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Bony und der Bumerang Ein glücklicher Zufall Das rote Flugzeug Mr. Jellys Gehei...
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Von Arthur W. Upfield sind erschienen:
Bony und der Bumerang Ein glücklicher Zufall Das rote Flugzeug Mr. Jellys Geheimnis Bony stellt eine Falle Todeszauber Der Kopf im Netz Bony und die Todesotter Bony wird verhaftet Der Pfad des Teufels Die Leute von nebenan Die Witwen von Broome Tödlicher Kult Der neue Schuh Die Giftvilla Viermal bei Neumond Der sterbende See Der schwarze Brunnen Der streitbare Prophet Höhle des Schweigens Bony kauft eine Frau Die Junggesellen von Broken Hill Bony und die schwarze Jungfrau Bony und die Maus Fremde sind unerwünscht Die weiße Wilde Wer war der Zweite Mann? Bony übernimmt den Fall Gefahr für Bony
Arthur W. Upfield
Der neue Schuh The New Shoe Kriminalroman
Wilhelm Goldmann Verlag
Die Hauptpersonen Inspektor Napoleon Bonaparte Edward Penwarden Tom Owen BertWashfold Eli Wessex Amy Wessex Eldred Wessex Mary Wessex Fred Ayling Dick Lake Moss Way Oberwachtmeister Staley Wachtmeister Roberts
von seinen Freunden »Bony« genannt Schreiner Farmer Gastwirt Farmer seine Frau ihr Sohn ihre Tochter Holzfäller
} Transportfahrer } Polizeibeamte
Der Roman spielt in Südaustralien.
Gesamtauflage: 86 000 Made in Germany • 12/80 • 6. Auflage • 79186 © der Originalausgabe 1961 by Bonaparte Holding Pty. Ltd © der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Goldmann Verlag, München Aus dem Englischen übertragen von Dr. Arao Dohm Herausgegeben von Friedrich A. Hofschuster Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München Umschlagfoto: Heinz Floßmann, München Satz: Presse-Druck Augsburg Druck: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Krimi219 Lektorat: Peter Wilfert • Herstellung: Harry Heiß ISBN 3-442-00219-2
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er Abendhimmel mit den rauchig gelben Wolkenfingern zeigte klar an, was bevorstand, und alle Vögel beachteten die Warnung, bis auf den einen, der sich töricht benahm. Als die gelbe Färbung der Wolken in Rot überging, wogte der Indische Ozean in einem Abglanz opalisierender Lichter. Der kleine dumme Vogel spielte mit den kleinen Fischen, er tauchte und schwamm fröhlich im bunten Lichtschein. Als die Farben wichen und die Sterne sich in der See spiegelten, schlief er zufrieden über der Tiefe. Der Sturm kam noch vor Tagesanbruch auf, rasend, kalt und stark. Im Morgengrauen sprühte er Regenmassen aus grauem Himmel über das graue Meer, und das Land schien, in Seenebel gehüllt, sehr fern zu liegen. Der dumme Vogel konnte nicht fliegen wie die Möwen, aber zu schwimmen verstand er. In wilder Hast steuerte er dem sicheren Gestade zu. Sein ›Frack‹ hielt ihn eine Weile schön warm, und es schwamm sich gut in dem Federkleid, doch die schäumenden Wellen mit ihren jäh stürzenden Kämmen wurden immer größer und brausten immer rascher daher. Sie warfen sich auf ihn, drückten ihn tief unter ihren salzigen Schwall, und jede nahm ihm auf ihrem rasenden Weg zum Strand ein wenig von seiner Kraft. Das Ende war unvermeidlich wie in einer griechischen Tragödie: Er zahlte den Preis für seine Torheit. Wurde zu einem durchnäßten, schwerfälligen Wrack, und die Kälte umklammerte sein tapferes Herz. Dann beruhigte Fühllosigkeit alle seine Ängste. Die brandende See trieb ihn den Felsen vor dem Kap entgegen, auf dem hoch oben der Leuchtturm Split Point liegt, und warf den toten Vogel einem Menschen vor die Füße. 5
Zornig donnerte das Meer, wütend fauchte der Wind. Eine Möwe schrie wie im Schmerz, während Kriminalinspektor Napoleon Bonaparte den jungen Pinguin aufnahm, ihn aufs Trockene trug und im Sand begrub. Niemand in der Nähe, der mich auslachen kann, dachte er. Es war ein Spätnachmittag im Mai. Der Wind hatte die Regenwolken zu Fetzen zerrissen und sie vom Himmel gefegt, er wickelte Bony peitschend den Mantel um die Beine und trieb ihm Gischtspritzer so scharf ins Gesicht, daß jeder Tropfen wie ein Nadelstich war. Die einzige, bisher noch flugfreudige Möwe verschwand; über Strand, Wasser und Felsen breitete kein Vogel mehr seine Flügel. Als Bony der See den Rücken zuwandte, schob der Wind ihn so stark, daß er fast ins Laufen kam. Das Kap Split Point hat, von oben gesehen, Ähnlichkeit mit einer gespreizten Katzenpfote, die vergeblich den weit vor dem Kap aus der See ragenden Adlerfelsen zu packen sucht. Bony studierte zwei der ›Krallen‹: diese Klippen, die sich über dreißig Meter hoch steil vom Strand erheben, und nachher den dritten, nicht so hohen Teil der Pfote: das flacher ansteigende Vorland, auf dem der Leuchtturm steht. Am Fuß der rechts liegenden Klippe sah er zwei gut geschützte Höhlen, und in dem Felskamin an der Vorderseite der linken wirbelte der Wind unaufhörlich Gras und trockene Zweige im Kreise umher. Von seinem Blickpunkt am Strand aus konnte er zwar nicht das von einer breiten Grasnarbe umgebene Fundament des Leuchtturms, aber den größten Teil seines Oberbaues sehen. Nach oben sich verjüngend, trug der Turm sein gläsernes Gesicht unter der Kuppel, die einem roten Kardinalshut glich. Vor dreißig Jahren wurde Split Point von Handbedienung auf automatischen Betrieb umgestellt und wird seitdem vierteljährlich von einem Ingenieur vom Schiffahrtsamt inspiziert. Am ersten März um neun Uhr morgens hatte der Ingenieur seinen Kontrollgang begonnen, die Anlagen in bester Ordnung gefunden und nichts Ungewöhnliches bemerkt, bis er in der kleinen Wandkammer die eingeschlossene Leiche eines Mannes entdeckte … Schon bevor der Tag zu Ende ging, waren die Polizeibeamten von Melbourne so emsig wie Ameisen in einem Stück faulenden Holzes. Sie fotografierten Fingerabdrücke, suchten überall nach dem Hut des 6
Toten, nach seinen Schuhen und seinem Anzug, verhörten an die hundert Personen und kratzten sich nachher verlegen die Köpfe. Im Kartenspiel der Möglichkeiten, aus der Masse der Verhörten einen gefährlichen Mörder herauszugreifen, gingen ihnen alle Trümpfe verloren. Als einzige Karte behielten sie schließlich nur den ›Joker‹ in den Händen. Sie ließen Porträtfotos des Toten in sämtlichen Zeitungen Australiens veröffentlichen. Sie jagten nach Verdächtigen in Melbourne und den anderen Großstädten und verärgerten mit ihrer Fragerei achtbare Leute. Einige Gesichter wurden rot vor Zorn, andere weiß, und in seinem Amtszimmer im Polizeipräsidium von Melbourne starrte Oberinspektor Bolt grimmig auf den ›Joker‹. Genau neun Wochen, nachdem der Ingenieur den Toten gefunden hatte, suchte Napoleon Bonaparte, auf der Rückreise zu seiner Dienststelle in Brisbane, Bolt auf, um mit ihm ›über das Wetter‹ zu reden. Bolt nahm ihn mit in seine Wohnung und sprach mit ihm über einen Toten, den niemand kannte oder kennen wollte. Bolt gab vor Bonaparte, der ihm zwar nicht im Rang, aber an Ausdauer überlegen war, sein Versagen offen zu und bewilligte alles, was der Inspektor zur Untersuchung des Falles verlangte. So geschah es, daß der Mann, in dem das Blut zweier Rassen pulsierte, gerade rechtzeitig kam, um einen ertrunkenen Pinguin am Fuß des jetzt schon berühmten Leuchtturms zu begraben, wobei er hoffte, von niemandem ausgelacht zu werden. Doch ganz allein war er nicht. Am Rand der Klippe zu seiner Rechten stand eine Frau. Fast unmittelbar über ihm. Sie schwankte bei den groben Stößen des Windes und mußte, wenn sie noch einen Schritt vorwärts tat, in die Tiefe stürzen. Sie schien noch jung zu sein; deutlich war ihr schwarzes Haar zu erkennen. Ihr grauer Rock flatterte im Wind wie eine Flagge am Mast. Es war heller Wahnsinn, so nahe am Rand der verwitterten Klippe zu stehen, über einem mindestens dreißig Meter tiefen Abgrund. Bony, der sie schon ihres Mutes wegen bewundern wollte, wurde zornig über die Dummheit dieser Frau, die sich gegen den Wind zu lehnen schien, ohne daran zu denken, daß bei plötzlichem Nachlassen des Winddruckes ein Sog sie in die Bucht hinabreißen konnte. Er schrie zu ihr hinauf, doch sie hörte ihn nicht oder wollte ihn nicht hören. 7
Auf einmal setzte sie den rechten Fuß vor – auf den Klippenrand. Es sah aus, als wollte sie hinunterspringen. Bonys Bestürzung verwandelte sich in Entsetzen. Der Fuß wurde zurückgezogen, die Frau drehte den Körper ein wenig, und hinter ihr stand plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, ein Mann, kleiner als sie, aber offenbar kräftig gebaut. Es sah aus, als umfasse er sie mit den Armen und ziehe sie vom Abgrund zurück. Ein, zwei Schritte nur, dann trat sie ihm hart auf die Füße und wehrte sich gegen die Umklammerung. Mit aller Kraft versuchte sie, ihn mit sich über die Klippe zu zerren. Bony konnte ihr wilderregtes Gesicht erkennen und auch die eisern entschlossene Miene des Mannes. Jäh ließ er sie los, griff mit der Linken nach ihrer Jacke, riß sie vom Abgrund zurück und gab ihr einen genau gezielten Kinnhaken. Als sie umfiel, fing er sie auf und trug sie weiter vom Rande weg, wo Bony nichts mehr sah. Nicht gerade fein, aber notwendig, dachte er und beschloß festzustellen, ob die Sache gut ausgegangen war. Um die östliche ›Kralle‹ vom Kap Split Point gab es keinen Weg, und auch keinen zum Leuchtturm hinauf. Wer dorthin wollte, mußte mehrere hundert Meter entgegengesetzt am Strand entlanggehen, dann über die Sandbank vor der Bucht und über die von den Klippen gefallenen Felsblöcke hinaufklettern. Als Bony seinen Weg ins Innere der Bucht verfolgte, traf er auf die Stelle, wo das Oberland bis zum Strand abfiel. Von da aus konnte er den langen Hang zum Leuchtturm hinaufsteigen. Bald befand er sich hoch über der Bucht, in der die vorgelagerte Sandbank das vom Fluß kommende Wasser staute. Er kam an den Gräbern von zwei ›Pionieren‹ vorüber, die sich auf diesem Vorgebirge zuerst angesiedelt hatten, und ging, als er beim Leuchtturm ankam, an dem über zwei Meter hohen eisernen Gitter entlang, das den Turm umgab. Zur Linken sah er die früher von den Leuchtturmwärtern bewohnten Häuser, rechts standen auf der grasigen Fläche bis zum Klippenrand vereinzelte Gruppen niedriger Teesträucher. Der Wind heulte laut um das Eisengitter, doch der weiße Leuchtturm ertrug sein Wüten ungerührt. Als Bony aufs freie Gelände hinter dem Gitter kam, sah er keinen Menschen. Er ging bis zu der Stelle, an der das Mädchen aufgetaucht war. Vorsichtig ein Stück vom Klippenrand bleibend, überlegte er, was am besten zu tun sei. Unter sich sah er 8
einen schmalen Streifen Sand, wo er deutlich seine eigenen Fußspuren und den flachen kleinen Grabhügel erkannte, den er für den Pinguin gemacht hatte. Und hier oben, dicht am Klippenrand, fand er auch Eindrücke hoher Absätze von Frauenschuhen. Das Mädchen und sein Retter hatten Zeit gehabt, das Oberland zu verlassen, sie konnten zwischen den Gebäuden und dem Abhang hinabgegangen sein, wo mehrere Sommerhäuser zwischen Hecken von Lambertia standen. Da es nutzlos gewesen wäre, im Buschwerk und Gesträuch zu suchen, wandte Bony sich von der Klippe ab und – sah kaum zehn Meter vor sich einen Mann stehen, der ihn gelassen beobachtete. Der Fremde war untersetzt, hatte ein kantiges Gesicht und graues Haar, das kurz und gerade geschnitten war. Allen Anzeichen nach gehörte er zu den Ortsansässigen. »Guten Tag«, sagte Bony, indem er auf die regungslose Gestalt zuschritt. Der Beobachter nickte nur. »Haben Sie in der letzten Viertelstunde eine junge Frau und einen Mann gesehen?« Der Unbekannte schüttelte den Kopf. »Wie lange sind Sie schon hier oben?« fragte Bony weiter. »Halbe Stunde. Vielleicht schon länger.« »Und Sie haben niemanden gesehen?« »Nein. Und wenn ich’s hätte, was geht das Sie an?« In seinem roten Gesicht verzog sich keine Miene, doch der Blick der grauen Augen war hart. Bonys Stimme klang weich. »Ich war unten am Strand und glaube, einen Mann gesehen zu haben, der mit einer Frau rang. Waren Sie dieser Mann?« »Nein. Ich ringe nicht mit Frauen. Guten Tag, mein Herr!« Jetzt war Bony der Beobachter. Er sah den Mann zum nächsten niedrigen Hügel gehen, wo er zwischen zwei Teesträuchern verschwand. Bony merkte sich dieses Gebüsch und prüfte den Erdboden auf Spuren. Die Oberfläche war grau und verhältnismäßig hart, hatte aber doch die Schuhabdrücke aufgenommen. Die des Mannes waren weniger auffallend als die von den Frauenschuhen. Immerhin konnte Bony 9
feststellen, daß er Schuhgröße 40 trug und seine Schuhe stark abgelaufen waren. Der schweigsame Fremde dagegen trug gutgepflegte Schuhe Größe 41, wie Bony sich ganz automatisch gemerkt hatte. Er galt hier als Feriengast, und um weiter als harmloser Besucher zu gelten, durfte er sich keinesfalls wie ein Spürhund benehmen. So ging er, ohne Unruhe zu zeigen, bis zur Kuppe zurück und zwischen den Teesträuchern, die er sich gemerkt hatte, hindurch. Hier war der Erdboden weicher, er trug nicht nur klare Abdrücke der Schuhe Größe 41, sondern auch solche der Größe 40 und eines Frauenschuhs Größe 39. Alle drei Personen hatten sich also von der Klippe entfernt.
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plit Point liegt nicht ganz achtzig Meilen von Melbourne zwischen den Kurorten Anglesea und Lome. Vom Kap aus erstreckt sich die Bucht tief ins Land, und hinter ihr ist die Gegend so einsam, daß man glauben kann, tausend Meilen von der nächsten Stadt entfernt zu sein. Im Winter gibt es auf Split Point kaum Fremde. Bony erfuhr im ›Hotel zur Bucht‹, daß er augenblicklich der einzige Gast im Hause war. Erst am folgenden Tag sollte als zweiter ein Mann vom Amt für Schiffahrt und Seewesen hinzukommen. Als Bony aber in die kleine Gaststube kam, fand er dort mehrere Männer, offenbar alles Einheimische, die sich leise und reserviert unterhielten. Bei seinem Erscheinen schwiegen sie, und mehrere Augenpaare musterten ihn anscheinend gleichgültig. Der Wirt war ein großer, dicker und kahlköpfiger Mann mit einem richtigen Biergesicht, eine Verkörperung der Wirtsfiguren aus Dickens’ Romanen. Seine Augen hatten etwas Vogelhaftes, die Nase war wie aus blaugeädertem rotem Marmor. 10
»Waren Sie unten am Strand?« fragte er, als er Bier für Bony abzapfte. »Ja, Mr. Washfold. Ein wilder Nachmittag, und kalt. Aber eine hübsche Gegend. Ich werde mich hier wohl fühlen.« »Wenn die Sonne scheint, ist’s hübscher hier«, gab Washfold zurück. »Bin selbst ziemlich weit herumgekommen, aber nirgends hat’s mir besser gefallen. Melbourne schenke ich Ihnen – mit sämtlichen Lokalen. Ist mir kaum’n Schilling wert.« Er warf den anderen Gästen einen raschen Blick zu, versicherte sich ihrer stummen Zustimmung und wartete auf den Widerspruch des Fremden. »Wohnt eigentlich in den Häusern unterhalb des Leuchtturms niemand?« forschte Bony. »Ich glaube nicht. Es sind Sommerhäuser. Waren Sie denn da oben auch?« »Ja, um mir den Leuchtturm anzusehen.« Bony fiel das Schweigen auf, während der Wirt an seinem kurzen Schanktisch weiter Gläser füllte. Einer der Gäste fragte einen zweiten, ob er die Hartholzplatten auftragsgemäß geprüft habe, und ein dritter erwähnte, er habe die gewünschten Dachrinnen ohne große Schwierigkeiten bekommen. »Habe Sie noch gar nicht ins Gästebuch eingetragen«, sagte Washfold. »Sie wollen gewiß länger hierbleiben, Mr ….?« »Rawlings ist mein Name«, antwortete Bony. »Ja, ich nehme mir immer reichlich Urlaub, wenn ich meinen Scheck für die Schafwolle erst habe. Meine Frau reist nach Melbourne, und ich erhole mich auf eigene Faust. So ist’s gut für die Ehe, kann ich Ihnen versichern.« Washfolds dünne Augenbrauen hoben sich einen Moment, und zum erstenmal wurden seine Knopfaugen freundlich. »Also Schafzüchter, wie? Mein bißchen Wolle geht nächste Woche zur Auktion. Was meinen Sie – halten sich die Preise?« »Möchte ich eigentlich annehmen«, erwiderte Bony, ihm sein leeres Glas zuschiebend. »Scheint mir sogar ziemlich sicher, da jetzt die Vereinigten Staaten nur noch knappe Vorräte haben.« »Sehen Sie, das habe ich neulich auch erst gesagt«, pflichtete der Wirt ihm bei, und Bony spürte, daß er allmählich hier Anerkennung 11
fand. »Schafe halten wir ja nur für die Wolle, Mr. Rawlings. Meine ganze Schur paßt in einen Ballen ’rein. Wie viele Schafe besitzen Sie?« »Fünftausend«, sagte Bony lächelnd. »Ich besitze fünftausend Schafe und kein Hotel, Sie aber haben ein Hotel und nur wenige Schafe. Also sind Sie besser dran.« Ein breites Grinsen überzog das feiste runde Gesicht. Einer Antwort des Wirts kam der Gong zuvor, mit dem pünktlich um sechs Uhr abends verkündet wurde, daß das Abendessen fertig war. »Eine Runde gebe ich aus für den Nachhauseweg«, bot Washfold seinen Gästen an und sammelte die Gläser ein. Dieses letzte Glas wurde schnell geleert, dann spazierten alle hinaus, Bony durch die Hintertür, um in sein Zimmer zu gehen. Als einziger Gast in Vollpension wurde er von der Wirtin persönlich betreut. Auch Mrs. Washfold war groß und sehr rundlich; sie hatte dickes graues Haar und große braune Augen. Sie begegnete Bony von Anfang an freundlich und stellte ihm Suppe und Hauptgang zur Wahl. Ihr Kochkünste bewies sie schnell, und ihre Neugier bezähmte sie ganz gut. Bony war froh, nicht zu einem Höflichkeitsgespräch gezwungen zu sein. Er ließ sich noch einmal die Szene am Schanktisch durch den Kopf gehen und die ruhige, ordentliche Art, in der die Männer zum Feierabend ihre paar Gläser getrunken hatten. Weder sie noch der Wirt hatten das geringste Mißtrauen spüren lassen, sondern sich ganz so benommen, wie Menschen in einsamen Gegenden sich Fremden gegenüber anfangs benehmen. In der Stille des Speisezimmers glaubte Bony die Stimme von Oberinspektor Bolt zu hören: ›Sie werden feststellen, daß der Ort fast menschenleer ist. Keine Ferienreisenden, nur ein paar Mann beim Häuserbau und mit anderen Arbeiten beschäftigt. Ringsum, auch hinter der Bucht, liegen mehrere Farmen. Sehr fruchtbares Land. Wünschte, ich könnte mal vierzehn Tage in dem Hotel bleiben. Täte mir gut. Ein bißchen angeln, wenn einer Bescheid weiß, wo und wann. Futter prima, und in der Seeluft schmeckt das Bier besonders fein.‹ Das ›Futter‹ war wirklich von erster Güte. Als Mrs. Washfold wieder in die Küche gegangen war, erinnerte er sich nochmals an seine Unterredung mit Bolt und dessen volle, angenehme Stimme. 12
›Sie sehen ja nun Split Point nicht so, wie es am ersten März aussah, als der Tote im Leuchtturm gefunden wurde. Damals wimmelte der Ort von Fremden, die ihre eigenen Bungalows bewohnten oder gemietete Häuser, oder bloß für einen Tag herkamen. Die einzige Pension hatte siebenundzwanzig Gäste, das einzige Gasthaus vierzehn. Und außer den Besuchern noch Einheimische. Ich möchte sagen, daß sich am ersten März in der Gegend des Leuchtturms, im Umkreis von zwei Meilen, rund dreihundert Menschen befanden, und heute mögen es knapp fünfzig sein. Die Spuren des Verbrechens sind Monate alt, und wir können Ihnen für Ihre Ermittlungen gar nichts in die Hand geben. Haben ja bis heute noch nicht einmal die Identität des Toten feststellen können, haben seine Kleidung nicht aufgefunden, und es hat sich niemand gemeldet, der ihn kennen will, obwohl sein Bild inzwischen Zehntausenden bekanntgeworden sein muß. Theorien haben wir natürlich, denn Theoretisieren macht uns ebensoviel Spaß wie den im Lehnstuhl sitzenden Detektiven der Kriminalromane. Wir vermuten, daß der Tote einer Bande angehörte, vielleicht hier zur Erholung in einem gemieteten Haus gewohnt hat und von einem Rivalen erledigt worden ist. Gerade die richtige Sache für Sie, Bony. An der können Sie sich die Zähne ausbeißen.‹ Die amtliche Akte, eine recht magere Mappe, trug Bony jetzt in seiner Aktentasche. Bisher hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, sie durchzusehen, und soweit er aus Bolts Angaben entnehmen konnte, gab sie sowieso kaum wertvolle Aufschlüsse. Dieser Fuchs Bolt! Er wußte, welche Fälle Bony besonders bevorzugte. Und wußte auch, welches Schicksal ihm, Napoleon Bonaparte, bevorstand, falls er diese Geschichte nicht klärte, für die Bolt mit seinem ganzen Stab von Fachleuten und Wissenschaftlern keine Lösung gefunden hatte. ›Nein, wir wissen nicht, wer der Tote ist‹, hatte die sonore, gemütlich klingende Stimme Bolts gesagt. ›Gar nichts wissen wir von ihm und sind auch auf niemanden gestoßen, der ihn kennt. Seine Fingerabdrücke befanden sich am Geländer der Wendeltreppe, ebenso die des Ingenieurs. Keine Spur des Geschosses an den Wänden des Leuchtturms. Keine Blutflecke. Türen wurden entweder mit nachgemachten Schlüsseln oder einem Dietrich geöffnet und verschlossen. Am Körper des Toten nicht ein einziges Kleidungsstück, nicht einmal 13
seine Schuhe. Kein Merkmal eines Kampfes an den Fingernägeln. An den Zähnen auffallend geringe Reparaturen, schon alt. Und der Mörder hat nichts verloren oder vergessen, kein Taschentuch mit sauber gesticktem Monogramm und keinen Revolver. Sie können alles in Bausch und Bogen haben, mein braver alter Bony – ein wunderbarer Fall!‹ Dieser gerissene Oberinspektor! Sein Talent, Leute anzuspornen, war ihm sehr förderlich gewesen. Er hatte sich, als er seinen Gast nach Mitternacht in sein Zimmer brachte, ziemlich kleinlaut, gesagt: ›Der schwierigste Job, den wir bisher gehabt haben, Bony. Auch Sie sollten sich’s zehnmal überlegen, ehe Sie anfangen. Wissen Sie noch, was Sie mir vor Jahren gesagt haben? Ein gewöhnlicher Polizist könne sich einen Versager leisten, Sie niemals. Aber die Zeit gibt uns vielleicht einen Hammer, der schwer genug ist, diese Nuß zu knacken.‹ Der Käse, den die Wirtin empfahl, war sehr gut. Sie ging den Kaffee holen. Als Bony es sich am Tisch bequem machte und den Kaffee schlürfte, hörte er sich selbst ein wenig protzig sagen: ›Geduld, lieber Oberinspektor, mit etwas Intelligenz addiert, löst jedes Problem. Ich habe Geduld von meinen mütterlichen Ahnen geerbt und ein bißchen Intelligenz von meinen weißen Vorfahren. Haben Sie schon mal die Geschichte von Pharaos großem Getreidespeicher gehört, der zu Beginn der sieben mageren Jahre bis unters Dach mit Korn gefüllt war und doch leer gefunden wurde, als man ihn für das hungernde Volk öffnen wollte? Eine kleine Maus hatte sich durch die Wand genagt und ein Weizenkorn gestohlen. Sie kam wieder und holte sich noch eins und noch eins – bis kein einziges mehr da war. Sieben Jahre brauchte das Tierchen, um die Kornkammer zu leeren. So werde ich vielleicht sieben Jahre brauchen, den Leuchtturmmord aufzuklären, aber aufklären werde ich ihn. Wie Sie kürzlich so treffend bemerkten, ist er für mich wie geschaffen.‹ Von seinem Chef war seine langsame Arbeitsweise oft beanstandet worden, aber der alte Knabe hatte auch, wenngleich widerwillig, zugeben müssen, daß Bony ein verflixt guter Kriminalbeamter sei. Und das Abendessen war auch verflixt gut. Wenn er in diesem Hotel nicht vorsichtig war, setzte er noch Fett an. Um schlank und straff zu bleiben, gab es nichts Besseres, als nach dem Essen spazierenzugehen. 14
Auf dem Kies des kurzen Weges zur Landstraße knirschten seine Schritte laut, und als die Straße im Bogen bergab lief, hallten sie. Die Straße führte am Fuß des Kaps vorbei und an der Bucht über eine sumpfige Strecke. Die Sterne waren sichtbar, doch auf der Erde war es so finster, daß nur ein Mensch mit scharfen Augen der Straße folgen konnte, wenn er die letzte der drei Lampen hinter sich hatte, die drei Abzweigungen beleuchteten: die Wege zum Hotel, zum Café und zur Post mit dem Gemischtwarenladen. Der Wind kam aus Süden; er blies Bony in den Rücken, als wolle er ihm zuflüstern, er werde Erfolg haben. Bony hatte erwartet, ein Leuchtfeuer mit einem schnurgeraden kreisenden Strahl zu sehen. Statt dessen mußte er von hier, weit hinter dem Turm, angespannt ausschauen, bis er die vier kurzen Blitze an der Rückseite bemerkte. Und das auf die See fallende Licht, das draußen bis auf zwanzig Meilen Entfernung zu erkennen war, sah er nur ganz verschwommen. Vor ihm, jenseits der Bucht, kam ein Auto die gewundene Straße vom Oberland herab. Die Scheinwerfer tasteten nach der über den Bach führenden Brücke. Mit surrenden Reifen fuhr der Wagen an Bony vorbei und ließ ihn in noch dichterer Dunkelheit zurück. Seine Schritte hallten auf den Planken der Brücke, und er meinte, neben diesem Geräusch, neben dem Lärm des Wagens, der jetzt die große Kurve hinaufzog, noch das Echo seiner eigenen Schritte zu hören, wie sie auf dem eben verlassenen Weg geklungen hatten. Im Wind vernahm er das Rufen der Schwäne, die ihm durch ihr Geschrei anzeigten, daß sie sein Kommen bemerkt hatten. Er überquerte die Brücke und ging noch eine halbe Meile weiter, bevor er sich entschloß, an den warmen Ofen, den Mrs. Washfold ihm versprochen hatte, zurückzukehren. Er befand sich jetzt hoch über der Bucht und sah fern wie drei matte Sterne die Kreuzungslampen glimmen. Auf der Straße vernahm er in der Finsternis vertraute Geräusche. Von einem elektrischen Leitungsmast kamen die Klagerufe einer Eule, ein Brachvogel kreischte wie Kurdaitcha, der böse Geist, der angeblich schreit, wenn ein Eingeborener sich nachts vom Lager seines Stammes entfernt. 15
Auf der anderen Seite neben der Bucht kam ein Auto den Hang herab: Es schien auf dem unebenen Boden des unsichtbaren sumpfigen Grundes förmlich zu tanzen. Die Scheinwerfer beleuchteten gerade die Brücke, als Bony sich ihr näherte, und zeigten ihm einen Mann, der am Geländer lehnte. In einem Wirbel von Geräuschen sauste der Wagen vorbei. Wieder war es still bei der Brücke, bis auf die Stimmen der Schwäne. Bony bemerkte den Mann, der am Geländer gestanden hatte, erst wieder, als er plötzlich neben ihm herschritt. »Guten Abend«, sagte er. »Der Wind scheint nach Osten zu drehen.« »Und was bedeutet das?« fragte Bony. »Daß er zunächst noch auffrischt.« Gesicht oder Kleidung des Begleiters zu erkennen war unmöglich. Bonys Schritte klangen hart auf der Straße, die des anderen dumpf, als seien seine Sohlen abgelaufen. »Sie sind hier zu Besuch, wie?« fragte der Unbekannte, als sei das selbstverständlich. »Ja – für ein paar Wochen. Ich wohne im Hotel.« Einige Schritte gingen sie stumm. »Sind Sie hier bei Split Point zu Hause?« »Das bin ich. Von wo stammen Sie denn?« »Ich habe eine kleine Farm hinter Swan Hill, am Murray. Schafzucht. Bin jetzt in Eheferien. Auch verheiratet?« »Ja.« Wieder Schweigen. Schritt um Schritt in fast militärischem Takt. »Der Leuchtturm hat offenbar kein Drehfeuer?« fragte Bony. »Ganz richtig. – Schafzucht sagten Sie. Was für ’ne Rasse?« »Corriedale, hauptsächlich. Züchten Sie auch?« »An die zweihundert habe ich bloß. – Split Point ist um diese Jahreszeit kein gemütlicher Kurort. Drüben in Lome ist es besser. Mehr Betrieb. Und angeln können Sie da, wenn Sie Lust haben. Hier gibt’s das nicht. Überhaupt nichts für Fremde im Winter.« »In Lome bin ich noch nie gewesen«, gab Bony zu. »Moderner Saisonbetrieb, wie ich hörte.« »Auch außerhalb der Saison ist da was los. Mehr Unterhaltung … Wie groß ist Ihre Farm?« 16
»Hunderttausend Morgen. An der Straße nach Balranald.« Bony nannte den Namen einer Ranch, die einem Verwandten von Bolt gehörte, dessen Namen er angenommen hatte, und beschrieb ihre Lage. Er hatte den Eindruck, daß hinter den geschwätzigen Fragen eine Absicht steckte, und kam sich vor, als werde er auf seine Eignung als Geheimagent geprüft. Während sie in die langgezogene Kurve einbogen, die zur ersten Straßenlaterne führte, fragte sein Begleiter: »Wie heißen Sie denn, Mister?« »Rawlings. Und Sie?« »Rawlings –« wiederholte der Mann langsam. »Rawlings, an der Straße nach Balranald, hinter Swan Hill. Donnerwetter, jetzt bin in an meinem Weg vorbeigelaufen.« Er blieb jäh stehen und verschwand – während Bony weiterging – ohne ein Wort in der Dunkelheit. Bony lauschte im Gehen, um neben den eigenen Schritten auch die des ändern zu hören. Er hörte jedoch nichts. Als er die Straße hinabgegangen war und den Rückweg bergan zum Hotel einschlug, wußte er, daß an der Stelle, wo der Unbekannte stehengeblieben war, gar kein Weg abzweigte außer dem einen am Rand des Sumpfgebiets, gut achthundert Meter hinter ihm. Die erste Straßenlaterne hing kaum hundert Meter vor ihm. Die Stimme seines Begleiters aber war die des Mannes gewesen, der ihn am Klippenrand beobachtet hatte, wo vorher ein anderer mit der Frau gerungen hatte.
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nter dem Vorwand, müde zu sein, verließ Bony schon bald die behagliche Gaststube. Nachdem er im Bett nochmals die Akte gelesen hatte, schlief er mit dem Gedanken ein, daß die Aufklärung dieses Verbrechens ihm tüchtig zu denken geben würde. Er wurde um sieben Uhr wach – eine Stunde vor dem üblichen Gong zum Frühstück –, ging auf die vordere Veranda und blickte 17
über den Rasen hinweg durch die das Haus beschattenden Bäume zum Kap Split Point und dem in der Morgensonne weiß glänzenden Leuchtturm. Die Luft war frostklar und still. Eine Amsel suchte emsig nach Würmern, und irgendwo blökte ein Kalb einen Hahn an, dessen Krähen wie zersplitterndes Glas klang. Eine Stunde lang untätig auf den Tee warten, das war für Bony unvorstellbar, und Mrs. Washfold schien ihm in günstiger Stimmung für ein Gespräch. So ging er ums Haus herum zur Küchentür, wo ihm ein zottiger, braun und weiß gefleckter Hund, ein Huhn und ein zahmes Schaf entgegenkamen. In der Küche sah er den Wirt beim Frühstück sitzen. »Guten Morgen«, grüßte er ihn durch den Gazedraht der Fliegenschutztür. »Es gab einmal einen König, der rief: ›Ein Königreich für ein Pferd!‹ Und mich hören Sie jetzt rufen: ›Meine Frau für eine Tasse Tee!‹« Washfold drehte sich mit freundlichem Lächeln nach ihm um. »Nichts zu machen«, sagte er. »Ich habe in diesem Laden mit einer Frau vollkommen genug. Kommen Sie Ihren Tee trinken.« Bony schob die Fliegenschutztür auf und trat in die Küche. Der Hund folgte ihm, das Schaf wollte auch hinein. In Washfolds Vollmondgesicht spiegelte sich Schrecken; es gelang ihm gerade noch, Huhn, Schaf und Hund zu verscheuchen, bevor seine Frau hereinkam. »Tasse Tee? Aber gewiß, Mr. Rawlings. Bei uns können Sie jederzeit Tee haben, Tag und Nacht, wenn keine Saison ist. Wird ein schöner Tag heute. Was ist denn mit dem Hund los, Bert?« »Hat wahrscheinlich ’n Floh in der Nase. Platz, Stug! – Zucker?« »Ja, bitte.« Bony süßte seinen Tee und trank ihn aus. »Du liebe Güte, Sie verbrennen sich ja die Kehle!« rief Mrs. Washfold. »Noch eine Tasse?« »Ah, jetzt ist mir wohler. Ja, bitte noch eine.« »Und was möchten Sie zum Frühstück haben? Weizenflocken oder Haferbrei? Dann Eier mit Speck oder ein schönes Filetsteak mit Ei und Tomaten?« Sonnenstrahlen warfen helle Streifen über Bonys himmelblauen Morgenmantel, in seinem glatten schwarzen Haar spiegelte sich das aus der Küche fallende Licht. Die Washfolds, denen seine gerade, 18
schmale Nase, die schneeweißen Zähne und die blauen Augen auffielen und vor allem seine Gesichtsfarbe, die fast nichts mehr von seinen dunklen Vorfahren verriet, waren später über seine Abstammung verschiedener Meinung. Bony verbeugte sich vor der Wirtsfrau. »Madam«, sagte er, »bin ich in einem Hotel, oder bin ich zu Hause?« »Zu Hause«, erwiderte der Wirt. »Wir fühlen uns, wenn keine Saison ist, alle wie zu Hause. Probieren Sie mal den Speck, den habe ich selber geräuchert und kann ihn empfehlen.« »Das Filetsteak ist auch schön mürbe und saftig«, ergänzte seine Frau zuredend. »Und mir hat man geraten, lieber nach Lome zu gehen!« sagte Bony, den Empörten spielend. »Oh! Wer ist das gewesen?« wollte Washfold wissen. »Ein Mann, dem ich gestern abend begegnet bin. Gut gebaut, ungefähr fünfzig. Graubraunes Haar, graue Augen. Spricht ein klein wenig bäurisch. Er trug altes Zeug und alte Schuhe und sagte mir, er besäße zweihundert Schafe.« Bony beobachtete über seine Tasse hinweg die beiden freundlichen Menschen. »Klingt mir wie Tom Owen«, sagte Mrs. Washfold leise. »Hatte er in den Nasenlöchern auffallend lange Haare?« grinste der Wirt. »Stimmt«, erwiderte Bony, und Mrs. Washfold stand auf, um Luft zu holen. »Na so was! Dem gebe ich aber Bescheid, wenn ich ihn treffe. Lome! Lome ist etwas für Jünglinge und Backfische, die da im Sommer halbnackt ’rumliegen, aber wir haben ja nicht alle Figuren wie ’n Filmstar, obgleich ich von Ihnen sagen muß …« Sie errötete wie ein Mädchen. »Nichts für ungut, Mr. Rawlings, Sie wissen wohl, wie ich’s meine.« »Natürlich. Sie brauchen auch nicht zu denken, daß ich lieber in Lome sein möchte. Nein, bei so einem Frühstück, wie Sie’s mir vorsetzen wollen, wäre ich ja ein Narr. Na, jetzt muß ich mich aber anziehen.« »Und du hast auch noch einiges zu tun, Bert. Sieh mal nach der Uhr!« Später ging Bony auf der Hauptstraße zur Bucht hinab, die einer mit Gras bedeckten Fischreuse glich, vor der wie ein silberner Aal der Fluß 19
lag. So wie hier berühren sich See und Land in ganz Südaustralien zwischen den vielen Vorgebirgen in tiefen, weiten Einbuchtungen, bis zum fernen Kap Otway. Bony war mit sich und der Welt zufrieden: Hier gab es für ihn keine Hetzjagd. So wie er gefrühstückt hatte, wollte er auch seine Ermittlungen betreiben: ohne sich zu überfüttern. Von seinen ersten Schritten – sich als Weidegutsbesitzer auf Ferienreise eingeführt und den Wagen, den ihm der Chef der Kriminalpolizei des Staates Victoria geliehen hatte, mit den Kennzeichen von Neusüdwales versehen zu haben – war er höchst befriedigt. So war er in der Lage, die Hintergründe genauer zu beleuchten und Einflüsse zu ergründen, die den hier schon bekannten Kriminalisten verborgen blieben. Am Fuße des Hügels bog er auf einen Pfad ab, der dicht an der Bucht entlang und offenbar bis weit in die bewaldeten Berge des Hinterlandes führte. Als er an einem noch nicht fertigen Neubau vorbeikam, riefen ihm zwei Maurer, die das Dach deckten, einen fröhlichen Gruß zu. Er begegnete einem Jungen, der Kühe hütete, und kam gleich danach an ein gepflegtes Landhäuschen mit kleinem Vorgarten hinter einer niedrigen Hecke. Weiterwandernd erreichte er ein großes scheunenartiges Gebäude, dessen Wände und Dach mit Schindeln verkleidet waren. Es stand etwas abseits von der Straße, an der Vorderwand lehnten rostige Radreifen von Ackerwagen. Drinnen, in der Nähe der offenen, breiten Tür, hobelte ein Mann eifrig ein in die Werkbank gespanntes Brett. Ein korpulenter, sauber gekleideter Mann mit rosiger Gesichtsfarbe und schneeweißem Haar. Er blickte hoch, als er Bony sah, der ihm »Guten Tag« zurief. »Guten Tag auch, mein Herr«, antwortete er, und Bony trat, da die Haltung des alten Mannes ihm zeigte, daß er willkommen sei, in das Haus, das sich als Werkstatt entpuppte. In einem Winkel nahe der Tür stand eine Anzahl Särge. Der Zustand des Blasebalgs hinter einer Feldschmiede erzählte von Zeiten, die nie wiederkommen würden. »Großartiger Tag, Mister«, sagte der Handwerker. »Ist es, ja, Mr. Penwarden.« »Nanu, woher kennen Sie mich denn?« »Das Wetter hat den über Ihrer Tür stehenden Namen noch nicht ganz ausgelöscht«, erwiderte Bony. »Ich heiße Rawlings. Wohne 20
für ungefähr eine Woche im Hotel. Sie haben ja viel Arbeit heute morgen.« »Ja, ja, zu tun habe ich immer, Mr. Rawlings.« Der alte Mann hatte ebenso blaue und klare Augen wie der jüngere mit der dunkleren Haut, der auf einem Sägebock saß und sich eine Zigarette drehte. Er mußte mindestens siebzig sein, war aber geistig so lebhaft wie ein Jüngling. »Sie wissen ja, Mr. Rawlings, daß der große Feind niemals Ferien macht. Er flitzt hin und her, tippt dem und jenem auf die Schulter, und mir scheint, die einzig wahre Methode, ihm zu entgehen, ist die, daß man ebensoviel tut wie er, denn fleißige Leute fallen ihm nicht so auf. Für die hat er wenig Zeit, da es ja viele Menschen gibt, die zu träge sind, die Freuden des Lebens zu würdigen.« »Ja. Ich weiß bestimmt auch nichts Besseres, als dem Verstand und den Händen tüchtig Arbeit zu geben, um den Feind, den Sie erwähnten, in Schach zu halten, Mr. Penwarden.« Und Bony fragte, obwohl er es bereits wußte: »Sind Sie schon lange hier ansässig?« »Ich habe diese Schmiede und die Werkstatt vor beinah sechzig Jahren erbaut«, antwortete der Tischler. »Einundzwanzig war ich damals und hatte gerade meine Lehrzeit hinter mir. Motorwagen und Lastzüge gab’s noch nicht, auch keine schön gepflegten Straßen wie heute nach Lome und zur Apollobucht. Nur den alten Fahrweg nach Geelong, im Sommer fußhoher Sand, im Winter metertiefer Matsch.« Bony sah sich noch einmal flüchtig in dem alten Gebäude um. Es war alt, aber noch widerstandsfähig. Da er eine Entdeckung gemacht zu haben glaubte, stand er auf, um die Wände, die Dachbalken und Träger genauer zu studieren. Der Alte beobachtete ihn dabei mit einer Miene, die höchste Befriedigung ausdrückte, doch als Bony zur Werkbank zurückkam, war er wieder ganz in seine Hobelei vertieft. »Sie haben hier ja keinen einzigen Nagel eingeschlagen«, sagte Bony fast vorwurfsvoll. »Alles nur mit hölzernen Stiften gezimmert, und ich kann nirgends erkennen, wo sie sitzen.« »Ganz recht«, stimmte Penwarden ihm zu und verstellte die Klinge an seinem Hobel. »Ich habe auch ein ganz nettes Wohnhaus ein Stück weiter unten an der Straße. Wollte meine Alte unbedingt haben, als der Krieg ausbrach, aber das Haus wird schon hin sein, wenn diese Werkstatt im Südoststurm noch nicht mal wackelt. Häuser, pah! Heute bauen sie die aus frischem und wurmstichigem Holz, mit Beton 21
und Kitt und ein paar Klecksen Farbe. Heutzutage gibt’s, weiß der Himmel, nur wenig Arbeit für einen richtigen Handwerker. Ich gebe mich mit solchem Schund, wie er jetzt üblich ist, nicht ab, höchstens mit Aufträgen für gewisse Zwecke, wo’s nicht lange aufs Aussehen ankommt.« »Das Brett, an dem Sie da arbeiten, ist ja wunderbar«, sagte Bony. »Sieht mir aus wie ein Eukalyptus.« Die blauen Augen leuchteten. »Haha! Sie verstehen auch was davon, wie? Dachte ich mir gleich, als ich Sie sah. Ja, roter Eukalyptus. Diese Planken lasse ich mir extra aus Albury kommen, sie stammen von Bäumen, die in den Niederungen am Murray wachsen, und dieses Holz, das im Wasser ›abgestorben‹ ist, hält ewig. Für meine Spezialkunden ist das neumodische Sperrholz nicht gut genug, auch dreifaches nicht, und wenn’s wie Seide glänzt. Früher konnte ich ihnen sogar Teakholz liefern, aber jetzt muß es Eukalyptus sein, und ich bin mir selbst nicht ganz sicher, welches von beiden eigentlich schöner ist.« »Und was machen Sie mit dem Brett hier?« »Gehört zu einem Sarg. Wollen Sie einen sehen, der beinah fertig ist?« »Ja, das möchte ich wohl«, antwortete Bony zögernd. Der Alte legte sein Werkzeug hin, vorsichtig, um das Hobeleisen nicht zu beschädigen, und sagte: »Vielen Menschen ist es ein Trost, wenn sie sich vorstellen können, daß sie behaglich liegen, wenn sie mal tot sind. Es gibt sehr verschiedene Friedhöfe: Manche sind hübsch und trocken, andere naß und kalt wie ein Moorsumpf. Und das Verbrennen verstößt ja gegen die Bibel, wo geschrieben steht, daß am Jüngsten Tag die Körper der Verstorbenen auferstehen sollen. Dann dürfen sie ja nicht verbrannt sein, klar?« Er verließ seine Hobelbank, und Bony folgte ihm. Mit einer verächtlichen Handbewegung nach dem Stapel Särge an der Wand erklärte er weiter: »Die Särge da schauen Sie nur gar nicht an. Sperrholz und Leim, durch Metallnägel zusammengehalten. Ich kriege das Schielen, wenn ich diese Schundware sehe, die ich für zehn Pfund pro Stück nach Melbourne schicke, wo sie für fünfzig verkauft werden. Kommen Sie mal hier ’rüber, da zeige ich Ihnen, wie ein Sarg aussehen soll.« 22
Bony begleitete den Handwerker in einen kleinen Seitenraum, wo sie vor einem Gestell stehenblieben, auf dem, durch eine schwarze, mottenzerfressene Samtdecke verhüllt, ein großer Gegenstand lag. »So einen wie den hier sehen Sie nicht alle Tage«, sagte Penwarden, als er seinem Besucher an dem Sarg gegenüberstand. »Die Zeiten haben sich geändert: Die Leute denken keine Woche mehr voraus, kaum einen Tag. Sie machen sich keine Gedanken darüber, ob sie beim Tode für ihre Verwandten oder den Staat eine Last sind. Keinen Stolz haben die Menschen heutzutage, erledigen ihre Arbeit so rasch wie möglich für möglichst hohen Lohn, aber denken wollen sie nicht, weil das anstrengt.« Er zog die Decke mit einem Ruck ab. Der Sarg sah aus wie ein Block rubinroten Marmors, er hatte die farbige Tiefe alten Rotweins. Außer den beiden versilberten Handgriffen an den Seiten war keinerlei Verzierung zu sehen. Die Flächen glatt wie Glas, die Färbung unvergleichlich schön. Der alte Mann hob den Deckel ab, wobei er ständig Bonys Gesicht beobachtete, um die Wirkung festzustellen. Bony beugte sich über den Rand, um innen die Enden und Seiten genauer zu prüfen. Keine einzige Naht oder Verbindungsstelle konnte er entdecken. Der Sarg sah aus wie aus einem Stamm geschnitten. Als ihre Blicke sich trafen, schloß der Alte den Deckel, wobei die Luft leise herauszischte. Er hob ihn noch einmal an, schloß ihn wieder, und wieder entwich die eingeklemmte Luft mit pfeifendem Ton. Als er den Deckel zum drittenmal anhob, ließ er ihn aufgeklappt stehen. Bony beugte sich vor, um hineinzublicken. Er sah, daß der Boden genau für die Aufnahme eines menschlichen Körpers modelliert war, sah eine leichte Erhöhung für den Nacken und eine Vertiefung für den Kopf. Nach einer Weile trat er zurück und blickte den Sargmacher stumm an. »Innen hat das Holz nur seinen natürlichen Glanz«, erklärte Penwarden, »aber außen arbeite ich sehr daran, um die Naturfarbe zu bester Wirkung zu bringen. Nicht schlecht, in dem hier für lange Zeit zu schlafen, wie?« »Wirklich nicht«, stimmte Bony leise zu. Penwarden streichelte den Deckel, bevor er ihn schloß, seine Hände bewegten sich leicht und fahrig wie Schmetterlingsflügel, als er die Fingerspuren fortwischte und die Decke über den Sarg zog. 23
»Zwei solche habe ich zu Hause«, sagte er heiter, »einen für mich und einen für meine Alte. Sie stehen bei uns unter dem Bett, und die Totenhemden liegen auch schon drin. Von Zeit zu Zeit macht meine Frau die Särge auf, um sie zu lüften, und wirft ein bißchen Lavendel hinein. Mein Vater und meine Mutter hatten ihre auch schon früh bereit, und mein Großvater brachte sich seinen auf dem Schiff von England mit. Ach ja, die Zeiten haben sich geändert, doch wir Penwardens nicht, und es gibt auch noch mehr Familien, die sich nicht ändern.« »Aber diese Menschen müssen wohl selten geworden sein«, meinte Bony, während er Penwarden wieder zur Hobelbank folgte. »Recht haben Sie, Mr. Rawlings, ganz recht. Und werden immer seltener.« »Wie lange brauchen Sie, um so einen Sarg, wie wir eben gesehen haben, anzufertigen?« »Tja, das ist schwer zu sagen. Ich arbeite nicht ständig an einem Stück. Aber wenn ich’s zusammenrechne, mögen wohl dreißig Tage mit je zehn Arbeitsstunden herauskommen. Mit dem hier habe ich vor drei Monaten angefangen. Ich muß ja auch die anderen Aufträge erfüllen, die Dinger mit Leim und Metallnägeln. Die kann ich gar nicht so schnell schaffen, wie sie bestellt werden.« »Und die kosten?« »Kommt drauf an«, erwiderte der Alte, und sein Ton ließ erkennen, daß er weitere Fragen zu diesem Punkt nicht wünschte. Nachdenklich sah Bony zu, wie der Hobel auf dem Brett von Eukalyptusholz hin und her glitt. Die Späne, die auf den beträchtlichen Haufen schon vorhandener Abfälle fielen, waren dünn wie Oblaten. Da dem Alten manchmal das lange weiße Haar über die Augen rutschte und ihn störte, warf er hin und wieder den Kopf zurück. Seine nackten Arme waren muskulös, frei von Fett, die in einer Drillichhose stekkenden Beine stämmig und stark. Bony hätte Penwarden gern nach seinem Alter gefragt, als ihm einfiel, daß er gesagt hatte, er habe die Werkstatt vor sechzig Jahren als Einundzwanzigjähriger gebaut. Aus der Kehle des Handwerkers erklang ein Lachen in tiefem Baß. »Muß für meine besonderen Kunden nach Maß arbeiten. Meistens mache ich eine Anprobe, ehe ich die Bretter zusammensetze, und dann noch eine, sobald ich die Bettung eingerichtet habe, um das Liegen 24
angenehm und bequem zu machen. Gibt ja nichts Schlimmeres als ’n unbequemen Sarg, in dem einer vielleicht viele Jahre liegen muß. Der da drin ist für Mrs. Owen. Mit der geht’s auch langsam abwärts, aber jahrelang wollte sie keinen Sarg unterm Bett, neben dem von ihrem Tom, stehen haben. Na, eines Tages brachte ich sie hierher, und wir reden und reden, und ich bring’ sie so weit, daß sie sich zwischen die Bretter legt, die ich nur lose ein bißchen zusammenstelle. Lasse sie die Beine hübsch ausstrecken und die Arme gemütlich hinlegen, aber wie ich mir gerade meine Maße einziehen will, springt sie hoch und kreischt wie ’n Huhn, das sein erstes Ei gelegt hat. Tom hat lange gebraucht, sie wieder zu beruhigen, und meine Alte mußte ihm dabei noch helfen. Und jetzt warten wir auf die letzte Anprobe, glauben aber nicht, daß sie wieder herkommt.« Bony, der fest überzeugt war, daß ihn niemand zur Anprobe eines Sarges bewegen könne, sagte ablenkend: »Alter englischer Name, Penwarden, nicht wahr? Aus Cornwall?« »Aus Devonshire stammte mein Vater. Da gibt’s auch Familien, die Wessex heißen. Ganz alte Familien. Früher hieß mal ein Teil von England Wessex. Da gab’s sogar Könige. Der Wessex, der hier wohnt, ist hier geboren, sein Vater hat sich in den Bergen hinter der Bucht ein Stück Land gekauft. Vor den Wessex’, nach hier zu, wohnen die Owens. Du meine Güte, den einen segnet der Herr, und den anderen züchtigt er. Die Owens hat er gesegnet und die Wessex’ gezüchtigt, und mit uns Penwardens macht er’s anscheinend abwechselnd.« Der Hobel wurde sorgfältig beiseite gelegt und das Jackett von dem Nagel an der Wand neben der Werkbank genommen. »Zeit zum Essen«, verkündete der alte Mann. »Sie wohnen oben im Hotel, wie? Ordentliche Leute, die Washfolds. Sind noch nicht lange hier, aber anständige Leute.« »Vielen Dank, daß Sie sich mit mir so freundschaftlich unterhalten haben, Mr. Penwarden«, sagte Bony. »Es hat mir wirklich Freude gemacht, mit Ihnen zu sprechen und Ihre Arbeiten zu sehen.« »Aber nichts zu danken, Mr. Rawlings. Kommen Sie mal wieder vorbei. Werde mich immer über Ihren Besuch freuen.« Bony wanderte zum Hotel zurück und wußte nicht, ob er bei der Vorstellung, wie Mrs. Owen einen Sarg anprobierte, lachen oder entsetzt sein sollte. 25
An seinem Tisch in der Gaststube traf er einen großen Mann mit verwittertem Gesicht. Mrs. Washfold kam geschäftig herbei, um sie miteinander bekannt zu machen. »Das ist Mr. Fisher vom Schiffahrtsamt«, sagte sie. »Er hat im Leuchtturm etwas zu arbeiten, und ich dachte mir, Sie würden gern mit ihm zusammensitzen. Darf ich Sie mit Mr. Rawlings bekannt machen, Mr. Fisher?« »Sie arbeiten am Leuchtturm, ja?« rief Bony. »Da ginge ich gern einmal mit.« »Dürfen Sie jederzeit«, erklärte der Ingenieur bereitwillig. »Ich will gegen zwei Uhr anfangen. Sie können einfach ’reinkommen, ich werde die Tür für Sie offenlassen.« »Seien Sie mit den Treppen vorsichtig, Mr. Rawlings«, mischte die Wirtsfrau sich ein, »es sind über hundertzwanzig Stufen, hab’ ich gehört, und wenn Sie das Klettern nicht gewöhnt sind, werden Ihnen die Beine weh tun, daß Sie nächtelang nicht richtig schlafen können. Wie war’s jetzt mit einem kleinen Gemüsesüppchen?« Es ging alles so einfach und natürlich zu, und jedesmal, wenn Mrs. Washfold wieder an den Tisch kam, sprachen sie über die Küste und Mr. Fishers Erfahrungen mit einzelnen Leuchttürmen und Baken. Gegen drei Uhr verließ Bony das Hotel durch den Privateingang. Sofort folgte ihm Washfolds Hund. Stug hieß das Tier, und als Bony nach der Bedeutung des sonderbaren Namens fragte, forderten Washfolds ihn lachend auf, ihn einmal von rückwärts zu sprechen. ›Guts‹ also. Das hieß Courage und Kampfgeist und paßte sehr gut zu dem Tier, das sich Bony so bereitwillig anschloß und gern von ihm beachtet sein wollte. Den ganzen Weg blieb der Hund bei ihm, ohne sich durch die verführerischen ›Düfte‹, die ihm unterwegs in die Nase stiegen, von der liebevollen Aufmerksamkeit für den neuen Freund ablenken zu lassen. Als Bony am Tor der Umzäunung des Leuchtturms ankam, betrachtete er gleich das schwere Vorhängeschloß an der Kette, ehe er mit dem Hund hineinging und das Tor hinter sich schloß. Im Hof standen eine Feldschmiede und ein paar Säcke Kohlen, an einer Seite des Zaunes war ein kleiner Schuppen angebaut. Der Zaun, der Hof, Bony selbst und der Hund wirkten zwergenhaft vor dem in den wolkenverhangenen Himmel ragenden mächtigen 26
Turmbau. Bony blickte am Turm empor, doch der Balkon im oberen Teil verdeckte den Blick auf die lichtspendenden Fenster und die rote Kuppel, die erst kürzlich frisch angestrichen worden war. Bony konnte sich nicht vorstellen, wie die Maler da oben gearbeitet hatten. Vor allem interessierte ihn der Hof aus einem ganz bestimmten Grund. Kriminalbeamte aus der Großstadt hätten wahrscheinlich zuerst die Gebäude und die Gegenstände über der Erde untersucht, aber dieser Mann studierte, natürlichen Instinkten folgend, wie selbstverständlich den Erdboden. Seit der letzten Tätigkeit der Kriminalbeamten war der Boden im Innenhof vom Regen saubergewaschen, und nach dem Regen hatte nur ein Mensch seine Fußspuren zwischen dem Gittertor und der Tür zum Leuchtturm hinterlassen, sehr wahrscheinlich also Mr. Fisher. Die Turmtür war offen, und Bony fand sich, als er eingetreten war, in einem schmalen Raum, an dessen Längsseiten reihenweise hohe stählerne Gaszylinder standen. Hinter dieser kleinen Kammer sah er den Aufgang der Wendeltreppe, und auf der untersten Stufe saß Fisher. »Aha, da sind Sie ja, Fisher«, sagte Bony, indem er eine leere Kiste heranzog, um sich neben ihn zu setzen. »Behalten Sie Platz. Ich will nur eine Zigarette rauchen, und wir unterhalten uns ein bißchen, bevor wir hinaufsteigen. Was macht Ihr Bein?« »Das Bein, Inspektor, ist in Ordnung. Woher wissen Sie denn, daß ich mir vor ein paar Jahren den Hüftknochen verletzt habe?« »Kleiner Vogel hat’s mir verraten. Rechte Hüfte, nicht wahr? So daß Sie hinken mußten.« »Ja, das stimmt, aber jetzt hinke ich doch nicht mehr.« »Nur ganz wenig. Sie sind fast Ihr ganzes Leben auf See gewesen, nicht wahr?« »Ganz recht. Wir Leuchtturmmänner sind alle früher zur See gefahren.« »Na schön, nun wollen wir arbeiten. Erstens darf ich sagen, daß Sie beim Essen im Hotel Ihre Rolle gut gespielt haben. Hatte Oberinspektor Bolt mit Ihnen gesprochen?« »Ja, hat er, Inspektor. Sagte mir, ich dürfte nicht merken lassen, daß Sie Kriminalbeamter sind.« 27
»Dann vergessen Sie ganz, daß ich einer bin, und denken Sie daran, daß ich Rawlings heiße und Schafzucht betreibe. Sind Sie übrigens der Mann, der den Toten gefunden hat?« »Ja. War scheußlich, denn ich dachte nicht gerade an die ›Nackten und die Toten‹, sondern an Ventile.« Er lachte trocken vor sich hin. »Tote Menschen in Leuchttürmen sind ja nicht so häufig wie Gänseblümchen auf der Wiese. Ich kam hierher, um an einem Zylinderverbindungsstück im Ersatzteillager zu arbeiten, und da fand ich, daß ein Ventil –« »Warten Sie, darauf kommen wir noch. Soweit ich orientiert bin, sind Sie schon neun Jahre beim Schiffahrtsamt, also kennen Sie ja den üblichen Betrieb. Dieser Leuchtturm wird jährlich viermal inspiziert, nicht wahr?« »Ja. Wenn irgend möglich, immer in der ersten Woche der Monate Februar, Mai, August und November. Zufällig ist jetzt gerade Kontrolle. Und Oberinspektor Bolt hat mir noch im letzten Augenblick erzählt, daß Sie hier sind. Ich sollte eigentlich erst übermorgen herkommen.« »Haben Sie das Leuchtfeuer auch im Februar zur vorgeschriebenen Zeit überprüft?« »Ja.« »Dann ist Ihr Besuch hier am ersten März kein turnusmäßiger gewesen?« »Nein, das war er nicht. Als ich Anfang Februar hier war, konnte ich meine Arbeit nicht zu Ende führen. Ich erledigte sie nur behelfsmäßig und meldete in unserem Büro, daß es wahrscheinlich bis zur nächsten Inspektion so ginge. Man erklärte mir, die Sache müsse schon früher wieder ganz in Ordnung gebracht werden, und deshalb wurde ich schon nach drei Wochen wieder hergeschickt, um sie fertigzumachen.« »Wußte außerhalb Ihrer Dienststelle noch jemand, daß Sie hierherfuhren?« »Nein.« »Demnach würde also jemand, der über die regulären Inspektionszeiten unterrichtet ist, keinen Vertreter Ihres Amts hier vor Anfang Mai erwarten? Sind viele Einheimische über die Inspektionszeiten im Bilde?« 28
»Das sind wohl alle.« »Anscheinend war die Polizei es aber nicht«, sagte Bony, und Fisher merkte es am Ton, daß ihn das freute. »Die ist nämlich davon ausgegangen, daß Sie zur üblichen Zeit gekommen sind.« »Na ja – sie haben mich gefragt, weshalb ich gekommen sei, und da habe ich gesagt, zu Inspektionszwecken. Und das stimmt ja auch – ich bin doch aufsichtsführender Ingenieur für die Leuchttürme hier.« »Aha, jetzt verstehe ich, wie die Unklarheit zustande kam. Machen Sie sich keine Gedanken darüber, jetzt wissen wir ja Bescheid. Darf ich mir mal Ihre Schlüssel ansehen?« Fisher brachte ein Schlüsselbund zum Vorschein und suchte den Schlüssel für das Vorhängeschloß am Gittertor aus und einen zweiten, der für die Tür zum Leuchtturm paßte. Beide Schlüssel waren von einem Typ, der leicht nachgemacht werden konnte. Bony gab sie ohne Bemerkung zurück. »Ich glaube, wer beim Schiffahrtsamt ist, muß sich auf verschiedene Fertigkeiten verstehen«, sagte er. »So ist es, Inspektor. Takelarbeiten, Schweißen und dergleichen. Und schwindelfrei muß unsereiner sein. Der Kriminalsergeant schien beinah anzunehmen, daß einer von unseren Leuten den Mord begangen hätte. Wir wurden jedenfalls ganz gründlich verhört.« »Ist so üblich«, murmelte Bony. »Nun zeigen Sie mir mal die Anlage. Ich möchte den gleichen Weg gehen, den Sie gegangen sind, als Sie im März herkamen, angefangen vom öffnen der Tür bis zur Auffindung der Leiche. Ich ziehe nicht etwa in Zweifel, was Sie vor den Kriminalbeamten ausgesagt haben, es ist nur für mich wesentlich, Ihnen in Gedanken auf dem Weg, den Sie an dem Morgen machten, zu folgen.« Fisher erhob sich gleichzeitig mit ihm. »Als ich die Tür auf schloß«, sagte er, »roch ich zuerst, ob kein Gas ausgeströmt war. Dann prüfte ich die Manometer an den Zylindern und überzeugte mich, daß der Druck stimmte. Ich mußte ja, obwohl ich eigentlich nur eine bestimmte Arbeit auszuführen hatte, auch die allgemeine Kontrolle vornehmen, obgleich ich das erst vor drei Wochen getan hatte. Also sah ich mir die Prüfhähne und die Anschlüsse hier unten an und ging erst dann nach oben.« Er begann die Wendeltreppe hinaufzusteigen. Bony hinter ihm. Ihre Schuhe klapperten metallisch auf den eisernen Stufen. Nach 29
einunddreißig Stufen kamen sie auf den ersten Treppenabsatz, der einen Halbkreis bildete. Es war fast dunkel, das Geländer glänzte matt wie Zinn in dem schwachen Licht, das von unten heraufleuchtete und aus dem fernen obersten Geschoß herabfiel. Nach weiteren einunddreißig Stufen kamen sie wieder auf einen Absatz, und Bony spürte schon die Muskeln im Oberschenkel. Als sie das dritte Stockwerk erreichten, war er dankbar, daß es nicht fünfhundert Stufen waren. Von dort aus wurde, als sie höher stiegen, das Licht rasch stärker, bis sie zum obersten Absatz kamen. Sie befanden sich jetzt in der Spitze des steinernen Turmes, auf dem die Kuppel ruhte, die das Leuchtfeuer umschloß. Bis zur Lichtquelle führte eine weitere Treppe von etwa fünfzehn Stufen, und um die Leuchtanlage zog sich ein stählerner Laufgang, ähnlich wie bei Schiffsmaschinen. Der Ingenieur ging hinauf, Bony folgte. Das Tageslicht, das durch die Fenster aus einfachem Glas einfiel, bestrahlte die muschelförmig angeordneten Prismen und machte aus ihnen ein Juwel, das den weichsten Samt als Hintergrund verdient hätte. Bony war ganz gefangen von dieser Schönheit, auf die sein Blick so unvorbereitet fiel. Bony merkte, wie der Ingenieur ihn beobachtete. Er nickte, worauf Fisher den Hahn drehte und die Beleuchtung erlosch. »Nachdem ich das Lichtsystem geprüft hatte«, sagte er, »ging ich hinaus, um mir die Sonnenröhre anzusehen, die ich allerdings nicht für schadhaft hielt, denn die Gasdüsen funktionierten ja.« Bony ging mit ihm die kurze Treppe hinunter auf den Hauptflur, wo Fisher eine Tür in der eisernen Wand öffnete und hinausging. Sie kamen auf einen schmalen Balkon. Bony dachte, daß ein Polizeimann doch viel leiden muß, um Recht und Ordnung zu wahren. Er schloß die Augen und hielt sich am Geländer. Da der Balkon unten eine, wenn auch nur schmale Kante außerhalb des Geländers hatte, war es unmöglich, an der weißen Turmwand hinabzublicken. Erst nach mehreren Sekunden wurde das Bony richtig klar, da er unwillkürlich die Augen geschlossen hatte. Als er sie wieder öffnete, betrachtete er zielbewußt die Umgebung – schaute über die Bucht zu den Bergen hinüber, zur Landstraße und der Brücke, wo der Mann namens Owen auf ihn gewartet hatte. 30
Er ging hinter Fisher rund um den Balkon und sah eine Weile nur die blaue See im Wolkenschatten, bis er es wagte, direkt nach unten zu schauen, und tapfer den Blick auf die Katzenpfote mit den breiten Krallen richtete, die Split Point hieß. Es sah aus, als lägen die kalkweißen Felsen und der sandige Strand nur wenige Meter unterhalb der Kante des Kaps. »Ganz schönes Stück bis da unten«, sagte der Ingenieur. Bony blickte ihn an und entdeckte in seinen Augen einen merkwürdigen Ausdruck. Die auf dem gebrechlichen Balkongeländer ruhenden Hände sahen aus wie Pranken eines Riesen. Denen wurde es gewiß nicht schwer, einen Mann zu packen und über das Geländer hinabzuwerfen. Bony fiel ein, daß er noch nie für hohe Türme geschwärmt hatte. Als Fisher beim Rundgang auf dem Balkon wieder haltmachte, geschah es, um nach oben zu greifen und ein ungefähr dreißig Zentimeter langes Glasrohr zu berühren, das an beiden Enden durch Metallklappen verschlossen war. »Dies ist die Sonnenröhre«, erklärte er. »Der Mechanismus ist ganz einfach, wenn man ihn kennt. Im Innern ist die Röhre äußerst lichtempfindlich, aber das Licht muß Wärme enthalten. Sonnenlicht hat Wärme, Mondlicht jedoch nicht. Wenn die Sonne aufgeht, einerlei wie bewölkt der Himmel sein mag, wirkt das Licht auf diese Röhre ein, die automatisch die Gaszufuhr nach den Düsen abschaltet, und wenn die Sonne sinkt, wird das Gas automatisch wieder eingeschaltet. Die Zündflamme in der Mitte des Düsenkranzes brennt ständig, während der Mechanismus, der die Gaszufuhr zu den Düsen regelt, davon unabhängig arbeitet. Ich war also hierher gegangen, um die Sonnenröhre – wie jedesmal – zu kontrollieren, und sah, daß das Glas gesprungen war. Wodurch, kann ich mir nicht vorstellen. Jedenfalls war es gesprungen, deshalb ging ich hinein, holte meine Werkzeugtasche und montierte die Röhre ab. Ich wollte sie nach Melbourne mitnehmen, da ich wußte, daß wir unten noch eine Ersatzröhre liegen hatten.« »All right, ich komme mit hinunter«, sagte Bony, der keine rechte Lust mehr hatte, noch auf diesem Balkon zu bleiben. Er war froh, als sie wieder im Turm waren und er sah, wie Fisher die Tür schloß und verriegelte. Dann ging er hinter dem Ingenieur die Wendeltreppe wieder hinab. 31
Kurz bevor sie im untersten Geschoß ankamen, blieb Fisher stehen, knipste eine Taschenlampe an und wartete, bis Bony neben ihm stand. Er öffnete eine Türklappe in der Wand, hinter der ein ungefähr 1,20 Meter tiefer, ebenso hoher wie breiter Hohlraum lag. »An dieser Stelle des Flurs war früher ein Fenster«, sagte er, »denn früher stand hier die rote Warnlaterne, und weil nach Ausfall dieser Lampe für den Raum keine rechte Verwendung mehr war, ließ der Maurerpolier bei den Reparaturen eine passende Tür machen, damit der Raum als Lager für Ersatzteile benutzt werden konnte. Hier wurde die zweite Sonnenröhre aufbewahrt. Ich öffnete die Tür und schob die Hand hinein, um die Röhre herauszunehmen. Dann knipste ich meine Taschenlampe an und sah – nicht die Sonnenröhre. Der Strahl meiner Lampe traf direkt auf ein Gesicht: Die Augen waren weit aufgerissen, der Unterkiefer hing schlaff nach unten. So etwas hatte ich ja eigentlich nicht erwartet.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Bony trocken. »Es muß Sie hart getroffen haben.« »Das hat es«, stimmte Fisher zu. »Wie ich nach unten gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Vielleicht mit dem Kopf voran. Jedenfalls war ich im Nu aus dem Turm heraus, und selbst jetzt noch gehe ich ungern hinein, und höchst ungern stehe ich vor diesem Raum.« »Dann lassen Sie uns jetzt nach unten gehen.« Es wurde dunkel um sie, als der Ingenieur seine Taschenlampe ausknipste. »Ich dachte, wir hätten die Tür offengelassen«, sagte er, die Lampe wieder anknipsend. »Hatten wir doch?« »Ja, hatten wir«, bestätigte Bony. »Genauer gesagt: Ich ließ sie offen, bevor ich mich auf die Kiste setzte und mir eine Zigarette drehte. Der Wind muß sie zugeschlagen haben.« »Glaube ich kaum. Sie ist zu schwer.« Und die Tür war wirklich zu schwer beweglich für den verhältnismäßig schwachen Wind. Der Hund wartete auf dem Hof. Er keuchte. Bony sah, daß das Gittertor geschlossen war, wie er es gelassen hatte, und sah auch, daß zwischen dem Eingang zum Leuchtturm und dem Gittertor eine dritte Reihe von Fußspuren neu entstanden war. Abdrücke eines Männerschuhs. Während Fisher ihn neugierig beobachtete, schlenderte er zum Tor, ohne den Ingenieur merken zu 32
lassen, daß er diese Fußspuren studierte, die an manchen Stellen seine eigenen und die von Fischer überdeckten. Er öffnete das Tor und blickte hinaus. Da er niemanden sah, schloß er es wieder. Während sie oben beim Leuchtfeuer gewesen waren, mußte jemand auf dem Hof gewesen und wieder gegangen sein, und zwar ein Mensch mit Männerschuhen von Größe 39 bis 40. Und das Merkwürdigste – Bony stellte es an diesen Abdrücken fest – war, daß der Betreffende beide Wege auf den Fußspitzen gegangen war. Merkwürdig schon deshalb, weil der Erdboden so weich war, daß sogar ein Pferd hätte über den Hof laufen können, ohne daß es im Leuchtturm zu hören gewesen wäre.
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rs. Washfolds Warnung war nicht unberechtigt gewesen: Bony spürte seine Beinmuskeln vom Klettern im Leuchtturm und verzichtete zum Teil deshalb darauf, der Person nachzuspüren, die in den kleinen Schuhen oder Stiefeln von der Umzäunung aus durch das harte Gras davongegangen war. Er prägte sich die Fußspuren so genau ein, daß er sie noch nach einem Jahr wiedererkennen könnte. Ein Stückchen zur Bucht hinab war eine Bank. Hier rauchte Bony eine Zigarette und schob Stug, der sich auf seinen Fuß setzen wollte, um die Flöhe abzukratzen, sanft von sich. Der alte Hund verstand das: Er legte sich, den Kopf auf den Vorderpfoten, Bony zu Füßen und betrachtete ihn ergeben. »Sonderbare Dinge geschehen hier, Stug«, sprach Bony vor sich hin. »Ein Bekannter von dir – bestimmt kennst du ihn – lauft auf den Zehenspitzen, wo das gar nicht nötig ist, aber draußen vor dem Leuchtturm tritt er fest auf mit seinen Schuhen. Hat ein bißchen Spreizfuß, so wie die Tauben, weißt du. Könnte ein Jockei sein. Jockeis 33
sind gewöhnlich klein von Gestalt, und jeder Berufsreiter hat Anlage zum Spreizfuß. Na ja, eines Tages werden wir ihn schon finden.« Eine Erhöhung hinter der Bank schützte Bony und den Hund ganz gut vor dem kalten, salzigen Südwind. Die Sonne stand tief über den fernen Bergen hinter Lome, und Bony fand es angenehmer, hier auf der sanften Anhöhe über der Bucht zu sein als auf dem Leuchtturm, wo Fischer jetzt die Fensterscheiben putzte. In der Akte zu diesem Fall war die Tatsache, daß Fisher von Melbourne gekommen war, um seine bei der letzten regulären Inspektion nicht vollendete Arbeit zu Ende zu führen, überhaupt nicht erwähnt. Eine erhebliche Unterlassungssünde in Bonys Augen. Wenn auch Bolt erklärt hatte, es sei kein Beweis dafür vorhanden, daß das Opfer im Leuchtturm oder nahe bei ihm erschossen wurde, sprach doch vieles für die Theorie, daß der Mord im Turm geschehen war, da am Geländer der Wendeltreppe Fingerabdrücke des Opfers festgestellt worden waren. Als gewiß konnte vorausgesetzt werden, daß der Mörder leicht in den Leuchtturm gelangt war. Das Vorhängeschloß am Tor und das Schloß der Turmtür waren zwar beide stark, aber von altmodischer, simpler Konstruktion. Fachleute hatten bei genauer Untersuchung festgestellt, daß keins der Schlösser gewaltsam geöffnet worden war. Entweder waren die dazugehörigen Schlüssel entwendet und benutzt worden, oder Nachschlüssel oder ein Dietrich. Nach der amtlichen Version mußten sich wahrscheinlich der Mörder und sein Opfer im Leuchtturm gut ausgekannt haben, so daß zunächst Einheimische der Tat verdächtig waren – zumal der Mörder den ungefähren Zeitpunkt der nächsten Leuchtturmkontrolle gekannt haben mußte. Er hatte die Leiche in die Wandkammer geschoben, in der Hoffnung, mehr Zeit zu gewinnen, als er gehabt hätte, wenn sie auf der Treppe liegengeblieben wäre. So war er von der Annahme ausgegangen, daß der Tote mindestens zwei Monate unentdeckt bleiben würde. Durch außergewöhnliche Umstände wurde der Mord aber schon binnen vierundzwanzig Stunden entdeckt. Wie Bony selbst festgestellt hatte, konnten Personen, die vom Vorhandensein des Wandraumes nichts wußten, beim Benutzen der Treppe die Türklappe gar nicht bemerken, zumal die Fläche genau im 34
Farbton der Wand gestrichen war und so wenig abstach, daß ein Fremder sie sogar mit einer Taschenlampe kaum gesehen hätte. Diese Wandkammer war ein paar Wochen vor Weihnachten von drei Fachleuten ausgebaut worden – Männern, die in einem großen Bezirk ständig Reparaturen an automatischen und anderen Leuchtfeuern auszuführen haben. Wie Fisher waren auch sie schon lange Jahre tätig, wurden aber trotzdem, wie er, durch Bolts Beauftragte eingehend verhört. »Sieht mir aus, Stug, als ob der Herr, der uns interessiert, ein Mann vom Leuchtturmdienst ist«, sprach Bony zu dem Hund. »Freilich haben sie nach der Polizeiakte alle nicht nur einen tadellosen Ruf, sondern es hat auch keiner von ihnen besondere Beziehungen zu Einheimischen. Und um uns weiter zu verwirren, hat Fisher mir auch noch erklärt, jeder Ortsbewohner kenne bestimmt die ungefähren Daten der periodischen Kontrollen. Frage: Weiß auch jeder Einheimische vom Vorhandensein der Wandkammer?« Die Fachleute, die den kleinen Raum ausmauerten, werden die Arbeit kaum für so bedeutungsvoll gehalten haben, daß sie mit Fremden darüber gesprochen hätten. Vielleicht aber hat jemand, als sie bei dieser Arbeit waren, darum gebeten, zum Leuchtfeuer hinaufsteigen zu dürfen, sich dabei die Lage der Wandkammer gemerkt und beschlossen, von ihr Gebrauch zu machen. Die Schlösser am Tor und am Turmeingang konnten selbst für einen noch ganz unerfahrenen Einbrecher kein Problem bilden. Aber die Fachleute haben vor der Polizei ausgesagt, daß während ihrer Arbeitszeit niemand den Turm besteigen wollte, wozu er die Erlaubnis ohne weiteres bekommen hätte. Über die Identität des Opfers war trotz der mit Bildern veröffentlichten Beschreibung nichts weiter festzustellen. Sein Alter wurde auf vierzig bis fünfundvierzig Jahre geschätzt. Er war einen Meter achtzig groß, wog genau fünfundsiebzig Kilo, hatte Schuhgröße vierzig, Kragenweite neununddreißig, Hutnummer sechsundfünfzig, Augen braun, Haar hellbraun und lockig. Einziges besonderes Kennzeichen: ein Muttermal zwischen den Schulterblättern. Eine Reihe von Personen hatte sich den Toten ansehen dürfen, aber niemand hatte ihn identifiziert. 35
»Es muß außer dem Mörder noch jemanden geben«, meditierte Bony, »der den Toten erkennen würde. Niemand kann so völlig vereinsamt sein, daß sein Bild nicht wenigstens im Gedächtnis eines einzigen Menschen lebt. So wird sich bestimmt auch jemand dieses Unglücklichen erinnern.« Der Mann war mit einem gewöhnlichen 32er Revolver erschossen worden. Die Kugel hatte das Herz durchbohrt und war im Rückgrat stecken geblieben. Nach dem Einschußwinkel mußte der Mörder höher gestanden haben als sein Opfer. Die Annahme, daß das Verbrechen innerhalb des Leuchtturms verübt wurde, bekam also noch mehr Gewicht durch die Theorie von dem Mörder, der von der Treppe aus schoß. Was sollte er mit diesen mageren Tatsachen anfangen? Die Leiche hatte niemand identifizieren können. Die Kleidung konnte nicht gefunden werden. Ebensowenig der Tatort, da sich dieser nicht genau fixieren ließ. Blut war am Körper in der Nähe der Wunde und um den Mund festgestellt worden, aber keine Spur auf den Treppenstufen oder an der Wand des Leuchtturms. Daß in der Wandkammer keine Blutflecken zu sehen waren, besagte nur, daß der Körper schon nicht mehr geblutet hatte, als er hineingeschoben wurde. »Nun wird von mir erwartet, Ordnung in diese ganze Verwirrung zu bringen und in ein paar Tagen zu klären, wer die Tat begangen hat und warum, und wo der Schuldige zu finden ist«, sagte Bony zu Stug. »Fisher meldet seine Entdeckung, die einfache Polizei kommt und trampelt hier ’rein und ’raus – das nennen sie Teamwork, Stug, gemeinsame Arbeit. Und dann haben sie es eilig, in die Kneipe zu kommen und einen zu trinken, deshalb verhaften sie den ersten Verdächtigen. Morgen oder übermorgen bekomme ich wahrscheinlich eine Mitteilung, meine Assistenz bei der Polizei von Victoria sei auf eine Woche oder zehn Tage beschränkt worden, und noch anderer Ärger wird mir bereitet, um mich daran zu erinnern, daß ich nur ein kleiner Beamter bin. Man wird mir klarmachen, daß ich entlassen werde und meine Frau und Kinder hungern müssen, wenn ich mich nicht anstrenge. Ein ›kleines‹ Problem ist nur zu lösen, Stug! Aber lösen werden wir es selbstverständlich, allerdings im eigenen Zeitmaß, nicht nach der Stoppuhr vom Boss. Hier sitzt es sich recht angenehm, und jetzt, da die Sonne sinkt, genehmigen sich in der Bar des ›Hotels zur Bucht‹ die 36
Männer ihren Abendschoppen. Und wo Männer trinken, ist etwas zu erfahren.« Ein toller Fall! Und was für ein Schauplatz für die Tat! In der Seeluft wurden Bony die Augen ganz schwer, als habe er lange nicht geschlafen. Mit raschen Schritten ging er den Hang hinab zur Landstraße und die Steigung zum Hotel hinauf, ohne noch an seine Beinmuskeln zu denken. Ihm schienen Melbourne und sein Vorgesetzter Bolt, Verbrechen und Verbrecher jetzt so weit entfernt wie der Mars, und noch ferner schien ihm Brisbane zu liegen, wo Colonel Spender wohnte. Es war schön, in dem Bewußtsein zu leben, daß er bisher weder seine Vorgesetzten noch sich selbst enttäuscht hatte. Vor allem sich selbst nicht. Trotz der Schmerzen in den Beinmuskeln marschierte er elastisch weiter. Vor der Gaststube stand ein großes Lastauto voll Brennholz. Drinnen tranken zwei Männer das ihnen von der Wirtin servierte Bier. Die Maurer vom Neubau waren allerdings noch nicht da. Als Bony eintrat, legte Stug sich auf die Fußmatte an der Tür. »Hallo, Mr. Rawlings!« rief Mrs. Washfold. »Na, was sagen Sie zu unserem Leuchtturm? Ganz bestimmt merken Sie Ihre Beine, wie?« »Nur ein bißchen, Mrs. Washfold.« Sie trug ein schwarzes Kleid und paßte mit der Fülle ihres Leibes nur knapp in den engen Raum hinter der Theke. Ihr ungeschminktes Gesicht war frisch gewaschen und glänzte vor Sauberkeit. Das Lächeln, mit dem sie Bony empfing, war völlig unbefangen und galt zugleich auch den zwei anderen Gästen. Der eine war groß, gut gebaut und von der Sonne so tiefrot gebrannt wie der Ocker, den die Eingeborenen in Südaustralien entdeckt haben. Der andere war klein und rundlich, bewegte sich aber schnell und gewandt. Seine Haut war dunkler als Bonys. Im Alter mochten sie gleich sein, ungefähr dreißig. Beide hatten graue Augen. Bony zog fragend die Brauen hoch. »Wollen Sie mit mir ein Glas trinken?« schlug er vor. »Hätte nichts dagegen«, antwortete der Größere. Der Kleine lächelte, langsam, aber erfreut zustimmend. »Wenn Sie mich fragen – ich trinke mit jedem, der Lust dazu hat. Sie waren oben im Leuchtturm, wie?« 37
»Natürlich ist Mr. Rawlings hinaufgeklettert«, warf die Wirtin ein. »Ich hab’ ihn mit dem Ingenieur zusammen auf dem Balkon gesehen. Ich wäre nicht für hundert Pfund mitgegangen.« Sie setzte ihnen die gefüllten Gläser hin. »Nicht für tausend gehe ich da noch mal ’rauf.« »Für tausend Pfund würde ich bis auf die Kuppel klettern und da oben einen Kopfstand machen«, sagte der Lange. »Und ich«, fügte sein Kollege hinzu, wieder breit lächelnd, »ich ginge mit und hielte dir die Beine fest. Für tausend Pfund mache ich glatt alles, Mensch! Zum Wohl!« Sie tranken. Bony hätte jetzt am liebsten ganz laut gesprochen, doch die gemächliche Ruhe und das selbstbewußte Auftreten dieser Männer hielten ihn zurück. Der Größere fragte: »Haben doch keinen Toten in der Wandkammmer gesehen, oder doch?« »Nein«, antwortete Bony, »ich bin hinaufgestiegen, um die Leuchtanlage zu besichtigen. Sie ist wirklich prächtig. Von dem Mord habe ich natürlich gelesen, aber mich hat das Leuchtfeuer viel mehr interessiert.« »Eine komische Sache war das mit dem Mord«, erklärte der Große. Sein Begleiter blickte ihn an, mit eigenartigem Lächeln, als erwarte er einen Scherz. »Saubere Arbeit jedenfalls. Ich muß sagen, daß eine gute Mordgeschichte mir Spaß macht.« Das Lächeln auf dem Gesicht des andern vertiefte sich, offenbar mehr aus Sympathie für seinen Kollegen als aus angeborenem Humor. Mrs. Washfolds Stimme klang scharf. »Mir aber nicht, Moss, und Mr. Rawlings bestimmt auch nicht.« »Beachtenswert ist immerhin, daß kein Mensch das Opfer identifizieren kann«, sagte Bony, als müsse er einem Streit vorbeugen. »Der Mann muß wohl ein zufälliger Besucher gewesen sein, denn ein Einheimischer wäre doch inzwischen vermißt worden.« »Ja«, stimmte der Kleine ihm bei und sagte zu Mrs. Washfold: »Eric hat mir erzählt, daß er, ebenso wie alle anderen Bierfahrer, nach Melbourne geholt wurde, sich den Toten anzusehen, aber keiner konnte sich an den erinnern, keinem war er über den Weg gekommen.« »Eric? Wer ist Eric?« fragte Bony gleichgültig. »Fährt einen Bus auf der Strecke von Lome nach Geelong.« 38
»In der Zeit müssen Sie ja ein ganz lebhaftes Geschäft gehabt haben, Mrs. Washfold«, sagte Bony, worauf die Wirtin ihr Kinn mißbilligend vorschob. »Vierzehn Gäste und sechs, sieben Kriminalbeamte. Auch der Chef der Kriminalpolizei war dabei und Inspektor Snook. Für den Inspektor hatte ich keine Zeit, aber der Oberinspektor war wirklich ein feiner Mann. Die müssen schön enttäuscht gewesen sein, daß sie nichts ’rausgekriegt haben.« »Ach, seien Sie nur nicht zu sicher, daß die nichts restgestellt haben«, widersprach der Große. »Die plaudern doch nicht alles aus, was sie wissen, und aufgeben tun die ihre Arbeit nie. Wißt ihr nicht mehr: die Sache mit dem Mädchen im Pyjama? Jahrelang kam nichts ’raus, und auf einmal hatten sie den Kerl.« »Ja. Und was dann?« fragte die Wirtin schroff. »Sprachen ihn schuldig, gaben ihm ein oder zwei Jahre Gefängnis und schoben ihn ab in seine alte Heimat. Bezahlten ihm sogar noch die Überfahrt.« Die Hintertür öffnete sich. Der Wirt erschien. Er sammelte die leeren Gläser ein, die seine Frau vor lauter Spannung übersehen hatte. Auch die Männer hatten offenbar das Trinken vergessen, denn sie hörten ihr interessiert zu. Als Washfold zu seiner Frau ging, konnten beide sich hinter der Theke kaum umdrehen. »Olle Kamellen«, schnaubte Washfold. »Worauf warten wir denn eigentlich?« Er ergriff die Gläser und begann sie zu füllen. »Ich hatte gesagt«, bemerkte der Lange, »daß die Polizei den Kerl, der den Leuchtturmmord auf dem Gewissen hat, schnappen wird – morgen, übermorgen, oder irgendwann. Da wette ich.« Sein Kumpan lächelte Bony zu. »Das kann uns doch ganz schnurz sein, was?« »Wette ’n Pfund, daß sie den Mörder findet«, sagte der andere hartnäckig. »Nein, fünf«, steigerte der Kleine die Wette, indem er ein Bündel Scheine aus der Gesäßtasche zog. »Fünf Pfund, all right, fünf!« antwortete der Lange und zog gleichfalls einen Packen Scheine hervor. »Ehrliche Wette«, sagte der Kleine und steckte sein Bündel wieder ein. »Einverstanden«, gab sein Kollege zurück und tat dasselbe. 39
Washfold beugte sich über die Theke zu Bony und sagte laut: »Masse Geld, was? Die armen unterdrückten Arbeiter, die von den Kapitalisten ausgehungerten Arbeiter. Und Sie und ich, Mr. Rawlings, wir müssen bis aufs Blut schuften, um faule, hungrige Weiber zu ernähren, die lieber das Essen anbrennen lassen, als auf ihre Schwätzerei zu verzichten. All right, Dick, jetzt können Sie einen ausgeben. Und Sie auch, Moss.« »Tu’ ich auch«, sagte der Kleine, wieder lächelnd. Der alte Filzhut saß ihm keck auf dem Hinterkopf, das Lächeln schien ihm einfach angeboren. Mrs. Washfold quetschte sich durch die Klappe an der Theke, um durch die Hintertür hinauszugehen. Dick Lake faßte sie am Arm und sagte: »Bleiben Sie hier bei uns, wir wollen Ihren Alten beim Bierzapfen mal ordentlich ins Schwitzen bringen. Wetten, daß ich mehr Bier trinken kann als Sie?« »Die Wette nehme ich nicht an, Dick Lake«, erwiderte die Wirtin in einem aus Scherz und Entrüstung gemischten Ton. »Ach seien Sie kein Unmensch, Mrs. Washfold, machen Sie ’n Spaß mit. Wenn ich noch zwei trinke, bin ich sowieso erledigt.« »Eine Runde will ich mit euch trinken, Jungens, aber nur eine! Ich muß mich ums Essen kümmern.« »Übelste Kneipe, die ich kenne. Keine Menschenfreundlichkeit, kein Sinn für „n bißchen Sport. Mir noch ’n doppelten, Bert!« Der als Moss angeredete Mann gesellte sich zu Bony. »Haben Sie nicht mal in die Wandkammer geblickt?« fragte er erwartungsvoll. »Der Ingenieur hat sie mir gezeigt«, gab Bony zu, »aber ’reinsehen wollte ich wirklich nicht, das können Sie sich wohl denken.« »Herrjeh, da ist Ihnen aber was entgangen! He, Dick, wie sieht die Wandkammer im Turm aus? Du hast ja mitgearbeitet, vor Weihnachten, als die Leute aus Melbourne die Reparaturen machten. Wie groß ist das Ding?« Lake, der noch mit Mrs. Washfold sprach, drehte sich zu ihm um. »Ist bloß ’n Loch in der Wand, ’n Stückchen über der ersten Plattform. Vorher war da ’n Fenster, da hatten sie immer die Warnlaternen stehen. Der Polier ließ das zumauern und ’ne Tür anbringen, damit es als Wandschrank für Ersatzteile benutzt werden kann.« »Wie groß ist der Raum?« drängte der Lange. 40
»Ein Meter zwanzig hoch, tief und breit. Jedenfalls groß genug, daß ein Mann ’reinpaßt.« »Sie waren auch beim Schiffahrtsamt tätig?« fragte Bony. »Ich? Niemals. Wurde nur zur Aushilfe angeheuert, als die zum Reparieren hier waren. Angenehmes Arbeiten, anständiger Lohn. Komisch war, daß ich beinah sieben Schillinge mehr die Woche gekriegt habe als die Facharbeiter, die überall hochklettern mußten. Die Leute sagen immer, ein Werftarbeiter verdient mehr wie ’n Universitätsprofessor, und da haben sie nicht ganz unrecht.« »Waren außer Ihnen noch Hilfskräfte beschäftigt?« »Nein, bloß ich. – Bleiben Sie ’ne Weile hier im Ort?« »Ein paar Wochen bleibt er gewiß noch«, warf die Wirtin ein. »Wir aber nicht«, erklärte der Lange, während der Kleine zuerst Bony, dann Mrs. Washfold anlächelte und sich von seinem Kollegen zum Lastwagen begleiten ließ. Mrs. Washfold entwischte zur Küche. Der Wirt erklärte Bony, Dick Lake und Moss Way seien ein Paar ›Typen‹ für sich, die zusammen mit Lastwagentransporten, vor allem mit Holzfahren, ihren Unterhalt verdienten. Bony hörte ihm nur mit einem Ohr zu. Merkwürdig, daß in der Akte von einem Hilfsarbeiter beim Reparaturtrupp überhaupt nichts erwähnt war. Fisher kam mit drei Maurern herein. Es wurde auch Zeit, wenn sie vor dem Essen noch eine Runde trinken wollten, denn schon schlug Mrs. Washfold den Gong zum Abendessen an, und ihr Mann rief: »Sechs Uhr, meine Herren!« Bony gab beim Essen Fisher den Auftrag, nach Melbourne zurückzufahren, ihm aber die Leuchtturmschlüssel dazulassen. Als die erste Woche seines Aufenthalts auf Split Point zu Ende ging, gefiel Bony die Gegend recht gut. In Melbourne grübelte Oberinspektor Bolt, wie weit Bony mit seinen Ermittlungen gekommen sein mochte, und in Brisbane wünschte der Polizeichef des Bezirks Queensland, Colonel Spender, zu wissen, was erstens – zum Donnerwetter! – dieser verflixte Bonaparte sich einbildete, so lange in Victoria herumzubummeln, und zweitens, was ihn selbst eigentlich veranlaßt hatte, seinen besten Beamten an einen anderen Distrikt auszuleihen! Bony kümmerte sich im Augenblick nicht um die schnell vergehende Zeit und die Notwendigkeit, bald Resultate zu erreichen. Er saß 41
auf einer Bank und beobachtete den alten Penwarden, der Holz für die billigen, von Bestattungsunternehmern in Melbourne bestellten Särge bearbeitete. Ihm schien es, als werde dieser alte Mann noch dreißig Jahre lang so fleißig schaffen, und fast meinte er, es selbst auch auf hundert Jahre bringen zu können. Beide lebten ohne Zeitbewußtsein, sie hatten sich nie hetzen, nicht von Vorgesetzten ärgern oder durch Verdruß unterkriegen lassen. Bony fühlte sich innerlich mit Penwarden verwandt, der durch alle Lebensalter gegangen war und sich noch so viel jugendliches Wesen bewahrt hatte. Er besuchte den alten Schreiner jetzt zum drittenmal. Als er ihn bat, den für Tom Owens Frau gefertigten Sarg noch einmal betrachten zu dürfen, erlaubte Penwarden es ihm sofort. So ging er in den kleinen Anbau, hob die Decke von dem Sarg und stand sinnend vor der prachtvollen Arbeit des alten Meisters. Als Penwarden zu ihm kam, hatte er gerade den Deckel aufgeklappt und war ein wenig zurückgetreten, um besser zu sehen, wie der wunderbare Glanz tief leuchtend in das Holz einzudringen schien. Ruhig sagte der Alte: »Das Leben ist eine Schmiede, Sorge ist das Feuer und Schmerz der Hammer. Der Tod kühlt das heiße Eisen … Wollen Sie den mal probieren?« An Penwardens Haltung – wie er dastand und ihm, die Fingerspitzen sanft auf eine Seitenwand des Sarges gelegt, ins Gesicht blickte – merkte Bony, daß er diese Aufforderung als hohe Ehre einschätzen mußte. Und der Alte sagte: »Würde Ihnen fein passen. Nur die Schuhe ausziehen, sonst gibt’s Kratzer.« Er sah das leichte Aufblitzen in Bonys Augen, bemerkte das kurze Zögern vor der Annahme des Vorschlages. Bony zog seine Schuhe aus, stieg in den Sarg und legte sich hinein. Er spürte, wie sich das Holz in sanften Rundungen seinem Rückgrat und den Schultern anpaßte, und fühlte die Nackenstütze. Es war nicht unbequem, in diesem Sarg zu liegen. Er schaute in die glänzenden blauen Augen des Alten, die ihn gespannt ansahen. »Im Bett könnte ich auch nicht behaglicher liegen«, sagte er und strengte sich an, hochzukommen und herauszusteigen. »Mit geschlossenem Deckel würden Sie es wohl nicht gern probieren?« fragte Penwarden hoffnungsvoll. »Hm – ich …« Der Alte lachte und strich sich mit den schwieligen Fingern das Haar aus der Stirn. 42
»Wenn der Deckel zu ist, sehen Sie nämlich nicht den kleinsten Lichtschimmer. Anders als bei den Kisten aus dünnen Kiefernbrettern und solchem Zeug, wie ich’s gesehen habe. Genauso bauen sie ja heutzutage die Häuser.« »Hat Mrs. Owen noch nicht ihre zweite Anprobe gemacht?« Penwarden lachte gurgelnd, seine blauen Augen funkelten fröhlich. »Ach, die hat ja Angst«, sagte er. »Sie hat dieselbe Größe wie Sie, auch die Figur, nur sind natürlich Ihre Hüften schmaler.« Er beklopfte den Sarg zärtlich mit der Linken, während die Rechte mit einem Tuch die Fingerabdrücke wegpolierte, die sie auf dem Deckel gemacht hatten. »So muß ich mich mit Ihrer stellvertretenden Anprobe begnügen. Und Sie fanden ihn ja bequem, und er paßt unten am Rücken und an den Schultern besonders gut, nicht wahr? Ich glaube, ich werde Owen mitteilen, daß die zweite Anprobe nicht nötig ist.« »Owen selbst hat ja schon seinen Sarg, sagten Sie doch«, bemerkte Bony und hütete sich zu lachen. »Ganz recht, hat er. Seinen habe ich vierundvierzig gemacht. Und für Eli Wessex und seine Frau zwei Jahre nach dem Weltkrieg, beide aus Teakholz.« »Ist da nicht eine Tochter im Hause? Haben Sie für die auch einen gemacht?« »Mary Wessex! Nein. Erstens ist die zu jung, und dann – na ja, Mr. Rawlings, die Leute, die einen bestellen, müssen eben schon fest im Leben stehen und eine richtige Existenz haben, sozusagen als Teil ihrer Umgebung. Junge Mädels wünschen sich keinen Sarg, sondern schöne Schmucktruhen. Ich habe für Mary eine von Seideneiche aus Queensland gemacht. Sie wollte nämlich einen jungen Mann aus der Gegend von Geelong heiraten, doch er ist im Krieg gefallen.« »Sehr traurig für das Mädchen«, warf Bony ein. »War’s auch. Hat sich das zu sehr und viel zulange zu Herzen genommen. Ihr Bruder Eldred ging auch in den Krieg und kam ebenfalls nicht wieder. Ist aber nicht gefallen oder dergleichen, müssen Sie wissen. Er ging nach Amerika.« Penwarden betrachtete mit verkniffenen Augen die gehobelte Kante eines Brettes. Im Eukalyptusbaum draußen stieß ein Vogel sein kekkerndes Gelächter aus, das ein zweiter in der Nähe wie ein Echo zurückgab. Auf der Landstraße nahm ein Motor hart arbeitend die 43
Steigung zum Postamt. Mit dem Brett unterm Arm ging der alte Mann, von Bony gefolgt, wieder zur Werkbank. »Von dem Mord hier bei uns haben Sie gewiß auch gehört?« fragte er, und Bony zwinkerte vor Erstaunen über den plötzlichen Gesprächswechsel sozusagen innerlich mit den Augen. »Ja, natürlich.« »Sehr geheimnisvolle Sache, muß ich sagen. Kein Mensch hier in der Gegend kennt den Mann im Leuchtturm, noch nicht einmal von Ansehen. Die Polizei scheint mit dem Fall ziemlich auf dem trockenen zu sitzen, was?« »Sicher. Haben Sie den Toten selbst gesehen?« »Habe ich. Der Oberinspektor kam her und bat mich hinzukommen, weil ich schon so lange hier wohne, daß ich ihn kennen müßte. Aber ich kannte ihn nicht. Nie gesehen. Auch sonst kannte ihn keiner aus der Gegend. Muß von anderswo hergebracht worden sein, oder vielleicht war’s ein Sommergast. Ein Jammer, die Geschichte. Bringt den Ort in schlechten Ruf. Wäre auch nicht passiert, wenn wir noch Leuchtturmwärter gehabt hätten.« »Das Feuer wurde vor dreißig Jahren auf automatischen Betrieb umgestellt, wie ich hörte. Sie sind doch sicher mal oben gewesen?« »Oben gewesen? Mehr als einmal, in meinen jungen Jahren. Höchst sonderbar, daß sich kein Mensch gemeldet hat, der den Toten kannte, wo doch die Zeitungen sogar sein Bild und alles gebracht haben. Irgendwer müßte ihn doch kennen.« »Ich halte es für möglich, daß er in einem der vielen Bungalows in der Umgebung getötet wurde«, gab Bony zu bedenken. »So wird’s wohl gewesen sein«, stimmte der Alte ihm zu. »Schließlich kann vielerlei passiert sein, was uns sinnlos erscheinen mag.« »Was mir dabei so ungewöhnlich vorkommt, ist, wie das Opfer oder der Mörder in den Leuchtturm gelangt sind«, murmelte Bony. »Die Schlüssel werden doch, wie der Ingenieur mir erklärte, ständig in Melbourne aufbewahrt.« Penwarden legte sich das Brett auf der Werkbank zurecht und ergriff einen Hobel. »Die Schlösser am Leuchtturm sind leicht mit Nachschlüsseln zu öffnen. Für das Vorhängeschloß hier zu meiner Tür benutze ich auch einen Nachschlüssel. Den habe ich mir vor drei Jahren gemacht, als ich den richtigen Schlüssel verloren hatte. Und die 44
Schlösser am Leuchtturm sind auch ganz einfache Dinger.« Der Hobel begann zu schneiden, die Späne rollten in Locken auf den schon hoch bedeckten Boden hinab. Bony kam wieder auf die Sommerhäuser zu sprechen. Ja, es konnte ohne weiteres ein Hausbesitzer seinen Bungalow an jemanden vermietet haben, den er persönlich gar nicht kannte, wenn er nämlich die Sache brieflich abmachte. Unter diesem Gesichtspunkt sah Bony für seine Arbeit noch größere Schwierigkeiten voraus, denn sicherlich hatten Bolt und seine Leute sowie die örtliche Polizei auch diese Möglichkeit schon erwogen und nichts feststellen können. »Vermutlich hat der Leuchtturm den Einheimischen nie viel zu verdienen gegeben«, sagte er, während er müßig die Maserung der vom Hobel abfallenden Späne studierte. »Nein, von Anfang an nicht«, antwortete der alte Mann. »Manchmal nehmen sie ja Hilfsarbeiter, wenn der Reparaturtrupp von Melbourne kommt. Voriges Jahr hat der junge Dick Lake da ein paar Wochen geholfen und sich ein bißchen Geld verdient.« »Das war wohl damals, als aus dem früheren Lampenwinkel eine Art Wandkammer gemacht wurde, oder?« »Ganz recht.« »Darüber wußten Sie also Bescheid?« »Daß sie die Wandkammer ausgemauert haben? Ja. Hier geht so leicht nichts vor, ohne daß ich’s gewahr werde. Der Kerl, der den Toten da hineingepackt hat, muß auch vorher über den neuen Raum Bescheid gewußt haben.« »Ganz meine Ansicht. Und hat Nachschlüssel gehabt.« Penwarden hielt mit Hobeln inne und starrte seinen Besucher an. »Sehr richtig«, sagte er. »Oder sie müssen sich Abdrücke von den Turmschlüsseln gemacht haben, um hineinzukommen.« »Sie? Meinen Sie denn, daß an dem Mord mehr als einer beteiligt war?« Die zwei blauen Augenpaare fixierten einander scharf. Bony hielt den Blick länger aus, der Alte beugte sich über seinen Hobel und schob ihn emsig hin und her. »Vielleicht«, sagte er. »Ich weiß es nicht. Kann mehr als einer beteiligt gewesen sein. Hat aber für uns wenig Zweck, darüber zu reden, wir bewegen uns nur im Kreise. Ich fand es überhaupt unsinnig, den 45
Toten in diese Wandkammer zu packen, und über sinnlose Vorgänge zerbreche ich mir nicht den Kopf. Das sollen die Leute tun, die dafür bezahlt werden. Mord kommt immer ans Tageslicht, mal früher, mal später. Und dann zieht Kummer in unschuldige Herzen ein, und die Sonne scheint für sie nicht mehr.« Fortwährend ringelten sich die weißen Späne aus dem Hobel und fielen auf die vom roten Holz. Bony nahm einen roten Span auf, um die Maserung mit der bei den weißen zu vergleichen. In die friedliche Stille brach der Lärm eines Motors, der die Ohren beleidigte, aber glücklicherweise rasch abbrach. Laute Stimmen erklangen, die Holzfahrer kamen herein. »Guten Tag, Ed!« rief Moss Way. »Wie geht’s?« ergänzte der Jüngere, Dick Lake, indem er Bony übermütig zunickte. »Wollen Sie einen Sarg für sich selber bestellen?« »Eine großartige Idee«, erwiderte Bony lächelnd, während Lake köpf nickend auf den Nebenraum wies und fragte: »Der da drin ist ganz prima, was? Schon gesehen?« »Mr. Rawlings hat sich den Sarg angesehen«, unterbrach der alte Penwarden ziemlich schroff. »Was habt ihr zwei für Wünsche?« »Gar keine«, antwortete Lake mit breitem Grinsen. »Dachten, daß Sie vielleicht von uns was wollen. Ihre Frau hat gesagt, sie braucht Brennholz, und wir wollen morgen eine Ladung von der besten Sorte holen.« Der Alte setzte seinen Hobel ab und zog eine Tonpfeife aus der Tasche. Dick Lake hob einen Span vom Boden und kaute darauf. Bony gewann den Eindruck, daß die drei Männer sich in feierlicher Beratung über Brennholz unterhalten wollten. »Eisenholz will ich aber nicht haben«, sagte Penwarden. »Gibt zuviel Hitze, ruiniert mir die Herde. Wohin fahrt ihr denn?« »Ein Stück hinter Sweet Fairy Ann«, antwortete Moss. »Fred Ayling hat jetzt sein Lager bei Watsons Creek. Hat uns mitgeteilt, daß er über hundert Tonnen geschlagen hat, gemischtes Holz, hauptsächlich Buchsbaum.« »Oh! Und wieviel wollt ihr mit einer Führe über Sweet Fairy Ann herschaffen?« fragte Penwarden. »Wir laden immer eine ganze Wucht«, fiel Lake ein, »zehn Tonnen.« »Zehn Tonnen kriegt ihr nie her.« 46
»Wer sagt das?« fragte Moss. »Ich«, erwiderte Penwarden. »Das hält der Weg da nicht aus. Euer Wagen wird sicher abrutschen und in den Fluß stürzen.« »Meinen Sie?« Dick Lake grinste Bony zu. »Ich kann unseren Wagen glatt durch die Hölle fahren, hin und zurück, ohne daß er angesengt wird.« »Zweiundzwanzig Zugochsen mit einem Rollwagen und zwei Mann sind dort 1915 abgerutscht«, sagte der Alte. »Und noch ehe sie in den Fluß fielen, brach der Abhang bei Fair Ann los und stürzte ihnen nach. Ihr seid diesen Weg noch nicht gefahren.« »Zweimal schon«, behauptete Lake. »Seitdem hat aber Fred Ayling den Hang ein bißchen abgestützt. Der Weg trägt unseren Wagen ohne weiteres.« »Was zieht ihr vor – Kiefer oder Oregonfichte?« bot Penwarden an. »Kostenpunkt?« fragte Moss gedehnt. »Aus Oregonfichte mache ich sie für zwölf Pfund das Stück«, antwortete der alte Mann. »Auch wasserdicht und so?« Die blauen Augen blitzten. »Meine Särge sind alle wasserdicht. Bestellt lieber jetzt gleich jeder einen, wenn ihr absolut mit zehn Tonnen nach Sweet Fairy Ann fahren wollt.« »Das schaffen wir. Wieviel Tonnen sollen wir für Sie mitbringen?« »Die ganzen zehn – wenn ihr sie ’rüberkriegt.« Lake, der sich niedergehockt hatte, stand auf. »Okay«, sagte er und wandte sich an Bony: »Haben Sie Lust, mitzukommen? Die Gegend anschauen und so?« »Fahren pünktlich um sieben morgen früh vor und kommen gegen fünf zurück«, ergänzte Moss Way. Da die Einladung so freundlich erfolgte, war Bony gewonnen. Penwarden, der gerade die Pfeife, über die er ein brennendes Streichholz hielt, in den Mund schieben wollte, stutzte einen Augenblick, als Bony zusagend nickte. Die beiden andern gingen zur Tür, und Lake sagte noch: »Wir holen Sie Punkt sieben Uhr hier vom Lokal ab. Nehmen Sie sich Verpflegung mit, aber kein Bier.« »Weshalb denn kein Bier?« wollte Bony wissen. »Werden Sie sehen – morgen.« 47
Und Penwarden sagte, seine Pfeife paffend: »Für Sie mache ich einen aus Schwarzholz von Victoria, verehrter Mr. Rawlings. Fünfundzwanzig Pfund, und paßt Ihnen unter Garantie wie’n Federbett.«
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ine ganze Woche war vergangen und noch nichts ermittelt, was eine Meldung an Oberinspektor Bolt wert gewesen wäre. Bony hatte die Umgegend erforscht, teils zu Fuß, teils in Bolts Wagen. Regelmäßig war er vor dem Abendessen in der Gaststube erschienen und hatte mehr Bier getrunken als nötig. Gehalt und Familienpflichten zwangen ihn, seine großzügigen Neigungen im Zaum zu halten, und er fand es eigentlich unnötig, mit Geld um sich zu werfen, da die Menschen, die er hier traf, zu unabhängig waren, um sich etwas schenken zu lassen. Einige, wie Lake und Moss Way, gaben sich vertraulicher, während die übrigen reservierter waren, und zwar, wie er zu erraten glaubte, weil sie sich nicht zu Ausgaben verleiten lassen wollten, die kein Farmer sich gestatten durfte. Er stellte fest, daß die Washfolds in ihren eigenen Angelegenheiten verschwiegen waren und auch über andere nicht gern sprachen. Doch sie wußten wohl, da sie erst drei Jahre hier wohnten, nicht viel mehr, als er selbst schon ermittelt hatte. Außer diesem Leben in der Gaststube des Hotels gab es noch ein verborgenes, das sich in der ganzen Gemeinde fühlbar machte. Seltsamerweise schien für dieses verborgene Leben der alte Penwarden maßgebend zu sein: Überall auf Split Point konnte man seinen Einfluß spüren. Bony erfuhr vor allem auf indirekte Weise von Penwarden mancherlei über die Besonderheiten der Einheimischen im Ort. Es hatte den Anschein, als blieben ihre Lebensformen seit dem Auftreten der ›Ein48
dringlinge‹, die hier Land gekauft und Häuser gebaut hatten, ganz auf ihr eigenes Terrain hinter der Bucht beschränkt. Da war die Familie Wessex – Eli und seine Frau, ihr Sohn, der nach Amerika ausgewandert, und ihre Tochter, die nach dem Tod ihres Verlobten geisteskrank geworden war. Da waren Owen und seine Frau, ein kinderloses Ehepaar, und Fred Lake mit Frau und vierzehn Kindern. Und es waren da noch zwei Familien, auch schon seit Generationen ansässig. Und soweit Bony es übersehen konnte, kamen diese Leute nur selten ins Hotel, um dort in Gesellschaft ein Glas zu trinken. Mit Ausnahme von Dick Lake. Lake war ein typischer, gemütlicher Australier, der das Leben wie ein Spiel nahm, das stets lächelnd gespielt werden muß, auch wenn es noch so viele Stöße austeilt. Ein Typ, den man im Innern des Landes antrifft, Männer ohne Furcht, die vor nichts zu Kreuze kriechen und Kräfte in sich tragen, die sie nur unter ungewöhnlichen Umständen zeigen. Der Vorgang auf der Klippe, der auf einen Selbstmordversuch zu deuten schien, stand offenbar nicht in Zusammenhang mit dem Mord im Leuchtturm. Bony war auch noch im Zweifel, ob das Mädchen Selbstmordabsichten gehabt hatte. Er hatte sich die Spuren ihrer hochhackigen Schuhe ins Gedächtnis geprägt und erinnerte sich auch der anderen, die er später noch gesehen hatte: der Fußspuren des Mannes, der sie durch einen Schlag betäubte und vom Klippenrand fortzog. Dieser Mann war Dick Lake gewesen. Bei dem Vorfall, oder kurz nachher, war auch Tom Owen in Erscheinung getreten, der angeblich weder die Frau noch Lake gesehen hatte, später aber auf der dunklen Straße neben Bony aufgetaucht war und neugierige Fragen gestellt hatte, dabei die Vorzüge des Badeorts Lome lebhaft anpries und über Split Point so geringschätzig urteilte. Nach seinen Gesprächen mit Penwarden zweifelte Bony nicht, daß Mary Wessex das Mädchen auf der Klippe gewesen und an dem Nachmittag nicht zum erstenmal ihrer wachsamen Mutter entschlüpft war. Er verstand ganz gut, daß Lake sie rasch nach Hause geführt und Owen behauptet hatte, sie nicht gesehen zu haben, denn er war ja ein Fremder, und vor Fremden verbargen diese Leute ihre unerfreulichen Angelegenheiten. 49
Daß Dick Lake bei den Reparaturen am Leuchtturm als Hilfskraft gearbeitet hatte, war eine – im amtlichen Schriftstück nicht vermerkte – Tatsache. Fisher war befragt worden, wann er den Leuchtturm inspiziert hatte. Auf die Frage, von wem die Reparaturen durchgeführt worden seien, hatte er nur die Namen der ständig für seine Dienststelle tätigen Facharbeiter angegeben, vermutlich weil er eine Hilfskraft nicht mit zur Dienststelle rechnete und es unnötig fand, Dinge zu erwähnen, die ihm bedeutungslos erschienen. Während der wochenlangen Arbeiten konnte Lake sich Abdrücke von den Leuchtturmschlüsseln gemacht haben. Bestimmt war er über die Maurerarbeiten an der Wandkammer im Bilde. Allgemein kannte er gewiß die Einzelheiten ebensogut wie der Maurerpolier, doch das war noch kein Grund, ihn dringender des Mordes zu verdächtigen als die ständigen Arbeiter des Schiffahrtsamtes. Bisher konnte Bony also nur von Möglichkeiten sprechen. Wie gewöhnlich, zog er nach dem Abendessen seinen Mantel an und ging spazieren, ohne bestimmtes Ziel. Der Abend war still, die See wogte träge, und vom Oberland aus hörte er die Brandung nur leise rauschen. Über den fernen Lichtern von Lome lag der zunehmende Mond, und bei der Flußmündung an der Bucht quakten die Frösche. Bony nahm den Weg zur Bucht und sah, nachdem er an mehreren Bungalows vorbeigegangen war, ein undeutlich beleuchtetes Viereck, aus dem die lärmende Musik eines Akkordeons ertönte. Er wußte gleich, daß es das Zelt war, in dem die beim Neubau beschäftigten Maurer wohnten. Am Hause des alten Penwarden, ein Stück weiter, stand ein Kleinlastwagen. Die Haustür war offen, er hörte Stimmen im Hause. Als er das Anwesen passiert hatte, wo ein Künstler schlichte und edle Särge schuf, war die Gegend ganz dunkel, und das Land schien unter den funkelnden Sternen riesengroß. Der Weg war keine gepflegte Straße, nur ein schmaler, mit Kies bestreuter Pfad, der bei sternklarem Himmel gerade noch erkennbar war, so daß der Fußgänger ihn einhalten konnte. Eine Meile lief er am Rande der Bucht entlang, an deren Gestade Schafe weideten. An einem Gatter blieb Bony stehen und lehnte sich an. Er konnte jetzt, nachdem seine Schritte verstummt waren, leise Geräusche vielfältigen Lebens und das Murmeln der fernen Brandung hören. 50
Nach diesen ersten acht Tagen war er schon fast überzeugt, daß der gesuchte Mörder ein Einheimischer sein müsse, denn er hatte das Innere des Leuchtturms gekannt und sich über die Inspektionszeiten und die Reparaturen informiert. Alle in der näheren Umgebung wohnenden Menschen wurden sicherlich von dem Leuchtturm beeinflußt. Jeder Junge und jedes Mädchen mußte doch, wenn sie ins unternehmungslustige Alter kamen, den Wunsch haben, die Treppen im Turm hinaufzusteigen, um die Leuchtanlage zu sehen, die Sonnenröhre und das Spiel der Gasflammen im Kranz der gläsernen Prismen zu bewundern. Sie mußten mit der Zeit ebensoviel vom Turm wissen wie die Ingenieure. Von dem Weidetor aus ging Bony weiter den Feldweg entlang, der sich nachher teilte: Der links abbiegende führte zur Farm der Owens, der geradeaus laufende zum Anwesen der Familie Wessex. Bony nahm diesen, schritt flott aus und freute sich, durch die Bewegung warm zu werden. Ein Verbrechen ist mit einem Stein zu vergleichen, der in stilles Wasser fällt. In diesen Ort war der Stein vor zehn Wochen gefallen, und Bony war überzeugt, daß die von dem Steinwurf aufgerührten Wellen in verschiedenen Köpfen noch vibrierten. Geistige Einflüsse lösen körperliche Handlungen aus, und er wartete auf ein Ereignis, um zurückverfolgen zu können, wodurch es ausgelöst wurde – und den gefallenen Stein zu finden. Als er unter den Bäumen vor sich ein Licht sah, war er erstaunt, vom Hotel aus schon vier Meilen gegangen zu sein, denn das Licht leuchtete im Hause der Familie Wessex. Von einem Erkundungsgang bei Tage wußte er, daß er ganz dicht vor dem Straßentor sein mußte, hinter dem in einem umzäunten Garten das Wohnhaus stand. Ein Hund schlug an, aber Bony spürte, daß das Tier nicht bellte, weil es ihn kommen gehört hatte, sondern um von der Kette loszukommen. Als er vor dem Gartentor anlangte, beschloß er, nicht weiterzugehen. Im selben Augenblick hörte er weit hinter sich auf der Straße ein Fahrzeug, dessen Geräusch allmählich das in der Nähe hörbare Brummen eines kleinen Benzinmotors übertönte, der die elektrische Lichtanlage der Farm betrieb. Erst nach mehreren Minuten war Bony sicher, daß das Fahrzeug auf ihn zukam, und es dauerte noch eine Minute, bis 51
er die Scheinwerfer des Wagens auf dem gewundenen Weg zwischen den Bäumen hin und her leuchten sah. Um nicht erkannt zu werden und Verdacht zu erregen, trat er dicht an einen Eisenholzbaum. Der Fahrer ließ, als er ausstieg, um das Tor zu öffnen, den Motor weiterlaufen. Da er vor den Scheinwerfern entlanggehen mußte, erkannte ihn Bony. Es war Tom Owen. Als dann der Wagen bis ans Gartentor fuhr – Owen hatte das Straßentor offengelassen –, erkannte Bony den Kleinlastwagen, der bei Penwardens Haus gestanden hatte. Ein zweiter Kettenhund stimmte jetzt in das Gebell des ändern ein. Auf der Veranda wurde eine Lampe eingeschaltet, die Scheinwerfer am Wagen erloschen. Bony konnte genau sehen, wie Owen durchs Gartentor zur Verandatreppe ging, wo er von einer Frau begrüßt wurde. Sie war groß und schlank, ihr Haar schien in der Beleuchtung hellgrau und war im Nacken zu einem dicken Knoten gebunden. Was sie sagten, konnte er bei dem Hundegebell nicht verstehen. Die Frau ging ins Haus, Owen folgte ihr. Das Verandalicht erlosch, aber die Vordertür wurde nicht geschlossen. Bony wartete ohne besonderen Grund. Es mußte kurz nach acht Uhr sein. Das Gebell der Hunde verklang zu einem unregelmäßigen Jaulen. Im Geäst der Bäume über Bony rief heiser krächzend ein Vogel. Dann legte sich Abendstille über die unsichtbare Erde, bis eine klagende Grabesstimme sie störte. Es klang fast unheimlich, aber es war nur – eine Eule. Bony fühlte sich wohl in seiner Welt, in der Zeit nichts bedeutete und das Leben der Menschen weniger wichtig war als der Hochzeitsflug der Termiten. Er war nicht neugierig, weshalb Owen die Familie Wessex besuchte, denn die Leute waren ja als Nachbarn befreundet. Vier Meilen! Vier Meilen zurück zum Hotel, zu einem lodernden Holzfeuer im Kamin und einem guten Trunk vor dem Schlafengehen. Bony war schon von dem Baum weggetreten, als das Verandalicht anging. Jetzt drückte er sich noch einmal in den Schutz des Baumes, um zu warten, bis ihn die Scheinwerfer des Wagens nicht mehr beleuchten konnten. Tom Owen erschien. Ihm folgte die Frau, die nach Bonys Ansicht Mrs. Wessex sein mußte, und hinter ihr kam ein jüngerer Mann, den er für einen Farmarbeiter hielt, der Bruder von Dick Lake. Die drei 52
verließen die Veranda und gingen an das Lastauto. Wieder kläfften die Hunde wütend los. Bony konnte die drei Personen, als sie hinten am Fahrzeug stehenblieben, nicht mehr unterscheiden. Die hintere Klappe fiel, von den Halteketten hart gebremst. Jetzt konnte er sehen, daß etwas vom Wagen gehoben wurde, ein schwerer Gegenstand, an dem beide Männer und die Frau zu tragen hatten. Mit dieser Last begaben sie sich zum Gartentor und trugen sie durch diese schmale Passage besonders vorsichtig. Jetzt waren sie im Schein der Verandalampe: Tom Owen trug allein am Vorderteil des schweren Gegenstandes, während hinten der jüngere Mann, von Mrs. Wessex energisch unterstützt, angefaßt hatte. Über den kurzen Grasweg stolperten und schlurften sie zur Verandatreppe, wo Owen es fertigbrachte, sich umzudrehen, ohne loszulassen, und rückwärts die Stufen hinaufging. Um zu sehen, was sie da trugen, verließ Bony den Baum, ging durchs Tor und bis an den das Haus umgebenden Zaun. Die Träger hoben ihre Last auf die Veranda und setzten sie genau unter der Lampe ab. Der Gegenstand hatte rot geschimmert, als er langsam, langsam ins Haus getragen wurde. Es war ein Sarg, und zwar der, in den Bony sich auf Penwardens Bitte gelegt hatte, um den alten Fachmann zu beruhigen, daß er für Owens Frau bequem paßte.
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m elf Uhr zog Bony sich in sein Zimmer zurück. Sein Programm für den folgenden Tag war geändert durch die von Dick Lake hinterlassene Mitteilung, daß die Fahrt über die Höhe von Sweet Fairy Ann ›abgeblasen‹ sei. Um elf Uhr fünfzehn schaltete er das Licht aus und setzte sich auf die Bettkante, in Mantel und Hut, mit schwer 53
gefüllten Taschen. Um zwölf Uhr öffnete und schloß er geräuschlos seine Schlafzimmertür zu und ebenso leise die Vordertür auf, als er auf die Veranda hinaustrat. Stug rückte noch im rechten Moment auf der Fußmatte vor der Tür zur Seite, sonst wäre Bony auf ihn getreten. Es war so dunkel, daß er den Hund nicht sehen konnte, doch er merkte bald an der kalten Nase, die wiederholt seine Hand berührte, daß Stug ihn begleitete. Zusammen überquerten sie den Rasen, kletterten über einen Zaun, gingen den kahlen Hang hinab bis auf die Landstraße, ohne sich den Straßenlaternen zu nähern. Zehn Minuten später kamen sie an das Tor des eisernen Gitters am Leuchtturm, wo Bony sich hinhockte und den Hund streichelte. Auch so konnte er Stug nicht genau erkennen, spürte aber an seinem Verhalten, daß ihnen niemand gefolgt war. Abgesehen vom Grollen der nie ruhenden Brandung war es hier ebenso still wie am Tor vor der Wessex’schen Farm. Hoch über Mann und Hund stachen die Lichtstrahlen des Leuchtfeuers in den Himmel – vier Lichtstreifen in zwölf Sekunden, dann eine Pause. »Da wir nichts Verdächtiges hören können, Stug, müssen wir anfangen zu arbeiten«, murmelte Bony, und der alte Hund winselte leise vor Freude. »Ich werde dich hier vor dem Tor lassen und hoffe, daß du mich alarmieren wirst, wenn der Herr, der auf Zehenspitzen um Leuchttürme schleicht, hier erscheinen sollte. Du kennst ihn, selbstverständlich. Hast ihn doch erkannt, als er gestern hier auf den Hof kam, und ich wette, daß er dir ordentlich geschmeichelt hat und du um ihn herumgehopst bist. Ich weiß es sogar, denn du warst ganz außer Puste, als ich aus dem Leuchtturm kam. Ein kleiner Mann ist es gewesen, und der kam und ging auf Zehenspitzen, als es gar nicht nötig war. Überleg dir mal die Geschichte und sag mir dann, wer er ist und wie er aussieht. Wenn du’s nicht tust, werde ich’s vielleicht dir erzählen.« Stug war nicht einverstanden, ausgesperrt zu werden: Bony hörte ihn unten am Gitter kratzen und befahl ihm, still zu sein. Es war jetzt natürlich die günstigste Zeit, den Leuchtturm unbeobachtet aufzusuchen, und auch die sicherste Jahreszeit. Am ersten März noch war das Haus der früheren Leuchtturmwärter bewohnt gewesen, ebenso die am Abhang ein Stück dahinter. Damals war es warm und der Auf54
enthalt an der See verlockend gewesen. Zufällig aber hatte es spät nachmittags am ersten März zu regnen begonnen, und bis nach Mitternacht war pausenlos Regen gefallen. Anzunehmen, daß da die Leute zu Hause geblieben waren. Im Lichtstrahl der Taschenlampe sah die Batterie Gaszylinder aus wie eine Reihe mittelalterlicher Rüstungen. Einen Augenblick blieb Bony stehen, die Lampe auf die unterste Stufe der Wendeltreppe richtend. Als er sie ausknipste, glänzte noch ein Lichtschimmer auf den metallenen Stufen, verschwand und erschien wieder, als leuchte jemand mit einer Taschenlampe von oben herunter. Es war das indirekte Licht des ins Treppenhaus fallenden Leuchtfeuers. Bony wurde klar, daß jemand sehr wohl im Schein dieses regelmäßigen Aufblitzens aus der Höhe die Treppen hinaufsteigen konnte. Ebenso konnte jemand einen andern beim Hinaufgehen beobachten und ihn erschießen. Hier unten war allerdings der Lichtschimmer zu schwach, um die Kiste zu sehen, auf der er gesessen hatte, als er mit Fisher sprach. Er fand sie hinter der untersten Stufe und stellte sie vor einen kleinen Berg Kehricht, der an der Wand zusammengefegt war. Auf der Kiste sitzend, begann er, im Schein seiner Taschenlampe den Abfall zu durchwühlen. Groß war der Haufen nicht, aber er wußte, was er suchte. Es lagen vor ihm Fetzen von Putzwolle, ein kleines Stück Ölpapier, Holzwolle zum Verpacken von Maschinenteilen und Hobelspäne. Eigentlich hätten auch Staub und sonstige Stoffe vorhanden sein müssen, doch davon hatten die Kriminalbeamten schon alles, was auf eine Spur weisen konnte, mitgenommen. Bony dachte an den Berg Hobelspäne in Penwardens Werkstatt und erinnerte sich auch, in dem Kehricht, der vor ihm lag, schon beim ersten Turmbesuch einen Span gesehen zu haben, der dieselbe Farbe hatte wie die beim Hobeln der Sargbretter abfallenden Späne. Er fand ihn jetzt: ein roter Holzstreifen zwischen den hellen Hartholzspänen, etwas über drei Zentimeter breit, genau die Stärke der Bretter bei Penwarden. Bony verglich ihn mit Spänen, die er aus Penwardens Werkstatt mitgenommen hatte: Die Maserung war offenbar dieselbe. Die Farben schienen genau gleich, doch endgültig feststellen ließ sich das nur bei Tageslicht. 55
Zwischen den vielen Spänen in dem Kehricht fand er keine weiteren roten. Auch sonst entdeckte er nichts von Bedeutung – Bolts Leute hatten sorgfältig gearbeitet, und auf diesen einzelnen Span von rotem Eukalyptusholz hätte wohl niemand Wert gelegt außer dem Mann, der sich – wie Bonys Vorgesetzte es sicher ausdrücken würden – mit unnützem Geschwätz an der Hobelbank eines Schreiners aufhielt. Er hatte sich nach einem der Besuche bei Penwarden so einen Span vom Umschlag seiner Hose geklopft. Wenn der hier gefundene mit den roten Hobelspänen in der Werkstatt übereinstimmte, mußte er bei jemandem, der dort gewesen war, am Anzug hängengeblieben und so in den Leuchtturm gelangt sein. Wessen Anzug? Wenn es sich durch ›Aussondern‹ beweisen ließ, daß keiner vom Polizeipersonal und keiner vom Reparaturtrupp die Werkstatt betreten hatte, konnte mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß entweder das Opfer oder der Mörder am Abend des zweiten Februar, oder vorher, sich bei Penwarden aufgehalten hatte. Bony stellte die Kiste so hin, daß er mit dem Rücken an der Wand, den Blick auf die untersten Treppenstufen, sitzen konnte. Er drehte sich eine Zigarette und rauchte sie langsam. Es herrschte vollkommene Stille. Bei geschlossener Tür drang nicht einmal das Rauschen der ans Gestade donnernden See herein. Er lächelte bei dem Gedanken, Stug könne ihm ein Zeichen geben, daß der Mann, der auf Zehenspitzen ging, da sei, und dieser Gedanke veranlaßte ihn, mit einem kurzen Stück Holz aus dem Kehrichthaufen zur Tür zu gehen. Die Tür war von innen nicht verschließbar. Da sie sich schwer in den Angeln bewegte, konnte sie nur durch kräftigen Druck geöffnet werden. Er fühlte sich versucht, den Schlüssel herauszuziehen, unterließ das jedoch, weil es bei jedem, der sich für sein Tun interessieren mochte, Verdacht erregt hätte. Er stellte das Stück Holz schräg gegen die Tür. So war jedenfalls festzustellen, ob jemand, während er sich oben im Turm aufhielt, die Tür geöffnet hatte. Als er, wieder auf der Kiste sitzend, seine Zigarette zu Ende rauchte, grübelte er. Vielleicht konnte er mit seiner unerbittlichen Methode der Geduld die Ermittlungen schon bald zum Abschluß bringen? Wenn der hier entdeckte Holzspan bewies, daß der Getötete oder sein Mörder ihn aus Penwardens Werkstatt mitgebracht hatte, dann mußte 56
der Alte den Betreffenden kennen. Da aber Penwarden das Opfer nicht identifizieren konnte, mußte der Span mit dem Mörder in den Turm gelangt sein. Also kannte Penwarden den Mörder, aber man brauchte nicht daraus zu schließen, daß er selbst es war. Bony begann die Treppe hinaufzusteigen. Das Geräusch seiner Schuhe auf den durchbrochenen Stufen klang wie das Klopfen kleiner Hämmer auf einem Amboß. Er versuchte leiser zu gehen und merkte, daß seine Schritte, wie vorsichtig er auch auftreten mochte, einen nach oben eilenden Lärm verursachten, der auf der obersten Plattform wie das Getrappel kleiner Kinder hin und her hallte. Auf den Stufen entdeckte er keinerlei vergessene Abfälle. Als er an den ersten vier kleinen Schlitzfenstern in der massiven Wand vorbeiging, paßte er auf, daß kein Licht von seiner Taschenlampe hinausfiel. Auf der ersten Plattform angelangt, setzte er den Fuß auf die unterste Stufe der nächsten Treppe und suchte sich den Mörder in der gleichen Situation vorzustellen. Ein kleines Stück höher befand sich die Wandkammer, und dieser gegenüber waren die Fingerabdrücke des Opfers auf dem Treppengeländer entdeckt worden. Er erinnerte sich der Feststellung bei der Leichenschau, daß der Mörder beim Abfeuern des tödlichen Schusses höher gestanden haben müsse als sein Opfer. Er stieg höher und blieb vor der Wandkammer stehen. Wie bei seinem vorigen Besuch im Tageslicht schien es ihm auch jetzt so gut wie sicher, daß jemand, der die Tür zu dieser Kammer nicht kannte, sie gar nicht bemerken würde. Bei Dunkelheit, wenn nur die Lichtreflexe des Leuchtfeuers ihren schwachen Schein nach unten warfen, hoben sich weder die Form noch die Umrisse der Tür von der Wand ab. Der Mörder aber mußte die Lage dieser Kammer gekannt haben. Er dachte auch wieder an eine schon ausgesprochene Vermutung, die ihm einleuchtete. Der Tote wog fünfundsiebzig Kilo, also anderthalb Zentner, ungefähr zehn Kilo weniger als ein Sack Korn. Im Hochsommer wenden in den Weizengebieten an jedem Anschlußgleis die vollen Säcke aus den Waggons getragen und gestapelt. Hierbei müssen die Männer oft über schmale Planken auf die höher werdenden Stapel steigen, und diese Arbeit leisten sie den ganzen Tag. Diese Männer wissen natürlich, wie sich das Gewicht richtig auf Schultern und Nakkenmuskeln verteilen läßt. 57
Die Treppe von unten bis zu dem Platz vor der Wandkammer, wo Bony jetzt stand, hatte vierzig Stufen. Jeder trainierte Sackträger konnte einen gut achtzig Kilo schweren Sack voll Weizen, der steif und unnachgiebig war und auf der Schulter im Gleichgewicht gehalten werden mußte, hier hinauftragen. Einen toten Menschen diese Treppe hinauftragen verlangte freilich eine ganz andere Kraft, weil der Körper schwankte und schwer im Gleichgewicht zu halten war. Sogar dem geübten Träger ging vielleicht, bis er oben war, die Luft aus. Ein im Tragen von Lasten weniger erfahrener Mensch schaffte das gar nicht. Angenommen, der Mörder war ein Mensch von durchschnittlicher Kraft und Gewandtheit, aber kein Sackträger, so konnte er doch mit Leichtigkeit einen Toten von oben die Stufen hinabzerren, ihn dann anheben und in die Wandkammer schieben. Somit lag eigentlich die Annahme nahe, daß der Mord auf der über der Wandkammer liegenden Treppe oder auf der nächsthöheren Plattform verübt worden war. So ganz stichhaltig war aber diese Annahme auch nicht, denn die Tat konnte ja auch außerhalb des Leuchtturms begangen und der Tote im Auto oder auf einem Lastwagen zum Turm gebracht worden sein. Es hatte zwar an dem Abend geregnet, war aber nicht kalt gewesen, und an solchen Sommerabenden pflegen die Leute an der Küste bei offenem Fenster zu schlafen. So hätte eigentlich jemand einen zum Leuchtturm fahrenden Wagen bemerken müssen. Bony neigte zu der Ansicht, daß zwei oder mehr Männer dieses Verbrechen begangen und den Toten zusammen zum Turm gefahren und hineingetragen hatten. Das wiederum setzte die Absicht voraus, die Leiche in der Wandkammer zu verstecken, wobei die Täter von der Gewißheit ausgingen, daß der Tote hier mindestens zwei Monate unentdeckt bleiben würde. Bony schied bei seinen Überlegungen zunächst die Fremden und Sommergäste aus und konzentrierte sich auf die Einheimischen. Als er oben im sogenannten Feuerraum ankam, benutzte er seine Taschenlampe, um ’hinter die Gegenstände zu leuchten, und die Hände zum Abtasten, wo die Lampe nicht ausreichte. Er fand nichts. Schon wollte er die Tür aufriegeln, um auf den Balkon hinauszugehen, aber den Gedanken verwarf er gleich wieder. Statt dessen erklomm er die Stufen zur Leuchtanlage und stand da wie eine Motte, die vom 58
Licht angelockt wird, fasziniert von dem regelmäßigen Aufblitzen des grellen Lichtstrahls. Bei einem Blitz sah er auf seine Uhr: vier Uhr zehn morgens. Erstaunt, wie schnell die Zeit vergangen war, stieg er, nach unten leuchtend, die Treppe hinab und beugte sich häufig über das Geländer, um in die Tiefe zu leuchten, ob ihm jemand auflauerte. Als er an der Wandkammer vorbei war, atmete er erleichtert auf, und als er die unterste Plattform erreicht hatte, kostete es ihn Überwindung, sich umzudrehen und in den Turm hinaufzublicken. Als Mensch mit Phantasie, äußerst empfindlich für Eindrücke in unbekannter Umgebung, hatte er, trotz mancherlei Erfahrungen, seine Furcht vor Gewalttat und Tod nie ganz überwunden. An der Tür fand er das Stück Holz genauso vor, wie er es hingestellt hatte. Er stieß sie auf und schob sich schnell durch den Türrahmen, denn es konnte ihm ja jemand auflauern, und die plötzliche Bewegung sollte ihn erschrecken. Doch es war niemand da. Nachdem er die Tür verschlossen hatte, ging er leise zum Hoftor, verschloß es ebenfalls und steckte die Schlüssel in die Tasche. Schon machte Stug sich bemerkbar. Der Hund stupste ihn an, und er fühlte den wedelnden Schwanz gegen seine Beine schlagen. Er sprach gedämpft mit Stug und machte sich auf den Weg zum Hotel. Da fiel ihm auf, daß der für ihn unsichtbare Hund wütend knurrte, mit aller Kraft etwas im Maul hin und her schüttelte und damit kreuz und quer sprang. »Gut so!« rief er etwas gereizt. »Gib’s mir her.« Ein Schuh wurde ihm in die Hände gelegt. Ohne den Hund sehen zu können, wußte er, daß dieser ein Spiel mit dem Schuh erwartete. Bony sollte ihn fortwerfen, damit er ihn apportieren konnte. Er hob schon den Arm, im ihn fortzuschleudern, unterließ es jedoch und betastete ihn. Außer den Stellen, die vom Speichel des Hundes feucht waren, war der Schuh ganz trocken. Und er war noch fast neu.
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ony vertrat den Standpunkt, daß die Zeit der stärkste Bundesgenosse des Kriminalisten sei. Zeit und Geduld hatten ihm vermittels seiner ererbten Beobachtungsgabe den Holzspan beschert, dessen Prüfung bei Tageslicht ihn überzeugte, daß er von dem Ort stammen mußte, wo ein kluger alter Mann Särge zimmerte. Die Zeit hatte ihm, durch die Freundschaft mit Stug, einen Schuh in die Hände gespielt, der gleichsam der Hammer werden sollte, mit dem er die harte Schale dieses Geheimnisses zertrümmern konnte. Der Schuh war so neu, daß das Leder unter dem Spann noch den ursprünglichen Glanz behalten hatte. Es war ein dunkelbrauner Schuh, Größe vierzig, dessen Preis Bony nach dem Paar, das er sich zuletzt gekauft hatte, auf ungefähr fünf Pfund schätzte. Der Name des Fabrikanten war eingestempelt, ein für Qualität bekannter Name. Leider, dachte Bony, war er noch so neu, daß sich aus der wenig abgenutzten Lauffläche kein Schluß auf die Eigenarten seines Trägers ziehen ließ. Stug hatte den Schuh sicherlich nicht sehr weit vom Leuchtturm gefunden. Auf den ersten Blick mußte es scheinen, als könne er, eben weil er so neu war, nur aus einem Haus geholt worden sein. Auf dem vom Leuchtturm abfallenden Hang lagen mehrere Häuser, von denen jedoch zu dieser Jahreszeit nur eins bewohnt war. Da der Winter schon begonnen hatte und die Nächte kalt wurden, war nicht anzunehmen, daß die Bewohner bei offenen Türen schliefen. Wenn es ein alter Schuh gewesen wäre – nun, alte Schuhe werden ja mit dem Müll hinausgeworfen. Der Erschossene hatte Schuhe Größe vierzig getragen. Als Bony am nächsten Morgen kurz nach zehn Uhr das Hotel verließ und die 60
Hauptstraße entlangging, um zum Leuchtturm zu gehen, brauchte er den Hund nicht erst zu rufen. Die Sonne schien, die breite Sandbank, die vor der Flußmündung lag und sie gegen die Brandung abschirmte, leuchtete ganz weiß. Beim Ersteigen des Oberlands hatte Bony die Klippen zur Rechten und links die Bungalows, hinter den früher von den Leuchtturmwärtern bewohnten Häusern. Dann und wann rief er dem Hund leise zu: »Such, such, Stug!« Sofort rannte das Tier mit der Nase am Boden und lebhaft wedelndem Schwanz los. Es gab jedoch auf diesem Abhang nichts Besonderes zu entdecken, nur ein Karnickel sprang plötzlich auf, das Stug aber kaum beachtete. Von dort war es nicht mehr weit bis zum Gitter am Leuchtturm. Als sie vor dem verschlossenen Tor standen, begann der Hund wieder mehr Interesse an diesem Unternehmen zu zeigen. Er rannte mit der Nase am Boden kreuz und quer und kam wieder zurück, um seinen Begleiter erwartungsvoll anzublicken, denn er erinnerte sich gewiß der Sache mit dem Schuh, den Bony ihm vorenthalten hatte. Bony ging weiter, um eins der Häuser herum, und vorbei war es mit dem Eifer des Hundes. Die Häuser waren ihm gleichgültig. Als sie zum Tor zurückkamen, dachte Stug wieder an den Schuh. Diesmal ging Bony seewärts nach dem Klippenrand zu. Sogleich lief der Hund voraus und folgte schnüffelnd einem alten Pfad. Hier sah Bony Stugs Fährte von der vorigen Nacht. Der Pfad wand sich durch Teesträucher, kam erst wenige Meter vor der Klippe in offenes Gelände, wo er aufhörte. Aber der Hund lief weiter und verschwand über die Klippenkante. Als Bony da stand, wo Stug verschwunden war, erkannte er, daß er sich genau über dem Teil des Strandes befand, wo er den Pinguin begraben hatte und Zeuge des Selbstmordversuchs geworden war. Ja, er stand sogar genau da, wo der Mann mit dem Mädchen gerungen hatte. Der Fels fiel hier schroff zum Strand ab. Über den Rand gebeugt, sah Bony einen schmalen Absatz, der sich wie ein Saumpfad an der Klippe entlang steil nach unten zu erstrecken schien. Er konnte diesen Pfad von oben aus nur ein paar Meter weit sehen, da die Kante des Oberlands etwas überhing. Den Hund, der den schmalen Pfad gelaufen sein mußte, denn Hunde fliegen ja nicht durch die Luft, konnte er nicht entdecken. Wer den Mut hatte, sich auf 61
einen Weg zu wagen, der kaum dreißig Zentimeter breit, teilweise noch schmaler, an der Klippe entlanglief, konnte ihn von dieser Stelle aus betreten. Oben, wo er anfing, wuchsen kräftige Grasbüschel und Gestrüpp aus dem Gestein, weiter unten aber gab es, soviel Bony erkennen konnte, nur kleine Felsvorsprünge, die vielleicht erfahrenen Bergsteigern als Fußstützen dienen konnten. Auf einmal kam der Hund unter dem Überhang in Bonys Nähe wieder zum Vorschein. Er war sehr aufgeregt. Die Schmalheit des steilen Pfades machte ihm keine Mühe; zwischen den Zähnen trug er einen Schuh, den er, oben angekommen, knurrend fallen ließ. Er lief ein Stückchen ins Oberland und wartete auf den Schuh, den Bony ihm zum Apportieren zuwerfen sollte. Bony nahm den Schuh auf und zwängte ihn in eine seiner Manteltaschen. Zweifellos war dies der zweite von dem Paar, das Stug endlich aufgestöbert hatte. Der Hund war enttäuscht, aber sein Jagdeifer noch sehr lebendig. Er lief zum Klippenrand und trottete wieder den Saumpfad hinab. Nach wenigen Schritten blieb er stehen, brachte das Kunststück fertig, sich umzudrehen und Bony durch Gebell aufzufordern, ihm zu folgen. Auf diesem schmalen Saum an der Klippe hinab? Nicht für eine Million! dachte Bony. Er rief: »Such, such!«, doch Stug weigerte sich zu suchen, wenn sein Kamerad nicht den Mut hatte, mit ihm zu gehen. Daß irgendwo weiter unten am Klippenhang ein nagelneuer Schuh gelegen hatte, war erwiesen. Bony überlegte, ob er Hilfe holen sollte und Kletterseile, denn er dachte an die Möglichkeit, sich an der Klippe abzuseilen. – Im Geist sah er schon, wie das Seil sich ganz dünnschabte und zu reißen drohte. – Unter dem überhängenden Stück konnten noch andere Kleidungsstücke liegen, die der gesuchte Mörder von der Klippe geworfen haben mochte. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er daran, die Polizei zur Untersuchung der Klippenwand zu Hilfe zu rufen, verwarf aber den Gedanken sofort wieder. Ehe er sich recht seiner Schritte bewußt wurde, war er vom Rand auf den Saumpfad getreten. Menschen vollbringen oft große Leistungen für geringe Belohnung und spielen ein Spiel mit dem Tode, das zu gewinnen sie wenig Aussicht haben. Bony drehte sich um, das Gesicht gegen die uralte Felsenwand von Split Point, und begann sich auf dem Pfad abwärts zu 62
tasten, ganz langsam. Als er unter den Überhang tauchte, griff er mit beiden Händen in das verwitterte Gestein. Er mußte mit aller Energie eine panische Angst niederringen. Der Hund hatte wieder kehrtgemacht und lief ihm voraus nach unten. Bony hörte sein lautes, dringliches Bellen, das heißen sollte ›Folge mir‹, und wußte, daß Zaudern und Zurückgehen auf sicheren Grund ihm nur ein einziges Ergebnis gebracht hätten – den Beweis für seinen gesunden Menschenverstand. Vorausgesetzt, der Saumpfad gab unter seinem Gewicht nicht nach, vorausgesetzt, er blieb nicht stehen, um in die Tiefe zu blicken, und vorausgesetzt, die kleinen Felsvorsprünge, nach denen er griff, brachen nicht aus der Klippenwand – dann würde er das Wagnis lebend überstehen können. Als er sich unter den Überhang duckte, kam er sich vor wie eine Bartstoppel am Kinn eines Riesen. Der Wind klatschte ihm auf den feuchten Nacken, der Strand wirkte auf Ihn wie ein Magnet, dessen Kraft ihn immer stärker von den durch die Sonne vergoldeten Felsnasen der riesigen Klippe hinabzureißen drohte. Die Brandungswellen tief unten zischten wie Schlangen, in seinen Fußsohlen zuckte ein schrecklicher Schmerz. Seine verkrampften Hände waren marmorweiß. Und in seinen Ohren donnerte die Stimme des Stolzes: »Vorwärts, Feigling! Was für eine Figur gibt jetzt der berühmte Inspektor Bonaparte ab? Keine sehr gute, was? Weiter also – der Hund ist dir schon voraus!« Der Pfad zog sich um eine Biegung, die er aus dem Augenwinkel wahrnahm. Er war jetzt ein bißchen breiter, vierzig bis fünfundvierzig Zentimeter. Bony erreichte die Krümmung an der schmalen Felsnase, tastete sich herum und sah, ein paar Meter voraus nur, den wartenden Hund. Stug stand auf einer kleinen ebenen Fläche und suchte ihn durch sein Gebell anzuspornen. Und hinter dem Hund sah Bony die dunkle Öffnung einer Höhle. Er mußte auf dem ganzen Weg den Atem angehalten haben, denn als er neben Stug auf dem kleinen Plateau stand, rang er keuchend nach Luft. Mit dem Rücken zum Höhleneingang stehend, blickte er auf das sonnenbestrahlte Meer. Er sah nichts als Wasser. Da er den Strand nicht sehen konnte, wurde ihm klar, daß auch von dort aus niemand ihn oder die Höhle sehen konnte. Als er nach oben schaute, sah er nichts vom Oberland. Nachdem er das erkannt hatte, nahm er sich 63
vor, nie und um keinen Preis diesen Saumpfad wieder hinaufzusteigen. Dann spürte er, wie der Hund ihn mit der Nase gegen die Waden stieß, hörte ihn erbittert knurren und etwas wild im Maul schütteln. Noch keuchend drehte er sich um. Stug trug im Maul die Weste eines Männeranzugs und kroch in die Höhle zurück, noch immer knurrend und das Kleidungsstück schüttelnd. Der Eingang war knapp anderthalb Meter hoch und etwa einen Meter breit. Bony folgte dem Hund hinein, in der Höhle konnte er aufrecht stehen. Es sah aus, als sei sie bewohnt. Das war jedenfalls Bonys erster Eindruck. Auf dem Boden aus rauhem Felsgestein lagen die Kleidungsstücke eines Mannes, neben ihnen ein kleiner Handkoffer. Bony vergaß, als er sich bückte, um die Stücke zu untersuchen, sofort völlig die schwere Mutprobe, die er eben durchgemacht hatte. Es war alles da, von einem leichten Regenmantel bis zur Unterwäsche und Socken. Als Stug sich einmischen wollte, fuhr er ihn zornig an, doch das tat ihm gleich wieder leid. Er streichelte ihn und sagte freundlich: »Du liegst hübsch still, Stug, und überläßt alles mir. Wenn wir hier heil ’rauskommen, kannst du meine eigene Weste zum Zerfetzen haben. Also leg dich hin und schlafe ein bißchen. Kannst noch zusehen, wie ich einen Sargnagel rauche und versuche, meine übliche Ruhe wiederzugewinnen.« Er setzte sich neben den Kleidungsstücken auf die Erde. Es gelang ihm, mit zitternden Fingern eine Zigarette zu drehen und anzuzünden. Den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt, beobachtete ihn der Hund mit unbewegten, großen schwarzen Augen. Der Anzug ’bestand aus feinem marineblauen Stoff und schien fast neu. Farbe, Stoffart und Zuschnitt deuteten an, daß sein Träger zur See gefahren war. Den Namen des Schneiders hatte man aus dem Rockfutter herausgeschnitten, die Knöpfe waren von Hörn und trugen kein besonderes Merkmal. Im Rock befand sich nichts weiter als eine Brieftasche. Die Hosentaschen waren leer, aber die Hosenknöpfe gaben eine Spur: in ihrem Metallrand trugen sie eingestanzt den Namen eines Schneiders in Adelaide. Die Brieftasche enthielt acht Banknoten zu je zehn Pfund, eine Fünfpfundnote, vier Einpfundnoten, sowie sieben Shilling und fünf Pence in Münzen. 64
Der Regenmantel war ein billiges Stück. In der rechten Tasche steckten eine gute, solide Armbanduhr und ein goldener Siegelring. Die Uhr war gut, aber nicht kostbar. Der Ring war zerbrochen. Er war schon einmal zerbrochen gewesen und gelötet worden. Auf der sechskantigen Siegelfläche konnte man die eingravierten Buchstaben B. B. lesen. Wie vom Jackett war auch aus dem Regenmantel der Streifen mit dem Herstellernamen entfernt worden. »Jetzt, mein lieber Stug, können wir behaupten, daß Raub nicht das Motiv für diese Tat war«, sagte Bony zu dem Hund. »Und wir können sogar annehmen, daß der Mörder nicht sonderlich intelligent war. Er hat den Namen des Schneiders aus dem Rock beseitigt und nicht gemerkt, daß er auch auf den Hosenknöpfen steht. Er war zwar so vorsichtig, den Namen aus dem Regenmantel zu entfernen, aber das war meiner Ansicht nach unnötig, denn der Mantel ist Massenware.« Hemd und Krawatte waren teure Stücke, die Unterwäsche von Durchschnittsqualität. Die Socken gaben keinen Anhaltspunkt. Der Hut war eins der beliebten Modelle, die von den Herstellern tonnenweise geliefert werden. Er paßte Bony genau. Bony zweifelte nicht, daß die Kleidungsstücke dem im Leuchtturm gefundenen Toten gehört hatten. Obwohl der Boden in der Höhle trokken war, fühlten sie sich ziemlich feucht und schimmelig an, wie nicht anders zu erwarten, wenn Stoff wochenlang der Seeluft ausgesetzt ist. »Laß das sein«, sagte Bony zu Stug, der den Kopf in eine viel kleinere, von der hinteren Wand ausgehende Höhle steckte. »Was gibt es denn da?« Er ging hin und entdeckte in dem Loch ein totes Schaf. Das Tier mußte schon tagelang tot sein, allen Anzeichen nach verhungert. Der Hund drehte sich um und wedelte, Anerkennung erwartend, und Bony blickte ihn an. »Deshalb hast du hier so geschnuppert, wie?« sagte er. »Das arme Schaf hat sicher oben auf der Klippe gegrast, hat vom Rand aus die am Überhang wachsenden Grasbüschel gesehen, ließ sich verlocken hinunterzugehen und vermochte sich nachher nicht umzudrehen, weil es nicht so wendig ist wie du. Es ging dann weiter hinab, und als es hier auf dem Platz war, hatte es nicht soviel Verstand, wieder hinaufzuklettern. Vielleicht hat es tagelang vor der Höhle gestanden und geblökt, aber es kam niemand an den Strand, der es wenigstens gehört hätte, denn sehen konnte er das Tier von unten sowieso nicht. Und dann, 65
Stug, ist das Schaf schließlich hier hereingegangen und hat sich zum Sterben in den dunkelsten Winkel gelegt. Du hast mit der Nase den Geruch aufgefangen, das Tier aber gar nicht berührt, weil du ja zu Hause so gut gefüttert wirst. Und als du die Schuhe fandest, fiel dir ein, wie gern du als kleines Hündchen dich gerade auf Schuhe gestürzt hast, um sie aus dem Haus zu schmuggeln und in Stücke zu reißen.« Er streichelte den Hund und ging wieder zu den Kleidungsstücken. Er nahm den Schuh aus der Manteltasche, packte ihn mit der Brieftasche, der Uhr und dem Ring zusammen, schnitt von der Hose ein paar Knöpfe ab und legte sie auch zu dem entdeckten ›Schatz‹. In Gedanken war er schon auf dem gefährlichen Klippenrand. Von der Hose schnitt er noch die Umschläge ab, in denen die Experten vielleicht Staub fänden, der Rückschlüsse ermöglichte. Die Kleidung legte er ordentlich zusammen und stapelte sie auf einen Felsvorsprung, den der Hund nicht erreichen konnte. Nun untersuchte er den Koffer: er enthielt einen billigen Schlafanzug* eine Haarbürste mit Kamm, Rasierzeug und ein Päckchen in braunem Papier. Eingewickelt waren dreiunddreißig Perlenketten, höchstwahrscheinlich Imitationen. Zwei Ketten steckte er in die Tasche, ebenso den Kamm, weil an ihm Haare saßen. Die übrigen Sachen legte er wieder an ihren Platz und stellte den Koffer auf den Felsvorsprung. Diese Höhle war den Fremden nicht bekannt, im Gegensatz zu den Höhlen am Strande. Hierher kam bestimmt niemand, den nicht harter Zwang zu diesem Wagnis trieb. Der Mörder kannte sie und hatte gewagt, an der Klippe hinabzuklettern, um die Sachen des Toten hier abzulegen. Er mußte sich die Kleidung und den Koffer mit Strikken oder Riemen auf den Rücken gebunden haben, denn die Hände brauchte er unbedingt zum Klettern. Noch erfüllt von der Befriedigung über seine Entdeckungen, lehnte Bony sich gegen die Höhlenwand und drehte noch eine Zigarette. Während er sie rauchte, wanderte sein Blick vom holprigen Boden der Höhle zu dem toten Schaf, von ihm über die Wände, die vorspringenden Felsplatten und die Gesteinsspalten. Seine Hoffnung, auf einem anderen Wege das Oberland zu erreichen, mußte er aufgeben. In der Mitte der gegenüberliegenden Höhlenwand sah er eine Nische. Sie war groß genug zum Hineinkriechen. Vielleicht bot sie 66
einen Ausweg nach oben? Er ging hin und tastete das Loch erst ab, da es drinnen stockdunkel war. Sogleich berührten seine Finger etwas Metallisches, und im nächsten Moment wußte er, daß es rostige Schlüssel waren. Er zündete ein Streichholz an und sah zwei Schlüssel von der Größe der Leuchtturmschlüssel. Nachdem er sie in seiner Tasche verstaut hatte, tastete er weiter im Dunkeln und holte einen dicken Packen Papier aus der Nische. Damit kniete er sich vor den Eingang, um volles Licht zu haben, und sah, daß das Paket vorn langen Liegen feucht geworden war und aus alten, mit Bindfaden verschnürten Zeitschriften bestand. Es gelang ihm, eine einzelne Seite abzulösen. Der Druck war ganz verwischt, fast unleserlich. Er gab sich Mühe, ein paar Worte zu entziffern. Nach einer Weile konnte er, mit etwas Rätselraten, fünf Worte lesen: »Jack Harkaways Abenteuer in Griechenland.« Weiter fand er in der Nische ein Knäuel Bindfaden, so verrottet, daß es beinah in der Hand schon zerfiel. Ferner ein Stück Holz in Form eines Y mit ein paar Fetzen an den Zinken der Gabelung – die Wurfschleuder eines Jungen. Außerdem fand er ein Buch, das, wie die anderen Hefte, vom Liegen in der Seeluft ganz feucht war. Auf den Seiten konnte er gar nichts entziffern, aber auf dem Buchrücken waren eingepreßte Buchstaben zum Teil noch lesbar: Cora.s..and, von R. M. Bal.an …e. Weiteres Tasten brachte eine Zigarettenkiste zum Vorschein, die merkwürdigerweise gut erhalten war. Sie enthielt ausländische Münzen, ein Federmesser, völlig verblaßte, unerkennbare Amateurfotos und Seemuscheln. Und schließlich holte Bony eine Schachtel Streichhölzer sowie vier noch nicht angerauchte Tonpfeifen ans Tageslicht. Den ganzen Krempel legte er wieder in die Nische zurück, während er im Geiste vor sich sah, wie einst in dieser Höhle ein Junge von Koralleninseln und verwegenen Piraten geträumt haben mochte. Nur Jungen konnten so bedenkenlos kühn sein, diesen halsbrecherischen Saumweg entlangzuklettern, auf dem jetzt er, Napoleon Bonaparte, wieder zurückklettern mußte. Dieser unheimliche Pfad! Auf ihm sollte er ins Leben zurückkehren, um schließlich seine Aufgabe mit Glanz zu lösen. Hier gab es nichts mehr zu entdecken. 67
Er knöpfte seinen Mantel zu, trat auf den offenen Platz vor der Höhle, sprach mit Stug und stellte sich den Gefahren der golden leuchtenden Klippe. Der Hund folgte ihm, sicheren Fußes und ihm sehr überlegen in seiner Zuversicht. Eine Möwe schrie irgendwo hinter Bony im grellen Glast des Himmels. Vorwärts, Bony! Nicht stehenbleiben! Du bist beladen mit Schätzen, den Dublonen und Dukaten des Erfolges. Ist doch gar nicht so schwierig, wie? Leichter als der Abstieg war, oder nicht? Dieser Pfad hat dein Gewicht beim Abstieg ausgehalten, er wird es auch jetzt noch tragen … Langsam näherte er sich der Oberfläche. Noch ein paar Meter, dann konnte er auf das grasbewachsene Oberland blicken. Aber lieber nicht hochschauen, lieber klug sein und aufpassen, nach den richtigen Felsbrocken und Spalten zum Festhalten spähen. Noch ein Stückchen – da, das war ja der Stein, an dem er sich beim Hinabklettern zuerst gehalten hatte. Er war oben – beinahe. Der Himmel stürzte ein, die Helligkeit begann zu schwinden. Schmerz schoß ihm vom Kopf bis in die Füße, daß die Knie weich wurden. Dunkler wurde es um ihn. ›Festhalten, festhalten, um Gottes willen, halte dich!‹ raunte es in ihm. ›Wenn du abrutschst, ist unten nur der Strand. Nur das Licht soll nicht ganz verschwinden. Mit Energie muß es gehen. Wenn das Licht ganz erlischt, dann stürzt du bestimmt –‹ Das Licht blieb, es wurde wieder stärker. Er konnte wieder die, Klippenwand sehen. Seine Hände wurden weiß vom angestrengten Zupacken. Es regnete. Die Tropfen rollten ihm über die Stirn, fielen ihm von der Nase. Er konnte die Beine nicht bewegen – noch nicht. Erst als er sie anschrie, es ihnen befahl … Der Hund bellte irgendwo, vielleicht am Strand, vielleicht auf der Klippe. Einerlei. Die Brandung brüllte wie ein wütender Tiger. Endlich bewegten sich seine Füße und Hände wieder. Sie mußten – mußten in Bewegung bleiben … Roter Regen fiel ihm über die Stirn, über die Nase. Er spürte Gras zwischen den Händen und Sand, der ihm unter den Fingerspitzen wegrann. Wie schwimmend rutschte er auf das Gras, dann lag er still, die Spitzen seiner Schuhe klopften auf das weiche Grün. Der Hund winselte, und seine Zunge strich ihm zärtlich über den Nacken.
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ome, hinter einem breiten, sandigen Strand mit ungefährlichem Badegrund gelegen, war einmal ein entzückender Erholungsort gewesen, aber die allgemeine Entwicklung nahm ihm zwangsläufig die stille Schönheit. Moderne Hotels und ein Rummelplatz, Andenkenläden und kleine Cafés wurden zu Magneten für die Lebewelt aus der Großstadt. Als Bony nach Lome kam, schauderte ihn. Oberwachtmeister Staley hatte sich an Lome und den eigenartigen Menschentyp, der dort verkehrte, längst gewöhnt. Er mußte hier mit fester Hand und unverblümten Worten auftreten. Staley war ein Mann mit rotem Gesicht und eckigen Schultern, der recht schroff sein konnte. Und ehrgeizig war er. Sein Kollege, Wachtmeister Roberts, war ein rechtes Gegenstück zu ihm, so daß sie sich in der Arbeit vortrefflich ergänzten. Staley schrieb an einem Bericht, als Roberts ins Dienstzimmer kam, sich breit vor den Schreibtisch stellte, mit dem Handrücken seine Nase abwischte und gemütlich sagte: »Da ist einer draußen, der Sie sprechen will.« »Was will er?« fragte Staley scharf, ohne aufzublicken. »Er möchte Sie bloß gern mal sehen.« »Reden Sie kein Blech. Schicken Sie den Mann ’rein.« ›… nach seinen Angaben befand er sich am 2. Mai vor dem ›Hotel Terrific‹ im Gespräch mit einem Bekannten, als ein Mann auf ihn zutrat und ihm zurief, er sei ein Idiot‹, schrieb Staley. Er hörte jemanden ins Zimmer kommen, schrieb aber ruhig weiter. ›Er kannte den Betreffenden nicht und fragte ihn, was er meine –‹ 69
Ein sanftes Husten unterbrach den Lauf seiner Feder. Staley legte sie seufzend beiseite und richtete sich steif auf. »Na, was gibt’s?« fuhr er den schlanken, dunklen Mann an, der auf dem einzigen vorhandenen Stuhl saß. Der Dunkle zündete sich gerade eine Zigarette an und sagte über das brennende Streichholz hinweg: »Ich bin Kriminalinspektor Bonaparte.« »Und ich bin …« Staley wollte hinzufügen, er sei Pontius Pilatus, als ihn gerade ein warnendes Aufblitzen der blauen Augen, die durch und durch zu dringen schienen, zum Schweigen brachte. »Jawohl, Sir. Jetzt erinnere ich mich. Vor ein paar Wochen erfuhr ich, daß Sie in unserem Bezirk tätig sein würden.« »Wie ist die Straße durch die Berge nach Colac?« Staley, der sich erhoben hatte, erwiderte, sie sei zwar holprig, aber im ganzen erträglich. Auf die Frage nach Flugverbindungen antwortete er, Bony könne abends um acht Uhr in Colac eine Maschine nach Mount Gambier bekommen und von dort aus morgens um sieben einen Anschluß nach Adelaide. »Kann ich Colac bis acht Uhr erreichen?« »Ja, das könnten Sie bequem schaffen, Sir.« »Dann lassen Sie mir bitte einen Platz reservieren.« Staley griff zum Telefon, aber Bony unterbrach ihn: »Vorher setzen Sie sich bitte noch mit einem Arzt in Verbindung und bestellen Sie ihn her. Ich muß mit dem Kopf gegen einen Meteor oder so was gestoßen sein und habe ziemlich starke Schmerzen.« Staleys hellgraue Augen in dem roten Gesicht verengten sich. Erst jetzt bemerkte er, daß das Gesicht des Besuchers weder braun noch weiß war, sondern die Farbe der Asche eines ausgebrannten Lagerfeuers hatte. Er ging an die Tür zum inneren Büro und sagte würdevoll: »Wachtmeister Roberts, holen Sie Doktor Close her. Wenn er nicht zu Hause ist, rufen Sie Doktor Tellford an.« Dr. Close wohnte neben dem Polizeigebäude. Er kam schon nach drei Minuten, und nachdem Staley ihn vorgestellt hatte, untersuchte er sofort Bonys Kopf. Staley hörte den Arzt fragen, was passiert sei, und Bony antwortete, es müsse ein Meteor vom Himmel gefallen sein, als er morgens spazierenging. Der Arzt meinte, der Schlag müsse sehr heftig gewesen sein, aber Vernähen sei nicht nötig. Er versprach, eine Heilsalbe und ein leichtes schmerzstillendes Mittel zu schicken. 70
Als der Arzt gegangen war, fragte Staley: »Haben Sie den Schlag bei ’ner komischen Sache gekriegt, Sir?« »Kommt mir so vor, Oberwachtmeister. Ich stand auf einem Drahtseil, als der Felsblock auf mich fiel. Seien Sie jetzt der barmherzige Samariter und bitten Sie den Wachtmeister, mir eine Tasse Tee und ein paar Aspirin zu bringen.« »Jawohl, Sir. Und das Beruhigungsmittel?« »Das nehme ich auch ein, ja.« ›Komische Sache‹ bedeutete Gewalttat. Dieser Bonaparte war extra aus Queensland zur Aufklärung des Leuchtturmmordes nach Split Point geschickt worden, und diese Mordgeschichte ging Staley, der sich die größte Mühe gegeben hatte, sie zu klären, ständig durch den Kopf. Er beauftragte Wachtmeister Roberts, durch seine Frau etwas Tee für Inspektor Bonaparte bringen zu lassen. Roberts wurde knallrot und entfernte sich schnell. Ein Junge brachte die Salbe, die Roberts entgegennahm. Als Mrs. Staley mit dem Tablett an die Hintertür kam, nahm er auch das in Empfang, während sein Vorgesetzter telefonierte und Bony sich Salbe auf die wunden Stellen rieb. Als Roberts wieder hinausgehen wollte, rief Staley ärgerlich: »Tür zu!« Staley gelang es, die Flugkarte zu bestellen, indes Bony die zweite Tasse Tee trank und bereits wohler aussah. Auf Staleys Schreibtisch lag plötzlich ein Kamm. Er betrachtete ihn und blickte dann fragend in die blauen Augen des Besuchers. »Ich möchte diesen Kamm Oberinspektor Bolt zukommen lassen«, sagte Bony leise. »Welches wäre der beste Weg?« »Ich schicke ihn per Post ans Präsidium meines Bezirks, das ihn nach Melbourne weiterbefördert.« »Zuviel Bürokratie, Staley. Ich kann bürokratische Methoden nicht leiden. Und Ihr Präsidium würde neugierig sein. Die Post mag ja einwandfrei arbeiten, aber diesen Kamm kann ich ihr nicht anvertrauen.« »Roberts könnte ihn, wenn Sie das anordnen, direkt zu Oberinspektor Bolt fahren. Er hat ein eigenes Motorrad und macht die Fahrt gern.« »Schön. Packen wir das Ding ein.« 71
Der Kamm wurde zwischen Pappe in ein starkes Dienstkuvert gelegt. Staley wurde immer neugieriger. »Tippen Sie doch bitte einen Brief für mich.« Der Mann in Uniform setzte sich vor die Schreibmaschine, und Bony diktierte: »Ich gehe für einige Tage nach Adelaide. Bitte inzwischen durch Ihre Leute die Haare in diesem Kamm daraufhin untersuchen lassen, ob sie von dem Toten stammen können. Werde Sie benachrichtigen, wann ich voraussichtlich aus Lome zurückkomme, und bitte, mir dann einen Ihrer erfahrenen Leute zu schicken.« Staley begann förmlich zu schielen, als er zusah, wie Bony das Papier unterschrieb und zu dem Kamm in den Umschlag steckte. Er hatte sich aus der Kriminalabteilung versetzen lassen müssen, um schneller zum Oberwachtmeister befördert zu werden, und war vom Ehrgeiz geplagt, wieder in die alte Abteilung zu kommen, wo ihm dann der Rang eines Kriminalinspektors zustand. Er war tief befriedigt, als Bony sagte: »Schönen Dank für Ihre Mitarbeit. Ich werde Sie natürlich in meinem Schlußbericht nicht vergessen. Sie wissen selbstverständlich nichts vom Inhalt dieses Kuverts, klar? Es empfiehlt sich, Ihr Präsidium nur zu verständigen, daß ich Sie gebeten habe, ein Schreiben an Oberinspektor Bolt zu befördern.« Staley sagte sofort zu. Er ging mit Bony hinaus zu dem kleinen Wagen, sah ihn nach Colac abfahren und ging wieder ins Büro, wo er Roberts über die Fahrt nach Melbourne instruierte. Wenn die Haare an dem Kamm von dem berühmten Toten stammten? Als Staley drei Tage später gerade zum Mittagessen gehen wollte, erschien Wachtmeister Roberts in der Tür zum Büro. In seinem runden Gesicht flackerten aufgeregt die dunklen Augen. »Wagen vorgefahren. Sieht aus wie der vom Chef.« Er verschwand. Staley wischte die ungeordneten Papiere vom Schreibtisch in die Schubladen und räumte die Tischplatte auf. Das konnte er knapp noch schaffen, denn schon hörte er schwere Schritte auf den nackten Bohlen vor den Büros. Der eintretende Mann hatte eine zigarrenförmige Figur. Als er den Hut an einen Haken gehängt hatte, sah sein Kopf aus wie rosa Marmor. Graues Haar, das dicht auf den Ohren lag, umgab ihn wie ein Kranz. Wie der Kopf, waren auch seine Füße lächerlich klein im Verhältnis 72
zum Leibesumfang. Es war bekannt, daß seine braunen Augen wie Dolche bohren, aber auch kindliche Harmlosigkeit zeigen und einen Sünder zu Reuetränen zwingen konnten. »Guten Tag, Sir«, sagte Staley in steifer Haltung. »Tag, Oberwachtmeister. Hat sich Inspektor Bonaparte schon gemeldet?« »Nein, Sir.« »Hm. Sagte, er wollte um ein Uhr hier sein.« Die braunen Augen bohrten sich in Staleys Augen, der den Blick ohne Wimperzucken aushielt. Oberinspektor Bolt setzte sich auf den noch freien Stuhl. »Von Inspektor Bonaparte haben Sie aber gewiß, seit er hier ist, schon gehört? Setzen Sie sich doch.« »Danke sehr, Sir. Ja, ich habe von ihm gehört.« Bolt holte eine Pfeife aus der Tasche und füllte sie aus einer Blechpackung mit Tabak. Staley dachte, Oberinspektoren müßten eigentlich Tabaksbeutel besitzen, wenn sie schon Pfeife anstatt Zigarren rauchten. »Sie wissen, was er mir geschickt hat?« fragte Bolt, und Staley nickte, da er wußte, daß Ausflüchte zwecklos waren. »Haar aus dem Kamm, das dem der Leiche im Leuchtturm entspricht. Hat er Ihnen nicht gesagt, wo er den Kamm gefunden hatte?« »Nein. Er hatte einen schweren Schlag auf den Schädel bezogen. Mußte sich noch verarzten lassen, bevor er nach Colac fuhr.« »Auf den Schädel, so? Unerfreulich, Staley. Weiß Ihr Bezirksinspektor darüber Bescheid?« »Nein, Sir. Inspektor Bonaparte hat sich nicht beklagt, jedenfalls nicht dienstlich. Deutete an, daß unser Präsidium das nicht zu wissen brauchte.« Der Oberinspektor grinste, nickte langsam mit dem kleinen Kopf und betrachtete Staley wie eine verdächtige Fußspur. »Werde mir das merken«, sagte er. »Im Bezirk können wir einen erfahrenen Mann in der Kriminalabteilung gebrauchen. Wäre das was für Sie?« »Aber sehr, Sir. Der Job hier ist ziemlich langweilig – hauptsächlich Betrunkene. Wäre es vielleicht –« 73
Die Tür ging auf – vor ihnen stand Bony und lächelte sie an. Bolt erhob sich aus dem Sessel, Staley stand. Er stutzte ein wenig, daß Bolt so erleichtert aussah. »Oh, schön, daß Sie hergekommen sind! Freue mich, Sie hier begrüßen zu können.« Und zu Staley sagte er: »Die Straße nach Colac ist ja schandbar. Ich schlage vor, wir gehen irgendwo Mittag essen und klatschen ein bißchen über die lieben Nachbarn. Kennen Sie ein Lokal, wo wir in Ruhe schwatzen können?« Staley hatte eine feine Idee. Er erklärte, seine Frau würde ihnen gern Essen bereiten, wenn sie nicht gerade Steinbuttfilets à la Marnier haben müßten. Bolt sagte, er esse Diät, und Bony wollte mit Tee und Sandwiches zufrieden sein. Er bestand darauf, daß Staley an dem leichten Mahl teilnahm, das ihnen seine Frau hübsch angerichtet vorsetzte. Nach dem Essen saßen sie auf der kleinen Diele, wo Mrs. Staley ihnen versicherte, sie dürften hier nach Herzenslust rauchen. Als sie gegangen war, flüsterte Bolt, indem er Bony scharf ansah, nur ein Wort: »Los.« »Stammten die Haare im Kamm vom Kopf des Toten?« »Ja.« »Dann gehören auch der Anzug und der Koffer, die ich gefunden habe, zu ihm. Das stand für mich schon vorher fest. Sprechen wir jetzt inoffiziell?« »Ja, ja«, sagte Bolt resigniert. »Und unser Nichteinmischungspakt gilt weiter?« »Ja, Sie eigensinniger Kerl.« »Ihre Ähnlichkeit mit meinem Chef ist verblüffend«, sagte Bony gedehnt. »Na, fangen wir an. Als ich mir klar wurde, daß ich die Kleidung des Ermordeten finden mußte – was Ihren Leuten nicht gelungen war –, fand ich sie auch, und zwar den kompletten Anzug vom Hut bis zu den Schuhen. Der Anzug ist von einem kleinen Schneider in Adelaide angefertigt, der speziell Uniformen für Offiziere der Handelsmarine macht. Und zwar war er bestellt von einem gewissen Baker. Der soll eines Tages gekommen sein, ließ sich Maß nehmen, wählte den Stoff aus, bezahlte den Anzug und sagte, er würde nach drei Monaten wiederkommen. Das war vor anderthalb Jahren, und der Schneider wußte von ihm nur noch, daß er zu einer Schiffsbesatzung gehörte und noch 74
verhältnismäßig jung war. Als ihm ein Bild des Toten gezeigt wurde, glaubte er eine ›entfernte Ähnlichkeit‹ zu erkennen, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen. Der Preis des Anzugs betrug dreiundzwanzig Pfund, und die Bücher wiesen aus, daß er bar bezahlt worden ist. Unterzeug und Schuhe von der Art, die in ganz Australien massenhaft verkauft wird, geben keine Fingerzeige. Die Schuhe sind noch so neu, daß ich aus ihnen keinerlei Schlüsse auf die Wesensart des Mannes ziehen kann. Raubabsichten lagen bei dem Mord nicht vor, denn ich fand bei den Sachen eine Brieftasche mit neunundachtzig Pfund in Banknoten sowie sieben Shilling und fünf Pence in Münzen. Dieses Geld darf ich Ihnen hiermit überreichen. Scheine und Tasche ergeben keinerlei Spur, sie sind in Adelaide vergeblich auf Fingerabdrücke untersucht worden. Merkwürdig ist an dem Geld nur, daß die Münzen mit in der Brieftasche lagen, denn sonst trägt der Mensch das Kleingeld doch in der Hosentasche. Ich neige zu der Ansicht, daß der Mörder das Hartgeld in die Brieftasche geschoben hat, als er dem Toten die Kleidung auszog.« Mit ausdruckslosen Mienen betrachteten Bolt und Staley die Brieftasche, die Bony neben ihnen auf einen Stuhl legte, und eine Uhr, die er hinzufügte. »Als der Mörder beschloß, die Kleidung zu verstecken, um die, Identifizierung des Toten zu verhindern, nahm er ihm die Armbanduhr ab. Sie ist auch untersucht worden, ohne Ergebnis. Von Juwelieren und Grossisten habe ich erfahren, daß Uhren von diesem Fabrikat in Australien nicht handelsüblich sind. Die Werke sind in der Schweiz hergestellt, die Gehäuse in den Vereinigten Staaten, von wo aus die Teile vermutlich an Juweliere und Uhrmacher in Singapore oder Hongkong exportiert werden. Ins Gehäuse ist die Seriennummer des Fabrikanten geprägt, die Sie vielleicht auf die Spur des Käufers bringt. Außerdem ist da eine ganz dünn eingekratzte Nummer zu finden, und die Juweliere, die ich befragt habe, sind der Meinung, daß das ein Reparaturzeichen ist. Ich habe mich belehren lassen, daß die meisten Uhrmacher eine Kartei führen, in die sie die Einzelheiten der Reparaturen mit Namen und Adresse der Kunden eintragen, das Datum des Eingangs und die Ablieferung oder Absendung der Uhren. Sie können bei allen Juwe75
lieren und Uhrmachern in Australien nachfragen lassen. Im Bezirk Südaustralien ist das bereits erledigt.« Bony machte eine Pause, um sich eine Zigarette anzuzünden. Weder Bolt noch Staley sagten ein Wort. »Bei der Uhr, die in dem leichten Regenmantel des Toten steckte, fand ich einen Ring – einen Siegelring.« Zwei Paar scharfe Augen richteten sich auf den Ring, den Bony zu Uhr und Brieftasche legte. »Sie werden bemerken, daß der Ring schon einmal gelötet und jetzt wieder gebrochen ist. Die Juweliere, denen ich den Ring vorgelegt habe, waren von seinem Anblick nicht begeistert. Offen gesagt, empörte es ihr fachmännisches Auge, daß hier ein achtzehnkarätiger Goldring mit Gold von acht Karat gelötet worden ist. Sie haben mir versichert, daß kein Goldschmied, der auf sich hält, so einen Fehler begehen würde, und ferner, daß die Arbeit, obgleich die Lötstelle nicht gehalten hat, immerhin von jemandem gemacht sei, der sich darauf versteht. Es gilt daher, den Juwelier zu finden, der einen Lehrling oder Gesellen mit solchen Arbeiten betraut. Vielleicht finden sich dann auch entsprechende Eintragungen in seinen Büchern, oder sein Gedächtnis hilft ihm. Durch Ring und Uhr läßt sich vermutlich noch mehr über diesen Mann namens Baker in Erfahrung bringen. Wie Sie sehen, trägt er die Buchstaben B. B., was zweifellos Benjamin, Bertrand oder Bernhard Baker heißen soll. Da er von einer gewöhnlichen Sorte ist, von der Tausende verkauft werden, kann nur der beim Goldschmied begangene Lötfehler Ihnen für Ihre Ermittlungen von Nutzen sein. Bei der Kleidung befand sich auch ein Koffer, der ein Paket in braunem Papier enthielt. In dieses Papier waren dreiunddreißig Perlenketten gewickelt. Hier sind zwei davon. Imitationen. Die Ketten kosten in Australien ungefähr fünf Pfund das Stück.« Bony legte die Perlen zu den übrigen Stücken. Bolt fragte nach einigen Sekunden: »Wo sind die anderen einunddreißig Ketten?« Staley blickte, nachdem auch er interessiert die Perlen betrachtet hatte, Bony an, der strahlend lächelte. Ein flüchtiger Seitenblick auf Bolt zeigte ihm ein Gesicht, in dem ein hoffnungsvoller Ausdruck erstarb. Staley war verblüfft. Daß ein Inspektor einen Vorgesetzten so 76
anlächeln durfte, ging gegen sein Gefühl für Disziplin. Über das, was Bolt jetzt sagte, erschrak er ordentlich. »Sie wollen wohl nichts ’rausrücken, was? Einfach nicht bereit dazu. Nichts will er sagen, bis er weiß, wer den Mord begangen hat – wie Sherlock Holmes, was? Ein ganz verfluchter Bursche!« »Aber ich weiß doch nichts«, protestierte Bony. »Sie wissen aber, wo Sie die Kleidung und den Koffer gefunden haben. Also wo?« »Wo die Wolken einen silbernen Rand haben«, erwiderte Bony. »Akzeptieren Sie nur erst mal, was ich Ihnen mitgeteilt habe. Der Tote war Offizier in der Handelsschiffahrt. Er heißt Baker. Schmuggelte imitierte Perlen, an denen er schwer verdient hat. Mit Ihrem großen Stab an Fachleuten werden Sie doch gewiß die Identität des Toten, seine Herkunft und seine persönlichen Beziehungen rasch ermitteln. Außerdem können die Uhrmacher Ihnen behilflich sein. Und den Ring haben Sie auch noch. Wenn Sie mir die Informationen geben, die Sie aus all dem gewinnen, werde ich Ihnen um so schneller sagen können, wer den Mann getötet hat. Nun gebe ich Ihnen noch eine Notiz mit.« Bolt seufzte, als habe er Magenschmerzen, und schaute Staley an. Der legte einen Schreibblock und Bleistift bereit. »Ich wüßte gern, ob einer Ihrer Leute irgendwann einmal Mr. Edward Penwarden in seiner Werkstatt aufgesucht hat. Ferner will ich wissen, ob jemand von dem Reparaturtrupp, der vor Weihnachten letztes Jahr am Leuchtturm gearbeitet hat, jemals in Penwardens Werkstatt gewesen ist. Und ob der Truppführer noch weiß, ob er aus irgendeinem Grunde den Hilfsarbeiter zu Penwarden geschickt hat.« Staley war mit Schreiben fertig. Bolt sagte: »Hilfsarbeiter? Was für ein Hilfsarbeiter?« Zum zweitenmal lächelte Bony so freundlich. »Wissen Sie denn nichts von dem Hilfsarbeiter? Das dachte ich mir. Er ist in der Akte gar nicht erwähnt. Überhaupt keine Notiz von dem Mann genommen. Zu unwichtig. Kein Wunder, daß Sie keine Resultate erzielen.« Bolt atmete wie ein Asthmatiker. »Zum Donner –« begann er, doch ein Wink brachte ihn zum Schweigen. »Kamerad Krach, keinen Krach, bitte. Ich muß ab und zu auch meinen kleinen Triumph haben. Jetzt muß ich aber aufbrechen. – Sagen 77
Sie Ihrer Gattin meinen Dank, Oberwachtmeister. Ich komme mal wieder vorbei und bedanke mich dann persönlich. Au revoir. Folgen Sie mir nicht zu dicht auf den Fersen, denn ich kann mir nicht leisten, in Ihrer Nähe gesehen zu werden. Teilen Sie mir durch Staley mit, welche Schlüsse Sie aus den gefundenen Sachen gezogen haben.« Oberinspektor Bolt hatte jetzt den Blick, unter dem Verbrecher weich werden und Reue empfinden. »Passen Sie lieber auf sich selbst auf«, knurrte er wütend. »Ich will mit Ihren Leuten keinen Ärger haben, zum Teufel! Wiedersehen!« Er blickte Staley grimmig an, während sie beide auf die sich entfernenden Schritte horchten. Dann setzte er sich hin, nahm seine erkaltete Pfeife zur Hand und zündete sie an. Staley nahm auch Platz und tippte Bonys Anweisungen ab. Sie sprachen kein Wort. Staley verschloß sorgfältig die Beweisstücke. Als Bolt sich erhob, um zu seinem Wagen zu gehen, fixierte er Staley streng und sagte: »Nicht hinter ihm her jetzt. Der Bursche ist empfindlich wie ein Backfisch. Na, ich habe oft auf Split Point zu tun. Wir mischen uns da nicht ein, klar? Sie haben weiter nichts zu tun als auf Ihre eigene Sicherheit zu achten. Und wenn er Sie ins Vertrauen zieht, können Sie von Glück sagen.« Staley stand steif da. »Verstehe vollkommen, Sir.« Er hörte die betont energischen Schritte draußen, und als alles still war, sagte er laut: »Bin ich im Kommen, oder muß ich abtreten?«
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bgesehen vom Aussehen war Oberinspektor Bolts Privatwagen ganz in Ordnung. Im Kofferraum fand Bony einen alten Hut, ein Paar Schuhe mit Gummisohlen, ein dickes Knäuel Angelschnüre und verstreut eine Anzahl Angelhaken – Schlußfolgerung: der Chef befand sich auf einer Urlaubsfahrt. Ein paar Meilen hinter Lome bog Bony von der Straße ab auf einen kleinen freien Platz unter Bäumen, bremste 78
und schlief noch, als der gepflegte Dienstwagen mit dem Oberinspektor auf dem Wege nach Melbourne vorbeisauste. Um fünf ratterte Bolts Privatwagen wieder über die Küstenstraße. Langsam erklomm er, alle Kurven sehr vorsichtig nehmend, die Steigungen und rollte summend die Hänge hinab. Bony konnte im Fahren aufs Meer blicken, die Möwen sehen und die Schönheiten dieser Küste richtig genießen, doch er dachte mit einem sehnsüchtigen Seufzer an den Tag, da er einen Autosalon betreten und im eigenen, modernen Buick hinausfahren könnte. Vor der Gaststube des ›Hotels zur Bucht‹ standen zwei Lastwagen und ein Personenwagen. Er fuhr an ihnen vorbei und parkte seinen ›Schlitten‹ in einem vorn offenen Schuppen. Holte seinen Koffer heraus und ging, begleitet von dem hocherfreuten Stug, zum Vordereingang. Er sollte freilich seinen neuen Freunden nicht entgehen: Aus der Tür der Gaststube kam gerade Dick Lake. »Guten Tag! Na, wie wär’s mit ’nem zünftigen Schluck?« Er lächelte breit. Moss Way schrie, die neue Runde stehe schon auf dem Tisch. Wie sollte ein Mann unter diesen Umständen abstinent bleiben? Moss Way nahm Bony den Koffer ab, Lake ergriff ihn beim Arm und führte ihn an die Theke. Das Lokal sah voll aus, und die dicke Mrs. Washfold stand lachend in ganzer Breite am Ausschank. »Fein, daß Sie wieder da sind, Mr. Rawlings!« rief sie. »Gute Fahrt gehabt?« »Kann ich wohl sagen«, erwiderte Bony. »In Anbetracht der Versuchungen, die mich hier erwarteten, habe ich mich wohl gefühlt. Und jetzt«, er hob das Glas, das Dick Lake ihm reichte, »zum Wohl allerseits! Und gleich noch ’ne Runde.« »Wo sind Sie gewesen?« fragte jemand. Bony entdeckte Tom Owen, dessen kleine graue Augen ihn fast feindselig musterten, während seine Worte durchaus freundlich klangen. »Bin über Lome nach Colac gefahren und weiter nach Mount Gambier. Dann nordwärts zur Murraybrücke, ’rüber nach Adelaide und wieder zurück«, sagte Bony leichthin und fügte im gleichen Ton hinzu: »Lome können Sie geschenkt haben.« »Ganz übler Platz«, stimmte jemand zu, und Bony fragte Moss, ob sie ihre Fahrt über den Engpaß von Sweet Fairy Ann gemacht hätten. 79
»Nein! Haben gewartet, weil wir Sie mitnehmen wollten. Aber gearbeitet haben wir tüchtig, was, Dick?« »Zwei Fuhren von Dirty Gully und eine Fahrt nach Geelong mit Särgen von Papa Penwarden.« »Haben hier ’rumgehockt und ein Bier nach dem andern gepichelt«, bemerkte die Wirtin. »Na, man langsam!« sagte Moss. »Wir haben auch noch vierzig Zentner Kartoffeln für Mama Wessex ausgebuddelt und die mit den Särgen nach Geelong gebracht.« »Hätten wir eigentlich in die Dinger ’reinpacken sollen«, warf Lake ein. Er lächelte zufrieden in die Runde. »Exportiert ihr von hier noch was anderes als Kartoffeln und Särge?« fragte Bony. »Ja. Wolle und –« »Leere Bierfässer«, ergänzte schlagfertig ein Maurer. Als das Gelächter verstummte, sagte einer: »Ist deine Frau mit Mrs. Wessex nach Geelong gefahren, Tom?« »Heute morgen, ja. Müßten bald zurück sein. Das fällt mir grade ein.« Owen leerte hastig sein Glas und wand sich durch das Gedränge, um zur Tür zu gelangen. »Masse Zeit noch«, sagte Lake lachend, »die kommen erst spät wieder.« Owen schritt hinaus. Einen Moment herrschte Stille im Lokal. »Begreife nicht, daß Tom solche Angst vor seiner Frau hat«, bemerkte einer der Maurer. »Mir kommt sie immer ganz friedlich vor.« »Bestimmt sperrt sie ihn nicht in die Hundehütte«, sagte Moss trokken. »Ulkiger Kauz, der Owen.« »Kann ich euch flüstern«, fügte ein Mann mit Seehundsbart hinzu. »Ach, ich weiß nicht recht«, sagte Lake, um seine Meinung zu verteidigen. »Tom ist’n guter Kerl, der keinem was tut. Der ist in Ordnung. He, Moss, es geht wieder los.« »Ich muß ewig bezahlen«, murrte sein Kumpan. Mrs. Washfold füllte aus einem Krug die Gläser nach und sagte: »Die Frauen sind sicher bald wieder hier. Mrs. Wessex bleibt bestimmt nicht mit Absicht lange aus, wo Mary ihr doch in letzter Zeit ziemlich viel Sorge macht und es ihrem armen Mann so schlecht geht. Mrs. Lance hat mir erzählt –« 80
»Geht’s dem noch nicht besser?« erkundigte sich der Maurer bei Dick Lake. »Kein bißchen. Der ist ganz erledigt. Hab’ ihn auf der Veranda gesehen, als ich mit Moss die Kartoffeln buddelte.« »Es ist scheußlich!« rief Mrs. Washfold, indem sie Bony ansah, um Zustimmung zu finden. »Er wird nicht zur Kirche gehen können, wenn der Herr Pfarrer kommt. Mrs. Wessex hat mir vorigen Monat erzählt, sie hätte einfach keine Zeit, ihm vorzulesen oder so was, weil sie mit der Farm so viel Arbeit hat. Sie wollte ihn ja zu ihrer Schwester nach Melbourne schicken, aber der Alte will nicht von hier weg.« »Ist er denn so schwer krank?« fragte Bony. »Ziemlich schwer. Seit einem halben Jahr geht’s ihm besonders schlecht.« »Und was war er für’n gewaltiger Arbeiter!« warf Dick Lake ein und machte Bewegungen wie ein Dirigent. »Der beste Holzfäller, der mir je vorgekommen ist. Und ein ganz gebildeter Mensch dabei. Als wir noch Kinder waren, hat er uns unten an der Scheune oft Abenteuergeschichten vorgelesen. Wir mochten den alten Wessex alle gern. Und das verdiente er auch. Und Mama Wessex hat uns was gekocht, wenn wir angeln gingen.« Zum erstenmal an diesem Nachmittag hörte er mit seinem ewigen Lächeln auf. »Er hat immer gelesen wie doll, und jetzt kann er nicht mal ’ne Zeitung halten, und kein Mensch ist da, der sie ihm vorliest. Wie’n herrenloser Hund kommt er einem vor. Hätte sich gern auf der Veranda mit uns unterhalten, aber Mama Wessex saß uns dauernd auf der Pelle, daß wir mit den verfluchten Kartoffeln fertig wurden.« Mrs. Washfold machte eine schnelle Bewegung und klopfte dann hart mit einer Blechdose auf die Theke. Alles lachte, Lake grinste wieder, holte rasch einen Shilling aus der Tasche und steckte ihn in die Büchse. Mrs. Washfold stellte sie wieder auf das Bord hinter sich. »Wie füllt sich das Ding denn in diesem Jahr?« fragte der Mann mit dem Seehundsbart. »Mit dem, was Sie ’reintun, bestimmt nicht schneller als früher«, gab die Wirtin zurück. »Ihr Kerle flucht ja nicht so tüchtig wie die Sommergäste. Wir müssen mehr zusammenkriegen als voriges Jahr. War das schlechteste Ergebnis an der ganzen Küste.« 81
»Siebenundvierzig Pfund waren’s doch voriges Jahr, was?« frage Moss Way. »Und sechs Shilling zwei Pence. Die zwei Pennys hatte Bert noch auf dem Fußboden gefunden.« »Wohin geht denn das Geld?« forschte Bony. »Kinderkrankenhaus. Das hat letztes Jahr aus den Schimpfwörterbüchsen über zwanzigtausend Pfund gekriegt«, gab Lake ihm Auskunft. »Wollen Sie nicht auch mal was blechen?« »Will verdammt sein, wenn ich das tue«, sagte Bony und bekam im selben Moment die Büchse präsentiert. Er zahlte die Strafe, die Büchse verschwand. Zu Lake sagte er: »Sie sprachen vorhin von den verfluchten Kartoffeln.« Großes Geschrei, als er schon wieder einen Schilling einwerfen mußte, und Mrs. Washfold freute sich mehr, als wenn das Geld in ihrer eigenen Kasse geklappert hätte. Sie erzählte die Geschichte von drei Anglern, die sich absichtlich so lange mit Schimpfwörtern traktierten, bis jeder ein ganzes Pfund bezahlt hatte. Die Zeit verging. In kleinen Gruppen rüsteten sich die Männer zum Aufbruch. Bony verhinderte das, indem er noch eine Runde für alle bestellte und aufforderte mitzumachen. Er spürte schon die Wirkung des Bieres, stellte sich aber viel betrunkener, als er war. Lake am Arm fassend, sagte er: »Wieviel nimmt er eigentlich, der alte Penwarden, für seine Särge?« »Zehn Pfund. Für die Sorte, die er nach Melbourne schickt.« »Der, den ich da in seinem Lagerraum gesehen habe, ist aber wohl teurer?« »Sehr richtig. Der ist prima, was?« »Muß lange daran gearbeitet haben, um Glanz in die Flächen zu kriegen.« »Monatelang«, sagte Lake, indem er auf Bony zuschwankte, als verbeuge er sich vor dem Publikum. »Da wischt und reibt er monatelang. Eigentlich Zeitverschwendung, so was bloß zum Beerdigen zu nehmen, stimmt’s? Aber die aus dem roten Holz macht der Alte noch längst nicht für jeden! Das Holz kriegt er vom Murrayfluß.« So, so. Der im Lager wäre für Mrs. Owen, sagte er.« 82
Richtig. Den hat Tom Owen vorige Woche abgeholt. Menschenskind! Von mir aus können Sie den haben. Mir genügt ’ne Decke. – Hallo, da kommt noch Gesellschaft!« Das Knirschen auf dem Kies der Straße übertönte fast das Surren des Motors. Eine Tür knallte. In der Kneipe dämpften sich die Stimmen zu einem dumpfen Gesumm. Zwei Frauen waren eingetreten und stellten sich wie Männer vor die Theke neben Bony, der dicht bei der Tür stand. »Wieder heil zurück?« rief Mrs. Washfold. »War’s schön?« Die jüngere Frau kicherte. »Hundemüde sind wir. ’n Abend allerseits! Danke«, sagte sie zu Mrs. Washfold, »bloß einen ganz kleinen.« Sie sah, daß Bony sie mit fragend hochgezogenen Augenbrauen betrachtete, während er der Wirtin eine Zehnshillingnote hinhielt. Die Männer unterhielten sich weiter, Bony schien von den Etiketts der Flaschen hinter der Theke fasziniert zu sein. Die Frauen bestellten Gin mit Angostura, und Mrs. Washfold schwatzte mit ihnen über Stoffpreise. Auf einmal sagte sie: »Dies ist Mr. Rawlings, der ein paar Wochen hierbleibt. Mr. Rawlings kommt oben von Riverina und macht Eheferien. – Mrs. Owen und Mrs. Wessex.« Bony verneigte sich. Mrs. Owen kicherte, Mrs. Wessex blickte ihn forschend an. Was diese Frauen miteinander verband, war ihm noch schleierhaft, denn Mrs. Owen war klein und zart wie ein Vogel, Mrs. Wessex war hager und hatte etwas Gespanntes. Sie war nicht nur älter als Mrs. Owen, sondern trug auch die Spuren ungewöhnlicher Sorgen und Leiden im Gesicht. Ihr Rücken war von schwerer Arbeit gebeugt, ihre Haut wetterhart. »Ich verlebe meine Ferien gern an Orten, wo es ruhig ist«, sagte Bony zu den Frauen. »An einen schöneren hätte ich kaum kommen können. Ich hoffe, daß Split Point nie so wird wie Lome.« »Eines Tages wird es leider doch so werden«, sagte Mrs. Wessex, deren dunkle Augen ihn intensiv musterten. »Dann hoffentlich nicht, solange ich lebe – nachdem ich es eben erst für mich entdeckt habe.« Mrs. Washfold schaltete sich ein. »Ich erzählte gerade Mr. Rawlings, wie schlecht es Mr. Wessex zur Zeit geht. Vielleicht hat er mal Lust, einen Spaziergang zu Ihnen zu machen und Ihrem Mann einen Nachmittag Gesellschaft zu leisten? Das heitert ihn vielleicht auf.« 83
»Aber gern würde ich das machen«, griff Bony den Vorschlag auf, und Mrs. Wessex fragte: »Schafzüchter sind Sie?« »In bescheidenem Rahmen.« Wieder der prüfende Blick. Diese Frau, Mitte Fünfzig, trug dunkle Kleidung nach der Mode von vor zwanzig Jahren. Wie beifällig nickte sie und sagte: »Mein Mann würde sich bestimmt freuen, wenn Sie kämen, Mr. Rawlings. Vielleicht einmal nachmittags. Mich finden Sie dann irgendwo beim Hause. Wenn ich dort nicht bin, gehen Sie hinein, falls Sie nicht meinen Mann auf der Veranda schon sehen. Fertig, Edith? Wir müssen gehen.« Mrs. Owen winkte ins Lokal, die anwesenden Männer grüßten die Frauen beim Hinausgehen höflich. Nachdem ihr Wagen abgefahren war, fühlten sie sich wieder ungezwungener. Der Wirt erschien. »Die Frauen kommen noch vor Dunkelheit nach Hause«, bemerkte er. »Müssen sie auch«, bestätigte seine Frau. »Mr. Rawlings will Mr. Wessex mal besuchen. Sich mit ihm unterhalten.« »Hat auch zwei Shilling in die Schimpfwörterbüchse tun müssen«, fügte ein Maurer hinzu. »Das ist gut.« Washfold wandte sich an seine Frau. »Geh du jetzt ’raus und sorge fürs Abendessen. Ich kriege vielleicht die Herren dazu, daß sie noch mehr einwerfen müssen.« Nachdem seine Frau gegangen war, schrie Washfold jedesmal laut, wenn er einen anreden wollte. Die Unterredung bestand weiter aus anständigen Gesprächen und machte Bony, der eine wachsende Freundlichkeit spürte, viel Spaß. Von Lakes Gesicht schien das Lächeln nicht mehr weichen zu wollen. Er hielt Bony fest am Arm und stotterte: »Wie ist’s mit der Fahrt nach Sweet Fairy Ann?« »Wir müssen morgen für Tom Owen Kartoffeln buddeln«, mischte Moss sich ein. »Machen wir. Also einen andern Tag, klar? Feine Landschaft da hinter Sweet Fairy. Muß schon sagen, Mr. Rawlings, sind ’n guter Knabe. Ist der nicht ’n guter Knabe, Bert? Will Ihnen mal was sagen, Mr. Rawlings: Wenn Sie ’n wirklich feinen Sarg haben wollen, um ihn unter Ihr Bett zu schieben, bringe ich den alten Penwarden dazu, daß 84
er einen für Sie macht. Bin mit ihm sehr befreundet. Will’s ihm gleich morgen mal sagen.« »Wir müssen morgen für Tom Owen Kartoffeln buddeln«, wiederholte Moss. »Nun mal los, wir haben genug getrunken.« Moss zwinkerte Bony zu, er möge ihm helfen. Sie ergriffen Lake jeder an einem Arm und führten ihn zum Ausgang. »Noch einen für den Weg«, forderte Lake lachend. »Wir buddeln morgen die Kartoffeln für Owen«, sagte Moss zum drittenmal. »Ich will nicht bud –« Moss hielt ihm fest den Mund zu. »Wir wollen nicht noch mehr Geld in die Schimpfwörterbüchse stekken«, sagte er entschieden. Mit Bonys Hilfe drängte er den lachenden Dick Lake hinaus und an den schweren Lastwagen. Sie hoben ihn ins Fahrerhäuschen und knallten die Tür zu. Bony heiter zunickend, kletterte Moss hinters Lenkrad und fuhr unter langgezogenen Huptönen davon.
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ony stieß von allen Seiten gegen das Geheimnis des Leuchtturms, ohne ein verdächtiges Knirschen zu hören. In der Gemeinde Split Point mußten irgendwo versteckte Einflüsse seinen Bemühungen feindlich entgegenwirken. Die Tatsache, daß Tom Owen, den er zum erstenmal gesehen hatte, als Mary Wessex Selbstmord begehen wollte, versucht hatte, ihn zur Umsiedlung nach Lome zu bewegen, paßte noch gut zu der üblichen Zurückhaltung konservativer Leute. Daß jemand, während er mit Fisher im Turm gewesen war, sich auf Zehenspitzen über den Hof geschlichen hatte, stand freilich auf einem anderen Blatt und mußte für die Aufklärung des Falles größte Bedeutung bekommen, wenn er erst wußte, ab der Schlag, den 85
er am Klippenrand auf den Kopf bekommen hatte, von Menschenhand ausgeführt war. Nur seine Willenskraft, verstärkt durch die Furcht vor tödlichem Absturz, hatte ihn bis auf das Gras des Oberlandes gebracht. Da war er ein paar Minuten liegen geblieben, ehe es ihm gelang, sich aufzurichten. Er hatte nach einem Täter geforscht, hatte den Pfad auf der Klippe untersucht, aber nur seine eigene Fährte und die des Hundes entdeckt. Er erinnerte sich, daß der Hund neben ihm gewesen war und ihm den Nacken beleckt hatte, daß er bellte und unruhig hin und her sprang, wahrscheinlich erregt durch den Blutgeruch. Als er den Klippenrand unmittelbar über der Stelle, wo er den Hieb von oben empfangen hatte, aufmerksam betrachtete, fand er dort ein Loch, in dem ein ziemlich großer Stein gelegen haben mußte. Daneben lag noch ein Stein, den er probeweise in den Abgrund stieß. Eine ganz leichte Sache. Um klarere Beweise zu finden, schob er sich noch einmal auf den Saumpfad und hielt sich, wie beim ersten Abstieg, an einem kleinen Felsvorsprung und in einer Spalte fest. Er sah nun, daß sich sein Kopf knapp dreißig Zentimeter unterhalb des Lochs befand, in dem der dicke Stein gelegen hatte. Nun war erst recht unsicher, ob er von oben erschlagen werden sollte oder ob der Fall des Steins ein Zufall war. Jetzt suchte er auf den kahlen sandigen Stellen des Oberlands nach Abdrücken eines Stiefels oder Schuhs Größe 38 bis 39 – der Fährte des Mannes, der auf Zehenspitzen gegangen war –, fand jedoch keine. Und als er über den langen Abhang zum Seestrand hinabging, um seinen Kopf zu kühlen, gab der Hund unterwegs keinerlei Zeichen, daß er einen ungewöhnlichen Geruch aufgefangen hätte. Seine Fahrt nach Adelaide hatte ihm Anlaß genug zu weiterem Nachforschen, aber keine schlüssigen Beweise gebracht. Er hatte einen Detektiv aufgesucht, mit dem er seit langem befreundet war, und ihn als wertvollen, inoffiziellen Mitarbeiter gewonnen. Da Uhr und Ring mit keinem der Juweliere in Adelaide in Verbindung zu bringen waren und Bony es für richtiger hielt, in Split Point seine Ermittlungen fortzusetzen, anstatt erst noch in anderen Großstädten nachzuforschen, hatte er nicht gezögert, die gefundenen Stücke an Bolt auszuliefern, denn er wußte, daß der Oberinspektor die Kriminalbeamten des ganzen 86
Bezirks für den Fall einspannen und etwaige Ergebnisse ihm mitteilen würde. Nachdem die Experten in Adelaide auch in den Umschlägen der Hose nichts von Bedeutung gefunden hatten, hatte Bony diese gar nicht erst Bolt vorgelegt. Der Tag nach seiner Rückkehr verlief ereignislos, und abends traf er in der Bar nur einen der Maurer als einzigen Gast. Mr. Washfold brachte ihnen ihre Getränke, und die Unterhaltung drehte sich um vielerlei. Der Tag war trübe und naß und ließ nicht erwarten, daß der nächste klar werden würde. Morgens begab sich Bony, gefolgt von Stug, im Sonnenschein, der schwarze Schatten über den Weg warf, wieder zum alten Penwarden, in Gedanken an den Span von rotem Eukalyptusholz, den er im Leuchtturm gefunden hatte. Bei der Begrüßung durch den alten Schreiner kam er sich vor wie der verlorene Sohn, den der Vater willkommen heißt. »Guten Tag, Mr. Rawlings, schönen guten Tag! Kommen Sie ’rein, und nehmen Sie Platz, wir wollen ein bißchen klönen.« »Wie geht es Ihnen denn?« »O danke, wie immer. Schlafe ja fest und gesund. Sie sind ja ’ne ganze Weile nicht hier gewesen.« »Nein. Ich bin mal nach Mount Gambier gefahren. Mir die Gegend anschauen. Ist schöner als bei mir zu Hause. Sie haben aber zu tun, wie ich sehe.« »Zu tun habe ich immer.« Die blauen Augen zwinkerten, die narbigen Fäuste ergriffen den offenen Sack mit Holzspänen. »Liegt an meiner Alten, muß ich sagen. Die hält mich in Bewegung. ›Ich habe dir schon dutzendmal gesagt, Penwarden, daß du mir einen Sack Späne bringen sollst‹, sagt sie dauernd.« »Die sind fein zum Feuermachen, was?« nahm Bony das Thema in Angriff und setzte sich auf die Werkbank. Besseres gibt’s dafür gar nicht, Mr. Rawlings.« Jedenfalls eine aromatische Mischung, dieser rote Eukalyptus und das Hartholz aus Victoria, dazu Seideneiche aus Queensland und ein bißchen Kien.« Ganz recht.« 87
Der alte Mann füllte den Sack, und Bony hielt das Thema Holzspäne in Gang. »Ich glaube, die Bretter von dem roten Holz sind schwerer zu hobeln als von Kiefer zum Beispiel?« sagte er. »Ja, etwas. Ich bearbeite aber gern Kiefer. Den Geruch liebe ich. Kiefer riecht so schön sauber. Ich muß dabei an die Zeiten denken, als ich noch in den Wald gehen und mir mein Holz selbst fällen konnte. Gibt’s in Ihrer Gegend viele Kiefern?« »Die echten nicht. Weiter oben im Nordwesten von Neusüdwales finden sie sich, sind aber nicht zum Sägen geeignet, die Stämme sind zu schwächlich. Haben Sie schon mal mit Blutbaumholz zu tun gehabt?« »Nein. Noch nicht mal der Name ist mir bekannt.« auf einmal achtete der alte Mann gar nicht mehr auf die Späne, die er in den Sack stopfte, seine hellblauen Augen in dem rosigen Gesicht blickten Bony so gespannt an wie Kinder einen Märchenerzähler. »Es ist der schönste Baum im Binnenland«, erklärte Bony. »Gehört zur Familie der Eukalypten. Ist verhältnismäßig selten, die schönsten Exemplare haben dicht über dem Boden einen Durchmesser von Armlänge. Der Saft ist rot wie Blut, und das Holz hat auch Blutfarbe.« Penwarden hatte den Sack fallen lassen, so daß die Späne wieder herausfielen. Er trat zu Bony vor die Werkbank und setzte sich auf einen Sägebock. »Hält es sich unter der Erde besser als der Eukalyptus vom Murray?« fragte er. »Das kann ich Ihnen leider nicht beantworten. Ich weiß nur, daß der Baum sehr langsam wächst, und daß, je langsamer ein Baum sich entwickelt, desto dauerhafter das Holz ist.« »Ja, das stimmt, Mr. Rawlings. Ach, ich hätte gern mal ein paar Bretter von dem Blutbaum.« Bony leitete nun, nachdem er den Zimmermann auf dieses ihm unbekannte Holz so neugierig gemacht hatte, zu einem anderen Thema über, da er wußte, daß der Alte jetzt mehr aus sich herausgehen würde. »Wann wollen Sie Ihren nächsten Sarg aus dem roten Holz anfangen?« Er sah dem Alten an den Augen an, daß er sich nur ungern über diese Sache unterhielt. 88
»Na, das kommt darauf an«, sagte Penwarden. »Der da drin stand, ist schon abgeholt. Owen hat ihn vorige Woche mitgenommen.« Er lachte. »Komme mir ohne ihn beinah einsam vor. Kann nicht leiden, wenn die Werkstatt bloß voll von dem schundigen Zeug ist. Ein Sarg aus Rotholz gibt gleich ein anständigeres Bild.« Bony lächelte, und der Alte erwartete einen Scherz von ihm. »War Mrs. Owen denn mit ihrem zufrieden?« Wieder lachte Penwarden gurgelnd. Ihr Mann sagt, er gefiele ihr, aber ihn anprobieren, wie ich es wollte, das tut sie nicht. Sie hatten eben gesagt, daß von dem Blutbaum –« »Sie werden wohl mit einem neuen anfangen müssen, schon allein, um mit Hand und Auge in Übung zu bleiben. Wann hatten Sie denn mit dem letzten begonnen?« »Begonnen? Oh, das weiß ich gar nicht mehr. So vor einem halben Jahr war’s wohl. Ja, sechs Monate habe ich gebraucht. Könnten Sie mir nicht ein bißchen von dem Blutholz beschaffen?« »Hm, ich weiß nicht. Doch – vielleicht mache ich das möglich. Ich habe einen sehr guten Freund ganz oben in Neusüdwales. Den kann ich vielleicht breitschlagen, daß er Ihnen einige Stämme schickt. Allerdings müßten Sie sich die selbst zusagen lassen.« Penwarden saß jetzt still da, mit strahlender Miene, die Hände auf den Knien in der Drillichhose. Unter diesem Lächeln der Begeisterung glätteten sich die wenigen Falten in seinem Gesicht. Sie besprachen die Transportmöglichkeiten für eine Fracht Stämme, die über Hunderte von Meilen Brachland zu einem Bahnanschluß in Victoria und von dort zu einem Sägewerk in Geelong geschafft werden mußten. »Ich müßte mir die Stämme aber noch vorher ansehen, ehe ich sie schneiden lasse«, sagte Penwarden entschieden. »Heutzutage kann man sich nicht darauf verlassen, daß es richtig gemacht wird. Aber jedenfalls vielen Dank, verehrter Mr. Rawlings. Sagen Sie Ihrem Freund nur, er soll mir die Rechnung zuschicken.« »Das kommt schon in Ordnung. Aber nur unter einer Bedingung.« »Und die wäre?« fragte der alte Mann, plötzlich besorgt. Daß Sie mir mitteilen, wie Ihnen das Holz für Ihre Zwecke gefällt. Es wird ja noch frisch sein und muß erst ablagern, deshalb können Sie das erst nach einer Weile feststellen. Aber mein Freund wird gern wissen wollen, und ich auch, was Sie davon halten.« 89
Wieder lächelte der Alte beglückt. »Selbstverständlich werde ich das tun, Mr. Rawlings. Will Ihnen sagen, was ich vorhabe: Ich werde Ihnen und Ihrem Freund jedem ein paar Buchstützen machen, in denen sich jedes einzelne Härchen Ihrer Augenwimpern spiegelt. Ja, das tue ich bestimmt.« Nun wollte Penwarden noch mehr von Bäumen hören, die nie auf den Holzmarkt kommen, und Bony beschrieb den westaustralischen ›Marmeladenbaum‹, der genau die Farbe und den Geruch von Erdbeermarmelade haben soll. Penwarden war schwer enttäuscht, als er vernahm, daß dieser Baum nur in Wüstengebieten wächst und selten marktfähige Maße erreicht. Bony begeisterte sich jetzt selbst an dem Thema. Er wurde von der Freude dieses Holzkünstlers so mitgerissen, daß er ganz vergaß, das Gespräch in die gewünschten Bahnen zu lenken, und sich mit dem Versprechen, bald wiederzukommen, von seinem Platz erhob. Er war schon hundert Meter von der Werkstatt entfernt, als er den alten Mann rufen hörte und ihn winken sah, er möge zurückkommen. »Ich will Ihnen mal was sagen, Mr. Rawlings«, fing Penwarden wieder an, indem er sein langes Haar mit den Fingern durchkämmte. »Im Augenblick ist hier keiner, der sich einen erstklassigen Sarg bestellt, und ich muß ja, wie Sie vorhin sagten, in Übung bleiben, damit ich nicht zum alten Eisen komme. Wie war’s also, wenn ich für Sie einen machte? Einen schönen, in den für zwei- oder dreihundert Jahre keine Kälte oder Nässe dringt? Die Bretter dazu habe ich und würde sofort anfangen.« Bony konnte sich nur wundern, daß es solche Menschen gab, die unser Zeitalter der lärmenden Gewöhnlichkeit verschönten. Aber er wollte ja mit dem Alten kein Geschäft machen: Er hatte ihm ohne Eigennützigkeit angeboten, ihm Blutbaumholz zu beschaffen – ganz abgesehen von dem, was er eigentlich mit ihm besprechen wollte –, und dieser bescheidene Mensch wollte sich gleich ebenso gefällig erweisen, um ihm nichts schuldig zu bleiben. Langsam nickte Bony, und langsam sagte er: »Sie sind wirklich nobel, Mr. Penwarden, und ich danke Ihnen schön.« Wieder lächelte der Alte wie ein Kind, sein Eifer illustrierte so recht die Freude des Handwerkers, dessen Kumt selten gewürdigt wird. »Kommen Sie aber bald, Mr. Rawlings. Wir werden dann gleich für 90
die erste Probe Maß nehmen. Es sind wahrhaftig schon Wochen vergangen, seitdem ich mal ordentlich auf Hochtouren gearbeitet habe. Das wird mir guttun. Inzwischen will ich nachsehen, was ich an Brettern noch liegen habe. Es müssen noch – Augenblick ’ mal. Ich werde tatsächlich alt. Ja, jetzt fällt’s mir ein. Ich hatte mit dem Polieren des Sarges für Mrs. Owen gerade angefangen, als der Mann im Leuchtturm gefunden wurde. Wachtmeister Staley kam noch her, da war ich gerade beim Vorhobeln. Nun, kommen Sie morgen zum ersten Anmessen, und später werden die Leute, die Ihren Sarg tragen, so bezaubert sein, daß sie ihn gern zum Friedhof bringen.« Das Lachen des alten Meisters noch in den Ohren und im Gedächtnis, nahm Bony wieder gemächlich den Weg zur Post, wo er ein Telegramm an den Bekannten aufgeben wollte, dem seine Blutbäume noch wichtig waren. Also wußte Penwarden nicht, daß der Sarg ins Haus von Mr. Wessex gekommen war. Und Staley war zur Zeit des Mordes in der Werkstatt des Alten gewesen und konnte daher an seinem Zeug sehr wohl einen Span von dem roten Holz zum Leuchtturm getragen haben. Um drei Uhr nachmittags trat Bony in Staleys Büro, der diesmal sofort aufstand. »Guten Tag, Sir.« »Guten Tag, Staley. Setzen Sie sich, wir wollen etwas besprechen. Wenn Sie Raucher sind, bitte. Noch keine Nachricht aus Melbourne?« »Nichts, Sir.« Staley fühlte sich erleichtert, für einen Moment. Aus einer Schublade holte er eine Pfeife. »Sie sind, wenn ich recht verstanden habe, seit neun Jahren hier«, sagte Bony. »Also werden Sie die Leute auf Split Point ja ganz gut kennen.« »Ja, Sir, ich denke wohl.« »Kennen Sie hier jemanden, dem zuzutrauen wäre, daß er mir den Schädel mit einem Stein einschlägt?« »Fähig wären eine ganze Menge dazu, aber bisher hatten wir keine Gewalttaten. Sind nicht solche bösartigen Typen, wie sie es in Melbourne gibt. Was natürlich nicht heißt, daß es möglich wäre.« »Wohnt hier jemand namens Baker?« »Nicht daß ich wüßte«, erwiderte Staley. »In Lome wohnt ein früherer Ladenbesitzer dieses Namens. Seine Angehörigen sind fast alle verheiratet, wohnen in Melbourne und Geelong. Oberinspektor 91
Bolt hat mal erwähnt, daß er entsprechende Erkundigungen einziehen lassen wollte.« »Hm. Was können Sie mir über einen gewissen Owen in Split Point sagen?« Die roten Brauen senkten sich tief über die kleinen grauen Augen. »Nichts Nachteiliges, Sir. Soweit bekannt, ein ordentlicher Bürger.« »Sagen Sie mir alles, was Sie wissen.« Staleys Auskünfte trugen wenig zu dem bei, was Bony schon wußte. Mrs. Owen war eine Schwester von Mrs. Wessex. Anscheinend waren sämtliche hinter der Bucht wohnenden Familien miteinander verwandt. Am wohlhabendsten war die Sippe der Wessex’, am bescheidensten, aber keineswegs ärmlich, lebten die Lakes. »Es gibt da drüben zwei junge Burschen namens Lake und Way«, sagte Bony, und wieder zog Staley die Brauen zusammen. »Die beiden arbeiten auf gemeinsame Rechnung«, erklärte er. »Sind schon zusammen, seitdem Dick vom Militär entlassen wurde. Way stammt aus Port Campbell und ist, glaube ich, zuverlässiger als Lake. Sie arbeiten beide fleißig. Dick Lake – er ist der älteste Sohn der Familie – soll ja nach der Rückkehr vom Militär ein bißchen wild gelebt haben. Nicht etwa, daß er verdorben wäre. Nein, nur gleichgültig ist er. Vergißt zum Beispiel, sich den Führerschein verlängern zu lassen, oder gibt bei Wahlen seine Stimme nicht ab. Oder fällt einfach Holz im Wald, ohne die Gebühr zu bezahlen. Also Sachen, die einem Polizeibeamten auf dem Lande das Leben sauer machen – aber nichts Schlimmes, Sir.« »Ein Alfred Lake wohnt doch auch da?« »Ja, Alfred ist Dicks jüngerer Bruder. Der arbeitet für Mrs. Wessex. Ich sage ›Mrs.‹ Wessex, weil ihr Mann gelähmt ist und sie die ganze Wirtschaft, Ackerbau und Viehzucht, besorgen muß – mit Hilfe Alfred Lakes und ihrer Tochter. Die Tochter soll einem manchmal ziemlich auf die Nerven fallen können. Aber sonst sind sie alle solide Leute.« »Da war doch auch ein Sohn, der lebt noch, nicht wahr?« »Ja, Sir. Ich vergaß, ihn zu erwähnen, weil er zur Zeit nicht im Lande ist. Mein Vorgänger – zufällig ein guter Kamerad von mir, wir sind zur selben Zeit beim Militär eingetreten – hat mir erzählt, daß Eldred allerlei angestellt hat, bevor er neununddreißig Soldat wurde. Hat aber keine Vorstrafen. Er soll nach dem Krieg nach Amerika gegangen sein, 92
und sein Vater ist ganz verbittert, weil er Australien verlassen hat, ohne vorher noch sein Elternhaus zu besuchen. Immerhin, so wird jedenfalls erzählt, soll es ihm in den Staaten sehr gut gehen.« »Und das Mädchen?« »Mary Wessex? Die muß jetzt fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig sein. Hat ihren Bräutigam im Krieg verloren und ist seitdem geistesgestört, kommt aber trotzdem im täglichen Leben zurecht und macht sich bei ihrer Mutter nützlich.« Bony begann den Wandkalender zu studieren. »Ich habe mich mit dem alten Edward Penwarden unterhalten. Interessanter Mensch. Was wissen Sie über ihn? Seine Familie?« »Sie haben ganz recht, Sir – ein interessanter Mensch«, pflichtete Staley ihm bei, der verblüfft war, daß Bony so wenig von diesen Einzelheiten wußte, deren Kenntnis sonst Polizeibeamten mit langjähriger Erfahrung selbstverständlich ist. »Die Penwardens sind sehr angesehen. Sie haben eine verheiratete Tochter in Sydney, außerdem zwei Söhne. Einer ist beim Zoll, der andere bei der Post. Beide ungefähr in meinem Alter.« »Sie haben Penwarden, wie er mir sagte, zur Zeit des Mordes aufgesucht. Wissen Sie noch das Datum?« Staley erlaubte sich ein Lächeln und sagte: »Ja, Sir, das weiß ich. Ich bin nämlich einmal vor Gericht angeschnauzt worden, und seitdem habe ich mir stets alles notiert, was gerichtlich gebraucht werden könnte.« Aus einer Schreibtischlade holte er ein Buch hervor und durchblätterte es rasch. »Es ist am dritten März gewesen, vier Uhr zehn nachmittags. Wir haben gemeinsam gewissermaßen ohne Verbindung mit den Kriminalbeamten unsere Ermittlungen angestellt, und da bin ich zu Penwarden gegangen, um vielleicht – so unwahrscheinlich das war – durch ihn auf eine Spur zu kommen. Er sagte mir, er habe sich den Toten angesehen, kenne ihn jedoch nicht. Konnte sich auch nicht erinnern, irgendeinen Verdächtigen in der Umgebung bemerkt zu haben. Das ist alles.« »Trugen Sie Uniform?« Die Frage verwunderte Staley, weil sie ins Persönliche ging. Er antwortete steif: »Ja, natürlich, Sir.« »Lange Hose oder Reithose mit Gamaschen?« »Reithose mit Gamaschen.« 93
»Nun sagen Sie mir noch folgendes, Staley, und dann werde ich Ihnen den Grund für diese Fragen erklären: Halten Sie es für möglich, daß sich, als Sie mit Penwarden in seiner Werkstatt sprachen, ein Holzspan unten zwischen eine Ihrer Gamaschen und den Schuh geklemmt hat?« »Möglich schon, Sir, aber unwahrscheinlich. Meine Gamaschen sitzen nämlich ganz hübsch stramm auf den Schuhen.« »Dann sagen Sie mir noch, ob Sie nach dem Besuch bei Penwarden den Leuchtturm betreten haben.« Staley schüttelte den Kopf und zog sein Tagebuch zu Rate. »Als ich Penwarden verließ, bin ich direkt hierher zurückgegangen«, sagte er. Bony lächelte, rauchte eine Zigarette an und sagte: »Es freut mich, das zu hören, da ich schon dachte, eine kleine Spur, die ich habe, könnte wertlos sein. Auf dem Fußboden in Penwardens Werkstatt liegt eine dicke Schicht Holzspäne. Einen Span von seinen Brettern aus rotem Eukalyptusholz fand ich im Leuchtturm. Diesen Hobelspan hat jemand, der im Turm war, am Zeug hängen gehabt. Versuchen Sie, Oberinspektor Bolt ans Telefon zu bekommen.« Staley griff nach dem Apparat, sprach mit dem Amt und legte wieder auf. Bony sagte: »Ich hätte gern, wenn Sie mir behilflich sein wollen, daß Sie morgen im Laufe des Tages zu Penwarden gehen und feststellen, ob und wann ein Kriminalbeamter ihn in der Werkstatt verhört hat, und wer das war, falls Penwarden seinen Namen weiß. Am dritten und vierten Februar hat ein Mann vom Leuchtturmdienst, ein gewisser Fisher, auf Split Point zu tun gehabt. Fragen Sie Penwarden, ob Fisher damals bei ihm gewesen ist. Kurz vor Weihnachten – im letzten Jahr – hat der Reparaturtrupp fünf bis sechs Wochen im Turm gearbeitet. Stellen Sie fest, ob einer dieser Leute bei Penwarden in der Werkstatt war. Klar?« Staley blickte von seinen Notizen auf. »Jawohl, Sir. Wohin wollen Sie meinen Bericht haben?« »Wenn möglich, komme ich her und hole ihn mir. Dauert aber lange, bis die Verbindung –« Das Telefon schrillte in die Stille des Zimmers. Dann vernahm Bony die Stimme des Oberinspektors. »Ich interessierte mich für einen Haufen Kehricht am Fuß der Leuchtturmtreppe«, sagte er zu seinem Vorgesetzten. »Da fand ich einen Holz94
span. Ich möchte erfahren, ob der Reparaturtrupp oder ob Fisher den hinterlassen hat, und auch, was Ihre Leute über diesen Kehricht gemeldet haben, falls er überhaupt erwähnt ist. Klar?« »Klar wie Kloßbrühe, Bony«, knurrte Bolt. »All right, Sie sollen das haben. Wohin?« »Schicken Sie’s an Staley. Bei Ihnen drüben nichts Neues?« »Bisher nicht. Wenn’s Neues gibt, sollen Sie’s erfahren. Ich halte nicht hinterm Berge.« Bony lachte. »Ich auch nicht – wenn ich soweit bin.«
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B
ony saß vor dem Kaminfeuer im Hotel und schrieb, als Dick Lake, lächelnd wie immer, leise zu ihm trat. Er war gekämmt und gebürstet, trug seinen Ausgehanzug und einen marineblauen Mantel, der zu lang und nicht zugeknöpft war. »Wie wär’s mit ’nem Glas von dem Bernsteingelben?« fragte er. Resigniert packte Bony sein Schreibzeug zusammen, während Lake sich mit dem Rücken vors Feuer stellte. »Sie wollen mich absolut zum Säufer machen, Dick. Wollen Sie zu einer Party?« »Wie man’s nimmt. Ins Kino nach Geelong. Die ganze Bande will hin. Fred Ayling ist heute nachmittag von seinen Holzstapeln ’reingekommen. Das ist ein Bursche, der Fred! Den müßten Sie kennenlernen! Nun los, verschwenden wir nicht die kostbare Zeit. Es geht schon auf sechs.« Die Gaststube war gedrängt voll, und Washfold hatte pausenlos einzuschenken. Es war zehn Minuten vor Lokalschluß, die Zecherei in vollem Gange. Über den allgemeinen Spektakel, der wie in Explosionen aufwallte, erhob sich deutlich eine einzelne Stimme: »Füll die Gläser, Bert! Mensch, du bist vielleicht ’n Tranpott! He! Wer fährt nachher den 95
verdammten Lastwagen! Ich bestimmt nicht. Ich will heute abend ein Herrenleben führen. Was, schon wieder Strafe zahlen? Wofür? Ich hab’ doch gar nichts gesagt!« »Zahlen! Zahlen!« rief der ganze Chor. »Kein Bier mehr, eh’ du nicht geblecht hast«, drohte Washfold, der dem Sünder die Büchse unter die Nase hielt, »einen Shilling macht’s.« Der Sünder war jung. So breitschultrig, daß sich die Nähte seines Jakketts bedenklich spannten. Sein verwittertes Gesicht war walnußbraun, wie das Bonys, die grauen Augen strahlten ungewöhnliche Lebenskraft aus. Er redete laut, als er die Strafe bezahlte, und sprach auch weiter so laut, weil er wochenlang nur den Sturm in den Baumkronen, die Schreie der Vögel und das harte Klopfen seiner Axt in den Ohren gehabt hatte. Als Bony mit ihm bekannt gemacht wurde, bot er ihm zur Begrüßung eine riesige Hand, die Bony klugerweise ignorierte. »Sie sind der Bursche, der mich mit Dick und Moss draußen besuchen wollte, was? Na, das machen Sie mal, bei Sweet Fairy Ann gehn Sie koppheister, stimmt’s, Moss? He, Moss, hörst du nicht? Bei Sweet Fairy Ann geht doch jeder koppheister?« »Na, du selbst bist jedenfalls gut ’rübergekommen«, rief jemand. »Ich? Ja, Mensch – zum Donnerkiel, ich bringe jeden verd… ha ha! Diesmal nicht! Wird nix gezahlt. Ich fahre jeden Wagen, auch die schwersten Lasten, über jeden verd… Berg in Australien. Nimm gefälligst die Büchse hier weg, Bert!« Ayling hatte einen Haarschnitt sehr nötig. Beim Rasieren hatte er sich das Gesicht verletzt. Er klopfte einem Bekannten auf den Rücken und brach ihm dabei fast die Wirbelsäule. Als Lake ihm riet, ein bißchen gemütlicher zu sein, trommelte er mit beiden Fäusten auf die Theke und schrie nach einer Zigarre. »Wie tritt der auf, wenn der so richtig voll ist?« erkundigte Bony sich bei Moss Way, der ihn angrinste und einen bewundernden Blick auf Ayling warf. »Dann ist er ruhig wie ’n Osterlämmchen«, gab er überraschenderweise zur Antwort. »Zehn Glas Bier, und schon pennt er.« Fred Ayling hatte sich breit vor die Theke gepflanzt. Einen Augenblick lagen seine Hände flach auf der Platte. An seiner rechten Hand 96
blitzte ein Ring, der Bony sofort auffiel. Er glich genau dem bei dem Toten gefundenen, und das Monogramm war dasselbe! Lake zog ihn gleich wieder ins Gespräch, aber die kurze Prüfung hatte genügt. Über den Ring gab es keinen Zweifel. »Sagte ich Ihnen nicht, daß er ’ne Type ist?« fragte Lake mit schon schwerer Zunge. »Hat voriges Jahr den ersten Preis als bester Holzfäller von Westaustralien gewonnen. Sie müssen mal –« »Lokalschluß, meine Herren!« schrie Washfold gellend. Draußen ließ jemand die Hupe eines Lastwagens anhaltend heulen, ein ohrenbetäubender Lärm, bei dem die Gäste aus der Kneipe förmlich herauspurzelten. Bony wurde mitgerissen, unter viel Geschrei aufgefordert, sich anzuschließen. Er blieb jedoch stehen und sah zu, wie ein Schwarm von Männern einen großen Lastwagen bestieg. Er winkte ihnen zu und rief »Viel Vergnügen!«, als der Wagen abfuhr, aus dem er noch Aylings alles übertönende Stimme hörte. Ayling! In der Polizeiakte kam dieser Name nirgendwo vor. Vermutlich, weil der Mann zur Zeit des Mordes nicht auf Split Point gewesen war. Eine Weile später saß Bony noch mit den Washfolds vor dem knisternden Kaminfeuer. Er erwähnte Ayling. »Dem hat sein Vater schon früh den Schnuller weggenommen und ihm ’ne Axt zum Nuckeln gegeben«, versicherte ihm der Wirt. »Aber ’n ganz schlauer Kerl, in seiner Art. Wenn man sich mit dem mal in Ruhe unterhält, ist man baff. Über Vögel und Spinnen und dergleichen weiß der mehr als mancher große Gelehrte. Keine besondere Schulbildung, aber ein allgemeines Wissen – alle Achtung.« »Arbeitet er schon lange hier in der Gegend?« »Sein ganzes Leben, nur im Kriege nicht. Die Eltern hatten ’ne Farm hinter der Bucht und sind später nach Geelong gezogen. Fred ging bei Kriegsausbruch zur Marine. War auf der ›Perth‹, als die bei Java versenkt wurde. Jetzt macht’s ihm Spaß, auf eigene Rechnung zu arbeiten.« »Muß ein ziemlich einsames Leben führen.« Washfold lachte und warf seiner strickenden Frau einen verschlagenen Blick zu. »Jedenfalls ein friedliches«, sagte er in bezeichnendem Ton. »Es ist aber unnatürlich, da so allein zu leben«, widersprach die Wirtsfrau. »Monatelang mit keinem Menschen reden zu können …« 97
»Er hat ja die Vögel, die Spinnen und Ameisen, mit denen er reden kann. Besser als wenn er ’ne Frau hätte, die schlimmer ist als ’ne Spinne«, murmelte Washfold müde vor sich hin. Mrs. Washfold schnaubte nur verächtlich. »Soviel ich verstanden hatte, arbeitet er an einem schwer zugänglichen Ort«, sagte Bony. »Gibt’s denn hier in der Nähe von Split Point überhaupt kein Brennholz?« »Ja und nein, aber das ist doch Fred Ayling einerlei.« »Mrs. Walsh sagt, daß er schon als Kind ganz aus der Art geschlagen war«, warf die strickende Wirtin ein. »Die Mädels hat er überhaupt nicht beachtet. In die Mary Wessex soll er allerdings sehr verliebt gewesen sein.« »Da hätte er vielleicht auch ’ne ganz schöne Partie machen können, es fehlte ihm bloß die Schulbildung«, ergänzte ihr Mann, und Bony riskierte eine weitere Frage: »Haben Sie den Ring gesehen, den ertrug?« »Nein. Was besonders Auffälliges?« »Durchaus nicht. Mir kam es nur ein bißchen komisch vor, daß ein Mann, der als Holzfäller arbeitet, so weit draußen und fern von allem bürgerlichen Leben, überhaupt einen Ring trägt. Für Dick Lake scheint er ja ein richtiger Held zu sein.« »Schlechtes redet kein Mensch über ihn.« Bony ließ nun dem Gespräch seinen Lauf und erzählte schließlich auch ein wenig von sich selbst und recht viel von seiner Schafzüchterei. Er gab sich aber vor Washfold, der über Schafe und Wolle sehr gut orientiert war, keine Blöße. Als das Kaminfeuer allmählich erlosch, zogen sich alle, zufrieden mit dem Abend, zurück. Am folgenden Tag nach dem Mittagessen machte Bony sich mit Stug auf den Weg zu Mr. Wessex, in der Hoffnung, dort etwas tiefer in die Hintergründe des Lebens der Einheimischen dringen zu können, denn er nahm an, daß der kranke Mann viel reden würde, weil er selten Gelegenheit hatte, sich auszusprechen. Auf der Flußmündung an der Bucht schwammen die Möwen, hoch am Himmel schwebte eine lange Wolke – ein fast schnurgerader Strich – dem Zenit entgegen. Das Barometer im Hotel hatte zwar auf ›Schön‹ gestanden, als Bony das Haus verließ, aber diese beiden Zeichen, das Verhalten der Möwen und die eigenartige Wolke, deuteten auf einen 98
jähen, heftigen Wettersturz. Die Sonne wärmte angenehm, die Luft war still und duftete nach Seetang und saftigen Wiesen. Bony fand Eli Wessex auf der Veranda an der Nordseite seines Hauses in einem großen Krankenstuhl sitzend. Der Hund, der zu seinen Füßen gelegen hatte, sprang sofort kampfbereit Stug entgegen, kam aber auf einen Ruf des Kranken gleich gehorsam zurück, so daß der Friede ungestört blieb. »Guten Tag, Mr. Wessex!« »Guten Tag.« Die tief eingesunkenen Augen in dem von ständigen Schmerzen verrunzelten Gesicht blickten klar und scharf. Das Leiden hatte die Hände des Kranken, die er im Schoß hielt, häßlich und unbrauchbar gemacht. Eli Wessex war äußerlich nur noch ein Schatten – er war hoch in den Sechzig und sah aus wie neunzig –, doch sein Verstand arbeitete wie bei einem kerngesunden Mann. »Kommen Sie nur herauf und setzen Sie sich eine Weile zu mir«, sagte er. »Meine Frau hat mir Ihren Besuch schon angekündigt.« Bony ging über die vier Stufen auf die Veranda und stellte sich vor. »Holen Sie sich bitte einen Stuhl aus der Wohnung«, sagte Wessex. »Meine Frau und meine Tochter sind draußen bei den Schafen. Und ich, ich bin zu nichts mehr nütze, bin bloß noch ein Wrack.« Bony holte sich einen Stuhl. »Aber gewiß sind Sie nützlich«, widersprach er. »Schon weil Sie mich zwingen, dem Schicksal dankbar zu sein. Mir fällt das Wort von Joubert ein: ›Denke an die Krankheiten, die dich verschont haben, und sei dankbar.‹« Die Augen leuchteten, der Mund straffte sich. »In dem Spruch liegt Weisheit, mein Herr«, sagte Wessex lächelnd. Dieses Lächeln verschönte sein Gesicht wie strahlende Sonne ein finsteres Meer. »War es nicht Bischof Berkeley, der gesagt hat, daß ein einziger Strahl wahrer Weisheit das ganze Weltall erleuchten und bis in die fernsten Jahrhunderte fortglühen kann? Ich hoffe, es gefällt Ihnen auf Split Point.« »Aber sehr. Die Washfolds betreuen mich aufmerksam, und alle Leute, die ich kennengelernt habe, sind sehr freundlich zu mir. Sie haben eine schöne Farm. Viel besserer Boden als meiner.« »War alles Wald, als mein Vater das Land erwarb. Den größten Teil hat er gerodet, und sobald ich mit zupacken konnte, mußte ich ihm beim Roden helfen. Damals gab’s keine Winden und Drahtseile, um 99
die Bäume gleich zu entwurzeln. Wir mußten sie abbrennen, die Stubben ausgraben und sie mit Pferden abschleppen. Und einmal jährlich fuhr Vater mit einem Gespann nach Geelong, wo er unseren Speck und Käse verkaufte und das Geld gleich in Haushaltwaren umsetzte und in Stoffe, aus denen meine Mutter uns Kleidungsstücke machte.« »Sie waren der einzige Sohn?« fragte Bony. »Zwei Brüder und drei Schwestern habe ich noch. Die Schwestern leben noch, von den Brüdern nur einer. Weit gebracht haben sie’s alle.« »Sie selbst haben eine Tochter, nicht wahr? Mrs. Washfold erwähnte es.« »Mary, ja. Sie hilft ihrer Mutter sehr fleißig. Einen Sohn haben wir auch. In den Vereinigten Staaten. Geht ihm sehr gut.« Der Kranke schaute versonnen nach dem waldigen Hang eines fernen Hügels. »Ja, Eldred geht es recht gut. Wir hoffen, daß er bald mal herkommt. Haben Sie auch Familie?« Bony erzählte von seinen Söhnen. Wessex lauschte ihm so gespannt, wie es nur Menschen tun, die selten das Vergnügen haben, einem ändern in seine Umwelt zu folgen, und nach einer Weile spürte Bony, ohne es den grauen Augen anzumerken, daß der Kranke bittere Gedanken hegte. Als Wessex von seinem jüngsten Sohn sprach, dem kleinen Ed, der gar nicht mehr klein war, fragte sich Bony, ob der Mann allein deshalb so verbittert sein könnte, weil Eldred nach der Entlassung vom Wehrdienst nach Amerika gegangen war. Er wechselte unvermittelt das Thema. »Ich bin eingeladen worden, auf einem Lastwagen mit nach Sweet Fairy Ann zu fahren«, sagte er. »Mr. Penwarden hat mich davor gewarnt und warnte sogar Dick Lake und seinen Kameraden, weil der Weg zu gefährlich sei. Was halten Sie davon?« »Dasselbe wie Penwarden. Hat Dick denn die Absicht, dort Holz zu holen?« »Ja. Zehn Tonnen will er laden.« »Wenn ich diesen Wagen fahren würde – und zwar vernünftig fahren –, fände ich mich nachher unten im Fluß wieder wie das Ochsengespann samt den Fahrern vor sieben Jahren. Aber die jungen Leute haben ja fast bei allem Glück, und Dick ist ein Mensch, der sich nie vor etwas gefürchtet hat.« Die grauen Augen starrten auf die schneeweiße 100
Wolke über dem Berghang, und die matte Stimme fuhr fort: »Dicks Vater hatte auch vor nichts Angst – bis ein Baum auf ihn fiel und ihm ein Bein zerschmetterte. Dicks Bruder ist ebenso. Er arbeitet bei mir, er hat aber nicht das Glück wie Dick, der ständig in Schwierigkeiten kommt, aber auch immer wieder heraus. Wenn Sie mit denen nach Sweet Fairy Ann fahren, gehen Sie über die sogenannte Rutschbahn nur ja zu Fuß. Der Wagen kann da auch nicht schneller fahren, als Sie gehen können. War Fred Ayling gestern nachmittag im Hotel?« Bony schilderte lachend, wie das gesellige Leben auf den an Einsamkeit gewöhnten Hinterwäldler gewirkt hatte. »Gesunder Bursche«, sagte Wessex. »War er immer. Die drei – mein Junge, Dick Lake und Fred Ayling – sind schon zusammen zur Schule gegangen, die dicht beim Hotel liegt, aber vor ein paar Jahren geschlossen wurde. Jetzt werden die Kinder mit dem Autobus nach Anglesea gefahren. Die Jungen ritten damals auf Ponies zur Schule. Sie waren brauchbare Kerlchen, so richtige Jungen, wenn auch ein bißchen wild, weil wir Eltern, selbst streng erzogen, in der Kindererziehung ziemlich nachsichtig waren. So geht es eben mit den Generationen-wie auf einer Wippe, hinauf und hinunter. Mein Sohn, der Eldred, lernte zu leicht, weil er ein sehr gutes Gedächtnis hat. Dick Lake war ein richtiger Dummerjan, der es nie zu was bringen wird. Und Fred Ayling, na ja, der stand immer so zwischen beiden. Was er lernen wollte, wurde ihm leicht, und wenn ihn etwas nicht interessierte, lernte er’s auch bei noch soviel Prügel nicht. Schon als ganz kleiner Junge begann er die Vögel, die Wolken und Insekten zu beobachten. Ich habe ihm damals oft klargemacht, er könne, wenn er gut schreiben und lesen lernte, seine Naturstudien einmal gut gebrauchen. Aber nein! Er kann kaum einen Buchstaben korrekt schreiben und kann die richtigen Bezeichnungen der Vögel und Insekten, von denen er so viel versteht, nicht buchstabieren. Er hatte das Zeug, seinen Weg in der Welt zu machen, aber da arbeitet er nun allein mit Säge und Axt in einsamen Wäldern.« »Vielleicht ist er so viel glücklicher, als wenn er Professor geworden wäre«, legte Bony nahe. »Vielleicht. Leute ohne Ehrgeiz sind ja glücklich. Die junge Generation denkt nur ans Geld. Noch bevor sie zwanzig sind, wollen sie 101
schon Autos haben und große Reisen machen. Wollen elegante Kleidung tragen und reichere Leute nachahmen. Im Lande bleiben und die Arbeit ihrer Väter fortführen? Kommt gar nicht in Frage. Das Landleben ist ihnen nicht gut genug. Der Alte soll nur recht bald sterben, damit ich das Geld kriege, das ist so die Einstellung. Daß sie auch zu Gegenleistungen verpflichtet wären, fällt ihnen gar nicht ein. So ist auch mein Sohn.« In den grauen Augen glänzten verhaltene Tränen. Bony konzentrierte sich auf das Drehen einer Zigarette. Er sagte: »Charaktere wie Fred Ayling und Dick Lake werden immer seltener. Soviel ich höre, haben sich doch die Jungen alle drei gleich bei Kriegsausbruch freiwillig gemeldet.« »Sind im ersten Moment schon eingetreten, Eldred und Dick beim Heer, Fred bei der Marine. Das war mein Fehler, wenn man es so nennen will. Ich pflegte ihnen nämlich Geschichten von den Helden vorzulesen, die England großgemacht und das Britische Empire begründet haben. Das haben sie in sich aufgenommen und ihrem Vaterland gut gedient.« Aus seinem Ton sprach Empörung. »Ich habe Nichten und Neffen, die mich dann und wann besuchen. Sie glauben an nichts und finden Traditionen anrüchig. Ich kann in ihre hohlen Köpfe schauen. Wir haben unsere Zeit gehabt. Jetzt gehört die Welt ihnen, mit allem, was wir mühsam erarbeitet haben.« Die sinkende Sonne färbte das runzlige Gesicht mit einem goldenen Schimmer, das kurzgeschnittene weiße Haar wurde noch weißer. Auf Bonys Schultern fielen goldene Strahlen. Er saß mit dem Rücken zur Verandatreppe. Die Hunde schlugen an, er drehte sich um. Von der Scheune her kam ein Mädchen, neben dem Stug und ein zweiter Hund munter umhersprangen. Sie ging auf den Fußspitzen und legte zwei Finger an den Mund – ein Befehl zum Stillsein, den die Hunde freilich nicht beachteten. Als sie merkte, daß sie beobachtet wurde, kam sie zur Veranda. Bony sah, daß sie ebenso hager war wie ihre Mutter, dunkles Haar und offenbar Temperament hatte. Ihre Augen glänzten sonderbar, sie wirkten fast blauschwarz. Das Mädchen, das er auf der Klippe mit Dick Lake gesehen hatte! Sie trug Herrenreitstiefel. Als sie die Treppe heraufkam, sagte ihr Vater: »Wie wäre es mit einer Kanne Tee, Mary? Wir haben Besuch – Mr. Rawlings.« 102
Statt einer Antwort musterte sie lange den Besucher, der ihr weder zu gefallen noch willkommen schien. Während sie Bony noch betrachtete, der genau spürte, daß ihr Blick gar nicht ihm galt, sagte sie: »Die Hunde sind schon hier. Dann müssen ja Mutter und Alfie auch gleich kommen. Weit draußen im Busch – ganz in der Ferne – regnet es. Eine Kanne Tee für Vater und einen andern Mann. Also gut: eine Kanne Tee.« Sie entfernte sich von Bony, der aufgestanden war, und ging ins Haus. Bony empfand tiefes Mitleid für sie, doch diese aufflammende Sympathie erlosch sogleich wieder. Es war ihm, als höre er Stimmen, die Stimmen seiner Vorfahren, die ihm zuraunten: ›Der böse Blick, Bony! Hüte dich vor dem bösen Blick!‹
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er gelähmte Mann bat Bony, ihn ins Wohnzimmer zu fahren und den Rollstuhl neben einen kleinen Tisch am Fenster zu stellen. Bücher und Zeitungen auf dem Tisch, die Beleuchtung vom Fenster her und die Lage des Kamins zu diesem Platz ließen erkennen, daß Eli Wessex hier den größten Teil des Tages zu verbringen pflegte, wenn es auf der Veranda zum Sitzen zu kalt oder zu feucht war. Vom Fenster fiel der Blick auf den von der Straße zum Hause führenden Weg, den kleinen Vorgarten mit den Blumenbeeten. Erst nachdem er minutenlang hinausgeschaut hatte, nahm er das Zimmer in Augenschein. An einer Seite des Kamins standen bis an die Decke Regale mit Büchern, zwischen denen Bony nur wenige moderne entdeckte. Über dem Kamin hing das Bild einer sitzenden Frau, neben der ein Mann stand: Mrs. Wessex mit ihrem Gatten, als sie noch jung waren. An den Wänden hingen noch mehr Bilder, und neben der Kaminuhr standen rechts und links eingerahmte Fotografien. Die Möbel waren alt, dauerhaft, wertvoll und gut instand gehalten. 103
Ein freundlicher Raum, Abbild der Wesensart seiner Bewohner. Während Bony sich bemühte, seinen schwermütigen Gastgeber ein wenig zu erheitern, hörten sie Frauenstimmen. Mrs. Wessex trat ins Zimmer. Sie trug Reithosen und Schaftstiefel und ein altes Jackett, ihr Haar war vom Wind zerzaust. »Wie nett, daß Sie gekommen sind, Mr. Rawlings«, sagte sie, ihm die Hand reichend. »Schade, daß ich nicht gleich hier war. Ich hoffe, mein Mann ist nicht allzu knurrig.« »Es war mir ein großes Vergnügen, mich einmal auszusprechen«, gab Wessex zurück. »Wir haben von der jungen Generation gesprochen, auch von Steuern, von Tod und Verdammnis.« »Was für Gespräche! Mr. Rawlings muß sich gelangweilt haben und hat gewiß Durst. Mary kommt gleich mit Tee.« Sie lächelte Bony zu, wandte sich an ihren Mann und sagte ein wenig schroff: »Junge Generation? Was gibt’s an der jungen Generation auszusetzen?« »Dasselbe, was unsere Väter an uns zu rügen hatten«, sagte Bony beschwichtigend. »Natürlich«, lenkte Mrs. Wessex ein, doch die Linien um ihren Mund waren schärfer geworden, »Die Jungen und Mädchen von heute sind nicht anders als wir waren. Keinen Deut.« »Sie sind Engel«, sagte Wessex mit unverhüllter Bitterkeit. »Na, wir wollen darüber nicht miteinander reden«, entschied seine Frau, »dafür war der Nachmittag zu erfreulich. Die Mutterschafe haben alle gelammt, hundert Prozent. Ein viel besseres Ergebnis als voriges Jahr. Wir haben Alfie draußen gelassen, er soll einen Windschutz für die Tiere bauen.« »Hm!« Wessex sah aus, als sei er einverstanden, doch was er erwiderte, klang nicht zufrieden. Bony erfuhr, daß Wessex auf einer zwei Meilen entfernten Weide vierhundert Zuchtschafe hatte, daß er insgesamt zweitausendzweihundert Muttertiere besaß und daß in dieser Gegend ein achtzigprozentiges Austragen der Lämmer als gutes Ergebnis galt. Mary Wessex kam mit einem großen Tablett herein. Die Mutter machte den Tisch frei, die Tochter arrangierte das Teegeschirr mit dem Primelmuster und die Teller mit Kuchen. Bei dieser zweiten Begegnung würdigte sie Bony keines Blickes, sie schaute, als sie sich neben ihren Vater gesetzt hatte, mit einem seltsam starren Ausdruck aus dem Fenster. Die anderen tauschten nichtssagende Redens104
arten. Bony fühlte sich sehr gemütlich, bis das Mädchen plötzlich rief: »Es kommt ein Auto. Sieht mir ganz nach Fred Ayling aus.« Ein alter Wagen bremste vor dem Tor an der Straße. Sie sahen den Holzfäller aufs Haus zukommen. Er bewegte sich mit federndem Schritt und dem sicheren Gang eines Pferdes, betrat das Haus wie sein eigenes und blieb in der Tür zum Wohnzimmer stehen. Seine Augen strahlten vor Gesundheit, auf dem sonnengebräunten Gesicht lag ein Lächeln. Er war ein wenig angeheitert, sprach aber normal. »Guten Tag allesamt! Komme gerade richtig für ’ne Tasse Tee, was? Na, wie geht’s uns, Papa Wessex?« »Immer dasselbe, Fred.« »Komm, setz dich erst mal«, drängte seine Frau. »Noch eine Tasse und Untertasse, Mary.« Ayling kam ins Zimmer, Mary stand auf. Aus ihrem Gesicht war das Gespannte gewichen, sie lächelte ihn rührend kindlich an. »Tag, Mary«, sagte er und klopfte ihr den Arm. »Bring aber ’ne dicke Tasse, sonst drücke ich sie womöglich in der Faust kaputt. Bin an solche wie die hier nicht gewöhnt. Ich habe dich nicht vergessen, du.« Wessex betrachtete ihn mit ehrlicher Sympathie, seine Frau musterte ihn mit verkniffenen Augen. Ihre Tochter sprach lebhaft. »Was meinst du damit? Du vergißt doch nie etwas, hast du auch früher nicht getan.« Plötzlich benahm sie sich ernst und sachlich, und zum erstenmal sah Bony, wie sie ausgesehen haben mußte, bevor der Kummer ihren Geist verwirrte. »Setz dich, Fred, ich hole dir eine Tasse«, sagte sie. »Und Apfeltorte.« »Apfeltorte! Das ist ja großartig, Mary. Gib mir ’n großes Stück!« Er setzte sich zwischen Mrs. Wessex und ihren kranken Mann und lächelte beiden und Bony zu, während Mrs. Wessex fragte: »Willst du heute abend wieder in den Wald zurück?« »Nein, ich schlafe bei Lakes. Habe ich schon versprochen, als ich hinausfuhr.« »Hat dir das Kino Spaß gemacht?« »Oh, ja«, kam die Antwort, ein bißchen verlegen. »Erzähl doch mal: Was gab’s für einen Film?« schlug Mrs. Wessex vor, und Ayling gestand lachend ein, er habe während des ganzen Programms geschlafen. Als Mary mit der ›dicken‹ Tasse kam, kramte er aus einer Rocktasche ein Päckchen in Seidenpapier. 105
Mary griff auffallend hastig nach dem Geschenk: Ihr Benehmen wirkte wieder anomal. Er sah zu, wie sie das Päckchen betrachtete, wohl um den Inhalt zu erraten. Als sie das Papier abwickelte und eine Brillantbrosche zum Vorschein kam, kicherte er leise. Fred Ayling erinnerte Bony an einen gutmütigen, spielfreudigen Bären. Mrs. Wessex bewunderte die Brosche, Mary sprang auf und steckte das Schmuckstück vor einem Wandspiegel an. Bony tat Mary leid, denn sie war schön. Ein Weilchen studierte sie die Wirkung der glitzernden Steine und drehte sich dann rasch um, so daß sie Ayling gegenüberstand. »War sie jung und drall, oder alt und gebeugt?« fragte Mary. Fred sah sie einen Moment verblüfft an, dann sagte er ernst: »Alt und gebeugt. Wir begegneten der ›San Pedro‹ auf ihrer Reise von Panama nach Cadiz. Da der Wind uns günstig war, konnten wir sie bald entern. Einem alten Weib nahm ich die Juwelen als Beute ab. Die Brosche mit den Brillanten habe ich extra für dich heimgebracht, mein braver Bukanier.« Mary strich sich das Haar aus der Stirn, ihre Augen blitzten auf einmal. »Ah! Hatte das Schiff große Schätze an Bord, mein Kapitän?« »Gold, kistenweise. Aber die Brillantbrosche war schöner als alles Gold.« Mary machte einen tiefen Knicks. Ihr Vater blickte finster drein, ihre Mutter sagte kalt: »Genug davon, jetzt komm und trink deinen Tee.« Das Mädchen lachte, Ayling zog sich einen Stuhl an den Tisch. Einen Augenblick wirkte er wie ein leibhaftiger Pirat, aber dann wieder war er ganz der Holzfäller in seinem Ausgehanzug. Wessex hustete und schaute zur Kaminuhr, worauf seine Frau ihm wortlos seine Tabletten brachte. Er sprach über Wolle und blieb nun auch hartnäckig bei dem Thema. Als Mary leise und unheimlich kicherte, befahl ihr Mrs. Wessex schroff, den Tisch abzuräumen. Kurz darauf sagte Ayling, er müsse nun gehen, und Bony erhob sich ebenfalls. »Ich bedanke mich für Ihre Gastfreundschaft«, sagte er zu Eli Wessex. »Es war ein angenehmer Nachmittag.« »Schönen Dank, daß Sie gekommen sind, Mr. Rawlings.« Die grauen Augen hatten etwas Bittendes. »Vielleicht finden Sie wieder mal Zeit für einen Besuch. Ich kann Ihnen leider nicht die Hand schütteln, das wird meine Frau für mich tun.« 106
»Ich komme gern wieder her«, erwiderte Bony. »Ich hoffe noch ein paar Wochen im ›Hotel zur Bucht‹ zu bleiben. Vorläufig sage ich Ihnen Lebewohl.« Mrs. Wessex begleitete die Gäste zur vorderen Veranda und sagte zu Bony: »Bitte kommen Sie wieder. Mein Mann würde sich sehr freuen.« Sie trieb Mary zur Eile und erklärte Ayling, ihre Tochter werde ihm eine »Kleinigkeit fürs Lager« bringen. Ayling drückte ihr lachend den Arm. »Ihre sogenannten Kleinigkeiten fürs Lager kenne ich schon. Was wird’s diesmal sein? Ein halbes Rind?« Sie klopfte sanft seine Hand, die ihren freien Arm ergriffen hatte. Ihr Gesicht blieb starr, bis auf den zärtlichen Blick. »Paß gut auf dich auf, Fred, und begib dich nicht zu sehr in Gefahr. Und denke an das, was ich dir so oft schon gesagt habe: Wenn es dir allein zu einsam wird, dann komm zu uns.« Mary erschien wieder; sie trug ein großes und schweres, in Zeitungspapier gewickeltes Paket. Ayling nahm es und tat, als müsse er es gleich fallen lassen. Er schalt Mrs. Wessex scherzhaft, lachte Mary an und faßte sie unters Kinn. »Also macht’s gut, alle miteinander«, rief er und ging hinter Bony die Treppe hinab. »Ich komme bald wieder. Seid hübsch brav.« Als Bony das Tor an der Straße schloß, winkten sie beide der Mutter und Tochter zu. Bei seinem klapprigen Wagen angekommen, sagte Ayling herzlich: »Wenn’s irgend geht, kommen Sie doch wieder, Mr. Rawlings. Der Alte hat ja ein schweres Leben, und wenn mal einer zum Klönen kommt, muntert ihn das gleich auf.« Er setzte sich ans Lenkrad und drehte sich mit Händen, die so gewandt und sicher hantierten wie die eines Chirurgen, eine Zigarette. »Und kommen Sie mal mit Dick Lake und seinem Kumpel zu mir ’raus. Die beiden wollen ja morgen hinfahren. Sie sind mir willkommen zu einem ordentlichen Tee oder was sonst alles in dem Paket von Mary sein mag.« »Danke, werde ich tun. Und Mr. Wessex besuche ich bestimmt wieder.« Bony nickte zum Abschied und ging. Er hörte, wie der Motor donnernd ansprang und leiser wurde, als Ayling den Wagen rückwärts lenkte, um dann die Straße zum Gebirge zu nehmen. Da verstummte 107
das Motorengeräusch. Er blickte sich um. Der Wagen hielt, neben dem Fahrer stand Mary Wessex. Bony schritt weiter. Er war glücklich, weil er fühlte, daß er einem durch tragisches Mißgeschick schwerkranken Menschen ein wenig Freude gebracht hatte, und weil er in gute Stimmung gekommen war durch die Unterhaltung mit Menschen, die gern schenkten und Geschenke in Bescheidenheit annahmen. Er konnte dem schwerkranken Eli Wessex seine Geschwätzigkeit verzeihen, und seiner Frau, die viele Sorgen hatte, verzieh er ihre oft bissigen Reden. Der Geisteszustand der Tochter war ja auch eine Tragödie, und den Sohn in der Ferne mußte die Mutter schmerzlich vermissen. Der einzige Sonnenstrahl in diesem Hause schien Fred Ayling zu sein, ein Einsiedler und beinah exzentrischer Mensch. Was hatte der alte Mann von ihm gesagt? Daß er es schon weit gebracht haben könnte, wenn er in der Schule nicht so unstet gewesen wäre. Kein Zweifel, daß Eli Wessex und auch seine Frau ihn aufrichtig gern hatten. Sie kannten ihn schon von klein auf, als er mit ihrem eigenen Sohn und Dick Lake zur Schule geritten war und Mary hinter den dreien herzottelte. Mary! Ein Jammer mit dem Mädchen. Die Jahre des Wartens und der Sehnsucht, dann wie ein Donnerschlag die Todesnachricht aus dem Dschungel von Neuguinea. Und nun geistig aus dem Gleis geworfen – einmal ein gehetztes Wesen ohne klaren Gedanken, dann wieder aufgeregt wie ein erschrecktes Kind, und für flüchtige Momente ein normales Menschenkind. Bony mußte an die Szene denken, wie Ayling das Märchen vom Kapern des spanischen Schatzschiffes erfunden hatte. Das Mädchen hatte gefragt: ›War sie jung und drall oder alt und gebeugt?‹ Erst war Ayling ganz verdutzt gewesen, dann hatte er plötzlich begriffen. Sie lebte in der Vergangenheit – anders konnte es nicht sein –, in einer Zeit, als sie Piraten gespielt hatten. Er hatte gesagt, er bringe die Brosche eigens für seinen ›Braven Bukanier‹ mit, und sie hatte ihn ›mein Kapitän‹ genannt! Drei Jungen und ein Mädchen, die Seeräuber spielten, zusammen angelten, ritten und zur Schule gingen – die Jungen später als Soldaten im Kriege, das Mädchen gezwungen, daheim hilflos zu warten. 108
Der Ring an der Hand, die so geschickt eine Zigarette drehte, trug die eingravierten Buchstaben B. B. Der Ring in der Tasche des Ermordeten trug die gleichen Buchstaben: B. B. – ›Braver Bukanier‹, ohne Zweifel. Die beiden Ringe glichen einander wie zwei Erbsen. Drei Jungen und ein Mädchen … die Braven Bukanier. Der tote Mann im Leuchtturm – die Kleidungsstücke in der Höhle – der Ring in der Manteltasche. Daß der Ring dem in der Wandkammer des Turmes gefundenen Toten gehörte, durfte vorausgesetzt werden. Drei Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen war Mary Wessex. Einer der Jungen war Dick Lake, der zweite Fred Ayling. Und der dritte war Eldred Wessex, angeblich nach Amerika ausgewandert. War er wirklich nach Amerika gegangen? Konnte er der Tote im Leuchtturm sein? Möglich, möglich – jedoch, war es denkbar, daß mehrere Menschen vereinbart hatten, nichts über die Identität des Toten auszusagen, und daß gar nichts durchsickerte?
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ie Wetterkarte zeigte, daß die ganze südliche Hälfte des Kontinents unter dem Einfluß eines Tiefs lag, und Bony hatte morgens das Hotel zur Fahrt nach Sweet Fairy Ann bei einem Barometerstand von 766 mm verlassen. Aber die Möwen hielten sich noch in der Flußmündung auf, und eine helle, schnurgerade Wolke stand wie ein Band hoch am Himmel. Als sie von der festen Landstraße abgebogen waren, mußten sie schreien, um sich bei dem Geratter des leeren Lastwagens verständlich zu machen. Lake und seinen Freund strengte das nicht an, aber Bony gab diese Mühe rasch auf. Er war froh, zwischen den beiden fest eingekeilt zu sitzen, denn so trafen ihn die harten Stöße weniger. 109
Beim Wessexschen Hause war niemand zu sehen, doch aus dem Küchenschornstein stieg Rauch auf, und vor dem Melkschuppen standen mehrere gemütlich wiederkäuende Kühe. Hinter der Farm kam eine Strecke mit Bäumen, um die der Weg viele Windungen machte, so daß Moss am Steuer sehr aufpassen mußte. »So weit ist Fred jedenfalls schon gekommen«, bemerkte Dick Lake, als sie über nassen Grund fuhren, auf dem Reifenspuren erkennbar waren. »Er hat gestern nachmittag Mr. und Mrs. Wessex besucht«, schrie Bony. »Ich war gerade dort, als er kam.« »In welcher Verfassung?« fragte Moss. »Betrunken genug, daß es für ein Strafmandat gereicht hätte.« »Wenn er nicht nachher von den Lakes aus noch weitergegangen ist, wird er heute in Ordnung sein.« »Mein alter Herr wollte ihn aber nicht gehen lassen«, sagte Dick lachend. »Eine dolle Type, der Fred. Kaum sind wir in Geelong angekommen, da schreit er schon nach mehr Bier, und dann haben wir noch im ›Belmont‹ ’n paar getrunken, und wie wir schließlich im Kino sitzen, da sackt er zusammen und pennt ein. Und wacht erst wieder auf, als das Programm zu Ende ist. Dann will er Krebse haben, und wir können nur Eier mit Speck bekommen. Also rennen wir zwei Stunden in der Stadt ’rum, ob es irgendwo noch Fisch gibt, wir finden aber alles geschlossen und müssen hungrig umkehren.« »Aber bei der Marine hat er sich doch bewährt, nicht wahr?« fragte Bony, als der Wagen ohne Geklapper über eine ebene Wegstrecke fuhr. Dick kicherte und zeigte Bony sein schönstes Lächeln. »Übertölpelt haben sie ihn«, sagt er. »Ich, Eldred Wessex und Fred, wir gingen damals zusammen nach Melbourne und wollten beim Heer eintreten. Waren ja schon von klein auf befreundet und wollten auch bei dem großen Krawall zusammenbleiben. Spät abends kommen wir also da an, und am nächsten Morgen verabreden wir, daß wir uns um zwei vor dem Lokal ›Young und Jackson‹ treffen wollen, weil Fred noch eine Schwester in Carlton besuchen wollte. Na, als er da auf uns wartete, ging er mal eben ins Lokal ’rein; um rasch einen zu heben, und da bleibt er dabei, ein Glas nach dem anderen, und dann will er in sein Quartier, weil er meint, wir wären schon 110
ohne ihn zur Musterung gegangen. Also schnappt er sich ’n Taxi und sagt dem Fahrer, daß er auch dahin will. Als er nachher richtig wach wird, ist er bei der Marine statt bei der Infanterie, wo wir hinwollten, und ist so verdattert, daß er den Unterschied in der Uniform gar nicht merkt. Eh er sich’s versieht, gehört er zur Marine, und da lassen sie ihn nicht wieder los, als er sagt, er will lieber mit seinen Freunden zur Infanterie.« »Da hätten Sie doch eigentlich lieber auch zur Marine gehen sollen, um mit ihm zusammenzubleiben«, schlug Bony vor, worauf Lake ihm erklärte, sie hätten einfach nicht mehr klar denken können, nachdem sie über zwanzig Gasthäuser nach Fred abgesucht hatten. »Aber das war noch gar nicht das Schlimmste«, schrie er mit voller Lungenkraft und hielt sich an seinem Sitz fest, denn der Wagen holperte gerade über steinige Furchen. »Der Chauffeur hätte ihn sogar zur Polizei bringen können, die auch Leute anwarb.« »Da wäre er erst richtig ’reingefallen«, bestätigte Moss, »vielleicht noch schlimmer als beim Untergang der ›Perth‹.« Der Pfad fiel in eine Senke zwischen den Hügeln ab und folgte einem Flüßchen, an dem hohe weiße Eukalyptus- und Eisenholzbäume standen. Die Gegend glich einem gepflegten Park. Hier war das Fahren viel leichter und die Aussicht interessanter. Bony bemerkte Riesenfischer und schwarze Kakadus, auch Känguruhs und die Spuren vom Opossum an Baumstämmen. Nach einer Stunde Fahrt vom Hotel kamen sie plötzlich aus dem Walde heraus und vor ein Tor, hinter dem der Weg eine große Weide in der Mitte teilte. Am anderen Ende waren die Gebäude einer Farm zu erkennen. Als der Wagen vor dem Wohnhaus hielt, wurde er von einer Schar schreiender Kinder verschiedenen Alters förmlich überfallen. Eine riesige Frau und ein langer dünner Mann, der hinkte, verstärkten mit ihrer Begrüßung noch den Spektakel. Mrs. Lake belegte Bony mit Beschlag, der, bevor er von dem Schwärm Menschen in den großen, als Küche und Wohnzimmer dienenden Raum fast getragen wurde, noch bemerkte, wie zwei flinke Jungen einen Haufen Blöcke und Seile für den Flaschenzug auf den Lastwagen hoben. Die übrigen erschienen gleich nach ihnen und bekamen jeder eine Tasse Tee vorgesetzt. 111
Auf dem Tisch standen in mächtigen Bergen Butterkekse und feines Weizenbrot, bestrichen mit weißer, von der eigenen Farm stammender Butter. »Fred ist euch ungefähr drei Stunden voraus«, brüllte Mr. Lake, der offenbar aus langer Gewohnheit so schrie, um sich verständlich zu machen. Der Lärm war entsetzlich. Ein schlaksiger Jüngling stand an die Wand gelehnt, ein kleines Kind klammerte sich an Bonys Hosenbeine und kreischte, weil es hochgehoben werden wollte. Ein lang aufgeschossenes Mädchen musterte ihn feierlich, und der mächtige Busen ihrer Mutter begann zu wogen, sobald sie sich am Gespräch beteiligte. Draußen blökten die Kälber, die Hunde bellten, und die Krähen krächzten wie toll, um das Geschrei des im Käfig sitzenden Papageis zu übertönen. Im Vergleich dazu war es, als sie später abfuhren, in dem ratternden und quietschenden Lastauto still wie in einer Klinik. Zwei von den Jungen standen jetzt auf dem Wagen und hielten sich an der hinteren Kante des Führerhauses fest. Um sie tummelte sich ein ganzer Schwarm Hunde, die andauernd aufgeregt kläfften, und obendrein schrien Moss und Dick, die ja den ganzen Aufruhr verursacht hatten, noch lauter als nötig allerlei unnützes Zeug. Eingeklemmt wie eine Sardine in der Büchse, brachte Bony es fertig, eine Zigarette zu drehen, bevor sie durch ein zweites Weidegatter fuhren. Er war sehr vergnügt und fast ebenso übermütig wie seine Begleiter. Nachdem sie die Farm verlassen hatten, folgte dichter Wald, wo der Weg leicht befahrbar war. Zuerst war er angestiegen, zwischen den Hügeln ging es dann bequemer, aber hier im dichten Wald schien er ganz verrückt geworden zu sein und machte die wildesten Windungen. Moss Way konzentrierte sich aufs Fahren. Der Wagen schwankte und rutschte, der Motor donnerte oder wimmerte, die Hinterräder hüpften stoßweise, manchmal schienen sie förmlich in die Luft zu springen. Sie fuhren einen Abhang hinauf, wobei sie der Spur von Aylings Wagen folgten. Auf dem Hügelrücken, den der Wagen erklomm, standen die Bäume so dicht, daß sich gar kein Ausblick bot. Dahinter ging es wieder einen Hang hinab, der steiler war, als er aussah, so daß Moss, um besser bremsen zu können, den ersten Gang einschalten mußte. Über einen Wasserlauf, durch aufspringende Pfützen, geradeaus und aufwärts 112
und wieder hinab – so schien, es stundenlang zu gehen. Nach allen Richtungen dehnte sich undurchsichtig der Wald, der an vielen Stellen keinen Sonnenstrahl durchließ. »Die olle Karre kocht ja schon«, sagte Dick. »Ja. Ist schon ziemlich ausgeleiert«, gab Moss zurück. »Ob sie’s wohl schafft bis oben ’rauf?« »Müßte sie eigentlich.« Die Hunde waren jetzt still. Der Motor mußte das Letzte hergeben, Moss wechselte blitzschnell die Gänge. Bony klammerte sich an die Sitzkante, um nicht vom Platz geschleudert zu werden oder mit dem Kopf gegen das Verdeck zu prallen, denn der Weg wurde zusehends schlechter. Auf einmal kamen sie in dünner bewaldetes Gebiet, wo die Bäume kleiner waren. Hier drang die grelle Sonne wieder bis auf den Boden. Dann hörten die Bäume ganz auf, der Wagen kroch dicht unter Bergen von rotem Gestein dahin, die an einer Stelle einer Burg mit Zinnen, ein Stück weiter einer ganzen Stadt von Kirchtürmen glichen. Jetzt wurde die Landschaft zu einer grünen Ebene. Auf ihr lagen verstreute Steinbrocken wie Orangenschalen auf einem Zimmerteppich. Der Weg war nur grob hergerichtet, gerade so, daß der Wagen sich nicht überschlug. Wie die Männer diesen Weg mit einer Ladung von zehn Tonnen zurückfahren wollten, war Bony schleierhaft. Schon die Fahrt mit dem leeren Wagen war hier ein tollkühnes Wagnis. Schließlich sahen sie nur noch Himmel vor sich, der sie wie ein Vorhang aufzuhalten schien: Sie gelangten auf ein kleines Plateau, wo Moss bremste. Der Motor starb, es war plötzlich ganz ruhig. »Da sind wir«, sagte Dick Lake, indem er seine Tür öffnete und ausstieg. Die Hunde waren schon abgesprungen und empfingen ihn mit Gebell. Auch die jungen Leute sprangen vom Wagen; Bony war froh, Arme und Beine strecken zu können. »Ist das Sweet Fairy Ann?« fragte er. »Ja. Prima, was?« erwiderte einer von Dicks Brüdern. »Aber von der andern Seite ist noch schwerer ’raufzukommen.« Moss, der ein Blechgefäß mit Wasser vom Wagen nahm und den Kühler nachzufüllen begann, sagte: »Für Betrunkene ist das Fahren hier nicht sehr zu empfehlen.« 113
»Deshalb soll man auch kein Bier mitbringen«, ergänzte Dick. »Sogar Fred würde nicht riskieren, hier ’raufzufahren, wenn er was getrunken hat, und wenn er’s wollte, würde mein alter Herr ihn daran hindern.« »Wo ist denn hier das Ochsengespann abgestürzt?« erkundigte sich Bony und erfuhr, daß die berüchtigte Stelle weiter entfernt lag. »Laden wir das Gerät hier ab?« fragte einer der Jungen. »Nein, das nehmen wir lieber mit ’runter ans Ende der ›Rutschbahn‹.« Durch die Rast schien der Motor frischer geworden zu sein. Als alle wieder aufgestiegen waren, rollte der Wagen über das Plateau, und dann bekam Bony einen Schreck, denn hinter dieser Felsplatte gab es keine Fahrrinne mehr, sondern es ging weiter über das zerfurchte Gestein mehr als dreißig Meter steil wie von einem Hausdach bergab auf einer Felskante, die hinter einer Kurve unsichtbar wurde. Der Wagen kroch, vorsichtig gefahren, bis dorthin und dann dicht an der Felswand neben einem tiefen Abgrund weiter. Bony blickte hinunter und konnte nicht bis auf den Grund sehen, denn es war dunstig. Er wollte aussteigen und zu Fuß gehen, doch an seiner Seite konnte er die Tür der nahen Felswand wegen nicht öffnen, und an der andern bewegten sich die Räder auf der äußersten Kante, so daß er gleich in die Tiefe gestürzt wäre. »Großartige Aussicht von hier, was?« redete Moss auf ihn ein. »Den Berg da drüben nennen wir den ›Blitzenden Bill‹, weil sich jedes Gewitter aus der Umgegend an ihm austobt. Um keinen Preis möchte ich da wohnen. Ich kann das Blitzen nicht vertragen.« »Ich auch nicht«, ergänzte Dick. »Die Urwaldstürme kann ich nicht ausstehen.« Der steinerne Saumweg verlief in Windungen, stellenweise schräg nach außen abfallend, um vorstehende Felsnasen herum. Bony mußte an den schmalen Saumpfad denken, der an der Klippe von Split Point zur Piratenhöhle der Jungen hinabführte. Er schaute krampfhaft auf ferne Bergspitzen; in seinen Fußsohlen kitzelte es unangenehm. Blitze waren ihm lieber als halsbrecherische Wege. Außerdem schien es ihm doch sehr unwirtschaftlich, so einen Weg zu fahren, nur um Brennholz zu holen. Er sagte betont heiter: »Ob wohl Penwarden schon mit den Särgen angefangen hat, die wir bestellt haben?« 114
Moss lachte, Lake spuckte aus dem Wagen und kicherte. Sie waren so vergnügt, daß Bony beinah ärgerlich wurde. Die Felskante machte eine scharfe Krümmung, und er meinte mit Gewißheit zu erkennen, daß sie in diesem Winkel für die Radspur des Wagens zu schmal war. Hinter der Krümmung endete der Abgrund vor einer Felswand, die den Berg mit dem nächsten Massiv verband. Bony fühlte sich schon wie befreit, da sah er, daß die Felsen tatsächlich nur eine Wand bildeten und hinter ihr der Weg einen abschüssigen, mit Geröll bedeckten Hang kreuzte. »Hier ist das Ochsengespann mit allen Tieren und den Fahrern abgestürzt«, erklärte Dick. »Vater Wessex hat uns davon erzählt, er kannte den Fahrer und seinen Begleiter. Die sind beide nicht wiedergefunden worden, die Ochsen und der Wagen auch nicht. Wurden unter dem Erdrutsch begraben, der sie bis zum Fluß hinabwarf.« »Und haben den alten Penwarden noch um das Geschäft gebracht«, fügte Moss hinzu. »Sieht mir aus, als ob Fred hier den Weg ein bißchen ausgeflickt hat.« An dem schräg über den Abhang laufenden Weg hatte jemand mit der Schaufel gearbeitet. Ohne Zögern lenkte Moss den Wagen auf diese gefährliche Bahn. Bony fürchtete, der ganze Hang werde abrutschen, und wunderte sich wieder über die Sturheit, wegen zehn Tonnen Brennholz derartige Gebirgswege zu befahren, denn Brennholz hätten sie aus einem Wald ganz nahe bei der Lakeschen Farm ohne Mühe holen können. Er glaubte jetzt, die Antwort auf die Frage zu haben. Fred Ayling arbeitete in der gewaltigen Wildnis nur, weil er abenteuerlich leben wollte, und seine Freunde machten diese Fahrt nur, weil sie ein waghalsiges Unternehmen war, das sie aus dem Rahmen des bürgerlichen Lebens heraushob. Bei diesem Gedanken wurde es Bony leichter ums Herz, als der Wagen den Hang überquerte und die ›Rutschbahn‹ in einen Weg mündete, der weniger steil wieder in waldiges Gebiet führte. Nach etwa einer halben Stunde kamen sie plötzlich vor ein kleines Blockhaus mit einem Dach aus Baumrinden und einem kleineren Dach, das einen angebauten offenen Kamin schützte. Das Feuer loderte, an gekreuzten Stangen hingen Teekessel über den Flammen. Fred Ayling stand beim Feuer, hinter ihm machte ein australischer Terrier seine Kapriolen. 115
»Guten Tag, ihr Kerle!« schrie er ihnen zu. »Guten Tag, Fred!« kam es im Chor zurück, als der Wagen seine Menschenfracht ausspie. »Na, wie geht’s noch?« »Prächtig geht’s mir.« Fred warf ganze Hände voll Tee ins kochende Wasser. »Wollen lieber gleich unseren Imbiß nehmen. Es gibt bald schweren Regen, und die ›Rutschbahn‹ darf nicht überlastet werden.« Ein Paar graue Augen bekamen einen eigenartigen Ausdruck, als sie Bony erblickten. »Tag, Mr. Rawlings«, murmelte Fred.
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ie Jungen brachten eine Kiste mit Lebensmitteln und Bonys Frühstückskorb vom Wagen, und Fred Ayling bat alle, in die Hütte zu kommen. Sie enthielt nur einen Raum, dessen Fußboden aus gestampftem Lehm bestand. Möbel waren nur wenige vorhanden, alle mit Breitbeil und Axt gearbeitet, aber so gut, daß Ed Penwarden kaum Grund zu einem Tadel gefunden hätte. Als Stühle dienten leere Kisten, und die Wandregale waren grob gezimmert. Auf ihnen standen Bücher, eine Kamera und ein Mikroskop. Über dem Kamin hingen Äxte in ledernen Scheiden und zwei Gewehre, an den Wänden mehrere gerahmte Fotografien. Außer einem eingebauten Alkoven war auch ein Feldbett vorhanden, dem man ansah, daß es benutzt wurde. Ayling brachte eine große Blechkanne voll Tee herein und stellte sie hart auf den Tisch, damit die Teeblätter sich schneller setzten. Dick grinste vor Vergnügen, und seine Brüder bezeigten ihrem Gastgeber hohen Respekt. Der kleine Terrier bot allen Hunden, die hereinkommen wollten, so energisch die Stirn, daß sie draußen bleiben mußten. »Woher wissen Sie, daß es regnen wird?« fragte Bony. »Nicht eine Wolke steht am Himmel.« 116
»Spielt keine Rolle«, entgegnete Ayling, während er die Blechbecher füllte. »Nehmt euch Milch und Zucker, Herrschaften. Regen wird’s bestimmt geben, und zwar tüchtig! Die Spinnen fliegen nämlich.« »Haben wohl plötzlich Flügel gekriegt?« fragte Moss ironisch. »Ja, heute früh, bevor ich zurückkam. Müssen gestern oder vorgestern Junge ausgeschlüpft sein. Das habe ich bisher im Winter noch nicht beobachtet. Aber ladet nun lieber mal das Holz auf und haltet euch ’ran, sonst müßt ihr vielleicht zwei Wochen hier hocken, oder vier. Sogar den Ameisen ist nicht wohl.« »Wieso? Was machen die denn? Tragen sie ihre Eier durch die Gegend?« fragte Dick. »Nein, sie bringen die Kühe auf andere Weiden.« Einer der Jungen lachte, freilich respektvoll, und Ayling gab die Erklärung. »Wenn die Spinnen ihre Nachkommen zeugen, brauchen sie genügend Nahrung. Von einer Herde – oder wie soll ich’s nennen –, in der Tausende beisammen sind, werden dann viele aufgefressen. Die übrigen klettern auf etwas Hohes, zum Beispiel einen abgestorbenen Baum, und warten auf den Wind. Versteht ihr – einen sanften, kaum spürbaren Wind. Wenn er aufkommt, spinnen sie ihre seidigen Fäden einen oder zwei Meter lang, und die werden dann vom Wind mit dem am Ende hängenden Spinnenbaby in die Luft; getragen. Manchmal trägt der Wind sie nur ein paar Meter weit, manchmal aber auch meilenweit. Wo sie niedergehen, da bleiben sie, wachsen heran, paaren sich und zeugen wieder zahllose Junge.« Sie aßen und tranken im Stehen. »Stimmt es, daß die Weibchen stets ihre Männer auffressen?« wollte Moss wissen. »Wenn sie Gelegenheit dazu haben, ja. Aber die bietet sich nicht immer. Manchmal sind die Männchen nämlich ganz schlau. Ich hab’ mal gesehen, wie einer sich eine Fliege fing, sie hübsch sauber und kräftig fesselte und sie dem Weibchen anbot, um dessen ersten Hunger zu stillen. Der Hunger ist es nämlich, der die weibliche Spinne so gefährlich macht. Was ich jetzt sage, habe ich nicht selbst gesehen, aber in einem meiner Bücher berichtet ein Naturforscher, wie der Spinnenmann es versteht, dem Weibchen die Vorderbeine zusammenzubinden, so daß es ihn nach der Paarung nicht einfangen kann.« 117
»Feine Idee! Mich wird keine Frau der Welt einfangen«, gelobte Dick Lake. »Ich mag Spinnen nicht leiden«, sagte Moss. »Was hast du denn gegen sie?« forschte Ayling. »Spinnen sind die besten Freunde des Menschen. Wenn es sie nicht gäbe, wäre die Menschheit unter den Insekten zugrunde gegangen.« »Trotzdem mag ich sie nicht«, betonte Moss. »Die großen schon gar nicht. Und daß Kühe durch Ameisen auf die Weide getrieben werden! Nein so was. Wußte gar nicht, daß sie Kühe besitzen.« Ayling lachte, die andern stimmten ein. »Erzähl mal weiter, mich könnt ihr ja ruhig veräppeln«, sagte Moss. »Also es ist so: Die Ameisen halten sich Blattläuse, wie wir uns Kühe halten, und aus demselben Grunde. Sie versorgen sie und melken sie, bringen sie auf die Weide und passen auf, daß sie nicht vom Unwetter überrascht werden. Ich könnte euch das zeigen, wenn ich dafür Zeit hätte. Die habe ich aber nicht, und ihr müßt jetzt aufladen, und ein bißchen dalli! So viel zu essen habe ich nicht, daß ich euch Burschen hier vier Wochen durchfüttern kann.« Während dieser Unterhaltung hatte Bony die Einzelheiten in Fred Aylings Behausung genauer studiert, hauptsächlich, um sich ein Bild von seinem Charakter zu machen. Die Bücher auf den übervollen Regalen waren sämtlich in braunes Papier eingebunden und außen ohne Titel oder andeutende Vermerke. Eins der vergrößerten Fotos zeigte ein Ehepaar in mittleren Jahren. Die Ähnlichkeit des Mannes mit Fred war unverkennbar. Auf einer anderen Vergrößerung sah er drei junge Männer in Uniform, einen Matrosen und zwei Infanteristen. »Das sind wir«, verkündete Dick Lake, als er Bonys interessierte Blicke bemerkte. »Ich mit Fred und Eldred Wessex.« »Nun kommt lieber mal in Gang, anstatt lange zu quasseln«, unterbrach ihn Ayling. Bony trat näher vor das Bild der drei jungen Männer, denen die Uniform noch so neu war, daß sie linkisch wirkten. Der eine Infanterist, angeblich Eldred Wessex, sah weder seinem Vater noch der Mutter im geringsten ähnlich. Das Kinn war schwächlich, die hohe Stirn zu schmal. Er hatte dieselbe Nase wie seine Schwester und in den dunklen Augen denselben gespannten Blick wie sie, aber weder den liebenswürdigen Zug um den Mund noch die straffe Haut. 118
Als die anderen die Hütte verließen, schloß Bony sich an. Moss Way kümmerte sich um den Motor des Wagens. Die jungen Burschen nahmen die Baumwinden herunter, indes Dick Lake mit Ayling auf und ab ging. In dem hellen Sonnenschein lag Wärme, aber er war zu golden und zu warm. Die Vögel mit ihrem munteren Gezwitscher schienen glücklich zu sein, doch wer scharf hören konnte, dem mußten die kleinen Untertöne darin auffallen. Bony begab sich mit zum Wagen. Überall sah er Stapel gleichmäßig behauener Stämme, alle zweieinhalb Meter lang und nicht unter achtunddreißig Zentimeter Durchmesser, alle entrindet und kerngesund. Jedem Betrachter dieses Holzfällergeländes mußte es auffallen, daß Fred Ayling bei seiner Tätigkeit nirgends willkürliche Zerstörungen angerichtet hatte. Während die Männer den Wagen beluden, studierte Bony ihre Technik im Benutzen der Seile und der Gegengewichte, durch die das Holz vor Aylings Schrotsäge gebracht wurde, und fand an einer anderen Stelle eine ähnliche Vorrichtung, die es Ayling ermöglichte, die schweren Stämme ohne Hilfe kunstgerecht aufzustapeln. Merkwürdiger Mensch – hier ganz einsam im Walde zu leben, riesige Bäume zu fällen und sie nach eigenen einfallsreichen Methoden zu verarbeiten. Und dabei sich noch die Zeit zu genauem Beobachten der Insekten und Vögel zu nehmen. Glücklicher Mensch, der lieber ein König ohne Hofstaat sein wollte als ein Sklave im großen Getriebe des Wirtschaftslebens. Als sie genug Stämme auf den Wagen gepackt hatten, banden sie die Ladung mit Seilen zusammen, die sie tüchtig festzogen, bevor sie ihre Plätze in der Kabine und auf dem Holzstapel einnahmen.. Im zweiten Gang, langsam und in gleichmäßigem Tempo, begann der Wagen die Rückfahrt. Als er den Anfang des schräg am Berghang verlaufenden Weges erreichte, wurde gebremst, und außer Lake und Ayling stiegen alle ab. »Gehen wir lieber zu Fuß«, sagte Moss zu Bony. Dick Lake begann, den Wagen über die ›Rutschbahn‹ zu steuern – das alles für eine Ladung Brennholz, für den Besuch bei einem Freund. Bony fand es einfach unglaublich und war entsetzt, um so mehr, als er die Männer hier nicht für Angeber und Kraftprotze halten konnte. Sie betraten den Weg am Steilhang erst, als der Wagen auf der ande119
ren Seite angekommen war. Bony blickte flach oben, um die Höhe des mit kleinem Geröll bedeckten Hangs zu schätzen, und sah, daß er sich noch ebenso weit in die Tiefe erstreckte, bis an den Rand eines Baumgürtels, hinter dem der Fluß lag, gut eine Meile entfernt. Jenseits der ›Rutschbahn‹ stieg Ayling vom Wagen und begab sich, nach fröhlichem Abschied von den Freunden, Bony nur kühl zunikkend, auf den Rückweg in seine Einsamkeit. Der Wagen gelangte jetzt auf den festeren Weg. Bony fragte sich, während er mit den anderen hinterherging, ob er sich nur einbildete, daß Ayling vorhin nicht ganz so freundlich gewesen war wie sonst, möglich, daß er sich über Lake ärgerte, weil der über das Foto mit den drei Soldaten gesprochen hatte. Der Wagen hielt, und als die Fußgänger bei ihm ankamen, Wes Lake von seinem Platz am Steuer auf den Himmel im Westen- wo in halber Höhe über dem Horizont eine riesige blauschwarze Wolkenmasse mit messerscharfen Rändern hing. »Das kommt bestimmt bei uns ’runter«, sagte er. »Bis es losgeht, müssen wir an unserer Farm vorbei sein.« Sie standen jetzt am Fuß des Plateaus, das über Sweet Fairy Ann lag. Die Burschen warfen den Flaschenzug und die Seile vom Wagen. Der Flaschenzug wurde vorn am Wagen und ein Pflock zum Gegenzug an einem Felsvorsprung befestigt. Bony wurde aufgefordert, am freien Ende des Seiles zu ziehen. Der Motor wurde auf den ersten Gang geschaltet, um den Wagen den Hang hinaufzubringen, wobei die zusätzliche Kraft der Ziehenden gerade ausreichte, daß der schwere Wagen langsam, aber sicher, die Höhe erklomm. Von da ab saß Bony mit Moss Way und Lake im Führerhaus wo Dick derb und verwegen das Lenkrad führte. Als sie wieder in den Wald kamen, schien der goldene Sonnenschein sich grün zu färben, und plötzlich war er ganz ausgelöscht. Das Fahrzeug schwankte und rutschte, aber das ruckende Stampfen hatte unter dem Gewicht der Ladung aufgehört. Über ein Stück sumpfiges Gelände schafften sie es mit knapper Not, und einmal sank der Wagen tief ein, so daß sie wieder den Flaschenzug benutzen mußten, um loszukommen. Dick gab jetzt Bony einsilbige Antworten, Moss sprach überhaupt nicht, wahrscheinlich weil ihn das Wetter mit Sorge erfüllte. Die frohe Laune war dahin, und Bony konnte sich nicht erklären, warum. 120
Wieder wurden sie von den vielen Mitgliedern der Familie Lake laut begrüßt. Die Hunde jaulten, die Kälber blökten, und die Kinder kreischten. Familie Lake wollte die Besucher gar nicht wieder fortlassen. Als sie abfuhren, war der Himmel bis auf einen schmalen seegrünen Streifen dicht bewölkt. »Freds Spinnen haben doch wohl was geahnt«, sagte Moss. »Hoffe, der Regen kommt erst, wenn wir bei Wessex vorbei sind. Ketten haben wir ja nicht mitgenommen, was?« »Nein«, erwiderte Dick. Wiederum Schweigen, bis Bony es brach: »Wie ist es eigentlich gekommen, daß sich Ayling so in die Wildnis zurückgezogen hat?« »Das hat sich wohl von selbst ergeben«, antwortete Moss. »War in Mary Wessex verliebt. Stimmt’s, Dick?« »Ja.« »Aber die wollte Phil Gough haben, und der ist nicht aus dem Kriege zurückgekommen.« Moss kaute auf seiner Zigarette. »Das Leben ist komisch, was?« »Verflixt komisch«, stimmte Dick ihm bei. Bony spürte in seiner Stimme einen grollenden Unterton. »Wozu das alles jetzt aufwärmen? Was erledigt ist, ist erledigt.« Moss verstand ebensowenig wie Bony, warum Dick Lake so verdrossen war. Er sagte gutmütig scheltend: »Schon gut, schon gut, Freundchen. Gibt’s in Ihrer Gegend viele Spinnen, Mr. Rawlings?« »Taranteln und viele andere.« »Ameisen vermutlich zu Millionen?« »Trillionen«, erwiderte Bony. »Heute war für die gerade das richtige Wetter zum Brüten. Mich hat interessiert, was Fred von den fliegenden Spinnen erzählte. Ich habe nämlich auch schon welche im Wind schweben sehen.« »Ich auch. Ah, jetzt geht’s los. Drück auf die Tube, Dick.« Dick gab mehr Gas. Innerhalb einer Minute trommelte der Regen so dicht auf die Kühlerhaube, daß sie kaum fünfzig Meter weit sehen konnten. Drei Minuten später mußte der Fahrer vorsichtig über eine glitschige Stelle lavieren, nach weiteren fünf Minuten erreichten sie bei der Wessex’schen Farm die bessere Straße. »Vielleicht haben wir noch Glück«, knurrte Moss. 121
Aus Nordwesten sprang Wind auf, der gegen das Tief drückte, das sich, den Voraussagen der Wetterwarten zum Trotz, im Südlichen Eismeer gebildet hatte. Eben fiel der Regen noch senkrecht, im nächsten Moment trieb er schräg und prasselte scharf auf Motorhaube und Windschutzscheibe. »Wie spät haben wir’s?« fragte Moss, und Bony antwortete, daß es zwanzig nach fünf sei. »Wollen lieber zur Kneipe ’ranfahren, Dick«, schlug Moss vor. »All right. Um unsere Mäntel zu holen. Und von da gehen wir zu Fuß nach Hause.« Sie kamen gerade an Penwardens Werkstatt vorbei. Die Tür war geschlossen. Kurz hinter dem Gebäude bremste Dick, Moss sprang vom Wagen und rannte durch den Sturm zu ihrem Camp, um die Mäntel zu holen. Bony sagte nichts, was anscheinend Lake zum Reden veranlaßte. »Wenn’s so weitergießt, wird die Küstenstraße zwischen Anglesea und Lome überall blockiert sein.« »Durch Erdrutsche, meinen Sie?« »Ja. Wo die Straße unten an den Bergen entlangläuft. Da ist überall lockerer Boden. Ein paar Tropfen Wasser, und schon verschlammt alles.« Dick schien gar nicht mehr lächeln zu können, seiner Stimme fehlte der heitere Klang. Wenn er innerlich wütend war, ließ er davon allerdings nichts merken. Bony suchte vergeblich eine Erklärung für sein verändertes Benehmen. Moss stürmte im Laufschritt zurück und sprang in die Kabine! Sie fuhren noch das Stückchen bis zum Eingang des Hotels, wo Dick so nahe am Hause bremste, daß Bony gleich vom Trittbrett aus in die Tür steigen konnte. Der Wirt stand mit dem Bauch an der Theke, gegen die sich vorn, als müsse er das Gleichgewicht halten, Oberwachtmeister Staley lehnte. Sonst war kein Gast im Lokal. »Betrunkenen und kleinen Kindern passiert bekanntlich nichts«, sagte Staley. »Und ihr habt besonderen Dusel gehabt, Herrschaften. Aber einmal wird’s euch an der ›Rutschbahn‹ noch erwischen.« »Ach wo, da kommen wir schon klar«, entgegnete Lake. »Was wollen wir trinken?« 122
»Jedenfalls seid ihr gerade noch so aus der Patsche gekommen«, sagte Washfold. »Halbe Stunde später, dann hättet ihr’s nicht bis zu Wessex geschafft. Noch dazu mit Ladung.« »Waren Sie mit?« wandte Staley sich an Bony. »Ja. War wirklich ein schöner Tag. Eine erstaunliche Gegend. Und vorzügliche Fahrer, die beiden.« »Fahren können die, das muß ich zugeben. Das heißt, wenn sie nüchtern sind.« Staley grinste die beiden an und bestellte Bier. Er stand am Ende der Reihe, neben Bony. Keiner bemerkte, daß er einen Briefumschlag in Bonys Tasche schob. »Wie geht’s Ihrem Vater, Dick?« »Den Umständen nach ganz gut. Hat für sein Bein eine neue Prothese gekriegt, die viel besser ist als die alte. Fragte auch nach Ihnen.« Kein Lächeln, nichts Freundliches im Ton. Staley erwiderte, das freue ihn sehr. »Vater würde sich freuen, wenn Sie mal vorbeikämen und seinen neuen Apfelwein probierten, der jetzt ausgegoren ist. Er will Sie gern für ein paar Tage richtig blau machen, um ungestört einige tausend Opossumfelle zu verkaufen.« Staley lachte vergnügt, und Bony überlegte, wie hoch sich die Strafe für den verbotenen Verkauf dieser Felle belaufen würde. »Sie haben die doch nicht etwa unter Ihrer Holzladung versteckt?« fragte Staley. »Da haben Sie nämlich nichts zu lachen, wenn ich Ihnen befehle, sämtliche Stämme gleich hier vor’m Lokal abzuladen.« »Was Sie nicht sagen!« knurrte Moss. »Laß du deine albernen Witze, Dick. Haben wir nicht heute schon genug Arbeit gehabt?« »Haben wir. Noch ’ne Runde – auf meine Rechnung, Bert.«
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er Regen prasselte auf das Dach des Hotels, in den Traufen fauchte der Wind. Split Point hatte den Zorn des Meeres auszuhalten, dessen kampfwütiger Haß auf das Land sich auch weiter hinter der brüllenden Brandung noch hörbar Luft machte. Staley war wieder nach Lome zurückgekehrt, die Holzfahrer hatten sich in ihr Camp zurückgezogen. Washfold und seine Frau verrichteten ihre alltäglichen Arbeiten, und Bony saß am hell lodernden Kaminfeuer. Er saß mit geschlossenen Augen und kör-“ perlich vollkommen entspannt da, während er im Geiste die Geschehnisse des Tages und die von Staley empfangene Mitteilung überprüfte. Das Ergebnis der Anfragen Staleys bei Penwarden stand fest. Der alte Mann hatte erklärt, daß kein Kriminalbeamter in seiner Werkstatt gewesen sei. Oberinspektor Bolt habe ihn eines Abends in der Wohnung aufgesucht und sei mit ihm von dort aus zum alten Schulhaus gefahren, wo der Tote damals lag, den er sich ansehen sollte. Bolt teilte mit, daß auch niemand von seinem Stabe die Werkstatt betreten hatte, um mit Penwarden zu sprechen. Die Leute vom Reparaturtrupp, zur Zeit in Melbourne, waren alle befragt worden und hatten ausnahmslos erklärt, nicht in Penwardens Werkstatt gewesen zu sein. Sie waren entrüstet, als ihnen vorgehalten wurde, der Kehricht, den die Beamten durchsucht und nachher an die Wand gefegt hatten, sei von ihnen hinterlassen worden. Nein, sie hätten nach Beendigung der Arbeit gewohnheitsmäßig den ganzen Leuchtturm sauber ausgefegt und nichts liegengelassen. Ingenieur Fisher bestritt anfangs, daß die Abfälle von seiner Tätigkeit stammten, gab aber dann zu, er habe einen Teil seiner Arbeitszeit benutzt, um für seinen kleinen Jungen eine Schaukel zu machen. Er 124
habe den Abfall nicht ausgefegt, weil er glaubte, daß bis zur nächsten Inspektion sowieso niemand mehr den Turm betreten werde. Also ergab sich, daß der Kehricht von Fisher bei seiner am dritten und vierten Februar durchgeführten Inspektion hinterlassen worden war. Vom Reparaturtrupp kam damals keiner für den ›Transport‹ des Holzspans aus der Werkstatt in Betracht. Da Fisher zu Protokoll gab, bei keinem seiner Besuche auf Split Point in Penwardens Werkstatt gewesen zu sein, konnte er ebenfalls ausgeschaltet werden. Blieben nur das Opfer, sein Mörder, und wahrscheinlich dessen Komplice. Über den Ring wurde nichts festgestellt, wohl aber über die Uhr. Ein in Sydney tätiger Juwelier hatte sie am neunzehnten Januar zwecks Reparatur entgegengenommen und sie dem Kunden, der sie abholen kam, am sechzehnten Februar repariert wieder ausgehändigt. In seinen Notizen fand er den Auftraggeber unter dem Namen Themas Baker eingetragen. Der Juwelier vermochte freilich auf den Fotos den Toten nicht als seinen Kunden wiederzuerkennen. Er sagte, dem Alter und allgemeinen Eindruck nach könne er es sein, und erwähnte, daß er ihn damals gleich für einen Seemann gehalten habe. Sehr nützlich wurden seine Auskünfte, als er sich erinnerte, daß der Kunde beim Abholen der Uhr in Begleitung einer Frau gekommen sei, die während des Gesprächs am Ladentisch einen Handschuh abgestreift habe, wobei ihm aufgefallen sei, daß sie mehrere mit Opalen besetzte Ringe trug. Opal-Jane! Bekannt als Freundin leichtlebiger Herren. Eine kluge Frau, die ihren Ruf zu wahren verstand! Sie besaß so viel Geld und ein solches Bankkonto wie keine zweite ›Dame‹ in Australien. Ja, sie hatte Thomas Baker gekannt. Von seinem Beruf wisse sie nichts, habe sich aber ›so ungefähr gedacht, daß er Schiffsoffizier sei‹. Ja, sie hatte ihn auf den veröffentlichten Bildern erkannt, das jedoch verschwiegen, weil sie nicht ›mit einem Mord in Verbindung gebracht werden wollte‹. Auch in einem langwierigen Verhör war weiter nichts von Opal-Jane zu erfahren. Sie wurde aufgefordert, Sydney nicht zu verlassen. Entweder log die Frau, oder sie glaubte wirklich, daß Baker mit Vornamen Thomas hieß. Wenn es sich um denselben Mann handelte – und es lag kein Grund vor, das zu bezweifeln –, dann hätte er bei Bestellung des Anzuges in Adelaide doch die Buchstaben B. B. angegeben – B. 125
Baker. Bony ärgerte diese Unklarheit ein bißchen, denn er wußte, daß Leute sich leicht einen anderen Familiennamen zulegen, aber auf einen Wechsel des Vornamens nur selten achten. Obgleich Bolt in seinem Bericht nichts über einen Siegelring mit den Buchstaben B. B. sagte, rechnete Bony damit, daß er die Suche nach dem Juwelier, der den Ring so schlecht gelötet hatte, fortsetzen lassen würde. Bestimmt lief von dem Ring eine Verbindung zu dem Toten, verband ihn mit Fred Ayling und führte von Ayling zu Mary Wessex, die von den ›Braven Bukaniern‹ wußte, zu denen Dick Lake und Eldred Wessex gehört hatten. Eldred Wessex! Überall wurde behauptet, er sei nach seiner Entlassung vom Heer gleich nach Amerika gegangen. Dadurch hatte er seinen Vater gekränkt, und zwar so sehr, daß von ihm kein Bildnis im Wohnzimmer der Familie hing. War Opal-Jane zu glauben, dann konnte der Tote aus dem Leuchtturm nicht Eldred Wessex sein, der junge Soldat, den Bony auf dem Foto in Aylings Blockhütte gesehen hatte. Mund und Kinn, des Toten ließen zähe Energie vermuten, bei dem Toten aber wirkten diese Partien weichlich. Des Toten Stirn war breit, die des Soldaten schmal. Keine Gesichtsoperation hätte so krasse Unterschiede schaffen können. Ein deutlich sichtbarer Faden lief von der Höhle, in der die Kleidung des Toten gelegen hatte, dieser Höhle, die zweifellos den kindlichen Freibeutern als Hauptquartier gedient hatte, zu Fred Aylings Ring, der dem im Regenmantel des Toten gefundenen glich. Fred Ayling! In der Kette schon erkennbarer Zusammenhänge bildete er ein wichtiges Glied. Er war ihm gestern nachmittag, als sie zusammen das Wessexsche Haus verließen, freundlich begegnet und hatte ihn zum Schluß herzlich zu einem Besuch eingeladen. Kurz nach dem Abschied hatte Mary Wessex sich mit Ayling unterhalten. Als er dann mit Lake zusammen bei Ayling ankam, war dessen Benehmen merklich verändert. Bestimmt hatte es ihm nicht gepaßt, daß Lake die Aufmerksamkeit des Besuchers auf das Bild der drei Kriegshelden gelenkt hatte. Nach dem Mittagessen waren Ayling und Lake zusammen auf und ab gegangen und hatten nachher im Wagen, während der Fahrt über die ›Rutschbahn‹, nebeneinander gesessen. Vor dem Essen war Lake zu 126
Bony nett gewesen, doch später, als sie nach Split Point zurückfuhren, war er so muffig, daß es sogar seinem Partner auffiel. Die Ursache für die veränderte Haltung der beiden Männer mußte in dem Gespräch liegen, das Mary Wessex mit Ayling geführt hatte, als sie am Wagen stand. Hatte sie ihn vor etwas gewarnt? Sie war klar genug bei Verstand, ihm eine verständliche Warnung zu übermitteln. Mary Wessex! Mary Wessex war die Person, die auf Fußspitzen über den Leuchtturmhof gegangen war, an dem Nachmittag, als er sich mit Fisher im Turm befand. Mary Wessex war von der Scheune zum Haus auch auf Zehenspitzen gegangen, als Bony bei ihrem Vater saß, und hatte in kindlicher Weise versucht, die Hunde zum Schweigen zu bringen. Ihre vor der Verandatreppe hinterlassenen Spuren waren die gleichen wie die im Hof des Leuchtturms. Bony konnte mit einer gewissen Berechtigung annehmen, daß Mary Wessex ihn beobachtet hatte, als er den Saumpfad zur Höhle hinabkletterte, und daß sie auf seine Rückkehr gewartet hatte, bewaffnet mit einem dicken Stein, in der Absicht, ihn zu töten. Ein Mann hätte ganze Arbeit geleistet, indem er noch einmal zuschlug. Eine energische Frau von normalem Verstand hätte das ebenfalls getan. Sicher war, daß Mary Wessex über die Höhle genau Bescheid wußte. Möglich, sogar wahrscheinlich, daß sie nichts von den dort liegenden Sachen des Getöteten wußte, aber wenn sie zu den ›Braven Bukaniern‹ gehörte, legte sie gewiß den allergrößten Wert darauf, daß niemand außer ihr und den drei Jungen – die nun längst Männer waren – vom Vorhandensein der Höhle erfuhr. Für sie war Bony eine Bedrohung, wie es für Seeräuber ein Zollbeamter ist, oder gar der Kommandant einer feindlichen Fregatte. Für Ayling war er, sobald dieser von seinem Abstieg zur Höhle erfuhr, eine noch schlimmere Bedrohung – mußte es geworden sein, denn der sonst so vernünftige Lake war dadurch beeinflußt, wie sein verändertes Benehmen zeigte. Ayling wußte, daß das Zeug und der Koffer des Toten in der Höhle lagen. Und Lake wußte das auch. Seit sie wußten, daß er die Höhle aufgesucht hatte, waren sie vor ihm auf der Hut. Beim Rekapitulieren dieser Einzelheiten kam Bony zu der Ansicht, daß Mary Wessex, als sie sich anscheinend von der Klippe stürzen wollte und durch Dick Lake daran gehindert wurde, in Wirklichkeit 127
nur über den Saumpfad zur Höhle gehen wollte. Hatte Lake sie daran gehindert, weil er den Abstieg für zu gefährlich hielt, oder weil er nicht zulassen konnte, daß sie die Sachen des Toten fand? Wie es zuging, daß er gerade rechtzeitig auf der Klippe erschienen war, konnte Bony sich einstweilen noch nicht erklären. Die Ringe! Soweit er bisher wußte, gab es zwei ganz gleiche, und die Buchstaben B. B. bedeuteten vermutlich ›Brave Bukaniere‹. Mit dem Mädchen zusammen gab es vier von diesen Freibeutern, und vielleicht existierten auch vier gleiche Ringe. Ein Juwelier mochte vergessen, daß er für einen dieser Ringe ungeeignetes Lötmaterial genommen hatte, aber er vergaß gewiß nicht, daß er einmal vier gleiche Siegelringe verkauft und auf jeden dieselben Buchstaben graviert hatte. Als Bony den bei dem Toten entdeckten Ring seinem Vorgesetzten zeigte, hatte er noch nicht den zweiten an Aylings Hand gesehen. So hatten sich Bolts Leute wahrscheinlich nur auf Nachfragen bei den großstädtischen Juwelieren beschränkt, um zu ermitteln, wer den Ring so schlecht gelötet hatte. Jetzt hielt Bony es für gut möglich, daß der gesuchte Juwelier – wenn er noch lebte – auch in einer kleinen Stadt in der Nähe, etwa in Geelong oder Colac, sogar in Lome, gefunden werden konnte. Trotz des Sturmes schlief er fest und lange. Als er erwachte, sah es aus, als versuchte die Sonne auf den dahinrasenden Wolken stillzustehen, und die Bäume am Hotel schienen fortzufliegen. Beim Frühstück erzählte ihm Mrs. Washfold, daß die Straßen nach Anglesea und Lome durch Erdrutsche versperrt seien, die den Fahrverkehr voraussichtlich für zwei Tage lahmlegten. Nach dem Frühstück beschloß er, mit Stug zum Leuchtturm zu wandern. Gleich nachdem er aus dem Hotel war, änderte er seinen Entschluß. Wenn er aus der Höhe auf ein stürmisches Meer blickte, mochte ihm viel von der Majestät des erregten Wassers und der ganze Eindruck seiner Kraft entgehen. Deshalb wollte er lieber an den Strand gehen. Die Straße war sauber, in den Rinnen gurgelte noch immer das Wasser von einem Regen, der über 100 Millimeter gebracht hatte. Der Wind glitt über das Oberland, kalt fauchte er über Bony. Der Leuchtturm sah schmuddlig weiß aus, die Küste in Richtung nach dem von hier aus unsichtbaren Lome war vom Gischt trübselig gelb gefärbt. 128
In der Bucht war Gewaltiges geschehen. Der gewundene Flußlauf war fünfmal so breit wie sonst, und an der Mündung tummelten sich so viele Wasservögel, wie er bisher dort noch nicht gesehen hatte. Der Fluß wurde landeinwärts gedrückt, und von der Sandbank hatte ’die wild zuschlagende Brandung große Fetzen abgerissen. Welle auf Welle brausten die schweren Brecher in gewaltigem Anlauf auf die Bank los und schleuderten tonnenweise ihr Wasser über sie hinweg in den Fluß. Der Sturm fegte Bony stechende Sandkörner ins Gesicht, die den Hund an der Nase noch schmerzhafter trafen. Als sie den Strand erreichten, wo Bony beobachtete, wie die Wassermassen in die Bucht einbrachen, setzte sich Stug sofort mit dem Rücken zur See und schloß schnell die Augen. Der Rand, den die volle Flut hinterließ, war deutlich sichtbar, als die Ebbe einsetzte; nur an einigen Stellen war das Wasser bis an die Klippe gelangt. An der Spitze von Split Point lagen die Felsblöcke wie in einem Kessel mit kochendem Wasser vor dem kleinen Strandstreifen, wo der tote Pinguin angetrieben war. Bony kämpfte sich mühsam durch den Sand bis dorthin. Er kam an den Felskamin in der Klippenwand, wo auch jetzt das Treibgut vom Wasser pausenlos umhergewirbelt wurde. Der stechende Gischt zwang ihn, den Mantelkragen hochzuklappen, und Stug mußte sich in seltsamer Gangart vorwärtsschieben. So naturverbunden Bony auch war – er fürchtete doch die Elemente, und diese Furcht hielt ihn ganz in Bann. Hier war die Wut des Meeres grauenerregend. Außer dem Mann und dem Hund lebte nichts auf ’diesem Kampfplatz, wo die ewige Starrheit der Felsen sich gegen das ewig Bewegte des Meeres verteidigte. Als Bony den Leuchtturm sehen konnte, brachte er ihn gar nicht in Gedankenverbindung mit diesem Schauspiel, sondern empfand ihn als das Gleichnis einer edlen Frau, die gelassen über die Köpfe des tobenden Pöbels hinwegblickt. Als er am Strand die Stelle erreichte, wo er den Pinguin begraben hatte, war er ganz verzaubert vom gnadenlosen Ringen des Wassers und starrte von dort, wie schon einmal, den Rücken der See zugewandt, zur Klippe hoch, nach der Stelle, wo Mary Wessex erschienen war. 129
Er erinnerte sich genau der Form des Klippenrandes, der sich silhouettenhaft gegen den Himmel abgezeichnet hatte, und erkannte nun, daß der Platz, an dem Mary Wessex sich gegen Lake gewehrt hatte, ganz dicht am oberen Ende des Saumpfades lag, auf dem er sich hinabgetastet hatte. Er konnte den Pfad – da er jetzt von dessen Existenz wußte – sogar sehen, als dünnen Strich, bis zu der überhängenden Stelle. Es gab keinen Zweifel mehr, daß er, wenn er unter dem Schlag, den er dort empfing, zusammengebrochen wäre, den Sturz in die Tiefe nicht überlebt hätte. Wie ein Stein wäre er die gelbe Felswand hinab ins Geröll gestürzt. Und läge jetzt hier – dort etwa … Ein dunkler, noch nicht erkennbarer Klumpen lag genau da, wo er hingefallen wäre. Von Stug gefolgt, schritt er den sanft ansteigenden Strand hinauf, um zu sehen, was das war. Es war ein junger Mann im Arbeitszeug, der Schuhe mit Gummisohlen trug. Er lag reglos da, wie zerbrochen, aus dem unverletzten Gesicht starrten die grauen Augen weit geöffnet ins Leere. Bony blickte – in das Gesicht von Dick Lake. Seine Kehle schien sich zuzuschnüren, und trotz seiner vielen bösen Erfahrungen konnte er das in ihm aufsteigende Grauen nicht bezwingen, denn diesen früher immer so fidelen jungen Menschen hatte er fast liebgewonnen.
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tug kroch an den Toten heran und beschnupperte ihn. Dann schlich er beiseite, setzte sich hin und heulte. Eine Wolke gab plötzlich die Sonne frei, ihre Strahlen durchdrangen den Gischt, goldenes Licht breitete sich über das Gesicht des Toten. Mechanisch merkte Bony sich die Uhrzeit, denn berufliche Gewohnheit verdrängte rasch die rein menschlichen Gefühle. Lake hatte beim Absturz keinen Mantel angehabt, der Kragen seines Arbeitsrocks war hochgeschlagen und mit einer Sicherheitsnadel zuge130
steckt. Sein Zeug war so naß, als habe die See ihn angespült. Er trug keine Uhr, die beim Sturz stehengeblieben wäre, und in seinen Taschen fand Bony nur ein langes dünnes Seil. Er setzte sich auf einen Felsblock und betrachtete den Hund. Stug hatte den Kopf gehoben, er weinte über das Hinscheiden eines seiner vielen Freunde. In der finsteren Nacht, oder gleich bei Tagesanbruch, hatte Lake sich auf den Klippenpfad gewagt, vermutlich um in der Höhle nachzusehen, ob Mr. Rawlings die Kleidungsstücke, die Schuhe und den Koffer entfernt hatte. Vermutlich wollte er sie, wenn sie noch da waren, an einen anderen Ort bringen. Entweder war er ausgerutscht, oder die vom Regen durchtränkte Wegkante war abgebrochen. Der Beweis, daß er zur Höhle wollte, lag in dem Seil, das er mitgenommen hatte, und den Strandschuhen mit Gummisohlen. Bony, der jetzt empfand, daß es doch ein großer Unterschied war, ob er einen Unbekannten tot vorfand oder jemanden, mit dem er gelacht und gescherzt hatte, zog seinen Mantel aus und breitete ihn über den toten Dick Lake, wobei er die Ecken mit Steinen beschwerte. Er spürte sehr wohl das Fehlen des Mantels und schritt daher, so schnell es im Sande möglich war, wieder zur Bucht und von dort am Leuchtturm vorbei zur Klippe. Flach an den Boden gepreßt, lugte er über die Kante und sah, daß der Saumpfad jetzt erst ein oder zwei Meter unterhalb der vorspringenden Kante begann und der Regen die Bruchstelle ganz glattgewaschen hatte. Während er die Hauptstraße zum Hotel hinaufging, grübelte er darüber nach, wie es zu diesem tragischen Abschluß der Ereignisse gekommen sein konnte und was Lake zu dem Versuch, die Sachen des Ermordeten trotz der großen Gefahren in Sicherheit zu bringen, veranlaßt haben mochte. Wieder sah er im Geist, wie Lake mit Fred Ayling aus dessen Blockhaus zum nächsten Holzstapel gegangen war, und stellt sich ihr Gespräch etwa wie folgt vor: ›Als ich gestern nachmittag von den Wessex’ abfahren wollte, kam Mary hinter mir her und sagte mir, daß der Kerl aus der Kneipe, dieser Rawlings, unsere alte Höhle aufgespürt hat.‹ ›Mensch, ist das wahr?‹ platzte Lake los. ›Wie kam denn das?‹ ›Sie erzählte, sie hätte ihn beobachtet. Wußte selbst nicht, warum. Er sei an der Klippe ’runtergeklettert, und sie hätte sich dann am Rande 131
hingelegt und gewartet, bis er wieder ’raufkam. Er wäre lange unten geblieben. Als er dann auftauchte, hätte sie ihm mit einem Stein auf den Schädel geschlagen, genau in dem Moment, als er den Kopf über die Kante heben wollte. Sie ist dann wohl gleich weggelaufen, weil sie gedacht hat, er müsse durch den Schlag abgestürzt sein.‹ ›Und das ist er nicht … Er ist nicht abgestürzt – sie hat’s nicht fertiggebracht.‹ ›So war’s wohl, Dick. Er muß sich trotz des Schlages festgehalten haben. Ich glaube, in diesem Punkt täuscht sie sich nicht, sonst wäre er wohl nicht mehr da.‹ ›Also muß er das Zeug und den Koffer gefunden haben‹, sagte Lake, jetzt heftig erschrocken. ›Hat Mary gesagt, ob er was mit ’raufgebracht hat?« ›Sie meinte, nein. Ich hab’ sie genau danach gefragt.‹ ›Klingt trotzdem übel, die Sache, was?‹ äußerte Lake, und Ayling sagte: ›Rawlings markiert hier nur den Schaf Züchter. Ich glaube eher, der ist ein Detektiv.‹ ›Ja. Ich begreife aber nicht, wie er die Höhle ausfindig machen konnte. Hat Mary etwas erwähnt?‹ ›Nein, nichts. Aber er hatte Washfolds Hund bei sich. Sie hat Stug bei Rawlings gesehen, als er ’runterstieg, und auch, als er nachher vor dem Hund wieder nach oben kam. Kann sein, daß der ihn auf den Weg zur Höhle aufmerksam gemacht hat.‹ ›Ja, eine böse Geschichte, Fred. Was sollen wir jetzt tun?‹ ›Du gehst hin und holst das Zeug so bald wie möglich. Wenn alles noch so daliegt, wie du’s hingelegt hast, kann nicht viel Schaden angerichtet sein. Fehlt aber ein Teil, oder ist alles verschwunden, dann muß Rawlings es weggeholt haben.‹ ›Also gut, ich hole alles heute abend. Junge, so ein elendes Pech. Und dabei war unsere alte Höhle der beste Platz, den es gab. Hat dir Mary gesagt, um welche Zeit sie Rawlings den Schlag verpaßt hat?‹ ›Nein, das konnte ich von ihr nicht erfahren. Weißt du, worüber ich mir den Kopf zerbreche und weshalb ich glaube, daß er Detektiv ist? Weil er keinen Ton davon gesagt hat, daß er eins über den Schädel gekriegt hat.‹ 132
›Mir ist an seinem Kopf auch nichts aufgefallen‹, sagte Lake entschieden. ›Mary muß sich geirrt haben. Aber ganz gleich, ich bringe das mit dem Zeug in Ordnung.‹ So ungefähr dachte sich Bony den Anlaß zu Lakes tollkühnem Entschluß, mitten in einer Sturmnacht den vom Regen aufgeweichten Klippenpfad hinabzusteigen, denn das hatte er morgens vor sechs Uhr schon getan, nachdem es lange in Strömen geregnet hatte. Im Hotel fand Bony den Wirt in Gesellschaft von Moss Way. »Zufällig Dick begegnet?« fragte Moss. »Weshalb?« wich Bony aus. »War nicht im Camp, als ich aufwachte«, erwiderte Moss, offensichtlich verstört. »Und es war noch so früh.« »Schon mal bemerkt, ob er Schlafwandler ist?« »Der? Schläft wie’n Hund ohne Flöhe. So wie ich. Wieso?« »Diese Nacht muß er im Schlaf losgegangen sein. Ist von der Klippe gefallen, genau vor dem Leuchtturm. Als ich vorhin am Strand lang zum Kap ging, habe ich ihn unten gefunden. War meiner Ansicht nach schon seit Stunden tot.« »War es auch bestimmt Dick?« stammelte Moss aufs tiefste erschrokken. Bony nickte und trank seinen Whisky mit Soda. »Na, ich fragte, ob er Schlafwandler sei, weil er nämlich über seinem Arbeitszeug keinen Mantel anhatte und Strandschuhe mit Gummisohlen trug. Bitte noch einen, Mr. Washfold.« »Da hört sich doch alles auf!« schrie Washfold. »Sie sehen ja ganz erfroren aus, Mr. Rawlings. Hatten Sie heute morgen keinen Mantel angezogen?« »Ja. Den habe ich über den Toten gedeckt. Sie rufen jetzt am besten mal die Polizei an.« »Das denke ich auch.« Der Wirt wälzte sich zum Telefon, und Way sagte: »Anständig, ihm Ihren Mantel dazulassen.« Er blickte Bony fest an, konnte aber kaum das Zittern seiner Stimme unterdrücken. »Ich und Dick, wir waren immer zusammen, seitdem er aus dem Krieg zurückkam. War bestimmt ’n feiner Kerl. Hat nie gestänkert, nie Streit gemacht, sich nie bei der Arbeit gedrückt. Ich kann einfach nicht glauben, was Sie uns eben erzählt haben.« »Kannten Sie ihn auch schon vor dem Krieg?« 133
»Nein, ich stamme aus Port Campbell. Wie wird sich seine Mutter aufregen, und sein Vater! Vernünftige Leute, die Lakes. Ich will noch einen trinken, und wie ist’s mit Ihnen?« Way ging hinter die Theke, goß die Getränke ein und legte ein Zweishillingstück auf die Platte. Bony fühlte sich schon wärmer, als Washfold zurückkam und ihm sagte, Staley würde kommen, und zwar mit dem Fahrrad, so schnell es bei den durch Erdrutsche versperrten Straßen möglich sei. »Wir sollen die Leiche genau liegen lassen, wie sie jetzt liegt, bis er da ist«, ergänzte der Wirt die Meldung. Bony machte ein bedenkliches Gesicht, denn es galt, Moss Way so lange von seinem Camp fernzuhalten, bis Staley eintraf. »Die Flut ist in der Nacht sehr gestiegen«, sagte er, »bis auf zehn Meter vor die Leiche. Heute nachmittag kann sie noch höher werden.« »Wird sie«, pflichtete Washfold ihm bei, und Way sagte: »Die verdammte Polizei. Wir wollen jetzt Dick holen gehen, das gehört sich wohl so. Wer soll’s seinen Eltern sagen? Die haben doch kein Telefon, wie?« »Nein, aber Wessex hat eins«, erklärte der Wirt. »Alfie könnte dann ja hinreiten von da. Die Flüsse werden noch nicht soviel Hochwasser haben, da kommt er schon durch.« »Alfie schwimmt auch zu Pferde ’rüber, wenn’s nötig ist, Bert. Ruf nur bei Wessex gleich an. Dann fahren wir mit meinem Lastwagen so weit wie’s geht zum Strand ’runter. Müssen uns auch ’ne Art Tragbahre machen.« Es wurde ein Uhr, bis sie den Toten in die frühere Schule gebracht hatten, und vier, bis Staley mit Dr. Close ankam. Der Oberwachtmeister schimpfte, daß seine Anordnung nicht befolgt worden war. Er untersuchte die Leiche, nahm dann den Befund vom Arzt entgegen und bat Mr. Rawlings um die nötigen Angaben. »Merkwürdige Geschichte, Sir, finden Sie nicht?« »Ja, sonderbar«, gab Bony zurück. »Da ich im jetzigen Stadium der Sache noch keine Erklärung finde, könnten wir sagen, daß der Mann vermutlich schlafwandelte und dabei abgestürzt ist.« »Weiter Weg für ’n Schlafwandler, noch dazu in einer stürmischen Nacht«, widersprach Staley im amtlichen Ton. »Ich will darüber jetzt nicht streiten«, sagte Bony sanft. »Er hatte ein leichtes Seil bei sich, das ich mitgebracht habe. Ich weiß auch, wohin er 134
wollte, als er abgestürzt ist. Wir wollen aber festhalten, daß er Schlafwandler war. Ich möchte Sie bitten, sich gleich in sein Camp zu begeben und seine Sachen in Verwahrung zu nehmen, da sie uns vielleicht Aufschluß geben könnten. Sie können ja hier übernachten und bringen die Sachen auf Ihr Zimmer, wo wir sie später durchsehen. Nehmen Sie den Wagen vom Oberinspektor.« »Wird gemacht, Sir.« Für den Rest des Tages entzog sich Bony allen neugierigen Augen, und beim Abendbrot, das er mit Staley aß, erfuhr er, daß Mr. und Mrs. Lake eingetroffen seien und Mrs. Penwarden ihnen ihr Fremdenzimmer zur Verfügung gestellt, es ihnen förmlich aufgedrängt habe. »Im Einverständnis mit dem Arzt habe ich ihnen die Leiche überlassen«, sagte Staley. »Tom Owen hatte einen Sarg aus Penwardens Werkstatt geholt, und der alte Mann kam selbst mit. Mrs. Wessex half ihm beim Betten des Toten. Die Leute hier pflegen schnell zu handeln, wenn’s um einen der Ihren geht … Was haben Sie eigentlich von dem jungen Lake gehalten?« »Ordentlicher Mensch, Staley. Hinter seinem Lächeln konnte sich freilich manches verbergen. Haben Sie seine Sachen beschlagnahmt?« »Sind in meinem Zimmer, Schlüssel habe ich bei mir.« Mrs. Washfold brachte auf einem Tablett leckere Schweinekoteletts in die Gaststube. Über ihre ungeschminkten Wangen liefen helle Tränen. Sie sprach kein Wort, und die Männer gaben ihr keine Gelegenheit zu Gefühlsausbrüchen. Erst als die Wirtsleute sich schlafen gelegt hatten, ging Bony mit Staley in dessen Zimmer. »Nun, was haben wir hier alles?« fragte er. »Einen Blechkoffer, einen Handkoffer und eine Reisetasche, Sir.« »Schön. Machen wir mit der Tasche den Anfang.« Sie enthielt nur einen Arbeitsanzug und ein Paar alte Schuhe. Als Staley das wieder einpackte, ließ Bony es geschehen. Der Handkoffer war klein, sein Inhalt wurde aufs Bett gelegt. Es waren zwei neue Hemden, mehrere Paar noch ungetragene Socken, drei schmutzige Leinenkragen, ein Schreibblock, ein Füllhalter und ein Sparbuch, das ein Guthaben von 547 Pfund aufwies. Unter dem Deckel des Schreibblocks lagen zwei Briefe mit der Adresse des Toten, von einer Frau in Geelong. Harmlose Briefe. Auf dem Goldring des Füllhalters war graviert: ›Für D. L. von S. P. P. S.‹ 135
»Bisher nichts von Bedeutung«, bemerkte Bony. »Erwarten Sie denn etwas, Sir?« »Einen goldenen Siegelring mit dem Monogramm B. B.« Handkoffer und Tasche wurden in die Ecke gestellt. Staley öffnete den Deckel des altmodischen, aber gut gearbeiteten Blechkastens. Die ersten Stücke, die er aufs Bett legte, waren der dicke blaue Mantel, der Anzug und die Schuhe, alles Sachen, die Lake an dem Tag getragen hatte, als er mit Ayling nach Geelong fuhr. Es folgten weitere Hemden, gebrauchte und neue, sowie ein Paar teure, ungetragene Handschuhe, die noch in der Geschenkpackung lagen, wie sie gekauft waren. »Dies könnte von Interesse sein«, sagte Staley, als er einen in Seidenpapier gewickelten Gegenstand aufs Bett legte. Bony nahm das Papier ab; die auf Hochglanz polierte Oberfläche eines flachen viereckigen Kästchens aus honigfarbenem Holz warf geradezu blendende Lichtreflexe. Bony nahm es in die Hand und murmelte: »Nicht die kleinste Fuge zu entdecken – bestimmt Penwardens Arbeit.« Er klappte den Deckel auf; auch der Inhalt war in Seidenpapier gehüllt: eine Armbanduhr von guter Qualität und ein Neues Testament, in dem sich vorn folgende Inschrift fand: ›Für Dick von Mama und Papa Wessex. Er soll es stets in seinem Waffenrock tragen, um geschützt zu sein gegen alle Feinde, und soll oft derer gedenken, die für ihn beten.‹ »Feine Frau, die das geschrieben hat«, sagte Staley. »Finde ich auch. Jedenfalls wußte Lake die Geschenke, die er bekam, in Ehren zu halten. Dieses Feuerzeug – noch unbenutzt. Aha! Das hier könnten Fotos sein.« Aus einem der Päckchen kamen auf billige Unterlagen geklebte Fotografien zum Vorschein, alles Bilder von Infanteristen, nur auf einem war auch ein Matrose zu sehen. Und auf allen Gruppenbildern war Lake selbst vertreten, Ayling auf einem und Eldred Wessex auf zweien. Bony legte diese Bilder beiseite. »Nachlässig bei der Erneuerung von Führerscheinen, aber behutsam mit den Erinnerungen an seine Freunde«, stimmte Staley nach einer Weile Bonys Ansicht bei. »Diese Art Menschen bleiben sich immer treu.« 136
Er holte aus dem Blechkoffer noch einen Anzug, einen Sportsakko mit grauer Flanellhose, ein Paar neue Schuhe, einen Tennisschläger mit einer zerrissenen Saite und ein rotweiß gestreiftes Fußballtrikot mit einer großen, gemalten ›5‹ auf dem Rücken. »Hat er für Geelong gespielt?« fragte Bony. »Nein, das sind die Vereinsfarben der hiesigen Spieler.« »Hat die Mannschaft auch Spiele an weit entfernten Orten ausgetragen?« »O ja, in Warrnambol, Colac und Point Lonsdale.« Staley holte ferner aus dem Behälter ein Heft des ›Union Jack Magazine‹, eine Nummer vom ›Argus‹, deren Titelseite das Bild einer marschierenden Kolonne trug und die mit Tinte geschriebenen Worte: ›Gute alte 7. Division‹, den Waffenrock eines japanischen Infanteristen, einen malaiischen Kris und – hier fluchte Staley vor sich hin – einen Revolver. »Ein 32er Revoler«, sagte er, indem er am Lauf der Waffe entlangsah. Er klappte den Verschluß auf und blickte, sie gegen das Licht haltend, durch den Lauf. »Ist seit der letzten Reinigung noch abgefeuert worden. Der Mann im Leuchtturm. wurde mit einem 32er Revolver erschossen.« »Legen Sie ihn beiseite«, befahl Bony. »Was haben Sie sonst noch?« »Scheint ein Packen alter Briefe zu sein.« Es waren etwa dreißig, alle an Lake gerichtet, postlagernd Split Point. Bony sortierte sie nach den Handschriften und achtete dabei gleich auf die Poststempel. Als er damit fertig war, sagte er: »Rauchen Sie nur inzwischen, bis ich sie durchgesehen habe.« Nach einer halben Stunde erst sprach er wieder. »Keiner aus der Vorkriegszeit, die meisten für uns ohne Bedeutung. Aber, Staley, es sind auch Briefe von Eldred Wessex dabei und Briefe von einem Mädchen, das sich Jean Stebbings nennt, und die sind gewiß interessant. Nehmen wir zunächst die von Wessex. Die Geschichte dieses Mannes verläuft demnach ungefähr so: Im Juni sechsundvierzig schreibt er aus Sydney, er habe seine Eltern benachrichtigt, daß er nach Amerika gehen wolle, um einen ›Haufen Moos‹ zu verdienen, wie er sich ausdrückt. Die, Briefe lassen ferner erkennen, daß Lake ihm zugeredet hat, vor dem Auswandern doch noch seine Eltern zu besuchen. Im Dezember, ebenfalls sechsundvier137
zig, schreibt Eldred, er sei nun wieder in Sydney, die Reise nach Amerika sei ein Fehlschlag gewesen, es gehe ihm aber ganz gut, er habe eine gute Vertretung und dürfe seine Tätigkeit keinesfalls unterbrechen. Aus seinen Briefen geht klar hervor, daß Lake ihn mehr als einmal gebeten hat, nach Hause zu kommen, aber Wessex hatte stets wieder neue Ausreden, dies abzulehnen. Dabei ist aus keinem seiner Briefe zu ersehen, was für Geschäfte er in Sydney betrieben hat. Weiter sind hier die vier Briefe an Lake von einem Mädchen in Sydney, die mit ›Jean Stebbings‹ unterschreibt. Die Poststempel zeigen, daß sie alle erst nach dem Mord im Leuchtturm geschrieben sind. Jean Stebbings machte sich Sorgen, wo Eldred Wessex steckte, mit dem sie zuletzt am Vormittag des sechsundzwanzigsten Februar zusammengewesen war. Aus ihrem nächsten Brief geht hervor, daß Lake damals Eldred Wessex weder gesehen noch von ihm gehört hat. Ihr letzter Brief ist am sechsundzwanzigsten März aufgegeben worden, und auch aus ihm ist zu entnehmen, daß die Schreiberin von Lake erfahren hat, Eldred Wessex sei nicht in Split Point aufgetaucht.« »Ist dieser Eldred für uns denn wichtig?« fragte der verdutzte Staley. »Will mir so scheinen. – Legen Sie diese Sachen alle in den Koffer zurück, wir wollen jetzt schlafen gehen. Die Briefe, die Fotos und den Revolver nehme ich an mich. Wann ist übrigens die Beerdigung?« »Morgen. Wünschen Sie, daß die Leichenschau aufgeschoben wird?« »Ja. Sie dürfen aber Lakes Sachen seinen Eltern übergeben.« Bony zündete sich eine Zigarette an und betrachtete Staley nachdenklich. »Mir ist unbehaglich bei dieser Geschichte. Ein Kriminalbeamter sollte sich seine Schlußfolgerungen durch Gebrauch des eigenen Verstandes erarbeiten.« »Wie meinen Sie das, Sir?« »Ich habe nicht gern, wenn ich auf die Spur erst durch den Tod eines Menschen gebracht werde, der vielleicht sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, um einen Freund vor Unheil zu bewahren.«
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B
ony flog nach Sydney, wo er den Chef der Kriminalpolizei von Neusüdwales aufsuchte, der ihm bereitwillig seine Mitarbeit versprach. Ein Dienstwagen brachte ihn nach Ashfield, morgens um zehn Uhr, zu einer Stunde, die Damen mit ungeregeltem Lebenswandel oft gar nicht angenehm ist. Das Haus, vor dem der Wagen hielt, war reizend: An der Eingangstür befand sich ein fein geschmiedetes Schutzgitter, in dessen Mitte ein Klingelknopf unauffällig zwischen das Blumenmuster gesetzt war. Auf sein Klingeln erschien eine ältere Frau, die, als er sich auswies, sofort ein böses Gesicht machte. Als er sie energisch ersuchte, ihrer Herrin zu melden, daß er mit ihr zu sprechen wünsche, führte sie ihn in einen behaglich möblierten Vorraum, wo er fünfundzwanzig Minuten warten mußte, bis Opal-Jane kam. Sie ließ sich nicht anmerken, ob sein Besuch sie ärgerte. Mit ihrer zarten Figur, dem dunklen Haar und ihrem Temperament war sie entschieden hübsch. Ihre Kleidung war von der Einfachheit, der jeder Kenner sofort ansieht, daß sie erstklassig und teuer ist. Kühl lächelte sie den Kriminalsergeanten an und betrachtete dann, mit durchaus nicht gekünsteltem Wohlwollen, den andern Mann, der wie ein Maharadscha in einem Konfektionsanzug aussah. Der Kriminalsergeant stellte ihr Bony mit gemessener Würde vor, ohne Jane damit sonderlich zu imponieren. »Ich stehe nie vor elf Uhr auf, Inspektor Bonaparte«, sagte sie. »Vermutlich sind Sie gekommen, um wieder eine Unmenge Fragen zu stellen. Allmählich wünschte ich, ich hätte jenen unseligen Menschen nie gesehen.« 139
»Bisweilen bringen uns die eigenen Freunde in Verlegenheit«, murmelte Bony, indem er ihr Feuer für ihre Zigarette gab. »Ich spreche mit Ihnen sehr ungern dienstlich, und Sie würden sich gewiß lieber über Bücher und Blumen unterhalten. – Seit wann kannten Sie den verstorbenen Thomas Baker?« Die veilchenblauen Augen bekamen plötzlich einen harten Ausdruck. »Sie werden mir doch wohl nicht wieder dieselben Fragen vorlegen, die ich schon einmal beantworten mußte, Inspektor Bonaparte«, sagte sie. »Mit Baker war ich seit ungefähr fünf Jahren bekannt. In dieser Zeit hat er mich sieben- oder achtmal besucht. Wie ich dem Sergeanten bereits erklärt habe, ist er Zweiter Steward auf einem Luxusdampfer gewesen.« »Und Sie wußten wirklich nicht, daß er mit imitierten Perlen und dergleichen handelte?« »Selbstverständlich nicht, ich pflege sonst nicht mit solchen Leuten zu verkehren.« Bony nickte, als sei er froh, ein unerfreuliches Thema beendet zu haben. »Schildern Sie mir doch bitte, wie Sie Baker rein menschlich eingeschätzt haben. Seine Persönlichkeit.« »Oh, ein gutmütiger Kerl, Inspektor. Mit dem konnte man sich schon amüsieren. Im Geldausgeben großzügig und über Kleinigkeiten stets erhaben.« »Kostspielige Neigungen?« »Ja, er wollte immer von allem das Beste haben.« »Ist Ihnen nie aufgefallen, daß er mit seinem Gehalt als Zweiter Steward, sogar auf einem erstklassigen Dampfer, kaum seine Ausgaben hätte bestreiten können?« »Nein.« »Ich erfuhr, daß er Ihnen mehrere sehr wertvolle Opale geschenkt hat und oft mit Ihnen in teure Nachtklubs gegangen ist.« Jane lächelte. »Sie stellen sich doch nicht absichtlich naiv, Inspektor?« »Vielleicht ist das meine Art. Thomas Baker kann natürlich auch noch ein privates Einkommen gehabt haben. War Ihre Freundschaft mit ihm – hm – platonisch?« 140
»Er wollte mich heiraten. Das wollen alle. Sein Einkommen? Weiß nicht. Ich mache mir über die Finanzen meiner Freunde niemals Gedanken, höchstens achte ich darauf, ob sie mit dem Scheckheft flott umgehen können.« »Waren Sie auch befreundet mit einem gewissen Eldred Wessex?« Janes Kopfschütteln überzeugte Bony, daß Wessex tatsächlich nicht zu ihrer Kundschaft gehörte. Freilich will ein Name an sich noch nicht viel bedeuten. Aus seiner Brieftasche holte er ein Foto von Eldred, ursprünglich eine Gruppenaufnahme mit fünf anderen Soldaten ohne Kopfbedeckung, auf der er alles außer dem Kopf von Eldred Wessex mit schwarzer Tusche unkenntlich gemacht hatte. »Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?« fragte er, ihr das Bild vorhaltend. Scharf trafen sich die Blicke der veilchenblauen und der eisblauen Augen. Die Frau spürte, daß sie bei diesem Mann durch weibliche List und Kunst nichts erreichen würde. Sie ging mit dem Bild ans Fenster. Der Kriminalsergeant machte ein gelangweiltes Gesicht, Bony betrachtete bewundernd ein Gemälde, ein Segelschiff in stürmischem Wetter. Stumm ging die Frau bis an den Stuhl zurück, dann sagte sie: »Ich sehe nicht ein, warum ich Ihnen die letzte Frage beantworten soll. Ich habe mit dem Mord an Baker gar nichts zu schaffen und will auch nicht in die Sache verwickelt werden.« »Aber ich darf doch gewiß annehmen, daß Sie, gerade weil Sie mit Baker befreundet waren, es nicht gern sehen, wenn sein Mörder der Bestrafung entgeht. Oder haben Sie uns etwas verheimlicht? Verzeihen Sie, wenn das wie ein Vorwurf klingt, doch es läßt sich nicht vermeiden.« »Ich habe nichts zu verheimlichen und wünsche in Ruhe gelassen zu werden. Ja, gesehen habe ich diesen Mann schon. Als ich einmal mit Baker im ›Blauen Nebel‹ soupierte, kam er an unseren Tisch und sprach mit Tom. Zum zweitenmal sah ich ihn, als ich mit Tom nach Randwick fuhr. Als wir gerade in ein Taxi steigen wollten, kam er vorbei und unterhielt sich ein Weilchen mit ihm. Seinen Namen weiß ich nicht, und Baker hat ihn mir gegenüber nie erwähnt.« »Wann sahen Sie ihn also zuletzt?« »Vor Weihnachten – ich denke, im November ist es gewesen.« 141
»Hatten Sie den Eindruck, daß die Männer beide Male freundlich miteinander sprachen?« »Ja, wenn auch nur wie oberflächliche Bekannte. Nach meiner Ansicht waren sie nicht direkt befreundet, verkehrten aber doch nett miteinander.« Bony erhob sich, und Opal-Jane stand ebenfalls auf. Sie lächelte. »Nun, sind Sie schon mit mir fertig, Inspektor? Ging ja schnell.« »Leider, ja«, sagte Bony in schmeichelndem Ton. »War sehr freundlich von Ihnen, uns so früh zu empfangen. Ich habe heimlich das Gemälde dort bewundert, und der Bücherschrank ist ja ein ganz wertvolles Stück.« »Freut mich, daß Ihnen meine kleinen Sachen gefallen, Inspektor. Mein Vater war Alkoholiker, und meine Mutter ist an Kokain gestorben. Was ich für ein Elternhaus hatte, können Sie sich vielleicht vorstellen. Was das Leben mir in der Kinderzeit vorenthalten hat, habe ich als Frau aus ihm herausgepreßt.« Im Flur sagte Bony: »Ihre Leidenschaft für Opale kann ich durchaus verstehen. Und Perlen! Mögen Sie Perlen gern?« Sie lächelte ganz reizend. »Ich lehne sie als Geschenk nie ab, Inspektor. Bei Sawyer und White liegt eine entzückende Kette für fünfhundert Pfund – wenn Sie zufällig Interesse haben sollten. Ich würde Ihnen dann auch versprechen, sie eine Weile zu tragen. Eigentlich ziehe ich aber Opale vor, weil ich von denen was verstehe. Perlen pflege ich gegen bar weiterzuverkaufen.« Der Sergeant hatte die Haustür geöffnet. Bony ging aber noch nicht hinaus. »Wissen Sie vielleicht, ob Thomas Baker einen zweiten Vornamen hatte?« »Dann habe ich ihn jedenfalls nie gehört.« »Oder einen Kosenamen, einen Spitznamen?« »Nein. Für mich war er immer nur Tom.« »Schönen Dank.« Bony betrat lächelnd die Vortreppe. »Tun Sie mir den Gefallen und sprechen Sie einmal den Buchstaben T allein aus. Bitte.« Jane tat es. »Und jetzt das B.« Auch das tat sie bereitwillig, und wieder lächelte Bony liebenswürdig, während er sich verabschiedete. 142
Im Dienstwagen, der ihn mit dem Sergeanten nach Coogee brachte, fragte er diesen: »Haben Sie an der Aussprache bei T und B eine Ähnlichkeit bemerkt?« »Eine schwache, ja«, erwiderte der Sergeant. Sie ließen ihren Wagen bei einem riesigen Wohnblock stehen, wo der Sergeant auf die Klingel für das Appartement Nr. 47 drückte. Ein junges Mädchen im Neglige, das den Duft frischer Brötchen mitbrachte, öffnete die Tür. Ihre braunen Augen wurden gleich lebhaft, als sie Bony sah, doch beim Anblick des Sergeanten, der auch im Zivilanzug den Polizeibeamten verriet, wurde ihr Blick härter. »Was gibt’s denn?« fragte sie etwas gereizt. »Sind Sie Jean Stebbings?« kam Bonys Gegenfrage. »Die bin ich. Und Sie wünschen?« »Wir sind Polizeibeamte, Miss Stebbings. Würden Sie uns wohl eintreten lassen? Ich hätte einige Fragen an Sie zu richten.« »Nun gut, kommen Sie herein. Hier bitte. Ich werde das Gas erst abstellen.« Sie befanden sich in einem winzigen Wohnzimmer, und als Miss Stebbings aus der Küche hereinkam, sahen sie, daß sie sich rasch gekämmt und gepudert hatte. Bony bat sie, sich hinzusetzen, und sagte: »Sie kennen doch einen gewissen Eldred Wessex, nicht wahr?« »Ja«, antwortete sie fast flüsternd und fügte, plötzlich erregt, hinzu: »Weiter, reden Sie – ich mag keine Umschweife.« »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« »Gesehen? Das ist schon wochenlang her. Was ist ihm denn passiert?« »Wüßte nicht, daß ihm etwas passiert ist. Bedeutet er Ihnen viel?« Sie rang sichtlich gegen die Angst, die sie befallen hatte. Mit verschränkten Händen bezwang sie sich, und Bony sah ihren Ehering. Sie hob den Kopf mit einer stolzen Gebärde, ihre Wangen röteten sich. »Eldred ist – er war – mein Mann. Das heißt, wir wollten heiraten.« Ihre Angst brach durch. »Wo ist er? Weshalb sagen Sie mir das nicht?« »Sie wissen es nicht selbst?« »Würde ich sonst fragen?« »Und Dick Lake weiß es auch nicht.« »Hat er mir jedenfalls gesagt. Bevor er von einer Klippe abstürzte. Davon habe ich in der Zeitung gelesen.« 143
»Aus welchem Grund haben Sie bei Dick nach Eldred gefragt?« drängte Bony. »Dick war sein Freund. Eldred stammt von Split Point. Sie waren zusammen an der Front. Aber das wissen Sie ja alles – und noch mehr. Was ist denn mit Eldred geschehen? Erzählen Sie es mir doch.« »Ich weiß weder, wo er sich befindet, noch ob ihm etwas passiert ist, und was«, sagte Bony ganz ruhig. »Ich wollte mich nur Ihrer Hilfe versichern, um ihn zu finden.« »All right. Was hat er also verbrochen?« »Außer Ihnen sind noch andere Leute um seinen Verbleib besorgt«, fuhr Bony ernst fort. »Es ist mein Beruf, vermißte Personen wiederzufinden. Jedes Jahr werden eine Menge Menschen als vermißt gemeldet. Viele wollen unauffindbar bleiben. Als was hat Wessex hier in Sydney gearbeitet?« »Seine Tätigkeit hing mit dem Geheimdienst zusammen, hat er mir gesagt. Angeblich gefiel ihm das besonders, weil er nach dem Soldatenleben so unstet geworden war. Aber ich – ich habe beim Geheimdienst nach ihm gefragt, und die schickten extra jemanden her, um mir mitzuteilen, daß sie ihn gar nicht kennen.« »Wie lange kannten denn Sie ihn?« »Gerade ein Jahr.« »Hatte er sonst Freunde in Sydney?« »Nicht daß ich wüßte.« »Oder Bekannte?« »Ein paar.« »Gehörte dieser Mann auch dazu?« fragte Bony gedämpft. Sie nahm das Foto, blickte es flüchtig an und ließ es auf den Fußboden fallen, so jäh, daß sogar der Sergeant einen Moment erschrak. »Das hat er nicht! Er hat’s nicht getan, er hat’s nicht getan!« rief sie schrill. »Ich verstehe wirklich nicht, wovon Sie reden, Miss Stebbings«, sagte Bony, und vorwurfsvoll antwortete sie: »Das ist ja der Mann, der ermordet im Leuchtturm gefunden wurde! Das kann Eldred nicht getan haben, glauben Sie mir doch. Er ist überhaupt nicht wieder auf Split Point gewesen, ich weiß es von Dick Lake. Immerzu hat er mir 144
mitgeteilt, daß Eldred überhaupt nicht mehr zu seinen Eltern gekommen ist.« »Sie erkennen aber diesen Mann hier als den, der im Leuchtturm entdeckt wurde?« »Ja. Nein – ich kenne ihn nicht. Weil ich ihn noch nie gesehen habe.« Trotz stand in ihrem gequälten Gesicht. Bony konnte spüren, wie sehr sie mit sich kämpfte, um einen bösen Argwohn loszuwerden, gegen den sie schon ringen mußte, seitdem Eldred Wessex zum letztenmal mit ihr zusammen gewesen war. Freundlich sagte er: »Wäre es nicht besser, Sie wüßten, wie es um Eldred steht? Wüßten, weshalb er fortging und warum er nicht schrieb – anstatt daß Sie Tag für Tag in dieser Sorge, in der Ungewißheit ganzfeiend werden?« Das Gesicht des jungen Mädchens war grau geworden, sie begann herzzerbrechend zu weinen, indem sie ihr Taschentuch mit beiden Händen an die Augen preßte. Der Ehering war zu groß, er drehte sich lose um den Finger. Es war kein Ehering »Wir wollen doch versuchen, der Wahrheit auf den Grund zu kommen, Miss Stebbings«, redete Bony auf sie ein. »Nichtwissen ist stets schlimmer als Wissen. Wer war der im Leuchtturm ermordete Mann?« »Eldred nannte ihn Tommy«, stöhnte das Mädchen. »Er ist einmal mit Eldred hiergewesen. Eldred sagte, er sei auch im Geheimdienst tätig. Dann kam er wieder, nachmittags, an dem Tag, an dem Eldred fortging. Er wollte ihn sprechen, und ich sagte ihm, daß er nicht da sei. Nachher ist er nicht wiedergekommen.« »An welchem Tag war das?« Der aufmerksame Sergeant spürte die unerbittliche Härte in Bonys Ton und wunderte sich über seine gemütliche, ruhige Miene, als er wartete, bis eine weitere Tränenflut vorüber war. Bony brachte ein zweites Foto zum Vorschein. »Ist das Eldred?« Sie betupfte die Augen. Bony blickte auf den Ring, während sie das Bild von Wessex, das er auch Jane gezeigt hatte, betrachtete und langsam nickte. Bony gab das Foto dem Sergeanten und wartete ab, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Die nächste Frage stellte der Sergeant: »Kennen Sie einen Mann namens Waghorn?« 145
»Nein. Gehört habe ich von ihm, ihn aber nie gesehen, und wollte ihn auch nicht sehen.« »Hat Wessex mal über Waghorn gesprochen?« »Niemals.« »Als Eldred Sie verließ – an welchem Tag war das, Miss Stebbings, das genaue Datum?« fragte Bony. »An meinem Geburtstag. Ja, es war mein Geburtstag. Eldred hatte nach dem Frühstück die Wohnung verlassen und gesagt, er wolle mir eine Perlenkette kaufen. Aber getan hat er das nicht, denn er kam nicht wieder.« »Wann haben Sie Geburtstag?« »Am sechsundzwanzigsten Februar.« Bony stand auf, um zu gehen. Er beugte sich über das Mädchen und klopfte ihm auf die Schulter. »Wir werden Ihren Mann finden, Miss Stebbings. Hat er Ihnen den Ring da geschenkt?« »Nein. Sozusagen nur leihweise – bis er mir den Ehering bringen konnte.«
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ünf Minuten nach vier traf Bony auf dem Flughafen von Melbourne ein, fünf Minuten nach fünf saß er dem karteiführenden Offizier des Wehrmeldeamtes gegenüber. Auf dem Schreibtisch lag eine geöffnete Akte. »Wessex, Eldred«, murmelte der Offizier und las dann Einzelheiten vor. »Scheint ein schwieriger Soldat gewesen zu sein, Inspektor.« »Habe ich mir schon ungefähr gedacht. Schwere Verfehlungen?« fragte Bony rasch. »Tätlicher Angriff auf einen Vorgesetzten, Anklage wegen Kantinendiebstahl im Frontgebiet, aber vom Kriegsgericht freigesprochen. Erhielt drei Monate wegen schwerer Körperverletzung, begangen an 146
einem Kameraden bei einer Schlägerei in Port Moresby. War damals für die Tapferkeitsmedaille vorgeschlagen, der Vorschlag wurde aber rückgängig gemacht. Wessex wurde zur Verbüßung seiner Strafe nach Australien zurückgeschickt. Scheint ja ein ganz unbrauchbarer Kerl zu sein.« »Aber die Empfehlung für die Tapferkeitsmedaille?« »Das trifft sich häufiger so, Inspektor. Es gibt Leute, die nie ordentliche Soldaten werden, sich jedoch an der Front vorzüglich bewähren.« »Hm … Aufschlußreich. Dieser Wessex hat zusammen mit einem gewissen Dick Lake gedient. Könnten Sie mir auch Kenntnis von Lakes Laufbahn und Führung geben?« »Gewiß. Ich will gleich die Akte kommen lassen.« Der Offizier drückte einen Klingelknopf, ein Angestellter nahm den Auftrag entgegen. »Lake? Hat der Name nicht kürzlich in der Zeitung gestanden? Ja richtig, jetzt fällt’s mir ein! Handelt sich um Split Point, nicht wahr? Schöne Gegend. Bin vor einigen Jahre dort zur Erholung gewesen. –Danke, Simms.« Der Angestellte verschwand, der Offizier öffnete die Akte Dick Lake. »Lake, Richard. Soweit ganz ordentliche Führung. Ein paar kleine Verstöße, Urlaubsüberschreitung, Paradeuniform schlecht gepflegt, Nichtausführung eines Befehls. Alle Verstöße in der Ausbildungszeit begangen. Aber Moment – er hat in Verdacht gestanden, an dem Eldred Wessex vorgeworfenen Kantinendiebstahl beteiligt gewesen zu sein. Bekam aber trotzdem seine Auszeichnung, die Tapferkeitsmedaille, die so mancher gern haben möchte.« Der Offizier lachte: »Hören Sie weiter: Verweis, weil er sich geweigert hat, seine Beförderung anzunehmen! Diese Typen kenne ich. Wenn ich eine Division von solchen Männern hätte, würde ich jeden Krieg gewinnen.« Als Bony aus dem Wehrmeldeamt kam, winkte er sich eine Taxe heran und bekam im dritten Hotel, das er aufsuchte, ein Zimmer. Der Preis traf ihn wie ein Schlag, aber einerlei; Bolt hatte dafür zu sorgen, daß ihm seine Spesen vergütet wurden. Er zog seinen besten Anzug an und ging ins Speisezimmer hinunter, wo ihn der Oberkellner mit zu stark betonter Beflissenheit empfing und ihn an einen Tisch für zwei Personen führte, möglichst weit ab von der Kapelle. Bony begann 147
gerade die Speisekarte zu studieren, da ließ sich Oberinspektor Bolt in den Sessel gegenüber fallen. »Sind ziemlich ’rumgekommen, wie?« fragte Bolt, dessen kleine braune Augen wieder wie Dolchspitzen stachen. »Für mich klare Bouillon, Kellner, dann Steinbuttfilet, Weingelee, schwarzen Kaffee und Kognak.« »Aufgehört mit der Diät?« fragte Bony trocken. »Halte nichts davon, den braven Korpus hungern zu lassen. In Sydney viel erfahren?« Bony seufzte. »Und dabei ist mir versprochen worden, daß nicht nachgeschnüffelt wird«, klagte er. »Ist auch nicht geschehen. Sie wurden gesichtet, als Sie gerade aus dem Flugzeug kletterten. Weiter beim Betreten des Wehrmeldeamts und nachher im ›Australia‹ und ›Hotel Menzies‹ und schließlich hier. Ich habe dann mit dem Geschäftsführer gesprochen, einem alten Freund. Ich erwarte Ihre Enthüllungen, sobald mein Kaffee und der Kognak kommen.« »Kleiner Tausch gefällig? Der Kognak wird uns vielleicht für einen Erfahrungsaustausch vorwärmen, und da Sie ihn bezahlen müssen, sorgen Sie bitte dafür, daß uns die feinste Marke vorgesetzt wird.« »Und dabei will ich für einen neuen Wagen sparen! Reizende Aussichten. Bei Opal-Jane gewesen?« »Ich dachte, wir wollen bis zum Kaffee warten? Ja, ich war bei ihr.« »Meinung?« »Sehr hübsche Frau«, erwiderte Bony. »Wünschte, ich hätte soviel Kies wie die«, sagte er. »Und daß ich nicht so scheußlich dick wäre.« »Sie ist in Sydney säuberlich registriert«, fuhr Bony fort. »Über die Namen ihrer Kavaliere würden Sie staunen. Kennen Sie einen Waghorn?« Es schien, als forschten die braunen Äuglein rückwärts im Gehirn nach einem Karteiblatt. »Nein, wüßte nicht. Inwiefern ist er im Spiel?« »Waghorn ist einer von den kleinen Gaunern, die in Sydney ›arbeiten‹. Steht im Verdacht, an Schmuggeleien beteiligt zu sein. Mit dem möchte ich gern mal übers Wetter reden.« »Über stürmisches, was?« kicherte Bolt. »Hat der Knabe Waghorn den Leuchtturmmord auf dem Kerbholz?« 148
»Er könnte in der Lage sein, uns darüber Auskünfte zu geben. Vielleicht helfen Sie mir, indem Sie ihn festnehmen lassen?« »Alles, was Sie wünschen, Bony. Mein Kommissar wird langsam böse, daß noch keine Resultate vorliegen. Haben Sie in Sydney den Auftrag gegeben, den Mann aufzugreifen?« »Nein, das habe ich für Sie reserviert. Sergeant Eulo kennt ihn gut. Und Ihr Kollege in Sydney hat sich bereit erklärt, über meine Tätigkeit in dieser Stadt nichts verlauten zu lassen, doch ich sagte ihm schon, daß Sie sich für Mr. Waghorn interessieren würden.« Oberinspektor Bolt beklopfte die marmorne Kuppel, die aus dem grauen Haarkranz über den Ohren ragte. Vielleicht wollte er nur eine Fliege verscheuchen, aber in dem Raum gab es gar keine. »Soll Waghorn nach Melbourne geschafft werden?« »Ja. Falls er sich noch in Neusüdwales befindet. Ich halte es aber für wahrscheinlich, daß er in Victoria ist. Natürlich könnte er sogar am Südpol sein. Ich will ihn aber haben.« »Sollen Sie, gestiefelt und gespornt. Noch Interesse an dem Siegelring?« »Ja. Vielleicht gibt uns der noch einen Hinweis auf Thomas Baker. Haben Sie den Juwelier ausfindig gemacht?« »Ja. Wohnt in Point Lonsdale. Hat sich neunzehnhundertzweiundvierzig aus seinem Geschäft in Colac, das ein Angestellter ihm abgekauft hat, zurückgezogen. Der sagt, er erinnere sich, den Fehler beim Löten begangen zu haben, weiß aber nicht mehr, wer den Ring gekauft hatte. Er meinte, sein früherer Chef könnte eventuell noch Notizen darüber haben, und gab uns dessen Adresse. Diese Information traf heute abend ein, als ich mein Dienstzimmer verließ.« »Haben Sie daraufhin etwas unternommen?« »Nein. Dachte, Sie würden den Juwelier vielleicht selbst gern vernehmen.« »Tue ich auch«, bedankte sich Bony lächelnd. »Es existieren drei vollkommen gleiche Ringe: der im Mantel des Ermordeten, der zweite an der Hand eines Holzfällers, der dritte an einem weiblichen Finger in Sydney. Es gibt aber, glaube ich, noch einen vierten, von dem ich allerdings noch keine Spur gefunden habe.« Bolt war so gnädig, zum Dank zu lächeln. Er riskierte eine Frage: »Festgestellt, was das Monogramm B. B. bedeutet?« 149
»O ja. Schon vor einer Weile. »Brave Bukaniere.‹« »Interessant.« »Schiffssteward Thomas Baker hat sich beim Schneider in Adelaide einen Anzug bestellt und ihn gleich bezahlt. Der Schneider meinte, er habe seinen Namen mit B. Baker angegeben. Tatsächlich aber muß er gesagt haben T. Baker.« »Ein wichtiger Punkt!« »Wäre bei der Bestellung vereinbart worden, daß der Anzug erst bei Lieferung bezahlt werden sollte, dann hätte der Schneider mehr achtgegeben. Die ›Braven Bukaniere‹ waren Piraten, die im Karibischen Meer kreuzten und Schatzschiffe kaperten, auf denen als Passagiere alte gebeugte Damen reisten, die viel Gold und eine Menge schöner Edelsteine besaßen. Wie schon erwähnt, habe ich drei von den ›Braven Bukanieren‹ ermittelt.« Der Chef der Kriminalpolizei von Victoria grinste, weil er sah, wie unter seinem stechenden Blick der Inspektor Bonaparte förmlich zusammenzuschrumpfen schien. »Ihre lichtvollen Ausführungen muß ich fortwährend bewundern. Der Tote – er wird morgen anständig beerdigt – war demnach ein moderner Pirat, ein Kapitän Morgan? Also weiter.« »Er gehörte nicht zur Piratenmannschaft. Geschehen ist folgendes: Einer von den Piraten hat die Uhr vom Handgelenk des Toten abgenommen und sie in die Tasche des Regenmantels gesteckt. Der Ring an seinem eigenen Finger brach und rutschte ihm von der Hand, vermutlich ohne daß er’s merkte. Woran wohl zu erkennen ist, in welcher Hast er den Toten entkleidet hat.« »Noch ein wichtiger Punkt, Bony. – Wollen Sie sich nicht zu ein paar ergänzenden Bemerkungen aufschwingen?« »Ich fürchte, jetzt noch nicht in der glücklichen Lage dafür zu sein«, sagte Bony liebenswürdig. »Sollte der Juwelier, den ich morgen befrage, sich noch erinnern, an wen er die Ringe mit den Buchstaben B. B. verkauft hat, werde ich wieder einen Schritt weiter sein. Und wenn Sie Waghorn aufgreifen, vielleicht noch einen.« Bolt runzelte die Stirn und seufzte gepreßt. »Es sieht noch ziemlich mulmig aus, wie?« fragte er. »Dieser Lake da, der da von der Klippe stürzte – hat der was mit dem Mord zu tun, oder wurde er selbst umgebracht?« 150
»Lake kann ja Schlafwandler gewesen sein«, sagte Bony, ohne zu lächeln. »Schlechte Angewohnheit. Viele Morde sind von sogenannten Schlafwandlern verübt worden.« Bolt verriet seine Ungeduld nur durch die Art, wie er das Streichholz an seine Zigarre führte. Es sprach sehr für Bony, daß Bolts Zutrauen zu seiner Arbeit nach diesen mageren Angaben stärker, nicht schwächer wurde, und für Bolt sprach, daß Bony dem riesigen Mann völlig vertraute und ganz sicher war, daß dieser sich nur so weit einmischen würde, wie sie vereinbart hatten. »Aus dem Revolver, den uns Staley schickte, ist bestimmt der tödliche Schuß abgegeben worden«, steuerte Bolt bei. »Er trägt Fingerabdrücke von Lake. Ich habe Staley nicht veranlaßt, uns zu sagen, wo Sie die Waffe gefunden haben.« »Zwischen Lakes Sachen. – Waren noch andere Fingerabdrücke daran?« Bolt starrte ihn ausdruckslos an, schürzte die Lippen und stieß einen dünnen Rauchstrahl aus. »Nein«, sagte er. »Haben Sie noch mit anderen gerechnet?« »Ja und nein. Wenn sich an der Waffe noch Abdrücke außer denen von Lake befunden hätten, wären meine Schlußfolgerungen falsch.« »Demnach war Lake der Mörder?« »Ich weiß es nicht – noch nicht. Hinter dieser mysteriösen Geschichte stecken Geldgier und Freundestreue, Bitterkeit und Liebe, Gehässigkeit und Selbstlosigkeit. Hoch oben an der Klippenwand bei Split Point ist eine Höhle, die vor langen Jahren schon von Knaben entdeckt wurde. Sie ist so schwer zu erreichen, daß außer diesen Jungen niemand von ihr Kenntnis hatte, bis ich sie fand. In dieser Höhle habe ich das Zeug und den Koffer des Ermordeten entdeckt. Während ich von dort wieder auf die Klippe kletterte, bekam ich einen Schlag mit einem Stein auf den Kopf. Lake war, als er abstürzte, auf demselben Klippenpfad: Er ging hinunter, um in der Höhle nachzusehen, ob ich die Kleidungsstücke entfernt hatte, und um sie gegebenenfalls anderswohin zu bringen. Er machte den Versuch mitten in der Nacht. Ich nehme gerne an, daß Dick Lake den Tod gefunden hat, als er Beweismaterial beiseite schaffen wollte, das nicht ihn selbst, sondern 151
einen Freund belastet hätte. Er war einer von den drei Jungen, die ich erwähnte. Die andern waren auch in die Sache verwickelt: ein gewisser Fred Ayling und ein gewisser Eldred Wessex. Wir brauchen Angaben über seinen Aufenthalt am Tage des Leuchtturmmordes sowie kurz vorher und nachher. Der Mann verschwand nämlich zwei Tage, bevor Baker erschossen wurde, spurlos. Er hat ihn zumindest gekannt.« »Sollen wir denn Waghorn, wenn wir ihn finden, verhören?« fragte Bolt. »Das möchte ich lieber selber tun.« »Und der andere Bursche – der Ayling?« »Der Kapitän der »Braven Bukaniere‹! Den überlassen Sie bitte auch mir.«
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ony bog, als er durch Geelong fuhr, nach Point Lonsdale ab, wo er Mr. Lechfield besuchte, der seit 1942 sein Leben damit verbrachte, die in den Hafen von Melbourne einlaufenden Schiffe zu beobachten. »Ich habe erfahren, daß Mr. Cummins Ihr Geschäft in Colac gekauft hat«, begann Bony, nachdem er sich ausgewiesen hatte. »Er meinte, Sie seien vielleicht in der Lage, mir bei meinen Ermittlungen zu helfen.« »Sehr gern, Inspektor«, betonte der behäbige Juwelier, »ich bin ganz Ohr.« »Anscheinend hat Mr. Cummins, als er noch Ihr Gehilfe war, einen Fehler begangen, der aus seiner Unerfahrenheit als Goldschmied zu erklären ist. Als er einen achtzehnkarätigen Goldring für einen Kunden zu reparieren hatte, benutzte er zum Löten achtkarätiges Gold. Können Sie sich an diesen kleinen Fall erinnern?« »Ich weiß es sogar ganz genau, Inspektor. Der arme Cummins war ganz geknickt. Wie Sie schon andeuteten, war er in Goldschmiede152
arbeiten kein großes Licht, dafür ein wahrer Künstler in Uhren und Edelsteinfassungen.« »Es handelt sich also um einen Fehler, der nicht häufig vorkommt?« »Nur ein Anfänger begeht eigentlich solche Fehler. Jetzt sehe ich wahrhaftig alles genau wieder vor mir. Ich hatte sehr viel zu tun damals und gab, nachdem ich ein entsprechendes Stück aus dem Ring herausgeschnitten hatte, Cummins den Auftrag, ihn zu löten. Eigentlich hätte ich ihm sagen sollen, daß als Lötmasse dasselbe Material genommen werden muß, also Gold von achtzehn Karat.« »Können Sie sich an das Datum erinnern? Ungefähr wenigstens?« fragte Bony eindringlich. »Mr. Cummins konnte keine Eintragung über diese Reparatur mehr finden.« Der Juwelier überlegte so lange, daß Bony schon mit einer Enttäuschung rechnete. »Ja, Inspektor«, sagte er schließlich. »Es war im August oder Anfang September achtunddreißig. Damals hatten wir viel Betrieb im Ort – ich weiß nicht mehr genau, was los war –, so daß ich viel Arbeit bekam.« »War es etwa ein Fußballwettspiel?« »Ja, richtig, das war’s. Endspiel um die Meisterschaft im Bezirk West. Colac trat gegen Split Point an und hat gewonnen. Natürlich, das war es. Die Kunden – genaugenommen waren es drei, drei junge Männer aus der Mannschaft von Split Point – wollten sich Siegelringe ansehen und legten Wert darauf, genau gleiche zu bekommen. Ich konnte ihnen Ringe von einem gängigen Muster zeigen, und die nahmen sie schließlich. Und was glauben Sie wohl, was sie dann wünschten?« »Auf allen dasselbe Monogramm?« Mr. Lechfields buschige Brauen hoben sich mit einem Ruck. »Erstaunlich, Inspektor. Ja, sie wollten auf jedem Ring das Monogramm B. B. haben. Ich weiß auch noch, daß ich sie nach dem Sinn dieser Buchstaben gefragt habe, da sie in keiner Beziehung zu dem Sportverein standen, dem die jungen Männer angehörten. Sie gaben mir jedoch keine Auskunft. Drucksten verlegen herum und machten dumme Gesichter, wie wir das bei den Halbwüchsigen kennen. Dann ergab sich eine Schwierigkeit. Für zwei der Kunden hatte ich von dem Ring genau passende Größen, für den dritten aber nicht. Da sie in Colac über Nacht blieben, versprach ich, den dritten Ring am nächsten Morgen bereit zu haben. 153
Ich schnitt also ein Stück aus dem Ring und gab ihn Cummins, der die Lötarbeit vor Ladenschluß fertig hatte. Als am anderen Morgen die drei jungen Männer kamen, nahm ich den Ring aus meinem Schränkchen und polierte ihn noch einmal, bevor ich ihn dem Kunden aushändigte. Da sah ich, daß Cummins diesen Fehler gemacht hatte. Ich muß gestehen, Inspektor, daß ich entsetzt war, weniger über den Fehler an sich als darüber, daß ich ihn erst so spät entdeckt hatte. Ich zeigte dem Kunden den Ring, wie er war, und sagte, ich würde bis zwölf Uhr mittags entsprechenden Ersatz beschaffen. Er erklärte mir jedoch, sie müßten sofort aus Colac abfahren, und dieser kleine Unterschied in der Goldfarbe störe ihn nicht, nicht im geringsten. So überließ ich ihm dann den Ring.« .»Wissen Sie noch die Namen der jungen Leute, Mr. Lechfield?« »Nein, an die einzelnen Namen kann ich mich wirklich nicht mehr erinnern. Ich erinnere mich aber, daß ich etwa eine Woche später aus Split Point eine Bestellung auf einen weiteren Ring vom gleichen Muster und mit demselben Monogramm bekam. Auf einem Stück Papier, das dem Auftrag beilag, war die gewünschte Ringgröße mit Bleistift gezeichnet, vermutlich, indem ein passender Ring aufs Papier gelegt und der Bleistift innen entlanggeführt worden war. An der Bestellung fiel mir etwas auf, das ich nicht vergessen habe. Der Kunde hatte mit ›Eldred Wessex‹ unterschrieben, und der Brief kam aus Split Point. Der bestellte Ring war aber für eine Männerhand viel zu klein, also zweifellos für eine Dame bestimmt. Ich führte den Auftrag jedenfalls aus.« »Weitere Aufträge bekamen Sie nicht?« »Nein.« »Auch keinen für das Monogramm B. B. auf anderen Schmuckstücken für einen Kunden?« Bony gefiel es, daß Lechfield immer eine Weile überlegte, um keine falsche Auskunft zu geben. Er antwortete schließlich, daß er diese Buchstaben auch später nie auf irgendein Schmuckstück zu gravieren gehabt habe. Bony bedankte sich herzlich und ging. Er aß im Hotel in dem hübschen kleinen Dorf Barwon Heads zu Mittag, und es war nach vier Uhr, als er in dem alten Zweisitzer die Steigung zur Post in Split Point hinauftuckerte. Das ihm nun schon vertraute Landschaftsbild 154
war durch Regen getrübt, und jenseits der großen Bucht sah das Oberland am Kap nur wenig dunkler aus als die schiefergraue See. Eine Weile kam er sich vor wie der verlorene Sohn auf dem Heimweg, und dann fand er, daß er eher mit einem Wiesel vor dem Kaninchenbau zu vergleichen sei, einem wählerischen Wiesel, das vorzugsweise auf schwarze Karnickel jagt. Das Wiesel kannte jetzt jeden Weg, jede Sackgasse in diesem Labyrinth des Kaninchenvolks, kannte jedes einzelne der braunen Kaninchen, die dort hausten, aber das schwarze hatte es noch nicht gesehen. Als Bony an dem Morgen von Melbourne abfuhr, war an die Polizei aller großen Städte des Landes schon die Weisung ergangen, einen Mann namens Waghorn, den Kriminalsergeant Eulo auf einem Foto von Eldred Wessex erkannt hatte, festzunehmen. Der Kriminalpolizei von Sydney war Waghorn als dunkle Existenz bekannt, ein Mensch, der sich an der Grenze des Verbrechertums bewegte, schon lange im Verdacht krimineller Handlungen stand, aber bisher noch nicht in die Maschen des Strafgesetzes geraten war. Über die Frau, die ihn zu heiraten hoffte, war nichts Nachteiliges bekannt. Die Ermittlungen, die durchgeführt wurden, nachdem Bony sie schon verhört hatte, brachten eine telegrafische Meldung, daß Jean Stebbings nach Ansicht mehrerer maßgebender Leute, die sie seit Jahren kannten, eine anständige Person sei. Der Bericht bestätigte Bonys Vermutung, daß Wessex ihr sein Doppelleben als Waghorn verheimlicht hatte und ihr nur als Eldred Wessex bekannt war. Weshalb war dieser Mann bei Beendigung des Kriegsdienstes nicht nach Hause zurückgekehrt? War ihm die Heimkehr vom Vater verboten worden, weil dieser von der Gefängnisstrafe erfahren hatte, die sein Sohn als Soldat verbüßen mußte? War die Angabe, er sei nach Amerika ausgewandert, nur von den Eltern erfunden, um für die Abwesenheit des Sohnes eine glaubwürdige Erklärung zu haben? Am Freitag, dem 26. Februar, hatte Eldred Wessex seine kleine Wohnung in Sydney verlassen, angeblich, um für die Frau, die er seit einem Jahr kannte, zum Geburtstag eine Perlenkette zu kaufen. Ein paar Stunden, nachdem er fortgegangen war, hatte Thomas Baker, ein Schiffssteward, in der Wohnung nach ihm gefragt. Knapp siebzig Stunden nach diesem Besuch war Bakers nackter Körper im Leuchtturm von Split Point entdeckt worden, an der fernen Südküste von 155
Victoria, nur vier Meilen von der Farm entfernt, auf der Wessex geboren war. Was hatte Baker veranlaßt, nach Split Point zu kommen? Wenn Eldred Wessex, alias Waghorn, von sich aus ins Gebiet seiner engeren Heimat gekommen sein sollte, welcher Grund hatte ihn, nach zehnjähriger Abwesenheit, dazu getrieben? Bis Waghorn ergriffen und verhört war, konnte als wahrscheinlich angenommen werden, daß Eldred Wessex und Thomas Baker entweder einzeln oder zusammen in Split Point eingetroffen waren. Nach Entdeckung der Kleidungsstücke des Ermordeten in der Höhle, der Entdeckung der Mordwaffe in Lakes Koffer und nach dem Tode Lakes, der die Sachen des Ermordeten hatte bergen wollen, sprach alles dafür, daß Wessex seinen alten Freund aufgesucht hatte, um entweder ihm bei dem Mord zu helfen oder bei einem Plan, den Folgen der Tat zu entgehen. Denn ohne Eldred Wessex ließ sich keine Verbindung zwischen dem Toten im Leuchtturm und dem Toten am Fuß der Klippe finden. Wessex, das ›schwarze Kaninchen‹, war vermutlich am oder um den 28. Februar, als Thomas Baker erschossen wurde, in seinem Bau gewesen. Welches von den braunen Kaninchen hatte das schwarze gesehen? Welches von den braunen hatte dem schwarzen geholfen, aus dem Bau zu entwischen? Oder war das schwarze noch im Bau und wartete ab, wie Kaninchen es schon seit jeher tun? Das ›Wiesel‹ betrat den Eingang zum ›Bau‹ – das ›Hotel zur Bucht‹. Stug, der vor Freude den Körper akrobatisch verrenkte, kam sofort zu ihm, wurde aber vom Wirt hinausgejagt. In der Gaststube befanden sich ein Ehepaar, das seinen Wagen draußen geparkt hatte, der Fahrer eines Lieferwagens und Moss Way. Moss nickte Bony freundlich zu, der an seinen Tisch kam, und bestellte gleich ein Bier für ihn. »Na, wie steht’s, Mr. Rawlings?« fragte er. »Sehr gut, Moss. Und wie geht’s mit Ihrer Arbeit? Schon einen neuen Partner gefunden?« »Noch nicht. Werde wohl auch keinen nehmen. Mal ’ne Weile alles auf meine eigene Kappe machen. Hab’ Sie bei der Beerdigung gar nicht gesehen.« »Nein. Mußte rasch nach Melbourne wegen meiner Wolle. Ging alles gut?« 156
»Größte Beerdigung, die ich je gesehen habe. Von meilenweit her sind die Leute gekommen. Der arme Dick! Hat keine Ahnung gehabt, was für ’ne wichtige Person er war.« »Sie werden ihn bestimmt vermissen«, murmelte Bony, der nicht gern allgemein über Leute sprach, mit denen er nicht persönlich zu tun hatte. »Tue ich jetzt schon«, berichtete Moss. »Alleine laden und abladen ist kein Spaß, und allein wohnen auch nicht. Wunderbaren Sarg hat Papa Penwarden für Dick gemacht. Hätten Sie sehen müssen.« »Oh! Einen extra schönen?« »Ja. Wußte gar nicht, daß er daran arbeitete. An so einem, wie er für Mrs. Owen gemacht hatte, wenn er auch nicht ganz so stark glänzt.« »Roter Eukalyptus?« »Die Farbe ist jedenfalls so.« »Wahrscheinlich ist’s der gewesen, den er für mich machen wollte«, meinte Bony, was Moss offenbar einleuchtete. »Ja – so wird’s sein«, stimmte er zu. »Jedenfalls hat der alte Knabe ihn sehr schön gemacht. Dicks Freunde trugen den Sarg vom Wagen – unserem eigenen Lastwagen – ans Grab, und andere Freunde hielten sein Bahrtuch. Ich auch mit. Fred Ayling sollte eigentlich auch dabeisein, aber bei der ›Rutschbahn‹ ist allerhand durch das Unwetter verwüstet, deshalb konnte Alfie, der ihm Nachricht bringen sollte, nicht zu ihm. Er mußte auf einem Umweg zurück.« »Ayling und Lake waren doch dicke Freunde, nicht wahr?« fragte Bony. »Das waren sie. Die beiden und Eldred haben schon als Kinder zusammen gespielt, hat Dick mir mal erzählt. Er machte sich Gedanken, daß Eldred nicht heimkam, und vor ein paar Wochen war er so glücklich, als er mir sagte, Eldred käme vielleicht jetzt. Hatte sich schon ’ne großartige Überraschung für Eldreds Eltern ausgeknobelt: Er borgte sich unter irgendeinem Vorwand einen Wagen und fuhr nach Geelong, um Eldred vom Zuge abzuholen. Aber der kam gar nicht an, Dick kehrte ohne ihn zurück. Mindestens ’ne Woche ließ er den Kopf hängen. Muß ihn mehr mitgenommen haben, als ich dachte. Fanden Sie nicht auch, daß er verstört war?« »Kann ich nicht behaupten«, erwiderte Bony nachdenklich. »Immerhin war er ein Mensch, der Fremde nicht so leicht in sein Inneres 157
sehen ließ. Sie kannten ihn besser als ich. Wissen Sie genau, daß er sich Sorgen machte?« »Muß er doch wohl. Ich glaube kaum, daß er mitten in einer. regnerischen Nacht aufgestanden ist, bloß um spazierenzugehen – auch nicht, um zu schlafwandeln. Sein Vater hat zu Staley gesagt, daß Dick als Kind im Schlaf ’rumgegangen ist, und Mama Wessex hat ihn einmal nachts auf der Veranda gefunden, wo er auf dem Geländer saß. Das ist damals gewesen, als Dick bei ihr in Kost war. Er blieb an den Schultagen meistens da und ging nur zum Wochenende und in den Ferien nach Hause. Fred Ayling logierte auch oft bei den Wessex’. Solange ich mit Dick zusammenwohne, ist er nie im Schlaf aufgestanden und ’rausgegangen.« »Wann hatte Dick die Heimkehr von Eldred Wessex erwartet?« »Wann? Da muß ich nachdenken.« Moss trank, um seinem Gedächtnis nachzuhelfen, und Bony bat Washfold um eine neue Lage. »Ein paar Wochen ist’s jedenfalls schon her.« Moss Way starrte Bony stirnrunzelnd an. »Jetzt bin ich selbst gespannt. Dick war mit Eldred ein paar Tage vor der Entdeckung des Toten zusammen. Meinen Sie, daß –« »Ich meine gar nichts«, sagte Bony rasch. »Sie haben ja den Toten im Leuchtturm gesehen, wie alle anderen auch. Es war nicht Eldred Wessex.« »Das weiß ich, obwohl ich Eldred überhaupt nicht gekannt habe. Aber komisch ist es doch. Ich –« »Lassen Sie«, sagte Bony scharf. »Dick war nicht der Mann, der sich auf so etwas eingelassen hätte.« Langsam nickend gab Moss Way ihm recht.
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h, schönen guten Tag, verehrter Mr. Rawlings!« rief Penwarden, als Bony tags darauf in seine Werkstatt trat. »Eigentlich bloß ’ne Redensart, was? Für manchen armen Deubel ist der Tag gar nicht gut und schön. Freue mich aber, daß Sie mich besuchen: Ich hab’ ein Telegramm wegen dem Blutbaumholz gekriegt.« »So! Dann hat mein Freund sich aber wirklich beeilt.« Der alte Sargmacher setzte sich auf eine Kiste und begann seine Pfeife zu stopfen. Bony schwang sich auf das Ende der Werkbank. »Kam aus Mildura, das Telegramm. Stand bloß drin: ›Stämme heute nach Geelong abgeschickt. Grüßen Sie Bony. Sil Bennett‹. Ist das Ihr Spitzname – Bony?« Bony fiel mit Schrecken ein, daß er seinen Freund nicht über seinen neuen Namen aufgeklärt hatte. So sagte er rasch, Bony hätten ihn schon seine Mitschüler genannt, als er klein war. Penwarden kicherte. »Als ich jung war, sprach die Welt noch von einem anderen ›Bony‹, dem Napoleon. Diesem Franzosen sehen Sie aber nicht ähnlich, nach den Bildern, die ich von ihm kenne.« »Nein, hübsch bin ich nie gewesen«, behauptete Bony kühl. »Als Junge war ich so mager, daß man meine Rippen zählen konnte. Daher auch dieser Spitzname: weil ich ›bony‹ – knochig und dürr war. Ich nehme an, die Bahn gibt Ihnen gleich Nachricht, wenn die Stämme in Geelong eintreffen?« »Das wird sie. Ich schicke dann Moss Way zum Abholen hin. Vielen Dank auch noch, Mr. Rawlings. – Der junge Mann kommt sich jetzt ganz verlassen vor. Gestern habe ich mit ihm gesprochen. Er sagt, Dick Lake fehlt ihm sehr. Diese Kerls, die so mir nichts, dir nichts nach Sweet Fairy Ann gefahren sind! Sie alle hätten neulich für immer dort159
bleiben können, mitsamt dem Wagen, von einem halben Gebirge zugedeckt … Waren Sie inzwischen verreist?« »Einige Tage. In Melbourne. Mußte mich um meine Wolle kümmern. Die Preise ziehen immer noch an.« »Ja, das habe ich in der Zeitung gelesen. Ein Jammer, daß Sie nicht bei der Beerdigung waren.« »Ich wäre auch so nicht gern hingegangen.« Bony steckte sich eine Zigarette an und verstaute vorsichtig das abgebrannte Hölzchen in der Schachtel. »Alles war erschienen, Mr. Rawlings. Nur Fred Ayling fehlte und Alfie Lake, der ihm Bescheid bringen sollte. Es war ein trauriger Tag, muß ich sagen. Kannte Dick ja schon als Baby. Ich habe ihn selbst in den Sarg gelegt, den ich für Sie gemacht hatte, womit Sie gewiß einverstanden sind. Werde aber für Sie gleich einen anderen machen. Tatsächlich ist das Brett da in der Hobelbank schon das erste Stück dazu. Ja, den Dick habe ich im besten Holz bestattet, das unser Land hervorbringt. War froh, daß er keine Verletzungen im Gesicht hatte. Als ich ihn rasiert und zurechtgemacht hatte, lag er so recht gemütlich da – als wenn er bloß schliefe –, und das stimmt ja eigentlich auch.« »Seine Eltern haben doch gewiß kommen können?« »Ja. Die haben wenigstens einen Trost: In so einer großen Familie verteilt sich der Schmerz. Jetzt, nachdem Dick so von uns gegangen ist, muß ich noch mehr als sonst daran denken, wie’s früher war. Wenn er mit den beiden andern Jungen hier vorbeirannte und sie mir was zuriefen und ich dann winkte und ihnen sagte, sie sollten fleißig lernen in der Schule. Eli und seine Frau haben sich in sehr netter Weise um die Jungen gekümmert. Haben auf ihr Zeug geachtet, sie auf den Schulweg gebracht und immer für kräftiges Essen gesorgt. Mrs. Wessex hat mir erzählt, daß Sie kürzlich bei ihnen waren und sich mit Eli unterhalten haben. Das hat ihm sicher Spaß gemacht.« »Es war ein netter Nachmittag«, sagte Bony. »Mr. Wessex bedaure ich wirklich. Sein Leiden muß eine harte Prüfung für ihn sein. Er hat selbst gar kein Wesens davon gemacht, aber ich muß sagen, ich hatte doch den Eindruck, daß er sich sehr über seinen Sohn grämt, weil der vor der Auswanderung nach Amerika seine Eltern nicht einmal mehr besucht hat. Glauben Sie übrigens, daß Eldred tatsächlich nach Amerika gegangen ist?« 160
»Natürlich«, kam die Antwort ganz schroff. »Er wäre doch sonst nicht so lange fortgeblieben. Sie scheinen das zu bezweifeln, Mr. Rawlings.« Bony drückte seine Zigarette aus. Als er hochsah, traf sein Blick in die klaren Augen unter dem in die Stirn gerutschten weißen Haarschopf. »Vielleicht ist bei mir der Wunsch der Vater des Gedankens«, sagte er. »Ein bißchen seltsam finde ich es immerhin, wenn ein junger Mann, nachdem er jahrelang im Krieg gewesen ist, nicht zu den Eltern kommt, aber schließlich nimmt ja die heutige Generation auch sonst nicht soviel Rücksicht auf die Eltern, wie wir das taten. Da ich für Eli Wessex und seine Frau volle Sympathie empfinde, bin ich etwas ärgerlich auf den rücksichtslosen Herrn Sohn.« Penwarden legte die noch brennende Pfeife auf ein Wandbord, nahm seinen Hobel und brummte, während er ein wenig übertrieben mit verkniffenen Augen das Brett aus rotem Holz anvisierte, ein paar zustimmende Sätze vor sich hin. »Der Eldred ist immer so gewesen, trotzig, widerspenstig, selbstsüchtig. Liegt an der Erziehung, Mr. Rawlings. War der einzige Sohn, und Eli ist mit Jungen immer zu sanft umgegangen. Das spricht natürlich nicht gegen ihn, verstehen Sie mich recht. Aber er hatte keine ausgeglichene Erziehungsweise, und die brauchen Jungen eben, wenn sie richtige Männer werden sollen. Das Weiche soll von der Mutter kommen, Erziehung und Gerechtigkeit aber vom Vater. Ich war selbst oft zu weich mit meinen Jungen, nur merken durften sie das nicht. Mit Eldred wäre noch mehr schiefgegangen, wenn’s keinen Fred Ayling gegeben hätte.« »Meinen Sie wirklich?« regte Bony ihn an. »Ja, tatsächlich«, sagte der alte Mann, seinen Hobel schwingend. »Fred ist ein paar Jahre älter als Eldred und der etwas älter als Dick. Fred hat sich stets für Dick eingesetzt und hat ihm bei jeder Gelegenheit die gleichen Rechte verschafft, die sie als die älteren hatten.« »Er war also gewissermaßen der Anführer?« »Ja, das war er. Eldred richtete sich nach ihm mehr als nach seinem eigenen Vater.« Das Hobeln hörte auf, das runde, rosige Gesicht strahlte Bony an. »Manchmal haben die drei sich auch tüchtig geprügelt, aber wenn’s gegen andere ging, hielten sie zusammen.«’ 161
»Ich möchte wetten, daß Ihre Werkstatt starke Anziehungskraft für die Jungen gehabt hat.« »Da haben Sie recht, Mr. Rawlings. Ich weiß noch, wie sie mal ’reinkamen, der Eldred meinen besten Schlichthobel nahm und damit ein Brett bearbeitete, in dem ein Nagel saß! Da wollte ich eine ganze Weile nichts von den Bengeln wissen. Und später, was meinen Sie? Als Eldred mit der Schule fertig war, fing er bei mir als Lehrling an! Aber es hatte keinen Zweck.« »Keine Ausdauer, wie?« »Hatte er nie und nirgends. Mal war er einen Tag hier und stand mir bloß im Weg, dann half er wieder seinem Vater einen Tag. Acht Tage später war er plötzlich in Geelong und arbeitete bei Ford. Er gewöhnte sich das Trinken an und begann, sein Geld zu verspielen. Bei Ford hörte er auch schnell auf, kam wieder mal nach Hause, dann fuhr er unvermutet nach Melbourne. Und wenn wir ihm zuredeten, vernünftig zu sein, lachte er uns nur aus.« »Hoffnungsloser Fall, wie?« »Nein, hoffnungslos nicht«, versicherte der Alte. »Kein junger Mensch ist hoffnungslos, wenn er richtig behandelt wird. Eldred war eigentlich nur albern, aber auch listig. Er hat zu früh und zu leicht gelernt, bei der Mutter seinen Willen durchzusetzen. Der Vater sah wohl, wohin das führte, und versuchte, den Jungen im Zaum zu halten, aber seine Frau wollte nicht einsehen, daß Eldred auf falschen Wegen war. Niemand durfte was gegen ihren Eldred sagen, der konnte einfach nichts Unrechtes tun. Er war die Sonne ihres Lebens, die aber zu hell schien und sie blendete. Mit Mary war sie strenger. Stets gab sie Eldred recht. Als er damals in der finsteren Nacht zurückkam und –« Der Hobel stieß hart auf das Brett, und als Bony, der gerade eine Zigarette drehte, aufblickte, bemerkte er, daß der alte Mann sich von ihm abgewendet hatte und mit den Augen eine an der Wand stehende Sperrholzplatte nachmaß. Während Penwarden sich umdrehte, um wieder zur Hobelbank zu kommen, hatte Bony schon den Blick gesenkt und betrachtete seine Hände. »Als er von Ford zurückkam und seiner Mutter erklärte, er wolle von nun an bloß noch auf der väterlichen Farm arbeiten, glaubte sie ihm.« 162
»Na ja, gewiß«, sagte Bony, seine Zigarette anzündend, »mit den Söhnen sind die meisten Mütter zu weich.« Ins Gesicht des alten Mannes stieg eine verräterische Röte, und vor die blauen Augen schien sich ein Schleier zu legen, aber Bony fuhr, damit Penwarden nichts merkte, daß ihm etwas aufgefallen war, ruhig fort: »Auch Eldred wird, wie viele andere junge Männer, eines Tages seßhafter werden. Besser, wenn einen mit zwanzig der Hafer sticht als mit vierzig.« »Ein wahres Wort, Mr. Rawlings, ein wahres Wort.« Bony fühlte die Erleichterung, die aus dieser Antwort klang. Auch der Wechsel des Themas ließ das erkennen, denn der Alte sagte: »Dieses Brett hier ist für Ihren Sarg bestimmt. Ich hatte auch alle andern schon bereitgelegt, als das mit Dick Lake passierte. Und jetzt habe ich für Sie dieses hier ausgewählt und noch einige dazu. In ein paar Tagen könnten Sie schon zur ersten Anprobe kommen.« »Das ist sehr nett von Ihnen, Mr. Penwarden.« »Ich tue es gerne. Das Blutbaumholz ist mir so oft im Kopf herumgegangen wie einem jungen Mädchen die bevorstehende Hochzeit. Holz ist eben nicht Holz. Ich muß noch daran denken, wie ich vor vielen Jahren an den Strand gegangen bin und da eine Planke fand, die vom zähesten Holz war, das mir je unter die Hände gekommen ist. Aus dem habe ich den Kaminsims in unserem Wohnzimmer gemacht. Das Holz ist narzissengelb, und kein Mensch kann mir sagen, von welchem Baum es stammt. Muß weit über See angetrieben sein. Ein Professor von der Universität hat’s angesehen und meinte, es sei keinesfalls von einem australischen Baum. Ja, Holz. Dieser Sarg für Sie wird aus bestem rotem Eukalyptus sein und einen ganz besonders schönen Glanz bekommen. Jedesmal, wenn Sie ihn ansehen, werden Sie sich an den alten Ed Penwarden erinnern.« »Das werde ich sicher.« Der Hobel wurde wieder ergriffen, die Klinge genau geprüft und neu eingestellt. Das plötzliche harte Aufstoßen des Hobels bei diesem tüchtigen Handwerker, der Werkzeuge wie Kostbarkeiten pflegte, war ungewöhnlich. Penwarden setzte ihn wieder in Tätigkeit, und fast im selben Augenblick ertönte vor der breiten Tür ein fester Schritt. Bony drehte sich um: Fred Ayling trat herein. Penwarden setzte den Hobel wieder ab. Ayling schritt energisch wie der Überbringer einer sehr wichtigen Botschaft durch die Haufen von Hobelspänen. 163
»Guten Tag, Ed!« rief er. Und zu Bony gewandt: »Tag.« »Wünsche ich dir auch, Fred«, sagte der alte Mann. »Freue mich immer, wenn ich dich so sehe.« »Danke, gleichfalls.« Ayling stand fest auf den Füßen. Seine dicken Brauen hatten sich tief über die dunklen Augen gesenkt, die ganz klein wirkten. »Wollte dir danken, daß du für Dick so einen schönen Sarg gemacht hast. Sein Vater hat mir davon erzählt. Was soll er denn kosten? Ich möchte ihn nämlich bezahlen.« »Das habe ich noch gar nicht ausgerechnet, Fred. Gelegentlich mal, vielleicht. War die Fahrt über die ›Rutschbahn‹ sehr schwierig diesmal?« »Du könntest doch rasch ausrechnen, wieviel der Sarg kostet«, sagte der Holzfäller hartnäckig. »Dick war doch mein Freund, und das weißt du. Ich will für ihn etwas tun.« Penwarden langte sich die Pfeife vom Bord und drehte sie zwischen den Fingern. Er schien zu überlegen. Ayling wartete eine halbe Minute, ehe er wiederholte: »Du rechnest also gleich die Kosten aus, und ich mache die Geschichte glatt, klar?« »Tja, das habe ich eigentlich nicht gern, Fred. Ich habe nämlich gedacht, es sollte eine Art Geschenk für den armen Dick sein, den ich doch schon als Baby gekannt habe. Und mehr als einmal habe ich ihm den Hintern versohlt und ihm Backpfeifen gegeben, wenn er frech zu mir wurde.« Ayling bestand aber auf seinem Wunsch. Er machte ein verbissenes Gesicht, sein Ärger schien größer zu sein als sein Kummer. »Ich will das bezahlen und werde es bezahlen«, preßte er langsam heraus. »Mein Freund ist er gewesen, nicht deiner, Ed. Also rechne sofort zusammen. Wieviel soll’s sein?« »Na! Wenn du deinen Dickkopf hast, hilft ja alles nichts.« Der Alte legte die Pfeife wieder aufs Wandbrett und setzte eine stahlumrandete Brille auf. Von einem Nagel an der Wand nahm er eine Schiefertafel, wie Schulkinder sie haben, machte sie mit Speichel und einem Lappen sauber und begann Zahlen zu kritzeln. Ayling blieb regungslos stehen, den Blick fest auf ihn gerichtet. Das Schweigen war bedrückend. »So, hier hast du’s, Fred«, sagte der alte Mann leise. »Material und Arbeit belaufen sich auf fünfundzwanzig Pfund und zehn Schilling.« 164
Ayling zog seine Brieftasche hervor und zählte den Betrag in Scheinen auf die Werkbank. Es war so still, daß das Knistern des Papiers wie Lärm wirkte. »Schick mir bei Gelegenheit ’ne Quittung«, sagte Ayling, indem er so weit von der Bank zurücktrat, daß er vor Penwarden und Bony stand. Seine Augen waren wieder klein, die Sprache klang abgehackt, als er jetzt zu Bony sagte: »Komisch, daß Sie gerade an dem Morgen am Strand waren, als Dick zerschmettert da unten lag.« »Zufall«, sagte Bony. »Die See war so wild, und das sehe ich mir gern an. Was finden Sie dabei so merkwürdig?« »Daß Sie nichts weiter gefunden haben als – als die Leiche.« »Hätte ich denn sonst noch etwas finden sollen?« »Weiß nicht. Sie wollen uns doch nicht für dumm verkaufen?« »Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, gab Bony zurück. »Und ich verstehe Sie nicht, Mr. Rawlings. Vielleicht aber später. Eines Tages weiß ich vielleicht, weshalb Sie hier in der Gegend ’rumschnüffeln, nachts herumwandern und nach Leuten und Sachen fragen, die einen Feriengast gar nichts angehen. Es könnte Ihnen aber mal einer –« »Nun reicht’s, mein lieber Fred«, fiel der alte Zimmermann ein. »Du verschwindest jetzt, überlegst dir, was du redest, und wirst dich hübsch wieder beruhigen, verstanden? Daß der arme Dick tot ist, geht nämlich nicht nur dir allein an die Nieren. Er war dein Freund, sagst du. Und mir war er auch ein Freund, genau wie du und Mr. Rawlings. Ich will in meiner Werkstatt keine bösen Worte hören.« Ohne auf diese energische Erklärung ein Wort zu entgegnen, schritt Fred Ayling zur Tür. Als er draußen war, nahm der Alte wieder seine Pfeife zur Hand, drehte sie aber nur zwischen den Fingern. Bony wußte, daß er abwartete, bis Ayling außer Hörweite war. »So ist Fred nun mal«, sagte Penwarden, »und so war er schon immer. An sich ein braver Kerl, aber sagt unverblümt, was er denkt. Jähzornig, aber großzügig, auch wieder geduldig und – treu. Hing mit Dick zusammen wie Pech und Schwefel. Ärgern Sie sich nicht über ihn, Mr. Rawlings, morgen ist er Ihnen wieder gut.« »Sicherlich«, bestätigte Bony. »Selbstverständlich ist er jetzt sehr aufgeregt, besonders weil er nicht am Begräbnis teilnehmen konnte. Es war nett von Ihnen, ihm die Bezahlung des Sarges zu erlauben.« 165
»Ach, nicht der Rede wert.« Der Alte zündete sorgfältig die Pfeife an, bevor er fortfuhr: »Wenn der Mensch alt wird, wird er klüger im Umgang mit ändern.« Seine hellblauen Augen wurden freundlich. »Ich habe gelernt, wann ich nachgeben muß und wie weit. Sagen Sie es bitte keinem, Mr. Rawlings, aber – der Sarg, in dem Dick Lake ruht, ist sogar unter Brüdern seine hundert Pfund wert.«
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B
leigrau war der Himmel, ohne freundlichen Sonnenstrahl, nichts Farbiges auf der bleigrauen See, nur Strand und Klippen hoben sich ab, wo die Brandung an den ›Katzenkrallen‹ von Split Point emporklatschte. Die Luft war still und kalt. Zwischen Teesträuchern auf dem Oberland war eine Art Laube, die freien Ausblick auf den Ozean bot. Dort saß Bony auf einer Zeitung, und Stug hockte unruhig neben ihm. Sie waren zusammen auf den Klippen umhergewandert, und der Hund hatte unterwegs Kaninchen aufgestöbert, die ihm aber stets unerreichbar blieben, denn sie waren schneller als er. Auf der Wanderung hatten sich an Bonys Anzug und an das Fell des Hundes viele Kletten gesetzt. Bony beschäftigte das Problem, ob es schon an der Zeit für ihn sei, sich in seiner Eigenschaft als Inspektor zu erkennen zu geben. Vormittags war er in Lome gewesen, wo er telefonisch mit dem Oberinspektor gesprochen und erfahren hatte, daß Waghorn seit vielen Wochen nicht mehr in Sydney gesehen worden sei und auch die Polizei in den anderen Großstädten ihn nicht aufgegriffen hatte. Dieser Versager mit Waghorn ärgerte Bolt, während Bony ihn begrüßte, weil sich damit seine Überzeugung verstärkte, daß Eldred Wessex schon vor der Entdeckung des Toten im Leuchtturm nach Split Point gekommen war. Moss Way hatte doch erklärt, daß Lake nach Geelong gefahren sei, um ihn von der Bahn abzuholen, aber ohne ihn zurückkehrte. Der alte 166
Penwarden hatte, ohne es zu wollen, verraten, daß Eldred in ›der finsteren Nacht‹ heimgekommen sei. Die Nacht vom 28. Februar zum 1. März war besonders dunkel gewesen. Penwarden war nach dieser unbedachten Äußerung ganz offensichtlich verwirrt gewesen. »Ja, ja, Stug, ruh dich nur aus«, redete Bony dem Hund zu, »aber laß meine Socken heil.« Er grübelte, um sich ein Bild von dem Mann zu machen, der mit Jean Stebbings an ihrem Geburtstag gefrühstückt hatte, dann fortgegangen und nicht wieder erschienen war. Nun, das Verhalten paßte eigentlich ganz zu dem jungen Mann, der bei Penwarden als Lehrling eintrat, dann bei seinem Vater gearbeitet hatte, kurz darauf im Autowerk von Ford und schnell hintereinander noch an verschiedenen Stellen. Ein ungestümer, unbesonnener, unsteter, unehrlicher und eingebildeter Mensch, der falsche Freundlichkeit vorzutäuschen verstand, dabei aber rücksichtslos und kalt war und eine lebhafte Phantasie hatte. Er war, wie Dick Lake, ein klar definierbarer Typ. »Ich werde Moss Way energischer anfassen müssen«, sagte Bony zu Stug, der weiter einen Socken malträtierte und mit gefletschten Zähnen vorsichtig eine Klette aus der Wolle zerrte. »Ich muß feststellen, ob Lake noch einen zweiten Mann erwähnt hat, den er mit Eldred Wessex zusammen erwartete. Vielleicht hatte – so kann es nach den bisherigen Ermittlungen erscheinen – Baker ihn begleitet, und Lake hat beide vom Bahnhof abgeholt und sie nach Split Point gefahren. Na schön, Stug, ich sehe schon, du möchtest, daß ich dich von ein paar lästigen Kletten befreie, nachdem du mir zuerst diesen Liebesdienst getan hast.« Der Hund war Bony, als er ihm die Kletten aus dem Fell zog, sichtlich dankbar, weil der Mensch begriff, was ihn so beunruhigt hatte. Nun biß er zielbewußt die noch an Bonys Socken und den Umschlägen der Hose haftenden Kletten ab. »Ich glaube, Eldred Wessex kennst du gar nicht«, sagte Bony. »Also was machen wir nun, Stug? Dick Lake muß am siebenundzwanzigsten oder achtundzwanzigsten Februar nach Geelong gefahren sein und dort Eldred getroffen haben, der entweder mit dem Flugzeug von Melbourne oder mit dem Nachtschnellzug ankam. Von Melbourne nach Geelong mit der Bahn dauert es nur gut eine Stunde. Ich sehe vor mir, 167
wie Lake seinen Freund begrüßt hat, aber ich kann nicht sehen, wie Baker in die Sache hineinkam, in der er als Toter zurückblieb. Das in der Brieftasche steckende, angeblich dem Toten gehörende Geld ist ein Punkt, den ich sehr interessant finde«, vertraute Bony dem Hund an. »Insgesamt waren es neunundachtzig Pfund sieben Schilling und fünf Pence. Wie die Romanschreiber sagen, paßt es nicht zu Wessex’ Charakterbild, Geld und Brieftasche bei den Kleidungsstücken des Toten liegen zu lassen und sogar sorgfältig die losen Münzen in die Brieftasche zu stecken. Das spricht eher für Dicks Ehrenhaftigkeit. Die Tatsache, daß der Revolver nicht in der Höhle gelassen wurde, beweist eigentlich, daß er nicht dem Toten, sondern entweder Eldred oder Lake gehörte. Na, Lake ist ja jetzt für das Wiesel nicht mehr erreichbar, aber Wessex. Der ist noch frei, hält sich vielleicht irgendwo auf der Farm seines Vaters auf, wahrscheinlich aber hinter Sweet Fairy Ann bei Fred Ayling oder in dessen Nähe. Ich habe vorausgesehen, daß Bolt ihn als Waghorn nicht auffinden würde, deshalb habe ich gerade seine Aufmerksamkeit in dieser Richtung abgelenkt. Aber jetzt, Stug, wollen wir erst mal anständig essen. Vielen Dank, daß du mich von den Kletten befreit hast.« Stug torkelte fast hinter Bony den Abhang vom Oberland hinunter und so müde die Straße zum ›Hotel zur Bucht‹ hinauf, als habe er nur den einen Gedanken: sich auf die Matte vor der Gaststubentür sinken zu lassen. Aber gleich nach dem Essen begleitete er, sprunghaft munter werdend, Bony die Straße wieder hinab und den Weg an der Bucht entlang zu Moss Ways Behausung. Dieses Camp war eine Wellblechhütte, ein Stück abseits vom Weg zwischen Penwardens Wohnhaus und seiner Werkstatt. In dem einzigen Raum fand er Moss auf einer Kiste an einem roh gezimmerten Tisch sitzend, wo er im Licht einer Sturmlaterne die Zeitung las. »Na, wollen Sie Ihr Glück beim Toto versuchen?« fragte Bony aufs Geratewohl schon in der Tür. »Hallo, Mr. Rawlings! Sie haben’s getroffen: Kommen Sie ’rein.« Bony sah zwei primitive Feldbetten, eins an jeder Seite des offenen Herdes. Kochgeräte, in Papier gewickelte Eßwaren, Gewürze in Flaschen boten ein wirres Bild, das anscheinend zu allein hausenden Männern zwangsläufig gehört. Moss deutete auf einen zerbrochenen 168
Stuhl neben dem Feuer und verschob seine Kiste, um neben Bony zu sitzen. Stug kam leise herein und legte sich Bony zu Füßen. »Was haben Sie heute angefangen?« fragte Moss. »Vormittags war ich in Lome. Nachmittags wanderte ich auf den Klippen umher. Die See ist ruhig. Es scheint für Regen zu kalt zu sein.« »Vielleicht gibt’s morgen einen trockenen Ostwind. Das Barometer im Hotel steigt.« Moss sprach ganz ruhig. Trotz der abendlichen Kühle saß er ohne Rock in seiner baumwollenen Weste da, trug aber eine dicke Arbeitshose und benagelte Schuhe. »Sie müssen sich ja nun einen neuen Partner suchen«, sagte Bony, eine Zigarette anrauchend. »Ja«, erwiderte Moss. »Habe gestern abend Fred Ayling den Vorschlag gemacht. Muß wohl ’n schlechten Augenblick gewählt haben, denn er war furchtbar wütend. Über was, weiß ich nicht. Er war zu mir gekommen, weil er sehen wollte, ob von Dicks Sachen noch etwas vorhanden war. Ich fragte ihn, wozu er das wissen wollte, und da sagte er, daß er jetzt vielleicht für Mrs. Wessex arbeiten würde.« »Und worüber mag er wütend gewesen sein?« »Ach, keine Ahnung. War ja immer ’n mürrischer Kerl. Hat nach meiner Ansicht zu lange allein gelebt.« Der Hund hob knurrend den Kopf und – schlief weiter. Bony lenkte das Gespräch von Ayling auf weniger bedenkliche allgemeine Fragen. Erst nach gut einer halben Stunde brachte er es wieder auf den Punkt, den er festhalten wollte. »Eigentlich sollte man annehmen, daß Eldred Wessex auf jeden Fall zu Lakes Beerdigung gekommen wäre, finden Sie nicht?« legte er Moss nahe. »Ja, aber andererseits wieder nicht, nach dem, was ich über Eldred erfahren habe«, antwortete Moss. »Viel weiß ich nicht von ihm, denn er gehört ja nicht zu unserem Kreis hier. Entweder ist man dabei oder nicht, und wer nicht dazu gehört, kommt nie ’rein, verstehen Sie. So wie ich’s beurteile, ist der Eldred immer ein Taugenichts gewesen, aber er verstand den Leuten was vorzumachen, besonders seinen Freunden. Ausgenutzt hat er die nach allen Regeln der Kunst, ohne mit der Wimper zu zucken.« 169
»Hat sich wohl auch nicht viel Gedanken gemacht, daß er die Pflicht gehabt hätte, Lake zu schreiben, weshalb er nicht nach Geelong gekommen war?« »Darüber war Dick, glaube ich, sehr enttäuscht, denn er hatte doch den ganzen Tag auf ihn gewartet, und als Eldred mit dem genannten Zug nicht kam, hat er draußen vor dem Bahnhof in seinem Wagen geschlafen und dann noch den ganzen nächsten Tag gewartet.« »Eine lange Wartezeit«, murmelte Bony. »Das will ich meinen. Um ein Uhr ist er hier abgefahren, um rechtzeitig an den Zug zwei Uhr zwanzig von Melbourne zu kommen. Und aufgeregt war er! Frühmorgens hatte er das Telegramm gekriegt. Wir fuhren dann zum alten Wessex, um von ihm den Wagen zu leihen. Dick erzählte da ’ne Geschichte, daß er mit einer Freundin den Tag gern im Auto spazierenfahren wollte. Seine Absicht war, Eldred heimlich herzubringen und seinen Eltern die größte Überraschung ihres sonst nicht erfreulichen Lebens zu bereiten. Das Telegramm ist mir gerade heute morgen in die Hände geraten. Steckte hinter der Mehlbüchse, da oben.« »Hm!« murmelte Bony, indem er sich mit einer Fingerspitze die Nase rieb, damit Moss nicht merkte, wie seine Nasenflügel zitterten. »Dick muß es dahingelegt und nachher ganz vergessen haben«, fuhr Moss fort. »Als er wiederkam, war er ja mächtig geknickt. Wie ich dann zu Mittag ’reinkomme, um ’ne Tasse Tee zu trinken und ein bißchen zu essen, da sehe ich, wie er seinen besten Anzug saubermacht. Mit seinem anderen Zeug war er immer gleichgültig. Aber seine guten Sachen, die hat er gepflegt, als wenn er Hochzeit hätte. Ich will Ihnen das Telegramm mal geben. Können es selbst lesen.« Er brachte Bony das Telegramm. »Da sieht man, wie listig Eldred das gemacht hat, damit der Post nichts auffiel«, sagte er. Bony las: »Aufgegeben Hauptpostamt Sydney fünf Uhr fünfunddreißig nachmittags. – Text: Hoffe morgen gegen zwei Uhr mit der Bahn in Geelong einzutreffen. Hole mich möglichst mit Wagen ab. Sag niemand etwas davon, sonst erfährt es Vater. In treuer Liebe Ethel.« 170
Bony pfiff durch die Zähne, und Stug knurrte, ohne die Schnauze aus der bequemen Lage auf den Vorderpfoten zu heben. »Eldred!« sagte Moss triumphierend. »Dick kannte gar keine Ethel. Hat er behauptet. Sagte, das Telegramm wäre von Eldred.« »Er hätte aber zu der Beerdigung heimkommen können«, blieb Bony bei seinem Thema. »Vielleicht hat sich Ayling so geärgert, weil er das nicht tat.« »Muß er wohl. Mir hat Fred gesagt, ich soll mich da nicht einmischen und gar nicht über Dick reden. Als ob Dick sein Eigentum wäre! Ich bin Dicks Freund und Partner, schon seitdem er aus dem Krieg wiedergekommen ist, und reden tue ich, was mir paßt, und soviel ich will. Einige Sachen gibt’s allerdings, über die ich nicht reden werde. Hätte auch mit Ihnen nicht davon gesprochen, wenn ich Sie nicht wie’n Freund ansehen würde, nachdem Sie mit uns sogar über die ›Rutschbahn‹ gefahren sind und Dick mir gesagt hat, Sie wären in Ordnung. Über eins zerbreche ich mir den Kopf: ob Dick damals wirklich über Nacht in Geelong gewesen ist.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Bony, als müsse er gegen diesen Zweifel protestieren. »Weiß selbst nicht recht. Washfold ist an dem Abend nach Anglesea gefahren, und der meinte, er hätte den Wagen von Wessex an der Straße beim Aussichtsplatz am Ehrenmal stehen sehen.« »Das Denkmal liegt auf einem Hügel, von hier aus vor Anglesea, nicht wahr?« »Ja. Ich hatte zu Washfold kein Wort davon gesagt, daß Dick nach Geelong wollte, auch nicht, wann er, nach seinen eigenen Angaben, zurückgekommen ist. Das geht ja Washfold gar nichts an.« »Nein, natürlich nicht. Ist wohl besser, wir reden nicht mehr darüber, wie?« Moss warf Bony einen prüfenden Blick zu, dann nickte er. Ein paar Minuten später verabschiedete sich Bony. Um zehn Uhr am nächsten Morgen saß er in Bolts Wagen, der vor dem Bahnhof in Geelong stand, und beobachtete die aus dem ersten Zug von Melbourne steigenden Passagiere. Nach einer Weile kam, auf telefonische Anforderung, ein Kriminalbeamter zu ihm. »Ja, ich bin Inspektor Bonaparte. Kommen Sie in den Wagen. Was haben Sie zu berichten?« 171
»Daß bis neun Uhr heute früh Waghorn noch nicht gefunden worden ist, Sir«, erwiderte der Beamte, ein schlanker, frischer Mensch mit grauen Augen, dessen größter Vorzug war, daß er nicht nach Polizei aussah. »Waren Sie an den Ermittlungen zum Leuchtturmmord beteiligt?« »Ja, Sir. Ich kenne den Bezirk und die Bewohner, denn ich habe sieben Jahre in Lome als uniformierter Polizeibeamter Dienst getan.« »Also kennen Sie auch die hinter der Bucht wohnenden Familien, die Wessex’, Lakes und Owens?« »Ja, Sir. Bei den Wessex’ auf der Farm bin ich mehr als einmal gewesen, wegen des Sohnes. Vor dem Kriege war das. Eldred ist in den Jahren sechsunddreißig bis neununddreißig zweimal knapp einer Verurteilung entgangen. Seine Eltern wurden schon ganz krank vor Sorgen um ihn. Das alte Lied, Sir: Die Mutter verwöhnt ihn und der Vater ist zu schwach.« »Und Richard Lake, der kürzlich tot vor der Klippe von Split Point gefunden wurde?« »Bißchen flegelhaft vielleicht, aber kein schlechter Kerl. Ein Jammer, daß er so umkommen mußte. Soviel ich weiß, hat er sich an der Front gut bewährt.« »Und Lakes Partner?« »Moss Way. Nichts gegen ihn zu sagen. Verläßlicher Mensch.« »Und Fred Ayling?« »Ein bißchen unstet. Wüßte aber nichts Nachteiliges über ihn, Sir.« »Hm … Sehr nützlich, daß Sie alle diese Leute kennen. Rauchen Sie nur, wenn Sie wollen, ich erkläre Ihnen inzwischen, was ich erledigt haben möchte. Behalten Sie im Gedächtnis, an welchem Tage Fisher die Leiche in der Wandkammer gefunden hat. Am siebenundzwanzigsten Februar, etwa um zwei Uhr nachmittags, kam Lake hier zum Bahnhof, parkte den Wagen, den er sich von Wessex senior geliehen hatte, und wartete auf einen Mann, der mit dem Zug gegen zwei Uhr zwanzig von Melbourne ankommen sollte. Lake trug seinen besten Anzug – ein wichtiger Punkt. Der Freund kam nicht mit dem Zug. Vermutet wird, daß er erst am nächsten Tage gekommen ist und daß Lake die Nacht zum achtundzwanzigsten Februar im Wagen hier gewartet hat. Ferner wird vermutet, daß der 172
Freund mit Lake nach Split Point gefahren ist. Mit dem Freund kann auch noch ein Freund gekommen sein – ebenfalls ein wichtiger Punkt. Da Sie bei allen Lokalwirten in Geelong bekannt sind, möchte ich Sie bitten, Lakes Spuren vom Augenblick seiner Ankunft in Geelong ab zu verfolgen. Sicherlich wird er in dem Café gesessen haben, wo er einkehrte, wenn er mit Moss auf seinen Transportfahrten in die Stadt kam. Zweifellos war er auch auf der Strecke von hier bis zur Ausfahrt von Geelong in bestimmten Hotels. Ich möchte wissen, wann Lake aus Geelong abgefahren ist und ob er von einer Person oder von zweien begleitet wurde. Möglichst eine Beschreibung von ihnen. Sie können diesen Wagen nehmen, ich warte hier in der Nähe auf Sie.« »Wird erledigt, Sir.« Der Kriminalbeamte fuhr ab. Bony kaufte eine Morgenzeitung und suchte sich ein ruhiges Lokal, um eine Tasse Tee zu trinken und etwas zu essen. Als der Beamte bis Mittag noch nicht zurückgekommen war, rief er Bolt an. »Sitzen Sie noch immer fest mit der alten Geschichte?« fragte er freundlich. »Das werden Sie erst erfahren, wenn Sie selbst festsitzen«, knurrte der riesige Oberinspektor in der Ferne auf seinem bequemen Sessel. »Was gibt’s, Bony?« Bony erklärte, daß er von der Polizei in Geelong einen Kriminalbeamten zur Mitarbeit herangezogen habe, und sagte: »Wenn sich dieser in Zivil arbeitende Mann bei seinem Vorgesetzten zurückmeldet, wird der sich für unsere Sache interessieren und sich vielleicht mehr einmischen, als mir erwünscht ist. Geben Sie bitte offiziell die Anweisung, daß ich bei meiner Tätigkeit ungestört bleibe.« »Ja, Sir«, rief Bolt grantig. »Was machen Sie eigentlich in Geelong, zum Donnerkiel?« »Ich folge den Spuren eines Toten«, erwiderte Bony betont feierlich. »Ich lege aber immer noch Wert auf den Waghorn, den ganzen Kerl, gestiefelt und gespornt. Ich weiß, daß Sie ihn mir versprochen haben, aber ein bißchen ungeduldig werde ich nun.« »Wenn Sie ungeduldig werden, Bony, dann müssen Sie wohl krank sein. Na schön, ich werde mit dem Beamten da in Geelong reden. Sehen Sie nur zu, daß Sie nicht in die Tinte geraten. Ihr Chef hat schon mit meinem ein Ferngespräch geführt. Hat auf den Tisch gehauen und 173
ganz ärgerlich angefragt, weshalb Sie für so einen einfachen kleinen Mordfall soviel Zeit brauchen. Ein richtiger Polizist hätte den schon vor Wochen restlos geklärt, meinte er.« »Ein Glück für Sie – und für die Straf Justiz –, daß ich eben kein richtiger Polizist bin«, gab Bony scharf zurück und legte auf. Der Kriminalbeamte aus Geelong kam erst nach drei Uhr wieder. »Habe eine glatte Spur im Hotel ›Belmont‹ gefunden«, berichtete er. »Die beiden Männer, Lake und Wessex, sind dem Wirt und seinem Kellner gut bekannt. Sie kennen wohl das ›Belmont‹. Es ist auf dem Weg von Geelong nach Split Point das letzte Hotel. Der Kellner erinnerte sich, daß Lake etwa zur Zeit des Leuchtturmmordes einmal nachmittags da war, und zwar hat er das behalten, weil er Lake weder vorher noch nachher jemals in einem gepflegten Anzug gesehen hat. Das genaue Datum konnte er nicht zuverlässig angeben, wußte aber, daß es an dem Nachmittag stark und lange geregnet hatte. Es muß demnach der Nachmittag des achtundzwanzigsten Februar gewesen sein, weil es weder am siebenundzwanzigsten Februar noch am ersten, zweiten und dritten März geregnet hat. Ob Lake in Begleitung war, wußte der Mann auch nicht mehr, also ist er vermutlich allein in die Bar gekommen. Drinnen befanden sich allerdings drei Männer, die ihn kannten. Der Kellner konnte mir auch ihre Namen und Adressen geben. Ich habe mit den dreien gesprochen, die sich erinnerten, damals mit Lake getrunken zu haben. Alle bestätigten, daß er allein die Bar betreten und dort auch eine Flasche Kognak gekauft habe, die er in die Manteltasche steckte. Auch wußten sie noch genau, daß Lake nicht mehr als vier Bier getrunken hatte, was ihnen aufgefallen war, weil er sonst nie kleine trank. Einer wußte noch mehr zu erzählen. Die drei hatten Lake vergeblich gebeten, weiter mit ihnen zu zechen, doch er behauptete, er müsse nüchtern bleiben, weil er mit einem Mädchen verabredet sei. Da ist der Betreffende ihm nachgegangen und hat ihm draußen noch zugeredet, wenigstens zu einer Abschiedsrunde wieder hereinzukommen. Er sagt, in dem Wagen, den Lake bestieg, hätten hinten zwei Personen gesessen, anscheinend ein Mann und eine Frau, was er aber nicht genau erkennen konnte, weil die Scheibe schmutzig war. Er hat 174
dann gesehen, daß Lake die Straße in Richtung Anglesea-Split Point nahm.« Bony schwieg eine volle Minute, ehe er dem Kriminalbeamten für seine gute Arbeit dankte. Hier, wo er nur mit einer Sprotte gerechnet hatte, war ihm. ein Walfisch präsentiert worden.
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rei Personen waren also vom Hotel ›Belmont‹ in Richtung Split Point abgefahren. Bony glaubte nicht, daß eine Frau dabeigewesen war. Lake war tot. Seine Begleiter hatten sich sorgfältig vor dem Erkanntwerden geschützt, indem sie hinten im Wagen blieben. Und einer der beiden mußte Eldred Wessex gewesen sein. Der andere, wenn es Thomas Baker gewesen war, lebte nicht mehr. Der im Leuchtturm gefundene verräterische Span vom roten Eukalyptus hatte ein Ergebnis gebracht: keine Fingerabdrücke, aber ›Witterung‹. Es kamen, nach dem Ausscheiden unverdächtiger Personen, für den unfreiwilligen ›Transport‹ des dünnen Holzspans von der Werkstatt zum Leuchtturm nur noch drei Personen in Frage: der Mörder, sein Komplice, oder das Opfer. Da das Opfer nicht mehr befragt werden konnte, blieben nur zwei, nämlich Dick Lake und Eldred Wessex. Einer von ihnen oder beide mußten, unmittelbar bevor der nackte Tote in die Wandkammer gepackt wurde, in Penwardens Werkstatt gewesen sein. Und Penwarden mußte das wissen. Bony überlegte, wie er den alten Schreiner am besten anfassen sollte. Mit den scharfen Waffen des erfahrenen Kriminalisten oder mit der weichen, beschwichtigenden Sprache des Diplomaten? Der Tag war für die Jahreszeit sonnig und warm. Nach dem Mittagessen wanderte Bony mit Stug die große Kurve der Landstraße hinab 175
zu dem Gebäude, in dem Penwarden so meisterlich seine Künste am Holz bewies. »Hallo, verehrter Mr. Rawlings!« begrüßte ihn der Alte. »Kommen Sie ’rein, nehmen Sie Platz und lassen Sie uns klönen.« Er lachte dröhnend. »Meine Alte schimpft dauernd, ich klöne und sie arbeite sich die Finger wund. Haben Sie schon mal die Fingerknochen Ihrer Frau betrachtet?« »Die sind zu gut gepolstert«, antwortete Bony, indem er sich auf seinen Lieblingsplatz am Ende der Hobelbank setzte. »Weiteres über die Blutholzstämme gehört inzwischen?« »Noch nicht. Die Bahn ist hier nicht so fix. Kann glatt ’ne Woche dauern, vielleicht sogar zwei, bis die Sendung in Geelong eintrifft.« Die harten, schwieligen Finger kämmten das lange weiße Haar zurück, die blauen Augen strahlten. »Will Ihnen mal was sagen, Mr. Rawlings: Ich werde Ihnen für Ihr Wohnzimmer ein fein poliertes Wandbord machen. Aus scharlachrotem Holz, aber mit einem Glanz, wie ihn sonst nur das narzissengelbe hat. Und Sie müssen mich und meine Frau einmal zum Tee besuchen, ehe Sie Split Point verlassen, um sich das Stück Treibholz im Kaminsims anzusehen.« »Schönen Dank, das würde ich gern tun.« »Können Sie noch länger Ferien machen?« »Vielleicht eine Woche noch.« Der alte Mann nahm ein Lineal zur Hand und maß ein Verbindungsstück. Er kritzelte Zahlen auf seine Schiefertafel, grübelte eine Weile, machte einen Bleistiftstrich auf das Holz, sägte das überflüssige Stück ab und richtete sich dann auf, indem er Bony so vergnügt anblickte, daß unter dem breiten Lächeln seine Augen ganz klein wurden. »Ich habe ihn schon zusammengesetzt«, sagte er. »Heute vormittag habe ich’s gemacht, aber noch nicht poliert, wohlgemerkt. Man sieht die Fugen noch. Wollen Sie ihn nicht mal ansehen?« »Gewiß«, erwiderte Bony und rutschte von der Hobelbank herunter. »Den Glanz hineinbringen, das erfordert nämlich Zeit«, fuhr Penwarden fort. »Ich beschäftige mich damit gern eine Woche lang täglich ein, zwei Stunden, und dann lasse ich’s acht Tage ganz. Holz hat sein eigenes Wesen. Wenn ein Mensch stirbt, zerfällt sein Leib. Ein toter 176
Baum aber, besonders so ein roter Eukalyptus, zerfällt in Jahrhunderten noch nicht. Der Saft trocknet aus, wenn der Baum abgestorben ist, doch in dem Holz bleibt etwas Lebendiges, das viele Jahre in ihm fortwirkt. Wer an einem Holz glättet und glättet und poliert, der muß es liebhaben, es streicheln und ihm gut zureden, dann hört er nach einer Weile, wenn er aufmerksam horcht, wie das Holz mit ihm spricht, wie eine Katze, wenn sie gestreichelt wird. Sie haben ja den Sarg gesehen, den ich für Mrs. Owen gemacht habe. Der für Sie wird genauso schön aussehen, und für Jahrhunderte werden Sie, so wie ich in meinem, ganz gemütlich liegen. Ich habe ihn im Wohnzimmer stehen.« Bony, der inzwischen seine abergläubische Furcht vor Särgen überwunden hatte und Mr. Penwardens Schöpfungen jetzt in Ruhe zu betrachten vermochte, folgte in angenehmen Erwartungen dem Alten ins Wohnzimmer. »Hier ist er!« rief der alte Mann, als sie, jeder an einer Seite, neben dem auf einem Gestell ruhenden mattroten Sarg standen. »Hier ist er im Werden, ein noch ungeschliffener Edelstein, ein erst glimmendes Feuer, ein noch unerprobter Charakter.« Er hob den an unsichtbaren Scharnieren befestigten Deckel, der genau im Gleichgewicht, senkrecht stehenblieb, und sah Bony mit Augen an, die, vom hohen Alter noch nicht geschwächt, vor Stolz leuchteten. Bony betastete das Holz, das sich seidenweich anfühlte, und mußte an den roten Sand im wahren Herzen Australiens denken, von dem törichte Menschen behaupten, es sei tot. Er klappte den Deckel zu und hörte die Luft entweichen, so exakt paßten die Teile. »Sie müßten sehr stolz auf Ihre Arbeit sein«, sagte er. »Aber das Wort ist falsch, verzeihen Sie. Kunst muß ich sagen, denn Sie sind ein wahrer Künstler.« »Nein, verehrter Mr. Rawlings. Ein guter Handwerker, nichts weiter. Sehr lange habe ich nur an diesem Ort gelebt, habe aber viel gelernt, und die Zeit hat auch mich ganz schön poliert. Diese Arbeit ist gut, das will ich selbst zugeben, doch das Holz muß noch mehr bearbeitet und freundlich behandelt werden, damit wir sein wunderbares Herz erkennen. Machen Sie nur jetzt erst mal eine Anprobe, damit Sie wissen, ob Sie auch bequem liegen. Und später, wenn Sie ihn zu Hause haben, schieben Sie ihn unter Ihr Bett und denken gar nicht an ihn, nur gele177
gentlich mal. Wir brauchen alle einen Mahner, verehrter Mr. Rawlings, und es gibt nichts Besseres als den Anblick eines Sarges, um uns Hochmut und Eitelkeit auszutreiben. Jetzt wollen wir aber erst anprobieren?« »Sie meinen, ich soll mich hineinlegen?« »Nun, um sicherzugehen, daß die Partie für Ihre Hüften und auch im Nacken passend gearbeitet ist. Die Schuhe können Sie ruhig anbehalten, das schadet jetzt noch nichts.« »Also gut«, erklärte Bony sich bereit. Der alte Mann kam ihm vor wie Vater Chronos, das Lineal in seiner Hand war die Sense des Zeitgotts. Bony legte sich zurecht, Penwarden zog ihm die Beine gerade und schob die Füße dicht zusammen. »Aha«, flüsterte der Künstler Penwarden. »Ihre Länge habe ich doch richtig geschätzt. Na, wie ist die Lage von Kopf und Nacken? Sagen Sie’s ehrlich. Wir müssen sehen, daß er wirklich schön bequem paßt.« »Hier an der Krümmung für den Nacken könnte noch ein bißchen abgenommen werden«, stellte Bony fest, indem er sich hinsetzte, um zu zeigen, wo die Halsstütze gedrückt hatte. »Recht haben Sie!« rief der Alte. »Ein paar leichte Späne, dann ist’s in Ordnung. Noch mal hinlegen bitte, wir müssen die Rückenlage prüfen.« »Scheint mir da ganz bequem«, sagte Bony, indem er sich lässig langlegte. »Ja, recht gut so. Ich muß wirklich sagen« – er vollendete den Satz noch, bevor sein Gehirn auf das Zuschlagen des Deckels reagierte –, »daß Sie ein guter Handwerker sind.« Ein Zufall natürlich! Der Deckel mußte gleich wieder geöffnet werden. Als das nicht geschah, hob er die Hände, um ihn hochzudrücken. Es gelang ihm auch, doch nur ein paar Millimeter. »Mr. Penwarden!« rief er und stemmte auch die Knie gegen den Deckel, konnte ihn aber nicht höherdrücken. »Mr. Penwarden, machen Sie auf!« Er entspannte die Muskeln in Armen und Beinen: Der Deckel sank herab, die zusammengedrückte Luft entwich zischend, wie Dampf aus einem Zylinder. Die Schwärze und die Enge des Grabes umfingen ihn. Ein gewaltiger Schrei ließ seine Trommelfelle erbeben, und er erschrak, daß es seine eigene Stimme war. Mit aller Körperkraft drückte er 178
wieder gegen den Deckel, der sich, wie vorher, nur ganz wenig heben ließ. »Penwarden! Penwarden, lassen Sie mich ’raus!« schrie er. »Das ist kein Scherz mehr. Hören Sie nicht? Lassen Sie mich sofort ’raus!« »So, verehrter Mr. Rawlings, es ist jetzt wirklich kein Scherz mehr!« Die Stimme klang so fern und doch ganz grell in seinem rechten Ohr. Er hielt krampfhaft den Deckel in der erreichten Stellung und hörte das Kratzen eines kleinen Keils. Seine Gedanken arbeiteten kühl, aber sein Körper zitterte heftig. Wieder schlug die Stimme an sein Ohr. »Wie wir uns soeben geeinigt haben: Dies ist kein Scherz.« »Also, lassen Sie mich jetzt ’raus, Mr. Penwarden«, rief Bony und war entsetzt über die Angst, die in seiner Stimme schwang. »Sehen Sie, Mr. Rawlings, die Sache ist doch folgendermaßen«, fuhr der alte Mann draußen fort: »Ich habe Sie für einen Gast auf Split Point gehalten, einen netten Herrn, der hier Ferien macht. Mochte Sie gut leiden und habe gern mit Ihnen geklönt. Aber Sie sind nicht, was Sie vorgeben. Sie sind nach Split Point gekommen, um Leuten, die schon genug Not und Sorgen haben, noch mehr Schwierigkeiten zu machen. Was getan wurde, ist nicht zu ändern, und was vorbei ist, ist vorbei, aber Sie, Mr. Rawlings, haben die Absicht, noch Kummer und Ärgernis zu schaffen, wo es schon genug Kummer gibt.« »Was soll das heißen, zum Teufel?« rief Bony, der fühlte, daß ihn jetzt nur Worte retten konnten – die richtigen Worte. »Übeltäter treten in die Fährten von Übeltätern. Ich verlasse Sie jetzt für ein Weilchen, Mr. Rawlings, nur für ein Weilchen. Den Deckel lasse ich so verkeilt, damit Sie Luft bekommen können und die Gelegenheit wahrnehmen, um Ihren Frieden mit dem Ewigen zu machen. Weiter können Sie den Deckel nicht anheben, er sitzt unverrückbar fest. Und Ihr Schreien wird niemand hören – außer dem Ewigen da oben –« »Was haben Sie vor?« schrie Bony. »Ich habe Ihnen nichts Unrechtes getan. Lassen Sie mich sofort frei!« »Wir wissen über den Mann in der Leuchtturmwand genau Bescheid, Mr. Rawlings. Wir wissen, was er Eldred Wessex getan und was dieser ihm getan hat. Wir wissen auch, daß Sie hierher gekommen sind, um festzustellen, was dem Mann passiert ist und wer ihn getötet hat, damit Sie die Eltern des armen Eldred zwingen können, Ihnen zu sagen, wo er ist.« 179
Bony verlangte weiter seine sofortige Befreiung, obwohl er wußte, daß seine Rufe verzweifelt verklangen. »Wir wissen«, fuhr Penwarden fort, »daß Sie in die Höhle unter der Klippe gegangen sind und dort etwas gefunden haben. Sie sind hergekommen, um Eldreds Vater und Mutter zu erpressen, gnadenlos. So sollen auch Sie gnadenlos behandelt werden. In Ihrem Sarg sollen Sie sterben und auf immer und ewig begraben werden.« In der Stimme des alten Mannes klang kein Triumph mit, aber sie klang auch nicht wie die eines Geistesgestörten, sondern war hart, und die Aussprache deutlich. Ohne Erregung, aber unerbittlich fest. Bony sagte, sich mühsam beherrschend: »Jetzt hören Sie mir mal zu, Mr. Penwarden. Ich bin mit dem Toten vom Turm nicht persönlich verbunden, sondern bin Kriminalbeamter und will den Mord an einem gewissen Thomas Baker aufklären. Ich bin Kriminalinspektor Napoleon Bonaparte. Sie dürfen nicht vergessen, daß mein Freund, der Ihnen telegrafisch die Absendung der Stämme mitgeteilt hat, auch sagte, Sie sollten seinen Freund Bony grüßen.« Das Echo seiner Stimme im Sarge erstarb in der muffigen Enge. Ungestörte Stille herrschte wieder, und Bony dachte, der Alte müsse fortgegangen sein. Trotzdem sagte er, so schnell er sprechen konnte: »Ich weiß, daß Dick Lake mit dem Verbrechen zu tun gehabt hat. Oberwachtmeister Staley und ich haben den Revolver zwischen seinen Sachen gefunden, die Waffe, mit der Baker erschossen wurde. Die Fachleute im Polizeipräsidium haben sie untersucht: Das aus der Leiche entfernte Geschoß wurde unzweifelhaft aus diesem Revolver abgefeuert. Wenn Sie mich töten, Penwarden, werden andere Polizeibeamte kommen und nach mir forschen, indem sie da ansetzen, wo ich aufgehört habe. Sie werden Dicks Eltern von dem Revolver berichten und ihnen sagen, daß ihr Sohn Thomas Baker erschossen hat. Das können Sie nicht verhindern, Mr. Penwarden. Sie sind nicht fähig, die Justiz aufzuhalten, wenn ihr Räderwerk erst in Bewegung gesetzt ist.« Wieder verwehten seine Worte, wieder trat das schreckliche Schweigen ein. Diesmal zerbrach es ein jammervoller Aufschrei. Der Deckel hob sich, Tageslicht fiel grell auf Bony, das süße Aroma der Holzspäne fegte wie ein reinigender Besen durch die Gänge seines gequälten Gehirns. Arme griffen ihm unter die Achseln, hoben ihn hoch und halfen ihm aus dem Sarg. Seine Beine waren wie gelähmt, sein Atem 180
rasselte laut. Die Arme des Greises, noch stark, und stärker noch durch die Erregung, halfen ihm weiter bis zur Wand, wo sie ihn, als er niedersank, mit dem Rücken sanft anlehnten. Der alte Penwarden fiel vor Bony auf die Knie, er stützte die Hände auf den Fußboden. In seinen blauen Augen war das Entsetzen ebenso deutlich zu lesen, wie es aus den blauen Augen Bonapartes noch sprach. Seine Stimme war heiser und schwach, sie klang wie das Rascheln des Windes in einem Binsendickicht. »Mr. Rawlings! Sir! Inspektor Bonaparte! Mr. Rawlings! Ich wußte das ja nicht! Habe mich geirrt, wirklich nur geirrt! Werden Sie wieder ruhig, Mr.- Rawlings. Erst wieder ruhig werden, ja?«
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ony erholte sich schneller. Er half Penwarden auf die Beine. Als er das Beben des Greisenkörpers spürte, erfaßte ihn Sorge, daß ein Herzschlag den alten Meister treffen und – ihm eine wichtige Informationsquelle rauben könne. »Wir wollen zur Werkstatt ’rübergehen und alles besprechen sagte er. Er mußte den alten Mann bis zu der Kiste vor der Hobelbank führen. Nachdem er ihn hingesetzt hatte, gab er ihm vom Wandbrett seine Pfeife und die Tabaksdose und setzte sich wieder auf die Hobelbank. Seine zitternden Finger zur Ruhe zwingend, drehte er sich eine Zigarette. »Nicht aufregen, Mr. Penwarden«, redete er dem Alten zu, der mit gesenktem Kopf seine auf den Knien liegenden Hände anstarrte. »Ich bin tatsächlich ein Kriminalinspektor, der den Tod des Mannes im Leuchtturm aufklären soll, aber Sie haben wohl etwas ganz anderes in mir vermutet.« »So war es, verehrter Mr. Rawlings.« Penwarden langte nach Pfeife und Tabak. Seine Hand zitterte heftig. »Es tut mir wirklich leid, daß 181
ich mich geirrt habe, und ich bin sehr froh, daß mein Irrtum kein böses Ende genommen hat – für uns beide. Was wollen Sie nun gegen mich unternehmen?« »Nachdem Sie Ihren Irrtum zugegeben haben und er keine schlimmen Folgen gehabt hat, nichts. Wir wollen den kleinen Zwischenfall vergessen und uns auf wichtigere Fragen konzentrieren. Jetzt zünden Sie schön Ihre Pfeife an und beruhigen sich. Wie Sie mir das selbst geraten haben – nicht aufregen, nur langsam.« »Sie sind sehr freundlich zu mir, verehrter Mr. Rawlings. Was ich getan habe, galt einem anderen. Jetzt sehe ich ein, was für ein alter Esel ich war. Herrjeh! Es ist traurig, daß der Herr die züchtigt, die er liebhat, und wenn Sie ihnen möglichst viel ersparen, dann werden Sie bestimmt im Jenseits belohnt werden.« »Wenn Sie die Unschuldigen meinen, Mr. Penwarden, da kenne ich viele Fälle, in denen die Polizei sich alle Mühe gegeben hat, die Leiden unschuldig in eine Sache verwickelter Menschen zu mildern«, erklärte Bony ihm ruhig. »Auch wir von der Polizei sind Menschen wie die andern, sind Väter, Söhne und Brüder. Wir sorgen für die Einhaltung der Gesetze und versuchen das unparteiisch zu tun, und je älter wir werden, um so mehr neigen wir zum Mitgefühl, sogar beim Verbrecher, der ja im Grunde ein Mensch mit krankem Verstand ist.« Penwarden paffte, ohne zu sprechen, mächtig an seiner Pfeife. Nach einer Weile legte er sie auf die Hobelbank und seufzte schwer. Das beinah faltenlose Gesicht bekam langsam wieder seine rosige Farbe, die Hände bewegten sich nicht mehr so fahrig. Bony wartete geduldig, er empfand keinen Zorn mehr gegen den Alten, der jetzt zu reden begann. »Fred Ayling war es, der mir erzählte, daß Sie ihre alte Höhle gefunden hätten. Und er meinte, Sie müßten ein Freund von dem Toten im Turm sein. Dieser Mann hatte Eldred Wessex in den Klauen. Fred warnte mich vor Ihnen. Ich überlegte mir, was er alles gesagt hatte. Es mußte stimmen. Zufällig sah ich Sie neulich abends zu Moss ins Camp gehen. Ich schlich an seine Hütte und hörte Ihr Gespräch mit ihm. Sie haben ihn geschickt ausgehorcht, und jetzt erst verstehe ich recht Ihre Aufgabe. Nun bin ich sehr traurig, Sie so erschreckt zu haben, Mr. Rawlings! 182
Ich muß einmal weit zurückgreifen, bis in die Zeit, als ich hierher kam, ein junger Kerl, der nichts besaß, aber zupacken konnte. Damals war Eli Wessex ein kleiner Junge und Tom Owen noch gar nicht geboren. Kein Mensch hier in der Gegend war sonderlich wohlhabend, eine Reise nach Melbourne galt als großes Unternehmen. Nach und nach heirateten wir, setzten Kinder in die Welt, aber nie hatten wir Streit miteinander wie fast überall die Nachbarn. Als Dick Lakes Großeltern hierher kamen, halfen wir ihnen beim Einrichten ihrer Farm. Als die Owens abbrannten, bauten wir mit ihnen wieder auf. Als Dicks Vater sich das Bein brach, beaufsichtigte Tom Owen seine Jungen und hielt sie zur Arbeit an. Wir taten alle unser Bestes, um uns ehrlich und gottesfürchtig durchs Leben zu schlagen. Der Vater von Eli Wessex hat mir dann zu der Werkstatt für Wagenbau und Sargbau verhelfen: Er lieh mir hundert Pfund, und als ich in die Lage gekommen war, das Darlehen zurückzuzahlen, war er tot. Eli wollte das Geld nicht annehmen. Er strich die Schuld einfach aus und sagte, ich hätte sie durch Arbeit längst beglichen. Meine Söhne waren schon vor Eldred, Dick und Fred Ayling erwachsen, und Eli nahm sie oft zu sich, las ihnen vor, unterhielt sich mit ihnen und setzte sie sozusagen fest auf die Beine. Das haben sie ihm bis heute nicht vergessen. Als Eldred, Dick und Fred groß wurden, sorgte Eli für sie ebenso wie für meine Söhne. Mit jungen Leuten ist es immer dasselbe, in jeder Generation. Genau wie bei den jungen Pferden: Sie wollen sich wichtig machen, wollen schon die Erwachsenen spielen, ehe sie einen Bart kriegen. Wenn der erst lang genug zum Rasieren ist, werden sie meistens schon ruhiger und vernünftiger. Bei meinen war’s jedenfalls so, auch bei Dick in seiner Art, und bei Fred Ayling schließlich auch. Der Eldred aber wurde nie vernünftig, er blieb ewig der Angeber und Wichtigtuer und ließ sich von seinem Vater überhaupt nicht erziehen. Vor dem Kriege kam mehr als einmal die Polizei und suchte ihn. Sie warnte seine Eltern, daß er ins Gefängnis käme, wenn er sich nicht bald änderte. Wir dachten alle, beim Militär würden sie ihn kleinkriegen. Er ist nach dem Krieg gar nicht nach Amerika gegangen, aber auch kein einziges Mal nach Hause gekommen. Sagte immer, er wollte erst kommen, wenn er ein besserer Mensch geworden wäre. Ich weiß aber, 183
daß er sich nicht gebessert hat, denn er bat mich brieflich um Geld, wovon ich seinen Eltern nichts sagen durfte. Ich schickte ihm das Geld nach Sydney. War übrigens nicht wenig. Zwei Monate später schrieb er schon wieder um Geld, und ich schickte ihm auch das, weil ich an die hundert Pfund dachte, die ich seinem Großvater nicht zurückgezahlt hatte. Als er dann noch einmal Geld verlangte, lehnte ich ab. Erst kürzlich habe ich gehört, daß auch seine Mutter ihm häufig Geld schikken mußte, und sogar Dick. Dann kam eines Morgens Dick hier ’rein und erzählte mir, Eldred käme nach Hause. Er hatte ein Telegramm von ihm, das seine Ankunft in Geelong für denselben Tag meldete. Dick wollte ihn abholen und ihn ganz überraschend zu den Eltern bringen. Er hatte sich von Eli den Wagen geliehen, kam aber an dem Tage nicht wieder, und am nächsten erst um zehn Uhr abends. Er klopfte bei uns an die Haustür, ich rief ›Herein‹. Meine Frau schlief schon. Na, da sagte mir Dick, er müßte mich unter vier Augen sprechen, ich möchte doch mit ihm zur Werkstatt gehen. Ich nahm eine Sturmlaterne, und wir gingen her. Hier auf die Hobelbank habe ich die Laterne gesetzt, und Dick stand neben mir. Da höre ich hinter uns ein Geräusch, drehe mich um, und wer steht da? – Eldred. Eldred, wie ich ihn im Gedächtnis hatte, und doch ganz anders. Älter geworden natürlich, aber ganz bleich im Gesicht. Sein Mund war schiefgezogen, und in beiden Backen zuckte es, als wenn er epileptisch wäre. Ich sehe ihn an, er sieht mich an, wir sagen beide keinen Ton. Schließlich sagt Dick: ›Eldred und ich, wir sitzen in der Klemme. Darüber möchten wir gern mit dir sprechen, Ed, wie in der Kinderzeit. Diesmal ist’s aber eine ernste Sache. Eldred ist vollkommen erledigt, und ich kann einfach nicht mehr klar denken. Es ist ganz schlimm, Ed.‹ Dick war nicht so frisch wie sonst, er sah aus wie ein kleiner Junge, wenn ich ihn aus bedrängter Lage befreite. Ich bekam Angst, als ich ihn sah. Er stand stur da und wiederholte immerzu dasselbe. Ich verstand nicht, was er redete, und empfand sowieso kein Bedauern für ihn. Ich ging an die Tür und schloß zu. Dann machte ich das Licht bei der Hobelbank aus, damit keiner merkte, daß wir hier waren, und forderte Dick auf, mir zu sagen, was ihn bedrückte.« 184
Penwarden zündete seine Pfeife an, wobei ihm die Hände so zitterten wie vorher, als er Bony aus dem Sarg geholfen hatte. Das Rauchen regte aber diesmal sein Gedächtnis nicht an. Er legte die Pfeife wieder beiseite. »Eldred steigt in Geelong aus dem Zug, aber erst spät nachmittags, als Dick schon einen Tag und die Nacht vor der Station gewartet hat. Er sieht ihn aus dem Bahnhof kommen und geht ihm entgegen. Eldred ist aufgeregt und überfällt ihn gleich mit Fragen. Dick sagt ihm, daß er mit Elis Wagen gekommen ist. Schön, sie steigen ein, und kurz bevor sie abfahren, tritt ein Fremder auf Dick zu und sagt: ›Ich will mit Eldred fahren. Habe ein kleines Geschäft klarzustellen.‹ Dick sieht Eldred fragend an, und der nickt. So steigt der Fremde hinten zu ihm ein. Sie reden gar nichts, und Dick fährt durch die Stadt. Beim Hotel ›Belmont‹ hält er an, um ein Glas zu trinken. Die andern wollen nicht aussteigen, und Eldred will noch verhindern, daß Dick in das Lokal geht, aber der ist ärgerlich und setzt seinen Kopf durch. Er kauft sich drin auch eine Flasche Kognak, geht wieder zum Wagen und fährt mit den beiden nach Split Point. Auf dem ganzen Weg bis Anglesea reden Eldred und der Fremde kein Wort, und als sie oben auf dem Berg beim Kriegerdenkmal sind, fährt Dick an den Straßenrand, hält an und sagt, er will nicht weiterfahren, bis er genau weiß, was los ist. Inzwischen ist es dunkel geworden. Dick, der seit dem Frühstück nichts gegessen hat, hätte lieber die Flasche Schnaps nicht aufmachen sollen. Aber die Flasche geht rund, und Eldred sagt, der Unbekannte bilde sich ein, ihn in der Zange zu haben. Und der behauptet, er hätte ihn sogar ganz fest in der Zange. Eldred solle ihm gefälligst die geliehenen vierhundert Pfund sofort wiedergeben, sonst würde er zu seinem Vater gehen und alles erzählen. Dann erklärte er Dick, daß Eldred mit ihm Geschäfte gemacht hat, Rauschgift gehandelt, Perlen geschmuggelt und so was. Eldred sei von Sydney ausgerückt, um sich vor der Rückzahlung zu drücken. Na, sie geraten da oben am Denkmal in hitzigen Streit. Als Eldred alles zugibt, behauptet der Fremde von ihm noch ganz andere Sachen, die schlimmer sind als Schmuggel mit Kokain. Dick sagt, es wäre am besten, wenn er sie beide gleich wieder nach Geelong brächte. Er will mit ihnen nichts mehr zu tun haben und nicht mit ihnen bei Eldreds 185
Eltern erscheinen. Aber der Fremde protestiert. Er sagt, zu Eldreds Vater ginge er auf jeden Fall, wenn er nicht sofort seine vierhundert Pfund bekäme. Sie streiten sich immer heftiger, bis Eldred plötzlich zu dem Fremden sagt, er soll sich aus dem Wagen scheren, sonst würde er ihm den Schädel einschlagen. Der steigt aus, und Eldred auch. Er gibt dem andern einen Schlag in den Magen, daß er umsackt. Dick kann ihn im schwachen Schein des Rücklichts liegen sehen, und Eldred sieht er auch, aber nicht ganz. Und kaum liegt der Fremde auf dem Rücken, da erschießt Eldred ihn. Wie der Blitz ist Dick aus dem Wagen, und es gelingt ihm gerade noch, Eldred, der noch mal schießen will, den Revolver aus der Hand zu drehen. Als er sich über den Fremden beugt, ist der schon tot. Ein Mord … Sie setzen sich auf das Trittbrett des Wagens, zu ihren Füßen liegt der Tote. Eldred weint, und Dick weiß nicht, was er machen soll. Er denkt an Eldreds Vater und Mutter. Und an die hat er vor allem gedacht, als er mir diese Vorgänge erklärte. Im Dunkeln haben wir da lange gesessen und lange geschwiegen«, fuhr Penwarden fort. »Ein paarmal hat Dick mich gefragt, was er machen sollte, und Eldred jammerte immer wieder, er sei unschuldig, er hätte doch gar nicht schießen wollen. Und ich selbst, ich marterte dauernd meinen Kopf, was es da für Auswege geben könnte. Aber das, was ich Dick geraten habe, kann ich auch jetzt nicht mehr bedauern, nachdem Sie mich aufgeklärt haben, verehrter Mr. Rawlings. Um was ging’s denn? Stellen Sie sich den Eldred vor: ein verlotterter Taugenichts, in dem der Teufel steckt, so daß er seiner Familie immer nur Sorgen und Sorgen gemacht hat. Dann der Fremde, auch ein Taugenichts, ein kalter Geschäftemacher, mit seinen bösen Rauschgiften ein Seelenverderber. Und Eli Wessex, ein fast hilfloser Mensch, der immerfort, ob er sitzt, ob er liegt, nur grübeln kann und ewig vom Kummer gequält wird. Und seine Frau, die sich nie geschont und ihren einzigen Sohn immer mit Liebe überschüttet hat. Die durften von dem Mord nichts erfahren, das durfte nicht sein! Und nur Dick und ich konnten dafür sorgen, daß sie’s nicht erfuhren. Was nützte es, wenn ich Eldred Vorwürfe machte? Dem etwas zu sagen hatte überhaupt keinen Zweck. Der ist erledigt. Er hat sich selbst erledigt. Wenn er nicht den Rauschgiftschmuggler erschossen hätte, 186
wäre er an einem anderen zum Mörder geworden. Ich habe ihm und Dick klipp und klar gesagt: ›Ihr braucht nicht zu denken, daß ihr die Leiche loswerdet. Bringt ihr sie in Fred Aylings Camp, so würde der sie schon begraben, wo sie nie gefunden wird. Aber erstens könnt ihr nicht unbemerkt bei Lakes am Haus vorbeifahren, denn eines von den Kindern hört bestimmt den Wagen, und dann müßtet ihr anhalten, und zweitens wollen wir Fred nicht in die Geschichte hineinziehen. In eurer Piratenhöhle liegen doch, wie ihr mir mal vor langer Zeit gesagt habt, Nachschlüssel für die Leuchtturmtüren. Die muß einer von euch holen. Dann fahrt ihr den Toten an die Bucht und tragt ihn von da zum Turm hinauf. Es geht schon gegen Mitternacht, und bei solchem Regen ist nachts sicher kein Mensch unterwegs. Ihr zieht den Toten aus, vollkommen nackt, dann bringt ihr ihn in den Leuchtturm. Bis zur nächsten Inspektion dauert’s noch zwei Monate, und wenn ihr ihn in die Wandkammer packt, wird er vielleicht auch dann noch nicht gefunden. Alle seine Sachen tragt ihr in eure alte Höhle. Bis jetzt hat die außer euch, seit eurer Kinderzeit, noch keiner gefunden, und so wird sie wohl auch jetzt niemand entdecken.‹ Na, Dick findet den Plan gut, und sie wollen ihn ausführen. Eldred wird plötzlich nett zu mir, als wären wir die dicksten Freunde, aber das gewöhne ich ihm gleich ab. Ich sage ihm, daß Dick ihn nach Geelong zurückfahren soll, sobald der Tote und seine Sachen sicher versteckt sind. Er soll sich fortscheren, so weit fort wie möglich, und sich nicht wieder blicken lassen. Eldred will aber seine Eltern wiedersehen, ehe er von Split Point verschwindet. Ich sage ihm, das gibt’s nicht. Wenn er in sein Elternhaus ginge oder später jemals wieder nach Split Point käme, würde ich ihn der Polizei melden. Er will noch mit mir streiten und meint, wenn der Tote und sein Zeug so versteckt wären, wie ich’s wollte, könne er doch ruhig seine Eltern besuchen. Ich wiederhole, daß es bei dem bleibt, was ich gesagt habe, und Dick sagt ihm auch, daß es keine andere Lösung gibt. Wir lassen mit uns nicht mehr reden, bis er sich endlich fügt. Ich erkläre ihnen noch einmal den Plan, und Dick sagt, er weiß genau, wie’s gemacht werden muß. Er ist beinah wieder wie früher, hat mehr Zuversicht, aber Eldred ist so wehleidig, daß ich mir sage: Dick wird doch alles allein machen müssen. Im Dunkeln krame ich für ihn ein leichtes Seil hervor, denn kein Mensch kann in die Höhle hin187
abklettern, ohne mit beiden Händen zuzufassen. Ohne wieder Licht zu machen, lasse ich die zwei aus der Werkstatt und warte noch fünf Minuten. Als ich nach Hause gehe, ist es zehn Minuten nach ein Uhr.« Der alte Mann hörte zu reden auf, und Bony wartete, stumm seine Spannung andeutend, auf die Fortsetzung. Aber Penwarden steckte erst wieder die Pfeife an, und jetzt war er ruhig genug, um wirklich zu rauchen. Bony hatte Zeit, sich noch eine Zigarette zu drehen, bevor der alte Mann weitersprach. »Nach dieser Nacht habe ich Dick eine Woche nicht gesehen. Und ausgerechnet in der Woche mußte der Ingenieur unerwartet in den Turm kommen und den Toten finden! Mord drängt ans Tageslicht, verehrter Mr. Rawlings. An diesen Spruch hätte ich denken sollen. Na, jedenfalls kam Dick dann und erzählte mir, er hätte Eldred nach Ballarat gefahren, und dort wollte ihn ein Lastzugführer auf seinem Wagen bis nach Adelaide mitnehmen. Das wäre alles!« »Aber was hat Fred Ayling eigentlich mit der Sache zu schaffen?« fragte Bony. Der alte Mann seufzte. »Dick mußte sich ihm anvertrauen. Er hat vor ihm sein Leben lang kein Geheimnis gehabt. Fred kam dann mit ihm hierher, um zu besprechen, was mit der Kleidung und dem Gepäck des Toten geschehen sollte. Er sagte, Dick müsse die Sachen holen, die er dann mit in sein Camp nehmen und dort vollständig vernichten wollte. Aber noch nicht gleich, sondern erst, wenn die Polizei den Fall aufgegeben und die Gegend verlassen hätte. Dick stimmte mir zu, als ich erklärte, die Sachen seien am jetzigen Ort absolut in Sicherheit. Aber dem war nicht so, Mr. Rawlings, denn Sie fanden ja die Höhle. Mary Wessex sah Sie hinuntersteigen. Sie hat das nachher Fred erzählt und ihm gesagt, daß sie Ihnen mit einem Stein einen Schlag auf den Kopf gegeben hätte. Fred sprach wieder mit Dick, er müßte jetzt die Sachen holen, wenn Sie die liegengelassen hätten. Freilich meinte er nicht, daß Dick ausgerechnet in der Nacht gehen sollte, als es in Strömen regnete. Ich wußte von dieser Besprechung nichts, bis vorgestern, als Fred zu mir kam und mir das anvertraute. Er meinte, Sie sähen nicht wie ein Kriminalbeamter aus, wären aber gewiß ein Komplice des Toten und wollten feststellen, was dem passiert war.« »Wußte Mary Wessex von dem Mord?« 188
»Nein. Aber sie wußte von den Sachen, die in der Höhle lagen, und war, ohne daß Dick es ahnte, mehrmals in der Höhle gewesen. Zufällig sah er sie einmal, als sie hinwollte. Gerade zu der Zeit waren Sie unten am Strand. Er wußte also: Wenn Mary hinabkletterte, hätten Sie das gesehen und wahrscheinlich nachher die Höhle entdeckt. Deshalb hat er Mary mit Gewalt gehindert. Owen erschien auch auf der Klippe, weil er Mary suchte, aber er kam ein bißchen zu spät, so daß er nicht mehr zu helfen brauchte.« Bony blickte dem Alten prüfend in die jetzt nicht so strahlend blauen Augen und fragte langsam: »Sind Sie überzeugt, daß Eldred – Ihrer Anordnung gemäß – seine Eltern nicht besucht hat?« »Ja, das bin ich. Dick hat mir die Wahrheit gesagt: Eldred ist, seitdem er ihn nach Ballarat gebracht hat, nicht wieder hergekommen.« »Wie erklären Sie sich, daß auf dem Treppengeländer im Leuchtturm Fingerabdrücke des Toten festgestellt wurden?« »Dick sagte – Dick sagte … Er erzählte mir, was sie mit dem Toten gemacht hatten. Als er ihn die Treppe ’rauftrug, hätte Eldred die Hand des Toten gepackt und sie auf das Geländer gepreßt, um die Sache zu verwirren, wenn die Leiche gefunden wurde.« »Also konnte Eldred in der Beziehung doch ganz nüchtern denken.« »Scheint so, ja«, bestätigte Penwarden. »Sie jedenfalls hatten in jener Nacht bestimmt sehr klare Gedanken. Aber sagen Sie mir: Was hätten Sie mit mir angefangen, wenn ich in dem Sarg gestorben wäre?« Langsam erhob sich Penwarden, ein Bild größter Verlegenheit. »Hm – ich, wissen Sie – ich kann’s wirklich nicht sagen, verehrter Mr. Rawlings. So weit hatte ich noch nicht gedacht. Ich war mir noch nicht mal klar, was ich überhaupt gegen Sie unternehmen sollte, bis – bis es mir bei der Anprobe einfiel.«
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on der heiteren, unermüdlichen Mrs. Washfold betreut, speiste Bony im Hotel einsam und feierlich. Da die Wirtin sich gern in seiner Nähe aufzuhalten schien, fragte er sie, ob Fred Ayling in sein Camp zurückgekehrt sei. Er erfuhr, daß der Holzfäller zur Zeit bei der Familie Wessex wohne. »Ich habe für den nie viel übrig gehabt, Mr. Rawlings«, fügte sie hinzu. »Der ist mir zu mürrisch. Heute himmelhoch jauchzend, morgen zu Tode betrübt. Auch was er so über Sie redet, gefällt mir nicht. Einmal lobt er Sie über den grünen Klee, und dann macht er Sie wieder schlecht. Hat freilich nichts zu bedeuten, das ist eben sein Charakter.« »Ja, ich hatte schon immer das Gefühl, daß er so ist«, gab Bony zu. »In welcher Beziehung hat er mich denn schlecht gemacht?« »Ach, Sie wissen doch, wie diese Leute auf dem Lande oft sind – mißtrauisch und so. Wenn die nicht genau erfahren können, was ein Fremder treibt oder wieviel Geld er auf der Bank hat, dann phantasieren sie sich was zusammen. Immer nehmen sie es einem Menschen übel, wenn er sich natürlich gibt. Fred kann nicht begreifen, warum Sie so einen alten Wagen fahren, wenn Sie Schafzüchter sind und der Wollpreis auf über hundert Pfund pro Ballen steht. Er kann auch nicht begreifen, daß ein Mann im Winter auf Erholungsreise geht. Kann dies und jenes nicht begreifen, also muß er sich einbilden, Sie wären ein Detektiv oder ein verkappter Gangster aus der Großstadt. Kümmern Sie sich nicht um ihn, Mr. Rawlings.« »Selbstverständlich nicht, Mrs. Washfold. Aber meiner Frau muß ich das erzählen, die wird dann sagen, sie hätte es lieber, ich wäre ein Detektiv, weil ich dann romantisch reden könnte anstatt nur über Wolle und Steuern.« 190
Nach dem Essen saß Bony auf der Veranda und überlegte seine nächsten Schachzüge. Penwarden, der ihm vormittags viel zu denken gegeben hatte, war gewiß kein Heuchler. Ein unverdorbener Mensch, wie man ihn nur selten findet. Bony war überzeugt, daß Penwarden ihm die Wahrheit gesagt hatte – soweit sie ihm selbst bekannt war –, aber war das, was er wußte, auch die ganze Wahrheit? Er bezweifelte nämlich, daß Lake den jungen Wessex nach Ballarat gefahren hatte. Wenn das stimmte und Eldred sich so weit wie möglich entfernt hatte, weshalb sollte dann Lake den gefährlichen Abstieg zur Höhle gewagt haben, um die Sachen des Toten zu holen? Und weshalb hatte Ayling dem alten Penwarden das Märchen aufgebunden, Bony sei ein Komplice des Getöteten? Hätte es, wenn Eldred Wessex tausend oder zehntausend Meilen entfernt war, eine große Rolle gespielt, ob ein Kriminalbeamter die Sachen des Toten fand oder nicht? Die Kleidung und der Handkoffer hatten Bony weniger Aufschlüsse gegeben als Lakes Tod. Ayling hatte Penwarden gewarnt, sich mit dem Fremden, dem Mr. Rawlings, zu unterhalten, und Ayling, der im Krieg bei der Marine gedient hatte, war gewiß nicht so naiv, ihn, Bony, für den Komplicen eines Verbrechers zu halten. Er hatte versucht, die Washfolds gegen ihn aufzubringen, und hatte, mit geringem Erfolg, auch Moss Way vor ihm gewarnt. Dieses Verhalten sprach mehr für die Wahrscheinlichkeit, daß Eldred Wessex versteckt auf der Farm seines Vaters lebte, oder bei Sweet Fairy Ann bei Fred Ayling. Wenn das zutraf, war kaum anzunehmen, daß diese Tatsache einem Freund und Nachbarn wie Penwarden ausdrücklich mitgeteilt wurde, nachdem dieser schon so viel getan hatte, um die Schande der Familie zu verbergen. Jetzt mußte Ayling aufs Korn genommen werden. Da mit dem Mann schwer umzugehen war, suchte Bony zuerst Bert Washfold auf und sagte ihm, er habe die Absicht, Eli Wessex zu besuchen, werde aber wahrscheinlich zum Abendessen wieder zurück sein. Er traf noch eine, bei ihm sonst kaum übliche Vorsichtsmaßnahme: Aus seinem Koffer ließ er eine kleine Pistole in die Tasche gleiten. Da er zu Fuß ging, schloß Stug sich ihm an. Als er an Penwardens Werkstatt vorbeikam, sah er, daß die Tür geschlossen war – eine interessante Feststellung, denn es war zehn 191
Minuten nach zwei. Eine Stunde später hatte er die Biegung der Landstraße passiert und sah vor sich das Tor zu Wessex’ Farm. Vor dem Tor stand Aylings alter Wagen, in Fahrtrichtung zum Gebirge. Am Tor erschienen gerade Mary Wessex und Fred Ayling. Er trug einen Koffer und über der Schulter, wie einen Regenmantel, mehrere graue Wolldecken. Hinter einem Baum versteckt, beobachtete Bony, wie er die Decken und den Koffer hinten im Wagen verstaute, nach vorn ging und den Motor ankurbelte. Dann fiel ihm auf, daß das Mädchen nicht in den Wagen einsteigen wollte und die beiden darüber lange debattierten, bis schließlich Ayling ihr nachgab, indem er nickte, worauf das Mädchen die Straße verließ und gegenüber von der Farm in den Wald ging, während Ayling auf dem Trittbrett seines Wagens sitzenblieb und eine Zigarette rauchte, also offenbar warten wollte. Auch Bony wartete ab, indem er Stug festhielt. Daß ein Mann aus einem Camp einen Handkoffer mitbrachte, war normal, doch das Mitbringen der Decken schien Bony ungewöhnlich, da Ayling bei den Wessex’ zu logieren pflegte. Nach fünf bis sechs Minuten erschien am Tor Mrs. Wessex. Ayling ging ihr entgegen. Sie sprachen kurze Zeit miteinander, dann ging sie zum Haus und er an den Wagen zurück. Aus ihren Gesten beim Sprechen schloß Bony, daß es Ayling gelungen war, die Frau, die aufgeregt zu sein schien, zu beruhigen. Als Mary wiederkam und die niedrige Böschung zur Straße hinabgegangen war, ging sie bis zum Wagen auf den Fußspitzen. Ayling faßte sie am Arm, schob sie ohne weitere Worte auf den Vordersitz, setzte sich ans Steuer und fuhr ab. Bony rauchte noch zwei Zigaretten, ehe er seinen Weg fortsetzte. Schon vorher war ihm da, wo das Mädchen in den Wald gegangen war, die Reifenspur eines Lastwagens aufgefallen, der dort hineinund wieder herausgefahren war, vermutlich beim Transport von Brennholz. Als er an die Stelle kam, die vom Wohnhaus deutlich zu sehen sein mußte, trat er in den Wald. Der ungewöhnlich schwere Regen in der Nacht, als Dick Lake von der Klippe stürzte, hatte die Wagenspuren im Walde verwischt, aber Bony entdeckte Fußspuren, die später gemacht sein mußten, Abdrücke von einem Frauenschuh und einem männlichen, Größe 39 – den Schu192
hen, die Mary Wessex getragen hatte, als sie vor dem Eingang zum Leuchtturm horchte, und auch, als sie auf Zehenspitzen zur Veranda kam, wo Bony sich mit ihrem Vater unterhielt. Vor diesem Nachmittag, aber nach dem großen Regen, hatte das Mädchen viermal den Wald betreten, und zwar allein. Ihre Spuren endeten in einer kleinen, mit Kalksteingeröll und Laub halb gefüllten Kuhle, an der weiße Eukalyptusbäume standen. Ein ganz hübsches Plätzchen, sogar an diesem kalten, windigen Tag. Elstern kreischten zornig über die Störung, und kleine braune Finken mit roten Kappen zwitscherten aufgeregt. Hierher war das Mädchen gegangen und hatte auf einem länglichen Stein gestanden. Daß der Stein hier lag, war nicht auffällig, denn wie Bony gleich bemerkt hatte, lagen in der Vertiefung eine ganze Menge Kalksteinbrocken verschiedener Größe. Auch bei ihren früheren Wegen in den Wald war Mary zu diesem Stein gegangen. Bony ging ein Stückchen zurück, zum Anfang der Mulde, beobachtete die Vögel und lauschte eine Weile, ob kein menschliches Wesen in der Nähe war, dann ging er an den großen Stein und drehte ihn um. Unter dem Stein, etwas in den Erdboden gesenkt, lag ein kleines Kästchen aus Zedernholz. Er klappte den Deckel auf, es enthielt eine Fotografie von Eldred Wessex in einem billigen Metallrahmen und, in ein dünnes blaues Seidentuch gewickelt, den vierten Ring. Bony legte die Sachen wieder hinein, das Kästchen auf seinen Platz und deckte den Stein wieder darüber. Zu Stug, der ihn beobachtete, sagte er: »Daß du mir nicht hierherläufst und den Kasten ausbuddelst, verstanden? Deine Ladung Flöhe und mein kummervolles Herz sind gar nichts gegen das Trauerspiel, das dieses arme Wesen erlebt, während es in einer nüchternen Welt vergebens nach einer verlorenen Traumwelt tastet und in beiden keine Ruhe findet. Wie froh müßten wir beide sein!« Stug wedelte mit dem Schwanz und folgte Bony aus der kleinen Senke. Ruhigen Schrittes kehrte der Mann auf die Landstraße zurück, und zufrieden tappte der Hund hinter ihm her. Sie kamen ans Tor zur Wessexschen Farm, wo Bony sich anlehnte und sinnend auf das saubere Wohnhaus und die abgegrasten Viehweiden blickte. Menschen waren nicht zu sehen. Aus einem der drei Schornsteine stieg Rauch 193
schräg zum Himmel. Sehr ungern öffnete er das Tor und schritt langsam zum Haus. Auf sein Klopfen antwortete Mrs. Wessex, die ihn ohne Lächeln empfing. Das vom Wetter gegerbte Gesicht war ausdruckslos, die Stimme klang monoton. »Bitte treten Sie ein.« Eli Wessex saß zwischen dem Fenster und dem hell brennenden Kaminfeuer. Er trug einen Hausmantel, seine gelähmten Hände lagen regungslos auf dem Schoß. Als Bony hereinkam, blickte er nicht hoch und sprach auch kein Wort. Seine Frau forderte den Besucher auf, an der anderen Kaminseite Platz zu nehmen. Sie zog einen Sessel heran und setzte sich zwischen die Männer. »Mr. Penwarden hat doch angerufen, daß ich auf dem Wege zu Ihnen sei, ja?« fragte Bony. »Er hat mit Fred Ayling gesprochen«, erwiderte Mrs. Wessex dumpf, ins Feuer starrend. »Fred sagte uns Bescheid. Er hat Mary zu Lakes mitgenommen, die sich um sie kümmern wollen. Und Fred tut das auch. Er hat sie immer liebgehabt. Ihm ist gar kein Vorwurf zu machen.« »Wußte Mr. Penwarden, daß Eldred nach Hause gekommen war?« Die Frau schüttelte den Kopf. »Freut mich, das zu erfahren«, sagte Bony. »Ayling hat aber gewußt, daß Eldred kam und bei Ihnen im Haus war, ja?« »Ja, Inspektor. Er hat das aus Dick ’rausgekriegt.« Jäh wandte sie sich zu ihm, ein Menschenkind, das jeden persönlichen Zug verloren zu haben schien. »Ich bin an allem schuld. Mich trifft die Schande. Ich bin an Eldred schuldig geworden. Und an Dick. Auch an unserem guten alten Penwarden und an meinem Mann.« Sie wandte den Blick ab und starrte ins Feuer. Eli Wessex sagte nichts, bewegte sich nicht. »Ich weiß bereits, was nach der Ermordung des Mannes aus Sydney unternommen wurde«, sagte Bony. »Weiß auch, wieweit Mr. Penwarden mitgewirkt hat. Erzählen Sie mir nun, wie Eldred gestorben ist?« »Sie haben sein Grab entdeckt?« »Ja.« Ein langes Schweigen trat ein, das Bony nicht brach. Als Mrs. Wessex wieder zu sprechen begann, mußte er sich vorbeugen, um ihre Worte zu verstehen. 194
»Sie sollen wissen, Inspektor Bonaparte, daß wir keinen Zorn gegen Sie hegen. Sie sind der Vertreter des Gesetzes, dem wir in unserer Dummheit zu entrinnen glaubten. Wären Sie es nicht, so ein anderer … Soll ich ihm alles sagen, Vater, oder willst du es tun?« »Sag du es, Amy.« »Wir hatten nur diesen einen Sohn, den wir über alles liebten. Ich will keine Zeit vergeuden und Ihnen noch lang und breit von seiner Kindheit erzählen, höchstens, daß er ein lieber Kerl war, wenn auch ziemlich wild und jähzornig und immer voll wirrer Pläne. Das wissen Sie ja alles. Was ich Ihnen jetzt von Eldred erzählen will, wußten wir selbst bis vor kurzem nicht.« »Bis Anfang März nicht«, warf ihr Mann ein. »Anfang März, ja. Eines Morgens ganz früh kam unser Sohn heim, in Begleitung von Dick Lake. Eldred hatte uns überraschen wollen, und das ist ihm auch gelungen. Er war sehr verändert, denn wir hatten ihn elf Jahre nicht gesehen. Es lag aber auch ein ganz neuer Ausdruck in seinem Gesicht, der uns fremd war und den wir anfangs noch nicht zu ergründen versuchten. Er sagte, von seinem Besuch bei uns sollte niemand erfahren, nicht einmal Owens, die ein Leben lang unsere Nachbarn sind. Und wir fragten nicht, warum er so geheimnisvoll tat, weil wir so glücklich waren, ihn wieder bei uns zu haben. Gegen zehn Uhr verabschiedete sich Dick, um in sein Camp zu gehen. Abends erzählte er uns dann, daß er in Sydney gut vorwärtskäme, und da hatte ich das Gefühl, daß seine Tätigkeit gesundheitsschädlich sein mußte. Ich sagte mir: Du mußt darauf bestehen, daß der Junge zu Hause bleibt und du ihn richtig pflegen kannst. Am nächsten Morgen hörte ich von dem Mord. Als ich gerade bei unserem Lebensmittelhändler telefonisch etwas bestellte, erwähnte er das. Natürlich wollte ich Genaueres wissen und erfuhr, daß der Tote vielleicht noch monatelang nicht gefunden worden wäre, hätte nicht Mr. Fisher im Sonderauftrag den Leuchtturm inspiziert. Abends kam dann Dick, um Eldred zu besuchen, der noch im Bett lag. Er blieb lange bei ihm im Schlafzimmer. Als er fort war, ging ich selbst zu Eldred. Er sah entsetzlich aus und zitterte so heftig am ganzen Leib, daß ich Angst bekam. Als ich sagte, ich wollte den Arzt 195
holen, schrie er mich an, ich wäre wohl nicht bei Trost, es sei nur ein Anfall von Malaria, die er sich im Krieg im Urwald geholt hatte. Er bat mich um ein Glas Kognak. Nachdem ich ihm das geholt hatte, brachte ich ihm auch eine Tasse Brühe und etwas Toast, weil er sagte, er hätte Hunger. Dann schien es ihm besser zu gehen, aber immerfort fragte er mich, ob ich auch keinem verraten hätte, daß er zu Hause sei. Mary hatte er selbstverständlich schon begrüßt, schwebte aber ständig in Angst, daß sie was ausplaudern könne. Kalte Furcht ergriff mich bei seinem sonderbaren Benehmen. Jetzt fiel mir ein, daß Dick, als er morgens mit ihm kam, und auch, als er ihn abends besucht hatte, gar nicht lächelte, wie es sonst seine Art war. Ich wagte nicht, über die Gründe für meine Furcht nachzudenken. Erst, als Dick am folgenden Abend kam. Dick brachte Kognak mit, drei Flaschen, und blieb über eine Stunde bei Eldred, der noch im Bett lag. Gegen elf Uhr ging er, und ich begleitete ihn bis zum Tor an der Straße. Zuerst wollte er nicht mit der Sprache heraus, ich mußte ihn lange bitten und betonen, welche Sorgen sich Vater um Eldred machte und daß es so nicht weitergehen könnte. Ich kannte ja Dick schon als kleinen Knirps und wußte, daß er mir schließlich doch sagen würde, was ich wissen wollte. Als er mir alles erzählt hatte, war ich diejenige, die Trost brauchte. Ich versprach ihm, bevor ich wieder ins Haus ging, nichts zu unternehmen und kein Wort zu sagen. Aber ich brach mein Versprechen, als ich zu Eldred ins Zimmer ging, nachdem ich Vater zu Bett gebracht hatte. Da sagte ich meinem Sohn, er müsse sich morgens gleich der Polizei stellen. Er schrie mich an, das würde er niemals tun. Dann lachte er und sagte, wenn ich das verlangte, würde ich ihn ja zum Tode verurteilen. Und wie wollte ich die Sekunden seiner Hinrichtung durch den Strick überleben. Er kam aus dem Bett, fiel auf die Knie und beschwor mich, ihn nicht zu verraten. Dann rühmte er sich seines Lebens in Sydney, protzte mit dem Geld, das er verdient hatte, und schilderte, auf welche Weise er es verdiente. Wie er zuerst mit Kokain nur gehandelt und es schließlich auch selbst genommen hatte. Er winselte wie ein Hund, jammerte, daß er kein bißchen von dem Rauschgift mehr hätte und ich ihm auf jeden Fall aus Geelong etwas beschaffen müsse. Er stand auf und trank Kognak aus 196
der Flasche. Ich kannte ihn gar nicht wieder, er war – er war kein Mann mehr. Er sagte, der Mensch, der umgebracht wurde, hätte das verdient. Alle Schuld schob er auf ihn, den Schmuggel mit Rauschgift, das sie von den Schiffen holten, und den ganzen verbotenen Handel, zu dem der andere ihn verführt hätte. Er wütete über Ed Penwardens Vorschlag, die Leiche im Leuchtturm zu verstecken, denn sie hätten doch die Möglichkeit gehabt, diese zu Aylings Camp zu schaffen. So redete er stundenlang hin und her, und zwischendurch trank er immer wieder aus der Flasche, obwohl auf dem Nachttisch drei Gläser standen. Mir fielen Vaters Schlaftabletten ein, und ich machte mir Vorwürfe, daran nicht schon eher gedacht zu haben. Ich holte zwei und gab sie ihm. Er schlief gleich ein. Es wurde schon beinahe hell draußen. Ich saß am Fuß seines Bettes und blickte ihn an. Er lag bequem auf dem Rücken, einen Arm hatte er ausgestreckt, den anderen unter der Bettdecke. Alle häßlichen Züge waren aus seinem Gesicht gelöscht, er sah wieder aus wie damals, als er in den Krieg zog, und war wieder mein Junge. In sicherer Hut schlief er in seinem eigenen Zimmer, wo die Bilder von den zwei Segelschiffen hängen und über dem Bett der eingerahmte Spruch. Nach Jahren war mein leergewordenes Haus wieder erfüllt. Als er aufwachte, benahm er sich ebenso gräßlich wie vorher. Ich sagte ihm, wenn er sich nicht freiwillig stellte, gäbe es nur eine Möglichkeit: daß Dick ihn im Wagen nach Melbourne oder sonstwohin brächte, nur fort. Davon wollte er nichts hören, er schrie, inzwischen hätte ihn bestimmt schon einer bei der Polizei angezeigt und über den Toten im Leuchtturm geredet. Ich blieb fast den ganzen Tag bei ihm, bis abends Dick kam. Der beruhigte ihn ein wenig, und wieder begleitete ich ihn, als er fortging, bis ans Straßentor. Er fragte, ob ich meinem Mann von dem Mord erzählt hätte, und ich mußte ihn daran erinnern, daß ich vor meinem Mann nie Geheimnisse habe. Ich bat ihn, zu überlegen, was wir für Eldred tun könnten, worauf er mir antwortete, es gäbe kein anderes Mittel, als ihm so lange Schnaps zu geben, bis die Gier nach dem Kokain erstürbe. Seine Worte klangen recht hoffnungslos. Nachher sagte er, Eldreds Leiden sei vor allem seine Angst, seine Lebensweise habe ihn zerrüttet, und die Angst drohe ihn irrsinnig zu machen. 197
Als ich zum Haus zurückging, dachte ich an Mary und was sie durchgemacht hatte. Ich dachte an meinen Mann, wie klug er früher gewesen war und wie dumm ich, daß ich seine Ansichten und seinen Rat oft in den Wind schlug. Ich dachte an Mr. Penwarden und an alles, was er auf sich genommen hatte, um meinen Mann und mich und Dick zu retten. All das wirbelte mir durch den Kopf, während ich zu Eldred ins Zimmer ging. Er saß auf der Bettkante, eine Hand wie eine Kralle in den Mundwinkel geklammert, die Augen ganz glasig vor Angst und Grauen. Ich mußte langsam auf die Tür seines Zimmers zugegangen sein, denn er schrie mich an, ich dürfe das nicht wieder tun, es hätte ihn an das Kommen des Henkers erinnert. Ich sagte: ›Du mußt jetzt schlafen, mein Junge, du mußt!‹ So ging ich in die Küche und mischte ihm ein Beruhigungsmittel, das er auch trank, als ich es ihm gab. Nun wurde er ruhiger. Bald legte er sich hin, ich legte mich neben ihn und hielt ihn in den Armen. Die ganze Nacht lag ich so da, nur einmal stand ich auf, um das Licht auszumachen. Als er – starb, geschah das ganz still, ohne Kampf … Er hörte einfach auf zu atmen. Ich ging zu meinem Mann und sagte ihm: ›Eldred ist tot!‹« Schweigen lastete im Raum. Eli Wessex, der so unbewegt dagesessen hatte, daß man auch ihn für tot halten konnte, stieß einen kurzen Seufzer aus. Wieder kam die Stimme, dünn und tonlos. Bony mußte an das Rauschen des Windes in den Eukalypten an der kleinen Senke im Walde denken. »All meine Liebe zu Eldred war vergebens gewesen. Ich hatte ihm nichts mehr zu geben als Mitleid. So gab ich ihm – in einem Glas voll Kognak – zehn von seines Vaters Tabletten.«
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nd dann legten Sie Eldred in einen der Särge, die Sie unter den Betten stehen hatten, und begruben ihn im Wald, in der Nähe der Straße«, sagte Bony, jeden Widerspruch ausschließend. »In meinen Sarg«, flüsterte Eli. »Und Owen ersetzte den Sarg, indem er von Penwarden einen neuen machen ließ, angeblich für seine Frau.« »So war es.« Mrs. Wessex blickte auf die Kaminuhr und stand auf. Stumm verließ sie das Zimmer. Ihr Mann ließ den Kopf sinken, sein hageres Kinn lag auf der Brust. Bony spürte einen Drang nach körperlicher Betätigung, um seine traurige Stimmung abzuschütteln, blieb aber still sitzen. Er fühlte sich wie in einer Falle. Was hält mich so gefangen? dachte er. Ja, Napoleon Bonaparte ist es, ein Kriminalinspektor, der jeder Fährte wie eine Tigerkatze nachhetzt und nie die Jagd aufgibt. Er, Bony, war der Mann, der bisher noch jedes Verbrechen aufgeklärt hatte. Das war die Falle, die sich um ihn, den Familienvater, geschlossen hatte, um den Mann, der genug Courage besaß, alle von den Ahnen ererbten Schwächen zu besiegen und eine unendliche Geduld mit grenzenloser Sympathie für unglückliche Menschen zu verbinden. Ohne Rücksicht auf die Situation rollte er sich eine Zigarette und zündete sie an. Alle Geräusche schienen schrecklich laut: das Zischen eines anbrennenden Holzscheits, das Ticken der Uhr, die Schritte von Mrs. Wessex in anderen Räumen des Hauses. Und jetzt befiel ihn ein Schrecken, wie er ihn in seinem Beruf kaum je erlebt hatte. Mrs. Wessex brachte auf einem großen Tablett den Nachmittagstee herein. 199
Den Tee servieren – der einzige Anker, an den sich die Frau im furchtbaren Unglück der Familie klammern konnte … Er setzte ihr einen kleinen Tisch bereit, sie goß den Tee ein. Wie sie es an dem Nachmittag getan hatte, als er zum erstenmal hier war, hielt sie ihrem Mann die Tasse an den Mund. Keiner sprach, bis sie den kleinen Tisch zur Seite geschoben hatte und wieder zwischen den beiden Männern saß. »Als Dick an dem Abend kam«, sagte sie, tonlos wie vorher, »da habe ich ihm gesagt, was ich getan hatte. Er ging und schickte Alfie zu Mr. Owen. Die drei legten dann Eldred in meines Mannes Sarg und trugen ihn auf Owens kleinen Lastwagen. Ich ging mit. Mrs. Owen blieb inzwischen bei Mary und meinem Mann. Wir versuchten, alles vor Mary geheimzuhalten, aber das war zwecklos. Sie folgte mir zum Lastwagen. Wir fuhren zu der Stelle im Wald, wo unsere Kinder früher gespielt hatten. Das war Dicks Idee gewesen. Mary und ich standen dabei, als die Männer das. Grab aushoben. Sie trugen sorgfältig die Erde fort, um keinen Hügel zu machen, und glätteten alles so, daß nichts auffallen konnte. Ich bin nie wieder dorthin gegangen, aber Mary. Ich beobachtete sie, wenn sie hinging, aber sie ging nur aus Liebe zu ihrem Bruder. Mein Mann und ich, wir mühten uns, die böse Zeit zu vergessen und nur an die Jahre zu denken, als Eldred noch jung war und der Krieg ihn noch nicht erfaßt hatte.« Ihre Stimme wurde so leise, daß die tickende Uhr, das knisternde Holz sie übertönten. Als Bony sich erheben wollte, sagte sie: »Ich bin bereit, mit Ihnen zu gehen, Inspektor Bonaparte. Habe mir ein paar Sachen zusammengepackt.« In einem heftigen Sprung, mit einem Schrei wie ein verwundetes Tier sprang die Frau vorn Stuhl hoch und fiel neben ihrem Mann auf die Knie. Er legte langsam die Hände auf ihren Kopf, die armen, lahmen Hände, die jetzt mehr sagten als alle Worte. Bony ging zum Telefon an der Wand. Er ließ sich vom Amt Owens Rufnummer geben und verlangte, als eine weibliche Stimme sich meldete, Tom Owen. »Ich bin bei Familie Wessex«, sagte er. »Würden Sie mit Ihrer Frau gleich herkommen? Mr. und Mrs. Wessex brauchen Sie dringend.« »Wir fahren sofort ab«, erwiderte Owen. 200
In einer Viertelstunde waren sie da. Bony erwartete sie auf der Veranda. Mrs. Owen sah betrübt aus, ihr Mann machte ein grimmiges Gesicht. »Sie sind im Wohnzimmer«, sagte Bony zu Mrs. Owen, und zu Tom: »Ihnen habe ich noch etwas zu sagen, bevor Sie hineingehen.« Er wartete, bis die Frau gegangen war, dann erklärte er Tom, wer er war, und gab ihm in großen Zügen ein Bild seiner Ermittlungen. »Das ist der Verlauf der ganzen Tragödie, stimmt’s?« schloß er seinen Bericht. Tom Owen verkniff die Augen, dann nickte er. »So ungefähr, ja.« »Jetzt hören Sie mir genau zu. Ein Mann wurde umgebracht. Ein Rauschgifthändler und schlechter Charakter. Der ihn tötete, war auch nicht besser. Kein Unglück, daß beide aus der Welt sind. Auch der Mann, der dem Mörder half, ist tot. Unterbrechen Sie mich nicht – Lake war Eldreds Komplice. Der Schatten dieses Verbrechens ist auf sieben Menschen gefallen, zu denen auch Sie gehören. Ferner der alte Penwarden. Sie wissen, daß Penwarden nur einen Teil der Ereignisse kennt, daß er nicht wußte, daß Eldred heimgekommen war und was dann folgte. Was Penwarden nicht weiß, soll er auch nicht erfahren, aber er muß die Verantwortung für den Rat tragen, den er Dick Lake gegeben hat. Recht oder Unrecht – ich vermag Mrs. Wessex für das, was ich selbst wohl auch getan haben würde, nicht zu verdammen und – Recht oder Unrecht – kann auch Sie nicht verurteilen für das, was Sie in der Not ihr und ihrem Mann zuliebe getan haben. An Ihnen liegt es, das Geheimnis der kleinen Senke im Walde zu wahren und achtzugeben, daß die, die außer Ihnen davon wissen, ihre Gedanken und ihre Zunge im Zaum halten. Meine Sache ist es, die Jagd nach dem Mörder von Thomas Baker fortzusetzen, bis nach Ballarat und noch weiter … Verstanden?« Tom Owen versuchte zu sprechen, konnte aber nur nicken. »Gehen Sie hinein, und trösten Sie die Eltern«, sagte Bony, indem er die Verandatreppe hinabging. Er streichelte Stug, der auf ihn wartete, und schritt langsam zur Straße. Ed Penwarden zog sich gerade den Rock an, um nach Hause zu gehen, als Bony die Werkstatt betrat. Seine ängstliche Verlegenheit wurde nicht geringer, als Bony die Tür zuschlug und sie abschloß. 201
»Wir beide haben noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen, Mr. Penwarden«, verkündete der Inspektor in eiskaltem Ton. »Machen Sie sich’s bequem. Weshalb haben Sie eigentlich Fred Ayling verlangt, als Sie bei Wessex anriefen, nachdem ich heute morgen bei Ihnen gewesen war?« »Fred hat mit der Sache nichts zu tun, verehrter Mr. Rawlings.« Der alte Mann saß ganz steif auf seiner Kiste und blickte Bony, der sich wieder auf die Hobelbank gesetzt hatte, von unten her fest an. »Das müssen Sie mir glauben. Er war überhaupt nicht hier, als der Mord geschah.« »Warum haben Sie ihm aber dann mitgeteilt, daß ich auf dem Weg zu ihm sei, um ihn zu vernehmen?« »Habe ich gar nicht. Hab’ ihm nur erzählt, daß Sie Genaueres über den Mord wüßten, und auch wüßten, was ich Dick und Eldred zu tun geraten hatte. Ich wußte ja überhaupt nicht, daß Sie dorthin gingen. Habe Sie nicht hier vorbeigehen sehen. Fred habe ich nur gesagt, er solle sich wieder in sein Camp verziehen.« »Was er auch tat«, sagte Bony, indem er das faltenlose Gesicht, die blauen Augen und das lange weiße Haar des Alten studierte. »Lassen Sie ihn doch ungeschoren, Mr. Rawlings. Er war immer ein braver Kerl, hat sich nur über Dicks Tod furchtbar aufgeregt. Und für mich kann ich mit Dicks Worten sprechen: ›Ich kann allerhand vertragen‹. Vielleicht habe ich nach dem Gesetz Unrecht getan, aber ich bereue es nicht. An Eldred habe ich dabei nicht gedacht, höchstens, daß er unbehelligt von Split Point verschwinden sollte, um seinem Vater und seiner gütigen Mutter aus den Augen zu kommen und Dick und uns allen. Verhaften Sie mich und lassen Sie Fred aus der Geschichte heraus.« »Und was soll Ihre Frau dazu sagen?« »Meine Alte? Na, die wird sich schon ruhig verhalten, bis ich wiederkomme.« Bony sagte: »Es kann aber sein, daß Sie zehn Jahre fortbleiben. Viel zu lange, um Ihre Frau alleinzulassen. Sie sind, genau wie ich, eigentlich ein verständiger Mensch. Benehmen Sie sich nicht wieder wie ein Narr, wenn auch der Narr manchmal ein Weiser ist. Ich halte es für wahrscheinlich, daß meine Vorgesetzten bei der Energie, mit der sie Eldred Wessex zu fassen suchen, Sie übersehen werden. Wir wollen 202
hoffen, daß er das Land verlassen hat oder zur See gegangen und ertrunken ist. Meine Arbeit ist hier beendet. Ich habe festgestellt, wer der Tote im Leuchtturm war und wer ihn erschossen hat. Es ist jetzt Sache der Polizei von Victoria, Eldred Wessex zu finden. Unterstützt von der Wissenschaft, wird sie bei ihrer vortrefflichen Organisation ihn sicherlich aufspüren, vielleicht in Adelaide, vielleicht in London, jedenfalls weit von Split Point entfernt.« Er ließ sich von der Hobelbank gleiten. Auch Penwarden stand auf und sagte: »Es wäre schon besser, verehrter Mr. Rawlings, wenn Eldred ertrunken oder ihm sonst was passiert wäre, so daß seine Familie niemals erfährt, was er hier verbrochen hat.« »Da bin ich ganz Ihrer Ansicht«, sagte Bony. »Jetzt muß ich aber gehen. Ich werde Sie bis zu Ihrem Haus begleiten. Über Ihr eigenes Schicksal machen Sie sich nur keine Sorgen. Sehr wahrscheinlich wird sich die Polizei um Sie überhaupt nicht kümmern. Verstehen wir uns nun richtig?« Eine knorrige Arbeitsfaust packte ihn beim Arm. »Ich glaube, wir haben uns immer richtig verstanden, verehrter Mr. Rawlings.« Sie traten hinaus. Bony wartete, bis Penwarden seine Werkstatt abgeschlossen hatte. Gemächlich wanderten sie bis an das hübsche, kleine Wohnhaus des alten Schreiners – der eine aufrecht, mit federndem Schritt, der andere ein wenig gebeugt, aber noch fest auf den Beinen. »Hoffentlich werden Sie nun den Sarg, den ich für Sie mache, nicht ablehnen«, sagte der Alte. »Aber nein! Ich werde Ihnen meine Heimatadresse und die Bahnstation schreiben, sobald Sie mir geschrieben haben, was Sie von dem Blutbaumholz halten. Über das Polizeipräsidium in Brisbane können Sie mich stets erreichen. Und wenn ich mal wieder in Melbourne bin, will ich sehen, daß ich herkommen kann, um mit Ihnen ein bißchen zu klönen.« Sie schüttelten sich die Hände, Bony zeigte wieder sein strahlendes Lächeln. Penwarden lachte im tiefen Baß. Vor dem Gartentor blieben sie stehen. »Vergessen Sie nicht, von der Nackenstütze noch ein paar Späne abzuhobeln«, sagte Bony. »Ich habe Ihnen ja genau gezeigt, wo sie etwas unbequem ist.« 203
Er ging weiter, während Mr. Penwarden noch am Tor stehenblieb und ihm nachschaute, bis er in die Landstraße einbog. ENDE
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