie das Turmgemach durchquerten, erfüllt von schrecklicher Furcht vor dem entstellten Gott, der im Schlaf in seiner ewigen Pein sich regte. In der Kammer dahinter stand die eherne Truhe, in der Tausende und Abertausende von Jahren bereits das Auge Aldurs ruhte. Und voller Furcht blickten sie auf die Truhe; denn sie wußten von der Macht des Juwels. Und Cherek Bärenschulter, König der Alorner, sprach zu Belgarath, dem Zauberer: »Nehmt Ihr das Auge und bringt es dem rechtmäßigen Besitzer zurück, Eurem Meister.« Da entgegnete Belgarath, der Jünger Aldurs: »Nein, König der Alorner. Ich wage nicht, es zu berühren, ja nicht einmal, es zu erschauen. Es wäre mein sicheres Ende. Niemand darf das Auge mehr berühren, es sei denn, er ist ohne jedes Arg. Nur von einem, der es nicht benutzt, läßt es sich in die Hand nehmen. So beschützt das Auge sich selbst und die Götter und die Menschen und die ganze Welt. Denn wisset, dereinst wurde es benutzt, die Erde zu spalten, und das wird es nie mehr dulden. Wenn einer hier selbstlos und von reinem Herzen ist, ohne einen Gedanken an Gewinn oder Macht,
der nehme das Auge und trage es bis ans Ende unserer Reise, auf eigene Gefahr.« Cherek Bärenschulter sprach mit düsterer Miene: »Wer kann sicher sein, daß seine Seele ganz und gar rein ist?« Er streckte eine Hand aus, und als sie der ehernen Truhe nahe war, fühlte er die große Hitze des Auges in ihrem Inneren, und er mußte sich eingestehen, daß er unwürdig war. Bitter war diese Erkenntnis. Und er wandte sich ab.
Dras Stiernacken, sein ältester Sohn trat vor und streckte beide Hände aus und legte sie auf die Truhe. Dann zog er sie zurück und weinte. Algar Flinkfuß trat vor und streckte seine Hand aus. Und auch er zog sie zurück und wandte sich ab. Riva Eisenfaust jedoch trat an die Truhe, öffnete sie, griff hinein und holte das Auge heraus. Und wisset, das Feuer des Auges leuchtete zwischen seinen Fingern – ja selbst durch das Fleisch seiner Hand – und es verbrannte ihn nicht. »Hört!« sprach Belgarath, der Zauberer zu Cherek Bärenschulter. »Euer jüngster Sohn ist rein und ohne Arg. Und sein Los wird es sein, und das Los aller, die nach ihm folgen, das Auge zu tragen und vor dem Bösen zu bewahren.«
»So sei es«, bestätigte Cherek, König der Alorner, »und ich und seine Brüder werden ihm zur Seite stehen und ihn beschützen, solange dieses Los auf ihm lastet – selbst wenn es bis ans Ende aller Tage währt.« Und Riva verbarg das Auge Aldurs in seinem Umhang und trug es an seiner Brust, und die Gefährten eilten durch das schreckliche Gemach, in dem der entstellte Gott schlief, ruhelos und unruhig in seinem Schmerz. Und das Auge, das nicht mehr war, beobachtete sie. Kal-Torak schrie auf im Schlaf, erwachte aber nicht. Hinunter eilten sie zum Fuß des Turmes und dann hurtig zu den Toren der Stadt der Finsternis, die Cthol Mishrak war, und in die Ödlande dahinter.
Erst als sie zehn Meilen hinter sich hatten, erwachte der entstellte Gott aus seinem schmerzvollen Schlummer und sah, daß die eherne Truhe offen stand und das Auge, für das er so teuer bezahlt hatte, verschwunden war. Schrecklich war der Zorn Kal-Toraks. Er rüstete sich in schwarzes Eisen und nahm sein gewaltiges Schwert und seinen Speer und stieg hinab von seinem Turm und zerschmetterte ihn – und wisset, der Turm, der Tausende und Abertausende von Jahren gestanden hatte, war zerstört, und gewaltig war die Ruine, die an seiner Statt blieb.
Der entstellte Gott sprach mit dröhnender Stimme zu den Angarakanern: »Weil ihr solches geschehen ließet, sollt ihr von nun an nicht mehr in Städten leben. Ihr seid unachtsam und träge geworden und habt erlaubt, daß ein Dieb stehlen konnte, wofür ich so teuer bezahlt habe. Ich werde eure Stadt zerstören und euch von hier vertreiben, und ihr sollt Wanderer sein auf der Erde, bis ihr mir zurückgebracht habt, was mir genommen wurde.« Sodann hob er die Arme und legte die Stadt in Schutt und Asche und trieb die Angarakaner in die Wildnis. Und Cthol Mishrak war nicht mehr. Im Ödland im Norden hörten die Gefährten das Geschrei aus der Stadt, und die Angarakaner setzten ihnen nach. Und sobald diese sie eingeholt hatten, drehten sich Cherek Bärenschulter und seine Söhne Dras Stiernacken und Algar Flinkfuß um und schlugen sie in die Flucht. Und weitere Angarakaner verfolgten sie, und obgleich sie ihnen wieder an der Zahl weit überlegen waren, wurden auch sie von Cherek und seinen Söhnen in die Flucht geschlagen. * Ein drittes Mal kamen die Angarakaner über sie, und in ihrer Mitte führte Kal-Torak ihre gewaltige Heerschar. Und Riva Eisenfaust sah, daß sein Vater und seine Brüder zu Tode erschöpft waren und ihre Wunden bluteten. Da griff der Hüter des Auges, der sich umgedreht hatte, an seine Brust und holte das Juwel hervor, auf daß der entstellte Gott und seine Heerscharen es sehen konnten. Groß war die Verwirrung in ihren Reihen, als sie das Auge erblickten, und Kal-Torak stieß einen schrecklichen Schrei aus und wandte sich ab, doch trieb er die Angarakaner erneut an und befahl ihnen, das Juwel zurückzuholen.
*
Wir änderten das in Die höchstpersönliche Geschichte des Zauberers Belgarath. Das Packeis im Winter bot eine Alternative zur ›Landbrücke‹.
Aber Riva hob das Auge des Aldur, und es strahlte heller denn je zuvor, und die Augen der Angarakaner waren geblendet. Sie zogen sich zurück, doch der entstellte Gott hob die Hand gegen sie und trieb sie erneut zum Angriff auf die Gefährten. Und noch ein drittes Mal zeigte Riva das Auge. Sogleich erhellte Feuer den Himmel, und wisset, das Feuer verschlang die vordersten Reihen der Feinde. Da flohen die Angarakaner vor dem Auge, und Kal-Torak konnte sie nicht mehr halten. Nun durchquerten die Gefährten erneut den Norden und kehrten in den Westen zurück. Die Späher Toraks folgten ihnen, doch Belgarath, der Zauberer, nahm wieder die Gestalt des Wolfes an und lauerte den Spähern auf, und danach folgten sie nicht mehr. Und wisset, die Götter des Westens hielten Rat, und Aldur sprach zu ihnen: »Es darf nicht geschehen, daß wir selbst Krieg führen gegen unseren Bruder Torak, denn wird nicht die Welt zerstört, wenn Götter Kriege führen? Wir müssen uns zurückziehen von der Welt, auf daß unser Bruder Torak uns nicht mehr bekriegen und die Welt vernichten kann.« Da schwiegen die anderen Götter, denn sie wollten ihre Völker, die sie liebten, nicht verlassen, doch alle wußten, daß Aldur recht hatte und die Welt zerstört würde, wenn sie blieben. Belar, der jüngste der Götter weinte, denn er liebte das alornische Volk zutiefst. Da zeigte Aldur Mitleid. Er sprach zu seinen Brüdern: »Im Geiste mag ein jeder bei seinem Volk bleiben und es leiten und beschützen, doch nicht in eigener Gestalt, die Torak finden und bekriegen könnte, denn dies wäre der Untergang der Welt und aller Völker.« »Und wirst du, mein Bruder, das Auge, das dein höchstes Glück ist, mit dir nehmen?« fragte Chaldan, der Gott der Arender. »Nein, mein Bruder«, antwortete Aldur, und traurig war sein Herz, als er sprach. »Das Auge muß zurückbleiben, denn nur in ihm
liegt die Macht, die Toraks Herrschaft über die Welt zu verhindern vermag. So lange das Auge bleibt, werden eure Völker sicher sein vor Versklavung.« So geschah es, daß die Götter sich zurückzogen aus der Welt, die sie geschaffen hatten, doch im Geiste verweilte jeder bei seinem Volk. Von den sieben Göttern blieb nur Torak zurück, doch das Auge verhinderte, daß er die Herrschaft über die Welt an sich reißen und alle Menschen versklaven konnte. Und im Ödland von Mallorea, im Osten, wußte dies der entstellte Gott, und das Wissen fraß an seiner Seele. Belgarath sprach zu Cherek und seinen Söhnen: »Hört auf die Worte der Götter, denn wisset, das ist ihre Entscheidung und das Schicksal, das sie für euch ausersehen haben. Hier müssen wir uns trennen und getrennt leben voneinander wie an dem Tag, an dem alle Menschen getrennt wurden.« Und zu Riva sprach er: »Deine Reise ist die längste, Eisenfaust. Trage du das Auge auf die Insel der Stürme. Nimm dein Volk mit dir und deine Habe und dein Vieh, denn du wirst nicht zurückkehren. Errichte dort eine Festung und eine Zuflucht und bewahre sie und verteidige das Auge mit deinem Leben und dem Leben deines Volkes, denn wisse, allein das Auge vermag Torak zu hindern, über die Menschen zu herrschen und sie zu unterjochen – und die Macht über die ganze Welt an sich zu reißen.« Und zu Dras sprach er: »Verlasse uns hier, Stiernacken, und verteidige die Marschen des Nordens gegen die Angarakaner und gegen Kal-Torak. Nimm dein Volk und deine Habe und dein Vieh und kehre nicht mehr zurück, auf daß das Marschland nicht unbewacht ist.« Und zu Algar sprach er: »Verlasse auch du uns hier, Flinkfuß, und verteidige die Ebenen des Südens gegen den Feind. Nimm dein Volk, deine Habe und dein Vieh und kehre nicht mehr zurück, auf daß die Ebenen nicht unbewacht sind.«
Und zu Cherek sprach er: »Dein Schicksal, Bärenschulter, ist die See. Geh du auf die Halbinsel im Norden, die nach den Alornern benannt ist, und erbaue darauf einen Seehafen und eine Flotte schneller, großer Schiffe und verteidige das Meer, damit der Feind nicht auf dem Seeweg gegen deinen Sohn Riva ziehen kann. Und verteidige dein Volk, deine Habe und dein Vieh. Und lehre dein Volk, die See zu verstehen, auf daß ihnen auf dem Meer niemand überlegen ist.« Dann hob er das Gesicht und sprach mit gewaltiger Stimme: »Höre mich, Torak-Einauge. So wird das Juwel verteidigt und sicher vor dir verwahrt. Und du wirst es nicht wieder an dich bringen. Ich, Belgarath, Jünger des Aldur, verkünde dies. An dem Tag, da du gen Westen ziehst, werde ich Krieg führen gegen dich und dich vernichten. Und ich werde dich überwachen bei Tag und bei Nacht. Und ich werde deines Kommens harren bis an das Ende der Tage.« Im Ödland Malloreas hörte Kal-Torak die Stimme Belgaraths und war ergrimmt und schlug um sich in seiner Wut, und er zerschmetterte selbst die Felsen, denn er wußte, daß der Tag, an dem er gegen die Königreiche des Westens Krieg führen würde, seinen Untergang besiegelte. Dann umarmte Cherek Bärenschulter seine Söhne, zog dahin und sah sie nie wieder. Dras Stiernacken wandte sich ab und lebte fortan in dem Land, durch das der Mrin floß, im Norden der Aldursümpfe bis zur Tundra und noch weiter und von der Küste bis zu den Bergen Nadraks. Und er erbaute die Stadt Boktor östlich des Zusammenflusses von Mrin und Atun. Die Menschen nannten dieses nördliche Land das Land von Dras oder Drasnien, in der Sprache der Alorner. Und tausend und abermals tausend Jahre lang lebten dort im Norden die Nachkommen von Dras Stiernacken und breiteten sich über die Marschen aus und verteidigten sie gegen den Feind. Und sie zähmten die riesigen Herden von Rentieren, und die gehörnten Tiere wurden für sie zu Haustieren wie Katze und Hund.
Und sie nahmen aus den Flüssen und Marschen Felle und Häute von edelster Art; und auch leuchtendes Gold fanden sie, und Silber. Sie handelten mit den Königreichen des Westens und auch mit den Händlern des Ostens, die andersartige Gesichter hatten. So blühte und gedieh Drasnien, und Kotu an der Mündung des Mrin war eine Stadt von Reichtum und Macht. Algar Flinkfuß wandte sich ab und begab sich mit seinem Volk und seiner Habe und seinem Vieh nach Süden. Auf der weiten Ebene, durch die der Fluß Aldur brauste, gab es zahlreiche Pferde, und Algar Flinkfuß’ Leute fingen sie und zähmten sie, und zum erstenmal ritten Menschen auf Pferden. Ihr Land nannten sie nach ihrem Führer Algarien. Sie wurden Nomaden und folgten ihren Herden und hielten stets Wacht, damit kein Feind sich unbemerkt nähern konnte. Und sie erbauten ein Bollwerk im Süden, das nur als Feste bekannt ist, und besetzten sie, doch sie lebten nicht dort, denn sie zogen lieber mit ihren Herden durch die Steppe. Und zwanzig Jahrhunderte lang lebten sie in diesem Land und verkauften Pferde an die anderen Königreiche. Cherek Bärenschulter kehrte zurück nach Alorien, das sich nach Norden und Westen erstreckte, und weil er getrennt war von seinen Söhnen und das Volk der Alorner nicht länger eins war, gab er seinem Land seinen Namen. Von nun an, für viele Jahrhunderte, war es als Cherek bekannt. Und er errichtete eine große Stadt bei Val Alorn und einen Seehafen an der Mündung des Flusses Alorn. Er ließ Schiffe bauen, die anders waren als die der anderen Völker – denn wisset, die Schiffe der anderen dienten dem Transport von Gütern, Chereks Schiffe dagegen dienten dem Krieg. So wurde das Volk Chereks zu seefahrenden Kriegern, welche die Meere patrouillierten, damit der Feind sich nicht über das dunkle Wasser der Insel der Stürme nähern konnte. Und man hörte sagen, Chereks Leute wären Piraten und Räuber der See, aber niemand wußte es wirklich.
Riva Eisenfaust ging fort in den Westen, weit westlicher noch als die Küste Sendariens, und er nahm Schiffe und segelte mit seinem Volk und seiner Habe und seinem Vieh über das Meer der Stürme zu der Insel, die dort lag. Viele Tage lang suchte er an der Küste eine für die Landung geeignete Stelle. Und auf der Insel der Stürme gab es nur einen einzigen Landeplatz, dort legte er an, nahm seine Leute, seine Habe und sein Vieh und brachte sie an den Strand. Dann verbrannte er die Schiffe, von denen sie über das Wasser gebracht worden waren, damit niemand zurückkehren konnte. Sie errichteten eine Festung und eine Stadt mit hohen Mauern um sie herum, und sie nannten die Stadt Riva und nichts, was darin gebaut wurde, diente dem Handel oder der Schönheit, alles war nur für den Krieg. Inmitten der Festung, im bestgeschützten Teil, ließ Riva einen Thronsaal bauen; dort haute er einen großen Thron aus schwarzem Stein, und hoch meißelte er die Rückenlehne. Es ergab sich, daß Riva in tiefen Schlaf sank und Belar, der Bärengott der Alorner, ihm im Traum erschien. Belar sprach zu ihm und sagte: »Höre, Hüter des Auges, ich werde zwei Sterne vom Himmel fallen lassen, und ich werde dir zeigen, wo du sie findest, und du wirst die beiden Sterne nehmen und sie in ein großes Feuer geben und sie schmieden. Einer der Sterne soll eine Klinge werden,
der andere sein Heft, und dies ist das Schwert, welches das Auge meines Bruders Aldur bewacht.« Da erwachte Riva, und wisset, zwei Sterne fielen aus dem Himmel, und Riva suchte sie, und der Geist des Bärengottes war mit ihm und zeigte ihm, wohin die Sterne gefallen waren. Riva hob sie auf und trug sie zur Stadt und schmiedete sie, wie Belar es gewollt hatte. Doch als das Werk vollbracht war, ließen sich Klinge und Heft nicht zusammenfügen, so sehr Riva sich auch mühte. Da hob Riva den Blick und rief Belar an. »Sieh, ich habe es falsch gemacht, die Klinge läßt sich nicht mit dem Heft verbinden, und das Schwert will nicht eins werden.« Ein Fuchs, der in der Nähe saß und zugesehen hatte, sprach zu Riva und sagte: »Du hast nichts falsch gemacht, Eisenfaust. Nimm das Heft und setze ihm das Auge Aldurs in den Knauf.« Da wußte Riva, daß er es mit Zauber zu tun hatte, und er folgte dem Rat des Fuchses. Und wisset, das Auge wurde eins mit dem Heft, das Riva aus dem Stern schmiedete, den Belar hatte vom Himmel fallen lassen. Und selbst Rivas Kraft konnte sie nicht mehr trennen. Da sagte Riva: »Noch immer ist die Arbeit nicht wohl getan, denn Klinge und Heft sind nicht eins.« Der Fuchs sprach erneut: »Nimm die Klinge in deine linke Hand, Eisenfaust, und das Heft in deine Rechte, und führe sie zusammen.« »Das hat keinen Sinn«, entgegnete Riva, »denn sie werden sich nicht verbinden.« Wieder lachte der Fuchs und sagte: »Woher weißt du das, wenn du es nicht versucht hast?«
Riva war beschämt und nahm die Klinge in seine Linke und das Heft in seine Rechte und führte sie zusammen, und die Klinge fuhr ins Heft, wie ein Stock ins Wasser taucht, und das Schwert war eins, und selbst die Kraft von Rivas Hand konnte beides nicht mehr trennen. Der Fuchs lachte aufs neue und sagte: »Nimm das Schwert, Eisenfaust, und gehe und führe es gegen diesen großen Fels, der auf dem höchsten Berg der Insel steht.« Riva nahm das Schwert und stieg auf den Berg und erhob das Schwert gegen den Fels, vor dem er stand. Mit einem Hieb spaltete er den Felsen entzwei; Wasser rauschte daraus hervor und wurde zu einem Fluß, der in die Stadt Riva hinunter strömte. Wieder lachte der Fuchs und rannte fort, doch er blieb noch einmal stehen und blickte zurück, und da sah Riva, daß der Fuchs nicht länger ein Fuchs war, sondern ein großer Silberwolf, und er erkannte Belgarath. Die Menschen nannten den Fluß, der aus dem von Riva gespalteten Felsen quoll, den Fluß der Schleier, denn nebelhafte Schleier feinster Wassertropfen umhüllten ihn auf seinem Weg ins Tal, wo die Stadt Riva lag.
Riva hieß das Schwert, mit dem Auge Aldurs im Knauf, auf einen großen schwarzen Felsblock bringen, der ganz hinten im Thronraum stand. Als die Spitze ihn berührte, sank es in den Felsblock, aus dem nur Riva selbst es ziehen konnte. Und wenn Riva auf dem Thron saß, brannte das Auge in kaltem Feuer. Sobald er das Schwert in die Hand nahm und hob, wurde das Schwert selbst eine große blaue Flamme und alle, die das Wunder sahen, staunten und verstanden es nicht. Dieserart wurde die Halle des rivanischen Königs geschaffen, und dieserart sein Thron und dieserart sein Schwert geschmiedet. Und danach trugen die Nachkommen Rivas das Zeichen des Auges auf ihrer Handfläche, und der männliche Erbe, der die Thronfolge antreten sollte, wurde nach seiner Geburt in den Thronsaal gebracht, auf daß das Auge ihn sehe, damit es ihn kenne und nicht vernichte, wenn er sein Erbe antrat. Und mit jeder solcher Vereinigung wurde der Bund stärker zwischen dem Auge des Aldur und der Familie Rivas, und das Auge strahlte stärker mit jedem Kind, das es berührte, als jubiliere es, daß die Blutlinie ungebrochen war. So verblieb es in der Stadt Riva tausend und aber tausend Jahre lang. Nach der Trennung von den Gefährten und dem Abschied Chereks und seiner Söhne, eilte Belgarath südwärts über schier endlose Meilen ins Tal des Aldur, um seine Kinder zu sehen, die Frucht des Leibes seiner Frau Poledra. Und er kam in das Tal des Aldur und fand, daß seine Frau Zwillingstöchter geboren hatte, aber dann im Kindbett gestorben war. Die älteste Tochter wurde Polgara genannt, und selbst als kleines Kind hatte sie Augen so hart wie Stahl, und ihr Gesicht war ernst. Dunkel war ihr Haar, wie die Schwingen des Raben, und weil sie die älteste war, berührte Belgarath sie nach Sitte der Zauberer mit der Hand an der Stirn – und wisset, ihre Mutter Poledra hatte in ihrer
letzten Stunde ihren Zorn von ihrer Liebe getrennt. Auf Polgara, die dunkelhaarige der Zwillinge, übertrug sie ihren Zorn, daß Belgarath, ihr Gemahl, sie verlassen hatte, als ihre Niederkunft bevorstand. Deshalb geschah es, als Belgarath die Hand auf Polgaras Stirn legte, daß eine Strähne darüber schneeweiß wurde, und für immer blieb diese Strähne in Polgaras Haar von demselben Silber, das auch den Hals des dunklen Wolfes zeichnete. Seine zweite Tochter ward Beldaran genannt, weil sie das Mal der Zauberin nicht trug. Ihr Haar war golden. Ihr Vater liebte sie über alles, und ebenso liebte ihre dunkelhaarige Schwester sie. Und beide rangen sie um ihre Zuneigung. Als seine Töchter ihr sechzehntes Lebensjahr erreicht hatten, geschah es, daß Belgarath in einen tiefen Schlaf fiel. In diesem Schlaf erschien ihm der Geist Aldurs und sprach zu ihm: »Mein geliebter Jünger, es ist mein Wunsch, daß dein Haus sich mit dem Haus des Hüters des Auges verbindet. So wähle denn du, welche deiner Töchter du dem rivanischen König zur Frau gibst. Denn durch diese Verbindung soll ein unbesiegbares Geschlecht gezeugt werden, in dem meine Macht und die meines Bruders Belar eins wird, ein Geschlecht, dem nicht einmal Torak gewachsen ist.« In den verborgensten Winkeln seiner Seele war Belgarath versucht, sich solcherart seiner boshaften Tochter zu entledigen, deren Worte wie Säure ätzten und deren weiße Strähne ihm ein immerwährender Tadel war. Doch er erkannte die Bürde, die auf dem rivanischen König lastete, und so sandte er ihm Beldaran, auf daß seine goldhaarige Tochter Mutter der rivanischen Könige werde – und er weinte, als sie fern von ihm war. Auch Polgara weinte, als ihre Schwester fort war, denn sie wußte in ihrer Seele, daß die geliebte Beldaran so zur normalen Sterblichen und in ihrer Liebe zu Riva wie eine Blume welken und dahinscheiden würde. Doch schließlich trocknete Polgara ihre Tränen und begab sich zu ihrem Vater.
Und sie sprach zu ihm: »Höre, alter Grauer Wolf, nun, da wir alleine sind, solltest du mir die Geheimnisse unserer Herkunft offenbaren, so daß ich deine Nachfolge übernehmen und für dich sorgen kann, wenn du ein greiser Mann geworden bist.« Belgarath war sehr erbost und erhob die Hand gegen seine boshafte Tochter; sie aber lächelte ihn süß an. Da ließ er die Hand sinken, und dann floh er vor ihr. Da rief sie ihm nach: »Aber Vater, du hast mich noch nicht in unserer Kunst unterwiesen.« Doch Belgarath floh weiter. Und lachend folgte ihm seine Tochter Polgara. *
*
Eine gekürzte Version dieses Textes wurde der Prolog zum ersten Buch der Belgariad-Sage: Kind der Prophezeiung, und Belgarath sprach auf Faldors Farm davon, um Garion einen Hinweis zu geben. Auch in Belgarath der Zauberer wird es erwähnt.
DAS BUCH TORAK
ANMERKUNG
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Das Buch Torak ist in allen Reichen des Westens verboten. Der Besitz einer Abschrift wird in der zivilisierten Welt mit dem Tode bestraft, wie auch das Lesen des Buches. Dieser Hinweis stellt eine rechtsgültige Warnung dar gemäß der Statuten des Kaiserreichs Tolnedra, des Königreichs Arendten, des Königreichs Sendarien, des Heiligen Ulgolandes, des Königreichs Cherek, des Hütertums Riva, des Königreichs Drasnien und des Königreichs Algarien, und es ist rechtskräftig im Aldurtal und im Gebiet der Marag. Derzeit stehen Verhandlungen mit Ihrer Majestät an, der Ewigen Salmissra, Königin von Nyissa, um diesen Bann auch im Land des Schlangenvolkes geltend zu machen. *
Die Universität von Tol Honeth hat ihren Ursprung in diesem Hinweis dank einer Gruppe von Gelehrten, die peinlich genau auf Einzelheiten achtete, jedoch nicht begriff was wirklich vor sich ging.
WISSET, ich bin Torak, König der Könige, Gott der Götter. Ich war, ehe alles andere war. Ich werde sein, wenn alles Geschaffene nicht mehr ist, selbst über das Ende aller Tage hinaus. Ich war, als die Welt geformt wurde und die großen Meere umfaßte, als die Berge sich erhoben aus stinkendem Schleim, um nach dem Himmelsgewölbe zu greifen. Ich werde sein, wenn die Berge zu Sand zerfallen und als Staub im ewigen Wind verwehen, wenn die Meere zu toten Tümpeln verebben und die runde Welt schrumpft und vergeht. Sieben waren wir, und wir gaben uns die Hände und schufen alles, was zu schaffen war. Und wir trennten die See vom Land und hoben den Mond und die Sonne auf ihre Bahnen und bedeckten die Erde mit Wäldern und Gräsern. Tiere schufen wir und Vögel und schließlich den Menschen, um Diener zu sein und Instrument unseres Willens. Und wir teilten die Menschen, die wir geschaffen hatten, in Völker, und jeder von uns nahm ein Volk zu sich, um es zu formen, jeder zu seinem Zweck – alle außer Aldur, der stets im Widerspruch zu allem war und unzufrieden, da wir ihm nicht die Herrschaft über die ganze Welt gewährten und auch nicht über uns. Und er zog sich von uns zurück und suchte, unsere Diener mit seinem Zauber zu sich zu locken.
Und das Volk, das meines war, nannte sich Angarakaner, und sie brachten mir Brandopfer dar und verehrten mich. Und ich segnete sie, und sie gediehen und wuchsen an Zahl. Und in ihrer Dankbarkeit erbauten sie mir einen Altar in den Höhen von Korim, die nicht mehr sind. Und um ihre Liebe zu mir zu prüfen, verlangte ich, daß mir zu gewissen Zeiten zwanzig ihrer schönsten Maiden und ebenso viele ihrer tapfersten Jünglinge geopfert würden. Und sie gehorchten voller Freude, so groß war ihre Liebe zu mir; und gewählt zu werden für das Messer oder das Feuer auf dem Altar empfanden sie als Ehre. Und ich war sehr zufrieden und gewährte ihnen meinen Segen noch freigebiger, und sie gediehen wohl und vermehrten sich in großer Zahl. Und es geschah, daß mein Bruder Aldur in seinem Neid auf mein großes Volk, das mich liebte und verehrte, sich in den ungeahnten Winkeln seiner Seele ein Ding erdachte, mit dem er meine Ziele zunichte machen konnte: ein Ding, mit dem er die Herrschaft erlangen mochte über mich und alle anderen. So begab ich mich zu Aldur und bat ihn, diesem Ding zu entsagen und in die Bruderschaft der Götter zurückzukehren. Doch er hegte Zorn wider mich und sprach zu mir auf unziemliche Weise, und ich erkannte, daß dieses von ihm geschaffene Ding so viel Macht über ihn ausübte, daß es seine Seele verzerrte und Feindschaft erwachsen ließ zwischen ihm und seinen Brüdern. Und so kam es, daß ich zur Rettung meines Bruders die Last des Dinges auf meine Schultern nahm. Das aber erzürnte Aldur, und er ging zu unseren Brüdern und verleitete sie, auf daß sie meine Feinde wurden, und ein jeder kam zu mir und befahl mir auf unziemliche Weise, Aldur das Ding zurückzugeben, das seine Seele vergiftete und das ich ihm weggenommen hatte, um ihn von dem schädlichen Zauber zu befreien. Aber ich widersetzte mich ihnen und behielt es in Verwahrung.
Da rüsteten sie sich zum Krieg, und der Himmel wurde schwarz vom stinkenden Rauch ihrer Essen, als ihre Völker Waffen schmiedeten, die dazu dienen sollten, mein Volk zu verwunden und zu verstümmeln. Das aber wollte ich nicht dulden – daß das Blut der Menschen vergossen würde und die Götter sich bekriegen. Ich erhob das verfluchte Ding, das Aldur geschaffen hatte, und teilte damit das Land, auf daß die See eindringen konnte, um die Menschen voneinander zu trennen und dieserart gegenseitiges Blutvergießen zu verhindern. Doch groß war Aldurs Bosheit; er hatte das Ding verflucht, daß es mich an dem Tag mit Feuer verbrenne, an dem ich es erhebe, um die Welt damit zu teilen, auf daß die Menschen nicht gegenseitig ihr Blut vergießen. Das Ding verbrannte mein Fleisch, als ich ihm befahl, das Land zu teilen. Und die Bosheit Aldurs verschlang meine Hand, in der ich das Ding hielt, und es blendete mein Auge, mit dem ich es betrachtete, und entstellte eine Hälfte meines Gesichts durch Feuer. Und ich ließ es in eine eherne Schatulle betten, damit es niemanden mehr verletze, und nannte es CTHRAG-YASKA, den brennenden Stein, auf daß Götter und Menschen gewarnt seien vor seiner verheerenden Kraft und nicht in Versuchung gerieten, es je wieder freizusetzen, so daß durch Aldurs Bosheit aufs neue Fleisch versehrt würde. Und ich nahm die Bürde auf mich, CTHRAGYASKA zu bewachen, damit dieser Stein bis ans Ende aller Tage in Eisen gebunden liege und mit ihm alles Böse, dessen er fähig war. Und ich brachte mein Volk in den Osten nach Mallorea, und auf einer geschützten Ebene errichtete es eine mächtige Stadt, die wir, zum Gedenken an meine große Pein, Cthol Mishrak nannten. Und ich verbarg ihre Stadt mit Wolken, damit andere sie nicht fänden und meinem Volk Leid zufügten, weil es mich liebte.
Tausende und Abertausende von Jahren wirkte ich daran, den Fluch zu lösen, mit dem Aldur in seiner Bosheit den Stein CTHRAG-YASKA belegt hat. Wohl wußte ich, daß an dem Tag, an dem der Fluch vom Stein genommen ward, Menschen und Götter wieder in Bruderschaft und Freundschaft vereint würden und der Haß Aldurs auf mich würde gebrochen und mein Schmerz beendet sein, und ich könnte meine Brüder unversehrt begrüßen. Große Zauber und Worte der Macht schleuderte ich dem verstockten Stein entgegen, doch das böse Feuer in seinem Inneren verlosch ebensowenig wie der Fluch wich, den Aldur in seiner Bosheit gewirkt hatte. Und Belar, der jüngste meiner Brüder, verschwor sich mit Aldur wider mich und brachte sein ungeschlachtes Volk gegen mich auf und hieß einen jeden, mich zu verfluchen und zu schmähen, mich, der so sehr gelitten hat, damit kein menschliches Blut vergossen werde. Und wisset, es begab sich, daß der verruchte Zauberer Belgarath, der stets zur Rechten Aldurs saß und ihm den grausamen Rat zuflüsterte, tückisch und feindselig zu sein, mit vier Spießgesellen herbeischlich und CTHRAG-YASKA stahl. Und einer von ihnen, der jüngste, war so von Zauber umwoben, daß er CTHRAGYASKA an sich nehmen konnte, ohne verbrannt zu werden, und sie trugen das Juwel fort. Tapfer verfolgten meine Krieger sie, und viele verloren ihr Leben. Auch ich stand ihnen bei, um CTHRAG-YASKA wiederzuerlangen und zu verhindern, daß er Böses über die Welt bringe. Aber wisset, der junge Mann erhob den boshaften Stein und versprühte sein schädliches Feuer, und mein Volk wurde davon verschlungen, während die Diebe entkamen und CTHRAG-YASKA mit sich trugen. Und dann kam das Böse über die Welt. Und ich riß die Stadt der Angarakaner nieder, und das mächtige Cthol Mishrak wurde verwüstet, damit die Feinde meines Volkes sie nicht fänden, um sie gänzlich zu zerstören. Und ich teilte die Angarakaner in fünf
Stämme auf. Die Nadraker machte ich kühn und tapfer und siedelte sie im Norden an, um den Weg zu bewachen, auf dem die Diebe gekommen waren. Und die Thulls machte ich ausdauernd und kräftig, damit sie Lasten tragen konnten, ohne zu ermüden, und ich siedelte sie in der Mitte des Landes an. Und die Murgos machte ich zu den verwegensten und zahlreichsten und setzte sie in den Süden, damit sie sich in großer Zahl vermehrten, um gegen das Übel zu bestehen, das auf die Welt gekommen war. Und die meisten meines Volkes behielt ich bei mir in Mallorea, das keine Grenzen hat, damit sie mir dienen und sich vermehren, um vorbereitet zu sein auf den Tag, an dem Krieg sein würde mit den Königreichen des Westens. Und zuletzt schuf ich die Grolims und unterwies sie in Zauberei und Hexenkunst, und ich erhob sie zu meinen Priestern und befahl ihnen, über alle meine Kinder zu wachen, wo immer sie sich aufhielten. Und ich zog ein mächtiges Volk heran und ließ es daran arbeiten, das Übel ungeschehen zu machen, das über die Welt gekommen war und CTHOL-YASKA wiederzuerlangen, den die Arglist Aldurs geschaffen hatte, um die Welt vor der Zerstörung zu bewahren, die ich allein zu verhindern mag und kein Mensch oder Gott außer mir. Und wisset, meine Brüder fürchteten meinen Zorn, denn sie hatten sich wider mich verschworen und Diebe gesandt, um mir CTHRAG-YASKA zu entreißen. Und sie flohen vor mir – ja, sie verließen die Welt und verblieben nur im Geiste bei ihren Völkern. Und tausend Jahre lang und weitere tausend Jahre und dreihundert mehr * sandte ich Nadraker und Murgos gegen die wilden und barbarischen Alorner, und ich gab ihnen Thulls zur Seite, um ihre Lasten zu tragen, und Grolims, um sie in meinem Dienst zu unterweisen. Doch es war vergebens, denn die Söhne des großen Diebes Cherek fielen über mein Volk her und vernichteten
*
Die Chronologie wurde überarbeitet
es, und ihnen half der verruchte Zauberer Belgarath, der älteste Jünger Aldurs. Und im Westen bestiegen die Söhne Algars seltsame Tiere, flinke, grausame, und trieben mein Volk zurück bis in die Schwarzen Berge. Und im Norden wartete Dras, der einfältige, älteste Sohn des Diebes Cherek, und lockte die tapferen Nadraker, die ich gesandt hatte, in einen Hinterhalt und vernichtete sie so erbarmungslos, daß tausend Jahre vergingen, ehe sie wieder zahlreich waren. Die Angarakaner nennen diesen heimtückischen Kampf ›die Schlacht auf dem Feld des Schmerzes‹, und jedes Jahr am Gedenktag dieser Schlacht werden tausend Maiden der Thulls geopfert und ebenso tausend junge thullische Männer. Und gleichfalls geopfert werden hundert Maiden der Murgos und hundert murgosische Jünglinge und zehn Maiden der Nadraker und zehn nadrakische Helden und eine Grolim-Priesterin und ein neugeborenes männliches Kind der Grolim, das sie auf ihrem Arm trägt. Und das geschieht, damit mein Volk die Schlacht auf dem Feld des Schmerzes nicht vergißt, und so wird es sein, bis mir CTHRAG-YASKA zurückgegeben ist oder bis ans Ende aller Tage. Und es geschah, daß mein Bruder Issa schlief, wovon ich durch Zedar ** wußte, einem weisen und gerechten Manne, welcher der Bosheit Aldurs und der Herrschaft des verruchten Zauberers Belgarath abgeschworen hatte und zu mir gekommen war, um mir seine Dienste anzubieten und seine Ehrerbietung. Zedar, dereinst ein Jünger Aldurs, war wohl bewandert in Zauberei und Magie, und nach der Art der Zauberer war sein Name Belzedar gewesen. Aber er entsagte diesem unziemlichen Namen an dem Tag, als er das Tal verließ und in meine Dienste trat. Und er brachte mir eine Vision, und wisset, mein Bruder Issa, stets träge und schwerfällig, war in **
Dieser Abschnitt kündet von der Abtrünnigkeit Belzedars. Im Grunde ist Zedar ein tragischer Held. Als er ursprünglich nach Mallorea ging, glaubte er, klug genug zu sein, Torak zu täuschen. Er irrte, und wie Urvon und Ctuchik ist auch er mehr Sklave als Jünger.
einen Schlummer gefallen, der hundert Jahre währte, und seine Priester konnten ihn nicht wecken, und auch die Königin seines Volkes vermochte es nicht. Und ich sandte Zedar ins Land des Schlangenvolkes, das meinem Bruder Issa huldigt, und er sprach zur Königin und bot ihr Reichtum an und Macht und Herrschaft über mein Land, wenn sie sich vor mir beugen, mich anbeten und meine Worte befolgen würde. Und wisset, sie willigte ein, und heimlich befahl sie ihre Abgesandten an einen gewissen Ort und brach die Macht CTHRAG-YASKAS, der ob der Bosheit Aldurs und der Zauberkräfte Belgaraths eine Schranke gegen mich errichtet hatte. Und wenn die Söhne Rivas, des jüngsten Sohnes Chereks, nicht mehr sein würden, bräche die Zauberkraft, und dann vermag ich wieder gegen die Königreiche des Westens zu ziehen und CTHRAG-YASKA zurückzuholen, auf daß ich seinen bösen Zauber ungeschehen mache. Und nun ist mein Volk bereit, und wir werden gegen die Königreiche des Westens ziehen, die sich verführen ließen von verruchten Göttern und bösen Zauberern und auf ihren Rat hörten und versuchten mir vorzuenthalten, was mein ist. Und ich werde sie zerschmettern in meinem Zorn und sie peinigen und ihre Leiden um ein Vielfaches schlimmer machen. Und wisset, ich werde sie auf die Knie zwingen und sie werden mich anbeten, denn meine Brüder sind alle geflohen, und nur ich bleibe, und nur ich bin Gott dieser Welt. Und alle Menschen sollen mich verehren und mir den süßen Duft ihrer Opfer darbringen, und ich werde allein herrschen über alle Dinge, und die Welt wird mein sein – (Hier bricht die Abschrift des Manuskripts ab.)
TESTAMENT DES SCHLANGENVOLKES
ANMERKUNG
Dieses seltsame Fragment wurde im frühen einundvierzigsten Jahrhundert – im Verlauf einer Forschungsexpedition der dreiundzwanzigsten Kaiserlichen Legion in den Norden Nyissas nach der alornischen Invasion ins Land des Schlangenvolkes – in den Ruinen eines nyissanischen Tempels entdeckt Das Alter des Fragments und der allgemeine Zustand der Ruinen des Tempels, in dem es gefunden wurde, weisen darauf hin, daß sowohl dieses Fragment als auch der Tempel eher auf die Zeit der maragischen Invasion zurück zu datieren sind und nicht auf den alornischen Überfall in jüngerer Zeit.
1. Einst
lebten wir in Höhlen
neben stillen Bächen und in moosbewachsenen Senken und ISSA war mit uns, (mattäugiger kalthäutiger Issa) – Issas Name sei gepriesen – 2. Zufrieden lagen wir in der Sonne auf warmen Felsen und wir glitten zur Nacht in die kühlen und trockenen Höhlen unter den Felsen und ISSA war mit uns – (Langsam Gleitet er, fließend und sinnlich) und berührt unser Gesicht mit trockener, kalter Hand, und leckt unseren Duft züngelnd aus der Luft – ISSAS Name sei gepriesen – 3. Bedeutungslos War der Wechsel
der Jahreszeiten, Jahre die keiner gezählt, verschwanden im Staub der Zeit während ISSA uns lehrte (mit zischender Stimme schenkte unser geliebter ISSA uns weise Worte). – Ehre sei der Weisheit ISSAS – 4. Umschlungen
lagen wir – mit unseren Brüdern, den Schlangen und wir küßten das süße Gift von ihrem lippenlosen Lächeln und ISSA wachte über unser kindliches
Spiel – Gelobt sei die Wachsamkeit ISSAS – 5. Aber andere Götter führten Krieg, wir wußten nicht warum Nichtige Dinge ohne Nutzen und Wert
waren Grund ihres Streits. Wir jedoch lagen in zeitlosem Schlummer, sonnten uns in der Wärme des Tages und im Wohlgefallen ISSAS – gepriesen sei die schuppige Schönheit ISSAS – 6. Und die anderen Götter schlugen der Erde tiefe Wunden, und die Felsen unserer Höhlen fielen auf uns und begruben das Volk ISSAS, als es schlief, und die See strömte herein und ertränkte uns in den Höhlen und den moosbedeckten Lagern und brachte die murmelnden Quellen und Bäche der Heimat, die ISSA uns gegeben, für immer zum Schweigen. – O weint um das verlorene Land ISSAS – 7. So reisten wir in die Richtung der untergehenden Sonne, und ISSA führte uns. Wir fanden ein schönes Land mit Sümpfen und Dickichten und träge dahinfließenden Wassern, dunkel im Schatten großer Bäume. Und unsere Brüder, die Schlangen, lebten hier in großer Zahl. ISSA befahl uns, eine Stadt zu errichten am heiligen Schlangenfluß, und wir nannten die Stadt Styss Tor, ISSAS heiliger Weisheit zu Ehren. – Wir lobpreisen dich, kalter schöner ISSA – 8. Und dennoch kam die Zeit, da ISSA zu uns sprach und sagte: ›Höret, ich muß von euch gehen. Die Götter führten Krieg, und wir können nicht länger auf der Erde verweilen.‹ Laut ertönte unser Jammer ob der Worte ISSAS, und wir beteten zu ihm und sagten: ›Wir flehen dich an, o mächtiger Gott, gehe nicht von uns, denn wer soll uns leiten, wenn du nicht mehr bei uns bist?‹ Und ISSA weinte. – Verehrt die Tränen ISSAS –
9. Erneut sprach ISSA zu uns und sagte: ›Höret, ich bin euer Gott, und ich liebe euch. Im Geiste werde ich bei euch verweilen, und aus eurer Mitte werde ich die eine wählen, die meine Stimme sein wird. Ihr werdet ihr gehorchen – so als wäre ich es selbst.‹ – Höret und befolget die Worte ISSAS – 10. Wisset Von allen Dienern ISSAS wurde Salmissra, die Priesterin, am innigsten verehrt, und ISSA berührte sie und erhöhte sie und sprach erneut zu seinem Volk: »Sehet hier Salmissra, meine Dienerin. Ich berührte sie und erhöhte sie. Sie soll eure Königin sein und über euch herrschen, und ihre Stimme wird die meine sein, und ihr sollt sie die Ewige nennen, denn ich bin mit ihr – so wie mit euch – bis ans Ende der Tage.« – Gelobt sei Salmissra, die Dienerin ISSAS – 11. Dann sprach Die Ewige Salmissra, Königin des Schlangenvolkes: (Der Rest des Fragments wurde nicht aufgefunden.) *
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Der typische nyissanische Charakter und der Aspekt der unzähligen Drogen, die ihnen zur Verfügung standen, beschreiben eine fremde Kultur, die auf dieser Welt nicht ihresgleichen hat. Für die Nyissaner ist es ganz natürlich, so zu sein, wie sie sind. Ihre Gesellschaft ähnelt ein wenig der des alten Ägypten, aber die Ähnlichkeit ist gering.
HYMNE AN CHALDAN
ANMERKUNG
Dies ist der berühmte Schlachtgesang, der vermutlich im frühen zweiten Millenium von asturischen Arendern verfaßt wurde. Es existieren bereits mimbratische und wacitsche Hymnen ähnlichen Charakters, doch diese Hymne fängt den Geist Arendiens am eindringlichsten ein. Ungeachtet ihres asturischen Ursprungs wird sie selbst heute noch in mimbratischen Gotteshäusern gesungen. Nach historischen Überlieferungen war sie auch in Wacune beliebt, ehe das Volk der Wacuner während der arendischen Bruderkriege ausgerottet wurde.
Ehre und Ruhm und Herrschaft seien dein, o Chaldan. Gewähre, Gott und Herr, Sieg deinen Dienern. Schau auf uns, großer Gott, sieh, wie wir dich verehren. Vernichte, Großer Richter, die Schlechten und Ungerechten. Züchtige unsere Feinde. Verschlinge sie mit deinem Feuer. Bestrafe ihn, der uns mit Tücke begegnet. Gepriesen sei der Name Chaldan. Stärke, Macht und das Reich seien dein, o Chaldan. Segne, Kriegsgott, die Waffen deiner Kinder. Wappne uns, o Gewaltiger, mit undurchdringbarer Rüstung. Höre, heiliger Chaldan, unsere Klage um die Gefallenen. Schenke uns Trost in unserer Trauer. Räche uns an unseren Feinden. Gepriesen sei der Name Chaldan. Dein, o Chaldan, seien Weisheit, Ruhm, ewige Verehrung. Gib uns, o unser Gott, Mut für die Schlacht. Erhöre, o Gottheit, unser Kriegsgebet. Stütze, o Herrlichkeit, unsere gerechte Sache. Strafe ihn, der abfällig über uns spricht. Gepriesen sei der Name Chaldan. Es gibt noch etwa vierhundertachtzehn weitere Strophen, deren Qualität jedoch merklich nachläßt, und die auf den Feind herabbeschworenen Strafen werden dermaßen bildhaft geschildert, daß sie nicht in einem Text festgehalten werden sollten, der möglicherweise durch Unachtsamkeit in die Hände von Kindern geraten könnte.
KLAGEGESANG DES GOTTES MARA
HINWEIS DES KAISERLICHEN BIBLIOTHEKARS IN TOL HONETH: Dieses eigenartige literarische Werk entstammt der Feder eines besinnlichen Mönchs aus Mar-Terin im späten 27 Jahrhundert. Er beharrte zwar bis zu seinem Tode unerschütterlich auf seiner Behauptung, dies seien die eigenen Worte des leidgeprüften Gottes, doch besteht wohl kaum ein Zweifel, daß dieses trauervolle Stück einem Geist entsprang, der an Einsamkeit krankte, an rassischer Schuld und am nie verstummenden Wehklagen des Windes in den kahlen Bäumen um das Kloster. Die unglückselige Geschichte der Zerstörung Maragors und der Ausrottung seiner Bevölkerung ist eine moralische Last, die das tolnedrische Reich tragen muß. Wir dürfen uns jedoch dieser Schuld wegen nicht zu Hysterie hinreißen lassen. Statt dessen muß es unser Ziel sein, in unserem Streben um Vorteil und Profit nie wieder solche Barbarei walten zu lassen.
Wahrhaftig, der Geist des Gottes Mara ist uns beständige Mahnung und vermittelt im Einklang mit den Sprüchen unseres geliebten Nedra jedem aufrecht denkenden Tolnedrer das rechte Maß für sein Verhalten.
IIIIE – AAAAIE! IIIIE – AAAAIE! Oh, weint für Mara, denn sein Volk ist nicht mehr. Jammer, Jammer, Gram und Not Das Volk ist gemeuchelt, die Alten und die Kinder. Die Männer sind dahingeschlachtet, und die Frauen, der Quell der Rasse, Blut und Geschlecht liegen erschlagen. Das Volk Maras ist nicht mehr. IIIIE – AAAAIE! IIIIE – AAAAIE! Jammer und Jammer Das Volk Maras ist nicht mehr. Verflucht ist das Land. Im Stich gelassen bin ich von meinen Brüdern. Verratenes Land der Marager soll auf ewig Verflucht sein. Meine Hand erhebe ich gegen das Land.
Anderen wird es keine Früchte tragen. Auch sollen sie weder Rast noch Schlaf dort finden. Nur Wahnsinn mögen sie ernten zwischen meinen leeren Städten. Und ich werde eine Armee von Toten wecken. Gegen alle, die in dieses Land kommen. Blut und Tod jenen, die meine heiligen Altäre entweihen. IIIIE – AAAAIE! IIIIE – AAAAIE! Jammer! Jammer! Jammer! Oh, weint für Mara, denn sein Volk ist nicht mehr. *
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Dies wurde geschrieben, um den Fluch auf Maragor zu erklären. Beachtet, daß nun zwei wahnsinnige Götter existieren (Torak und Mara). Mara erholt sich jedoch wieder, als Taiba erscheint. Man beachte auch die Hinweise auf eine matriarchalische Gesellschaft.
DIE SPRÜCHE NEDRAS
ANMERKUNG
Es gibt etwa 1800 Sprüche Nedras. Die hier aufgelisteten sind eine willkürliche Auswahl, die einen allgemeinen Eindruck von den Ratsprüchen Nedras an sein Volk vermitteln. Daß Tolnedra die vorherrschende Macht im Westen ist, spricht mehr als alle Worte für die Weisheit von Nedras Ratschlägen.
Töte nicht. Tote können nichts mehr von dir kaufen. Unterschlage nicht. Wiege genau, und deine Kunden kommen wieder. Neide anderen nichts. Kümmere dich gut um dein eigenes Geschäft, und es wird gedeihen. Sorge vor für dein Alter. Spare für Notzeiten. Gib dein Geld wohlüberlegt aus. Gib deinen Kindern großzügig und den Kindern deines Bruders ebenso, und sie werden großzügig zu dir sein, wenn deine Kraft erlahmt. Bestich nicht den Steuereintreiber. Wenn er den König betrügt, wird er dann nicht auch dich betrügen? Fälsche keine Münzen und verringere nicht ihren Wert. Die Münze, die du heute weggibst, kannst du schon morgen zurückbekommen, und wer ist dann der Beraubte? Mache keine halben Sachen. Suche deine Waren sorgfältig aus und eigne dir alles Wissen darüber an. Wer kann zugleich in Schuhen und Schmuck bewandert sein? Handle mit dem Besten, das du dir leisten kannst. Wer wird von einem kaufen, der kein Vertrauen in seine eigenen Waren hat?
Achte auf dein Verhalten. Zuvorkommenheit und Freundlichkeit sind gut, Ärger und Unfreundlichkeit schlecht für das Geschäft. Betrüge nicht. Der Kunde wird es in Erinnerung behalten und nicht mehr wiederkommen. Übe nicht Rache an dem, der dich betrogen hat. Mit Rache ist kein Gewinn zu machen. Sei auf der Hut vor dem ehrgeizigen Diener. Ist er dumm, so wird er von dir stehlen. Ist er klug, wird er dich verdrängen. Handle nur mit greifbaren Dingen. Wer kann den Wind wiegen oder ein Versprechen messen? Horte Gold. Die Zeit vermag ihm nichts anzuhaben, und keine Mode kann seinen Wert verringern. Handle nur mit deinem Gold, wenn du gewiß bist, daß es dir Gewinn bringt. *
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Das Händlervolk ist in der Fantasy ungerechtfertigterweise weitgehend vernachlässigt worden. Die tolnedrische ›Gewinnsucht‹ erklärt einen Charakterzug unserer Heldin: Ce'Nedra liebt Geld.
DIE PREDIGT ALDURS
SEINEN JÜNGERN GEWIDMET * WAHRLICH Ich sage euch, die Welt wurde mit einem Wort geschaffen. Denn die Sieben nahmen sich bei der Hand und sprachen ein Wort – Sei – Und die Welt war. Und wieder sage ich, indem das Wort gesprochen wurde, war die Welt entstanden, und alles auf der Welt kam dieserart zustande. Und wahrlich, ich sage euch, auch so mag die Welt wieder ungeschehen gemacht werden. ** Denn an dem Tag, da meine Brüder und ich uns erneut bei der Hand nehmen und die Worte sprechen – Sei Nicht – an diesem Tag wird die Erde nicht mehr sein. Allumfassend ist die Macht des Wortes, denn das Wort ist der Odem und die Seele der Gedanken, und wie ich es euch lehrte, liegt alle Kraft im Geist. Wenn euer Geist Macht hat, so gebt diese Macht in das Wort, und so wird euch erfüllt, was ihr wünscht. Ist euer Geist aber ungeschult oder zaudert ihr, fürchtet euch oder *
Wie ich schon zu Beginn erwähnte, war dies ein Fehlstart. Wir beschäftigten uns noch mit den Grundzügen des Willens und des Wortes; dies war ein Versuch, die Sache zu definieren und ihr Grenzen zu setzen. Das Wichtigste daran ist wohl, daß es glaubwürdig dargestellt wird. Diese Macht ist im wesentlichen die Macht Gottes (Und Gott sagte, ›Es werde Licht. Und es ward Licht‹). Die King-James-Version ist poetisch, in einigen Übersetzungen jedoch recht fraglich. Die westsächsische Übersetzung (achtes Jahrhundert) verwendet das Wort ›Geworcht‹ (›Machen‹ oder ›erbauen‹) anstelle des so einfachen ›Sei‹ – ein Hinweis darauf, daß für diesen Schaffensprozeß, eine gewisse Anstrengung erforderlich ist. ** Dieses ›Ungeschehen machen‹ mußten wir im Verlauf der Geschichte verwerfen.
überkommt euch Zweifel, so wird auch das mächtigste Wort kraftlos vergehen – denn in eurem Geist muß das Wort mit dem Willen vereint werden. So war es seit jeher. Nun ist es geschehen, daß ich von euch gehen muß, und unsere Wege müssen sich trennen. Unzufriedenheit und Aufruhr liegen über dem Land, und es darf nicht geschehen, daß meine Brüder und ich in diesen Streit gezogen werden, denn unser Zank würde die Welt vernichten. Damit die Welt erhalten bleibt, und auf daß wir nie wieder gezwungen sein werden, unsere Hand gegen unseren geliebten Bruder zu erheben, den sein Kummer so verblendet hat, müssen wir fortgehen von dieser Welt. Ich gehe in Sorge von euch, aber wisset, daß mein Geist stets bei euch sein wird, um euch zu leiten und zu trösten. Indem ich euch verlasse, lege ich euch eine schwere Last auf und eine Aufgabe. Wahrlich, meine geliebten Jünger, ihr seid nicht wie die anderen Menschen. Gemeinsam suchten wir die Wahrheit, damit wir die Bedeutung der Macht des Wortes allumfassend verständen. Diese Macht ist mit euch, und euer Geist ist geschult, sich ihrer zu bedienen. So ist es an euch, die Welt zu erhalten, nun, da ich und meine Brüder gehen müssen. Einige werden hier im Tal bleiben, um weiterhin nach der Bedeutung der Macht des Wortes zu suchen; andere müssen in die Länder Fremder ziehen und die Macht des Wortes führen, um die Welt zu erhalten und als Barriere zwischen meinem Bruder zu stehen, bis der Berufene erscheint und vollbringt, was getan werden muß. Es wird sich erweisen, daß einige von euch der Last überdrüssig werden, die nicht enden will, und mit dem Willen und dem Geist und der Macht des Wortes werden sie sich selbst ungeschehen machen – denn es ist eine einfache Sache zu sagen ›sei nicht‹ und zu vergehen. Um sie trauere ich, denn ich weiß, daß es geschehen wird. Und wisset, einer von euch wird seinen Geist beugen und seinen Willen, und die Macht des Wortes wird ihn erheben über alle
Menschen, und auch er wird zugrunde gehen, und ich trauere auch um ihn. Indem ich euch verlasse, bitte ich euch dem Wunsch zu entsagen, euren Willen und euren Geist und die Macht des Wortes gegen meinen Bruder Torak zu richten. Wisset, daß er ein Gott ist, und obwohl euer Geist so stark sein mag wie der seine und euer Verständnis für die Macht des Wortes ebenso vollkommen, so ist doch sein Wille gegenüber dem euren wie der eure gegenüber dem eines Kindes. Wisset, daß dies ihn zum Gott macht. In der Unbesiegbarkeit seines Willens ist Torak ein Gott, und nur darin. An dem Tag, da ihr versucht, euren Willen mit dem Toraks zu messen, werdet ihr vernichtet, und mehr als das – wenn es geschehen soll, daß die Kraft des Wortes gegen Torak gerichtet wird, vermag keine Macht in den endlosen Weiten des Universums die Welt zu retten. Denn ich sage euch, wenn Torak in seinem Wahn den Geist und den Willen und die Macht des Wortes gegen euch wendet, wird die Welt zerschlagen und die Scherben wie Staub unter die Sterne verblasen. Fürchtet euch jedoch nicht und seid nicht bekümmert im Angesicht der gewaltigen Aufgabe, denn wisset, daß das Auge, das ich geschaffen habe, die Macht hat, den Willen Toraks zu zügeln. Denn es hat seine Pläne vereitelt, und teuer kam es ihn zu stehen, als er das Auge gegen die Welt erhob. Und es wird geschehen, daß an einem bestimmten Tag der Eine kommt, der sich des Juwels bedient, und tapfer wird er sein und rein, und Torak wird unterliegen. Aber sollte er zaudern und der Macht des Orb verfallen, wird Torak ihn besiegen und den Orb wieder an sich reißen, und dann wird die Welt auf ewig Toraks sein. Aber wisset, daß der Wahn meines Bruders Torak dem Universum eine Krankheit und ein Geschwür ist, und wenn es geschehen soll, daß er siegt, müssen meine Brüder und ich die Hand gegen ihn erheben, denn ungezügelt würde der Wahn Toraks das Universum selbst vernichten, so wie er die Erde zerbrach, die wir geschaffen
und die wir lieben. Und so müssen wir über ihn kommen mit der größten und schrecklichsten Macht. In Kummer müßten wir die Worte sprechen – ›Sei Nicht‹ –, und unser Bruder Torak wäre nicht mehr, wie auch diese wunderschöne Welt nicht mehr wäre. Leitet daher wohl das Kind und den Mann, welcher der Berufene ist, und bereitet ihn auf seine große Aufgabe vor. Denn wisset, sollte er fehlen, wird Torak Herr werden über alles, und meine Stimme muß sich mit den Stimmen meiner Brüder vereinen, um das letzte Wort zu sprechen – ›Sei Nicht‹ –, das alles ungeschehen macht, was wir schufen. Und wenngleich die Trauer mich so beugen würde, daß es die Kraft eurer Vorstellung sprengt, werde ich all meinen Geist und meinen Willen in dieses schicksalsschwere Wort biegen, und diese Welt wird schimmern und vergehen wie der Tau des Morgens in der Hitze der Mittagsglut. So lasse ich die Welt in euren Händen, meine Söhne. Fehlt nicht in eurer Pflicht mir gegenüber und gegenüber der Welt. Ich werde gehen und schöne Täler bei den Sternen suchen und schattige Pfade zu fernen Sonnen; und so alles seinen guten Weg nimmt, werdet ihr zu mir kommen, wenn eure Pflicht erfüllt ist. Und indem er das sagte, wandte Aldur sich ab und stieg auf in den mit Sternen bestickten Himmel, und kein Mensch nahm ihn jemals wieder gewahr –
DAS BUCH ULGO * ANMERKUNG
*
Dies ist die im Süden Tolnedras gefundene Abschrift des umstrittenen Werkes. Bestimmte kritische Einzelheiten unterscheiden sie von den sieben anderen bruchstückhaft erhaltenen Abschriften. In Gelehrtenkreisen wird dieses Schriftstück als verfälschtes Werk aus dritter Hand ohne historischen oder theologischen Wert erachtet. Es ist jedoch die einzige vollständig erhaltene Abschrift, und nur in diesem Exemplar finden wir Hinweise, die zum Verständnis der rätselhaften Ulgos beitragen. Wie dieses Schriftstück in den Besitz der Dryaden im südlichen Tolnedra gelangte, ist allerdings ein Rätsel.
Kaum hatten wir dieses Heilige Buch in Angriff genommen, erkannten wir allerlei Möglichkeiten, die unsere ursprüngliche Absicht, einen Hintergrund für Relg zu schaffen, weit übertrafen. Und als wir die Ulgos in die Dalaser, Melcener, die Morindim und die Karander aufteilten, hatten wir einen Großteil der nichtangarakanischen Bevölkerung Malloreas erschaffen.
Am Anfang aller Tage, als die launischen Götter die Welt aus der Dunkelheit wirkten, lebte in der Stille des Himmels ein Geist, der als UL bekannt war. Mächtig war er, doch er bediente sich seiner Macht nicht, als die jüngeren Götter ihre Kraft vereinten, um die Sonne hervorzubringen, die Welt zu formen und auch den Mond. Alt war UL und weise, doch er behielt seine Weisheit für sich, und so blieb die Schöpfung der jungen Götter unvollkommen. Aber sie trotzten ihm, und da er sich ihnen nicht anschließen wollte, wandten sie sich von ihm ab. Es geschah, daß die jüngeren Götter die Lebewesen erschufen, vierbeinige Tiere, Vögel, Schlangen, Fische und schließlich den Menschen. Aber da UL seine Weisheit für sich behielt, war ihre Schöpfung nicht vollkommen. Viele Wesen waren unansehnlich und mißgestalt. Da bedauerten die jungen Götter ihr Werk und versuchten ungetan zu machen, was sie geschaffen hatten, auf daß alles auf der Welt schön und ansehnlich sei. Der Geist UL jedoch hob die Hand und hinderte sie daran, und sie konnten nicht ungeschehen machen, was sie geschaffen hatten, so ungeschlacht oder mißgestalt es auch war. Und er sprach zu den jungen Göttern und sagte: »Wisset, was ihr geschaffen habt, dürft ihr keinesfalls ungeschehen machen, denn in eurer Torheit habt ihr den Stoff des Himmels und den Frieden darin zerrissen, damit diese eure Welt ein Spielzeug zu eurer Unterhaltung sei. Wisset jedoch, was immer ihr auch macht, und sei es noch so ungeziemend oder ungestalt, als Bild eurer Torheit fortbestehen wird. Denn an dem Tag, an dem auch nur ein einzig Ding ungeschehen gemacht wird, wird alles Geschaffene ungeschehen.« *
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Hier stoßen wir auf dieses Verbot, aber es ist noch nicht ausgereift. Es entwickelte sich letztendlich dahin, daß die Worte ›Sei Nicht‹ nicht die ganze Welt auslöschen, sondern nur die Person, die so töricht ist, sich dieser Worte zu bedienen. Primitive Mythologien wimmeln von ›verbotenen Worten‹
Darauf waren die jüngeren Götter erzürnt, und im Zorn sagten sie zu jedem mißgestalten oder ungeziemenden Wesen »Gehe zu UL, er soll dein Gott sein.« Und UL schwieg.
Die jüngeren Götter erschufen die Menschen, und jeder wählte das Volk, das ihm gefiel, und wurde sein Gott. Aber nachdem sie gewählt hatten, blieben Menschen übrig, die keinen Gott hatten. Die jüngeren Götter vertrieben sie mit den Worten: ›Geht zu UL, er soll euer Gott sein‹. Dies waren denn die Gottlosen. Und lange und bitter waren die Jahre, da sie durch die Ödlande und die Wildnis des Westens wanderten. Und es trug sich zu, daß ein gerechter und aufrichtiger Mann namens Gorim zu ihnen zählte. Der sprach zu den vielen Gottlosen: »Bleibt hier und rastet auf dieser Ebene. Ich werde den Gott namens UL suchen, auf daß wir ihn anbeten können und einen Platz auf der Welt finden. Denn wahrhaft, wir siechen dahin und fallen wie die Blätter am Wegrand durch die Unbilden unserer Wanderung. Die Kinder sterben und die Alten auch. Es ist besser, wenn nur einer sein Leben gibt. Wartet hier auf meine Rückkehr.«
(›Jehova‹ ist vermutlich das bekannteste). Wir spielten mit dieser Idee und machten die Auslöschung zum Resultat eines Befehls und nicht eines einfachen Wortes. Die Sünde liegt somit in der Absicht.
So trennte Gorim sich von den vielen und suchte alleine den Gott namens UL, damit seinesgleichen nicht mehr gottlos bleiben mußte und auf der Welt einen Platz für sich fände. Zwanzig Jahre suchte er den Gott namens UL in der Wildnis und fand ihn nicht. Mißgestalte ungeschlachte Wesen überfielen ihn, doch er obsiegte und ward nicht getötet. Doch ermüdeten ihn seine Wanderungen sehr, und sein Haar ergraute mit den Jahren, die sich auf seine Schultern legten. Schließlich kam der Tag, da Gorim verzweifelte. Er stieg auf einen hohen Berg und rief mit gewaltiger Stimme hinauf zum Himmel: »Es ist genug! Ich werde nicht länger suchen. Die Götter sind nur Posse und Trug; die Welt ist ein ödes Nichts, und es gibt keinen UL. Ich bin des Lebens leid; es ist ein Fluch und eine Last für mich.« Und wisset, der Geist UL sprach zu ihm und sagte: »Warum zürnst du mit mir, Gorim? Ich habe dich nicht erdacht und nicht erschaffen.« Da befiel Gorim große Angst, und er warf sich nieder vor dem Geist UL. UL sagte zu ihm: »Erhebe dich, Gorim, denn ich bin nicht dein Gott.« Doch Gorim erhob sich nicht. »O mein Gott«, sagte er, »Verbirg nicht dein Antlitz vor deinem Volk, das so große Qualen leidet, da es ausgestoßen ist und ohne einen Gott, der es beschützt.« UL entgegnete: »Erhebe dich, Gorim. Suche anderswo einen Gott. Ich bin nicht der Gott deines Volkes. Ich schuf euch nicht, und euer Schicksal interessiert mich nicht.« Doch Gorim erhob sich auch jetzt nicht. »O mein Gott«, rief er ein weiteres Mal. »Dein Volk ist ausgestoßen, und es schwindet dahin wie die Blätter vor dem kalten Winterwind. Die Kinder sterben und die Alten, und es gibt auf dieser weiten Welt keinen Ort, an dem sie Ruhe finden.«
Der Geist des UL war besorgt ob der Worte Gorims, des gerechten und aufrechten Mannes, und sein Zorn legte sich, doch er sagte unwirsch: »Erhebe dich, Gorim, und ziehe fort von hier. Beende dein lautes Klagen und laß mir meinen Frieden. Suche andernorts einen Gott und belästige mich nicht mehr, denn ich bin nicht dein Gott.« Und noch immer erhob Gorim sich nicht. »O mein Gott«, rief er. »Trotzdem werde ich ausharren. Dein Volk hungert und dürstet. Es sucht nur deinen Segen und einen Ort, wo es leben kann.« UL sagte: »Dann werde ich mich fort begeben, denn ich bin deiner Rede überdrüssig.« Trotzdem verharrte Gorim unerschütterlich an diesem Ort. Und wisset, ob seiner Heiligkeit brachten ihm die Tiere des Feldes zu essen, und die Vögel der Luft brachten ihm zu trinken. Ein Jahr und länger harrte er aus. Der Geist UL war aufs höchste bekümmert. Die mißgestalten und unziemlichen Wesen, welche die jüngeren Götter erschaffen hatten und deren sie sich nicht entledigen durften, da der Geist UL es ihnen verbot, fanden sich an diesem Ort ein und setzten sich Gorim zu Füßen. Schimären waren gekommen, und Einhörner und Basilisken und geflügelte Schlangen, und sie blieben und bewachten Gorim. Da kam UL zu Gorim und sprach: »Verweilst du noch immer hier?« Darauf warf Gorim sich zu Boden und sagte: »0 mein Gott, dein Volk fleht dich an in seinem Elend.« Und der Geist UL floh. Immer noch harrte Gorim aus. Drachen brachten ihm Fleisch, und namenlose Wesen reichten ihm Wasser. Die Tage und Monate gingen dahin, und ein weiteres Jahr verstrich.
Wieder kam UL zu Gorim und sprach: »Verweilst du noch immer hier?« Auch diesmal warf Gorim sich vor ihm zu Boden und sagte: »0 mein Gott, dein Volk siecht dahin ohne dich.« Erneut floh der Geist UL vor dem aufrechten Mann. Gorim harrte weiterhin aus. Essen und Trinken wurden ihm ob seiner Heiligkeit und Rechtschaffenheit als Opfergaben von Wesen ohne Namen dargeboten und von Wesen, die kein Auge zu schauen vermochte. Und ein weiteres Jahr verstrich. Der Geist UL kam wieder auf den hohen Berg, auf dem Gorim weilte, und die mißgestalten Wesen, jene, die Namen trugen, und die unbenannten und jene, die das Auge wahrnahm, und solche, die dem Blick verborgen blieben, erhoben ein großes Wehklagen. Und UL sprach und sagte: »Erhebe dich, Gorim.« Doch Gorim warf sich vor ihm zu Boden und sagte: »O mein Gott, hab Erbarmen.« Da sprach UL: »Erhebe dich, Gorim. Ich bin UL, dein Gott, und ich befehle dir, erhebe dich und stehe aufrecht vor mir.« Und er griff nach Gorim und richtete ihn auf. »Dann wirst du mein Gott sein?« fragte Gorim. »Und wirst du auch der Gott meines Volkes sein?« UL sprach: »Ich bin UL, dein Gott, und auch der Gott deines Volkes.« Da blickte Gorim hinab von dem hohen Ort, an dem er so lange verweilt hatte, und sah die unziemlichen Wesen, die ihm Nahrung gebracht hatten und Trost während der langen Zeit seiner Seelenqualen, und er fragte den Gott UL: »Und jene, o mein Gott? Wer wird Gott sein für den Basilisken und den Minotaurus, den Drachen und die Schimäre, das Einhorn und das Namenlose Wesen, die Geflügelte Schlange und das Unsichtbare Geschöpf?« Der Geist UL schwieg und war voll Zorn auf ihre Schöpfer.
»Auch sie sind Ausgestoßene, o mein Gott«, fuhr Gorim fort. »Die jüngeren Götter verstießen sie, weil sie ihnen mißgestalt und unziemlich schienen. Dennoch wohnt einem jeden Schönheit inne. Die Schuppen des Basilisken gleichen Juwelen. Das Haupt der Schimäre ist erhaben und edel. Das Einhorn ist über alle Maßen schön, und sein Horn ist wundervoll gedreht und voller Anmut. Die Schwingen des Drachen sind majestätisch, und herrlich ist der Körper des Minotaurus. Betrachte sie, mein Gott. Wende den Blick nicht ab, denn allen wohnt große Schönheit inne, wenn du nur gewillt bist, sie zu sehen. Die jüngeren Götter sandten jedes dieser Wesen zu dir, damit du ihr Gott wirst. Wer wird denn nun ihr Gott sein, wenn du dich von ihnen abwendest?«
»Aus Bosheit sandten die jüngeren Götter, weil sie mir zürnten, diese mißgestalten Wesen zu mir, um Schmach über mich zu bringen. Ich will nicht der Gott von Ungeheuern sein.« Gorim blickte auf seinen Gott und sagte: »O mein Gott, vielleicht gibt dir ein wenig Zeit die Muße, dies neu zu überdenken. Ich werde hier bleiben und auf deine Gerechtigkeit und unendliche Gnade vertrauen.« So sprach er und setzte sich erneut auf die Erde. Da sprach der Gott UL zu Gorim: »Fordere nicht die Geduld deines Gottes heraus, Gorim. Ich habe eingewilligt, dein Gott zu
sein und der Gott deines Volkes, aber keinesfalls werde ich diesen mißgestalten Dingen Gott sein.« Und alle Geschöpfe, die Gorim zu Füßen saßen, erhoben ein großes Wehgeschrei. »Dennoch werde ich bleiben, o mein Gott«, erklärte Gorim und erhob sich nicht von der Erde. »Dann bleib, wenn es dir gefällt«, entgegnete UL und verließ den Ort. Und es war wie zuvor. Gorim blieb, die Geschöpfe versorgten ihn, und UL war beunruhigt. Es geschah, daß UL erneut Mitleid empfand, denn er erkannte die Heiligkeit und Rechtschaffenheit Gorims. Er kam zu Gorim und sprach: »Erhebe dich, damit du deinen Gott dienen kannst.« Er beugte sich hinab und richtete Gorim mit beiden Händen auf, und er befahl ihm: »Bringe diese Wesen, die dir zu Füßen sitzen, eines nach dem anderen zu mir, auf daß ich sie betrachten kann. Wenn es ist, wie du sagst, daß jedem von ihnen Schönheit und ein eigener Wert innewohnt, will ich auch ihr Gott sein.« Gorim brachte nacheinander die Geschöpfe vor seinen Gott, und UL bestaunte die Schönheit eines jeden Wesens und staunte sehr, daß er diese Schönheit zuvor nicht wahrgenommen hatte. Die Geschöpfe fielen nieder vor dem großen Gott UL und erflehten seinen Segen. Da hob der Geist UL die Hand und segnete sie und sagte: »Wisset, ich bin UL, und ich erkenne große Schönheit und Würde in jedem von euch, im Drachen und im Minotaurus, im Zwergen und im Basilisken, im Einhorn und der Schimäre, in der Dryade und dem Troll, im Zentaur und dem Namenlosen Wesen und sogar im Unsichtbaren Geschöpf finde ich Schönheit. Ja, ich werde euer Gott sein, und ihr sollt gedeihen, und Friede soll unter euch herrschen.« Da schlug Gorims Herz vor Glück, und er nannte den hohen Ort, auf dem sich all das zugetragen hatte, ›Prolgu‹, was soviel wie
›heilige Stätte‹ bedeutet. Er verließ diesen Ort und kehrte auf die Ebene zurück, um sein Volk zu UL zu bringen, ihrer aller Gott. Doch wisset, sie erkannten ihn nicht, denn die Hand des UL hatte ihn berührt, und durch diese Berührung war alle Farbe aus Gorims Körper gewichen, und sein Haar war weiß wie frischer Schnee. Sein Volk fürchtete ihn und vertrieb ihn mit Steinen. Da rief Gorim UL an und sagte: »0 mein Gott, deine Berührung hat mich verändert, und mein Volk erkennt mich nicht.« Der Geist UL hob die Hand, und wisset, das Volk wurde Gorim gleich. Mit gewaltiger Stimme sprach UL zu diesen Menschen: »Höret die Worte eures Gottes. Dies ist jener, den ihr Gorim genannt habt. Er war es, der mich suchte, und da er heilig war, erhörte ich ihn und willigte ein, euch als mein Volk anzuerkennen, über euch zu wachen, für euch zu sorgen und euch Gott zu sein. Von nun an soll dieser Mann UL-GO heißen im Gedenken an mich und als Zeichen seiner Heiligkeit. UL-GO erfreut mich, euren Gott. Ihr sollt ihm gehorchen und ihm folgen, wohin er euch führt. Und wisset, wer nicht auf ihn hört, den werde ich von der Gemeinschaft trennen, wie ein Ast vom Baum getrennt wird, und er soll dahinwelken und vergehen und nicht mehr sein.« Und er, der Gorim war und nun UL-GO genannt wurde, sprach zu den Leuten und befahl ihnen, ihre Habe und ihr Vieh zu nehmen und ihm in die Berge zu folgen. Doch die Ältesten des Volkes hörten nicht auf ihn und wollten auch nicht glauben, daß die Stimme, die sie vernommen hatten, die Stimme des Gottes UL gewesen war. Voll Verachtung sagten sie: »Wenn du der Diener des Gottes UL bist, dann vollbringe ein Wunder als Beweis.« Da entgegnete UL-GO: »Sehet, eure Haut und euer Haar sind schlohweiß. Ist euch das nicht Wunder genug?«
Beunruhigt verließen sie ihn, kehrten jedoch alsbald wieder und sagten: »Es ist Pestilenz, die uns gezeichnet hat, und du hast sie über uns gebracht von einem verseuchten Ort. Aber wir sehen noch kein Wunder als Beweis für die Gunst des Gottes UL.« UL-GO wurde ihrer müde, und er sprach mit gewaltiger Stimme: »Wahrlich, mein Volk, ihr habt die Stimme des großen UL vernommen. Um euretwillen habe ich viel erlitten, und nun werde ich zurückkehren nach Prolgu, dem heiligen Ort. Wer mir folgen möchte, soll es tun; wer bleiben möchte, soll bleiben.« Mehr sprach er nicht, sondern wandte sich ab und machte sich auf den Weg zu den Bergen. Einige der Leute nahmen ihre Habe und ihr Vieh und folgten ihm. Aber wisset, der große Teil des Volkes blieb und schmähte UL-GO und jene, die ihm folgten. Sie sagten: »Wo ist dieses Wunder, das die Gunst des UL beweist? Wir trotzen der Stimme, die zu uns sprach. Wir werden UL-GO nicht folgen, noch werden wir ihm gehorchen, und sehet, wir welken nicht dahin und vergehen auch nicht.« UL-GO blickte mit großer Traurigkeit auf sie und sprach ein letztes Mal zu ihnen. »Wahrlich, ihr habt mich um ein Wunder ersucht. Gewahret nun dieses Wunder. So, wie die Stimme des Gottes UL sprach, seid ihr verwelkt wie der Ast des Baumes, der von ihm getrennt wurde. An diesem Tag seid ihr vergangen.« Und er führte die wenigen, die ihm folgten, in die Berge nach Prolgu.
Die zahlreichen Angehörigen des Volkes spotteten seiner. Sie kehrten in ihre Zelte zurück und lachten ob der Torheit jener, die UL-GO folgten.
»Sieht auch nur einer, welcher Art wir dahinwelken?« fragten sie, »und woran erkennen wir, daß wir zugrunde gehen?« Sie lachten ob dieser großen Torheit. Ein ganzes Jahr lang lachten sie, doch dann verstummte ihr Lachen, denn wisset, ihre Frauen waren unfruchtbar und trugen keine Kinder mehr, und das Volk welkte dahin wie der Ast, der vom Baum getrennt wurde, und sie gingen mit der Zeit zugrunde und waren nicht mehr. Aber die Menschen, die UL-GO gefolgt waren, kamen mit ihm nach Prolgu, dem heiligen Ort, und dort errichteten sie eine Stadt. Der Geist UL war mit ihnen, und sie lebten in Frieden mit allen Geschöpfen, die UL-GO versorgt hatten. Der Friede des Gottes UL war mit ihnen tausend Jahre lang und noch einmal tausend Jahre, und sie lebten ungestört und vermeinten, der Friede des UL würde sie für alle Zeit schützen, doch sie irrten, denn höret, die jüngeren Götter stritten um einen Stein, den einer aus ihrer Mitte geschaffen hatte. In diesem Streit wurde die Erde zerrissen, und die Meere drangen ein. Die Erde wurde ob ihrer Verwundung wahnsinnig vor Schmerz. Und wisset, die Geschöpfe, die in Frieden mit dem Volk des UL-GO gelebt hatten, verloren ob der Verwundung der Erde den Verstand. Sie
erhoben sich gegen die Bruderschaft des UL und zerstörten die Städte und töteten die Menschen, und nur wenige vermochten sich zu retten. Dies waren die schrecklichen Jahre. Die Geschöpfe, die einst Freunde des Volkes von UL-GO gewesen waren, jagten dies Volk nun und töteten jeden, dessen sie habhaft werden konnten. Die Menschen flohen bis nach Prolgu, dem heiligen Ort, und dort wagten sie sich nicht näher aus Furcht vor dem Zorn des UL Laut waren der Jammer und das Wehklagen. Der Geist UL war in Sorge um seine leidenden Anhänger. Und wisset, er offenbarte ihnen die Höhlen, die unterhalb Prolgu lagen, dem heiligen Ort, und die Menschen begaben sich in die heiligen Höhlen des UL und lebten dort. Die Völker der anderen Götter kamen, denn ihre Länder waren im Krieg der Götter untergegangen. Sie nahmen sich neue Länder und gaben ihnen fremde Namen. Doch das Volk des UL blieb in den Höhlen und Gängen unter dem heiligen Ort Prolgu und verkehrte nicht mit ihnen. Und UL beschützte sein Volk und versteckte es vor den Fremden, und die Fremden wußten nicht, daß dort verborgen das Volk des UL lebte. Und wisset, die unziemlichen Geschöpfe, die den Frieden des UL gebrochen hatten, da der Wahn über sie gekommen war, nährten sich nunmehr vom Fleisch der Fremden, und die Fremden fürchteten die Berge des UL und mieden sie. So lebte das Volk des UL in Sicherheit. An dieser Stelle bricht das Manuskript ab.
2 DIE GESCHICHTE DER NATIONEN
Eigentum der Kaiserlichen Bibliothek, Universität von Tol Honeth Tol Honeth, im Jahre 5368 * ANMERKUNG
Auszug aus Eine Geschichte der Zwölf Königreiche des Westens – id est eine Darstellung ihrer Vergangenheit, ihrer Entwicklung, ihrer Geographie, der Grundzüge ihrer Wirtschaft und ihres Nationalcharakters. Zusammengestellt von der Kaiserlichen Historischen Gesellschaft auf Befehl seiner Kaiserlichen Majestät, Ran Borunes XXIII.
ANMERKUNG ZUR DATIERUNG: Aufgrund allgemeiner Übereinkunft des Rates von Tol Vordue haben die acht Königreiche sich darauf verständigt, die alornische Zeitrechnung zum Standard für Handel, Verkehr, Diplomatie und alle anderen *
Dieses Datum ist kein Zufall. Garion wurde 5354 geboren, also ist er zu diesem Zeitpunkt vierzehn (und Ce'Nedra ebenfalls). Dies ist das Jahr, in dem die Suche damit beginnt, daß Garion, Polgara und Belgarath Faldors Bauernhof verlassen, um sich mit Silk und Barak zu treffen.
wechselseitigen Beziehungen zu erheben. Man stimmte allgemein darin überein, daß diese Zeitrechnung ein fortlaufendes und einheitlicheres Zählsystem darstelle als das tolnedrische, welches die Regierungsjahre einer tolnedrischen Dynastie zählt, oder das arendische, welches mit jedem neuen König wieder von vorne anfängt (ein System, das zusätzlich dadurch verkompliziert wird, daß es beizeiten nicht weniger als drei selbsternannte Könige von Arendien gegeben hat), oder dasjenige der Ulgos, die Jahre überhaupt nicht zählen, sondern vielmehr benennen. So entspricht das tolnedrische Jahr 347 dem arendischen Jahr 5 (beziehungsweise 9 oder 3) und dem ulgonischen Jahr Marag. Das alornische Jahr 3480 war mehr nach dem Geschmack von Händlern und Kaufleuten, da es eine beständigere Form der Zeitrechnung darstellt. Die alornische Zeitrechnung geht auf ein mythisches Ereignis in der alornischen Vergangenheit zurück – offenbar irgendeine Katastrophe, derer sie gedenken –, aber kein namhafter Gelehrter ist je imstande gewesen, von alornischen Priestern oder Geschichtenerzählern überprüfbare Informationen über dieses Vorkommnis zu erhalten.
ALLGEMEINER HINTERGRUND UND GEOGRAPHIE * Die westlichen Königreiche umfassen ein großes, ziemlich gebirgiges Gebiet, das zwischen dem Großen Westmeer und dem Meer des Ostens liegt und sich von den tropischen Dschungeln südlich des Königreichs von Nyissa bis hoch in den Norden erstreckt, zum Polareis der nördlichsten Regionen von Cherek, Drasnien und Gar og Nadrak. Das Gebiet mißt annähernd zweitausend Leagues ** von Norden nach Süden und ca. fünfzehnhundert Leagues von Osten nach Westen. Nahezu alle renommierten Geographen stimmen darin überein, daß die Berge, die das zentrale Rückgrat des Kontinents bilden, eine einzige Kette sind, die von Süden nach Norden verläuft und sich am Oberlauf des Aldurflusses teilt, um die algarische Hochebene und weiter nach Norden zu die Steppen Drasniens zu umschließen. Die entgegengesetzte Theorie, daß die Berge aus zwei voneinander unabhängigen Ketten beständen, die von Norden nach Süden verlaufen und einander im Quellgebiet des Aldur durchschneiden, wird allgemein stark angezweifelt. *** Die westliche Küstenlinie des Kontinents ist eine feuchte, fruchtbare Ebene, die sich unterschiedlich weit ins Landesinnere erstreckt. Die Entfernungen reichen hier von einhundert Leagues in Sendarien bis zu dreihundert an der breitesten Stelle in Arendien. Durchschnittlich sind es aber eher zweihundert Leagues. Von dieser Ebene steigen die westlichen Vorgebirge ziemlich sanft bis zu der *
Dieser kurze Abschnitt ist eigentlich nicht mehr als eine Ausformulierung der Landkarte, die den fiktiven Gelehrten der Universität von Tol Honeth in den Mund gelegt wird. Man beachte, daß wir zu diesem Zeitpunkt lediglich einen halben Kontinent beschreiben. ** Die ›League‹ (drei Meilen) haben wir nahezu durchgehend benutzt. *** Das ist natürlich Unsinn. Aber trotzdem lustig.
Gebirgskette an, die den Kontinent in zwei Hälften zerschneidet. Teile dieser Küstenebene sind dicht bewaldet – beispielsweise der große Wald im Norden Arendiens, der Wald von Vordue im nördlichen Tolnedra, der Forst mit dem romantischen Namen Dryadenwald in Südtolnedra sowie die ausgedehnten Waldgebiete in Nyissa, die man eher als Dschungel ansprechen sollte. Im Süden beherrschen die Berge die gesamte Landmasse, die sich ca. dreizehnhundert Leagues von der Ostküste des südlichen Cthol Murgos nach Westen zum Oberlauf des Schlangenflusses in Nyissa erstreckt. Inmitten des Gebirges im südlichen Tolnedra liegt ein großes, fruchtbares Becken von etwa einhundertfünfzig mal vierzig Leagues. Dieses Becken ist mit den Ruinen der Kultur von Marag übersät und leider völlig unbewohnbar. Ein weiterer charakteristischer Bestandteil des südlichen Gebirges ist die Öde von Murgos, eine ausgedehnte, dürre Ebene, bei der es sich um ein ausgetrocknetes Seebett oder den Boden eines ehemaligen Meeres zu handeln scheint. Die Ostküste des Kontinents ist wesentlich unfruchtbarer als der Westen. Die Küstenlinien von Cthol Murgos, Mishrak ac Thull und Gar og Nadrak sind felsig, und in ihrem Rücken liegen im allgemeinen sanft hügelige, nur spärlich mit rauhen Gräsern bewachsene Steppenlandschaften. Die Vorgebirge im Osten sind mit Ausnahme des großen Waldes von Nadrak im Norden nur spärlich bewaldet. Im Herzen des Kontinents teilt sich das Gebirge im Aldurtal, und die Spalte zwischen den beiden Ketten erweitert sich zu den Ebenen Algariens, ein unermeßliches Grasland von fünfhundert Leagues im Quadrat, welches vom Aldurfluß bewässert wird. Er verläuft achthundert Leagues weit nach Norden, um nach Durchfließen der Marschen in seinem Mündungsgebiet, die als Aldurmoor bekannt sind, in den Golf von Cherek zu münden.
Nördlich der algarischen Ebenen fließt der Mrinfluß, der in den drasnischen Hügeln entspringt, nach Westen, um sich westlich von Boktor mit dem Atunfluß zu vereinigen. Gegenüber von Drasnien, auf der westlichen Seite des Golfes von Cherek, liegt die Halbinsel von Cherek, die angestammte Heimat des alornischen Volks. Mit der Ausnahme eines fruchtbaren, aber hügeligen Beckens südlich von Val Alorn ist die Halbinsel größtenteils gebirgig. Es handelt sich um einen Ausläufer der westlichen Gebirgskette, die südlich des Golfes von Cherek liegt. Eine charakteristische Besonderheit des Golfes von Cherek ist der Gezeitenmahlstrom zwischen der Südspitze Chereks und der nördlichsten Landspitze Sendariens. Diese Meerenge in der Straße von Sendarien ist als Enge von Cherek bekannt. Die Strömungen in dieser Meerenge sind so reißend, daß nur die erfahrensten Seeleute eine Durchquerung wagen. Nach Westen zu, einhundert Leagues vor der Küste, liegt die Insel der Winde, ein ungastliches Felseiland, das unablässig von Stürmen und dem immensen Ozean gepeitscht wird und nur über den Hafen von Riva zugänglich ist. Die Insel ist etwa einhundert Leagues breit, bei einer Längsausdehnung von dreihundert Leagues. Die Tatsache, daß dieser äußerst unwirtliche Ort, wenn auch spärlich, bewohnt ist, zollt dem menschlichen Erfindungsgeist Tribut.
DAS KAISERREICH VON TOLNEDRA
ANMERKUNG
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FÜR DEN KAISERLICHEN STUDENTEN: * Da dies, Euer Hoheit, wahrscheinlich Eure erste Konfrontation mit der ungeschminkten Wahrheit über Euer Land ist, dürfte es angebracht sein, unsere Beweggründe offenzulegen, warum wir ein – mitunter – so unvorteilhaftes Bild zeichnen. Unser Studium der Geschichte hat erwiesen, daß derjenige, der ohne Illusionen herrscht, der beste Herrscher ist, und es ist der Wunsch der gesamten Fakultät, Eure Hoheit zum bestmöglichen Herrscher zu machen. In den nächsten
Die Universität von Tol Honeth existiert angeblich zu dem alleinigen Zweck, den Kronprinzen zu erziehen und auszubilden. Des weiteren haben wir uns dazu entschlossen, zwischen ›Euer Hoheit‹ und ›Euer Majestät‹ zu unterscheiden. (›Hoheit‹ für einen Prinzen oder eine Prinzessin; ›Majestät‹ für einen König oder eine Königin.) Diese Unterscheidung wird allerdings an den Königshöfen dieser Welt nicht konsequent durchgehalten.
Jahren werden Euer Hoheit die Staatskunst, Diplomatie, Politik, auswärtige Beziehungen und Wirtschaftstheorie studieren. Mit Fortschreiten Eurer Ausbildung werden Euer Hoheit routinemäßig Abschriften sämtlicher Berichte erhalten, mit Ausnahme der allergeheimsten, die Eurem Vater, dem Kaiser, vorgelegt werden. Euer Hoheit werden im Unterrichtsraum kaiserliche Entscheidungen treffen, die wir sodann mit den tatsächlichen Entscheidungen des Kaisers vergleichen werden. Wir werden sie einer eingehenden Kritik unterziehen mit dem Ziel, diese Entscheidungen gründlich zu bewerten. Daher ist es notwendig, daß Ihr nun, am Beginn Eurer Studien, das bestmögliche Verständnis für die in Tolnedra und den anderen Königreichen vorherrschenden Realitäten gewinnt. Dieser Überblick, der in bestimmten Abständen auf den neuesten Stand gebracht wird, hat den Zweck, Euch die erforderlichen Fakten zu liefern.
GEOGRAPHIE Tolnedra ist, um eine Binsenwahrheit auszusprechen, eines der größeren der westlichen Königreiche. Seine Nordgrenze wird vom Unterlauf des Arendflusses gebildet und verläuft von dort weiter um die südliche Spitze von Ulgoland herum, dann in südöstlicher Richtung entlang des westalgarischen Steilabbruchs am Aldurtal bis zu der weitgehend unbestimmten Grenze zu Cthol Murgos im Osten. Weiter südwärts verläuft die Grenze zu den unteren Regionen des Distrikts der Marager – das Gebiet, welches einst als Maragor bekannt war und das sich Tolnedra zu Beginn des dritten Jahrtausends einverleibte. Von dort verläuft die Grenze in ungefährer westlicher Richtung, wobei sie zunächst immer noch an Cthol Murgos stößt, weiter bis zur nordöstlichen Spitze von Nyissa, dann zum Unterlauf des Waldflusses und schließlich bis an die Gestade des Großen Westmeeres. Auch wenn es gebräuchlich ist, in öffentlichen Verlautbarungen von den ›heiligen und unverletzlichen Grenzen des Kaiserlichen Tolnedra‹ zu sprechen, sollte man dabei stets im Kopf behalten, daß jede nicht durch irgendeine Landmarke – beispielsweise einen Fluß – gekennzeichnete Grenze lediglich einen Annäherungswert darstellt. Dies gilt insbesondere für gebirgiges Terrain, wo der Mangel an menschlicher Besiedlung (wie auch der Mangel an staatlichem Interesse) jeden Versuch einer genauen Grenzziehung zu einer nutzlosen Angelegenheit macht. Wie dem auch sei, ganze zwei Drittel von Tolnedra sind Ödland, bestehend aus Felsen und Eis und finsteren, endlosen Wäldern, die im kalten Gebirgswind seufzen. Der wichtige Teil Tolnedras ist das westliche Drittel, eine fruchtbare Küstenebene, die zwischen dem Arendfluß im Norden und dem Waldfluß im Süden liegt. Diese Ebene bildet den Kern und
Lebensmittelpunkt Tolnedras. Vier der fünf größten Städte sowie der Hauptanteil von Landwirtschaft und Handel konzentrieren sich in diesem Gebiet. In alten Zeiten wurden zentrale Bereiche dieser Ebene in regelmäßigen Abständen von den gewaltigen Fluten des Nedraneflusses überschwemmt. Es ist das Verdienst der beiden frühesten Dynastien, den Nedranefluß von Tol Honeth bis Tol Horb einzudeichen, wodurch sie nicht nur die notwendige Kontrolle des Hochwassers gewährleisteten, sondern auch jenen breiten Wasserweg schufen, der Tol Honeth ungeachtet der Tatsache, daß es einhundert Leagues landeinwärts liegt, zu einem der größten Häfen der Welt macht. Im Norden, entlang der arendischen Grenze, liegt der Wald von Vordue, wo eine extensive Holzfällerei ausreichend Hartholz für die feinen Möbel erbringt, welche die Tolnedrer so sehr lieben. Weicheres Bauholz wird in den Wäldern im Osten gewonnen, doch der Dryadenwald im Süden bleibt aus Gründen, die später klar werden dürften, unangetastet. Wenn es auch große Bergwerke und Minen im südlichen Zentralgebirge um Tol Rane herum gab, so sind die Gold-, Silber-, Kupfer-, Eisenerz- und Zinnlager doch in einem Maße ausgebeutet, daß die Tiefe der Stollen die Förderung dieser nützlichen und kostbaren Metalle schwierig und gefährlich macht. In den zwei Seehäfen Tolnedras, Tol Horb an der Mündung des Nedrane und Tol Vordue an der Mündung des Arend, wird ein großer Teil des Welthandels abgewickelt. Tol Borune auf der südlichen Ebene ist der Mittelpunkt eines gigantischen Landwirtschaftsimperiums. Tol Honeth, die Kaiserliche Stadt, wird mit Recht der ›Nabel der Welt‹ genannt. DAS VOLK Die Tolnedrer sind kleiner und von etwas dunklerer Hautfarbe als die blonden, hochgewachsenen Alorner aus dem Norden. Von der
Rasse her gleichen sie den Arendern, den Nyissanern und den nunmehr ausgestorbenen Maragern. So kommt es, daß wir drei große Volksgruppen in den zwölf Königreichen beobachten können – Alorner, Angarakaner und die südlichen Völker. Der rassische Hintergrund der Ulgos bleibt natürlich ein Rätsel. * Unser Volk ist – aufgrund langer Gewohnheit und vielleicht einer angeborenen Neigung – das am stärksten politisch denkende und gewinnsüchtigste aller Völker der zwölf Königreiche. Der Handel ist die Seele und das Herzblut Tolnedras. Da wir seit undenklichen Zeiten Handel betrieben und gefeilscht haben, wenden wir Tolnedrer uns instinktiv der Politik und nicht dem Krieg zu, wenn es darum geht, unsere nationalen Ziele zu verfolgen. Wie Nedra in seiner übergroßen Weisheit sagte: »Wo bleibt der Profit, wenn ich einen Kunden bekriege?« oder: »Einen Feind kann man einmal plündern, aber ein Kunde ist eine unerschöpfliche Geldquelle.« Vielleicht schachern die Tolnedrer aus diesem Grunde ein kleines bißchen härter als alle anderen Völker. Ein tolnedrischer Kaiser muß stets auf der Hut sein, um sich nicht in die Irre führen zu lassen von – seien wir ehrlich – der Habgier seiner Berater und der Handelsfürsten, welche die lästige Angewohnheit haben, den Kaiserlichen Thron mit Bittschriften zu belagern, die ihre eigenen Börsen auffüllen sollen. Damit uns dies niemand als haltlose Verdammung unseres Volkes auslegen möge, laßt uns rasch die zahllosen Vorteile aufzeigen, welche unserem Reich aus jenem unerbittlichen Profitstreben erwachsen sind. Die tolnedrische Gesellschaft wurde nie durch die Existenz von Stämmen oder Klans gespalten, wie wir es in den alornischen Königreichen beobachten können. Die Zugehörigkeit *
Die Verwendung des Begriffs ›Rasse‹ ist ein wenig archaisch. Die Alorner sind eindeutig Skandinavier, die Tolnedrer, Marager, Arender und Nyissaner mediterranen Ursprungs. Die Angarakaner mit ihren ›Schlitzaugen‹ sollten an die Mongolen Dschingis Khans oder Etzels Hunnen erinnern.
zu einem Stamm ist ein Merkmal für krankhafte Fremdenfurcht. Tolnedrer aber haben den Kontakt mit Fremden stets als eine Gelegenheit begrüßt, dem Handel neue Wege zu öffnen. Desgleichen haben wir uns nie mit der Institution der Leibeigenschaft belastet, welche die Entwicklung Arendiens so gehemmt hat. Wie ein weiser tolnedrischer Edelmann einmal sagte: »Besser, einen Mann für eine Arbeit zu bezahlen und ihn dann in die Wüste zu schicken, als ihn ein Leben lang durchfüttern zu müssen.« Und auch der religiöse Fanatismus, der das Leben der Nyissaner, der Angarakaner und der Ulgos bestimmt, ist uns völlig fremd. Unser Nedra ist ein toleranter Gott, der sich mit ein paar Formalitäten bei zeremoniellen Anlässen zufrieden gibt. Die einzige Ausnahme zu dieser Regel bildet die monastische Gemeinschaft, die in den westlichen Regionen des Gebietes beheimatet ist, das einst Maragor war. Diese guten Seelen haben ihr Leben in Demut und Armut der Sühne unseres Nationalverbrechens gewidmet, der Ausrottung der Marager. Wenn viele aus unserem Volk die Bettelmönche dieser Bruderschaft auch für eine Landplage halten, muß doch unterstrichen werden, daß ihre ständige Besänftigung des trauernden Geistes des Gottes Mara, dem soviel Unrecht zugefügt wurde, aller Wahrscheinlichkeit nach seine Rache von uns abwendet. In Südtolnedra gibt es noch eine weitere Anomalie. Wir meinen natürlich die Dryaden. Wie die Ulgos stammen die Dryaden aus der Zeit vor der Völkerwanderung der zivilisierten Menschen nach Westen. Ihre Zahl ist stets sehr klein gewesen, und man sieht sie nur selten außerhalb des Dryadenwaldes, der an unserer Südgrenze liegt. Dieses Völkchen von Heimlichtuerinnen hat es geschafft, sich abseits des Hauptstroms der tolnedrischen Gesellschaft zu halten. Ihr einziger Beitrag zu unserer Kultur war möglicherweise die Heirat einer Dryadenprinzessin mit einem Edlen aus dem Hause Borune. Im Austausch für diese Frau rangen die Dryaden den Borunern das Versprechen ab, daß ihr Wald auf ewig unangetastet bleiben würde. Dieses Versprechen wurde durch das Kaiserliche
Dekret Ran Borunes I. des Sohnes dieser Dryadin und des borunischen Edlen und Gründers der ERSTEN BORUNISCHEN DYNASTIE, in eine feste Form gekleidet. Auch wenn ungezählte Generationen von Holzbaronen dieses Dekret verflucht haben, wann immer ihre Blicke mit unverhüllter Gier über die riesigen Eichen des Dryadenwaldes glitten, muß man doch einräumen, daß Tolnedra enorm von der Vereinigung dieses sonderbaren Volkes mit einem unserer edelsten Häuser profitiert hat. Die Borune-Dynastien zählten zu den beständigsten und aufgeklärtesten unserer Geschichte, und Borune-Kaiser scheinen mit einem ungewöhnlich hohen Maß an gesundem Menschenverstand gesegnet zu sein. Das gewöhnliche Volk hat ein Sprichwort: ›Gesegnet sei der Name Nedras, weil er uns die Borunes gegeben hat‹, was es vielleicht am treffendsten zusammenfaßt. * Durch die Jahrhunderte hindurch läßt sich eine merkwürdige Besonderheit des Hauses von Borune verfolgen. Während die männlichen Kinder des Geschlechts sich in körperlicher Hinsicht nur wenig von den gewöhnlichen Tolnedrern unterscheiden, ist der Unterschied der weiblichen Kinder zu den anderen Frauen unserer Rasse erheblich. Sie sind alle überaus klein, und ihr Haar weist stets ein tiefes, flammendes Rot auf – eine Farbe, die Dichter zu etwas überschwenglichen Vergleichen mit den Blättern einer herbstlichen Eiche verleitet haben. Auch ihr Teint ist deutlich heller als die olivfarbene Haut anderer tolnedrischer Frauen, und in einem bestimmten Licht scheint er sogar einen schwachen grünlichen Schimmer zu besitzen. Die zierlichen und lebenssprühenden Prinzessinnen der Boruner darf man mit Fug und Recht als die wahren Juwelen des Reichs bezeichnen.
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Der Kaiser, der diese Studie in Auftrag gegeben hat. war ein Mitglied der Borune-Familie; der Gelehrte, der dies schrieb, versuchte also offensichtlich, sich einzuschmeicheln.
PRÄDYNASTISCHE GESCHICHTE Wie auch die anderen Völker des Westens wanderten die Tolnedrer während der frühen Jahrhunderte des ersten Milleniums aus dem Osten ein. Sie siedelten sich auf der zentralen Ebene an und begannen mit dem Bau ihrer ersten Stadt, Tol Honeth, auf der großen Insel im Nedranefluß. Die gegenwärtige Pracht von Tol Honeth scheint die provisorische Festung aus Holz und Flechtwerk Lügen zu strafen, die zuerst an diesem Ort stand. Schriftliche Zeugnisse der prädynastischen Ära sind von schmerzlicher Kürze, und nur wenige haben sich bis in die heutige Zeit erhalten. Die Dokumente der ERSTEN HONETHITISCHEN DYNASTIE verschaffen uns indes aufgrund jener Themen, welche die Hauptsorge unserer ersten Kaiser darstellten, einen gewissen Einblick darin, wie das Leben im prähistorischen Tolnedra ausgesehen haben muß. Feuer, Hochwasser, Pestilenz und
Bürgerkrieg scheinen in jenen dunklen frühen Jahren an der Tagesordnung gewesen zu sein. Es ist vermutlich keine Übertreibung zu behaupten, das tolnedrische Imperium sei aus dem Feuer geboren – oder zumindest, es habe sich aus der Asche erhoben. Alle hölzernen Gebäude sind extrem feuergefährdet, und Tol Honeth bildete da keine Ausnahme. Was immer die Ursache dafür gewesen sein mag, in den ersten Jahren des neunten Jahrhunderts brach jedenfalls ein verheerender Brand aus, der die Inselstadt vom einen bis zum anderen Ende verschlang. Ein untergeordneter Beamter der Stadt, der den Schaden in Augenschein nahm, gelangte zu dem Schluß, daß Stein nicht brennt, und während die Asche noch glühte, nahm er den Wiederaufbau der Stadt in Angriff, wobei diesmal Stein verwendet wurde. Im Gegensatz zu einer hölzernen Palisade, die ein Arbeitstrupp von Zimmerleuten binnen kürzester Zeit errichten kann, stellt das Bauen in Stein eine weit schwierigere und zeitaufwendigere Aufgabe dar. Die riesigen Bautrupps, die jahrzehntelang schufteten, um die Mauern von Tol Honeth hochzuziehen, sollten den Kern der Kaiserlichen Legionen bilden, wie sich bald abzeichnete. Der Standardtrupp aus zehn Männern, die man zum Transport großer Steinblöcke einsetzte, wurde zur Keimzelle. Zehn Trupps von zehn – das Hundert –, welche die sehr großen Blöcke bewegten, wurden zur Kompanie, und zehn Hundert – das Tausend –, welche die gigantischen Grundsteine der Stadtmauer und der Kaianlagen zogen, wurden zur Legion. Die gemeinschaftliche Anstrengung und die Disziplin, die beim Wiederaufbau der Stadt erforderlich waren, schweißte diese Arbeitstrupps zu den starken Einheiten zusammen, die auf ganz natürliche Weise den Befehlen des Oberaufsehers der Bautätigkeiten gehorchten – dem eingangs erwähnten Beamten. Es war jener Beamte, welcher später der legendäre Ran Honeth I. wurde, der Begründer des dynastischen Systems. Als marodierende Räuberbanden die gerade flügge gewordene Stadt zu plündern
versuchten, ließen die Arbeitstrupps unter der Führung von Ran Honeth ihr Werkzeug fallen, griffen zu den Waffen und konnten die Angreifer aufgrund ihrer überlegenen Disziplin mühelos in die Flucht schlagen. So wurde die Idee des Reichs geboren. Nachdem die Arbeitstrupps einmal den Geschmack des Sieges gekostet hatten, war der Rest nur noch Formsache. In einer Reihe blitzschneller Schachzüge festigte Ran Honeth seine Gewalt über das gesamte tolnedrische Volk und setzte Ordnung, Frieden und Sicherheit in der ganzen zentralen Ebene durch.
DIE ERSTE HONETHITISCHE DYNASTIE 815 – 1373 (558 Jahre, 23 Kaiser) * Die hauptsächlichen Bemühungen der ERSTEN HONETHITISCHEN DYNASTIE zielten darauf ab, die Nordgrenze Tolnedras bis zum Arendfluß zu erweitern, die Hafenfestungen in Tol Vordue und Tol Horb zu errichten und natürlich den Norddeich am Nedranefluß zu bauen. Der Tod des letzten Kaisers Ran Honeth XXIII. der ohne Nachkommen starb, rief im Reich große Bestürzung hervor. DIE ERSTE VORDUVISCHE DYNASTIE 1373 – 1692 (319 Jahre, 16 Kaiser) Durch schieres Glück war der Befehlshaber der Kaiserlichen Garnison in Tol Vordue – und zufällig gleichzeitig der oberste Zivilbeamte – ein energischer, tüchtiger Mann, der, weniger aus Ehrgeiz, als vielmehr aus einem starken Sinn für persönliche Verantwortung heraus, an der Spitze seiner Legionen nach Tol Honeth marschierte, um den Thron zu erobern. Es geschah zu dieser Zeit, daß das Prozedere für eine ordnungsgemäße dynastische
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Die Dynastien boten eine naheliegende und systematische Basis, unsere Chronologie zu begründen. Dies war ihr Hauptzweck, doch der ständige Hader zwischen den großen Familien erwies sich ebenfalls als sehr nützlich.
Nachfolge entwickelt wurde, was das Reich vor der Auflösung rettete. Das Konzil der Räte, eine breitgefächerte Gruppe von Repräsentanten aus sämtlichen Distrikten des Reichs, trat zu einer Notstandssitzung zusammen und kam zu der Einsicht, daß der Befehlshaber der Garnison von Tol Vordue mit oder ohne ihre Zustimmung der nächste Kaiser werden würde, und so brachten sie seinen Namen in den Tempel Nedras, wo die Priester sich mit dem Gott selbst berieten. ANMERKUNG
Der Aberglaube will es, daß Nedra in den frühen Jahren des Reichs körperlich im Tempel zugegen war, genährt und gehegt von der Priesterschaft. Moderne Theologen haben diese Auffassung jedoch verworfen und vertreten die weit vernünftigere Ansicht, daß Nedras körperliche Anwesenheit auch wenn er im Geiste jederzeit bei uns war, doch zu keinem Zeitpunkt unserer langen Geschichte glaubhaft zu begründen ist.
Als die Priester mit Nedras Segen für Ran Vordue I. vor den Tempel traten, war die ERSTE VORDUVISCHE DYNASTIE begründet und die ordnungsgemäße Thronfolge gesichert. Die Vorduvier waren tatkräftige und energische Kaiser, und sie wandten ihre Aufmerksamkeit bald den Ländern südlich des Nedrane zu. In der Frühzeit der Dynastie wurde unsere Südgrenze bis an den Waldfluß vorgeschoben, und das Kerngebiet unseres Reichs war vollständig.
In der Mitte der südlichen Ebene wurde Tol Borune errichtet; die späteren Herrscher der Dynastie widmeten ihre Anstrengungen dem Bau des Süddeichs am Nedranefluß.
DIE ZWEITE HONETHITISCHE DYNASTIE 1692 – 2112 (420 Jahre, 19 Kaiser) Die Jahre dieser Dynastie waren eine Zeit der Konsolidierung und Entwicklung. Es war überdies eine Periode, in der die ersten bedeutsamen Kontakte zu anderen Nationen geknüpft wurden. Wie so oft in der tolnedrischen Geschichte waren es die Händler, die unserer Nation die Richtung wiesen. Die anfänglichen Kontakte mit den Arendern und Nyissanern waren friedlich und gewinnträchtig, doch die Marager weigerten sich hartnäckig, Fremde nach Maragor zu lassen. Kaiser Ran Honeth XVII. versuchte dieses Problem durch den Bau von Tol Rane an der Westgrenze zu Maragor zu lösen. Der ursprüngliche Zweck Tol Ranes bestand darin, ein Handelszentrum zu bilden, an dem die Marager ihre Geschäfte tätigen konnten, doch bald schon erhielt es einen anderen, düsteren Zweck. Es zeigte sich schnell, daß die Marager über beträchtliche Goldvorkommen verfügten. Die zufällige Entdeckung von Freigold in den Bächen der Grenzregion setzte einen unaufhaltsamen Strom von Glücksrittern nach Tol Rane in Bewegung.
Diese Abenteurer schlichen des Nachts über die Grenze nach Maragor und suchten so lange in jedem Bachbett nach Gold, bis die Marager ihre Anwesenheit bemerkten. Erst zu diesem Zeitpunkt erfuhren wir die gräßliche Wahrheit über unsere östlichen Nachbarn. Es war im Jahre 2115, daß ein erschöpfter Überlebender einer dieser Goldsuchertrupps mit seiner Schreckensgeschichte nach Tol Rane zurückkehrte. Seine Gefährten waren von einer Gruppe Marager gefangengenommen und, einer nach dem anderen, auf rituelle Weise getötet und verzehrt worden. Wenn Menschenopfer auch in der einen oder anderen Form in gewissen Religionen nicht unüblich sind, war der Kult von Mara doch der einzige uns bekannte, der rituellen Kannibalismus praktizierte. Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer in ganz Tolnedra, bis die gesamte Nation in Flammen stand. Reden offizieller Würdenträger schürten den Zorn der Bevölkerung zusätzlich, und bald tauchten in Tol Honeth Abordnungen auf, die den Krieg forderten. Am Ende gab der Kaiser, Ran Vordue I. von der ZWEITEN VORDUVISCHEN DYNASTIE, den erst drei Jahre vom Beginn seiner Herrschaft und seiner Dynastie trennten, dem Drängen des Volkes nach und begann mit den Kriegsvorbereitungen. DIE ZWEITE VORDUVISCHE DYNASTIE 2112 – 2537 (425 Jahre, 20 Kaiser) Es gereicht den Vorduviern zur ewigen Schande, daß es unter einer ihrer Dynastien zur Ausrottung der Marager kam. Wenngleich die Tatsache, daß die Marager Kannibalen waren, unleugbar der
Wahrheit entsprach, hätte man doch ganz gut mit ihr leben können, wäre da nicht das Gold in Maragor gewesen. Leicht hätte man die Grenze schließen und andere Mittel und Wege finden können, um die Marager dazu zu bringen, von dieser abstoßenden Gewohnheit abzulassen. Die Kriegspartei in Tolnedra jedoch, die nur das Gold im Sinn hatte, trieb den unerfahrenen Kaiser zum letzten Mittel, dem Krieg. Der Kriegszug nach Maragor dauerte vier Jahre und war durch eine Brutalität gekennzeichnet, wie man sie im Westen selten erlebt. Tolnedrische Legionen, die von Tol Rane aus operierten, umzingelten rasch die vergleichsweise kleine Nation, machten dann kehrt und griffen das Herz von Maragor an. Die noch immer durch ihre katastrophale Expedition nach Nyissa geschwächten Marager waren keine Gegner für die schlagkräftigen Legionen. Die Befehlshaber dieser Legionen, von einer Art religiösem Feuer beseelt, metzelten die gesamte Bevölkerung nieder, wohin auch immer sie ihren Fuß setzten, und erst in letzter Sekunde, als die wenigen überlebenden Marager in einem Tal in Zentralmaragor zusammengetrieben waren, konnte man sie überreden, Gnade walten zu lassen. Unglücklicherweise war es nicht Menschlichkeit, welche die Tolnedrer dazu bewog, Nachsicht zu üben, sondern einmal mehr das Nationallaster – die Habgier. Die überlebenden Marager wurden verschont, um sie an die nyissanischen Sklavenhändler zu verkaufen, die wie Aasgeier am Rande des Schlachtfelds lungerten. So ging Maragor unter, und mit Maragor kein geringer Teil des tolnedrischen Stolzes. Die Horde der tolnedrischen Goldsucher und landgierigen Bürger, die sich an der Grenze herumgetrieben und nur auf das Ende des Krieges gewartet hatten, brach über Maragor herein wie eine Springflut, voller Angst, ein anderer könne mehr Gold finden oder mehr Land in Besitz nehmen als er. Doch der Geist von Mara, des Gottes der Marager, weilte noch im Land, außer sich vor Kummer,
wie wir zu unserem Entsetzen erkennen mußten. Die Flut, die Maragor überschwemmt hatte, brach sich und floß in kleinen Rinnsalen wieder zurück, als Mara seine Rache an den Abenteurern nahm. Die Geschichten, die aus diesem verfluchten Land zurückkamen, haben nun seit über drei Jahrtausenden Stoff für tolnedrische Alpträume geliefert. Bei Tage hört man das Klagen Maras vom einen Ende Maragors bis zum anderen, und bei Nacht schwanken die furchtbaren Geister der gemeuchelten Marager kreischend durch das Land, und ihre blutverschmierten Gesichter leuchten in einem gespenstischen Licht. Die Schwächeren unter den Glücksrittern verloren schon bald den Verstand, stürzten sich in Flüsse oder sprangen von Felsklippen. Die Stärkeren kehrten bis ins Mark erschüttert und mit aschfahlem Gesicht nach Tolnedra zurück, ohne Gold, ohne Land, und nur zu oft am Rande des Wahnsinns. Es war einer dieser Überlebenden, der sein Vermögen und den Rest seines Lebens der Gründung jenes großen Klosters in MarTerin widmete, wo die Mönche seit nunmehr dreitausend Jahren versucht haben, Mara Buße zu leisten und die Geister der erschlagenen Marager zu besänftigen. Der schlichte Mut der Mönche von Mar-Terin im Angesicht des unaussprechlichen Schreckens legt Zeugnis ab für das Beste im tolnedrischen Charakter. Die restliche Herrschaftszeit der Dynastie verlief ohne bedeutsame Vorkommnisse, sieht man von den Regentschaften der letzten vier Kaiser ab. Der Handel mit den Arendern im Norden und in geringerem Umfang mit den Nyissanern im Süden wurde ausgebaut, und die großen Werften in Tol Vordue und Tol Horb wurden errichtet. Tolnedrische Schiffe begannen auf der Suche nach weiteren Handelsmöglichkeiten die Küstengewässer zu befahren und waren um 2400 so weit nach Norden vorgedrungen, daß sie die Insel der Winde in nordwestlicher Richtung vor der Küste des heutigen Sendarien erreichten.
Zu diesem Zeitpunkt begegneten wir zum erstenmal den Cherekern. 2411 wurde eine tolnedrische Handelsflotille von einer cherekischen Flotte angegriffen, die aus der Enge von Cherek hervorkam. Tolnedrische Schiffe – langsam und breit, wie sie sind, um möglichst viel Ladung aufnehmen zu können – sind den flinken, schmalen Kriegsbooten der Chereker niemals ebenbürtig gewesen. Die Schlacht war kurz, der Verlust an Menschenleben und Gütern entsetzlich. Kaiser Ran Vordue XVI. bewaffnete und bemannte in aller Eile jedes verfügbare Schiff und rüstete eine Strafexpedition gegen die Chereker aus. Das Ergebnis war natürlich beklagenswert vorhersehbar. Wie Wölfe zerfleischten die Chereker die Flotte und versenkten jedes Schiff. Durch diese beiden unglücklichen Begegnungen auf die Existenz von Tolnedra hingewiesen, begannen cherekische Piraten bald vor der Westküste von Arendien und Tolnedra aufzutauchen. * Die Stadt Tol Vordue wurde während dieser blutigen Jahrhunderte achtmal geplündert und gebrandschatzt, und cherekische Schiffe, die unter der Last der tolnedrischen Reichtümer ächzten, schlingerten wieder gen Norden, vollbeladen wie große Frachter. Schließlich befestigte Ran Vordue XIX. Tol Vordue in den ersten Jahren des sechsundzwanzigsten Jahrhunderts, errichtete hohe Mauern auf der Seeseite und verzehnfachte die Garnison in der Stammstadt seiner Dynastie. Drei cherekische Überfälle wurden abgewehrt, und bald sahen sie sich nach leichterer Beute um. Tol Horb wurde zweimal geplündert, und nur die dicke Eisenkette im *
Dies erfuhr durch ›Belgarath der Zauberer‹ eine wichtige Abwandlung. Die Vorstellung, ein Geschlecht von Piraten habe noch nie von dem reichsten Land der Welt gehört, ist offenbar absurd. Als Fußnote sei deshalb hier vermerkt, daß im ›Beowulf‹ vom ursprünglichen König der Speer-Dänen (Gar-Dena) als das ›Garbenkind‹ gesprochen wird, eine offensichtliche Ableitung aus der Geschichte des Moses. Die Völker des dunklen Zeitalters hatten Kontakt untereinander, und irgendein Wikinger hat die Idee gestohlen und schamlos im ›Beowulf‹ benutzt.
Nedranefluß verhinderte, daß die cherekische Flotte weiter den Fluß hinauffuhr, bis vor die Tore von Tol Honeth selbst. Ungefähr zu dieser Zeit starb der letzte Kaiser der ZWEITEN VORDUVISCHEN DYNASTIE ohne Nachkommen, und zusätzlich zu den Schwierigkeiten mit den Piraten aus Cherek wurde die Nation in jene Unruhen gestürzt, die stets einen dynastischen Wechsel begleiten.
DIE ERSTE BORUNISCHE DYNASTIE 2537 – 3155 (618 Jahre, 24 Kaiser) Während der letzten Jahre der Herrschaft Ran Vordues XX. hatte man stillschweigend angenommen, der Thron werde wieder der Familie der Honethiter zufallen, und mehrere würdige Angehörige dieses zahlreichen Geschlechts hatten mit der kostspieligen, aber notwendigen Aufgabe begonnen, die verschiedenen Mitglieder des Konzils der Räte zu bestechen (diese Körperschaft hatte ganz beiläufig immer mehr legislative Funktionen übernommen, um den
Kaiser bei seiner schwierigen Aufgabe zu entlasten, die zunehmend komplexere tolnedrische Gesellschaft zu regieren). Durch eben diese Intrigen jedoch hatten die Honethiter sich wirkungsvoll den Zugang zum Thron verbaut, als Ran Vordue XX. starb. Das Konzil war festgefahren, da keiner der Edlen aus der Honethite-Familie eine klare Mehrheit auf sich vereinigen konnte. Nach elf Monaten kleinlichen Gezänks sah das Konzil sich schließlich gezwungen, nach jemand anderem Ausschau zu halten. Als der Name des jungen Borune von den in seinem Distrikt gewählten Mitgliedern des Konzils vorgeschlagen wurde, schwenkten die Vorduvier und Horbiter rasch in seine Richtung ein – unglücklicherweise trifft es zu, daß die Honethiter beim Adel der anderen Städte nie sonderlich beliebt waren, was auf ihren ein wenig übertriebenen Stolz und auf ihre Angewohnheit zurückzuführen sein dürfte, die Kaiserliche Freigiebigkeit vor allem den Bürgern von Tol Honeth zukommen zu lassen. Die Honethiter reagierten mit einer heftigen Kampagne gegen den jungen borunischen Edelmann, wobei sie besonders auf seine fragwürdige Abstammung zielten. (Seine Mutter war eine Dryade.) Am Ende jedoch setzte die Koalition aus Vorduviern, Borunern und Horbitern seine Wahl im Konzil durch, und der Name des jungen Borune wurde in den Tempel getragen und den Priestern des Nedra unterbreitet. Im Anschluß an die Bestätigung durch die Priester wurde Kaiser Ran Borune I. gekrönt und bestieg den goldenen Thron zu Tol Honeth. Der junge Kaiser erwies sich rasch als eine glückliche Wahl. Nachdem er sich des Problems der cherekischen Raubzüge an der Küste angenommen hatte, stellte er seine Legionen zum Bau einer Straße entlang der Küste zwischen Tol Vordue und Tol Horb ab. Die Soldaten murrten laut, denn sie hatten sich an das Garnisonsleben in den Städten gewöhnt und waren gar nicht glücklich darüber, auf ihre Paradeuniformen und die vielen jungen (und nicht mehr ganz so jungen) Frauen verzichten zu müssen, die
stets auf Soldaten fliegen. Mächtige Freunde von Legionsoffizieren protestierten beim Kaiser vehement gegen diese unziemliche Unterbrechung des gesellschaftlichen Lebens der Soldaten, doch Ran Borune blieb hart. Die Bedeutung seines Vorhabens wurde bald offensichtlich. Die Legionen wurden in regelmäßigen Abständen entlang der gesamten nordwestlichen Küstenlinie stationiert, wobei jede Legion ihren eigenen Straßenabschnitt zugewiesen bekam, den sie fertigstellen mußte. Wenn die cherekischen Freibeuter an Land gingen, wartete somit stets eine Legion auf sie. Die Vorteile für das Kaiserreich, die durch diesen schlichten Plan erzielt wurden, waren ungeheuer: Eine gute Straße wurde gebaut; die vom Garnisonsleben verweichlichten Legionen wurden wieder kampftüchtig; die Chereker wurden davon überzeugt, sich ihre Unterhaltung anderswo zu suchen, und der ungesunde Einfluß einer müßigen Soldateska auf das politische, gesellschaftliche und moralische Leben der Städte wurde beseitigt. Nachdem Scharen junger Offiziere und gemeiner Soldaten, die das militärische Leben nun nicht mehr anziehend fanden, ihren Dienst quittiert hatten, trat ein neuer, zäherer Menschenschlag in die Legionen ein, und der Dienst wurde erheblich verbessert. Da die Vorteile, die Legionen zur Arbeit abzustellen, so offensichtlich waren, schufen die Borune-Kaiser ein ausgedehntes Straßennetz, das sämtliche Teile Tolnedras umfaßte. Diese Aufgabe sollte das Militär für die nächsten tausend Jahre beschäftigen. Ebenfalls unter der ERSTEN BORUNISCHEN DYNASTIE wurde der Diplomatische Dienst ins Leben gerufen. Zunächst bestand der Dienst lediglich aus Kaufleuten, die jedoch rasch durch Berufsdiplomaten ersetzt wurden, deren Geschick bei der schwierigen Handhabung der Beziehungen zwischen Tolnedra und oftmals weniger zivilisierten Nationen legendär ist. Als Beweis dafür mag die Tatsache gelten, daß es in den letzten Jahren der langwierigen Grenzstreitigkeiten zwischen den mimbratischen Arendern, die nach der Beherrschung des Waldes von Vordue
strebten, und dem Reich, welches darauf beharrte, daß der Arendfluß die nördliche Grenze darstellte, ununterbrochen eine ständige Gesandtschaft in Vo Mimbre gab. Einen weiteren Beweis für die Brillanz des Dienstes mag man darin erkennen, daß Tolnedra während des gesamten arendischen Bürgerkriegs vollständige diplomatische Beziehungen zu den drei zerstrittenen arendischen Parteien pflegte und ständige Gesandtschaften in Vo Mimbre, Vo Astur und Vo Wacune unterhielt. Das oberste Ziel der tolnedrischen Politik (will heißen, der borunischen Politik) im Verlauf des gesamten arendischen Bürgerkriegs bestand darin, so weit wie möglich ein Machtgleichgewicht zwischen den drei einander befehdenden Herzogtümern aufrecht zu erhalten. Solange Arendien zerstritten blieb, blieb Tolnedras Nordgrenze sicher. Als ein Philosoph dem Kaiser Ran Borune XXII. eine förmliche Beschwerdeschrift des Inhalts vorlegte, wie unmoralisch es sei, Krieg und unvorstellbares menschliches Leid in Arendien nur um eines tolnedrischen Vorteils willen zu schüren, entgegnete der Kaiser verbindlich: »Aber das ist Politik, mein lieber Freund, und Politik hat nichts mit Moral zu tun. Man wäre klug beraten, beides stets auseinanderzuhalten. Moral beschäftigt sich mit dem, was wir vielleicht gerne tun würden, die Politik hingegen mit dem, was wir tun müssen. Zwischen Moral und Politik besteht nicht die geringste Verbindung.« Die Diplomatie der Boruner machte ihren Weg auch in den Norden und begründete Beziehungen zu den Cherekern und Drasniern in Val Alorn und Boktor. Die Chereker ließen sich schließlich überzeugen, ihre Überfälle auf die tolnedrischen Schiffe im Meer der Stürme aufzugeben, und bald entwickelte sich ein gesunder Dreiweg-Handel. Waren aus Drasnien wurden auf cherekischen Schiffen von Kotu durch den Golf und die Enge von Cherek zum Hafen von Camaar im heutigen Sendarien transportiert, um dort auf tolnedrische Schiffe verladen zu werden. Die drei Nationen zogen ungeheure Gewinne aus dieser
Übereinkunft, und die Chereker fanden schnell heraus, daß man mit ehrlichem Handel mehr verdienen kann als mit Piraterie. Das Problem des Handels mit der Insel der Winde hingegen war wesentlich schwieriger. Die Chereker setzten ihre Blockade des Hafens von Riva aus Gründen fort, die größtenteils unklar blieben. Man vermutete allgemein, daß die Insel entweder eine cherekische Kolonie oder ein cherekisches Protektorat war, doch im Lichte heutiger Erkenntnis scheint keine dieser Vermutungen zutreffend gewesen zu sein. Obwohl die Rivaner Alorner sind – wie die Chereker, die Drasnier und die Algarer –, sieht es eher so aus, als wären sie ein von Cherek unabhängiges Volk. Die Blockade, die Generationen von tolnedrischen und sendarischen Kaufleuten sehr zu schaffen machte, scheint irgendeine religiöse, für tolnedrische Diplomaten unverständliche Bedeutung gehabt zu haben. In den Erlässen von Val Alorn im Jahre 3097 wurde die Blockade endlich als Teil jenes brillant konzipierten Vertrags, der die Beziehungen zwischen Cherek und Tolnedra normalisierte, aufgehoben, und tolnedrische Schiffe liefen den Hafen von Riva an. Man war allgemein davon ausgegangen, daß die Rivaner ein stillschweigender Vertragspartner der Erlässe von Val Alorn gewesen seien, doch es stellte sich rasch heraus, daß dem nicht so war. Kaufleute landeten an der Felsküste dieses unwirtlichen Eilands, nur um sich den düsteren und unbezwingbaren Wällen der Festung von Riva gegenüberzusehen. Das Tor der Festung blieb verschlossen, und die Rivaner weigerten sich, die Anwesenheit der Händler zur Kenntnis zu nehmen. Es war der letzte Borune-Herrscher, der den katastrophalen Angriff auf die Stadt befahl, womit er vielleicht den Beweis dafür antrat, daß selbst das edelste Geschlecht mit der Zeit degeneriert. Fünf Legionen wurden gegen Riva eingesetzt, um das Tor der Stadt zu bezwingen, und in der Bucht trieb sich eine Horde von Kauffahrern herum, die das Öffnen des Tors erwartete. Der tolnedrische Charakter, das darf man an dieser Stelle wohl einmal
anmerken, hat etwas entschieden Ungesundes. Während der durchschnittliche Tolnedrer für gewöhnlich ein vernünftiger, verläßlicher Mensch ist, kann er doch gleichsam zur Bestie werden, wenn man seinem Händlertrieb die Befriedigung verweigert. Es hat Fälle gegeben, daß Kaiserliche Truppen eingesetzt wurden, um Handelsbeziehungen zu starrköpfigen Völkern zu eröffnen, und dabei hat man Kaufleute beobachtet, die in ihrer unvernünftigen Gier, die ersten zu sein, tatsächlich vor den Legionen herliefen, ihre Waren schwenkten und sie den verdutzten feindlichen Kriegern aufzudrängen versuchten. Diesem Trieb – der Habgier, wenn Ihr so wollt – war es zuzurechnen, daß die Katastrophe vor Riva dermaßen verheerende Ausmaße annahm. Beim ersten Angriff der Legionen auf das Stadttor machten die Rivaner einen Ausfall und vernichteten nicht nur systematisch die fünf Legionen, sondern auch jedes einzelne Schiff im Hafen. Die Verluste an Menschenleben und Handelsgütern waren unschätzbar. Als Ran Borune XXIV. in Tol Honeth davon Nachricht erhielt, wollte der letzte Borune-Kaiser in einem Anfall rasender Wut die gesamte Streitmacht des Reichs gegen die Rivaner werfen. Er wurde jedoch jäh von einer schroffen Note des cherekischen Botschafters zur Besinnung gebracht. »Majestät«, lautete sie. »Wisset, daß Alorien keinen Angriff auf Riva hinnehmen wird. Die Flotten Chereks, deren Masten so zahlreich sind wie die Bäume im Wald, werden über Eure Flotille herfallen, und die Legionen Tolnedras werden von der Landspitze Arendiens bis in fernste Gegenden des Meers der Stürme als Fischfutter dienen. Die Bataillone Drasniens werden gen Süden marschieren, alles auf ihrem Weg niederwalzen und Eure Städte belagern. Die Reiter Algariens werden über die Berge fluten und Euer Reich von Süden nach Norden mit Feuer und Schwert verheeren.
So wisset denn: An dem Tag, da Ihr Riva angreift, werden die Alorner Euch mit Krieg überziehen. Ihr werdet gewiß zugrunde gehen, und Euer Reich mit Euch.« Bestürzt über die schreckliche Endgültigkeit der Note, besann Ran Borune sich eines Besseren. Das Überfliegen des Dokuments, in dem die genauen Bestimmungen der Vereinbarungen von Val Alorn niedergelegt waren, brachte eine Klausel zu Tage, die bislang als leere Wortklauberei gegolten hatte, deren wahre Bedeutung nun jedoch erschreckend klar wurde. Die Klausel ›doch Alorien wird Riva jederzeit unterstützen und es unversehrt erhalten‹ offenbarte die Tatsache, daß die alornischen Königreiche in eine Art Konföderation oder Überstaat eingebunden waren. So kam es, daß ein Vertrag mit Cherek keineswegs auch ein Vertrag mit Alorien war; und wenn Cherek auch versprochen hatte, keinen Krieg gegen Tolnedra zu führen, so hatte Alorien kein solches Versprechen abgegeben. Mit Mühe könnten die Legionen einen erfolgreichen Krieg gegen eins der alornischen Königreiche führen, doch wenn diese Königreiche sich zusammenschlossen, waren sie unbesiegbar. Und so kam es, daß der Plan einer Strafexpedition gegen die Rivaner rasch fallengelassen wurde. Mit der Zeit rückten die Rivaner ein wenig von ihrer starren Haltung ab und erlaubten den Bau einer Handelsenklave vor den Stadtmauern, und die Kaufleute des Westens waren gezwungen, sich mit diesem einen Zugeständnis zufrieden zu geben, wenn auch zähneknirschend. So endete die ERSTE BORUNISCHE DYNASTIE. Ihre Errungenschaften waren im wahrsten Sinne des Worte schwindelerregend, und wenn sie auch mit einem etwas demütigenden Akkord ausklang, so ist sie nichtsdestotrotz eine der mächtigsten Dynastien in der gesamten Geschichte des Reichs gewesen.
DIE DRITTE HONETHITISCHE DYNASTIE 3155 – 3497 (342 Jahre, 17 Kaiser) Das Gerangel um den Thron am Ende der ERSTEN BORUNISCHEN DYNASTIE bezeichnete den Tiefpunkt der tolnedrischen Politik. Bestechung genügte nicht mehr, und die miteinander konkurrierenden Kandidaten kauften offen die Stimmen des Konzils. Darüber hinaus wurde weithin vermutet (und allgemein als wahr erachtet), daß sie sich sogar zu Mord herabließen, um ihr Ziel zu erreichen. Die Mehrheit im Konzil wechselte ständig, da Mitglieder, deren Stimme durch den einen oder anderen Kandidaten gekauft worden war, ziemlich plötzlich erkrankten, aus unerfindlichen Gründen starben und ihre Ersatzmänner schamlos gekauft wurden, bevor sie noch Tol Honeth erreicht hatten. Der Einzug von nyissanischen Giften in die tolnedrische Politik war erschreckend deutlich. Am Ende siegten die Honethiter – nicht aufgrund besonderer Tugenden, sondern weil sie die reichste Familie waren und sich die meisten Stimmen kaufen konnten. Der vielleicht sprechendste Beweis für die Unfähigkeit der Honethiter offenbart sich darin, daß während der gesamten Dauer der DRITTEN HONETHITISCHEN DYNASTIE nicht eine einzige Vereinbarung und kein einziger Vertrag mit einer fremden Macht geschlossen wurde, der die Position des Reichs verbessert hätte. In der Tat könnte man im Hinblick auf die Nördlichen Vereinbarungen zwischen Drasnien und Gar og Nadrak, welche die nördliche Karawanenroute mit einem drasnischen Monopol an ihrem westlichen Endpunkt ins Leben riefen, mit Fug und Recht behaupten, die Position des Reichs habe sich während der Herrschaft dieser Dynastie tatsächlich verschlechtert.
Anstatt sich auswärtigen Angelegenheiten und der Verbesserung der innenpolitischen Verhältnisse in Tolnedra zu widmen, wie die Borune-Kaiser es getan hatten, plünderten die Honethiter schamlos die Kaiserliche Schatzkammer und verkauften Ämter und Machtstellungen an den Meistbietenden. Im Ausland dauerte der arendische Bürgerkrieg endlos fort, und die Verhandlungen mit Drasnien und Algarien kamen nur im Schneckentempo voran, was sich in hohem Maße auf die unverhüllte Gier einer langen Reihe von Honethite-Kaisern zurückführen läßt, die unerbittlich ihren persönlichen Vorteil in jedem Vertragsentwurf suchten. DIE ZWEITE BORUNISCHE DYNASTIE 3497 – 3761 (264 Jahre, 12 Kaiser) So kam es, daß beim Tode Ran Honeths XVII. der im Jahre 3497 kinderlos starb, sich das Volk von Tolnedra nahezu einmütig an die Boruner wandte. Bestimmte Konzilsmitglieder hatten eingedenk der gewaltigen Vermögen, die im Verlauf des unziemlichen Ringens während des letzten Dynastiewechsels angehäuft worden waren, erklärt, daß ihre Stimmen zum Verkauf stünden. Prompt wurden sie von der Bürgerschaft der Stadt Tol Honeth ermordet. Ein gewaltiger Mob sammelte sich vor der Kammer des Konzils und nahm einen donnernden Schlachtruf auf: ›Bo-ru-ne, Bo-ru-ne, Bo-ru-ne!‹ Er gab dem Konzil einen schrecklichen Vorgeschmack darauf, wie sein Schicksal aussehen würde, falls ein anderer Namen zum Tempel des Nedra getragen würde. Es war das erste Mal in der Geschichte, daß das gewöhnliche Volk aktiv Einfluß auf die Wahl eines Kaisers genommen hatte.
Getreu ihrem Ruf machten die Boruner sich umgehend daran, den Schaden wiedergutzumachen, den die Honethiter angerichtet hatten. Erneut wurden die Legionen an die Arbeit geschickt, um Straßen und Stadtmauern zu errichten und lange überfällige Reparaturen an Kaianlagen, Molen und Deichen vorzunehmen. Das gewohnte Murren verstummte schlagartig, als sieben Legionskommandanten hingerichtet wurden, weil sie sich geweigert hatten, dem direkten Kaiserlichen Befehl zu gehorchen, aus. ihren Garnisonen in die Baulager zu ziehen. In der auswärtigen Politik brachten die Boruner die Verhandlungen mit den Drasniern zu einem raschen Abschluß, und der Vertrag von Boktor wurde im Jahre 3527 unterzeichnet. Obwohl er den tolnedrischen Kaufleuten nicht den erhofften Vorteil verschaffte, eröffnete er ihnen doch den Zugang zum einträglichen Nordhandel. In einem bis dahin unerhörten Schachzug verlegten die Boruner zwanzig Legionen nach Sendarien, um als ›Geste des guten Willens‹ jenes Netz von Hauptverbindungsstraßen zu errichten, das Sendar und Camaar mit Darine am Golf von Cherek verband. Diese Unternehmung sorgte in Val Alorn für böses Blut, doch der König von Cherek (dem Sendarien zu jener Zeit nominell gehörte) erkannte rasch, daß die Verbesserungen in Sendarien das Steueraufkommen in diesem Distrikt enorm vergrößern würden, und das ganz ohne Kosten für den cherekischen Staatshaushalt. Die von den Legionen erbaute Haupthandelsstraße brach wirkungsvoll das cherekische Monopol für den Warentransport zwischen Boktor und Camaar. Die Tatsache, daß die cherekischen Schiffe die einzigen waren, die zum damaligen Zeitpunkt die wilden und trügerischen Strömungen der Enge von Cherek meistern konnten, stellte nicht mehr das beherrschende Faktum im Nordhandel dar. Nun war es sendarischen Kauffahrern möglich, die Küstenroute von Kotu nach Darine zu nehmen und die Waren dann über Land auf der neuen Handelsstraße nach Camaar zu schaffen. Die Vergrößerung des
Handelsaufkommens und das Sinken der Preise, die aus der Entwicklung dieser heilsamen Konkurrenz resultierten, gaben dem Wirtschaftsleben aller beteiligten Nationen einen ungeheuren Auftrieb. DIE ERSTE HORBITISCHE DYNASTIE 3761 – 3911 (150 Jahre, 6 Kaiser) Tolnedra hat es der Weisheit des betagten Ran Borune XII. zu verdanken, des kinderlosen letzten Kaisers der ZWEITEN BORUNISCHEN DYNASTIE, daß der Übergang der Macht auf die Horbiter am Ende seiner Regierungszeit so glatt verlief. Notorische Neuerer, nahmen die Boruner zum erstenmal in der Geschichte direkten Einfluß auf die Wahl ihrer Nachfolger. Der Name von Ran Horb I. wurde zum Tempel getragen, bevor der alte Kaiser starb. Obwohl wiederum bestimmte Mitglieder des Konzils die vertane Gelegenheit beklagten, ihre Stimmen zu versilbern, wurde Ran Borune XII. vom Volk so sehr geliebt, daß niemand sich ihm zu widersetzen wagte. Auf diese Weise haben wir den Borunern gewissermaßen für den vielleicht größten Kaiser zu danken, den Tolnedra je besaß. Wenngleich Ran Horb I. gewiß ein tüchtiger und energischer Kaiser war, ist es doch sein Sohn, Ran Horb II. dessen Errungenschaften jede Einbildungskraft übersteigen. Da Ran Horb I. spät im Leben heiratete, war Ran Horb II. erst siebzehn, als er den goldenen Thron bestieg. Man ging allgemein davon aus, daß seine Jugend es den älteren und erfahreneren Mitgliedern des Hofes erleichtern würde, ihn zu gängeln und zu täuschen. Diese Annahme erwies sich bald als unrichtig. Im Jahre 3793 schloß der junge Kaiser den Geheimvertrag der Ebene mit den mimbratischen Arendern.
Der Einsicht folgend, daß der endlose Bürgerkrieg in Arendien ein Hemmnis für die Entwicklung des Westens und eine ernsthafte Störung des Handels darstellte, schlug der Kaiser sich auf die Seite des Schwächeren, der Mimbrater, und beteiligte sich an der endgültigen Vernichtung der asturischen Arender. Der Kaiser ließ in Cherek und Algarien bekanntgeben, daß die von den Borunern in Sendarien für den Straßenbau stationierten Legionen die Unternehmungen der Räuber gegen das nördliche Arendien nicht mehr behindern würden. Mit derart zersplitterten Kräften waren die Asturier weder den mimbratischen Rittern, die über die Südgrenze Asturiens angriffen, noch dem Ablenkungsmanöver einer tolnedrischen Heersäule an der Küste gewachsen. Dann begann in Arendien ein Zermürbungskrieg gegen die Asturier, der beinahe zwanzig Jahre dauerte. Mittlerweile schlossen Kaiserliche Unterhändler auf Drängen des Kaisers die Algarische Vereinbarung mit Cho-Dorn dem Älteren, dem Häuptling der Häuptlinge des Pferdevolks. Die Vereinbarung rief unter den Handelsfürsten von Tolnedra eine Welle der Bestürzung hervor, da nicht der geringste Handelsvorteil erzielt wurde. Obwohl in Kaufmannskreisen vehement geleugnet, machte das einzige Zugeständnis, das der Kaiser erreicht hatte, den Vertrag vielleicht wertvoller als jede andere Vereinbarung: die Erlaubnis, die Große Nordstraße quer durch Algarien bis hin zur Südgrenze Drasniens anzulegen. Dies ermöglichte erstmalig eine direkte Landverbindung nach Boktor. Den Legionen wurde gestattet, zum Zweck des Straßenbaus den Fuß auf algarischen Boden zu setzen. Wie der Kaiser einmal so treffend zu einem murrenden Kaufmann bemerkte: »Ich würde das Pferdevolk – selbst wenn es zehnmal so zahlreich wäre – jederzeit für eine Überlandverbindung nach Boktor eintauschen.« Wenn man das Volumen des Handelsverkehrs veranschlagt, der aus dem Osten nach Drasnien kommt, kann man nur mit der Weisheit unseres größten Kaisers konform gehen.
Im Jahre 3822 fiel Vo Astur, der Sitz der asturischen Arender, unter dem Angriff der Mimbrater, und wie Vo Wacune wurde die Stadt dem Erdboden gleichgemacht. Die Mimbrater jedoch waren durch diesen letzten Kampf entscheidend geschwächt, auch wenn sie den Sieg errungen hatten und ihren Herzog zum ersten unangefochtenen König von Arendien krönen konnten. Die Beschränkungen, die der Kaiser den Arendern für die tolnedrische Hilfe bei der Vernichtung der Asturier auferlegte, machte sie praktisch zu einem unterworfenen Volk. Obwohl es an den stolzen Mimbratern nagte, waren sie doch zu schwach, um Einspruch zu erheben; ihr neuer König hatte ohnedies andere Probleme. Obwohl sie besiegt und Vo Astur zerstört worden war, gab es doch noch asturische Arender im Norden. Sie zogen sich in die weglosen Tiefen des arendischen Forstes zurück und begannen einen Guerillakrieg, der die Macht der mimbratischen Könige tausend Jahre lang unterhöhlen sollte. Natürlich hätte nichts den tolnedrischen Zwecken besser dienen können. Die offenen Feldschlachten und kostspieligen Kriegszüge, die das Reisen in Arendien so gefährlich gemacht hatten, gehörten der Vergangenheit an, und an ihre Stelle waren die Hau-drauf-undlauf-weg-Taktik der Asturier und die vergeblichen ›Strafexpeditionen‹ der Mimbrater in den finstren Tann getreten. Der Kaiser erzielte ein Geheimabkommen mit den Asturiern, das Bewegungsfreiheit entlang der Großen Weststraße garantierte, welche die Legionen in südlicher Richtung durch ihren Wald verlegten. Zur gleichen Zeit errichteten andere Legionen in Übereinstimmung mit dem Vertrag von Tol Vordue den südlichen Abschnitt der Straße nördlich des Arendflusses. Obwohl die Große Weststraße und die Große Oststraße über ein Jahrhundert lang auf ihre Vollendung warten mußten, war das übergeordnete Ziel nunmehr klar. Wenn diese Großprojekte beendet sein würden, wäre es möglich, auf dem Landweg von Tol Honeth nach Camaar, von Camaar nach Boktor und sodann auf der
Nördlichen Karawanenstraße von Boktor nach Yar Marak und Thull Zelik in den Königreichen der Angarakaner zu reisen. Die Macht Tolnedras hatte ihren Zenit erreicht. Ran Horb 11. war tatsächlich der mächtigste Mann der Welt. Durch Kaiserliches Dekret gründete er im Jahre 3827 das Königreich Sendarien an der Nordwestküste. Als bestimmte Kaufleute im Norden lauthals Einwand erhoben, wies er sie darauf hin, daß es wirkungsvoller und bei weitem weniger kostspielig sei, den Sendarern zu gestatten, sich selbst zu regieren, als zu versuchen, ein Land zu verwalten, das fünfhundert Leagues von unserer Nordgrenze entfernt lag. »Laßt die Sendarer den Ärger genießen, den es mit sich bringt, sein eigenes Land zu regieren«, sagte der Kaiser. »Solange wir die richtigen Handelsabkommen mit ihnen haben, werden wir durch unsere Großzügigkeit kaum etwas verlieren.« Im Herbst seines Lebens schloß Ran Horb II. nun weit über die Achtzig, die Vereinbarung von Sthiss Tor, die den Handelsbeziehungen mit Nyissa einen festen Rahmen gab; und mit einem seiner überraschendsten Schachzüge unterzeichnete er die Übereinkunft von Rak Goska, die den Grundstein für die Südliche Karawanenstraße durch die Berge von Cthol Murgos legte. Bald wäre es einem Mann mit einem guten Pferd möglich, von Tol Honeth nach Boktor im Norden zu reiten, in Yar Marak das Meer des Ostens zu überqueren, dann südlich nach Rak Goska weiterzureiten, das Gebirge zu überqueren und wieder nach Tol Honeth zurückzukehren. Seine letzten Worte auf dem Totenbett an seinen Sohn Ran Horb III. lauteten: »Halte die Straßen in Ordnung. Solange die Straßen in Ordnung sind, beherrscht Tolnedra die Welt.« Und so war es. Die späteren Kaiser der HORBITISCHEN DYNASTIE widmete sich ganz der Vervollständigung des Straßensystems, durch das Tolnedra zur ersten Macht im Westen wurde. Sonst war kaum etwas zu tun.
DIE ERSTE RANITISCHE DYNASTIE 3911 – 4001 (90 Jahre, 7 Kaiser) Die unselige ERSTE RANITISCHE DYNASTIE kam nach dem Tod des letzten Horbiter-Kaisers an die Macht. Das Verdikt, das die Geschichte über diese Unglücklichen spricht, ist vielleicht zu hart. Eine Erbkrankheit in ihrem Geschlecht streckte sie unerbittlich in der Blüte ihrer Jahre nieder. So kam es, daß kein einziger RaniterKaiser lange genug lebte, um irgend etwas von Bedeutung zustande zu bringen. Die Geschichte betrachtet die Raniter infolgedessen zu Recht als eine reine Übergangslösung. DIE DRITTE VORDUVISCHE DYNASTIE 4001 – 4133 (132 Jahre, 3 Kaiser) An der Wende zum fünften Jahrtausend konnten sich die Vorduvier erneut des Kaiserlichen Throns bemächtigen. Da Tol Vordue einer der größten Seehäfen ist, waren die Vorduvier stets der Ansicht, der Seehandel sei dem Überlandhandel vorzuziehen, und während des gut einen Jahrhunderts ihrer Herrschaft verfielen die Straßen Ran Horbs II. und die Macht des Reichs schwand. Kaum hatten die Vorduvier den Thron in Tol Honeth bestiegen, als es zu einem jener umwälzenden Ereignisse in der Geschichte des Westens kam. Der rivanische König Gorek der Weise wurde in Riva von einer Abordnung nyissanischer Händler ermordet, die gemäß den Befehlen ihrer Königin Salmissra von Nyissa handelten. Ran Vordue I. mußte beinahe ohnmächtig zusehen, wie die Welt um ihn
herum im wahrsten Sinne des Wortes in die Brüche ging. Die schreckliche Drohung, die seit den Tagen des letzten Boruners in den geheimsten der geheimen Räte in Tol Honeth in der Luft hing, wurde zur gräßlichen Gewißheit – die Alorner zogen gemeinsam in den Krieg. Alorien existierte tatsächlich. Der Kriegszug der Alorner gegen Nyissa war kurz und schmerzhaft. Angesichts der üblen Laune unserer nördlichen Freunde entschloß Ran Vordue sich klugerweise, weder gegen die Verletzung des tolnedrischen Hoheitsgebiets zu protestieren, welche die nach Süden marschierenden Heersäulen der Algarer und Drasnier begingen, noch die Anwesenheit riesiger cherekischer Flottenverbände in unseren Hoheitsgewässern zur Kenntnis zu nehmen. Als der Krieg vorüber war und Nyissa praktisch zu existieren aufgehört hatte, hielt ganz Tolnedra buchstäblich den Atem an. Die Laune der Alorner war mehr als schlecht; zudem hatten sie eine Befähigung zu langwierigen und koordinierten militärischen Aktionen an den Tag gelegt, die ihnen niemand zugetraut hätte. Wenn es ihnen gefallen hätte, sich von Nyissa aus gen Norden zu wenden, hätte die gesamte Streitmacht Tolnedras sie nicht aufhalten können. Das Schicksal der zivilisierten Welt hing von der Laune des barbarischen Königs von Alorien ab. Mit ungeheurer Erleichterung verfolgte Tolnedra daher die Rückkehr der drasnischen und algarischen Kontingente durch das Gebirge ins Aldurtal sowie das schnelle Vorüberziehen der schlanken schwarzen Kriegssschiffe Chereks entlang unserer Küste in nördlicher Richtung. In den Jahren, die auf den Krieg der Alorner gegen Nyissa folgten, kam es zu Unruhen im Westen. Die alornischen Könige schienen besorgt und versammelten sich häufig zu Beratungen in Riva. Ohne die feste Hand ihrer Könige, die sie kontrolliert hätte, verletzten die rohen Alorner oft die Abmachungen vieler ihrer Verträge und Vereinbarungen mit Tolnedra. Kaiserliche Botschafter, die zu protestieren versuchten, wurden häufig mißachtet oder mit barschen
Worten zurückgeschickt. Die vorduvischen Kaiser schienen machtlos, die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen. DIE ZWEITE HORBITISCHE DYNASTIE 4133 – 4483 (350 Jahre, 16 Kaiser) Während der ZWEITEN HORBITISCHEN DYNASTIE zeichnete sich die ganze Bedeutung der Südlichen Karawanenstraße im tolnedrischen Handel ab. Nach einem scheinbar plötzlichen Gesinnungswandel bekundeten die wortkargen Murgos sozusagen über Nacht ein ausgeprägtes Interesse am Handel mit dem Westen, und bald zogen Karawanen in beiden Richtungen auf der Südlichen Karawanenstraße hin und her. Murgos, Thulls und hin und wieder Nadraker wurden zu einem alltäglichen Anblick in den Straßen von Tol Honeth. Darüber hinaus erschienen sie in Vo Mimbre, Camaar und Sendar. Diese gesunde Ausweitung der Ost-West-Beziehungen mittels der Südlichen Karawanenstraße glich den Rückgang des Handels aus, den die Umwälzungen in den alornischen Königreichen mit sich brachten. Die herausragende diplomatische Errungenschaft der ZWEITEN HORBITISCHEN DYNASTIE war die Gesandtschaft nach Ulgoland und der letztendliche Abschluß des Vertrags von Prolgu – obwohl uns, um ehrlich zu sein, bis zum heutigen Tage nur wenig Handelsvorteile aus dem streng begrenzten Warenaustausch mit den Ulgos erwachsen sind. Der Erfolg läßt sich eher in Wissenserweiterung als in klingender Münze veranschlagen.
Es war übrigens die Aufnahme von Beziehungen zu den geheimnisvollen Ulgos, die den theologischen Streit entfachte, der in den Königreichen des Westens jahrhundertelang toben sollte. (Für weitere Informationen siehe die Geschichte der Ulgos.) DIE ZWEITE RANITISCHE DYNASTIE 4483 – 4742 (259 Jahre, 17 Kaiser) Die ZWEITE DYNASTIE der kurzlebigen RANITER sah einen enormen Anstieg des Handels zwischen Tolnedra und Cthol Murgos. Oder, wie ein Kaufmann verbittert bemerkte: »Man kann nirgendwo mehr hingucken, ohne einen Murgo zu sehen.« Wenn das auch übertrieben sein mag, so steht doch zweifelsfrei fest, daß man auf praktisch allen Straßen des Reichs murgosische Kaufleute zu Gesicht bekam. Ja, es war nicht einmal ungewöhnlich, ihnen in Arendien und sogar im abgeschiedensten sendarischen Dorf zu begegnen. Seltsam war allerdings, daß kein Murgo, soweit wir es beurteilen können, je eines der alornischen Königreiche besucht oder je versucht hat, nach Ulgoland vorzudringen. Allmählich stabilisierte sich die Lage im Norden, und der Handel ging wieder seinen gewohnten Gang. Dies waren vielleicht die goldenen Tage des Westens. Mit Ausnahme des Zwists in Arendien im Norden unseres Landes gab es fast keinerlei Konflikte. Der Warenverkehr floß ohne Hindernisse nach Osten und Westen, sowohl auf der Nördlichen als auch auf der Südlichen Karawanenstraße, und Tolnedra profitierte nahezu von jeder Transaktion. Die Ranitischen Kaiser waren zu sehr mit ihren gesundheitlichen Problemen beschäftigt, um sich auf irgendwelche Kaiserlichen Abenteuer einzulassen, und eine tüchtige und
gewissenhafte Bürokratie entwickelte sich, die die Straßen und Häfen instandhielt, Abgaben und Bestechungsgelder festsetzte und sich im allgemeinen um die tausend Kleinigkeiten der alltäglichen Regierungsgeschäfte kümmerte, auf denen die Stabilität des Reichs ruht.
DIE DRITTE BORUNISCHE DYNASTIE 742 bis zur Jetztzeit (626 Jahre, 23 Kaiser) Nach dem Tod des letzten ranitischen Kaisers wandte Tolnedra sich erneut den Borunern zu. Man kann lediglich feststellen, daß Nedra, wenn er auch bei manchen Kaiserwahlen geschlafen haben muß, bei Seiner Entscheidung für die Boruner als unsere Führer durch die unruhigen Zeiten des ausgehenden fünften Jahrtausends gewiß mit uns gewesen ist. Die Regierungsjahre der ersten drei Borune-Herrscher waren eine friedliche Zeit, wie unter den ranitischen Kaisern. Ran Borune IV. wurde gekrönt, und zehn Jahre lang schien alles in bester Ordnung zu sein. Dann, im Jahre 4864, schlossen die Murgos plötzlich und
ohne jede Erklärung die Südliche Karawanenstraße, und die Nadraker schränkten auf der Nördlichen Karawanenstraße die Warenbewegungen nach Osten weitgehend ein. Im folgenden Jahr wurden die Gründe für dieses Vorgehen schmerzhaft deutlich. Im Frühling des Jahres 4865 fielen die Angarakaner in Drasnien ein. Die Vorhut ihrer Invasionsarmee bildeten Nadraker, Thulls und Murgos, und nach ihnen kamen in einem Menschenmeer, das sich von Horizont zu Horizont erstreckte, die Horden der Malloreaner. Im Zentrum des Kriegsheers, im wahrsten Sinne des Wortes auf Tausenden von Schultern getragen, befand sich der gewaltige schwarze Eisenpavillon, in dem der gefürchtete Kal-Torak persönlich einherzog. Die Geschichte ist sich bezüglich des genauen Verhältnisses von Kal-Torak und den anderen angarakanischen Königen im unklaren, doch es besteht kein Zweifel daran, daß Kal-Torak von Mallorea mit beinahe gottähnlicher Machtvollkommenheit herrschte. Die zivilisierte Welt wurde mit Schaudern und Entsetzen Zeuge der Zerstörung Drasniens. Obwohl die anderen alornischen Nationen ihren Vettern zu Hilfe zu eilen versuchten, blieben ihre Bemühungen doch vergeblich. Rasch zeichnete sich ab, daß KalTorak als Zerstörer und nicht als Eroberer kam. Die Städte von Boktor und Kotu wurden buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht, und die kleineren Städte Drasniens und die Dörfer wurden in Schutt und Asche gelegt. Schlimmer noch, die Bevölkerung dieser blühenden nördlichen Nation wurde systematisch ausgerottet. Die wenigen Gefangenen wurden den Grolim-Priestern in ihren düsteren Roben und stählernen Masken für jene unaussprechlichen Menschenopfer übergeben, die ein integraler Bestandteil der angarakanischen Religion sind. Einige wenige aufgeriebene und blutige Einheiten der hervorragenden drasnischen Armee entkamen nach Süden, nach Algarien, und wenige andere wurden von cherekischen Kriegsschiffen von den Inseln in der Mündung des Aldurflusses
aufgegriffen, doch die Masse der Armee wurde förmlich begraben unter den ungezählten Horden der Malloreaner, die das Land überfluteten. Jene Bewohner, die nicht niedergemetzelt oder gefangengenommen worden waren, flohen nach Nordwesten in die unbewohnten Regionen der drasnischen Steppen oder in die ausgedehnten Sumpfgebiete um die Mündung des Mrinflusses. Ein paar Überlebende, die nach Norden flohen, gelangten über den Fluß Dused im hohen Norden und von dort die Küste entlang nach Val Alorn in Cherek. Für diejenigen jedoch, die Zuflucht in den Sümpfen und Marschen gesucht hatten, bestand wenig Hoffnung auf Überleben. Nachdem Drasnien vernichtet worden war, wandten die Angarakaner sich gen Süden und griffen Algarien an. Hier jedoch trafen sie auf einen anders gearteten Gegner. Algarische Reiter, die beste Kavallerie der Welt, störten unablässig die Flanken des Kriegsheeres und übersäten die algarischen Steppen mit angarakanischen Toten. Zur Vergeltung – oder vielleicht auch als Teil eines festumrissenen Plans – schlachteten die Angarakaner die algarischen Herden ab, sowohl Pferde als auch Rinder, und stopften sich mit ihrem Fleisch voll. Am Ende, nachdem sie sich bis zum Überdruß vollgefressen hatten, töteten sie die übrigen Tiere und ließen sie in der Sonne verfaulen. Der Himmel über Algarien war schwarz von Geiern und Raben, wo die Angarakaner vorübergezogen waren. Doch die Besetzung Drasniens war nicht mit der Algariens zu vergleichen. Mit Ausnahme der Rentierhirten im hohen Norden lebten die Drasnier in Städten und größeren Siedlungen wie jedes andere zivilisierte Volk. Die Algarer jedoch sind Nomadenreiter. Die algarische Zentralebene ist ein riesiges, unbewohntes Grasland. Eine solch unermeßlich weite Landschaft zu besetzen ist ein beinahe aussichtsloses Unterfangen. Die Algarer ließen die Horden KalToraks einfach vorbeiziehen, um ihnen dann in den Rücken zu
fallen und jene Stippangriffe zu führen, für die die Algarer in Lied und Legende so berühmt sind.
Obwohl das Kriegsheer auf seinem Marsch gen Süden furchtbare Verluste hinnehmen mußte, ließ Kal-Torak nicht von seinem Plan ab. Er belagerte die Feste, den traditionellen Sitz der algarischen Könige, der in Drasnien einer Stadt noch am nächsten kam. Die Feste der Algarer ist eine der uneinnehmbarsten Landfestungen der Welt, nicht weil das umliegende Gelände irgendwelche Schwierigkeiten geboten hätte, sondern schlicht aufgrund der unglaublichen Höhe und Dicke ihrer Mauern. Weil diese Mauern höher als die höchsten Bäume sind, kann man keine Sturmleitern bauen, die groß genug wären, die Wälle zu bezwingen, und weil die Mauern mehr als dreißig Fuß dick sind, vermag keine Belagerungsmaschine, sie einzureißen. Die Angarakaner warfen sich sechs Monate lang gegen diesen von Menschenhand aufgetürmten Berg, bis sie die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen einsahen und sich auf eine längere Belagerung und das Aushungern des Gegners einrichteten. Die Belagerung sollte acht volle Jahre dauern (4867-4875). Die Unbezwingbarkeit der algarischen Feste verschaffte dem Westen die Zeit, die er brauchte, um seine Truppen zu mobilisieren.
Im Frühling des Jahres 4875 wandte Kal-Torak, erbost über die Vergeblichkeit seiner Angriffe auf die Feste, sich nach Westen und begann seinen Marsch zum Meer. Wiederum wurde er von algarischen Reitern und nach Rache dürstenden drasnischen Infanterieeinheiten verfolgt. Im Gebirge traf er auf ein weiteres Problem. Des Nachts kamen die Ulgos aus ihren Höhlen hervor und schlachteten die schlafenden Angarakaner zu Tausenden ab. Eine zahlenmäßig stark verringerte Horde verließ das Gebirge auf der anderen Seite und überflutete die Ebenen Arendiens; dennoch war diese Horde immer noch gewaltig. Verläßliche Augenzeugen haben versichert, daß Kal-Torak seinen Angriff auf Vo Mimbre mit mindestens 250 000 Mann führte. Wenn man den Berichten aus Drasnien während der ersten Jahre der angarakanischen Invasion Glauben schenken darf, zählte das Kriegsheer anfänglich über eine halbe Million. Falls diese Zahlen der Wahrheit entsprechen, dürfen wir annehmen, daß die Kriegszüge in Drasnien und Algarien und die Überquerung des Gebirges über Ulgoland Kal-Torak beinah die Hälfte seiner Streitmacht kosteten. (Diese Rechnung läßt selbstverständlich die Besatzungstruppen, die in Drasnien zurückgelassen wurden, ebenso außer acht wie die erkleckliche Anzahl von Malloreanern, welche die Belagerung der algarischen Feste fortführten.) So also war die Bühne für den titanenhaften und blutigen Endkampf bereitet, den die Menschen die Schlacht von Vo Mimbre zu nennen pflegen. Kal-Torak hielt nur kurz inne, um sich nach der gefahrvollen Überquerung der Berge von Ulgoland zu erholen und seine Truppen neu zu sammeln; dann zog er sogleich am Arendfluß hinunter zur Stadt Vo Mimbre. Sofort wurde jedem klar, daß sein Ziel in Arendien dasselbe war wie in Drasnien – die totale Vernichtung der Nation und ihrer Menschen. Die gräßlichen Beweise dafür säumten seinen Weg den Arendfluß entlang. Greuel,
die zu scheußlich sind, als daß man sie in Worte zu fassen vermöchte, gehörten zu seiner üblichen Vorgehensweise. Als die Horde sich der Stadt Vo Mimbre näherte, bereitete der Westen sich auf die Entscheidungsschlacht gegen die Angarakaner vor. Die Vorbereitungen waren langwierig und schwierig gewesen, begleitet von schwerwiegenden Zweifeln bezüglich des Ausgangs. Kal-Torak schien unbesiegbar. Hinzu kam, daß man zwar davon ausging, er wolle nach Süden auf Tol Honeth vorstoßen; aber niemand konnte sicher sein, wo genau er aus dem Gebirge herauskommen würde. Deshalb mußten die Streitkräfte des Westens sich in Bereitschaft halten, bis Kal-Torak sich zur Schlacht stellen würde. Während der acht Jahre der Belagerung der Feste der Algarer hatten die Generäle des Westens Hunderte möglicher Schlachtfelder in Augenschein genommen und für jedes eine Strategie entwickelt. Es geschah im Verlauf dieser Vorbereitungen an der Kaiserlichen Militärakademie in Tol Honeth, daß das militärische Genie Brands hervortrat, des Wächters von Riva. Mit der Hilfe jenes ungleichen Paars, das ihn beriet, entwickelte er eine Strategie, die nicht nur die Geländegegebenheiten, sondern auch die jeweiligen Stärken der höchst unterschiedlichen Armeen des Westens ausnutzte.
ANMERKUNG
Zu dieser Zeit wurden gewisse diskrete Erkundigungen bezüglich der Identität von Brands Beratern angestellt, jedoch ohne Erfolg. Der Mann schien betagt, aber rüstig zu sein und besaß ein nahezu enzyklopädisches Wissen nicht nur über den Westen, sondern auch über die angarakanischen Königreiche. Die Frau,
eine auffallend schöne Dame mit einer die silbernen Schläfenlocke, besaß unheimliche Fähigkeit, Vor- und Nachteile einer jeden erdenklichen Situation klar zu erkennen. Obwohl ihre herrische Art viele Generäle vor den Kopf stieß, lernten sie doch rasch, ihrer Intuition in diesen Dingen zu vertrauen. Man nahm allgemein an, die beiden seien rivanische Adlige, doch Zeichnungen, die man heimlich während der langen Beratungen von ihnen anfertigte, zeigten, daß sie keine der Rassenmerkmale der Rivaner besaßen. Unglücklicherweise wird ihre Identität nun auf ewig in den dunklen Verliesen der Zeit verborgen bleiben. * Im Frühsommer des Jahres 4875 nahmen die Angarakaner Gefechtsformation für den Sturmangriff auf Vo Mimbre ein. Das war die Festlegung, auf die Brand und seine Armeen gewartet hatten. Obwohl tolnedrische Strategen lange Zeit geglaubt hatten, eine zweite angarakanische Streitmacht werde über die Südliche Karawanenstraße von Cthol Murgos nach Westen vorstoßen, und eine Kette von Festungen im Gebirge errichtet hatten, um dieser Bedrohung zu begegnen, erwiesen solche Befürchtungen sich als grundlos. Ganz wie die Frau, die Brand beriet, herausgestellt hatte: »Große Heere können nicht im Gebirge kämpfen – sie benötigen offenes Terrain. Und Torak ist zu hochmütig, um in einer Kriegslist Zuflucht zu nehmen. Er wird euch zermalmen, nicht überlisten.« Deshalb zog Kaiser Ran Borune IV. tatsächlich im letzten Moment
*
Dies ist eine jener ›internen Fußnoten‹, die ich eingangs erwähnte.
den Hauptteil seiner Streitmacht aus den östlichen Bergen von Tolnedra ab und verlegte seine Legionen zurück nach Tol Honeth. * Damals wurde zum erstenmal in der Geschichte ein gewaltiges Landheer über Wasser zum Ort des Kampfes transportiert. Eine riesige cherekische Flotte traf in Tol Honeth ein, und die Legionen gingen an Bord. Die schnellen cherekischen Schiffe verfrachteten die Legionen nedraneabwärts, nach Norden an der Küste entlang und von dort den Arendfluß hinauf bis zu einer Stelle zehn Leagues westlich von Vo Mimbre. Der zweihundert Leagues lange Gewaltmarsch von Tol Honeth nach Vo Mimbre hätte mehr als eine Woche gedauert, und die Legionen wären erschöpft auf dem Schlachtfeld eingetroffen. Die Chereker setzten frische Truppen am Nordufer des Arendflusses ab, beinahe in Sichtweite der Schlacht, die in zwei Tagen stattfinden sollte. Am Morgen des dritten Tages der Schlacht stießen die Truppen des Westens auf die der Angarakaner. Die Schlacht von Vo Mimbre ist bis ins kleinste Detail analysiert worden, und das Studium der Truppenbewegungen, die Gegenzüge, Aufmärsche und so weiter werden eingehend von der Fakultät des Amtes für Kriegskunst und – Wissenschaften dargestellt werden. Für den Historiker mag eine grobe Skizze genügen. Auf ein verabredetes Zeichen hin stürmten die mimbratischen Ritter aus der Feste heraus und griffen die angarakanische Horde frontal an. Dann, als die Angarakaner sich diesem Angriff zuwandten, griffen algarische Kavallerie, drasnische Infanterie und die Ulgo-Irregulären Kal-Toraks linke Flanke an; die tolnedrischen Legionen, unterstützt von den cherekischen Berserkern, griffen seine Rechte an. Von drei Seiten attackiert, warf Kal-Torak seine *
Das war, wie sich später herausstellen sollte, nur die halbe Wahrheit. Kal-Torak (kein anderer als Torak) hatte eine zweite Armee, doch sie kam von Süden, nicht von Osten, und wurde in der Wüste von Araga durch einen widernatürlichen Schneesturm aufgerieben.
Reserven in die Schlacht. Erst dann fielen die Rivaner, die Sendarer und die asturischen Bogenschützen von hinten über ihn her. Die Schlacht tobte stundenlang, und ihr Ausgang war noch ungewiß, als Brand Kal-Torak seine Herausforderung zum Zweikampf entgegenschleuderte. Das Duell war schlachtentscheidend. Der Verlust des Anführers hätte sein Heer dermaßen demoralisiert und durcheinandergebracht, daß der Sieg dem Überlebenden zufallen mußte. Am Ende taumelte Kal-Torak zurück, obgleich er der Stärkere von beiden zu sein schien, und Brand nutzte eine vorübergehende Verwirrung seines Gegners aus und streckte ihn nieder. Die führerlosen Angarakaner, umzingelt und demoralisiert, wurden im Anschluß von den vereinten Armeen des Westens systematisch niedergemacht. Die wenigen Einheiten, die dem Gemetzel entkamen, flohen über das Gebirge zurück, hoben die Belagerung der algarischen Feste auf und erreichten am Ende ihrer Kraft die Ödnis der Gebirgskette, welche die Grenze zwischen Algarien und Mishrak ac Thull markiert. Die Besatzungstruppen in Drasnien zogen sich nach Gar og Nadrak zurück, und der Krieg war zu Ende. Die Malloreaner waren in der Schlacht völlig aufgerieben, die Nadraker, Thulls und Murgos dermaßen dezimiert worden, daß sie nie wieder eine Bedrohung für den Westen darstellen würden. An diesem Punkt zog die größte Gefahr für Tolnedra auf. Die anderen Nationen des Westens, überwältigt von dem fulminanten Sieg, den Brand ihnen verschafft hatte, standen eine Zeitlang tatsächlich im Begriff, den rivanischen General zum Kaiser des Westens zu krönen. Nur den außergewöhnlichen Anstrengungen Mergons, des tolnedrischen Botschafters am Hof von Vo Mimbre, war es zu verdanken, daß diese Katastrophe abgewendet wurde. Zu guter Letzt stellte er das Gleichgewicht der Vernunft wieder her, und der Vorschlag wurde fallengelassen. Im Gegenzug erlegten die Könige des Westens Tolnedra indes eine demütigende Bedingung auf. Obwohl Brand selbst keine Neigung zu
einer solchen Zufallsheirat zeigte, beschlossen die versammelten Könige, daß der rivanische König die Hand einer Kaiserlichen Prinzessin zur Ehe erhalten solle. Diese Bestimmung ist natürlich lachhaft, da das Geschlecht der rivanischen Könige erlosch, als Gorek der Weise 4002 ermordet wurde, doch die Könige ließen sich nicht erweichen. Aus diesem Grunde muß jede tolnedrische Prinzessin an ihrem sechzehnten Geburtstag die anstrengende und oft gefährliche Reise zur Festung von Riva unternehmen und dort drei Tage lang auf einen Bräutigam warten, der nie eintreffen wird. Ran Borune tobte über diese Demütigung, doch Mergon wies darauf hin, daß die vereinten Alorner, Ulgos, Arender und Sendarer die Legionen leicht hätten überrennen und Tolnedra vom Thronsaal in Tol Honeth herab ihren Willen diktieren können. Mit seiner letzten Order als Oberbefehlshaber des Westens verfügte Brand, daß die Geschlechter von Asturien und Mimbre eine eheliche Verbindung eingehen sollten, um den arendischen Bürgerkrieg ein für allemal zu beenden. Selbst dem brillanten Mergon gelang es nicht, diese Hochzeit zu verhindern, und die tolnedrische Arendien-Politik mußte einen verheerenden Rückschlag hinnehmen. Da unsere Politik zwei Jahrtausende lang darin bestanden hatte, dafür zu sorgen, daß Arendien uneins und damit schwach blieb, kann man sich gut vorstellen, wie die Neuigkeit von der Vereinigung der Häuser von Astur und Mimbre in Tol Honeth aufgenommen wurde. Mergon indes klärte den Kaiser taktvoll darüber auf, daß die Alorner sich nach der Schlacht sehr stark fühlten. Es erscheine somit als Gebot der Klugheit, eine wohlwollende Duldung einer erzwungenen Einwilligung vorzuziehen. Ran Borune stimmte den Ausführungen seines Botschafters zu und stellte die kluge Betrachtung an, daß ein vereintes Arendien sich zu einem zukünftigen Zeitpunkt als lästig erweisen mochte, ein vereintes Alorien mit einer nur zweihundert Leagues vor den Toren von Tol
Honeth stehenden Feldarmee hingegen definitiv mehr Ärger bedeutete, als er in diesem Augenblick gebrauchen konnte. Die Jahre, die auf die Schlacht von Vo Mimbre folgten, leiteten eine Epoche wirtschaftlicher Katastrophen im Westen ein. Die Vernichtung der algarischen Herden durch die Angarakaner zwang die Algarer, ihre gewohnheitsmäßigen alljährlichen Viehtriebe nach Muros in Sendarien solange einzustellen, bis sie ihre Herden wieder aufgestockt hatten. Die rachsüchtigen Drasnier schlossen die Nördliche Karawanenstraße für nadrakische Händler, und die Murgos riegelten ihre Grenze ab, wodurch sie jeglichen Handelsverkehr auf der Südlichen Karawanenstraße zum Erliegen brachten. So wurde zusätzlich zum Fleischmangel im Westen der Handelsaustausch mit dem Osten zu einem Ding der Unmöglichkeit – abgesehen von jenen geheimen Pfaden im tiefen Süden, die nur nyissanischen Sklavenhändlern bekannt waren. Und so kam es, daß Tolnedra keine andere als die verabscheuungswürdige Möglichkeit blieb, seinen Handel mit dem Schlangenvolk zu intensivieren. Aufgrund ihres Monopols im Osthandel nahm der verderbliche Einfluß der Königin Salmissra im Westen gewaltig zu. Nyissanische Kaufleute mit dem typischen trüben Blick erschienen in den Haupthäfen an der Westküste, und ihre stets betrügerischen Unternehmungen begannen praktisch alle Bereiche des Handels im Westen zu beeinflussen. Nyissa erlebte eine Blütezeit, und der Luxus – wenn nicht zu sagen der Überfluß – von Sthiss Tor konnte bald sogar mit dem von Tol Honeth wetteifern. Die wirtschaftliche Gesundung nach den Jahren des Niedergangs, die dem angarakanischen Krieg folgten, verlief langsam und schmerzhaft. Es bedurfte der Anstrengungen von drei BoruneKaisern, die Drasnier dazu zu überreden, die Nördliche Karawanenstraße wieder zu öffnen. Trotzdem war in den ersten Jahren nach der Wiedereröffnung der Handel enttäuschend gering. Die algarischen Herden begannen wieder in Muros aufzutauchen, jedoch nicht in der früheren Größenordnung, da die Algarer
beharrlich ihre besten Tiere für die Zucht zurückbehielten. Der Rückgang des Fleischaufkommens bot allerdings auch Gelegenheit für die Entwicklung eines neuen Gewerbes in Sendarien: Die Schweinezucht wurde zum Nationalsport. Das Schwein hat natürlich in kaufmännischer Hinsicht einen ungeheuren Vorzug gegenüber dem Rind – sein Fleisch kann haltbar gemacht werden. Während Rinder über gewaltige Entfernungen zu ihrem Schlachtort getrieben werden müssen, kann man Schweine auf ihrem Ursprungsbauernhof schlachten und ihr Fleisch dort einpökeln. Die schmackhaften Schinken und saftigen Speckseiten kann man dann verschiffen, ohne befürchten zu müssen, daß sie verderben. Vermögen wurden in Sendarien gemacht, und mancher sendarische Edelmann begann seinen Aufstieg zu Amt und Würden als Schweinebaron. Und dann, vor vielleicht hundert Jahren, lenkten die grimmigen Murgos plötzlich ein und öffneten die Südliche Karawanenstraße wieder. Erstaunlicherweise hatten diese schroffen und kriegerischen Menschen ein nahezu unstillbares Verlangen nach Handeltreiben entwickelt. Die Karawanen aus dem Osten waren lang und gleichsam haushoch mit eben jenen Waren beladen, für welche die räuberischen Nyissaner ihre höchsten Preise verlangten – Seide, Gewürze, fremdartige Wandbehänge und die feinen malloreanischen Teppiche, die man im Westen kaum zu Gesicht bekommt. Die Wiederaufnahme des Handels auf der Südlichen Karawanenstraße war grundlegend für die Erholung der tolnedrischen Wirtschaft. Vorüber sind indes die Zeiten absoluter Dominanz im Welthandel. Die Kaufleute anderer Nationen sind vermehrt dazu übergegangen, ihren Teil an denjenigen Märkten einzufordern, die bis dato ausschließlich tolnedrische Reviere gewesen waren. Könige und ihre Regierungen sind mehr und mehr zu der Erkenntnis gelangt, daß die Stärke einer Nation mehr an ihrer wirtschaftlichen Potenz als an der Größe ihrer Armee zu messen ist. Aus diesem Grunde haben die Regierungen sich
zunehmend in die Verhandlungen auf dem Gebiet des Handels eingemischt. Jene guten alten Zeiten, als die Könige des Westens ihre kindischen Kriegs- und Eroberungsspiele spielten, während das Reich allein sich auf das ernsthafte Geschäft des Handels konzentrierte, sind vorbei. Die anderen Nationen sind auf eine sehr greifbare Art erwachsen geworden; und wenn wir auch den Verlust unserer Vormachtstellung beklagen mögen, so müssen wir die anderen Nationen doch auf dem Marktplatz des Welthandels begrüßen und uns über den enormen Zuwachs an gesundem Wettbewerb freuen, von dem letztendlich die gesamte Menschheit profitieren muß. Heute wimmeln die Märkte der großen Handelszentren – Tol Honeth, Camaar, Muros und Boktor – förmlich von Kaufleuten aus allen Ecken und Enden der bekannten Welt. Sendarer und Tolnedrer, Murgos und Drasnier, Nadraker und Arender, Nyissaner und Chereker, hin und wieder ein Algarer und tumbe Thulls und in jüngster Zeit sogar graugewandete Rivaner wetteifern miteinander um die Gunst der Kunden und feilschen unablässig miteinander. Tolnedra sieht sich gegenwärtig den Turbulenzen gegenüber, die unvermeidlich mit einem Wechsel der Dynastie einhergehen. Unser derzeitiger Kaiser, Ran Borune XXIII. ein tatkräftiger Mann in den Fünfzigern, ist Witwer mit nur einem weiblichen Kind von fünfzehn Jahren und hat seine Absicht, sich nicht wiederzuverheiraten, unmißverständlich kundgetan. Die miteinander um die Thronfolge rivalisierenden Familien haben bereits damit begonnen, das Konzil der Räte für ihre Zwecke zu manipulieren. Wir können nur hoffen, daß Nedra in Seiner Weisheit uns bei der Wahl einer Dynastie beistehen und leiten wird – eine Dynastie, die in der Lage ist, uns sicher durch die vor uns
liegenden Jahre zu führen, die mit Unsicherheiten befrachtet sein mögen, aber auch reich an Möglichkeiten sein dürften. *
*
Diese ›Geschichte‹ ist kaum vierzig Seiten lang, lieferte uns jedoch einen Gesamtüberblick über 5000 Jahre Geschichte, der sich als unschätzbar wertvoll erweisen sollte.
ALLGEMEINE MASSE UND GEWICHTE * LÄNGENMASSE 1 League 3 Meilen ½ League Zoll Spanne Yard oder Schritt Kette Faden
1 ½ Meilen Standard 9 Zoll 3 Fuß 66 Fuß 6 Fuß
HOHLMASSE Unze Pint Viertelpint ¼ Pint – 4 Unzen Versuchen Sie, ›Gallone‹ und ›Viertel‹ zu vermeiden. TROCKENMASSE Unzen Pfunde Viertelscheffel Scheffel Stein
*
16 Unzen = 1 Pint 16 Pfund 164 Pfund 14 Pfund
Solche kleinen Details verleihen einer Geschichte den nötigen Sinn für Realität. Man beachte, daß die meisten von ihnen denen der »wirklichen« Welt entsprechen.
Zentner
100 Pfund
MÜNZSYSTEM * Alle Münzen und Barren sind mit dem Abbild des Kaisers versehen. Wegen der Vorherrschaft Tolnedras im Welthandel ist sein Münzsystem der Standard, an dem sämtliche anderen Währungen gemessen werden. Die Grundeinheit ist die Mark. Eine Mark ist ein halbes Pfund Metall. GOLD Goldmark: Barren von 8 Unzen mit einem Wert von etwa 1.000 Dollar Halbe Goldmark: Barren von 4 Unzen mit einem Wert von etwa 500 Dollar Viertel Goldmark: Barren von 2 Unzen mit einem Wert von etwa 250 Dollar (Denar genannt) *
Diese Wertentsprechungen sind willkürlich und haben wenig mit dem derzeitigen Wert von Edelmetallen gemein.
Nobel: 1 Unze Gold mit einem Wert von etwa 125 Dollar Krone: ½ Unze Gold mit einem Wert von etwa 62,50 Dollar (Die Namen von Goldmünzen enthalten das Wort ›Gold‹, also ›ein Goldnobel‹). SILBER Silber besitzt ein Zwanzigstel des Wertes von Gold. Entsprechend: Silbermark = 50 Dollar Halbe Silbermark = 25 Dollar Silberdenar = 12,50 Dollar Silbernobel = 6,25 Dollar Silberkrone = 3,12 Dollar Halbkrone: Die Halbkrone ist eine Messingmünze von 1 Unze mit einem Wert von 1,56 Dollar Pfennig: Kupfer. 100 Pfennige sind eine Halbkrone. Zweifelhafte Münzen oder Barren werden in den Tempel gebracht, um sie durch die Priester Nedras auf ihre Echtheit prüfen zu lassen. Jeder Tempel verfügt über eine Reihe beglaubigter Waagen. Die Priester erheben eine Gebühr von 1 %.
KLEIDUNG MÄNNER Die Oberschicht trägt einen togaähnlichen ›Umhang‹. Diese Kleidungsstücke werden zum Ausweis des Rangs durch verschiedene Farben gekennzeichnet. Die Militäruniform ist römisch.
Kaufleute tragen gegürtete Gewänder mit tiefen, großen Taschen. Auch sie sind zum Ausweis des Rangs durch unterschiedliche Farben gekennzeichnet. Diener und Handwerker tragen Tuniken – sie reichen bis kurz über das Knie und haben Ärmel bis zu den Ellbogen. Im Winter Beinlinge. Lederschürzen.
FRAUEN Gewänder von griechischem Zuschnitt. Dem Rang entsprechende Farbkennzeichnungen sind gesetzlich vorgeschrieben, doch außer bei offiziellen festlichen Anlässen wird das Gesetz größtenteils mißachtet. Das Haar wird nach griechischer Art frisiert. Tolnedrer tragen für gewöhnlich Dolche (das Kennzeichen eines freien Mannes), aber die Dolche sind überwiegend Zierwaffen. BEWAFFNUNG Das Kurzschwert – annähernd 2 Fuß lang – Lanzen, Wurfspeere, Kurzbogen. Schwere Belagerungsmaschinen – Katapulte etc.
STÄNDE Titel Anrede Der Kaiser Majestät Die Kaiserliche Hoheit Familie
Rangfarbe Golden Silbern mit goldenem Besatz
Großherzöge
Blau mit goldenem Besatz
Euer Gnaden
Die Häupter der Großen Familien – Boruner, Raniter usw. Mitglieder Verschieden Blau mit seiner Familie silbernem Besatz Graf Baron Edelmann
HANDELSSTÄNDE (Der Rang innerhalb Jahreseinkommen) Titel Großmeisterkauf mann Meisterkaufman n Großer Hochkaufmann
Mylord John Baron John Sir John Brown
der
Grüner Besatz Weißer Besatz Kein Besatz
Handelskaste
Einkommen 1 Million Goldmark ½ Million Goldmark 100.000 Goldmark
basiert
Rangfarbe Rote Toga Blaue Toga Grüne Toga
auf
dem
Hochkaufmann Kaufmann
50.000 Goldmark Weiße Toga 10.000 Goldmark Braune Toga
GEMEINES VOLK Handwerker sind an der Rangfarbe auf ihren Tuniken zu erkennen. Großmeisterzimmermann, -schuster etc. Roter Besatz Meisterschuster etc. Blauer Besatz Großer Hochschuster etc. Grüner Besatz Hochschuster etc. Weißer Besatz Schuster Brauner Besatz (für gewöhnlich ein Ein-Mann-Betrieb) FREIE (ARBEITER) Sie tragen keinen Besatz. Die Löhne sind genormt; in etwa 800 Dollar pro Jahr. Ein bißchen weniger für Landarbeiter. Die Preise der Haupterzeugnisse sind gesetzlich festgelegt. Anmerkung: Die soziale Stellung in der Priesterschaft entspricht derjenigen im Adel. Die soziale Stellung in der Verwaltung entspricht derjenigen im Handel. Akademiker sind den Handwerkern gleichgestellt. Ärzte und Juristen der Handelshierarchie.
EINWOHNERZAHLEN Tol Honeth 250.000 Tol Vordue 100.000 Tol Horb 90.000 Tol Rane 40.000 Tol Borune 10.000 Es gibt 7 bis 8 Millionen Tolnedrer, die hauptsächlich in Dörfern und auf Gehöften leben. DIE WICHTIGSTEN FESTE Mittwinter – Erastide – (der Geburtstag der Welt). Feiern, ausgelassene Fröhlichkeit, Feste, Geschenke Mittsommer – Fest des Nedra. Gebete, religiöse Feiern. Unterschiedlich – Der Geburtstag des jeweiligen Kaisers. Frühherbst – Ran Horbs Tag. Feier des Geburtstages des größten Kaisers. Militärparaden; patriotische Ansprachen.
Spätherbst – Maras Tag. Ein Tag der Sühne. Opfergaben an Mara. Alle Schulden bezahlen. Büßerprozessionen. RELIGIÖSE GEPFLOGENHEITEN Die Priesterschaft lebt gut und ist nicht sonderlich fromm. Religion ist mechanisch und oberflächlich. Gebete zielen hauptsächlich auf Glück und Gewinn. Das Kloster in Mar-Terin – abgeschieden. Bettelmönche – Bettler. Die meisten Tolnedrer sind nicht sehr religiös.
ANHANG ZU MARAGOR Das Königreich der Marager, das einst in jenem freundlichen Tal in der südöstlichen Ecke des heutigen Tolnedra lag, existiert nicht mehr, wie alle Welt weiß. Die Zerstörung von Maragor ist unsere Nationalschande. Wir stellen dies nicht aus einem verzweifeltem Bedürfnis nach Sühne heraus fest, wie wir es bei einigen unserer weniger gefestigten Kollegen beobachten können, sondern um eine nackte und unumstößliche Tatsache zu konstatieren. Die Marager waren in keinerlei Hinsicht ein bewundernswertes Volk, aber ihre Ausrottung war, wie wir heute wissen, eine unnötig grausame Reaktion auf eine kulturelle Verirrung, die leicht hätte in andere Bahnen gelenkt werden können.
GEOGRAPHIE Das Tal, welches einst Maragor war, ist ein von Bergen umschlossenes, fruchtbares Becken im Quellgebiet des Waldflusses, das etwa einhundert mal fünfundzwanzig Leagues mißt. Es ist von Seen und Tümpeln übersät und wird von munter schäumenden Flüssen bewässert, welche die oberen Zuläufe des Waldflusses bilden. Die hartgesottenen Seelen, die dieses Becken durchquert haben, berichten, daß es wahrlich einer der lieblichsten Flecken der bekannten Welt ist. Die dort beheimateten Schrecken machen Maragor selbstverständlich völlig unbewohnbar. Aus genau demselben Grund entzieht es sich unglücklicherweise auch jeder wirtschaftlichen Nutzung. Noch immer glitzert das Freigold auf dem Grund der Bäche, doch niemand wagt es, seine geistige Gesundheit aufs Spiel zu setzen, um es einzusammeln.
BEVÖLKERUNG Die Marager waren ein kleinwüchsiges Volk mit olivfarbener Haut, das demselben Menschenschlag wie Tolnedrer, Nyissaner und Arender angehört. Das herausstechende Merkmal, das aller Welt in den Sinn kommt, wenn von den Maragern die Rede ist, ist natürlich die Tatsache, daß sie Kannibalen waren. Wie weit verbreitet diese Praxis war, ist Gegenstand zahlreicher Diskussionen unter den Gelehrten. Die barbarische Wildheit, mit der die tolnedrischen Legionen die maragische Kultur auslöschten, ließ auf dem Felde dokumentarischer Beweismittel kaum etwas übrig. Und soviel dürfte feststehen: Da schon für Gold kein Tolnedrer freiwillig Maragor betritt, würde er es um so weniger tun, um dort Urkunden oder Pergamentstücke zu suchen. Das Archiv des Klosters in Mar-Terin jedoch besitzt einige wenige Fragmente, die uns einen groben Abriß der maragischen Kultur liefern. Wie es scheint, waren sie ein kontaktscheues Volk, das kein Verlangen nach Beziehungen mit Fremden verspürte. Überdies waren sie, soweit wir es beurteilen können, überwiegend matriarchalisch strukturiert, und die Institution der Ehe war bei ihnen seltsam unterentwickelt. Eine außereheliche Geburt scheint mit keinerlei Stigma behaftet gewesen zu sein, und gelegentliche Liebschaften waren offenbar an der Tagesordnung. Ober diese spärlichen Hinweise hinaus ist wenig über die Marager bekannt. GESCHICHTE Wir müssen davon ausgehen, daß die Marager zu Beginn des ersten Jahrtausends zusammen mit den anderen Völkern des Westens in ihre Siedlungsgebiete wanderten, obwohl es keine Möglichkeit gibt, diese Vermutung zu erhärten. Städte und Tempel aus Stein wurden
in dem Talkessel errichtet, doch wann und auf wessen Befehl, werden wir wohl nie erfahren – nur soviel, daß die Legionen, die das Land zerstörten, ihre Existenz bezeugten. Die Städte scheinen sonderbar konstruierte Ansammlungen von Steingebäuden ohne schützende Mauern gewesen zu sein, und die Tempel, die verlassen in der Ebene standen, waren Riesenbauten aus gigantischen Steinblöcken, errichtet mit einem unglaublichen Aufwand menschlicher Arbeit. Das einzige historische Dokumentationsmaterial, das wir besitzen, bezieht sich auf den Krieg des neunzehnten Jahrhunderts zwischen Maragor und Nyissa. Die Ursachen für diesen Krieg liegen im dunkeln, doch die Marager führten einen Kriegszug ins Dschungelland des Schlangenvolkes und rückten in Eilmärschen auf die nyissanische Hauptstadt Sthiss Tor vor. Die Berichte der Heeresbefehlshaber dieser Invasion liefern einige schauerliche Andeutungen bezüglich der religiösen Praktiken der Marager. Der Schluß eines jeden Berichts über die Einnahme einer nyissanischen Stadt oder eines nyissanischen Dorfes listet namentlich jene unglücklichen Einwohner auf, die dem Ruhm Maras ›zugeführt‹ wurden. Angesichts der nur schwach verhüllten Bedeutung dieses Ausdrucks können wir nur schaudern. Die maragische Invasion schlug nach der Einnahme von Sthiss Tor fehl, wie allgemein bekannt. Bevor sie die Stadt evakuierten, hatten die heimtückischen Nyissaner alles Eßbare in der Stadt und der näheren Umgebung vergiftet. Maragische Soldaten starben in erschreckender Zahl, und die verzweifelten Heeresbefehlshaber forderten bei ihren Vorgesetzten in Maragor händeringend Verpflegung an. Am Ende waren sie gezwungen, die Stadt wieder aufzugeben und durch den Dschungel ins Gebirge und von dort nach Maragor zurückzufliehen. Die Spur toter und sterbender Soldaten, die sie zurückließen, legt beredtes Zeugnis von der Bösartigkeit der nyissanischen Gifte ab.
Der einzige weitere Kontakt zwischen Maragern und Fremden kam unmittelbar vor der Ausrottung des gesamten Volkes zustande. Tolnedrische Kaufleute, die Maragor auf der Suche nach Handelsmöglichkeiten zu betreten versuchten, wurden aus dem Land vertrieben. Keine noch so scharf gefaßte Protestnote des Kaiserlichen Hofes vermochte die Marager zum Nachgeben zu bewegen. Schließlich wurde die Stadt Tol Rane an Maragors Westgrenze errichtet, um einen passenden Rahmen für den erwarteten Warenaustausch zu bieten. Die wenigen Marager, die diese Gelegenheit zum Handel wahrnahmen, zahlten für die Waren, die sie erwarben, artig mit gutem Gold. Es war die Entdeckung dieses Goldes, die das Schicksal Maragors besiegelte. Die Ereignisse, die in der tolnedrischen Invasion gipfelten, und die Einzelheiten dieses rücksichtslosen Kriegszuges sind bereits erörtert worden und brauchen daher an dieser Stelle nicht wiederholt zu werden. Als der Vernichtungsfeldzug vorüber war, wurden die wenigen beklagenswerten Überlebenden an nyissanische Sklavenhändler verkauft, die sie umgehend aneinanderketteten und in langen Marschsäulen über das Gebirge in die Dschungel von Nyissa trieben. Ihr weiteres Schicksal entzieht sich gnädigerweise unserer Kenntnis. So ging Maragor unter – das lebendige Maragor jedenfalls. Die gräßliche Realität des toten Maragor verfolgt uns auch heute noch, dreitausend Jahre nach unserem unbesonnenen Abenteuer dort unten. Berichte über die genaue Art der Schatten, die das Tal heimsuchen, welches einst Maragor war, sind nur schwer zu verifizieren, da die meisten, die dort waren und wieder zurückgekommen sind, sich am Rande des Wahnsinns befinden. Alle bestätigen, daß der Geist Maras im ganzen Land kreischt und wimmert, doch die Berichte über die schrecklichen Gespenster, die das Land heimsuchen, sind sehr unterschiedlich. Seltsamerweise deuten alle auch nur ansatzweise
glaubhaften Berichte darauf hin, daß die Geister weiblich sind, was ihre verstümmelten Umrisse um so entsetzlicher macht. Diese letzte Beobachtung wird zum Teil von den Mönchen von Mar-Terin bestätigt, denen wir (obwohl der Wahnsinn auch in ihren Reihen seine Opfer fordert) die verläßlichsten Berichte über die Geister verdanken, die Maragor nicht nur unbewohnbar, sondern auch unbetretbar gemacht haben. Möge das Kaiserliche Tolnedra unerschütterlich zu dem Entschluß stehen, daß wir uns nie wieder durch unsere Habgier zu solch beschämenden Taten hinreißen lassen, und möge das untergegangene Maragor, einem ewigen Mahnmal gleich, für immer dieses zwischen Tolnedra und einer Wiederholung ungeheuerlichsten aller Verbrechen stehen.
MÜNZSYSTEM Die Wirtschaft der Marager basierte auf Tauschhandel; Geld kannte man nicht. Die Kleidung war griechisch. Männer: kurze Tuniken und Sandalen. Frauen: kurze Seidenkleider.
GESELLSCHAFTSSTRUKTUR * Häuser und Land gehörten den Frauen. Männer waren Athleten, Jäger und Soldaten. Die Gesellschaft war sehr freizügig und wurde von anderen Völkern für unmoralisch gehalten. Die Männer lebten in paramilitärischen Schlafsälen – wenn sie nicht ›Gäste‹ im Haus der einen oder anderen Frau waren. Männer hatten keinen Besitz. Die Marager waren versessen auf athletische Wettbewerbe. Die religiösen Gebräuche waren ihrem Wesen nach orgiastisch. Die Gesellschaft wies einen ausgeprägten Hang zur Nacktheit auf, weil die Marager große Bewunderung für den menschlichen Körper hegten. Ihre Tempel dienten auch als Sportstadien. DER KANNIBALISMUS Er ergab sich aus einer Mißdeutung einer ihrer religiösen Schriften. Er war dem Wesen nach rituell, und alle, die verzehrt wurden, waren Nicht-Marager. SITTEN UND GEBRÄUCHE Das Wesen der Marager war gutmütig und unbeschwert. Die Männer zeigten nicht das geringste Interesse am Handel (was die Tolnedrer in den Wahnsinn trieb). Die Marager waren Heiden, die keinerlei Hemmungen kannten. Die Frauen gingen sehr freigiebig sowohl mit ihrem Eigentum als auch mit ihrer persönlichen Gunst um. Vermutlich gab es nie mehr als eine Million Marager. *
In ›Belgarath der Zauberer‹ verbringt Belgarath nach Poledras vorgeblichem Tod eine gewisse Zeit in Maragor. Dieser Abschnitt über die maragische Gesellschaftsstruktur diente als Grundlage für seinen Aufenthalt.
DIE ALORNISCHEN KÖNIGREICHE
ANMERKUNG
Die vier alornischen Königreiche, Cherek, Drasnien, Algarien und die Insel der Stürme, sind direkte Nachfolger des Königreichs von Alorien, das im Altertum existierte und während der Herrschaft des legendären Cherek Bärenschulter etwa gegen Ende des zweiten Jahrtausends geteilt wurde.
DIE INSEL DER STÜRME GEOGRAPHIE Die Insel der Stürme, das nordwestlichste der zwölf Königreiche, ist ein felsiges, nahezu unbewohnbares Eiland westlich von Sendarien und Cherek und nördlich von Arendien. Unablässig fegen orkanartige Winde über den Ozean und peitschen die Westküste der Insel. Der Riffe und Steilklippen wegen ist die Insel der Stürme mit Ausnahme von Riva unzugänglich, der einzigen Stadt der Insel. In Riva gibt es in beschränktem Maße Fischfang, und in den Bergen wird Bergbau betrieben – hauptsächlich werden Nutzmetalle wie Eisenerz und Kupfer geschürft, auch wenn es einige Vorkommen von Gold und Silber zu geben scheint, die jedoch offenbar nicht in nennenswertem Umfang abgebaut werden. BEVÖLKERUNG Obwohl sie selbst sich Rivaner nennen (nach ihrem legendären ersten König), sind die Bewohner der Insel im Grunde Alorner und Nachfahren einer Bevölkerungsumschichtung, die nach großen Wanderungsbewegungen ungefähr zu Beginn des dritten Jahrtausends stattgefunden haben dürfte. Merkwürdigerweise scheint sich die Übersiedlung der Rivaner auf das Eiland in einer einzigen Expedition vollzogen zu haben, was einen bemerkenswerten Unterschied zum gängigen Wanderungsmuster anderer Völker darstellt, das durch aufeinanderfolgende Wellen und Perioden der Konsolidierung gekennzeichnet ist. Die Rivaner unterscheiden sich deutlich von ihren alornischen Vettern in Cherek, Drasnien und Algarien. Im allgemeinen werden sie vom
gewöhnlichen Volk der anderen Nationen (nach ihrer Nationaltracht) Graumäntel genannt, obwohl man sie bis vor kurzem selten außerhalb ihrer Insel antraf. Die Rivaner sind ernst, beinahe
düster, schweigsam bis zur Unhöflichkeit und gelten als wilde Krieger, die ihrem Herrscher (der schlicht ›der rivanische Wächter‹ heißt) fanatisch treu ergeben und mit Leib und Seele zur Verteidigung ihrer Hauptstadt Riva bereit sind. GESCHICHTE DER RIVANER Wie eingangs dargelegt, wanderten die Rivaner in den frühen Jahren des dritten Jahrtausends auf die Insel der Stürme aus. Erstaunlicherweise scheint das Geschlecht des rivanischen Königshauses in ununterbrochener Linie von dem legendären Riva Eisenfaust bis zum letzten rivanischen König zu reichen, Gorek dem Weisen, der 4002 durch Handlanger der nyissanischen Königin ermordet wurde. Diese ununterbrochene Thronfolge macht sie zur langlebigsten Dynastie in der Geschichte aller zwölf Königreiche, die allem Anschein nach fast zweitausend Jahre lang existierte. Wahrscheinlich ihrem Nationalcharakter entsprechend haben die Rivaner keine Bündnisse mit einem der anderen zwölf Königreiche geschlossen und sich beharrlich geweigert, Handelsabkommen mit den Abgesandten des tolnedrischen Kaiserreichs zu unterzeichnen. Diese unbegreifliche Sturheit war eine Quelle nicht enden wollender Enttäuschung für Generationen tolnedrischer Diplomaten und ein stetes Ärgernis für zwei ganze tolnedrische Dynastien. Nach den Vereinbarungen von Val Alorn im Jahre 3097 wurden Anstrengungen unternommen, normale Handelsbeziehungen mit den Rivanern einzugehen, jedoch ohne Erfolg. Schließlich befahl Ran Borune XXTV im Jahre 3137 jenen katastrophalen Angriff auf die Insel, der das Tor der Festung mit Gewalt öffnen sollte. Das Abenteuer endete, wie wir alle wissen, in einer schrecklichen Katastrophe. Vorbereitungen für einen Totalangriff Tolnedras auf die Insel wurden getroffen, bis die berühmt gewordene Note des
cherekischen Botschafters den Kaiser davon überzeugte, dieses Vorhaben aufzugeben. Mit der Zeit stimmten die Rivaner, wenn auch widerwillig, der Errichtung einer Handelsenklave vor den Mauern der Stadt zu; anreisende Kaufleute waren gezwungen, sich mit diesem einzigen Zugeständnis zufrieden zu geben. Es war Brauch, nie einen Kaufmann oder Gesandten in die Stadt selbst hereinzulassen, erst recht nicht in die Festung inmitten der Stadt. * Jedoch werden zwei Ausnahmen gemacht: Die erste ist der Alornische Rat, der einmal alle zehn Jahre tagt und in dessen Verlauf die Könige von Algarien, Drasnien, Cherek und mitunter auch Sendarien (sofern der sendarische König zufällig Alorner ist) nach Riva reisen und – allein – in den rivanischen Thronsaal geführt werden, wo sie dem rivanischen Wächter Bericht über ihre Suche nach dem Erben des rivanischen Throns erstatten, wie Gerüchte besagen. Die andere Ausnahme von dieser Regel steht in Zusammenhang mit der demütigenden Übereinkunft von Vo Mimbre, welche verlangt, daß jede tolnedrische Prinzessin sich an ihrem sechzehnten Geburtstag für einen Zeitraum von drei Tagen in ihrem Hochzeitsgewand vor dem rivanischen Thron präsentiert. ANMERKUNG
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Tolnedrische Prinzessinnen haben über die letzten fünfhundert Jahre nach der Schlacht von Vo Mimbre hinweg übereinstimmend berichtet, daß die gesamte Stadt Riva wenig mehr als eine mauerbewehrte Verteidigungsstellung ist, deren einzelne Häuser vorspringende Winkel, Bastionen, Bollwerke und Ähnliches
Diese fremdenfeindliche Beschränkung wurde merklich gelockert, während diese Zeilen entstanden.
bilden, und daß die Straßen so angelegt daß sie von jeder der sind, übereinandergestaffelten Reihen dickwandiger Häuser eingesehen werden können, so daß feindliche Angriffe nahezu unmöglich sind. Zudem bestehen die Dächer aller rivanischen Häuser aus Schiefer; in der Stadt selbst steht nichts Brennbares offen herum. Die Festung besteht aus einem einzelnen Turm mit unerhört dicken Mauern und nur einer einzigen schmalen Eisentür. Der Thronsaal soll eine sehr große Halle sein, muffig und unbenutzt; in diesem Saal steht der rivanische Thron, ein mächtiger Sitz aus schwarzem Basalt, in dessen Rückenlehne ein rostiges Schwert mit der Spitze nach unten eingesetzt ist, welches einen großen, gräulichen Knaufstein besitzt – möglicherweise irgendein Artefakt oder Erinnerungsstück aus dem urzeitlichen Dämmer der rivanischen Vergangenheit. Die ersten tausend Jahre ihrer Geschichte verbrachte die Insel der Stürme in selbstgewählter Isolation, abgeschnitten von jeglichem Kontakt mit der zivilisierten Welt. Aus größtenteils unbekannten Gründen hielten cherekische Kriegsschiffe eine ununterbrochene Blockade des Hafens von Riva aufrecht, die es keinem Schiff einer anderen Nation erlaubte, dort anzulegen. In der Überzeugung, auf der Insel befänden sich gewaltige Reichtümer, bedrängten tolnedrische und sendarische Kaufleute den Kaiser in Tol Honeth mehrere Generationen lang, die cherekischen Alorner zum Aufheben ihrer Blockade zu zwingen. Dieses Ziel wurde in den
Vereinbarungen von Val Alorn im Jahre 2097 endlich erreicht, und eine Horde tolnedrischer und sendarischer Kauffahrer fiel im Hafen von Riva ein, nur um sich unüberwindlichen Mauern und einem abweisend verschlossenen Tor gegenüberzusehen. Die Versuche, die Rivaner zum Handel zu bekehren, wurden an anderer Stelle eingehender erörtert (siehe Die Geschichte von Tolnedra). Der Streitfall wurde schließlich friedlich beigelegt, obwohl der Westen sich eine Zeitlang gefährlich nahe am Rande eines Krieges befand. Das einzige bedeutsame Ereignis in der rivanischen Geschichte war die Ermordung König Goreks des Weisen durch eine Gruppe nyissanischer Händler im Jahre 4002, offensichtlich auf Anordnung der nyissanischen Königin. Dieser Vorfall ist bis heute ziemlich nebelhaft geblieben, und nie ist ein detaillierter Bericht über die tatsächlichen Geschehnisse aus Riva herausgedrungen. Es hat den Anschein, als sei die königliche Familie in die Handelsenklave eingeladen worden, um ein besonderes Geschenk der Königin von Nyissa in Empfang zu nehmen. Bei ihrer Ankunft im nyissanischen Lager wurden sie von sieben nyissanischen Kaufleuten angegriffen, die mit den traditionellen vergifteten Messern ihres Volks bewaffnet waren. Der König, die Königin, der Kronprinz und seine Gemahlin sowie zwei ihrer Kinder wurden getötet, von dem dritten Prinzen jedoch wurde nie eine Spur gefunden. Zwei der nyissanischen Kaufleute überlebten den Angriff der rivanischen Wachen und wurden schließlich dazu gebracht, ihre Verbindung zur nyissanischen Königin preiszugeben. Der sich daraus entwickelnde Krieg zwischen den alornischen Königreichen und Nyissa war vielleicht einer der brillantesten Kriegszüge in der Geschichte des Westens, der zu ernsthaften Zweifeln an der üblichen Abwertung der Alorner als barbarische Berserker berechtigt. Eine Reihe von Blitzangriffen durch cherekische Piratenschiffe gegen die nyissanische Küste lenkte die Aufmerksamkeit des Schlangenvolkes ab, während eine gewaltige
Streitmacht aus drasnischer Infanterie und algarischer Kavallerie die scheinbar unmögliche Marschroute durch die Berge Westtolnedras nahm und am Oberlauf des Schlangenflusses angriff. Ein rivanisches Expeditionskontingent fuhr den Waldfluß hinauf und unternahm einen schnellen Landangriff gegen die nyissanische Hauptstadt Sthiss Tor. Sie drangen in die Stadt ein, während der Großteil der nyissanischen Armee sich im Osten befand und versuchte, die einfallenden Algarier und Drasnier abzuwehren, während der Rest ihrer Streitmacht die Landung der cherekischen Flotte im Delta des Schlangenflusses zurückzuschlagen suchte. Vor ihrem Tod überredete man Königin Salmissra XXCVII. dem Feldherrn der rivanischen Truppen zu enthüllen, was genau hinter der Ermordung steckte, doch dieser Feldherr, Brand (der später für den Posten des Wächters von Riva auserkoren wurde), gab diese Information lediglich an die alornischen Könige weiter. * Der tolnedrische Kaiser versuchte einzugreifen, aber die Alorner setzten unbarmherzig die systematische Zerstörung des gesamten Königreichs von Nyissa fort, indem sie die Stadt Sthiss Tor dem Erdboden gleichmachten, Städte und dörfliche Siedlungen brandschatzten und die Einwohner in den Dschungel trieben. Diese Ausrottungspolitik der Alorner war dermaßen barbarisch, daß das gesamte Land fünfhundert Jahre lang entvölkert zu sein schien; erst nach dieser langen Zeitspanne ließen sich die verängstigten Nyissaner davon überzeugen, wieder aus den Wäldern hervorzukommen und den Wiederaufbau ihrer Hauptstadt in Angriff zu nehmen. Gewissermaßen als Reaktion auf die Zerstörung des gewaltigen Handelsaufkommens und den sich daraus ergebenden Einkommensverlust marschierte eine tolnedrische Streitmacht südwärts, um den alornischen Barbaren Einhalt zu gebieten, doch *
Diese Darstellung weicht in wesentlichen Punkten von derjenigen in ›Belgarath der Zauberen ab.
sie wurden am Waldfluß von einem übermächtigen Kontingent von Drasniern, Algariern und cherekischen Berserkern gestellt. Erst an diesem Punkt erkannte man in Tol Honeth die tatsächliche Größe der alornischen Armee an unserer Südgrenze. Der Befehlshaber der tolnedrischen Legionen faßte den klugen Entschluß, den Alornern nicht in die Quere zu kommen, und stationierte seine Truppen statt dessen am Nordufer des Waldflusses, um die Unversehrtheit des tolnedrischen Territoriums zu gewährleisten. Die zwölfhundert Jahre, die auf die Zerstörung von Nyissa folgten, verbrachten die Rivaner mit ihrer endlosen (und fruchtlosen) Suche nach dem Erben des rivanischen Throns. Es hielten sich indes hartnäckige Gerüchte – basierend auf den vagen und verworrenen Aussagen von Augenzeugen des Mordes –, daß der jüngste Sohn des Kronprinzen, ein Knabe von neun Jahren * , sich vor den Messern der Nyissaner in Sicherheit gebracht habe, indem er ins Meer gesprungen sei. Wäre dies tatsächlich so geschehen, wäre das Kind mit Sicherheit umgekommen, denn das Meer der Stürme ist das ganze Jahr über bitterkalt. Gerüchte halten sich jedoch auch dann noch, wenn die Vernunft längst verzweifelt hat, und die Rivaner sind mit großer Gewissenhaftigkeit jedem noch so vagen Hinweis nachgegangen. Dutzende von Prätendenten sind im Laufe der Jahrhunderte aufgetreten, aber die Rivaner scheinen über eine Art ultimative Prüfung zu verfügen, die bislang noch keiner bestanden hat. Die Suche nach dem rivanischen Thronerben wurde nur durch die angarakanische Invasion des Westens unter Kal-Torak im Jahre 4865 unterbrochen. Es war der einunddreißigste Wächter von Riva, der als Oberbefehlshaber der westlichen Streitkräfte fungierte und den Angriff auf die Hauptstreitmacht Kal-Toraks vor den Mauern von Vo Mimbre im Jahre 4875 führte. Es war eben dieser *
In ›Belgarath der Zauberer‹ und ›Polgara die Zauberin‹ wird Geran zu einem Jungen von sechs Jahren.
einunddreißigste Wächter (traditionell Brand genannt – obwohl der Wächter eher ausgewählt wird, als daß er diese Stellung per Geburtsrecht einnimmt), der Kal-Torak im Zweikampf gegenübertrat und ihn besiegte. (Siehe das Prosaepos ›Die Schlacht von Vo Mimbre‹, das eine farbenprächtige, im wesentlichen jedoch zutreffende Schilderung dieses Zweikampfes enthält.) Im Anschluß an diesen erstaunlichen Beweis persönlichen Mutes schworen die versammelten Herrscher des Westens in einem Ausbruch von Begeisterung über die Vernichtung Kal-Toraks dem rivanischen Thron Treue, und nur die Geistesgegenwart Mergons, des tolnedrischen Botschafters am Hof von Vo Mimbre, verhinderte die sofortige Einsetzung Brands XXXI. als Kaiser des Westens. Das Zugeständnis, das Mergon im Gegenzug abgerungen wurde, war die bereits erwähnte Übereinkunft von Vo Mimbre, die festlegte, daß der rivanische König bei seiner Wiederkehr eine KaiserlichTolnedrische Prinzessin zur Gattin erhalten würde. Nach dem Ende der Schlacht kehrte Brand XXXI. nach Riva zurück, und seit dieser Zeit sieht man rivanische Händler in allen Gegenden der bekannten Welt. Obwohl sie unerbittlich zu feilschen verstehen, neigt man in den höchsten Regierungskreisen von Tol Honeth allgemein zu der Annahme, daß diese ›Händler‹ in Wahrheit Agenten des rivanischen Wächters und mit jener jahrhundertelangen und offensichtlich vergeblichen Suche nach dem Erben des rivanischen Throns befaßt sind. Was auch immer ihre Beweggründe sein mögen, die Graumäntel stellen eine willkommene Bereicherung in der Welt des Handels dar, und man kann nur hoffen, daß die Rivaner mit der Zeit ihre heimlichtuerische Natur ablegen und den ihnen gebührenden Platz in der Familie der Nationen einnehmen werden.
RIVA
MÜNZSYSTEM GOLD Eine Goldmünze von einer Unze heißt ›rivanischer Goldpfennig‹ und entspricht einem tolnedrischen ›Nobel‹. Eine Münze von ½ Unze Gold heißt ›rivanischer Goldhalbpfennig‹ und entspricht einer tolnedrischen ›Krone‹. SILBER Eine Silbermünze von 2 Unzen heißt ›rivanischer Silberdoppelpfennig‹. 10 Doppelpfennige = ein Goldpfennig = ein Silberdenar. Eine Silbermünze von 1 Unze, ein ›Silberpfennig‹. 20 = 1 Goldpfennig. Eine Silbermünze von 1/2 Unze heißt ›Silberhalbpfennig‹ = eine tolnedrische Silberkrone.
MESSING ODER KUPFER Wird ein ›Messing‹ oder ein ›Kupfer‹ genannt. Theoretisch von gleichem Wert, doch in der Praxis ist ein Messing = 2 Kupfer. 100 Messing = ein Silberhalbpfennig 200 Kupfer = ein Silberhalbpfennig
KLEIDUNG Was die rivanische Kleidung betrifft, gibt es keine Rangunterschiede, doch die Adligen und Wohlhabenden tragen etwas bessere Kleidungsstücke. Die Regel ist eine langärmlige, mit Gürtel getragene Tunika, die bis zur Mitte der Oberschenkel reicht. Lange, ziemlich weite Ärmel. Auch Beinlinge (Wickelgamaschen), mit Riemen oder Stricken geschnürt. Der gewöhnliche graue Umhang ist ein schwerer, ärmelloser Mantel mit Kapuze. Die rivanische Kleidung ist grau – ungefärbte Wolle. Rivanische Schafe haben eine sonderbare graue Farbe und ausgesprochen feine, dichte Wolle.
Zu öffentlichen oder feierlichen Anlässen tragen alle Stände eine blaue, mit unaufdringlicher Silberstickerei verzierte Leinentunika. SCHUHWERK Ein weicher, lederner Halbstiefel (im Winter aus Filz) RÜSTUNG Kettenhemd und spitze Stahlhelme RANGUNTERSCHIEDE Der Unterschied zwischen Adel und gemeinem Volk wird im allgemeinen durch die Bewaffnung angezeigt. Die üblichen Waffen der Rivaner sind ein vier Fuß langes Breitschwert und ein Dolch von 18 Zoll Länge. Die Schwertgurte des Adels sind mit Gold und Silber beschlagen, die der Bürger sind schlicht und ohne Zierat. FRAUEN Tragen Leinengewänder mit langen Ärmeln, streng und sittsam geschnitten. Ein Zugeständnis an die Eitelkeit sind Gürtel, und die Gewänder werden am Oberkörper mit einem Mieder bedeckt, das den Busen betont. Das Haar (in der Regel blond) wird lang und ungebunden getragen und um Schläfen und Stirn kunstvoll geflochten, damit es wie ein Krönchen wirkt. HANDEL Brot – wiederum eine Norm –, kostet in Riva ein wenig mehr als in Tolnedra, doch die Rivaner sind fleißig und sparsam, so daß es auf der Insel kaum Armut gibt. Jahrmärkte werden an den Uferwiesen des Schleierflusses hinter der Stadt Riva veranstaltet; Tauschhandel
kommt häufiger vor als geldliche Transaktionen. Handelswaren – Wolle, Schafe, in geringerem Maße Rinder, Schweine, Obst und Gemüse. Auch Waren des täglichen Gebrauchs, z.B. Schuhe, Töpfe, Pfannen usw. STÄNDE DER WÄCHTER Vom Adel während eines Konklaves in Riva gewählt. Er erhält den Namen Brand und trägt bei Staatsveranstaltungen einen Eisenreif. DIE BARONE Nur zwanzig an der Zahl. Jeder vertritt einen Distrikt in der Stadt Riva und ist verantwortlich für seine Instandhaltung und Verteidigung. Die Bewohner eines Distrikts sind die Gefolgsleute des Barons. Manche Rivaner leben außerhalb der Stadt – ein paar Schäfer, einige Bauern etc. Es ist eine größtenteils selbstversorgende Gesellschaft mit einer bemerkenswert konstanten Bevölkerung. ANREDE Mylord Brand für den Wächter. Sir John für die Barone. Freund John für die Gemeinen – nicht ungewöhnlich für einen Rivaner der unteren Gesellschaftsschichten, einen Baron ebenfalls mit ›Freund John‹ anzusprechen. BEVÖLKERUNGSZAHLEN Die Bevölkerung der Stadt Riva zählt ungefähr 100.000 Menschen; eine weitere halbe Million lebt in Dörfern und auf Bauernhöfen.
RELIGIÖSE GEPFLOGENHEITEN Belartempel in der Stadt Riva. Religiöse Sitten und Bräuche entsprechen der alornischen Norm (siehe Cherek). Aldur wird ebenfalls verehrt. Religion: siehe Cherek. DIE WICHTIGSTEN FESTE Erastide – der Geburtstag der Welt – einwöchige Feiern im Mittwinter. Rivas Geburtstag – Frühsommer – patriotische Erneuerung des Schwurs zur Verteidigung des Orb. Goreks Tag – oder ein Tag nationaler Trauer über den Tod Goreks des Weisen – Anfang September. Fest des Belar – Frühling. Ein religiöser Festtag. Feiern, mäßiges Trinken. Brands Tag – Feier des Sieges in der Schlacht von Vo Mimbre. Militärische Spiele. Mittsommer.
CHEREK
Cherek ist eine gebirgige Halbinsel an der Nordwestküste, die sich nach Norden zu bis ans Polareis erstreckt. Mit Ausnahme des Tales des Alornflusses und des fruchtbaren Beckens südlich von Val Alorn ist Cherek zu gebirgig, um Landwirtschaft zu betreiben. Im Golf von Cherek gibt es ein wenig Fischfang und recht ergiebige Erzlagerstätten in den Bergen – Eisenerz, Kupfer, Gold, Silber, Zinn sowie bestimmte Edelsteine. Die Hauptstadt Val Alorn ist eine Metropole von 40.000 Einwohnern, ummauert, aus Stein errichtet, mit engen Straßen und steilen Dächern.
BEVÖLKERUNG Natürlich sind die Chereker die archetypischen, ursprünglichsten Alorner. Sie sind ein lautes, prahlerisches, der Trunksucht ergebenes rohes Volk mit wenig Achtung vor Schicklichkeit und wenig Höflichkeit. Sie sind meisterliche Schiffsbauer und hervorragende Seeleute, haben unglücklicherweise aber nie viel Neigung zu ehrlichem Handel gezeigt, ziehen sie doch die Hochseepiraterie dem gesetzmäßigen Handel vor. Man hat beobachtet, daß selbst die anständigsten Kaufleute unter den Cherekern häufig in diese Angewohnheit zurückfallen, wenn sich ihnen die Gelegenheit bietet; aus diesem Grund sind tolnedrische Kauffahrer stets auf der Hut, wenn sie auf den Weltmeeren einem cherekischen Schiff begegnen. Vielleicht weil ihr Blut reiner ist als das ihrer Vettern in Drasnien und Algarien, sind die Chereker ein hoch gewachsenes, blondes Volk. Ihre Gesellschaftsstruktur ist stammesrechtlich organisiert, doch sämtliche Klans haben dem Thron in Val Alorn Treue geschworen. Die Fehden und Streitigkeiten, die von Zeit zu Zeit ausbrechen, werden entweder vom König geschlichtet oder durch einen ritualisierten Zweikampf entschieden. GESCHICHTE DER CHEREKER
Es liegt auf der Hand, daß die Alorner die cherekische Halbinsel seit nunmehr mindestens vier Jahrtausenden besiedeln. Der große Tempel Belars, des Bärengottes der Alorner, in Val Alorn ist
verläßlich in das elfte Jahrhundert datiert worden und stellt ein wahrhaft bemerkenswertes Denkmal prähistorischer Architektur dar. Es scheint, als seien die Chereker ein ziemlich großer Stamm nördlicher Nomaden gewesen, der sich zu Beginn des ersten Jahrtausends in Cherek niederließ. Obgleich Hinterlassenschaften der primitiven alornischen Kultur in Norddrasnien und in den Bergen Gar og Nadraks gefunden wurden, ist es nur allzu offensichtlich, daß die cherekische Halbinsel ihr ursprüngliches Herkunftsgebiet ist. Runeninschriften, die bis in älteste Zeiten zurückreichen, haben das Land in der Tat als Alorien identifiziert, aber dieser Name scheint zu Ehren Cherek Bärenschulters, eines großen Königs, der am Ende des zweiten Jahrtausends über die Alorner herrschte, in Cherek geändert worden zu sein. Offenbar ein Mann von gewaltiger Kraft, beherrschte König Cherek ein ausgedehntes Nordreich, das sich vom Aldurtal bis zum Polareis und von der Westküste bis zu jenen östlichen Regionen erstreckte, die heute Gar og Nadrak sind. Es umfaßte ganz Algarien, Drasnien, Gar og Nadrak und Nordsendarien wie auch die gesamte cherekische Halbinsel. In den späteren Jahren seiner Regierung wurde das Riesenreich König Chereks in vier verschiedene alornische Königreiche unterteilt – der genaue Grund dafür ist unklar –, und die Alorner zogen sich bis hinter die Grenzen des heutigen Drasnien aus dem Osten zurück. Die ersten Kontakte zwischen Cherek und dem tolnedrischen Imperium erfolgten während des 25. und 26. Jahrhunderts, als cherekische Freibeuter systematisch alle tolnedrischen Schiffe zu versenken begannen, die sich aufs Meer der Stürme verirrten, und die cherekischen Berserker die gesamte Westküste hinauf und hinunter Beutezüge unternahmen, wobei sie Städte in Sendarien, Arendien, Tolnedra und Nyissa plünderten und brandschatzten. Die Stadt Tol Vordue an der Mündung des Arendflusses wurde in diesen
zwei Jahrhunderten achtmal bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Zu Beginn des vierten Jahrtausends hatten tolnedrische Sonderbotschafter eine Reihe von Verträgen und Handelsabkommen mit den Cherekern geschlossen, und die Beziehungen nahmen zumindest einen Anschein von Normalität an. Im Jahre 3097 eröffneten die Vereinbarungen von Val Alorn tolnedrischen Kaufleuten mit gewissen Einschränkungen die Schiffahrts- und Handelsrouten nach Riva. (Siehe ›Die Geschichte der Insel der Stürme.‹) Nach der Errichtung der rivanischen Handelsenklave nahm die Stadt Val Alorn schließlich einen bescheidenen Handel mit der Insel der Stürme und mit Drasnien im Osten auf. Der Hauptteil des cherekischen Handelsaufkommens jedoch beruht auf dem Warentransport über das Meer, vom drasnischen Hafen Kotu durch den Golf von Cherek und die Enge von Cherek in die Straße von Sendarien und um die Landzunge von Arendien herum zu den südlichen Häfen. Trotz des hervorragenden Systems von Straßenverbindungen, das Kaiser Ran Horb II. (siehe ›Die Geschichte Tolnedras‹) anlegen ließ, sind die nach dem Vorbild der langen, schnittigen cherekischen Kriegsschiffe gebauten Kauffahrer viel schneller als die Karawanen anderer Händler, die die tausend Leagues von Boktor am westlichen Endpunkt der Nördlichen Karawanenstraße zum sendarischen Hafen Camaar zurücklegen müssen. Daher können cherekische Handelsschiffe ihre Waren mühelos an den Docks von Tol Vordue oder Tol Horb oder sogar an den Kaianlagen von Tol Honeth löschen, bevor ähnliche Waren auf der Überlandverbindung eintreffen können. Darüber hinaus können die Chereker die unzähligen Zölle, Steuern, Abgaben, Hafengebühren, Bestechungsgelder, Freundschaftsgeschenke und Zuwendungen umgehen, die das Herzblut des Handels sind, und diese Vorteile machen den gelegentlichen Verlust einer Schiffsladung durch Unwetter, auf den Karten nicht verzeichnete Riffe oder schieres Pech bei einer jener
Zufallsbegegnungen auf hoher See, welche die Chereker so sehr lieben, mehr als wett. Tolnedrische Kaufleute haben sich mehr als zwei Jahrtausende lang bei den verschiedenen Dynastien tolnedrischer Kaiser stets bitterlich über diese Vorteile beklagt: Ohne nennenswerten Erfolg, da die gewieften cherekischen Unterhändler sich in den Vereinbarungen von Val Alorn bereit erklärten, eine Steuer von zehn Prozent auf ihren Nettoerlös von jeder in Tolnedra verkauften Ware zu zahlen – direkt in die Privatschatulle des Kaisers. Im Jahre 4002 segelte die gesamte cherekische Flotte, augenscheinlich aufgrund eines Geheimabkommens mit den Rivanern, nach Süden und nahm an dem Angriff auf Nyissa teil. Seit jener Zeit ist es kein Geheimnis mehr, daß es ein alornisches Staatenbündnis gibt – eine widerrechtliche Übereinkunft und eine unmittelbare Verletzung zahlreicher Verträge mit Tolnedra, die alle eine Ausschlußklausel enthalten, welche der unterzeichnenden Nation untersagt, ohne tolnedrische Zustimmung Verträge oder Vereinbarungen mit anderen Nationen zu schließen. Man muß jedoch gestehen, daß diese Geheimvereinbarungen während des Krieges gegen die angarakanischen Horden Kal-Toraks (4865-75) außer Kraft gesetzt waren, als die Alorner sich als Reaktion auf die nahezu vollständige Zerstörung Drasniens und die Vernichtung der algarischen Herden wie ein Volk erhoben. Es geschah im Jahre 4875, daß cherekische Kriegsschiffe erstmals in Tol Honeth auftauchten und praktisch die gesamte Kaiserliche Garnison nach Norden zum Arendfluß und von dort den Fluß hinauf auf die weite Ebene westlich von Vo Mimbre transportierten, so daß dieses Heer die rechte Flanke der Angarakaner angreifen konnte. Überdies muß man einräumen, daß es die Persönlichkeit des rivanischen Wächters war, welche den gesamten Westen gegen die angarakanische Gefahr mobilisierte. Die Führerschaft dieser einzigartigen Streitmacht aus Rivanern, Cherekern, Sendarern und Nordarendern, die den Rücken der malloreanischen Horde angriff,
war der entscheidende Schlag auf jenem blutigen Schlachtfeld, zumal die algarische Kavallerie, die Reste der drasnischen Infanterie sowie die Ulgo-Irregulären den Angriff auf die angarakanische Linke bereits begonnen hatten. Dieser Angriff mit drei Spitzen – der massivste Angriff in der gesamten Militärgeschichte –, gilt allgemein als das einzige Mittel, mit dem der angarakanischen Flut Einhalt zu gebieten war. Cherek hat sich in den Jahren, die auf die angarakanische Niederlage folgten, einer anhaltenden wirtschaftlichen Blüte erfreut, indem es von der Hilfe profitierte, die es den Drasniern beim Wiederaufbau ihrer Städte Boktor und Kotu angedeihen ließ, sowie von der Instandsetzung der Dammstraße durch die Aldursümpfe auf der Großen Nordstraße. Der gegenwärtige König von Cherek ist Anheg IX. (von manchen Anheg der Verschlagene genannt). Er sitzt seit neun Jahren auf dem Thron in Val Alorn. Anheg ist ein großer, dunkelhaariger Mann mit grobschlächtigem Gesicht. Obwohl er die alornische Vorliebe für rüpelhafte Trinkgelage und laute Prahlerei zu teilen scheint, ist er ein höchst gebildeter Mann und ein gerissener Politiker, der voll im Bilde ist, sowohl was die komplexe Politik der südlichen Nationen wie die eher elementaren Bündnisse der alornischen Königreiche betrifft. Er verbringt viel Zeit mit Studien und gilt bei denen, die ihn kennen, dem tolnedrischen Kaiser als mindestens ebenbürtig, obwohl dieser ja den Vorteil hat, von gleich einer ganzen Universität ausgebildet zu werden. Der König von Cherek aber führt seine eigenen Studien; man munkelt, daß er sogar AltAngarakanisch gelernt hat, um das verbotene BUCH TORAKS im Original lesen zu können, ein Werk, das von allen zivilisierten Nationen und Religionen einhellig abgelehnt wird. Der Palast Anhegs ist ein gewaltiges Labyrinth unbenutzter Zimmer und feuchter Korridore – womöglich angemessen für ein Gebäude, an dem dreitausend Jahre lang gebaut wurde. Die
Privatgemächer sind dem Studium und obskuren Experimenten gewidmet. Anhegs engster Freund und Berater ist sein Vetter Barak, ein riesenhafter alornischer Krieger mit dem Gemüt eines Berserkers und dem Feingefühl eines tolnedrischen Botschafters. Wie aus verläßlicher Quelle verlautete, wurde Barak mit einer Reihe sehr heikler Missionen für seinen Vetter betraut. Unsere Informanten in Val Alorn berichten indes, daß man im cherekischen Adel allgemein glaubt, er leide unter irgendwelchen geheimnisvollen Stigmata oder einem ›Verhängnis‹, wie unsere nördlichen Freunde es zu nennen belieben, und daß er in bestimmten Abständen verdrießlich wird, ja sogar der Melancholie verfällt. Wie das Wesen dieses ›Verhängnisses‹ aussehen mag, ist ein Thema, das bei unseren cherekischen Freunden regelmäßig zusammengepreßte Lippen, weiß hervortretende Knöchel an ihren Schwerthänden sowie die strikte Weigerung hervorruft, über Baraks Leiden zu sprechen – selbst bei der geschicktesten Befragung. *
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Diese Beschreibung von Barak beruht auf einer früheren Charakterskizze.
MÜNZSYSTEME GOLD Eine Goldmünze von 1 ½ Unzen heißt ›Schild‹ und entspricht etwa 200 Dollar. Eine Goldmünze von ¾ Unze heißt ›Halbschild‹ und entspricht etwa 100 Dollar. Cherekische Goldmünzen sind achteckig, und ihr Gewicht ist nicht sehr genau. Für gewöhnlich werden sie gehortet, so daß sie selten im Handel auftauchen. SILBER Die standardmäßige Münze im cherekischen Handel. Ein Silberbarren von einem Pfund Gewicht, an den Ecken gerändelt und mit einem Prägeaufdruck der Königsrune versehen, heißt ›Silberkönig‹ und entspricht dem Wert von etwa 100 Dollar. Ein Silberbarren von ½ Pfund heißt ›Silberkönigin‹ und entspricht 50 Dollar. Eine (sehr große) Silbermünze von 4 Unzen heißt ›Silberprinz‹ und entspricht 25 Dollar. Eine Silbermünze von einer Unze heißt ›Silberprinzessin‹ und entspricht 6,50 Dollar (tolnedrischer Silbernobel). KUPFER Ein Kupferpfennig von 1 Unze, achteckig, entspricht 6,5 Cent. Ein Kupferhalbpfennig, rund, entspricht 3,25 Cent. Anmerkung: Kupfer ist in Cherek aufgrund des seltenen Vorkommens in diesem Land etwas mehr wert. (Keine Messingmünzen in Cherek.)
KLEIDUNG MÄNNER Im wesentlichen wikingisch; sehr viel Pelz. Leinentuniken. Beinlinge. Schuhe sind sehr grob gearbeitet. Cherekische Männer sind fast die ganze Zeit bewaffnet. Schwerter, Äxte, Speere (Eberspeer, Wurfspeere), Dolche. Helm – verschiedene Formen, normalerweise mit dem Klan-Totem verziert – keine Hörner an den Helmen. Kettenhemden oder schwere Rindslederpanzer mit aufgenähten Stahlplatten. Bärte üblich.
FRAUEN Leinengewänder. Gegürtet. Über Kreuz gewickeltes Mieder, um den Busen zu betonen. (Cherekische Frauen sind vollbusig und ziemlich stolz darauf.) Das Haar wird geflochten und oft zu kunstvollen Frisuren hochgebunden.
HANDEL Ausgeprägter Tauschhandel. Marktplätze in den meisten Städten und Dörfern. Schiffsbau ist das Hauptgewerbe um Val Alorn herum. STÄNDE DER KÖNIG Erblich. Trägt stets seine Krone. (Im Krieg setzt er sich eine Krone auf den Helm.) Staatsgewänder sehr vornehm und mit Hermelin besetzt. DIE GRAFEN In Wirklichkeit Klanhäuptlinge, von denen es etwa 30 bis 40 gibt. LORDS Die erbliche Adelskaste. Landbesitz. Kann nach dem Willen des Königs eingesetzt werden. KRIEGER Eigentlich kein Adel, werden jedoch mit größerer Achtung als die Gemeinen behandelt. GEMEINE Männer ohne Landbesitz – Landarbeiter, Schauermänner usw. rekrutieren sich überwiegend aus den Nachkommen von Leibeigenen (die Leibeigenschaft wurde am Ende des zweiten
Jahrtausends abgeschafft). * Die Gesellschaftsstruktur Chereks ist ziemlich durchlässig, ein gesellschaftlicher Aufstieg sehr häufig. Jeder Mann mit einem Schwert oder einer Axt kann in den Stand der Krieger aufsteigen und in gebührender Zeit vom König zum Lord ernannt werden. Chereker legen in diesen Dingen großen Wert auf Förmlichkeit. ANREDE Bei förmlichen Anlässen wird der König mit ›Euer Majestät‹ angesprochen, im normalen Umgang wird er aber häufig selbst von Gemeinen mit dem Vornamen angeredet. Adlige werden bei förmlichen Anlässen mit ›Sir John‹, ansonsten jedoch oft nur mit ›John‹ angeredet.
SITTEN UND GEBRÄUCHE Bei den Cherekern ist man stets bestrebt, jede Beleidigung zu vermeiden; sie sind leicht zu kränken und streitsüchtig. Prahlerei ist erlaubt, aber keine Beleidigung. Chereker singen viel, aber nicht sehr gut (dafür laut). Im Winter finden sehr viele Feste und Trinkgelage statt. Kämpfe sind an der Tagesordnung, aber die Tendenz geht dahin, Keulen oder Stäbe und keine Schwerter zu benutzen, um ernsthafte Verletzungen und Todesfälle möglichst gering zu halten. Ehebruch ist nicht ungewöhnlich, wird bei Entdeckung aber hart bestraft.
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Wir haben uns dazu entschieden, die Institution der Leibeigenschaft (Sklaverei) nicht zu übernehmen. Sie war in den Dunklen Jahrhunderten verbreitet, hätte aber in dieser Geschichte keinen Zweck erfüllt.
FESTE UND FEIERTAGE Erastide – Mittwinter Fest des Belar – Frühling Königsgeburtstag – Unterschiedlich. Wird zur Zeit im Mittsommer gefeiert. Chereks Geburtstag – Herbst Siegesfeier – Jahrestag der Schlacht von Vo Mimbre – Mittsommer BEVÖLKERUNGSZAHLEN Vermutlich insgesamt 2 Millionen * RELIGIÖSE GEPFLOGENHEITEN Priester sind athletisch und kriegerisch. Freudenfeuer auf dem Altar. Chorgesang. Predigten sind scharfe Attacken gegen individuelle Sündhaftigkeit. (Wie die schottischen Pastoren.) Glückszauber. DER BÄRENKULT Eine Gruppe von Kriegermönchen (wie die Templer), die sich dem Dienst an Belar geweiht hat; es gibt Kapitel in Drasnien, Algarien, Riva und Sendarien. Sie bilden den Kern der Heere dieser Nationen
*
Diese Bevölkerungszahlen waren durchgehend zu gering. Wir hatten die Dunklen Jahrhunderte im Sinn, aber die Gesellschaften, die sieh im Verlauf der Geschichte entwickelten, waren deutlich fortgeschrittener.
– eine grundsätzlich erzkonservativ. **
**
anti-angarakanische
Gesellschaft
–
Der Bärenkult taucht hier zum erstenmal auf. Zum damaligen Zeitpunkt hatten wir noch keine Vorstellung davon, wie wichtig er einmal werden sollte.
DRASNIEN GEOGRAPHIE Drasnien ist ein großes Land im Norden, das zwischen den Bergen des Ostens und dem Golf von Cherek liegt; im wesentlichen eine riesige Ebene, die sich von den Aldursümpfen über die Mrinmarsch und weiter zu den Drasnischen Mooren erstreckt, die sich nach Norden bis zum Polareis ausdehnen. Die Hauptbeschäftigung der Drasnier sind die gewaltigen Rentierherden, welche die Hauptstütze der drasnischen Wirtschaft bilden. * Drasniens strategisch günstige Lage an der Nördlichen Karawanenstraße hat seit urdenklichen Zeiten für ungeheuren Reichtum gesorgt. Die beiden größten Städte, die Hauptstadt Boktor, nördlicher Endpunkt der Großen Nordstraße und westlicher Endpunkt der Nördlichen Karawanenstraße von Gar og Nadrak, sowie der Inselhafen Kotu an der Mündung des Mrinflusses sind uralte Handelszentren, die schon vor Beginn der überlieferten Geschichte bestanden haben. DIE DRASNIER Die sphinxhaften Rivaner vielleicht ausgenommen, sind die Drasnier das rätselhafteste der alornischen Völker. Möglicherweise aufgrund ihrer isolierten Grenzlage und des grausamen drasnischen Winters, wenn der Wind über die Drasnischen Moore heult, sind sie freundlich und zurückhaltend zugleich; sie scheinen eine unsichtbare Grenzlinie zu ziehen, die zu übertreten Fremden nicht gestattet wird. Sie sind harte Händler, aber grundehrlich. Gewinn *
Die Rentiere wurden später fallengelassen.
ziehen sie aus gewissen vorteilhaften Handelsgesetzen und Zollabkommen. Wie alle Alorner sind sie kriegerisch veranlagt; Krieger aus den nördlichen Regionen Drasniens
sind (eine Folge ihres lebenslangen Umherziehens mit den Rentierherden) die beste Infanterie der Welt, die mühelos in der Lage ist, auf langen Märschen mit Kavallerieeinheiten schrittzuhalten. Wie bei allen Infanteristen ist der Langspeer ihre Lieblingswaffe. Die Drasnier sind nicht so stammesbewußt wie die übrigen Alorner. Ihre Kultur scheint bis zu einer Stufe fortgeschritten zu sein, auf der lokale und regionale Bindungen den Banden des Blutes zumindest ebenbürtig geworden sind.
DIE GESCHICHTE DRASNIENS Wie die Rivaner und Algarer wurden die Drasnier zur Zeit der Teilung des Reiches von König Cherek Bärenschulter am Ende des zweiten Jahrtausends vom Hauptzweig der Alorner getrennt. In den ersten tausend Jahren ihrer Geschichte scheinen die Drasnier nomadische Hirten gewesen zu sein, die den jahreszeitlichen Wanderbewegungen der Rentierherden folgten. Ein eigenartiger Zug ihrer frühen Geschichte ist die Existenz einer Reihe von befestigten Lagern entlang der westlichen Ausläufer der Gebirgskette, die ihre Grenze mit Gar og Nadrak bildet. Die Lager waren offenbar nicht fortlaufend bemannt, sondern wurden vielmehr periodisch von
irgendeinem der Dutzend Stämme Algariens benutzt. Archäologische Funde (Waffen und Gebeine) sprechen dafür, daß eine große Schlacht in einem engen Tal unmittelbar unterhalb eines dieser Lager stattfand. Die angreifende Streitmacht scheint – den Gegenständen und der charakteristischen Schädelform des Großteils der sterblichen Überreste zu schließen – angarakanischer Herkunft gewesen zu sein, und vieles deutet darauf hin, daß die Drasnier einen entscheidenden Sieg errungen und mit dieser Schlacht möglicherweise die ersten Versuche einer großangelegten Invasion des Westens durch eine hochorganisierte angarakanische Streitmacht abgewehrt haben. Das Ereignis läßt sich grob ins fünfundzwanzigste Jahrhundert datieren; offenbar war es ein entschlossener Versuch der Angarakaner, in den Westen vorzudringen, also etwas ganz anderes als die ständigen Erkundungsexpeditionen, die das ganze dritte Jahrtausend hindurch nach Algarien ausgesandt wurden. Daher schulden alle Königreiche des Westens jenen unbekannten drasnischen Kriegern eine tiefe Dankesschuld dafür, daß sie eine Invasion aufgehalten haben, die – berücksichtigt man den heillos verworrenen Zustand des Westens während des dritten Jahrtausends – mit großer Gewißheit dazu geführt hätte, daß wir alle unter einer angarakanischen Diktatur aufgewachsen wären. * Nachdem der Aggressionsdrang der Angarakaner durch diese große, aber namenlose Schlacht und eine Reihe vergleichbarer, jedoch kleinerer Auseinandersetzungen in Algarien eingedämmt worden war, nahm der Handelsaustausch mit dem Osten seinen Anfang, und die Drasnier begannen mit der Errichtung ihrer Hauptstadt Boktor und ihres Seehafens in Kotu. Boktor entstand nahezu zwangsläufig am westlichen Endpunkt der Nördlichen Karawanenstraße. Die Stadt existierte schon lange, bevor sie in der Vereinbarung des Jahres 3219 zwischen den Königen von Drasnien und Gar og Nadrak eine offizielle *
Wir haben uns entschlossen, diese Schlacht nicht weiter zu verfolgen.
Bestätigung erfuhr. Boktor wurde zu einem Haupthandelszentrum im Norden, lange bevor die alornischen Städte auch nur an die Vorzüge des Handels zu denken begonnen hatten. Kotu blühte und gedieh derweil als Hauptseehafen des Nordens. Um die Mitte des vierten Jahrtausends hatten Handelsabkommen Drasnien in das tolnedrische Handelsimperium integriert, doch hatten die hart feilschenden Drasnier die Abkommen dermaßen verzerrt, daß sich nur schwer sagen läßt, auf welcher Seite tatsächlich der Vorteil lag. Hier soll lediglich Erwähnung finden, daß die Bedingung, sämtliche Warentransaktionen in Boktor über einen drasnischen Zwischenhändler laufen zu lassen, den tolnedrischen Kaufleuten Tränen des Zorns in die Augen trieb, da diese Bestimmung wirkungsvoll den Direkthandel mit östlichen Kaufleuten an diesem Endpunkt der Nördlichen Karawanenstraße verhinderte. Drasnien blühte und gedieh während des vierten Jahrtausends, und in den ersten Jahren des fünften Jahrtausends stand es als eine Handelsmacht da, die Tolnedra Konkurrenz machte. Als der rivanische König 4002 ermordet wurde, legte die massierte drasnische Infanterie einen der erstaunlichsten Gewaltmärsche der Geschichte zurück, indem sie die tausend Leagues von Boktor zum Aldurtal in sechzig Tagen * bewältigte, um sich mit der algarischen Kavallerie für den Überlandangriff auf Nyissa zu vereinigen. Drasnische Infanterie war gegen nyissanische Soldaten besonders wirkungsvoll, da Nyissaner sich bei Angriffen traditionell auf die Bäume flüchten und die langen drasnischen Speere sie mühelos von den unteren Zweigen pickten, wo sie gern Zuflucht suchten. In der Tat tragen bestimmte Gebiete in den Dschungeln von Ostnyissa bis zum heutigen Tag einen schauerlichen Schmuck aus menschlichen Skeletten. *
Das wurde geschrieben, bevor wir unser Maßsystem entwarfen. In Wirklichkeit sind es 80 Leagues von Boktor ins Tal, und Elitetruppen könnten diese Entfernung in acht Tagen zurücklegen.
Trotz aller Macht und Tapferkeit fielen die Drasnier als erste dem grausamen Angriff der angarakanischen Horden Kal-Toraks zum Opfer, die im Frühling des Jahres 4865 aus den Bergen Nadraks kommend die Ebene überfluteten. Obwohl sie tapfere Gegenwehr leisteten, wurden die Drasnier zu einem großen Teil vernichtet. Ihre Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht, und diejenigen, die nicht getötet wurden, gerieten in die Sklaverei. Auf Befehl des Königs schlugen sich einige Eliteeinheiten der drasnischen Südarmee nach Nordalgarien durch und umgingen so die Hauptstoßrichtung der angarakanischen Horden, die in südwestlicher Richtung nach Arendien drängten. Diese Infanterieeinheiten begleiteten die algarische Kavallerie auf ihrem Weg über die Südspitze von Ulgoland und fielen während der Entscheidungsschlacht von Vo Mimbre mit besonderer Wildheit über die linke Flanke der Angarakaner her. Diesen Einheiten gelang auch die Befreiung der überlebenden drasnischen Gefangenen aus den Händen der zurückweichenden Nadraker, und diese traurigen Reste bildeten den Grundstock der Wiedergeburt der drasnischen Nation. Mit Hilfe der Chereker und Algarer baute der neue Monarch in Boktor, Rhodar I. (der General, der während des Krieges die drasnischen Truppen befehligt hatte), die Stadt Boktor wieder auf; er ließ den Hafen von Kotu von Schutt und gesunkenen Schiffen befreien und errichtete die große Dammstraße über die nordöstlichen Regionen der Aldursümpfe neu. In dem Jahrhundert nach der angarakanischen Invasion töteten drasnische Grenzposten systematisch sämtliche Reisende aus dem Osten, bis Proteste aus Tolnedra sie dazu bewogen, diese Praxis aufzugeben und wieder einen normalen Handelsverkehr auf der Nördlichen Karawanenstraße zuzulassen. In gewisser Weise kann man den Niedergang von Tolnedra direkt auf diese Austrocknung des Nordhandels zurückführen.
Der gegenwärtige König von Drasnien, Rhodar XVIII. ist ein ungeheuer fetter, lustiger Mann um die fünfundsechzig, der ein wenig schlicht wirkt, tatsächlich aber ein schlauer und gerissener Landesherr ist, wachsam und ständig auf der Hut. Drasnische Kaufleute findet man in allen Winkeln der bekannten Welt, und durch ihre Vermittlung ist der drasnische Geheimdienst der wahrscheinlich beste der Welt. Es heißt – was vermutlich nicht eines gewissen Wahrheitsgehalts entbehrt –, daß der tolnedrische Kaiser nicht seine Tunika wechseln kann, ohne daß die Nachricht binnen einer Stunde nach Boktor übermittelt wird.
MÜNZSYSTEM GOLD Ein Goldplättchen (rechteckig) von 2 Unzen Gewicht heißt ›Goldbulle‹ – entspricht etwa 250 Dollar. Eine Goldmünze (quadratisch) von 1 Unze heißt ›Goldkuh‹ – entspricht etwa 125 Dollar. Eine Goldmünze (ebenfalls quadratisch) von ½ Unze heißt ›Goldkalb‹ – entspricht etwa 62,50 Dollar.
SILBER Ein zu einem offenen Rechteck geformtes Silberplättchen von 2 Unzen heißt ›Silberglied‹ (kann zu Ketten ineinandergehakt werden). 10 Glieder ergeben eine ›Kette‹ – entspricht etwa 125 Dollar. Eine quadratische Silbermünze von 1 Unze heißt ›Marke‹ – entspricht etwa 6,25 Dollar. MESSING UND KUPFER Münzen aus diesen Metallen sind natürlich die Handelsgrundlage unter dem gemeinen Volk und werden in jedem Distrikt geprägt. Sie heißen ›Kupfer‹ oder ›Messing‹. Sämtliche Münzen wiegen genau 1 Unze. Kupfer hat ein Fünftel des Wertes von Messing. Messing hat ein Fünftel des Wertes von Silber. Das Gewicht drasnischer Münzen ist außergewöhnlich präzise, und die Metalle sind sehr rein. Außerdem haben die Drasnier ein rudimentäres Bankwesen entwickelt, das mit Sichtwechseln zwischen Mitgliedern derselben Familie operiert und komplizierte Geheimcodes verwendet. Zum Beispiel: ›John hat mir 100 Ketten hier in Boktor gegeben. Du gibst ihm 100 Ketten in Yar Marak.‹ (selbstverständlich minus 10%).
KLEIDUNG * MÄNNER Von russischem Charakter. Viel Pelz. Gegürtete Leinentuniken, Beinlinge, weiche Lederstiefel mit schweren Sohlen – im Winter Filzstiefel und weite Pelzumhänge – wie Decken. Rüstung – auf Leder genähte Stahlplättchen. Helme sind oben vierkantig behauen und besitzen einen langen Nasenschutz. Kaufleute tragen mit Pelz besetzte Gewänder ohne Gürtel und eng anliegende Hüte. Gewänder sind meist farbig, um den Handelsbereich anzuzeigen. Die Farbkennzeichnung ist ziemlich kompliziert. Alle drasnischen Männer tragen breite Dolche, die jedoch unter der Kleidung versteckt sind. FRAUEN Im Sommer Leinen, im Winter Wolle. Gewänder sehr weit geschnitten und nicht übermäßig verziert. Drasnische Frauen tragen ihr Haar lang und offen bis zur Taille. *
Ziemlich oft erwiesen die Trachten sich als unwichtig.
HANDEL Hochentwickelt. Sehr viele Läden und Geschäfte. Hauptgeschäftszentren entlang der Hafendocks in Boktor und Kotu. Große Geldbeträge wechseln täglich den Besitzer. Drasnier notieren alles auf Schiefertafeln und begleichen es am Ende des Tages. Jeder Kaufmann hat seinen eigenen Tresorraum – streng bewacht. (Drasnische Schmiede haben komplizierte Schlösser entwickelt.) STÄNDE DER KÖNIG Erblich DIE FÜRSTEN Stammeshäuptlinge. Alle sind – entfernt – mit dem König verwandt; es gibt im ganzen Land etwa 20 bis 30 Fürsten. LORDS Erbadel in Verbindung mit Landbesitz. Ähnlich wie in Cherek. HÄUPTLINGE Dies sind die Besitzer der Rentierherden und die Klanführer der Stämme, die diese Herden hüten. Es sind höchst archaische Gruppen, und die Anführer verfügen über unterschiedliche Machtfülle, besonders im Norden. Jeder Klan hat seine eigenen
ausgedehnten Weidegründe. Die Autorität des Königs im Norden ist alles andere als absolut. * GEMEINE Sämtliche anderen Einwohner. Alle drasnischen Männer tragen Waffen. MILITÄR Einheiten organisiert auf Familien-Stammes-Basis. ANREDE Werden mit ihrem jeweiligen Rang angesprochen, also ›König John‹, ›Fürst Fred‹. Gemeine werden mit ›Werter John‹ oder ›Freund John‹ angeredet. SITTEN UND GEBRÄUCHE Drasnier sind höflich und haben viel Sinn für Humor. Der Übergang von der Anrede ›Werter John‹ zu ›Freund John‹ ist extrem kompliziert, und Drasnier amüsieren sich köstlich, wenn Fremde den von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch unternehmen, die verschiedenen Stationen dieses Prozesses zu absolvieren. Anmerkung: Drasnier haben eine komplizierte ›Fingersprache‹ entwickelt, die aus kaum sichtbaren Gesten besteht. Können ganze Unterhaltungen miteinander führen, während sie mit einem Kaufmann aus einem anderen Volk reden. Eine höchst nützliche *
Das wurde nicht beibehalten.
Angelegenheit bei Spionagearbeit. *
ihren
Verkaufsverhandlungen
und
ihrer
FESTE UND FEIERTAGE Erastide Fest des Belar Dras’ Geburtstag Tag der Trauer (Einfall der Angarakaner) – Anfang Juni (hier eine Fastenzeit) Tag des Sieges (Schlacht von Vo Mimbre) – Ende Juni BEVÖLKERUNGZAHLEN Bevölkerung etwa 1,5 Millionen
*
Die ›Geheimsprache‹ erwies sich als sehr nützlich, obwohl sie in den Vorstudien nichts als eine Randnotiz war.
ALGARIEN GEOGRAPHIE Mit Ausnahme der Aldursümpfe im Norden und dem Gebiet südlich der niedrigen Hügelkette, die den Oberlauf des Aldurflusses kennzeichnet, ist Algarien ein weites, sanft hügeliges Grasland, das zwischen den beiden Armen der Gebirgskette liegt, welche das Rückgrat des Kontinents bildet. Das Land ist fruchtbar und durch den Aldur hinreichend bewässert. Man könnte es gewinnbringend landwirtschaftlich nutzen, doch die Algarier ziehen es vor, halbprimitive Herdenbesitzer und Hirten zu bleiben. Jungfräuliches Gold taucht gelegentlich in geschäftlichen Transaktionen mit den Algariern auf, doch was seine Herkunft angeht, läßt sich nichts herausbekommen. Die algarischen Viehherden sind die besten der bekannten Welt und liefern das Fleisch für die meisten Königreiche des Westens. Der alljährliche Viehtrieb nach Muros in Sendarien über die Große Nordstraße ist eins der prachtvollsten Schauspiele, die man beobachten kann. Jahrhunderte sorgsam kontrollierter Zucht haben die algarischen Pferde unübertrefflich gemacht.
BEVÖLKERUNG Die Algarier sind natürlich nur ein weiterer Zweig des zahlreichen alornischen Volkes und gleichen ihren nördlichen Vettern. Sie sind hochgewachsen, hellhäutig und im allgemeinen ein offenes Volk, ehrlich bei Geschäften und verläßlich bei ihren Freundschaften und Bündnissen. Vorwiegend wohnen sie in großen Wagen, in denen sie den Wanderungen ihrer Herden folgen. Eine algarische Stadt kann sich binnen einer Stunde aus der Steppe erheben – eine wohlgeordnete Stadt aus Zelten, Pavillons und geraden Straßen, die von einem Wall aus hölzernen Pfählen umschlossen wird, welche die Algarier stets in ihren Wagen mitführen. Jede dieser beweglichen Städte steht für einen ganzen algarischen Klan – für gewöhnlich zählt er bis zu tausend bewaffnete und berittene Männer samt ihrer Familien. Die gewaltigen Viehherden eines jeden Klans sind Gemeinschaftsbesitz. Wie bei den meisten Alornern sind Fehden nicht ungewöhnlich; der letzte Stammeskrieg jedoch fand gegen Ende des dritten Jahrtausends statt. Seit dieser Zeit werden Streitigkeiten durch ritualisierte Zweikämpfe beigelegt.
In der algarischen Gesellschaft gibt es zwei Besonderheiten. Einmal die Existenz einer riesigen steinernen Festung im Hügelland im Süden der Steppe, schlicht ›die Feste‹ genannt. Sie wird von einer Garnison bemannt, ist aber nicht im eigentlichen Sinne bewohnt. Die zweite Besonderheit sind die ständigen berittenen Patrouillen, die im Umkreis des Aldurtales umherstreifen, eines wunderschönen, aber unbewohnten Gebietes im äußersten Süden des Königreichs. Sowohl die Garnison in der Feste als auch die Patrouillen im Tal bestehen aus Kontingenten sämtlicher Klans. DIE GESCHICHTE DER ALGARIER Wiederum haben wir ein alornisches Volk vor uns, das zur Zeit der Auflösung des Reiches von Cherek Bärenschulter von seinen Vettern getrennt wurde. Der legendäre Gründer der Nation war Algar Flinkfuß, der zweite Sohn des alten Königs Cherek. Wie Drasnien und Riva wurde Algarien am Ende des zweiten Jahrtausends besiedelt. Es scheint große Herden von Wildpferden und Rindern in der algarischen Steppe gegeben zu haben, und schon bald ritten die Menschen auf den Pferden, und ihre Rinderherden hatten sich mit den wilden, widerspenstigen Herden der Wildrinder vermischt, die in der Steppe lebten, wodurch eine wesentlich widerstandsfähigere Rasse entstand als die alornischen Rinder, die sie mit ins Land gebracht hatten. Es ist bewiesen, daß eine fortgesetzte Reihe von Scharmützeln mit angarakanischen Plünderergruppen entlang dem östlichen Steilhang von Algarien mit stets demselben, vorhersagbaren Ergebnis stattfand. Die angarakanischen Truppen waren naturgemäß zu Fuß und wurden daher von den berittenen Algariern mühelos zu Kleinholz verarbeitet. Die Fähigkeit der Algarier, sich rasch zu bewegen und andere Klans um die nötigen Verstärkungen zu bitten, ließ die angarakanischen Einfälle zu einem selbstmörderischen
Unterfangen werden. Wir haben nie erfahren, warum die Angarakaner diese offensichtlich hoffnungslosen Unternehmungen tausend Jahre lang fortführten. Im Verlauf des vierten Jahrtausends versuchten tolnedrische Abgesandte, Verträge mit den Algariern abzuschließen, so wie sie es mit anderen Königreichen des Westens getan hatten, mußten sich aber mit fünfhundert Jahren fortgesetzter Enttäuschung abfinden, da sie nicht in der Lage waren, den algarischen König zu identifizieren – oft verhandelten sie jahrelang mit einem Mann, der sich später als bloßer Klanhäuptling erwies. Als es ihnen endlich gelang, den echten König der Algarier ausfindig zu machen, den verehrungswürdigen Cho-Dorn den Älteren, kam der hinterlistige alte Bandit bewaffnet mit Abschriften jedes Vertrages in das Verhandlungszelt, den die Gesandten im Zeitraum von fünfhundert Jahren abgeschlossen hatten, und bestand darauf, daß jedes Zugeständnis in jedem der Verträge auch ihm zugute käme. Gerissen erinnerte er die Gesandten daran, daß er der König sei, und fragte sie, wie sie es wagen könnten, ihm weniger anzubieten, als sie einem bloßen Klanhäuptling angeboten hatten. Das Ergebnis war einer der demütigendsten Verträge, die das Reich je abgeschlossen hat. Innerhalb der Grenzen von Algarien wurde keine tolnedrische Garnison geduldet. Kein Handel war im Lande erlaubt – mit Ausnahme eines beschränkten Austauschs gewisser, genau bestimmter Waren in Aldurford – in der Hauptsache Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände und keine gewinnträchtigen Luxusgüter. Es gab nicht einmal einen gehobenen Status, der für gewöhnlich den tolnedrischen Kaufleuten zugebilligt wurde. Das nötigte tolnedrische Viehaufkäufer dazu, in Muros in Sendarien aufzutauchen und mit anderen um den Kauf algarischen Viehs zu wettweifern, statt sich zu ihrem Preis die besten Tiere der Herden auszuwählen, wie sie anderswo gewöhnt waren. Darüber hinaus sahen sie sich gezwungen, niedrigste Preise für jene Waren zu verlangen, die algarische Klans in großen Mengen kauften (Algarier
kaufen selten einzeln ein), auch hier in Konkurrenz mit den Kaufleuten anderer Nationen. Dies alles machte den großen Markt von Muros in Sendarien jedes Jahr zu einem der Hauptereignisse in der Handelswelt. Die tolnedrischen Kaufleute haben sich bitterlich über den Vertrag mit den Algariern beklagt, doch Kaiser Ran Horb II. hatte zum Zeitpunkt „seiner Unterzeichnung nur Augen für seine Vision von der Großen Nordstraße, und jede Konzession an die Algarier erzwang mehr Meilen dieses großartigen Traums. Als im Jahre 4002 die Nachricht von der Ermordung des rivanischen Königs nach Algarien gelangte, fand ein nie zuvor gesehenes Ereignis statt. Der tolnedrische Botschafter Dravor berichtete in Geheimdepeschen nach Tol Honeth, die gesamte Bevölkerung finde sich vor der Feste zusammen und lasse die Herden mit nur geringer Bewachung zurück. Es gab eine große Konferenz der Klanführer mit König Cho-Ram IV. und aus den versammelten Klans wurde ein Heer der besten Krieger zusammengestellt. Botschafter Dravor berichtete ferner, daß andere Einheiten algarischer Kavallerie ausgeschickt wurden, an den Grenzen Streife zu reiten. Dann, nach Ablauf von sechzig Tagen, tauchten die Massen drasnischer Infanterie auf und vereinigten sich mit der algarischen Kavallerie für ihren Marsch durch das Gebirge, um die östlichen Grenzen Nyissas anzugreifen. Auch wenn diese Horde theoretisch das tolnedrische Hoheitsgebiet verletzte, zog der Kaiser, Ran Vordue I. es klugerweise vor, nicht einzuschreiten. Die algarische Kavallerie verbreitete tödlichen Schrecken in den Herzen der Nyissaner, und König Cho-Ram IV. sowie König Radek XVII. von Drasnien entwickelten eine Reihe taktischer Alternativen für das Zusammenspiel von Infanterie- und Kavallerieeinheiten, die bis heute als klassische Manöver gelten. Nach der Zerstörung Nyissas erlebte Algarien eine wirtschaftliche Blüte, obwohl es an der Ostgrenze zu einer merklichen Verstärkung der Sicherheitsvorkehrungen gekommen zu sein scheint.
Während der Invasion Drasniens durch die Angarakaner versuchten die Algarier, ihren nördlichen Vettern zu helfen, wurden jedoch durch die schiere Übermacht der angarakanischen und malloreanischen Horden zurückgeworfen – die von einigen auf nicht weniger als eine halbe Million Krieger geschätzt wurden. Zum zweiten Mal strömten die Algarier zur Feste, begaben sich hinein – mit Ausnahme der besten Kavallerieeinheiten – und versiegelten die Tore. Nach der Zerstörung Drasniens marschierte die Hauptstreitmacht der Angarakaner nach Süden. Beim Vorrücken vernichteten sie systematisch die algarischen Herden. 4867 begann die Belagerung der algarischen Feste – eine Belagerung, die acht Jahre dauern sollte. Mit der (möglichen) Ausnahme von Prolgu in Ulgoland und Rak Cthol in Cthol Murgos ist die algarische Feste vermutlich die uneinnehmbarste Landfestung der Welt. Die Angarakaner wurden unablässig von Stippangriffen der nomadischen algarischen Kavallerieeinheiten gestört. Selbst als einige Angarakaner (hauptsächlich Murgos) sich auf algarische Pferde setzten, waren sie keine Gegner für die Algarier. Im Jahre 4874 beschloß Kal-Torak offenbar, von dem Versuch abzulassen, die algarische Feste einzunehmen. Nachdem er ein eher symbolisches Kontingent zurückgelassen hatte, um die Belagerung aufrechtzuerhalten, wandte er sich westwärts durch Ulgoland, um seinen Kriegszug gegen Arendien in Angriff zu nehmen. Die Einheiten algarischer Kavallerie störten weiterhin seine Flanken, zogen sich aber zurück, nachdem seine Hauptstreitmacht das Gebirge erreicht hatte. Es ist ungewiß, warum Kal-Torak es vorzog, Zeit und Kraft in die langwierige Belagerung der Feste zu stecken, statt sofort über die Große Nordstraße nach Sendarien vorzustoßen und von dort südwärts gegen Arendien und Tolnedra loszuschlagen. Möglicherweise handelte er so, weil er davon ausging, niemals den
Rücken freizuhaben, solange er dort von einer unversehrten algarischen Nation bedroht wurde; vielleicht war der Grund aber auch der, daß zweitausend Jahre fortgesetzter demütigender Niederlagen durch die Algarier die Vernichtung des Pferdevolkes zu einem der vorrangigen Ziele der angarakanischen Rasse hatten werden lassen. Was immer seine Beweggründe gewesen sein mögen, der Gigant Kal-Torak wurde in der Schlacht von Vo Mimbre vernichtend geschlagen, nachdem algarische Kavallerieeinheiten, verstärkt von drasnischen Überlebenden, die Südspitze Ulgolands über nur den Ulgos bekannte Pässe überquert hatten und beim konzentrierten Angriff am dritten Tag der Schlacht die linke Flanke der Angarakaner attackierten. Es gilt als allgemein anerkannte Tatsache, daß die gegen die Murgos gerichtete algarische Kavallerieattacke entscheidend zum Sieg beigetragen hat. Nach der Schlacht von Vo Mimbre störten die Algarier den angarakanischen Rückzug. Es gelang ihnen, die Belagerung der Feste aufzuheben. Überdies verfolgten sie die Reste der nadrakischen und thullischen Angarakaner nach Norden und zwangen sie schließlich, ihre Garnisonen in Drasnien sämtlich aufzulösen. Als im Jahre 4880 der Friede wiederhergestellt war, sahen die Algarier sich mit der Tatsache konfrontiert, daß ihre Herden stark dezimiert und weit verstreut waren. Es dauerte fast zehn Jahre, ihr Vieh wieder zusammenzutreiben und eine genaue Verlustaufstellung anzufertigen. Während dieser Jahre weigerten sie sich, auch nur ein einziges Stück Vieh zu verkaufen, wodurch es zu einem eklatanten Mangel an Fleisch im Westen kam; überdies hatte es den völligen Bankrott jener Kaufleute zur Folge, die ihren Lebensunterhalt auf dem Markt von Muros verdient hatten. Als die Herden sich allmählich wieder auffüllten, wurde auch der Handel wieder aufgenommen, doch hat er bis heute nicht mehr den Umfang der Zeit vor dem Krieg erreicht.
Der gegenwärtige König der Algarier ist Cho-Hag VII. ein Mann von vierzig Jahren, der ein tüchtiger Herrscher zu sein scheint, obwohl der Rat der Klans sich sein Urteil noch vorbehält, bis er länger regiert hat als die drei Jahre, die er bislang auf dem Pferdefellthron gesessen hat. ANHANG ZUM ALDURTAL ANMERKUNG
Die Informationen bezüglich des Aldurtals sind spärlich und beruhen größtenteils auf Vermutungen. Der Leser muß dies stets im Sinn behalten, und die Informationen sollten nie als alleinige Grundlage für politische Entscheidungen hinsichtlich dieser Region genommen werden. GEOGRAPHIE
Das Aldurtal ist eine Wald- und Wiesenlandschaft am Oberlauf des westlichen Quellflusses des Aldurs. Es schmiegt sich in die Gabelung des östlichen und westlichen Arms der gewaltigen Gebirgskette, die das Rückgrat des Kontinents bildet. Das Aldurtal liegt ein wenig höher als die Steppen im Norden; die Niederschlagsmengen sind gewaltig. Aus diesem Grunde ist auch die Vegetation sehr dicht. Es scheint eine angenehme, wasserreiche Gegend zu sein, ist aber unbewohnt, soweit unsere Ermittler dies feststellen konnten. Seit urdenklichen Zeiten kursieren Gerüchte über das Gebiet – für gewöhnlich von Reisenden, die sich verirrt haben, da die Algarier sich beharrlich weigern, irgend jemandem den Zugang ins Tal zu gestatten. Unsere Informanten haben uns berichtet, daß es bauliche Denkmäler der verschiedensten Art im Tal gibt – Gebäude, die
unglaublich alt sind. Ein sendarischer Kaufmann, der von der Südlichen Karawanenstraße abgekommen war, fand sich im Tal wieder und entdeckte mehrere moosüberwachsene Ruinen. Am dritten Tag seiner Wanderung stieß er auf einen gewaltigen Steinturm, der keinen sichtbaren Eingang besaß und sehr hoch in den Himmel ragte – höher vielleicht als der höchste Baum. Der Kaufmann wurde dort von einer berittenen algarischen Patrouille aufgestöbert, die ihn rasch zurück zur Karawanenstraße geleitete, sich aber weigerte, über den Turm zu sprechen. Die Überlieferungen gewisser primitiver und ungebildeter Menschen erwähnen eine ›Bruderschaft der Zauberer‹, die ihren Sitz im Tal haben soll, doch kann man diese Annahme guten Gewissens verwerfen. Die sogenannten Zauberer, Hexer, Magier und wie sie alle heißen (und die wir allesamt entweder als einsame Bettelvagabunden oder in Wanderzirkussen zu Gesicht bekommen haben), sind allesamt Scharlatane, deren ›Magie‹ aus ein paar primitiven Taschenspielertricks besteht; außerdem benutzen sie einige gewöhnliche Chemikalien zur Veränderung der Wasserfarbe. Diese Tricks, so sehr das gemeine Volk sich auch daran ergötzen mag, sind schwerlich dazu angetan, diese ›Zauberer‹ in jenen übermenschlichen Rang zu erheben, den die Legende ihnen zuweisen möchte. Da sich also die Beweise, das Tal sei von einem abgeschieden lebenden Völkchen bewohnt, nicht erhärten lassen, hat Tolnedra seit langem den Standpunkt eingenommen, daß es sich bei dem Tal schlicht um einen integralen Bestandteil Algariens handelt. Dies ist insbesondere daran ersichtlich, daß algarische Reiter seine Grenzen bewachen. Die Ruinen, die angeblich im Tal verstreut stehen, können nicht wirklich als Werke eines nicht-alornischen Volkes gelten; vielmehr muß man sie wahrscheinlich als eine bislang unerklärliche archäologische Besonderheit betrachten. Die Universität hat den Kaiser wiederholt gebeten, die Frage der Erlaubnis einer archäologischen Expedition ins Tal anzusprechen,
doch die Algarier weigern sich, darüber zu reden, ja sogar einzuräumen, daß dieses Tal überhaupt existiert. MÜNZSYSTEM Algarier besitzen keine Münzen. Ihre Standard-Werteinheit basiert auf Vieh Ein (durchschnittliches) Pferd entspricht etwa 50 Dollar (gute Pferde sind teurer) 3 Kühe entsprechen einem Pferd 5 Kuhhäute = 1 Kuh Algarier treiben jedoch Handel, wobei sie die Münzen anderer Nationen und Freigold (Klumpen und Staub) verwenden, das sie aus Flüssen und Bächen in den Ausläufern des Gebirges ausgewaschen haben.
KLEIDUNG MÄNNER Jegliche algarische Außenbekleidung besteht aus Leder. Weiche Stiefel, Pluderhosen. Mit Metall besetzte Westen (sehr ähnlich denen der Tartaren oder Mongolen); im Winter zusätzlich Wollhemden, Socken und Unterhosen. Außerdem schwere Wollumhänge. Schwerter sind gebogen (Säbel oder Krummsäbel), Lanzen und Kurzbogen. Seile werden benutzt (in Verbindung mit einer lanzenartigen Stange – keine Lassos). Rüstung – mit Stahlplättchen besetzte Lederhemden, topfähnliche Helme mit Kettenhauben darunter. Die Schädel der Männer sind
mit Ausnahme einer langen Skalplocke rasiert. Schnurrbärte, aber keine Vollbärte.
FRAUEN Dieselbe Kleidung wie die Männer. Haare werden nach Art eines Pferdeschwanzes getragen. HANDEL Ausschließlich Tauschhandel. Die vom Klan benötigten Gegenstände des täglichen Bedarfs werden vom Häuptling erworben und als Geschenke verteilt. Lebhafter Handel der Klans untereinander mit Waffen, Vieh (für gewöhnlich Zuchtvieh) und nützlichen Dingen. STÄNDE KÖNIG Häuptling der Klanhäuptlinge. KLANHÄUPTLINGE
Die Stammesführer sind Mitglieder des Rates der Klans. Insgesamt 20. HERDENMEISTER Häupter der Unterstämme, verantwortlich für Teile der Herde. Fünf oder sechs Herdenmeister in einem Klan. KRIEGER Sämtliche algarischen Männer sind Krieger. Auch die Frauen sind kriegerisch. ANREDE Für den König ›Cho‹, ein algarisches Wort, das Häuptling der Häuptlinge bedeutet. Außer dem König werden alle mit dem Namen und überaus höflich angesprochen. SITTEN UND GEBRÄUCHE Algarier neigen dazu, ein wenig förmlicher als andere Alorner zu sein. Komplizierte Etikette – wer zuerst essen, sich setzen darf usw. Sehr schnell gekränkt bei Beleidigungen. Geschenke sind der Kern der gesellschaftlichen Beziehungen in Algarien. Jeder macht jedem Geschenke. BEVÖLKERUNGSZAHLEN Kaum mehr als 100.000, die in ihren Wagen-Städten leben.
FESTE UND FEIERTAGE Erastide Fest des Belar Deckzeit – Herbst – Zusammenkunft der Klans, um die Herden zu kreuzen Wurfzeit – Frühling – die Geburtszeit der Kälber und Fohlen Algars Geburtstag
SENDARIEN* GEOGRAPHIE Sendarien oder das Land der Seen ist eines der kleinsten der zwölf Königreiche. Es liegt an der Nordwestküste und umfaßt die Gebiete westlich der algarischen Steppe und nördlich des Großen Camaarflusses. Im Süden grenzt es an Arendien und Ulgoland, im Osten an Algarien, im Norden an den Golf von Cherek und im Westen ans Meer der Stürme. Obwohl es Berge an Sendariens Ostgrenze gibt, sind sie überwiegend unbewohnt, und die Mehrheit der Bevölkerung lebt in der fruchtbaren Ebene, die sich von den westlichen Gebirgsausläufern bis zum Meer der Stürme erstreckt. Wegen des reichlichen Niederschlags und der fruchtbaren Erde ist Sendarien die Kornkammer der westlichen Königreiche, und seine landwirtschaftlichen Exporte bilden eine der Säulen des Handels. Sendarien ist außerdem eins der am dichtesten besiedelten Königreiche. Vor allem zeichnet es sich durch seine Ordnung aus; es ist ein Land mit adretten Bauernhöfen und sauberen Städten. Die Bevölkerung lebt größtenteils verstreut; in Sendarien gibt es mehr Städte und Dörfer als in den anderen Königreichen. Die Straßen werden gut instand gehalten und stellen das nötige Wegenetz für den schnellen Transport landwirtschaftlicher Erzeugnisse zu den Märkten zur Verfügung. Die beiden größten Städte sind Camaar, der Hauptseehafen des Nordens, an der Südgrenze an der Mündung des Camaarflusses gelegen, und Sendar, die Hauptstadt, kurz unterhalb der Stelle gelegen, wo die Selinehalbinsel nach Westen ins Meer ragt. Wie die *
Dieser Teil ist ausführlicher, weil ›Unser Held‹ in Sendarien aufwächst und glaubt, daß er Sendarer ist.
meisten Seehäfen ist Camaar eine rauhe, ungeschliffene Stadt, Sendar hingegen ist steif und ordentlich, und man achtet sehr auf höfliche Umgangsformen.
In den Bergen gibt es ziemlich ausgedehnte Goldadern, die Generationen von Glücksrittern angezogen haben. Sie haben zusätzlich zum Schmelztopf-Charakter Sendariens beigetragen. BEVÖLKERUNG Vielleicht kann man einen Sendarer am besten mittels eines Witzes charakterisieren. Ein Mann fragt einen anderen: »Was ist ein Sendarer?« Der andere antwortet mit einer Gegenfrage: »Nun, was ist er nicht?« In Wahrheit ist Sendarien, das Sammelbecken des Nordens, die Heimat fast jeder Rasse, die man im Westen antrifft. Wegen der ungeheuren Fruchtbarkeit der Ackerkrume haben Siedler aus nahezu allen Königreichen den Weg hierher gefunden. In manchen abgelegenen Dörfern findet man sogar noch bestimmte, erstaunlich rein vererbte angarakanische Züge. Das Land ist von Alornern aus den nördlichen Königreichen, Arendern und Tolnedrern aus dem Süden und sogar von dem einen oder anderen Nyissaner besiedelt. Um Streitigkeiten oder womöglich offenes Blutvergießen zu verhindern, das eine solch muntere Mischung leicht hervorrufen könnte, haben die Sendarer eine komplizierte und peinlich genau befolgte Etikette entwickelt. Nie wird die Rasse oder Religion einer Person erwähnt, und offene Missionierung für irgendeinen Gott wird als schlimmste Form gesellschaftlicher Entgleisung betrachtet. Sendarer reden über die Ernte, das Wetter, Steuern und andere alltägliche Dinge, aber nie über Rasse oder Religion. Sie sind eigensinnig, praktisch, und ihr Königreich hat eine positive Handelsbilanz, so daß die Steuern (über die sie sich trotzdem alle beklagen) außergewöhnlich niedrig sind. Durch einen glücklichen Zufall hat das Völkergemisch in Sendarien einen Menschenschlag hervorgebracht, der die besten Züge jeder Rasse und nur wenige unerfreuliche Eigenarten in sich vereint. Wie die Alorner sind sie hartgesotten und stark; aber anders als diese sind sie nicht über Gebühr streitsüchtig und prahlen. Sie besitzen die
Tapferkeit der Arender, nicht aber deren melancholisches Gemüt und ihren reizbaren, starrköpfigen Stolz. Sie verfügen über den Geschäftssinn von uns Tolnedrern, aber nicht über unseren (wir wollen ehrlich sein) verzehrenden Drang zu immer höheren Gewinnen, der gelegentlich manche Tolnedrer dazu treibt, zu Praktiken Zuflucht zu nehmen, die – offen gesagt – moralisch nicht vertretbar sind. Sendarer sind wie Drasnier peinlich auf Ehrlichkeit bedacht, wissen sie doch, daß ihre zufällige geographische Lage ihnen ungeheure Vorteile verschafft.
DIE GESCHICHTE SENDARIENS Im Gegensatz zu den anderen Königreichen des Westens setzt Sendariens Geschichte nicht in der dämmrigen und ungewissen Vorzeit einer fernen Vergangenheit ein. Obwohl das Gebiet seit urdenklichen Zeiten bewohnt ist und abwechselnd von Arendien, Algarien, Cherek und sogar Tolnedra beansprucht wurde, wurde die moderne Nation, wenn man so will, geschaffen: im Jahre 3827 von Kaiser Ran Horb II. aus der Ersten Horbitischen Dynastie, und zwar als Ausweitung des tolnedrischen Einflußbereichs im Norden. Durch die Gründung Sendariens schuf der Kaiser einen Pufferstaat zwischen Algarien und Arendien, wodurch er verhinderte, daß die
mimbratischen Kaufherren, die nach der Vernichtung der asturischen Arender einen ungeheuren Aufschwung erlebten, sich Handelsvorteile verschafften. Mangels eines in der Region angestammten erblichen Adels sahen die Sendarer sich gezwungen, eine Wahl abzuhalten – die erste in der Geschichte bekannte Wahl, die nach allgemeinem Wahlrecht stattfand. Nach entsetzlich langwierigen und verzwickten Auseinandersetzungen über die Besitzvoraussetzungen zur Teilnahme an der Wahl entschlossen sich die zutiefst praktisch veranlagten Sendarer, einfach jeden wählen zu lassen. Als sich die Frage des Frauenwahlrechts ergab, weiteten die Führer der Gemeinschaften das Stimmrecht schlicht auf alle aus. Man geht allgemein davon aus, daß Eltern die Stimmzettel ihrer unmündigen Kinder abgaben; davon abgesehen jedoch scheint dieses einzigartige Experiment mit einem Minimum an Wahlbetrug über die Bühne gegangen zu sein. Unglücklicherweise traten beim ersten Wahlgang 743 Kandidaten an, wo die Stimmenzahl von acht (für einen Bauern namens Olrach, der im Norden des Landes wohnte) bis zu mehreren Tausend für eine Reihe wohlhabender Landbesitzer aus der Gegend des Sulturnsees reichten. Die Wahl dauerte insgesamt sechs Jahre und wurde eine Art Freizeitsport der Sendarer. Mit erstaunlich guter Laune fuhren die Sendarer fort, Wahlgang um Wahlgang abzuhalten, bis erschöpfte Kandidaten aus lauter Überdruß ihre Kandidatur zurückzogen. Am Ende, im dreiundzwanzigsten Wahlgang im Frühling des Jahres 3833, war jedermann baß erstaunt, daß tatsächlich jemand eine dünne Mehrheit erhalten hatte. Nationale Führer, Wahlorganisatoren und eine Reihe von Personen, die sich Stellungen am neuen Hof erwarteten, warfen sich in ihren Sonntagsstaat und strömten in ein kleines Bauerndorf am Ostufer des Eratsees in Nordsendarien. Dort fanden sie ihren gewählten
König vor, einen Kohlrübenbauern namens Fundor, der tatkräftig seine Felder düngte. Der Trupp der Würdenträger stapfte über den Acker auf ihren neuen Monarchen zu. Als sie ihn erreichten, begrüßten sie ihn mit dem lautem Jubelruf: ›Heil, Fundor der Prächtige, König von Sendarien!‹ und sanken vor seiner ehrfurchtgebietenden Persönlichkeit auf die Knie. Die Geschichte überliefert gnadenlos die ersten Worte des neuen Königs. Sie lauteten wie folgt: »Ich bitte Euch, Eminenzen, achtet auf Eure Gewänder. Ich habe gerade reichlich Jauche in die Furche gekippt, in der Ihr kniet.« Die versammelten Würdenträger erhoben sich hastig, wie berichtet wird. Sie entdeckten, daß Fundors Name vor dem ersten Wahlgang von seinen Nachbarn in die Kandidatenliste eingetragen worden war, damit ihr Distrikt in den geschichtsträchtigen Vorgängen wenigstens ein bißchen Aufmerksamkeit erlangte. Fundor war der Meinung, sein Name sei nach dem ersten Wahlgang von der Liste gestrichen worden; deshalb war er völlig überrascht, von seiner Wahl zu hören. Um seine Verwirrung zu überspielen, lud er die ganze Abordnung auf Kuchen und Bier in seine Küche ein. Die Geschichte berichtet weiter, daß Frau Fundor (welche Königin Anhelda werden sollte) nicht sehr erfreut über eine Gruppe nach Jauche stinkender Fremder in ihrer Küche war. Ein Wahrsager, der die Gesellschaft begleitete, drängte den König zu einer Weissagung, da er wie alle anderen glaubte, daß jedes Wort, das der neue König an jenem Schicksalstag spreche, von eminenter Bedeutung sei. Und der König sprach: »Ich glaube, es wird ein gutes Jahr für Kohlrüben – wenn wir nicht zuviel Regen bekommen.«
Der König und seine Familie wurden in aller Eile in die Hauptstadt Sendar verbracht, wo er vorschriftsmäßig gekrönt und im königlichen Palast einquartiert wurde. Zufällig gab es in diesem Jahr eine schlimme Kohlrübenmißernte. Von diesem Zeitpunkt an hat niemand mehr die sendarische Monarchie ernst genommen – am wenigsten die sendarischen Monarchen selbst. Bemerkenswerterweise sind sie jedoch sehr gute Könige. Sie sind gerecht, unparteiisch, aufgeschlossen und kümmern sich mehr um das Wohlergehen ihrer Untertanen als um den eigenen Prunk und Ruhm. Sie scheinen allesamt über einen gutmütigen, trockenen Humor zu verfügen, was einen Besuch am Hof von Sendar stets zu einem Vergnügen macht. Sendarien hielt sich aus den Umwälzungen heraus, die die Welt nach der Ermordung des rivanischen Königs erschütterten, und lebte sein Leben in ungestörter Ruhe und anhaltendem Wohlstand bis zur Invasion Kal-Toraks im Jahre 4865. Der damalige sendarische Monarch, König Ormik der Kriegerische, hob eine Armee von Sendarern aus – einen ungleichen, bunt zusammengewürfelten Haufen, weder Infanterie noch Kavallerie, mit einem merkwürdigen Sortiment an Waffen. Er schloß sich den Truppen an, die unter dem Oberbefehl des rivanischen Wächters gen Süden marschierten. Sie kämpften tapfer und hielten in der Schlacht von Vo Mimbre das Zentrum des Heeres gegen wiederholte Angriffe der Malloreaner. Nach der Niederlage der Angarakaner mußte Sendarien einen zeitweiligen wirtschaftlichen Niedergang hinnehmen, ein Ergebnis der Schließung der Nördlichen Karawanenstraße und der Einstellung der Viehtriebe aus Algarien nach Muros in jenen Jahren, welche die Algarier zur Wiederherstellung ihrer Herden benötigten. Die Flaute der sendarischen Wirtschaft war aber nur vorübergehend und zeitigte nicht die dauerhafte und verheerende Wirkung, die wir in Tolnedra beobachten mußten.
Der gegenwärtige Monarch der Sendarer ist Fulrach der Herrliche, ein kleiner, ziemlich untersetzter Mann Mitte fünfzig, der wie seine Vorgänger als tüchtiger Verwaltungsfachmann gilt, jedoch in den zwanzig Jahren, die seit seiner Thronbesteigung vergangen sind, keine nennenswerten Erfolge oder Errungenschaften zu verbuchen hat. Er ist gutmütig, spricht mit leiser Stimme und trägt einen kurzgeschnittenen braunen Bart.
MÜNZSYSTEM Da ihr Königreich zu einer Zeit, als Sendarien unter tolnedrischem Einfluß stand, durch Kaiserliches Dekret geschaffen wurde, sind sendarische Münzen dieselben wie tolnedrische, außer daß sich das Abbild des Königs und nicht des Kaisers darauf befindet. Darüber hinaus erleiden sendarische Münzen einen Wertverlust von etwa 5 bis 7 Prozent, der sich aus Metallunreinheiten erklärt. Der Begriff ›sendarisch‹ wird dem Namen jeder Münze vorangestellt, um sie von dem tolnedrischen Geld zu unterscheiden. Andere Währungen sind in hohem Maße im Umlauf.
KLEIDUNG Allgemein mittelalterlich. Wams, Wappenrock, Beinlinge, Kniehose, Kappen, Barette, Schuhe aus weichem Leder. Jacken mit Kapuzen etc. unter dem gemeinen Volk. Derbe Umhänge bei schlechtem Wetter. Frauen tragen kurzärmelige Kleider. Kopfschmuck bei offiziellen Anlässen, Kopftücher bei inoffiziellen. Breite Schürzen. Auf schlammigen Feldern werden allgemein Holzschuhe getragen. KAUFLEUTE UND HANDWERKER Tragen ihrem Gewerbe entsprechende Kleidung oder lange Gewänder und Ballonhüte. Ihre Frauen tragen feine Gewänder, sofern sie es sich leisten können. Junge Männer neigen dazu, sich ein wenig geckenhaft zu kleiden – Wämse, Kniebundhosen, verrückte Schuhe und Kappen mit langen Schirmen. ANGEHÖRIGE DES ADELS Tragen mit Pelz verbrämte Gewänder, Kniehosen, Waffenröcke, Woll- oder Leinenhemden. Zu sehr formellen Anlässen Kettenhemd mit Waffenrock, Helm und Schwert. JUNGE ADLIGE Sind ziemlich geckenhaft; bevorzugt Kniebundhose, Wämser, weiche Schuhe oder Stiefel, kleine Schwerter (schmaler als ein Breitschwert, aber breiter als ein Rapier), ähnlich den Söhnen der Handwerker oder Kaufleute, aber prächtiger; das Schwert ist Kennzeichen der adligen Herkunft. FRAUEN
Tragen Gewand und Schleier. Den spitzen Hut. Es wird jede Menge Busen gezeigt. Viel edle Tücher werden verwendet. Das Haar wird in Sendarien im allgemeinen lang getragen. Verschiedene Frisuren. Die Tracht der Frauen weist gewöhnlich stärker auf die nationale Herkunft der Familie hin als die der Männer. Abgesehen vom Adel ist es in Sendarien nicht üblich, bewaffnet herumzulaufen, wenngleich es nicht verboten ist. STÄNDE Die Rangordnung: Adel, Kaufleute, Handwerker, Bauern, Arbeiter. Es gilt als Ausweis schlechter Erziehung, wenn man sich den Angehörigen der unteren Schichten gegenüber herablassend verhält. Sendarer sind überaus höflich zueinander. Der Großteil der Einwohner sind freie Bauern – Gehöfte in Privatbesitz. Die Großbauern (entsprechen in etwa einem Junker des 18. Jahrhunderts) haben überdies bestimmte gesetzliche Pflichten (wie Beamte). Man nennt sie Freisassen, ein Ausdruck des Respekts. Sendarien ist in Distrikte unterteilt. Einige werden fast ausschließlich von Angehörigen einer bestimmten ethnischen Gruppierung eingenommen; andere sind eher gemischt. Viele Städte und Dörfer. Distrikte werden von einem Grafen verwaltet (oberster Beamter). Distrikte in Gemarkungen unterteilt. Gemarkungen in Gemeinden. Diese Unterteilungen sind gewöhnlich mit einer Stadt oder einem Dorf verbunden. Städter und Dörfler neigen dazu, auf Bauern hinabzusehen. Sendarische Bauernhöfe sind im allgemeinen im mitteleuropäischen Verteidigungsstil errichtet (alle Mauern weisen nach außen, gruppiert um einen Hof). Häuslerhöfe sind kleine Pachthöfe. Dorfbewohner bewirtschaften oft die umliegenden Felder.
Kirchen werden gemeinsam von allen Religionen benutzt – sorgsame Zeitpläne.
DER KÖNIG UND DIE KÖNIGIN Am Hof zu Sendar. Gewohnheitsmäßig herrschen sie gemeinsam. DIE GRAFEN Oberste Verwaltungsbeamte der Distrikte. DIE FREIHERREN Oberste Verwaltungsbeamte der Gemarkungen. BARONE Oberste Verwaltungsbeamte einer Gemeinde (mit Ausnahmen) – nicht alle Gemeinden haben Barone. VERSCHIEDENE Lords, Marquise, Vicomtes, Barone, Markgrafen, Ritter, Herzöge etc. Dies sind vom König für gute Dienste oder zur Ehrung hervorragender Leistungen verliehene Titel. Manche sind erblich, manche nicht. Niemand weiß genau, wer höher im Rang steht, und Sendarer sind zu höflich, als daß sie es genau wissen wollten. Diese
Titel werden für gewöhnlich Würdenträgern des Hofes verliehen. Die ihnen aufgebürdete Arbeit wiegt bei weitem mehr als die Ehre des Titels. ANREDE Für König und Königin – Euer Hoheit, Euer Majestät, Euer Königliche Hoheit. Für die anderen Adligen – ›Mylord‹ oder ›Euer Gnaden‹. ›Mylord‹ ist im Adel selbst gebräuchlich, ›Euer Gnaden‹ wird von den Gemeinen verwendet. Die Ungebildeten sagen manchmal ›Euer Ehren‹, weil sie nichts anderes kennen. Für Bürger, Kaufleute und Freisassen Titel ›Kaufmann John‹, ›Freisasse John‹ oder einfach ›Euer Ehren‹. Für alle anderen – ›guter Mann‹. SITTEN UND GEBRÄUCHE Sendarer sind ausnehmend höflich. (Sie sind alles in allem typische Briten.) Sie interessieren sich sehr für lokale Angelegenheiten, sind aber extrem provinziell. Sehr gastfreundlich. Sie behandeln ihre Untergebenen gut. Löhne und Preise sind für alle Waren und Dienstleistungen des Königreichs festgelegt. Fremden gegenüber verhalten sie sich zurückhaltend, aber freundlich. Der Adel leidet nicht unter Standesdünkel und betrachtet, ähnlich wie der König, seinen Rang eher als Verantwortung denn als Privileg. Mehr Vaterfiguren als Herren. Sie arbeiten hart und sind fleißig. Der ›Freisassenhof‹ ist ein großes Gut (für gewöhnlich 100 Acres und mehr), ordentlich geführt, und die Gebäude um den zentralen Hof herum sind ausgedehnt – ein Kaninchenbau einzelner Räume. Riesige Küchen und ein großer
Eßsaal. Viele Landarbeiter auf einem solchen Gehöft. Da Unterkunft und Verpflegung Bestandteil des Lohns sind, braucht man nicht allzu viel Geld, um einen Arbeiter zu dingen. Man bemüht sich, sämtliche Handwerker, die benötigt werden, auf einem Freisassenhof zu versammeln – Hufschmied, Schuster, Böttcher, Wagner, Zimmermann usw. Verheiratete Paare pachten meist einen Hof und sparen, um sich ihre eigene Freisassenstelle kaufen zu können. Der Vertrieb ist gut organisiert. Die übliche Vorgehensweise der Aufkäufer besteht darin, die Märkte der Städte und Dörfer und einige der größeren Freisassenhöfe zu besuchen. Sie bringen ihre eigenen Wagen mit oder mieten diejenigen unabhängiger Fuhrleute – ein rauhes Völkchen. Die Waren werden rasch zu einem Großmarkt transportiert und dort weiterverkauft, um dann an alle möglichen Plätze die Westküste herauf und herunter ausgeliefert zu werden. Handeln meist nicht mit extrem verderblichen Waren – Wurzelgemüse, Bohnen und Feuchtlandgetreide – wegen der Lieferzeit. FESTE UND FEIERTAGE Erastide – Eine wirklich große Sache in Sendarien – eine zweiwöchige Orgie von Geschenken, Feiern, Tanz, Lustbarkeiten und gefühlsbetonter Gemeinschaft. – Mittwinter. Sendarientag – Der Tag der Krönung des ersten Königs. Ein großes Fest im Mittsommer (4. Juli.) Segenstag – Ein Frühlingsritual. Das Segnen der Felder. Priester der meisten Götter schreiten in einer großen Prozession einher und segnen die Felder vor der Aussaat. Erntetag – Fest im Herbst zum Abschluß der Ernte (Erntedankfest).
RELIGIÖSE GEPFLOGENHEITEN In den meisten Gemeinden Priester der meisten Religionen (keine Grolims). Die Gottesdienste und religiösen Gepflogenheiten sind zivilisiert und vermitteln Wohlbefinden. Freunde warten aufeinander, bis der Gottesdienst zu Ende ist, bevor sie mit den üblichen Feiertagslustbarkeiten anfangen. (Eigentlich gibt es drei Götter in Sendarien – Belar, Chaldan und Nedra. Sehr wenige Angarakaner, keine Marager – wie auch – und keine Nyissaner.) BEVÖLKERUNGSZAHLEN Bevölkerung etwa 3 bis 4 Millionen.
ARENDIEN
GEOGRAPHIE Arendien ist ein dicht bewaldetes Gebiet, das zwischen Sendarien im Norden und Tolnedra im Süden liegt und sich von den Bergen, wo es an Ulgoland grenzt, bis zum Großen Westmeer erstreckt. Weite, fruchtbare Ebenen dehnen sich über Hunderte von Leagues bis in die südlichen und westlichen Regionen des Königreichs aus; auf diesen Ebenen wird vorwiegend Weizen angebaut. Die Erzlager im östlichen Hochland sind bislang kaum ausgebeutet worden. Blühende Heimindustrie (Weberei und Hufschmiede). Es gibt – oder besser, gab – drei Hauptstädte in Arendien, Vo Mimbre, Vo Astur und Vo Wacune. Die beiden Letzteren sind heute infolge der Grausamkeiten des Bürgerkriegs unbewohnte Ruinenstädte. Vo Mimbre ist eine trutzige Festung, die noch immer die Narben der gewaltigen Schlacht trägt, die dort gegen die Angarakaner KalToraks geschlagen wurde. Von all unseren Königreichen des Westens ist Arendien aufgrund seiner natürlichen Beschaffenheit mit Sicherheit das gesegnetste. Seine düstere und blutige Geschichte
indes beweist, daß sich Tragödien selbst in der schönsten und heitersten Umgebung abspielen können.
BEVÖLKERUNG * Die Arender sind das halsstarrigste Volk von allen zwölf Königreichen, außerordentlich stolz und mit einem ausgeprägten Ehrgefühl. Während die gewöhnlichen Leute anscheinend mit gesundem Menschenverstand ausgestattet sind, ist der Adel (wie ein tolnedrischer Botschafter zu sagen pflegte) nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt. Die Kultur ist die durch und durch feudalste und konservativste des Westens. Die Arender sind kleiner und dunkler als die hochgewachsenen blonden Alorner im Norden und zeigen bestimmte rassische Ähnlichkeiten mit den Tolnedrern und Nyissanern. Sie sind ein humorloses Volk mit einem ausgeprägten Hang zur Melancholie. Ihre Lieder sind traurige Berichte verlorener Schlachten und hoffnungsloser letzter Gefechte gegen eine gegnerische Übermacht – komplett mit langatmigen Gefallenenlisten, welche die Abstammung eines jeden Erschlagenen bis ins letzte Glied aufführen. Falls man den Liedern Glauben schenken kann, ergeben sich arendische Jungfrauen in rückhaltloser Weise dem Selbstmord, indem sie sich von Burgzinnen oder in Flüsse werfen oder sich beim geringsten Vorwand in eine Vielzahl scharfer Gegenstände stürzen. Arendische Männer sind wilde Kämpfer, die Ritter indes betrachten auch die einfachste Taktik oder Strategie als unter ihrer Würde. Sie sind Meister des Frontalangriffs und des letzten Gefechts. Die Attacke der mimbratischen Ritter in der Schlacht von Vo Mimbre war wahrhaft ehrfurchtgebietend, wenn auch größtenteils ein reines Ablenkungsmanöver. Warnung: Arender sind extrem stolz und empfindlich. Die kleinste Kränkung, ob eingebildet oder wirklich, wird eine Reaktion nach sich ziehen, von einem spontanen Fausthieb gegen die Schläfe bis zu einer förmlichen Forderung zum Zweikampf, der in Arendien stets
*
Aus diesem Abschnitt entwickelten sich Mandorallen und Lelldorin.
auf Leben und Tod gefochten wird. Nur die geschicktesten Diplomaten sollten je zu diesem Volk gesandt werden. DIE GESCHICHTE ARENDIENS Wie die anderen Völker der westlichen Königreiche wanderten die Arender während der ersten Jahrhunderte des zweiten Jahrtausends aus dem Osten ein. Um das Jahr 2000 existierten die drei größten Städte Vo Mimbre, Vo Wacune und Vo Astur bereits an ihrem jetzigen Ort und waren die Sitze dreier mehr oder weniger rivalisierender Herzogtümer. Das Haus Mimbre kontrollierte die südlichen Regionen, die Asturier den Westen, die Waciter den Norden. (Die wacitischen Besitztümer lagen vorwiegend in dem Gebiet, das heute Sendarien ist.) Die Institution der Ritterschaft bei den Arendern ist stets ein Hemmschuh für die Entwicklung des Königreichs gewesen. Ab dem 23. Jahrhundert war Arendien mit Burgen, Wehrtürmen, befestigten Anwesen und Festungen übersät. Die gesamte Energie der Nation floß in den Krieg und die Vorbereitung des Krieges, und arendische Ritter leben in einem Zustand nahezu permanenter bewaffneter Auseinandersetzung. Die Zwistigkeiten zwischen den Herzogtümern finden ihr Gegenstück auf lokaler Ebene. Eine Meinungsverschiedenheit über ein Schwein oder einen zusammengebrochenen Zaun kann dazu führen, daß Nachbarn einander an die Gurgel gehen, und aufgrund der engen Verflechtung zwischen den verschiedenen Baronen, Grafen, Vicomtes etc. breiten sich diese lokalen Streitigkeiten rasch aus und können, wenn man ihnen nicht Einhalt gebietet, in einem offenen Bürgerkrieg enden. Das dritte Jahrtausend kennzeichnet die Phase des arendischen Expansionsdrangs. Die Asturier konsolidierten ihre Herrschaft über den Westen und befestigten in einem überraschenden Schachzug das Südufer des Arendflusses gegen die Waciter und den Südrand des
großen arendischen Waldes gegen die Mimbrater. Hierdurch zerschnitten sie Arendien wirkungsvoll in zwei Teile, indem sie ihre Kontrolle auf einen Streifen ausdehnten, der von der Grenze zu Ulgoland bis zum Meer im Westen verlief. Natürlich erklärten ihnen sowohl die Mimbrater als auch die Waciter an diesem Punkt der Ereignisse den Krieg, doch die in aller Eile errichteten hölzernen Blockhäuser der Asturier bestanden die Feuerprobe und hielten dem Angriff stand. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, konnte keines der beiden anderen Herzogtümer seine gesamten Kräfte in diesen Konflikt gegen die Asturier werfen, da die Waciter infolge ihres groß angelegten Plans, ihre Macht nach Norden auszudehnen, in einen Krieg gegen die Chereker in den nördlichen Regionen Sendariens verwickelt waren, und die Mimbrater aufgrund ihres Versuchs, ihre Einflußsphäre nach Süden zu erweitern, in jahrhundertelange Auseinandersetzungen mit Tolnedra verwickelt waren. Dann rief der Herzog von Asturien sich zum König von Arendien aus (2618) und verlangte von seinen herzoglichen Vettern, nach Vo Astur zu kommen und ihm als Lehnsherrn zu huldigen. Es läßt sich nur schwer entscheiden, ob dieser Schachzug des Herzogs von Asturien eine kluge List war, welche die beiden anderen Herzöge dermaßen in Rage versetzen sollte, daß sie sich überstürzt von ihren anderweitigen Kriegsschauplätzen zurückzogen, um ihn anzugreifen, oder ob er das Ergebnis schierer, arroganter Dummheit war. Man ist stets geneigt, das Schlimmste von einem Arender anzunehmen, doch wir müssen die Auswirkungen ins Auge fassen und nicht beim äußeren Anschein verharren. Es folgte der Krieg der drei Königreiche, der ungefähr elfhundert Jahre währte. Die wacitischen und mimbratischen Herzöge riefen sich nun ihrerseits zu Königen von Arendien aus und erließen Verlautbarungen, die denen ihres asturischen Cousins ähnelten. So also gab es drei Könige in Arendien, die sich einander bekriegten.
Die Chereker nutzten die bedrängte Lage des wacitischen Herzogs naturgemäß aus und brachen sich große Stücke aus dem nördlichen Sendarien heraus. Auf ähnliche Weise ergriffen tolnedrische Generäle die günstige Gelegenheit, die geschwächten mimbratischen Streitkräfte über den Arendfluß zurückzutreiben, womit sie fürs erste die Drohung einer arendischen Invasion beseitigten. Der Krieg der drei Königreiche war eine der dunkelsten Epochen der arendischen Geschichte. Es war eine Zeit der gebrochenen Bündnisse, eine Zeit des Verrats, der Überraschungsangriffe, heimtückischer Mordanschläge und Hinterhalte. Ein Beispiel soll zur Verdeutlichung genügen. Im Jahre 2890 hatten die Asturier und Mimbrater ein Bündnis gegen die Waciter gebildet, die zu jener Zeit die Oberhand hatten. Der Feldzug nach Wacune war höchst erfolgreich, und der wacitische Adel wurde praktisch ausgelöscht. Während der letzten Tage des Kriegszugs – in jenem Gebiet, das nun das südliche Mittelsendarien ist – wandten die Asturier sich plötzlich gegen ihre mimbratischen Verbündeten und machten sie bis auf den letzten Mann nieder. Auf diese Weise hatten die Asturier auf einen Schlag Wacune nahezu zerstört und einen Großteil der mimbratischen Armee vernichtet. Um sich zu verteidigen und zu verhindern, daß der asturische Herzog sich zum Alleinherrscher aufschwang, gingen die Mimbrater unverzüglich ein Bündnis mit den überlebenden Wacitern ein und schlossen Verträge mit bestimmten cherekischen Häuptlingen und einigen der Klans von Westalgarien. Diese Freibeuter griffen Asturien vom Meer und vom Land aus an, während die Mimbrater die Südgrenze attackierten und die Waciter von Norden zuschlugen. Asturien brach, wie man sich leicht denken kann, in die Knie und ging ein Bündnis mit Wacune ein, um die nunmehr überlegenen Mimbrater anzugreifen. Infolge dieser ständigen Zermürbung, deren Ursachen nicht nur der Bürgerkrieg, sondern auch die unablässigen Angriffe cherekischer Piraten und algarischer Reiter waren, war das wacitische Herzogtum schließlich so geschwächt, daß die Asturier
2943 in der Lage waren, den entscheidenden Schlag gegen ihre nördlichen Vettern zu führen, und zwar zu einer Zeit, als die Mimbrater mit einem Grenzkrieg gegen Tolnedra beschäftigt waren. Der Kriegszug war kurz und brutal. Wacune wurde in Schutt und Asche gelegt, um sich nie wieder zu erheben. Vo Wacune wurde bis auf die Grundmauern niedergerissen, und alle überlebenden Angehörigen des wacitischen Adels wurden an nyissanische Sklavenhändler verkauft, die sie nach Süden verschleppten. Die grausame Vernichtung Wacunes durch Asturien schockierte die zivilisierte Welt, und die Sympathie der anderen Nationen lag ganz auf Seiten der mimbratischen Arender. Der Machtzuwachs jedoch, den die Ausrottung der wacitischen Aristokratie und die Eingliederung der wacitischen Leibeigenen in das asturische Feudalsystem bedeutete, machte Asturien für die nächsten Jahrhunderte nahezu unangreifbar. * Man muß jedoch freimütig einräumen, daß während der letzten Jahrhunderte des dritten und den Großteil des vierten Jahrtausends ein Grundzug der tolnedrischen Politik darin bestand, das Machtgleichgewicht zwischen den verfeindeten Herzogtümern von Mimbre und Asturien zu erhalten. Von einem praktischen Standpunkt aus betrachtet, war es von enormem Vorteil für das Reich, den Zwist zwischen den beiden rivalisierenden Geschlechtern zu schüren, da ein starkes und vereintes Arendien die Entwicklung des tolnedrischen Reichs verhindert hätte. Natürlich ist es eine Binsenwahrheit, daß die arendischen Ritter eine der furchtbarsten Armeen des Westens sind. Wären die Arender zu irgendeinem Zeitpunkt des dritten oder vierten Jahrtausends vereint gewesen, hätte das Reich nie existiert, und die ganze Geschichte des Westens hätte einen anderen Verlauf genommen. Das Patt zwischen Mimbre und Asturien dauerte bis zum Jahr 3793, als die Mimbrater einen *
Wir haben die Zerstörung von Vo Wacune zu Beginn von ›Königin der Zauberei‹ und in ›Polgara die Zauberin‹ ausführlicher behandelt.
Geheimvertrag mit Tolnedra schlossen. Als Gegenleistung für bestimmte militärische Unterstützung durch das Reich (hauptsächlich die Aufhebung von Beschränkungen für cherekische Freibeuter und algarische Räuber und der Marsch einer Heeressäule von zehn Legionen aus Tol Vordue nach Norden in Richtung asturischer Grenze), verpflichteten sich die Mimbrater, eine eingeschränkte Oberhoheit des tolnedrischen Kaisers anzuerkennen. Diese Gelegenheit ergab sich zu einem Zeitpunkt, als der ständige Krieg in Arendien sich zu einem Hindernis für den Bau der Großen Weststraße und einer ernsthaften Störung des normalen Handelsablaufs entwickelte. Der in vier Spitzen vorgetragene Angriff schwächte die Verteidigungsbereitschaft der Asturier so sehr, daß ihr Nachschub an Kämpfern verebbte, die Nation zusammenfiel und zu der nutzlosesten (und für Arender typischen) Verteidigung Zuflucht nahm – dem Rückzug in Zwingburgen. Die Einzelheiten sind düster und müssen hier nicht wiederholt werden. Der Ausgang stand von vornherein fest. Vo Astur wurde dem Erdboden gleichgemacht. Der letzte Herzog von Asturien fiel in der Schlacht, seine Familie wurde fast vollständig ausgerottet. Es war jedoch ein geschwächter mimbratischer Herzog, der zum ersten unangefochtenen König Arendiens gekrönt wurde, und der tolnedrische Plan für den Westen ging restlos auf. Arendien stellte keine Bedrohung mehr dar.
Obwohl ein mimbratischer König auf dem Thron in Vo Mimbre saß, war er doch in vielerlei Hinsicht ein Marionettenkönig – wenn auch ein gefährlicher. Das elementarste aller Souveränitätsrechte – die Beziehungen zu anderen Nationen selbst zu bestimmen – wurde durch die Bestimmungen des Vertrags von Tol Vordue ernsthaft beschnitten. Die arendischen Kaufleute waren im Hinblick darauf, welche Handelsgüter und Waren sie importieren und exportieren durften, stark eingeschränkt, und Tolnedra profitierte immens von diesem Abkommen. Die Könige von Vo Mimbre hingegen hatten andere Probleme, die ihnen keine Zeit ließen, sich über etwaige Ungerechtigkeiten in ihrem Vertrag mit Tolnedra den Kopf zu zerbrechen. Obgleich die Städte und Burgen der Asturier zerstört worden waren, blieben der asturische Adel und das asturische Freisassentum intakt – wenn auch arg dezimiert. Die Edelleute zogen sich in die unermeßlichen Weiten des arendischen Waldes zurück, begleitet von der ihnen in unverbrüchlicher Treue ergebenen Landbevölkerung. Was nicht mitgenommen werden konnte, wurde verbrannt. So übernahm der mimbratische König eine rauchende Wüste, öde und menschenleer. Die Lehen, die er seinen treuen Gefolgsleuten zuerkannte, waren mehr Strafe als Lohn, da Land ohne die Menschen, die es bestellen, eine Bürde ist. Ganze Dörfer im Herzogtum Mimbre wurden
entwurzelt und in den Norden verpflanzt, um die Ländereien ihrer adligen Herren zu bearbeiten. Ihre Mühen waren jedoch größtenteils vergeblich, da des Nachts asturische Räuber aus den Wäldern herbeigeschlichen kamen und mit großer Begeisterung Ernte und Dörfer verbrannten. Zudem mußte man feststellen, daß asturische Bogenschützen ihr Geschick mit Vorliebe an mimbratischen Bauern erprobten. Dies bewog die Bauern naturgemäß, die Ränder der an den Wald grenzenden Felder zu meiden. Mit der Zeit entwickelte dieses grausame Spiel bei den asturischen Bogenschützen eine hohe Treffsicherheit auf geradezu unglaubliche Entfernungen. Die Aktivitäten der asturischen Vogelfreien lieferten dem Kaiser in Tol Honeth den Vorwand, das Königreich Sendarien im Norden zu gründen, was den arendischen König eines guten Drittels seines Territoriums beraubte. Wie der Kaiser erklärte: »Sendarien wird die Tür nach Norden für diese Geächteten schließen. Ihr könnt sie nun zur Strecke bringen, ohne Angst haben zu müssen, daß sie nach Norden entkommen.« Der König der Arender nahm diese Erklärung mit finsterer Miene entgegen, da das ›zur-Strecke-Bringen‹ gut bewaffneter Männer in einem Wald, der sich dreihundert Leagues in alle Richtungen erstreckt, etwa so ist, als wollte man einen bestimmten Fisch im Meer fangen. Ungefähr tausend Jahre lang rüsteten die arendischen Ritter indes Strafexpeditionen gegen die Räuber im Norden aus. Der riesige, düstere Wald verschluckte ganze Generationen, und alte Männer wachten in späteren Jahren des Nachts schreiend auf, wenn sie von den Schrecken träumten, denen sie auf den Kriegszügen ihrer Jugend begegnet waren. Der Wald wurde zu einem Labyrinth aus Höhlen, unterirdischen Gängen und Verstecken. Fallgruben und Prügelfallen machten die Straßen unpassierbar. (Die einzige Ausnahme bildete die Große Weststraße, an der tolnedrische Legionäre Patrouille ritten, und die offen zu lassen die Asturier sich in einem Geheimabkommen mit Tolnedra verpflichtet hatten.) Asturische
Bogenschützen, ohnehin die besten der Welt, vervollkommneten ihr Geschick im Umgang mit der Waffe noch mehr, und der Waldboden war übersät von modernden Gebeinen und rostenden Rüstungen. Umgesiedelte mimbratische Bauern pflügten und säten – dann kamen die Asturier aus den Wäldern und ernteten. Paradoxerweise war es mehrmals erforderlich, in eines der fruchtbarsten Länder auf Erden Nahrungsmittel einzuführen. Die Lage in Arendien blieb unverändert bis zum Jahr 4875, als Kal-Torak über die Berge Ulgolands zog und die arendische Ebene überflutete. Obwohl man hätte erwarten können, daß die asturischen Arender sich in ihren Wäldern verbergen und der Vernichtung der Mimbrater harren würden, war dies doch nicht der Fall. Offensichtlich genügten die Überredungskünste des rivanischen Wächters, um die Asturier dazu zu bewegen, sich den Rivanern und Sendarern auf ihrem Marsch nach Süden zur Schlacht von Vo Mimbre anzuschließen. ANMERKUNG
Die Schlacht von Vo Mimbre ist das berühmteste Ereignis in der Geschichte der zwölf Königreiche. Die Einzelheiten hinsichtlich Strategie, Taktik und persönlichem Mut der verschiedenen Beteiligten sind nur allzu gut bekannt und machen eine Wiederholung an dieser Stelle überflüssig. An anderer Stelle in diesen Studien befindet sich ein Auszug aus dem arendischen Epos, das sich mit dieser Schlacht befaßt. Obgleich für den tolnedrischen Geschmack etwas zu schwülstig, bietet das Werk dennoch einen verhältnismäßig zusammenhängenden und korrekten Bericht von den Vorgängen. In dieser
Hinsicht unterscheidet es sich von bestimmten Bardengesängen, die förmlich vor Zauberei, Magie und unerhörten Absonderlichkeiten strotzen. Das alles mag für die Unterhaltung von Kindern und ungebildeten Personen angehen, darf in einem Werk, das sich um ernsthafte Wissenschaftlichkeit bemüht, jedoch keinen Platz haben. Nach der Schlacht von Vo Mimbre fanden sich in wortlosem gegenseitigem Einverständnis der mimbratische König und der Baron, der die Asturier in den letzten Jahren ihres endlosen Krieges gegen die Mimbrater geführt hatte, in einer stillen Senke ein Stück östlich vor der Stadt zusammen. Dort fielen sie ohne ein Wort mit ihren Schwertern übereinander her. Als man sie entdeckte, starben bereits beide an ihren zahllosen Wunden. Die mimbratischen Ritter und die asturischen Waldbewohner hätten zweifellos das Jahrhunderte währende Blutvergießen auf der Stelle wieder aufgenommen, wäre nicht Brand XXXI. der baumlange rivanische Wächter, der soeben den mächtigen Kal-Torak gefällt hatte, rechtzeitig eingeschritten. Die Begeisterung aller Königreiche des Westens über seinen Sieg verlieh seinen Worten sozusagen Gesetzeskraft. Nachdem er sowohl die mimbratischen als auch die asturischen Barone zu sich befohlen hatte, erkannte er rasch, daß der Erbe des mimbratischen Throns ein kräftiger junger Mann und der letzte Sproß des asturischen Herzogshauses ein junges Mädchen war. Daraufhin verfügte er, daß man die beiden miteinander verheiratete, wodurch diese zwei Geschlechter zu einer einzigen Monarchie vereint wurden und der Äonen währende Krieg beendet wurde. Als man ihn darauf hinwies, daß die Heirat zwischen einem Asturier und einer Mimbraterin eher ein Grund sei, einen Krieg zu beginnen, als ihn zu beenden, ordnete er an, daß man die beiden jungen Leute
für die Zeitspanne eines Jahres gemeinsam in einem Turm einschlösse. So geschah es, und in den ersten Monaten waren die Schreie der beiden, wenn sie miteinander stritten und rangen, weithin zu hören. Mit der Zeit ließ das Geschrei jedoch nach, und als man sie aus dem Turm entließ, schien das Paar sich damit abgefunden zu haben, zu heiraten und gemeinsam zu herrschen. Wir haben den starken Verdacht, daß diese List auf eine Eingebung der beiden Berater des rivanischen Wächters zurückgeht, ein sonderbares Pärchen, dessen Identität die Geschichtswissenschaft nie ermitteln konnte. Beide trugen die traditionellen grauen Umhänge der Rivaner, jedoch keine Rangabzeichen oder Wappen. Der Mann war grauhaarig und betagt und schien nicht abgeneigt, ein oder zwei Flaschen mit gemeinen Soldaten zu leeren. Die Frau war außerordentlich schön und besaß eine gebieterische Persönlichkeit. Wie ein tolnedrischer General einmal bemerkte: »Sie gibt sich kaiserlicher als der Kaiser«. Infolge der Vereinigung der beiden Häuser durch den mimbratischen Prinzen Korodullin und die asturische Prinzessin Mayaserana lebte die Nation in Frieden mit sich und ihren Nachbarn. Die Asturier kehrten auf ihre Ländereien zurück, wobei ein weitgehend friedliches Verhältnis mit ihren mimbratischen Nachbarn herrschte. Es geschah während dieser Zeit, daß ein ziemlich kompliziertes Regelwerk für Zweikämpfe entwickelt wurde, mit dessen Hilfe Streitigkeiten unmittelbar zwischen den beiden beteiligten Parteien beigelegt werden konnten, ohne gleich ganze Distrikte in den Krieg zu stürzen. Die auf die Vereinigung folgende Friedenszeit brachte Arendien ungeheuren Nutzen. Vermögen sind mit den reichen Weizenernten gemacht worden, und unter den Nationen des Westens gab es einen größeren Vorrat an gutem Brot als je zuvor. Es ist jedoch charakteristisch für dieses Volk, daß viel von diesem neu erworbenen Wohlstand in Befestigungen und Waffen floß. Offenbar sind arendische Adlige tief in ihrem Herzen davon überzeugt, daß
Frieden nur etwas Vorübergehendes sein kann, und so bereiten sie sich wie eh und je auf den Krieg vor. Der gegenwärtige König von Arendien, Korodullin XXIII. ist ein etwas kränklicher junger Mann, der erst seit etwas mehr als einem Jahr auf dem Thron von Vo Mimbre sitzt. ANMERKUNG
Manche Viehzüchter haben festgestellt, daß eine Rasse durch zuviel Inzucht geschwächt wird. Unglücklicherweise entspricht es der Wahrheit, daß die heikle politische Situation in Arendien es angeraten sein läßt, daß sämtliche Angehörige der königlichen Familie von Arendien so eng wie möglich innerhalb der Blutlinie heiraten, ohne dabei die universal gültigen Gesetze des Inzestverbots zu verletzen. Die jahrhundertelang geübte Praxis der Verwandtenehe hat unzweifelhaft Defekte verstärkt, die sich durch Beimischung frischen Blutes problemlos hätten vermeiden lassen.
MÜNZSYSTEM Eine große Zahl von Gold- und Silbermünzen aus der Zeit des Bürgerkriegs von unterschiedlichem Gewicht und unterschiedlicher Reinheit. Es ist Brauch, sie zu wiegen und ihren Wert in langen Tabellen nachzuschlagen.
Eine der Bestimmungen des Vertrags von Tol Vordue lautete, daß Arendien tolnedrische Münzen benutzen müsse, was auch der Fall ist. KLEIDUNG DURCH UND DURCH MITTELALTERLICH Aufgrund des Landescharakters verlassen arendische Adlige nie das Haus, ohne vollständig bewaffnet und zumindest teilweise gerüstet zu sein – Kettenhemd und Waffenröcke, die darunter aus Leinen oder Wolle oder edleren Stoffen bestehen, prachtvolle Gewänder, Kronen usw. RÜSTUNG Viel ausgeprägtere Neigung zu Plattenrüstungen als bei sämtlichen Brustpanzer und Schutzvorrichtungen anderen Völkern; (überstreifbar) für Ober- und Unterarm, Ober- und Unterschenkel und Kehle. Vollvisierhelme (nicht hochklappbar). Waffen: Schwerter, Äxte, Streitkolben, Lanzen etc. etc.
FRAUEN Sehr mittelalterlich. Hoch angesetzte Taille. Spitzhüte usw. Sehr viel Brokat und ähnliche, schwere Stoffe. BORGER (Stadtbewohner) Kaufleute. In der Art spätmittelalterlicher Zünfte: Kniehosen, bauschige Wämser, Bommelmützen. Umhänge, Gewänder, ausgesprochen komplizierte Rangabzeichen an Gewändern usw. LEIBEIGENE Gewöhnliches Leibeigenenzeug, Sackleinen, Lumpen. Arendische Leibeigene werden übel mit Füßen getreten. WALDLEUTE (Asturier) Robin-Hood-Kram. Adlige von ihren Kettenhemden behindert; dennoch werden sie getragen. HANDEL Die Bürger bemühen sich, doch der Adel ist dermaßen dumm, daß er ihnen jede Menge Steine in den Weg legt: sinnlose Embargos, Verbot der Ausfuhr von Gold aus den Lehen etc. Die Besteuerung in Arendien kann man nur als Ausbeutung bezeichnen. Sehr viel Schmuggel und Steuerhinterziehung. Steuereintreiber geraten häufig in einen Hinterhalt. (Standardausrüstungsstück eines Steuereintreibers ist ein dickes, feinkörniges, eng anliegendes Brett unter dem Kettenhemd, um den Rücken vor Pfeilen zu schützen – ein Steuereinnehmer, der die zwei oder drei in seinem Rücken steckenden Pfeile tapfer ignoriert, ist kein seltener Anblick.)
GESELLSCHAFTSSTRUKTUR Streng feudal – Vasallen, Leibeigene usw. Erzkonservativ. Adel sehr hochnäsig. Immense Bedeutung von EHRE. Zweikampfreglement, um Fehden zu vermeiden. Förmliche Begegnung von Rittern – greifen mit Lanzen an. Dann Schwertkampf zu Fuß. (Es gilt als unehrenhaft, wenn ein Berittener einen Unberittenen angreift.) König-Artus-Gehabe. Gewisser Grad von höfischer Liebe – alles ziemlich förmlich. Politische Heiraten. Frauen zu Tode gelangweilt. Gelegentliche Tändeleien. Poesie und Liebesromane haben den arendischen Frauen den letzten Funken Verstand geraubt. Massenhaft Selbstmorde. STÄNDE Der König – Erblich, Nachkommen der Ehe von Korodullin und Mayaserana Die Herzöge – Die Brüder und Vettern des Königs Die Fürsten – Andere Mitglieder der königlichen Familie Die Barone – Häupter anderer Adelsgeschlechter Die Vicomtes – Ihre Brüder und Vettern Die Grafen – Andere Mitglieder dieser Geschlechter Lords – Lehnsherren bestimmter Landgüter Ritter – Landloser Adel Bürger – Stadtbewohner mit einem gewissen Vermögen Freier – Gewöhnlicher Arbeiter oder Handwerker in der Stadt Leibeigene – An die Scholle gebunden
ANREDE König – ›Euer Majestät‹ (selbst die Königin nennt den König so) Königin – ›Euer Hoheit‹ (auch der König nennt seine Gattin so) Herzöge und Fürsten – ›Euer Gnaden‹ Barone – ›Euer Magnifizenz‹ Vicomtes und Grafen – ›Euer Eminenz‹ Lords – ›Euer Lordschaft‹ Ritter – ›Sir John‹ SITTEN UND GEBRÄUCHE Arender benehmen sich dermaßen gestelzt und förmlich, daß es ihr gesellschaftliches Leben beinahe zum Erliegen bringt – ein Leben, das so sehr durch das Herkommen und die starre Gesellschaftsstruktur bestimmt ist, daß es eine Art von ständigem höfischem Tanz ähnelt. Keine Begegnung ohne Verbeugungen und förmliche Anreden. Ehre, will heißen der gute Name, ist alles, und fast alles kann als Beleidigung aufgefaßt werden. Die Zeit des Bürgerkriegs beweist allerdings, daß die Arender auch extrem verräterisch sein können. Das Hauptanliegen der Monarchie besteht darin, den arendischen Hang zur Gewalt zu unterbinden – keine Privatfehden. Der König verbringt seine Zeit damit, Streitfälle zwischen den Adligen zu schlichten. Vasallen sind angemessen unterwürfig, aber nichtsdestoweniger sehr stolz. Die Gemeinen sind servil, wissen sie doch, daß ihre Herren Gewalt über Leben und Tod haben. Die arendische Justiz ist willkürlich und grausam. Leibeigene werden schlecht behandelt.
FESTE UND FEIERTAGE Erastide – förmliche Bankette Fest des Chaldan – später Frühling – das religiöseste Fest Fest von Korodullin und Mayaserana – Mischung aus einer Feier ob des Sieges von Vo Mimbre und ob der Einigung der Nation Königsgeburtstag – ein patriotisches Fest offizielle Tjoste Geburtstag des Lehnsherrn – lokale Feiern auf dem jeweiligen Gut RELIGIÖSE GEPFLOGENHEITEN Dem mittelalterlichen Katholizismus sehr ähnlich. Es gibt eine Vielzahl religiöser Orden, die vom Adel unterstützt werden und eine Zuflucht für entlaufene Leibeigene bieten. Für gewöhnlich gegründet, um permanente Gebete für den Sieg irgendeines Lehnsherrn zu gewährleisten. Drei Hauptorden – mimbratische, asturische und wacitische Mönche. (Bei Fehden werden die Mönche nie belästigt – bringt Unglück.) * Nonnenorden aus ähnlichen Zielsetzungen heraus gegründet. Strenge Abgeschiedenheit im Kloster. Priester, Bischöfe und das Kirchenoberhaupt, der Erzbischof von Vo Mimbre.
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In der Geschichte schenkten wir der arendischen Kirche so gut wie keine Beachtung. Es gab gelegentliche Verweise auf mittelalterliche Mönche und Klöster, aber wir sahen keinen Sinn darin, uns zu tief in die komplizierten Bezüge einer Religion hineinzubegeben, die dem mittelalterlichen Katholizismus so sehr ähnelt.
ULGOLAND *
GEOGRAPHIE Ulgoland (oder schlicht Ulgo, wie die Ulgos selbst es nennen) ist gebirgig – in der Tat besteht es ausschließlich aus Bergland. Im Osten grenzt es an Algarien, im Westen an Arendien, im Norden an Sendarien und im Süden an Tolnedra. Es gibt keine bekannten Pässe durch das Land, und die einzige Straße zur Hauptstadt in Prolgu wurde nach dem Krieg gegen die Angarakaner am Ende des fünften Jahrtausends erbaut. Es scheint große Metallvorkommen zu geben, doch die Ulgos weigern sich standhaft, irgendeine Form von Bergbau innerhalb ihrer Grenzen zu erlauben. Seit urdenklichen Zeiten sind Expeditionen von Abenteurern spurlos in Ulgoland verschwunden.
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Hierbei handelt es sich fast durchgängig um eine Fehldeutung – etwa in der Art jener spätmittelalterlichen Geographien, die (allen Ernstes) verkündeten, den Einwohnern von Madagaskar würden die Füße oben aus dem Kopf wachsen.
DIE ULGOS Sie sind das vielleicht sonderbarste Volk unter den Völkern des Westens. Sie verehren nicht nur einen merkwürdigen Gott, leben in Höhlen tief unter der Erde und sprechen eine Sprache, die nichts mit den zivilisierten Idiomen des Nordens und Westens gemein hat, sie unterscheiden sich auch vom Körperbau her von jeder bekannten Rasse. Ulgos sind bedeutend kleiner als die Arender und Alorner, und ihre Haut ist sichtlich blaß, was möglicherweise auf das generationenlange Leben unter der Erde zurückzuführen ist. Ihr Haar ist völlig farblos, die Augen sind ziemlich groß und lichtempfindlich. Ihre Bevölkerungszahl ist unbekannt, da ihre Behausungen unterirdisch sind und kein Fremder je in der Lage war, die Ausdehnung der Höhlen und Galerien unter ihren Bergen zu bestimmen. Sie sind ein argwöhnisches und geheimniskrämerisches Volk und scheinen nicht das geringste Interesse an Handel und Warenaustausch zu besitzen. DIE GESCHICHTE DER ULGOS Man vermutet, daß es sich bei den Ulgos um die ursprünglichen Bewohner des Kontinents handelt, obwohl uns kein Dokument bekannt ist, das über die erste Begegnung zwischen einem zivilisierten Menschen und einem Ulgo berichtet. Man nimmt allgemein an, daß die zivilisierten Menschen irgendwann im Verlauf des ersten Jahrtausends aus dem Osten auf diesen Kontinent einwanderten, in einer Zeit also, als auch die ursprünglichen fünf Königreiche (Alorien, Arendien, Tolnedra, Nyissa und Maragor) gegründet wurden. Es scheint, daß die Ulgos schon vor dieser Völkerwanderung hier ansässig waren. Ihre heimlichtuerische und kontaktscheue Art macht es jedoch unmöglich, Genaueres herauszufinden.
Aufgrund des unwirtlichen Charakters ihres Landes verirrten sich im Verlauf der ersten vier Jahrtausende unserer gegenwärtigen Ära nur wenige Reisende in ihr Gebiet. Abergläubische Märchen über abscheuliche Ungeheuer, die Reisende ohne Vorwarnung angriffen, waren zweifellos das Ergebnis systematischer Terrorisierung von seiten der Ulgos, die dazu diente, ihr Land vor Eindringlingen jeglicher Art zu schützen. In jüngster Zeit hat sich ein beschränkter Handel entwickelt, und nach der Schlacht von Vo Mimbre wurde eine Straße bis nach Prolgu durch das Gebirge geschlagen. Die ersten Kontakte mit den Ulgos wurden durch die Bemühungen des tolnedrischen Handelsagenten Horban hergestellt, des persönlichen Vertreters und Neffen Kaiser Ran Horbs XVI. in den zwanziger Jahren des 45. Jahrhunderts. Es war Horban, der den legendären Schrecken der ulgonischen Berge trotzte und sich, nur von einer kleinen Kavallerieeinheit begleitet, zur verbotenen Stadt Prolgu durchschlug. Zunächst weigerten sich die Ulgos nicht nur, Handel zu treiben, sondern auch, sich Horban auch nur zu zeigen. Acht Monate lagerte er in den Mauern einer Stadt, die verlassen schien. Er durchstreifte die moosüberwachsenen Straßen und erkannte mit Staunen das unglaubliche Alter jener Stätte. An einem Spätnachmittag im Herbst des Jahres 4421 sah Horban sich völlig überraschend von einer Gruppe von Männern in Umhängen mit Kapuzen umringt, die ihn gefangennahmen und in ein leerstehendes Haus in der Nähe schafften. Dann wurde er in einen Keller unter diesem Haus gebracht, und eine Tür im Boden wurde geöffnet und enthüllte ihm die schwach beleuchteten Höhlen darunter, in denen die Ulgos wohnen.
Horban versuchte, sich seinen Häschern verständlich zu machen, doch vergeblich. Die Sprachen des Westens gehören natürlich alle zur selben Sprachfamilie. So kann ein Tolnedrer ohne große Schwierigkeiten mit einem Alorner sprechen oder ein Arender mit einem Nyissaner; und mit großer Geduld auf beiden Seiten kann man sogar rudimentäre Gespräche mit einem Angarakaner führen; die Sprache der Ulgos jedoch war Horban völlig fremd. Man verfrachtete ihn in einen ziemlich bequemen Raum und gab ihm zu essen und zu trinken. Nach einiger Zeit erhielt er Besuch von drei sehr alten Männern, die sich mit ihm zu unterhalten versuchten. Als sie feststellten, daß Horban sich nicht mit ihnen verständigen konnte, machten sie sich daran, ihn ihre Sprache zu lehren. Nach zwei Jahren Unterricht wurde Horban vor den König gebracht, der traditionsgemäß UL-GO genannt wird und den Titel ›Gorim‹ trägt, offenbar ein Ausdruck des Respekts. Das Gespräch zwischen Horban und dem Gorim der Ulgos ist bemerkenswert – nicht nur aufgrund dessen, was es offenbart, sondern mehr noch aufgrund dessen, was es auf so quälende Weise verbirgt. In seinem Bericht an den Kaiser gab Horban folgende Zusammenfassung:
Zuerst wollte der Gorim von dem Gesandten wissen, was er im Land der Ulgos zu schaffen habe und warum er ihren heiligen Ort in Prolgu entweiht habe. Horban antwortete so diplomatisch wie möglich: Da die Ulgos sich entschlossen hätten, unter der Erde zu leben, könne ein Fremder unmöglich wissen, daß sie überhaupt existierten. Er beschrieb sich selbst als eine Art Forscher, den man ausgeschickt habe, um hartnäckige Gerüchte über ein in den Bergen lebendes Volk zu bestätigen oder zu entkräften. Dann fragte der Gorim Horban, wie er den ›Ungeheuern‹ entkommen sei, wollte seine rätselhafte Frage jedoch nicht näher erläutern, als Horban versicherte, er wisse nichts von solchen Ungeheuern. * Und dann fragte der Gorim – unter Verletzung der fundamentalsten Grundsätze guten Benehmens – Horban nach dem Namen seines Gottes. Die Frage war dermaßen schockierend, daß Horban sie später wörtlich zitieren konnte. »Und wer ist euer Gott?« sagte der Gorim mit strenger Miene. »Ist er es, der die Welt gespalten hat?« Horban erkannte rasch, daß man von dem Ulgo nicht jene Etikette erwarten konnte, welche die zivilisierte Menschheit entwickelt hatte, um den unvermeidlichen Streit und das mögliche Blutvergießen zu vermeiden, die mit theologischen Disputen einhergehen können, und entschloß sich daher, keinen Anstoß zu nehmen. Er entgegnete so förmlich wie möglich: »Ich habe die Ehre, Hochstehender, ein Jünger des großen Gottes Nedra zu sein.« Der Gorim nickte. »Wir kennen ihn«, sagte er. »Der Zweitälteste nach Aldur. Ein nützlicher Gott, wenn auch für meinen Geschmack ein wenig zu steif und förmlich. Es ist der dritte Gott, Torak, der Entstellte, der unser Feind ist. Er war es, der die Erde spaltete und *
Offenbar unter anderem die Algroths, Hrulgins und Eldrakyn.
das Übel losließ, das die Welt droben heimsucht. Wahrlich, hättest du dich dazu bekannt, Torak zu verehren, wärest du zu einer Grube gebracht und in das Meer ewigen Feuers geworfen worden, das unendlich tief unter uns liegt.« Ein reichlich erschütterter Horban hatte von dem Gorim daraufhin zu erfahren versucht, wie es denn käme, daß er ein solch profundes Wissen über die sieben Götter besitze. Die Antwort des Gorim entfachte einen theologischen Streit, der nun mehr als neunhundert Jahre andauert. Er sagte: »Wir wissen von den sieben Göttern, weil UL sie uns offenbart hat, und UL kennt sie besser als jeder andere, denn er ist älter als sie.« Diese schlichte Feststellung war natürlich nichts weniger als ein Donnerkeil, der die Theologen aller westlichen Nationen in hellen Aufruhr versetzte. Auf der Stelle ließen sie von ihren komplizierten Versuchen ab, einander die Überlegenheit ihres Gottes zu beweisen, und stürzten sich in den bedeutendsten Disput der fünf Jahrtausende. Die fundamentale Frage lautete selbstverständlich: »Gibt es sieben Götter, wie wir immer geglaubt haben, oder gibt es acht?« Falls es sieben sind, verehren die Ulgos in heidnischem Götzendienst einen falschen Gott und sollten bekehrt oder ausgerottet werden. Falls es acht sind und dieser mysteriöse ›UL‹ ebenfalls ein Gott ist, ist er dann nicht fünftausend Jahre lang von allen zeremoniellen Opfergaben ausgeschlossen gewesen? Und sollten wir ihn dann nicht zu versöhnen trachten? Und falls es acht sind, könnte es dann nicht auch neun geben – oder neunhundert? Alornische Theologen bestätigten aus ihren heiligen Schriften, daß der Gott der Angarakaner, Torak, tatsächlich die Welt gespalten habe und tatsächlich entstellt sei. So faszinierend diese Fragen aber auch sein mögen, hier ist nicht der Ort, um näher darauf einzugehen. Für unseren Zweck genügt es festzuhalten, daß die Ulgos die Quelle des Streits sind. Zum Abschluß seines Gesprächs mit dem Gorim schloß Horban ein beschränktes Handelsabkommen ab, das zwei Karawanen pro
Jahr erlaubte, die Reise nach Prolgu zu unternehmen und ein Lager in dem Tal unterhalb der Stadt aufzuschlagen – ein Tal, das mit einem ulgonischen Wort benannt war, was soviel bedeutet wie ›wo die Ungeheuer hausen‹, ein kurioser, in Verbindung mit ihrer Mythologie stehender Begriff. Damals erklärte der Gorim, daß diejenigen aus seinem Volk, die Neigung dazu verspürten, dort hingehen und die Waren der Kaufleute in Augenschein nehmen dürften. Als Horban ihn mit der Bitte um mehr Karawanen oder sogar eine ständige Handelsniederlassung im Tal bedrängte, verweigerte der Gorim seine Zustimmung mit den Worten: »Die Beschränkung dient eurem eigenen Schutz«, und weigerte sich, dies näher zu erläutern. In den ersten hundert Jahren erwies sich der Handel mit den Ulgos als beklagenswert unprofitabel. Häufig unternahmen tolnedrische Kaufleute die lange und anstrengende Karawanenreise nach Prolgu und warteten die verabredeten drei Wochen, ohne daß auch nur ein einziger Kunde aus den Tiefen der Erde auftauchte, um sich ihre Waren anzuschauen. Bittschriften an den Kaiser, eine Militärexpedition zu entsenden, um die Ulgos mit Gewalt aus ihren Höhlen herauszutreiben, damit die Händler sie mit ihren Waren in Versuchung führen konnten, waren größtenteils wirkungslos, da in dem Vertrag nirgends davon die Rede war, die Ulgos müßten etwas kaufen. Außerdem ist die Stadt Prolgu aufgrund ihrer Lage auf dem Gipfel eines mächtigen Berges – der vielleicht unangreifbarste Platz auf dieser Welt. Wie ein ranitischer Kaiser einmal bemerkte: »Ich könnte allen Reichtum und alle jungen Männer des Reiches in jene öden Berge schütten und würde doch nichts dabei gewinnen.« Mit der Zeit wurden unsere Karawanen kleiner und immer seltener von Truppen begleitet, und manchmal verschwanden sie auch spurlos. Die Ulgos erwähnten vage etwas von ›Ungeheuern‹, weigerten sich aber, Konkreteres verlauten zu lassen. Während der Invasion der Angarakaner in den sechziger und siebziger Jahren des 49. Jahrhunderts wurden die algarischen
Kavallerie- und die drasnischen Infanterieeinheiten, die den Feind auf seinem Marsch zum Schlachtfeld vor der arendischen Stadt Vo Mimbre verfolgten, vom plötzlichen Auftauchen Tausender eigenartig bewaffneter Ulgos aus ihren Höhlen überrascht, die wie üblich ihre Gesichter unter Kapuzen verbargen und ihre Augen gegen das Licht verschleiert hatten. Es liegt auf der Hand, daß es irgendeinen äonenalten Zwist zwischen den Ulgos und den Angarakanern gibt, dessen Ursprung sich in den Nebeln der Vergangenheit verliert. Den Algariern und Drasniern fiel es schon bald nicht mehr schwer, den Horden KalToraks zu folgen, da ihr Weg buchstäblich von den Leichen jener Unglücklichen gepflastert war, welche die Ulgos systematisch in Hinterhalte gelockt und abgeschlachtet hatten. Der Lichtempfindlichkeit ihrer Augen wegen kommen die Ulgos in der Nacht am besten zurecht, und der Blutzoll, den ihre nächtlichen Überfälle unter den schlafenden Angarakanern forderten, war furchtbar. In der Schlacht von Vo Mimbre nahmen die Ulgos zusammen mit den Algariern und Drasniern an dem Angriff auf die angarakanische Linke teil. Als sie ihre Umhänge und Kapuzen für die Schlacht ablegten, enthüllten sie die traditionelle Rüstung der Ulgos, eine eigenartige Schuppenpanzerung, die den Schuppen einer Schlange nachgebildet ist, welche sich auf eine Weise überlappen, daß der Panzer praktisch undurchdringlich ist. In ihrer blumigen Ausdrucksweise heißt diese Rüstung ›Drachenhaut‹. Im Verlauf der Schlacht legten die Ulgos eine ungewöhnliche Tapferkeit an den Tag und stürzten sich ohne zu zögern ins Handgemenge mit den wesentlich größeren Murgo-Kriegern, welche die linke Flanke hielten. Und nach der Schlacht, als die Dunkelheit hereingebrochen war, streiften ulgonische Krieger über die Walstatt und sorgten dafür, daß nicht ein einziger verwundeter Angarakaner entkam.
Als nach dem Krieg wieder halbwegs zur Normalität einkehrte, wurde der eingeschränkte Handel wieder aufgenommen, doch die Ulgos haben ihre heimlichtuerische Art nicht abgelegt. Der gegenwärtige Gorim der Ulgos scheint ein ausgesprochen alter Mann zu sein, obschon das in ihren Höhlen herrschende Dämmerlicht solch feine Unterscheidungen erschwert. Die Art und Weise, wie die Ulgos ihren Gorim wählen, oder wie weit ihre Reihe zu den dunklen Wurzeln der Vergangenheit zurückreicht, sind selbstverständlich Fragen, die aller Wahrscheinlichkeit nach nie eine Antwort finden werden. MÜNZSYSTEM Ulgos benutzen keine Münzen, sondern tauschen sowohl nützliche als auch schöne Dinge ein. Ulgonischer Schmuck ist so exquisit und fein gearbeitet, daß er im Westen nahezu unbezahlbar ist. Sie handeln auch mit Rohgold und Silber sowie mit geschliffenen und ungeschliffenen Edelsteinen.
KLEIDUNG Standardkleidung – ein leinenes, pyjama-ähnliches Teil. Kapuzenumhänge aus grobem Tuch. Alle ziemlich dunkel gefärbt. Leinen – Tuch (wilder Flachs, im Umkreis der Höhleneingänge gesammelt). Ein rauhes Tuch, gewebt aus den Fasern einer Baumrinde, wird auf ähnliche Weise gesammelt. Weiches Leder – Hirschhaut, von nächtlichen ulgonischen Jägern erlegt. Bedeutende Persönlichkeiten tragen Roben – ziemlich schwere – aus einem soliden Stück. Weiß. Rüstung – überlappende, brillantförmige Stahlschuppen, auf Leder aufgenäht. Waffe – das Messer – von ulgonischen Handwerkern entworfen und vervollkommnet – ziemlich üppig verziert mit jeder Menge Haken und Sägerändern. Lange Eispike. Pike mit kurzem Griff und Nadelspitzen etc. Frauen tragen weich fließende Gewänder. Haare werden kunstvoll geflochten. Juwelenbesetzte Gebinde. HANDEL Ausschließlich Tauschhandel mit nützlichen Gegenständen oder Dienstleistungen. Ulgos haben Felder, die des Nachts bestellt und geerntet werden. Werden nach dem Zufallsprinzip angelegt und bepflanzt, so daß sie nicht auszumachen sind. Außerdem jagen sie – Fleisch ist eine Seltenheit in der ulgonischen Ernährung. Viele Wurzelgemüse, Körner und Nüsse.
GESELLSCHAFTSTRUKTUR Die Ulgo-Gesellschaft ist eine Theokratie. Der Gorim ist eine Art Moses-Figur, ein Gesetzgeber und Richter. Volk in Stämme unterteilt. Die Stammesältesten beraten den Gorim. Gelehrte studieren die Schriften des ersten Gorim – in dieser Hinsicht eine sehr jüdische Gesellschaft.
Gewöhnliche Leute leben in aus dem Stein heraus gehauenen Kammern entlang verschiedener Galerien in den gewaltigen Kalksteinhöhlen. Man beachte: Die Höhlen der Ulgos werden auf natürliche Weise durch geothermale Kräfte beheizt. Gekocht wird mit kleinen Holzkohlefeuern. Rauch und Abluft ziehen durch geschickt konstruierte Entlüftungsschlitze ab. Für Licht sorgen winzige Öllampen oder reflektiertes Oberflächenlicht (mit Hilfe von Glasprismen). In der ulgonischen Gesellschaft dreht sich alles um die Religion. Viel Zeit wird von Gebeten in Anspruch genommen. Prophezeiungen und das Erstellen von Augurien ist ungeheuer wichtig. Bei besonderen Anlässen lassen bestimmte Spezialöffnungen mit Hilfe spezieller Glasprismen das Licht bestimmter Sterne in die Höhlen fallen; dann werden Farben und
Schatten gedeutet. (Aufgrund ihrer Arbeit mit Glas sind die Ulgos Meister der primitiven Optik.) Darüber hinaus verfügen sie über ausführliche Kenntnisse über die ›Ungeheuer‹ und wissen, wie man mit den meisten fertig wird. Sie sind nicht fruchtbar. Zahlreiche Einschränkungen bezüglich der Vermehrung. Säuglingssterblichkeit ist recht hoch. Eine statische, unbewegliche Gesellschaft ohne vernünftige Hoffnung auf Wachstum. Philosophisch, gelegentlich melancholisch. Viel Wert wird auf Gelehrsamkeit, Studien und das Erreichen der Tugendhaftigkeit oder Rechtschaffenheit gelegt – ein massenhaftes Streben nach Heiligkeit – wahrscheinlich Essener. Religiöse Ekstase und religiöse Exzesse weit verbreitet. In den abgelegensten Höhlen Einsiedler. (Ulgonische Kunstwerke sind so schön, weil sie das Werk von Zeloten sind.) Die Heiligen Bücher der Ulgos sind die Tagebücher des Gorim, die dieser auf seiner Suche nach dem Gott UL führte. Diese ziemlich gewöhnlichen Aufzeichnungen haben den Status von etwas Mystischem erreicht. Heiligkeit beruht oftmals auf einer neuartigen oder ungewöhnlichen Auslegung eines recht gewöhnlichen Vorgangs. Das Buch ULGO ist eine wesentlich spätere poetische Ausformung des originalen Die Tagebücher von Gorim. Es hat gegenseitige Vernichtungskriege in den Höhlen der Ulgos wegen irgendwelcher obskuren und verrückten Abschnitte aus den Tagebüchern Gorims gegeben. Eine nach außen abgeschottete und vollkommen auf sich selbst bezogene Gesellschaft mit Ausnahme ihres allumfassenden Hasses auf Torak, denjenigen, dessen Aktionen sie in die Höhlen verbannt haben. UL-GO-Theologie ist heftig gespalten. Die eine Fraktion glaubt, die Höhlen seien das, was UL für sie bestimmt habe. Die anderen, daß ein Erlöser kommen und Torak vernichten wird und daß die Ulgos dann wieder zur Oberfläche zurückkehren dürfen.
STÄNDE Der Gorim – Hohepriester und König. Die Alten – Führer eines Stammes. Stammesälteste – Sieben in jedem Stamm. Sieben Stämme von Ulgos – ziemlich bedeutende rassische Unterschiede zwischen ihnen. Die Priester von UL – überaus zahlreich. Die Wahl des Gorim, der Alten und der Ältesten ist ein Vorgang, der teils Wahl, teils Prophezeiung, teils Lotterie und teils Bauchentscheidung ist. Der Gorim ist nicht erblich. Nur ein Ulgo vermag diesen Vorgang zu begreifen. Das Alter ist ein wichtiger Aspekt bei der Wahl. ANREDE Für den Gorim – ›Mein Gorim‹, ›Heiliger‹, selten ›Heiliger UL-GO‹ Für die Alten – ›Von UL Geliebter‹, ›Weisheit‹ Für die Ältesten – ›Rechtschaffenheit‹, ›Von UL Erwählter‹ Für die Priester – ›Meister‹ Für die Gelehrten – ›Gelehrter‹ Für die gemeinen Leute – ›ULGORIM John‹ was in etwa soviel bedeutet wie ›Gerechter und Rechtschaffener in den Augen ULS‹ SITTEN UND GEBRÄUCHE Ziemlich steife Art der Anrede. Ein großer Teil der Gespräche ist formelhaft vorgegeben. ›Groß ist die Macht ULS‹ – Antwort: ›Aller Preis sei dem Namen ULS‹. Ganze Gespräche können aus solchen stereotypen Sätzen bestehen. Persönliche Kammern sind absolut privat. Tempel sind große Kammern. Ulgos wohnen täglich dem
Gottesdienst bei. Arbeit in offenen Galerien. Studien, Kunst, Handwerk etc. Die Ulgos leben seltsam weit entfernt voneinander. FESTE UND FEIERTAGE Der Tag der Annahme – Der Tag, an dem UL Gorim annahm – der heiligste aller Festtage. Der Tag der Verzweiflung – Als Gorim nach Prolgu ging und sein Leben verfluchte. Der Tag der Nachfolge – Der Tag, an dem die Wenigen Gorim folgten. Des weiteren 130 andere Schlüsselereignisse in den Tagebüchern von Gorim, die festlich begangen werden. BEVÖLKERUNGSZAHLEN Bevölkerung vielleicht 750.000 insgesamt.
NYISSA GEOGRAPHIE Das Königreich Nyissa liegt an der Südgrenze Tolnedras jenseits des Waldflusses. Im Westen wird es von den Wassermassen des Großen Westmeeres begrenzt, im Osten von einer niedrigen Gebirgskette, welche die Schwelle zur endlosen, unbewohnten Wildnis des westlichen Cthol Murgos bildet. Der Verlauf der südlichen Grenze des Königreichs ist ziemlich vage, da es in jener Region nichts als weglosen Urwald gibt. Der nyissanische Hof in Sthiss Tor erhebt den Anspruch, daß Nyissa keine südliche Grenze hat, sondern sich bis zum Südrand der Welt erstreckt, aber nur wenige nehmen solche hochtrabenden Ansprüche ernst, weil kein Königreich ein auch nur ansatzweise durchsetzbares Anrecht auf ein Gebiet erheben kann, das es nicht zu besetzen vermag. Der überwiegende Teil Nyissas ist dicht bewaldet, bedeckt von einem gewaltigen, weglosen subtropischen Urwald. Das Land ist morastig, die Erde ausgesprochen fruchtbar. Trotz dieser Bodenbeschaffenheit wird im Lande des Schlangenvolks nur in äußerst geringem Maße Ackerbau betrieben. Die gewaltigen Anstrengungen, die nötig wären, um Felder zu roden und gegen den Urwald zu verteidigen, übersteigen offenbar die Fähigkeiten der ziemlich trägen Bewohner. Die Hauptstadt in Sthiss Tor scheint die einzige Ansiedlung von stadtähnlichen Ausmaßen im gesamten Königreich zu sein, doch läßt sich dies nur schwer bewahrheiten, da die heimlichtuerischen Nyissaner Fremden die Reise ins Hinterland verbieten. Zufällige Beobachtungen weisen indes darauf hin, daß der Großteil der Bevölkerung in kleinen Dörfern lebt, die für gewöhnlich an oder in der Nähe des Hauptflußsystems des Landes liegen, das
treffenderweise Schlangenfluß heißt. Es gibt keinerlei Beweise für nennenswerte Erzlager in diesem Königreich, aber auch das läßt sich unmöglich verifizieren.
Sthiss Tor selbst ist eine große, gut befestigte Stadt aus Stein, etwa achtzig Leagues flußaufwärts von der Mündung des Schlangenflusses. Aufgrund des scheußlichen Klimas wird sie von den Mitgliedern des diplomatischen Korps Tolnedras als eine Art Strafposten betrachtet. BEVÖLKERUNG Die Nyissaner ähneln in Körperbau und Teint den Tolnedrern und Arendern und zählen daher offensichtlich zu derselben Volksgruppe. Wie eingangs erwähnt, sind sie ein geheimniskrämerisches und träges Volk, schwer zu durchschauen und noch schwerer zu mögen. Ihre Verehrung des Schlangengottes Issa hat sie dazu gebracht, gewisse reptilische Manierismen anzunehmen, die auf die meisten Fremden schlicht abstoßend wirken. Wenn die Nation auch im Einklang mit der Praxis in anderen westlichen Königreichen als ›Königreich‹ apostrophiert wird, so ist diese Benennung doch nicht ganz zutreffend, da der Herrscher der Nyissaner stets eine Königin gewesen ist. Der traditionelle Name, Salmissra, scheint keine bestimmte erbliche Bedeutung zu besitzen. Der Vorgang, mit dem die Nachfolgerin auserkoren wird, ist ein gut gehütetes Geheimnis, das in engem Zusammenhang mit dem religiösen Leben der Nyissaner steht, da die Königin zugleich Hohepriesterin der Nationalreligion ist. * Des Reichtums der fremdartigen Pflanzenwelt in den nyissanischen Dschungeln wegen hat das Schlangenvolk ein enormes Wissen angehäuft, was Kräuter *
Salmissra ist offensichtlich teilweise nach dem Vorbild der Kleopatra angelegt, und die nyissanische Gesellschaft gleicht bis zu einem gewissen Grad der ägyptischen, aber eben nicht völlig. In der »Belgariad« sind die Nyissaner unbegreifliche Bösewichter, aber in der »Malloreon-Saga« sollten sich Sadi wie auch Zeth als wichtige Charaktere erweisen.
und Drogen betrifft, und man ist allgemein der Auffassung – obwohl vermutlich irrtümlich –, daß die ganze Nation nach dem einen oder anderen Mittel süchtig ist. Die Drogen spielen allerdings tatsächlich eine wichtige Rolle bei den religiösen Praktiken der Nyissaner. Desgleichen entspricht es leider der Wahrheit, daß eins der Zufallsprodukte der pharmazeutischen Experimente der Nyissaner in der Entwicklung einer breiten Palette von Giften und Toxinen bestand, welche gelegentlich ihren Einzug auch in die tolnedrische Politik gehalten haben. Die Beseitigung eines politischen Gegners war in Tolnedra stets zu einfach, und das größtenteils aufgrund der beklagenswerten Nähe der nyissanischen Grenze. Traurig, aber wahr: Die Hauptbeschäftigung der Nyissaner ist seit alters her der Sklavenhandel gewesen. Die Schlachtfelder der Kriege wurden seit Tausenden von Jahren von nyissanischen Sklavenjägern heimgesucht. In der Tat sind sie manchmal so zahlreich wie Schwärme von Raben. Obwohl der Sklavenhandel verpönt ist, landen Gefangene – die nicht über die finanziellen Mittel verfügen, ein Lösegeld zu bezahlen – nur allzu oft in Ketten auf nyissanischen Sklavenschiffen. Das Schicksal dieser Unglücklichen entzieht sich unserer genauen Kenntnis; aber da die nyissanischen Sklavenhändler ihre Waren und Vorräte fast ausschließlich mit angarakanischem Gold bezahlen (das aufgrund der Eisenvorkommen in der Nachbarschaft der Minen von Gar og Nadrak und Cthol Murgos einen charakteristischen rötlichen Schimmer aufweist), geht man allgemein davon aus, daß die angarakanischen Königreiche des Ostens der letztendliche Bestimmungsort der Sklaven sind. Die Vorstellung, was wohl geschehen mag, wenn sie in die Hände der Grolimpriester in jenen finsteren Ländern fallen, macht einen schaudern.
DIE GESCHICHTE DES SCHLANGENVOLKES
Wegen der heimlichtuerischen Art der Nyissaner sind Versuche, historische Fakten über sie zusammenzutragen, ein außerordentlich schwieriges Unterfangen. Abgesehen von einigen flüchtigen Informationen, von denen die meisten während der alornischen Invasion der Jahre 4002 bis 4003 ans Licht kamen, ist wenig Verläßliches über die Geschichte dieses Landes bekannt. Man nimmt allgemein an, daß die Nyissaner ein Bestandteil der gewaltigen Westwanderung waren, die im ersten Jahrtausend stattfand und in deren Verlauf auch die Königreiche Alorien, Arendien und Maragor sowie das Kaiserreich Tolnedra gegründet wurden. Es ist eine Binsenwahrheit, daß Geschichte ein Nebenprodukt des Krieges ist, und mit Ausnahme der oben erwähnten alornischen Invasion und eines legendären Krieges zwischen Nyissa und Maragor im ausgehenden zweiten Jahrtausend haben die Nyissaner so gut wie keine bewaffneten Auseinandersetzungen mit anderen Königreichen des Westens geführt. Die Gründe des maragisch-nyissanischen Kriegs verlieren sich in den Nebeln der Vergangenheit, und die wenigen Aufzeichnungen, die wir über diesen Konflikt besitzen, sind bestenfalls fragmentarisch – ein Resultat des Eifers der tolnedrischen Soldateska bei der Ausrottung der Marager im dritten Jahrtausend. Was bleibt, ist ein skizzenhafter Oberlieferungskorpus aus Berichten, Beschlagnahmungen, Tagebüchern und ähnlichem, der kaum mehr als die vagen Umrisse der Auseinandersetzung erahnen läßt. Was auch immer die unbekannte Ursache gewesen sein mag, es scheint, als hätten die Marager sich als die beleidigte Partei
betrachtet und als wäre die Entsendung ihres Invasionsheeres so etwas wie ein heiliger Kreuzzug für sie gewesen.
Wie dem auch sei, um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts fielen maragische Heeresabteilungen über die Nordostgrenze nach Nyissa ein und griffen Sthiss Tor an, das 250 Leagues weiter westwärts liegt. Heeresbefehlshaber berichteten von der Existenz breiter Verbindungsstraßen durch den Urwald sowie von mächtigen Städten, die erobert und in Schutt und Asche gelegt wurden. Während einiges davon als primitive Übertreibung abgetan werden kann, muß man doch einräumen, daß ein Körnchen Wahrheit in den Berichten stecken könnte. Tolnedrische Expeditionen nach Nordnyissa unmittelbar nach der alornischen Invasion im fünften Jahrtausend bestätigten die Existenz von ausgedehnten, vom Urwald überwucherten Ruinenstädten * sowie von kaum noch erkennbaren Straßen durch das dichte Unterholz. Wie auch immer die Wahrheit aussehen mag, die Marager rückten weiter vor und hielten nur inne, um nyissanische Tempel zu entweihen und ihre eigenen ekelhaften Riten auf den Altären des Schlangengottes zu zelebrieren.
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Ein offensichtlicher Bezug auf die Ruinen von Angkor Wat in Kambodscha.
Als die maragischen Heeressäulen sich näherten, flohen Königin Salmissra und ihr Anhang aus der Stadt Sthiss Tor und suchten in den Urwäldern des Südens Zuflucht. Die Marager sahen sich mit der Tatsache konfrontiert, daß sie eine leere, von verlassenen Feldern umgebene Stadt erobert hatten. Zu diesem Zeitpunkt kam es zu einem der ungeheuerlichsten Vorfälle in der Geschichte des Kriegswesens. Nachdem die Marager die Stadt über eine Zeitspanne von vielleicht zehn Tagen besetzt gehalten hatten, erkrankten die Soldaten und starben in erschreckender Zahl. Die flehentlichen Bitten um Nahrung – nach Maragor geschickt von maragischen Armeebefehlshabern, die inmitten einer fruchtbaren, vor nicht abgeerntetem Getreide strotzenden Ebene lagerten – beweisen zur Genüge, was vorgefallen war. Bevor sie ihre Hauptstadt aufgaben, hatten die Nyissaner systematisch sämtliche Nahrung im Umkreis der Metropole vergiftet. Sie hatten sogar mit Hilfe von Mitteln, die nur sie kennen, Früchte und Gemüse ungenießbar gemacht, das noch an den Bäumen hing oder auf den Äckern wuchs. Das zurückgelassene Vieh hatten sie mittels einer Technik vergiftet, die jede Einbildungskraft übersteigt, so daß die Tiere gesund blieben, jeder, der von ihrem Fleisch aß, jedoch elendiglich starb. Eine dezimierte und halb wahnsinnige Truppe aus wenigen mitleiderregenden Überlebenden taumelte aus dem Urwald hervor und zurück nach Maragor, die Leichen ihrer Toten zurücklassend. Auch wenn es sich lediglich um eine Vermutung handelt, so wird man doch zu Recht annehmen dürfen, daß die Nyissaner aus der Lektion der maragischen Invasion ihre Lehren zogen. Die Straßen (wenn es denn Straßen gewesen sind) machten es jeder Invasionsarmee leicht, den Urwald zu durchqueren. Also ließ man die Straßen verfallen, und der Dschungel holte sie sich zurück. Da die Nyissaner kein sonderlich fruchtbares Volk sind (ihr Drogenkonsum behindert ernsthaft jegliche Fortpflanzungsaktivitäten), stellen Städte nur größere
Menschenansammlungen dar, die einem Überraschungsangriff zum Opfer fallen können. Es bestand die Gefahr, daß die ohnehin geringe Bevölkerung durch wenige solcher Angriffe so sehr dezimiert wurde, daß ein Aussterben drohte. Daher war es aller Wahrscheinlichkeit nach ein Erfordernis der Staatsräson, die Bevölkerung weiträumig auf kleine Städte und Ansiedlungen und sogar Dörfer zu verteilen – natürlich mit Ausnahme der Hauptstadt. Und nun erkennen wir die Wahrheit des Sprichworts: Geschichte ist das Produkt des Krieges. Hätte es keine maragische Invasion gegeben, hätte Nyissa sich möglicherweise in eine vollkommen andere Richtung entwickelt. Städte hätten sich aus dem Boden erheben und der Urwald gerodet werden können, doch es sollte nicht sein. Das Motto über dem Portal zum Thronsaal von Königin Salmissra in Sthiss Tor spricht Bände: »Die Schlange und der Wald sind eins.« Die Dschungel Nyissas sind die Zuflucht und der Schutz des Schlangenvolkes, und wir dürfen nicht davon ausgehen, daß diese Urwälder je gerodet werden. In der Regierungszeit von Ran Horb II. aus der Ersten Horbitischen Dynastie (den man auch den Architekten des Reiches nennt) wurde ein nachhaltiger Versuch unternommen, die üblichen Handelsabkommen mit den Nyissanern zu schließen. Vordal, ein Edelmann aus der Vordue-Linie der Kaiserlichen Familie, wurde mit der heiklen Aufgabe betraut, mit Königin Salmissra zu verhandeln. Seine Berichte liefern anschauliche und erschreckende Einzelheiten der tödlichen Intrigen, die am nyissanischen Hof vorherrschen. Jeder Adlige, Beamte oder Priester beschäftigt für gewöhnlich einen umfänglichen Stab von Kräuterkundigen und Apothekern, deren einzige Aufgabe das Destillieren, Zusammenstellen und Mischen neuer Gifte und Gegengifte ist. Ein Durchbruch bei einem dieser professionellen Giftmischer läßt sich meist an plötzlichen und häufig gräßlichen Todesfällen sämtlicher Mitglieder der gegnerischen Partei ablesen. Da alle nyissanischen Politiker infolge großer Präventivverabreichungen sämtlicher bekannten Gegengifte
und einer brutalen Desensibilisierungsdiät, in deren Verlauf sie allmählich erhöhte Dosen der Gifte selbst einnehmen, in der Lage sind, unbeschadet Giftmengen aufzunehmen, die eine ganze Legion töten würden, sind die Neuentwicklungen auf dem Giftsektor von wahrhaft erschreckender Wirksamkeit. Vordal berichtet, Königin Salmissra verfolge diese tödlichen Spiele mit repitilienhafter Erheiterung und verziehe keine Miene, wenn ihr vertrautester Berater plötzlich schwarz anlaufe, unter krampfhaften Zuckungen zu Boden falle und mit Schaum vor dem Mund wie ein tollwütiger Hund verende. Nyissanische Königinnen lernen schon ziemlich früh, keinerlei feste persönliche Bindungen einzugehen. Ihre Ausbildung wird so unerbittlich von äonenalten Traditionen, ihr Leben dermaßen von Ritualen bestimmt, daß sich jede Königin in Hinblick auf Aussehen und Persönlichkeit kaum von ihren Vorgängerinnen oder Nachfolgerinnen unterscheidet. Zu guter Letzt war Vordal in der Lage, besagten Vertrag mit den Nyissanern abzuschließen, eine schwierige Aufgabe, da der Unterhändler, mit dem er es zu tun hatte, oft recht unvermittelt mitten in den heikelsten Verhandlungen verstarb. Der Vertrag sah eine Handelsenklave in der Nähe des Hafens von Sthiss Tor vor, und tolnedrische Kaufleute waren strikt auf diesen Bezirk beschränkt. Obwohl es gewiß nicht der beste aller abgeschlossenen Verträge ist, macht es uns der scheinbar unerschöpfliche Vorrat der Nyissaner an rotem angarakanischem Gold doch leicht, uns mit den Einschränkungen abzufinden. Darüber hinaus macht die phlegmatische Veranlagung der Nyissaner sie gleichgültig gegenüber den Vertracktheiten des Feilschens, so daß sie im allgemeinen den verlangten Preis zahlen, ohne groß zu fragen. So kommt es, daß der Handel mit dem Schlangenvolk höchst einträglich ist. Trotzdem haben nur wenige tolnedrische Kaufleute, wenn überhaupt, sich je in Sthiss Tor wohl gefühlt. Die meisten beschränken sich auf zwei oder drei Fahrten den Schlangenfluß hinauf. Die Gewinne sind enorm, doch die Nyissaner haben etwas an sich, das selbst den
Habgierigsten dazu bringt, bald wieder abzureisen. Das bekannteste Ereignis in der Geschichte von Nyissa war die alornische Invasion der Jahre 4002 bis 4003, die Folge der Ermordung des rivanischen Königs Goreks des Weisen durch Nyissaner. Das Motiv für diese scheinbar sinnlose Tat ist nie ganz ergründet worden, obwohl die alornischen Könige Königin Salmissra XXXIII. vor ihrem Tod das Geheimnis zu entreißen vermochten. Die allgemeine Vermutung geht in Richtung einer Verwicklung der Angarakaner in den Plan, aber warum die Angarakaner eine solche Feindschaft gegen den Monarchen einer abgelegenen Insel hegen sollten, bleibt unklar. Darüber hinaus stellt sich die Frage, was man einer nyissanischen Königin anbieten kann, um ihre Unterstützung zu erkaufen. Was immer Salmissras Beweggründe waren, die Tat ist unzweifelhaft ihr zuzuschreiben, und die alornische Rache war schrecklich. Wie bereits dargelegt, machten die vereinten Streitkräfte der Chereker, Drasnier, Algarier und der Insel der Stürme kurzen Prozeß mit den Nyissanern. Nach ihrem Sieg vernichteten die Alorner systematisch und rücksichtslos die gesamte Nation, schleiften die Städte und brannten die Dörfer nieder. Alle Nyissaner, die ihnen in die Hände fielen, wurden erbarmungslos erschlagen. Wiederum war es nur der Dschungel, der verhinderte, daß das Schlangenvolk vollkommen ausgerottet wurde. Die Zerstörung Nyissas durch die Alorner war mit solcher Grausamkeit erfolgt, daß über eine Zeitspanne von fünfhundert Jahren hinweg und trotz wiederholter tolnedrischer Expeditionen nichts darauf hindeutete, daß irgendwelche Nyissaner den Völkermord überlebt hatten. Erst dann begann das Schlangenvolk allmählich wieder aus dem Dschungel hervorzukommen und zögernd seine Hauptstadt Sthiss Tor wiederaufzubauen. Erstaunlicherweise hat die Königin offenbar weiterhin das nyissanische Leben beherrscht, auch wenn ihr Volk in alle Winde zerstreut worden war. Königin Salmissra LXXIII. tauchte nicht minder hoheitsvoll und gebieterisch als ihre Vorgängerinnen aus
dem Urwald auf, und ihr Gesicht war denen auf den alten Münzen so ähnlich, daß einen das unheimliche Gefühl beschlich, es handle sich um ein und dieselbe Frau. Der Grund für diese frappierende Ähnlichkeit war indes durch eine der auf die alornische Invasion folgenden tolnedrischen Expeditionen nach Nyissa ans Licht gekommen. In der Nähe der Hauptstadt wurden mehrere stattliche Häuser entdeckt, und in dem versiegelten zentralen Raum eines jeden dieser Häuser fand man die skelettierten Überreste von neunzehn jungen Mädchen. Kleidungsreste wiesen darauf hin, daß sie alle gleich gewandet waren, und die Gebeine besaßen allesamt genau dieselbe Größe. In den anschließenden Räumen fand man die Überreste zahlreicher anderer Nyissaner – manche in der Tracht von Dienern, manche in Priesterroben. Der Grund für die ununterbrochene Reihe von Salmissras und die unheimliche Ähnlichkeit jeder Königin mit ihren Vorgängerinnen lag nunmehr auf der Hand. Zu einem gewissen Zeitpunkt im Leben einer Königin wurde im ganzen Land eine Suche vorgenommen, um diejenigen zwanzig jungen Mädchen ausfindig zu machen, die ihr am meisten ähnelten. Wenn die alte Königin dann starb, wurde eine von den zwanzig ausgewählt, um ihre Nachfolge anzutreten. Die anderen wurden allesamt getötet, zusammen mit ihren Dienern, Lehrern und Priestern, um Versuche zu verhindern, die Gewählte doch noch zu ersetzen. Auf diese Weise wird die Unantastbarkeit der Königin gesichert und die Nachfolge garantiert. Da ihr einziger Ausflug ins Reich der überstaatlichen Politik ein so katastrophales Ende nahm, wahrten die Nyissaner hinfort strikte Neutralität. Am Kaiserlichen Hof von Tol Honeth herrschte während der angarakanischen Invasion unter Kal-Torak im 49. Jahrhundert die starke Befürchtung, ein zweites Heer von Angarakanern und Malloreanern könne insgeheim durch die Dschungel des Schlangenvolkes vorrücken, um Tolnedras Südgrenze anzugreifen und so den Westen in einem gewaltigen
Zangenmanöver zu besiegen. In Anbetracht der geographischen Nähe von Nyissa zu den westlichen Regionen von Cthol Murgos und des besonderen Verhältnisses des Schlangenvolkes zu den Angarakanern war diese Möglichkeit nur allzu sehr gegeben. Demzufolge befestigten tolnedrische Legionen das Nordufer des Waldflusses, und der größte Teil der tolnedrischen Truppen wurde nach Süden verlegt und bezog Garnison in Tol Borune und Tol Rane, um mögliche Angriffe abwehren zu können. Trotz furchtbarer Verluste wurden immer wieder Patrouillen ins nördliche Nyissa ausgeschickt, um die ersten Anzeichen eines angarakanischen Angriffs zu entdecken. Königin Salmissra protestierte scharf gegen diese Verletzung ihres Herrschaftsgebietes durch die Tolnedrer, wurde jedoch mit einer Reihe diplomatisch formulierter persönlicher Botschaften des Kaisers abgespeist. Am Ende stellte sich die gefürchtete zweite Front, wie wir alle wissen, als Chimäre heraus, und wir müssen zugeben, daß die Verlegung der siebenunddreißig Legionen in den Süden Tolnedras Möglichkeiten schwächte, an der Entscheidungsschlacht von Vo Mimbre teilzunehmen, und in gewissem Maße zu der Demütigung des Reiches in den infamen Vereinbarungen beigetragen haben könnte, die auf die Schlacht folgten. Nach den angarakanischen Kriegen haben die Nyissaner den Sklavenhandel wieder aufgenommen, obwohl der relative Frieden, der seit jenen Umwälzungen im Westen vorherrscht, die Zahl der ihnen zur Verfügung stehenden Gefangenen stark verringert hat. Ein paar Jahre nach dem Krieg begannen nyissanische Kaufleute, im Westen Lebensmittel aufzukaufen, wobei sie stets die höchsten Preise zahlten. Dieser abrupte Wandel in den nyissanischen Handelsgepflogenheiten trug merklich zur Nahrungsknappheit bei, die aus der Vernichtung der algarischen Herden entstand. Der Verdacht besteht, daß die Nyissaner als Agenten der Murgos
handelten und daß die Nahrungsknappheit sich praktisch über den gesamten Kontinent ausgedehnt hatte. In jüngster Zeit sind nyissanische Kaufleute und Händler in allen Teilen des Westens stark in Erscheinung getreten, stärker noch als während jener kurzen Periode der nyissanischen Handelsdominanz nach der Schließung der Nördlichen und Südlichen Karawanenstraße. Wie immer bleiben die Motive der Schlangenkönigin in Sthiss Tor ein Rätsel. Die gegenwärtige Königin, Salmissra XCIX. scheint eine willensstärkere Herrscherin als viele ihrer Vorgängerinnen zu sein, die bloße Marionetten in den Händen der verschiedensten Hofschranzen waren. Ihr Alter läßt sich natürlich aufgrund der Verwendung gewisser streng bewachter, allein für sie persönlich reservierter Kräutermixturen nur schwer bestimmen – Mixturen, welche offensichtlich die sichtbaren Spuren des Alterungsprozesses verlangsamen oder sogar gänzlich beseitigen können. ANMERKUNG
Seit urdenklichen Zeiten kursieren Gerüchte, Mythen, Legenden, Überlieferungen und ein Gutteil Unfug über die nyissanische Königin. Vieles davon ist zu absurd und grotesk, als daß man es wiedergeben sollte. Eine dieser Geschichten besagt, es handle sich um dieselbe ursprüngliche Salmissra, deren Jugend und Schönheit alle paar Jahre wiederhergestellt wird, indem man ihr nach Art der Vampire Menschenopfer zuführt. Großes Rätselraten herrscht auch in Bezug auf ihr Sexualleben – die eine Gruppe verficht die Ansicht, sie sei Jungfrau, eine andere hält dagegen, die Drogen, die ihr ständig verabreicht
würden, weckten einen abnormen sexuellen Appetit in ihr, während eine dritte die Meinung vertritt, als Hohepriesterin des Schlangenkultes kopuliere sie nur mit Schlangen. Es liegt auf der Hand, daß die meisten Mutmaßungen zu lachhaft sind, als daß man sich die Mühe machen müßte, sie zu widerlegen. Folgende Tatsachen sind uns bekannt: Es ist nie beobachtet worden, daß die nyissanische Königin Kinder gehabt hätte. Es ist nie bekannt geworden, daß die nyissanische Königin einen Gemahl gehabt hätte. Daraus müssen wir schließen, daß sie während ihrer Regierung zumindest den Anschein zölibatärer Lebensweise erwecken muß. Jede weitere Spekulation ist reine Zeitverschwendung und mit Gewißheit kein Forschungsgebiet, auf dem ein anständiger Gelehrter sich tummeln sollte.*
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Soviel zu ›gouvernantenhaft‹.
MÜNZSYSTEM Nyissanische Münzen sind dreieckig, und ihre Gewichte sind nicht korrekt (Nyissaner schneiden gewohnheitsmäßig die Ecken der Münzen ab).
GOLD ›Die Goldene Königin‹ ist ein Doppeldreieck von 5 Unzen mit dem Bildnis Salmissras auf jedem Viertel, Wert etwa 625 Dollar ›Goldene Halbkönigin‹ ist ein Dreieck von 2 ½ Unzen, Wert etwa 312,50 Dollar ›Goldene Viertelkönigin‹ ist ein Dreieck von 1 ¼ Unzen, Wert etwa 156,25 Dollar SILBER Silberkönigin – 5 Unzen, Wert etwa 31,25 Dollar Silberhalbkönigin – 2 ½ Unzen, Wert etwa 15,62 Dollar
Silberviertelkönigin – 1 ¼ Unzen, Wert etwa 7,81 Dollar KUPFER Eine große dreieckige Münze, Wert etwa 50 Cents KLEIDUNG Nyissanische Städter tragen locker sitzende, bestickte und verzierte Gewänder aus leichter Seide. Auf dem Land kürzere Gewänder. Nyissanische Männer scheren sich den Kopf kahl. Nyissanische Frauen tragen üppig geschmückte und ziemlich freizügige Gewänder, jede Menge Schmuck und eine Schlangenkrone. Das Gewebe ihrer Gewänder ist fast durchsichtig. Haartracht im ägyptischen Stil. Alle Körperbehaarung entfernt. Rüstung – wenn überhaupt – Kettenhemd-Weste. Waffen – kurze, vergiftete Messer, Kurzbögen mit vergifteten Pfeilen. Zeremonialschwerter und Äxte mit langen Stielen wie Hellebarden. HANDEL Nyissaner treiben extensiv Handel. Im Sklavenhandel und im Warenaustausch werden große Gewinne erzielt. Für die Finessen des Feilschens scheinen sie unempfindlich zu sein, weil die Angarakaner so viel für Sklaven bezahlen (eine Art Lebensversicherung). Nyissaner betrügen und sind sich nicht zu fein, das Münzgewicht zu verfälschen und die Produkte zu verschneiden. Gegenseitig trauen sie sich auch nicht sonderlich über den Weg.
GESELLSCHAFTSSTRUKTUR Eine weitere Theokratie. Salmissra ist nicht nur Königin, sondern auch Hohepriesterin. Sie stellt die höchste Gewalt im Staate dar, doch die Hofbeamten haben sehr viel Macht. Der Hof ist eher eine Mischung aus ägyptischen und chinesischen Merkmalen. Viele Würdenträger sind Eunuchen. Die Laune der Königin ist Gesetz, so daß jeder sich aus Gründen des Selbstschutzes bemüht, es nicht mit ihr zu verderben. Sehr politisch, sehr intrigant, byzantinisch. Die gewöhnlichen Leute sind allesamt Arbeiter; die schwere Arbeit jedoch verrichten Sklaven. (Sklaven wird die Zunge herausgeschnitten.)
STÄNDE DIE KÖNIGIN Absolute Herrscherin und Hohepriesterin. DIE HOHEPRIESTER
Sehr wichtig im Tempel; bei Hofe treten sie nicht so sehr in Erscheinung. DER HOCHKANZLER Der Oberste Berater der Königin – vollkommen abhängig von der Königin, ist er derjenige, der mehr oder weniger das Land regiert. Die meisten Königinnen sind mit ihren Vergnügungen beschäftigt, so daß der Hochkanzler freie Hand hat. Einige wenige Königinnen jedoch sind willensstark genug gewesen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. VERSCHIEDENE WÜRDENTRÄGER AM HOFE Bürokraten, die verschiedenen Bereichen der Verwaltung vorstehen. Viel Eifersüchteleien und Gezänk. ANDERE Die Königin – ›Ewige Salmissra‹, ›Geliebte Issas‹ Die Hohepriester – ›Höchster‹ Der Hochkanzler – ›Mylord Hochkanzler‹ Andere bei Hofe – Mylord (sowie Titel) Gemeine – Werden nur mit ihrem Namen angeredet Sklaven – ›Du‹ oder ›Sklave‹ Anmerkung zur Königin: Die Droge, die ihr ewige Jugend verleiht, ist zugleich ein starkes Aphrodisiakum, und da die Königin das Mittel täglich einnehmen muß, befindet sie sich permanent im Zustand sexueller Erregung. (Die Droge verhindert auch eine Schwangerschaft.) Dies macht die meisten Königinnen so gefügig: Sie sind zu sehr damit beschäftigt, ihre Lust zu befriedigen, als daß sie Zeit für Regierungsgeschäfte hätten. Ein Teil der Pflichten der
Hofbeamten besteht darin, der Königin zu Diensten zu sein. Darüber hinaus hält sie sich einen Sklavenstall für diesen Zweck. Andere Drogen machen sie unnatürlich potent. Anmerkung zu Drogen: Die Gegenmittel für die verschiedenen Gifte machen für gewöhnlich süchtig. So kommt es, daß die meisten Nyissaner drogenabhängig sind – euphorisch und manchmal halb eingedöst. Diese Volkssucht hält die nyissanische Geburtenrate niedrig. Die Männer sind zu betäubt, um sich sonderlich für Geschlechtsverkehr zu interessieren. Nyissanische Frauen greifen zur Befriedigung daher oft auf Sklaven zurück, und lesbische Beziehungen sind keine Seltenheit. SITTEN UND GEBRÄUCHE Kompliziert und förmlich. Keine offene Feindseligkeit. Zischen wird als Zeichen des Respekts gewertet. FESTE UND FEIERTAGE Erastide – Nicht sehr wichtig in Nyissa Tag der Schlange – Issas Geburtstag Tag von Salmissra – Traditioneller Geburtstag der Königin Fest der Giftigen – Der Tag, an dem Salmissra eine Kobra küßt – (eine spezielle Droge, die sie einnimmt, macht ihren Atem angenehm für die Schlange, so daß sie die Königin nicht beißt).
RELIGIÖSE GEPFLOGENHEITEN Sehr viele Schlangenriten – Schlangengriffe etc. Tag der Schlange – eine hüllenlose Sexorgie im Tempel im Beisein vieler ungiftiger Schlangen. Streichelschlangen sind Hausgötter. Usw. usw. BEVÖLKERUNGSZAHLEN Ungefähr 2 Millionen Nyissaner. 250.000 in Sthiss Tor.
DIE ANGARAKANISCHEN KÖNIGREICHE ANMERKUNG
Da ihre Geschichte so eng miteinander verflochten ist, wäre es höchst unpraktisch und würde zu ständigen Wiederholungen führen, behandelte man jedes der angarakanischen Königreiche gesondert. Wenn es auch leichte kulturelle Unterschiede zwischen Nadrakern, Thulls und Murgos gibt, so sind sie doch kaum aussagekräftiger als jene Unterschiede, die man zwischen den Bewohnern von Tol Rane, Tol Honeth und Tol Vordue in Tolnedra feststellen würde. Auch aufgrund ihrer einheitlichen Politik erscheint es sinnvoll, diese Königreiche als wenig mehr denn Verwaltungsbezirke eines einzigen nationalen Gebildes zu betrachten. GEOGRAPHIE
Die angarakanischen Königreiche, bestehend aus Gar og Nadrak, Mishrak ac Thull und Cthol Murgos, liegen am östlichen Rand des Kontinents. Die auffallendsten Merkmale der Königreiche sind die ausgedehnten Flächen unwirtlicher Gebirge, unfruchtbarer Steppen und finsteren Ödlandes. Obwohl ihre Länder reich an Erzvorkommen sind, haben die Angarakaner diese Schätze doch nie richtig erschlossen.
Gar Og Nadrak Das nördlichste der Königreiche wird in den zentralen und nördlichen Gebieten von riesigen Wäldern bedeckt, im Westen und Norden von den unvermeidlichen, immens hohen Bergen. Im Osten und Süden erstrecken sich Sümpfe bis zum Meer des Ostens. Zwei große Ströme, der Cordu und der Drak on Du, fließen in vorwiegend südöstlicher Richtung, vereinigen sich in Yar Turak in den zentralen Sümpfen und bilden den Großen Cordufluß, der sich bei den Zwillingsstädten Yar Marak und Thull Zelik, den Endpunkten der Nördlichen Karawanenstraße, ins Meer ergießt. Sieht man von der Hauptstadt Yar Nadrak ab, ist das einzige andere Bevölkerungszentrum von einiger Bedeutung die Festungsstadt Yar Gorak an der Nordwestgrenze zu Drasnien. Es wird allgemein angenommen, daß im Nordosten die Landbrücke zu den endlosen Weiten Malloreas liegt, obgleich die Nadraker sich weigern, dies zu bestätigen. Auch wenn es sich hierbei um Mutmaßungen handelt, wird die Existenz dieser Landbrücke und die Möglichkeit einer weiteren Karawanenstraße durch die Tatsache gestützt, daß in den Häfen von Yar Marak und in Thull Zelik in Mishrak ac Thull Küstenschuten beobachtet wurden, die nicht zu ausgedehnten Hochseefahrten tauglich wären (so haben uns zumindest Beobachter aus Cherek wissen lassen). Unsere Freunde aus Cherek teilten uns darüber hinaus mit, daß die Angarakaner erbärmlich schlechte Seeleute und nicht fähig wären, einen Überseehandel von Bedeutung aufrechtzuhalten. Da aber malloreanische Handelsgüter – hauptsächlich Seide, Gewürze und Preziosen – regelmäßig in den Bestandslisten nadrakischer Kaufleute auftauchen, muß man davon ausgehen, daß es im Osten irgendeine verläßliche Landverbindung gibt.
Mishrak Ac Thull Das mittlere der angarakanischen Königreiche. Wie bereits erwähnt, ist seine Westgrenze zu Algarien gebirgig, und die östlichen Vorberge sind mit Bäumen bedeckt – ein südlicher Ausläufer der endlosen nadrakischen Wälder. Das Land der Thulls wird durch den nördlichen Cordufluß, der die Nordostgrenze zu Gar og Nadrak bildet, sowie vom Mardufluß entwässert. Die Hauptstadt Thull Mardu liegt auf einer Insel im Mardufluß, ungefähr einhundert Leagues landeinwärts. Nördlich des Marduflusses erstrecken sich ausgedehnte Weideländer; seit einiger Zeit grasen dort bedeutende Viehherden. (Vermutlich infolge der ernsten Fleischknappheit herangezogen, die nach dem katastrophalen angarakanischen Abenteuer im Westen eintrat.) Nach Süden zu befindet sich in den Vorbergen des Gebirges ein sparsam bewaldeter Gürtel, der rasch durch die menschenleeren Regionen der Öde von Murgos abgelöst wird. Die Südgrenze von Mishrak ac Thull bildet der Taurfluß.
Cthol Murgos Dieses südlichste angarakanische Königreich ist auch das kahlste und unwirtlichste von allen. Der Seehafen von Rak Goska an der Mündung des Taur stellt, abgesehen von der theologischen Hauptstadt in Rak Cthol, die einzige Stadt von annehmbarer Größe in Cthol Murgos dar und bildet den östlichen Endpunkt der Südlichen Karawanenstraße. Cthol Murgos ist nach sämtlichen Maßstäben der zivilisierten Welt ein unbewohnbares Ödland. Wegen der Trockenheit des Gebietes ist die Landwirtschaft auf ein Minimum beschränkt, und die Murgos müssen nahezu ihre gesamten Nahrungsmittel einführen. Im Rücken der schroffen Felsenküste dehnen sich über Hunderte von Leagues die düsteren Moore von Murgos aus; auch hier gibt es, wie in Mishrak ac Thull, einen schmalen Gürtel verkrüppelter Bäume; jenseits davon befindet sich nur noch die unfruchtbare Wüstenei der südlichen Berge. * Die einzige erwähnenswerte landschaftliche Besonderheit in jenen Bergen ist die ausgedehnte, flache Öde von Murgos unmittelbar westlich der ersten Gebirgskette. Das Gebiet, vielleicht hundert Leagues breit und dreihundert lang, scheint irgendwann in den nebelhaften Zeiten einer prähistorischen Vergangenheit ein gewaltiges Binnenmeer gewesen zu sein. Entweder trocknete das Meer im Verlauf einer kataklysmischen geologischen Umwälzung aus, oder eine drastische Klimaveränderung, die bis hin zur heutigen Dürre reicht, ließ das Land austrocknen. Was immer der Grund sein mag, nur der Meeresboden ist geblieben. Riesige Flächen unfruchtbarer Salzebenen werden von endlosen Verwehungen schwarzen Sandes und von Kämmen übereinandergestürzter Basaltsäulen unterbrochen. Irgendwo nahe dem Zentrum der Wüste *
Die Tolnedrer wußten zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der Existenz des südlichen Cthol Murgos.
befindet sich der Bergsee von Cthok, ein faulig riechendes Gewässer, das vor chemischen Salzen brodelt und schäumt und dermaßen giftig ist, daß selbst die Geier von Cthol Murgos häufig von den Fumarolen erfaßt werden, ins Wasser stürzen und zu Tode kommen. Die Seeufer sind ein einziger, Blasen werfender Morast, der auf ewig von den stinkenden Gasen versengt wird, die aus den Eingeweiden der Erde selbst aufsteigen. Ein kleines Stück westlich des Bergsees erhebt sich jener einsam stehende Gipfel, auf dem Rak Cthol liegt, die verbotene theologische Hauptstadt der Murgos. Die Felsklippen bestehen aus glattem Basalt, und der einzige Zugang zu der Stadt ist über einen schmalen, schrägen Dammweg möglich, erbaut in einer fernen Vergangenheit durch einen unvorstellbaren Aufwand an menschlicher Arbeit und menschlichen Leidens. Es wird einem übel bei dem Gedanken an Generationen von Sklaven, die sich zu Tode schufteten, um diesen Weg nach Rak Cthol anzulegen. Die Mauern der Stadt sind ebenso hoch wie der Berggipfel selbst. Was sich in ihrem Innern befindet, bleibt ein Geheimnis, da kein Fremder Zutritt zu der Stadt erhält. Wie im Fall von Nyissa, das die Nordwestgrenze dieses unwirtlichen Landes bildet, ist die Südgrenze von Cthol Murgos nicht genau festgelegt. Die westlichen Regionen des Landes der Murgos bestehen aus unfruchtbarem Gebirge, kahl und unbewohnt. BEVÖLKERUNG Wenngleich Angarakaner, gibt es doch feine Unterschiede zwischen den Bewohnern der drei östlichen Königreiche sowie zwischen ihnen und den Malloreanern (die ebenfalls Angarakaner sind), die in zahllosen Horden in den unerforschten Ländern jenseits des Meeres des Ostens leben.
DIE NADRAKER Diese am weitesten nördlich lebenden Angarakaner sind munterer als ihre Brüder im Süden. Obwohl alle Angarakaner ein kriegerisches Wesen besitzen, waren es doch die Nadraker, welche die jahrhundertelangen Kriegszüge führten, die im dritten Jahrtausend ständig in die Grenzgebiete zu Drasnien und Algarien vorstießen. Glücklicherweise sind die Nadraker sehr gewinnsüchtig, und dieser Charakterzug ermöglichte ihnen die Öffnung der Nördlichen Karawanenstraße von Boktor nach Yar Marak. Mit der Zunahme des Handelsaustausches ist auch ein Zuwachs an Information zu verzeichnen, und infolge verstärkten Kontakts wissen wir mehr über die Nadraker als über die Thulls, Murgos oder Grolims. Nadrakische Jäger durchstreifen die unermeßlichen Wälder des Nordens und liefern die kostbaren Pelze, für die Gar og Nadrak zu Recht berühmt ist. Nadrakische Bergleute schätzen, ganz im Gegensatz zu den Murgos im Süden, den Einsatz von Sklavenarbeit überhaupt nicht, sondern schürfen Gold und Edelsteine lieber eigenhändig aus dem gewachsenen Felsen. Diese Waldbewohner, Jäger und Bergmänner sind ein rauhes Völkchen, das den Freuden von Faß und Flasche äußerst zugetan ist, und als
Kaufleute getarnte drasnische Agenten haben diese Schwäche seit Jahrhunderten für ihre Zwecke genutzt. Auf diese Weise können im Austausch für ein paar kleine Bierfässer in Lagern am Straßenrand und Dörfern viele Informationen über Streitkräfte, Truppenbewegungen und sogar die Stimmung unter den Würdenträgern in Yar Nadrak gewonnen werden. Der augenblickliche König der Nadraker ist Drosta lek Thun, ein leicht erregbarer Mann Anfang vierzig, der etliche Versuche unternommen hat, den Hof in Yar Nadrak gesitteter und zivilisierter zu gestalten. Die Gesandten der westlichen Königreiche haben jedoch erkannt, daß sich hinter Drostas etwas schrillem Charme ein heimtückischer und gefährlicher Herrscher verbirgt. DIE THULLS Diese Zentralangarakaner sind kräftiger und gedrungener als die Nadraker im Norden, die fast so hochgewachsen wie Alorner sein können. Thulls haben im allgemeinen breite Schultern, massige Rücken, dicke Hüften – und einen trägen Verstand. Im Kampf haben wir beobachtet, daß Thulls sich lieber auf ihre Kraft als auf Geschick oder Taktik verlassen. Angesichts dieser Eigenschaften könnte man meinen, solche Menschen ließen sich beim Handeln und Feilschen leicht übertölpeln, doch selbst Kaufleute, die im gesamten Westen für ihre Verschlagenheit und ihren ausgeprägten Geschäftssinn bekannt sind, mußten sich vor den Thulls geschlagen geben, die jenen Argwohn an den Tag legen, der oftmals die weniger Intelligenten auszeichnet. Zudem ist der Handel mit den Thulls ein gefahrvolles Unternehmen, da sie beim ersten Anzeichen von Übervorteilung – ob eingebildet oder tatsächlich – zu mörderischen Wutausbrüchen neigen.
Den vielleicht aufschlußreichsten Hinweis auf den Charakter der Thulls liefert die Tatsache, daß die Lieblingsbeschäftigung auf den Jahrmärkten im Hinterland von Mishrak ac Thull der sogenannte Kopfnußwettbwerb ist – eine Art des Zweikampfs, der nicht selten für beide Teilnehmer tödlich endet. Die Thulls vermehren sich stark, möglicherweise infolge der legendären Lüsternheit der üppig ausgestatteten Thull-Frauen. Der betagte König der Thulls, Clota Hrok, sitzt trotz der Versuche seines ältesten Sohnes Gethel, ihn zum Rücktritt zu bewegen, noch immer fest auf seinem Thron in Thull Mardu. * DIE MURGOS Sie sind die wildesten und barbarischsten aller Angarakaner. Sämtliche männlichen Murgos sind Krieger und tragen Rüstungen so selbstverständlich wie zivilisierte Menschen Wolle oder Leinen. Sie sind kräftiger gebaut als die Nadraker, aber nicht so stämmig wie die Thulls. Die Murgos sind verschlossen bis zur Unhöflichkeit, was den Handel mit ihnen äußerst schwierig gestaltet. Die Kahlheit und Ungefälligkeit ihrer Heimat hat möglicherweise ihren Charakter beeinflußt. Es ist nicht ungewöhnlich, daß ein Murgo-Kaufmann eine Verhandlung führt, ohne ein einziges Wort zu sagen. Er wird die zum Verkauf stehende Ware begutachten und einen bestimmten Goldbetrag auf den Tisch legen; wenn der Verkäufer sich dann nicht mit dem Kaufpreis einverstanden erklärt, nimmt der Murgo das Gold einfach wieder an sich und geht davon. Für den tolnedrischen Handelsmann, für den das Feilschen fast noch wichtiger ist als der Profit, kann dieses Verhalten äußerst bedrückend sein.
*
In der »Belgariad« bestieg Gethel dann den Thron.
Murgos sprechen nicht über ihre theologische Hauptstadt Rak Cthol (sie geben nicht einmal ihre Existenz zu), und der Zutritt zu weiten Bereichen ihres unwirtlichen Landes ist Fremden strikt verboten. Hartnäckig halten sich Gerüchte, die murgosische Bevölkerung sei weitaus zahlreicher als die wenigen Individuen, die sich entlang der Südlichen Karawanenstraße oder in den Straßen von Rak Goska blicken lassen, und viele vermuten die Existenz von riesigen MurgoStädten in den südlichen Bergen jenseits des Cthrongflusses. Da diese Regionen jedoch striktes Sperrgebiet sind, werden sich die Gerüchte wohl nie bewahrheiten lassen. Eine Vorsichtsmaßregel darf in keiner Abhandlung über den Charakter der Murgos fehlen. Murgosische Frauen werden in strenger Abgeschiedenheit gehalten und lassen sich nie in der Öffentlichkeit sehen – nicht einmal ganz kleine Mädchen. Dem flüchtigen Beobachter mag es scheinen, als werde Cthol Murgos nur von Männern bewohnt. Dies ist jedoch nicht der Fall, und Reisende und Kaufleute tun bei einer Einladung in diesem Land gut daran, die für gewöhnlich durch schwarze Türen gekennzeichneten Hausbereiche peinlich zu meiden, denn die Verletzung der Heiligkeit der Frauengemächer in einem murgosischen Haushalt hieße, sein eigenes Todesurteil zu unterschreiben. Der König der Murgos ist Taur Urgas, ein Mann, dessen geistige Gesundheit zweifelhaft ist, der das Land jedoch mit eiserner Faust regiert. DIE MALLOREANER Wenig ist im Westen über diese sonderbaren Leute bekannt. und wieder trifft man zufällig malloreanische Kaufleute in Marak, Thull Zelik oder Rak Goska an. Da sie einen für Westler nahezu unverständlichen Dialekt sprechen, ist
Hin Yar den eine
Verständigung mit ihnen nahezu unmöglich. Die Ausmaße des malloreanischen Reichs sind unbekannt, aber die traditionellen Worte ›grenzenlos‹, ›unendlich‹, ›weit‹ und so fort weisen auf Gebiete von schwindelerregenden Dimensionen hin. Agenten des drasnischen Königs, die seit der Errichtung der Nördlichen Karawanenstraße die angarakanischen Königreiche in der Verkleidung von Händlern erkundet haben, haben Jahrhunderte mit der Entschlüsselung der Geheimnisse der Malloreaner zugebracht, indes mit wenig Erfolg. Das wenige, das wir von ihnen wissen, haben wir jedoch der Geduld und Hartnäckigkeit dieser drasnischen Agenten zu verdanken. Rein physisch scheinen die Malloreaner die archetypischen Angarakaner zu sein, weder so groß wie die Nadraker, noch so untersetzt wie die Thulls, noch ganz so muskulös wie der typische Murgo. Sie scheinen von der Veranlagung her aufgeschlossener und offener zu sein, doch die scharfäugigen Drasnier haben an ihnen einen Hang entdeckt, sich in der Gegenwart von Grolims wenn nicht furchtsam, so doch äußerst besorgt zu verhalten. Der drasnische Geheimdienst vermutet, daß Mallorea aller Wahrscheinlichkeit nach eine Theokratie ist, bestimmt von Grolims, die durch Angst und Schrecken im Dienste Toraks herrschen, des angarakanischen Gottes. ANMERKUNG
Der einzige Malloreaner, der in der Geschichte des Westens eine erwähnenswerte Rolle gespielt hat, war der Eroberer Kal-Torak im 49. Jahrhundert, der die Invasion der Malloreaner und westlichen Angarakaner anführte und in der berühmten Schlacht von Vo Mimbre besiegt wurde. Die Vorsilbe ›Kal‹ ist nicht zu übersetzen, scheint jedoch darauf hinzudeuten, daß der Name ›Arm von
Torak‹ oder vielleicht auch ›Geist von Torak‹ bedeutet. Der weit verbreitete Aberglaube, daß es sich um den Gott Torak selbst handelte, ist natürlich völliger Unsinn. DIE GROLIMS Sie sind die ubiquitären angarakanischen Priester, die man an allen Ecken und Enden des angarakanischen Königreichs antrifft. Man weiß nur sehr wenig über sie, denn sie weigern sich standhaft, mit Nicht-Angarakanern auch nur zu reden. Hinsichtlich ihrer äußeren Erscheinung kann man aufgrund der alles verhüllenden schwarzen Kapuzenroben, die sie üblicherweise tragen, sowie der angsteinflößenden Stahlmasken, die das Zeichen ihrer Priesterschaft sind, keinerlei Anhaltspunkte gewinnen. Diese Masken, angeblich Nachbildungen des Antlitzes des Gottes Torak, verdecken das gesamte Gesicht und lassen einen die Furcht begreifen, die die Grolims allerorten erwecken. Wir wissen nicht, ob die Grolims ein Orden sind, der sich aus der angarakanischen Bevölkerung rekrutiert, oder ein eigener Stamm. Drasnische Agenten haben seit Jahrtausenden dieses Rätsel zu lösen versucht, doch ohne Erfolg, da nicht einmal ein sturztrunkener nadrakischer Goldgräber jemals über die Grolims reden wird. Bruchstückhafte Berichte vom Schlachtfeld von Vo Mimbre lassen immerhin die Möglichkeit erahnen, daß die Grolims nicht ausschließlich männlichen Geschlechts sind, denn unter den Leichen auf jener Walstatt soll es auch Priesterinnen gegeben haben. Die Notwendigkeit der raschen Beseitigung der Toten, um die Ausbreitung von Seuchen zu verhindern, machte eine Überprüfung jedoch unmöglich.
Wie immer ihre Ursprünge und ihr wahres Wesen auch aussehen mögen, die Grolims beherrschen gänzlich das angarakanische Leben. Die widerlichen Orgien mit Menschenopfern, welche die angarakanische Religion auszeichnen, werden von den Grolims geleitet, und die Opfer werden, entgegen dem verbreiteten Glauben im Westen, keineswegs ausschließlich aus den Reihen der Sklaven ausgewählt. Selbst die abgelegensten Dörfer der Nadraker und Thulls besitzen den traditionell schwarzen Torak-Altar, besudelt vom Blut der ungezählten Opfer, die hier seit Jahrtausenden schreiend unter dem Messer gestorben sind. Selbstverständlich gibt es keinerlei Informationen darüber, wie die Grolim-Priesterschaft organisiert ist. Man vermutet, daß es irgendwo – entweder in Mallorea oder vielleicht auch in Rak Cthol oder an irgendeinem anderen unzugänglichen Ort – einen Hohepriester oder obersten Priester oder eine vergleichbare Persönlichkeit gibt, aber all das ist reine Spekulation.
DIE GESCHICHTE DER ANGARAKANER Über die frühen Jahrtausende dieser Völker ist wenig bekannt. Es scheint, daß ihre Wanderung über die nördliche Landbrücke von Mallorea am Ende des zweiten oder zu Beginn des dritten Jahrtausends stattgefunden hat, wesentlich später als die Westwanderung der Völker des Westens. Die ersten Kontakte mit dem Westen ergaben sich – wie bei primitiven Völkern fast immer der Fall –, in Gestalt eines Krieges. Es waren die Nadraker, die im Verlaufe des dritten Jahrtausends Erkundungsangriffe gegen Drasnien und Algarien führten, bis zu der namenlosen großen Schlacht in Ostdrasnien, die grob in das 25. Jahrhundert datiert worden ist. Es war zu jener Zeit, daß eine großangelegte angarakanische Offensive stattfand. Die entscheidende Niederlage der Nadraker in dieser Schlacht dämmte den angarakanischen Expansionsdrang im Norden bis zur Zeit von KalTorak ein. Als die Beziehungen zwischen Gar og Nadrak und Drasnien sich normalisierten (ungefähr gegen Ende des dritten Jahrtausends), setzte der Handelsaustausch zwischen den beiden Nationen ein – zunächst zögernd und mit großem Mißtrauen auf beiden Seiten –, doch allmählich nahm er zu, bis die Nördliche Karawanenstraße eröffnet wurde, wenn auch mehr aus Gewohnheit als aufgrund eines förmlichen Abkommens zwischen den beiden Königreichen. Es war im Jahre 3219, daß die Könige der beiden Nationen sich in einem großen Grenzlager an der Karawanenstraße trafen, um dem Handel einen festen vertraglichen Rahmen zu geben, der aus dem menschlichen Grundbedürfnis des Handeltreibens von selbst entstanden war. Die Könige Reldik III. von Drasnien und Yar grel Hrun von Gar og Nadrak schlossen am Ende den Vertrag, der seit mehr als zweitausend Jahren die tolnedrischen Kaufleute zur Verzweiflung treibt. Nach den Bestimmungen des Vertrages erhalten einzig drasnische Karawanen Zugang zu den nadrakischen
Abschnitten der Nördlichen Karawanenstraße; im Ausgleich dafür werden ausschließlich nadrakische Karawanen nach Drasnien hereingelassen. So kommt es, daß Drasnien den gesamten Handel des Westens kontrolliert, der mit der Karawanenstraße in Verbindung steht, während Gar og Nadrak den gesamten Warenaustausch mit den anderen angarakanischen Staaten beherrscht. Aus diesem Grunde bekommt man ebenso selten einen Murgo oder Thull in Boktor wie einen Sendarer oder Tolnedrer in Yar Marak zu Gesicht, da die von den raffgierigen Karawanenmeistern beider Staaten erhobenen Gebühren jeden möglichen Gewinn praktisch auffressen. Versuche tolnedrischer Unterhändler zur Zeit jener Konferenzen, die Drasnien in das tolnedrische Handelsimperium eingliederten, den Würgegriff der Drasnier über den Nordhandel zu brechen, blieben ohne jeden Erfolg; zu diesem Zeitpunkt begann Tolnedra sich nach einer anderen Ostverbindung umzusehen. Indem sie sich der Vermittlung nyissanischer Sklavenhändler bedienten, die regelmäßigen Kontakt zu den Murgos hatten, konnten tolnedrische Handelsgesandte schließlich Gespräche in Rak Goska zustandebringen. Die Schwierigkeiten, die jeglichen Umgang mit den entsetzlich wortkargen Murgos kennzeichnen, sind kaum zu beschreiben. Die Gespräche – wenn man sie denn so nennen kann – dauerten ununterbrochen siebzig Jahre lang. Die Murgos schienen gleichgültig gegenüber der Tatsache, daß die Drasnier und Nadraker praktisch ein Monopol auf den Ost-West-Handel besaßen, was die Tolnedrer zutiefst erboste. Zu guter Letzt wurde im Jahre 3853 eine Vereinbarung erzielt, welche die Südliche Karawanenstraße zwischen Tol Honeth und Rak Goska begründete. Es ist eine grausame Wegstrecke, und mehr als die Hälfte aller Karawanen, die sie zu befahren versuchen, geht verloren. Die Murgos reiten gewissenhaft Streife entlang der Straße, und wenn sie den geschützten Status der Straße selbst auch respektieren, so betrachten sie doch alle, die von diesem oft schlecht markierten Pfad
abkommen, als potentielle Eindringlinge und fallen mit großer Brutalität über sie her. Die einzig mögliche Alternativverbindung ist für immer geschlossen, da sie die Durchquerung des Aldurtals auf einer direkten Linie von Tol Honeth bis zur Grenze von Mishrak ac Thull einschlösse, und die sturen Algarier weigern sich hartnäckig, über das Thema auch nur zu sprechen oder über ihre Ostgrenze hinweg irgendwelchen Kontakt mit den Angarakanern zu gestatten. So kommt es, daß uns für das Studium der Angarakaner die meisten der üblichen Informationsquellen zur Geschichte eines Volkes verschlossen sind. Der Kaufmann war schon immer der treueste Freund des Historikers, und in einer Situation, in welcher der Handel so ernsthaften Beschränkungen unterliegt, sind die Informationen dermaßen kärglich, daß vieles von unserem Wissen über die Angarakaner das Ergebnis von Spekulation und Vermutungen ist. Im wesentlichen haben wir also drei Stämme (oder vier – wenn man die Grolims als eigenes Volk zählt), die irgendwann gegen Ende des zweiten Jahrtausends aus den unerforschten Gebieten des westlichen Mallorea ausgewandert sind. Zwischen ihnen und den alornischen Völkern des Nordens existierte irgendeine alte und rätselhafte Feindschaft, und tausend Jahre lang versuchten sie nach Drasnien und Algarien vorzudringen, wurden aber von den legendären Kriegern jener Länder heldenhaft zurückgeschlagen. Mit der Zeit gingen diese Feindseligkeiten so weit zurück, daß ein gewisser, wenn auch minimaler Kontakt zwischen den Angarakanern und den Völkern des Westens möglich wurde. Im fünften Jahrtausend zogen die malloreanischen Horden unter Kal-Torak über die Landbrücke in das nordöstliche Gar og Nadrak, wo sich ihnen die Nadraker, Thulls und Murgos anschlossen, um den Westen zu erobern. Am Ende in der Schlacht von Vo Mimbre besiegt, flohen die überlebenden westlichen Angarakaner in ihre Königreiche am Ufer des Großen Ostmeers zurück. Das
Jahrhundert nach der Invasion war von einem richtiggehenden Grenzkrieg zwischen Angarakanern und dem Westen gekennzeichnet. Scharmützel und Hinterhalte beider Seiten machten jene Grenze zu einem der gefährlichsten Orte in der bekannten Welt. Nach und nach begannen die Beziehungen sich dann wieder zu normalisieren, und der Handel auf der Nördlichen Karawanenstraße wurde wieder aufgenommen, wenn auch in sehr eingeschränktem Maße. Nahezu fünfhundert Jahre mußten aber noch ins Land gehen, bis die verbohrten Murgos der Wiedereröffnung der Südlichen Karawanenstraße zustimmten. Dann, fast über Nacht, lenkten sie plötzlich ein – ja, sie schienen die Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen tatsächlich zu begrüßen. Merkwürdigerweise sah man nun zum erstenmal nennenswerten Karawanenverkehr aus dem Osten, und gerüstete und bewaffnete Murgo-Händler und ihre thullischen Träger sind in den Straßen und auf den Kais von Tol Honeth ein gewohnter Anblick geworden. Schwarzseher haben behauptet, diese Angarakaner seien in Wahrheit Spione, die den Westen für eine zweite Invasion auskundschafteten; aber das sind die Ratschläge von Ängstlichen. Unsere eigenen Kaufleute im Süden und die der Drasnier im Norden haben keine ungewöhnlichen militärischen Aktivitäten beobachtet, und die Bevölkerungszahl der westlichen Angarakaner ist so niedrig, daß sie ohne Hilfe aus Mallorea keinerlei Aussicht hätten, einen erfolgreichen Kriegszug gegen den Westen zu führen. Kal-Torak ist tot. Einen Mann wie ihn wird es nicht noch einmal geben, und ohne einen solchen Führer, der sie antreibt, besteht wenig Wahrscheinlichkeit, daß die Horden Malloreas sich jemals von neuem mit den westlichen Angarakanern zu einem solch verzweifelten Abenteuer verbünden, das sie in der Vergangenheit um ein Haar völlig vernichtet hätte.
Gar Og Nadrak
MÜNZSYSTEM Auf der Vorderseite sämtlicher Münzen findet sich das Abbild Toraks. Alle Münzen – auch wenn sie in Gar og Nadrak oder in Cthol Murgos geprägt werden – sind unter allen Angarakanern verbreitet. (Die Münzprägung stammt aus Mallorea.) GOLD Angarakaner benutzen für große Transaktionen schwere Goldbarren. Ein 10-Pfund-Barren wird goldenes Zehngewicht genannt, Wert etwa 20.000 Dollar 5-Pfund-Barren wird ein goldenes Fünfgewicht genannt, Wert etwa 10.000 Dollar 1-Pfund-Barren wird goldenes Pfund genannt, Wert etwa 2.000 Dollar
½-Pfund-Barren wird Goldmark genannt, Wert etwa 1.000 Dollar
GOLDMÜNZEN Die 4-Unzen-Münze wird ein Goldstück genannt, Wert etwa 500 Dollar Die 2-Unzen-Münze wird ein halbes Goldstück genannt, Wert etwa 250 Dollar Die 1-Unze-Münze wird ein Viertel-Goldstück genannt, Wert etwa 125 Dollar Die ½-Unze-Münzen wird ein Goldlivre genannt, Wert etwa 62,50 Dollar SILBER 4-Unzen-Münze, Wert etwa 25 Dollar 2-Unzen-Münze, Wert etwa 12,20 Dollar 1-Unze-Münze, Wert etwa 6,25 Dollar ½-Unze-Münze, Wert etwa 3,125 Dollar KUPFER Münzen werden ›Kupfer‹ genannt, Wert etwa ein Hundertstel eines Silberlivres KLEIDUNG Nadraker tragen viel Pelz. MÄNNER
Hosen, Lederjacken, halbhohe Stiefel, Pelzhüte (ziemlich hunnisch oder mongolisch). Übermäntel aus Fell, gegürtet und knöchellang. Bei großer Kälte Pelzumhänge. Lederwesten im Sommer. Gewänder für drinnen bestehen aus Wolle, Leinen oder Seide.
RÜSTUNG Brustpanzer und Spitzhelme. Lederjacken mit aufgenähten Stahlplättchen, um Arme und Schultern zu schützen. Dasselbe bei den Hosen. Lange, leicht gebogene Schwerter. Dolche. Die nadrakische Kleidung ist für gewöhnlich schwarz. FRAUEN Gewänder aus sehr schweren Materialien – reich verziert und ziemlich alles verhüllend. GESELLSCHAFTSSTRUKTUR Freier als die der anderen angarakanischen Gesellschaften. Jäger, Waldläufer und Bergleute pflegen freiheitsliebende Gesellen zu sein – ihre eigenen Herren, unmittelbar dem König Untertan. Andere sind in Klans organisiert und Untertanen des Häuptlings.
Brautgelder für Frauen – man bezahlt einen Mann für seine Tochter. Von daher das Interesse an Handel und Gewinn. Anmerkung zu Sklaven * – Unter den Nadrakern gibt es Sklaven nur zu Versicherungszwecken: Sklaven sind der Ersatz für zum Opfer ausersehene Nadraker. Wenn man ausgesucht wird, sollte man sich einen Sklaven kaufen und ihn (oder sie) an eigener Stelle schicken. Deshalb werden Sklaven zur Arbeit angehalten, aber nicht ernsthaft mißhandelt. Die Freien – Bergleute, Waldläufer, Jäger usw. sind meistens vom Opfer befreit, da die Opfer aus den Klans ausgewählt werden (die sind zahlreich genug). STÄNDE Der König – Er ist immer noch Torak unterstellt und muß Befehlen gehorchen, die ihm von den Grolims aus Mallorea übermittelt werden. Die Jarle (Grafen) – Die Klanhäuptlinge, dem König unterstellt. Die Kriegsherren – Herren über Burgen oder Kriegergruppen – den Klanhäuptlingen unterstellt. Die Krieger – Die nächsten in der Rangordnung. Die Landbevölkerung – Landarbeiter. Keine Leibeigenen. Werden als Soldaten eingesetzt. Freie – Kaufleute, Waldläufer, Jäger, Bergleute. Können recht wohlhabend sein. Leben überwiegend in Städten. ANREDE Der König – Ehrwürdige Majestät *
Das wurde entscheidend herauskristallisierte.
verändert,
als
die
Figur
der
Vella
sich
Andere Adlige – Mylord Krieger – Tapferer John oder Mächtiger John Freie – Bergmann John, Kaufmann John etc. Bauern – John Sklaven – Du oder Sklave. Werden nie beim Namen gerufen SITTEN UND GEBRÄUCHE Nadraker sind kühn, kriegerisch und rauh. Sie sind die sympathischsten der Angarakaner. Sie trinken gern und sind versessen auf das Geldverdienen. Ihre Angst vor den Grolims ist nicht ganz so groß wie die der anderen Angarakaner. Alle angarakanischen Gesellschaften sind grausam, und öffentliche Hinrichtungen (sowie Opfer) sind Volksbelustigungen. Sie sind wilde Krieger, neigen aber im Kampf zu einer gewissen Unbeständigkeit und sind reizbar; Nadraker sind überdies nicht vertrauenswürdig. Heirat geschieht durch Kauf. Frauen haben keine Rechte. FESTE UND FEIERTAGE (Anmerkung: Erastide wird in den angarakanischen Königreichen nicht gefeiert.) Fest des Torak – Toraks angeblicher Geburtstag ein paar Opfer. Tag des Ortes der Trauer – Datum einer großen Schlacht in Drasnien – eine Opferorgie. Tag der Verwundung – Der Tag, den dem Torak durch den Orb verbrannt wurde – einige Opfer.
Tag der Verstoßung – Der Tag, als Belgarath, Cherek und die Jungs den Orb aus Cthol Mishrak zurückholten und Torak die Stadt zerstörte viele Opfer. BEVÖLKERUNGSZAHLEN Vermutlich 3,5 bis 4 Millionen Nadraker.
Mishrak Ac Thull MÜNZSYSTEM Siehe Gar og Nadrak. Viel Tauschhandel unter den Thulls. KLEIDUNG Die Standardtracht der Thulls besteht aus einer knielangen, gegürteten Tunika mit bis zum Ellbogen reichenden Ärmeln (für Männer und Frauen), aus verschiedenen Tuchen gefertigt. Weiche Lederschuhe. Rüstung ist ein Kettenhemd komplett mit Helm. Waffen sind Breitschwerter, Streitkolben und Äxte (Stärkewaffen). Im Winter Pelzumhänge und Fellstiefel. GESELLSCHAFTSSTRUKTUR Thulls sind im allgemeinen dumm. Zu mehr als einem dörflichen Leben sind sie im Grunde nicht fähig. Ihre Städte bestehen aus vielen kleineren Nachbarschaften, die kaum mehr als dörfliche Ansiedlungen sind. Ihre Bauernhöfe sind aufgrund der dünnen Humusschicht ärmlich, und die Thulls produzieren ihre Nahrung nur durch schweißtreibende Muskelarbeit. Sie besitzen einen rauhen, ziemlich kindischen Humor, der zum Derben, ja Obszönen tendiert. Haupteinkommensquelle: Lastenträgertätigkeit bei den Murgos oder Nadrakern. Dies ist üblich und durch lange Tradition geheiligt. Sie würden zwar kämpfen, würde man sie in militärische Einheiten unter Anführer aus ihrem eigenen Volk aufstellen, müssen dies aber
dem Herkommen gemäß nicht, wenn sie als Lastenträger dienen. Dies obliegt dann den anderen Angarakanern, von denen sie gedungen wurden. Thull-Frauen sind lüstern, und Untreue ist so verbreitet, daß es keiner mehr ernst nimmt. In gewisser Weise werden sie durch die schwere Bürde des Opfers, die ihnen von Torak auferlegt wurde, dazu gezwungen. Die Thulls werden manchmal zehnmal so häufig wie Nadraker oder Murgos geopfert. Da eine schwangere Frau vom Opfer ausgenommen ist, tut eine thullische Frau klug daran, ständig in diesem Zustand zu verbleiben. Wie bei den Nadrakern werden Sklaven als Opferersatz benutzt. Einige Thulls, die offenbar klüger sind als der Durchschnitt, haben im Süden von Thull Mardu riesige Sklavenpferche angelegt. Abgearbeitete, alte oder schwache Sklaven werden in großer Zahl von den Murgos gekauft und in den Pferchen am Leben gehalten, bis man sie benötigt. Sie werden an Thulls verkauft, die sie gebrauchen könnten. Lange Karawanen aus diesen Unglücklichen, die hinter den Grolims hergetrieben werden, die auf der Suche nach Opfern durchs Land streifen, sind ein häufiger Anblick. Sobald er zum Opfer bestimmt worden ist, geht der Thull zum Sklavenhändler und kauft sich einen Ersatz. Aufgrund der ständigen Furcht, ausgewählt zu werden, leben die Thulls fortgesetzt in Angst; ihr manchmal mörderischer Jähzorn ist eine Reaktion darauf. In ihren Handelsgeschäften müssen Thulls Gewinn machen, um sich ein Guthaben zu schaffen, mit dem sie sich ihren Ersatz kaufen können. Oft laufen sie vor der drohenden Opferung davon. STÄNDE Der König – Erblich.
Die Herren der Marken – Hohe oder niedrige Adlige, abhängig von ihrem Vermögen. Krieger – Das stehende, ziemlich große Heer der Thulls; die Soldaten pflegen geflohene Opfer aufzuspüren. Guptoren – ein Thull-Wort, das ›wohlhabender Mann‹ bedeutet. Gemeine – Bauern, Lastenträger usw. Sklaven – Werden nie zur Arbeit eingesetzt, da die Thulls die Arbeit selbst erledigen. Sklaven dienen ausschließlich einem Zweck. ANREDE Der König – Euer Majestät Die Herren – Euer Lordschaft Krieger – Euer Ehren Guptoren – Euer Ehren Gemeine – bei ihrem Namen Sklaven – Werden nie angesprochen, bloß in eine bestimmte Richtung gezerrt oder gepeitscht SITTEN UND GEBRÄUCHE Thulls sind nicht klug genug, um so etwas wie eine komplizierte Etikette zu entwickeln. Sie sind im allgemeinen mißmutig und verdrossen – abgestumpft. Der eingangs angesprochene Humor ist eine Art Flucht. Sie fürchten die Grolims. Thull-Frauen paaren sich sozusagen im Handumdrehen. Stets auf der Suche nach einer Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr.
Der Hof in Thull Mardu ist wenig mehr als ein großer Haushalt, in dem der König Befehle erteilt wie ein sendarischer Bauer. Es herrscht großer Mangel an Förmlichkeit an diesem Hof. FESTE UND RELIGIÖSE GEPFLOGENHEITEN Siehe Gar og Nadrak. BEVÖLKERUNGSZAHLEN Wahrscheinlich 5 Millionen Thulls.
Cthol Murgos MÜNZSYSTEM Siehe Gar og Nadrak KLEIDUNG Murgosische Männer tragen stets Rüstung. Kettenhemden bis zum Knie, Brustpanzer, Spitzhelme, alle rot bemalt, das Ganze bedeckt von schwarzen Umhängen, die bis auf die halbhohen, derben Stiefel reichen. Große Breitschwerter und Streitkolben im Kampf, ansonsten Kurzschwert, auch Dolche. Ein paar Verzierungen auf Helmen und Umhängen, um den Rang des Betreffenden anzuzeigen. Murgosische Frauen werden immer in Harems gehalten. Kleidung ist dürftig und durchsichtig.
GESELLSCHAFTSSTRUKTUR Es handelt sich um eine Militärgesellschaft mit strenger Hierarchie. In Kompanien, Bataillone, Regimenter usw. unterteilt. Jeglicher gesellschaftlicher Rang ist militärisch. Die Gesellschaft im bekannten Teil von Cthol Murgos ist in Wahrheit nichts als eine gigantische Täuschung, die geschaffen wurde, um den Anschein einer halbwegs normalen Gesellschaft zu erwecken. Dies gilt auch für die murgosischen Händler. Sie sind alle Spione. Die angebliche Gesellschaft in Rak Goska ist bloß Kulisse. Dort werden Murgos für Überfälle in den Westen ausgebildet. Jegliche Arbeit in der Murgo-Gesellschaft wird von Sklaven verrichtet. Die echten Murgo-Städte liegen im Süden und sind den Völkern des Westens nicht bekannt. Es handelt sich eigentlich um reine Garnisonsstädte – Militärposten. Murgo-Männer haben mehr als eine Frau – bis zu vieren. Ein Weg zum gesellschaftlichen Aufstieg besteht darin, viele Kinder zu zeugen. Südlich von Cthol Murgos gibt es andere Völker (den Menschen des Westens unbekannt). Diese Völker sind ziemlich zurückgeblieben und liefern Sklaven. Während der angarakanischen Invasion des Westens in den sechziger Jahren des 49. Jahrhunderts gab es einen Versuch, eine gewaltige murgosische Streitmacht durch die südlichen Berge zu führen, um Südtolnedra anzugreifen, doch das Heer rückte zu früh aus und wurde im Gebirge von einem Frühlingsschneesturm überwältigt. Hätten sie ihr Ziel erreicht, wäre der Westen gefallen. Es gibt buchstäblich Millionen von Murgos. Anmerkung zu Rak Cthol: Diese zeremonielle Hauptstadt der Murgos ist die ultimative Bastion der Angarakaner im Westen. Die Murgos haben die Leitung, und die Könige von Gar og Nadrak und Mishrak
ac Thull sind dem König von Cthol Murgos unterstellt. Er gibt die Befehle. Diese werden ihm durch die Grolims überbracht, die nicht nur Priester, sondern auch Boten Toraks sind. Eine große Anzahl von Grolims sind ebenso in Rak Cthol stationiert wie die Eliteeinheiten des Königs der Murgos. Der Höchste Tempel des Torak im Westen befindet sich in Rak Cthol, desgleichen der Königshof. Dies wird dadurch unterstrichen, daß Torak sich hier aufhielt, während er die Invasion des Westens plante. (Ansonsten residiert er in Mallorea.) An diesem Ort hat Zedar seine Operationsbasis. * Als persönlicher Berater Toraks verfügt Zedar über ausgesprochen viel Macht. Er muß allerdings den General-König der Murgos durch Gewalt oder Überredung dazu bewegen, das zu tun, was er will. Ebenfalls in Rak Cthol studieren ausgewählte Grolims unter Zedars Anleitung die Zauberei. STÄNDE Der König – Oberbefehlshaber. Generäle, Oberste, Hauptmänner, Leutnants etc. (Für den Kontakt mit Menschen des Westens werden verschiedenen von ihnen Adelstitel verliehen. Solche Titel haben aber keinerlei Bedeutung für die Murgos.) ANREDE Von seiten des Königs – Mein General, Mein Oberst etc. ›Sir‹ Für den König – ›Mächtiger Arm Toraks‹, ›Euer Hoheit‹ Gewöhnliche Krieger – werden mit ihrem Rang angesprochen *
In den Büchern gibt es die zusätzlichen Charaktere Ctuchik und Urvon.
Sklaven – werden lediglich angetrieben, wie Vieh FESTE UND RELIGIÖSE GEPFLOGENHEITEN Siehe Gar og Nadrak. Murgos sind fanatische Zeloten. BEVÖLKERUNGSZAHLEN Vermutlich alles in allem zehn Millionen Murgos. Vielleicht 70. 000 in Rak Goska, eine halbe Million insgesamt in Rak Cthol, der Rest im Süden.
Mallorea MÜNZSYSTEM Unterschiedlich. Nur selten taucht eine malloreanische Münze im Westen auf. KLEIDUNG Hängt von den Breitengraden ab. Meist Tuniken ähnlich wie die der Thulls. Weiter nördlich mehr Kleider. Unisex-Gewänder. Malloreaner tragen Plattenrüstung – Brustpanzer. Ober- und Unterarmschutz, Ober- und Unterschenkelschutz. Helme mit Visieren (mit einer Schnalle daran). Große Schilde, Speere mit breiten Spitzen, Breitschwert. GESELLSCHAFTSSTRUKTUR Mallorea ist eine vollständig von den Grolims beherrschte Theokratie. Toraks Ego ist dergestalt, daß er sich weigerte, den malloreanischen Angarakanern irgendeine Form von Adel zuzugestehen. Sie alle sind Gemeine. Es gibt keine Städte in Mallorea. Die Malloreaner leben allesamt auf Gehöften oder in Dörfern. * Die Grolims sind Verwaltungsvorsteher in den Distrikten und Gemeinden. Die überwiegende Masse der Malloreaner lebt in halber Sklaverei.
*
Wurde geändert. Mal Zeth ist vermutlich größer als Tol Honeth.
ADEL Siehe: Grolims. Die einzigen Ränge in Mallorea gibt es in der Armee. Es ist Malloreanern gestattet, militärische Ränge einzunehmen. General – Führer einer Division Oberst – Führer eines Regiments Hauptmann – Führer einer Kompanie ANREDE Für einen General – Mylord General Für einen Oberst – Großer Oberst Für einen Hauptmann – Meister SITTEN UND GEBRÄUCHE Malloreaner behandeln Untergebene schroff, ja brutal und katzbuckeln vor ihren Vorgesetzten. Sie sind ein grausames Volk, ein Spiegelbild ihrer Religion. Wenn sie die Möglichkeit haben, mit Fremden in Kontakt zu treten, neigen sie dazu, höflich, sogar freundlich zu sein, vor allem deshalb, weil sie den genauen Rang des Fremden nicht kennen. HANDEL Die aus Mallorea kommenden Waren sind im Grunde diejenigen, die man mit dem Orient in Verbindung bringt. Gewürze, Seide,
Wandbehänge, Teppiche, kandierte Früchte etc. Zucker ist ein wichtiges Handelsgut. Es gibt sehr viel schön gearbeiteten Schmuck. FESTE UND RELIGIÖSE GEPFLOGENHEITEN Siehe Gar og Nadrak. Es existieren noch zusätzliche Feiertage in Mallorea, und in diesem Land gibt es keinen Ersatz für Opfer. BEVÖLKERUNGSZAHLEN Mallorea ist ungefähr so groß wie der westliche Subkontinent; es gibt in etwa 25 Millionen Malloreaner. Sie könnten den Westen mühelos mit ihrer schieren Übermacht überwältigen, doch die Logistik, ein gesamtes Volk in Kampfposition zu bringen, übersteigt die Fähigkeiten der Grolims, die keine sonderlich begnadeten Verwaltungsfachleute sind.
Die Grolims REICHTUM Der Orden (oder die Rasse, da es sich ja um einen Stamm handelt) ist ungeheuer reich, da die Besteuerung – Zehnte – in den angarakanischen Ländern drückend ist und in vollem Umfang an die Grolims abgeführt wird. KLEIDUNG Mönchsrobe – schwarz. Kapuze ist stets über den Kopf gezogen. Stahlmaske – poliert. Das Gesicht von Torak. Die Maske ist ein vollständiger Helm mit Scharnieren und Riegeln – oft tragen sie ein Kettenhemd unter den Roben und Dolche oder Schwerter.
ORGANISATION In Mallorea und dem südlichen Cthol Murgos gibt es GrolimGemeinschaften (für Nicht-Grolims verboten), in denen die Kinder aufgezogen und ausgebildet werden und ihre Studien betreiben. In den westangarakanischen Königreichen haben Grolims große Häuser, in denen sie mit einem Anschein von Normalität leben können. Die Grolims haben eine katholische Struktur mit Entsprechungen zu: Papst – Der allerhöchste Hohepriester. 12 Kardinäle – Verwaltungschefs großer Regionen. Erzbischof – Verwaltungschef großer Distrikte. Bischof – Verwaltungschef kleinerer Distrikte. Monsignore – Verwaltungschef größerer Städte. Priester – Priester (oder Priesterin) Die letzteren sind die Arbeiter – sie kontrollieren die Dörfer, reisen auch als Boten etc. führen die Opferungen durch, suchen die Opfer aus usw. Halten die Angarakaner bei der Stange. Manche gehören zum Geheimdienst, legen die Tracht des Volkes an und spionieren dort oder im Westen. RELIGIÖSE GEPFLOGENHEITEN Angarakaner haben große Furcht vor ihrer Religion – mit gutem Grund. Der Ruf in den Tempel ist ein Ruf, geopfert zu werden – ein trauriger, entsetzlicher Bestandteil ihres Lebens. Ihr Verhältnis zu Torak ist das getriebener Sklaven. Die Grolims, die jene aussuchen, die geopfert werden sollen, sind sich nicht zu gut dafür, auch persönliche Rechnungen auf diese Weise zu begleichen. Manche Grolims lassen sich bestechen.
Eine auf Furcht gegründete Religion. Religiöse Vergehen werden mit der Todesstrafe geahndet. (Nicht mit der nötigen Ehrerbietig von Torak sprechen, einen Grolim schlagen usw.) DAS OPFER Nach der gebotenen Anrufung Toraks durch den Priester wird das Opfer nackt auf den Altar gelegt; es wird aufgeschlitzt, das Herz herausgerissen, das sodann Torak dargeboten und anschließend in einer Kohlenpfanne auf dem Altar verbrannt wird. In großen Gruben daneben werden gewaltige Feuer geschürt; dann werden die Körper in den Gruben verbrannt. Die Altäre werden nie gereinigt, und die Mischung aus verwesendem Blut und verbranntem Fleisch läßt angarakanische Tempel stinken wie Beinhäuser. Das Volk meidet sie. Sie sind große Gebäude aus schwarzem Stein und völlig menschenleer, wenn keine Zeremonien stattfinden. STÄNDE Der Hohepriester (Papst) ist der Vikar Toraks. Er ist ein schwarzer Magier und gleichgestellt mit Belgarath, Zedar und den anderen; er ist ebenfalls unsterblich. Sein Name lautet Ctuchik. Er wurde von Torak auserwählt, nachdem der Orb ihn entstellt hatte, und als sein Diener und Jünger angenommen. Kennt die Geheimnisse von ›der Wille und das Wort‹, greift aber mehr auf Hokuspokus zurück. Beschwört Dämonen und Ungeheuer und macht sie sich zu Diensten. Hat Wege gefunden, die Einschränkung bezüglich des Wortes der Macht zu umgehen. (Er
kann vernichten, indem er Feuer im Körper eines Opfers oder einen Speer in seiner Brust erschafft, etc.) * Die Erwählten: Die 12 (Kardinale) sind ebenfalls Zauberer, wenn auch nicht so mächtige. Sie können sich selbst verwandeln. Ein guter Trick ist auch das Vergrößern; sie bewegen ihre Moleküle auseinander, bis sie das zehnfache ihrer ursprünglichen Größe erreicht haben. Sie leben ungefähr tausend Jahre. Alle Grolims beschäftigen sich nebenher mehr oder weniger mit Zauberei. Die meisten beherrschen nur einfache Tricks, doch einige Magier der höheren Ränge besitzen furchterregende Kräfte. Die Grolims haben die Kontrolle über viele der Ungeheuer erlangt – wenngleich nicht über alle; sie benutzen diese Ungeheuer nach Bedarf. Die Grolims sind Toraks Geheimpolizei, seine Agenten, Polizisten, Diener etc. Nach Bedarf zu benutzen. ÄUSSERES Der Grolim-Stamm ist hochgewachsen, hager, dunkelhäutig mit stechenden Augen. Die Stimmen hinter den Masken klingen hohl und jagen einem Schauer über den Rücken. Der Rang wird vermutlich durch Tätowierungen an einer unauffälligen Stelle bezeichnet – keine Rangabzeichen auf den Roben. BEVÖLKERUNGSZAHLEN Zusammengenommen vielleicht 3 bis 4 Millionen Grolims, weitflächig verstreut. *
Das wurde im Verlauf des Schreibens größtenteils modifiziert.
3 DIE SCHLACHT VON NIMBRE
Auszug aus dem Prosaepos Die Letzten Tage des Hauses von Mimbre des arendischen Barden Davoul der Lahme. * ANMERKUNG
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Auch wenn einige Aspekte dieses Werkes offensichtlich absurd sind und der Autor sich erhebliche dichterische Freiheiten erlaubt hat, was die historischen Tatsachen angeht, besitzt das Stück doch einen gewissen derben Charme. Die Zaubersprüche, Beschwörungen, Hexereien und die übrige magische Effekthascherei sind minimal im Vergleich zu anderen Werken, wo jeder ein Zauberer ist und die Götter in Person über das Schlachtfeld schreiten. Alle kaiserlichen Diplomaten, Gesandten, Botschafter, Handelsbevollmächtigte und diejenigen Amtsträger, die am Hof von Vo Mimbre akkreditiert sind, sollten sich mit diesem Werk – und insbesondere mit dem hier wiedergegebenen Auszug – gründlich vertraut gemacht haben, bevor sie eine offizielle Mission nach Arendien übernehmen. Zudem gilt es als gesittet und als Zeichen guter Erziehung, Zitate aus diesem Epos in seine Rede zu streuen. Die Arender sind davon überzeugt, daß dieses ziemlich langweilige Opus das größte literarische Meisterwerk der Welt ist, und im Adel gibt es sogar eine Sekte, die
Dieser Abschnitt ist ein imitierter Ritterroman, der darauf abzielt, die arendische Psychologie zu begründen.
behauptet, der Autor Davoul sei zur Zeit der Niederschrift göttlich erleuchtet gewesen. Die gewählt veraltete Ausdrucksweise der arendischen Hofsprache ist ein Spiegelbild des vom Autor bevorzugten ›hohen Stils‹, und Würdenträger des tolnedrischen Reiches sollten danach streben, sich im Umgang mit den Arendern den hochtrabenden Gespreiztheiten ihrer Redeweise anzupassen. Jedes davon abweichende Verhalten würde das tolnedrische Reich in den Augen dieses höchst unangenehmen Volkes herabsetzen.
BUCH SIEBEN DIE SCHLACHT VOR VO MIMBRE Nun begab es sich, daß am dritten Tage der großen Schlacht vor den Toren von Vo Mimbre die Heerscharen des Verfluchten sich zum letzten Angriff auf die Stadt versammelt hatten. Dies aber war ihre Schlachtordnung: Die Murgos, befehligt von ihrem grausamen König Ad Rak Cthoros, hielten die linke Flanke am Arendfluß im Osten der Stadt. Nach Norden zu hielt die malloreanische Horde unter dem verfluchten Kal-Torak selbst das Zentrum vor den Toren der Stadt. Nach Westen zu hielten die Nadraker unter Yar Lek Thun und die Thulls unter Gethel Mardu die rechte Flanke und schlossen die Stadt bis zum Fluß hinunter ein, welcher von den Stadtmauern in westlicher Richtung weiterfloß. In der Mitte der malloreanischen Horde stand der schwarze Eisenpavillon des furchtbaren Kal-Torak selbst, der nicht hervorgekommen war während der ersten beiden Tage der Schlacht. Und am Morgen des dritten Tages ward das Blasen eines mächtigen Horns aus dem Wald im Norden der Stadt zu vernehmen. Und die Antwort eines zweiten mächtigen Horns von den Hügeln im Osten ward zu vernehmen. Und es ertönte noch ein drittes Horn aus den Mauern der Stadt selbst. Nur dies – sonst nichts. Darauf erhoben sich Zweifel in den Murgos, und die Nadraker zitterten, und Furcht war in den Herzen der Thulls. Niemand wußte um die Vorbedeutung der Hörner, und Sorge beschlich die dunklen Könige, und sie suchten Rat bei Kal-Torak, ihrem Hochkönig und ihrem Gott, doch immer noch kam er nicht aus seinem Eisenpavillon hervor. Die Malloreaner schlugen mit ihren schrecklichen Speeren auf ihre Schilde und stießen einen wilden Schlachtruf aus, um ihren Verbündeten Mut einzuflößen.
Wieder ertönte das Horn im Norden, und wieder antworteten ihm ein Posaunenschall aus Osten und eine metallische Erwiderung innerhalb der Stadt. Und doch waren da weder Bewegung noch Geräusch, welche enthüllt hätten, wer diese einsamen Töne hervorstieß.
Nadrakische Reiter brachen vom Kriegsheer gen Norden auf. Schwarz und grimmig war ihre Rüstung, und hell glänzten ihre Schwerter. Sie kehrten nicht zurück, und der dunkle Tann gab keinen Laut frei, der von ihrem Schicksal gekündet hätte. Murgoreiter brachen vom Kriegsheer gen Osten auf. Rauchrot waren ihre Kettenhemden, und tödlich waren die Streitkolben und die Äxte der Murgos. Sie kehrten nicht zurück, und die stillen Hügel gaben keinen Hinweis darauf, was ihnen widerfahren war. Und noch einmal erklang das mächtige Horn im Norden, und noch einmal erwiderten die östlichen Hügel und auch die Stadt seinen Ruf. Und sehet, von der Ebene im Westen kam, schwach und weit entfernt, eine Antwort von vielen metallischen Trompeten, und weit draußen über der Ebene lag ein Glitzern, als scheine die Sonne auf ein großes Gewässer.
Und es trug sich zu, daß Zedar der Zauberer, welcher stets zur Rechten des Verfluchten saß, einen Zauber auf sich legte und in der Gestalt eines Raben von dem Kriegsheer aufstieg, daß er die Bedeutung der Hörner erkundete. Und er flog gen Osten, und sehet, da tauchte eine große Eule von schneeweißer Farbe am Himmel auf und schlug zu mit ihren tödlichen Krallen und verwundete ihn schwer, und er kam nur knapp mit dem Leben davon.
Und Zedar sprach einen weiteren Zauber, und in der Gestalt eines großen Hirsches stahl er sich abermals vom Kriegsheer fort und wandte sich in den Wald im Norden. Und sehet, da tauchte am Waldsaum ein mächtiger grauer Wolf auf, erfahren und alt, und jagte ihn zu dem Kriegsheer zurück, von dem er gekommen war, und die tödlichen Fänge des Wolfs zerrissen sein Fleisch, und er fürchtete gar sehr um sein Leben. Und ein letztes Mal erklang das mächtige Horn im Norden; und ein letztes Mal antwortete das mächtige Horn von Osten; und ein letztes Mal schmetterte das Horn innerhalb der Stadtmauern seine Entgegnung hervor. Und abermals und näher nun erklang der Schall der vielen metallischen Trompeten aus dem Westen, und die Sonne glitzerte wie auf einem gewaltigen Ozean. Und dann öffneten sich die Tore von Vo Mimbre, und zu Pferd stürmten hervor die Ritter der mimbratischen Arender. In Stahl gehüllt waren sie, und hell leuchteten die Wimpel an ihren Lanzen,
und die eisenbeschlagenen Hufe ihrer Streitrosse machten einen gewaltigen Lärm wie Donnerhall. Und die mörderische Horde der malloreanischen Angarakaner, der Diener des Verfluchten, erhob ein lautes Geschrei und schlug mit ihren Speeren gegen ihre eisernen Schilde, wähnte sie doch, ihre Feinde befänden sich in ihrer Gewalt und die Stadt gehöre bald ihnen. Und die Murgos frohlockten, und die Thulls und die Nadraker desgleichen, und alle stürmten vorwärts, auf daß sie die mimbratischen Ritter rasch besiegen und die Stadt einnehmen möchten. Mit einem mächtigen Zusammenprall trafen die mimbratischen Ritter auf das Kriegsheer, und die vordersten Reihen wurden überrannt. Und härter noch bedrängten sie jene, während die todbringenden, eisenbeschlagenen Hufe ihrer schäumenden Streitrosse Lebende und Tote niederstampften. Und sehet, die zweite Reihe ward überrannt und in den Boden gestampft von der Wildheit des Angriffs. Immer noch schlugen die Malloreaner mit ihren Speeren gegen ihre eisernen Schilde, und immer noch frohlockten die Murgos und die Thulls und auch die Nadraker, denn die Zahl der mimbratischen Ritter nahm ab, wie die Kraft einer Woge abnimmt, wenn sie sich am Ufer bricht. Und große Freude ergriff die Herzen der Grolims, der dunklen Priester des Torak, und vorwärts trieben sie die Malloreaner und die Murgos, die Nadraker und die Thulls. Und da, als Verzweiflung die Herzen der Menschen ergriff, die von den Wällen der Stadt hinab auf das Getümmel schauten, erhob sich im Osten ein gewaltiges Donnern, und aus den niedrigen und düsteren Hügeln stürmte eine gar gewaltige Zahl von Kriegern im Angriff herbei. Und in ihrer Mitte wogten die furchtbaren Langspeere der Drasnier wie ein Wald im Wind. Und auf den Flanken schwärmten die algarischen Reiter aus wie zwei große
Sicheln, und niemand vermochte ihnen zu widerstehen. Und wie Wölfe über eine Schafherde fielen sie über die Murgos her, und groß waren das Gemetzel und das Blutvergießen, das sie anrichteten. Und König Ad Rak Cthoros von den Murgos rief mit mächtiger Stimme sein Volk zu sich, und sie ließen ab von den mimbratischen Rittern, um den Angriff der drasnischen Speere und der Langschwerter der algarischen Reiter zu erwarten. Doch ihre Äxte fanden keinen Weg vorbei an den langen Speeren der Drasnier, und sie fielen vor ihnen. Und ihre Streitkolben waren zu langsam, um die flinken Attacken der Algarier abzuwehren, und sie fielen vor ihnen wie Korn vor dem Schnitter. Zurück wichen da die waffenstarrenden Murgos in ihren Kettenhemden. Einen Schildwall bildeten sie, um die Drasnier und Algarier abzuwehren, und sehet, bei ihnen, ja mitten unter ihnen waren Ulgokrieger in sonderbaren Rüstungen und mit fremdartigen Waffen – lange Messer mit Haken an der Spitze oder mit Schneiden wie Sägen, und scharfe Sensen an Eisengriffen mit gar schrecklich spitzen Stacheln, die durch die Kettenhemden der Murgos drangen und den Sitz des Lebens in ihrem Inneren fanden – und verschleiert waren die Gesichter der Ulgos, und die Murgos wurden von großer Furcht ergriffen. Und die verschleierten Ulgos fielen über sie her, und die Schreie der Verstümmelten und der Sterbenden erfüllten die Luft, und die Murgos gerieten in heillose Verwirrung. Nun aber geschah es, daß Zedar der Zauberer das Wanken der Murgos erblickte und sich zum eisernen Pavillon von Kal-Torak begab und zu dem Verfluchten sprach und ihn beschwor, er möge hervorkommen und durch seine bloße Gegenwart seine Feinde besiegen. Doch Kal-Torak wollte nicht und blieb in dem schwarzen Eisenpavillon. Und sehet, die Erde im Westen erbebte unter dem schweren Marschtritt der Legionen des kaiserlichen Tolnedra. Und auf der Ebene trafen die Legionen ein und nahmen ihre Schlachtordnung an, und aneinander gerieten sie mit den Nadrakern und den Thulls
auf der rechten Flanke der Horde. Und Yar Lek Thun, König der Nadraker, und Gethel Mardu, König der Thulls, berieten sich und zogen ihre Streitkräfte von der Schlacht ab, welche um die mimbratischen Ritter tobte, auf daß sie besser den tolnedrischen Legionen entgegentreten mochten. Und bei den Legionen waren cherekische Berserker von jener Flotte, welche die Streitmacht Tolnedras von Tol Honeth bis kurz vor die Stromschnellen des Arendflusses dreißig Meilen unterhalb von Vo Mimbre gebracht hatte, und die Äxte und gewaltigen Breitschwerter der Chereker waren furchtbar anzusehen, und die Nadraker ängstigten sich, und die Thulls zitterten. Und von Waffenklirren hallte nun, da die Legionen und die Chereker mit den Nadrakern und den Thulls aneinandergerieten, auch der Westen wider. Und wiederum begab Zedar der Zauberer sich zu dem schwarzen Eisenpavillon des schrecklichen Kal-Torak, und wiederum flehte er den Verfluchten an, hervorzukommen, damit das Heer nicht vernichtet werde durch ihre Feinde auf der Linken und der Rechten und die Mimbrater, die selbst zu diesem Zeitpunkt ein großes Blutbad anrichteten inmitten der Malloreaner. Und Kal-Torak wandte sich ihm voller Verachtung zu und sprach: »Hast du, Zedar, solche Angst vor einer Handvoll Mimbrater? Verläßt dein Mut dich angesichts der armseligen Überbleibsel Drasniens und der Lumpen Algariens und der blinden Kriechwesen, die sich aus der Erde Ulgos hervorgewühlt haben? Verzagst du vor den fetten, verzärtelten Legionen Tolnedras und ein paar betrunkenen Barbaren aus Cherek? Angarak ist mein Volk, der Schrecken der Welt. Die Horde ist ohne Zahl, und ich bin mit ihnen. Keine Macht der Welt vermag gegen uns zu bestehen – mit Ausnahme von Cthrag-Yaska, und er, der Cthrag-Yaska gegen mich erheben könnte, ist nicht mehr. Kehre wieder in die Schlacht zurück, Zedar, oder fliehe und rette dein Leben. Ich werde nicht hervor kommen.«
Und sehet, da geschah es, daß aus dem Wald im Norden der Stadt eine schweigende Heerschar trat, die weder jubelte noch donnerte, noch Trompeten erschallen ließ. Graue Umhänge trugen die einen oder graubraune oder solche von schmutzigem Waldgrün, und in endlosen Wogen quollen sie aus dem Wald hervor, mit grimmiger Miene und stummem Munde. Und Zedar stockte das Herz, da er das Kommen der Rivaner gewahrte. Und die hinteren Reihen der Malloreaner wandten sich um und stürmten gegen die eintreffenden Feinde an, doch die waldgrünen Krieger waren asturische Bogenschützen, und unter dem Hagel ihrer Pfeile fielen die Malloreaner wie gemähtes Korn. Und immer mehr der schweigsamen Rivaner kamen, und mit ihnen die gewaltigen Recken Sendariens. Und sie griffen das Kriegsheer an und erschlugen die Malloreaner mit leidenschaftlicher Hingabe.
Und ein drittes Mal begab Zedar sich zum schwarzen Eisenpavillon Kal-Toraks und flehte den Verfluchten an und sprach: »Großer Herr, ich fürchte weder die armseligen Überbleibsel Drasniens noch die Lumpen Algariens, noch die blinden Wesen, die in der Erde von Ulgo kriechen; noch versetzen mich die Handvoll mimbratischer Ritter oder die verzärtelten Legionen Tolnedras oder die Berserker von Cherek in Unruhe. Wisse jedoch, daß dein Kriegsheer von vorn und auf der linken und auf der rechten Flanke angegriffen wird, und siehe!, nun kommen aus dem Wald hinter dir
hervor Asturier und Sendarer und jene, welche du am meisten hassest – die Hüter von Cthrag-Yaska. Fürwahr, Herr, die Rivaner selbst sind gekommen, um gegen dein Kriegsheer zu kämpfen und dir ihre Herausforderung ins Antlitz zu schleudern.« Da ergrimmte der Verfluchte und erhob sich und rief nach seinen Dienern, ihn zu rüsten und zu bewaffnen. Und er wandte sich zu Zedar dem Zauberer und sprach: »Siehe, Zedar, ich werde hervorkommen, auf daß die Hüter von Cthrag-Yaska mich erblicken und vor Furcht erbeben. Ich werde meine Hand gegen sie erheben, und sie werden vor mir vergehen wie welkes Laub. Schicke zu mir die Könige der Angarakaner, auf daß ich ihnen mein Kommen verkünden mag.« Und Zedar antwortete ihm und sprach: »Siehe, Großer Herr, die Könige der Angarakaner sind nicht mehr. König Ad Rak Cthoros von den Murgos liegt tot darnieder, ein ulgonisches Hakenmesser im Gekröse. Und Yar Lek Thun von den Nadrakern starb auf der Spitze eines tolnedrischen Schwertes, und Gethel Mardu, der König der Thulls, ist gespalten vom Helm bis zur Brust von einer cherekischen Schlachtaxt. Und siehe, auch die Söhne der Könige sind nicht mehr, und auch nicht die Generäle der Malloreaner, und heillose Verwirrung hat das Kriegsheer ergriffen ob des Todes der Könige und der Söhne der Könige und der Generäle der Malloreaner und auch der Mengen von Grolims.« Und groß war da der Zorn des Verfluchten, und Feuer war in seinem rechten Auge und auch in dem Auge, das nicht war, und er befahl seinen Dienern, ihm den Schild an seinen verstümmelten Arm zu binden, und er ergriff sein furchtbares schwarzes Schwert, Cthrek-Goru, und trat heraus aus seinem Eisenpavillon, um in die Schlacht zu ziehen. Und sehet, das Kriegsheer scharte sich um ihn, der sowohl König war als auch Gott, und sie führten einen Gegenangriff wider die Drasnier und Algarier und Ulgos auf der Linken und wider die Tolnedrer und Chereker auf der Rechten und schlossen auch den
Ring der Schwerter um die mimbratischen Ritter vor den Toren der Stadt. Und da ertönte von Norden das Schmettern eines mächtigen Horns, und aus der Mitte der Rivaner rief eine Stimme den Verfluchten an und sprach: »Im Namen Belars fordere ich dich heraus, Torak, du Entstellter und Verfluchter. Auch in Aldurs Namen speie ich dir meine Verachtung ins Gesicht. Bereite dem Blutvergießen ein Ende, und ich will mich dir stellen – Mann gegen Gott, und werde über dich obsiegen. Vor deine Füße werfe ich meinen Fehdehandschuh. Hebe ihn auf, oder stehe als Feigling dar vor Menschen und Göttern.« In rasender Wut zerschmetterte Kal-Torak die Felsen um ihn herum mit seinem Schwert Cthrek-Goru, und Feuer sprang aus den Felsen, und die Angarakaner und die Malloreaner fürchteten sich gar sehr vor seinem Zorn. Und Torak rief mit donnernder Stimme und sprach: »Wer aus dem Geschlecht der Sterblichen ist so töricht, den König der Welt herauszufordern? Wen von euch verlangt es danach, sich mit einem Gott zu messen?« Und die Stimme aus der Mitte der graugewandeten Rivaner antwortete ihm und sprach: »Ich bin Brand, Wächter von Riva, und ich fordere dich heraus, verderbter und mißratener Götterling, dich und dein ganzes stinkendes Kriegsheer. Zeig deine Macht! Nimm meinen Fehdehandschuh auf, oder schleich dich von dannen und greife nie mehr die Königreiche des Westens an.« Und Zedar der Zauberer hörte dies, und er riet dem Verfluchten und sprach: »Ich flehe dich an, o mein Herr, lasse dich nicht von deinem Zorn hinreißen. Dieser Rivaner ist angeleitet von deinen Verwandten. Deine Brudergötter haben sich gegen dich verschworen, und diese Herausforderung ist eine Falle und ihr böses Werk.«
Und wieder zerschmetterte Torak die Felsen mit seinem mächtigen Schwert, und wieder sprang Feuer aus den Felsen, und er entgegnete Zedar und sprach: »Siehe, ich bin Torak, König der Könige und Herr der Herren. Ich fürchte keinen Mann aus sterblichem Geschlecht und auch nicht die blassen Schatten lange vergessener Götter. Ich werde hervorkommen und diesen großmäuligen rivanischen Narren zerschmettern, und reihenweise werden meine Feinde fallen vor meinem Zorn, und Cthrag-Yaska wird wieder mein sein, wie auch die ganze Welt.« Und dann trat der Verfluchte aus dem Kriegsheer hervor. Schwarz war seine Rüstung und gewaltig sein Schild. Wie die Nacht schnitt das furchtbare schwarze Schwert Cthrek-Goru durch die mittägliche Luft, und Torak erhob die Stimme und sprach: »Wer ist es, der sterbliches Fleisch gegen den Willen und das unbesiegbare Schwert des Gottes Torak ins Feld führen will?« Da trat vor ihn hin Brand, Wächter von Riva, und tat seinen grauen Umhang ab. Gepanzert war er und behelmt mit grauem Stahl, und ein mächtiges Schwert trug er und einen mit grobem Tuch verhüllten Schild. Und an seiner Seite schritt ein grauer Wolf, und über seinem Haupt schwebte eine schneeweiße Eule. Und Brand erwiderte und sprach: »Ich bin Brand, Wächter von Riva. Ich bin der, der mit dir kämpfen wird, Torak. Hüte dich vor mir, denn die Geister von Belar und Aldur sind mit mir. Ich allein stehe zwischen dir und dem Auge Aldurs, für das du den Westen mit Krieg überzogen hast.« Und Torak erblickte den Wolf und wandte sich zu ihm und sprach: »Hebe dich hinweg, Belgarath! Flieh, wenn du dein Leben retten willst. Es mag gut sein, daß ich bald die Muße habe, dir die Belehrung zuteil werden zu lassen, die ich dir vor so langer Zeit schon versprach, und ich bezweifle, ob selbst du meine Belehrung überleben würdest.«
Doch der graue Wolf bleckte nur die Zähne vor ihm und floh nicht. Und Torak erblickte die Eule und wandte sich zu ihr und sprach: »Schwöre deinem Vater ab, Polgara, und folge mir nach. Ich will dich zur Frau nehmen und zur Königin machen über die ganze Welt, und deine Macht soll niemandes Macht nachstehen als der meinen.« * Doch die große weiße Eule schrie ihm ihren Trotz und ihre Verachtung ins Antlitz. »Dann macht euch alle zu sterben bereit!« sprach Torak da und erhob Cthrek-Goru und ließ es auf den Schild Brands, des Wächters von Riva, niederfahren. Zahlreich und schwer waren die Hiebe, die sie austeilten, und das Kriegsheer der Angarakaner und die Soldaten des Westens standen voller Staunen da, als sie der Hiebe gewahr wurden, denen kein Sterblicher hätte widerstehen können, denn das Schwert Toraks, das furchtbare Cthrek-Goru, spaltete Felsen, und das große graue Schwert von Brand ließ die Erde erbeben. Und da wußten die Heerscharen, daß sie keinem Zweikampf von Männern, sondern einem Wettstreit von Göttern beiwohnten, und da fürchteten sie sich gar sehr. Doch der rasenden Wut Toraks vermochte kein sterbliches Fleisch zu widerstehen, und das furchtbare Cthrek-Goru zerhackte und zerhieb Brands Schild, und der Wächter wich zurück unter dem wilden Angriff des Verfluchten. Da heulte der graue Wolf und schrie die schneeweiße Eule wie mit einer Stimme, und diese klang in den Ohren der Zuschauer, als wär’s die Stimme eines Menschen, und Brands Kraft ward wiederhergestellt.
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Noch so eine Nebenbemerkung, die sich als überaus wichtig erweisen sollte.
UND SEHET: Der rivanische Wächter enthüllte seinen Schild, und sehet!, in dessen Mitte war ein runder Edelstein eingelassen. Grau war er und annähernd so groß wie das Herz eines Kindes. Und als er Torak gewahr wurde, begann der Stein zu glühen. Und heller und heller flammte der Stein, und der Verfluchte wich zurück vor dem Stein wie einer, der sich einem unerträglichen Feuer gegenübersieht. Und seinen Schild schüttelte Torak ab, und sein Schwert Cthrek-Goru ließ er fallen, und laut schrie er auf und schlug die Hände vor sein Gesicht, um sich vor dem Feuer des Steins zu schützen. Und seine rechte Hand bedeckte sein rechtes Auge, doch sehet!, der entstellte Gott hatte keine linke Hand, und der Stumpf derselben war von einem Feuer geschwärzt, daß kein Sterblicher je erduldet hatte. Und da schlug Brand zu. Mit beiden Händen umfaßte er sein namenloses graues Schwert, so wie ein Mann einen Dolch halten mag, doch weder in die Brünne noch in die Halsberge stieß er dem gräßlichen Feinde das graue Schwert – wußte er doch, daß ein Gott nicht getroffen werden kann außer dort, wo er zuvor schon eine Wunde empfing. Und so führte Brand den Streich gegen das Auge, das nicht war. Und sehet, die Spitze von Brands Schwert traf ihr Ziel und durchdrang das Visier des Verfluchten und bohrte sich in das Auge, das nicht war. Und Torak schrie auf und umklammerte das Schwert und riß es heraus und warf es von sich. Darauf zerrte der Gott sich den Helm vom Haupte und warf auch ihn beiseite, und die Menschen erblickten die versengte Seite seines Gesichts, die verunstaltet wart, als er das Auge Aldurs erhoben hatte, um die Welt zu zerbrechen. Und dieses Gesicht war gar schrecklich und jenseits aller Worte, und die Angarakaner schauderten zurück, und die Männer des Westens wandten sich ab. Und man sah das Auge Toraks Blut weinen, und da richtete er sich hoch auf und reichte mit seinen Armen bis in den Himmel und schrie aufs neue. Und ein letztes Mal schrie er auf, als
er den Edelstein erblickte, dem er den Namen Cthrag-Yaska gegeben und der abermals seine Niederlage besiegelt hatte, und dann, wie ein Baum, der an der Wurzel geschlagen wird, fiel der Dunkle Gott, und die Erde hallte wider von seinem Fall. Und da erhob sich ein großes Geschrei von dem Kriegsheer über den Fall des Verfluchten, und die Angarakaner verzweifelten, war doch ihr Gott gefallen. Dann fielen die Armeen des Westens über die Massen der Kriegerschar her und erschlugen sie. Und die Heerscharen der Murgos auf der Linken und die der Thulls und der Nadraker auf der Rechten flohen in den Fluß, auf daß sie ihr Leben retteten. Doch reißend ist der Arendfluß bei Vo Mimbre, und tief, und das Wasser verschlang sie. Wenige nur entkamen den Fluten und erreichten das andere Ufer, so daß sie durch die Wildnis gen Osten fliehen konnten. Für die Horden der Malloreaner indes gab es kein Entkommen, denn die Armeen des Westens umzingelten sie, und sie wurden erschlagen – wahrhaftig, bis auf den letzten Mann. Denn sehet, die Armeen des Westens führten Fackeln mit sich, und als die finstre Nacht ihren Mantel aus Dunkelheit über die Walstatt vor der Stadt breitete, entzündeten sie die Fackeln, auf daß kein Malloreaner ihrer Rache zu entkommen vermochte. Und die Beobachter in der Stadt weinten und kamen heraus, um die Armeen inständig zu bitten, dem Gemetzel ein Ende zu bereiten, denn gar groß war ihr Mitleid mit den Malloreanern. Der grimmige Brand jedoch, Wächter von Riva und Oberbefehlshaber der Armeen des Westens, verhärtete sein Herz gegen ihr Flehen und machte dem Gemetzel kein Ende. Und er gab ihnen zur Antwort und sprach: »Niemals wieder! Niemals wieder werden Angarakaner in den Westen kommen. Weder Baum noch Strauch, weder Samen noch Wurzel sollen dieser Rodung entgehen!« Und in der Nacht, als die Fackeln heruntergebrannt waren, kamen die Krieger von Ulgo in ihren Schuppenpanzern hervor und suchten nach Verwundeten und erschlugen sie. Und keiner entkam, denn
fürwahr, nichts bleibt vor den Kriegern von Ulgo im Dunkeln verborgen. Und als am vierten Tage die dunstige Dämmerung anbrach, war das Kriegsheer nicht mehr, und die Massen der Erschlagenen wurden zu Haufen aufgeschichtet auf der Ebene vor der Stadt, und so weit das Auge reichte verschandelte der Untergang Angaraks die schöne Ebene. Und Brand erhob die Stimme und sprach: »Bringt mir den Leichnam des Verfluchten herbei, den ich erschlagen habe, damit ich den Verruchten sehen kann, der König und Gott der ganzen Welt sein wollte!« Doch sehet!, der Körper des entstellten Torak war nicht mehr unter den Erschlagenen. Denn es hatte sich zugetragen, daß Zedar der Zauberer, welcher stets zur Rechten Kal-Toraks saß, in der Nacht einen Zauber gesprochen hatte und sich ungesehen durch die Armeen des Westens geschlichen hatte, vorbei an Sendarer und Tolnedrer, an Arender und Drasnier, Algarier und Chereker, am grimmigen Rivaner gar und dem katzenäugigen Ulgo, und er hatte den mächtigen Körper des entstellten Gottes hinweggeschafft. Und Brand war voller Sorge und beriet sich mit seinen beiden engsten Ratgebern, dem grauen alten Mann, dessen Namen niemand kannte, und der dunkelhaarigen Frau mit der silbrigen Schläfenlocke, die durch das Lager schritt wie die Königin der Welt. Und die drei befragten die Omen und waren voller Sorge, und der betagte Mann ergriff das Wort und sprach: »Siehe, Wächter von Riva, dein Feind ist dir entkommen. Torak ist nicht tot, er schlummert nur und wird sich wieder erheben.«
Brand aber entgegnete ihm und sprach: »Er ist erschlagen. Das namenlose Schwert, das ich führe, hat ihn des Lebens beraubt. Niemand vermag einem solchen Streich zu widerstehen, wie der Verfluchte ihn hinnehmen mußte.« Der betagte Mann aber entgegnete ihm und sprach: »Sei nicht zu stolz, Wächter von Riva. Denn Torak, der König und Gott der Angarakaner, ist nicht von sterblichem Geschlecht. Er ist ein Gott – ein dunkler Gott und ein böser, aber gleichwohl ein Gott. Kein Hieb von einer sterblichen Waffe, mag sie auch sein Herz durchbohren, kann ihn erschlagen. In diesem Augenblicke hat Belzedar, der Verräter, ihn hinweggeschafft und verborgen, auf daß wir ihn nicht finden und in Ketten legen können und auf daß er nicht erwache.« Und Brand war ernüchtert ob der Worte seines Ratgebers, und er fragte und sprach: »Und wann wird der Dunkle Gott erwachen? Ich muß es wissen, auf daß ich die Königreiche des Westens für seine Wiederkunft wappnen kann.« Und die Frau ergriff das Wort und sprach: »Wenn wieder ein König aus dem Geschlecht von Riva auf seinem nördlichen Throne sitzet; wenn das Feuer des Orb wieder entzündet wird durch seine Berührung und die Hallen des rivanischen Königs vom Lichte jenes Auges erfüllt sind, dann wird der Dunkle Gott erwachen und
hervorkommen aus seinem Schlaf, um den Westen und den rivanischen König mit Krieg zu überziehen. Und dann wird es geschehen, daß sie aufeinandertreffen – ebenso, wie du und Torak aufeinandergetroffen seid, und der eine wird den anderen erschlagen, und das Schicksal der Welt wird entschieden in diesem Kampfe.« Und Brand erwiderte und sprach: »Aber das Geschlecht von Riva ist nicht mehr, und die Hallen des rivanischen Königs sind dunkel und leer. Wie soll das Geschlecht sich erneuern, wenn es tot darniederliegt? Wie soll ein toter Baum Früchte tragen? Und wenn Torak ein Gott ist, wie du sagtest, wie könnte dann selbst das große Schwert des rivanischen Königs ihn bezwingen?« Und die Frau gab ihm zur Antwort und sprach: »Der tote Baum hat seine Frucht getragen, und die Samen dieser Frucht haben viele Jahrhunderte im verborgenen geruht, wie es noch viele Jahrhunderte sein wird. Wenn die Zeit gekommen ist, wird er aufstehen und Anspruch auf sein Erbe erheben, und das Feuer von Aldurs Auge wird im Jubel entzündet werden als Zeichen für dein Volk, daß sein König zurückgekehrt ist.« »Und wisse«, sprach der betagte Mann, »das Schwert des rivanischen Königs ist keine sterbliche Waffe. Aldurs Auge, welches seinen Knauf krönt, ward geschaffen vom Gott Aldur, und die beiden Sterne, die vom Himmel fielen und von Riva zu Heft und Klinge geschmiedet wurden, sandte der Gott Belar, und siehe, die Geister der beiden Götter sind in dem Schwerte. Mit diesem Schwerte kann Torak Einauge vernichtet werden – und nur mit diesem Schwerte.« »Aber das Schwert hängt an dem großen schwarzen Felsen hinter dem Thron in Riva«, sprach Brand. »Das Auge Aldurs, das du mir in diesen Schild einzusetzen befahlst, ist nicht mehr mit jenem Schwerte verbunden. Der Thronsaal des rivanischen Königs ist dumpfig und unbenutzt, und die Feuchtigkeit der See ist hereingekrochen, und das Schwert schwitzt roten Rost aus, der sich
von seiner Spitze über die schwarze Felsoberfläche verteilt; es verblutet, da die rivanischen Könige nicht mehr sind.« »Siehe, Brand, Wächter von Riva«, sprach da die Frau, gebieterisch wie eh und je. »Das Schwert von Riva mag zehnmal tausend Jahre lang Rost bluten und wird doch nicht eine Unze Eisen verlieren. Es ist ein heiliges Artefakt, geschmiedet von Riva selbst, und die Geister von Belar und Aldur sind in ihm. Es kann nicht vergehen, noch kann es sich verändern oder wandeln. Es harret des Nahens der großen Schlacht, in der das Schicksal der Welt entschieden wird. Das ist sein Zweck; für ihn allein ward es geschmiedet. Es ist ein Werkzeug, vom Schicksal bestimmt, im Streit der Götter erhoben zu werden – geschmiedet ward es, um das unsterbliche Lebensblut Toraks zu vergießen. Einen anderen Zweck hat es nicht, und es wird ausharren, bis es seinen Zweck erfüllt hat – und müßte es bis ans Ende aller Tage sein.« Und Brand war es zufrieden, und er wies seine Armee an, das Schlachtfeld vor der Stadt vom Strandgut des Angarakaners, Murgos und Thulls, des Nadrakers und Grolims zu säubern und von den ungezählten Toten des riesigen Mallorea. Und als dies vollbracht war, kamen die Edlen Arendiens zu ihm und sprachen: »Siehe, der König der Mimbrater ist tot, und auch der Kriegsherr der Asturier, denn sie haben einander im Zweikampfe erschlagen, so groß war der Haß des einen auf den anderen. Bleibe bei uns, Brand, und sei du unser König, damit nicht der Bürgerkrieg, der die Arender seit unzähligen Jahren entzweit, von neuem ausbricht und Arendien vernichtet.« Und Brand erwiderte ihnen und sprach: »Wer ist der Erbe des mimbratischen Throns, den mein Königtum enteignen würde? Und wo ist das Kind der asturischen Herzöge, das meine Thronbesteigung gleichfalls anfechten würde?« »Korodullin ist der Kronprinz der Mimbrater«, sprachen da die Edlen.
»Einen anderen gibt es nicht?« fragte Brand. »Nein, Herr«, sprachen die Edlen. »Mit ihm stirbt das Geschlecht aus. Ein Schwertstreich, und das Haus von Mimbre ist nicht mehr.« Brand blickte sie an und schwieg. »Und Mayaserana ist die Letzte des asturischen Geschlechts«, fuhren die Edlen fort. »Sie ist recht jung und schwach. Ein scharfes Messer, über ihre Kehle gezogen, löscht Astur so leicht aus wie Mimbre.« Und Brand ergriff das Wort und sprach: »Bringt sie zu mir!« Und so geschah es. Und er wandte sich zu ihnen und sprach: »Nun endet das Blutvergießen zwischen Astur und Mimbre. Es ist mein Wille, daß ihr miteinander verheiratet werdet, das eine mit dem anderen.« Und Korodullin, der Kronprinz von Mimbre, entgegnete ihm hitzig und sprach: »Eher würde ich sterben, als die Schmach einer Heirat mit einem so schmutzigen Balg von Strauchdieben zu erdulden!« Und Mayaserana, die Herzogin von Astur, erwiderte nicht minder hitzig und sprach: »Du magst ja befehlen, Großer Brand, Wächter von Riva, doch solange Seil oder Messer oder Speer oder hohe Zinnen oder der tiefe, kalte Fluß noch Macht haben, Leben zu nehmen, wirst du mich nicht atmend ins Brautbett eines solch gräßlichen Abkömmlings von Dieben und Thronräubern bringen!« Und Brand war erzürnt ob ihres Hochmuts und ihres Trotzes wider seinen Willen, und er verfügte, daß sie zusammen in einem hohen Turme über der Südmauer der Stadt gefangengesetzt würden. Doch die Barone von Arendien hegten wenig Hoffnung und schworen, die beiden würden sich nimmer versöhnen, noch würden sie sich dem Willen Brands beugen. Brand indes hieß sie, sich in Geduld zu fassen, und wandte sich anderen Angelegenheiten zu. Und es begab sich, daß die Könige des Westens in dem großen Lager vor der Stadt Vo Mimbre auf der Ebene von Arendien
zusammenkamen. Prachtvoll war das Zelt, in dem sie sich trafen, und mächtig waren die Könige. Und Ormik, der König der stets praktisch denkenden Sendarer, ergriff das Wort und sprach: »Sehet, die Könige des Westens haben sich versammelt. Könnten wir nicht an diesem Orte jene Streitigkeiten beilegen, die uns entzweit haben, und solcherart der grimmigen Faust des Krieges ein Glück für unsere Königreiche entreißen, welches sie nie zuvor gekannt haben? Lasset uns hier, meine Brüder, an dieser Stätte des Krieges, den Frieden suchen.« Und die anderen Könige staunten ob des gesunden Menschenverstandes des Königs der Sendarer, denn in Wahrheit war er ihnen als ein törichter Mann erschienen. Doch Rhodar, König von Drasnien, entgegnete und sprach: »Noch nicht beendet ist der Krieg gegen Angarak. Noch hausen nadrakische Garnisonen in den Ruinen von Boktor und Kotu, und finstre Grolim-Priester jagen in den Sümpfen von Mrin die Söhne und Töchter von Dras Stiernacken, um sie auf den Altären des Torak Einauge zu opfern.« Und Cho-Ram, König von Algarien und Häuptling der Häuptlinge, pflichtete ihm bei und sprach: »Und noch herrscht Krieg in Algarien. Die Feste der Algarier wird von Murgos belagert.« Doch Eldrig, der weißbärtige König von Cherek, entgegnete und sprach: »Liebe Brüder, dies sind doch Dinge, die Alorien nicht in Bedrängnis bringen. Mit der Vertreibung ungebetener Gäste sollten wir das Kaiserliche Tolnedra, das Edle Arendien oder das Heilige Ulgo nimmer belästigen. Nun, da Torak besiegt ist, mag Alorien sich nach Belieben der jämmerlichen Überreste Angaraks entledigen. Die Könige des Westens stehen hier vor einer größeren Schicksalswende. Das unermeßliche Mallorea hat seine ungezählten Horden gegen uns geschickt, und Murgo und Nadraker und Thull haben uns herausgefordert, und wir haben obsiegt. Mehr als das, wir
sind hier, auf dieser Walstatt, Zeugen des Sturzes eines Gottes geworden. Gewiß hatten die anderen Götter dabei ihre Hände im Spiel, und Brand von Riva ist ihr Werkzeug gewesen. Welch besseres Omen könnten wir uns wünschen? Wisset denn, Brüder, ich, Eldrig, König von Cherek, vom Blut und Bein Cherek Bärenschulters, des ältesten der alornischen Könige, schwöre Brand von Riva Lehnstreue als Oberstem Herrn des Westens.« Und er erhob sich und grüßte Brand, Wächter von Riva, mit seiner gewaltigen Schlachtaxt. Und auch Cho-Ram von Algarien erhob sich und sprach: »Groß ist die Weisheit meines verehrungswürdigen Bruders von Cherek, der uns den Willen der Götter kundgetan. Denn sie leiteten Brand von Riva, als er uns gegen die Horden Angaraks führte, und gewiß leiten sie ihn auch jetzt, da wir uns dem Frieden gegenübersehen. Auch ich, Cho-Ram, Häuptling der Häuptlinge, König der Algarier, Nachkomme des Algar Flinkfuß, schwöre Brand von Riva als Oberstem Herrn des Westens die Lehnstreue.« Und er grüßte Brand mit seinem langen, gebogenen Schwert. Und da erhob sich auch Rhodar von Drasnien und sprach: »Die Kinder des Bärengottes sprechen mit einer Stimme. Ganz Alorien ist wieder eine Nation und ein Volk. Ich, Rhodar, König des Nordlandes Drasnien, Nachfahre des Dras Stiernacken, schwöre Treue dem Brand von Riva als Oberstem Herrn des Westens.« Und er grüßte Brand mit seinem kurzen, breitschneidigen Schwert. Und es erhob sich Ormik, König der Sendarer, und bekümmert war seine Miene, und er entgegnete und sprach: »Liebe Brüder, Könige des Westens, wahrhaftig ist Brand von Riva ein Mann wie kein anderer unter dieser Sonne. Wer sonst unter uns dürfte sich rühmen, einen Gott erschlagen zu haben? Und ich versichere euch nun, daß ich tun werde, was immer Brand mir befehlen wird. Und wohin er uns auch führt, ich werde ihm folgen – fürwahr, sei es ins Feuer oder ins Wasser. Ich leiste Brand von Riva den Lehnseid, und mit mir ganz Sendarien. Und Sendarien steht mit Alorien da als ein
Volk unter der Oberherrschaft Brands von Riva. Aber, liebe Brüder, gibt es hier einige, welche die göttliche Herrlichkeit, deren Zeugen wir geworden sind, nicht zu erkennen vermögen. Für manche ist es ein Leichtes zu erkennen, wenn ein Mann von einem Gott berührt wurde. Für andere ist eine solche Erkenntnis ein schwierig Ding. Ein Wunder mag nicht gesehen oder übersehen werden, falls die Bedeutung dieses Wunders nicht nach dem Geschmack desjenigen ist, der es erlebt. Die gesamte Streitmacht des Westens ist auf diesem Feld versammelt. Ein möglicher Krieg an dieser Stätte könnte uns grausamer vernichten, als das unermeßliche Mallorea oder die Macht Angaraks mitsamt dem Bösen Torak es je vermocht hätten. Fürwahr, liebe, Brüder, es möchten die Städte des Westens in Schutt und Asche gelegt und die Königreiche verwüstet und die Menschen in die Wildnis getrieben werden. Alorien ist eins, und Sendarien steht an seiner Seite, aber was ist mit dem Kaiserlichen Tolnedra? Wie erklärt sich das Heilige Ulgo? Was sagt die Königin des Schlangenvolkes im Dunklen Nyissa? Wenn wir uns bekriegen, liebe Brüder, was wird dann bleiben? Welchen Rest von Menschlichkeit werden wir dann noch besitzen? Wenn wir uns gegenseitig zerfleischen, könnten dann nicht Malloreaner und Murgo, Nadraker und Thull über unsere Überbleibsel herfallen? Würden sie dann nicht unsere armen Überlebenden zu Scharen in die Hände der Finsteren Grolim-Priester treiben, und würden diese dann nicht ihre unaussprechlichen Rituale zur Feier des Sieges jenes Dunklen Gottes begehen, über den wir soeben triumphiert haben?« Da erhob sich Podiss, der Abgesandte von Nyissa, Botschafter von Salmissra, Königin des Schlangenvolkes, und wandte sich mit großem Zorn an die alornischen Könige und sprach: »Gar sehr muß ich mich wundern, daß Könige bereit und willens sind, sich einem Manne zu unterwerfen, dessen Namen keine vornehme Herkunft verheißt. Meine Herrin, die Ewige Königin Salmissra vom dichtbewaldeten Nyissa, wird sich nimmer der Oberhoheit eines namenlosen alornischen Schlächters beugen.«
Und darob erzürnte Eldrig, König von Cherek, und desgleichen Cho-Ram und auch Rhodar von Drasnien. Und Cho-Ram von Algarien entgegnete und sprach: »Könnte es sein, daß das Gedächtnis des Abgesandten der Ewigen Salmissra ein wenig zu kurz ist? Und das der Schlangenfrau in Sthiss Tor ebenso? Würde man ihr nicht einen Dienst erweisen, wenn man ihr die Folgen ins Gedächtnis riefe, die der zu gewärtigen hat, der Alorien beleidigt? Lasset uns ihr den Kopf dieses bösartigen Botschafters senden, auf daß ihr Gedächtnis aufgefrischt werde.« Da erhob sich Mergon, Gesandter von Tolnedra am Hofe zu Vo Mimbre, und sprach: »Hoheiten, mächtige Könige des Nordens, viel Wundersames haben wir hier geschaut. Der Große Brand, ein Krieger, der seinesgleichen sucht, hat den Dunklen Torak besiegt, und trefflich haben wir die Verwüstung Drasniens und die Invasion Algariens an den Horden Angaraks gerächt. Ich grüße Brand im Namen seiner Kaiserlichen Majestät, Ran Borunes IV. der Krone der dritten Borunischen Dynastie, und spreche die kaiserliche Einladung an den edlen Wächter von Riva aus, an den Hof von Tol Honeth zu kommen, damit mein Kaiser ihn so ehren kann, wie es dem ersten Krieger des Westens gebührt. Lasset uns jedoch in der ersten Aufwallung von Bewunderung und Dankbarkeit keine übereilten Entscheidungen treffen, die wie hinterher nicht mehr rückgängig machen können. Der edle Brand, da bin ich gewiß, wird mir beipflichten, daß die Kunst des Krieges und die Kunst des Friedens in keiner Weise vergleichbar sind. Und selten sind die Fähigkeiten des Kriegers und des Friedensstifters in einem Mann vereint. Eine Schlacht ist bald vorüber, und ein Krieg dauert nicht ewig. Die Bürden des Friedens jedoch werden drückender mit jedem Jahr. Zudem empfinde ich tiefe Sorge ob dieses Geredes über Alorien. Von Cherek habe ich gehört, und von Drasnien, und auch von Algarien. Und wer wüßte nicht von der Insel der Stürme und dem uneinnehmbaren Riva? Aber wo ist dieses Alorien? Wo verlaufen seine Grenzen? Wo liegt dieses geheimnisvolle Land des Nordens?
Wo ist seine Hauptstadt? Fürwahr, seit der Teilung in den Tagen König Cherek Bärenschulters und seiner drei mächtigen Söhne hat Alorien zu bestehen aufgehört. Oh, ich bin beunruhigt über die Wiederauferstehung eines Königreichs, das schon seit langem in den Nebeln der Vorzeit verschwunden ist. Das Kaiserliche Tolnedra muß sich mit der irdischen Wirklichkeit auseinandersetzen. Wir können keinen Botschafter an den Hof des Elfenkönigs schicken. Wir können keinen Vertrag mit dem Kaiser des Mondes schließen. Nur mit Königreichen von dieser Welt können wir Verkehr pflegen. Mythen und Legenden, wie großartig sie sein mögen, dürfen nicht Einzug in die Angelegenheiten des Reiches halten, damit wir nicht den klaren Blick verlieren und der solide Felsen, auf dem die Festigkeit des ganzen Westens ruht, mürbe wird wie altes Holz. Und ach, ihr Könige und Herren, will Schrecken mich ergreifen angesichts der offensichtlichen Mißachtung althergebrachter Abkommen und Verträge, deren Zeuge ich hier werden mußte. Hier, edle Herren, wurden die feierlichsten Vereinbarungen gebrochen. Viele von euch besitzen Verträge mit dem Reich, und sie bestimmen, Könige und Herren, daß ihr keine Zusammenkünfte mit anderen Königen abhalten dürft, ohne zuvörderst den Kaiser von euren Absichten in Kenntnis zu setzen. Bedenkt euch, meine Herren. Ist es weise, solcherart die Macht des Kaiserlichen Tolnedra herauszufordern?« Und da erhob sich der graubärtige Eldrig, König von Cherek, und entgegnete ihm und sprach: »Höret auf mich, edler Mergon. Auf diesem Feld dort draußen steht Alorien, und es steht unter Waffen. Wir fürchten nicht die Macht des Kaiserlichen Tolnedra. Wenn es Euch gefällt, mögt Ihr Ran Borune Nachricht von unserer Begegnung hier bringen. Cherekische Schiffe sind schnell. Es ist mag sein, daß ich selbst in Tol Honeth weile, um Euch bei Eurer Ankunft zu empfangen.«
Und Cho-Ram von Algarien erhob sich und sprach: »Die Pferde der Algarier sind nicht minder schnell. Auch ich werde in Tol Honeth sein, um Euch zu begrüßen.« Und Rhodar erhob sich und sprach: »Ich und meine Speerkämpfer sind tausend Leagues zu diesem Schlachtfeld gezogen. Bis Tol Honeth sind’s nur zweihundert, so daß auch ich dort sein und Eure Ankunft erwarten werde.« Dann entgegnete Eldrig und sprach: »Wir wollen Eurem Kaiser eine Lektion in Geographie erteilen. Die vereinten Armeen der Alorner sind unbesiegbar. Die Grenzen Aloriens sind dort, wo wir sagen, daß sie sind, und was wir sagen, wird sein. Und wenn wir dies Ran Borune und Salmissra beweisen müssen, sei es drum!« Da ergriff der verehrungswürdige Gorim von Ulgo das Wort und sprach: »Obacht müssen wir geben, liebe Brüder, daß nicht der Geist Toraks frohlocke ob unserer Zwietracht. Worte der Bosheit und des kriegerischen Trotzes sind in der Hitze des Augenblicks schnell gesagt. Es ist schwer, sie wieder ungesagt zu machen, selbst nachdem Jahre des Leides ihre Torheit bewiesen haben. Die alornischen Könige möchten Brand von Riva seines Sieges über den Entstellten Gott Torak wegen zum Oberherrn des Westens machen – und auch deshalb, weil er Alorner ist. Tolnedra und Nyissa möchten Brand für seinen Sieg ehren, doch seiner Oberhoheit unterwerfen sie sich nimmer, weil er Alorner ist. Könnten wir nicht zu einer Übereinkunft gelangen, Brüder? Laßt uns Brand eine Kaiserliche Prinzessin von Tolnedra zur Gemahlin und ein Drittel des Reichtums von Nyissa als Mitgift geben, falls er sich im Gegenzug bereit erklärt, von der beunruhigenden Würde abzurücken, zu der man ihn erhöhen will.« »Niemals«, zischte Podiss, Abgesandter der Ewigen Salmissra. Und betrübt ward Mergon, Botschafter von Tolnedra, und er entgegnete und sprach: »Der Gorim von Ulgo spricht gewiß im Scherz. Die Kaiserlichen Prinzessinnen Tolnedras sind die
strahlendsten Juwelen des Reiches. Ihre Ehen werden oftmals bereits vor ihrer Geburt abgesprochen.« Da erhob sich Brand, Wächter von Riva, welcher bis jetzt schweigend dabeigesessen hatte, und ergriff das Wort und sprach: »Frieden, Brüder. Ich brauche keine Gemahlin, denn die, welche meine Jugend mit mir geteilt und meine Kinder geboren hat, erwartet mich in Riva. Für mich ist sie ein Juwel, kostbarer als alle Prinzessinnen aller Reiche der Welt. Und die Schätze Nyissas brauche ich nicht – noch die irgendeines anderen Königreichs. Was sollte ich mit ihnen anfangen? Die Mauern Rivas sind gebaut von Eisenfaust persönlich, und er war es auch, der den Fels spaltete, so daß der Fluß hervorströmte, welcher nun die Füße der Stadt umspült. Was braucht ein Rivaner Schätze? Wir haben einen Schatz, und seit mehr als zweitausend Jahren hat unser Volk ihn mit seinem Leben geschützt. Wollt ihr uns noch einen Schatz aufbürden, den wir bewachen müssen? Wie viele Leben haben wir denn? Die Ehre, welche die Könige von Alorien mir antun wollen, könnte ich nicht tragen. Ich fühle schon jetzt, wie sie mich niederdrückt. Und wie sollte ich überdies im abgelegenen Riva Oberhoheit und Herrschaft aufrechterhalten? Wie sollte ich davon erfahren, wenn die Völker im tiefsten Nyissa hungerten, die Herden im fernsten Algarien verdursteten oder die Höhlen des Heiligen Ulgo in sich zusammenstürzten und die Kinder von UL unter der Erde begrüben? Und was ist mit den Göttern? Würde Nedra einem Sohn des Bärengottes erlauben, die Macht in Tol Honeth auszuüben? Würden Chaldan oder Issa meine Oberhoheit in Arendien oder im Lande des Schlangenvolkes hinnehmen? Und was ist mit dem geheimnisvollen UL? Und mit Aldur, dem Gott, der sich abseits hält? Die Oberherrschaft darf kein Mensch verleihen, sie muß einem Manne als Pflicht von den Göttern auferlegt werden. Und so, meine Könige und Herren, darf ich diese Ehre nicht annehmen. Und wir alle sollten uns hüten, daß wir uns hier in unserer scheinbaren Macht soweit erheben, daß wir die Götter
kränken. Und wehe, wenn unsere Kämpfe zu heftig würden! Könnten wir dann nicht wieder einen Streit parteiischer Götter erleben? Und wenn die Götter in den Krieg zögen, würden sie nicht die ganze Welt zerstören?« Da erhob sich der betagte Mann, welcher den Wächter von Riva beriet, und er ergriff das Wort und sprach: »Groß ist die Weisheit Brands. Höret auf seine Worte, o ihr Könige und Herren des Westens, und beleidigt nicht die Götter durch euren frevelhaften Übermut. Aber sollte es nicht zumindest ein Zeichen der Dankbarkeit für Brand und Riva geben?« Und der Gorim von Ulgo betrachtete den betagten Mann lange und erkannte ihn, und er entgegnete und sprach: »Du weißt, Unsterblicher, daß Torak besiegt, aber nicht erschlagen ist.« »Ja«, sprach der Betagte. »Und du willst die Prophezeiung erfüllen?« sprach der Gorim. »Sie muß erfüllt werden«, sprach der Betagte. »Verhelfen wir den Prophezeiungen nicht durch unser Wirken zur Erfüllung, werden sie sich gegen uns erfüllen, und seltsam und unziemlich zumal. Der Ausgang der großen Schlacht ist noch immer nicht entschieden, und alles würde ich tun, dem Kämpen des Westens zu helfen! Wenn er nicht siegt, wenn er gar fällt, wird der verderbte Torak die Welt unter sein Joch zwingen, und alle Menschen werden seine Sklaven.« Und der Gorim von Ulgo entgegnete und sprach: »Die Prophezeiung ist alt, und ihre Bedeutung ist verdunkelt durch den Staub der vielen Jahre. Seid Ihr sicher, Unsterblicher, daß sie nicht durch irgendwelche Ereignisse in der fernen Vergangenheit verzerrt worden ist?« Und der Betagte entgegnete und sprach: »Die Omen besitzen Gültigkeit. Die Prophezeiung ist unversehrt. Er wird sich offenbaren und seinen Thron beanspruchen, und eine große Prinzessin wird ihm als Gemahlin gehören. Und auf sein Kommen hin wird Torak seinen Schlaf abschütteln und ein zweites Mal in den
Westen kommen. Und die beiden werden einander begegnen und miteinander kämpfen, und der eine wird erschlagen und der andere Oberherr des Westens werden.« Und er wandte sich an die alornischen Könige und entgegnete ihnen und sprach: »Das war nicht wohlgetan, Eldrig von Cherek. Der, welcher eine Prophezeiung für seine Zwecke zu verdrehen sucht, reizt die Götter mit frevelhaftem Übermut. Die letzte Schlacht ist noch nicht geschlagen, und Torak ist nicht tot.« Und da geriet Eldrig in einen großen Zorn, und er erhob sich und machte Anstalten, den Betagten zu schlagen. Da aber fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er erkannte sein Gegenüber, und er erzitterte vor ihm und entgegnete und sprach: »Vergib mir, Altehrwürdiger, Geliebter von Aldur und Gefährte Belars, daß ich dich und die Götter beleidigte. Ich wollte nur in den Tagen der Erfüllung der Prophezeiung leben.« Und der Gorim von Ulgo entgegnete und sprach: »Großer König des zeitlosen Cherek, die Prophezeiung wird erfüllt, doch nicht in Eurer und nicht in meiner Zeit. Der Tag aber wird kommen, da der König des Westens seinen Thron besteigt, und die letzte Schlacht wird geschlagen werden, und das Geschick der Welt wird an diesem Kommen und an dieser Schlacht hängen. Was wir hier geschaut, war nur ein Vorspiel. Zu gegebener Zeit wird man zur Schlacht aufeinandertreffen. Wir jedoch müssen zufrieden sein, daß unser Tun gerecht und richtig war und die Welt ob unserer Taten besser ist, als sie es ohne unser Tun wäre.« Und mit diesen Worten wandte er sich an den Betagten, dessen Augen stets im Schatten lagen, und fuhr fort und sprach: »Und Ihr werdet sein Kommen erwarten?« Und der Betagte antwortete und sprach: »Fürwahr, ich werde ihn erwarten – und sollte es bis ans Ende aller Tage sein.« Und der Gorim entgegnete und sprach: »UL ist mit Euch, so wie Aldur und Belar. Sein Segen ruht auf Euch, Ältester der Menschen.« Und dann erhob er sich und begann mit lauter Stimme, auf daß alle Versammelten ihn hören möchten, und sprach: »Hier ist gelobet
worden, daß die Prinzessin von Tolnedra die Gemahlin des Königs von Riva wird, welcher der Retter der Welt sein wird. Das ist der Wille ULS und Aldurs und Belars und auch aller anderen Götter. Und kein Mensch soll die Stimmen der Götter leugnen, damit die Götter in ihrem Zorn sich nicht erheben und ihn und all sein Volk vernichten.« Und Mergon, der Gesandte des Kaiserlichen Tolnedra, ward von großer Sorge erfüllt, und er erhob sich und ergriff das Wort und sprach: »Aber alle Welt weiß doch, daß die Halle des rivanischen Königs leer und verlassen steht. Kein König sitzt auf dem rivanischen Thron. Wie sollte eine Prinzessin des Kaiserlichen Tolnedra einem angetraut werden, den es nicht gibt?« Und da ergriff die Frau das Wort, die immer an der Seite des Altehrwürdigen weilte, der Brand beriet, und sprach: »Von diesem Tage an soll jede Prinzessin des Kaiserlichen Tolnedra sich an ihrem sechzehnten Geburtstag in der Halle des rivanischen Königs einfinden. In ihr Hochzeitsgewand soll sie gekleidet sein, und drei Tage soll sie daselbst des Königs Ankunft erwarten. Und wenn er nicht kommt, um sie zur Frau zu nehmen, soll sie frei sein zu gehen, wohin ihr Vater, der Kaiser, ihr zu gehen befiehlt, denn sie wird nicht die Begünstigte sein.«
Und Mergon entgegnete und sprach: »Ganz Tolnedra wird sich gegen eine solche Demütigung erheben. Es kann nicht sein.« Und die Frau antwortete ihm und sprach: »An dem Tag, an dem Tolnedra dies unterläßt, wird sich der ganze Westen gegen Tolnedra erheben, und wir werden die Söhne Nedras in alle Winde zerstreuen und die Städte niederreißen und eure Felder und Dörfer verwüsten. Und das Volk von Nedra wird sein wie das Volk von Mara, das nicht mehr ist. Und wie Mara wird Nedra allein in der Wildnis darüber weinen, daß sein Volk nicht mehr ist.« Und die Könige Aloriens erhoben sich, und Eldrig ergriff das Wort und sprach: »Darauf verpflichte ich Cherek.« Und Cho-Ram sprach: »Darauf verpflichte ich Algarien.« Und Rhodar sprach: »Darauf verpflichte ich Drasnien.« Und Ormik sprach: »Darauf verpflichte ich Sendarien.« Und der Gorim ergriff das Wort und sprach: »Darauf verpflichte ich Ulgo. Erklärt Eurem Kaiser, an dem Tag, da Tolnedra sich dieser Pflicht entzieht, wird es untergehen.« Und da ergriff Podiss, Gesandter von Nyissa, das Wort und sprach: »Und was ist mit meiner Königin? Welche Stimme habt Ihr der Ewigen Salmissra in Eurer Weltordnung zugedacht?« Da erhob sich die Frau und schlug ihren Umhang zurück. Königlich war ihr Gebaren, und ihre Braue war wie mit Rauhreif bedeckt, und sie hob beide Hände, und sehet, da fiel die Kleidung des Podiss in sich zusammen, als sei der Mann in ihnen geschmolzen wie Schnee unter der Sonne. Und aus ihnen kam eine Schlange zum Vorschein. Und die Gestalt der Frau trübte sich und verschwamm, und aus dem Nebel, der sie umgab, kam eine große Schnee-Eule, und sie ergriff die Schlange mit ihren Klauen und trug sie hoch empor in die Lüfte. *
*
Das wurde umgeschrieben.
Und nach kurzer Zeit kehrte sie zurück, und die Frau nahm wieder ihre gewohnte Gestalt an, und Podiss ebenfalls. Und er zitterte, und aschfahl war sein Antlitz. Und die Frau erhob die Stimme und sprach: »Berichte der Schlangenfrau in Sthiss Tor, was dir widerfahren ist. Erzähl ihr, wie leicht es für die Eule ist, die Schlange zu töten. Und vergiß es nur ja nicht, sonst bringe ich dich zur Strecke und trage dich wieder in die Lüfte empor und lasse dich auf die Erde tief unten fallen. An dem Tag, da die Ewige Salmissra ein zweites Mal ihre Hand gegen den König von Riva erhebt, an diesem Tag werde ich meine Klauen in ihr Herz schlagen und sie ein für allemal vernichten.« Und die Könige und Abgesandten staunten ob der Magie, deren Zeuge sie geworden waren, und betrachteten die Frau mit Furcht und Verwunderung, wußten sie doch, daß die Frau eine Zauberin war. Und da ergriff der Gorim von Ulgo das Wort und sprach: »Dies also ist die Übereinkunft, die hier auf dem Schlachtfeld von Vo Mimbre erreicht wurde: Die Nationen des Westens werden sich auf die Wiederkehr des rivanischen Königs vorbereiten, denn am Tage seiner Wiederkehr wird Torak erwachen und über uns kommen, und niemand als der rivanische König vermag ihn zu überwinden und uns vor der Versklavung durch den Verderbten zu retten. Und was der rivanische König auch befehlen mag, werden wir tun. Und wir alle hier schwören dem König, der wiederkehren wird, den Treueid. Und er wird eine Kaiserliche Prinzessin von Tolnedra zur Gemahlin haben und Reich und Oberhoheit im Westen. Und wer immer diese Übereinkunft bricht, den werden wir mit Krieg überziehen und sein Volk zerstreuen und seine Städte niederreißen und seine Länder verwüsten. Das geloben wir hier zu Ehren von Brand, der Torak besiegt und in Schlaf versenkt und gebunden hat, bis der Eine kommt, der ihn endgültig vernichten wird. So sei es.« Und es ward besiegelt, wie der Gorim es gesagt hatte, und alle erteilten ihre Zustimmung und banden sich durch einen Eid.
Und zu gebotener Stunde bereiteten die Armeen des Westens sich auf ihren Abzug vor, um zurückzukehren, eine jede in ihr Königreich. Und bevor er abrückte, ließ Brand den Prinzen von Mimbre und die Herzogin von Asturien vor sich bringen, und so geschah es. Und Brand fragte und sprach: »Es ist mein Wille, euch vor meinem Weggang verheiratet zu sehen. Was habt ihr zu sagen?« Und Korodullin von Vo Mimbre antwortete und sprach: »Ich bin es zufrieden, denn meine schöne Mitgefangene hier hat mein Herz erobert, und keine andere werde ich heiraten als sie.« »Und was ist mit Euch?« verlangte Brand von Mayaserana, Herzogin von Asturien, zu wissen. »Wollt Ihr noch immer Fluß oder Seil, Messer oder Speer suchen, um Euch zu entleiben, auf daß Ihr der Heirat entgeht?« Und sie antwortete und sprach: »Vergebt mir die Torheit meiner kindischen Rede, großer Brand. Ich bin nun eine Frau, und mit Freuden will ich den edlen Korodullin zum Gemahl nehmen, auf daß die Wunden des Edlen Arendien geheilt werden. Und wahrhaftig, ich würde ihn auch heiraten, wenn Arendien gar keine Wunden hätte.« Und Brand lächelte und befahl, daß eine große Hochzeit vorbereitet werde, und das Volk von Arendien jubelte über die Heirat von Korodullin und Mayaserana. Und ein letztes Mal, bevor er nach Riva zurückkehrte, wandte Brand sich an die Könige und Edlen und sprach: »Sehet, hier ist viel geschehen, das gut ist. Das unermeßliche Mallorea und das mörderische Angarak sind besiegt worden, und der Böse Torak ist bezwungen. Sein dunkler Schatten fällt nicht mehr über die Welt. Der Bund, den wir hier besiegelt haben, bereitet den Westen auf jenen Tag vor, da der rivanische König zurückkehrt und Torak aus seinem langen Schlaf erwacht, mit ihm um Herrschaft und Oberhoheit zu kämpfen. Alles, was in diesem Zeitalter getan
werden kann, den Westen für diesen größten und letzten Krieg zu wappnen, ist getan. Und hier sind die Wunden Arendiens geheilt worden mittels der Heirat von Korodullin und Mayaserana, und der Zwist, der nahezu zweitausend Jahre die lieblichen Äcker und Wälder des Edlen Arendien mit Blut besudelt hat, ist beendet. Ich bin zufrieden mit alledem. Heil euch und lebet wohl!« Und er verließ sie und ritt gen Norden, den Betagten und die königliche Frau wie stets an seiner Seite. Und sie bestiegen ein Schiff in Camaar in Sendarien und setzten die Segel für Riva und kehrten nie mehr in den Westen zurück.
Geschrieben zu Tol Honeth NACHBEMERKUNG Mir ist es zugefallen, dieses Wirrwarr aus Dokumenten, antiken und modernen, in eine Ordnung zu bringen, wie immer diese auch aussehen mag. Es ist eine Aufgabe, der ich mich niemals freiwillig unterzogen hätte. Die Dokumente besitzen größtenteils keine überprüfbare Authentizität, und kein Gelehrter möchte seinen Namen mit solch fragwürdigem Material in Verbindung gebracht wissen. Zudem ist klar ersichtlich, daß viele, möglicherweise sämtliche in Frage kommenden Manuskripte aus der einen oder anderen Quelle stibitzt worden sind, und ich persönlich finde es widerwärtig, mich mit Materialien abgeben zu müssen, die auf diese Weise beschafft wurden. Unglücklicherweise bin ich in meiner Eigenschaft als Lehrer des Kaiserlichen Haushalts der Kaiserlichen Laune ausgeliefert. So kam es, daß ich keine Wahl hatte, als ihre Hoheit Ce’Nedra, Kaiserliche Prinzessin von Tolnedra und nun (leider) Königin von Riva, mich mit dieser Aufgabe betraute; ich mußte mich mit möglichst guter Miene einverstanden erklären. Es ist eine armselige Belohnung für die Hilfe und Unterstützung, die ich ihr auf dieser abscheulichen Reise vor zehn Jahren gewährt habe. Treu ihrer Natur – und, wie ich hinzufügen darf, der Natur aller Boruner – hat Prinzessin Ce’Nedra es vorgezogen, eine der altehrwürdigsten Traditionen der Gelehrtengemeinschaft zu brechen. Es ist Brauch, wenn ich mir die Kühnheit gestatten darf, Ihre Majestät darauf hinzuweisen, daß ein Kaiserlicher Hauslehrer nach Beendigung seines Dienstes am Zögling auf einen der angesehensten Lehrstühle der Kaiserlichen Universität berufen wird. Aus diesem Grunde – und allein aus diesem Grunde – habe ich anfangs meine Stelle im Palast angetreten. Ich versichere ihr, daß meine treue Erfüllung der nahezu
unmöglichen Aufgabe, einer eigensinnigen, überheblichen, verzogenen und verwöhnten Schülerin zumindest einen Anschein von Bildung einzutrichtern, keinen anderen Beweggrund hatte. Meine Feinde freuen sich nun zweifellos voller Häme über das Schicksal, das meine Offenheit an diesem Ort unabweislich über mich bringen wird. Um sie unverzüglich auch dieser kleinen Freude zu berauben, möchte ich hiermit klarstellen, daß es meine unumstößliche Absicht ist, nach Beendigung dieser hassenswerten Aufgabe in das Kloster von Mar Terin einzutreten und meine letzten Jahre in Frieden und Stille zu verbringen, während nichts als das Kreischen des Geistes von Mara und die Klagerufe der maragischen Gespenster meinen Schlummer stören. An diesem heiligen Ort, außerhalb der Reichweite Kaiserlicher Belohnung oder Strafe, werde ich als letzter und am herzlichsten über das Unbehagen lachen können, das meine Worte hier denjenigen bereiten werden, die mich so grausam betrogen haben. Es ist gewiß angemessen, daß ein tüchtiger Gelehrter jene bemerkenswerten Ereignisse festhält, die sich vor zehn Jahren zugetragen haben, doch die vorliegende Ansammlung von leerem Gerede ist ganz gewiß nicht diese notwendige Abhandlung. Sobald ich mich im Heiligtum von Mar Terin in Sicherheit befinde, werde ich diese Abhandlung in Angriff nehmen. Mögen die Mächtigen zittern! Es ist meine Absicht, jene Ereignisse genau so wiederzugeben, wie sie sich abgespielt haben. Ich beuge nicht das Knie vor irgendeinem hochtönenden, leeren Konzept borunischer Würde, noch erbebe ich vor Ehrfurcht bei der Erwähnung des rivanischen Königs. Ich weiß, daß Ran Borune XXIII. ein törichter Tattergreis ist, der angemessene Höhepunkt der dritten (und hoffentlich letzten) Borunischen Dynastie. Ich weiß, daß Ce’Nedra ein ungezogenes Balg ist. Ich weiß, daß Garion (oder Belgarion, wie er sich jetzt gerne nennen läßt) nur ein Küchenjunge ist, der durch Zufall auf den Thron in Riva gekommen ist. Ich weiß, daß Belgarath ein Scharlatan oder ein Wahnsinniger oder Schlimmeres ist. Und ich
weiß, daß Polgara, diese unmögliche Frau, nicht besser ist, als man es erwarten darf. Doch nun zu den fraglichen Dokumenten. Als mir dieses Ungetüm von Barak diesen Wust chaotischen Materials übergab, lachte ich nur, denn was anderes als eine Fälschung hätte es sein können? Das großsprecherische, sich selbst beweihräuchernde Vorwort von Belgarath zeigt auf den ersten Blick, wie ernst man die ganze Angelegenheit nehmen sollte. Wenn wir diesem absurden Zeugnis glauben wollten, wäre Belgarath über siebentausend Jahre alt, pflegte regelmäßigen Umgang mit Göttern, redete mit Tieren und vollbrächte mit einem Fingerschnipsen Wunder. Ich kann nur staunen, daß selbst die schwach ausgeprägte Intelligenz meiner einstigen Schülerin eine so verstiegene Geschichte glauben konnte; denn wenn sie auch die typische borunische Starrköpfigkeit besitzt, so ist ihr während ihrer prägenden Jahre doch auch der unschätzbare Vorzug meiner Unterweisung zuteil geworden. Die nächste Sammlung in diesem Wirrwarr von Dokumenten besteht aus einer Reihe von Auszügen aus heiligen Schriften der unterschiedlichsten Völker der bekannten Welt. Die Manuskripte (allesamt gestohlen, dessen bin ich gewiß) lassen sich kaum verifizieren. Die Sprüche Nedras beispielsweise stammen von der Liste, welche die Priester im Großen Tempel von Tol Honeth abgesegnet haben. Die Klage Maras, die hier wiedergegeben wird, unterscheidet sich nur unwesentlich von einer Abschrift in meiner eigenen Bibliothek. Das Buch von Alorn paßt zu Wesen und Geist dieser barbarischen Rasse. Das Buch von Torak jedoch ist eine Übersetzung aus dem Alt-Angarakanischen (eine Sprache, mit der ich nicht vertraut bin) und unterliegt somit all den beklagenswerten Irrtümern, die Übersetzungen gemeinhin auszeichnen. Und das sogenannte Buch Ulgo ist schierer Unsinn. Ich war schon immer ein Anhänger der Meinung, daß die Ulgos lediglich eine Rasse fanatischer Ketzer sind, die man schon vor Jahrhunderten mit Feuer und Schwert zu einer anständigen Religion hätte bekehren müssen.
Derjenige Teil, der sich mit der Geschichte der zwölf Königreiche des Westens befaßt, ist hingegen ein solides und achtenswertes Stück Arbeit – und so sollte es auch sein. Das Dokument wurde aus der Kaiserlichen Bibliothek in Tol Honeth gestohlen (und trägt noch deren Siegel). Mein einziges Problem mit dem Manuskript ergibt sich daraus, daß es sich um die offizielle Version handelt, gespickt mit all jener speichelleckerischen Schmeichelei über das Haus Borune, auf die die jetzige Dynastie so sehr erpicht ist. Der letzte Abschnitt, die arendische Märchengeschichte über die Schlacht von Vo Mimbre, bildet den passenden Abschluß des ganzen Werkes, da es von Anfang bis Ende völliger Unsinn ist. Und nun ist mein Werk vollendet. Ich wünsche Ihrer Kaiserlichen Hoheit all die Freude damit, die sie so ganz und gar verdient. Einen einzigen Wunsch habe ich noch, bevor ich nach Mar Terin abreise. Aus tiefstem Herzen bete ich zum Großen Nedra, daß die borunische Dynastie, die das Reich so heruntergewirtschaftet hat, von den Honethitern ersetzt werden möge – eine Familie mit dem richtigen Sinn für die Tradition, eine Familie, die diejenigen, welche ihr treu gedient haben, gebührend zu belohnen weiß. Und nun, Lebewohl.
MEISTER JEEBERS Mitglied der Kaiserlichen Gesellschaft Privatlehrer des Kaiserlichen Haushalts
Gegeben und besiegelt zu Tol Honeth im Jahre 5378.
KURZER EINWURF Sind Sie noch da? Erstaunlich! Wenn Sie die ›Belgariad‹ gelesen haben, sehen Sie jetzt bestimmt, woher das meiste davon stammt. (Wenn Sie die ›Belgariad‹ nicht gelesen haben, warum lesen Sie dann das hier?) Die Vorstudien, die Sie bis hierher so tapfer ertragen haben, haben uns unsere Geschichte geliefert. Unsere Charakterskizzen haben uns unsere Figuren geliefert. Die Gespräche sind aus dem vorliegenden Werk erwachsen. Ich bin sicher, Ihnen ist ein gewisses Maß an Gezänk unter den Truppen nicht entgangen. Großherzige und edle Kameradschaft klingt phantastisch, aber sowohl meine Frau als auch ich sind beim Militär gewesen und wissen, wie unrealistisch eine solche Vorstellung ist. Ein Teil unserer Absicht bestand darin, epische Fantasy mit einem starken realistischen Überzug zu schreiben. Die Unmittelbarkeit – dieses Gefühl, die Charaktere wirklich zu kennen, das viele Leser erfahren haben – entsteht durch Realismus in Dialog und Detail. An einem Großteil davon dürfen wir meiner Frau die Schuld geben. Ich war immer mit meinem ›großen Bogen‹ zugange; sie aber brachte mich unerbittlich auf den Boden der Tatsachen zurück mit Bemerkungen wie: ›Es ist so Schwarz-Weiß. Da muß Farbe rein.‹ Oder: ›Die haben seit drei Tagen nichts mehr gegessen‹. Oder: ›Glaubst du nicht, es ist Zeit, daß die Leute mal wieder ein Bad nehmen?‹ Hier stehe ich nun und versuche die Welt zu retten, und ›Polgara‹ nervt mich mit ihrem Bad! Frauen! (Kommt Ihnen das bekannt vor?) Häufig rannte ich auch gegen die Mauer namens: ›Eine Frau sagt so etwas nicht. Das ist ein typisch männlicher Ausdruck. Frauen würden ihn nie benutzen.‹ Ich grummelte dann immer ein bißchen, bevor ich nachgab und es auf ihre Art machte. Meine persönliche Schreibstrategie ist: ›Zieh es durch und bring die Geschichte zu Ende, und dann geh noch einmal an den Anfang zurück und bereinige und glätte sie.‹ Sie will es von
Anfang an richtig gemacht sehen, und ich habe gelernt, mich nicht mit der Dame anzulegen, die für die Küche verantwortlich ist – es sei denn, ich hätte an dem Tag gerade Lust auf gekochtes Hundefutter. Nun wollen wir all den Kritikern antworten, die stolz verkünden, unsere Bücher seien ein einziges Derivat. Aber was ist schon neu? Chaucer hat Derivate verfaßt. Shakespeare nicht minder. Der literarische Wert einer Geschichte besteht in der Art ihrer Darbietung. Man kann, wenn man möchte, jede Fabel bis zur Absurdität reduzieren. Es gibt eine – wahrscheinlich apokryphe – Anekdote, die uns von einem frühen Filmproduzenten berichtet, der sämtliche Filmplots auf ›Aschenputtel‹ oder ›Goldlöckchen‹ reduzierte. ›Goldlöckchen‹ pflegte er zu kaufen, ›Aschenputtel‹ hingegen nicht. Zurück zur Arbeit. Wir hatten die ›Belgariad‹ abgeschlossen und waren nun bereit, die ›Malloreon-Saga‹ in Angriff zu nehmen. Das meiste von dem, was wir benötigten, war bereits vorhanden. Wir hatten unsere Hauptcharaktere, unser magisches Brimborium und unsere Kulturen der westlichen Königreiche. Jetzt brauchten wir einen neuen ›Bösewicht‹ (oder ein böses Mädchen) und eine neue Queste. (Ich hatte allmählich genug Heranwachsende gehabt und wollte einmal sehen, ob Garion und Ce’Nedra auch als Erwachsene funktionieren würden.) Ach, übrigens, falls irgend jemand da draußen die beiden ›Teenager‹ nennen sollte, verwandle ich ihn auf der Stelle in eine Kröte. ›Teenager‹ ist eine linguistische Verirrung, die sich Werbeagenturen und Sozialarbeiter ausgedacht haben, um eine unangenehme Wahrheit zu vertuschen. Der richtige Begriff ist ›Heranwachsender‹, und das einzig Gute daran ist, daß jeder darüber hinwegkommt – irgendwann einmal. (Na ja, die meisten jedenfalls.) In unserer neuen Landkarte haben wir die Geographie ausgeweitet, und dann war es an der Zeit, das Unrecht wiedergutzumachen, das wir den Angarakanern angetan hatten. Die Tatsache, daß Deutschland Hitler hervorgebracht hat, ändert nichts daran, daß es auch Kant, Goethe, Beethoven und Niebuhr
hervorbrachte. Keine Rasse, keine Nation hat ein Monopol auf das Gute oder das Schlechte. Perfektion im einen oder anderen Extrem gibt es in der realen Welt nun einmal nicht, und in unserer Welt gibt es so etwas auch nicht. Irgendwann vereinfachte Belgarath die ganze Angelegenheit auf unzulässige Weise, indem er die Theologie ganz über Bord warf und die gegnerischen Parteien mit ›die da‹ und ›wir‹ identifizierte. Deutlicher kann man nicht werden. Wir vermenschlichten die Angarakaner, indem wir Zakath vermenschlichten und die Bedeutung von Eriond stärker herausarbeiteten. Das Christus-Ähnliche an Eriond haben wir ganz bewußt eingesetzt. Torak war ein Fehler. Eriond war die ursprüngliche ›Absicht des Universums‹. (Tiefschürfend, hm?) Die ermüdende ›Geschichte der Angarakanischen Königreiche‹ wurde den Gelehrten der Universität von Melcene übergeben, die genauso verbohrt und verknöchert sind wie ihre Kollegen an der Universität von Tol Honeth. Es hatte in der ›Belgariad‹ für uns funktioniert, also würde es wahrscheinlich auch in der ›MalloreonSaga‹ funktionieren (wenn es nicht kaputtgegangen ist, repariere es nicht), und es funktionierte. Dann setzten wir ›Die Malloreanischen Evangelarien‹ an die Stelle von ›Die Heiligen Bücher‹ in den Vorstudien zur ›Belgariad‹. Die Zielsetzung war dieselbe. Unsere Grundthese lautet, daß es zwei nebeneinander existierende Welten gibt – die gewöhnliche irdische Welt und die theologisch-magische Welt. Wenn sie sich überlappen, bricht die Hölle los, und Sie haben eine Geschichte. Sie stecken bis zum Hals in einer Story. Wollten Sie das zwanzigste Jahrhundert zusammenfassen? Versuchen Sie das zum Anfang. Um unsere ›Geschichte‹ zu bekommen, mußten wir Manichäer werden und behaupten, Gut und Böse seien gleichmäßig verteilt. Wenn Gott allmächtig ist, warum machen wir uns dann solche Sorgen um den Teufel? Wenn die mittelalterliche Kirche den Manichäismus zur Ketzerei erklärte, hat sie sich um diese spezifische
Frage herumgewunden, sie aber nie erklärt. Ich maße mir das auch nicht an. Desgleichen haben wir eine Prise Existentialismus hinzugefügt, indem wir die stellvertretend für die Menschheit agierende Cyradis zwangen, die endgültige Entscheidung zwischen Gut und Böse zu treffen. Das ergibt eine gute Geschichte, sollte aber vermutlich nicht als Grundlage für eine persönliche Glaubenslehre genommen werden, da es Ihnen eine Menge Ärger bereiten könnte. Wenn nicht der Papst auf ihren Fall aufmerksam wird, dann vermutlich der Erzbischof von Canterbury. Die Vorarbeiten zur ›Malloreon-Saga‹ schließen mit König Anhegs persönlichem Tagebuch, das in groben Umrissen dem Buch Eins der ›Malloreon-Saga‹ folgte. Es liefert uns eine komprimierte Chronologie, und das ist immer nützlich. Wie bei den Vorstudien zur ›Belgariad‹ weisen auch die zur ›Malloreon-Saga‹ ziemlich viele Sackgassen auf, die wir im Verlauf der Niederschrift dann verwarfen. Eine der Gefahren der epischen Fantasy liegt in ihrem Hang zum Abschweifen. Wir haben hier das geschwätzigste aller möglichen Literaturgenres, aber es erfordert eiserne Disziplin. Der Autor muß sich unbedingt an den roten Faden der Handlung halten und darf nur dann abschweifen, wenn eine Idee oder eine Figur das Gesamtwerk verbessert. Ich kann das nicht beweisen, aber ich habe von einem mittelalterlichen Roman gehört, der fünfundzwanzigtausend Seiten lang war!! Das ist eine komplette Bibliothek. Ich nehme an, wenn man einem zeitgenössischen Fantasy-Autor die Zügel schießen ließe, würde er den Versuch wagen, nur um ins ›Guinness-Buch der Rekorde‹ zu kommen. In Ordnung, machen Sie tapfer weiter. Wir sprechen uns später.
4 VORBEREITENDE STUDIEN FÜR DIE MALLOREON-SAGA
EINE KURZE GESCHICHTE DER ANGARAKANISCHEN KÖNIGREICHE angefertigt von der Historischen Fakultät der Universität von Melcene Der – nicht immer verläßlichen – Überlieferung zufolge lag die Heimat der Angarakaner in den südlichen Breiten vor der Südküste des heutigen Dalasien. In dieser prähistorischen Zeit, als Angarak und Alorien in Frieden lebten, bewohnten die begünstigten Rassen der Menschheit die angrenzenden Gebiete eines reizenden, fruchtbaren Beckens, das durch das kataklysmische Ereignis, welches als die ›Spaltung der Welt‹ bekannt ist, für immer überflutet wurde. Es ist indes weder Sinn noch Aufgabe des vorliegenden Werkes, sich näher über die theologischen Implikationen dieses Ereignisses auszulassen, sondern vielmehr, den Verlauf der angarakanischen Geschichte in den darauffolgenden Jahrhunderten zu untersuchen.
Bei der sogenannten ›Spaltung der Welt‹ scheint es sich in der Tat um einen Riß in der Kruste des urzeitlichen Protokontinents gehandelt zu haben, und seine Auswirkungen waren augenblicklich katastrophal. Das plasmische Magma, auf dem die große Landmasse trieb, begann sich sofort in den gewaltigen Riß emporzupressen und die nun getrennten Kontinentalplatten mit Urgewalt auseinanderzudrücken. Als die Wassermassen des südlichen Ozeans in die daraus entstehende Lücke strömten und das hochsteigende Magma überfluteten, zerriß eine fortgesetzte Reihe heftigster Explosionen den gewaltigen Spalt vom einen Ende zum anderen, wodurch die Platten noch weiter auseinandergedrückt wurden. Ein fürchterliches Erdbeben, das bald den gesamten Globus umfaßte, wälzte sich über die Erde. * Ganze Gebirgsketten zerbröckelten buchstäblich zu Schotter, und riesenhafte Flutwellen rasten über die Ozeane der Welt und veränderten für alle Zeiten die Küstenverläufe auf der anderen Seite des Globus. Das Meer des Ostens dehnte sich mit jedem Tag weiter aus, den die elementaren Gewalten auf seinem Grund die beiden Kontinentalplatten in die Höhe stemmten und *
Das ist wahrscheinlich eine geologische Unmöglichkeit. Vulkane brechen unter den Ozeanen dieser Welt aus, ohne daß das thermonukleare Detonationen bewirken würde.
immer weiter auseinanderdrängten. Die explosive Trennung der Kontinente scheint Jahrzehnte angedauert zu haben, bis die entfesselten Urgewalten sich allmählich beruhigten und die beiden großen Landmassen mehr oder weniger in ihrer heutigen Lage stabilisierten. Die Welt, die aus dieser Katastrophe entstand, hatte kaum mehr etwas gemein mit jener Welt, die vordem existiert hatte. Während dieser gewaltigen Umwälzung zogen die Angarakaner sich vor der gefräßigen See nach Nordosten zurück, und schließlich suchten sie Zuflucht und Sicherheit in den höhergelegenen Gebieten der dalasischen Berge im Westen Zentralmalloreas. Nachdem die Bewegung der Kontinentalplatten jedoch zum Stillstand gekommen war, erschienen die dalasischen Berge den Angarakanern als ein zu unwirtlicher Ort für eine ständige Besiedlung; das neuentstandene Meer des Ostens sorgte für unbeständiges Wetter. So wanderten die Angarakaner nordwärts in jene Regionen, die heute Alt-Mallorea genannt werden. ANMERKUNG
Die Erwähnung dieses Gebiets führt möglicherweise zu Unklarheiten. Das moderne Mallorea umfaßt den gesamten Kontinent, wohingegen Alt-Mallorea auf den nordwestlichen Teil der Landmasse beschränkt war und im Süden an Dalasien sowie im Osten an Karanda grenzte. Es gehört zur Zielsetzung dieser Abhandlung, die Expansion der Angarakaner nachzuvollziehen, die letztendlich zu ihrer Herrschaft über ganz Mallorea führte.
Während der unruhigen Zeiten, welche die Wanderung begleiteten, machte sich die Gegenwart Toraks, des Drachengottes von Angarak, kaum bemerkbar. Obwohl er ehemals jede Facette des angarakanischen Lebens bestimmt hatte, bereitete ihm die
Verstümmelung, welche CTHRAG-YASKA ihm zugefügt hatte (den die Menschen im Westen den Orb oder das Auge Aldurs nennen), so großes Leid, daß er seine traditionelle Funktion als ›Kal‹, König und Gott, nicht mehr wahrnehmen konnte. Die Grolim-Priesterschaft, entmutigt durch die plötzliche Schwäche Toraks, war nicht in der Lage, das entstandene Vakuum zu füllen, und so fiel die Macht in Ermangelung einer Alternative in die Hände von Militärbefehlshabern. So kam es, daß die heranwachsende Nation des angarakanischen Volkes vom Militärhauptquartier in Mal Zeth aus regiert wurde. Als die Grolims sich wieder von ihrem Schock erholten, mußten sie feststellen, daß das Militär praktisch die Herrschaft über sämtliche Angarakaner an sich gerissen hatte. Die Grolims schüttelten ihre Lähmung ab und errichteten in Mal Yaska an der Südspitze der karandesischen Berge ein konkurrierendes Machtzentrum. Wären die Dinge so geblieben, wäre es unzweifelhaft zu einer Konfrontation zwischen Militär und Priesterschaft gekommen, die Angarak aller Wahrscheinlichkeit nach in den blutigen Wirren eines Bürgerkriegs vernichtet hätte.
Zu diesem Zeitpunkt jedoch raffte Torak sich auf, seine Autorität in ausreichendem Maße wiederherzustellen. In der Zeitspanne seiner Krankheit (vielleicht etwa ein Jahrhundert) war das Militär zum beherrschenden Teil der angarakanischen Gesellschaft geworden, und zum großen Verdruß der Grolim-Priesterschaft unternahm der
erwachende Gott keinen Versuch, ihre absolute Vorherrschaft wiederherzustellen. Doch anstatt sich entweder in Mal Zeth oder der kirchlichen Hauptstadt Mal Yaska niederzulassen, zog Torak nach Nordwesten, um die heilige Stadt von Cthol Mishrak am nördlichen Rand des Camat-Distrikts zu errichten. An diesem Punkt sollte darauf hingewiesen werden, daß die religiösen Schriften dieser Periode nicht die ganze Geschichte wiedergeben. Im ›Buch Torak‹ wird behauptet, daß der Drachengott nach seiner Entstellung durch Cthrag-Yaska sein Volk nach Cthol Murgos brachte und eine Stadt bauen ließ. Die Schriften bleiben bezüglich des hundertjährigen Intervalls vage, in dessen Verlauf die Angarakaner sich über den nordwestlichen Quadranten Malloreas ausbreiteten, und implizieren, daß diejenigen, die dem entstellten Gott folgten, ganz Angarak gewesen seien. Weltliche Dokumente aus dieser Zeit enthüllen jedoch, daß kaum ein Viertel des angarakanischen Volkes Torak damals nach Cthol Mishrak folgte. Das Militär schützte die Notwendigkeit vor, den Rest der Nation zu verteidigen und zu regieren, und blieb in Mal Zeth; nicht anders die Grolim-Hierarchie, die unter dem gleichermaßen plausiblen Vorwand, die geistigen Bedürfnisse einer wachsenden und weit verstreuten Bevölkerung befriedigen zu müssen, weiterhin in Mal Yaska blieb, von wo sie eifersüchtig die kirchlichen Interessen gegen militärische Übergriffe verteidigte. Torak, der fast vollständig in seinen Versuchen aufging, die Kontrolle über den Orb zu gewinnen, schien gleichgültig gegenüber der Tatsache, daß die Mehrheit der angarakanischen Völker verweltlichte. Diejenigen, die ihm nach Cthol Mishrak folgten, rekrutierten sich im großen und ganzen aus den oftmals hysterischen, aus religiösen Fanatikern bestehenden Randgruppen, die man in jeder Gesellschaft findet. Da Toraks Aufmerksamkeit nahezu vollständig vom Orb beansprucht wurde, fiel die Verwaltung des alltäglichen Lebens in Cthol Mishrak seinen drei Jüngern zu, Ctuchik, Urvon und später Zedar. Dieses Dreigestirn bewahrte mit dem Eifer, der Jünger für gewöhnlich auszeichnet,
streng die älteren Sitten und Gebräuche, wodurch sie die Gesellschaft in Cthol Mishrak in der gewissermaßen pastoralen Form einfroren, welche die angarakanische Kultur vor der Völkerwanderung nach Mallorea aufgewiesen hatte. Infolgedessen veränderte sich der Rest Angaraks als Reaktion auf den Druck von außen und ihre neue Umgebung, während die Gesellschaft in Cthol Mishrak und den umliegenden Gebieten statisch blieb. Es war just diese Diskrepanz, die am Ende zu der Spaltung führte, die Cthol Murgos und das moderne Mallorea voneinander trennt. Die erzürnte Grolim-Hierarchie in Mal Yaska faßte dies als Usurpation der Militärs auf und begann bestimmte Schritte zu unternehmen, die Mallorea erneut an den Rand eines Bürgerkriegs brachten. Wenn ihre Kampagne auch sorgfältig auf das Theologische beschränkt blieb, so zielte sie doch ganz offenbar auf die militärische Befehlskette. Die Praxis des Menschenopfers war während der anhaltenden Krankheit des Drachengottes mehr oder weniger außer Gebrauch gekommen, doch nun wurde sie mit ungewöhnlicher Inbrunst wieder aufgenommen. Indem die Grolims sorgfältig die Losziehung für die Opfer manipulierten, begannen sie systematisch die unteren Ränge des Offizierkorps zu vernichten. Die Situation wurde für die militärischen Befehlshaber in Mal Zeth rasch unerträglich, und sie schlugen zurück, indem sie jedem Grolim, der das Pech hatte, ihnen in die Hände zu fallen, auf betrügerische Weise wegen angeblicher Verbrechen anklagten. Trotz des Protestgeheuls aus Mal Yaska, wo die Hierarchie hartnäckig an der Auffassung festhielt, die Priesterschaft sei von jeglicher staatlichen Verfolgung ausgenommen, wurden all diese ›Verbrecher‹ systematisch hingerichtet. Schließlich gelangte die Nachricht von diesem heimlichen Krieg zu Torak, und der Gott der Angarakaner unternahm sofortige Schritte, das drohende Blutvergießen zu verhindern. Er befahl das militärische Oberkommando und die Grolim-Hierarchie nach Cthol Mishrak und verkündete den feindlichen Gruppen mit scharfen
Worten seine Befehle. Es würde keine weiteren Opfer militärischer Offiziere und keine weiteren Hinrichtungen von Grolims mehr geben. Mit Ausnahme der Enklaven Mal Yaska und Mal Zeth sollten alle Städte und Dörfer Alt-Malloreas gemeinsam von Militär und Priesterschaft regiert werden, wobei das Militär für zivile Belange und die Priesterschaft für religiöse Angelegenheiten zuständig wäre. Er versprach ihnen zudem, falls es zu einer Wiederaufnahme ihres heimlichen Krieges käme, würde er auf der Stelle die Evakuierung des ganzen restlichen Malloreas verfügen und allen Angarakanern befehlen, unverzüglich nach Cthol Mishrak umzusiedeln und dort unter der direkten Aufsicht seiner Jünger zu leben. Rückblickend liegt es auf der Hand, daß Torak bereits Pläne für die Zukunft hatte, die sowohl ein starkes Militär als auch eine schlagkräftige, gut organisierte Kirche erforderten. In diesem Augenblick waren es jedoch nur seine Drohung und die kalten Blicke der gefürchteten Jünger, die Militärs und kirchliche Würdenträger wieder zur Ordnung riefen. Offiziere und Priesterschaft schauderten angesichts der Aussicht, ihr Leben unter der Oberhoheit von Toraks Jüngern in dem widerwärtigen Becken verbringen zu müssen, welches die Stadt der Nacht umgab, und so schlossen sie Frieden miteinander. Die Angelegenheit endete, indem sie in ihre jeweiligen Enklaven zurückkehrten, wo sie wenigstens in einer Art Semi-Autonomie existieren konnten, und nicht unter Toraks unmittelbarer Überwachung. Dieser erzwungene Waffenstillstand hielt den Befehlshabern der Armee den Rücken frei, so daß sie sich anderen Dingen zuwenden konnten. Unmittelbar nachdem die angarakanische Wanderbewegung den Kontinent erreicht hatte, hatte sich herauskristallisiert, daß es andere Bewohner von Mallorea gab. Die Ursprünge dieses Volkes verlieren sich in den Nebeln der Vorgeschichte, und schriftliche Hinweise auf sie sind notorisch ungenau. Die traditionelle Ansicht, daß die Götter sich je ein Volk
erwählten und daß die Unerwählten – oder Gottlosen – dann vertrieben wurden, muß im Lichte moderner Erkenntnis mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden. Wie immer ihre Ursprünge aussehen mögen, drei eigenständige und ziemlich unterschiedliche Völker bewohnten vor der Ankunft der Angarakaner den malloreanischen Kontinent; im Südwesten die Dalaser, im Norden die Karandeser und im Osten die Melcener. Nachdem Toraks Einschreiten eine gewisse innere Stabilität in der malloreanischen Gesellschaft hergestellt hatte – etwa neunhundert Jahre nach der angarakanischen Völkerwanderung –, sah das Militär in Mal Zeth sich gezwungen, Karanda seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die Karandeser waren kein völlig geeintes Volk, sondern lebten vielmehr in einer lockeren Konföderation von sieben Königreichen, die sich quer über die Nordhälfte des Kontinents erstreckten, von den karandesischen Bergen bis zu dem Meer, das jenseits des Gebirges von Zamad liegt. * Es gibt gewisse Beweise, daß die ursprüngliche Heimat der Karandeser an den Ufern des Sees Karand im heutigen Ganesien lag. Ihre Ausbreitung im Laufe der Jahrhunderte war hauptsächlich das Ergebnis von Bevölkerungsüberschuß und klimatischen Bedingungen. Es ist mit Sicherheit erwiesen, daß es periodische Vereisungen gegeben hat, die – aus dem eiskalten Graben kommend, der zwischen den beiden Gebirgsketten des hohen Nordens liegt – bis auf die Ebenen des nördlichen Zentralmallorea hinunterreichten. Auf der Flucht vor den vorrückenden Gletschern wurden die Karandeser nach Pallia und Delchin und schließlich nach Rengel und in diejenigen Gebiete getrieben, die heute den Distrikt von Rakuth im östlichen Mallorea ausmachen. Die letzte dieser Eiszeiten ereignete sich nur kurz vor der Katastrophe, welche zur Bildung des Meeres des Ostens führte. Zu dieser Zeit ächzten die Wüsten Nordmalloreas unter bis zu *
Das leitet sich von der angelsächsischen Heptarchie im vornormannischen England her, sieben Königreiche, die nicht besonders gut miteinander auskamen. Ihre Streitigkeiten öffneten den Wikingern das Tor nach England.
mehreren Hundert Fuß dicken Eisschichten, und Gletscher erstreckten sich hundert Leagues und mehr südlich des heutigen Uferverlaufs des Karandsees. Die explosive Geburt des Meeres des Ostens jedoch beendete die Herrschaft der Gletscher schlagartig. Der Zuzug warmer, feuchter Luftmassen von der gewaltigen Dampfwolke, welche die vulkanische Entstehung des Ozeans begleitete, erfolgte durch den natürlichen Kanal zwischen der dalasischen und der karandesischen Gebirgskette und bewirkte eine Gletscherschmelze von ungeheuren Ausmaßen. Die plötzlich freigewordenen Wassermassen schürften das gewaltige Tal des Großen Maganflusses aus, des wohl längsten und majestätischsten Stromes der Welt. Die Karandeser selbst sind eine kriegerische Rasse, wie es bei den Völkern des Nordens so häufig der Fall ist, und ihre häufigen, von den Gletschern erzwungenen Wanderungen ließen ihnen wenig Zeit für die Entwicklung jener zivilisatorischen Errungenschaften, welche die Nationen der südlicheren Breiten auszeichnen. In der Tat ist mit einer gewissen Berechtigung behauptet worden, die Karandeser ständen für gewöhnlich an der Schwelle zur primitivsten Barbarei. Karandesische Städte, üblicherweise von groben Holzpalisaden geschützt, sind in jeder Hinsicht primitiv, und der Anblick von Schweinen, die sich nach Lust und Laune in den schlammigen Straßen suhlen, ist ein gewohnter Anblick. Zu Beginn des zweiten Jahrtausends waren Raubzüge durch vagabundierende Banden von Karandesern zu einem ernsten Problem an Malloreas Ostgrenze geworden, und die angarakanische Armee verließ Mal Zeth, um Stellung entlang den westlichen Ausläufern des Königreichs von Pallia zu beziehen. In einer raschen Strafexpedition wurde die Stadt Rakand im südwestlichen Pallia geplündert und gebrandschatzt und die Einwohnerschaft gefangengenommen. Es geschah zu diesem Zeitpunkt, daß eine der bedeutendsten Entscheidungen in der angarakanischen Geschichte getroffen wurde.
Als die Grolims sich bereits auf eine Orgie von Menschenopfern vorbereiteten, hielten die militärischen Befehlshaber inne und machten Bestandsaufnahme. Das angarakanische Militär hatte kein Interesse an einer Besetzung Pallias. Die Schwierigkeiten der Kommunikation über so große Entfernungen als auch die breite Verstreuung ihrer Truppen, die eine solche Besetzung mit sich gebracht hätte, ließen eine derartige Vorstellung als wenig wünschenswert erscheinen. Vom Standpunkt der Militärs aus stellte es sich wesentlich günstiger dar, das pallianische
Königreich als unterworfene Nation unversehrt zu erhalten und Tribute zu erheben, als ein entvölkertes Land neu zu besiedeln. Man weiß nicht genau, wer zuerst auf diese Lösung kam, doch das Militär stimmte einmütig zu. Die Grolims zeigten sich natürlich entsetzt, als ihnen der Vorschlag zum erstenmal unterbreitet wurde, aber die Militärs blieben hart. Am Ende erklärten beide Parteien sich bereit, die Angelegenheit in Toraks Hände zu legen und seinen Richterspruch zu akzeptieren. Die Idee, die man dem Drachengott unterbreiten wollte, war die, daß die pallianischen Gefangenen, statt allesamt hingeschlachtet zu werden, zur Anbetung Toraks bekehrt werden sollten. Obwohl die Grolims der selbstgefälligen Überzeugung anhingen, Toraks Zuneigung gelte ausschließlich dem angarakanischen Volk, erfaßten einige Militärkommandeure das wahre Wesen des angarakanischen Gottes doch sehr viel besser. Torak, soviel wußten sie, war im Grunde ein gieriger Gott. Er dürstete nach Anbetung, und falls man ihm die Frage der pallianischen Gefangenen – und zu guter Letzt von ganz Karanda – im Lichte des mannigfaltigen Zuwachses an Anhängern präsentierte, sofern er ihrer Bekehrung anstelle ihrer Ausrottung zustimmte, würde er sich unweigerlich auf die Seite der Militärs schlagen. Ihre Vermutungen erwiesen sich als zutreffend, und wieder einmal trugen die Militärs den Sieg über die schrillen Proteste der Priesterschaft davon. Man muß allerdings einräumen, daß Toraks Motive möglicherweise vielschichtiger waren. Es besteht kein Zweifel daran, daß der Drachengott selbst zu diesem frühen Zeitpunkt genau wußte, daß es letztendlich zu einer Konfrontation mit dem Westen kommen würde. Die Tatsache, daß er sich in den Streitigkeiten des Militärs mit den Grolims fast immer auf die Seite des Militärs stellte, ist ein stummer Beweis dafür, daß der Gott Angaraks der wachsenden Armee höchste Bedeutung beimaß. Falls die Karandeser sich zur Verehrung Toraks bekehren ließen, konnte er mit einem Streich die Größe seiner Armee nahezu verdoppeln
und seine Position in dem bevorstehenden Konflikt weiter ausbauen.
So kam es, daß die malloreanischen Grolims einen neuen Auftrag erhielten. Vor allem sollten sie danach streben, die gottlosen Karandeser zur Anbetung des Gottes von Angarak zu bekehren. »Ich will sie haben«, erklärte Torak seinen versammelten Priestern. »Jeder Mann und jede Frau, die in den Grenzen des unermeßlichen Mallorea leben, sollen vor mir das Knie beugen. Sollte einer von euch dieser schweren Verantwortung nicht gewachsen sein, wird er mein Mißvergnügen zu spüren bekommen.« Und mit dieser furchtbaren Drohung in den Ohren gingen die Grolims hin, die Heiden zu bekehren. Die Eroberung der sieben Königreiche von Karanda beanspruchte über mehrere Jahrhunderte hinweg die Aufmerksamkeit von Armee und Priesterschaft gleichermaßen. Obwohl die angarakanische Armee – besser ausgerüstet und besser ausgebildet – aller Wahrscheinlichkeit nach in wenigen Jahrzehnten einen militärischen Sieg errungen haben würde, verlangsamte die Notwendigkeit der Bekehrung ihr Vorrücken nach Osten praktisch zum Schneckentempo. Die Grolims, die stets vor der Armee herzogen, predigten an jeder Wegkreuzung und in jeder Siedlung und machten den Karandesern die Fürsorge eines liebevollen Gottes schmackhaft – wenn sie sich ihm nur unterwürfen. Es dauerte seine Zeit, bis diese Vorstellung in die zutiefst areligiöse karandesische Gesellschaft einsickerte; doch am Ende, beeinflußt durch die Überzeugungskraft der Grolims und die stets präsente Bedrohung durch die angarakanische Armee unmittelbar im Westen, bröckelte der Widerstand.
Der militärische Sieg in Karanda erwies sich nicht nur als Triumph über die Karandeser, sondern in gewissem Maße auch über die Grolims. Die Armee setzte Marionettenregierungen in jedem der sieben Königreiche von Karanda ein und unterhielt lediglich eine symbolische Garnison in jeder Hauptstadt. Die Grolims allerdings sahen sich gezwungen, ihre Kräfte zur Ausübung ihrer kirchlichen Pflichten in den karandesischen Königreichen zu verzetteln, so daß die Macht der Priesterschaft stark beschnitten wurde. In den Augen eines typischen Angarakaners standen die unterworfenen Königreiche von Karanda und ihre Bewohner nie auf einer Ebene mit den Angarakanern. Sowohl in theologischer als auch in politischer Hinsicht galten die Karandeser stets als Bürger zweiter Klasse, und diese allgemeine Betrachtungsweise herrschte bis zur Hegemonie der melcenischen Bürokratie gegen Ende des vierten Jahrtausends vor. Die ersten Kontakte zwischen den Angarakanern und den Melcenern erwiesen sich als katastrophal. Da die angarakanischen Völker bis zu diesem Zeitpunkt lediglich den Hund, das Schaf, die Kuh und die gemeine Hauskatze domestiziert hatten, führte die erste Begegnung mit berittenen Streitkräften zur heillosen Flucht. Um die Angelegenheit noch weiter zu verschlimmern, benutzten die
kultivierten Melcener Pferde nicht nur als Reittiere für ihre Kavallerieeinheiten, sondern auch, um ihre Kriegswagen zu ziehen. Ein melcenischer Schlachtwagen mit seinen Sichelklingen an den Radnaben konnte buchstäblich Schneisen in dichtgedrängtes Fußvolk schlagen. Darüber hinaus war es den Melcenern gelungen, den Elephanten zu zähmen, und das Auftauchen dieser riesigen Tiere auf dem Schlachtfeld beschleunigte die verheerende Niederlage der Angarakaner. Wenn die Melcener sich entschlossen hätten, ihren Vorteil zu nutzen und die fliehenden Angarakaner durch das breite Tal des Magan zu verfolgen, ist es gut möglich, daß die Geschichte des malloreanischen Kontinents in völlig anderen Bahnen verlaufen wäre. Unverständlicherweise stellten die melcenischen Truppen die Verfolgung jedoch an der Grenze zwischen Delchin und Rengel ein, was der angarakanischen Armee die Möglichkeit zum Entkommen gab. Die Anwesenheit einer überlegenen Macht im Südosten rief in Mal Zeth große Bestürzung hervor.
Verblüfft über den Verzicht des melcenischen Reiches, seinen Vorteil auszunutzen, und erfüllt von großer Angst vor den östlichen Nachbarn, machten die angarakanischen Generäle Friedensangebote und staunten nicht schlecht, als die Melcener sich rasch bereit erklärten, die Beziehungen zu normalisieren. Handelsabkommen
wurden geschlossen, und die angarakanischen Generäle schärften den Händlern ein, all ihre Bemühungen auf die Beschaffung von Pferden zu verwenden. Zur erneuten Verwunderung der Generäle zeigten die Melcener sich gewillt, sogar mit Pferden Handel zu treiben, auch wenn die Preise ausgesprochen hoch waren. Die Machthaber des Reiches weigerten sich allerdings hartnäckig, über den Verkauf von Elephanten auch nur zu reden. Da der Ausdehnung nach Osten ein Riegel vorgeschoben war, wandten die Machthaber in Mal Zeth ihre Anstrengungen dem Süden und Dalasien zu. Die Dalaser erwiesen sich als leichte Beute für die höher entwickelten Angarakaner. Die Dalaser waren einfache Bauern und Viehzüchter, kaum in der Lage, eine organisierte Gesellschaft zu schaffen, geschweige denn Krieg zu führen. Die Angarakaner spazierten regelrecht nach Dalasien herein, erweiterten die ziemlich primitiven Städte der Region und schufen Militärprotektorate. Das ganze Unternehmen war in weniger als zehn Jahren abgeschlossen. Während das Militär in den dalasischen Protektoraten erstaunlich erfolgreich war, stieß die Grolim-Priesterschaft fast umgehend auf Schwierigkeiten. Die dalasische Gesellschaft ist von Grund auf mystizistisch, und die wichtigsten Personen waren demgemäß die Hexen (beiderlei Geschlechts) sowie die Seher und Propheten. Das dalasische Denken bewegte sich in seltsamen, fremdartigen Bahnen, dem beizukommen sich als überaus schwierig für die Grolims erwies. Die schlichten Dalasier nahmen die Formen der angarakanischen Religion nur sehr oberflächlich an – etwa auf dieselbe Weise, wie sie gewissenhaft ihre Steuern entrichteten –, doch in ihrer Bekehrung lag nichtsdestoweniger ein unterschwelliger Widerstand. Die Macht der Hexen, Seher und Propheten blieb ungebrochen, und die Grolims befürchteten ständig, das schafsähnliche Verhalten der dalasischen Bauernschaft verberge irgend etwas Bedrohlicheres. Beinahe hatte es den Anschein, als amüsierten die Dalaser sich über die zunehmend
schrillen Ermahnungen der Grolims, als lauere irgendwo unter dem friedfertigen Äußeren eine unendlich viel tiefere und kultiviertere Religion, welche die Vorstellungskraft der Grolims weit überstieg. Zudem sah es so aus, als kursierten insgeheim immer noch Abschriften der schändlichen Malloreanischen Evangelarien in der Bevölkerung, trotz rigoroser Bemühungen seitens der Grolims, sie ausfindig zu machen. Hätten die Ereignisse ihnen Zeit dazu gelassen, wäre es den Grolims möglicherweise am Ende gelungen, sämtliche Spuren der dalasischen Geheimreligion in den Protektoraten zu tilgen, doch es geschah ungefähr in dieser Zeit, daß sich in Cthol Mishrak eine Katastrophe anbahnte, die den Charakter des angarakanischen Lebens für immer verändern sollte. Trotz der schärfsten Sicherheitsvorkehrungen, die man sich vorstellen kann, schlich sich der legendäre Zauberer Belgarath in Begleitung von Cherek Bärenschulter, dem König von Alorien, sowie Chereks drei Söhnen unbemerkt in die heilige Stadt Angaraks und stahl das Auge Aldurs aus dem eisernen Turm Toraks mitten in der Stadt der Nacht. Obwohl die Verfolgung der Diebe umgehend aufgenommen wurde, gelang es ihnen durch bislang unentdeckte magische Vorkehrungen, den Orb selbst zu benutzen, um ihre Flucht zu bewerkstelligen. Der Zorn des Drachengottes kannte keine Grenzen, als offenbar wurde, daß Belgarath und seine Komplizen tatsächlich mit dem Orb entkommen waren. In einem Ausbruch rasender Wut zerstörte Torak Cthol Mishrak und führte umgehend eine Reihe von Veränderungen in der Grundstruktur der angarakanischen Gesellschaft ein. Es scheint, als habe Torak an einer merkwürdigen Verblendung bezüglich der Natur der menschlichen Kultur gelitten. Für ihn waren Menschen nur Menschen, und er mißachtete jegliche Rangunterschiede. Als Torak die Bewohner von Cthol Mishrak rücksichtslos in drei Stämme teilte, die dann mit Gewalt auf den westlichen Kontinent getrieben wurden, um dort einen
angarakanischen Brückenkopf zu errichten, machte er deshalb die augenfälligsten und oberflächlichsten Unterschiede zwischen ihnen zur Grundlage dieser Aufteilung. Unglücklicherweise ist der augenfälligste Unterschied zwischen den Menschen der Klassenunterschied. Die in den Westen exportierten Kulturen waren daher zutiefst unnatürliche Gebilde, da die Teilung nach Klassenkriterien abrupt all das zerstörte, was eine menschliche Gemeinschaft ausmacht. Selbst die oberflächlichste Kenntnis des Dialekts, der sich in Cthol Murgos entwickelt hatte, enthüllt die grundlegenden Unterschiede zwischen den drei westlichen Stämmen. In diesem Dialekt bedeutet ›Murgo‹ Edelmann, das Wort ›Thull‹ bedeutet Sklave oder Bauer, und ›Nadrak‹ bedeutet Händler. Dies waren natürlich die Namen, die Torak den drei Stämmen gab, bevor er sie in den Westen schickte. Um dafür zu sorgen, daß sie ihren Aufgaben mit unermüdlicher Begeisterung nachkamen, sandte er seinen Schüler Ctuchik zusammen mit jedem dritten Grolim in Mallorea aus, sie auf ihrer Wanderung zu begleiten. Die schlagartige Dezimierung der GrolimReihen beschnitt die Macht der Kirche in Alt-Mallorea und den unterworfenen Königreichen des Ostens empfindlich und markierte einen weiteren Schritt hin zu einer säkularisierten malloreanischen Gesellschaft. Der große Treck über die Landbrücke zum westlichen Kontinent kostete die westlichen Stämme der Angarakaner annähernd eine Million Tote, und die Länder, in die sie zogen, erwiesen sich als sehr unwirtlich. Die Murgos übernahmen in Übereinstimmung mit ihrer Stellung als Aristokratie die Führung des Marsches. So kam es, daß ihr Gebiet am weitesten von diesem natürlichen Dammweg entfernt liegt, den die Landbrücke bildet. Die Thulls, ihren früheren Herren noch immer hündisch ergeben, folgten ihnen auf dem Fuße. Die Nadraker hingegen waren es zufrieden, einen möglichst großen Abstand zu den Murgos zu halten. Natürlich waren es auch die Nadraker, die sich am schnellsten an die Bedingungen anpaßten, die
sie in ihrer neuen Heimat vorfanden. Eine im Grunde durch die Mittelschicht bestimmte Gesellschaft hat wenig Bedarf an Sklaven und noch weniger an Herren. Die thullische Gesellschaft konnte funktionieren, wenn auch nur in Ansätzen. Für die Murgos jedoch kam die neue Situation einer Katastrophe gleich. Da sie Aristokraten waren, die Kriegerkaste also, war ihre Gesellschaft nach militärischen Regeln strukturiert, wobei die Stellung sich größtenteils aus dem militärischen Rang ergab. Darüber hinaus gründeten sich ihre Entscheidungen häufig auf militärische Überlegungen. Deshalb war ihr erster größerer Haltepunkt auf der Wanderung in den Süden Rak Goska. Vom militärisch-strategischen Standpunkt aus betrachtet, besitzt Rak Goska eine hervorragende Lage. Als Platz für eine blühende Stadt jedoch ist diese Lage denkbar ungeeignet. Das angrenzende Gebiet besteht aus der unfruchtbaren, für Landwirtschaft ungeeigneten Öde von Murgos; daher muß alle Nahrung eingeführt werden. Um alles noch schlimmer zu machen, sind Murgos miserable Bauern. Zunächst waren die Thulls nur allzu bereit, die Bedürfnisse ihrer früheren Herren auch weiterhin zu befriedigen, doch als Zeit und Entfernung die einstigen Bindungen zwischen den Nationen zerfallen ließen, wurde der thullische Beitrag zum Lebensunterhalt der Murgos zu einem dürftigen Rinnsal. Die hungernden Murgos reagierten mit einer Reihe von Strafexpeditionen nach Mishrak ac Thull, bis ein scharfer Befehl Toraks (von Ctuchik übermittelt) diesen Militärzügen ein Ende setzte. Die Situation der Murgos wurde rasch lebensbedrohlich. Zu diesem Zeitpunkt erfolgten die ersten Kontakte mit den schmierigen nyissanischen Sklavenhändlern. Die Nyissaner hatten schon lange Raubzüge in die südlichen Gefilde des Kontinents unternommen, um Sklaven zu fangen, in Regionen also, die von einer schlichten, fügsamen Rasse von Menschen bewohnt wurde, die offenbar entfernt mit den Dalasern in Südwestmallorea verwandt waren. Der erste Kauf eines Sklaven durch einen Murgo-Adligen schrieb das grundlegende Muster der murgosischen Gesellschaft für alle Zeiten
fest. Die bei den Nyissanern in Erfahrung gebrachten Informationen lenkten die Aufmerksamkeit der Murgos auf die Länder und Völker des Südens, und im Zuge ihrer Suche nach einer ununterbrochenen Nahrungsmittelversorgung begannen sie umgehend mit der Eroberung dieses Landstrichs. Nachdem die Murgos die trostlosen Ödlande von Goska hinter sich gelassen hatten, fanden sie sich in einem fruchtbaren Land von Seen, Flüssen und Wäldern wieder. Die Ureinwohner, von den Murgos als wenig mehr denn Tiere betrachtet, wurden gewaltsam zusammengetrieben und in riesige Lager gepfercht, von wo aus sie aufgeteilt wurden, um die Felder in den neu entstehenden murgosischen Militärdistrikten zu bestellen. In typischer MurgoManier wurden die Gebiete im Süden nach militärischen Grundsätzen organisiert, und jeder Distrikt wurde von einem General kommandiert. Eine Besonderheit des murgosischen Stammes bestand lange Zeit in einem einzigartigen Mangel an jeglichem Sinn für persönlichen Besitz – vor allem, wenn es um Land ging. Ein Murgo hat keinerlei Bezug zu der Vorstellung, persönlich ein Stück Land zu besitzen. Die im Süden eroberten Gebiete gehörten dementsprechend keinem Einzelnen, sondern dem Murgotum als Ganzem. Die oberste Treuepflicht eines Murgos gilt seinem unmittelbaren Vorgesetzten; er legt keinen Wert auf Landbesitz, da die mit dem Eigentum einhergehende Verantwortung ihn an der ungeteilten Ausübung dieser Pflicht hindern könnte. Deshalb ist Cthol Murgos in Militärdistrikte aufgeteilt, die von Armeekorps verwaltet werden. Jedes Korps (und letztendlich der Korpskommandant) hat ein bestimmtes geographisches Verantwortungsgebiet. Weiterhin ist das Land in Divisionsgebiete, Regimentsgebiete, Bataillonsgebiete und so fort unterteilt. Einzelne Murgo-Soldaten fungieren hauptsächlich als Aufseher und Sklaventreiber. Murgosische Bevölkerungszentren gleichen daher eher Militärlagern als Städten. Die Wohnungen werden den einzelnen Soldaten ihrem Rang entsprechend
zugewiesen. Wenn eine solche Gesellschaft auch Westlern und Malloreanern zugleich abstoßend erscheint, so muß man dennoch die Zähigkeit und Selbstaufopferung der Murgos bewundern, die eine solche Gesellschaft erst funktionieren lassen. Da eines der höchsten Erfordernisse einer Adelskaste die Bewahrung der Blutlinie ist, und da die Murgos buchstäblich in einem Meer von Sklaven leben, erzwingt die murgosische Gesellschaft eine äußerst strenge Trennung zwischen Sklave und Herrn. Insbesondere Murgo-Frauen werden völlig von jedem Kontakt mit Nicht-Angarakanern abgeschottet, und diese Obsession hinsichtlich der Reinheit der Rasse hat sie im wahrsten Sinne des Wortes zu Gefangenen gemacht, indem sie ausschließlich auf die Frauenquartiere im Zentrum eines jeden murgosischen Haushalts beschränkt bleiben. Jede Murgo-Frau, die auch nur im Verdacht steht, mit einem Nicht-Murgo zu verkehren, wird sofort getötet. Darüber hinaus erleidet jeder männliche Murgo, der in einer kompromittierenden Situation mit einer fremden Frau angetroffen wird, ungeachtet seines Ranges dasselbe Schicksal. Da diese Gesetze seit dem Ende des zweiten Jahrtausends in Kraft sind, haben sie für ein bemerkenswert reines Blut gesorgt. Der Murgo ist heutzutage vermutlich der einzige reine Angarakaner auf dem Antlitz der Welt. Mit der Zeit wurde diese übertriebene Sorge um rassische Reinheit bei den Murgos zu einer Art quasi-religiöser Verpflichtung, und in der westlichen Hemisphäre wurde nie der Versuch unternommen, Nicht-Angarakaner zu bekehren, wie es in Mallorea zur Regel wurde. Es war vielleicht der Jünger Ctuchik, der letztendlich dafür verantwortlich zeichnet, daß dieses alles beherrschende Rassenvorurteil die Kraft eines religiösen Gebots erhielt. Ctuchik, eingedenk des Rückgangs der Kirchenmacht in Mallorea infolge der zunehmenden Verweltlichung und Kosmopolitisierung der malloreanischen Gesellschaft, verkündete seine Statuten zu dem Thema von seiner theologischen Hauptstadt Rak Cthol in der Öde
von Murgos aus. Er argumentierte (vermutlich zu Recht), daß eine Gesellschaft mit dem zugleich rechtlichen und religiösen Gebot, jeglichen Kontakt mit Fremden zu vermeiden, am ehesten gegen jene neuen Ideen gefeit war, welche die Autorität der Kirche so gefährlich untergraben. Es gibt jedoch auch Hinweise darauf, daß Ctuchiks Dekrete in gewissem Umfang von der wachsenden Entfremdung zwischen ihm und seinen beiden Mitjüngern bestimmt waren, dem Proselyten Zedar und Urvon. Insbesondere Urvon hatte sich die Idee der Bekehrung von Nicht-Angarakanern mit großer Begeisterung zu eigen gemacht; er argumentierte, dies könne die Macht der Kirche nur vergrößern. Zedar war natürlich ein Rätsel und wurde sowohl von Ctuchik als auch von Urvon zutiefst verabscheut. Um Urvons Einfluß in Grenzen zu halten, strebte Ctuchik nach der Erhaltung der murgosischen Blutreinheit. Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, daß Ctuchik glaubte, nach Toraks Endsieg werde der entstellte Gott es zu würdigen wissen, wenn man ihm eine vollkommen reine angarakanische Rasse übergab, die als Herrenrasse der unterworfenen Welt auftreten konnte. Was immer Ctuchiks Beweggründe gewesen sein mögen, die Murgos und die westlichen Grolims verfechten leidenschaftlich die These, der malloreanische Kosmopolitismus sei eine Form von Ketzerei, und sie sprechen für gewöhnlich von den Malloreanern als ›Bastarde‹. Diese Einstellung hat mehr als alles andere zu dem jahrhundertealten Haß geführt, der zwischen Murgos und Malloreanern herrscht. Nach den Umwälzungen, welche die Zerstörung von Cthol Mishrak begleiteten, schottete Torak sich fast vollständig von seinem Volk ab, da er sich statt dessen auf verschiedene Pläne konzentrierte, die Machtzunahme der Königreiche des Westens zu stören. Die Zurückgezogenheit des Gottes gab dem Militär Gelegenheit, seine praktisch uneingeschränkte Kontrolle über Mallorea und die ihm unterstellten Königreiche auszukosten. Eine
der Merkwürdigkeiten dieser Epoche war das Fehlen eines militärischen Oberkommandierenden in Mal Zeth. Obwohl von Zeit zu Zeit mächtige Männer das Oberkommando beherrscht hatten, war die Autorität des Militärs normalerweise mehr oder weniger gleichmäßig auf die höchsten Generäle verteilt, und dieser Zustand hielt praktisch bis kurz vor Ende des vierten Jahrtausends an. Nun, da sie ihre Herrschaft in Alt-Mallorea, Karanda und Dalasien fest verankert hatten, wandte das Oberste Heereskommando seine Aufmerksamkeit erneut dem Problem des melcenischen Reiches zu. Mit der Zunahme des Handels zwischen Melcenern und Angarakanern wuchs auch das angarakanische Wissen über seine östlichen Nachbarn. Die Melcener hatten ursprünglich die Inseln vor der Ostküste des malloreanischen Kontinents bewohnt und sich bis zu der durch die Trennung der beiden Kontinente hervorgerufenen Katastrophe damit zufriedengegeben, ihre Vettern auf dem Festland schlicht zu ignorieren. Die gewaltigen Flutwellen (ihre Höhe wurde auf hundert Fuß geschätzt), die während der Neuordnung der beiden großen Landmassen über die Ozeane der Welt rasten, verschlangen jedoch mehr als die Hälfte ihrer Inseln, und als sie schließlich verebbten, drängten sich die verängstigten Überlebenden auf den höherliegenden Gebieten zusammen. Ihre Hauptstadt auf Melcena selbst war eine Stadt in den Bergen gewesen, wo man die Staatsangelegenheiten ohne die auszehrenden Klimaauswirkungen des tropischen Tieflands führen konnte. Nach der Katastrophe indes war Melcene eine zerstörte Stadt, durch ein Erdbeben in Schutt und Asche gelegt und nicht mehr als eine League von der neuen Küste entfernt. Nach einer Phase fieberhaften Wiederaufbaus wurde bald deutlich, daß ihre gewaltig geschrumpfte Heimat die wachsende Bevölkerung nicht mehr ernähren konnte. Mit typisch melcenischer Gründlichkeit gingen sie das Problem von allen Seiten an. Eines war vollkommen klar: Sie brauchten mehr Land. Das melcenische Denken ist eigenartig zersplittert, und ihre
Antwort auf jedes auftretende Problem besteht darin, auf der Stelle einen Ausschuß zu gründen. Der ›Neuland-Ausschuß‹, der nun ins Leben gerufen wurde, um dem Kaiser Lösungsmöglichkeiten zu unterbreiten, gelangte zu seiner endgültigen Entscheidung erst, nachdem er sämtliche Alternativen gegeneinander abgewogen hatte. Die Ausschußmitglieder kamen zu dem Schluß, daß die Melcener, da sie ja kein neues Land schaffen konnten, gezwungen seien, es jemand anderem entweder abzukaufen oder wegzunehmen. Da Südostmallorea geographisch am nächsten lag und von Menschen ihrer eigenen Rasse besiedelt wurde, war es diese Region, der die Melcener ihre Aufmerksamkeit zuwandten. Es gab fünf ziemlich unterentwickelte Königreiche im südöstlichen und östlichen Zentralmallorea, bewohnt von Menschen, die in etwa derselben Rasse angehörten wie die Melcener selbst: Gandahar, Darshiva, Peldane, Celanta und Rengel. Diese Königreiche wurden eins nach dem anderen von den Melcenern überrannt und in ihr wachsendes Reich eingegliedert. Die herrschende Kraft im melcenischen Imperium war die Bürokratie. Im Gegensatz zu anderen Herrschaftsformen dieser Epoche, die häufig auf königlichen Willensentscheidungen oder persönlichen Machtkonzentrationen basierten, zeichnete sich die melcenische Regierung durch strikte Gewaltenteilung aus. Auch wenn eine bürokratische Regierungsform offensichtliche Schwächen besitzt, garantiert ein solcher Zugang zur Verwaltung doch auch die Vorzüge von Kontinuität und klarsichtigem Pragmatismus, dem es mehr darum geht, den praktischsten Weg zur Erledigung einer Aufgabe zu finden, als um Launen, Vorurteile und Egoismus, die personalisiertere Herrschaftsformen so oft unbrauchbar machen. Insbesondere die
melcenische Bürokratie war durch und durch praktisch. Das Konzept eines ›Talentadels‹ beherrschte das melcenische Denken, und falls eine Behörde ein talentiertes Individuum – egal welcher Herkunft – zu übersehen vorzog, wurde es unweigerlich von einer anderen Behörde vereinnahmt. So kam es, daß die verschiedenen Abteilungen der melcenischen Regierung in die neueroberten Festlandprovinzen eilten, um die Bevölkerung auf der Suche nach Genies zu sichten. Die ›eroberten‹ Völker von Gandahar, Darshiva, Peldane, Celanta und Rengel wurden dieserart unmittelbar von der Hauptströmung des Reichslebens aufgesogen. Pragmatisch wie eh und je, beließen die Melcener die Königshäuser der fünf Festlandprovinzen an ihrem angestammten Platz und zogen es vor, über traditionelle Herrschaftstrukturen zu regieren, anstatt neue zu begründen. Obwohl der Titel ›König‹ auf den eines ›Fürsten‹ reduziert wurde, gilt es gemeinhin als ehrenvoller, ein ›Fürst des Reiches‹ als ein ›König‹ irgendeines kleinen Ostküstenkönigreichs zu sein. So blühten und gediehen also die sechs Fürstentümer des melcenischen Reiches in einer Art von Brüderlichkeit, die auf der strikt pragmatischen Gesinnung basierte. Der Besitz von Talent ist in Melcene ein universeller Paß und ist wertvoller als Reichtum oder Macht. Die nächsten 1800 Jahre erlebte das melcenische Reich eine ungestörte Blüte, weit fort vom theologischen und politischen Gezänk des westlichen Teils des Kontinents. Die melcenische Kultur war weltlich, zivilisiert und höchst gebildet. Sklaverei war unbekannt, und der Handel mit den Angarakanern und den ihnen unterworfenen Völkern von Karanda und Dalasien verlief äußerst gewinnbringend. Die alte kaiserliche Hauptstadt in Melcene wurde zu einem Zentrum des Wissens. Unglücklicherweise war ein wichtiger Teil der melcenischen Forschung stark auf das Arkane ausgerichtet. Ihre Magie (die Beschwörung böser Geister) ging weit über den primitiven Hokuspokus der Karandeser und Morindim
hinaus und drang in dunklere und ernstere Regionen vor. In der Hexerei und der Nekromantie machten sie erstaunliche Fortschritte. Das hauptsächliche Gebiet ihrer Bemühungen jedoch war die Alchemie. Erstaunlicherweise läßt sich dazu bemerken, daß es einigen melcenischen Alchemisten tatsächlich gelang, niedere Metalle in Gold zu verwandeln – auch wenn die Mühen und Kosten, die man dafür aufwenden mußte, den Vorgang völlig unrentabel machten. Es war indes ein melcenischer Alchemist, Senji der Klumpfuß, der bei einem seiner Experimente aus purem Zufall über das Geheimnis des Willens und des Wortes stolperte. Senji, ein Arzt des 15. Jahrhunderts an der Universität in der Kaiserstadt, war berüchtigt für seine Unfähigkeit. Um das Kind beim Namen zu nennen, Senjis Experimente verwandelten häufiger Gold in Blei als umgekehrt. In einem Anfall von Zorn und Enttäuschung über das Fehlschlagen seines jüngsten Experiments verwandelte Senji unabsichtlich eine halbe Tonne Messingrohre in reines Gold. Zwischen dem Amt für Geldangelegenheiten, dem Amt für Bergbau, der Abteilung Hygiene, der Fakultät des Kollegs für Alchemie und der Fakultät des Kollegs für Vergleichende Religionswissenschaften entspann sich ein sofortiger Streit darüber, welcher dieser Institutionen die Kontrolle über Senjis Entdeckung zustände. Nach etwa dreihundert Jahren intensiver Diskussion fiel den Disputanten mit einem Mal auf, daß Senji nicht nur ausgesprochen talentiert, sondern darüber hinaus auch unsterblich zu sein schien. Im Namen der wissenschaftlichen Forschung kamen die verschiedenen Ämter, Behörden, Abteilungen und Fakultäten überein, man solle einen Versuch unternehmen, Senji zu ermorden. Ein sehr bekannter Defenestrator wurde gedungen, um den jähzornigen alten Alchemisten aus einem hochgelegenen Fenster in einem der Türme der Universität zu werfen. Das Experiment verfolgte drei Zwecke. Was die verschiedenen Institutionen herauszufinden wünschten, war: a) ob Senji tatsächlich nicht zu töten war, b) welche Maßnahmen er ergreifen würde, während er
dem Erdboden entgegenstürzte, um auf diese Weise c) womöglich das Geheimnis des Fliegens zu entschlüsseln, indem man Senji keine andere Möglichkeit ließ. Tatsächlich aber fanden sie lediglich heraus, daß es immense Gefahren birgt, einen Zauberer zu bedrohen – selbst einen so unfähigen wie Senji. Der Defenestrator fand sich an einen Punkt ungefähr fünfzehnhundert Meter über dem Hafen versetzt, fünf Meilen weit entfernt. In dem einen Augenblick hatte er Senji noch auf das Fenster zu gestoßen, im nächsten fand er sich in körperloser Luft hoch über einer Fischfangflotte wieder. Sein Ableben wurde nicht über Gebühr betrauert – außer von den Fischern, deren Netze durch seinen raschen Absturz arg beschädigt wurden. In einem Ausbruch rechtschaffener Empörung ging Senji sodann dazu über, die Vorsitzenden der Institutionen zu züchtigen, die sich darauf verständigt hatten, seiner Person Gewalt anzutun. Am Ende konnte nur das persönliche Eintreten des Kaisers ihn dazu bewegen, von einigen ziemlich exotischen Bestrafungen abzulassen. (Senjis Hang zum Skatologischen hatte ihn auf ganz natürliche Weise dazu geführt, zum Zwecke der Bestrafung an den normalen Ausscheidungsfunktionen zu manipulieren.) Nach der Epidemie von Massenverstopfung, welche die Institutionen befiel, waren deren Mitglieder nur zu gern bereit, Senji unbehelligt seines Weges ziehen zu lassen. Nachdem Senji seine Ruhe vor ihnen hatte, gründete er eine Privatakademie und warb um Studenten. Auch wenn seine Schüler nie Zauberer von der Qualität eines Belgarath, einer Polgara, eines Ctuchik oder Zedar wurden, waren sie doch zu einigen rudimentären Anwendungen des Willens und des Wortes in der Lage, was sie hoch über die Magier und Hexen stellte, die ihre Kunst innerhalb der Grenzen der Universität betrieben. Es war während dieser Epoche des Friedens und der Ruhe, daß die erste Begegnung mit den Angarakanern stattfand. Obwohl sie in diesem ersten Treffen den Sieg davontrugen, erkannten die
pragmatischen Melcener doch, daß die Angarakaner sie schlußendlich durch ihre schiere Überzahl besiegen würden. In der Zeit, als die Angarakaner ihre Aufmerksamkeit der Errichtung der dalasischen Protektorate zuwandten und Toraks ganze Konzentration der Entstehung der angarakanischen Königreiche auf dem westlichen Kontinent galt, herrschte Frieden zwischen den Angarakanern und den Melcenern. Es war ein brüchiger Frieden – und ein sehr mißtrauischer –, aber nichtsdestoweniger Frieden. Die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Nationen vermittelten ihnen ein etwas besseres Verständnis des anderen, obwohl die kultivierten Melcener sich über die religiöse Besessenheit amüsierten, die selbst den weltlichsten Angarakaner auszeichnete. Gelegentlich verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den beiden Ländern in den darauffolgenden achtzehnhundert Jahren bis hin zu häßlichen kleinen Kriegen, die aber selten länger als ein oder zwei Jahre dauerten und bei denen beide Seiten es tunlichst vermieden, ihre gesamte Truppenstärke aufzufahren. Offensichtlich wollte keine Seite eine umfassende Konfrontation riskieren. In der Hoffnung, mehr Informationen über einander zu erhalten, griffen die beiden Nationen schließlich auf eine altehrwürdige Praxis zurück. Kinder der verschiedenen Führer wurden für bestimmte Zeitspannen ausgetauscht. Die Söhne hochrangiger Bürokraten aus der Stadt Melcene wurden nach Mal Zeth gesandt, um dort in den Familien der angarakanischen Generäle zu leben, und die Söhne der Generäle wurden im Austausch in die kaiserliche Hauptstadt geschickt, um dort ihre Erziehung zu erhalten. Als Ergebnis dieses Austausches entstand eine Gruppe junger Männer mit ausgeprägt kosmopolitischer Gesinnung, was in mancher Hinsicht später die Norm für die herrschende Klasse des malloreanischen Kaiserreichs
werden sollte. * Es war einer dieser Austausche am Ende des vierten Jahrtausends, der schließlich zur Vereinigung der beiden Völker führte. Im Alter von ungefähr zwölf Jahren wurde ein Jüngling mit Namen Kallath, der Sohn eines hochrangigen angarakanischen Generals, in die Stadt Melcene geschickt, um seine prägenden Jahre im Haushalt des Kaiserlichen Ministers für Auswärtige Angelegenheiten zu verleben. Der Minister hatte aufgrund seiner Stellung häufigen offiziellen und gesellschaftlichen Kontakt zur Kaiserlichen Familie, und Kallath wurde rasch ein gern gesehener Gast im Kaiserlichen Palast. Der Kaiser Molvan war ein älterer Mann mit nur einem Kind, einer Tochter namens Danera, die, wie das Schicksal es wollte, vielleicht ein Jahr jünger als Kallath war. Die Dinge zwischen den beiden jungen Leuten entwickelten sich auf eine nicht ganz unübliche Art, bis Kallath im Alter von achtzehn Jahren nach Mal Zeth zurückbeordert wurde, um seine militärische Karriere in Angriff zu nehmen. Kallath, offenbar ein junges Genie, stieg meteorengleich auf, bis er den Rang eines Generalgouverneurs für den Distrikt von Rakuth erlangt hatte. Zu diesem Zeitpunkt war er achtundzwanzig – der jüngste Mann, der jemals in den Generalstab aufgestiegen war. Ein Jahr später reiste Kallath nach Melcene, wo er und Danera heirateten. Kallath teilte seine Zeit in den folgenden Jahren zwischen Melcene und Mal Zeth, während er sich umsichtig in jeder Stadt eine Machtbasis schuf, und als Kaiser Molvan im Jahre 3829 starb, war Kallath bereit. Natürlich hatte es andere gegeben, die in der Thronfolge vor ihm standen, doch in den Jahren unmittelbar vor dem Tod des alten Kaisers waren die meisten dieser Thronanwärter verschieden – häufig unter mysteriösen Umständen. Dennoch wurde Kallath im Jahre 3830 zum Kaiser von Melcene ausgerufen, *
Im Altertum war das eine weit verbreitete Praxis. Der Hunnenkönig Attila beispielsweise verbrachte mehrere Jahre seiner Kindheit in der Stadt Rom. Das Ziel war es, ihn zu zivilisieren und zum christlichen Glauben zu bekehren. Es sollte jedoch anders kommen.
gegen die leidenschaftlichen Proteste vieler melcenischer Adelsgeschlechter. Diese Proteste wurden allerdings mit einer gewissen brutalen Effizienz von Kallaths Kohorten rasch zum Verstummen gebracht. Im nächsten Jahr reiste Kallath nach Mal Zeth. Er nahm die Kaiserliche Armee bis zur Grenze von Delchin mit, wo er sie kampfbereit in Stellung gehen ließ. In Mal Zeth unterbreitete Kallath dem Generalstab sein Ultimatum. Seine Truppen bestanden zu diesem Zeitpunkt aus der Armee seines eigenen Distrikts, Rakuth, sowie aus jenen der östlichen Fürstentümer in Karanda, wo die angarakanischen Militärgouverneure ihm bereits die Treue geschworen hatten. Diese Streitmacht verschaffte Kallath im Verein mit der melcenischen Armee an der delchinischen Grenze die unangefochtene militärische Übermacht auf dem Kontinent. Seine Forderung an den Generalstab war einfach: Er wollte zum höchsten General und Oberbefehlshaber aller Armeen Angaraks ernannt werden. Es gab selbstverständlich Präzedenzfälle. In der Vergangenheit war hin und wieder ein brillanter General in dieses Amt berufen worden, wenngleich es weitaus üblicher war, daß der Generalstab gemeinsam regierte. Kallaths Forderung indes fügte ein neues Element in das Bild ein. Seine Stellung als Kaiser von Melcene war erblich, und er bestand darauf, daß auch das Amt als Oberbefehlshaber von Angarak erblich sein müsse. Ohnmächtig gingen die Generäle angesichts von Kallaths überwältigender militärischer Überlegenheit auf seine Forderungen ein. Nun war er Kaiser von Melcene und Oberbefehlshaber von Angarak. Die Verschmelzung von Melcene und Angarak, die das moderne Mallorea hervorbringen sollte, verlief turbulent, doch am Ende kann man sagen, daß die melcenische Geduld den Sieg über die angarakanische Brutalität davontrug. Im Laufe der Jahre wurde es immer offensichtlicher, daß die melcenische Bürokratie bei weitem effizienter war als die angarakanische Militärverwaltung. Die ersten Schachzüge der Bürokratie erfolgten in Verbindung mit solch
weltlichen Angelegenheiten wie Währung, Maße und Gewichte. Von da war es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Errichtung eines kontinentalen Amts für Straßenbau. Binnen weniger Jahrhunderte hatte die Bürokratie sich ausgebreitet, bis sie nahezu jeden Aspekt des Lebens auf dem Kontinent bestimmte. Wie stets zuvor sammelte die Bürokratie jeden begabten Mann aus jedem Winkel von Mallorea, ungeachtet seiner Volkszugehörigkeit, und schon bald war es keine Seltenheit mehr, daß Verwaltungseinheiten aus Melcenern, Karandesern, Dalasiern und Angarakanern bestanden. Um das Jahr 4400 war die Vorherrschaft der Bürokratie absolut. In der Zwischenzeit war der Titel ›Oberbefehlshaber Angaraks‹ allmählich außer Gebrauch gekommen, in gewissem Maße wohl deshalb, weil die Bürokratie üblicherweise sämtliche Eingaben an ›Den Kaiser‹ richtete. Merkwürdigerweise scheint es keinen bestimmten Zeitpunkt gegeben zu haben, an dem der ›Kaiser von Melcene‹ zu einem ›Kaiser von Mallorea‹ geworden wäre, und ein solcher Begriff erfuhr bis zu dem katastrophalen Abenteuer im Westen, das in der Schlacht von Vo Mimbre gipfelte, nie eine offizielle Bestätigung.
Die Bekehrung der Melcener zum Glauben an Torak war bestenfalls oberflächlich. Die kultivierten Melcener nahmen auf ihre pragmatische Art die Formen der angarakanischen Gottesverehrung an, da sie es für politisch ratsam hielten, doch die Grolims vermochten nie jene kriecherische Form der Unterwerfung unter den Drachengott zu erreichen, welche die Angarakaner seit jeher ausgezeichnet hatte. Im Jahre 4850 jedoch tauchte Torak unvermutet aus seiner äonenlangen Versenkung auf. Eine gewaltige Schockwelle durchlief ganz Mallorea, als der lebende Gott der Angarakaner, sein entstelltes Gesicht hinter der polierten Stahlmaske verborgen, vor den Toren von Mal Zeth auftauchte. Der Kaiser wurde verächtlich hinweggefegt, und Torak nahm wieder die absolute Gewalt als ›Kal‹ an – König und Gott. Sofort wurden Boten nach Cthol Murgos, Mishrak ac Thull und Gar og Nadrak gesandt, und 4852 wurde ein Konzil in Mal Zeth abgehalten. Die Dalasier, Karandeser und Melcener waren gelähmt durch das plötzliche Auftauchen einer Gestalt, die sie für ein rein mythisches Phänomen gehalten hatten. Die Anwesenheit von Toraks Jüngern Zedar, Ctuchik und Urvon verstärkte ihren Schrecken noch. Torak war ein Gott und sprach nur, um Befehle zu erteilen. Ctuchik, Urvon und Zedar hingegen waren Menschen; sie stellten alles in Frage, überprüften und betrachteten alles mit einer Art kalter Verachtung. Sie erkannten sofort, was zu erkennen Torak merkwürdigerweise nicht imstande war – die nahezu vollständige Verweltlichung der malloreanischen Gesellschaft –, und unternahmen sofortige Schritte, um diese Situation zu bereinigen. Unvermittelt brach eine Herrschaft des Schreckens über Mallorea herein. Die Grolims waren plötzlich überall, und eine weltliche Einstellung kam in ihren Augen Ketzerei gleich. Die Menschenopfer, die nahezu in Vergessenheit geraten waren, wurden mit fanatischem Eifer wiederaufgenommen, und bald gab es kein Dorf in Mallorea mehr, das nicht seinen Altar und seine stinkende
Feuergrube gehabt hätte. Mit einem einzigen Streich machten die Jünger Toraks Jahrhunderte der Regierung durch Militär und Bürokratie zunichte und kehrten zur absoluten Vorherrschaft der Grolims zurück. Bald gab es keine einzige Facette des malloreanischen Lebens mehr, die sich nicht unterwürfigst dem Willen Toraks gebeugt hätte. Die Mobilisierung Malloreas im Zuge. der Vorbereitung auf den Krieg mit dem Westen entvölkerte praktisch den Kontinent. Die Angarakaner und die Karandeser ließ Torak schließlich nach Norden zur Landbrücke marschieren, die in den äußersten Norden Gar og Nadraks führt, und die Dalaser und Melcener marschierten nach Dal Zerba, wo Flotten gebaut wurden, um die Menschen über das Meer des Ostens ins südliche Cthol Murgos überzusetzen. Toraks Strategie war ganz simpel. Die nördlichen Malloreaner sollten sich mit den Nadrakern, den Thulls und den nördlichen Murgos vereinigen, um Drasnien und Algarien anzugreifen; die südlichen Malloreaner sollten sich mit den südlichen Murgos zusammentun, um auf Toraks Befehle zu warten und dann nach Nordwesten zu marschieren. Das Ziel bestand darin, den Westen zwischen diesen beiden gewaltigen Heeren zu zermalmen. Die fürchterliche Niederlage, welche die nördliche Heeressäule in Vo Mimbre erlitt, wurde von der weniger bekannten Katastrophe noch übertroffen, welche die südlichen Streitkräfte in der Großen Wüste von Araga im zentralen Cthol Murgos heimsuchte. Der außergewöhnliche Sturm, der im Vorfrühling des Jahres 4875 vom Großen Westmeer heranfegte, erfaßte die südlichen Murgos, die Melcener und die Dalaser in jener gewaltigen Wüste und begrub sie im wahrsten Sinne des Wortes lebendig unter dem schlimmsten Schneesturm, den die Geschichte je verzeichnet hat. Als dieser Sturm sich nach etwa einer Woche endlich legte, war das Südheer in vierzehn Fuß hohen Schneewehen versunken, die sich bis in den Frühsommer hielten. Dann, nach einem plötzlichen Temperaturanstieg, verwandelte die Wüste sich in ein gewaltiges
Beinhaus. Heute ist uns klar, daß der Schneesturm und die darauffolgenden klimatischen Bedingungen keines natürlichen Ursprungs waren. Indes vermag keine der vielen Theorien, die aufgestellt wurden, um diese Anomalie zu erklären, völlig zu überzeugen. Was auch der Grund gewesen sein mag, das Ergebnis ist eine der größten Tragödien in der Geschichte der Menschheit. Die Südarmee, zuerst durch Schnee und Kälte, dann durch ein SchlammMeer in jenem Ödland gefangen, ging elendiglich zugrunde. Die wenigen Überlebenden, die am Ende jenes Sommers ausgemergelt in Mallorea eintrafen, berichteten von Greueln, die so entsetzlich sind, daß wir sie hier nicht wiedergeben können. Die zweifache Katastrophe, die sich im Westen ereignet hatte, und der vorgebliche Tod Toraks durch die Hand des rivanischen Wächters demoralisierte die Bevölkerung von Mallorea und in den westlichen angarakanischen Königreichen. In Erwartung einer Gegeninvasion zogen die Murgos sich in befestigte Stellungen im Gebirge zurück. Die Thull-Gesellschaft löste sich völlig auf und fiel auf den Stand primitiven Dorflebens zurück. Die weniger leicht zu erschütternden Nadraker zogen sich in die Wälder zurück, und die Unabhängigkeit des heutigen Nadrak läßt sich in vielerlei Hinsicht auf diese Epoche erzwungener Autarkie zurückführen. In Mallorea aber nahmen die Ereignisse einen anderen Verlauf. Der sabbernde alte Kaiser tauchte aus der Versenkung auf, um die Zügel wieder in die Hände zu nehmen und zu versuchen, die zerschlagene Bürokratie wiederaufzubauen. Versuche der Grolims, die Kontrolle über Mallorea zu behalten, stießen auf allgemeinen Haß. Ohne Torak besaßen die Grolims keine wirkliche Macht. Wenngleich die meisten seiner Söhne vor Vo Mimbre gefallen waren, blieb dem alten Kaiser noch ein einziges, talentiertes Kind, die Frucht seines Alters, ein siebenjähriger Knabe. Die letzten ihm verbleibenden Jahre verbrachte der Kaiser damit, seinen Sohn, Korzeth, zu unterrichten und ihn auf die Aufgabe vorzubereiten, sein ausgedehntes Reich zu regieren. Als der alte Kaiser schließlich dem
Altersschwachsinn verfiel, setzte der damals etwa vierzehnjährige Korzeth seinen Vater kalten Herzens ab und bestieg den Kaiserthron. In den Jahren nach Vo Mimbre war die malloreanische Gesellschaft wieder in ihre ursprünglichen Bestandteile Melcena, Karanda, Dalasien und Alt-Mallorea zerfallen. In einigen Gebieten gab es sogar eine Bewegung, die Nation noch weiter in jene prähistorischen Königreiche aufzuspalten, die vor dem Eintreffen der Angarakaner auf dem Kontinent existiert hatten. Diese Bewegung hin zur Abspaltung war im Fürstentum Gandahar in Südmelcena, in Zamad und Voresbo in Karanda sowie in Perivor in den dalasischen Protektoraten besonders stark. Die separatistischen Regionen ließen sich von Korzeths Jugend täuschen und erklärten übereilt ihre Unabhängigkeit vom Kaiserlichen Thron in Mal Zeth. Andere Distrikte und Fürstentümer, vor allem Ganesia, Darshiva und Likandia, ließen erkennen, daß sie ihrem Beispiel bald folgen würden. Korzeth handelte sofort, um die Flut der Revolution einzudämmen. Der Kind-Kaiser verbrachte den Rest seines Lebens im Sattel und richtete das vielleicht größte innenpolitisch verursachte Blutbad in der Geschichte an; doch als er sein Werk vollendet hatte, übergab er seinem Nachfolger ein wiedervereintes Mallorea. Die neuen Kaiser von Mallorea, die Nachfahren Korzeths, brachten eine neue Art der Regierung auf den Kontinent. Vor der Katastrophe im Westen war der Kaiser oftmals nicht mehr als eine Galionsfigur gewesen, und die Macht hatte größtenteils in den Händen der Bürokratie geruht. Nun aber herrschte der Kaiserliche Thron mit absoluter Macht. Das Machtzentrum verlagerte sich im Einklang mit der überwiegend militärischen Ausrichtung Korzeths und seiner Nachkommen von Melcene nach Mal Zeth. Wie es fast immer der Fall ist, wenn die Macht in den Händen eines einzigen Herrschers liegt, breiteten sich Intrigen aus. Verschwörungen, Komplotte, geheime Umtriebe und ähnliches nahmen überhand.
Die verschiedenen Würdenträger schmiedeten Ränke, um Gegenspieler zu verleumden und die Gunst des Kaisers zu erlangen. Die Nachfolger Korzeths ermutigten diese Palastintrigen eher, als daß sie sie unterbunden hätten, erkannten sie doch klug, daß Männer, die durch Mißtrauen und Feindschaft entzweit waren, sich nie zusammentun würden, um die Macht des Throns herauszufordern. ’Zakath, der gegenwärtige Kaiser, kam in seinem achtzehnten Lebensjahr auf den Thron und versprach schon früh ein aufgeklärter Herrscher zu werden. Er schien intelligent, feinfühlig und tatkräftig zu sein. Eine schreckliche persönliche Tragödie brachte ihn jedoch von seinem Weg ab und führte dazu, daß er ein Mann wurde, den die halbe Welt fürchtet. Damit wir verstehen können, was ’Zakath widerfuhr, müssen wir uns zunächst den Entwicklungen in Cthol Murgos zuwenden. Wie häufig zu beobachten, wenn eine Nation mehr als ein paar Jahrhunderte überdauert, werden die Könige von Cthol Murgos der Zweckdienlichkeit halber in Dynastien eingeteilt. Bei ihrer Ankunft im Westen hatten die Murgos ernsthaft erwogen, ob ein König wirklich nötig sei. Ihr aristokratischer Hintergrund jedoch, im Verein mit der Tatsache, daß alle anderen Nationen um sie herum Könige besaßen, machte die Errichtung eines Murgo-Throns unvermeidlich. Anfangs war das Königtum von Cthol Murgos überwiegend zeremonieller Natur, während die tatsächliche Macht in den Händen der befehlshabenden Generäle der neun Militärdistrikte lag. Der Militärkommandant des Distrikts von Goska wurde auf den Thron gesetzt, hauptsächlich deshalb, weil er den ältesten Militärdistrikt im Königreich befehligte und weil man zuvor entschieden hatte, daß Rak Goska die Hauptstadt sein solle, welche die Nation der Welt präsentieren wollte. Mit der Zeit aber wurde die Goska-Dynastie korrupt. Die Insignien der Macht, ohne daß tatsächliche Macht dahintersteht, führen nur allzu oft zu hohler Selbstgefälligkeit. Während andere Königreiche gelegentlich auftretende schwache Herrscher in der
Hoffnung auf bessere Nachfolger hinzunehmen pflegen, legen Murgos weniger Geduld an den Tag. Aus diesem Grund zogen nach mehreren Jahrhunderten der Mißregierung durch die zugegebenermaßen beschränkten Könige der Goska-Dynastie die Militärbefehlshaber der anderen acht Distrikte ohne Bedenken gegen den König ins Feld und beseitigten ihn mitsamt seiner Erben, Minister und Beamten. Der Palastrevolte folgten mehrere Jahrzehnte der Herrschaft durch eine Militärdiktatur, bis die Generäle – einmal mehr der Notwendigkeit gehorchend, der Welt eine Galionsfigur zu präsentieren – dem Tüchtigsten von ihnen, dem Befehlshaber des Distrikts von Gorut, die Krone anboten. Der General von Gorut indes wollte die Krone nicht, es sei denn, das Königsamt würde an Bedeutung gewinnen. Diese Prozedur hat sich seither mit jedem Dynastiewechsel wiederholt, so daß der jetzige König von Cthol Murgos mit nahezu absoluter Machtvollkommenheit regiert und der mächtigste Herrscher der Welt ist. Daß das heutige Cthol Murgos im Verlauf der letzten Jahrhunderte stets am Rande einer Katastrophe stand, hat seinen Ursprung in einer Erbkrankheit der Urga-Dynastie. Die Urgas gelangten mit Hilfe großer Versprechungen auf den Thron, doch die Erbkrankheit brach bereits beim zweiten König aus und befällt seither unweigerlich jeden Urga-Herrscher. Der Wahnsinn im Hause Urga ist schwer zu diagnostizieren, äußert sich aber in Hysterie, krankhaftem Argwohn, abrupten Stimmungsschwankungen und zwanghaftem Verhalten. Bei keinem Urga-König sind diese Symptome krasser zutage getreten als beim gegenwärtigen Träger der Krone, Taur Urgas, dem zehnten UrgaKönig. Die Regierung Taur Urgas’ von Cthol Murgos ist von der Furcht und dem Mißtrauen geprägt, die so kennzeichnend für diese Krankheit sind. Obwohl der wahnsinnige König alle Alorner haßt (insbesondere die Algarier), womit er sich in Einvernehmen mit
seinen Vorgängern befindet, treibt Taur Urgas seinen Argwohn noch weiter. Er fürchtet sich vor einem möglichen Bündnis zwischen Tolnedra, Arendien und den alornischen Königreichen, und um dies zu verhindern, hat er den Westen mit seinen Agenten überschwemmt, die soviel Zwietracht wie möglich säen sollen. Die geheime Angst aber, die Taur Urgas im Schlaf heimsucht, ist die Befürchtung, Mallorea könne Schritte unternehmen, um eine größere Rolle im Schicksal der Königreiche des westlichen Kontinents zu spielen. Es liegt auf der Hand, daß seine als junger Mann gemachte Entdeckung, daß Mallorea mindestens doppelt so groß wie Cthol Murgos ist, Taur Urgas mit einer unbegründeten Furcht und maßlosem Haß erfüllt hat. Die Verachtung, die der durchschnittliche Murgo den Malloreanern entgegenbringt, hat im Falle ihres Königs die Grenze zur offenen Feindseligkeit überschritten. Als daher der junge Kaiser ’Zakath den Thron in Mal Zeth bestieg, trug Taur Urgas seinen dortigen Spionen umgehend auf, ihn mit Einzelheiten bezüglich Herkunft, Bildung und Temperament des neuen Kaisers zu versorgen. Ihre Antworten erfüllten Taur Urgas mit Bestürzung. Es schien, als wäre ’Zakath genau der Mann, den Taur Urgas als Herrscher der bevölkerungsreichsten Nation dieser Erde am meisten fürchtete. Verzweifelt suchte der König der Murgos nach einer Möglichkeit, die unleugbaren Fähigkeiten des Malloreaners unwirksam zu machen. Die Gelegenheit, auf die Urgas gewartet hatte, ergab sich, als Neuigkeiten nach Rak Goska durchsickerten, ’Zakath habe sich verliebt. Die fragliche Dame war ein melcenisches Mädchen von edler Herkunft, für dessen mächtige Familie gleichwohl schwere Zeiten angebrochen waren. Die Voraussetzungen waren ideal für den murgosischen König. Taur Urgas bediente sich des nahezu unerschöpflichen Reichtums an blutrotem Gold aus den Minen von Cthol Murgos, um sämtliche Schuldverschreibungen der Familie des Mädchens an sich zu bringen; dann begann er, Druck auf sie
auszuüben. Als er die Familie an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte, ließ Taur Urgas ihnen durch seine Agenten seinen Vorschlag unterbreiten. Das Mädchen sollte ’Zakath ermutigen und ihn, mit welchen Mitteln auch immer, zur Heirat verlocken. Dann sollte sie ihren ganzen Einfluß auf den jungen Mann geltend machen, um zu verhindern, daß er jemals einen Gedanken an Abenteuer im Westen fassen würde. Falls dies fehlschlug, sollte nyissanisches Gift besorgt und das Mädchen dazu gezwungen werden, ihren Gemahl zu ermorden. Der Plan schlug deshalb fehl, weil Murgos einfach nicht dazu geschaffen sind, die Komplexität einer malloreanischen Intrige zu begreifen. Murgos scheinen zwangsläufig davon auszugehen, daß jemand, den sie einmal bestochen haben, für immer auf ihrer Seite steht. In Mallorea aber ist eine solche Rechtschaffenheit eher die Ausnahme als die Regel. So kam es, daß ein relativ unbedeutender Mitverschwörer schon bald Gelegenheit fand, seine Kenntnisse gewinnbringend an gewisse Beamte in der Regierung von Kaiser ’Zakath zu verkaufen. Als die ganze Angelegenheit vor den Kaiser gebracht wurde, befahl der junge Mann in einem plötzlichen Wutanfall, alle an der Intrige Beteiligten zusammenzutreiben und auf der Stelle hinzurichten. Nachdem der Befehl ausgeführt worden war, tauchten Beweise auf, die die Vermutung nahelegten, das melcenische Mädchen (das ’Zakath offenbar leidenschaftlich geliebt hatte) sei nicht nur unschuldig gewesen, sondern habe womöglich nicht einmal von der murgosischen Intrige gewußt. Als der junge Kaiser diese tragische Nachricht erhielt, wurde er fast verrückt vor Kummer, und als er sich schließlich wieder erholte, hatte sich seine Persönlichkeit dermaßen verändert, daß selbst seine eigene Familie ihn nicht wiedererkannte. Der zuvor aufgeschlossene und gesellige junge Mann wird nun hinter vorgehaltener Hand oft ›der Mann aus Eis‹ genannt.
’Zakaths erste Handlung nach seiner Genesung bestand darin, den berühmt gewordenen Beschwerdebrief an Taur Urgas zu schreiben. Der Brief lautet wie folgt: An Seine Majestät, Taur Urgas von Murgos, Euer jüngster Versuch, Euch in innere malloreanische Angelegenheiten zu mischen, hat mich erheitert, Euer Majestät. Würden andere als die derzeitigen globalen Umstände vorherrschen, welche es angelegen sein lassen, einen offenen Bruch zwischen den beiden größten angarakanischen Nationen zu vermeiden, würde ich mit der gesamten Macht Malloreas gegen Euch ins Feld ziehen und Euch für Euer Vergehen auf eine Weise züchtigen, die Eure Vorstellungskraft übersteigt. Um sicherzustellen, daß sich diese Angelegenheit nicht wiederholt, habe ich alle Murgos innerhalb der Grenzen meines Reiches in Gewahrsam genommen, auf daß sie als Geisel für Euer Wohlverhalten dienen mögen. Man hat mir berichtet, daß einige dieser gefangengesetzten Personen in enger verwandtschaftlicher Beziehung zu Euch stehen. Solltet Ihr weiteres Unheil in meinem Reich stiften, werde ich Euch Eure Verwandten zurückschicken – Stück um Stück. In der Vergangenheit hat Euer Wahnsinn Eure Welt mit eingebildeten Feinden bevölkert. Freut Euch, Taur Urgas, und vergeßt den Wahnsinn, denn nun habt Ihr einen wahren Feind, tödlicher als alle Phantome, die Euer kranker Geist Euch vorgaukeln könnte. Seid versichert, sobald die Weltlage es gestattet, werde ich über Euch und die stinkende Wüste herfallen, die Ihr Euer Königreich nennt Es ist mein unabänderlicher Wille, Euch und Eure widerwärtige Rasse vom Antlitz dieser Erde zu tilgen. Wenn ich mit Euch fertig bin, wird niemand mehr das Wort ›Murgo‹ kennen. Seid auf der Hut und schaut Euch stets gut um, Taur Urgas, denn so gewiß, wie die Sonne morgen aufgehen wird, werde ich eines Tages erscheinen. Mit tiefempfundener Verachtung ’Zakath, Kaiser von Mallorea
Als Taur Urgas diesen Brief gelesen hatte, sahen seine Berater sich gezwungen, ihn mit körperlicher Gewalt davon abzuhalten, sich ein Leid anzutun. Obwohl es vermutlich eine Übertreibung ist, behaupten einige Zeugen, der Murgo-König habe tatsächlich Schaum vor dem Mund gehabt, so groß sei sein Zorn gewesen. Man muß gestehen, daß der Brief ’Zakaths wahrscheinlich der am schärfsten formulierte Brief war, den ein Staatsoberhaupt je einem anderen geschrieben hat. Dieser Brief war der Beginn von Kriegsvorbereitungen beider Nationen, da eine offene Auseinandersetzung nunmehr unvermeidlich geworden war. Gelegentlich trieb der zunehmende Wahnsinn den Murgo-König zu einer wie auch immer gearteten Aktion gegen seinen unerbittlichen Feind. Während diese Unternehmungen allesamt ziemlich unbedeutend waren, blieb ’Zakaths Antwort stets die gleiche. Nicht lange nach solchen Vorfällen empfing Taur Urgas unausweichlich den zerstückelten Leichnam eines Vetters oder Neffen. Da die murgosische Besessenheit für Rassenreinheit nur von ihrem Familiensinn übertroffen wird, hätte ’Zakath Taur Urgas nicht schlimmer treffen können. Mit den Jahren wurde der Haß der beiden Männer aufeinander immer stärker, bis er für sie gleichsam zu einem Glaubensgrundsatz avancierte. Der auf so tragische Weise verwandelte Kaiser von Mallorea war besessen von der Idee der Macht, und die Vorstellung, Hochkönig von ganz Angarak zu werden, beherrscht nun seit zwei Jahrzehnten sein ganzes Denken. Nur die Zeit wird entscheiden, ob ’Zakath von Mallorea mit seinem Versuch, die Oberhoheit über die westlichen angarakanischen Königreiche zu gewinnen, Erfolg beschieden sein wird, doch wenn er Erfolg hat, könnte dies die Geschichte der gesamten Welt von Grund auf verändern.
5 DIE MALLOREANISCHEN EVANGELARIEN
BUCH 1
DAS BUCH DER ZEITALTER Dies nun sind die Zeitalter der Menschheit: Im Ersten Zeitalter wurde der Mensch erschaffen, und er erwachte voller Verwirrung und Verwunderung, als er die Welt um sich herum erblickte. Und jene, die ihn geschaffen hatten, betrachteten ihn und wählten aus seinen Reihen jene, die ihr Gefallen fanden, und die übrigen wurden verstoßen und vertrieben. Und manche begaben sich auf die Suche nach dem Geist, welcher UL heißet, und sie verließen uns und zogen in den Westen, und wir sahen sie nie wieder. Und andere leugneten die Götter, und sie gingen in den fernen Norden, um mit Dämonen zu ringen. Und wieder andere wandten sich irdischen Dingen zu, und sie wanderten fort in den Osten und erbauten dort mächtige Städte. Wir aber verzweifelten, und wir setzten uns nieder auf die Erde im Schatten der Berge von Korim, welche nicht mehr sind, und voller Bitterkeit beklagten wir unser Los, erschaffen und dann verstoßen worden zu sein. Und es begab sich zu diesen Zeiten, daß in unserem tiefen Leid eine Frau aus unserem Volk von einer Verzückung erfaßt wurde, und es war, als würde sie von einer mächtigen Hand
geschüttelt. Und sie erhob sich von der Erde, auf welcher sie gesessen hatte, und sie band sich ein Tuch um ihre Augen, um uns zu bedeuten, daß sie geschaut hatte, was keines Sterblichen Auge je zuvor geschaut hatte, denn wisset! Sie war die erste Seherin auf der Welt. Und noch von der Vision angerührt, wandte sie sich mit lauter Stimme an uns und sprach: »Sehet! Ein Festmahl wurde aufgetischt für jene, die uns schufen, und dieses Festmahl sollt ihr das Festmahl des Lebens nennen. Und die, welche uns schufen, haben sich dasjenige erwählt, das ihr Gefallen fand, und was ihr Gefallen nicht fand, wurde nicht erwählt. Nun sind wir das Festmahl des Lebens, und ihr grämt euch, daß noch kein Festgast euch erwählt hat. Aber verzweifelt nicht, denn ein Gast ist noch nicht zu dem Fest erschienen. Die anderen Gäste haben sich sattgegessen, doch dieses große Festmahl des Lebens wartet noch auf den Geliebten Gast, der als letzter kommt, und ich sage es allem Volke: Er ist es, der uns erwählen wird. Darum erwartet sein Kommen, denn es ist gewiß. Die Zeichen dafür stehen am Himmel geschrieben, und im Inneren der Felsen erklingt Flüstern, das davon raunt. Und da Himmel und Erde es bezeugen, wie könnte es nicht geschehen? Bereitet euch denn auf sein Kommen vor. Grämt euch nicht mehr und wendet eure Gesichter dem Himmel zu und auch der Erde, auf daß ihr die Zeichen lesen lernet, welche dort geschrieben stehen, denn dies sage ich allem Volke: Von euch hängt sein Kommen ab. Denn sehet, es mag sein,
daß er euch nicht erwählt, wenn ihr ihn nicht erwählt. Und das ist das Schicksal, für das wir geschaffen wurden. Erhebe dich, o mein Volk. Kauert nicht länger in vergeblicher und törichter Klage auf der Erde. Nehmt die Aufgabe an, die vor euch liegt, und bereitet den Weg vor für Ihn, der gewiß kommen wird.« Gar sehr wunderten wir uns über die Kunde, die uns zuteil geworden, und wir bedachten sie gewissenhaft. Und wir fragten die Seherin, doch ihre Antworten waren dunkel und rätselhaft. Und wir erkannten, daß das Versprechen eine Gefahr barg. So wandten wir unsere Gesichter dem Himmel zu und lauschten dem Wispern, welches aus der Erde emporsteigt, auf daß wir sehen und hören und lernen möchten. Und als wir lernten, das Buch des Himmels zu lesen und das Flüstern im Inneren der Felsen, stießen wir auf Myriaden von Warnungen, daß zwei Geister zu uns kommen würden, und der eine war gut, und der andere war böse. Und so mühten wir uns sehr, auf daß wir den wahren Geist und den falschen Geist unterscheiden lernten, um zwischen ihnen wählen zu können. Und da wir das Buch des Himmels lasen, fanden wir zwei Zeichen; und da wir der Erde lauschten, hörten wir zwei Stimmen; und große Sorge befiel uns, denn wir konnten nicht entscheiden, welches Zeichen das wahre Zeichen war und welche Stimme die wahre Stimme. Wahrlich, das Böse tritt im Gewande des Guten auf im Buch des Himmels und in der Sprache der Erde, und kein Mann ist so weise, daß er ohne Hilfe zwischen ihnen zu wählen
vermöchte. Und als wir dies bedacht hatten, kamen wir hervor aus dem Schatten am Fuße der Berge von Korim und zogen in die Länder jenseits der Gipfel, wo wir uns niederließen. Und wir schoben alle menschlichen Sorgen beiseite und widmeten uns ganz der Aufgabe, die vor uns lag. Und wir erforschten alle Wege der Weisheit, mit deren Hilfe wir den wahren Gott von dem falschen unterscheiden könnten, wenn die beiden zu uns kämen und jeder von ihnen sagte: »Ich bin der Weg.« Unsere Hexen und unsere Seher suchten die Hilfe der Geisterwelt, und unsere Nekromanten hielten Rat mit den Toten, und unsere Auguren ersuchten die Erde um Rat. Aber wisset, die Geister und die Toten und die Felsen wußten nicht mehr als wir, und wir entdeckten, daß sie ebenso verwirrt und bekümmert waren wie wir. Dann versammelten wir uns schließlich auf einer fruchtbaren Ebene, um alles zusammenzutragen, was wir von der Welt der Menschen, der Welt der Geister, dem Buch des Himmels und den Stimmen der Erde gelernt hatten. Und sehet, dies sind die Wahrheiten, die wir erfahren haben von den Sternen, von den Felsen, von den Herzen der Menschen und von den Seelen der Geister: Wisse denn, o mein Volk, daß am Boden des endlosen Brunnens der Zeit die Spaltung alles verdorben hat, was ist – denn Spaltung liegt im Herzen der Schöpfung selbst. Und manche haben gesagt, dies sei natürlich und werde andauern bis an das Ende aller Tage, aber dem ist nicht so. Wäre der Spaltung Ewigkeit beschieden, wäre es der Zweck des Universums, sie zu erhalten. Doch die
Sterne und die Geister und die Stimmen in den Felsen künden von einem Tag, da die Spaltung enden und alles wieder heil und ganz und eins werden wird, denn die Schöpfung selbst weiß, daß dieser Tag kommen wird. Wisse weiter, o mein Volk, daß zwei Geister im Herzen der Zeit miteinander ringen, und diese beiden Geister sind die zwei Seiten dessen, was die Schöpfung gespalten hat. Und zu einem bestimmten Zeitpunkt werden diese Geister auf dieser Welt aufeinandertreffen, und dann wird die Zeit der Wahl kommen. Und sollte die WAHL nicht getroffen werden, werden die Geister in eine andere Welt hinübergehen und sich dort gegenübertreten, und diese Welt wird verlassen werden, und der Geliebte Gast, von dem die Seherin gesprochen hat, wird nimmer kommen. Denn das ist es, was gemeint war, als sie zu uns sprach: »Sehet, es mag sein, daß er euch nicht erwählt, wenn ihr ihn nicht erwählt.« Und die Wahl, die wir treffen müssen, ist die Wahl zwischen Gut und Böse – denn es gibt ein vollkommen Gutes und ein vollkommen Böses, und die Spaltung im Herzen der Schöpfung ist die zwischen Gut und Böse, und die Wirklichkeit, die sein wird, nachdem wir DIE WAHL getroffen haben, wird eine Wirklichkeit des Guten oder eine Wirklichkeit des Bösen sein, und so wird es bleiben bis ans Ende aller Tage. Sehet, auch diese Wahrheit sei euch verkündet: Die Felsen der Welt und aller anderen Welten raunen unablässig von den beiden Steinen, welche
im Herzen der Spaltung liegen. * Einst waren diese Steine eins, und sie standen im Zentrum aller Schöpfung, doch wie alles andere wurden sie gespalten, und im Augenblick der Spaltung wurden sie auseinandergerissen mit einer Kraft, die ganze Sonnen zerstörte. Und wo diese beiden Steine gefunden werden, wird sich gewiß die nächste Begegnung zwischen den beiden Geistern ereignen. Nun wird der Tag kommen, an dem alle Spaltung enden und alles wieder eins sein wird, nur die Spaltung zwischen den beiden Steinen nicht, denn sie ist so groß, daß sie nie wieder zusammengefügt werden können. Und an dem Tag, an dem die Spaltung endet, wird einer der beiden Steine für immer zu bestehen aufhören, und an diesem Tage wird auch einer der beiden Geister für immer vergehen. Dieses waren also die Wahrheiten, die wir von den Sternen und den Felsen und von den Herzen der Menschen und den Seelen der Geister erfuhren. Und es war die Entdeckung dieser Wahrheiten, welche das Ende des Ersten Zeitalters bedeutete. Und da begann das Zweite Zeitalter der Menschheit mit Donner und Erdbeben, denn sehet, die Erde selbst tat sich auf und spaltete sich, und das Meer strömte hinein und spaltete die Länder der Menschen, wie die Schöpfung selbst gespalten ist. Und die Berge von Korim erzitterten und stöhnten und bäumten sich auf, als das Meer sie verschlang. Wir aber wußten, daß dies geschehen werde, denn unsere Seher hatten uns *
Der Orb und der Sardion.
gewarnt, daß es so kommen würde. Darum gingen wir unseres Weges und fanden Zuflucht, bevor die Welt gespalten wurde und das Meer zuerst hinweggesogen wurde und dann zurückrauschte und sich nie mehr teilte. Und es war im Zweiten Zeitalter, daß wir Zeuge der Ankunft der Erwählten wurden, die von den Sieben Göttern ausgesucht worden waren. Und wir schauten sie, um zu ergründen, ob sie irgendein Zeichen an sich trügen, das sie vom Rest der Menschheit unterscheiden möchte, doch wir fanden kein solches Zeichen oder Merkmal an ihnen. Und unsere Seher verständigten sich mit den Geistern der Seher unserer Brüder, die in den Westen gezogen waren, bevor die See herbeikam und die Länder der Menschen geteilt hatte. Und unsere Brüder im Westen untersuchten ebenfalls die Erwählten anderer Götter, und ihre Seher sprachen zum Geist unserer Seher, und sie sagten, sie hätten so wenig wie wir irgendein Zeichen oder Merkmal an ihnen zu finden vermocht. Und unsere Brüder im Westen betrachteten die Erwählten des Bärengottes und des Löwengottes und des Stiergottes und des Fledermausgottes und des Schlangengottes und fanden kein Zeichen und kein Merkmal an ihnen, und wir betrachteten die Kinder des Drachengottes, und mit ihnen war es nicht anders, obwohl das Volk des Drachengottes Krieg führte gegen die Völker der anderen Götter. Und dennoch gab es noch einen anderen Gott, und einige Menschen dachten, daß dieser Gott, der in Einsamkeit lebte, tatsächlich jener Gott sein möchte, der zu gegebener Zeit alle nicht erwählten
Völker zu sich nehmen werde. Und unsere Brüder im Westen begaben sich in das Tal, in welchem er mit seinen Jüngern weilte, und warfen sich vor ihm zu Boden und beschworen ihn, er möge ihnen die Geheimnisse verraten, die in der Zukunft verborgen lagen. Und der Gott Aldur sprach freundlich zu ihnen und gab ihnen guten Rat und sagte: »Erwartet das Kommen des Geliebten und wisset, daß meine Brüder und ich und auch unsere Völker uns mühen, sein Kommen zu ermöglichen – und all unser Streben und all unsre Opfer gelten euch, denen es bestimmt ist, die Erwählten von Ihm zu sein, der kommen wird.« Und einer unserer Brüder ergriff das Wort und fragte den Gott: »Und was ist mit dem Drachengott, Herr, welcher Dein Feind ist? Müht auch er sich für das Kommen des Geliebten?« Und das Antlitz Aldurs verdunkelte sich, und er erwiderte und sprach: »Mein Bruder Torak müht sich fürwahr, doch weiß er nicht, wohin ihn dies führen wird. Ich rate euch, in Frieden zu leben mit den Kindern des Drachengottes, denn ihr lebt in Ländern, die sie besitzen werden, und sie werden über euch herrschen. Wenn ihr euch ihnen widersetzt, wird großes Leid über euch kommen. Ertragt, was sie euch antun, und faßt euch in Geduld, um weiterhin die Aufgaben zu tun, die euch aufgetragen wurden.« Und die Seher des Westens offenbarten Aldurs Worte den Geistern der Seher, welche unter uns weilten, und wir gingen die Seher um Rat an und bedachten, wie wir die Kinder des Drachengottes am wenigsten erzürnen würden, so daß sie unsere
Studien nicht unterbrachen. Am Ende kamen wir zu dem Schluß, daß die kriegerischen Kinder von Angarak am wenigsten Anstoß an einfachen Leuten nehmen würden, die im Schweiße ihres Angesichts das Feld bestellten und in primitiven Dörfern hausten. Wir rissen unsere Städte nieder und schafften die Steine hinweg, und wir begaben uns zurück aufs Land, um weder Furcht noch Neid in unseren Nachbarn zu erwecken. Und die Jahre vergingen und wurden zu Jahrhunderten, und die Jahrhunderte gingen ins Land und wurden zu Jahrtausenden. Und wie uns vorausgesagt, kamen die Kinder des Drachengottes über uns und errichteten ihre Herrschaft. Und sie nannten die Länder, in denen wir lebten, ›Dalasien‹, und wir taten, was sie wollten, das wir tun, und setzten unsere Studien fort. Nun begab es sich im hohen Norden ungefähr zu dieser Zeit, daß ein Jünger des Gottes Aldur mit anderen kam, um einen gewissen Gegenstand zu beanspruchen, den der Drachengott Aldur gestohlen hatte. Und diese Tat war so bedeutsam, daß sie das Ende des Zweiten und den Anbruch des Dritten Zeitalters einläutete. Nun aber geschah es in diesem Dritten Zeitalter, daß die Priester von Angarak, welche die Menschen Grolims nennen, zu uns kamen und uns vom Drachengott und seinem Hunger nach Liebe erzählten, und wir erwogen, was sie uns gesagt hatten, wie wir alles erwogen, was die Menschen uns erzählten. Und wir zogen das Buch des Himmels zu Rate und vergewisserten uns, daß Torak die fleischgewordene göttliche
Erscheinungsform eines der beiden Geister war, die im Herzen der Zeit miteinander rangen. Doch wo war der andere? Wie sollten Menschen eine Wahl treffen, wenn nur einer der beiden Geister zu ihnen kam? Wie kann ein Mensch das Gute wählen und dem Bösen abschwören, wenn er sie in keiner Weise miteinander vergleichen kann? Der Geist, welcher den Drachengott beseelte, konnte uns bei unserer Wahl nicht helfen, denn dieser Geist hielt sein Ziel für gut und konnte nicht begreifen, daß es vielleicht böse war. Und da geschah es, daß wir uns unserer schrecklichen Verantwortung bewußt wurden. Die Geister würden zu uns kommen, ein jeder zu seiner Zeit, und jeder würde behaupten, er sei gut und der andere böse. Der Mensch jedoch würde wählen. Und es gibt einige, die glauben, daß es die Wahl des Menschen sein wird, die den Ausgang von allem entscheidet. Und wir berieten uns miteinander und kamen überein, die äußerlichen Formen der Religion anzunehmen, welche die Grolims uns so aufdrängten. Das würde uns Gelegenheit geben, das Wesen des Drachengottes zu erforschen, auf daß wir besser vorbereitet wären auf die Wahl, die stattfände, wenn der andere Gott auftauchen würde. Die Formen der Gottesverehrung, welche die Grolims praktizierten, stieß uns ab, doch wir gaben dafür nicht Torak die Schuld, denn der Jünger kann die Absicht des Meisters verfälschen und in seinem Namen tun, was sein Meister nicht beabsichtigt hatte. Und so beobachteten wir, und wir warteten, und wir schwiegen.
Mit der Zeit drangen die Ereignisse der Welt zu uns vor. Die Kinder des Drachengottes, welche die Menschen Angarakaner nennen, verbündeten sich durch Heirat mit den großen Städtebauern des Ostens, die sich selbst Melcener nannten, und diese beiden errichteten ein Reich, das den ganzen Kontinent umfaßte. Nun waren die Angarakaner Tatmenschen, die Melcener aber waren Pflichterfüller. Eine getane Tat ist für immer getan, die Pflicht aber ruft uns jeden Tag aufs neue. Daher kamen die Melcener zu uns, um unter uns nach solchen Ausschau zu halten, die ihnen bei der Erfüllung ihrer endlosen Pflichten helfen würden. Und wir halfen ihnen in gewissem Umfang, verbargen jedoch unser wahres Wesen vor ihnen. Wie der Zufall es wollte, erhielt einer unserer Sippe, den die Melcener ausgesucht hatten, um ihnen zu helfen, die Gelegenheit, bei der Erfüllung einer Pflicht, die man ihm zugewiesen hatte, in den Norden zu reisen. Und er gelangte an einen bestimmten Ort und suchte dort Zuflucht vor einem Sturm, der ihn überrascht hatte. Nun verhielt es sich so, daß dieser Ort sich in der Obhut der Grolims befand, der Herr des Hauses jedoch weder Grolim noch Angarakaner, noch überhaupt ein Mensch war. Unser Verwandter war unwissentlich auf das Haus Toraks gestoßen; und wie der Zufall es wollte, war Torak neugierig auf unser Volk, und er schickte nach dem Reisenden, und unser Verwandter trat ein, um den Drachengott von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Und in dem Augenblick, da sein Blick auf Torak fiel, endete das Dritte Zeitalter, und das
Vierte hub an. Denn sehet, der Drachengott war keiner der Götter, auf die wir warteten. Die Zeichen, die er an sich trug, deuteten nicht über ihn hinaus, und unser Verwandter erkannte, daß Torak verdammt war und das, was er war, mit ihm untergehen würde. Und dann sahen wir unseren Irrtum ein, und wir verwunderten uns gar sehr, wie wir hatten übersehen können, daß selbst ein Gott nur das Werkzeug des Schicksals sein konnte. Denn wisset, Torak war eine der beiden Bestimmungen, aber er war nicht die ganze Bestimmung. Und während wir allmählich diese schwierige Wahrheit begriffen, wurde uns klar, daß die beiden feindlichen Notwendigkeiten die höchste Macht im Universum darstellten und daß selbst die Götter sich vor ihnen beugen mußten. Nun bewegte die Welt sich aber weiter, während wir all dies erwogen und bedachten, und wir beobachteten die Auswirkungen der beiden Bestimmungen, während sie Menschen leiteten und Ereignisse zu unabänderlichen Verläufen wendeten, die nach Ablauf der Zeit aufeinanderprallen müssen. Nun trug es sich zu, daß auf der anderen Seite der Welt ein König erschlagen wurde, und seine ganze Familie mit ihm, bis auf einen. Und dieser König war der Hüter des einen der beiden Steine gewesen, die im Herzen der Spaltung liegen, welche die Schöpfung verdirbt. Und als Torak davon Kunde erhielt, frohlockte er, denn er glaubte, ein Erzfeind sei vernichtet. Zu dieser Zeit geschah es, daß er seine Vorbereitungen begann, gegen die Königreiche des Westens zu ziehen. Doch die
Zeichen am Himmel und das Wispern der Steine und die Stimmen der Geister sagten uns, es sei nicht so, wie Torak glaubte. Der Stein wurde noch immer bewacht, und die Reihe der Wächter ward nicht unterbrochen, und der Krieg würde Torak ins Verderben stürzen. Und da begannen wir zum ersten Male von weither einen Widerhall zu erahnen, welchen der Geist eines anderen Wesens erzeugte. Undeutlich hatten wir durch die Jahrtausende hinweg die Schritte des Ersten Jüngers des Gottes Aldur gespürt – ihn, den die Menschen und Götter Belgarath nennen. Nun entdeckten wir, daß er Gesellschaft erhalten hatte – von einer Frau –, und gemeinsam suchten diese beiden die Winkelzüge Toraks und seiner Handlanger zunichte zu machen. Und wir wußten, daß dies von höchster Bedeutung war, denn nun waren Ereignisse, die sich eingangs zwischen den Sternen zugetragen hatten, auf die Erde herniedergekommen, und hier war es, wo die entscheidende Begegnung sich zutragen würde. Die Vorbereitungen des Drachengottes währten lange, und die Aufgaben, die er seinem Volk aufbürdete, waren die Aufgaben von Generationen. Und so wie wir beobachtete auch Torak den Himmel, um dort die Zeichen zu entdecken, die ihm sagen würden, wann er gen Westen ziehen könne. Doch Torak hielt nur Ausschau nach den Zeichen, die er sehen wollte, und er las nicht die ganze Botschaft, die am Himmel geschrieben stand. Und da er nur einen kleinen Teil der Zeichen las, setzte er seine
Truppen an dem ungünstigsten Tag in Marsch. Als wir dies erkannt hatten, hielten wir Rat miteinander. Obwohl unser Volk gewaltsam in die gigantische Armee gepreßt worden war, die den Westen angreifen sollte, meinten wir, uns nicht dem Lauf einer der beiden Bestimmungen entgegenstellen zu dürfen. Für eine schwere Aufgabe waren wir auserwählt worden, und wenn wir sie erfüllen wollten, durften wir am Lauf der Bestimmungen nichts ändern. Wir waren indes betrübt, daß andere Menschen und sogar Götter nicht in der Lage sein sollten, diese Botschaften am Himmel zu lesen, die für uns so deutlich waren, als hätte man sie in Stein gemeißelt. Und wie wir es vorhergesehen hatten, brach auf jener weiten Ebene vor der Stadt von Vo Mimbre Unheil über Torak und sein Heer herein. Und wir trauerten zusammen mit dem übrigen Mallorea, denn Heerscharen aus unserem Volk waren dort zu Tode gekommen. Dort geschah es auch, daß der Drachengott von Angarak durch den Stein der Macht besiegt wurde, und er wurde in tiefen Schlaf versenkt, um so das Kommen seines Feindes zu erwarten. Und nun lag der Lauf der Ereignisse in den Händen der Jünger der Götter und nicht mehr in den Händen der Götter selbst. Und die Namen der Jünger hallten von den Sternen wider, und wir lasen den Bericht ihrer Taten und ihrer Ordnung der Ereignisse im Buch des Himmels. Die Jünger des Torak waren Ctuchik und Zedar und Urvon, und mächtig waren ihre Zauber und Beschwörungen; die Jünger Aldurs aber, die solche
Taten mit eigenen Zaubereien durchkreuzten, waren Beltira und Belkira und Beldin. Und der mächtigste aller Zauberer war Belgarath, den die Menschen ›den Ewigen‹ nennen, und an Macht kam ihm nahe seine Tochter, Polgara die Zauberin. Dann geschah es, daß ein Flüstern an unsere Ohren drang, und dieses Flüstern übermittelte uns noch einen Namen. Als alle Ereignisstränge sich zu jenen letzten Bahnen vereinigten, von denen es keine Umkehr gibt, wurde das Flüstern dieses Namens deutlicher hörbar für uns. Und am Tage seiner Geburt schwoll das Flüstern zu einem lauten Ruf an, und wir kannten ihn. Belgarion der Gottbezwinger war endlich gekommen. Und nunmehr nahmen die Ereignisse, die sich bisweilen mit quälender Langsamkeit hingezogen hatten, einen schnelleren Lauf, und der Sog hin zu jener furchtbaren Begegnung wurde so stark, daß wir nichts mehr darüber in den Sternen lesen konnten, denn das Buch des Himmels ist so unermeßlich, daß es ein Menschen leben dauert, auch nur eine einzige Seite zu lesen. Doch wir konnten hören, wie Belgarions Macht sich regte, und das Donnergetöse seiner ersten Versuche war schrecklich. Und dann, an dem Tage, den die Menschen als Geburtstag der Schöpfung feiern, erhielt Belgarion das Auge Aldurs, den Orb, den die Menschen von Angarak Cthrag-Yaska nennen; und in dem Augenblick, da seine Hand sich um ihn schloß, füllte sich das Buch des Himmels mit einem mächtigen Licht, und der Klang von Belgarions Namen erscholl vom fernsten aller Sterne.
Nun überstürzten die Ereignisse sich in so rascher Folge, daß wir ihren Verlauf nur noch zu erraten vermochten. Wir konnten spüren, wie Belgarion sich Mallorea näherte, wobei er den Stein bei sich trug, und wir konnten spüren, wie Torak sich in unruhigem Schlummer herumwarf. Auch konnten wir die Bewegungen der Armeen spüren, doch Belgarion führte keine Armee. Eine große Schlacht hub im Westen an, doch der Ausgang dieser Schlacht hatte nichts zu tun mit dem, was geschehen sollte. Schließlich kam die furchtbare Nacht. Unter unseren ohnmächtigen Blicken wurden die Seiten im Buch des Himmels so rasch umgeschlagen, daß wir sie nicht zu lesen vermochten. Und dann hielt das Buch inne, und wir konnten eine schreckliche Zeile lesen: ›Torak ist erschlagen‹, und das Buch erbebte, und alles Licht in der ganzen Schöpfung erlosch. Und in jenem grauenvollen Augenblick der Finsternis und Stille endete das Vierte Zeitalter, und das Fünfte Zeitalter begann. Und sehet, als das Licht wiederkehrte, vermochten wir das Buch des Himmels nicht mehr zu entziffern! Seine Sprache, die wir zuvor fließend gelesen hatten, war nun fremd und unverständlich für uns, und wir waren gezwungen, seine Bedeutung wieder aus winzigen Bruchstücken zusammenzufügen, so wie wir es im Ersten Zeitalter hatten tun müssen. Und als wir die Seiten, die am Himmel geschrieben stehen, wieder lesen konnten, fanden wir ein Mysterium in ihnen. Bis dahin war alles auf die Begegnung zwischen Belgarion und Torak zugelaufen, doch nun
bewegten die Ereignisse sich auf eine andere Begegnung zu. Es gab Zeichen in den Sternen, die uns sagten, die Bestimmungen hätten wieder andere Erscheinungsformen für ihr nächstes Aufeinandertreffen ausgewählt, und wir konnten die Bewegungen dieser Wesenheiten spüren, doch wir wußten nicht, wer oder was sie sein mochten, denn die Seiten, die von ihrer Geburt oder ihren Ursprüngen berichtet hatten, waren in den Jahren, in denen das Buch in einer fremden Sprache sprach, für immer verlorengegangen. Zudem herrschte große Verwirrung in den Zeichen, die wir lasen, denn das Buch schien zu besagen, daß es das Schicksal des Hüters des Orbs sei, Torak als Erscheinung der Zweiten Bestimmung, welche Kind der Finsternis genannt wurde, zu folgen. Doch wir wußten, daß dies nicht möglich war, denn Belgarion war der Hüter des Orb, und Belgarion war das Kind des Lichtes. Desgleichen lasen wir, daß die Mütter des Kindes des Lichts und des Kindes der Finsternis diese zu der Begegnung leiten würden, und die Zeichen sagten unmißverständlich, daß Polgara die Mutter des Kindes des Lichts sei. Doch es war Polgaras Schicksal, für immer kinderlos zu bleiben, und dies hatte schon vor ihrer Geburt in den Sternen gestanden. * Und selbst wenn das Unmögliche wahr werden und Belgarion auf die Seite der anderen Bestimmung gezogen und ein zweiter Abtrünniger wie Zedar werden würde, so war doch Belgarions Mutter Ildera gestorben, als er noch ein kleines *
Eriond änderte das.
Kind war. Dennoch fühlten wir eine Wesenheit, verschleiert und in Dunkelheit gehüllt, die gleichwohl die Geschicke der Menschheit beeinflußte, und der Mond sprach ganz deutlich, und er offenbarte uns, daß die dunkle Wesenheit eine Frau war und ihre Macht der von Polgara in nichts nachstand. Aber diese Mutter der Finsternis war ebenfalls kinderlos. Und die Rätsel der Sterne narrten uns, so daß wir ebenso hilflos waren wie ein ungebildeter Sklave, für den die Lichter am Nachthimmel nur Sterne und die Stimmen in der Erde nur das Seufzen des Windes oder das Rauschen der Regentropfen sind. Eines aber erkannten wir mit großer Deutlichkeit. Die Zeitalter der Menschheit wurden mit jedem, das dahinging, kürzer, und die EREIGNISSE, die da sind die Begegnungen zwischen den beiden Bestimmungen, rückten immer näher zusammen. Ehedem war Zeit gewesen, müßige Betrachtungen darüber anzustellen, was wir gelernt hatten, doch nun mußten wir uns sputen, auf das das EREIGNIS uns nicht unvorbereitet antraf. Und so begab es sich im zehnten Jahr nach dem Tod Toraks, daß wir in Kell zusammentrafen, und dort entschieden wir, daß wir nicht länger untätig zuschauen und den Gang der EREIGNISSE betrachten konnten. Die Zeit der Studien war vorüber; nun war die Zeit des Handelns gekommen. Da die Zeichen im Buch des Himmels so rätselhaft geworden waren, faßten wir den Entschluß, daß wir die Teilnehmer des nächsten EREIGNISSES irgendwie, und sei es mit List, dazu bringen mußten, sich an einen Ort zu begeben, den
wir kannten. Denn obgleich wir nicht in Erfahrung bringen konnten, wie das EREIGNIS beschaffen sein würde, wußten wir doch, wann und wo es sich zutragen sollte. Und wir übermittelten diesen Entschluß dem Geist einer Seherin, die in den Ländern westlich des großen Meers lebte, welches die Länder dieser Welt geteilt hatte. Und wir baten sie inständig, sie möchte sich ins Aldurtal begeben, wo die Zauberin Polgara mit ihrem Gemahl und einem Findelkind lebte, das Belgarion aus den Händen des Jüngers Ctuchik befreit hatte, und auf eine solche Weise mit Polgara sprechen, daß ihr keine Wahl blieb, als sich zu der Reise aufzumachen, die sie unausweichlich an den Ort unserer Wahl bringen würde. Und die Seherin in den Ländern des Westens erklärte sich bereit und machte sich auf die Reise, nur mit ihrem stummen Führer als Begleitung. Und dann wandten wir alle uns den Vorbereitungen zu, denn vieles blieb noch zu tun, und wir alle waren entschlossen, daß dieses EREIGNIS das letzte sein solle. Was immer sein Ausgang für diese Welt bedeuten mochte, die Spaltung der Schöpfung währte schon zu lange, und wir wollten, daß mit dieser Begegnung zwischen den beiden Bestimmungen die Spaltung enden und alles wieder eins werden müsse.
BUCH 2
DAS BUCH DER BESTIMMUNGEN Dies nun sind die Bestimmungen, die uns offenbart wurden: In den Tagen vor der Spaltung der Welt kam ein Geist zu uns und erzählte uns vom Festmahl des Lebens und dem Geliebten Gast, der eines Tages kommen werde, um am Festmahl teilzunehmen. Und der Geist sprach zu uns auch von den Zeichen am Himmel und dem Flüstern in den Steinen, die sein Kommen voraussagten. Und wir erhoben unsere Augen zum Himmel, um zu lesen, und wir preßten unsere Ohren auf die Erde, um zu hören, und wir erfuhren, daß eine falsche Stimme zu uns sprechen und versuchen werde, uns von der Wahrheit abzubringen. Denn wisset, das Geschick des Menschen ist kein schneller und gerader Weg. Zwei Bestimmungen erwarten uns, und die eine ist wahr, und die andere ist falsch. Und wir verwandten all unsere Anstrengungen und all unsere Sorgfalt darauf, entscheiden zu lernen, welche Bestimmung wahr ist und welche falsch. Doch das Buch des Himmels, das uns soviel offenbarte, schwieg dazu. Klar und deutlich vermochten wir dort zu lesen, was geschehen würde, sollten wir der Wahrheit folgen, und was geschehen würde, sollten wir der Lüge folgen, aber das große Buch, das in den Sternen geschrieben
steht, verlor nicht ein Wort darüber, welche Bestimmung welche war. Und uns ergriffen große Verwirrung und große Furcht, daß wir falsch wählen möchten. Und wir verließen den Ort, an dem uns solches offenbart worden war, und nahmen die große Aufgabe auf uns, die man uns auferlegt hatte. Gewiß ist es die Aufgabe unseres Volkes, alles zu lernen, was man über die beiden Bestimmungen nur lernen kann, welche die Welt spalten, und zwischen ihnen zu wählen und zu entscheiden, welches der Pfad der Wahrheit ist. Und wir erforschten das Wissen der Geister und das Wissen anderer Menschen und das Wissen von Göttern und Propheten. Und Menschen und Geister und Götter und Propheten taten uns ihr Wissen kund, und sehet, sie wußten nicht mehr als wir. Alle glaubten, die Bestimmung, der sie folgten, sei die wahre Bestimmung, doch keiner konnte uns Gewißheit verschaffen oder Beweise liefern. So kam es, daß die Aufgabe bei uns blieb. Und wir hielten Rat miteinander, erkannten wir doch, daß andere aufgrund ihrer Parteinahme für die eine oder andere Bestimmung das Buch des Himmels nur unvollständig zu lesen vermochten. Wir jedoch, die wir noch immer die Wahrheit suchten, konnten es klar und deutlich lesen. Und die Bürde unserer Aufgabe wurde schwer und schwerer, denn wahrlich, mit unserer Wahl wählen wir für alle Menschen. Um uns bei der richtigen Wahl zu helfen, wandten wir uns den Seiten des Buches der Sterne zu, welche von den Anfängen sprechen. Und auf der ersten Seite des Großen Buches steht
geschrieben, daß am Anfang nur eine Bestimmung und ein Schicksal war für alles, was je geschaffen wurde, und die Bestimmung war eine Absicht und eine Notwendigkeit. Doch in der Zeitlosigkeit, die es gab, bevor es Menschen gab, die über die Bedeutung von Zeit hätten nachsinnen können, entstand eine Zweite Bestimmung, und auch sie war eine Notwendigkeit und eine Absicht. Und die zweite Absicht lag im Streit mit der ersten, und das Zerren der einen gegen die andere riß am Gewebe der Schöpfung. Und aus diesem Ringen entstand Bewußtsein, denn jede Bestimmung wurde sich der anderen bewußt. Und sie wurden Todfeinde, denn jede stand der anderen entgegen, und solange beide existierten, konnte keine sich erfüllen. Und jede Bestimmung legte ihre Hände auf Ereignisse, die sie drehte und wendete, auf daß die andere Bestimmung besiegt würde. Gewaltige Kräfte wurden entfesselt, die unvermeidlich aufeinanderprallen mußten; und die beiden Bestimmungen sprachen zu jenen, die ihre Werkzeuge sein sollten. Die Stimmen dieser beiden Großen Bestimmungen und die Worte, die sie sprechen, werden Prophezeiung genannt, und eine Prophezeiung muß erfüllt werden. Gäbe es nur eine Stimme und eine Bestimmung, hätte unsere Aufgabe mit der Entdeckung dieser Stimme geendet. Doch es gibt zwei Stimmen und zwei Bestimmungen, und die ganze Schöpfung ist ihr Schlachtfeld. Und die Propheten der Ersten Bestimmung verkündeten, die andere Bestimmung sei ein Irrtum und ein Greuel; wohingegen die
Propheten der Zweiten erklärten, die Erste Bestimmung sei die Verkörperung des Bösen gewesen, welche nun durch die Wahrheit ersetzt worden sei. Und wir erwogen diese Prophezeiungen und Lehren, und es bestand die Möglichkeit, daß ein Irrtum unweigerlich zum Bösen führen würde, doch ebensogut war es möglich, daß das Böse vom Anbeginn aller Zeit an existiert hatte, um abgeschafft zu werden. Nun trug es sich zu, daß etwa zur selben Zeit, als wir von den beiden Stimmen und den beiden Bestimmungen erfuhren, die Welt gespalten wurde, genau wie der Rest der Schöpfung. Und sehet! Die Spaltung unserer Welt erwuchs aus einer Berührung der beiden Bestimmungen, denn der Gott des Volkes namens Angarak war die Frucht der Zweiten Bestimmung, und der Stein, den er aufhob, war das Werkzeug der Ersten Bestimmung. So gewaltig war die Kraft ihres Zusammenpralls, daß die Erde selbst die Last nicht mehr tragen konnte, und die Länder teilten sich wie Wolken vor Torak und dem Stein, den er aufhob, und das Meer rauschte herbei, und das, was eins gewesen war, zerbrach in zwei. Und als der Aufruhr der See und des trockenen Landes sich gelegt hatte, da gab es zwei Orte, an denen Menschen lebten, und die Menschen an dem einen dieser Orte folgten der Ersten Bestimmung, und die Menschen an dem anderen dieser Orte folgten der Zweiten. Und wir staunten ob solcher Vollkommenheit. Und dennoch, als wir die Geschehnisse näher betrachteten, entdeckten wir
einen Makel, denn es herrschte keine Symmetrie. Der Gott Angaraks und der Stein, welchen die Menschen den Orb nennen, sind nicht Denn Torak ist eine vergleichbar. Erscheinungsform der Zweiten Bestimmung, und der Orb ist eine andere Erscheinungsform der Ersten. Und wir schlossen daraus, es müsse eine Entsprechung zwischen diesen beiden geben – daß es irgendwo einen Gott geben müsse, der Torak entspricht, und daß es irgendwo einen Stein geben müsse, der diejenige Erscheinungsform der Zweiten Bestimmung verkörperte, welche der Orb für die Erste darstellt. Und während wir darüber grübelten, wurde uns klar: Wenn eine Erscheinungsform der einen Bestimmung auf die entsprechende Erscheinungsform der anderen trifft, wird diese Begegnung die entscheidende zwischen den beiden sein, und die eine wird triumphieren und die andere zugrunde gehen; doch sollten wir nicht fähig sein, unseren Beitrag zu dieser Begegnung zu leisten, wird alles Bestehende zugrunde gehen. So wurden wir uns bewußt, daß es diese unsere Welt war, auf welcher der Entscheidungskampf zwischen Gut und Böse stattfinden würde, und daß wir uns darauf vorbereiten mußten, das zu tun, was getan werden muß. Und wir richteten all unsere Bemühungen auf die Suche nach dem Stein, den der Makel an jenem Ereignis, das die Menschen die Spaltung der Welt nennen, uns offenbart hatte. Wir folgerten, das Aufeinandertreffen der beiden Steine stelle die wahrscheinlichste Form der entscheidenden
Auseinandersetzung dar, und wenn wir den anderen Stein finden würden, könnten wir die beiden vielleicht so lange voneinander getrennt halten, bis wir bereit wären für ihre Begegnung. Doch das Buch des Himmels sprach in Rätseln, und die Stimmen der Felsen wisperten undeutlich, und unsere Suche erwies sich als vergeblich. Und schließlich erkannten wir, daß die beiden widerstreitenden Bestimmungen manche ihrer Erscheinungsformen voreinander und vor den Augen der Menschen verbargen. Mit dem Beginn des Dritten Zeitalters, welches anhub, als Belgarath und gewisse Alorner den Orb aus der Stadt der Endlosen Nacht zurückholten, dämmerte das große Zeitalter der Prophezeiungen herauf. Und die Glut der Prophezeiung erfaßte den entstellten Gott von Angarak, und er sprach in religiöser Verzückung, und seine Worte waren die Worte der Zweiten Bestimmung. Und wir warteten, wußten wir doch, daß auch die Erste Bestimmung sprechen mußte – denn das Wort bestimmt die Bedeutung des Ereignisses, und jede Bestimmung muß den Ereignissen, die unabwendbar eintreten müssen, seine eigene Bedeutung beilegen. Dann ertönte aus dem hohen Norden der Länder, welche man die Königreiche des Westens heißt, die Stimme der Ersten Bestimmung. Und von tiefstem Staunen erfüllt, lauschten wir dieser Stimme – denn wisset, das Erste Geschick sprach nicht mit der Stimme eines Gottes, sondern mit der Stimme eines Schwachsinnigen.
In einem rauhen Dorf am Ufer des Mrinflusses lebte ein Mann, der so sehr einem Tier glich, daß seine Familie ihn einpferchte. Er verstand sich nicht auf die menschliche Sprache, sondern heulte und winselte wie ein Hund. Und doch kam in seinem dreißigsten Lebensjahr die Macht der Prophezeiung über ihn, und er verfiel in Verzückung, und er begann zu sprechen. Und wie der Zufall es wollte, war der König dieses Landes einer der Söhne von Bärenschulter, und er war mit seinem Vater und dem uralten Belgarath in die Stadt der Endlosen Nacht gezogen, um den Orb zurückzufordern. Nun hatte Belgarath diesem König – den die Menschen Stiernacken nannten – angeraten, auf die Stimme der Prophezeiung zu hören und sie aufzuzeichnen, wenn sie erklang. Und so kam es, daß König Stiernacken Schreiber in das Dorf des Propheten sandte, um seine Worte niederzulegen. Und wir verwunderten uns darob, denn der Gott Angaraks wohnte in einem großen Palast hoch in den Bergen von Karanda, und der Prophet des Mrinflusses wohnte in einem Pferch aus Lehm und Reisig am Flußufer, und doch war die Verzückung der Prophezeiung gleich stark in ihnen beiden. Uns wollte es so scheinen, je höher und stolzer Torak wurde, desto niedriger und demütiger wurde derjenige, der die Prophezeiungen der anderen Bestimmung aussprach. Und sehet, in seinen letzten Tagen, als der Prophet von Mrin zwanzig Jahre lang prophezeit hatte, ward sein Geist restlos zerrüttet, und sein Blödsinn paarte sich mit Wahnsinn, und König Stiernacken war gezwungen,
ihn an einen Pfahl vor seinem Pferch anzuketten, auf daß er sich keine Verletzungen zufügte oder fort in die Sümpfe lief, um mit den wilden Tieren zu leben. Und aus der Entfernung beobachteten wir und warteten ab, und als die Glut der Prophezeiung abgeklungen war, sandten wir einige von uns aus, die Prophezeiungen des Schwachsinnigen von Mrin und des Gottes von Angarak abzuschreiben, damit wir sie vergleichen und aus ihnen lernen könnten. Es kam während jener Zeit zu kleineren Prophezeiungen. Die Erste Bestimmung sprach durch den Mund eines Händlers im entlegenen Sendarien, und die Zweite Bestimmung sprach durch den Mund eines Sklaven in Rak Cthol in der Öde von Murgos. Und ein Gelehrter in Melcene verfiel in Verzückung und sprach dreihundertundneun Stunden lang mit der Stimme der Ersten Bestimmung – und dann starb er. Und ein Seefahrer und Krieger aus dem Königreich Cherek im hohen Norden fuhr auf einem cherekischen Kriegsschiff aus dem Schlaf hoch, um Prophezeiungen über das Kommen Toraks hervorzustoßen, und seine Kameraden banden ihn mit Ketten und warfen ihn ins Meer. Und all dem lag ein Plan zugrunde, den wir nicht begreifen konnten. Die Bestimmungen, die im Herzen der Schöpfung miteinander rangen, taten geheimnisvolle Dinge, um sich gegenseitig zu vernichten, und wen sie zu ihrem Sprachrohr erwählten und wo die Prophezeiungen verkündet
wurden, war ebenso wichtig wie das, was gesagt wurde – und es überstieg unsere Vorstellungskraft. Mit dem Beginn des Vierten Zeitalters jedoch endete die Zeit der Prophezeiung, und die Zeit des EREIGNISSES hub an. Und das erste EREIGNIS war die Ermordung des Königs von Riva, welcher der Hüter des Orb war. Und Torak frohlockte über den Tod des Königs von Riva, den Zedar der Abtrünnige in die Wege geleitet hatte. Doch der Drachengott wußte nicht, daß sein eigenes Schicksal durch diese Tat besiegelt worden war. Denn sehet, der Tod des RIVANISCHEN Königs erfüllte das Herz Polgaras der Zauberin mit ewigem Haß auf den entstellten Gott, und wo er nicht Polgaras Liebe gewinnen konnte, war er dem Untergang geweiht. Und das nächste EREIGNIS war der Angriff Angaraks auf die Königreiche des Westens. Und auf dem Schlachtfeld von Vo Mimbre wurde Torak durch die Macht des Orb besiegt und in Ketten gelegt, um so die Ankunft seines Erzfeindes zu erwarten. Und EREIGNISSE, kleine und große, folgten der Niederlage Toraks, und wir sahen im Verlauf dieser EREIGNISSE die Hand der beiden Bestimmungen, und desgleichen sahen wir die verwinkelten Züge ihres ewigen Spiels. Doch kein EREIGNIS hallte lauter von den Sternen wider als die Geburt Belgarions. Und in seinem sechzehnten Jahr streckte er seine Hand nach dem Orb aus, um ihn für sich zu beanspruchen, und als er ihn berührte, erklang die ganze Schöpfung wie eine gewaltige Glocke.
Und nun rückte jenes EREIGNIS näher, auf welches das Universum und die Zeit gewartet hatten, und die beiden Bestimmungen traten einander gegenüber in den Ruinen der Stadt der Nacht. Und es geschah, daß Torak, der Drachengott von Angarak, durch die Hand Belgarions, des Hüters des Orb, erschlagen wurde. Und das EREIGNIS bezeichnete den Beginn des Fünften Zeitalters. Und das Fünfte Zeitalter begann in Finsternis und Wirrsal, denn das Buch des Himmels hatte sich im Augenblick von Toraks Tod verändert, und wir konnten es nicht mehr lesen. Überdies fühlten wir, wie mit Toraks Tod ein Schauder durch die ganze Schöpfung lief, und wir grämten uns, denn eine der Bestimmungen schien verschwunden zu sein, ohne daß wir eine Wahl zwischen beiden getroffen hätten. Die Erste Bestimmung war erfüllt, und die Zweite gescheitert, nur wir wußten noch immer nicht, was gut war und was böse. Und falls die Prophezeiungen Toraks die Stimme der Wahrheit gewesen waren, dann war das Gute für immer aus der Schöpfung getilgt, und wir waren zur ewigen Herrschaft des Bösen verurteilt. Verzweifelt mühten wir uns, von neuem die Sprache des Großen Buches des Himmels zu lernen, doch einer von uns, der seit jeher seine Aufmerksamkeit den Stimmen der Felsen zugewandt hatte, sagte: »Wisset, die Felsen sprechen noch immer mit zwei Stimmen.« Und auch die Geister sprachen zu uns und sagten: »Wisset, in der Geisterwelt bekämpfen sich das
Kind des Lichtes und das Kind der Finsternis noch immer.« Und als wir das Buch des Himmels wieder verstehen konnten, lasen wir voller Verwunderung, daß die beiden Bestimmungen ihr endloses Spiel fortsetzten. In der Begegnung zwischen Belgarion und Torak war eine Erscheinungsform der einen Bestimmung untergegangen. Und wir erkannten, daß noch andere solcher Begegnungen stattgefunden hatten – und auch in Zukunft stattfinden würden. In diesem Augenblick begann eine neue Erscheinungsform der Bestimmung, die mit dem Tode Toraks unterlegen war, durch die Welt zu ziehen – und in mancher Hinsicht schien diese Erscheinungsform ein dunkles Spiegelbild der Zauberin Polgara zu sein. Und wir schauderten ob der Aussicht auf die Begegnung zwischen dieser finsteren Gestalt und der schrecklichen Polgara. Und als das Buch des Himmels verständlicher wurde, lasen wir dort, der Kampf zwischen den beiden Bestimmungen werde so lange fortdauern, wie die beiden Steine, die vormals eins waren, Bestand haben. Denn so wie damals, als die beiden Steine das Herz der Schöpfung bildeten, liegt nun jeder von ihnen im Mittelpunkt der unterschiedlichen Bestimmungen, und so lange sie beide existieren, wird der endlose Kampf weitergehen. Und noch eifriger suchten wir nach dem Stein, welcher das Gegenstück zum Orb darstellt, denn wisset, der Orb befindet sich in der Gewalt Belgarions, und er ist ein mächtiger Zauberer. Sollten die beiden Steine für ihren
Entscheidungskampf zusammengeführt werden, so wird Belgarion gewiß daran beteiligt sein. Wir aber wissen nicht, ob es das ist, was sein soll, doch wie könnten wir dem mächtigen Belgarion etwas untersagen, was er tun will? Der zweite Stein befindet sich hier. Die Felsen dieser Welt werfen den Klang seines Hierseins zurück. Die beiden Steine bewegen sich so unerbittlich aufeinander zu wie die beiden Bestimmungen, die sie verkörpern. Wir müssen den zweiten Stein finden, und wir müssen Belgarion so lange aufhalten, daß er den Orb nicht in die Gegenwart des anderen Steins bringt, bevor wir unsere Wahl getroffen haben. Denn sollte die Begegnung stattfinden, bevor wir unsere Wahl getroffen haben, so wird wahrlich die ganze Schöpfung zugrunde gehen.
BUCH 3
DAS BUCH DER AUFGABEN Dies nun sind die Aufgaben, welche uns gestellt wurden: Einstmals saßen wir auf der Erde im Schatten der Berge von Korim, die nicht mehr sind, und wir machten ein großes Geschrei, daß wir geschaffen und dann verstoßen wurden. Und als wir uns noch grämten, kam die Gabe über eine unseres Volkes, und sie wurde eine Seherin, und sie sprach zu uns vom Festmahl des Lebens und dem Geliebten Gast, der eines Tages eintreffen würde, um an dem Festmahl teilzunehmen. Und sie ermahnte uns, uns auf sein Kommen vorzubereiten, und berichtete uns von den Zeichen am Himmel und in der Erde und befahl uns, diese Zeichen lesen zu lernen, auf daß wir zu wählen vermöchten zwischen den beiden, die eines Tages zu uns kämen. Also geschah es, daß wir unsere Gesichter zuerst dem Himmel zuwandten, und wir verzweifelten, schien doch kein Zeichen dort zu stehen. Aber wisset! Ein gewaltiges Licht schoß über den Nachthimmel, und Wolken von Feuer zog es hinter sich her wie einen Schleier. Und in jenen Feuerwolken lasen wir das erste Wort des Buches des Himmels, und das Wort lautete ›Gefahr‹. Und sorgsam setzten wir nun Stück für Stück die Botschaft zusammen, die in den Sternen
geschrieben stand. Und während wir uns damit plagten, strebten andere aus unserer Mitte danach, die Stimmen zu vernehmen, die in den Felsen flüsterten. Nun gibt es ein Flüstern, das alle Menschen zu hören vermögen; sie jedoch sprachen in einer Sprache, die kein Mensch übersetzen konnte. Doch wisset! Zu einem bestimmten Zeitpunkt ächzte die Welt in den Todesqualen eines Erdbebens, und das Wispern der Felsen schwoll an zu einem Schrei, und in diesem Schrei entzifferten wir das erste Wort der Sprache der Felsen, und das Wort lautete ›Gefahr‹. Jahrhundertelang mühten wir uns mit den Zeichen in den Sternen, auf daß wir sie verstehen mochten, und jahrhundertelang rangen wir mit dem Wispern in den Felsen, auf daß wir sie deutlicher zu vernehmen und zu übersetzen lernten. Und eines Tages trug es sich zu, daß einer von uns sein Gesicht dem Himmel entgegenhob und klar und deutlich die Botschaft der Sterne las. Und die Botschaft lautete: ›Gefahr liegt im Herzen der Wahl, denn solltet ihr falsch wählen, wird die ganze Schöpfung dem Willen des BÖSEN anheimfallen, und das GUTE wird zugrunde gehen und nicht mehr sein.‹ Und zur selben Zeit erhob sich ein anderer unserer Gelehrten und begab sich zu einem bestimmten Felsen und preßte sein Ohr an ihn, und er hörte die Stimme des Felsens, die klar und vernehmlich zu ihm sprach: »Gefahr liegt im Herzen der Wahl, denn solltet ihr falsch wählen, wird die ganze Schöpfung dem Willen des BÖSEN anheimfallen, und das GUTE wird zugrunde gehen und nicht mehr sein.«
Und als wir weiter forschten, wurde das Buch des Himmels verständlicher, und die Stimme der Erde vernehmlicher. Doch die Seiten, die in den Sternen geschrieben stehen, und die Bände, welche die Erde sprach, gaben uns keine Hilfe bei der Wahl, die wir treffen mußten. Erde als auch Himmel warnten uns wieder und wieder, es würden zwei zu uns kommen, und der eine wäre gut und der andere böse, und wir müßten zwischen ihnen wählen, aber weder Erde noch Himmel wollten uns sagen, wer was sei. Und wir schickten Gelehrte in andere Gefilde des Wissens aus, um die Antwort zu finden, die uns so not tat. Und einige von ihnen sprachen mit den Toten, und andere sprachen mit Geistern und mit Tieren und mit Bäumen. Und unsere Seher blickten in die ferne Zukunft und Vergangenheit, doch nirgends vermochten wir eine Antwort zu finden. Und an einem bestimmten Tage kamen wir zusammen auf der Ebene von Temba, um unsere Aufgabe zu bestimmen und das, was wir tun mußten, um sie zu erfüllen. Und wir trugen zusammen alles, was wir gelernt hatten von der Erde und dem Himmel, von den Lebenden und den Toten, von den Geistern und den Tieren und den Bäumen. Und als alles vor uns lag, staunten wir, daß wir so vieles entdeckt hatten, denn oft war es so, daß die Erde preisgab, was der Himmel verschwieg, und wenn weder Himmel noch Erde mit uns sprachen, so taten es doch die Geister. Und als alles zusammengefügt ward, da sahen wir, daß unsere erste Aufgabe abgeschlossen war. Wir hatten Kunde von der Spaltung erhalten, welche
die Welt mit ihrem Makel befrachtet; wir haben Kunde von den beiden Geistern im Herzen der Spaltung erhalten; und wir haben Kunde von den beiden Steinen erhalten, die ehedem eins waren, jedoch nie wieder vereint sein werden. Und als wir darüber nachsannen, erhob sich ein betagter Mann aus unserer Mitte und band sich ein Tuch um die Augen und sprach zu uns mit der Stimme der Vision die Worte: »WISSET! Eure erste Aufgabe ist vollbracht, und nun werdet ihr euch der zweiten zuwenden. Die beiden Geister, welche die Schöpfung mit dem Makel der Spaltung besudeln, bekämpfen sich nunmehr auf dieser Welt. Einer der beiden Steine befindet sich hier, desgleichen die göttliche Erscheinungsform der anderen Bestimmung. In diesem Augenblick erhebt der Gott den Stein gegen die Erde. Ergreift die Gelegenheit, die beiden Bestimmungen zu erforschen. Lernt alles, was man von ihnen lernen kann, auf daß ihr die Wahl zwischen ihnen zu treffen vermögt.« Und kaum hatte der Seher uns diese neue Aufgabe auferlegt, da bäumte die Erde sich auf und brach entzwei, als der Gott und der Stein zusammentrafen und die Welt spalteten. Und wir wandten all unsere Anstrengungen auf die Erforschung der beiden Bestimmungen, die sich durch ihre Taten offenbarten. Die Erste Bestimmung fanden wir hart und unversöhnlich, und einige unter uns sagten: »Diese Bestimmung muß doch die böse sein, denn das Gute ist gewiß nicht so.« Wir aber sagten ihnen, daß wir lediglich die Erscheinungsform der Bestimmung betrachtet
hatten, die der Stein verkörperte, und für einen Stein ist es natürlich, hart und unversöhnlich zu sein. Und desgleichen fanden wir, daß die Zweite Bestimmung von selbstsüchtigem Stolz und von einem übergroßen Verlangen nach Lobpreis und Anbetung erfüllt war; dies jedoch waren die natürlichen Eigenschaften einer gewissen Art von Gott, und ein solcher Gott war es, der die göttliche Erscheinungsform der Zweiten Bestimmung verkörperte. Und so widmeten wir uns der Aufgabe, über die Erscheinungsformen hinauszuschauen und unseren Blick auf das wahre Wesen der beiden Bestimmungen zu richten. Und im Buch des Himmels fanden wir die Seiten, die über die Erste Bestimmung vor dem Erscheinen der Zweiten berichteten. Die Bestimmung von allem, was war, was ist und was sein wird, strebte einem EREIGNIS entgegen, das zu einer bestimmten Zeit stattfinden und die Erfüllung der Schöpfung sein würde. Und dann wandten wir uns den Seiten zu, die von der Zweiten Bestimmung berichteten, bevor sie sich der Existenz der Ersten bewußt geworden war. Und sehet! Auch die Zweite Bestimmung bewegte sich unaufhaltsam auf ein EREIGNIS zu. Zu einem bestimmten Zeitpunkt werden die beiden Bestimmungen in all ihren Erscheinungsformen aufeinandertreffen, und das Schicksal der Schöpfung wird sich entscheiden. Und je mehr wir lernten, desto mehr Erscheinungsformen der beiden Bestimmungen entdeckten wir; und wir fanden heraus, daß stets Ausgewogenheit herrschte. Für jede von ihnen gab
es ein Gegenstück. Für den einen Stein gab es einen anderen; für den Gott gab es einen anderen Gott; für den Held einen Helden; für die Frau eine Frau; für das Schwert ein Schwert. In jeglicher Hinsicht waren die beiden Bestimmungen so ausgewogen, daß das Gewicht einer einzigen Feder den Verlauf des entscheidenden EREIGNISSES beeinflussen konnte. Und hinter allem fanden wir heraus, daß die Erste Bestimmung der Schöpfung unveränderlich und unwandelbar war, beständig und unbeweglich. Und die Zweite Bestimmung neigte zu Wechsel und Veränderung, Umbildung und Weiterentwicklung. Und Beweise für diese Unterschiede entdeckten wir in allen Taten der beiden Bestimmungen, und wir stritten untereinander, wie dies in Verbindung mit dem Wesen des GUTEN und dem Wesen des BÖSEN zu bringen sei, und am Ende waren wir noch immer nicht imstande, mit Gewißheit zu sagen, Veränderung sei gut oder böse oder vollkommene Unwandelbarkeit sei die Bestimmung, die wir wählen müßten. Und als wir alles in Betracht zogen, was wir gelernt hatten, handelte der uralte Belgarath, selbst eine der Erscheinungsformen der Ersten Bestimmung, um den Orb seines Meisters aus der Stadt der Endlosen Nacht zurückzuholen. Und als der Morgen dieses Tages dämmerte, kam eine uns unbekannte Seherin aus dem Gebirge an der Grenze zu Darshiva, und der stumme Mann, der sie führte, stammte aus einer fremden Rasse. Und
die Seherin erhob ihre Stimme und erlegte uns die dritte Aufgabe auf. »Wisset«, sprach sie, »das Dritte Zeitalter der Menschheit ist angebrochen, und es ist das Zeitalter der Prophezeiung. Und es wird eure Aufgabe sein, alle Prophezeiungen zu sammeln, die von der einen und von der anderen Bestimmung ausgesprochen werden. Suchet demnach in den Ländern aller Menschen nach Propheten, welche die Worte der Bestimmungen verkünden, und traget alles Gesagte zusammen und bringet die Worte der Prophezeiung zu den Sprechern, die ihnen ihre Bedeutung entreißen werden.« Und mit diesen Worten wandte die namenlose Seherin sich um und ging davon, und wir sahen sie nie wieder. Und die Aufgabe, welche die Seherin uns auferlegt hatte, war langwierig und schwer, denn Prophezeiungen befinden sich stets an der Schwelle zum Wahnsinn, und wir sahen uns gezwungen, jeden Wahnsinnigen in allen Königreichen der Welt aufzusuchen und all das irre Gerede schäumender Verrückter aufzuzeichnen. Und manche von den Worten der Wahnsinnigen dieser Welt schienen die Worte der Bestimmung zu sein, und manches von den Worten echter Propheten schien wirres Gerede Verrückter zu sein, und wir wußten nicht, welches die Stimme der Prophezeiung und welches die Stimme des Wahnsinns war. Aber damit wir keine wahre Prophezeiung übersahen, brachten wir all diese Äußerungen zu den Sehern in Kell, wo sie Prophezeiung von Wahnsinn schieden.
Und manchmal verzagten wir, denn die Zeit selbst schien aus den Fugen zu sein. Und überdies fanden wir heraus, daß Kobolde und Dämonen oftmals durch unschuldige Münder zu reden pflegten, um uns in die Irre zu führen. Wir jedoch blieben standhaft, und als das Zeitalter der Prophezeiung endete, kamen wir zu dem Ergebnis, daß in dem riesigen Kornspeicher von Aufzeichnungen, die wir zusammengetragen hatten, nur ganz wenige Körner die wahren Stimmen der Bestimmungen waren, und alle anderen waren wertlos, und diese Erkenntnis kam uns bitter an. Und mitten in unserer Trauer kam die Seherin Onatel zu uns mit Worten des Trostes und sprach: »Verzweifelt nicht, noch lasset zu, daß eure Schultern vom Gram gebeugt werden, denn die größte Aufgabe liegt noch vor euch, und alles Bisherige ist nur Vorbereitung und Prüfung. Und dies ist die Aufgabe, die wir erfüllen müssen. Alles Nötige habt ihr erhalten. In diesem Zeitalter müssen wir die Wahl treffen.« Und wir vernahmen ihre Worte mit Erstaunen, wußten wir doch nicht, daß das Dritte Zeitalter geendet war und das Vierte begonnen hatte. Doch rechtzeitig kehrte unser Verwandter aus dem Norden zurück und berichtete uns, was er im Hause des Torak gesehen hatte, und da verstanden wir: Torak war nicht der Gipfel der Bestimmung, die ihn beherrschte, und wir mußten unsere Suche nach dem Gott, der eines Tages zu uns kommen würde, fortsetzen. Doch hatte die Seherin Onatel uns eröffnet, wir besäßen alles, was wir für die
Wahl benötigten. Wie aber konnten wir zwischen Göttern wählen, die noch gar nicht zu uns gekommen waren? Gewiß hatten wir irgendwo eine Kunde erhalten, die wir übersehen hatten, irgendein Zeichen bekommen, das uns entgangen war. Und so versammelten wir uns auf der Ebene von Kell, um all das zu betrachten, was wir gelernt hatten. Und mit der Zeit verzweifelten wir, denn wir fanden keine Gewißheit in allem, was wir zusammengetragen hatten – keine Wahrheit, die sich uns auftat, konnte uns zweifelsfrei als Richtschnur dienen. Und erneut kam die Seherin Onatel zu uns und sprach: »Sehet! Ich will euch ein Geheimnis anvertrauen. Die Wahl wird von einem von euch getroffen werden – nicht von allen. Und die Wahl zwischen den beiden Bestimmungen wird nicht in Weisheit geschehen, sondern in Verzweiflung. Zu einem bestimmten Zeitpunkt werden die beiden Bestimmungen einander gegenübertreten, und einer von euch wird am Ende schauen, was noch keiner geschaut hat, und dieser eine wird wählen.« Und mit diesen Worten verließ Onatel uns. Und wir folgerten, daß die Bestimmungen sich bei einem der großen EREIGNISSE begegnen müßten, die in gewaltigen Lettern im Buch des Himmels geschrieben standen, und wir bereisten die Welt, um bei diesen EREIGNISSEN zugegen zu sein. Einer aus unseren Reihen war zugegen, als der rivanische König ermordet wurde, doch bei diesem EREIGNIS war keine Wahl zu treffen. Und einer von uns war dabei, als Torak seine
Streitmacht gegen den Westen in Marsch setzte. Und einer von uns war zur Stelle, als der entstellte Torak sich vor Vo Mimbre dem Wächter von Riva zum Zweikampf stellte und durch die Macht des Orb niedergestreckt wurde. Und einer von uns weilte in dem schlichten Dorf, wo Belgarion geboren wurde, und er war nicht weit von dem brennenden Haus, in dem die Eltern des Gottbezwingers ihr Leben ließen. Wir waren in Riva, als Belgarion der Orb übergeben wurde, und einen kurzen Moment waren wir nahe daran, die Wahl zu treffen, doch wir zögerten einen Augenblick, und das EREIGNIS entglitt uns. Und schließlich kamen wir zum verfluchten Cthol Mishrak inmitten des verseuchten Beckens, in dem es liegt, und erneut entglitt uns der Augenblick. Denn wisset, das EREIGNIS an diesem Ort war nicht der Tod Toraks durch Belgarions Hand; es trat vielmehr in jenem flüchtigen Augenblick ein, als Polgara den Gott Angaraks verhöhnte und abwies. Und als Torak fiel und die ganze Schöpfung schaudernd den Atem anhielt, fürchteten wir, es möchte nie wieder Licht werden. Das EREIGNIS hatte stattgefunden, und wir hatten nicht gewählt, und wir hatten stets geglaubt, daß in diesem Augenblicke alles vernichtet werde. Und zutiefst erschüttert und furchtsam verließen wir Cthol Mishrak. War unser Versäumnis, zu wählen, tatsächlich die Wahl zwischen GUT und BÖSE gewesen? Wir wußten es nicht, und voller Angst beobachteten wir das Buch des Himmels
nach irgendeinem neuen und schrecklichen Zeichen. Und schließlich kam der Seher Gazad zu uns, und seine Miene war streng und zornig, und er tadelte uns und sprach: »Sehet! Ihr habt versagt bei der Aufgabe, die Onatel euch zugewiesen hat. Die ganze Schöpfung ist besudelt durch euer Scheitern. Eure Aufgabe bleibt bestehen. Wählet! Versagt nicht noch einmal, denn bei eurem nächsten Versäumnis wird alles, was ist oder war oder sein wird, untergehen, und die Schöpfung wird nicht mehr sein.« Und die Worte Gazads geißelten uns und trieben uns zu vermehrten Anstrengungen, die Aufgabe zu erfüllen, bei deren Erfüllung wir im letzten Zeitalter so versagt hatten. Und so mühten wir uns noch inständiger, jenen anderen Stein zu finden, der das Gegenstück zum Orb Aldurs war, doch die Bestimmung, deren Herz dieser Stein bildet, unternahm alles, den Stein vor uns und vor allen Menschen und Göttern zu verbergen. Keiner von uns war mächtig genug, um die Schranken des Verstandes und des Geistes zu durchbrechen, mit denen die Bestimmung ihr Geheimnis schützte, und schließlich beschlossen wir, einen gefährlichen Weg einzuschlagen. Von all der Macht dieser Welt war diejenige, welche in den Händen von Belgarion, Polgara und Belgarath lag, die größte. Wenn wir uns auf irgendeine Weise ihrer Hilfe bei unserer Suche nach dem anderen Stein versichern könnten, mochte es uns gelingen; dabei mußten wir unsere Absicht jedoch vor ihnen verbergen, waren sie doch die Diener der Ersten Bestimmung.
Sollten sie den anderen Stein vor uns finden, würden sie gewiß versuchen, ihn zu vernichten, und das durften wir nicht zulassen. Und so mußten wir uns ihrer Hilfe durch eine List versichern, und dies ist fürwahr ein gefahrvolles Unterfangen. Zudem mußten wir die schattenhafte, verhüllte Frau ausfindig machen und erkennen; jene Frau, welche in diesem Augenblick ihre Figuren bewegt und EREIGNISSE nach ihren Zwecken formt. Dies also sind die Bestandteile unserer großen Aufgabe. Möge jeder einzelne von uns mit ganzer Kraft danach streben, das zu vollenden, was ihm aufgetragen wurde. Doch behaltet stets im Sinn, daß unsere oberste Aufgabe die Wahl ist, und sollten die Umstände es erzwingen, könnte jeder von uns gezwungen sein, allein und ohne Hilfe zu wählen. Darum teile dein gesamtes Wissen mit all deinen Brüdern und Schwestern, denn sollte einer von ihnen gezwungen sein zu wählen, könnte ein winziges Bruchstück an Wissen, das ihm vorenthalten wurde, dazu führen, daß er falsch wählt. Denn wisset, ist die Wahl einmal getroffen, kann sie nimmer rückgängig gemacht werden, und was ihr wählet, wird andauern bis ans Ende aller Tage.
BUCH 4
DAS BUCH DER GENERATIONEN Dies nun sind die Generationen der Seher: So wisse denn zuvörderst, daß man dich nicht erhoben hat über andere durch dein Gesicht. Wir wissen nicht, woher es kommt; wir wissen nicht, warum manche auserwählt werden, es zu empfangen, und andere nicht. Wisse auch, daß du nicht nach Belieben über das Gesicht verfügen kannst. Du bist lediglich das Werkzeug des Gesichts, und es wird dich für seine Zwecke benutzen, und nie wirst du wissen, welches diese Zwecke sind. Darum schicke dich darein, in Demut und Langmut. Das erste Gesicht wurde einer Frau mit Namen Ninal zuteil. Ninal war Ehefrau und Mutter, doch als das Gesicht über sie kam, wandte sie ihrem Gemahl und ihren Kindern für immer den Rücken. Und die Verzückung des Sehens riß sie empor, und um ihre Augen vor dem gewöhnlichen Tageslicht zu verdunkeln, auf daß sie deutlicher sehen möchte, was das Gesicht ihr enthüllte, band sie sich ein Tuch um die Augen. Und von diesem Tage an bis zu ihrem letzten hat Ninal das Tuch nie wieder abgenommen. Und sie sprach zum Volk, was ihr offenbart worden war. Und das Volk vernahm voller Staunen, was sie ihm zu sagen hatte
über das Festmahl des Lebens und den Geliebten Gast, der eines Tages kommen würde. Und weil Ninals Stimme aller Herzen anrührte, wußten alle, daß ihre Worte der Wahrheit entsprachen. Und als Ninal geendet hatte, ward das Volk von Ehrfurcht vor ihr ergriffen – alle außer einem. Unter dem Volke war zu jener Zeit ein Unglücklicher mit Namen Jord. Und er war größer als jeder andere Mann, und gewaltig war seine Kraft. Doch Jord hatte vom Tage seiner Geburt an nie gesprochen oder auch nur einen einzigen Laut von sich gegeben. Und Jord hob einen Stab von der Erde auf und trat mit ihm vor Ninal hin und legte ihre Hand auf den Stab und führte sie hinweg aus der Mitte des Volkes. Und hernach lebten Ninal und Jord stets abseits vom Volke, und er sorgte für sie und beschützte sie vor aller Unbill, und auch wenn sie ihm viele Geheimnisse enthüllt haben sollte, so waren sie doch für immer hinter seinen stummen Lippen verschlossen. Und so ist es seither stets gewesen: Für jeden Seher, über den das Gesicht kommt, gibt es einen stummen Führer und Beschützer. In den Jahren nach der großen Offenbarung sprach die Seherin Ninal viele Male zum Volk, und die Worte, die sie sprach, waren manchmal klar und manchmal dunkel und unverständlich. Und mit der Zeit kam das Gesicht auf andere hernieder, und auch sie verbanden sich die Augen vor dem gewöhnlichen Tageslicht, auf daß sie besser sahen; und für jeden von ihnen trat ein Stummer hervor, der sie führte und beschützte. Nun sprachen einige der Seher über die Offenbarung, die Ninal zuteil
geworden war, und andere sprachen über andere Dinge. Manche sprachen klar und deutlich, während die Worte anderer ein Rätsel blieben. Doch weil Ninal die erste war und weil die große Offenbarung zuerst ihr zuteil geworden, nennen wir die Seher des Ersten Zeitalters der Menschheit ihr zu Ehren die Generationen der Ninal. Und als sie alt war und von der Last der Jahre gebeugt, starb die Seherin Ninal, und binnen einer Stunde schied auch der stumme Jord aus dieser Welt, und man begrub sie Seite an Seite mit großen Ehren. Und die Seher unterstützten die Gelehrten, welche das Buch des Himmels zu lesen suchten, und jene, welche die Worte zu übersetzen suchten, welche die Stimmen in den Felsen sprachen. Und wir entdeckten, daß die Seher über große Entfernungen hinweg miteinander zu sprechen vermochten und daß sie einen allumfassenden Geist zu teilen schienen, welcher die Quelle des Gesichts war; doch sie sprachen nicht darüber, und unsere Fragen blieben unbeantwortet. Nun aber trug es sich zu, daß die Generationen der Ninal mit dem Ende des Ersten Zeitalters erloschen und die Generationen des Vigun begannen. Der Seher Vigun erhob sich nämlich und sprach zu uns an dem Tage, da der Drachengott von Angarak den Stein aufhob, den er Cthrag-Yaska nannte, und durch seine Macht die Erde aufspaltete. Und mit der Spaltung der Welt endete das Erste Zeitalter und die Erste Aufgabe. Und es ward Sache der Zweiten Generation, die Kinder der Götter ausfindig zu machen, um von ihnen zu erfahren, was sie von den Göttern und
von den beiden Bestimmungen wüßten, die miteinander um die Herrschaft über die Schöpfung rangen. Und die Seher der Generationen des Vigun wurden die Sucher genannt, denn sie durchstreiften die Welt von einem Ende zum anderen und sahen in den Geist der Kinder der Götter, um von ihnen zu lernen. Und die Sucher fanden viele eigenartige Dinge über die Götter heraus, denn wisset, jeder Gott war so sehr von einer einzigen Idee besessen, daß er in allen anderen Belangen unvollkommen war. Doch als die Sucher schließlich in das Tal gelangten, in dem der Gott Aldur mit seinen Jüngern lebte, fanden sie einen Gott, der sich tief in die Idee des Wissens versenkt hatte, und die Berührung durch den Geist Aldurs vertrieb die Verzweiflung, die sie überkommen hatte. Und Aldur tröstete sie mit seiner Weisheit und riet ihnen, die Ankunft der Angarakaner zu erdulden, die bald ihre Länder erobern würden. Und als sie wieder aufbrachen, blieb einer von ihnen noch für eine Weile dort. Und es war die Seherin Kammah, welche auf die Ankunft des ersten Jüngers von Aldur und derjenigen wartete, die seine Frau werden sollte. Und als Belgarath nach Vollendung seiner Aufgabe in das Tal zurückkehrte, war seine einzige Begleiterin eine Schnee-Eule. Und Kammah staunte darob und nahm sogar das Tuch von ihren Augen, so daß ihre menschlichen Augen ihr bestätigten, was das Gesicht ihr enthüllt hatte. Und wisset! Poledra war eine Eule, und das Gesicht offenbarte Kammah, daß sie auch eine Wölfin war, aber daß sie eines Tages eine Frau und die
Gemahlin des Belgarath werden würde. Und Kammah begann zu zittern, und sie warf sich vor Poledra in den Staub, denn die Vision, die ihr zuteil wurde, erschütterte sie bis in die Grundfesten ihres Seins. Kammah wußte in diesem Augenblick, daß Poledra zwei Töchter gebären würde, und die eine würde die Gemahlin des Königs werden, der den Stein mit Namen Orb hüten sollte, und aus ihrem Geschlecht würde der Gottbezwinger erwachsen, den die Menschen ›Belgarion‹ nennen würden. Die andere Tochter Poledras, so erkannte Kammah, würde die mächtigste Zauberin werden, die die Welt je gesehen hatte, und der Name ›Polgara‹ würde zuseiten von ›Belgarath‹ im Buch des Himmels geschrieben stehen. Doch es war nicht Polgaras Macht, die Kammah mit solcher Ehrfurcht erfüllte. Es war vielmehr die Erkenntnis, daß die kinderlose Zauberin die Mutter Belgarions und darüber hinaus des Geliebten Gastes sein würde, der eines Tages zum Festmahl des Lebens kommen würde. Und von allem, was die Seher der Generationen des Vigun lernten, war dies das wichtigste. Und die Seher der Länder des Ostens und der Länder des Westens sannen voll ehrfürchtigem Staunen bis zum Ende des Zweiten Zeitalters über diese Kunde nach. Nun begann, wie jedermann weiß, das Dritte Zeitalter, als der uralte Belgarath in der Begleitung des Königs der Alorner und der drei Königssöhne nach Cthol Mishrak kam, der Stadt der Endlosen Nacht, um den Orb Aldurs aus dem eisernen Turm des entstellten Gottes von Angarak
zurückzuholen. Die meisten aber wissen nicht, daß zur selben Zeit – in der Tat in eben diesem Augenblick – ein weiteres EREIGNIS von gleicher Tragweite auf der anderen Seite des Erdballs stattfand, im Aldurtal. Dort begab es sich, daß Poledra, die Wolfsfrau von Belgarath, in den Wehen lag und zwei Zwillingstöchtern das Leben schenkte und im Kindbett starb. Und die Geburt von Polgara und Beldaran und der Tod von Poledra formten die Zukunft nicht minder als die Wiedererlangung des Orb. Und als wir noch voller Staunen diese EREIGNISSE im Buch des Himmels lasen, kam eine fremde Seherin aus den Bergen oberhalb von Darshiva zu uns herunter, und sie sprach zu uns und erlegte uns die Aufgabe des Sammelns auf. Und wir streiften kreuz und quer durch die Welt und sammelten die Prophezeiungen, welche die beiden Bestimmungen, die die Welt beherrschen, in die Herzen verschiedener Menschen geflüstert hatten. Und seht, da erwuchs eine weitere Generation von Sehern, die über die Prophezeiungen nachsann und über ihre Bedeutung sprach. Und dies waren die Generationen der unbekannten Seherin, welche die Menschen die Sprecher nennen. Und wir legten den Sprechern sowohl Prophezeiungen als auch das irre Gerede von Wahnsinnigen vor, denn wir entschieden, daß uns nicht ein einziges Wort einer der beiden Bestimmungen entgehen dürfe. Und die Sprecher, die den Generationen der unbekannten Seherin angehörten, begaben sich in die Stadt Kell, die zu betreten die Priester des Gottes von Angarak sich fürchteten, und dort nahmen sie in
Empfang, was wir zusammengetragen hatten. Und dort schauten wir ein Wunder, denn die Schriftstücke, welche unsere Aufzeichnungen enthielten, wurden den Stummen übergeben, welche die Seher beschützten, und die Stummen lasen die Schriftstücke. Und wenn der Seher nicht sprach, wußten wir, das Schriftstück war unecht, und der Stumme, der es gelesen hatte, überantwortete es auf der Stelle dem Feuer. Doch wenn das Schriftstück wahrhaftig eine Prophezeiung war – von welcher der beiden Bestimmungen auch immer –, pflegte der Seher zu sprechen, kaum daß der Stumme zu lesen begonnen hatte. Und daraus schlossen wir, daß die Seher sich mit dem Geist der stummen Führer verständigten und trotz der Binden vor ihren Augen nicht blind waren, sondern durch die Augen ihrer stummen Beschützer zu sehen vermochten. Nun war es so, daß unter all dem, was wir zusammentrugen, nur sehr wenig wahre Prophezeiungen waren, und diese Prophezeiungen erzählten allesamt dieselbe Geschichte – daß eines Tages das Kind des Lichtes und das Kind der Finsternis aufeinandertreffen würden und daß sich in dieser Begegnung das Schicksal der ganzen Schöpfung entscheiden sollte. Und dies kam uns bitter an, denn davon hatten wir bereits Kunde, hatten wir doch eben diese Worte im Buch des Himmels gelesen. Doch der betagte Seher Encoron aus den Generationen der unbekannten Seherin sprach in seinen letzten Tagen, und schließlich
begriffen wir die Bedeutung dessen, was nun geschah und seit Anbeginn der Zeit existiert hatte. »Abwandlungen«, sprach Encoron. »Jedes EREIGNIS ist nur eine abgewandelte Wiederholung ein und desselben EREIGNISSES, das sich unzählige Male durch alle Jahrhunderte hinweg zugetragen hat. Das Kind des Lichtes und das Kind der Finsternis werden aufeinandertreffen – wie sie bereits ungezählte Male aufeinandergetroffen sind. Und sie werden sich weiterhin in endlosen Abwandlungen dieses einen EREIGNISSES begegnen, bis bei einer dieser Begegnungen eine Wahl zwischen ihnen getroffen wird.« »Welches ist die Wahl, Meister?« bestürmten wir ihn. »Und wer muß sie vornehmen?« Doch er sagte nichts mehr, und sein stummer Beschützer seufzte und bettete seinen Meister zur letzten Ruhe. Dann legte auch er sich auf die Erde neben seinen Meister und starb. Und am Beginn des Vierten Zeitalters kam die Seherin Onatel, und auch sie sprach von der Wahl. Und die Seher von den Generationen der Onatel suchten mit ihrem Geist das Herz der Prophezeiung selbst und des Geschickes zu erforschen, welches der Urquell aller Prophezeiung ist. Doch die Visionen waren dunkel und schienen keinen Sinn zu ergeben. Wir sahen Sterne durcheinanderwirbeln und ganze Welten, die von Feuer verschlungen wurden, doch niemand wußte, was solche Visionen bedeuten mochten. Und am Ende kam Dallan, ein Seher der Generationen der
Onatel, und er enthüllte uns die große Wahrheit und sprach: »Wisset, was ich geschaut habe. Das Leben eines Menschen ist nichts als ein Wimpernschlag, und das Leben eines Sterns ist nichts als ein Atemzug. Das Ringen der beiden Bestimmungen dauert an von Ewigkeit zu Ewigkeit, und sein Ausgang umfaßt EREIGNISSE, die so gewaltig sind, daß euer Verstand es nicht zu ermessen vermag. Sollte die Bestimmung, die das BÖSE ist, über die andere Bestimmung triumphieren, so werden die Auswirkungen sich nicht im Leben der Menschen abzeichnen, sondern in den Sternen. Und wenn die Sterne untergehen, wird alles untergehen.« Und da endlich verstanden wir. Die Wahl zwischen GUT und BÖSE war eine Wahl zwischen Sein und Vernichtung für die ganze Schöpfung. GUT und BÖSE waren nur menschliche Begriffe, die unter den Sternen keinerlei Bedeutung besaßen. Was in den Augen der Menschen das verderbteste Böse war, mochte dennoch dasjenige sein, was die Schöpfung vor der Vernichtung rettete. Und als wir dies bedachten, fürchteten wir uns sehr, denn sehet, unsere oberste Pflicht war, die Schöpfung zu bewahren – selbst wenn unsere Wahl die Menschheit versklaven oder gar auslöschen würde. Als wir also im Buch des Himmels lasen, daß die Zeit der Begegnung zwischen dem Kind des Lichtes und dem Kind der Finsternis näher rückte, schickten wir fünf Seher aus den Generationen der
Onatel nach Cthol Mishrak, der Stadt der Nacht, um die Wahl zu treffen. Doch der Augenblick der Wahl kam und ging vorüber – denn wisset, wir hatten geglaubt, das EREIGNIS würde das Treffen zwischen Belgarion und Torak sein, aber dem war nicht so. Das EREIGNIS, das mit solch unaufhaltsamer Schnelligkeit an uns vorüberzog, war die verächtliche Zurückweisung Toraks durch Belgaraths Tochter Polgara. Und die fünf Seher aus den Generationen der Onatel kehrten in tiefer Betrübnis, versagt zu haben, nach Kell zurück, und schon hatte das Fünfte Zeitalter begonnen. Und das Fünfte Zeitalter war das Zeitalter der Generationen des Gazad, des gestrengen Sehers, der uns dafür scholt, daß wir bei der Erfüllung unserer Aufgabe versagt hatten. Und die Generationen des Gazad wurden bekannt als die Wähler, und sie mischten sich in die Belange dieser Welt, wie noch keiner von uns es zuvor getan hatte. Die Notwendigkeit der Wahl bedrückte uns sehr, und die Zeit der müßigen Betrachtung der EREIGNISSE war vorbei. Die Zeit zum Handeln ist gekommen, die Zeit, die EREIGNISSE zu formen, anstatt uns durch sie formen zu lassen. Wir müssen die Figuren auf dem Spielbrett der Zeit selbst bewegen und sie so setzen, daß die entscheidende und letzte Begegnung zu einem Zeitpunkt und an einem Ort unserer Wahl stattfindet. Denn wisset, sollte diese Begegnung verstreichen, ohne daß wir gewählt hätten, so
müßte alles, was war, ist und sein wird, gewißlich zugrunde gehen.
BUCH 5
DAS BUCH DER VISIONEN Dies nun sind die Fünf Visionen: *
SEHET! EIN GROSSES LICHT fiel in meine Augen, und es blendete mich, so daß ich nichts sehen konnte; doch allmählich, als meine Augen sich an die strahlende Helligkeit gewöhnten, erblickte ich eine große Tafel, gedeckt mit feinstem Tischlinnen und goldenem Eßgeschirr. Und ich sah die sieben Gäste des Festmahls und den leeren Stuhl für den Geliebten Gast, der noch nicht eingetroffen war. Und die sieben Gäste aßen, was ihr Gefallen fand, und hielten oft Ausschau nach dem einen, der noch nicht gekommen war. Und ich betrachtete das Bild voller Verwunderung, wußte ich doch nicht, warum man es mir zeigen sollte. Und ich wurde mir einer Gestalt in langer Robe und Kapuze zu meiner Linken und einer zweiten zu meiner Rechten bewußt, und beide Gestalten bestanden mit gebieterischer Geste darauf, daß ich fortfuhr, das Festmahl zu betrachten. Und nach einer gewissen Zeitspanne erhoben sich die sieben Gäste von der Tafel, nachdem sie sich sattgegessen *
Dies ist die Vision Cyradis'.
hatten, und wisset, von dem Festmahl war vieles übriggeblieben, und immer noch erfüllten mich Staunen und Verwirrung. Und dann wandte sich die Gestalt zu meiner Rechten an mich und sprach: »Dies ist das Festmahl des Lebens, und die sieben Gäste sind die sieben Götter, die das gewählt haben, was ihr Gefallen fand.« Und die Gestalt zu meiner Linken wandte sich ebenfalls an mich und sprach: »Ein Gast ist noch nicht zum Festmahl erschienen, und dieser Gast ist auch ein Gott. Und wenn er kommt, wird er all das wählen, was die anderen Gäste übriggelassen haben.« Und immer noch begriff ich nicht die Bedeutung ihrer Worte, doch ich spürte die Feindschaft, welche zwischen den beiden herrschte. Und jeder der beiden strebte ein großes Ziel an, wurde jedoch durch die Existenz des anderen daran gehindert, es zu erreichen. Und dann wandten sie mir ihre im Schatten liegenden Gesichter zu und redeten mit einer Stimme zu mir und sprachen: »Die Wahl liegt bei dir, denn zwei Gäste werden zum Festmahl des Lebens kommen, und du sollst den einen willkommen heißen und den anderen fortschicken, und es wird sein, wie du entschieden hast. Und deine Wahl wird gelten für alles, was war, alles, was ist, und alles, was sein wird.« Und das Gewicht der Aufgabe, die sie mir aufgebürdet hatten, lastete schwer auf mir, denn nun endlich verstand ich die Vision und wußte, warum sie mir geschickt worden war. Die Gestalt zu meiner Rechten und die Gestalt zu meiner
Linken waren die Bestimmungen, die einander durch all die endlosen Korridore der Zeit hindurch bekämpft hatten, und eine jede war genauso stark wie die andere, und sie waren aneinandergekettet, die eine in der Gewalt der anderen. Und alles, das da ist, und alles, das da war, und alles, das da sein wird, ist gleichmäßig zwischen ihnen aufgeteilt. So ausgewogen ist die Aufteilung, daß das Gewicht meiner Wahl zwischen ihnen den Ausschlag geben wird, und ich werde diese Wahl stellvertretend für die ganze Schöpfung treffen. Und voller Pein wandte ich mich an die Gestalten, um gegen diese Bürde Einspruch zu erheben und ihnen zu sagen, daß ich nicht weise genug für eine solche Entscheidung sei, sie jedoch erwiderten und sprachen: »Kein Mensch und kein Gott und kein Geist ist weise genug für diese Wahl. Es geschah durch eine Laune des Schicksals, daß du für diese Aufgabe auserkoren wurdest. Uns kümmert es nicht, wie die Wahl vorgenommen wird, nur daß sie vorgenommen wird. Die Spaltung dehnt das Gewebe der Schöpfung über Gebühr, und wenn die Spaltung nicht bald beendet wird, wird die gesamte Schöpfung zugrunde gehen. Wähle klug; wähle schlecht; wähle zufällig – aber wähle!« Und bei diesen Worten fiel ich in Ohnmacht und sah nichts mehr. Ganz wie in einem Traum wanderte ich über eine trostlose Heide unter einem verfinsterten Himmel. Und durch die Zeichen, die uns Kunde von solchen Dingen geben, wußte ich, daß sich ein gewaltiges Unwetter zusammenbraute und daß ich
Schutz suchen mußte. Und sehet, der Gedanke war mir kaum in den Sinn gekommen, als ich auch schon am äußersten Rand dieser Heide ein großes Haus erblickte. Und ich eilte darauf zu, um dort Unterschlupf vor dem aufziehenden Gewitter zu suchen. Doch je mehr ich mich dem Haus näherte, desto weniger gefiel mir sein Aussehen. Abweisend und nackt ragte es unmittelbar über einer Steilklippe auf, die das Ende der Heide markierte. Der Sturm, der mich verfolgte, ließ mir jedoch keine Wahl, und ich erreichte die Tür des Hauses nur Bruchteile von Sekunden, bevor der Regenguß einsetzte. Der Diener, der mich einließ, war recht höflich, wenn auch ungeduldig. Er führte mich durch die düsteren Gänge des grimmigen Hauses in einen Speisesaal mit einer großen Tafel, an der für eine einzige Person gedeckt war, und bat mich, Platz zu nehmen, und brachte mir zu essen und zu trinken. Und als ich aß, befragte ich ihn eingehend über das Haus und seinen Besitzer, und er antwortete mir überaus sonderbar und sprach: »Dies Haus stand schon vor Anbeginn aller Zeiten an diesem Ort, und es hat zwei Besitzer – dieselben, die es erbauen ließen.« Seine Worte versetzten mich in Erstaunen, und ich wandte ein, kein Haus könne so lange halten, und gewiß habe vor Anbeginn aller Zeiten kein Sterblicher gelebt. Er jedoch nahm meine Einwände schweigend zur Kenntnis, als verdienten sie keine Antwort, und er bat mich, mich mit dem
Essen zu sputen, da ich auf der Stelle zu den Besitzern des Hauses gebracht werden solle. Als ich zu Ende gespeist hatte, führte er mich wiederum durch die schwach erleuchteten Gänge und brachte mich schließlich in einen seltsamen Raum. Wisset, ein großes Fenster, das eine gesamte Wand des Raumes einnahm, blickte auf die Leere hinaus, über der das Haus schwebte, und an diesem Fenster stand ein Tisch, und an diesem Tisch saßen zwei Gestalten in langen Roben und Kapuzen. Und auf dem Tisch vor ihnen war ein Brettspiel von ungeheurer Komplexität aufgebaut. Nun ermahnte mich der Diener im Flüsterton und sprach: »Schweig still, damit du nicht das Spiel störst, das diese beiden seit Zeit und Ewigkeit spielen, und trete nicht an das Fenster, auf daß die Leere dahinter nicht deinen Geist zerrütte.« Ich versetzte mit einer gewissen Schärfe, ich hätte schon in etliche Abgründe geblickt, weswegen meinem Geist auch keine Gefahr drohe. Und der Diener betrachtete mich erstaunt und sprach: »Weißt du denn nicht, in welches Haus du gekommen bist? Dies ist das Haus, das am Rande der Schöpfung steht. Hinter diesem Fenster liegt nicht bloß ein Abgrund, sondern das vollkommene Nichts. Ich weiß nicht, warum du in dieses verlassene Haus gebracht wurdest. Ich weiß nur, du sollst dieses Spiel verfolgen, bis der Sturm, der dich hierhergetrieben hat, sich wieder legt, und dann sollst du deines Weges gehen.«
Und so kam es, daß ich die ganze lange Nacht hindurch die beiden gesichtslosen Spieler bei ihrem Spiel beobachtete, das ich nicht einmal ansatzweise begriff. Und die Züge, die sie taten, sagten mir nichts. Wenn der eine einen König zog, antwortete der andere, indem er einen Kometen oder eine Sonne oder ein Sandkorn bewegte. Und da waren Bettler und Diebe und Huren auf dem Brett und ebenso Könige und Ritter und Königinnen. Und manchmal zogen die Spieler schnell, und dann wieder überlegten sie lange zwischen ihren Zügen. Und ich beobachtete ihr Spiel und sagte nichts in jener langen Nacht. Und als der Morgen graute, kehrte der Diener zurück und führte mich durch die düsteren Hallen des Hauses, das am Rande der Schöpfung steht. Und als er die Tür öffnete, sah ich, daß das Unwetter vorübergezogen war. Und ich wandte mich an den Diener, und ich sagte: »Was ist das für ein Spiel, das sie spielen?« Und er antwortete und sprach: »Es ist das Spiel der beiden Bestimmungen. Alle Spielsteine enthalten zwei Möglichkeiten, und alle sind miteinander verbunden. Wenn ein Spielstein bewegt wird, bewegen sich auch alle anderen. Die beiden Spieler wollen schon lange nicht mehr gewinnen. Sie suchen nur noch das Gleichgewicht zwischen ihnen aufrechtzuerhalten.« »Warum spielen sie dann weiter?« »Weil sie müssen. Das Spiel muß zu Ende gespielt werden, obwohl es bis ans Ende aller Tage dauert. Du wurdest an diesen Ort gebracht, weil es sein kann, daß du oder einer von denen, die dir
nachfolgen, eines Tages einen Zug in diesem ewigen Spiel werdet tun müssen. Ich weiß es nicht, und es kümmert mich nicht. Meine Aufgabe ist es, das Haus zu hüten, und das habe ich getan, seit es erbaut wurde. Nun gehe deines Weges!« Und mit diesen Worten schloß er die Tür und ließ mich auf der Schwelle stehen. Nun war der Morgen strahlend, und die Vögel sangen lieblich, und ich schritt kräftig aus auf der Heide, und am frühen Nachmittag fand ich den Weg, der mich in mein eigenes Land zurückführte. *
Einst fand ich mich erschöpft und allein in einem Dämmerwald wieder. Offenbar war ich vom rechten Weg abgekommen. Dennoch wußte ich nicht, warum ich mich dort befand oder wohin ich hatte gehen wollen, bevor ich mich verlief. Als sich die Nacht über den finsteren Wald legte, meinte ich meinen Weg vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr wiederfinden zu können, und so gut ich es vermochte, bettete ich mich zur Ruhe, hüllte mich in meinen Umhang und lehnte mich mit dem Rücken an den Stamm eines mächtigen Baumes. Ob ich schlief oder nicht, werde ich nie erfahren, denn es schien, als erwache ich unvermittelt auf der breiten Straße einer dichtbevölkerten Stadt, und aufgeregte Massen eilten auf den Platz zu, der in der Mitte dieser Stadt ist, und ich wurde von ihnen mitgerissen, so groß war der Sog. Ich wandte mich an den Mann, der neben mir in der Menge *
Lesen Sie zum Vergleich den einleitenden Gesang der ›Göttlichen Komödie‹.
schwamm, und fragte ihn so höflich wie möglich, welches Ereignis eine solche Masse von Menschen dazu bewege, zu dem Platz hinzuströmen. »Sie kommt«, antwortete er inbrünstig. Ich gestand, fremd in der Stadt zu sein und nicht zu wissen, von wem er spreche. »Nun, von ihr natürlich«, versetzte er, »der höchsten Herrin der ganzen Welt. Es heißt, daß sie tausend Jahre alt ist und unglaublich weise.« »Ist es denn dann klug«, wandte ich ein, »sie mit solchen Menschenmassen zu überfallen? Falls sie wirklich dies gesegnete Alter erreicht hat, wird sie gewiß schwach und krank sein und den Lärm und die Aufregung einer so großen Menschenmenge nicht schätzen.« Mein Gefährte jedoch wurde von mir weggetrieben, und ich konnte seine Antwort nicht mehr verstehen. Schließlich erreichte ich den großen Platz, zu dem jedermann in dieser Stadt geeilt war, und zu meiner Enttäuschung fand ich heraus, daß die verehrte Dame noch nicht eingetroffen war. Und ich schloß, mein Gewährsmann habe sich einen Spaß mit mir erlaubt, denn als ich Muße hatte, über seine Worte nachzudenken, erkannte ich, daß er mir einen Bären aufgebunden hatte, denn kein Mann und keine Frau, wie edel oder mächtig sie auch sein mögen, könnte die Last von tausend Jahren tragen. Und beinahe mußte ich laut lachen, daß ich so etwas auch nur für möglich gehalten hatte.
Und dann flog aus dem azurblauen Himmel auf leisen Schwingen eine große Schnee-Eule herbei, und zu meiner Überraschung kam sie im steilen Flug genau zur Mitte des Platzes herunter, auf dem dicht an dicht die Menschen standen. Und im letzten Augenblick schlug sie mit ihren mächtigen Schwungfedern, und zugleich schien sie ein sonderbares Schimmern zu umgeben – nicht unähnlich den Luftwirbeln über einem aufgeheizten Stein. Als nun dieses sonderbare Schimmern verblaßte, sah ich mit Staunen, daß die Eule verschwunden war und an ihrer Stelle die schönste Frau stand, die mein Auge je erblickt hatte. Ganz in Blau gewandet, schritt sie mit gebieterischem Blick über den Platz, und alle Anwesenden verneigten und erniedrigten sich vor ihr. Ich allein, sprachlos und gelähmt von ihrer Schönheit, verbeugte mich weder, noch bezeugte ich ihr anderweitig meine Ehrerbietung. Als sie das sah, näherte sie sich mir mit spöttischer Miene; ein kaum merkliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Und als sie sich mir näherte, sah ich, daß ihr rabenschwarzes Haar an der Schläfe eines Locke von reinstem Schneeweiß aufwies. Ihre herrlichen Augen ruhten auf mir, und ich gestehe, daß mein Herz zu schlagen aufhörte. Und dann erhob sie die Stimme und sprach: »Warum bist du so blaß, junger Mann? Hast du noch nie eine so schlichte Zauberei gesehen?« »Meine Herrin«, stammelte ich, »vergebt mir. Es ist nicht Eure Zauberei, die meine Glieder ihrer Fähigkeit beraubt hat, sich zu bewegen, sondern Eure Schönheit.«
Und sie lächelte mich an und sprach: »Du bist ein redegewandter junger Mann.« Kühn geworden durch ihre Ermutigung, platzte ich heraus: »Fürwahr, meine Herrin, Ihr seid die schönste aller Frauen.« Und auf diese Worte hin trat ein schwaches freudiges Strahlen in ihre Augen, und sie berührte meine Wange, und dann erwiderte sie und sprach: »Ja, ein lieber junger Mann, ich weiß.« Und dann sah sie mich voller Ernst an, und sie fuhr fort und sprach: »Du bist fremd hier, und du weißt nicht, wie oder warum du an diesen Ort gekommen bist. Es wird nicht mehr lange dauern, bis du erwachst.« »Ach«, sagte ich, und mir drehte sich das Herz im Leibe herum. »Ist dies nur ein Traum?« »Nein, lieber Jüngling«, erwiderte sie da, »dies ist wirklicher als die Welt, aus der du stammst. Kehre zu deinem Volk zurück und berichte ihm, was du gesehen hast, und sage ihnen auch, daß die Zeit der Wahl gekommen ist, wenn sie mich draußen in ihrem Land erblicken. Denn ich werde erst ins Land deines Volkes kommen, wenn es wählen muß, und dein Volk möge mein Kommen als ein Zeichen betrachten.« Und mit diesen Worten berührte sie meine Wange ein letztes Mal, wandte sich um und verschwand. Und so groß war meine Gemütsbewegung, daß ich ohnmächtig zu Boden sank. Und wisset, als ich erwachte, befand ich mich weder in der großen Stadt noch in jenem scheußlichen Wald, wo ich vom Weg abgekommen
war, sondern wieder in meinem eigenen Haus und meinem eigenen Bett. Und ich schloß, daß es bloß ein Traum gewesen war, was ich gesehen hatte – dann aber erblickte ich eine einzelne weiche, weiße Feder auf meiner Bettdecke, und da wußte ich, daß die Herrin in meiner Vision die Wahrheit gesprochen hatte und daß ich sie wahrhaftig gesehen hatte und daß sie einstmals in das Land meiner Väter kommen würde, um mein Volk zur Wahl aufzufordern. Einmal, als ich zur Erfüllung gewisser Aufgaben in den Westen gegangen war, ergab es sich, daß ich zur Insel der Stürme reisen mußte, um einem Wunder beizuwohnen, von dem ich meinen Brüdern und Schwestern bei meiner Rückkehr nach Kell dann berichten konnte. Es war die denkbar schlechteste Jahreszeit für eine Reise, denn die See tobte, und oftmals drohte der Wind das Schiff, das mich zu der fernen Insel trug, unter die hungrigen Wogen zu drücken. Schließlich aber legten wir am Vorabend jenes Festes, das der gesamte Westen begeht, am Ufer vor der Stadt Riva an. Und die Stadt vibrierte ob der Neuigkeit, daß der Orb Aldurs, welcher gestohlen worden war, am morgigen Tage zurückgegeben werden solle. Und es gelang mir, in der Halle des rivanischen Königs zugegen zu sein, um diese Zurückerstattung zu bezeugen, denn ich glaubte, dies sei das Wunder, das zu bezeugen ich ausgesandt worden sei. Aber wisset, als das Kind, welches den Orb trug, und der junge Sendarer, welcher die Schritte des Kindes lenkte, die Halle
betraten, wurde ich von religiöser Verzückung ergriffen, und völlig ungebeten senkte die Vision sich auf mich hernieder, und ich sah, daß der junge Sendarer vollständig in Licht gebadet war, und als das Kind ihm den Orb darbot, vernahm ich einen Chor aus Millionen und Abermillionen von Stimmen, der von dem fernsten aller Sterne widerhallte, und da wußte ich, daß Belgarion endlich gekommen war. Und als der junge Mann den Orb am Knauf des großen Schwertes befestigte und die Klinge aufflammte, um denen in der Halle und der ganzen Menschheit seine wahre Identität zu offenbaren, da dauerte meine Vision an, denn sehet, völlig unbeachtet von den anderen drehte das Kind sich um, welches den Orb getragen hatte, und ich sah sein Antlitz von unsäglicher Herrlichkeit verklärt, und ich wußte, daß ich das Antlitz eines der beiden Götter schaute, zwischen denen wir dereinst werden wählen müssen. Und was ich soeben gesehen hatte, ließ Schwärze vor meinen Augen aufsteigen, und ich fiel in Ohnmacht. Wie im Traum wanderte ich durch die Marschen von Temba und gelangte schließlich zu einem Strand, an dem ein kleines Boot auf mich wartete. Und unaufgefordert ging ich an Bord des Schiffchens, welches mich sodann ohne Ruder und ohne Segel aufs Meer hinaustrug. Am Ende brachte das Boot mich zu einer Untiefe, und ich erblickte vor mir ein grimmiges Riff uralter Felsen, an denen die träge See in Gischtfetzen emporspritzte. Und wie ein Getriebener ging ich an jenem Riff an Land und schritt über eine Wildnis aus salzverkrusteten
Felsen, bis ich schließlich zu einer Spalte gelangte, die sich bis in die Tiefen der Dunkelheit erstreckte. Voller Furcht stieg ich in jene finstre Höhle hinab, und dort in jenem Dämmerschein erblickte ich die Ruinen eines uralten Tempels, und auf dessen Stufen erblickte ich die verschleierte und unter einer Kapuze verborgene Gestalt einer Frau. Und ihre Erscheinung ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Stumm deutete sie auf das Tempeltor und befahl mir einzutreten, und ich war unfähig, mich zu widersetzen, und tat, wie die Frau mich geheißen hatte. In dem Tempel erblickte ich einen Altar, und auf diesem sah ich einen dunklen Stein von beträchtlicher Größe. Und ich fragte mich, warum ich an diesen Ort gebracht worden war. Doch während ich noch dort stand, kam die Frau näher, und auf ihren Armen trug sie ein Neugeborenes. Und als sie sich dem Altar näherte, begann der Stein darauf schwach zu glühen, und es schien, als könne ich plötzlich in den Stein hineinschauen, und was ich dort erblickte, entsetzte mich. Und die Frau streckte das neugeborene Kind von sich, als wolle sie es in den Stein pressen, und sehet, der Stein öffnete sich, um das Kind aufzunehmen. Doch plötzlich sah ich die grimmige Gestalt von Belgarion Gottbezwinger vor der Frau stehen. Sein Gesicht war qualvoll verzerrt, und aus seinen Augen stürzten Tränen, und er hob sein Flammenschwert, um Frau und Kind mit einem einzigen furchtbaren Schlag niederzustrecken. Und als ich aufschrie, um ihn davon abzuhalten, ließ der
Klang meiner Stimme die Vision zerplatzen, die ungebeten über mich gekommen war, und ich erwachte mit lauten Schreien des Entsetzens. Doch wahrlich, ich sage dir, mein Bruder, meine Vision war kein leeres Hirngespinst, sondern die Wahrheit, so unverrückbar wie die Erde, auf der du stehst. Höre meine Worte, denn sie sind die Wahrheit. Die Untiefe und das Riff sind dort, und den Tempel in der Höhle gibt es wahrhaftig. Dereinst werden die Frau und das Kind und der Gottbezwinger selbst an diesen finsteren Ort kommen, und in diesem Augenblick muß die Wahl getroffen werden, denn dies ist das EREIGNIS, auf das sich seit Anbeginn der Zeit alles zubewegt. *
*
Wir brauchten drei Monate, um die Malloreanischen Evangelarien zu schreiben. Doch es war die Zeit und Mühe wert, da diese Evangelarien auf eine ziemlich obskure Art eine philosophische Grundlage für die ›Malloreon-Saga‹ schufen. Dies ist es, was Cyradis glaubte, und Cyradis war letztendlich der Kern der ›MalloreonSaga‹.
6 EIN ABRIß DER JÜNGSTEN EREIGNISSE
Aus dem persönlic hen Tagebuch König Anhegs von Cherek* 5376 Im Frühling des Jahres nach der Schlacht von Thull Mardu und den ungeheuren Ereignissen, die sich in Cthol Mishrak abgespielt hatten, trafen wir uns – alle – in Riva zur Hochzeit des jungen Königs Belgarion mit der Kaiserlichen Prinzessin Ce’Nedra. Ich persönlich hege noch immer einige *
Ich habe Anheg immer gerne gemocht. Er hat seine Fehler, macht aber eine Menge Spaß.
Bedenken, ob es klug war, das Geschlecht des Hüters des Orb so eng mit dem Kaiserlichen Haus des tolnedrischen Reiches zu verbinden; aber da Ran Borune nicht mehr der Jüngste und überdies der letzte seines Geschlechts ist, vermute ich, daß es auch nicht groß schaden wird. Zudem halte ich trotz ihrer Ce’Nedra gelegentlichen Flatterhaftigkeit für eine bemerkenswerte junge Frau. Es könnte durchaus sein, daß dieses willensstarke Mädchen Belgarions doch eher schüchternes Wesen, das uns allen schon einige Sorgen bereitet hat, gut ergänzt. Ihre Ehe verspricht stürmisch zu werden, aber ich gehe davon aus, daß mein junger Freund nur selten unter Langeweile leiden wird. Was mich betrifft, ich würde mir lieber meinen Bart abrasieren, als ein
solches Mädchen zu heiraten! Im Sommer diesen Jahres erreichte uns die Nachricht daß ’Zakath die Belagerung von Rak Goska erfolgreich abgeschlossen habe. Seine Eroberung der Stadt war allen Berichten zufolge selbst für angarakanische Verhältnisse außergewöhnlich brutal. Ich hege keine große Sympathie für Murgos, aber ich vermute, ’Zakath wird noch Grund bekommen, sein Gemetzel an den Einwohnern von Rak Goska zu bereuen. König Urgit, der Sohn von Taur Urgas, entkam unglücklicherweise, und man kann davon ausgehen, daß er die Greueltaten hinreichend ausschlachten wird, um den Haß der Murgos bis zum Äußersten anzufachen. Ich beabsichtige, unauffällig auf den Zuschauerbänken Platz zu nehmen, beide Seiten in ihrem gegenseitigen Vernichtungskrieg
anzuspornen und mir den privaten Luxus der Schadenfreude zu gestatten. Ich weiß, Schadenfreude ist keine wünschenswerte Eigenschaft für einen König, aber was soll man machen, jeder Mann braucht schließlich ein paar Laster. Im Spätherbst erhielt ich einen Brief von meinem guten Freund General Varana, der mir fast genausoviel Vergnügen bereitete. Der untragbare Esel, den die Honethiter als Ran Borunes Nachfolger verkauften, wurde fein säuberlich von einem horbitischen Mörder vergiftet, möge Belars Segen mit ihm sein! Die Honethiter sind völlig aufgelöst, und Ran Borune ist fast außer sich vor Häme. Für dieses Mal teile ich die Freude des Kaisers uneingeschränkt. Ich glaube, ich beginne diesen verschlagenen kleinen alten Fuchs noch zu mögen.
Wir haben Nachricht erhalten, daß dieser merkwürdige Geselle, Relg, und die Maragerin, die Belgarath in den Höhlen unter Rak Cthol gefunden hatte, ihr erstes Kind bekommen haben, einen Sohn. Der Junge, so wurde uns gesagt, hat blaue Augen – eine Tatsache, die die Ulgos aus unerklärlichen Gründen zu einer Feierorgie veranlaßt hat. Mein Vetter Barak klärte mich auf, es hätte etwas mit ihrer Religion zu tun. Ich habe die Angelegenheit nicht weiter verfolgt, da mir religiöse Geschichten immer Kopfschmerzen bereitet haben. Barak hat übrigens keine weiteren Anzeichen dafür erkennen lassen, daß er sich auf einer regulären Basis in einen Bären zu verwandeln gedenkt. Ich bin ihm für seine Selbstbeherrschung in diesem Punkt überaus dankbar. Der Unterschied zwischen Barak und einem Bär ist eigentlich nicht
allzu groß, aber es ist ein bißchen peinlich, so eng mit einem Wesen verwandt zu sein, das eigentlich nach draußen in den Wald gehört.
5377 Islena und ich haben Erastide mit Rhodar und Porenn in Boktor gefeiert und sind erst vor kurzem nach Val Alorn zurückgekehrt. Rhodar scheint noch feister geworden zu sein, und natürlich vergöttert er seinen neugeborenen Sohn. Er erzählte mir, daß sein Herumtreiber von einem Neffen, Kheldar, sich mit einem gewissen Yarblek zusammengetan hat, einem Nadraker, der ein fast ebenso großer Spitzbube zu sein scheint wie er. Mit einem brillanten Streich haben sie es geschafft, den nadrakischen Pelzmarkt in ihre Hand zu bekommen.
Während wir in Boktor waren, schickte uns außerdem Cho-Hag eine Botschaft, daß Hettar und Belgarions Base Adara ihm einen Enkel geschenkt hätten. In letzter Zeit scheint alle Welt Kinder zu kriegen. Man kann nur hoffen, daß sich Belgarion und seine kleine Königin vom Zeitgeist anstecken lassen. Ich weiß, daß wir alle besser schlafen, wenn die Nachfolge des Geschlechts von Riva gesichert ist. In den Königreichen des Südens sind alle Ereignisse wie stets politischer Natur. Mein Vetter Grinneg, unser Botschafter in Tol Honeth, teilt mir mit, daß General Varana in seiner Eigenschaft als Sondergesandter Ran Borunes ein unverschämt günstiges Handelsabkommen mit Sadi abgeschlossen hat, dem Obersten Eunuchen an Königin Salmissras Hof zu Sthiss Tor. Ich bin mir
sicher, das Kaiserreich wird noch wohlhabender werden, aber ich beneide sie nicht um das Vergnügen, mit dem Schlangenvolk verkehren zu müssen. Der junge König Korodullin hat mit überraschendem Scharfsinn Graf Reldegen zum Generalgouverneur von Asturien ernannt. Ich bin Reldegen schon begegnet, und er scheint über gesunden zu Menschenverstand verfügen – was ihn in Arendien zu einem absoluten Genie macht. Man darf hoffen, daß seine Ernennung die Spannungen zwischen Mimbre und Asturien abbauen wird – zumindest soweit, daß es keinen offenen Krieg mehr auf der arendischen Ebene gibt. Diesen Sommer absolvieren unser junger Belgarion und seine Königin ihre große Rundreise; sie besuchen alle
Hauptstädte des Westens. Ich denke, der Schachzug macht politisch Sinn. Belgarion hat keinerlei Anstalten unternommen, seinen Titel als Oberherr Westens des herauszustreichen, und es ist vermutlich an der Zeit, einigen Leuten ins Gedächtnis zu rufen, daß es ihn noch gibt. Der Vorteil seiner Untätigkeit ist es andererseits, daß er keine Fehler begangen und sich deshalb auch noch keine Feinde gemacht hat. Zudem kann er noch auf große Sympathien für sich zählen. Persönliche Besuche werden diese Sympathien verstärken. Ich freue mich darauf, sie wiederzusehen. Besonders interessiert mich Ce’Nedras Taillenumfang. Man hofft allgemein, daß sie um die Mitte ein bißchen zugelegt hat. Zehn oder fünfzehn Pfund mehr an diesem Mädchen würden mich ganz schön beruhigen.
Der Besuch des königlichen Paars war angenehm. Garion (Belgarion, um genau zu sein – es fällt schwer, stets an den offiziellen Namen zu denken, wenn man gerade mit ihm gesprochen hat) scheint ein wenig gereift und auch ein bißchen entschiedener geworden zu sein. Ich vermute, ein Teil seines nachgiebigen Naturells läßt sich auf Polgaras Persönlichkeit zurückführen. Diese Dame kann manchmal ziemlich überwältigend sein. Ich bin sicher, die Notwendigkeit, seine Autorität gegenüber seiner Frau zu wahren, hat ihm das Rückgrat ein wenig gestärkt. Ce’Nedra ist leider immer noch gertenschlank. Kurz vor Einsetzen der Winterstürme erreichte uns die Nachricht aus dem Süden, daß ’Zakath * die *
Wir ließen den Apostroph vor Zakaths Namen irgendwann fallen, obwohl er ein Hinweis darauf war, daß hier ein ›Kal‹ fehlte (›Kal Zakath‹ spielte auf Zakaths
murgosische Stadt Rak Hagga erobert habe, eines der größten Bevölkerungszentren im Lande, das vielleicht tausend Leagues südlich von Rak Goska liegt. Wenn nicht bald irgend etwas passiert, das seinen Eroberungen dort unten Einhalt gebietet, müssen wir möglicherweise etwas gegen ihn unternehmen. Seine Beweggründe sind undurchsichtig, und seine Armee ist für meine Gemütsruhe ein bißchen zu groß.
5378 Meine Befürchtungen hinsichtlich ’Zakath scheinen unbegründet gewesen zu sein. König Urgit von Murgo, der anscheinend den ungestümen Wahnsinn seines Vaters nicht geerbt hat, zog sich klug vor den Wahnsinn an. Ganz zu Anfang war er mindestens genauso verrückt wie Taur Urgas).
anrückenden Malloreanern zurück und lockte sie in die Weiten des großen südlichen Waldes, der hauptsächlich im Militärdistrikt Gorut liegt. Dorthin hatte Urgit den Großteil der Murgo-Armee verlegt, weil er dort die Bäume als Versteck benutzen konnte. Als ’Zakath auf Rak Gorut vorrückte, fiel Urgit über ihn her und massakrierte seine halbe Armee. Wenn ich in den Schnee hinausblicke, der sich in den Straßen von Val Alorn auftürmt, kann ich mir nur schwer vorstellen, daß es Sommer ist in diesen südlichen Breitengraden, wo Urgit und ’Zakath sich in einem fernen Land bekriegen, dessen rauhe Namen in der angarakanischen Sprache dem Nachhall eines Alptraums zu entstammen scheinen. Ich vermute, das ist auch der Grund, warum ich im Herzen immer ein einfacher Mann geblieben
bin. Tief in meinem Inneren glaube ich wohl noch immer, daß die Welt flach ist und die Jahreszeiten überall die gleichen sind und die Sonne über jedem Fleck der Welt gleichzeitig aufgeht. Nun gut! In diesem Frühjahr erkrankte Ran Borune schwer, obgleich auch die tüchtigsten Agenten von Rhodar im Palast von Tol Honeth nicht das genaue Wesen seiner Krankheit herauszufinden vermochten. Erstaunlicherweise ist dem alten Fuchs noch genügend Grips geblieben, um einzusehen, daß er die alltäglichen Regierungsgeschäfte nicht mehr wahrnehmen kann. Er hat General Varana zum Kaiserlichen Regenten ernannt, und er selbst befaßt sich nur noch mit den wichtigsten Angelegenheiten. Varanas Teilnahme an der Schlacht von Thull Mardu hat ihn
in Tolnedra zu so etwas wie einem Nationalhelden gemacht, so daß der Kaiser keinen Besseren hätte aussuchen können. Diesen Sommer reiste ich zum Treffen des Alornischen Rats nach Riva. Da Torak tot ist, besaß unsere Zusammenkunft nicht die Dringlichkeit, die unsere vorherigen Sitzungen ausgezeichnet hatte, und die ganze Sache glich eher einem zwanglosen Beisammensein als einem Kriegsrat. Wie seltsam es ist, wieder nach Riva zu kommen, nachdem wir endlich Frieden haben! Belgarion scheint zu reifen und, wie es aussieht, langsam in seine Krone hineinzuwachsen. Ich mag diesen jungen Mann. Hätte ich einen Sohn, ich würde mir ihn genauso wünschen. Wenn Islena nicht diese krankhafte Angst vor dem Kinderkriegen hätte, könnte ich vielleicht selbst so einen Sohn haben. Wir
zogen den jungen König alle freundlich damit auf, daß er bislang noch keinen Sohn zustande gebracht hätte, und unsere Scherze brachten ihn, glaube ich, etwas aus der Fassung. Er ist vielleicht ein bißchen überempfindlich, was Witze auf seine Kosten anbelangt, aber mit der Zeit wird er schon ein dickeres Fell bekommen. Belgarath, der natürlich zu spät kam, war ganz der Alte, unwandelbar wie Urgestein, aber mit Rhodar scheint es bergab zu gehen. Er leidet an Kurzatmigkeit und ist wassersüchtig geworden. Treppen schafft er nicht mehr, aber sein Verstand ist wach wie eh und je. Während unseres Aufenthalts in Riva traf ein Bote aus Arendien ein, um Belgarion zu informieren, daß sein Freund Lelldorin und seine mimbratische Braut gerade ihr erstes Kind bekommen hätten, ein Mädchen. Bei der
darauffolgenden Feier gelang es mir, diesen manchmal etwas zu ernsten jungen Monarchen sturzbetrunken zu machen. Willst du einen Mann wirklich kennenlernen, mußt du sehen, wie er sich benimmt, wenn er betrunken ist. Wenn du einmal eine Gallone guten Ales in Belgarion hereingekippt hast, wird er ein ganz anderer Bursche. Er singt jedoch schauderhaft. Am nächsten Morgen litt er wirklich erbarmungswürdig. Der Junge braucht offensichtlich Übung. Das Trinken in Gesellschaft ist ein wichtiger Bestandteil im Repertoire eines Herrschers.
5379 Es hat mich zu Beginn dieses Jahres sehr betrübt, vom Tod meines Freundes Rhodar von Drasnien zu erfahren. Wir waren
brüderliche alornische Könige, Kameraden auf dem Schlachtfeld und enge persönliche Freunde. Seine weltkluge Weisheit, seine immerwährende gute Laune und seine wahre Tapferkeit machten ihn zu einem Felsen in der Brandung, auf den wir uns in unruhigen Zeiten immer verlassen konnten. Sein Tod hat eine große Lücke gerissen, die ich schmerzlich spüre. Porenn hat die Regentschaft für ihren unmündigen Sohn übernommen. Es bereitet mir Sorge, weil Porenn für meine Begriffe ein wenig zu sehr ein Geschöpf des drasnischen Geheimdienstes ist. Inzwischen haben wir erfahren, daß ’Zakath sich nach Norden zurückzieht, nachdem er die Stadt Rak Hagga aufgegeben hat. Offenbar beabsichtigt er, in Rak Cthan in der Nähe des Äquators zu überwintern. Um seine Probleme zu verschlimmern, kursieren
Gerüchte, in Mallorea sei ein Bürgerkrieg ausgebrochen. Es scheint starke separatistische Bewegungen in den Sieben Königreichen von Karanda im nördlichen und östlichen Zentralmallorea zu geben. Sollte ihn das dazu zwingen, nach Hause zurückzukehren, um seine angeschlagene Position wieder zu festigen, würde das meiner Meinung nach das Ende seiner Abenteuer auf diesem Kontinent bedeuten. Zu Beginn des Sommers stattete ich Fulrach einen Besuch ab, um mich mit ihm hinsichtlich der Ereignisse in Drasnien und im südlichen Cthol Murgos auszutauschen. Sendarien kommt, was seine Lage angeht, eine herausragend strategische und logistische Bedeutung in den alornischen Königreichen zu, so daß herzliche Beziehungen zwischen Fulrach und mir lebensnotwendig sind. In
Sendarien war jedoch eine Epidemie von Schweinepest ausgebrochen, und ich mußte feststellen, daß Fulrach völlig mit diesem Problem beschäftigt war. Ich rechne damit, daß die Preise für Speck und Schinken zu Beginn des Winters kräftig anziehen werden. Überraschende Neuigkeiten aus Tol Honeth! General Varana berief in einem Versuch eine zur Aussöhnung Zusammenkunft im Palast ein, um eine Reihe von Schritten vorzuschlagen, die die Spannungen um die Thronnachfolge vermindern würden. Die Häupter aller bedeutenden Familien von Tolnedra waren zugegen, desgleichen das Konzil der Räte. Das Konzil, wohlwissend, daß Varanas Vorschläge die Bestechungsgelder, die von den großen Familien zu erwarten waren, empfindlich beschneiden
würden, versuchte ihn mit schriller Stimme niederzuschreien. Varana, für gewöhnlich mit der Geduld eines Felsens ausgestattet, wurde ärgerlich und löste in seiner offiziellen Befugnis als Kaiserlicher Regent die Körperschaft kurzerhand auf. Das Konzil erklärte rasch, es werde sein Dekret niemals hinnehmen, und da ließ er die versammelte Mannschaft in die kaiserlichen Verliese werfen. Da die Würfel nach diesem Vorfall gefallen waren, nahm Varana mit dem für militärische Köpfe gewissermaßen typischen Pragmatismus sämtliche Großherzöge von Tolnedra in Schutzhaft und setzte sie in bequemen, aber gut bewachten Zimmerfluchten im Palast fest. Dann riß er, sozusagen die logische Folge der vorherigen Ereignisse, mit einem gewissen Widerstreben das militärische
Oberkommando an sich und erklärte sich zum Militärdiktator des tolnedrischen Reiches. Die ganze Welt zittert unter der Wucht dieser Ereignisse. So wenig ich das Kaiserreich auch mag, muß ich doch zugeben, daß Tolnedra einen ungeheuer stabilisierenden Faktor in der Weltpolitik darstellt. Wenn Tolnedra zusammenbricht, weiß Gott allein, was geschehen mag. Ich wurde davon unterrichtet, daß die Frau, Taiba – sie scheint fruchtbar wie ein Karnickel zu sein –, Relg dem Zeloten gegen Ende des Jahres 5377 ein zweites Kind geboren hatte (ein Mädchen), und daß sie kürzlich ein weiteres Mädchen zur Welt brachte. In Anbetracht von Relgs extremem Hang zur Askese wüßte ich schon gerne, welche Verführungskünste oder Schmeicheleien sie eingesetzt hat, um ihn in
ihr Bett zu locken. Ich habe das im Scherz Islena gegenüber erwähnt, und sie reagierte mit einer für sie untypischen Heftigkeit und nannte mich (unter anderem) einen Lüstling und ein entartetes Scheusal. Komischerweise fand ich das erfrischender als alle Unterhaltungen, die wir im Laufe der Jahre miteinander geführt haben.
5380 Islena benimmt sich auch weiterhin sonderbar. Wenn ich Zeit hätte, würde ich gerne herauszufinden versuchen, was die Ursache ihres Problems ist. Ärger in Cthol Murgos! ’Zakath ist mit einer gewaltigen Flotte an der Südküste des Militärdistrikts Hagga gelandet und hat Urgit sauber zwischen zwei riesigen malloreanischen Armeen in die Zange genommen. Die Schlacht
fand auf der Grenze zwischen Hagga und Cthan statt, und unsere Informanten berichten, daß Urgit vernichtend geschlagen wurde und nur knapp mit dem Leben davonkam. ’Zakath hat Rak Hagga zurückerobert, und meine Annahme, er sei in diesem Teil der Welt restlos erledigt, hat sich als grobe Fehleinschätzung erwiesen. Ich glaube, ich sollte am besten ein langes Gespräch mit Belgarion führen. Die Dinge im Süden gelangen an einen Punkt, an dem wir etwas unternehmen müssen. Ich fürchte, die Lage in Tolnedra hat sich noch weiter verschlechtert. Ran Borune hat Varana ›adoptiert‹ und den General zu seinem offiziellen und gesetzlichen Erben ernannt. Die anderen großen Häuser kreischen vor Wut, aber der Kaiser bleibt hart. Ich persönlich bin der Meinung, daß Varana eine ausgezeichnete
Wahl ist, aber ich fürchte, seine Erhöhung wird Tolnedra dermaßen in Aufruhr versetzen, daß die Vorteile, einen tatkräftigen Kaiser zu haben, durch die Nachteile des nun unumgänglich scheinenden Bruderzwistes zunichte gemacht würden. Lebten wir in weniger unruhigen Zeiten, würde es mir womöglich Spaß bereiten zuzusehen, wie Tolnedra in Flammen aufgeht. Das Kaiserreich besitzt zu großen Einfluß in den Angelegenheiten der anderen Nationen, als daß ich damit zufrieden sein könnte. Mit einem losgelassenen ’Zakath im südlichen Cthol Murgos jedoch ist nicht der rechte Zeitpunkt für irgendein Land des Westens, sich durch interne Streitigkeiten ablenken zu lassen. MEINE ISLENA IST SCHWANGER! Was für eine erstaunliche Entwicklung! Entweder hat sie ihre Angst vor dem
Kinderkriegen überwunden, oder eines der Mittelchen, die sie zu nehmen pflegt, um eine Empfängnis zu verhüten, hat versagt. Sie weigert sich, mit mir darüber zu sprechen. Merel, Baraks Frau, bleibt ständig an ihrer Seite, um sie in Augenblicken der Schwäche aufzurichten. Das ist eine Frau aus Stahl! Manchmal jagt sie sogar mir Angst ein. Aber wenn Barak in der Nähe ist, schnurrt sie immer wie ein Kätzchen. Ich werde die Frauen nie verstehen. Nach all diesen Jahren werde ich Vater! Barak und ich werden jetzt ausgehen und uns fürchterlich besaufen. Das Handelsimperium von Prinz Kheldar und seinem nadrakischen Komplizen ist so gewachsen, daß es nicht mehr feierlich ist. Sie beherrschen den gesamten Handel auf der Nördlichen Karawanenstraße, und jetzt haben sie auch noch die
Werften in Yar Marak gepachtet; sie bauen ihnen eine Flotte von Handelsschiffen, mit denen sie Mallorea plündern können. Der schurkische Kheldar kam wie ein Dieb in der Nacht nach Cherek und heuerte sämtliche Schiffsbauer an, die er auftreiben konnte. Sie sind so gründlich übergelaufen, daß ich nicht einmal ein Ruderboot in den Werften von Val Alorn bauen lassen könnte, wenn ich eins bräuchte. Traurige Zeiten, in denen wir leben, wenn Geld mehr zählt als Vaterlandsliebe oder Treue seinem König und seiner Nation gegenüber! Islena schwillt an wie ein prall gefülltes Segel, und sie hat einen unstillbaren Appetit auf Erdbeeren entwickelt. Wo soll ich zu dieser Jahreszeit Erdbeeren herkriegen? Dieser Tage habe ich einen Beschwerdebrief an Prinz Kheldar geschickt. Ich hätte wissen müssen,
daß diese Schiffe, die er bauen ließ, nur ein Vorspiel waren. Jetzt macht er sich daran, Seeleute anzuheuern. Ich habe nicht mehr genügend gute Leute in Cherek, um meine Flotte zu bemannen. Die Löhne, die er bietet, sind absolut unverschämt. Ich müßte meine Schatztruhen plündern, um mit ihm gleichzuziehen. Er geht eindeutig zu weit. Ich konnte ihn ohnehin nie ausstehen. Polgara hat Islena gnädigerweise ganze Körbe von Erdbeeren aus ihrem eigenen Garten geschickt. Wie sie die Pflanzen im Herbst dazu gebracht hat, Früchte zu tragen, ist mir schleierhaft. Nachdem sie allerdings zwei davon gegessen hatte, verlor Islena jegliches Interesse an Erdbeeren. Was soll ich jetzt mit all diesen Erdbeeren anfangen? Ariana, die Gemahlin Lelldorins von Wildantor, hat ihrem ersten Sohn das
Leben geschenkt. Ich hoffe, das ist ein gutes Zeichen. ICH HABE EINEN SOHN! Einen kräftigen, schreienden Knaben mit schwarzen Haaren und einer Lunge wie ein Blasebalg. Belar sei Dank! Wie es bei uns Sitte ist, schleppten Barak und ich ihn sofort zum Hafen, um seine Füße in das Salzwasser des Meeres zu tauchen, damit er mal ein guter Seemann wird. Nach unserer Rückkehr leerten mein Vetter und ich ein großes Faß mit vorzüglichem altem Ale, um uns bei unseren Beratungen bezüglich der Wahl eines passenden Namens auf die Sprünge zu helfen. Das Ale schränkte unglücklicherweise meine Kreativität stark ein, und meine Grafen teilten mir mit, einige Zeit nach Mitternacht hätte ich Bier über meinen Sohn gegossen und ihn nach mir selbst Anheg genannt. Na ja, Anheg II. ist wirklich kein
schlechter Name, vermute ich. Islenas Wehen dauerten nur anderteinhalb Tage, also kaum der Rede wert. Sie dramatisiert alles jedoch über Gebühr, und ich versuche sie damit zu necken. Aber schließlich hat sie gute Arbeit geleistet, indem sie meinen Sohn geboren hat, und ich nehme an, daß ich ihr dafür etwas schulde.
5381 ’Zakath ist nach Mallorea zurückgekehrt und hat die Rebellion in Karanda niedergeschlagen. Mir wurde berichtet, seine Unterdrückung der separatistischen Strömungen in Zamad, Ganasia und Voresebo sei besonders grausam gewesen. Gibt es denn nichts, das die Glückssträhne dieses Mannes beendet? Meiner Ansicht nach dürfen wir ihn über kurz oder lang
wieder auf unserem Kontinent erwarten. Mein Sohn hat seinen ersten Zahn bekommen! Er hat mich heute morgen damit gebissen – nicht feste genug, daß es geblutet hätte, aber er hat sich bemüht. Ran Borune starb diesen Frühling. Das Staatsbegräbnis war gewaltig. Alles in allem mochte ich ihn recht gern, aber die Lage in Tolnedra hat sich in den Jahren seines fortschreitenden Verfalls erheblich verschlechtert. Varana, kein Mann, der eine günstige Gelegenheit verstreichen ließe, hat sich auf der Stelle zum Kaiser von Tolnedra gekrönt. Theoretisch lautet sein Name Ran Borune XXIV. aber wir nennen ihn alle weiterhin Varana. Die großen Häuser kochen natürlich vor Wut, aber Varana kontrolliert die Legionen, und da liegt nun einmal die wahre Macht in Tolnedra. Die Honethiter,
die Horbiter und die Boruner haben alle (murrend) den üblichen Treueid geschworen. Die Vorduvier indes weigern sich hartnäckig, ihm Treue zu schwören. Ich fürchte, mein Freund wird gezwungen sein, diese zu Angelegenheit bereinigen, bevor er sich seines Throns sicher sein darf. Ein zurückkehrender Seemann hat mich davon in Kenntnis gesetzt, daß Prinz Kheldar, der sich vor aller Welt wie ein Staatsoberhaupt gebiert, ’Zakath einen offiziellen Besuch in der malloreanischen Kaiserstadt Mal Zeth abgestattet hat. Der Seemann war mit den Einzelheiten ihrer Gespräche selbstverständlich nicht vertraut, aber seine Wiedergabe von Kheldars Schadenfreude nach den Begegnungen kann nur meine Auffassung erhärten,
daß der verschlagene kleine Dieb ein vorteilhaftes Handelsabkommen mit dem malloreanischen Thron abgeschlossen hat. Ich kann nur hoffen, daß Kheldar nie vergessen wird, daß er ein Alorner ist. Schon wieder Ärger in Arendien. Der Baron von Vo Ebor, der in der Schlacht von Thull Mardu schwer verwundet wurde, ist im vergangenen Winter verschieden. Sein Erbe, ein Neffe, übte seine Autorität als neuer Baron aus und versprach die Hand der Witwe Nerina einem seiner Speichellecker. Mandorallen, der Baron von Vo Mandor, entschloß sich, an diesem Punkt einzuschreiten. Er marschierte in die Baronie von Vo Ebor ein und nahm die trauernde Witwe in ›Schutzhaft‹. Mehrere Ritter unternahmen den übereilten Versuch, den Heimritt des großen Mannes zu verhindern. Wenn ich recht verstehe,
waren die Verluste beträchtlich. Das arendische Katastrophenpotential hat wieder einmal voll zugeschlagen. Zwischen den beiden Baronien herrscht nun der Kriegszustand, und der übrige mimbratische Adel schlägt sich auf eine der beiden Seiten. Mandorallen hat sich in die Festung von Vo Mandor zurückgezogen, wo er seiner entführten Dame den Hof macht, und der neue Baron von Vo Ebor, der sich, wie es seinen scheint, von Wunden erholen wird, heult vor Wut. Korodullin ist außer sich, und Lelldorin von Wildantor, heißblütig wie eh und je, stellt in Asturien ein Heer auf, um seinem alten Waffenfreund zu Hilfe zu eilen. Arender können aus purem Zufall größeres Unheil anrichten als die meisten von uns mit voller Absicht.
Taiba, die Frau Relgs des Zeloten, hat diesen Herbst das Zwillingstöchtern Leben geschenkt. Sie scheint die Absicht zu haben, Maragor ganz allein wieder zu bevölkern. Die üblichen gegenseitigen Geschenke zu solchen Anlässen gehen mir allmählich an den Geldbeutel. Mein Sohn kann jetzt laufen. Zur Feier des Tages gab ich ihm einen winzigen Becher Dünnbier. Jetzt redet Islena nicht mehr mit mir.
5382 Varanas Probleme in Tolnedra nehmen zu. Die Vorduvier weigern sich hartnäckig, ihn anzuerkennen, und lassen keine kaiserlichen Steuereintreiber mehr nach Nordtolnedra. Statt dessen haben sie die Steuererhebung an sich gerissen, und die eigentlich
dem Kaiser zustehenden Beträge wandern in die Schatzkeller der vorduvischen Familienpaläste. Das Recht der Steuererhebung ist das am höchsten zu veranschlagende Hoheitsrecht einer jeden Regierung, und jede Einmischung in diese Regalie kommt einer offenen Kriegserklärung an die Zentralregierung gleich. Ganz Tolnedra hält den Atem an und fragt sich, wie Varana auf diese Herausforderung der Vorduvier reagieren wird. Seine Situation gestaltet sich schwierig. Offensichtlich zögert er, die Legionen in die Nordprovinzen zu entsenden, um seine Autorität mit dem Schwert wiederherzustellen. Sein Anspruch auf den Thron ist bestensfalls dürftig, und eine harte Vorgehensweise gegen die vorduvischen Empörer würde ihm rasch den Ruf eines Tyrannen
verschaffen. Auf der anderen Seite kann er eine solche Herausforderung ungestraft auch nicht hinnehmen. Ich leide mit ihm in diesen schwierigen Zeiten. Auf Ersuchen König Korodullins von Arendien ist Belgarion in dieses Königreich gesegelt, um in der Fehde zwischen den Baronien von Mandor und Ebor zu vermitteln. Er traf auf sie, als sie sich auf der Ebene von Südarendien zur Schlacht aufstellten. Anfänglich übertönte der Kampflärm die Stimme unseres jungen Freundes, der die Kampfhandlungen einzustellen versuchte. Mit der Zeit wurde er gereizt. Ich nehme an, das liegt in der Familie. Dieselbe Gereiztheit habe ich schon bei mehreren Gelegenheiten an Belgarath beobachten können. Wie dem auch sei, Belgarion zog sein Schwert. Und das ist ein Schauspiel, das jeden Mann dazu bringen wird,
von dem abzulassen, womit er sich gerade beschäftigt. Selbstverständlich flammte das Schwert sofort freudig auf. Der Anblick von Belgarion, das leuchtende Schwert hoch über seinen Kopf erhoben, mit zorniger Miene und funkensprühenden Augen, löste in beiden Heeren große Bestürzung aus. Um seine Unzufriedenheit mit ihrem derzeitigen Betragen zu unterstreichen, griff der junge König von Riva zum Mittel der Zauberei. Der erste Donnerschlag, den er auf sie herabbeschwor, ließ die Erde bis Vo Mimbre erbeben und schleuderte vollgerüstete Ritter aus dem Sattel. Der zweite riß den Himmel auf und überflutete das gesamte Schlachtfeld mit einem unglaublichen Regen- und Hagelguß. Mit einem einzigen Wort gebot er den sintflutartigen Regenfällen Einhalt und sprach mit einer Stimme zu den beiden Heeren, die noch
drei Leagues entfernt klar und deutlich zu hören war. Seine Worte haben sich dem Gedächtnis aller Anwesenden unauslöschlich eingeprägt. »Hört sofort mit diesem Unfug auf!« befahl er ihnen. Dann richtete er sein Schwert auf den Baron von Vo Ebor. »Ihr«, sagte er. »Herkommen.« Zitternd näherte der Baron sich ihm. »Ihr«, wandte er sich dann an Sir Mandorallen, »Euch will ich auch hier sehen.« Mit bleichem Gesicht gehorchte der große Ritter. Dann hielt Belgarion den beiden eine Strafpredigt, die sich gewaschen hatte. Als er die beiden schließlich kurz davor hatte, in Tränen auszubrechen, beendete er ihre Fehde mit einer Reihe schroffer Befehle. Dem Baron von Vo Ebor erklärte er: »Ihr werdet unverzüglich jeglicher Autoritätsansprüche auf Person und Zukunft der
Baronesse Nerina entsagen.« Sir Mandorallen bekam zu hören: »Ihr werdet auf der Stelle nach Vo Mandor zurückkehren und die in Frage stehende Dame heiraten. Ihr werdet – hier und jetzt – auf jegliche Gebietsansprüche zugunsten der Baronin verzichten. Kurz gesagt, meine Herren, der Baron kriegt das Land, und Mandorallen kriegt die Dame – und das war’s!« Dann sah er sie wütend an. »Und jetzt geht nach Hause«, verfügte er. »Ich habe genug von euch beiden.« Und damit war der Bürgerkrieg beendet. Die Baronesse Nerina, Arenderin bis auf die Knochen, erhob leidenschaftlich Einspruch, als Belgarion und Mandorallen ihr mitteilten, sie solle noch am selben Tage mit dem Mann verheiratet werden, den sie seit all diesen Jahren liebte. Ganz offensichtlich sah sie wundervolle Gelegenheiten
zum tragischen Leiden zum Fenster hinausfliegen. Belgarion wollte jedoch davon nichts hören. Barsch brachte er sie zum Schweigen, um das Paar dann im wahrsten Sinne des Wortes vor sich her in die Kapelle zu treiben, wo er drohend hinter ihnen stehen blieb, während der Chaldan-Priester die Zeremonie abhielt. So endete eine der großen tragischen Liebesgeschichten der heutigen Zeit. Die melancholische Baronesse Nerina strahlt jetzt; der finstere Mandorallen hat die ganze Zeit ein ziemlich blödes Lächeln im Gesicht; und Belgarion kehrte mit einem selbstgefälligen Grinsen auf den Lippen nach Riva zurück. Der Vorfall wirft ein höchst aufschlußreiches Licht auf den Charakter unseres Belgarion. Er ist ein ausgesprochen geduldiger Mensch, aber
auch seine Geduld hat ihre Grenzen. Und wenn er sich einmal dazu durchgerungen hat, etwas zu unternehmen, kann ihn nichts auf der Welt davon abhalten. Ich muß mir merken, ihm nie in die Quere zu kommen. In Algarien haben Hettar und Adara ihr zweites Kind bekommen, ein Mädchen. Die ganze Welt scheint Nachwuchs zu produzieren – die ganze Welt außer Belgarion und Ce’Nedra. Ich frage mich langsam, ob sie irgend etwas falsch machen.
5383 ’Zakath hat seinen Eroberungsfeldzug im südlichen Cthol Murgos fortgesetzt. Seine verschaffte Abwesenheit König Urgit Zeit, die verstreuten Überreste seiner Armee zusammenzuklauben und zu reorganisieren. Er hätte natürlich keine Chance,
wenn er sich ’Zakath auf den Ebenen des südwestlichen Cthol Murgos zur offenen Feldschlacht stellen würde. Ein solches Treffen wäre verheerend für ihn und würde das Ende der Murgos als Nation bedeuten. So hat er sich, klugerweise, wie ich meine, in die Berge von Araga und Urga an der Westküste zurückgezogen. Murgos sind hervorragende Gebirgskämpfer, aber, wie Cho-Hag auf den Ebenen Algariens und wir alle in Thull Mardu feststellen konnten, machen sie sich in offenem Gelände nicht ganz so gut. ’Zakath wird gezwungen sein, die Murgos in einem Gelände ihrer Wahl zu jagen. Eine solche Kriegsführung kann gut Generationen dauern. Ich finde diese Aussicht recht erfreulich, und ich wünsche beiden Seiten gutes Gelingen beim Versuch der gegenseitigen Ausrottung.
Varana hat den Vorduviern die Hand zur Versöhnung geboten, offensichtlich in der Hoffnung, einen Bürgerkrieg in Tolnedra zu vermeiden. Sie haben sein Angebot kalt lächelnd zurückgewiesen. Er nähert sich rapide dem Punkt, an dem er hart wird durchgreifen müssen, oder die ganze Nation wird sich vor seinen Augen auflösen. Belgarath hat auf seinem Weg nach Riva bei uns vorbeigeschaut. Ich habe ihn selten so wütend erlebt. Belgarions spontanes Gewitter letztes Jahr scheint weitreichende und ziemlich katastrophale Auswirkungen auf die kontinentalen Wettermuster zu haben, und Belgarath kocht vor Wut. Ich beneide meinen jungen Freund nicht um das bevorstehende Treffen mit seinem Großvater. Wenn er sich provoziert fühlt, kann der alte Mann einem ganz schön das Fell
über die Ohren ziehen, und im Augenblick fühlt er sich furchtbar provoziert. Prinz Kheldar, der sich noch immer vor aller Welt wie ein Monarch auf Staatsvisite aufführt, hat Melcene besucht, die Heimat der malloreanischen Bürokratie. Er hat Beziehungen zu dem dortigen Handelsministerium geknüpft. Ich schätze, es kann nicht mehr lange dauern, bis dieser kleine Bandit der reichste Mann der Welt ist – wenn er es nicht schon ist. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke. Taiba und Relg sind mit ihrer rasch wachsenden Familie aus Gründen, die für mich völlig undurchsichtig sind, nach Maragor übergesiedelt. Die Tolnedrer, die sich goldlüstern an den Grenzen dieser Spukregion herumgetrieben hatten, nahmen dies als Zeichen, daß die Gespenster
verschwunden seien. Als sie jedoch in das Land stürmten, um das am Boden herumliegende Gold einzusammeln, wurden sie nur allzu schnell gewahr, daß sie einem schrecklichen Irrtum erlegen waren. Die wenigen, die zurückkehrten, waren alle rettungslos dem Wahnsinn verfallen. Es scheint, als halte Mara noch immer Wache über Maragor.
5384 Nun sind es acht Jahre her, daß Belgarion und Ce’Nedra geheiratet haben, und sie haben immer noch keine Kinder. Die Angelegenheit wird zunehmend dringlicher. Der rivanische König ist der Hüter des Orb, und er muß einen Erben haben. Auch wenn Torak tot ist, sind die uns feindlich gesonnenen Kräfte doch viel zu mächtig, als daß wir es auch nur in Betracht
ziehen könnten, ihnen ohne den Orb gegenüberzutreten, und nur der König von Riva kann ihn einsetzen. Aus diesem Grunde habe ich Brand und Cho-Hag und Porenn dieses Frühjahr nach Val Alorn eingeladen, um die Angelegenheit zu besprechen und zu entscheiden, was zu tun ist. Die vordergründige Lösung wäre natürlich die, daß Belgarion sich eine andere Frau nimmt. Ce’Nedras Unfruchtbarkeit ist Grund genug, sie zu verstoßen. Aber er liebt sie sehr, und man müßte ihm diesen Vorschlag mit einigem Zartgefühl unterbreiten. Porenn erhob jede Menge Einwände. Obwohl sie als Herrscherin außergewöhnlich tüchtig ist, bleibt sie doch trotzdem eine Frau und ist deshalb nicht imstande, Probleme zu betrachten, ohne daß ihr ihre Gefühle in die Quere kommen. Sie wies überaus beredt darauf
hin, daß auch sie mehrere Jahre nach der Heirat mit Rhodar keine Kinder bekommen hatte und daß sie es nur unter Anleitung von Königin Layla geschafft hatte, schwanger zu werden. Sie drängte darauf, daß wir uns mit Layla besprechen und uns ihrer Unterstützung versichern sollten, bevor wir Belgarion die Scheidung vorschlügen. Für den Fall, daß Layla kein Erfolg beschieden sein sollte, schlug sie des weiteren vor, daß wir uns dann unmittelbar an Polgara wenden sollten, die nun mit ihrem Ehemann Durnik und dem schönen, seltsamen Findelkind, das sie Eriond nennen, im Tal lebt. Rhodars kleine Witwe kann ungeheuer bestimmt sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Stur beharrte sie darauf, daß wir nichts bei Belgarion unternehmen würden, bis sowohl Layla als auch Polgara Gelegenheit gehabt
hätten, Ce’Nedras Unfruchtbarkeit zu beheben. Traditionsgemäß müssen die Entschlüsse der alornischen Herrscher einstimmig gefaßt werden, und so hatte Porenn uns in der Hand. Sie erklärte, sie werde ihre Zustimmung verweigern, bis wir uns mit ihren Bedingungen einverstanden erklärten, und sie erbot sich sogar, Layla persönlich aufzusuchen, um der sendarischen Königin unsere Bitte vorzutragen. Brand besaß bei unseren Zusammenkünften natürlich kein Stimmrecht, war aber zugegen, um in Gesprächen, von denen Belgarion besser nichts erfuhr, die rivanischen Interessen zu wahren. Brand ist seit der Schlacht von Thull Mardu sichtlich gealtert. Der Tod seines jüngsten Sohnes scheint ihn bis ins Mark getroffen zu haben. Cho-Hag auf der anderen Seite ist ganz der alte – aber sein Gesicht ist
auch so wettergegerbt, daß man kaum Zeichen des Alterns darauf erkennen würde. Nach unserer Begegnung reiste Porenn nach Sendar, und dort stellte sie Layla die Angelegenheit so dringlich dar, daß Fulrachs pummelige kleine Königin ihre krankhafte Angst vor Seereisen überwand und sich auf der Stelle nach Riva einschiffte, um sich mit Königin Ce’Nedra zu beraten. Ich hoffe, ihre Bemühungen werden von Erfolg gekrönt sein. Sonderbarerweise merkte ich, daß ich die kleine rivanische Königin mag. Sie kann absolut unmöglich und gleichzeitig anbetungswürdig sein. Belgarion wäre ohne sie wesentlich ärmer. Die Vorduvier haben in Nordtolnedra ein, wie sie es nennen, ›Königreich von Vordue‹ errichtet. Varana wird etwas dagegen unternehmen müssen.
Diesen Herbst kam Prinz Kheldar aus Mallorea zurück und reiste ziemlich überraschend direkt zu Besprechungen mit Porenn nach Boktor, anstatt zu seiner Operationsbasis in Gar og Nadrak zurückzukehren. Sie teilt mir mit, daß unser verschlagener kleiner Freund nach seiner Abreise aus Melcene durch die Dalasischen Protektorate in Südwestmallorea reiste, und was er dort zu Gesicht bekam, habe ihn geängstigt. Ich kann mir bei meinem Leben nichts vorstellen, was so entsetzlich wäre, daß es Kheldar ängstigen könnte. Ich glaube, ich forsche besser mal nach. Ich habe Varana unterschätzt. Er ist fast genauso gerissen, wie Ran Borune es war. Er hat ein Geheimabkommen mit König Korodullin geschlossen, und die mimbratischen Ritter wurden auf das ›Königreich
von Vordue‹ losgelassen. Varana hält die Legionen beharrlich aus dem Konflikt heraus, indem er fromm erklärt, er wolle sie nicht gegen ihre eigenen Landsleute einsetzen. Die Mimbrater mischen Vordue auf, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Vorduvier gezwungen sein werden, sich mit der Bitte um Hilfe an den kaiserlichen Thron zu wenden. Dann kann Varana ihre Rebellion niederschlagen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Absolut brillant!
5385 König Drosta lek Thun, der schäbige Herrscher Gar og Nadraks, hat die Besitztümer Prinz Kheldars und Yarbleks enteignet. Kheldar, der sich im Aldurtal aufhielt, um mit Belgarath und Polgara zu bereden, was er in Dalasien gesehen hatte, ist
buchstäblich fuchsteufelswild. Ich breche keine Lanze für Drostas anmaßenden Banditenstreich, aber Kheldars Verdruß bereitet mir, das gebe ich gerne zu, ein gewisses Maß an Freude. Der kleine Dieb war für meinen Geschmack etwas zu hoch gestiegen und ein wenig zu mächtig geworden. Durch Drostas offenen Diebstahl erzürnt, hat Kheldar dem Palast in Yar Nadrak eine formelle Kriegserklärung zustellen lassen. Wie kann ein Privatbürger einem ganzen Königreich den Krieg erklären? Absurd! Kheldar scheint es jedoch todernst zu meinen, denn er zieht durch den Westen und stellt eine Invasionsarmee auf. Drosta lacht sich krank, aber wenn ich in seiner Haut stecken würde, wäre ich schon ein bißchen nervös. Selbst ohne Zugriff auf seine nadrakischen Besitztümer verfügt Kheldar über enorme
Summen, und die Söldner strömen nur so zu seinen Fahnen. Die mimbratischen Ritter verheeren Vordue. Sie versuchen, soweit wie möglich, Blutvergießen zu vermeiden. Der Sachschaden jedoch geht in die Millionen. Die Mimbrater rücken ein, evakuieren die Dörfer und Städte und brennen sie nieder. Steinerne Gebäude werden abgerissen, Möbel und anderer Hausrat auf gewaltigen Freudenfeuern eingeäschert. Heimatlose Flüchtlinge irren durch Nordtolnedra, verfluchen die Vorduvier und richten Hilfegesuche an Kaiser Varana. Varana jedoch sitzt in Lauerstellung in Tol Honeth und wartet auf die Kapitulation der Vorduvier. Es sieht so aus, als habe Layla versagt. Ce’Nedra bleibt weiterhin kinderlos. Nun müssen wir Belgarion überzeugen, daß er seine Königin ins Tal bringt.
Polgara ist unsere letzte Hoffnung. hat seine ’Zakath Eroberung der Flachlandregionen im südlichen Cthol Murgos abgeschlossen. Urgits Armee indes hat sich in den Bergen verbarrikadiert. ’Zakath bereitet sich auf einen langen, schwierigen Kriegszug vor. Wir können nur hoffen, daß er ihn für den Rest seines Lebens beschäftigen wird.
5386 Graf Reldegen, der tüchtige Generalgouverneur von Asturien, ist auf Bitten beider Parteien hin nach Süden gereist, um in dem Streit zwischen dem Kaiser und den Vorduviern zu vermitteln. Ich bin mir nicht sicher, wer ihn ins Gespräch gebracht hat, aber der Vorschlag war ein Geniestreich. Ich bin Reldegen bei ein paar Anlässen begegnet, und ich
habe nie einen gerechteren und unparteiischeren Mann Die kennengelernt. Tatsache, daß Varana und die Vorduvier einen Vermittler zu Rate ziehen, ist ein schlagender Beweis dafür, daß ihr ›Krieg‹ nur noch auf Sparflamme köchelt. Ganz offensichtlich hat Varana gesiegt, und Reldegens Dienste werden kaum mehr als eine Formalität sein – eine Geste, die ihr Gesicht wahrt, und den Vorduviern die bedingungslose Kapitulation erträglicher macht. Varana hat, was er wollte, und er sieht keine Notwendigkeit, den Vorduviern seinen Sieg über Gebühr unter die Nase zu reiben. Aus dem südlichen Cthol Murgos erhalten wir schon wieder beunruhigende Nachrichten. Die Region war augenscheinlich auch vor dem Eintreffen der Murgos bewohnt, die eingeborene Bevölkerung
wurde versklavt. Trotz Äonen der Sklaverei scheint es diesem Volk aber gelungen zu sein, seine rassische Identität zu wahren. Wegen ihrer absonderlichen Fixierung auf die ›Reinheit der Rasse‹ vermeiden die Murgos peinlich jeden Kontakt mit ihren Sklaven, so daß sie fast völlig im unklaren darüber bleiben, was in den Sklavenpferchen wirklich vor sich geht. Die Malloreaner hingegen sind neugieriger. Insbesondere die Melcener scheinen jede neue Bevölkerungsgruppe, auf die sie stoßen, zwangsläufig nach dem, was sie ›Talent‹ nennen, zu durchsieben. Drasnische Geheimdienstagenten, die unter großer Gefahr in ’Zakaths Armee operieren, haben uns Berichte von höchst beunruhigendem Inhalt zu übermitteln begonnen. Die Malloreaner sind völlig entgeistert über ihre Entdeckungen. Sie haben eine Art von
Religion unter den Sklaven im südlichen Cthol Murgos angetroffen. Dies allein wäre von nur geringer Bedeutung; was die Malloreaner so sehr bestürzt, ist die Tatsache, daß diese UntergrundReligion völlig identisch mit derjenigen zu sein scheint, die in den Dalasischen Protektoraten des südwestlichen Mallorea existiert. Und dies ungeachtet der Tatsache, daß die beiden Regionen seit der Spaltung der Welt vor fast 5400 Jahren keinerlei Verbindung zueinander hatten. Was die Malloreaner am meisten aufzubringen scheint, ist die Tatsache, daß eine als ›Die Malloreanischen Evangelarien‹ bezeichnete Schrift unter den Sklaven kursiert. Malloreanische Grolims haben seit Jahrhunderten versucht, alle existierenden Abschriften in Dalasien zu vernichten, und nun taucht dasselbe Werk im südlichen
Cthol Murgos auf – ohne daß man seine Existenz auch nur ansatzweise erklären könnte. Ich brenne vor Neugier. Ich muß unbedingt ein Exemplar dieser ›Malloreanischen Evangelarien‹ in die Finger bekommen. Dieses Frühjahr hat Belgarion eine allgemeine Einladung an die Herrscher der ganzen Welt ausgesprochen, einer Konferenz in der Stadt Sendar beizuwohnen. Damit die Einladung nicht zu schroff klang, bat er diejenigen Monarchen, die nicht persönlich erscheinen konnten, dringend, einen Stellvertreter zu entsenden. Das erklärte Ziel dieser Konferenz ist es, »die Spannungen in unserer Welt zu diskutieren und nach friedlichen Lösungen für die Reibungspunkte zwischen den Nationen zu suchen«. Das ist ein ehrgeiziges Vorhaben, jedoch eines, das mehr von
Idealismus als von echtem Verständnis dafür zeugt, wie die Welt wirklich funktioniert. Ich fürchte, unser Belgarion ist noch immer nicht erwachsen. Trotzdem werde ich an dieser Konferenz teilnehmen, die für Mitte Herbst anberaumt ist. Ich freue mich darauf, Herrscher von Nationen und Fürstentümern kennenzulernen, die auf der anderen Seite des Globus liegen. Die Konferenz * erbrachte, wie hätte es auch anders sein können, nahezu keinerlei konkrete Ergebnisse. Belgarion indessen scheint darüber nicht sonderlich traurig zu sein. Die Tatsache, daß wir miteinander geredet haben, genügt ihm offenbar. Viele Herrscher dieser Welt sahen sich natürlich nicht *
Dieser Teil wurde grundlegend verändert. Wir haben die Begegnung zwischen Belgarath und Urvon und die Konfrontation zwischen Polgara und Zandramas herausgeschrieben. Die Konferenz fand nicht statt, und Cyradis besuchte die Stadt Rheon. nachdem Garion gegen Ende von ›Herren des Westens‹ den Aufstand des Bärenkults niedergeworfen hatte.
in der Lage, der Konferenz beizuwohnen. Weder Urgit noch ’Zakath waren anwesend. Erstaunlicherweise schickten jedoch beide Abgesandte. Der König von Darshiva ist über achtzig, und sein Abgesandter übermittelte das Bedauern des alten Mannes, nicht kommen zu können. Der König von Jenno, einem der sieben Königreiche von Karanda, steht wegen irgendeines Amtsmißbrauchs unter Arrest. (Wie kann man einen König gefangennehmen?!!) Eine Reihe der Besucher an König Fulrachs Hof, der als offizieller Gastgeber fungierte, verfügten zwar über keinen Königstitel, hatten aber das entsprechende Format, so daß keiner ihr Anwesenheitsrecht in Frage stellte. Belgarath war zugegen, desgleichen Polgara, Durnik und der Findling Eriond. Aus Mal
Yaska, der heiligen Stadt der malloreanischen Grolims, kam Urvon, der dritte Jünger Toraks. Das Zusammentreffen zwischen Belgarath und Urvon war frostig. Ich glaube nicht, daß sie einander schon einmal begegnet waren, aber sie kennen sich seit Äonen. Ich bin sicher, daß Urvon keine großen Sympathien für Ctuchik und Zedar hegte, seine Kollegen Jünger, aber die Tatsache, daß Belgarath sie so leicht binnen eines einzigen Jahres vernichtete, mußte in Toraks letztem überlebenden Jünger gewisse Bedenken wecken. Überdies bin ich sicher, daß Urvon nur mit hochgradig belasteten Gefühlen in Belgarions Nähe kam. Belgarion hat immerhin seinen Gott getötet. In Urvons Begleitung befand sich eine merkwürdige, unter Schleiern und einer Kapuze verborgene Frau. Ich weiß nicht, in welcher
Eigenschaft sie dort war. Ich bezweifle stark, daß sie Urvons Geliebte war. Sie scheint ihn als eine Art von Beraterin begleitet zu haben. Keiner von uns hat je ein Wort mit ihr gewechselt oder ihr Gesicht gesehen. Der eine Blick, der zwischen ihr und Polgara gewechselt wurde, ließ mir jedoch das Blut in den Adern gerinnen. Ein weiterer seltsamer Besucher – ebenfalls eine Frau – traf mit einer Binde um die Augen und in Begleitung eines turmhohen und furchtbar muskulösen Stummen ein. Als wir sie höflich nach dem Grund ihrer Anwesenheit fragten, erklärte sie mit fester, deutlich akzentuierter Stimme: »Ich bin als Stellvertreterin meines Volkes hier, und ich bin hier, um zu beobachten.« Als wir bezüglich ihres Volkes weiter in sie drangen, erwiderte sie in dieser aufreizenden Art, die
manche Frauen haben: »Tut mir leid, aber ich fürchte, das würdet Ihr nicht verstehen.« Auch ein sonderbares kleines Zeremoniell zwischen den drei Frauen ist mir nicht entgangen. Urvons Begleiterin, das Antlitz immer noch dicht verschleiert, trat auf die Frau mit den verbundenen Augen zu und bedachte sie mit einem mehr als knappen Nicken. Dann näherte sich auch Polgara der Frau, und auch sie nickte ihr zu. Erstaunlicherweise erwiderte die Frau mit der Augenbinde – ich weiß genau, daß sie nichts sehen konnte – beide Male das Kopfnicken. Es lag jedoch nicht ein Hauch von Freundlichkeit in diesen Grüßen. Sie ähnelten jenem kurzen Nicken, das Männer wechseln, die einen Zweikampf austragen wollen. Ich weiß nicht genau, was da vorgeht, aber ich bin mir fast
hundertprozentig sicher, daß ich nicht in der Nähe sein möchte, wenn es geschieht, was immer es sein mag. Etwas Gutes brachte die Konferenz aber dann doch zuwege: Belgarion konnte Frieden zwischen Drosta und Kheldar stiften. Die Versöhnung war nicht nach dem Geschmack der beiden Parteien, aber am Ende beugten sie sich der Entscheidung des rivanischen Königs. Drosta darf die enteigneten Besitztümer behalten, muß aber Kheldar und Yarblek bestimmte Gewinnanteile bezahlen, deren Höhe von einem rivanischen Buchprüfer zu bestimmen sein werden. So muß Drosta den gestohlenen Besitz auf eigene Kosten betreiben und Tantiemen zahlen; Kheldar und Yarblek haben keine Geschäftsausgaben, ihre Gewinne sind jedoch beträchtlich vermindert. Eine interessante
Vereinbarung, die aber nur so lange Bestand haben wird, wie Belgarion mit der Keule hinter ihnen steht.
5387 Die Würfel sind endlich gefallen. Brand ist mit einem Quasi-Ultimatum auf Belgarion zugetreten und hat ihn noch einmal darauf hingewiesen, daß es die oberste Pflicht eines Königs ist, für einen Erben zu sorgen. Belgarion hat zugestimmt, Polgara wegen des Problems von Ce’Nedras Kinderlosigkeit zu Rate zu ziehen. Brand erklärte dann im Tonfall des Bedauerns: »Sollte Polgaras Hilfe nichts bewirken, wird es unumgänglich sein, daß Ihr Eure unfruchtbare tolnedrische Gemahlin verstoßt. Wir werden uns dann auf die Suche nach einem fruchtbaren alornischen Mädchen für Euch machen.« Auf
irgendeine Weise belauschte Ce’Nedra diese Erklärung. Man hat mir berichtet, die Szene, die sich daraufhin abgespielt habe, sei absolut grauenvoll gewesen. Es ist schwierig vorherzusagen, was die Zukunft bringen wird. Ich hatte gedacht, daß mit dem Tode Toraks die Welt zu jenem Goldenen Zeitalter zurückfinden würde, das geherrscht hatte, bevor der Gott Angaraks den Orb nahm und die Welt mit ihm spaltete. Doch ich fürchte, der Frieden dieser schlichten vergangenen Zeiten wird nie mehr zurückkehren. Die Spaltung der Welt scheint mehr als nur ein physisches Ereignis gewesen zu sein. Auch die Herzen der Menschen wurden gespalten, und nie mehr werden wir unsere einstige Unschuld wiedererlangen. In mancher Hinsicht ist das betrüblich, aber ich weiß nicht, ob es mir in einer
unverrückbar friedlichen Welt gefallen würde. Die Welt, die wir jetzt haben, birgt viele Gefahren, aber wenigstens ist sie nicht langweilig.
Anheg I. König von Cherek*
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Der Arbeitsaufwand, der mit der Erschaffung einer ersten kompletten literarischen Welt verbunden ist, läßt die meisten Fantasy-Autoren zögern, eine zweite in Angriff zu nehmen. Eine zufallige Unterhaltung zwischen meinem Agenten und einem anderen Verleger führte jedoch zu Elenium/Tamuli, und ich entdeckte, daß die zweite Welt nicht annähernd so schwer zu entwerfen war wie die erste. Die Welt von Elenien kreierte ich in sechs Wochen. Erfahrung zahlt sich wohl doch aus. Zwischen zwei völlig verschiedenen Welten hin und her zu springen, wie wir es getan haben, als die ›Malloreon-Saga‹ und Elenien im Doppelpack herauskamen, kann nur zu schizophrenieähnlichen Zuständen führen. Es ist, als würde einem der Kopf der Länge nach gespalten. Ich mußte feststellen, daß ich unbewußt nach Sperber griff, wenn ich mitten in einem Garion-Buch steckte. Vielleicht entwerfen wir eines Tages eine dritte Welt, nur um herauszufinden, ob wir es noch können. Warten wir's ab.
NACHWORT War das nicht lehrreich? Meine Ausbildung erfolgte auf dem Gebiet der Literaturkritik (ungeachtet dessen, was das über meine akademischen Grade aussagen sollte), ein Wissensgebiet, das sich meiner Meinung nach weit von seinem ursprünglichen Ziel entfernt hat. Die großen Kritiker des achtzehnten Jahrhunderts glaubten, daß eine eingehende Erforschung der Klassiker der zeitgenössischen Literatur zugute käme und daß das Ziel der Kritik darin bestände, Aufsätze über ›wie schreibe ich gute Literatur‹ zu verfassen. Man sollte einen Unterschied machen zwischen Literaturkritik und bloßen Buchbesprechungen. ›Mein Lieblingsautor ist besser als deiner‹ ist vielleicht ein bißchen kindisch, und ›ich könnte ein viel besseres Buch schreiben als das hier, wenn ich nur wollte‹ ist sogar noch schlimmer. Wie ich schon sagte, stellte die vorliegende Sammlung eine Art laufender Beschreibung eines Prozesses dar. Das schloß eine Menge tastende Versuche ein. Manches, was interessant aussah, funktionierte einfach nicht. Anderes sprang uns mitten im Schreibprozeß gleichsam aus den Seiten heraus an. Nicht selten kam es vor, daß die Geschichte einen Happen zwischen die Zähne nahm und davonstürmte – wir im Schweinsgalopp hinterher. Wie ich bereits eingangs erwähnte, wird der unbedarfte Leser, der den plötzlichen Drang verspürt, einen epischen Fantasy-Roman zu schreiben, als erstes an seine Schreibmaschine eilen, und das ist schon der erste Fehler. Wenn er sich auf diese Weise direkt ins pralle Leben stürzt, wird er vermutlich ein oder zwei Kapitel zustande bringen und dann feststellen, daß die Geschichte ihn im Stich läßt, größtenteils deshalb, weil er nicht weiß, wohin es gehen soll. Papa Tolkien schrieb einmal: ›Sinnigerweise fing ich mit einer Landkarte an.‹ Ich bin mir nicht sicher, wie sinnig mein Gekritzel
war, doch mein instinktives Festhalten an diesem Weg diktierte auch viel von unserer Geschichte. Menschen, die an einer Felsenküste leben, werden für gewöhnlich Seeleute (Übersetzung: Piraten). Menschen, die auf weiten, offenen Steppen leben, brauchen für gewöhnlich Pferde und machen für gewöhnlich in Rindern. Menschen, die an natürlichen Übergängen leben – Furten, Gebirgspässen usw. – werden für gewöhnlich Händler und Kaufleute. Die Geographie einer Geschichte ist von eminenter Bedeutung. Einer der Punkte, auf den Horaz in seiner ›Ars Poetica‹ großen Wert legt, ist, daß ein Epos (oder ein Drama) in medias res beginnen müsse (mitten in der Geschichte). Übersetzung: ›Fang mit einem Paukenschlag an, um ihre Aufmerksamkeit zu fesseln.‹ FantasyAutoren neigen dazu, Großvater Horaz’ Rat in den Wind zu schlagen und statt dessen die Vorgehensweise des Bildungsromans zu wählen. Der Begriff bezeichnet die spezifisch deutsche Variante des Entwicklungsromans und impliziert sowohl eine harmonische Ausbildung und Entfaltung der Persönlichkeit des Protagonisten als auch das Konzept der Bildung, wie es im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert vorherrschte. (Man beachte auch, daß der deutsche Terminus des ›Romans‹ sowie die meisten anderen europäischen Sprachen, anders als das englische ›novel‹, noch vom Wort her auf die märchenhaften, eben ›romantischen‹ Aspekte der mittelalterlichen Ritterepen verweist.) Der Fokus auf das ›Heranwachsen‹ eines Helden ist eine außerordentlich praktische Vorgehensweise für einen Fantasy-Autoren, da all unsere Erfindungen unserem Simpliccisimus von einem Helden erklärt werden müssen, und das ist die einfachste Form der Exposition. Einige von Ihnen mögen bemerkt haben, daß wir Horaz’ Ratschlag im ›Elenium/Tamuli‹ tatsächlich befolgt haben. Dieses Epos ging in medias res los, und es schien genauso gut zu funktionieren. Wie wäre es mit einem kleinen Test? Versuchen Sie
es mit ›Erläutern Sie die theologischen Unterschiede zwischen Eriond und Aphrael‹. Um den ›Donnerwetter! Das ist ja ein Ding!‹-Kram zu vermeiden, der die Fantasy vergiftet, sollte der Fantasy-Autor seinen Leser mit Realismus pur eindecken. Mieten Sie sich ein oder zwei Tage ein Pferd, damit Sie wissen, wie sich das anfühlt. Einen Wolf reitet man sich auf beiden Sattelseiten. Gehen Sie zu einem Bogenschießstand und schießen Sie ein paar Hundert Pfeile ab. Versuchen Sie es ein paarmal ohne Armschutz. Die Bogensehne wird an der Innenseite Ihres linken Unterarms einem Salamimesser vergleichbare Spuren hinterlassen, und die Fingerspitzen Ihrer rechten Hand werden von Blasen übersät sein. Nehmen Sie ein Breitschwert in die Hand und schwingen Sie es zehn Minuten lang, und Ihre Arme werden sich anfühlen, als würden sie gleich abfallen. Diese Dinger wurden zu dem Zweck geschmiedet, Stahl zu durchschneiden. Sie sind sehr schwer. Machen Sie eine Wanderung. Gehen Sie bei Tagesanbruch los und schreiten Sie kräftig aus. Markieren Sie die Stelle, die Sie bei Sonnenuntergang erreicht haben. Dann messen Sie die Entfernung. Das ist die Entfernung, die ihre Figuren an einem Tag zurücklegen können. Ich habe zwanzig Meilen genommen, aber ich habe auch lange Beine. Bitten Sie einen Freund, sich einen Monat lang nicht zu baden. Dann schnüffeln Sie an ihm. (Puh!) Wenn Sie Dialoge schreiben, lesen Sie sie laut vor – vorzugsweise jemand anderem. Fragen Sie ihr Gegenüber, ob es sich so anhört, wie richtige Menschen reden. Das gesprochene Wort unterscheidet sich vom geschriebenen Wort. Versuchen Sie diesen Unterschied zu verringern. Als nächstes lernen Sie, wie man Zeit elegant verdichtet. Sie können nicht jeden Atemzug ihres Protagonisten kolportieren. ›Sieben Tage später begann es zu schneien‹ ist gut. Es kürzt die Zeitspanne ab und liefert gleichzeitig einen knappen Wetterbericht. ›Im nächsten Frühjahr‹ ist auch nicht übel. ›Zehn Jahre später‹ geht in Ordnung, falls Sie nicht gerade mitten in etwas Wichtigem
stecken. ›Mehrere Generationen später‹ oder ›Um die Mitte des darauffolgenden Jahrhunderts‹ überspringen hingegen ganz schön große Zeitspannen. Ich habe ein persönliches Maßsystem entwickelt, das ich ›auktoriale Distanz‹ nenne. Mit seiner Hilfe beschreibe ich den Abstand, den ich zu dem Erzählten einnehme. ›Große Distanz‹ ist, wenn ich das literarische Geschehen aus einigen Metern Entfernung beobachte. ›Nachdem Charlie aus dem Gefängnis entlassen wurde, zog er nach Chicago und ging zur Mafia‹ deutet darauf hin, daß ich nicht gerade in Charlies Jackentasche sitze. ›Mittlere Distanz‹ ist – offensichtlich – näher dran. ›Die Tore des Sing-Sing-Gefängnisses schlossen sich hinter Charlie, und eine Woge des Hochgefühls durchströmte ihn. Er war frei!‹ Das ist ziemlich ›medium‹, meinen Sie nicht auch? Die letzte Erzählhaltung nenne ich ›mitten drin‹. Charlie spuckte auf das zuschwingende Tor. ›Okay, ihr dreckigen Ratten, seht euch besser vor‹, murmelte er leise vor sich hin. ›Eines Tages komme ich mit einem MG zurück und puste euch Bastarde in den Äther.‹ Dann schwankte er zu der langen, schwarzen Limousine, in der Don Pastrami auf ihn wartete. ›Mitten drin‹ bedeutete, daß sie im Kopf einer Figur sitzen. Seien Sie vorgewarnt. Man verbraucht eine Menge Papier dabei. (Siehe ›Belgarath der Zauberer‹ und ›Polgara die Zauberin‹. In der ersten Person ist immer ›mitten drin‹). Ich bemühe mich – nicht immer mit Erfolg, wie ich gestehen muß –, die einzelnen Kapitel hinsichtlich ihrer Länge in bestimmten Parametern zu halten – nicht weniger als vierzehn und nicht mehr als zweiundzwanzig Seiten in Maschinenschrift. Ich versuche mich hauptsächlich deshalb an diese Vorgabe zu halten, weil ich finde, daß das eine gute Länge für ein Kapitel ist. Es stimmt einfach vom Gefühl her. Vertrauen Sie Ihrem Bauch. Ihr Bauch weiß, was er tut, auch wenn Sie es nicht wissen. Versuchen Sie nie, Ihre Leser zu belehren. Wer seine Leser herabsetzt, setzt sein eigenes Werk und sich selbst herab. Epische
Fantasy ist Genreliteratur so wie Krimis, Western, Spionagethriller, Abenteuerromane und Horror. Das bedeutet nicht, daß wir es uns leisten könnten zu sagen: »Ach, zur Hölle, das ist gut genug!«, denn das reicht eben nicht. Schreiben Sie alles, was Sie zu Papier bringen, so gut wie irgend möglich. ›Gut genug‹ stinkt zum Himmel, und ›ist doch nur Fantasy‹ wird Sie ganz schnell in die große Gruppe jener befördern, die man ›unveröffentlichte Autoren‹ nennt. Vermutlich glaubt jeder auf dieser Welt, daß seine Sprache die Muttersprache Gottes und der Engel ist, so daß ich an dieser Stelle Menschen rund um den Globus vor den Kopf stoßen und erklären werde, daß Englisch die reichste und ausdrucksfähigste Sprache in der Geschichte der Menschheit ist. Der Reichtum der englischen Sprache erklärt sich nicht etwa aus der ihr innewohnenden Schönheit oder der Eleganz ihres Ausdrucks. Ihre Struktur ist germanisch (hauptsächlich Friesisch, mit starken Beimischungen anderer skandinavischer Idiome). Westsächsisch, die Sprache König Alfreds, war. alles andere als gefällig, ein wahrer Zungenbrecher, sollten Sie je in die Verlegenheit geraten, es zu lernen. Englisch ist deshalb eine reiche Sprache, weil die Engländer die größten Piraten der Geschichte waren. Sie haben sich ungefähr ein Fünftel der Welt zusammengestohlen, und sie haben Wörter und Redewendungen aus den meisten Sprachen dieser Welt gestohlen – aus dem Französischen, Lateinischen, Griechischen, Spanischen, aus Hindi, Zulu, Apache. Die acht Jahre, während derer ich dem Universitätsenglisch ausgesetzt war, haben mir ein erweitertes Vokabular verschafft (meinen Anteil an der Beute, wenn Sie so wollen), und ich benutze es, wenn mir das angemessen erscheint. Der junge, nur marginal gebildete Leser wird Probleme mit Sätzen wie dem Folgenden haben: ›Silks Raubzüge waren weitgehend ökumenisch.‹ Das mag ein schweres Geschütz sein, drückte aber genau das aus, was ich sagen wollte, und daher zog ich es vor, es nicht umzuformulieren, um dem sprachlich nicht so Versierten den Zugang zu erleichtern. Wenn Sie einfache, schlichte Bücher wollen, lesen Sie ›Die Bobbsey-
Zwillinge am Meer‹. Das war nicht schlecht in puncto Überheblichkeit, nicht wahr? Im Einklang mit diesem Gedanken unternehme ich jetzt einen letzten Versuch auf dem Feld ›Leserpost‹. Manche Briefe, die ich erhalten habe, räumen freimütig ein: ›Bevor ich Ihre Bücher kennenlernte, habe ich nicht viel gelesen, aber jetzt lese ich die ganze Zeit.‹ Möge das Fernsehen zittern! Dave und Klein-Leigh gehen dazu über, die Mattscheibe auszuschalten. Vielleicht ist das unser Lebenszweck. Wir sind hier, um ganzen Generationen wieder das Lesen beizubringen – vielleicht nicht jedem, aber genug, daß sich etwas ändert. ›Sie verließen eine bessere Welt als die, die sie vorfanden‹, hört sich nach einer Grabinschrift an, aber es gibt Schlimmeres, was man über einen Menschen sagen könnte, finden Sie nicht auch? Krankhafte Selbstgefälligkeit, was? Aber Selbstgefälligkeit ist ein grundlegendes Erfordernis für jeden Autor. Sie müssen glauben, daß Sie gut sind und daß die Leute Ihr Zeug lesen wollen. Ansonsten geben Sie nach der ersten Ablehnung Ihres Manuskripts auf. Denken Sie immer daran, daß ›Vom Winde verweht‹ von siebenunddreißig Verlegern abgelehnt wurde, bevor es schließlich angenommen wurde, und abgesehen von der Bibel gibt es in der Geschichte des Verlagswesens vermutlich mehr Exemplare von diesem Buch als von jedem anderen – so hat man es mir jedenfalls berichtet. Ich schließe mit einer Empfehlung. Mein persönlicher Lieblingsautor auf dem Gebiet der Fantasy ist Lord Dunsany. Er lehrt mich Demut, vollbringt er doch auf vier Seiten mehr als ich auf vierhundert. Lesen Sie ›Das Buch der Wunden. Lernen Sie Slith, Thangobrind den Juwelier, Pombo den Götzendiener und Nuth kennen. Versuchen Sie sich in das Schicksal von Leuten zu versetzen, die über den Rand der Welt springen. Bedenken Sie die Verrücktheit, sich mit dem Spinnengötzen Hlo-Hlo herumzutreiben. Reisen Sie über die Ebenen von Zid, in die Städte Mursk und Tlun, um die Bergschulter des Mluna-Gipfels, der das
Zweifelhafte Land überblickt, und überqueren Sie die Brücke vom Schlechten zum Schlimmeren. Machen Sie weiter. Ich traue es Ihnen zu. ENDE