Band 43 der Fernseh-Serie Raumpatrouille H. G. Ewers
Der Mordroboter
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
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Band 43 der Fernseh-Serie Raumpatrouille H. G. Ewers
Der Mordroboter
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Die ORION-Crew mußte am KREUZWEG DER DIMENSIONEN erleben, wie alles, was sie und das Team des Sternenschiffs erreicht zu haben glaubten, unter dem Ansturm der Kräfte des Rudraja zusammenbrach. Die Sternkonstellationen der Modell-Raumkugel veränderten sich mit unwirklich anmutender Schnelligkeit, ein ganzes Nest von Quasaren tauchte auf, und über die Parallel-Erde wanderte ein tödlicher Schatten. Da die Quelle der bedrohlichen Ereignisse bei den Quasars vermutet wurde, brach die ORION-Crew mit ihrem Schiff dorthin auf. Sie entdeckte die Ruinenwelt der Thaars, die ein Teil der zu Kristallen erstarrten Geistessubstanz der Erben des Varunja sind und bestand einen gespenstischen Kampf mit einem Wesen, das von den Thaars als Mharut bezeichnet wird. Nach ihrer Rückkehr zur Parallel-Erde mußte die Crew hilflos mitansehen, wie plötzlich aufgetauchte schattenhafte Energieballungen zuerst im Vorbeiflug das Sternenschiff und danach die Parallel-Erde vernichteten. Trotz der Überlegenheit dieses Gegners nahm die ORION-Crew den Kampf auf. Sie wäre vernichtet worden, wenn nicht die Erben des Varunja eingegriffen und die ORION in eine »Überlebensblase« befördert hätten. Dort sprach eine lautlose Stimme zu den Raumfahrern und klärte sie über das Kosmische Inferno und die beiden kosmischen Urmächte auf. Sie forderte von der Crew, zur Erde zurückzukehren und darüber zu wachen, daß die Erben des Rudraja nicht übermächtig werden können. Der Rückweg zur richtigen Erde aber führte nur durch das Tor des Vergessens, das erst aktiviert werden konnte, nachdem sich Prac'h Glanskis und Vlare MacCloudeen geopfert hatten. Während die ORION-Crew noch um die beiden Freunde trauert, stößt ihr Schiff durch das aktivierte Tor des Vergessens und kehrt zu einer Erde zurück, die nicht mehr die Erde ist, die sie einst verließen. Und auf dieser Erde kommt es zum Duell mit einem blinden Passagier. DER MORDROBOTER beweist, wie gefährlich die Erben des Rudraja sind ...
1. Die Finsternis zerriß. Die Menschen in der ORION VIII begriffen, daß sie noch lebten – und in dieses erste, zaghafte Begreifen drängten sich brutal schrilles Klingeln und das Flakkern roter Lichter. Cliff McLane vermochte die auf ihn einstürmenden Eindrücke zuerst zu ordnen. Er deutete den in kurzen Intervallen aufleuchtenden roten Punkt auf dem Zentralschirm der Ortung richtig und verstand, was das schrille Klingeln bedeutete. »Kollisionswarnung!« Gleichzeitig mit seinem Ausruf handelte er. Seine Hände packten die Hebel der Manuellsteuerung und drückten sie mit aller Kraft nach vorn. Die Triebwerksaggregate des Schiffes heulten ohrenbetäubend auf. Heftig vibrierend neigte der diskusförmige Raumflugkörper seine Bugkante nach vorn. Im nächsten Augenblick huschte ein Schatten in die Top-Bildschirme. Seine Ränder wurden von einer goldgelben Aureole umspielt. Dann verschwand er wieder. Die Menschen in der Steuerkanzel wandten die Köpfe und starrten dem Schatten nach, der noch eine Weile auf den Heckbildschirmen der Außenbeobachtung zu sehen war, bevor die Dunkelheit des Weltraums ihn schluckte. Nach und nach sickerte das Begreifen in ihre Gehirne, daß sie, soeben wiedergeboren, schon wieder einmal knapp dem Tode entronnen waren. »Was war das?« flüsterte Arlene. Cliff McLane deutete nach hinten, allerdings nicht
in die Richtung, in die der Schatten verschwunden war, sondern etwas nach Backbord versetzt. »Offenbar eine Mondfähre«, erklärte er. »Der Mond!« jubelte Helga Legrelle. »Der Mond der Erde – unserer Erde!« Hasso Sigbjörnson wandte den Kopf – und als er die blau und weiß gefleckte Kugel an Steuerbord voraus erblickte, wurden seine Augen feucht. Cliff seufzte. »Wir sind also wieder daheim«, sagte er fast andächtig. »Beinahe hätten wir es nicht mehr feststellen können. Aber ...« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Zweifellos handelte es sich um eine Mondfähre«, warf Atan Shubashi ein. »Die Besonderheiten der Konstruktion und der Kurs, den sie fliegt, verraten es. Es muß sich um eine Fähre handeln, die von einem Erdsatelliten aus startete. Aber, einmal abgesehen von den dafür charakteristischen Merkmalen – hat jemand von euch diesen Typ Mondfähre schon einmal gesehen?« »Nein«, sagte Mario de Monti. »Jedenfalls kann es ihn noch nicht gegeben haben, als wir die Erde verließen. Es handelt sich um eine Neukonstruktion.« »Die Entwicklung einer Neukonstruktion von der Idee her bis über die ersten Prototypen zu Einsatzfahrzeugen dauert fünf bis sechs Jahre«, erklärte Cliff nachdenklich. »Warum haben wir nichts davon erfahren, als wir noch auf der Erde waren?« »Geheimhaltung«, sagte Hasso Sigbjörnson. Er grinste. »Anscheinend hat unser Freund Villa den Hang zur Perfektion wieder einmal auf die Spitze getrieben. Aber was soll's, Freunde! Wir sind wieder zu Hause. Das ist wichtiger als alles andere. Nur ei-
nes beunruhigt mich. Ich bin so verwirrt, daß ich mich nicht erinnern kann, was wir ›draußen‹ alles getan haben. Wir waren gestartet, um das PROJEKT PERSEIDEN zu verwirklichen. Was ist daraus geworden?« »Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Cliff McLane. »Anscheinend ist etwas geschehen, das uns vorübergehend durcheinandergebracht hat – und zwar so stark, daß unser Unterbewußtsein die Erinnerungen daran zu verdrängen versucht. Aber ich bin sicher, das kommt alles wieder.« Er wandte sich an die Funkerin. »Als erstes wollen wir die dienstliche Routine abspulen, Helga-Mädchen. Dazu gehört, daß du die Raumbasis 104 anrufst und unsere Rückkehr vorschriftsmäßig meldest. Wir benötigen die Landeerlaubnis und den üblichen Leitstrahl. Ich werde inzwischen unsere Beinahe-Kollision mit der Mondfähre im Bordbuch festhalten und den Kurs korrigieren.« Während er einen knappen sachlichen Bericht über die von keiner Seite verschuldete Beinahe-Kollision auf das elektronische Bordbuch sprach, versuchte er sich zu erinnern, was ihrem Auftauchen zwischen Erde und Mond vorausgegangen war. Doch außer einer vagen Ahnung von etwas Grauenvollem, das sich irgendwann während ihrer Mission namens PROJEKT PERSEIDEN zugetragen haben mußte, fiel ihm nichts ein. Bis Helga Legrelle Funkverbindung zur Raumbasis 104 bekam! »ORION VIII unter Commander McLane meldet sich zurück!« sagte die Funkerin. »Wir ersuchen um Landeerlaubnis und Leitstrahl!«
Sie blinzelte irritiert, als auf dem Bildschirm des Funkgeräts die Abbildung einer Frau auftauchte, die ebenso schön aussah, wie sie phantasievoll gekleidet war. Im gleichen Moment blickten auch die übrigen Mitglieder der Crew zum Bildschirm – und auch bei ihnen war die Überraschung perfekt. »Ich wußte gar nicht, daß auf der Erde Karneval gefeiert wird«, sagte Mario de Monti in dem matten Versuch, die Überraschung durch Ironie zu überspielen. Cliff McLane sagte vorerst gar nichts. Er wußte nicht, was er von der Sache halten sollte; deshalb beschränkte er sich darauf, zu beobachten. Der Anblick der Frau war allerdings mehr als ungewöhnlich für eine Angehörige der Terranischen Raumverteidigung. Sie trug statt der gewohnten dunklen, schlichten Uniform einen mit Goldflitter besetzten Hosenanzug und dazu knielange schwarze Lacklederstiefel. Ihr Haar war mit Goldspray getönt, Lippen und sogar die Nasenlöcher waren karmesinrot geschminkt. Doch der Anblick irritierte die Mitglieder der ORION-Crew nur so lange, bis die Frau sprach. Von diesem Zeitpunkt an bildeten ihre Worte die Elemente der Überraschung und Verwirrung. »Hier Kontrolle Erdnaher Bereich!« tönte es aus den Lautsprechern der Funkanlage. »Bitte, wiederholen Sie!« Helga Legrelle verzog ärgerlich das Gesicht. »Ich finde, die Funkverbindung ist so gut, daß Sie mich verstanden haben müßten, meine Liebe!« erwiderte sie. »Hier ist die ORION VIII unter Commander McLane!«
»Eben das habe ich verstanden«, erwiderte die reizende Dame völlig gelassen. »Aber ich dachte, ich hätte mich verhört, denn mein Computer unterrichtete mich darüber, daß es in seiner Schiffsliste keine ORION VIII gibt.« Die Verblüffung innerhalb der Crew wich empörter Unruhe. »Gibt es so etwas überhaupt, daß auf der Erde jemand noch nichts von der ORION und den Streichen ihrer Crew gehört hat!« entfuhr es Mario de Monti. »Und vom unwiderstehlichen Charme ihres Chefkybernetikers«, fiel Arlene ein. »Schlamperei!« murmelte Atan Shubashi. Cliff lächelte, halb frustriert und halb amüsiert. Er stand auf und stellte sich neben Helga Legrelle. »Sie sind sicher neu bei unserem Verein, schönes Kind«, sagte er mit leichtem Sarkasmus. »Wie ich sehe, sind Sie noch nicht einmal dazu gekommen, Ihre Dienstkleidung in Empfang zu nehmen. Bitte, seien Sie doch so nett und verbinden Sie uns mit Raummarschall Wamsler. Den werden Sie doch wohl kennen, oder irre ich mich?« »Sie irren sich allerdings«, entgegnete die Dame spitz. »Ich tue hier seit fünf Jahren Dienst. Also, versuchen Sie nicht länger, Ihre Scherze mit mir zu treiben!« Das Lächeln verschwand abrupt aus Cliffs Gesicht. Ratlos blickte er auf den Bildschirm, dann wandte er sich an seine Freunde und musterte ihre Gesichter. Doch auch sie zeigten nur Ratlosigkeit ... *
Zögernd wandte er sich wieder dem Bildschirm zu. »Fangen wir noch einmal von vorn an!« bat er mit spröder Stimme, die Unsicherheit verriet – und eine Spur von unterschwelliger Angst. Aber seine Gesprächspartnerin hörte ihm nicht mehr zu. Sie hatte den Kopf zur Seite gewandt, so daß ihr gutgeformtes Gesicht im Profil zu sehen war. Das sichtbare Ohr wurde von einem lila Federbüschel verdeckt. Cliff bemerkte es allerdings nur am Rande. Kurz darauf wandte seine Gesprächspartnerin ihr Gesicht wieder voll nach vorn. Cliff sah, daß die Augen unnatürlich geweitet waren – und er entdeckte die unverkennbaren Anzeichen von Furcht darin. »Bitte!« flüsterte die Dame. »Bitte, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Mir wurde soeben von einer Beinahe-Kollision zwischen einem Fernraumschiff und einer Mondfähre berichtet, die sich in dem erdnahen Raumsektor ereignete, aus dem Sie – soviel unsere Ortung meldet – kommen.« »Wenigstens hat Ihre Ortung von uns Notiz genommen«, erklärte Cliff. »Es stimmt. Wir wären beinahe mit einer Mondfähre kollidiert, nachdem wir zwischen Erde und Mond materialisierten und ...« Er stockte und blickte hilfesuchend zu seinen Freunden. »Wir sind doch materialisiert, nicht wahr? Aber dann müssen wir irgendwo entmaterialisiert sein, was aber der Wirkung unseres Hypertriebwerks widerspricht.« »Unser Hyperantrieb ist ausgefallen, Cliff«, meldete Hasso. »Wir können ihn demnach gar nicht benutzt haben.« »Sie sind zwischen Erde und Mond materialisiert?« fragte Cliffs Gesprächspartnerin. »Ich verstehe gar ...« Die Stimme erstarb im gleichen Augenblick, in dem
das Bild verblaßte. Sekundenlang war auf dem Bildschirm nur ein Flimmern zu sehen, dann schälten sich die Umrisse eines Mannes heraus, wurden klar – und das Bild stand. Einen Herzschlag lang dachte Cliff McLane, er müßte in eine Operette versetzt sein. Der Mann, von dem nur Kopf und Oberkörper abgebildet wurden, war schätzungsweise sechzig Jahre alt, grobknochig und kahlköpfig. Gesichtsschnitt und Augen ließen auf asiatische Abstammung schließen. Aber die Abstammung war natürlich bedeutungslos. Nicht so die Kleidung. Cliff hätte sicherlich gelacht, wenn das Gesicht seines Gesprächspartners nicht eine so ernste Besorgnis ausgestrahlt hätte, denn auch er trug nicht die erwartete schwarze Dienstuniform, sondern eine rot, weiß und blau gemusterte Seidenbluse und darüber eine breite, in den gleichen Farben gestreifte Schärpe. In Höhe des Herzens war eine silberfarbene Medaille auf der Schärpe befestigt, die ein erhabenes rotes »O« aufwies. »Bitte, entschuldigen Sie, wenn ich mich eingeblendet habe«, sagte der Kahlköpfige. »Ich bin Orcast Han.« Cliff McLane schluckte. Er mußte erst einmal geistig verarbeiten, was er da sah. Als er den prüfenden Blick bemerkte, mit dem Orcast Han ihn – beziehungsweise sein Abbild, das er auf dem Bildschirm seines Funkgeräts sah – musterte, wurde ihm klar, daß dieser Mann etwas Bestimmtes von ihm erwartete. Und ihm wurde klar, daß er nicht im entferntesten ahnte, was Orcast Han von ihm erwartete.
»Bitte, entschuldigen Sie!« sagte er. »Mit welchem Dienstgrad muß ich Sie anreden?« Han lächelte liebenswürdig. Nur seine Augen waren davon nicht betroffen. Sie verrieten Nachdenklichkeit. »Es genügt, wenn Sie mich Han nennen. Das ist mein Familienname. Mein voller Name lautet Han Tsu-Gol. Da es ein chinesischer Name ist und wir Chinesen auf Tradition halten, steht bei uns der Familienname vor dem Rufnamen.« »Ich weiß«, erwiderte Cliff. Es war, als atmete Han Tsu-Gol verstohlen auf. Warum, das allerdings war Cliff unklar. »Dann wissen Sie sicher auch, welche Frage ich Ihnen als nächste stellen muß«, sagte Han. »Aber zuerst bitte ich Sie, Ihre Fahrt aufzuheben und auf Warteposition zu gehen, bis wir unser Gespräch beendet haben – äh ...?« »Cliff McLane!« stellte Cliff sich vor. »Commander der Terranischen Raumverteidigungsstreitkräfte und Kommandant der ORION VIII.« Er kehrte an seinen Platz zurück. Beinahe automatisch griffen seine Hände in die Manuellkontrollen, fingen das Schiff ab und steuerten es auf eine Bahn, die in einer weit ausholenden Ellipse um die Erde führte. Danach stellte er sich wieder vor den Bildschirm. »ORION VIII auf Warteposition«, meldete er. »Und ich weiß nicht, welche Frage Sie mir als nächste stellen müssen.« Wieder lächelte Han Tsu-Gol. »Das ist nicht weiter schlimm«, erklärte er. »Bitte, Commander McLane, sagen Sie mir, warum der
Bordcomputer Ihres Schiffes die Beinahe-Kollision nicht verhindert hat!« »Weil er nicht entsprechend programmiert ist«, antwortete Cliff wahrheitsgemäß. »Seit wann weiß man im Oberkommando nicht mehr, welche Funktionen die Bordcomputer der einzelnen Raumschiffe erfüllen und welche nicht?« »Im Oberkommando weiß man noch mehr nicht«, erwiderte Han Tsu-Gol ernst. »Man weiß beispielsweise nichts von einer ORION VIII und auch nichts von einem Commander McLane.« Er hob beschwichtigend die Hände, als wollte er einem Temperamentsausbruch zuvorkommen. »Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch, Commander!« sagte er. »Ich sehe, daß es einen Commander McLane gibt und folglich auch eine ORION VIII. Das Mißverständnis kann nur auf einem Computerfehler beruhen. Mit welcher Mission waren Sie unterwegs?« »Wir waren im Rahmen des PROJEKTS PERSEIDEN unterwegs«, erwiderte Cliff mit erhobener Stimme. »Und wenn Sie jetzt sagen, daß Sie auch darüber nicht informiert sind, dann bilde ich mir nur ein, daß es mich gibt.« Han Tsu-Gols Augen weiteten sich kaum merklich. Der Mann preßte die Lippen zusammen; seine Kiefer mahlten, was sich deutlich an den hervorspringenden Wangenmuskeln zeigte. »Warum antworten Sie nicht?« schrie Cliff. Han brachte seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle. »Bitte, verzeihen Sie, Commander McLane, wenn ich nicht sofort darauf eingehe«, sagte er gepreßt. »Ich muß erst einige Informationen einholen und bitte Sie,
solange zu warten.« Er erhob sich und verschwand aus dem Bereich der Bilderfassung. * Als Cliff McLane sich zu seinen Freunden umdrehte, blickte er in Gesichter, die tiefe Bestürzung verrieten. Hasso Sigbjörnson war aufgestanden, während Cliff mit Han Tsu-Gol gesprochen hatte. Jetzt ließ er sich schwer in seinen Sessel fallen. »Sie wissen nichts von uns«, sagte er erschüttert. »Und wir wissen nichts von ihnen«, ergänzte Cliff hart. »Aber sie wissen auch nichts von Marschall Wamsler!« stieß Hasso erregt hervor. »Und ich wette, sie wissen weder von Oberst Villa noch von sonst jemandem, den wir kennen! Cliff, das ist nicht unsere Erde!« »Eine neue Parallel-Erde – oder eine weitere Modellschablone, ein weiteres Phantom«, sagte Atan Shubashi bitter. Cliff horchte auf. »Was sagst du da, Atan?« Der Astrogator zuckte leicht zusammen. »Wie?« »Was du eben gesagt hast, will ich wissen!« forderte Cliff. Atan strich sich mit der Hand über die Augen und schien in sich hineinzulauschen, dann sagte er stokkend: »Eine weitere Modellschablone – ein weiteres Phantom. Das habe ich gesagt, nicht wahr?« »Allerdings«, warf Mario ein. »Und es kommt mir vor, als hätte ich das schon einmal gehört.« Cliff setzte sich ebenfalls in seinen Sessel.
»Es war – im Zuge des PROJEKTS PERSEIDEN«, sagte er tonlos. »Wir fanden eine Parallel-Erde, aber wir fanden keine Beziehung zu den Menschen dort.« »Weil es keine echten Menschen, sondern nur Phantome waren«, erklärte Atan. »Jetzt erinnere ich mich auch, Cliff. Die Phantom-Erde ist irgendwie verschwunden – und eine Stimme sprach zu uns.« »Die Stimme der Erben des Varunja!« schrie Helga Legrelle. »Ich weiß alles wieder – oder doch das, was die Stimme sagte.« »Was sagte sie?« fragte Hasso tonlos. »Die Mächte der Finsternis ballen sich wieder zusammen«, flüsterte Helga. »Sie sind allgegenwärtig. Aber die Mächte des Lichtes werden euch beschützen – wenn ihr bereit seid, dem Bösen mutig gegenüberzutreten. Sehr vieles von dem, was ihr in der Modellschablone erlebtet und erfuhrt, werdet ihr vergessen, aber nicht den Inhalt dieser letzten Ermahnung.« »Das war es«, sagte Cliff McLane. »Und noch etwas. Wir wurden durch ein Tor geschickt, aber vorher mußten wir irgend etwas tun.« Er blickte sich um. »Vlare und Prac'h, wo sind sie? Was ist aus ihnen geworden? Sie waren doch bei uns gewesen, oder?« »Ich weiß es auch nicht«, flüsterte Arlene. »Aber ich habe die Ahnung, daß wir Furchtbares erlebten.« »Aber wir sollten zur Erde zurückkehren«, warf Atan Shubashi ein. »Das wurde uns versprochen. Doch das hier kann nicht unsere Erde sein. Die Bewohner dieses Planeten mögen ihre Welt Erde nennen und sich selbst Menschen, aber es sind nicht die Menschen, die wir verlassen haben – und es ist auch nicht die Erde, die uns ausgeschickt hat. Sonst müßten sich die Verantwortlichen wenigstens an PRO-
JEKT PERSEIDEN erinnern, selbst dann, wenn wir voraussetzen, daß ein radikaler Umschwung stattgefunden hat, in dessen Gefolge das alte Personal von T.R.A.V. vollzählig gegen neues ausgetauscht wurde.« »Das ist richtig«, erwiderte Cliff. »Dennoch fühle ich, daß wir diesmal an der richtigen Adresse sind.« »Mir geht es genauso«, sagte Helga. »Und doch ...« »Auf der Phantom-Erde hatten wir niemand, den wir von der richtigen Erde kannten«, sagte Hasso. »Wenn das dort die richtige Erde ist, müßte meine Familie ...« Er schluckte und starrte aus feuchten Augen auf den blau und weiß schimmernden Planeten. »Vielleicht erfahren wir gleich mehr«, sagte Cliff und nickte dem Bildschirm zu, auf dem das Abbild Han Tsu-Gols wieder aufgetaucht war. Han Tsu-Gol wirkte angespannt. »Bitte, beantworten Sie mir einige Fragen, Commander McLane!« sagte er. »Darf ich mit Ihrer Zusammenarbeit rechnen?« »Fragen Sie, Han!« erwiderte Cliff. Han Tsu-Gol neigte leicht den Kopf. »Wer war Ihr letzter Vorgesetzter?« fragte er. »Raummarschall Wamsler«, antwortete Cliff. »Seit wann ist er nicht mehr im Amt?« »Das ist richtig«, meinte Han. »Wie lautete der Auftrag – Ihr Auftrag, Commander?« »Das Sternenschiff zu füh...« Cliff unterbrach sich und wurde blaß. »Das Sternenschiff! Was ist mit ihm?« Er blickte sich nach seinen Freunden um. »Wißt ihr etwas?« Als seine Freunde stumm die Köpfe schüttelten, wandte sich Cliff wieder dem Bildschirm zu.
»Wir sollten das Erbe einer uralten Rasse erforschen. Das ist alles, was ich noch weiß. Alles, was wir nach unserem Aufbruch erlebten, ist vergessen. Ich begreife nicht, wieso, aber es muß so sein. Oder haben Sie irgendwann eine Nachricht vom großen Sternenschiff erhalten, Han?« »Nein, Commander«, antwortete Han Tsu-Gol zurückhaltend. »Es hat sich seit seinem Aufbruch nicht wieder gemeldet.« »Das ist nicht ungewöhnlich«, meinte Cliff. »So lange liegt das schließlich nicht zurück.« Er bemerkte einen seltsamen Ausdruck in Hans Augen, den er nicht zu deuten vermochte. »Sie wissen mehr, als Sie uns bisher gesagt haben, Han!« brauste er auf. »Aber anstatt es uns zu sagen, halten Sie mich mit Ihrem Frage- und Antwortspiel hin. Ich werde kein Wort mehr sagen, bevor Sie nicht mit Ihren Informationen herausgerückt sind.« Han Tsu-Gol schüttelte traurig den Kopf. »Bitte, beruhigen Sie sich, Commander McLane«, sagte er. »Es gibt Wahrheiten, die so unglaublich erscheinen, daß man sie nicht glaubt, wenn man unvorbereitet mit ihnen konfrontiert wird. Außerdem habe ich die Pflicht, Rücksicht auf die Gefühle meiner Mitmenschen zu nehmen.« Cliff McLane spürte ein dumpfes Gefühl bevorstehenden Unheils. Dennoch lächelte er sarkastisch. »Es ist völlig neu für mich, daß jemand im Oberkommando der Raumflotte Rücksicht auf die Gefühle seiner Untergebenen nimmt. Außerdem ist die ORIONCrew bekannt – und sogar berüchtigt – dafür, daß sie den Dingen auf den Grund geht. Wir wollen endlich wissen, warum sich auf der Erde in dem Jahr seit un-
serem Start soviel verändert hat, daß man nicht einmal mehr unsere Namen und den unseres Schiffes kennt.« Han Tsu-Gol blickte ihn betrübt an. »Es tut mir außerordentlich leid, Commander McLane, aber ich sehe ein, daß ich offen mit Ihnen reden muß. Als ich die Bezeichnung ›PROJEKT PERSEIDEN‹ von Ihnen hörte, erinnerte ich mich an einige Informationen, die mir über diese Unternehmung zugänglich wurden. Daraufhin unterbrach ich unser Gespräch und fragte die alten Computerspeicher ab. Aus ihnen erfuhr ich, daß das große Sternenschiff vor rund siebenundsechzig Erdjahren aufbrach, um PROJEKT PERSEIDEN zu verwirklichen. Seitdem galt es als verschollen. Jetzt werden sie verstehen, warum man sich nicht an die ORION VIII und ihre Crew erinnert und warum es keinen Raummarschall Wamsler mehr gibt.« Als Han Tsu-Gol schwieg, setzte Cliff mehrmals zum Sprechen an. Doch er brachte keinen Ton heraus. Ihm war, als flösse plötzlich Eiswasser durch seine Adern. Seine Gedanken vollführten einen Tanz in seinem Kopf, und ihn schwindelte. Plötzlich ertönte in der Steuerkanzel – irgendwo schräg hinter Cliff – ein unartikulierter Schrei. Cliff brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer den Schrei ausgestoßen hatte. Hasso Sigbjörnson! Der Maschineningenieur war das einzige Mitglied der ORION-Crew, das Familie auf der Erde zurückgelassen hatte, als man zum PROJEKT PERSEIDEN aufgebrochen war. Vor siebenundsechzig Jahren!
Cliff McLane schluckte und sagte stockend: »Sie entschuldigen, Han.« Er schaltete das Funkgerät aus und wandte sich um. Hasso hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten. Arlene kramte bereits in der Bordapotheke, während Mario und Atan sich um den Freund kümmerten. Erschüttert ging Cliff auf Hasso zu. Er wußte, daß er Hassos Lage nicht verbessern konnte, aber er wollte wenigstens versuchen, sie ein wenig erträglicher für ihn zu machen. Danach mußten sie alle zusammen überlegen, was für Auswirkungen die Tatsache, daß ihnen irgendwo, irgendwann und irgendwie siebenundsechzig Jahre verlorengegangen waren, auf ihr weiteres Leben haben würde.
2. Die Hochdruck-Injektionsdüse zischte. Arlene wartete, bis die Füllung sich in Hassos Blutkreislauf entleert hatte, dann trat sie zurück. Hasso Sigbjörnson lag auf einem herausgeklappten Wandbett. Aus seinem Gesicht war alles Blut gewichen: die Hände zuckten unruhig. »Wir sind bei dir, Hasso«, sagte Cliff. »Und so soll es auch bleiben.« »Meine Frau!« flüsterte der Ingenieur. »Und die ...« Helga Legrelle nahm seine Hände. »Wir fühlen mit dir, Hasso«, erklärte sie. »Wir alle sind deine Freunde, und wir lieben dich – und wir brauchen dich.« Allmählich wirkte die Injektion. Hassos Hände zitterten kaum noch, und in sein Gesicht kehrte allmählich wieder die Farbe zurück. »Aber, wie ...?« flüsterte Hasso Sigbjörnson. Cliff McLane wußte, was der Freund fragen wollte, auch wenn er die Frage nicht voll ausgesprochen hatte. Und er merkte, wie die Antwort in seinem Gehirn heraufdämmerte. »Allmählich kommt mehr an die Oberfläche des Bewußtseins«, sagte er. »Da war etwas mit einer Dimensionsfessel und mit einem temporären Nebeneffekt. Irgendwie besteht da ein Zusammenhang. Wenn die Erinnerungen doch schneller wiederkommen würden!« »Das wäre wahrscheinlich nicht gut für unsere geistige Gesundheit«, meinte Arlene, die sich erstaunlich schnell gefaßt hatte. »Auch ich spüre, wie sich etwas
an die Oberfläche meines Bewußtseins drängt – und wieder glaube ich eine Stimme zu hören, eine lautlose Stimme.« »Die Stimme des Varunja – oder der Erben des Varunja«, warf Mario ein. »Sie hat uns vor diesem temporären Nebeneffekt gewarnt. Ich glaube, wir ahnten, was das bedeutete, wagten aber nicht, es zu Ende zu denken. Unsere Eigenzeit muß damals stark verlangsamt worden sein – relativ zum Zeitablauf im übrigen Universum, auf jeden Fall aber relativ zum Zeitablauf auf der Erde und den anderen von Menschen bewohnten Planeten.« »Während für uns Minuten vergingen, verstrichen auf der Erde siebenundsechzig Jahre – beziehungsweise Sechsundsechzig, denn wir müssen ja auch die Zeit gebraucht haben, um dorthin zu kommen, wo wir unsere Abenteuer erlebten.« »Er schläft«, sagte Helga und ließ Hassos Hände behutsam los. »Ich fürchte mich vor dem Augenblick, in dem er erwacht und sich an alles erinnert, was dieser Han Tsu-Gol sagte.« »Eine komische Uniform hatte Han an«, warf Atan ein. »Wie ein Operettenfürst.« »Siebenundsechzig Jahre sind seit unserem Aufbruch mit dem großen Sternenschiff vergangen«, sagte Cliff ernst. »In diesen siebenundsechzig Jahren hat sich natürlich viel verändert.« Sein Blick erhellte sich. »Aber die Raumfahrt ist geblieben, Freunde. Wir werden neue Aufgaben bekommen, und vor allem ist es Arbeit, die Hasso braucht, um den Schmerz zu überwinden, viel Arbeit.« »Die Mächte der Finsternis sind allgegenwärtig«, warf Mario de Monti ein. »So sagte die Stimme. Sie woll-
te uns damit auffordern, die Menschheit zu warnen.« »Wovor?« fragte Cliff McLane. »Vor etwas so Ominösem wie ›den Mächten der Finsternis‹? Man würde uns auslachen.« »Versuchen müssen wir es, auch wenn wir nicht wissen, was mit den Mächten der Finsternis – beziehungsweise dem Bösen – gemeint ist. Überhaupt der Begriff ›das Böse‹! Nichts ist nur gut oder nur böse, sondern in uns allen steckt in gleichem Maße beides: Gutes und Böses. Vielleicht wollte uns die Stimme vor dem Bösen warnen, das in uns Menschen steckt.« »Ich glaube, sie meinte etwas Konkretes«, sagte Mario. »Cliff, wäre es nicht Zeit, wieder Verbindung mit der Erde aufzunehmen?« Cliff nickte und kehrte zur Funkanlage zurück. Die alte Einstellung war nicht geändert worden, so daß es genügte, die Apparatur einzuschalten. Sofort erhellte sich der Bildschirm – und auf ihm war unverändert das Abbild Han Tsu-Gols zu sehen. Der Mann blickte mit anscheinend unendlicher Geduld auf das Gegengerät. »Wie geht es Ihrem Gefährten, Commander McLane?« fragte er. »Er schläft«, antwortete Cliff, dankbar für das Interesse, das sein Gesprächspartner dem Befinden Hassos entgegenbrachte. »Wir haben ihm eine Injektion gegeben. Wie geht es mit uns weiter, Han?« »Sie alle sind selbstverständlich herzlich willkommen«, antwortete Han Tsu-Gol mit einer Freundlichkeit, die nicht gespielt zu sein schien. »Ich habe dafür gesorgt, daß die ORION VIII einen Leitstrahl zur Basis 104 bekommt, in der sie früher stationiert war. Außerdem ist bereits die Überführung der Besatzung
in unser bestes Hospital organisiert worden. Sie werden die beste medizinische und psychologische Betreuung bekommen.« »Das kommt überhaupt nicht in Frage!« wehrte Cliff unwirsch ab. »Meine Crew ist völlig gesund und braucht keine stationäre Betreuung, und vor allem unser Ingenieur braucht keinen Arzt, sondern den Beistand seiner Freunde – und möglichst bald neue Aufgaben. Wir anderen möchten selbstverständlich auch bald wieder arbeiten – und zwar gemeinsam.« Han Tsu-Gol lächelte nachsichtig. »Ihre Wünsche werden berücksichtigt werden, so gut die Umstände das erlauben«, erwiderte er. »Aber machen Sie sich bitte klar, daß die Verhältnisse auf der Erde sich in den vergangenen siebenundsechzig Jahren so stark verändert haben, daß es unbedingt ratsam ist, Sie alle schonend darauf vorzubereiten.« Cliff lächelte ironisch. »Wenn Sie sich genauer über die ORION-Crew informiert hätten, würden Sie wissen, daß wir stets als außerordentlich flexibel gegolten haben, Han. Vor allem Wamsler und Villa hätten Ihnen ein Lied davon singen können. Ich denke, alles was wir brauchen, sind ein paar einfache Belehrungen über neue Sitten und Gebräuche. Danach dürfen Sie uns getrost auf die Menschheit loslassen.« Han wirkte leicht irritiert. »Das kann und will ich nicht allein entscheiden, Commander McLane«, erklärte er. »Ich verantworte es, Sie unter Umgehung stationärer medizinischer und psychologischer Behandlung in einem Erholungszentrum einzuquartieren. Alles Weitere aber kann erst entschieden werden, wenn Sie dem Ersten Bürger und allen Orcasten Bericht erstattet haben. Ich
bitte Sie, Verständnis dafür aufzubringen.« Cliff überlegte, ob er nach der Bedeutung der Begriffe »Erster Bürger« und »Orcasten« fragen sollte. Doch er sagte sich, daß das nur zwei von sicherlich zahlreichen neuen Begriffen waren, die auf sie zukommen würden. Es hätte wenig Sinn gehabt, alles schon beim ersten Gespräch genau wissen zu wollen. »In Ordnung, Han«, erwiderte er deshalb nur. * »Leitstrahl steht, Cliff!« meldete Atan Shubashi. Cliff McLane saß vor den Steuerkontrollen des Schiffes. Er war in tiefes Nachdenken versunken und schrak bei Atans Worten auf. »Danke, Atan!« sagte er, als er den blinkenden grünen Lichtreflex auf dem Schirm des Führungsradars sah. »Ich nehme manuellen Landeanflug nach angepeiltem Leitstrahl vor.« Er betätigte einige Hebel und Schalter und riß die ORION VIII dadurch aus ihrer elliptischen Kreisbahn um die Erde heraus. Allmählich wuchs der blau und weiß gesprenkelte Ball der Erde im vorderen Bildschirm an. »Ich bin gespannt, wie es dort unten aussieht«, sagte Helga Legrelle. »Die Kollegin von der Kontrolle Erdnaher Bereich machte den Eindruck auf mich, als würde dort jeden Tag ein anderes Fest begangen.« »Diesen Eindruck hatte ich ganz und gar nicht, Helga-Mädchen«, meinte Mario de Monti. »Die Kollegin war zwar gekleidet wie zum Karneval, aber sie machte auf mich eher einen sauertöpfischen, dienstbeflissenen Eindruck.«
»Ich muß doch bitten!« sagte Atan mit gespielter Entrüstung. »Bin ich etwa nicht dienstbeflissen? Und sehe ich deswegen sauertöpfisch aus?« Mario, Arlene und Cliff lachten. Ihr Gelächter brach jedoch sofort ab, als Hasso sich auf seinem Wandbett regte. Arlene eilte zu ihm und setzte sich auf die breite freie Kante des Bettes. »Wie geht es dir, Hasso?« fragte sie. »Prächtig«, antwortete der Ingenieur mit unnatürlich glänzenden Augen. Er stand noch unter dem Einfluß der euphorisch wirkenden Drogenkomponente. »Warum liege ich eigentlich hier?« »Du hattest schlappgemacht!« rief Cliff über die Schulter. Er wollte den Freund an die bitteren Tatsachen erinnern, solange das Medikament ihm half, sie zu verkraften. »Ach, ja!« erwiderte Hasso. »Wir haben siebenundsechzig Jahre verloren.« Er lächelte breit. »Wenn ich mein holdes Weib wiedersehe, wird sie ihre dritten Zähne haben. Aber das macht nichts, gar nichts. Ich werde sie in meine Arme nehmen und ...« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Zornig stieß er Arlenes Hände weg, schwang sich aus dem Bett und schrie: »Warum lacht ihr denn nicht? Ihr amüsiert euch doch heimlich darüber, daß ich eine Tote in die Arme nehmen will, oder?« »Niemand amüsiert sich, Hasso!« sagte Atan scharf. »Du solltest deine Freunde besser kennen. Aber du solltest auch nicht verrückt spielen.« Er deutete auf den vorderen Bildschirm. »Dort unten gibt es vielleicht niemand mehr, den wir von früher her persönlich kennen, aber es gibt die Erde, die zu schützen wir gelobt haben. Das darfst du nicht vergessen!«
»Sei nicht so hart zu ihm, Atan«, flüsterte Helga. Hasso Sigbjörnson holte tief Luft. »Laß nur, Helga-Mädchen«, sagte er beherrscht. »Er hat es gutgemeint. Ich werde mich ab sofort zusammenreißen. Sagt mir nur die Meinung, wenn ich wieder durchdrehen sollte. Wascht mir den Kopf, wenn ich es verdient habe.« »Einverstanden«, sagte Cliff. »Setz dich in den Reservesessel neben mich.« Hasso schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Passagier, sondern der Maschineningenieur dieses Schiffes«, erklärte er. »Mit ihnen steht es nicht gut, wenn ich mich recht erinnere. Ich muß mich um sie kümmern, sonst fallen sie bei der Landung aus und wir stürzen in den Bach.« Er verließ die Steuerzentrale und meldete sich wenig später über die Bordverbindung wieder. »Wir könnten es gerade noch schaffen. Lieber Himmel, sind die Triebwerke ausgeleiert. Ich möchte bloß wissen, was wir mit unserem Schiff angestellt haben. Nicht ein Quentchen Schlafende Energie ist mehr vorhanden.« Cliff McLane atmete verstohlen auf. Er war erleichtert, daß Hasso sich so schnell gefangen hatte. Sicher, es würden noch einige Krisen kommen, aber sie, seine Freunde, durften Hasso eben in den nächsten Wochen nicht alleinlassen – und mußten dafür sorgen, daß er echte Arbeit bekam. »Vielleicht überläßt man uns ein neues Schiff, bis die ORION überholt ist«, meinte er. »Stell dir das nicht so einfach vor, Cliff«, wandte Hasso ein. »In siebenundsechzig Jahren hat es bestimmt eine Menge neuer Entwicklungen gegeben.
Wahrscheinlich müssen wir wochenlang büffeln, um uns damit vertraut zu machen.« »Wenn man uns überhaupt wieder auf ein Schiff läßt«, warf Mario ein. »Nominell haben wir schließlich alle schon die Pensionierungsgrenze überschritten.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Warum hat dieser Han Tsu-Gol eigentlich nicht gefragt, wieso wir nach siebenundsechzig Jahren nicht zu Tattergreisen geworden sind?« »Das wird er bestimmt nachholen«, meinte Helga. »Aber mich interessiert im Moment etwas anderes. Cliff, kannst du die Schirme nicht auf Ausschnittvergrößerung schalten? Ich möchte sehen, wie sich die Erde verändert hat.« »Darauf bin ich auch gespannt«, erwiderte Cliff. Er schaltete die der Erde zugewandten Bildschirme auf Ausschnittvergrößerung. Zuerst bot sich den Raumfahrern das gewohnte Bild. Als sie aber näher und näher an die Erde herankamen, sahen sie die Unterschiede zu den Bildern, die sie in ihrer Erinnerung bewahrt hatten. »Die Städte sind größer geworden – viel größer«, sagte Helga. »Aber was bedeutet das Funkeln und Glitzern über den Städten? Energieschirme?« Cliff McLane beugte sich interessiert vor, als könnte er dadurch besser sehen, was natürlich eine Fiktion war. »Kuppeln aus Energie oder aus transparentem Kunststoff«, sagte er nachdenklich. »Aus Energie wäre zu kostspielig«, wandte Atan Shubashi ein. »Es sei denn, die Erde befände sich im Kriegszustand.« »Das halte ich für unwahrscheinlich«, erklärte Ar-
lene. »Wäre Krieg, würde es im erdnahen Bereich von Raumschiffen wimmeln. Wir sind aber gerade einer Mondfähre begegnet.« »Dafür gibt es eine Menge Orbitalstationen mehr als früher«, sagte Helga Legrelle. »Vielleicht dienen sie Verteidigungszwecken.« »Dann hätten sie sich zuallererst, mit Energieschirmen umgeben«, entgegnete Cliff. »Ich denke, die Stadtkuppeln sind aus Kunststoff. Dann dürften die Städte vollklimatisiert sein.« »Was ist das?« fragte Arlene und deutete auf eine Ausschnittvergrößerung, die inmitten einer riesigen Fläche voll üppiger Vegetation regelmäßig aussehende helle Streifen zeigte. »Straßen!« rief Atan überrascht. »Ehemalige Autobahnen, die man einfach dem Verfall preisgegeben hat!« »Degeneration!« stellte Mario düster fest. »Wir dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen«, sagte Cliff. »Individualverkehr hat zwar seine Reize, ist aber unrationell. Man wird bessere Methoden entwickelt haben, das Verkehrsaufkommen zu bewältigen. Achtung, wir tauchen in die Atmosphäre ein! Unter uns liegt Südchina. Wir fliegen mit südöstlichem Kurs weiter und werden bald Indonesien sichten und danach die Nordspitze Australiens mit dem Carpentaria-Golf.« »Und zweifellos werden wir die Raumbasis 104 nicht wiedererkennen«, warf Hasso Sigbjörnson ein. Cliff schaute sich nachdenklich zu dem Bildschirm um, auf dem der Ingenieur zu sehen war. »Vielleicht doch, Hasso«, erwiderte er. »Wie ich Han Tsu-Gol einschätze, hätte er uns auf gravierende
Veränderungen innerhalb der Basis vorbereitet, wenn es sie gäbe.« »Dann kann sich die Raumfahrt nicht erheblich weiterentwickelt haben«, warf Mario ein. »Vielleicht stagniert sie sogar.« Cliff McLane preßte die Lippen zusammen. Der Gedanke, daß die irdische Raumfahrt stagnieren könnte, behagte ihm gar nicht. »Wir werden sehen«, erwiderte er leise. * Die ORION VIII war in den Strudel des CarpentariaGolfs eingetaucht und von dem Zugstrahl in die Tiefe gezogen worden. Cliff McLane schaltete sämtliche Scheinwerfer des Schiffes ein, als die Stahltore über ihnen zufuhren und die Bodenplatte des Zentrallifts der ORION den hellen Betonboden der Landehalle berührte. Die große Halle wurde voll ausgeleuchtet. »Es sieht genauso aus, wie ich es in Erinnerung habe«, sagte Mario de Monti. Mit rumpelndem Geräusch schlossen sich die Stahltore endgültig. Im gleichen Augenblick wurde die Halle beleuchtet. Cliff schaltete die Schiffsscheinwerfer aus. »Als wären seit unserem Abflug erst ein paar Tage vergangen«, meinte Atan. Cliff nickte und beobachtete schweigend. Wie immer wirkte die Halle riesig im Vergleich zu dem diskusförmigen Raumschiff. Früher hatte Cliff sich immer zu Hause gefühlt, wenn er hier angekommen war. Heute wirkte die Vertrautheit befrem-
dend auf ihn, denn sie entsprach nicht den Erwartungen, wenn man siebenundsechzig Jahre abwesend war. In den Hallenwänden öffneten sich lautlos mehrere Schotte. Vier kleine Gruppen seltsam gekleideter Gestalten marschierten durch sie in die Halle und auf die ORION VIII zu. Unterwegs formierten sie sich so, daß sie einen Kreis um das Schiff bilden mußten, wenn sie es erreichten. »Warum laufen sie so komisch?« meinte Helga. »Richtig puppenhaft.« »Roboterhaft«, warf Mario ein. »Es sind Roboter«, sagte Cliff. »Erstaunlich menschenähnliche Roboter zwar, aber doch keine Menschen.« »Was bedeutet das?« fragte Arlene. »Will man uns durch Roboter verhaften lassen?« »Ich könnte noch genug Energie für den Aufbau eines Schutzschirmes bereitstellen«, meldete sich Hasso Sigbjörnson über das Bordradio. »Das würde die Konfrontation mit den Gegebenheiten nur hinauszögern«, entgegnete Cliff. »Wir müssen uns so oder so den Tatsachen stellen. Außerdem sind die Roboter unbewaffnet. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Vorsichtsmaßnahme. Die Verantwortlichen kennen uns nicht, wissen nicht, woher wir kommen und mit welchen Absichten. Akzeptieren wir also ihre Sicherheitsmaßnahmen, solange wir nicht unmittelbar bedroht werden.« Drei weitere Schotte öffneten sich. Aus jeder Öffnung schwebte ein elliptisches Fahrzeug. In einem von ihnen saßen zwei Frauen und zwei Männer, alle in einer Art und Weise gekleidet, die als futuristisch-
grotesk bezeichnet werden konnte, solange man nicht daran gewöhnt war. Die beiden anderen Fahrzeuge waren leer. Alle drei schwebten auf die ORION VIII zu und hielten neben dem Zentrallift an. »Du kannst deine Maschinen abschalten, Hasso!« sagte Cliff. »Wir steigen aus.« Er sprach einen kurzen Lagebericht auf das Bordbuch, enthielt sich aber jeden Kommentars der Geschehnisse. Danach erhob er sich, überprüfte den Sitz seiner schwarzen Bordkombination und fuhr mit den anderen Mitgliedern der Crew im Lift nach unten. Als sich das Außenschott der Zentralschleuse öffnete, fühlte Cliff McLane sein Herz höher schlagen, denn der Augenblick war gekommen, in dem sie ihre Füße erstmals seit siebenundsechzig Jahren wieder auf den Boden der Erde setzten. Dann gab er sich einen Ruck und trat als erster ins Freie – beziehungsweise in die Halle. Hinter ihm verließen seine Freunde die Schleusenkammer, stellten sich links und rechts neben ihm auf und musterten das gemischte Empfangskomitee. Ein Mann stieg bedächtig aus dem Fahrzeug, dessen Boden wenige Zentimeter über dem Betonboden der Halle schwebte. Er war schlank, kleiner als Cliff und trug mattsilbern getönte Haftschalen. Seine Kleidung war eine schaumig wirkende Komposition aus hellgrüner Hose, irisierend leuchtender Jacke mit hochgestelltem Kragen und wadenhohen dünnen Lederstiefeln. Zwei Schritte vor den Raumfahrern blieb der Mann stehen. Sein Blick streifte die Strahl- und Gasdruckwaffen der Crew, und sein Gesicht wurde um eine Schattierung blasser.
»Ich bin Dr. Herman Boyd«, stellte er sich vor und blickte dabei Cliff an. »Sie sind gewiß Commander McLane?« »Das bin ich«, antwortete Cliff. »Ich heiße Sie und Ihre Crew herzlich willkommen auf der Erde«, sagte Boyd. Er räusperte sich verlegen. »Bitte, Sie müssen Ihre Waffen abgeben. Das Tragen von Waffen ist auf der Erde gesetzlich verboten.« Cliff nickte, zog seine Waffen und hielt sie dem Mediziner hin. Jedenfalls nahm er an, daß Dr. Boyd ein Mediziner war. Boyd wurde noch blasser und wich einen Schritt zurück, als wäre vor ihm eine Stichflamme hochgeschlagen. »Nicht mir, bitte!« stieß er hastig hervor. »Die Roboter werden die Waffen wegbringen.« »Unsere Waffen beißen aber nicht, Doktorchen!« sagte Mario sarkastisch. Boyd preßte die Lippen zusammen. »Das können Sie nicht verstehen«, erwiderte er. »Ich muß mich entschuldigen.« Er gab den Robotern einen Wink. Sechs der verblüffend menschenähnlichen Maschinenwesen tappten heran, stellten sich vor den Raumfahrern auf und nahmen die dargereichten Waffen entgegen. Danach drehten sie sich eigenartig steif wieder um, marschierten zu ihren Kollegen zurück – und sämtliche Roboter setzten sich wieder in Richtung auf die Schotte, durch die sie gekommen waren, in Bewegung. Dr. Herman Boyd wirkte unendlich erleichtert. Er brachte sogar ein Lächeln zustande. »Wenn Sie bitte in den freien Robogs Platz nehmen
wollen, meine Damen und Herren!« sagte er und deutete einladend auf die beiden leeren Fahrzeuge. »Sie werden Sie ins Erholungszentrum bringen. Ich begleite Sie selbstverständlich.« Cliff blickte zu den Begleitern Boyds, die in ihrem Fahrzeug sitzen geblieben waren und neugierig herüberstarrten. »Und Ihre Kollegen?« fragte er. »Sie werden das Schiff überprüfen«, antwortete Boyd. »Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, daß es generalüberholt werden muß«, warf Hasso Sigbjörnson ein. »Der Hyperantrieb ist restlos hinüber, und auch der Lichtantrieb taugt nicht mehr viel. Wir hatten Glück, daß wir die Landung schafften.« Wieder wurde Boyd blaß. »Dann war es unverantwortlich von Ihnen, die Landung zu riskieren. Sie hätten um Abholung bitten sollen.« »Niemand hat sich erkundigt, wie es um unser Schiff steht«, erklärte Cliff McLane. »Aber lassen wir das Thema fallen. Kommt, Freunde!« Kurzentschlossen schwang er sich in einen der offenen Robotwagen, der von innen nicht viel besser aussah, als eine leere Halbschale mit vier Sitzen. Vom Antriebs- und Steuerungssystem war überhaupt nichts zu sehen. Arlene und Hasso folgten ihm. Mario, Helga und Atan stiegen in das zweite Fahrzeug. Dr. Herman Boyd setzte sich auf den linken Vordersitz, der für ihn freigelassen worden war. Cliff beobachtete ihn neugierig. Er wollte wissen, wie das Fahrzeug gesteuert wurde. Aber der Mediziner legte seine Hände untätig auf die Knie. »Fahrtziel: Erholungszentrum, innerer Bezirk,
Sektor drei-fünf-Beta-Blau!« sagte er. »Simultan mit Robog drei!« Leise summend setzte sich das Fahrzeug in Bewegung, den Bug auf eine Öffnung richtend. Als Cliff sich umdrehte, sah er, daß das mit Mario, Helga und Atan besetzte Fahrzeug dem ihren in zirka drei Metern Abstand folgte. »Nicht schlecht – für den Anfang«, sagte er zu sich selbst.
3. Der Mharut hatte mit seinen empfindlichen Sensoren festgestellt, daß die Besatzung das Raumschiff verließ. Er wartete noch kurze Zeit, dann schwebte er aus seinem Versteck und durchstreifte das Schiff. In der Steuerkanzel machte er halt. Das Licht der Innenbeleuchtung zauberte blitzende Reflexe auf seine anthrazitfarbene eiförmige Hülle, die 1,20 Meter hoch war und in der Mitte 0,36 Meter durchmaß. Langsam drehte sich der Mharut in der Steuerzentrale um sich selbst. Seine Sensoren arbeiteten lautlos, aber sie erfaßten sämtliche Vorgänge, an denen Energie beteiligt war, wobei es keine Rolle spielte, wie hoch der Energieaufwand war. Die Aufmerksamkeit des Mharuts galt in erster Linie den Internsystemen des Raumschiffs. Doch ein Teil seiner Aufmerksamkeit war auch nach draußen gerichtet, denn dort hatte er die Bewegungen zweier Gruppen von Wesenheiten festgestellt: einer Gruppe, die aus ihm verwandten Einheiten bestand, und einer zweiten Gruppe, die trotz ihrer prinzipiellen funktionellen Unterlegenheit zur dominierenden Intelligenz des Himmelskörpers gehörte, auf dem das Schiff gelandet war. Nach einiger Zeit konzentrierte der Mharut den größten Teil seiner Aufmerksamkeit auf die Ballung jener unbewußten – beziehungsweise bewußtseinslosen – Quasi-Intelligenz, die sich in einem System aus integrierten Schaltungen, Magnetplättchen und Elektronenströmen manifestierte.
Dort hoffte der Mharut, die Informationen zu erhalten, die er benötigte, um den uralten Auftrag zu erfüllen. Lange Zeit hatte er auf einer verwüsteten Welt gewartet, inmitten der störenden Kommunikationsimpulse von Wesenheiten, deren geistige Extrakte zu kristallinen Komplexen erstarrt waren. Als dann endlich ein Raumschiff auf der Zwischenstation landete, hatte er erkennen müssen, daß die Wesenheiten, die es steuerten, vom Geist des Erbfeindes befallen waren. Er hätte sie alle vernichten können, aber über dem Vernichtungsbefehl stand der Befehl, ein Optimum an Informationen zu sammeln und weiterzugeben – wohin, wußte der Mharut nicht, denn die alten Bastionen waren von den Schwingen der Nacht ausgelöscht worden. Aber der Befehl hatte nichts von seiner Priorität verloren und auch nichts von seiner Logik, denn die Vernichtung war erst dann effektiv, wenn von ihr nicht nur Ableger getroffen wurden, sondern auch die Nester des Erbfeindes mitsamt der Brut. Darum war der Mharut mit Hilfe seiner besonderen Fähigkeiten heimlich an Bord des kleinen und danach des großen Schiffes gegangen und hatte gewartet, bis die Ableger in ihr Nest zurückkehrten. Da er allein jedoch nicht in der Lage war, das ganze Nest für alle Zeiten unschädlich zu machen, mußte er die kosmischen Koordinaten des Nestes ermitteln und weitergeben. Logischerweise würden sich die betreffenden Daten in jener Ballung von QuasiIntelligenz befinden und abrufen lassen. Mit der absoluten Gewißheit, daß ihm die Bedienung der Apparatur keine Schwierigkeiten bereiten würde – denn ihr Komplexitätsgrad lag weit unter
dem seines eigenen quasi-intelligenten Steuersystems – schwebte er auf die Bedienungseinheit zu. Da die Ableger dieses Nestes zwei Extremitäten mit fünfgliedrigen Endstücken zur Bedienung benutzten, bildete der Mharut zwei tentakelhafte Auswüchse mit ebenfalls fünfgliedrigen Endstücken. Er wollte gerade das Abrufsystem der QuasiIntelligenz einschalten, als der Teil seiner Sensoren, deren Aufmerksamkeit nach draußen gerichtet war, die Vibrationen und Wärmeausstrahlungen von drei Ablegern registrierte, die das Schiff durch die Mittelstütze betraten. Wäre der Mharut schon im Besitz der angestrebten Informationen gewesen, er hätte die Ableger in der Steuerzentrale erwartet und getötet. Da er sie aber noch nicht besaß, wäre ein solches Vorgehen nicht zweckmäßig gewesen. Es hätte andere Ableger alarmiert, wodurch ihm die Möglichkeit genommen worden wäre, die Informationen abzurufen. Da er nicht über das ganze Spektrum der Maßnahmen informiert war, die diese Ableger gegen Datenräuber ergreifen konnten, entschied er sich dafür, die Taktik des heimlichen Agierens vorläufig beizubehalten. Die bisherigen Erfahrungen mit den Ablegern, die sich Menschen nannten, hatten dem Mharut bewiesen, daß sie nichts von der Möglichkeit wußten, die Gestaltprojektion eines Objekts aufzulösen. Wahrscheinlich war ihnen nicht einmal klar, daß alle Materie sich aus unterschiedlichen – subatomaren – energetischen Ladungen zusammensetzt, die von den Urkräften des Universums zu allen möglichen Objekten projiziert werden, angefangen vom Atom bis hin zu den komplizierten organischen Komplexen.
Die anthrazitfarbene Hülle des Mharuts leuchtete gelblich auf, dann verschwammen die Konturen. Eine Art Nebel entstand, der sich aber zusehends verdünnte und schließlich unsichtbar wurde, als die energetischen Ladungen des Mharuts sich weit genug über die Grenze der Normalprojektion ausgedehnt hatten. Nur ein winziger Ballungskern blieb »stabil«, aber auch er war zu klein, um von menschlichen Augen oder von Ortungsgeräten wahrgenommen zu werden. Langsam schwebte der Ballungskern durch den Lift, an den drei Ablegern vorüber, hinter sich gleich einer unsichtbaren Schleppe die expandierten energetischen Ladungen nachziehend. Als das Unsichtbare das Schiff verlassen hatte, bewegte es sich schneller. Der Ballungskern vermochte die Ladungen nur für eine begrenzte Zeitspanne an sich zu binden und vor energetischen Fremdeinflüssen zu schützen. Danach mußte die alte Gestaltprojektion wiederhergestellt werden – oder sie war nicht mehr reproduzierbar. Da Stahlwände und Betonböden für den Mharut in seiner expandierten Zustandsform ebensowenig Hindernisse waren wie lebende Organismen, gab es nichts, was ihn hätte aufhalten können. Noch vor Erreichen der kritischen Zeitgrenze stellte der Ballungskern die alte Gestaltprojektion wieder her. Der Mharut aktivierte sofort seine Sensoren. Er registrierte, daß er sich in einer ruhigen Zone eines vorwiegend maschinellen Systems befand. Er erfaßte auch, was in dem Schiff vorging, das er eben verlassen hatte. Die drei Ableger zapften die Quasi-Intelligenz an
und entleerten die darin enthaltenen Informationen in ein Speicherelement. Zurück blieb eine funktionelle Einheit ohne wesentlichen Informationswert. Der Mharut registrierte es mit absoluter Sachlichkeit. Er war keiner emotionalen Regung fähig. Im gleichen Augenblick wurde die Quasi-Intelligenz des Raumschiffes für ihn uninteressant. Er errechnete die Wahrscheinlichkeitswerte zweier sich bietender Möglichkeiten und kam zu dem Schluß, daß die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs für ihn am größten war, wenn er sich an die Ableger hielt, die mit dem Raumschiff gekommen waren. In ihren organischen Gedächtnisspeichern mußten die Daten vorhanden sein, nach denen er suchte. Nach kurzer Zeit hatten seine Sensoren den Aufenthaltsort der sechs Ableger ermittelt. Er verließ sein Versteck und begab sich auf den Weg zu den Informationsträgern ... * Die beiden Fahrzeuge waren mit hoher Geschwindigkeit durch unterirdische Gänge und Hallen geschwebt, und je weiter sie sich von der Raumbasis 104 entfernten, um so mehr schwand die Vertrautheit der Eindrücke. Cliff McLane verhielt sich vollkommen ruhig. Er hatte genug damit zu tun, alle sich bietenden Wahrnehmungen zu erfassen. Sie alle geistig zu verarbeiten, war ihm bei ihrer Fülle einfach nicht möglich. Er erkannte, daß die alte Raumbasis praktisch nur noch das Kernstück einer erheblich erweiterten Anlage war. Gleichsam wie Jahresringe waren die einzel-
nen Anbausektoren durch ihre nach außen zu immer futuristischer werdenden Konstruktionselemente voneinander zu unterscheiden. Stahlbeton wurde von Glasfaserbeton abgelöst, Glasfaserbeton von metallisch schimmerndem Plastik und dieses wiederum von glasartig durchsichtigen und halbdurchsichtigen Bögen, Wandverkleidungen und domartigen Hallen, deren Stützpfeiler sich vereinigten und so miteinander verschmolzen, daß sie unsichtbar zu werden schienen. Immer mehr robotgesteuerte Schweber oder Gleiter begegneten der ORION-Crew. In ihnen saßen Frauen und Männer, die ähnlich gekleidet waren wie jene, denen die Crew zuerst begegnet war. Niemand trug Kleidungsstücke, die auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit Bordkombinationen oder Raumanzügen hatten. Und niemand trug Waffen. Als voraus ein rötlich schimmernder Schlund auftauchte, dessen Ränder pulsierten, richtete Cliff seine Aufmerksamkeit darauf. Sekunden später huschten die Fahrzeuge in den Schlund hinein. Sie und die in ihnen sitzenden Menschen wirkten wie mit Blut übergossen. Dann blieb der rötlich schimmernde Schlund zurück – und vor den Augen der ORIONCrew dehnte sich eine parkähnliche Landschaft, über die sich ein tiefblauer Himmel spannte. Cliff sah inmitten der parkähnlichen Landschaft ein dreistöckiges weißes Bauwerk, das sich aus zirka dreißig ziegelförmigen Wohneinheiten zusammensetzte. Breite Balkone klebten an den Außenfronten der Wohneinheiten, und vor dem ganzen Komplex schimmerte der Wasserspiegel eines Schwimmbeckens. Die beiden Fahrzeuge hielten auf einem plattenbe-
legten Vorplatz des Bauwerks an, ohne daß die Fahrtverzögerung zu spüren gewesen wäre. Dr. Herman Boyd wandte den Kopf und sagte: »Hier werden Sie vorläufig wohnen, Commander McLane. Gestatten Sie, daß ich Ihnen Ihre Unterkünfte zeige?« »Mit dem allergrößten Vergnügen«, erwiderte Cliff lächelnd. Er drehte sich zu seinen Freunden um. »Wie findet ihr das hier?« »Phantastisch!« rief Helga Legrelle. »Einen solchen Luxus hat T.R.A.V. uns damals nicht geboten.« »Aber das ist doch selbstverständlich«, versicherte Boyd und stieg aus. Die Crew folgte seinem Beispiel und ließ sich in das Bauwerk führen. Dr. Boyd zeigte ihnen eine der Wohneinheiten, bestehend aus Wohnraum, Schlafraum, Kommunikationsraum, Bad und Toilette – alles fremdartig und dennoch funktionell vertraut wirkend und mit verschwenderischem Luxus ausgestattet. »Jede Wohneinheit besitzt die gleiche Ausstattung, die Sie jedoch nach Ihren individuellen Wünschen jederzeit ändern können«, erklärte er. »Suchen Sie sich aus, wo Sie wohnen möchten. Der gesamte Komplex steht zu ihrer Verfügung.« »Hat er denn bisher leergestanden?« erkundigte sich Mario de Monti befremdet. »Er war zur Hälfte belegt«, antwortete Boyd. »Aber selbstverständlich haben wir die anderen Personen umquartiert.« »Warum das?« fragte Mario. »Ich liebe die Nähe anderer Menschen.« »Besonders, wenn sie weiblichen Geschlechts sind«, stichelte Helga.
Boyd räusperte sich verlegen. »Bitte, verstehen Sie, die Sitten und Gebräuche Ihrer Zeit unterscheiden sich erheblich von den unseren«, sagte er. »Wir wissen nicht, wie sich das Zusammenleben früher gestaltete, und Sie wissen nichts über unsere Normen. Deshalb müssen wir alles tun, um die Zeit der Anpassung so zu überbrücken, daß es zu keinen Mißverständnissen kommt.« »Ich denke, dafür bringen wir alle Verständnis auf, Boyd«, sagte Cliff. »Allerdings hoffe ich, daß Sie die Vorsicht nicht übertreiben. Wenn die Menschen dieses Zeitalters nicht weniger tolerant sind als wir, dürfte es keine unüberwindlichen Schwierigkeiten geben.« »Gegenseitige Toleranz ist wahrscheinlich das hervorstechende Merkmal unserer Gesellschaft«, erwiderte Boyd. »Dennoch bitte ich um etwas Geduld. Sie entstammen einem gewalttätigen Zeitalter, und wir müssen erst nachforschen, welche der damaligen Verhaltensnormen so extrem von unseren divergieren, daß bei einem Zusammentreffen Konflikte ausgelöst werden können.« »Konflikte lassen sich lösen – jedenfalls unter Menschen, die guten Willens sind«, sagte Arlene. »Oder weicht man heute Konflikten aus?« »Nein!« antwortete Boyd entschieden. »Aber noch hat Orcuna nichts entschieden, was sie betrifft. Deshalb bitte ich Sie nochmals, sich zu gedulden. Erholen Sie sich von den Strapazen Ihrer Reise ...« »Reise ist gut, Mann!« unterbrach Atan ihn. »Wir kommen geradewegs aus der Hölle. Wer ist übrigens Orcuna?« »Der Erste Bürger der Erde«, antwortete Boyd mit der
gleichen Bereitwilligkeit, mit der er auch alle vorhergehenden Fragen beantwortet hatte. »Ich bitte Sie, mich jetzt zu entschuldigen, meine Damen und Herren.« Cliff McLane folgte dem Mediziner auf den Flur und hielt ihn am Ärmel fest. Boyd zuckte bei der Berührung zusammen, blieb dann aber stehen und schaute Cliff fragend an. »Ich habe eine Bitte«, erklärte Cliff ernst. »Unser Maschineningenieur, Hasso Sigbjörnson, ließ eine Familie zurück, als wir vor siebenundsechzig Jahren die Erde verließen. Ich möchte, daß Sie sich nach dem Schicksal seiner Angehörigen erkundigen und mir Bescheid sagen. Aber wenden Sie sich nicht an Sigbjörnson, sondern nur an mich – und zwar unter vier Augen. Die Crew wird entscheiden, wie wir unserem Freund die Tatsachen beibringen. Ist das klar, Boyd?« »Die Crew wird das entscheiden?« fragte Herman Boyd ungläubig. Cliff nickte. »So war es und so wird es auch bleiben, Boyd. Die ORION-Crew gehört zusammen und entscheidet gemeinsam alles, was sie betrifft. Daran geht kein Weg vorbei.« »Ich verstehe«, erwiderte Boyd. »Sie hören bald wieder von mir, Commander McLane.« Cliff schaute dem Mann nach, wie er durch den langen Flur zum Lift ging. Als er verschwunden war, schüttelte er den Kopf. * »Hoffentlich tut sich Hasso nichts an, Cliff«, sagte Arlene.
»Das wird er nicht, weil er weiß, daß er damit die Crew im Stich ließe«, erwiderte Cliff. Arlene und er hatten selbstverständlich eine Wohneinheit bezogen. Nach einer wohltuenden Dusche befanden sie sich auf der Suche nach frischer Kleidung. Was sie bisher gefunden hatten, entsprach aber so wenig ihrem Geschmack, daß sie es nicht anrührten. »Ich fürchte, wir müssen unsere alten Sachen wieder anziehen«, meinte Cliff, während er mit der rechten Hand über die Sensorleiste eines geräumigen Einbauschranks fuhr. Das Ergebnis war, daß die Wäschefächer automatisch auf- und zuglitten und dabei ihren Inhalt präsentierten. »Das durchgeschwitzte Zeug!« protestierte Arlene. »Dann hätten wir auf die Dusche verzichten können.« Cliff grinste. »Dann bleiben wir eben nackt. Warm genug ist es hier ja. Oder genierst du dich?« »So schamlos wie du bin ich jedenfalls nicht«, erwiderte Arlene lächelnd. Cliff sah ihr nach, wie sie zu einer Art Kommode ging. Ihre dunkle Haut schimmerte seidig, und ihr schwarzes Haar fiel locker auf die Schultern. »Mit deiner Figur brauchst du dich jedenfalls nicht zu schämen«, erklärte er. Arlene hockte sich vor die Kommode und streckte die Hand aus. Ein breites flaches Fach fuhr heraus und neigte sich, so daß sie den Inhalt betrachten konnte. Triumphierend zog sie eine hauchdünne rosafarbene Garnitur heraus und schwenkte sie. »Wenigstens habe ich frische Unterwäsche gefunden«, meinte sie und zog die Garnitur sofort an.
»Das ist ja schlimmer als vorher«, sagte Cliff und verdrehte gekonnt die Augen. »Zieh sofort etwas darüber, oder ich vergesse meinen Vorsatz, mich um den Rest der Crew zu kümmern.« Arlene drohte ihm schelmisch mit dem Finger. »Commander McLane, Sie sind ein pflichtvergessenes Subjekt, aber ein lieber Mensch.« Als Cliff auf sie zuging und die Arme nach ihr ausstreckte, floh sie ins angrenzende Kommunikationszimmer. Cliff lächelte und suchte weiter. Nach einiger Zeit fand er etwas, das sich als Unterwäsche gebrauchen ließ. Aber als er sich damit vor dem Spiegel musterte, stieg er überstürzt in seine Bordkombination. »Ein Mann sollte sich auch wie ein Mann kleiden«, murmelte er und ging ebenfalls in den Kommunikationsraum. Arlene mußte inzwischen eine Schaltung betätigt haben – und sie trug ebenfalls wieder ihre Bordkombination. Eine Wand des Raumes hatte sich in einen Bildschirm verwandelt. Zuerst dachte Cliff, auf dem Bildschirm wären lediglich ziehende Farbschleier zu sehen, dann gewöhnte er sich an das Bild und entdeckte, daß ein kreisförmiger Ausschnitt im Zentrum stabil blieb. COMMEX! leuchtete darauf eine Buchstabengruppe. Sekunden später veränderte sich das Bild vollständig. Leise Musik erklang, während sich auf dem Schirm so etwas wie eine surrealistische Landschaftsdarstellung formte. In der reichten oberen Ecke flakkerte das Abbild eines handtellergroßen stilisierten Auges. »Krahn Beogant kreierte eine neue videoplastische Version des beliebten Themas KOSMISCHE TRÄU-
ME«, sagte eine wohltönende Sopranstimme. Das Bild verschwand und machte einem bunt gekleideten Paar Platz, das durch eine Reihe aufleuchtender und wieder erlöschender Tore tanzte. »Das neueste REALIX!« verkündete die Sopranstimme. »Kommen Sie ins CUBERNUM!« »Du lieber Himmel!« entfuhr es Cliff. »Das ist die blödeste Fernsehreklame, die ich je sah. Dagegen nahm sich die TV-Reklame unserer Zeit ja harmlos aus.« Wieder wechselte das Bild. Diesmal leuchtete ein blutroter Schlund auf, und aus ihm schien eine dumpfe Stimme zu kommen. »Rätselhafter Unglücksfall in der Raumbasis unter dem Carpentaria-Golf!« sagte die Stimme. »Eine Technikerin des Zentrums wurde tot an ihrem Arbeitsplatz aufgefunden. Die bisherigen Ermittlungen führten zu verwirrenden Ergebnissen. Orcuna hat die Leitung der Ermittlungen deshalb selbst übernommen.« Cliff und Arlene sahen sich an. »In unserer Raumbasis«, flüsterte Arlene. »Der Sprecher hat sich verdammt unklar ausgedrückt«, sagte Cliff düster. »Wenn mich mein Gefühl nicht trügt, wurde die Technikerin ermordet. Ich frage mich, weshalb man einen klaren Tatbestand mit Phrasen verschleiert, die so durchsichtig sind, daß man ebensogut die Wahrheit sagen könnte.« »Wie sagte doch dieser Boyd?« meinte Arlene. »Wir stammen aus einem gewalttätigen Zeitalter. Cliff, das könnte bedeuten, daß in diesem Zeitalter Gewalttätigkeit so sehr verabscheut wird, daß man sie nicht einmal beim Namen nennt, geschweige denn praktiziert.«
»Dennoch ist offenbar heute eine Gewalttat verübt worden – und noch dazu in der Raumbasis, in der wir angekommen sind«, erwiderte Cliff McLane nachdenklich. »Bin ich froh, daß wir keinen Augenblick allein waren, sonst würde man womöglich uns verdächtigen.« Er ging zur Tür, die sich vor ihm in zwei Hälften teilte, die in die Wände glitten. »Schalte das Ding aus und komm mit, wenn du magst«, sagte er. »Ich gehe zu den anderen.« Er blickte auf seinen teuren ArmbandChronographen. Es war eine Minute über die Zeit, zu der die Crew sich vor dem Haus treffen wollte. Arlene schaltete die Fernsehwand aus, indem sie mit der Hand einmal kurz über die Armlehne eines breiten Sessels fuhr. Danach folgte sie Cliff. Als sie unten ankamen, waren die anderen schon da. Cliff berichtete, was der Fernsehsprecher über den angeblichen Unglücksfall gesagt hatte, und schloß: »Ich weiß auch nicht, was ich davon halten soll. Auf jeden Fall scheint dieser Orcuna eine bedeutende Rolle zu spielen.« »Vielleicht ist er der Präsident der Weltregierung«, sagte Mario de Monti. »Boyd nannte ihn den Ersten Bürger der Erde, was diesen Schluß ja zuläßt.« Cliff McLane zuckte mit den Schultern. »Ich denke, wir werden bald mehr wissen. Seid ihr damit einverstanden, daß wir unseren ›Garten Eden‹ inspizieren?« Er machte eine Handbewegung, die die parkähnliche Landschaft umschloß, in der ihr Haus stand. Niemand brachte Einwände vor, aber als die Crew
gerade zu einem Rundgang aufbrechen wollte, tauchten plötzlich zwei Gleitfahrzeuge auf. Im ersten Fahrzeug saß Dr. Herman Boyd – und im zweiten ein Mann, der der Crew ebenfalls bekannt war, wenn auch nur vom Bildschirm eines Funkgeräts her: Han Tsu-Gol. Die Fahrzeuge hielten vor der Gruppe an. »Orcuna ist bereit, Sie zu empfangen!« sagte Han, höflich lächelnd, ansonsten aber merklich distanziert. Boyd verzog überhaupt keine Miene. Cliff McLane spürte die Spannung, die plötzlich in der Luft lag. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Und wir sind bereit, ihn zu besuchen«, erwiderte er. »Steigen wir ein, Freunde!«
4. Cliff hatte sich neben Han Tsu-Gol gesetzt. Als die beiden Fahrzeuge durch buntschillernde Korridore rasten, fragte er: »Was hat es eigentlich mit diesem Unglücksfall in der Raumbasis auf sich, Han?« Hans Miene wurde abweisend. »Was wissen Sie darüber?« erkundigte er sich schroff. Im nächsten Augenblick veränderte sich sein Gesichtsausdruck. »Ich habe mich zu entschuldigen, Commander McLane. Niemand sollte sich zu einem unhöflichen Ton hinreißen lassen. Was wissen Sie über die Angelegenheit?« »Ich habe die Meldung darüber im Fernsehen gehört«, antwortete Cliff. »Das ist alles, aber ich hatte den Eindruck, daß der Sprecher um die Sache herumredete. Es handelt sich um ein Gewaltverbrechen, nicht wahr?« Han Tsu-Gol preßte die Lippen zusammen. »Aller Wahrscheinlichkeit nach, ja«, flüsterte er, als fürchte er sich, laut darüber zu sprechen. »Aber wir stehen vor einem Rätsel, was den Ausführenden betrifft. Derartige Handlungen hat es auf der Erde schon lange nicht mehr gegeben. Offen gesagt, ich vermute, daß die Handlung von einem Außerirdischen begangen wurde. Nur befindet sich, unseren Informationen zufolge, derzeit kein Außerirdischer auf der Erde.« Cliff McLane ärgerte sich darüber, daß auch Han Tsu-Gol es peinlich vermied, sich konkret auszudrükken, aber er beschloß, darüber hinwegzugehen. »Wenn man von sechs Personen absieht, die man-
che Leute vielleicht nicht als vollwertige Erdenbürger ansehen«, erwiderte er. »Selbstverständlich haben wir auch das bedacht«, erklärte Han ernsthaft und ohne eine Spur von Verlegenheit. »Aber Sie waren in der fraglichen Zeitspanne in Ihren Quartieren.« »Wir könnten ja zurückgeschlichen sein«, gab Cliff zu bedenken. »Es wäre registriert worden, wenn Sie Ihren Sektor des Erholungszentrums verlassen hätten«, sagte Han. »Selbstverständlich hätte niemand Sie aufgehalten, aber man hätte Sie in einem solchen Fall überwacht, um denkbare Peinlichkeiten zu vermeiden.« »Das beruhigt mich«, meinte Cliff. »Ich möchte Ihnen zusätzlich versichern, daß niemand von der ORION-Crew einen Mord begehen würde.« Hans Gesicht wurde grau und sah verfallen aus. Er schien ein paar Zentimeter zu schrumpfen. »Bitte, Commander McLane, verzichten Sie auf derart brutale Vokabeln!« sagte er beinahe flehend. »Wir sind es gewohnt, die Tatsachen beim Namen zu nennen und nicht nach Umschreibungen zu suchen«, erklärte Cliff unerbittlich. »Wenn es auf der Erde seit langem keine Gewalttaten mehr gegeben hat, so liegt das doch wohl daran, daß besonders strenge Gesetze die potentiellen Gewalttäter abschrecken, weil sie der ungesetzlichen Gewalt eine nicht weniger harte gesetzliche Gewalt entgegensetzen.« »Sie irren sich«, widersprach Han. »So?« erwiderte Cliff. »Ich irre mich also. Aber wie ist es mit der Regierungsgewalt? Sie läßt sich doch auch nicht durch das bloße Verkünden von Gesetzen
– oder besser Bitten um gutes Verhalten – durchsetzen. Ohne entsprechende Machtmittel, die notfalls auch eingesetzt werden, würde doch ein Parlament zum bloßen Diskutierklub werden.« »Wir haben kein Parlament«, erklärte Han Tsu-Gol. »Wir brauchen keines, denn die Entscheidungen, die Orcuna trifft, sind ausnahmslos logisch fundiert und so transparent, daß jeder Erdenbürger einsieht, daß bessere Entscheidungen nicht getroffen werden könnten.« Cliff runzelte die Stirn. Zum erstenmal kam ihm die Ahnung, daß die Gesellschaftsordnung dieser Erde sich erheblich von der der Erde unterschied, von der die ORION-Crew kam. »Orcuna?« fragte er. »Da er auch ›Erster Bürger der Erde‹ genannt wird, handelt es sich um eine einzelne Person, nicht wahr? Und eine einzelne Person trifft allein alle Entscheidungen, die die irdische Menschheit betreffen?« »Orcuna trifft alle großen Entscheidungen«, antwortete Han. »Aber er wird dabei von neun Orcasten beraten, zu denen ich gehöre. Bevor neue Verordnungen oder Gesetze erlassen werden oder neue außenpolitische Verhandlungen stattfinden, ermitteln wir die Meinung der Erdbevölkerung, sammeln sachliche und fachliche Informationen und unterbreiten alles Orcuna.« »Der aber letztlich allein entscheidet?« fragte Cliff, obwohl er die Antwort bereits kannte. »So ist es«, sagte Han. Cliff McLane schloß für einen Moment die Augen und bemühte sich, sich seine Bestürzung nicht anmerken zu lassen.
Die Erde wurde also von einem Diktator regiert. Möglich, daß die irdische Menschheit im großen und ganzen billigte, was dieser Diktator anordnete, aber das änderte nichts daran, daß hier ein einzelner Mann selbstherrlich die irdische Innen- und Außenpolitik dirigierte. Cliff wußte, daß er sich niemals damit abfinden würde – und seine Freunde ebenfalls nicht. Vorerst aber wollte er eine harte Konfrontation vermeiden. Sie hätte ihm und seinen Freunden nichts eingebracht außer einer Einengung ihrer Bewegungsfreiheit – und vielleicht Schlimmeres. Aber sicher existierten Widerstandsbewegungen auf der Erde. Ein einzelner Mann konnte nicht als Diktator regieren, ohne sich erbitterte politische Gegner zu schaffen. Mit solchen Widerstandsbewegungen würde man Kontakt aufnehmen müssen. Die beiden Fahrzeuge schossen in eine Halle, die den Raumfahrern ein verwirrendes Bild bot. Sie sahen über und unter sich andere Fahrzeuge, die den ihren glichen, sowie größere dunkle Ovale, die schattenhaft durch das Durcheinander von Kleinfahrzeugen und Menschen glitten. Erst bei längerer Betrachtung wurde den Raumfahrern klar, daß die Halle durch transparente Wände in verschiedenen Ebenen unterteilt war, die außerdem noch von vertikal verlaufenden Schächten mit durchsichtigen Wandungen durchzogen wurden. Offenkundig handelte es sich um einen Verkehrsknotenpunkt. Und schon hielten ihre Fahrzeuge an einer Art Bahnsteig, hinter deren Kante eines der größeren ovalen Fahrzeuge schwebte. Auf den ersten Blick
schien es keinerlei Öffnungen zu haben, bis auf die, durch die man einstieg oder ausstieg. Bei genauerem Hinsehen waren die kreisförmigen Fugen zu erkennen, hinter denen sich runde Fenster verbergen mochten. »Wir steigen um«, verkündete Han Tsu-Gol und schwang sich aus dem Schweber, dessen transparentes Dach sich geteilt und in die unteren Wandungen zurückgezogen hatte. Cliff McLane folgte dem Orcasten in geringem Abstand. Deshalb bemerkte er zu spät, daß Han den Abstand zwischen Bahnsteigkante und Öffnung in dem größeren Fahrzeug nicht übersprang, sondern einfach einen Schritt in den scheinbar leeren Zwischenraum tat. Als Cliff dies registrierte, hatte er schon zum Sprung angesetzt. Mitten im Sprung über die zirka einen Meter breite Kluft gerieten seine Füße in das unsichtbare Energiefeld, das Han aufgefangen und sicher zur Tür befördert hatte. Infolge seines Schwunges strauchelte Cliff und wäre gestürzt, hätte sich das Kraftfeld nicht schlagartig vergrößert, ihn wieder aufgerichtet, und in die Türöffnung geschoben. Er stieß eine Verwünschung aus und ballte die Fäuste. Seine Freunde lachten, aber Han und Boyd zuckten zusammen. »Ich hätte Sie warnen müssen, Commander«, sagte Han. »Aber gerade solche Kleinigkeiten sind so selbstverständlich für uns, daß ich einfach nicht daran dachte, Sie könnten nicht Bescheid wissen.« »Schon gut«, meinte Cliff besänftigt. »Ich werde künftig besser aufpassen. Und Sie müssen nicht den-
ken, meine Verwünschungen wären wörtlich zu nehmen.« Er grinste. »Dann säßen meine Freunde nämlich schon ausnahmslos in der Hölle.« »Sie haben wirklich einen ausgefallenen Humor«, erwiderte Han Tsu-Gol. * »Wohin geht es?« erkundigte sich Helga Legrelle, nachdem sie alle in dem schwarzen ovalen Fahrzeug Platz genommen hatten. »Zum TECOM«, antwortete Dr. Herman Boyd. »TECOM ist die Abkürzung von ›Terrestrisches Computerzentrum‹«, erläuterte Han. »Es befindet sich in einem Gebiet des Barkly-Tafellands, in dem der Mount Isa steht.« »In Queensland also«, sagte Mario. Cliff McLane bemerkte, daß ihr Fahrzeug sich bereits in Bewegung gesetzt hatte. Auch diesmal war kein Andruck zu spüren gewesen, obwohl die rasch vorbeihuschende Umgebung bewies, daß das schwarze Oval stark beschleunigte. Cliff lehnte sich zurück. Er spürte dabei, daß sein Sessel jeder Bewegung seines Körpers folgte und sich beim Verharren weich und doch fest anschmiegte. Irgendwie empfand Cliff das als unangenehm, als aufdringlich. Er blickte sich um und sah an den Gesichtern der Freunde, daß sie ähnlich empfanden. Das Fahrzeug schoß durch eine transparente Röhre zuerst horizontal dahin, dann immer steiler aufwärts, bis die Bewegungsrichtung beinahe vertikal verlief. Dabei verfärbte sich die anfangs transparente Wandung der Röhre. Sie schimmerte erst in einem zarten
Rosa und zuletzt in einem dunklen Rot – und plötzlich tat sich eine tiefblaue Wölbung vor dem Fahrzeug auf. Es dauerte eine Weile, bis Cliff begriff, daß die tiefblaue Wölbung nichts anderes war als der Himmel. Er wandte den Kopf und konnte durch die rückwärtigen runden Fenster eine Unmenge ineinander verschachtelter Bauwerke erblicken. Während das Fahrzeug höher stieg, weitete sich das Blickfeld – und dann erkannte Cliff die Konturen einer großen Insel auf einer wellenbewegten Wasserfläche, die das tiefe Blau des Himmels widerspiegelte. »Groote Eylandt!« entfuhr es ihm. »Es ist nur noch an der Form wiederzuerkennen.« »Unser Paradies ist nicht mehr«, meinte Helga. »Aber es lebt sich gut dort unten«, meinte Han TsuGol. »Wie überall auf der Erde.« »Denken alle Menschen so?« fragte Arlene skeptisch. »Jedenfalls alle, die auf der Erde leben«, sagte Boyd. Cliff warf ihm einen prüfenden Seitenblick zu und erkannte, daß der Mediziner glaubte, was er sagte. Wahrscheinlich, so überlegte er, ging es den Menschen heute materiell tatsächlich viel besser als den Menschen unserer Epoche. Aber die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse konnte nicht alles sein. Es mußte doch auch in dieser Zeit noch ideelle Bedürfnisse geben. Er lehnte sich zur Seite, um etwas von dem Land zu sehen, das sie überflogen. Erstaunt stellte er fest, daß ihr Fahrzeug sich schon dem Festland näherte. Unten lag eine Inselgruppe, vermutlich die Sir Ed-
ward Pellew Group. An Steuerbord voraus tauchte ein schimmerndes Gebilde auf: harmonisch angeordnete Bauwerke unter einer glitzernden Kuppel. Das konnte nur Borroloola sein, eine Stadt, die er ganz anders in Erinnerung hatte. »Sind das eigentlich Energieglocken oder transparente Kuppeln, die über den Städten liegen, Han?« erkundigte er sich. »Energieglocken«, antwortete der Orcast. »Sie erfüllen allerdings nicht die Aufgabe von Schutzschirmen, sondern dienen nur der Abschirmung gegen klimatische Schwankungen und unwillkommene Witterungseinflüsse.« »Demnach gibt es immer noch keine globale Wettersteuerung«, warf Atan Shubashi ein. »Wir sind nach ersten Versuchen vor rund zwanzig Jahren wieder davon abgekommen«, erklärte Han. »Jeder Eingriff in die globalen Wettervorgänge führte zu Störungen des Gleichgewichts, die sich letzten Endes nur negativ ausgewirkt hätten. Unsere Wetterkontrolle greift nur noch ein, wenn es gilt, verheerende Unwetter abzuwenden.« In den Bugfenstern tauchte die schroffe Landschaft des Barkly-Tafellands auf, gleich darauf wurden die ersten Ausläufer überflogen. Als Cliff den Gipfel des Mount Isa entdeckte, sah er auf seinen Chronographen. »Wir sind gerade knapp zehn Minuten unterwegs«, sagte er, »und doch schon fast am Ziel. Es müssen doch rund neunhundert Kilometer von Groote Eylandt bis zum Mount Isa sein, nicht wahr?« »Rund achthundertsiebzig«, sagte Herman Boyd. In diesem Augenblick fegte das Fahrzeug über den Gipfel des Mount Isa hinweg. Schräg voraus tauchte
unter einer riesigen glitzernden Kuppel wieder eine Stadt auf, die aber im Unterschied zu den anderen Städten, die die ORION-Crew bisher gesehen hatte, kein verspieltes und harmonisches Durcheinander von verschachtelten Bauten aufwies. Die Gebäude dort schienen eher nach mathematischen Grundsätzen angelegt zu sein. »TECOM-City«, erklärte Han Tsu-Gol. »Das Verwaltungszentrum der Erde. Hier laufen alle Fäden von Wirtschaft und Politik zusammen.« Niemand sagte etwas dazu. Cliff McLane musterte die auf einem Hochplateau liegende Verwaltungsstadt und merkte erst einige Sekunden später, daß ihr Fahrzeug seine Horizontalbewegung von einem Augenblick zum anderen eingestellt hatte und vertikal nach unten sank. Innerhalb weniger Sekunden setzte das Fahrzeug, nachdem es mühelos durch den Energieschirm gesunken war, am Rand einer Art von Trichter auf, in dem unablässig andere landende Fahrzeuge verschwanden und aus dem andere Fahrzeuge herausschnellten und in den Himmel rasten. Han Tsu-Gol wandte sich an die Mitglieder der ORION-Crew und sagte: »Möchten Sie zuerst die Verwaltungsstadt besichtigen oder ziehen Sie es vor, sofort von Orcuna empfangen zu werden?« Cliff schaute seine Freunde an und las die Antwort in ihren Gesichtern. »Ich denke, wir alle brennen darauf, Orcuna kennenzulernen«, erklärte er. *
Nach einer langen Fahrt durch unterirdische Hallen und Korridore wurde die ORION-Crew schließlich in einen mittelgroßen Saal geführt, dessen Wände nichts anderes als die Segmente von großen Bildschirmen waren. Die Bildschirme waren dunkel, bis auf einen, der in holographischer Darstellung die Übersichtsprojektion eines sternerfüllten Raumsektors zeigte, der dreidimensional in zehn Entfernungsschalen eingeteilt war, die ihrerseits durch Gittersysteme in Raumkuben aufgeteilt waren. Symbole und Zahlen kennzeichneten Entfernungen und bewohnte Welten sowie Stützpunkte. »Das ist ja die Darstellung der Raumkugel des Imperiums, wie wir es kennen!« entfuhr es Hasso Sigbjörnson. »Und sie hat immer noch den gleichen Durchmesser von neunhundert Parsek.« Han Tsu-Gol räusperte sich. »Bitte, darüber können wir uns später unterhalten«, sagte er. »Darf ich Ihnen zuerst die übrigen acht Orcasten vorstellen?« Cliff McLane richtete seine Aufmerksamkeit auf einen hufeisenförmig geschwungenen Tisch, der anscheinend aus schwarzem Glas bestand. An seiner Außenseite saßen eine Frau und sieben Männer. Sie waren allesamt nach der herrschenden Mode und doch individuell gekleidet. Zwei Plätze waren noch frei: der in der Mitte, also hinter der Krümmung, und der links daneben. Han nannte die Namen seiner Kollegen, und Cliff bemühte sich, sie sich einzuprägen und sich auch ihre Funktionen zu merken. Da war Pierre Denis, ein schlanker, feinnerviger Mann von zirka achtundfünf-
zig Jahren, Orcast für alle inneren Angelegenheiten der Erde und der anderen bewohnten Himmelskörper des Sonnensystems. Peter Sobolew, zirka siebenundvierzig Jahre alt, gedrungen, gelblichbraune Haut und kahler Schädel, fungierte als Orcast für alle äußeren Angelegenheiten. Kyll Lennard, Orcast für Wissenschaft und Forschung, mochte dreiundfünfzig Jahre alt sein und war mittelgroß, mittelblond, hatte helle Haut mit zahlreichen Sommersprossen und blinzelte mit seinen blauen Augen ständig, als wäre er kurzsichtig. Die einzige Frau im Kreis der Orcasten war Roberta Calvari, zirka vierunddreißig Jahre alt, groß und schlank, mit ovalem Gesicht und dunkelblondem Haar. Sie war verantwortlich für Umweltschutz und Gesundheitswesen. Damit erschöpfte sich die Ressortaufteilung bereits. Die übrigen vier Orcasten – Nemo van Huizen, Tunaka Katsuro, Hassan Shamyl und Basil Astiriakos – waren Orcasten zur freien Verfügung und wurden immer auf solche Probleme angesetzt, die sich nicht eindeutig einem bestimmten Ressort zuordnen ließen. Han Tsu-Gol versäumte auch nicht, sein eigenes Ressort zu umreißen. Er war Orcast für Verteidigung und Raumflotte, was sich die Mitglieder der ORIONCrew allerdings schon gedacht hatten. Cliff fragte sich, wie jemand, der schon bei der bloßen Erwähnung von Gewalt zusammenzuckte, die Verteidigung der Erde sicherstellen wollte, die doch im Falle eines feindlichen Angriffs nur mit massiver Gewaltanwendung zu garantieren war. Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als sich aus bisher unsichtbaren Bodenöffnungen sechs Sessel
schoben. Sie waren genau gegenüber den Orcasten postiert. »Bitte, nehmen Sie Platz!« forderte Han Tsu-Gol die ORION-Crew auf. Er selbst ging um den Tisch herum und setzte sich an den Platz links neben der Mitte. Cliff blickte sich nach Dr. Boyd um und stellte fest, daß der Mediziner sie wieder verlassen hatte. »Also, dann wollen wir es uns gemütlich machen«, sagte er zu seinen Freunden. »Ich nehme an, daß Orcuna bald eintrifft?« Damit Wandte er sich an den Orcasten für Verteidigung und Raumflotte, während er sich setzte. »Er ist so gut wie da«, antwortete Han rätselhaft. Im nächsten Moment löste sich das Rätsel. An dem einzigen freien Platz hinter dem Tisch flimmerte die Luft, dann saß dort unvermittelt ein Mann. »Das ist doch unmöglich!« flüsterte Arlene. Cliff überwand seine Überraschung. »Es ist nur eine holographische Projektion«, sagte er. »Und eine absolut perfekte Täuschung.« Der Mann an der Tischmitte bedachte ihn mit einem leicht amüsierten Blick. Er war zirka fünfunddreißig Jahre alt, 1,90 Meter groß, athletisch gebaut und wirkte durchtrainiert. Seine Haut war hellbraun, der Schädel kahl, und die Augen waren kohlschwarz. Besonders auffällig waren die ebenmäßigen Gesichtszüge. Befremdet stellte Cliff fest, daß die gesamte Erscheinung des Mannes seine Sympathie weckte. »Wo keine Täuschung beabsichtigt ist, liegt auch keine Täuschung vor«, sagte der Mann mit tiefer, volltönender Stimme, die außerordentlich sympathisch klang. »Commander McLane, ich begrüße Sie
und Ihre Crew im Namen der Menschheit und der Erde. Wie Sie bestimmt erraten haben, bin ich Orcuna – beziehungsweise sehen Sie meine holographischvideoplastische Projektion.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Leider ist es mir nicht gestattet, direkten Kontakt mit anderen Menschen aufzunehmen. Ich bin Träger eines Krankheitserregers, der großes Unheil über die Menschheit bringen würde, könnte er sich ausbreiten. Deshalb lebe ich in einer von den Umständen erzwungenen hermetischen Isolation.« Cliff versuchte, sich seinen Unglauben nicht anmerken zu lassen. Orcuna sah so gesund aus, wie ein Mensch nur aussehen konnte. Wahrscheinlich hatte er begründete Furcht vor Attentaten und vermied deshalb jeden direkten Kontakt mit anderen Menschen. Ein schneller Blick in die Gesichter seiner Freunde verriet ihm, daß sie seine Meinung teilten. »Sie werden sich schon gefragt haben, welchen Platz in unserer Gesellschaft Sie einnehmen können«, fuhr Orcuna fort. »Ich bitte Sie aber, sich vorher ganz klar darüber zu werden, daß Sie Relikte einer vergangenen Zeit sind, Fremdkörper in einer Gesellschaft, deren Gebräuche Sie nicht verstehen und deren wissenschaftlich-technischer Standard weit über dem liegt, den Sie aus Ihrer Zeit kennen. Ich empfehle Ihnen daher, sich im Adaptionszentrum auf die herrschenden Verhältnisse vorbereiten zu lassen. Vier Monate dürften wahrscheinlich ausreichen. Danach können wir weitersehen.« »Darüber müssen wir erst noch beraten«, erwiderte Cliff. »Ich denke allerdings, daß meine Freunde und ich Ihren Vorschlag ablehnen werden. Übrigens wundert es uns, daß wir noch nicht gefragt wurden,
warum wir nach siebenundsechzig Jahren Abwesenheit nicht vergreist sind.« »Wir wollten nicht taktlos sein, Commander McLane«, antwortete Orcuna. »Ich denke doch, daß diese Frage in dem Bericht geklärt werden wird, den Sie uns anschließend geben werden. Was Ihre voreilige Ablehnung der Adaption betrifft, so habe ich auch das erwartet. Ich verstehe Sie und gestatte Ihnen deshalb, sich auf der Erde umzusehen. Sie werden dann sicher selbst einsehen, daß eine Anpassung zweckmäßig ist. Allerdings sollten Sie diese Tage getrennt verbringen, denn die Gruppenisolierung gegenüber der Gesellschaft würde Ihre individuelle Aufgeschlossenheit hemmen.« »Das sehe ich ein«, sagte Cliff. »Gut!« meinte Orcuna. »Bitte, geben Sie eine Kurzfassung Ihres Berichts über den Verlauf Ihrer Mission im Rahmen des PROJEKTS PERSEIDEN sowie über die Umstände Ihrer Rückkehr!« »Unser Bericht wird Sie kaum zufriedenstellen«, erklärte Cliff McLane. »Unsere Erinnerungen sind, wie wir feststellen mußten, größtenteils blockiert. Wir führen das auf einen Schock zurück, den wir vermutlich durch schreckliche Erlebnisse erlitten haben. Nur eines scheint festzustehen. Wir fanden eine Parallel-Erde, die in Wirklichkeit nur eine Modellprojektion war. Es gab keinen Kontakt zu den Menschen dieser Erde. Wir wissen auch nicht ...« Er schwieg, weil ein neuer Erinnerungsfetzen an die Oberfläche seines Bewußtseins drängte. Seinen Freunden schien es ebenso zu gehen, denn plötzlich rief Mario de Monti: »Die Modell-Erde wurde zerstört – und mit ihr das Sternenschiff! Erinnert
ihr euch nicht mehr? Da waren Schatten gewesen. Wir haben gegen sie gekämpft und dann ... Mehr weiß ich auch nicht.« In Cliffs Gesicht arbeitete es. Als er einen Blick zu den Orcasten warf, sah er, daß ihre Mienen Bestürzung ausdrückten – und Angst. »Ich glaube, wir fanden uns in einer Energieblase wieder«, erklärte er gepreßt. »Eine Stimme sagte uns, wir müßten durch das Tor des Vergessens gehen, vorher aber eine Dimensionsfessel sprengen. Dunkel erinnere ich mich auch noch daran, daß diese Dimensionsfessel einen temporären Nebeneffekt bewirken sollte. Das könnte die Erklärung dafür sein, daß wir siebenundsechzig – beziehungsweise – Sechsundsechzig – Jahre verloren, ohne dabei zu altern. Für uns verging die Zeit einfach viel langsamer als außerhalb des Wirkungsbereichs der Dimensionsfessel.« Er machte eine Pause, sah sich um und stellte fest, daß die Orcasten völlig verstört waren. Nur Orcunas Gesicht zeigte keine Regung – außer freundlicher Anteilnahme. »Ich glaube, jetzt weiß ich, was aus Prac'h und Vlare geworden ist«, warf Arlene ein. »Sie müssen bei dem Versuch, die Dimensionsfessel zu sprengen, umgekommen sein.« »In der ORION VIII fehlt eine LANCET«, sagte Orcuna. »Könnten die beiden Freunde, von denen Sie sprechen, damit verschwunden sein?« »Das ist es!« rief Mario de Monti. »Sie starteten heimlich mit einer LANCET und einer Antimateriebombe und flogen in die Dimensionsverwerfung. Nach der Zerstörung der Dimensionsfessel blieben sie unauffindbar. Sie müssen umgekommen sein.«
Cliff strich sich mit der Hand über die Stirn. »So war es«, flüsterte er. Dann hob er die Stimme wieder. »Wahrscheinlich kommt unsere volle Erinnerung im Laufe der Zeit zurück – oder auch nicht. Aber ganz deutlich erinnern wir uns alle an eine Botschaft, die die Stimme uns mitgab.« »Wie lautet die Botschaft?« erkundigte sich Orcuna geduldig. »Die Mächte der Finsternis sind allgegenwärtig, aber die Mächte des Lichtes werden euch beschützen – wenn ihr selbst etwas dazu tut«, sagte Hasso Sigbjörnson. »Ihr werdet vieles vergessen, aber dies nicht.« »Sie sagte noch mehr«, warf Atan Shubashi ein. »Sie sagte, daß die Mächte der Finsternis sich wieder zusammenballen. Ich glaube, sie verwendete für diese Mächte den Begriff Rudraja, während sie die Mächte des Guten als das Varunja bezeichnete.« »Offenbar«, sagte Cliff stockend, weil er angestrengt nachdachte, »gab es in einer weit zurückliegenden Zeit zwei Machtgruppierungen, die sich gegenseitig erbittert bekämpften und dabei fast gänzlich auslöschten. Etwas muß von ihnen erhalten geblieben sein, kaum ein Schatten des früheren Glanzes, aber wahrscheinlich stark genug, um die ganze Menschheit zu vernichten. Eine Kraft will uns verderben, die andere will uns helfen. Mehr weiß ich beim besten Willen nicht.« »Wir sind verloren!« schrie Roberta Calvari. Unter den Orcasten brach ein Tumult aus, der sicher in Panik ausgeartet wäre, hätte sich Orcuna mit seiner kraftvollen Stimme nicht durchgesetzt. »Ich bitte um Ruhe!« rief der Diktator. »Vorläufig
ist die Gefahr, von der die ORION-Crew berichtete, nicht aufgetaucht. Vielleicht taucht sie niemals auf. Ich werde überlegen, welche vorbeugenden Maßnahmen getroffen werden müssen, damit wir die Gefahr, falls sie auf uns zukommen sollte, rechtzeitig erkennen – und damit wir ihr wirksam begegnen.« Er blickte Cliff an. »Sobald der Orcast Han sich wieder gefaßt hat, wird er Sie in Ihre Quartiere begleiten«, erklärte er. »Sie haben die Erlaubnis, sich fünf Tage lang frei auf der Erde zu bewegen. Danach melden Sie sich in Ihrer Flottenbasis zurück.«
5. Der Mharut verharrte in der Sichtdeckung einer Säule und wartete, bis eine Gruppe der Ableger vorbeigegangen war. Nur kurz erwog er, die Ableger zu töten, denn sie waren nutzlos für ihn und damit entsprechend seiner Programmierung zur Auslöschung freigegeben. Aber seine Entscheidungsschaltkreise lehnten die Vernichtung zugunsten eines möglichst reibungslosen Vorgehens ab. Die Erfahrungen, die der Mharut nach der Vernichtung eines für seine Begriffe unwichtigen Ablegers gesammelt hatte, ließen es ihm ratsam erscheinen, vorläufig etwas behutsamer vorzugehen. Seine Logikschaltkreise hielten die Reaktion der Wesen, die sich Menschen nannten, für unvernünftig. Der Tod eines einzigen Ablegers hatte unter ihnen eine solche Unruhe hervorgerufen, daß der Mharut sie als weitgehend emotional bestimmte Wesen eingestuft hatte. Als die Gruppe der Ableger um die nächste Ganzbiegung verschwunden war, setzte der Mharut seinen Weg fort. Er schwebte durch eine leere Halle, in die zahlreiche halbtransparente, von innen heraus in verschiedenen Farben glühende Gänge mündeten. Dabei befand sich der verdickte Teil seines eiförmigen Körpers stets dicht über dem Boden, während das sich verjüngende Ende nach oben wies. Die Extremitäten hatte er eingezogen. Der Mharut war in diesen Sektor der Basis zurückgekehrt, nachdem er die Unterkünfte, in denen die Ableger aus dem Schiff einquartiert worden waren,
verlassen vorgefunden hatte. Er beabsichtigte, einen der zahlreichen Haupt-Computeranschlüsse, die von seinen Sensoren aufgespürt worden waren, anzuzapfen und sich dort die erforderlichen Informationen zu besorgen. Es war nicht schwierig für ihn, sich in den weitverzweigten Anlagen zurechtzufinden. In den alten Zeiten, als seine Herren noch ungezählte Welten fest in ihrem Griff gehabt hatten, war er durch viel kompliziertere Anlagen auf zahlreichen feindlichen Welten gestreift, hatte Informationen gesammelt, sie an seine Herren weitergeleitet und anschließend Angst und Schrecken verbreitet. Vor einem Schott, durch das seine Sensoren die gesuchten Impulse anpeilten, blieb er stehen. Ein Teil seiner Sensoren richtete seine Aufmerksamkeit auf die kodifizierte elektronische Schottverriegelung. Mit ihr war ein Warnsystem verbunden, das aber für den Mharut kein Hindernis darstellte. Er erzeugte eine kurze Dimensionsschleife, überbrückte damit den in Frage kommenden Teil der Warnanlage und strahlte den inzwischen ertasteten Öffnungskode ab. Lautlos glitten die beiden Schotthälften zur Seite. Während der Mharut die Dimensionsschleife fixierte, so daß sie sich selbst erhielt, schwebte er durch die Öffnung. Abermals spielten seine Sensoren auf einem breiten Band und tasteten die Gesamtheit des Computeranschlusses ab. Die Vielfalt der abrufbaren Daten beeindruckte ihn, allerdings rein intellektuell, da er keiner Emotion fähig war. Die dominierende Intelligenz dieses Planeten verfügte offenbar über einen viel größeren Wissensschatz, als er aufgrund seiner bisheri-
gen Feststellung errechnet hatte. Es handelte sich bei ihr wohl um eine jener Arten, die unermüdlich alles erreichbare Wissen sammelten, ob es für sie einen praktischen Wert besaß oder nicht. Um so dringender war es, dieses Nest auszulöschen. Allzu wißbegierige Arten kamen im Laufe ihrer Evolution unweigerlich hinter die letzten Geheimnisse des Universums. Das aber lag nicht im Interesse des Rudraja. Wer zuviel wußte, konnte dieses Wissen in Macht umsetzen, und wirkliche Macht stand nur dem Rudraja zu. Endlich entdeckten die Sensoren des Mharuts den Anschluß, auf dem die gesuchten Informationen abgerufen werden konnten. Zugleich aber ertasteten sie eine Abrufsperre mit überwertiger Rückkopplungssicherung. Das bedeutete, daß jeder, der die Informationen von diesem Computeranschluß anforderte, seine Individualdaten einspeisen mußte. Diese Daten wurden von einem Zentralcomputer empfangen, mit den Daten der Abrufberechtigten verglichen und dann noch einmal überprüft, indem der Abrufer innerhalb der Anschlußstelle telemetrisch getestet wurde. Der Mharut aber verfügte weder über die Individualdaten eines Abrufberechtigten noch hätte er einer telemetrischen Überprüfung standgehalten. Damit hatte sich diese Aktion als Fehlschlag erwiesen. Der Mharut hielt sich nicht bei überflüssigen und fruchtlosen Überlegungen auf, sondern verließ die Anschlußstelle wieder. Danach baute er die Dimensionsschleife ab. Es war ihm absolut klar, was er unternehmen mußte, um doch noch so schnell wie möglich an die
gesuchten Informationen zu gelangen. Er mußte die Position des Zentralcomputers auf diesem Planeten ermitteln und sich über die dortigen Sicherheitssysteme informieren. Danach konnte er den Zentralcomputer direkt anzapfen. Er kam zu dem Schluß, daß sich diese Informationen am leichtesten von einem Ableger holen ließen. Sofort setzte er seinen Weg durch die Gänge der Basis fort. Als er einen einzelnen Ableger entdeckte, beschleunigte er so stark, daß der Ableger seine Annäherung erst bemerkte, als er ihn schon erreicht hatte. Er lähmte ihn mit einer seiner harmlosen Waffensysteme, fuhr zwei Tentakelarme aus, packte den Ableger und zog sich mit ihm in einen kleinen Maschinenraum zurück. Dort angekommen, schloß er zwei Biotronschwingungsdetektoren an den Körperteil des Ablegers an, der den organischen Computer beherbergte. Dann schickte er eine hyperdimensionale Schockwellenfront durch jenen Körperteil. Danach war es für die Biotronschwingungsdetektoren eine Kleinigkeit, die ihres Halts beraubten Speicherdaten aus dem chemoelektrischen Verbund des organischen Computers zu lösen. Etwas länger dauerte es, die geraubten Daten zu sieben, bis nur die nützlichen – für den Mharut nützlichen – Daten übrig waren. Er speicherte sie und wertete sie aus. Dabei erfuhr er von TECOM, aber nichts über die speziellen Sicherheitsvorkehrungen, die zum Schutz der in TECOM verankerten Daten getroffen waren. Das war unbefriedigend, aber nicht zu ändern.
Der Mharut entließ den nutzlos gewordenen Ableger aus seinem Griff und sorgte dafür, daß weder von ihm noch von den Manipulationen, die er mit ihm angestellt hatte, eine Spur zurückblieb. Als er den Maschinenraum verlassen wollte, fingen seine Sensoren die Individualimpulse der Ableger auf, hinter denen er eigentlich her war. Sie näherten sich der Basis und wollten anscheinend in ihr Quartier zurückkehren. Der Mharut entschied sich dafür, in ihr Quartier einzudringen, sich eines dieser Ableger zu bemächtigen und die gesuchten Speicherdaten seinem organischen Computer zu entnehmen. Er kam bis zum Eingang der Halle, in der sich das Quartier der sechs Ableger befand. Dort stieß er unvermutet auf einen Identifikationsroboter, der ihn sofort in ein Abtastfeld hüllte. Dem Mharut blieb keine Wahl. Er mußte den Identifikationsroboter unbrauchbar machen, bevor er seine Entdeckung an die Leitstelle weitermelden konnte. Danach hielt es der Mharut nicht mehr für geraten, ins Quartier der sechs Ableger einzudringen. Er nahm an, daß der Ausfall des Identifikationsroboters die Überwachungsaktivität erhöhen würde. Außerdem schloß er aus der Tatsache, daß der Zugang zum Quartier der sechs Ableger überhaupt von einem Identifikationsroboter bewacht worden war, daß diese Ableger eine Sonderstellung einnahmen. Mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit sollten sie von anderen Ablegern des Nestes ferngehalten werden. Das unterstrich die Wichtigkeit dieser Gruppe. Der Mharut suchte sich ein Versteck und legte sich auf die Lauer. Irgendwann würden die sechs Ableger ihr Quartier verlassen, dann wollte er ihnen nach-
schleichen und sich im günstigsten Moment sein Opfer herausgreifen ... * Bevor die ORION-Crew in ihr Quartier zurückkehrte, gelang es Cliff McLane, Herrn an Boyd beiseite zu ziehen und ihn danach zu fragen, was er über die Familie Hasso Sigbjörnsons ermittelt hatte. Boyd machte ein betrübtes Gesicht. »Es tut mir sehr leid, daß ich eine schlechte Nachricht bringen muß«, erklärte er. »Die Familie Ihres Maschineningenieurs kam vor dreiundvierzig Jahren bei einem Angriff auf die Region Victoria um.« Cliff wurde blaß. »Was sagen Sie da? Wer hat die Region Victoria angegriffen, Boyd? Hat es einen Bürgerkrieg gegeben, oder waren die Frogs wieder aufgetaucht?« »Keines von beiden, Commander McLane«, antwortete Boyd. »Es handelte sich um einen Angriff der vereinigten Raumflotten mehrerer Kolonialplaneten auf die Erde. Der Angriff kam so überraschend und war so gut vorbereitet, daß Teilverbände der Angreifer bis zur Erde durchstießen und einige Gebiete verwüsteten. Die damalige Regierung erwog bereits eine Kapitulation, da setzte Orcuna sie kurzerhand ab und übernahm den Oberbefehl über die Raum- und Zivilverteidigung.« »Orcuna?« fragte Cliff ungläubig. »Aber Orcuna kann vor dreiundvierzig Jahren noch gar nicht gelebt haben! Er ist doch höchstens fünfunddreißig Jahre alt!« Boyd schüttelte den Kopf. »Er war damals fünf-
unddreißig Jahre alt. Commander McLane. Heute ist er achtundsiebzig. Er ist nur seit damals nicht mehr spürbar gealtert. Die Ursache ist wahrscheinlich in einem Attentat mit speziell gezüchteten Viren zu suchen, das gegen Kriegsende auf Orcuna verübt wurde. Alle, die davon betroffen wurden, starben. Nur Orcuna überlebte entgegen allen Erwartungen. Offenbar entwickelte sein Körper einen Resistenzfaktor gegen die Viren, der gleichzeitig gegen ein Fortschreiten des Alterungsprozesses resistent machte.« »So ist das also«, erwiderte Cliff. »Orcuna ist demnach der große Held, der die Erde rettete. Das erklärt vielleicht, warum es noch keine allgemeine Erhebung gegen seine Diktatur gab.« »Diktatur?« entgegnete Boyd. »Sie betonen das Wort so verächtlich, dabei regiert Orcuna doch ausschließlich im Interesse aller Menschen, auch der Menschen der Siedlungsplaneten. Er hat damals nicht nur den Widerstand gegen die Angreifer mit höchster Effektivität organisiert und die angeschlagenen terrestrischen Flottenverbände so geschickt eingesetzt, daß der zahlenmäßig überlegene Gegner besiegt wurde. Er verhinderte auch, daß die terrestrische Flotte die Heimatplaneten der Angreifer zerstörte, wie die Kommandeure es forderten. Seitdem herrscht Friede in der von Menschen beherrschten Raumkugel.« Cliff McLane blickte den Mediziner nachdenklich an. »Die Verhinderung unsinniger Racheakte war zweifellos eine sehr weise Maßnahme Orcunas«, gab er zu. »Allmählich sehe auch ich den Diktator in einem anderen Licht. Dennoch verstößt eine Diktatur grundsätzlich gegen die Freiheit und Menschenwür-
de des Individuums und gegen sein Recht auf optimale Selbstbestimmung. Die Menschen haben nicht nur das Recht, an den Entscheidungen über ihre Zukunft mitzuwirken, sondern das ist auch ihre Pflicht.« »Warum?« fragte Boyd verständnislos. »Warum?« wiederholte Cliff. Er seufzte. »Ich werde es Ihnen ein andermal erklären, denn offenbar muß ich dazu ziemlich weit ausholen. Werden Sie Orcuna über meine Äußerungen berichten?« »Ich sehe keinen Anlaß dafür«, erklärte der Mediziner. »Wenn Sie Ihre Ansichten für wichtig halten, rate ich Ihnen, sie dem Orcasten Denis vorzutragen. Er wird sie dann bei Gelegenheit Orcuna gegenüber zur Sprache bringen.« »Und Orcuna wird mich einsperren lassen, nicht wahr?« erkundigte sich Cliff. Herman Boyd wölbte die Brauen. »Ich verstehe nicht«, sagte er. Cliff schlug ihm auf die Schulter. »Schon gut, Boyd«, meinte er. »Es scheint nicht so einfach zu sein, sich zu verstehen, wenn man aus zwei grundverschiedenen Zeitaltern kommt. Vielen Dank jedenfalls für Ihre Informationen über Sigbjörnsons Familie.« Er schluckte. »Mein Gott! Seit dreiundvierzig Jahren gibt es sie nicht mehr! Ich weiß noch nicht, wie ich es Hasso beibringen soll.« »Es tut mir sehr leid, daß ich Ihnen keine besseren Informationen geben konnte«, erwiderte Boyd hilflos. »Ich muß mich jetzt beeilen, denn ich bin in einer Stunde zu einer wichtigen Konferenz verabredet.« »In Ordnung!« sagte Cliff. »Gehen wir!« Als sie zu den übrigen Mitgliedern der Crew zurückkehrten, bemerkte Cliff Hassos forschenden
Blick. Offenbar ahnte der Ingenieur, worüber Cliff mit Boyd gesprochen hatte. Schweren Herzens entschloß sich Cliff, dem Freund die traurige Nachricht so bald wie möglich mitzuteilen. Er fürchtete sich davor, wußte aber auch, daß ihn niemand von dieser Pflicht befreien konnte. Nur wollte er zuvor mit seinen anderen Freunden darüber sprechen. Das Fahrzeug, das sie zum TECOM gebracht hatte, brachte sie auch wieder zurück. Anschließend fuhren sie mit den kleinen Schwebern zum Erholungszentrum. Dort verabschiedete sich Herman Boyd von ihnen. Als sie vor dem Eingang des Gebäudekomplexes standen, sagte Cliff: »Wenn ihr damit einverstanden seid, geht jetzt jeder in sein Quartier. Wir können uns dann in einer Stunde bei Arlene und mir treffen.« Niemand brachte einen Einwand vor, und so trennten sie sich. Cliff McLane sprach zuerst mit Arlene über das Schicksal von Hassos Familie, danach besuchte er die anderen Freunde – außer Hasso – und besprach mit ihnen, wie die Nachricht dem Ingenieur am besten beigebracht werden konnte. Zuletzt aber blieb ihm nichts weiter übrig, als zu Hasso Sigbjörnson zu gehen und seine traurige Pflicht zu erfüllen.
6. »Denkst du, daß Hasso heute schon in der Lage ist, sich auf der Erde umzusehen?« fragte Arlene beim Frühstück, das aus einem Automaten gekommen war und aus wohlschmeckenden, aber unbekannten Zutaten bestand. Cliff McLane trank einen Schluck einer heißen, dunkelbraunen Flüssigkeit, die ein wenig an Kaffee und ein wenig an Kakao erinnerte und auch so ähnlich schmeckte wie eine Mischung von beidem. »Ja«, antwortete er. »Außerdem ist es die beste Therapie für seinen Schmerz. Wohin wirst du gehen, Arlene?« Arlene lächelte. »Paris.« Sie biß ein Stück von einem knusprigen Gebäck ab, das an einen zusammengefalteten Eierkuchen erinnerte und innen mit einer süßen, schaumigen Masse gefüllt war, die auf der Zunge zerrann. »Mich interessiert, wieviel von dem alten Zauber der Seinestadt noch vorhanden ist. Und du, Cliff?« »Ich gehe ganz in die Nähe, nach London.« Er lächelte. »Es zieht uns beide an Stätten mit großer Tradition, aber ich fürchte, wir werden kaum noch etwas von der alten Romantik finden. Immerhin hoffe ich, aus der Gestaltung dieser Stätten und aus dem Leben, das sie erfüllt, Rückschlüsse auf die Mentalität der heutigen Menschen ziehen zu können.« »Wir gehören zu den heutigen Menschen, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, Cliff«, erwiderte Arlene eindringlich. Cliff seufzte. »Manchmal denke ich, daß wir uns in
einer ähnlichen Situation befinden wie beispielsweise ein Indianer, der im neunzehnten Jahrhundert mit seinem Kanu in den Hafen von London oder Amsterdam einfuhr. Wäre es einem solchen Menschen möglich gewesen, sich so weit zu integrieren, daß er eine nützliche und befriedigende Rolle in dieser Gesellschaft spielt?« »Sicher nicht«, meinte Arlene. »Aber dein Vergleich hinkt auf beiden Beinen, Cliff. Dein Indianer stammte aus einem Naturvolk, während wir aus einer technisch-wissenschaftlich orientierten Zivilisation kommen. Was wir auf der Erde vorgefunden haben, ist ebenfalls eine technisch-wissenschaftlich orientierte Zivilisation.« Cliff wischte sich den Mund mit einem Papiertaschentuch ab und stand auf. »Wir dürfen dennoch nicht übersehen, daß es gravierende Unterschiede gibt, Mädchen. Also, dann wollen wir mal! Wir treffen uns, wie gestern besprochen, heute abend wieder – hier in unserem Quartier.« Gemeinsam mit Arlene räumte er den Tisch ab. Geschirr und Besteck bestanden aus solidem Kunststoff, wurden aber nicht abgewaschen, sondern einfach in einen Abfallschacht geworfen. Anschließend verließen Cliff und Arlene ihre Wohnungseinheit. Auf dem Flur trafen sie mit den übrigen Mitgliedern der ORION-Crew zusammen. Hasso Sigbjörnson war ebenfalls schon reisefertig. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, aber in seinen Augen schimmerte ebenso die Vorfreude des Entdeckers wie in denen der anderen Personen. Gemeinsam verließen sie den Gebäudekomplex
und gingen durch die Parkschneise auf den Ausgang des Erholungszentrums zu. Draußen verabschiedeten sie sich. »Also, dann gute Reise!« sagte Cliff zu den Freunden. »Bitte, achtet darauf, ob es irgendwo Anzeichen organisierten Widerstands gegen Orcuna gibt. Ein Diktator muß einfach Widerstand provozieren. Wir sollten uns allerdings davor hüten, uns Untergrundorganisationen anzuschließen. Bevor wir so etwas ernsthaft erwägen, müssen wir die Verhältnisse genau kennen.« »Vielleicht geht es den Menschen so gut, daß sie gar nicht an Widerstand denken«, meinte Mario. »Je größer der materielle Wohlstand, desto stärker war schon immer der Drang, alles verändern zu wollen«, sagte Atan Shubashi. »Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis tanzen«, warf Helga Legrelle ein. Cliff stöhnte gespielt. »Verschone mich am frühen Morgen mit tiefschürfenden philosophischen Offenbarungen, HelgaMädchen!« sagte er. Die Freunde lachten, dann gingen sie auseinander. * Cliff McLane ließ sich von der lachenden und lärmenden Menge durch die Tür des Stratoliners schieben. Er hatte fast eine Stunde dazu gebraucht, um sich im Verkehrszentrum der Basis zu orientieren und herauszubekommen, welches Verkehrsmittel von welchem Sektor er wählen mußte, um nach London
zu kommen. Die Möglichkeiten, sich in dem unbekannten Wirrwarr zu verirren, waren weitaus mannigfaltiger als die Möglichkeiten, sich zurechtzufinden. Cliff fand einen Sitz, der sich sogleich sanft um ihn schloß, als er sich darauf niederließ. Aufmerksam beobachtete Cliff die anderen Menschen. Sie waren alle leicht gekleidet, was sich wohl aus dem Umstand erklärte, daß sie in einer vollklimatisierten Umwelt lebten. Sowohl Männer als auch Frauen bevorzugten Blusen, Hemden, Jacken und Hosen von legerem, phantasievollem Schnitt und in allen denkbaren Farben und Musterungen. Das galt entsprechend auch für Haartracht, Schminke und Schmuck. Als Fußbekleidung wurden Stiefel bevorzugt, allesamt aus papierdünnem Leder oder Lederimitat und mit dünnen Sohlen. Cliff fragte sich, wie der Fahrpreis für den Flug entrichtet werden mußte. Herman Boyd hatte nichts über die Währung und die Bezahlung von Waren und Dienstleistungen gesagt, und niemand von der ORION-Crew hatte daran gedacht, sich danach zu erkundigen. Cliff nahm an, daß für sie eine Sonderregelung galt, so daß sie die Verkehrsmittel und die notwendigsten Lebensmittel nicht bezahlen mußten. Schließlich unterschieden sie sich in ihrer Kleidung so auffällig von den anderen Menschen, daß jeder, der Bescheid wußte, sie als Mitglieder der ORION-Crew erkennen mußte. Allerdings stellte Cliff fest, daß die Passagiere des Stratoliners ihm nicht mehr Aufmerksamkeit schenkten als den »normalen« Passagieren. Als das Fahrzeug startete, merkte Cliff es nur an
den draußen vorbeihuschenden Lichtern und der sich verändernden Anordnung der Bahnsteige zur Lage des Fahrzeuges. Wie das schwarze Oval, mit dem sie am Vortag zum TECOM geflogen waren, bewegte sich auch der Stratoliner schließlich in einer fast senkrecht verlaufenden Röhre nach oben – und befand sich abrupt oberhalb von Groote Eylandt, der Insel, die von ineinander verschachtelten Gebäudekomplexen so restlos bedeckt war, daß nicht einmal ein Streifen Sandstrand übriggeblieben war. Vielleicht hätten wir gar nicht zur Erde zurückkommen sollen! sagte sich Cliff. Es gab sicherlich genug Kolonialwelten, die noch weit von jener Überzivilisierung entfernt waren, wie sie auf der Erde herrschte. Doch dann erinnerte er sich an die Warnung, die sie der Erde hatten überbringen müssen. Außerdem waren sie Kinder der Erde, und es war nicht ihre Art, Problemen auszuweichen. Als die Wolkenfelder tief unter dem Stratoliner zurückblieben, kamen mehrere Stewardessen durch den breiten Mittelgang. Erstmals sah Cliff uniformähnliche Kleidung, aber sie war aufgelockert durch die individuelle Haartracht, durch Modeschmuck, Halstücher und andere Kleinigkeiten. Eine Stewardeß blieb mit ihrem Wägelchen neben der Sitzreihe Cliffs stehen und bot verschiedene Getränke an. Die Namen der Getränke waren Cliff unbekannt, auch die Etiketten auf den zylindrischen Plastikflaschen sagten ihm nichts. »Haben Sie keinen Whisky?« fragte er. »Whisky?« wiederholte die Stewardeß verwundert. »Tut mir leid, mein Herr. So etwas haben wir nicht.«
»Dann geben Sie mir etwas anderes Alkoholisches!« sagte Cliff resignierend. Die Stewardeß lächelte puppenhaft und goß aus einer der Flaschen eine bläulich schillernde Flüssigkeit in ein Plastikglas. So etwas wie Nebel stieg von der Flüssigkeit auf. »Was ist das?« erkundigte sich Cliff. »Glyd«, antwortete die Stewardeß und wandte sich dem nächsten Passagier zu. Mißtrauisch hob Cliff McLane das Glas, hielt es unter seine Nase und roch daran. Der Nebel kitzelte seine Schleimhäute und vermittelte ein Kältegefühl. Die Flüssigkeit roch entfernt nach einem Heidelbeerwein, den Cliff früher einmal – irgendwo – getrunken hatte. Vorsichtig kostete er davon. Der Geschmack war eine Mischung aus Himbeeren, Pfefferminze, Jasmin, Bananen und etwas Undefinierbarem, und der Alkoholgehalt schien sehr gering zu sein. Dennoch schmeckte es nicht unangenehm – und es prikkelte erfrischend auf der Zunge. Cliff trank das Glas in kleinen Schlucken aus und wünschte sich, eine Flasche Archer's tears in Reichweite zu haben. Seufzend lehnte er sich zurück. Er merkte gar nicht, daß er einschlief. Als er wach wurde, hörte er eine Lautsprecherdurchsage. »Paris Zentral! Alle Passagiere nach Paris Zentral können das Fahrzeug hier verlassen!« Die Ansage wurde mehrfach wiederholt. Cliff sah mehrere Menschen, die sich von ihren Plätzen erhoben und den Ausgängen zustrebten. Plötzlich glaubte er, in der Menge, die sich vor einem der nächsten Ausgänge staute, Arlene zu sehen.
Für einen Moment erkannte er die schwarze Kombination und die schwarze Fülle ihres Haares. Er wollte rufen, aber bevor er einen Ton herausbrachte, hatte der Stau sich aufgelöst, und die Menge war nach draußen gegangen. Cliff unterdrückte die Regung, aufzuspringen und Arlene nachzueilen. Schließlich hatte sie gesagt, daß sie nach Paris fliegen wollte. Da war es ein durchaus möglicher Zufall, daß sie den gleichen Stratoliner wie er genommen hatte. Nur hatte er nicht gewußt, daß das Fahrzeug in Paris zwischenlanden würde. Er lächelte ironisch. Da waren sie im gleichen Flugzeug um den halben Erdball geflogen – und sie hatten nichts davon gewußt! Nach kurzer Zeit schlossen sich die Türen automatisch. Der Stratoliner setzte sich in Bewegung und befand sich kurz darauf wieder in der Luft. Wenige Minuten später landete er, glitt in eine Röhre inmitten eines Wirrwarrs anderer Röhren und hielt schließlich an. »London Zentral!« sagte die Lautsprecherstimme. »Alle Passagiere nach London Zentral können das Fahrzeug hier verlassen!« Es war fast die Hälfte der noch im Fahrzeug verbliebenen Passagiere, die sich von ihren Plätzen erhoben und zu den Ausgängen schoben. Cliff schloß sich ihnen an. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, daß er den meterbreiten Zwischenraum zwischen Tür und Bahnsteigkante nicht überspringen mußte. Er trat vertrauensvoll in das Kraftfeld, das ihn behutsam auf der anderen Seite absetzte.
Nach ein paar Schritten blieb er stehen. Er war verwirrt, denn die Umgebung, in der er sich fand, hatte er nicht erwartet. Sie hatte mit dem Untergrundflughafen der Basis nur die lähmende Vielfalt der Eindrücke gemein. Ansonsten war sie anders, größer, von anderer Struktur – und für Cliff völlig unübersichtlich. Er konnte nicht einmal erkennen, ob er sich in einer Halle befand. Durchsichtige, halbdurchsichtige, farbige und farblose Wände, Säulen, Kuben, Dreiecke und, andere Gebilde schienen miteinander verschachtelt zu sein. Mitten durch dieses Chaos wimmelten Menschen, huschten ovale Schatten, schossen silbern glitzernde Leiber aus Metall. Lichtkaskaden blühten auf, sanken wieder in sich zusammen. Doch das waren nur die optischen Eindrücke, die akustischen waren ebenso verwirrend. Von überall her erscholl das mehr oder weniger phonstarke Plärren von Lautsprecherdurchsagen, dazwischen Signale, die Sphärenklängen ähnelten – und als Hintergrundgeräusch das stete Raunen und Murmeln der Menschenmenge, gleichsam das Rauschen einer Brandung zwischen funkelnden Klippen und dahinhuschenden Stahlvögeln. Das also ist London Zentral! dachte Cliff. Der Teufel soll mich holen, wenn ich auch nur eine vage Ahnung habe, wie ich hier herauskomme! * Erst nach einer geraumen Weile merkte Cliff, daß der Steig, auf dem er stand, sich bewegte. Er erkannte es nur an den vertikal verlaufenden transparenten Röh-
ren, durch die ein unablässiger Strom von Fahrzeugen stieg und sank, infolge der Geschwindigkeit nur schemenhaft zu sehen. Nach zirka einer Viertelstunde bewegte sich der Steig nicht mehr horizontal, sondern mit einer geschätzten Steigung von vierzig Grad nach oben. Cliff blieb einfach stehen, obwohl sich die Menschen um ihn herum bewegten, auf andere Steige überwechselten, in pulsierenden Toren aus Licht verschwanden oder in kleine Schwebefahrzeuge stiegen. Allmählich veränderte sich die Umgebung. Sie wirkte weniger turbulent, aber noch immer verwirrend. Und plötzlich kam der Steig zum Stehen. Auch das merkte Cliff erst, als die übrigen Menschen ihn verließen und sich zerstreuten. Da Cliff befürchtete, der Steig könnte sich erneut in Bewegung setzen und ihn in eine Gegend entführen, die verwirrender war als die, in der er eben angekommen war, trat er ebenfalls herunter. Ein warmer Luftzug schlug ihm entgegen; es duftete schwach nach frisch gemähtem Gras. Aber weiß ich denn noch, wie frisch gemähtes Gras duftet? fragte sich Cliff. Außerdem gibt es hier weit und breit keine Wiese. Dafür gab es, in kleinen Gruppen unregelmäßig verstreut, in allen Farben beleuchtete Springbrunnen. Dazwischen standen gläserne – oder gläsern wirkende – kleine Kuppeln, von denen aus transparente Röhren abwärts führten, die nur zu sehen waren, weil auf ihnen vielfarbige Lichtreflexe tanzten. Das Ganze sah aus wie ein riesiger Platz mit seltsamen, skurril wirkenden Bauwerken am Horizont. Aber über ihm wölbte sich kein Himmel, sondern eine Fülle
sich überschneidender, auf- und absteigender, sich windender Bögen, halbtransparent und immer wieder von Lichtkaskaden gleich Explosionen erhellt. Dahinter bewegten sich graue Schatten kreuz und quer; andere Schatten schienen auf den Bögen zu stehen. Das alles hatte nicht nur keine Ähnlichkeit mit dem London, wie Cliff McLane es kannte; es wirkte auf ihn wie die Metropole eines unbekannten Volkes auf einem völlig fremden Planeten. Trotz der Weiträumigkeit bekam Cliff plötzlich Platzangst. Er trat zu einer Gruppe junger Leute, die an einem Brunnen standen und über etwas diskutierten, das Cliff unverständlich war, obwohl die meisten Verben und Adjektive zu die Sprache gehörten, die er beherrschte. Aber die jungen Leute verwendeten so viele unbekannte Begriffe, daß für Cliff der Sinn des Gesagten verlorenging. Eine Weile blieb er dicht bei den Leuten stehen. Als sie aber keine Notiz von ihm nahmen, räusperte er sich laut. Doch die Leute, zwei Männer und eine Frau, redeten weiter. »Verzeihung!« sagte Cliff schließlich und tippte dem einen jungen Mann auf die Schulter. »Ich hätte gern eine Auskunft.« Drei Gesichter wandten sich ihm zu, junge Gesichter mit wach blickenden Augen, in die plötzlich der Ausdruck milder Überraschung trat. »Ja?« fragte der junge Mann, dem Cliff auf die Schulter getippt hatte. »Wie komme ich nach draußen, ins Freie?« erkundigte sich Cliff. »Am besten nehmen Sie einen Robog der nächsten Grünphase«, sagte der junge Mann.
»Sie können aber auch mit einem Blaustar driften«, meinte die Frau – beziehungsweise das Mädchen. »Und wo finde ich die nächste Grünphase?« fragte Cliff, der mit den Auskünften nichts anzufangen wußte. »Sind Sie nicht von der Erde?« erkundigte sich das Mädchen. »Doch, ich bin auf der Erde geboren und aufgewachsen«, antwortete Cliff. »Aber ich war sehr lange mit einem Raumschiff unterwegs, weit außerhalb der von uns kontrollierten Raumkugel. Jetzt finde ich mich nicht zurecht.« »Ich zeige Ihnen die nächste Grünphase«, sagte das Mädchen. Sie berührte flüchtig Cliffs rechten Unterarm und setzte sich in Bewegung. Cliff blieb an ihrer linken Seite. Er sah, daß die beiden jungen Männer dem Mädchen enttäuscht nachstarrten und sich dann lebhaft gestikulierend unterhielten. »Mein Name ist Cliff«, sagte Cliff, um nicht unhöflich zu wirken. »Genauer Cliff McLane, aber Cliff reicht völlig.« Das Mädchen – oder die Frau – lächelte flüchtig. Sie trug einen samtschwarzen Hosenanzug mit irgendwelchem Glitzerzeug darauf und einen kurzen, luftigen Schulterumhang aus bunten, flauschigen Federn. Ihr Haar war nußbraun mit einem silbrigen Schimmer, der sicher von einem Spray stammte. Es wurde mit einer über die Stirn verlaufenden Kette aus bunten Steinen zusammengehalten. »Ich heiße Raani«, erwiderte sie. »So, hier sind wir.« Cliff schaute auf und sah, daß sie am Rand eines
geradlinig verlaufenden Streifens standen, der von innen heraus grünlich schimmerte. In kurzen Abständen jagten kleine geschlossene Fahrzeuge über den Streifen. Sie bewegten sich nur in eine Richtung und sahen genauso aus wie die robotgesteuerten Gleiter oder Schweber, die in der Basis benutzt wurden. »Was muß ich tun, um einen Robog zu bekommen?« fragte Cliff. Er war ärgerlich über seine Hilflosigkeit. »Das!« antwortete Raani. Sie streckte die Hand aus, so daß sie über den Rand des grünen Streifens ragte. Sekunden später verlangsamte ein Robog seine Fahrt, scherte aus und hielt unmittelbar neben Cliff und Raani. »Danke!« sagte Cliff. Er versuchte, sein ehemals berühmtes charmantes Lächeln aufzusetzen. »Wenn Sie etwas Zeit für mich erübrigen könnten, Raani, und mir die Stadt zeigen wollen, würde ich mich sehr freuen.« Das Mädchen schaute ihn verwirrt an. »Sie würden mit mir ...! Aber Sie befinden sich in der Stadt, Cliff! Ich dachte, Sie wollten nach draußen.« »Ja, gibt es denn nur diese Höhlen?« fragte Cliff. »Ich dachte, daß wenigstens Teile von London sich unter freiem Himmel befänden.« »Doch, das gibt es auch«, sagte Raani. »Darf ich Sie wirklich begleiten, Cliff?« »Ja, warum denn nicht?« entfuhr es Cliff. »Sie sind doch ein berühmter Mann – und ich bin nur eine Studentin«, erwiderte Raani. Cliff lachte. »Das ist doch kein Hinderungsgrund, Raani. Steigen wir ein! Ohne dich würde ich mich nur wieder hoffnungslos verirren.«
Raani sagte nichts dazu, daß Cliff so schnell vom »Sie« zum »Du« übergegangen war. Vielleicht deshalb, weil sie sich Cliff unterlegen fühlte oder weil es allgemein so üblich war. Der Robog öffnete sich für sie. Sie nahmen Platz. »Hyde Park Reservation!« sagte Raani. Als Cliff das Wort »Reservation« hörte, sank er in sich zusammen und wünschte sich weit weg. Er kam sich plötzlich wie ein seltenes Tier vor, das man in ein Wildgehege brachte, weil es sich nur in der freien Natur wohl fühlte.
7. Der Mharut hatte aus seinem Versteck beobachtet, wie die sechs Ableger ihre Quartiere verließen. Inzwischen war es ihm gelungen, aus abgehörten Gesprächen die in diesem Nest geltende Verkehrssprache zu bestimmen, zu analysieren und im Speicher seines Multi-Translators zu verankern. Deshalb konnte er der Unterhaltung der sechs Ableger entnehmen, daß sie sich trennen wollten, um jeder für sich das Leben im Nest zu studieren. Das erschien ihm irgendwie unlogisch, denn aus allem, was er bisher an Informationen gesammelt hatte, ging hervor, daß die sechs Ableger aus diesem Nest stammten. In dem Fall aber hätten sie das Leben im Nest nicht erst zu studieren brauchen. Der Mharut entschied, daß dieser Widerspruch unbedeutend für seine Pläne war. Er beschloß, dem Ableger zu folgen, der in der Gruppe dominierte. Er mußte demnach auch die wichtigsten Informationen besitzen. Von einer Deckung blitzschnell zur anderen huschend, blieb der Mharut jenem Ableger, der sich Cliff McLane nannte, auf den Fersen. Als er in einen Sektor kam, in dem stärkerer Betrieb herrschte, verzichtete er darauf, sich heimlich zu bewegen. Er rechnete damit, daß er inmitten der Vielfalt der Fahrzeuge und Roboter, der Lichtreflexe und des Getöses der Lautsprecherdurchsagen nicht auffallen würde. Seine Berechnung erwies sich als richtig. Zwar musterte ihn hin und wieder ein Ableger erstaunt, aber das blieb auch alles. Der Mharut beobachtete, wie
Cliff McLane in ein Fahrzeug stieg, das der Konstruktion nach für einen schnellen Flug in den hohen Schichten der Atmosphäre bestimmt war. Da er sich nicht an Bord begeben konnte, denn dort wäre er bestimmt aufgefallen, beschloß er, dem Fahrzeug in geringem Abstand zu folgen. Er sah, daß außer Cliff auch der Ableger einstieg, der Arlene genannt wurde und der offenbar der andersgeschlechtliche Paarungspartner Cliff McLanes war. Doch stufte er das als unwesentlich ein. Er brauchte sich nur auf den Ableger Cliff McLane zu konzentrieren, um an die gewünschten Informationen zu kommen. Als die Türen des Fahrzeuges sich geschlossen hatten und es sich in Bewegung setzte, schwebte der Mharut hinterher. Immer schneller wurde die Fahrt durch die transparente Röhre, die allmählich von der Horizontalen in die Vertikale überging – dann schoß das Fahrzeug ins Freie. Auch hier hatte der Mharut keine Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Er konnte eine Dauergeschwindigkeit entwickeln, die derjenigen des Schalls innerhalb der Atmosphäre dieses Nestes entsprach, und für begrenzte Zeit vermochte er sogar noch schneller zu fliegen. Als er bei der ersten Zwischenlandung sah, daß der Ableger namens Arlene ausstieg, vermutete er, daß auch Cliff McLane aussteigen würde. Aber Cliff McLane verließ das Fahrzeug nicht. Erst bei der nächsten Landung stieg er aus. Da es für den Mharut überhaupt keine Schwierigkeiten bei der Orientierung am Zielort gab, rechnete er auch nicht damit, daß sein Opfer Schwierigkeiten
haben könnte, zumal alle anderen Ableger sich sicher und zielstrebig bewegten. Dadurch verlor er Cliff McLane aus dem Erfassungsbereich seiner Sensoren, denn er hatte den Kurs seines Opfers vorausberechnet und war vorausgesegelt, um es an einem Punkt dieses Kurses zu erwarten. Er wollte damit vermeiden, ständig hinter oder neben Cliff McLane zu schweben und dessen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als er merkte, was geschehen war, kehrte der Mharut sofort um. Aber es dauerte längere Zeit, bis er den Ableger nach komplizierten Suchmanövern wieder entdeckte. Cliff McLane befand sich zu diesem Zeitpunkt in Begleitung eines anderen Ablegers, den körperlichen Merkmalen nach eines andersgeschlechtlichen Ablegers. Offenbar hatte Cliff McLane einen neuen Paarungspartner gesucht und gefunden. Der Mharut folgte den beiden Ablegern, als sie in ein Fahrzeug stiegen und davonschwebten. Er vermutete, daß sie zu einem Paarungsplatz fahren und sich nach der Paarung wieder trennen würden. Es erschien ihm deshalb vertretbar, die Trennung abzuwarten, bevor er eingriff. Die Reise endete an einem offenen Teil des Nestes. Dort stiegen die beiden Ableger aus und schlenderten über ein Gelände, auf dem sattgrüne, künstlich niedrig gehaltene Vegetation wuchs. Dazwischen gab es höhere Formen der Vegetation, eine runde und eine langgestreckte Wasserfläche und überall schmale, vegetationslose Streifen, auf denen andere Ableger gingen. Der Mharut stellte mit seinen Sensoren fest, daß sich an den Rändern der weiten Vegetationsfläche die
Fassaden hoher Bauwerke erhoben, in denen die Systeme einer modernen Technik arbeiteten. Dort wäre er kaum aufgefallen. Doch hier, auf dieser weiten Fläche war das anders. Er änderte seine Taktik. Nachdem er einen winzigen Peilsender abgeschossen hatte, der an Cliff McLanes Kleidung haften blieb, zog er sich zu den Hochbauten zurück. Dort wollte er innerhalb der Zeitspanne, die nach seinen Berechnungen bis zur Trennung der beiden Ableger verstreichen würde, ein Versteck suchen, eine Operationsbasis für die nächste Zeit und einen Ort, an dem er Cliff McLanes organischen Computer leeren konnte. * Der Robog war durch den »gläsernen Untergrund« von London gefegt, hatte Cliff und Raani in einer Oberflächenkuppel aussteigen lassen und war gleich wieder untergetaucht. Durch eines von drei großen, nicht verschließbaren Toren gingen Cliff und Raani ins Freie. Eben noch bedrückt, hätte Cliff McLane nun am liebsten laut gejubelt. Vor ihnen lag eine weite Rasenfläche, hier und da mit Gruppen von Bäumen und Büschen durchsetzt und von zahlreichen kleinen Spazierwegen durchzogen – und vom Himmel schien eine warme Sonne herab. Cliff holte tief Luft, pumpte die Lungen voll Sauerstoff und roch den Duft sonnenwarmer Gräser und naher Gewässer.
»Ah, das ist herrlich!« rief er aus. Er kniete nieder und berührte mit den Fingerspitzen ein blühendes Gänseblümchen. Danach preßte er sekundenlang das Gesicht ins Gras, um soviel von dem Duft wie möglich mitzunehmen. Als er aufstand, fühlte er sich glücklich, und es war nur diese überwältigende Freude, die ihn dazu hinriß, Raani zu umarmen und zu küssen. Als er sie losließ, sah er die Verwirrung in ihren Augen und fühlte sich verpflichtet, sich zu entschuldigen. »Sei mir nicht böse, Mädchen, aber ich war schon lange nicht mehr so glücklich«, erklärte er. »Komm, gehen wir durch den Park. Wie ich sehe, gibt es auch noch Bänke. Wir wollen uns irgendwo setzen und uns von der Sonne bescheinen lassen.« Er faßte Raanis Hand, und sie schlenderten los. »Aber zuviel Sonnenbestrahlung ist gesundheitsschädlich«, wandte Raani ein, als sie eine freie Bank erreicht hatten und sich darauf niederließen. Von der Fläche eines langgestreckten Sees, der, wie Cliff sich erinnerte, früher The Serpentine genannt worden war, wehte eine schwache Brise herüber, die die Gesichter wohltuend kühlte. Cliff lachte. »Keine Sorge, wir werden kaum stundenlang in der Sonne sitzen. Erzähle mir ein bißchen von dir, von deinem Studium und davon, wie ihr Menschen in dieser Epoche allgemein so lebt!« Raani schloß die Augen, lehnte sich zurück und sagte: »Ich studiere DESIN und werde im kommenden Jahr abschließen.« »Entschuldige, aber was ist DESIN?« warf Cliff ein. »Formgestaltung für Gebrauchs- und Verbrauchsgü-
ter, wie beispielsweise variable Wohnungseinrichtungen, Dauergeschirr, Videoplastschablonen und was der Dinge mehr sind«, antwortete Raani. »Wieviel wirst du nach abgeschlossener Ausbildung verdienen können?« erkundigte sich Cliff weiter. »Ich weiß nicht«, antwortete Raani. »Man braucht so wenig Kreditpunkte, wenn man keine ausgefallenen Bedürfnisse hat.« »Wieso?« fragte Cliff. »Man muß doch essen, sich kleiden, muß wohnen, Möbel kaufen und ab und zu verreisen.« »Oh!« rief Raani. »Ich hatte nicht daran gedacht, daß du noch nicht Bescheid wissen könntest, Cliff. Aber die Antwort ist ganz einfach. Die Benutzung aller öffentlichen Verkehrsmittel innerhalb des Sonnensystems ist frei, ebenso der Bezug aller Nahrungsund Genußmittel sowie Unterkünfte des mittleren Standards. Für Gebrauchsartikel wird mit der Kreditkarte gezahlt. Die Konten verwaltet ein Verrechnungszentrum.« »Und wenn jemand nichts verdient? Oder gibt es das nicht?« »Doch, das gibt es oft. Vor allem bei Künstlern, Erfindern und so weiter, bis sie den Durchbruch geschafft haben. Aber niemand muß verdienen, um leben zu können. Jeder Bürger hat einen monatlichen gegenleistungsfreien Kredit, der ausreicht, alle seine Bedürfnisse zu befriedigen – ausgenommen Extravaganzen wie echten Schmuck, den Kauf oder das Mieten von Raumschiffen und so fort. Meist schöpft er den Freikredit gar nicht aus, dann verfällt am Monatsende der Rest.«
Cliff McLane stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Davon konnte man zu meiner Zeit bestenfalls träumen. Die Wirtschaft der Erde muß in den vergangenen siebenundsechzig Jahren einen enormen Aufschwung erlebt haben. Wie sind denn die Eigentumsverhältnisse bei den Produktionsmitteln?« »Eigentum? Du meinst, wem die Produktionsmittel gehören?« »Ja«, bestätigte Cliff. »Alles ist Eigentum des Staates, auch der Boden.« Cliff verzog skeptisch das Gesicht. »Und das funktioniert? Ich weiß aus der Geschichte, daß solche Experimente schon früher gemacht worden sind. Aber niemals ist dadurch der Lebensstandard der Menschen gestiegen; er ist im Gegenteil stark gesunken, weil der individuelle Anreiz fehlte.« »Darüber weiß ich auch Bescheid«, meinte Raani. »Aber bei uns werden die Produktionsmittel nicht vom Staat gelenkt. Der Staat verpachtet sie zu einem relativ niedrigen Zins an jeden Interessenten und überläßt es ihm, sie optimal zu nutzen. Die Gewinne werden zudem nur mäßig versteuert, und die Steuerprogression hält sich in Grenzen, so daß ein starker Anreiz für Investitionen besteht. Seine größten Gewinne holt der Staat aus dem Handel mit den Kolonialwelten und der Vergabe von interstellaren Krediten.« »Das klingt alles faszinierend«, erwiderte Cliff. »Aber warum läßt eine so fortschrittliche Gesellschaft eine derart archaische Regierungsform zu, wie es die Diktatur Orcunas darstellt?« »Die Menschheit ist noch nie besser regiert worden als jetzt«, antwortete Raani. »Ich wüßte nicht, warum daran etwas geändert werden sollte.«
»Weil der Mensch frei über sich und seine Zukunft bestimmen muß, wenn er als Mensch leben will!« erregte sich Cliff. »Wenn Orcuna das nicht einsieht, dann muß er eben trotz seiner anderen Verdienste gewaltsam gestürzt werden.« Raani wurde blaß und rückte ein Stück von ihm ab. »Gewaltsam?« wiederholte sie erschrocken. »Wie kannst du auch nur daran denken, Gewalt gegen andere Menschen anzuwenden, Cliff?« Ihre Augen weiteten sich. »Deine Gefährten aus dem Raumschiff und du, ihr bekommt doch normale Verpflegung, oder?« Cliff wölbte verwundert die Brauen. »Was hat die Verpflegung damit zu tun, Mädchen?« »Sie enthält Fluidum Pax«, antwortete Raani, etwas ruhiger als vorher. »Das ist eine Droge, die in flüssiger Form hergestellt und dem Trinkwasser zugesetzt wird. Folglich ist sie in allen Getränken und in fast allen Speisen enthalten. Niemand, der Fluidum Pax zu sich nimmt, kann Gewalttaten begehen, und er kann nur mit Abscheu an so etwas denken.« »Das wird ja immer schöner!« erwiderte Cliff. »Beeinflussung durch Drogen.« Er überlegte, dann sagte er: »Aber ich spüre keine Wirkung. Ich kann an Gewalt denken, auch wenn ich natürlich moralische Widerstände überwinden müßte, um sie anzuwenden – beispielsweise, um die Erde gegen Invasoren zu verteidigen oder um einen Diktator zu stürzen. Wie lange muß man denn Fluidum Pax einnehmen, bis es wirkt?« »Es wirkt sofort«, erklärte Raani. Plötzlich rückte sie noch ein Stück weiter von Cliff ab.
»Aber bei dir und deinen Freunden kann es überhaupt nicht wirken«, flüsterte sie. »Fluidum Pax wirkt nur, wenn man im Embryonalstadium fratisiert wird. Dadurch bildet sich auf Lebenszeit die Fähigkeit heraus, einen Katalysator zu produzieren, der Fluidum Pax zur gewünschten Wirkung anregt. Aber die ersten Fratisierungen wurden vor fünfzig Jahren durchgeführt – und ihr ...« »Und wir verließen die Erde vor siebenundsechzig Jahren«, sagte Cliff grimmig. »Deshalb schadet uns Fluidum Pax nicht.« Raani fröstelte plötzlich trotz der warmen Sonnenstrahlung. »Ich will hier weg, Cliff!« sagte sie. »Bringst du mich nach Hause?« »Einverstanden«, antwortete Cliff. »Wenn du mir verrätst, wie ich das bewerkstelligen kann. Du weißt ja, ich bin ein primitiver Wilder, der sich in eurer überzüchteten, fratisierten und drogenverseuchten Welt nicht zurechtfindet.« * Ein Robog hatte sie aus der grünen Oase unter dem natürlichen Himmel geholt und in ein Wohnviertel gebracht, das auf Cliff McLane ebenso sinnverwirrend wirkte wie London Zentral. Mit einem Lift waren sie vierundzwanzig – oder sechsundzwanzig – Etagen hoch gefahren, einen kurzen Korridor entlanggegangen und dann in Raanis Wohnung getreten. Eigentlich hatte Cliff nicht mit hineingehen wollen. Aber zu seinem Erstaunen bat Raani ihn, noch etwas
zu bleiben. Und das, obwohl sie ihre Angst vor ihm nicht ganz verbergen konnte. Aber vielleicht, überlegte Cliff, war es gerade das, was ihn für sie anziehend machte: ein Mann, der durch nichts gehindert wurde, an Gewalt zu denken – und der sogar fähig war, einen anderen Menschen zu töten. Er schaute sich in dem Wohnzimmer um, in das Raani ihn geführt hatte. Der Boden war mit einem elastischen Schaumstoff belegt, der aus jedem Blickwinkel andere Muster und Farben zeigte. Die Möbel bestanden aus einem halbtransparenten Plastik, das von innen heraus matt leuchtete und hin und wieder farbige Lichtfunken sprühte. Die rötlich-gelb glühende Decke verbreitete angenehm weiches Licht. Im ersten Moment nach seinem Eintritt glaubte Cliff, durch eine der Wände in ein benachbartes Zimmer zu sehen, in dem sich drei Menschen – ein Mann und zwei Frauen – inmitten einer Phantasmagorie von Wohnelementen bewegten. Aber über ihre Lippen kam kein Laut, obwohl sie sie sprechend bewegten – und das machte Cliff klar, daß er eine Fernsehwand sah, deren Ton abgeschaltet war. Die Bildqualität war hervorragend und sicher ein Erzeugnis hochentwickelter Videoplastik beziehungsweise Holographie. Cliff schaute zu dem Mädchen und sah, daß sie ihren Federumhang abgelegt hatte. Das Oberteil des Hosenanzugs verbarg praktisch nichts. »Ich denke, ich gehe jetzt lieber«, sagte Cliff plötzlich und wandte sich zur Tür. »Aber ich möchte, daß du hierbleibst, Cliff«, sagte Raani.
Cliff hatte die Tür schon fast erreicht. Er drehte sich um. Da war Raani bei ihm, hielt sich an ihm fest. Cliff packte ihre Schultern, suchte nach den richtigen Worten, um ihr zu erklären, daß es falsch wäre, wenn er bliebe. Da barst die Türfüllung mit lautem Knall! Cliff McLane hörte es krachen. Er ließ Raani los und wirbelte herum – und starrte aus geweiteten Augen auf ein anthrazitfarben glänzendes eiförmiges Monstrum, das zwei Tentakelarme ausgefahren hatte und auf ihn zuschwebte. Reflexhaft griff Cliff nach seiner Strahlwaffe – und stellte fest, daß das Halfter leer war. Er erinnerte sich wieder, daß er und seine Freunde ihre Waffen in der Basis Robotern ausgehändigt hatten. Und hier kam ein anderer Roboter – denn zweifellos handelte es sich bei dem Monstrum um einen solchen – auf ihn zu, und seine Bewegungen deuteten auf feindselige Absichten hin. Ein Roboter Orcunas, der mich wegen meiner unliebsamen Äußerungen festnehmen will! schoß es durch Cliffs Kopf. Wenn der Diktator solche Befehle geben kann, dann ist er – außer uns Raumfahrern der ORION – der einzige Mensch auf der Erde, der nicht auf Fluidum Pax anspricht. Zorn kochte in Cliff hoch. Er stieß Raani von sich, weit fort aus der Reichweite des Roboters. Dann sprang er zur Seite und packte einen Sessel, um ihn dem Monstrum entgegenzuschleudern. Aber der Sessel haftete fest am Fußboden. Cliff richtete sich wieder auf. Raani schrie und wollte an dem Roboter vorbei zur Tür laufen. Mitten in der Bewegung erstarrte sie, als hätte sie sich in eine Statue verwandelt.
Cliff stutzte bei diesem Vergleich, der sich ihm aufdrängte. Im nächsten Augenblick spürte er einen stechenden Schmerz in der linken Wange – und dann nichts mehr. Dennoch war er bei vollem Bewußtsein, als der Roboter ihn packte und sich aus der Wohnung zurück zog ... * Der Mharut schwebte in rasender Eile mit seinem Gefangenen durch einen Korridor, feuerte seinen Detonator auf die Hauswand ab und flog durch das dadurch entstandene Loch ins Freie. Draußen beschleunigte er und jagte zu dem Versteck, das er sich ausgesucht hatte, während die beiden Ableger sich im Freigelände aufhielten. Unterwegs versuchte er, durch Rechenoperationen herauszubekommen, warum er die Gefährtin des Ablegers nicht getötet hatte, wie es seine Absicht gewesen war. Er gelangte zu dem Schluß, daß das Verhalten Cliff McLanes ihn irritiert hatte. Anstatt in panischer Angst zu fliehen oder vor Schreck zu erstarren, hatte dieser Ableger versucht, Gegenwehr zu leisten. Seine Reaktion hatte nicht die geringste Spur von Furcht gezeigt, sondern ein unerwartetes Maß von Aggressivität. Er hatte damit völlig anders als die Ableger reagiert, die der Mharut bisher vernichtet hatte. Naturgemäß war der Mharut darauf nicht gefaßt gewesen. Er setzte seine Überlegungen fort und kam zu der Entscheidung, den Gefangenen nicht mit der üblichen radikalen Methode zu behandeln sondern seinen or-
ganischen Erinnerungsspeicher so anzuzapfen, daß keine irreparablen Schädigungen auftraten. Es war wichtig, dieses außergewöhnliche Exemplar seiner Spezies noch für einige Zeit am Leben zu erhalten und gründlich zu untersuchen. Der Mharut erreichte sein Versteck, das stillgelegte Aufnahmestudio einer privaten Fernsehgesellschaft, die zur Zeit in einem anderen Studio arbeitete. Zwischen Videoplastprojektoren, Holographie-Elementen, Kameras und elektronischen Spielkoordinatoren legte er den Gefangenen auf den Boden. Er hatte Cliff McLane mit einem Kristall aus Nervengift gelähmt. Dadurch waren die Gehirnfunktionen nicht beeinträchtigt. Der Mharut richtete einen Zellschwingungstaster auf den Kopf des Gefangenen, schaltete ihn auf Weitwinkelerfassung und aktivierte ihn. Gleichzeitig schaltete er seine Tasterreflexantenne und den entsprechenden Analysator ein. Die lichtschnellen Impulse des Tasters waren so moduliert, daß sie von den energetisch außerordentlich schwachen Schwingungen der Hirnzellen reflektiert wurden. Dadurch kam in der Tasterreflexantenne quasi ein Zellschwingungsrelief von Cliff McLanes bewußter und unbewußter Gehirntätigkeit an. Der Analysator wertete das ›Relief‹ aus und schickte alle Informationen, die die Erinnerung des Ablegers betrafen, an den zentralen Sitz seiner Quasi-Intelligenz. Nachdem der Mharut alle vorhandenen Informationen erhalten und ausgewertet hatte, mußte er erkennen, daß er seinem Ziel immer noch nicht näher gekommen war. Der Grund dafür war als Erinnerung gespeichert. Cliff McLane und seine Gefährten hatten, als sie mit ihrem Raumschiff durch den Ringtrans-
mitter gingen, einen großen Teil aller Informationen verloren, die sie während ihres Aufenthalts am Kreuzweg der Dimensionen gesammelt hatten. Zusätzlich waren andere Erinnerungen gelöscht worden – darunter ausgerechnet auch die über die kosmischen Koordinaten des Nestes dieser Spezies. Da es sinnlos gewesen wäre, den gleichen Versuch bei einem Gefährten dieses Ablegers zu wiederholen, beschloß der Mharut, aufs Ganze zu gehen. Das barg zwar einige erhebliche Risiken, aber wenn er vorher Verwirrung stiftete, würde er gute Aussichten haben, sein Ziel zu erreichen. Er überzeugte sich davon, daß das Nervengift bei seinem Gefangenen noch wirkte. Danach verließ er das Versteck, um jenes Maß an Verwirrung zu stiften, das er als Vorbereitung zu seinem nächsten Schlag für erforderlich hielt ...
8. Als Cliff McLane spürte, daß seine Muskeln ihm wieder gehorchten, bewegte er zuerst vorsichtig Arme und Beine, dann stand er auf. Sofort wurde ihm schwarz vor den Augen. Er lehnte sich an einen Videoplastprojektor und wartete, bis der Schwindelanfall vorüber war. Danach sah er sich aufmerksam um, denn er hatte, während er gelähmt gewesen war, nur einen beschränkten Ausschnitt seiner Umgebung wahrnehmen können. Das Resultat war Verwirrung. Obwohl Cliff nicht alle Einrichtungsgegenstände identifizieren konnte, merkte er doch, daß er sich in einem Fernsehstudio befand. Irritiert fragte er sich, warum der robotische Häscher Orcunas ihn nicht in eine solide Gefängniszelle beziehungsweise einen modernen Verhörraum geschleppt hatte. Vielleicht, weil der Diktator, falls Cliff gefunden werden sollte, vermeiden wollte, daß er mit der Entführung in Zusammenhang gebracht wurde? Cliff erkannte selbst, daß dies unlogisch war. Doch er hielt es für möglich, daß der Diktator den Kopf verloren hatte und seine unlogische Reaktion ein Ergebnis von Panik gewesen war. In diesem Falle würde er sicher danach trachten, seinen Fehler zu korrigieren. Beispielsweise, indem er mich umbringen läßt! überlegte Cliff. Diese Aussicht gefiel ihm ganz und gar nicht. Darum sah er sich nach einer Möglichkeit um, das Studio zu verlassen und zu fliehen. Er mußte vor allem
Kontakt zu seinen Freunden aufnehmen, wußte allerdings noch nicht, wie er das bewerkstelligen sollte. Wahrscheinlich kannte Orcuna wirksame Methoden, die unliebsamen Rückkehrer getrennt zu halten. Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, schritt Cliff die Wände ab. Er schrak zusammen, als sich vor ihm plötzlich eine rechteckige Öffnung bildete. Vorher war an dieser Stelle nichts zu sehen gewesen, was auf eine Tür hingedeutet hätte. Cliff wunderte sich zwar darüber, daß die Tür nicht versperrt war. Aber auf jeden Fall ging er erst einmal hindurch. Draußen lag ein verlassener Korridor, der nach links zu einer halbtranparenten Wand führte. Das riesige Loch in der Wand war nicht zu übersehen, und die gezackten Ränder verrieten, daß es nicht vom Architekten geplant, sondern gewaltsam geschaffen worden war. »Ich möchte bloß wissen, warum der verflixte Roboter das Gebäude nicht auf normalem Wege verlassen hat!« murmelte Cliff. Er ging zu dem Loch und steckte den Kopf hindurch. Glitzernde und stumpfgraue Wände ragten in den Himmel, transparente, von bunten Lichtstrahlen wechselnd beleuchtete Bögen spannten sich darüber. Robogs huschten mit wahnwitzig anmutender Geschwindigkeit hin und her, hinauf und herab, so daß es aussah, als müßte es in jeder Sekunde zu einem Dutzend Katastrophen kommen. Auf stabilen, waagerecht und schräg verlaufenden Ebenen wimmelte das buntgekleidete Ameisenheer der Spezies Homo sapiens. »Ihr ahnungslosen Engel!« sagte Cliff erbittert. »Ihr
lebt in Überfluß und Luxus, seid dank Fluidum Pax friedfertig wie Lämmer, laßt euch verhätscheln, verwöhnen und gängeln und merkt gar nicht, daß ihr dadurch auf lange Sicht die Zukunft der Menschheit verspielt!« Plötzlich flammte grellrotes Licht auf. Cliff schloß geblendet die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er, wie in seiner Blickrichtung ein ganzer Sektor von Bögen, Ebenen und Röhren knisternd und rauschend zusammenbrach. Darunter gähnte eine kugelförmige Lücke, deren Ränder in blutrotem Feuer strahlten. Cliff begriff so lange nichts, bis er die zahllosen Menschen sah, die haltlos aus zerrissenen Röhren und über sich neigende Flächen in die Tiefe stürzten und sich in Fackeln verwandelten, sobald sie die glühenden Ränder der kugelförmigen Lücke passierten. »Mein Gott!« flüsterte er entsetzt. Ihm war klar, daß ein Unheil solchen Ausmaßes nur durch eine nukleare Explosion hervorgerufen worden sein konnte, und er fragte sich, wie es bei einer so hochentwickelten und auf extreme Sicherheit bedachten Technik zu einer derartigen Katastrophe hatte kommen können. Gleichzeitig fühlte er sich so ratlos und hilflos wie selten in seinem Leben, denn er sah für sich keine Möglichkeit, helfend in die grauenhaften Geschehnisse einzugreifen und Menschenleben zu retten. Unterdessen war unter den Menschen, die nicht unmittelbar von der Katastrophe erfaßt worden waren, eine Panik ausgebrochen. Die Massen wälzten sich fort vom Bezirk des Unheils, stauten sich an Durchgängen und blockierten sie. Die nachdrängenden Menschenmassen prallten von hinten dagegen.
Gellende Schreie drangen bis zu Cliff herüber. »Was kann ich nur tun?« stammelte Cliff verzweifelt. Plötzlich huschte von schräg oben etwas an ihm vorbei, jagte auf einen menschenwimmelnden Sektor zu: ein eiförmiger Körper, auf dessen schwarzer Außenhaut bunte Lichtreflexe tanzten. Unwillkürlich zog Cliff den Kopf ein. Dennoch sah er deutlich, wie der fliegende Roboter von innen heraus in gelblichem Glanz aufstrahlte. Dann raste er wieder steil nach oben – und tief unter ihm flammte abermals grellrotes Licht auf. Von grauenhaftem Entsetzen geschüttelt, taumelte Cliff McLane ein paar Schritte zurück. Noch faßte er es nicht, daß der Roboter Orcunas für das gräßliche Geschehen, für die Ermordung Tausender unschuldiger Menschen, verantwortlich war. Aber er fürchtete, daß bald noch mehr Menschen sterben mußten, wenn diesem Monstrum nicht bald Einhalt geboten wurde. In dieser Lage erinnerte er sich an das Kommunikationsarmband, das er trug und von dem auch seine Freunde je ein Exemplar besaßen. Man hatte ihnen die Bildfunkgeräte nicht abgenommen, wahrscheinlich, weil niemand daran gedacht hatte. Cliff schaltete sein Gerät ein, drehte es auf maximale Sendeleistung, wodurch die Bildübertragung automatisch desaktiviert wurde, winkelte den Arm an, so daß die Mikrophoneinheit dicht vor seinem Mund war und sagte: »Cliff an alle ORION-Freunde! Alarmstufe Alpha! Orcuna hat mich durch einen Roboter entführen lassen. Ich konnte entkommen, aber der Roboter wirft Atombomben auf die Wohnbezirke von London. Ich weiß nicht, was der Diktator damit
bezweckt, aber nur wir sind in der Lage, ihm Einhalt zu gebieten. Beschafft euch Waffen und Fahrzeuge und schlagt euch zum TECOM durch! Ich werde ebenfalls alles tun, um dorthin zu kommen. Danach suchen wir eine Möglichkeit, das Verwaltungszentrum zu stürmen und den Diktator abzusetzen. Ich bitte um Bestätigung!« Er lauschte. Aber nur Hasso Sigbjörnson meldete sich. Er versprach, laufend weiter nach den Freunden zu rufen und Cliffs Anweisungen an sie weiterzugeben. Cliff bedankte sich. Er hatte das Funkgerät kaum abgeschaltet, als das Loch in der Wand sich verdunkelte. Der Mordroboter war zurückgekehrt! Cliff wollte sich ihm entgegenwerfen, obwohl er wußte, daß er gegen die Kräfte des Monstrums nicht viel ausrichten konnte. Doch der Roboter raste an ihm vorbei, als hätte er ihn überhaupt nicht bemerkt. Irgendwo splitterte eine Wand unter seinem Aufprall. Im nächsten Moment tauchten zwei andere Roboter in der Öffnung auf. Sie flogen ebenfalls, waren aber ganz anders gebaut als das schwarze Ungetüm. Einer von ihnen flog in die Richtung, in die der Mordroboter sich abgesetzt hatte; der andere richtete eine kurzläufige Waffe mit trichterförmiger Mündung auf Cliff. Mit hartem Klicken verabschiedete sich das Universum von Cliff. *
Als Cliff McLane erwachte, sah er zuerst das vertraute Gesicht von Dr. Herman Boyd. Es schien frei über ihm zu schweben. Aber nachdem Cliffs Blick sich geklärt hatte, sah er den Mediziner in seiner ganzen Gestalt. Boyd hielt eine Hochdruck-Injektionspistole in der rechten Hand. »Bitte, treten Sie etwas zur Seite, Boyd!« sagte eine gepflegte Stimme. Der Mediziner trat einen Schritt nach links. Dadurch konnte Cliff einen schlanken, schwarzhaarigen Mann sehen, der hinter einem zierlich wirkenden Schalttisch stand. Piere Denis, Orcast für innere Angelegenheiten! Das schmale, edel geformte Gesicht von Denis drückte gleichermaßen Entschlossenheit aus. Die schmalen Hände zitterten leicht. »Warum haben Sie das getan, McLane?« fragte Denis. »Warum habe ich was getan?« entgegnete Cliff, dessen Erinnerung an das grausame Geschehen allmählich zurückkehrte. »Es war Ihr Roboter, der mit Atombomben um sich geworfen und Tausende von Menschen getötet hat, nachdem er mich betäubt und entführt hatte.« Piere Denis schüttelte betrübt den Kopf. »Sie haben davon gesprochen, Gewalt anzuwenden, um Orcuna zu stürzen, McLane«, erklärte er. »Einmal davon abgesehen, daß es unsinnig wäre, weil es die Stabilität unserer Gesellschaftsordnung erschüttert hätte, falls es gelungen wäre, könnten wir dem noch ein gewisses Maß an Verständnis entgegenbringen. Wir haben aber kein Verständnis dafür, daß Sie gemordet und zerstört haben, wahrscheinlich,
um ein Ausmaß an Verwirrung zu stiften, das ihre wahren Pläne verschleiern sollte.« »Aber nichts davon ist wahr!« schrie Cliff. »Ja, ich habe davon gesprochen, daß eine Diktatur notfalls mit Gewalt beseitigt werden müßte. Aber ich habe nicht im Traum daran gedacht, Gewalt gegen völlig unschuldige Menschen anzuwenden. Das war Orcunas Werk, Denis! Er hat mich von seinem Roboter lähmen und entführen lassen, und wahrscheinlich gehörte es zu seinem Plan, mich als Massenmörder hinzustellen, damit er mich beseitigen lassen kann. Dieser Orcuna muß wahnsinnig sein, wenn er so etwas plant. Wenn Sie ein anständiger Mensch sind, sorgen Sie dafür, daß er nicht noch mehr Unheil anrichtet!« »Orcuna hat noch nie Gewalt gegen andere Menschen angewendet oder angeordnet«, sagte Denis, der sich nur mühsam beherrschte. Cliff lachte schrill. »Ach nein! Und wie war das in dem Krieg, den er gewonnen hat? Da mußte er auch die Anwendung von Gewalt befehlen. Und wie ist es mit der Raumflotte, die die Erde unterhält? Ihre Schiffsmannschaften müssen doch im Falle eines Angriffs schießen – und Orcuna muß die entsprechenden Befehle erteilen. Er muß auch bereit sein, gegen Raumschiffsbesatzungen gewaltsam vorzugehen, wenn sie beispielsweise meutern.« »Maßnahmen gegen meuternde Schiffsbesatzungen werden ausschließlich von den Bordcomputern der Schiffe getroffen«, erklärte Herman Boyd. »Und was die Besatzungen betrifft, so bestehen sie nur aus Menschen der Kolonialwelten, die sich freiwillig zur terrestrischen Flotte gemeldet haben. Menschen der Er-
de sind wegen Fluidum Pax gar nicht in der Lage, sich für eventuelle Ernstfälle ausbilden zu lassen.« Cliff seufzte. »Lassen Sie diesen Roboter, diesen Mordroboter, herholen, Denis«, sagte er. »Dann wird man ja feststellen können, woher er stammt. Sorgen Sie vor allem dafür, daß nicht noch mehr Menschen umkommen.« »Sobald wir Ihre Crew festgesetzt haben, wird auf der Erde niemand mehr sterben müssen«, erklärte Pierre Denis. »Leider ...« Er hob lauschend den Kopf. Cliff hatte ebenfalls das unheilverkündende Fauchen von Strahlwaffen gehört. Es schien aus dem Flur außerhalb dieses Raumes zu kommen, in dem er festgehalten wurde. Im nächsten Moment flog die Tür auf. Mario de Monti und Hasso Sigbjörnson stürmten herein, schußbereite Strahlwaffen in den Händen. Draußen fielen noch drei Schüsse, dann folgten die übrigen Mitglieder der ORION-Crew. Cliff erhob sich erleichtert und fing die HM 4 auf, die Atan Shubashi ihm zuwarf. Aus Gewohnheit überprüfte er das Energiemagazin. Es war voll. »Cliff!« flüsterte Arlene, die neben ihn getreten war. »Wir hatten schon das Schlimmste befürchtet.« »Ich bin in Ordnung«, erwiderte Cliff und blickte zu Denis und Boyd, die verstört in die Mündungen der Waffen schauten, die von Mario und Hasso auf sie gerichtet wurden. »Sie sind unsere Gefangenen«, erklärte er. »Hasso, wie seid ihr hergekommen? Und wo sind wir hier eigentlich?« »Im TECOM«, antwortete der Ingenieur. »Nach-
dem ich die anderen benachrichtigt hatte, gelang es mir, einen größeren Robotgleiter auf Manuellbedienung zu schalten. Ich sammelte die Freunde auf und kam mit ihnen hierher. Mario hatte inzwischen Waffen besorgt. Unser Gleiter wurde nicht einmal aufgehalten, als er im Verwaltungszentrum landete.« »Sie wären niemals hereingekommen, wenn Orcuna es nicht so gewollt hätte«, warf Denis ein. »Aber in diesem Gebäude selbst stellten sich uns Kampfroboter entgegen«, erwiderte Atan Shubashi. Pierre Denis lächelte milde. Er hatte seine Fassung schnell wiedergewonnen. »Gegen Kampfroboter hätten Sie keine Chance gehabt«, sagte er im Ton einer sachlichen Feststellung. »Selbstverständlich sind hier welche stationiert – für den Fall einer Invasion von außen. Gegen Erdbewohner werden diese schrecklichen Maschinen nicht eingesetzt.« »Ich war Zeuge, wie ein Roboter – der zweifellos ein Kampfroboter war – Tausende von Menschen tötete«, sagte Cliff eindringlich. »Er war eiförmig, zirka 1,20 Meter hoch und in der Mitte vielleicht fünfunddreißig Zentimeter durchmessend, schwarz wie Anthrazit und mit zwei Tentakelarmen. Erkennen Sie wenigstens an dieser Beschreibung, daß es sich um einen von Ihren Kampfrobotern handelte?« »Unsere Kampfroboter sehen völlig anders aus, McLane«, erwiderte Denis. »Ich begreife nicht, warum Sie alles so beharrlich abstreiten. Wir werden Ihnen alles beweisen können. Hoffentlich können unsere Psychochirurgen Ihnen helfen, wieder normale Menschen zu werden.« »Ich lasse mir nicht an meinem Gehirn herum-
schneiden!« schrie Mario de Monti. »Lieber würde ich sterben. Ihr Orcuna ist ein Teufel. Jetzt ist mir auch klar, warum er nie persönlich in Erscheinung tritt. Keine Krankheitserreger, sondern die Ängste eines Irrsinnigen, der an Verfolgungswahn leidet, zwingen den Diktator dazu, sich irgendwo zu verkriechen.« Er fuhr herum, als es auf dem Flur polterte. »In Deckung!« rief Cliff. »Das sind wahrscheinlich Roboter! Denis, Boyd, werfen Sie sich zu Boden!« »Mich kriegen sie nicht lebend!« stieß Hasso Sigbjörnson grimmig entschlossen hervor. »Mich auch nicht«, sagte Atan. Die Tür öffnete sich. Cliff und Atan feuerten gleichzeitig. Zwei Roboter, die eben hatten eindringen wollen, blieben stehen. Aus ihren Augenzellen und Sprechgittern stieg dunkler Rauch. Aber von hinten drängten andere Roboter nach. Sechs, sieben, acht wurden von der verbissen kämpfenden Crew ausgeschaltet. Doch die Übermacht war zu groß. Aus seltsam geformten Waffen schossen Strahlen einer hellen Flüssigkeit, die in der Luft zu dunkelbraunen, schleimigen Fäden erstarrte, die sich um die Raumfahrer schlangen und ihnen jede Bewegungsfreiheit nahmen. Innerhalb von knapp einer Minute war die ORIONCrew überwältigt. * Einige Roboter räumten die Trümmer ihrer »Kollegen« beiseite, andere hoben die zu Bündeln verschnürten Raumfahrer auf und setzten sie in bereitgestellte Sessel.
Kaum waren sie damit fertig, flimmerte die Luft über dem Schaltpult, an dem Pierre Denis immer noch stand. Im nächsten. Moment sahen die Raumfahrer die holographisch-videoplastische Projektion des Diktators. Es sah aus, als stünde er hinter dem Pult neben Denis. Das Gesicht Orcunas sah grau und verfallen aus. »Ich hätte nie gedacht, daß Sie unser Vertrauen derart mißbrauchen können«, sagte der Diktator. »Cliff McLane, ich beschuldige Sie und Ihre Crew des Massenmordes an einer noch nicht genau ermittelten Zahl unschuldiger Menschen sowie der Vorbereitung zum Sturz dieser Regierung und zur Übernahme der Regierungsgewalt. Sie können Ihre Lage wesentlich erleichtern, wenn Sie Ihre Schuld eingestehen.« Cliff starrte den Diktator haßerfüllt an. »Sie sind derjenige, der eine Schuld einzugestehen hat!« schrie er. »Es war Ihr Roboter, der die Wahnsinnstat vollbrachte! Fragen Sie doch die Studentin Raani. Sie lebt in London und war Zeugin des gewaltsamen Eindringens Ihres Roboters in ihre Wohnung. Hoffentlich ist sie bei dem Massaker nicht auch umgekommen.« Er wandte sich an Denis. »Und Sie fordere ich auf, nachzuforschen, wenn man uns berichten sollte, Raani sei bei einer der Explosionen umgekommen! Dieser Verrückte darf sie nicht umbringen lassen.« »Schweigen Sie!« fuhr Denis ihn an. Orcuna musterte Cliff eindringlich. Es wirkte so, als stünde er tatsächlich leibhaftig im Raum. »Pierre, ich habe den Eindruck, daß McLane die Wahrheit sagt«, erklärte Orcuna zur Verblüffung der ORION-Crew. »Ich werde dafür sorgen, daß die
Fahndung nach dem Mordroboter intensiviert wird. Allerdings, wenn McLane tatsächlich die Wahrheit gesagt hat, dann frage ich mich, warum der bewußte Roboter seinem Stratoliner nach London Zentral folgte.« »Woher wissen Sie das?« erkundigte sich Helga Legrelle. »Doch nur, weil Sie ihn geschickt hatten.« Orcuna lächelte traurig. »Ich weiß es erst seit wenigen Minuten, nämlich nach der Auswertung aller Informationen, die auf meine Aufforderung hin von allen robotischen Systemen des Bereichs Erde bei mir eingingen.« Mario blickte den Diktator nachdenklich an. »Die bei Ihnen eingingen?« fragte er gedehnt. »Selbstverständlich gingen Sie beim TECOM ein, nicht bei mir«, erwiderte Orcuna. »Ich bekam nur das Ergebnis der Auswertung zugespielt.« Plötzlich wurde Cliff McLane blaß. »Was haben Sie, McLane?« fragte Orcuna. Cliff schluckte. »Dieser Mordroboter«, sagte er leise. »Er erinnert mich an etwas, aber es wurde mir erst jetzt bewußt, an was. Es war zweierlei. Einmal das gelbe Leuchten, das er ausstrahlte – und vorher die Art, wie er Raani ausschaltete. Sie erstarrte zu einer Statue, und das war genau das gleiche, was mit Prac'h und mir auf dem Planeten der Thaars geschah.« Hasso Sigbjörnson bewegte sich auf seinem Sessel, so weit es seine Fesseln gestatteten. »Die Welt der Thaars!« rief er. »Jetzt erinnere ich mich auch daran! Cliff, du hattest damals gleich den Verdacht, jemand könnte sich in unsere LANCET geschlichen haben. Aber wir haben sie doch gründlich
durchsucht. Ein Roboter, wie du ihn vorhin beschrieben hast, wäre uns nicht entgangen.« »Und doch muß er uns entgangen sein«, sagte Cliff dumpf. »Die Mächte der Finsternis ballen sich zusammen – und wir haben einen ihrer Todesboten auf die Erde eingeschleppt. Orcuna, ich nehme meine Anschuldigungen gegen Sie zurück und biete Ihnen bedingungslose Zusammenarbeit mit dem Ziel an, den Mordroboter so schnell wie möglich unschädlich zu machen.« »Das klingt zu phantastisch!« warf Herman Boyd ein. »Außerdem wurde die ORION VIII sofort untersucht, nachdem die Besatzung von Bord gegangen war. Während dieser Untersuchung war das Schiff von unseren Ordnungsrobotern umstellt. Nichts, das größer ist als ein Sandkorn, hätte sich aus dem Schiff schleichen können.« »Es sei denn, es besäße Möglichkeiten, sich der Wahrnehmung durch Menschen und robotische Ortungssysteme zu entziehen«, warf Pierre Denis ein. »Wenn ich es mir recht überlege, komme ich zu dem Schluß, daß der bewußte Roboter diese Möglichkeiten besitzt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den rätselhaften Tod einer Technikerin. Sie starb eines gewaltsamen Todes, obwohl sich zur Todeszeit in allen angrenzenden Räumen andere Menschen befanden und keiner von ihnen etwas Verdächtiges bemerkte. Am gleichen Tag wurde mir gemeldet, daß ein Prüfingenieur spurlos verschwand, während er sich auf dem Weg von seiner Arbeitsstelle zur Kantine befand. Außerdem gab es kurz darauf in einem Identifikationsroboter, der zur Überwachung der Quartiere der ORION-Crew abgestellt war, eine Ex-
plosion, deren Ursache nicht ermittelt werden konnte.« »Das genügt«, sagte Orcuna. »Ich stelle fest, daß wir es mit dem Roboter einer unbekannten Macht zu tun haben, deren Ziel es mit großer Wahrscheinlichkeit ist, der irdischen Menschheit Schaden zuzufügen. Deshalb ziehe ich meine Anklage gegen die ORIONCrew zurück und bedaure das Mißverständnis. Die Gefangenen sind von ihren Fesseln zu befreien.« »Danke!« sagte Cliff trocken. »Nehmen Sie unser Angebot an?« »Sie wollen mit mir zusammenarbeiten, obwohl Sie erklärte Gegner der von mir praktizierten Regierungsform sind, McLane?« fragte Orcuna. »Wenn die Erde bedroht ist, paktiere ich sogar mit einem Diktator, sofern er ebenfalls das Ziel verfolgt, die Bedrohung von der Erde abzuwenden«, erklärte Cliff. »Mein Angebot gilt allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Gefahr beseitigt ist, denn meine Ansichten werden sich nicht ändern.« »Ich bin einverstanden und nehme Ihr Angebot an, Commander McLane«, sagte Orcuna. »Die Austragung unserer Meinungsverschiedenheiten wird damit vorläufig ausgesetzt. Pierre, geben Sie dem Commander und seiner Crew die Waffen zurück und unterstützen Sie die Leute in jeder Weise. Sie sind zur Zeit die einzigen Menschen auf der Erde, die der Gestalt des Bösen die Gestalt des Guten entgegensetzen können.« Pierre Denis erteilte den Ordnungsrobotern die entsprechenden Befehle. Während die Crew von den klebrigen Fesseln befreit wurde, betrat Han Tsu-Gol den Raum.
»Orcuna hat mich darüber informiert, daß Sie und Ihre Freunde uns helfen werden, den Mordroboter unschädlich zu machen«, sagte der Orcast für Verteidigung und Raumflotte. »Ich habe meinerseits einen Verband der Flotte in einen Orbit um die Erde befohlen. Die Raumschiffe werden eingreifen, sobald der Roboter beim Flug über offenes Gelände geortet werden sollte. Außerdem wird innerhalb des Sonnensystems ein fünffach gestaffelter Verteidigungsring aufgebaut.« »Das ist sehr vernünftig«, sagte Hasso Sigbjörnson. »Wir können leider nicht ausschließen, daß der Mordroboter Hilfe von außerhalb anfordert und bekommt.« Cliff nahm seine HM 4 von einem Ordnungsroboter entgegen, dann wandte er sich an Orcuna. »Wir brauchen drei schnelle gepanzerte Gleiter, die mit schweren Waffen ausgerüstet sind«, erklärte er. »Können Sie uns so etwas zur Verfügung stellen, Orcuna?« Der Diktator sah aus, als dächte er angestrengt nach. Plötzlich verzerrte sich sein Gesicht; die Konturen der Projektion verschwammen – und schließlich löste sich die Projektion ganz auf. »Was bedeutet das, Pierre?« wandte sich Han an den Orcasten für innere Angelegenheiten. »Ich – ich weiß es auch nicht«, stammelte Denis ratlos. »Das hat er noch nie getan. Ich meine ...« »Wo hält sich Orcuna auf?« rief Mario de Monti erregt. »Schnell, antworten Sie! Es geht vielleicht um Sekunden.« »Meinst du, Orcuna ist angegriffen worden?« fragte Cliff.
»Ja, Cliff – und ich fürchte, dem Roboter geht es um die geheimsten Informationen der Erde, über die wahrscheinlich nur Orcuna verfügt. Denis, Han, reden Sie! Wo finden wir Orcuna?« »Unter dem Zentralsektor von TECOM«, antwortete Han Tsu-Gol. »Aber dort ist ein Bunker, der nicht einmal mit einer Fusionsbombe geöffnet werden kann.« »Dann führen Sie uns zum Zentralsektor von TECOM!« sagte Mario. »Ich denke, daß wir überhaupt nicht in den Bunker hinein müssen, um Orcuna zu finden.« »Wie meinst du das?« fragte Helga Legrelle. »Später!« erwiderte Mario. »Kommen Sie!« sagte Han Tsu-Gol. »Ich bringe Sie hin!« * Als sie den Äußeren Ring des Zentralsektors erreichten, bot sich ihren Augen ein Bild der Verwüstung dar. Überall lagen die Wracks zerstörter Ordnungsroboter. Glühende Trümmer bedeckten den Boden, und ausgeglühte Decken hingen tief in die Korridore hinab. Vor dem Tor einer Verteilerhalle lag ein zu einem glühenden Klumpen verformter Robog, daneben die Besatzung, die sich nicht mehr hatte in Sicherheit bringen können. Ein gesprengtes Panzerschott zeigte den Weg, den der Mordroboter genommen hatte. »Dort geht es zum Koordinator, zum Hauptcomputer von TECOM!« rief Han Tsu-Gol. Der Orcast
war beim Anblick der Toten leichenblaß geworden und kämpfte mit aller Willenskraft gegen eine Übelkeit. »Aussteigen!« sagte Cliff McLane. »Wir gehen zu Fuß weiter! Han, bleiben Sie hinter uns, und gehen Sie in Deckung, sobald geschossen wird.« Han Tsu-Gol nickte und stieg mit weichen Knien aus dem Fahrzeug. Cliff stürmte bereits durch das gesprengte Schott, dicht gefolgt von seinen Freunden. Sie kamen in einen Korridor, in dem ebenfalls die Trümmer zerstörter Ordnungsroboter lagen. Ein Stück weiter klaffte ein gezacktes Loch mit nachglühenden Rändern in einer meterdicken Panzertür. Davor lag ein zirka zwei Meter großer, massiv wirkender Roboter mit tentakelartigen Armen und Beinen und einem Kuppelkopf, aus dem die Abstrahlmündungen mehrerer Strahlwaffen ragten. Sein Rumpf war von einer Explosion eingedrückt und aufgerissen. »Das war ein Kampfroboter!« rief Han atemlos von hinten. »Die Maschinen galten als unüberwindlich!« »Nichts ist unüberwindlich«, erwiderte Atan Shubashi. »Nicht einmal der Koordinator«, erklärte Mario de Monti geheimnisvoll. »Äußerste Vorsicht!« mahnte Cliff, während er geduckt an dem zerstörten Kampfroboter vorbeilief und neben dem gezackten Loch in der Panzertür in Stellung ging. Er spähte hindurch, zog den Kopf aber vorsichtshalber gleich wieder zurück. »Drüben ist eine Halle, die von Schaltwänden umgeben wird«, berichtete er seinen Freunden. »In der
Mitte habe ich so etwas wie eine kleine Stahlkuppel gesehen, und hinter ihr leuchtet es gelblich.« »Der Mordroboter«, sagte Arlene und rückte dicht an Cliff heran. »Können wir es mit ihm aufnehmen, wenn ihm nicht einmal ein Kampfroboter standhalten konnte?« »Wir müssen es«, erwiderte Cliff. Er deutete nach links. »Hasso und Mario, ihr schlagt einen Bogen dort herum!« Seine HM 4 zeigte nach rechts. »Atan und ich, wir nehmen die rechte Seite. Arlene und Helga, ihr bleibt hier und gebt uns Deckung, wenn wir uns zurückziehen müssen! Han, Sie halten sich heraus!« Der Orcast nickte. Er hätte ohnehin nicht helfen können, da er infolge der Droge Fluidum Pax gar nicht in der Lage war, Gewalt anzuwenden – auch nicht gegen Roboter. Immerhin hatte er sich so weit gefaßt, daß er die Vorgänge aufmerksam verfolgen konnte. Cliff hob gerade die Hand, um das entscheidende Zeichen zum Angriff zu geben, da ertönte plötzlich eine Stimme. Es war Orcunas Stimme – und sie schien von überallher zu kommen. »Ich rufe alle, die mich hören, zum Eingreifen auf!« dröhnte es in dem Korridor. »Hier spricht Orcuna! Der feindliche Roboter hat sich an meine Speichersektoren angeschlossen und ist dabei, die kosmischen Koordinaten der Erde zu stehlen.« Cliff ließ seine halb erhobene Hand wieder sinken. »An meine Speichersektoren?« flüsterte er verblüfft. »Das klingt, als wäre Orcuna ...« »... ein Computer«, ergänzte Mario de Monti. »Ich ahnte es, als er sagte, die Informationen der robotischen Systeme des Bereichs Erde seien bei ihm einge-
gangen. Eine derartige Fülle von Informationen kann nämlich nur von einem überaus leistungsfähigen Computer aufgenommen werden. Orcuna muß identisch mit dem Hauptcomputer sein – beziehungsweise mit seinem Egosektor.« »Ich rufe die ORION-Crew!« meldete sich Orcuna abermals. »Meine Einstufung der Gefahr macht es notwendig, drastische Maßnahmen zu ergreifen. Ich fordere die ORION-Crew auf, keine Rücksicht auf meine Existenz zu nehmen, wenn die Gefahr nicht anders abgewendet werden kann. Ich bin kein Mensch, sondern das im Egozentrum des Hauptcomputers gefangene elektronische Bewußtsein des TECOM selbst. Greift ein, ehe es zu spät ist! Ich versuche, den Mordroboter mit widersprüchlichen Daten zu verwirren und dadurch seine Reaktion zu lähmen.« Diesmal stieß Cliff seine Hand ganz nach oben. Hasso Sigbjörnson und Mario de Monti sprangen durch das Loch und eilten, einen weiten Bogen schlagend, nach links. Cliff und Atan Shubashi stürmten nach rechts, ebenfalls einen Bogen schlagend, so daß sie hinter die Stahlkuppel in der Mitte der Halle kamen. Beim ersten Blick hinter die Stahlkuppel blieben die Männer der ORION stehen. Sie konnten sich der grauenhaften Faszination nicht entziehen, die das eiförmige Gebilde ausstrahlte, das sich mit drei metallisch glänzenden Tentakeln an die Kuppel angeschlossen hatte. Zuerst schien es, als wäre der Mordroboter nicht in der Lage, die ihm drohende Gefahr zu erkennen. Er verharrte unbeweglich, obwohl die Mündungen von vier Strahlwaffen auf ihn gerichtet waren.
Aber als seine Konturen teilweise verschwammen, wurde klar, daß er versuchte, sich der Bedrohung zu entziehen. »Feuer!« befahl Cliff. Vier gleißende Strahlbahnen vereinigten sich auf der anthrazitfarbenen Hülle des Mordroboters, fraßen sich langsam durch das Material – und plötzlich entlud sich ihre Energie innerhalb des Objekts. Die vier Männer warfen sich zu Boden, als der Robotkörper sich in einen ultrahellen Glutball verwandelte, der die Stahlkuppel verdampfte und dann schlagartig erlosch. Die vier Männer standen auf. Helga und Arlene kamen durch das Loch in der Panzertür, gefolgt von Han Tsu-Gol. »Orcuna!« rief der Orcast. »Orcuna?« Niemand antwortete. »Wie es scheint, gibt es Orcuna nicht mehr«, sagte Mario. »Ich nehme an, der Egosektor des Hauptcomputers ist ausgebrannt, weil der Mordroboter zum Zeitpunkt seiner Vernichtung mit ihm gekoppelt war.« »Damit ist der Weg frei für eine demokratische Regierungsform – und für die Abschaffung von Fluidum Pax!« erklärte Cliff McLane hart. »Han, ich fordere Sie auf, alle Orcasten zu einer Besprechung zusammenzurufen!« * Die Besprechung fand in dem gleichen Saal statt, in dem Orcuna die ORION-Crew nach ihrer Rückkehr zur Erde begrüßt hatte.
Der »Tod« des Diktators hatte den Orcasten einen solchen Schock versetzt, daß sie nicht einmal dagegen protestierten, als Cliff McLane nach Absprache mit seinen Freunden die Diktatur für abgeschafft erklärte. Wahrscheinlich empfanden sie außerdem Scham, weil sie anhand der Beweise hatten einsehen müssen, daß sie bisher einem Computer gehorcht hatten. »Da Orcuna uns nicht mehr verraten kann, warum er darauf verfiel, die Menschen der Erde und des Sonnensystems diktatorisch zu regieren, müssen wir uns selbst eine Theorie dazu bilden«, erklärte Cliff. »Ich für meinen Teil nehme an, daß Fluidum Pax dafür den Ausschlag gab. Bei aller Anerkennung der Bestrebungen, die menschliche Aggressivität abzubauen, müssen wir doch erkennen, daß diese Methode falsch war. Sie bewirkte zu viele negative Effekte. Wahrscheinlich hat Orcuna das nach dem Krieg, der vor dreiundvierzig Jahren stattfand, klar erkannt. Vielleicht wollte er zuerst nur dafür sorgen, daß die Nachwirkungen des Krieges durch eine zentrale Steuerung von Politik und Wirtschaft schnell und reibungslos beseitigt wurden. Als ihm dann klar wurde, daß die irdische Menschheit infolge der ständigen Einwirkung von Fluidum Pax in ihrer Entschlußkraft gehemmt war, könnte er es für seine Pflicht angesehen haben, diese Menschheit weiter zu führen. Er hat zweifellos sehr viel Gutes getan, aber der Weg war ein Weg, der abwärts führte. Die Menschen müssen wieder lernen, über sich selbst und ihre Zukunft nachzudenken und selber zu entscheiden, was mit ihnen geschehen soll. Voraussetzung dafür ist aber, daß die Behandlung mit Fluidum Pax eingestellt wird.«
Er wandte sich an Roberta Calvari. »Wie lange wird es dauern, bis die Wirkung der Droge abgeklungen ist?« »Drei Wochen«, antwortete Roberta Calvari tonlos. Sie wirkte verstört. Cliff nickte. »Dann werden wir in drei Wochen damit anfangen, die Menschheit der Erde auf die neuen Verhältnisse vorzubereiten – und wir werden ihr sagen müssen, daß über uns allen eine Drohung schwebt, die irgendwann aktuell werden wird.« »Aber wer soll die Erde regieren?« warf Han TsuGol ein. »Eine Regierung, die von allen Menschen frei gewählt werden wird«, antwortete Cliff. »Das wird allerdings seine Zeit brauchen. Bis dahin, so hoffe ich, werden die Orcasten bereit sein, als Interimsregierung zu fungieren. Sie, meine Dame und meine Herren, sind ja in Ihren Ressorts bestens eingearbeitet. Ich schlage vor, daß Sie sich als Minister der Interimsregierung betrachten und einen von Ihnen als Ministerpräsidenten wählen. Meine Freunde und ich würden für Han Tsu-Gol plädieren.« Nach kurzer Diskussion erklärten sich alle Orcasten damit einverstanden, daß Han Tsu-Gol das Amt des Ministerpräsidenten ausüben sollte – und der Orcast für Verteidigung und Raumflotte nahm sein neues Amt an. Cliff schüttelte ihm als erster die Hand und beglückwünschte ihn. »Meine Freunde und ich rechnen natürlich mit Ihrer Unterstützung bei unserer Wiedereingliederung in die Menschheit und in die Raumflotte der Erde«, sagte er lächelnd.
»Die ist Ihnen sicher, Cliff«, erwiderte Han und blinzelte verschwörerisch. ENDE