BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 34
DER MEISTER DES VERBOTENEN WISSENS von Manfred Weinland & Marten Veit...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 34
DER MEISTER DES VERBOTENEN WISSENS von Manfred Weinland & Marten Veit
Während die RUBIKON die Große Magellansche Wolke erreicht, auf den Spuren eines vor Jahrzehntausenden stattgefundenen Völkermords, kommt es auch in der heimatlichen Milchstraße zu dramatischen Entwicklungen. Die Koordinaten des irdischen Sonnensystems und damit der Machtbasis der Erinjij – den Menschen – ist der Allianz CLARON bekannt geworden. Die Folgen sind unausweichlich: Es wird zur Konfrontation zwischen dem Bund organischer Völker und den rücksichtslos expandierenden Menschen kommen. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die Flotten der Parteien aufeinander prallen. Davon scheinbar unberührt nimmt das Leben auf der Erde seinen gewohnten Gang – zumindest für den Normalen – oder für die Glücklosen, die ihr Dasein im Getto fristen, das von den Mastern auf dem Grund und Boden des einstigen Peking errichtet wurde...
1. Sie hatte so lange geschlafen, dass es für mehr als nur ein Leben gereicht hätte. Über zwei Jahrhunderte. Und seit ihrer Erweckung aus der Stase hatte es keine Nacht gegeben, in der sie nicht träumte, noch immer im Kryoschlaf zu liegen, durchströmt von einem Cocktail aus Medikamenten, eingebettet in Flüssigkeit, die den Moment konservierte, da sie in den Tank gestiegen war... damals... unter Cronenbergs und Palmers Blicken... Bastarde!, dachte sie. Doch schon ihr nächster Gedanke war: Ich bin immer noch schön. Immer noch jung. Ich lebe. Ohne diese Bastarde wäre ich längst Geschichte, selbst meine Knochen wären schon zu Staub zerfallen. Ich bin eine lebende Tote. Ich habe die Zeit ausgetrickst. Die Zeit... Sarah war ein Fossil. Und nicht das Einzige, das an die Gestade der Zukunft gespült worden war. Inzwischen hatte sie andere kennen gelernt, die ebenso waren wie sie: John Cloud beispielsweise. Der Kommandant der Marsmission, die damals – als die Äskulap-Schiffe zur Erde hinabgeregnet waren – das Marsrätsel hatten lösen sollen; das Rätsel um die gescheiterte erste bemannte Mission zum roten Planeten rund zwei Jahrzehnte zuvor. Oder Scobee. Ein weiteres Mitglied der Crew, die ohne Wissen der Weltöffentlichkeit Millionen Kilometer von der Erde entfernt jene Macht hatte entlarven sollen, die der ARMSTRONG-Besatzung 22 Jahre zuvor zum Verhängnis geworden war. Clouds Vater hatte Mission I geleitet. Aber der Sohn hatte die Stelle, an der Nathan Cloud und drei weitere Astronauten damals verschwanden, niemals erreicht. Kurz nach der Landung des zweiten Marsschiffes, der RUBIKON, war der
Kontakt dorthin abgerissen, und auf der Erde und im ganzen Sonnensystem hatten sich die Ereignisse überschlagen. Erst die Schwarze Flut, die für den Ausnahmezustand rund um den Globus sorgte. Dann die unheimliche Verwandlung Jupiters in ein Wurmloch. Eine Art Tor, aus dem heraus die Fremden kamen. Die Eroberer, die ihr Inkognito bis heute wahrten, 211 Jahre später, wenn man Shen Sadako, dem Führer der Untergrundorganisation Omikron glauben konnte. Nun, zumindest was das anging, vertraute Sarah ihm tatsächlich. Sie hatte Sadakos Vorfahren gekannt, und zwar persönlich: Kaiser Hu Sadako. Kompromissloser Regent über das neochinesische Reich, neben den USA damals, 2041, der einzige ernst zu nehmende sonstige Machtblock... Damals... seinerzeit... Vergangenheit! Es ist alles vorbei. Die Karten wurden neu gemischt, das Bild der Erde völlig neu gezeichnet...! Als sie den ersten vagen Einblick in die Welt erhielt, in die sie nach dem Staseschlaf getreten war, hatte sie geglaubt, es nicht ertragen zu können. Der Akt der Erweckung als solches war human verlaufen. Wie nach einer starken Vollnarkose hatte sie Stunden gebraucht, um sich wieder komplett bei Bewusstsein und in einigermaßen stabiler körperlicher Verfassung zu fühlen. Vielleicht wäre es noch schneller gegangen, wenn es schneller hätte gehen müssen – aber man hatte ihr Zeit gelassen, war behutsam mit ihr umgesprungen... Damals, als sie unter Zwang in den Tank geklettert war, hatte sie nicht geglaubt, überhaupt jemals wieder ihr Bewusstsein zurückzuerlangen. Tatsächlich ein zweites Leben geschenkt zu bekommen. Sie wusste nicht mehr genau, was sie sich alles an Schreckens-Fantasien ausgemalt hatte... Die Erweckung hier, im Hauptquartier der Omikron-
Rebellen, das irgendwo auf dem Gebiet des ehemaligen Peking lag, war jedenfalls rücksichtsvoller und sanfter erfolgt, als sie es sich hätte träumen lassen. Die Depression war erst Stunden später über sie hereingebrochen. Als ihr bewusst wurde, dass sie nur ein Gefängnis gegen ein anderes eingetauscht hatte. Denn dort, wo der Geheimbund Omikron agierte, lebten die Verbannten, die Rechtlosen und Geächteten der Menschheit dieser Erde der Zukunft... Die nun auch Sarahs Gegenwart war... Getto oder Zone nannten die Bewohner diese »Insel«, die umgeben – umschlossen – war von einem grünbraunen Pflanzenmeer, das die Außerirdischen angelegt hatten. Es war ein lebender Sperrgürtel, den kein Mensch, zumindest kein Bewohner des Gettos, aus eigener Kraft und lebend überwinden konnte. Denn die Flora, die die Stadt umgab, war eine besondere. Sie setzte sich aus überwiegend außerirdischer Vegetation zusammen, hin und wieder mit irdischen Pflanzen gekreuzt oder durchwoben. Aber den Hauptanteil des riesigen Waldareals machten Gewächse aus, die von fernen Welten importiert worden waren. Und die sich vor allem durch eines auszeichneten: durch ihren Heißhunger auf Menschen – zumindest aber durch ihre tödliche Wirkung beim Kontakt mit ihnen. John Cloud und Scobee hatten eines jener Geschöpfe mit zu den Rebellen gebracht, die für die Hege und Pflege der gewaltigen Parzellen hochaggressiver Vegetation verantwortlich waren: den Klon Jelto, der sich selbst als »Florenhüter« bezeichnete. Er besaß eine Psi-Fähigkeit, die es ihm erlaubte, mentale Verbindung zu jeder Pflanze herzustellen – und sie dabei zu beliebig schnellem Wachstum zu animieren. Jeltos Haut leuchtete aurenhaft, wann immer er
dieses Talent bemühte. Kirlianhaut hatte Cloud dies genannt. Cloud. Und Scobee. Und... Kurz stockte ihr der Atem. Palmer und Cronenberg! Auch die beiden waren nach ihrem Jahrhundertschlaf erwacht. Allerdings nicht, weil die Rebellen sie geweckt hatten, sondern... … weil diese Scobee ein falsches Spiel trieb. Sie hat Cloud hintergangen. Hat sich auf die Seite dieser Verräter geschlagen – und es ihnen erst ermöglicht, mit ihr aus dem HQ zu fliehen! Seither wurde fieberhaft nach ihnen gesucht. Und sie, Sarah Cuthbert, Ex-Präsidentin der USA, Exmächtigste-Frau-der-Welt, wusste sich keinen besseren Zeitvertreib, als sich Sadakos Heer von Jägern anzuschließen? Kopfschüttelnd bejahte sie dies. Immerhin, rechtfertigte sie ihre Initiative, hatte sie mit zweien der Flüchtigen noch ein Hühnchen zu rupfen. Mehr als das... *** »Meine Entscheidung ist endgültig und unumstößlich«, sagte der Mann, der wie eine jüngere Version seines berühmten Vorfahren wirkte. »Wir stellen unsere Suche ein. Wir geben die Jagd auf. Sie ist nicht mehr wichtig...« Sarah Cuthbert hatte ein Gefühl, als wolle jeder Nerv und jeder Muskel ihres Körpers gegen Shen Sadakos Entscheidung rebellieren. Hilflosigkeit, beinahe schlimmer noch als damals im Bunker unter der Nevadawüste, als sie von Cronenberg und Palmer ihres Amtes und aller damit verbundenen Privilegien enthoben worden war, stieg in ihr auf. Einen Moment lang wurde ihr schwarz vor Augen, und sie schnappte wie ein Fisch
auf dem Trockenen nach Luft. Und dafür, dachte sie, haben sie mich aus der Stase zurückgeholt? Dafür? Zornig wechselte ihr Blick hinüber zu John Cloud, der der Unterredung beiwohnte. Er war ein Anachronismus wie sie, und doch, das hatte sich in den wenigen Stunden ihres persönlichen Kennen Lernens herausgestellt, unterschieden sich ihre Ziele, ja sogar ihre Sicht der Dinge, sehr voneinander. Er, der Astronaut, der im Invasionsjahr zum Mars aufgebrochen war, schien sich mit Sadakos Absichten identifizieren zu können. Für ihn war Sadako die Verkörperung des letzten Widerstands gegen die ominösen Master, der auf der Erde in dieser Zeit noch existierte. Sein primäres Ziel ist es, das Rätsel um die Identität der Führungsspitze der Menschheit zu lösen. Und dann gegen diese rücksichtslose Riege vorzugehen, dachte Sarah. Und fügte nach einer kaum merklichen Pause sofort den nächsten Gedanken an, der eine an sie selbst gerichtete Frage war: Wäre das nicht eigentlich meine Aufgabe? Müsste ich nicht an genau dem interessiert sein, was Cloud und Sadako anstreben? Stattdessen war ihr Denken mehr oder weniger ausschließlich auf etwas so Banales und Verurteilenswertes wie Rache ausgerichtet. Rache? Im Moment der Erkenntnis erschrak sie über sich selbst. Es stimmte, die Demütigung der Umstände, unter denen ihre Amtsenthebung erfolgt war, nagte noch immer an ihr. Etwas Vergleichbares war ihr noch niemals zuvor widerfahren, und das Schlimmste daran war: Für sie selbst fühlte es sich an, als wäre es gerade erst geschehen! Die Stase war traumlos gewesen. Tiefer, dunkler, kalter Schlaf. Gestern in den Tank gestiegen, verfolgt von feindseligen, zynischen und verächtlichen Blicken, und heute wieder daraus entstiegen – so
mutete es für sie an. Jahrhunderte, die seither verstrichen waren? Hah! Sie hatte bis jetzt nicht begriffen, dass dem tatsächlich so war. Hatte bis jetzt nicht realisiert, wie weitgehend die Konsequenzen waren, die sich daraus ergaben. Nicht nur für die Welt, sondern zuallererst für sie ganz persönlich! Wie hat er es verarbeiten können? Noch immer hielt ihr Blick an Cloud fest. Er wirkte wie ein gefestigter Charakter auf sie, während sie selbst sich so zerrissen und zwiespältig fühlte, dass sie sich in den vergangenen Stunden mehr als einmal gewünscht hatte, nie aus dem Stasebehälter geholt worden zu sein. Vielleicht wäre es besser, immer noch darin zu liegen, Körper und Geist im Nebel des Kryoschlafs gefangen. Sie schüttelte sich unwillkürlich, konnte nicht gegen den Drang an zu versuchen, sich von etwas zu befreien, was nicht abzuschütteln war. Weil es tief unter ihrer Haut haftete, tief im innersten Kern ihres Denkens und Fühlens. Jener Missbrauch, den Cronenberg und Palmer und Hays an ihr begangen hatten. Hays war ihrer Wut inzwischen entkommen. Als Einziger aus dem flüchtigen Quartett, zu dem auch die Klon-Astronautin Scobee gehörte, war er bei einer der Jagden »erlegt« worden. Dass sie darüber keinerlei Genugtuung verspürte, konnte zweierlei bedeuten: Entweder hätte es sie genauso kalt gelassen, wenn Palmer und Cronenberg zu ihren Füßen gelegen hätten – was sie nicht glaubte, nicht glauben konnte –, oder er war von Anfang an derjenige gewesen, der sie mit Scobee zusammen am gleichgültigsten ließ, am wenigsten interessierte... Sie spürte die Irritation, mit der sowohl Cloud, als auch Sadako sie anstarrten. Ihr wurde bewusst, dass sie sich tatsächlich gerade wie ein nasser Hund vor ihnen geschüttelt hatte.
Sie errötete und wandte sich an den Chef der Rebellengruppe. »Ich hatte gehofft, es Ihnen vermittelt zu haben, wie gefährlich Cronenberg und Palmer sind. Sie einfach ihrem Schicksal zu überlassen... und die Bewohner dieser Enklave ihnen auszusetzen... Das... das können wir nicht wollen! Keiner von uns!« »Nicht alles im Leben«, erwiderte Sadako salomonisch, »ist eine Frage des Wollens. Hier geht es um übergeordnete Interessen.« »Welche?« Cloud kam ihr mit seiner Frage zuvor. Das Gesicht des Asiaten schien sich noch mehr zu verschließen. »Ihr werdet es erfahren. Unterwegs.« »Unterwegs?« Der Nachkomme des neochinesischen Kaisers aus Sarahs und Clouds Zeit nickte gemessen. »Die Stunde, auf die Generationen hingearbeitet und gewartet haben, ist endlich gekommen. Wir verlassen das Getto.« Die Ex-Präsidentin mochte noch nicht vieles begriffen haben, eines aber durchaus: Das Getto war kein Ort, den man mal eben so mir nichts, dir nichts verließ. Wer im 23. Jahrhundert hierher abgeschoben wurde, für den war die Welt draußen ein unerreichbarer Ort geworden – und die Zone sein künftiges Grab. Ihr fragender Blick hin zu Cloud bewies ihr, dass dieser ebenso überrascht war wie sie. »Geht es auch etwas genauer?«, fragte er. Sadako faltete die Hände ineinander und betrachtete sie wie eine Kristallkugel, in der er die Zukunft zu sehen vermochte. »Wir tun, wofür wir immer gedacht waren«, sagte er. »Nie war der Moment günstiger für einen Angriff.« »Einen Angriff?«, echote Sarah. »Auf diesem Grund und Boden hier ragte einst ein gewaltiges, außerirdisches Monument in den Himmel empor...
Ihr wisst, wovon ich spreche.« »Ein Turm«, bestätigte Cloud. »Eines von 75 ehemaligen Raumschiffen, mit denen die Invasoren seinerzeit auf der Erde landeten und die Macht übernahmen.« »Korrekt.« Sadakos Augen schienen plötzlich hinter tiefen Schatten verborgen zu liegen, wie ein Schimmern am Grunde eines Brunnens. »Vielleicht sterben wir bei dem, was wir tun werden – vielleicht legen wir den Grundstock für ein weiteres entsetzliches Getto... aber vielleicht... nein, nicht vielleicht! Ich bin überzeugt davon, dass es uns gelingen wird, dies zu vermeiden und den Grundstock für etwas völlig anderes zu legen.« »Und das wäre?«, fragte Sarah rau. »Menschen, die nicht unter dem Joch der Master leben. Nicht ihrer Willkür ausgesetzt sind und Geschöpfen dienen, die niemand kennt.« »Mit anderen Worten...«, begann Cloud. »Mit anderen Worten«, entriss ihm Sadako das Wort, »wir greifen die Master an – und zwar dort, wo sie sich am sichersten fühlen.« Cloud nickte Sarah zu. »Dieser Wahnsinnige will einen ihrer Türme angreifen!« Er grinste schief, und Sarah traute ihren Ohren nicht. »Nennen Sie mich ebenso verrückt wie ihn, aber... aber ich glaube, ich könnte mich mit dem Gedanken anfreunden. Zumindest dann, wenn sein Plan überzeugend ist. Also, Shen – es liegt ganz an Ihnen. Überzeugen Sie mich!« Sarah wohnte dieser absurden Unterhaltung bei, steckte mitten drin – und fühlte sich dennoch wie isoliert, herausgeschnitten, nicht daran beteiligt. Cloud hat Recht, dachte sie. Ich halte ihn und Sadako für verrückt. Für völlig wahnsinnig. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie aufgehört hatte, in einem Rahmen denken und handeln zu wollen, wie diese
beiden Männer es offenbar für jetzt und die Zukunft planten. Und sie begriff noch mehr: dass sie sich nie wirklich wohl in der Rolle gefühlt hatte, die von ihr vor der Invasion ausgefüllt worden war. Die Menschen in dieser sonderbaren Stadt standen ihr näher als die Menschheit, die ein Sadako oder Cloud als Ganzes befreien wollten. Es waren immer die Menschen im Einzelnen, die Individuen und ihre Schicksale gewesen, an denen Sarah mit Leib und Seele gehangen hatte. Damit musste ich eine verdammt schlechte Präsidentin werden. Ihr Schmunzeln war von keinem der beiden mit Anwesenden deutbar. Und sie hatte nicht vor, es ihnen zu erklären. Sie war noch entschiedener als Minuten zuvor – noch entschlossener, die Gettobewohner vor den beiden Männern zu schützen, denen sie zutraute, sich wie Krebsgeschwülste darin einzunisten und es mit Krankheit zu überziehen. Ja, dachte sie grimmig, das seid ihr: Eine Krankheit. Niemand hielt sie auf, als sie den Raum verließ. Niemand bemerkte, was sie in den kommenden Stunden, als Sadako seine Leute auf die neue Situation einschwor, an Vorbereitungen traf. Fakt war: Als die Rebellen das Hauptquartier begleitet von John Cloud verließen, hielt sich Sarah längst nicht mehr darin auf, sondern irrte bereits durch das Labyrinth der engen Straßen und Gassen. Wo sie schnell und doch zu spät bemerkte, dass sie einem Irrtum aufgesessen war: Nicht Cloud, Sadako und seine Rebellen waren die Verrückten, weil sie glaubten, die Zone verlassen und einen Master-Turm angreifen zu können – die Verrückte, die völlig Wahnsinnige war sie. Nur eine völlig Wahnsinnige konnte sich einbilden, als
Fremde in der Zone überleben zu können! Doch als ihr dies dämmerte, war sie dem Verhängnis bereits genau in die Arme gelaufen. Und das Einzige, was sie danach sicher wusste, war dass sie so nie hatte enden wollen... *** Sie wusste nicht mehr, wie lange sie bereits durch die fremden Häuserschluchten irrte. Durch Kälte und Düsternis. Umgeben von Stimmen – ferne Gespräche, Flüstern, Schreien, manchmal auch Weinen und Lachen – zumeist irres Lachen, hämisch oder bösartig. Selten, eigentlich nie freundlich. Und allmählich dämmerte ihr, dass sie sich geirrt haben mochte. Dass diese Stadt, in die die Master all jene verbannten, die sich nicht integrierten, die eine latente Gefahr für das System darstellten, dass diese Stadt vielleicht gar nicht verdiente, vor einem Reuben Cronenberg oder Sid Palmer geschützt zu werden. Sie fragte sich, ob in der Stase etwas schief gegangen war. Mit ihrem gesunden Menschenverstand. Mit ihrer Fähigkeit, Situationen schnell und realistisch einzuschätzen. Mit... »Na, Täubchen«, wurde Sarah aus ihren Gedanken gerissen. »Hast du dich verlaufen? Soll dir der liebe Onkel wieder auf den rechten Weg helfen? Soll dir der gute Will ein wenig unter die Arme greifen...?« Die Stimme, dem Zischeln einer Schlange nicht unähnlich, kam von irgendwoher aus den umgebenden Schatten. Sarah Cuthbert erstarrte zur sprichwörtlichen Salzsäule. Kühler Wind umfächelte sie. Die Waffe in ihrer Hand – ein seltsames Ding, das klobig und nicht wirklich Vertrauen erweckend in ihrer Faust ruhte und mit dem man fast lautlos
nagelartige Pfeile abzufeuern vermochte – strömte plötzlich eine fast eisige Kälte aus. Als wollte sie sich auf diese Weise in Erinnerung rufen. Als wollte sie Sarah zuraunen: Sei unbesorgt. Du kannst dich wehren. Du bist nicht hilflos. Zeig diesem notgeilen Typen, mit wem er es zu tun hat! Als sie nicht unmittelbar antwortete, klang heiseres Lachen auf. »Verstehe. Bist schüchtern. Ein scheues Rehlein... Du weißt, was ein Rehlein ist?« Kurzes Schweigen. »Auch egal, ob Täubchen oder Reh. Brauchst Hilfe. Brauchst den starken Halt des alten Will! Stehe zur Verfügung. Bin stets zur Stelle, wenn eine Lady einen echten Kerl nötig hat. Will will sich nicht lumpen lassen...« Er krächzte und verschluckte sich fast an seinem eigenen Gelächter. »Will will...«, wiederholte er halb erstickt, und Sarah konnte nicht anders, als ihn sich prustend irgendwo im Dunkel eines Verstecks vorzustellen, aus dem er sie beobachtete und ihr obszöne Zweideutigkeiten entgegenfauchte. Wahrscheinlich übertraf die Wirklichkeit ihre Vorstellung von der abgerissenen, schmutzigen Gestalt noch um ein Beträchtliches. Sie hatte keine Lust, es herauszufinden. »Verpiss dich!«, schnappte sie, die Hand mit der Waffe dicht am Körper. Sie wollte nicht, dass die Situation eskalierte. Andererseits fragte sie sich, ob der Typ wirklich nicht sah, dass sie bewaffnet war – oder ob er sich dessen zwar bewusst war, es ihn aber nicht weiter störte. Was zweierlei bedeuten konnte: Entweder war er lebensmüde – oder wesentlich besser ausgerüstet als sie. Beide Möglichkeiten trugen nicht zu ihrer Beruhigung bei. Sie überlegte, ob sie überhaupt schon einmal einen Menschen verletzt, geschweige denn getötet hatte. Und verneinte beides. Dort, wo sie einmal gelebt und eine Nation regiert hatte, war
man so stolz darauf gewesen, sich »zivilisiert« nennen zu dürfen. »Willst allein sein. Verstehe. Willst Will nicht haben. Willst es allein schaffen. Dir selbst ein Nest hier in diesem schönen Städtchen herrichten, einen guten Mann finden, Kinder kriegen... Kinder kriegen! Mädchen, Mädchen, du und ich, wir beide wissen, dass du keine Kinder kriegen wirst. Und was den Mann angeht: Warte nicht auf deinen Traumprinz. Nimm einen, der es ehrlich mit dir meint. Du und ich, wir beide können uns ein kleines, florierendes Unternehmen aufbauen. Ich als dein Beschützer... Da lassen diese Aasgeier ihre dreckigen Griffel von dir... Na ja, soweit jedenfalls, wie’s gut fürs nächste Geschäft ist. Ich kenn mich aus, darauf kannste Gift nehmen. Komm schon her, komm zum guten Will, der lange keine so Hübsche mehr sah wie dich. Die Kniffe, die du brauchst, bring ich dir bei, und dann...« Sie wusste, dass sie ihn nicht mehr loswerden würde. Nicht mit der Taktik, die sie bislang verfolgt hatte, jedenfalls. Er klebte an ihr wie Schmeißfliegen an einem Haufen Kot. Sie gab sich einen Ruck. Wenn sie in sich hineinhorchte, fand sie weniger so etwas Banales wie Angst als eine nagende Unzufriedenheit mit sich selbst. Tu was! Lass dich nicht rumschubsen, ergreif die Initiative. Du bist nicht freiwillig hier. Und mit »hier« meinte sie nicht nur das Getto, sondern die Zeit. Es gibt keinen Weg zurück. Du wolltest dich nicht Sadako anschließen, nicht diesem Cloud. Du hast dich für ein Bleiben an diesem Ort entschieden, über den du kaum etwas weißt, aber alles erfahren willst. Also tu, was du immer getan hast, wenn du etwas wirklich wolltest: Zeig allen, wie hart du sein kannst! Und fang bei diesem feigen Arschloch hier an... Er sollte es bereuen, vermeintlich Schwächere in Angst und Schrecken versetzen zu wollen.
»Schon... schon gut«, stammelte sie und mimte das Opfer in Perfektion. »Ich brauche Hilfe. Ich glaub, ich hab mich... verlaufen...« »Verlaufen, Täubchen?« Wieder dieses krächzende, hämische Lachen. »Du meinst sicher verflogen. Aber sei unbesorgt. Will will dir helfen, und das wird er auch. Hättest keinen Besseren hier treffen können. Bist neu in unserem Städtchen, stimmts? Haben dich gerade erst 1. Klasse hier einreisen lassen, wie? Was war dein Fehler? Hast du zu viele Fragen gestellt, die niemand stellen sollte? Oder hast du ihr Soll an Intelligenz nicht erfüllt... Neeiiin, das kann ich mir nicht vorstellen. Wahrscheinlich haben sie nur einen ziemlich ärgerlichen Fehler gemacht, wie damals bei mir. Darüber sollten wir reden – später. Zuerst sollten wir uns einmal einander bekannt machen, uns anfreunden. Sympathie ist alles, hier in der Hölle. Freunde, du verstehst.« Noch während er seinen Sermon absonderte, trat er ins Licht. Sarah hatte mit einem abstoßenden Kinderschreck, einer heruntergewirtschafteten, verkrachten Existenz gerechnet – und fühlte sich seltsam berührt, als ein nach allen gängigen Schönheitsmaßstäben außerordentlich schöner, ja sogar gepflegter Mann mittleren Alters – geschätzte vierzig – auf sie zutrat. »Da staunste, was? Hättste nicht erwartet. Wie ist dein Name, Täubchen?« Hätte er normal gesprochen und sich annähernd normal benommen, wäre sie vielleicht sogar tatsächlich froh gewesen, einem wie ihm hier zu begegnen. So aber blieb sie in ständiger Alarmbereitschaft. Will änderte seinen Schlenderschritt jäh, als er noch etwa zwei Meter von Sarah entfernt war. In dieser Sekunde gerann das jungenhafte Grinsen auf seinem Gesicht zu einer Grimasse,
und derjenige, der schon im Dunkeln zu ihr gesprochen hatte, stülpte sich aus der schönen Fassade hervor wie eine zweite Person. Mit einem leisen Aufschrei warf er sich auf Sarah. Obwohl sie damit gerechnet hatte, schaffte sie es nicht mehr, die Hand mit der Waffe zu heben. Nicht, bevor er über ihr war und sie mit der ganzen Wucht des Zusammenpralls zu Boden riss. Sie krachte auf den Asphalt, schlug mit dem Hinterkopf auf, verlor eine Sekunde lang sogar die Besinnung und spürte ihn dann auf sich kauern wie eine Kröte. Will bewies ihr, dass auch schöne Menschen hässlich sein konnten. Sie glaubte, ihren Arm brechen zu spüren, als er ihr brutal die Waffe entwand und sie hinter sich in die Schatten warf, aus denen er gekommen war. Mit der nächsten Bewegung zerrte er ihr die Bluse auseinander und grabschte gierig nach ihren Brüsten. Sarah ließ ihn gewähren – etwa zehn Schläge ihres trommelnden Herzens lang. Dann setzte sie einen der Griffe an, die früher zu ihrem täglichen Training gehört hatten, als sie noch eine mächtige Frau in einem mächtigen Räderwerk gewesen war. Fitnessübungen hatten sich mit Selbstverteidigungstechniken gepaart, jeden Morgen vor der ersten Konferenz im Weißen Haus – sie musste die Gedanken an das unwiederbringlich Verlorene gewaltsam abschütteln – ehe sie ihn abschüttelte. Obwohl er auf ihrem Unterleib saß, gelang es ihr, die Füße auf den Boden aufzusetzen, Schwung zu holen, die Beine wie eine Schere auseinander klaffen zu lassen, sie nach oben zu werfen – und seinen Kopf in die Zange zu nehmen. Er ächzte verblüfft. Und dann kauerte sie auch schon auf ihm, setzte ihm den angewinkelten Arm gegen die Kehle und drückte zu.
Seine Augen traten aus den Höhlen, er winselte, versuchte zu sprechen, scheiterte jedoch. Sie wartete, bis er unter ihr erschlaffte. Er war nicht tot, nur besinnungslos. Einen Moment lang überlegte sie tatsächlich, ob ihr dies genügte. Doch schließlich lockerte sie den Druck und stand auf. Er blieb liegen, reglos, die Augen geschlossen, das Gesicht verzerrt. Ihr war klar, dass er sie nicht so leicht hätte davonkommen lassen. Notdürftig richtete sie ihre Kleidung und suchte dann nach der Waffe, die er ihr abgenommen hatte. Doch dort in der Düsternis eines vorgezogenen Daches stapelte sich so viel Unrat, dass sie schon nach kurzer Zeit aufgab. Der Gedanke, dass ihr Angreifer jeden Moment wieder zu sich kommen und die Attacke fortsetzen könnte, veranlasste sie, sich lieber aus dem Staub zu machen. Selbst jetzt wollte sie noch nicht glauben, dass in der ganzen Stadt nur das Gesetz des Stärkeren zählte. Irgendwo musste es auch Menschen geben, die nicht ihren Lebenssinn darin sahen, andere zu berauben, zu missbrauchen oder gar zu töten. Was macht dich so sicher? Sie hörte nicht auf ihre innere Stimme. Sie hatte es getan, als sie dem Stützpunkt der Omikron-Rebellen den Rücken kehrte – eine Entscheidung, die sie längst bereute. Was hindert dich daran, kehrt zu machen? Während sie durch die schmale Gasse hastete, freundete sie sich mit der Idee mehr und mehr an. Ganz egal, wie Sadako auf ihre Rückkehr reagieren würde – schlimmer als das Getto weiterhin ganz auf sich allein gestellt zu durchstreifen, konnte es auch nicht sein. Blieb nur ein Problem.
Sarah wusste längst nicht mehr, wo sie sich befand – und dementsprechend hatte sie auch keinen blassen Schimmer, wie sie zu den Omikrons zurückkehren sollte... *** Wie spät mag es sein? Sie blieb stehen. Der Blick zum Himmel erfolgte automatisch – bis ihr klar wurde, wie sinnlos der Versuch war, die Uhrzeit anhand des Sonnenstandes schätzen zu wollen. Es gab keine Sonne. Nicht mehr und nicht hier »unten«. Warum sie beim Verlassen des OmikronUnterschlupfes keinen Chronometer mitgenommen hatte, wusste sie selbst nicht. Waffen waren ihr wichtiger gewesen. Waffen – tatsächlich. Erst jetzt erinnerte sie sich daran, mehr als das eingesteckt zu haben, was sie in der Auseinandersetzung mit Will verloren hatte. Im Rückenbereich ihres Gürtels steckte noch eine Allzweckklinge, die auch, aber nicht nur, zum Kämpfen verwendet werden konnte. Ganz hilflos war sie also nicht... Als wollte die Wirklichkeit diese Überzeugung augenblicklich auf die Probe stellen, hörte sie hinter sich das Klackern von Schuhen. Jemand rannte. Jemand fluchte. Jemand wünschte ihr die Pest an den Hals! Will! Sie hatte gewusst, dass es sich nicht auszahlen würde, ihn zu schonen. Aber sie war keine Killerin. Nicht einmal, wenn es um dein eigenes bisschen Leben geht? Noch während sie mit sich selbst haderte, sah sie sich um. Noch immer hatte sie keine Umgebung erreicht, die ihr von den wenigen Ausflügen her, die sie gemeinsam mit den Omikrons unternommen hatte, auch nur annähernd bekannt vorkam. Sie mied offene Plätze, bewegte sich immer noch
durch die abgelegensten und dementsprechend riskantesten Bereiche des Getto-Gewirrs. Und jetzt hörte sie einen tobsüchtigen Will hinter sich, der keine Lehre aus seiner Niederlage gezogen hatte. Im Gegenteil! Sein Verstand schien nun vollends ausgesetzt zu haben. Anhand seiner Drohungen ließ sich mühelos abschätzen, wie er sich bei Sarah zu revanchieren gedachte, wenn sie ihm ein weiteres Mal in die Finger geriet... »Scheiße!«, murmelte Sarah. »Idiot!« Wahrscheinlich meinte sie gar nicht ihn, sondern sich selbst. Dort, wo sie gerade war, wirkte das Getto so ausgestorben, wie es ihr vor einer Stunde noch am liebsten gewesen war. Vor Will. Nach Will sah alles anders aus. Sie entschied sich, nicht denselben Fehler wie er zu begehen. Nicht lautstark, weithin hörbar, sondern leise wollte sie sich aus dem Staub machen. Irgendwo warten, bis er vorbei und sonst wohin entschwunden war. Er mochte hartnäckig sein, aber er stolperte auch nur aufs Geratewohl durch die Gegend – wie sie selbst. Zumindest hoffte sie das. Ein Tobsüchtiger mit dem Näschen eines Spürhundes, der, einmal die Witterung aufgenommen, diese nicht mehr verlor, hätte ihr nicht gefallen. Überhaupt nicht. Links! Links befand sich eine unauffällige Tür, während sich rechts die Mauer einer langen Hausfassade fortsetzte – und geradeaus die Straße, die tiefer und tiefer ins Getto führte... oder aus ihm hinaus, so genau wusste Sarah es nicht. Die Tür. Sie zögerte noch ein, zwei Sekunden, während sie Wills Flüchen lauschte, dem Klappern seiner Schuhe. Gleich würde er um die Ecke biegen, etwa dreißig Meter
entfernt. Dann war es zu spät, um sich zu verkriechen. Dann hätte er gesehen, wo sie Zuflucht suchte. Sie ist bestimmt verschlossen. Aber sie täuschte sich. Die Eisentür war offen. Und gut geölt. Sie quietschte nicht einmal, als Sarah sie aufzog, hindurchschlüpfte und von der anderen Seite aus sofort wieder zuschnappen ließ. Erstaunt begriff sie, dass sie sich in keinem Gebäude, sondern einer Art Hinterhof aufhielt, der durch die Mauer von der Straße abgetrennt war. Überall ragten Pfähle aus der Erde, an denen Schilder mit unbekannten Symbolen befestigt waren. Hinweis- oder Warnschilder? Draußen näherte sich Will. Seine Stimme war über die Mauer hinweg zu hören, klar und von Schrei zu Schrei immer schriller werdend. Die Schilder waren nicht das Einzige, was sich in dem Hof befand. Da war etwas, das aussah wie ein Steinblock, ein Monolith... vielleicht auch ein Kunstwerk. Oder ein – Grabstein? Je länger sie es betrachtete, desto klarer wurde ihr, dass sie so etwas noch niemals zuvor gesehen hatte. Draußen war Will jetzt ungefähr auf Höhe der Tür. Instinktiv wich Sarah von der Mauer zurück. Der Schilderwald umstand das Objekt, das ihr mehr als merkwürdig erschien. Nicht seine Form, sondern das Material, aus dem es bestand. Es war kein Stein. Auch kein Metall oder Kunststoff... Aber was dann? Wills Schritte und Flüche entfernten sich. Er stolperte weiter die Gasse hinunter, schien die Tür gar nicht bemerkt zu haben. Sarah fand sich so nah bei dem Ding wieder, dass sie nur die Hände hätte ausstrecken müssen, um es zu berühren. Aber das tat sie nicht.
Sie war nicht wahnsinnig. Obwohl es unwahrscheinlich war, glaubte sie eine Art Kälte zu spüren, die von dem Ding ausging. Kälte, die sie bis ins Innerste berührte. Es war schwarz. Es stand da wie ein massiver Klotz. Doch wenn sie genau hinsah, ganz genau, glaubte sie eine Unschärfe an ihm festzustellen. Als wäre es gar nicht so fest, wie es schien, sondern ändere unmerklich, von Sekunde zu Sekunde seine Gestalt... immer nur um eine winzige Nuance. Sarah erinnerte sich an ihr Messer und überlegte, ob sie versuchen sollte, damit an dem Objekt herumzustochern. Sie würde dabei immer Abstand wahren und es nicht mit den bloßen Fingern berühren – wovor ihr unbewusst graute... Sie schauderte. Und im Moment des Schauderns fiel ihr auf, dass sie Will nicht länger hörte. Dass seine Stimme schneller, abrupter verklungen war, als es hätte geschehen dürfen, wenn er... Wenn er einfach seinen Weg fortgesetzt hätte. Dann ging alles entsetzlich schnell. Die Tür platzte mit einem Lärm und einer Wucht förmlich nach innen, die Sarah zusammenschrecken und zurücktaumeln ließ. Sie sah noch den Mann im offenen Rechteck auftauchen, der nichts Schönes außer der trügerischen Fassade hatte, die er in manchen Momenten, wenn er sich zusammenriss, aufrechterhalten konnte. Aber jetzt stand er nur zügellos, hemmungslos und obszön in seiner Wut und Rachsucht da. Sie blickte in seine weit aufgerissenen Augen, während sie um ihr Gleichgewicht kämpfte und tastend Halt suchte. Doch hinter ihr lauerte etwas viel Schrecklicheres...
*** Sarah Cuthbert, Präsidentin der USA, schritt mit Dr. Xander Hays durch einen unterirdischen Gang. Der Wissenschaftler mit dem aufgedunsenen, wie von winzigen Kratern gezeichneten Gesicht erläuterte ihr die Ergebnisse des GenTec-Projektes. Sarah hörte ihm aufmerksam zu. Obwohl sie ihm zum ersten Mal begegnet war, kam er ihr irgendwie vertraut vor, als würde sie ihn gut kennen. Wie auch diese geheime unterirdische Forschungsstation in Nevada. Es muss daran liegen, dass ich die Akten kenne, dachte sie. Dass ich sie vor diesem Treffen gründlich studiert habe, um mich über Hays und sein Projekt zu informieren. Plötzlich fiel das Licht aus, und sie war mit Hays eingeschlossen. Hunderte Meter tief unter Millionen Tonnen von Felsen, deren Gewicht sie körperlich zu fühlen glaubte. »Was ist...?«, fragte sie verwirrt. Die Schwärze, die sie umgab, war mehr als nur die Abwesenheit von Licht. Sie hatte Substanz, durchdrang ihren Körper und Geist, fesselte sie und ließ ein namenloses Grauen in ihr aufsteigen... Schnitt. Sie konferierte mit George Almaeida, ihrem VizePräsidenten, über ein Supraphon. Die Schwarze Flut war über die Welt hinweggerollt, das Chaos herrschte, Millionen Menschen waren umgekommen und ein Großteil der Technik hatte versagt. »Ich habe den Notstand ausgerufen«, berichtete Almaeida. »Das Militär arbeitet Hand in Hand mit der Polizei. Unsere Armee befindet sich weltweit unter Defcon 1.« »Die Lage im neochinesischen Reich, in der Zentralasiatischen Allianz, im Europäischen Konsortium?«, erkundigte sich Sarah. Sie fühlte sich so hilflos wie noch nie in
ihrem Leben. Kein Präsident vor ihr hatte es mit einer derartigen Katastrophe zu tun bekommen, deren Ursache rätselhaft blieb. »Es ist überall dasselbe«, antwortete Almaeida. Schnitt. Überall brannte es. Das Chaos in Washington D.C. war unbeschreiblich. Von der RUBIKON, dem Raumschiff auf dem Flug zum Mars, erreichten die Erde unglaubliche Bilder. Jupiter begann zu schrumpfen... Ich kenne das..., dachte Sarah verwirrt. Ich habe das alles schon einmal erlebt. Was geschieht hier mit mir? Einen Moment lang veränderte sich das Bild. Sie sah schlanke Baumstämme vor sich in den Nachthimmel ragen, spürte raue Borke in ihrem Rücken, roch Humus und den süßlichen Duft reifer Aprikosen. Dann legte sich ein Schleier aus bläulich leuchtenden Schlieren vor ihre Augen und... Aus dem Schwarzen Loch, zu dem Jupiter geworden war, schossen Dutzende unbekannter Raumschiffe hervor, die über der Erde in den Orbit gingen. Und Sarah Cuthbert war hilflos – wie ihr Militär, wie die Streitkräfte des neochinesischen Reiches. Die außerirdischen Raumschiffe landeten überall auf der Erde in Großstädten, ohne dass die Menschen sie daran hindern konnten. Schnitt. Die Erde war unterjocht, und Sarah wurde ihres Amtes enthoben. Sie wusste jetzt, dass ihr Gehirn nur Erinnerungen abspulte. Aber diese Erinnerungen waren so lebendig, als fänden die Ereignisse erneut statt. Als wäre die ehemalige Präsidenten in die Zeit zurückgeworfen worden, gezwungen, ihre Hilflosigkeit und ihr Entsetzen, ihre Demütigung und den Verrat ihrer Mitarbeiter von neuem zu erleben. Nicht mehr lange und ich werde von Cronenberg und Palmer gezwungen, in den Stasebehälter zu steigen und erst
nach mehr als zwei Jahrhunderten wieder erwachen. In einer Welt, in der die Menschen Sklaven der außerirdischen Eroberer sind. In einer chaotischen Stadt, genannt das Getto, einem Ort der Verbannten, auf der Flucht vor marodierenden Banden und einem hässlichen Mann, der mein Zuhälter werden möchte... Das Erwachen in Shen Sadakos Zentrale, die Begegnung mit John Cloud, Sadakos Eröffnung, die Residenz der Master in Washington angreifen zu wollen, ihre Flucht vor den Verrückten, das Herumirren durch die Häuserschluchten des Gettos... Je näher sie der Gegenwart kam, desto weniger sprunghaft wurden ihre Erinnerungen. Die Begegnung mit Will erlebte sie in Echtzeit wieder, den Mandarinenhain, das bläuliche Leuchten, das Gefühl von feinen Spinnweben auf der Haut, die plötzliche Müdigkeit. Gleich habe ich es hinter mir, dachte sie. Gleich bin ich wieder im Hier und Jetzt. Lieber gegen Verbrecher und Abschaum kämpfen, als gezwungen zu sein, noch einmal all die Katastrophen zu durchleben, hilflos und mit dem Wissen, was als Nächstes geschehen wird. So muss die Hölle sein. Kein Ort aus brennendem Pech und Schwefel, keine Teufel und Dämonen, die die armen Sünder foltern... Stattdessen die Hölle der eigenen Vergangenheit, all der Fehler, Schmerzen und Enttäuschungen, unfähig etwas daran zu ändern, für alle Zeiten... Sie blinzelte und atmete tief durch. Noch immer umtanzten sie die schillernden Schlieren wie Polarlichter. Als sie sich aufrichten wollte, schlug die Müdigkeit wieder wie ein Dampfhammer zu, und... Sie schritt mit Dr. Xander Hays durch einen unterirdischen Gang. Der Wissenschaftler mit dem aufgedunsenen, wie von winzigen Kratern gezeichneten Gesicht, erläuterte ihr die
Ergebnisse des GenTec-Projektes... Nicht noch einmal!, flehte Sarah stumm, während sich die Ereignisse der Vergangenheit mit der unerbittlichen Präzision einer Atomuhr erneut vor ihr abspulten. Lieber Gott, wenn es dich gibt, erlöse mich aus dieser Hölle! *** Etwas riss. Wie ein Faden aus wieder und wieder verknüpften, absolut identisch geklonten Haaren – aber in ihrem Schädel. Barst – und eine Stimme sagte: »Kann sie mich hören?« Pause... Dann, eine andere, hellere, wohl eine Frauenstimme: »Das werden wir gleich sehen. Wenn nicht, lass sie mich abmurksen. Müll haben wir hier schon genug und brauchen nicht noch mehr davon... Lässt du mich?« Als ihr klar wurde, dass sie mit Müll gemeint war, ging ein Ruck durch Sarah Cuthbert, und sie schaffte es, die Augen zu öffnen. Um sie herum waren Schemen, die sich zu scharfen Silhouetten verhärteten. Gestalten, die einen seltsamen Raum füllten, der Ähnlichkeit hatte mit einem... mit einem altertümlichen Thronsaal? Verwirrt versuchte Sarah Cuthbert, sich aufzurichten. »Wo...?« Ungestümes, barbarisches Gelächter schnitt ihr das Wort ab. »Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen. Kein Müll. Sie ist wach. Sieht aus, als hätte der gute Will nicht übertrieben. Scheint neu hier bei uns zu sein. Kann bestimmt viel Neues von draußen erzählen. Kümmer dich um sie. Ich erwarte sie wie üblich hergerichtet in einer Stunde in meinem Gemach. Danach – wenn ich mit ihr fertig bin – gehört sie vielleicht dir. Je nachdem, wie wach und begabt sie wirklich ist...«
Sarah war wie betäubt, außerstande, das Gehörte zu kommentieren. Das Letzte, was sie hörte, bevor der Koloss samt Gefolge den Raum verließ, waren die Worte der Amazone, die ihm nachrief. »Aye, Almighty, verlass dich ganz auf mich. Verlass dich nur genau so auf mich, wie du es gewohnt bist...« Almighty? Allmächtiger? Spätestens in dem Augenblick, da Sarah begriff, wie der große breitschultrige Glatzkopf sich von der eher zierlichen Frau in der Ledermontur nennen ließ, wusste sie, dass sie in Schwierigkeiten steckte, und dass Will nur ein ganz schwacher Vorgeschmack auf das gewesen war, was ihr hier blühte. Nur – wie hatte es dazu überhaupt kommen können? *** »Ich bin Zoe«, stellte sich die Amazone wenig später vor, während sie vor der immer noch liegenden Ex-Präsidentin aufragte. »Sarah. Sarah Cuthbert.« »Nett.« »Mein Name?« Die weißblonde, ganz in schwarzes, hauteng anliegendes Leder gekleidete Frau schüttelte kühl den Kopf und schürzte dann in betont lasziver Weise die schwarz geschminkten Lippen. »Du«, sagte sie. Ich? Sarah spürte einen Kloß im Hals. Sie schluckte, doch das Gefühl der Enge in der Kehle blieb. Die anderen waren gegangen. Allen voran der hünenhafte Kahlköpfige, der die gleiche Kleidung wie Zoe trug – nur ein paar Nummern größer. Und das gleiche Symbol, das auf der linken Brustseite aufgenäht war: zwei gelbe Blitze, die sich
kreuzten. Sarah hob den Arm – was ihr bereits so schwer fiel, dass ihr schwante, wie aussichtslos jeder Gedanke an körperliche Gegenwehr war – und zeigte darauf. »Hat das was Bestimmtes zu bedeuten?« »Macht?«, schlug Zoe vor. Ihr Grinsen ging Sarah bis ins Mark. So musste es sein, wenn ein Wolf die Zähne fletschte und seine Beute dabei aus aschgrauen, blutunterlaufenen Augen anstierte. Zoes Augen waren nicht blutunterlaufen, aber vollkommen farblos. Wässrig, dachte Sarah. Irgendwie hätte nichts mehr die Gefährlichkeit dieser Frau unterstreichen können – ihre Unberechenbarkeit. Sarah war gewarnt und auf der Hut. »Macht...«, sagte sie. »Okay. Ihr seid also ganz große Nummern hier in der Stadt.« »In Ameritown.” »In Ameritown.” »Ich mag dich nicht.« Zoe spuckte etwas giftig Schillerndes vor Sarah auf den Boden, gerade mal eine Armlänge neben ihren Kopf – etwas, das die Frage nahe legte, wie es wohl um ihren Gesundheitszustand bestellt sein mochte. »Du magst nett aussehen. Aber du bist es nicht. Du hast etwas... Hinterlistiges an dir.« Das sagt die Richtige, dachte Sarah. »Ach?« »Wann bist du angekommen?« »Vor ein paar Tagen... Aber ich hätte auch ein paar Fragen.« In Zoes Augen blitzte es auf. Überraschend sagte sie: »Frag!« Sarah deutete mit dem Daumen hinter sich, wo das Ding stand, das sie zuletzt in dem Hof gesehen hatte. Den vermeintlichen Stein. Die... »Die Anomalie?«, vergewisserte sich die Amazone.
»Anomalie?« »Du hast keine Ahnung, was dir zugestoßen ist?« »Doch«, sagte Cuthbert. »Er nannte sich Will...« »Den meine ich nicht. Vergiss Will! Er hat dich abgeliefert, weil er dachte, Al fände Gefallen an einem Spielzeug wie dir. Dieser Schwachkopf.« »Al?« Sarah biss sich sofort auf die Lippe. Ein Blick von Zoe genügte, um zu verraten, dass sie in vielen Dingen Spaß verstand – oder das, was sie für Spaß hielt –, aber nicht, wenn es auf Almightys Kosten ging. Plötzlich kniete sie neben Sarah, presste ihre Wange gegen Sarahs Gesicht und fauchte ihr ins Ohr: »Tu das nie wieder!« Einen Lidschlag später richtete sie sich blitzschnell wieder auf und stand da, als hätte es diesen Kontakt nie gegeben. »Wo ist Will jetzt?«, fragte Sarah. »Fair verteilt.« »Fair verteilt?« »Al hat eine Vorliebe für Hunde – sehr spezielle Hunde. Ich habe sie noch nie wirklich satt erlebt – und die Schulden, die Will bei Al offen stehen hatte, konnte eine wie du nicht annähernd ausgleichen. Du verstehst?« Was Zoe da andeutete, genügte, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass Sarah gar nicht mehr darüber wissen wollte. »Ich frage noch mal«, begann die Ex-Präsidentin. »Wie komme ich hierher – respektive: Was ist mit mir passiert? Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist...« Sie schilderte, was passiert war. Von ihrer ersten Begegnung mit Will bis hin zu ihrer Kollision mit dem Gebilde, das Zoe »Anomalie« nannte. »Deine naiven Fragen beweisen nur, wie neu du hier bist. Ein absolutes Greenhorn. Wann haben sie dich aus dem Paradies verbannt? Gestern? Heute? Bist du gerade erst angekommen und gleich ins kalte Wasser geschmissen worden?«
Sarah hatte längst begriffen, worauf Zoe anspielte – und was diese glaubte, woher sie kam. Und nun erfuhr sie, in welchem Zusammenhang all dies mit ihrer ganz persönlichen Gettoerfahrung stand. Die Erde der Zukunft hatte nur noch eine Bevölkerung von rund 150 Millionen Menschen, wie ihr schon Shen Sadako vermittelt hatte. 150 Millionen, verteilt über mehrere Dutzend Metrops – die Metropolen dieser Zeit. Das Getto hatte einst auch eine solche Metrop werden sollen. Doch dann war Kaiser Hu Sadako, Shens Vorfahre, auf die Idee verfallen, die auch schon Cronenberg unmittelbar nach Beginn der Invasion, 2041, verfolgt hatte: Er hatte einen ganz speziellen Soldaten in das Äskulap-Schiff geschickt, das im Zentrum von Peking niedergegangen war. Und diesem hochspezialisierten Klonsoldat war es gelungen, eine der außerirdischen Basen auf der Erde zu zerstören – mit unvorhersehbaren, wahrhaft katastrophalen Folgen. Bei der Vernichtung des Sternenschiffes war die riesige Stadt nicht nur dem Erdboden gleich gemacht worden. Es waren auch Energien entwichen, die das Territorium nachhaltig verseuchten – an manchen Plätzen bis zum heutigen Tag. Verseucht mit dem, was Zoe »Anomalien« nannte. Diese beeinflussten ihre Umgebung auf die unterschiedlichste Weise. Doch sie alle hatten etwas mit Zeit zu tun. Wie der scheinbare »Klotz«, dem Sarah zu nahe gekommen war. »Ich habe daran geklebt...«, murmelte sie, als käme das ganze Ausmaß des Grauens, das sie währenddessen empfunden hatte, in diesem Moment wie ein Bumerang auf sie zurück. »Wie war es?« Sarah schüttelte nur den Kopf. Nicht nur ihr Körper war an das Ding gefesselt gewesen, auch ihr Geist: gefangen in einer Endlosschleife sich wiederholender letzter Gedanken.
»Aber wie...?«, setzte sie an. »Du fragst dich, wie du und«, Zoe nickte zu dem Gebilde hin, »und es hierher gelangten?« »Ja!« »Wir haben unsere Mittel. Wir sind geübt im Umgang mit den ärgsten Gefahren, die uns umgeben – und Al hat die Marotte, solche Objekte regelrecht zu sammeln. Will wusste das. So kamen sie scheinbar ins Geschäft. Bis Al hatte, was er wollte. Und Will begriff, dass dies nicht annähernd dasselbe war, was er sich von diesem Deal erhofft hatte.« »Die Hunde hat’s gefreut.« Zoe starrte Sarah verblüfft an. Verblüfft und sekundenlang sogar sprachlos. Offenbar war selbst sie zu beeindrucken – in diesem Fall von Humor der rabenschwarzen Sorte. »Kommen wir zum Wesentlichen«, sagte die Amazone schließlich. »Al erwartet ein Dossier über dich – danach entscheidet er, ob du mehr sein darfst, als eine weitere Trophäe in seinem Schrank.« Sarah hatte das dumpfe Gefühl, dass sie diesen »Schrank« nicht von innen betrachten wollte. Gleichzeitig war ihr klar, dass sie nur eine gute, eine sehr gute Lügengeschichte davor bewahren würde, darin zu enden. »Frag«, sagte sie. »Was will Al wissen?« Zoe grinste sardonisch. »Alles, Täubchen. Absolut alles. Und um das zu erfahren, lockern wir dir jetzt erst einmal die Zunge.« Das Instrument, das wie hingezaubert in ihrer Linken schimmerte, sah nicht nur obszön aus. Es war es auch. Denn es entblößte Sarah bis in den innersten Kern ihrer Seele – und sie konnte nichts, absolut nichts dagegen tun. Und wieder war die Verblüffung ganz auf Zoes Seite, während sie alles aufzeichnete, was aus Sarah Cuthberts Mund
hervorsprudelte. Jedes einzelne, unglaublich klingende, aber zweifellos wahre Wort... 2. »Achtung, rechts von dir!«, zischte Ibrahim leise. »Hinter dem zweiten Fenster!« Abdul bewegte nur die Augen, als er den Blick über die marode Häuserwand zu der gähnenden Fensteröffnung wandern ließ. Hinter dem halb geschmolzenen Kunststoffrahmen, in dem ein paar scharfkantige Glassplitter steckten, bewegte sich etwas in der Dunkelheit. Ein dunkelgrauer Schemen in der tintigen Schwärze, der fast völlig mit ihr verschmolz, als er reglos verharrte. »Ich sehe ihn«, flüsterte Abdul. »Müsste einer von der Latino-Gang sein.« Er fixierte einen imaginären Punkt, der eine Hand breit neben dem Schemen lag, und zog einen Bolzen mit einem Sprengsatz in der Spitze aus der gepolsterten Brusttasche. Er schraubte die gerundete Schutzkappe über der Spitze ab und legte den kurzen Bolzen in die Führungsschiene der Armbrust. Die Sehne war bereits gespannt. Der Fedayyin drückte das Geschoss hinunter, bis ein kaum wahrnehmbares Klicken erklang und es eingerastet war. Sobald Abdul den Sicherungshebel auf der rechten Seite der Armbrust umlegte, würde ein leichter Druck auf den Abzug genügen, um den tödlichen Bolzen auf die Reise zu schicken. »Warte noch«, hauchte Ibrahim. »Der Bursche würde sich nie allein hier hereinwagen. Sie werden mindestens zu zweit kommen.« Im Gegensatz zu seinem Freund war er mit einer zwar primitiven, aber dafür umso zuverlässigeren Luftdruck-
Kombipistole bewaffnet. Ein klobiges Ding mit zwei Läufen. Der obere dünne Lauf verschoss winzige Nadeln, der dickere untere Hartgummibolzen. Abdul antwortete nicht. Sie waren ein eingespieltes Team, das sich auch ohne Worte verstand, und dies war nicht ihr erster gemeinsamer Kampf. Der Wievielte ist es eigentlich?, überlegte Abdul. Wie viele Männer haben wir schon getötet? Er verdrängte den Gedanken, wie auch die nächste Frage, die in ihm aufstieg: Wie sind wir überhaupt hierher gekommen? Der Schemen hinter dem zerstörten Fenster bewegte sich jetzt wieder, näherte sich dem geschwärzten Kunststoffrahmen. Die beiden Fedayyin lagen inmitten verrußten Gerölls auf dem schmutzigen Boden eines ausgebrannten Gebäudes, dessen Dach eingestürzt war. Über ihnen erstreckte sich der sternenlose Himmel wie ein schwarzes, schweres Wolltuch, das jeden Moment herabfallen und sie ersticken konnte. Von irgendwoher drang schwach flackerndes Licht durch die gähnenden Öffnungen in den Mauern, wo früher Fenster und Türen gewesen waren. Aus der Ferne wehte Gelächter herüber. Abdul stemmte sich ganz langsam auf den Ellbogen höher und brachte die Armbrust in Anschlag. Sein Daumen lag auf dem Sicherungshebel. »Na bitte, da kommt auch schon der zweite Chilifresser«, hauchte Ibrahim neben ihm. »Er ist direkt in der Tür. Sobald wir geschossen haben, verschwinden wir durch den Hintereingang. Auf drei. Eins...« Die schemenhafte Gestalt im Fenster hielt irgendeinen Gegenstand in Brusthöhe, der matt schimmerte. »Zwei...« Abdul legte den Sicherungshebel um. Der Abzug der Armbrust war sehr empfindlich. Nur ein leichter Druck... »Drei!« Das Fauchen von Ibrahims Druckluft-Kombipistole
übertönte das Sirren der gespannten Sehne von Abduls Armbrust. Er sprang bereits auf, als die Waffe in seinen Händen immer noch vibrierte. Die Gestalt vor ihm verschwand aus dem Fenster, ohne einen Laut von sich zu geben. Trotzdem war sich Abdul sicher, getroffen zu haben. Das gedämpfte schmatzende Geräusch, mit dem die zwei Gramm Sprengstoff in der Spitze des Pfeiles lebendiges Gewebe zerriss, war unverkennbar. Erregend. Er wirbelte herum und hechte über einen verbogenen Dachträger hinweg. Hinter ihm klang ein gurgelndes Stöhnen auf. Offenbar hatte Ibrahim getroffen, ohne seinen Gegner sofort zu töten. Schulter an Schulter rannten die beiden Männer auf die Tür in der Rückseite der Ruine zu. »Achtung!«, brüllte Ibrahim plötzlich. Noch bevor er den verschwommenen Umriss sah, hatte sich Abdul auch schon zur Seite geworfen. Irgendetwas bohrte sich ihm schmerzhaft in die rechte Schulter, als er sich auf dem Boden abrollte. Die Armbrust entglitt seiner Hand. Er stieß einen gepressten Schrei aus. Vor ihm flammte mattrotes Licht auf, entriss eine große, hagere Gestalt der Dunkelheit, die ein blitzendes Katana in beiden Händen hielt. »Rafael!«, krächzte Abdul. Er versuchte, sich hochzustemmen, aber sein rechter Arm war wie gelähmt. Eine Welle der Übelkeit fegte über den jungen Fedayyin hinweg. In seiner Schulter schien ein glühender Spieß zu stecken. Rafael drehte sich wie ein Tänzer einmal um die eigene Achse und blickte sich suchend um. Ein Grinsen teilte sein markantes Gesicht in zwei Hälften. Er stieß die Leuchtgranate, die er gezündet hatte, mit der Fußspitze an. Das glühende Gebilde in Form und Größe eines Gänseeis rollte auf Abdul zu.
»Abdul«, sagte er beinahe freundlich. »So sieht man sich wieder.« Er hob das Samuraischwert über den Kopf. »Ein Mann wie du fürchtet den Tod nicht, oder? Schließlich erwarten siebzig Huris und andere Annehmlichkeiten den Gläubigen im Paradies. Und genau da werde ich dich jetzt hinschicken.« Wo steckt Ibrahim?, fragte sich Abdul entsetzt. Er versuchte, sich von seinem Häscher fort zu schieben, aber seine Füße fanden keinen Halt auf dem Boden, rutschten durch das Gewirr zerborstener Ziegel, verbogener Leitungen und verkohlter Holzreste. Die Leuchtgranate sengte sein linkes Hosenbein an. In den Augen des Latinos blitzte es auf, seine Armmuskeln spannten sich unter dem eng anliegenden Hemd. »Adios, Amigo.« Er atmete tief durch und – stand einfach nur da, starrte Abdul an. Dann wanderte sein Blick langsam an sich hinab und blieb an der glitzernden Spitze hängen, die eine Hand breit aus seiner Brust ragte. Seine Hände öffneten sich. Das Katana fiel klirrend zu Boden. »Me cago en la leche...«, begann Rafael mit versagender Stimme und knickte in den Knien ein. Bevor er auf Abdul stürzen konnte, verschwand die Messerspitze in seiner Brust wie durch Zauberhand, und er verharrte mit hängendem Kopf vor Abdul, als würde er beten. »Das war knapp«, sagte Ibrahim rau und wischte den langen blutigen Dolch an seiner Hose ab. Abdul hatte keine Ahnung, wo sein Freund plötzlich herkam. »Ich...«, krächzte er und musste würgen. »Danke«, brachte er schließlich mühsam hervor. »Komm schon«, drängte Ibrahim. »Wir müssen hier weg. Rafael hat...« Er stutzte. »Was ist los, bist du...«
»In meiner rechten Schulter...« Abdul bis die Zähne zusammen. »Ich kann den Arm nicht mehr bewegen. Mir ist schlecht.« Ibrahim beugte sich über ihn. »Verdammt! stieß er hervor. Er tastete vorsichtig über die Schulter des Jüngeren. »Ist es... ist es schlimm?«, fragte Abdul. Das Licht der Leuchtgranate wurde bereits schwächer, der matte rötliche Schein düsterer. Oder war es vielleicht gar nicht die Lichtquelle, die langsam erlosch? »Sieht nicht gut aus«, knurrte Ibrahim. »Du hast ein Stück Baustahl in der Schulter. Ich weiß nicht, wie tief es sitzt. Kannst du noch richtig atmen?« Abdul holte tief Luft. Die Schmerzen waren nicht allzu schlimm, aber ihm war schwindlig, und in seiner rechten Brust blubberte es leise. Ich bin ein toter Mann! »Zieh es raus!«, presste er hervor. »Wenn deine Lunge verletzt ist...« »Zieh es raus!«, wiederholte Abdul. Ibrahim kniete sich neben ihn, griff mit der Linken nach dem rostigen Metallstab. »Okay, mein Freund.« Mit der Rechten tastete er auf dem Boden herum, fand ein Stück Holz und hielt es Abdul hin. »Beiß drauf!« Keine überflüssigen Worte mehr, kein Zögern, keine Sentimentalitäten. Sie kannten einander lange genug, und sie wussten, wie sie sich in einer solchen Situation zu verhalten hatten. Für Trauer oder Bedauern war keine Zeit. Abdul biss auf das Holzstück, krallte die linke Hand in seine Jacke, nickte knapp und schloss die Augen. Der Schmerz, der ihm durch die Schulter schoss, war so unbeschreiblich, dass er das Bewusstsein verlor... ***
Zur gleichen Zeit Prosper Mèrimèe zögerte drei Sekunden, bevor er ausstieg. Seine Hand tastete in den Nacken, wo, einem natürlichen Auswuchs seines Rückgrats gleich, die Waffe befestigt war, ohne die er seinen Zirkus nie verließ. Er lächelte versonnen beim Gedanken an das, was er geschaffen hatte und gegen alle Widerstände am Leben erhielt. Er selbst bezeichnete sich gern als »Herr der Zerstreuung«, als »Meister des Vergnügens« – das rar gesät war in diesem Vorhof der Hölle. Aber letztlich kam ihm genau das entgegen. Der Ritt auf der Rasierklinge – auch so eine Redewendung, die er aus einem seiner privaten Schätze hatte – funktionierte nur deshalb, weil Mèrimèe zu klug war, um sich in Erfolgen zu sonnen. Er arbeitete tagtäglich am Ausbau seiner Attraktionen und hatte überdies ein wachsames Auge, ein wachsames Ohr auf alles, was im Getto vorging, das er für sich selbst »die letzte freie Stadt« nannte. Ja, daran glaubte er tatsächlich! Obwohl jeder Bewohner der Zone in den Grenzen der Ansiedlung gefangen war, kamen die, die in der Lage waren, groß zu denken, früher oder später zu der Erkenntnis, dass ihr Kerker der einzige Ort auf diesem Planeten war – wahrscheinlich sogar der einzige Platz im großen Sternenreich der Menschen –, wo Gesellschaftskritik nicht augenblicklich bestraft wurde. Aber auch nicht gehört, dachte Mèrimèe selbstironisch. Er warf einen letzten Blick in den Innenspiegel, prüfte seine Fantomas-Maskerade und kletterte wenig später aus seinem gepanzerten Vehikel, einer Mischung aus Luftkissenschweber und altertümlichem Geländewagen. Zuvor hatte er mit den Mitteln seines Fahrzeugs die Umgebung gescannt. Sie war sauber. Wenn er draußen unterwegs war, wechselte er stets sein
eigenes Outfit und die Fahrzeuge, die er benutzte. Dennoch blieb es gefährlich oder – wie Sahbu es ausgedrückt hätte – unverantwortlich, sich ganz allein und ohne Begleitschutz auf Exkursionen wie diese zu begeben. »Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um«, pflegte sein getreuer Freund mit dem abscheulichen Handicap zu sagen. Ja, auch Sahbu war belesen... Mèrimèe erreichte die zerbeulte Stahltür, die am Ende der Sackgasse, in die er sein Fahrzeug gelenkt hatte, aus der Vorderfront eines einstöckigen, aus Ziegelsteinen errichteten Baus hervorstach. Zahlreiche Spuren wiesen darauf hin, wie häufig schon versucht worden war, sich gewaltsam Zutritt ins Innere zu verschaffen. Bislang offenbar vergeblich, sonst hätte ihm der Bewohner kein Angebot mehr zukommen lassen können. Oder auch nicht, überlegte Mèrimèe, der es durchaus auch für möglich hielt, dass sich der jetzige Bewohner dieses Rattenlochs vor seinem Einzug Zugang mit dem Brecheisen verschafft hatte – und dass der ehemalige Besitzer dieses Unterschlupfes aus nachvollziehbaren Gründen heute keine Ansprüche mehr geltend machen konnte. Nicht nur ob dieser Möglichkeit war Wachsamkeit geboten, auch wenn die Luft in der Gasse selbst rein zu sein schien. Mèrimèe nestelte kurz an der kugelsicheren Weste, die er unter dem leidlich gepflegten Outfit trug. Der, der ihn erwartete, wusste nicht, wer er wirklich war. Zumindest hätte er es nicht wissen sollen. Aber bei all den Quellen, die Mèrimèe zur Befriedigung seiner persönlichen Leidenschaft anzapfte, war nie auszuschließen, dass irgendwann einmal jemand die wahre Identität des Interessenten durchschaute. Eine kratzige Stimme, so brüchig, dass sich Mèrimèe unwillkürlich den organischen Klangkörper vorzustellen
versuchte, der solche Töne hervorbrachte, erklang von jenseits der Tür. »Wer da?« »Miller«, antwortete Mèrimèe ohne Zögern. »Wir haben einen Termin.« Einen Termin... Manchmal kam er sich bei solchen Unternehmungen vor wie in einem der Romane, die er verschlungen hatte, und er hatte das Gefühl, neben sich zu stehen, sich selbst bei dem, was er tat, zuzusehen und zuzuhören. Eines Tages werde ich auch so neben mir stehen, wenn mir irgendein hinterhältiges Aas eine Klinge in den Hals stößt. Er verdrängte den Gedanken. »Miller...« Eine Pause. Ein Husten. Dann: »Sind Sie allein?« »Wie verabredet.« Wenig später hörte er Riegel schnappen, sogar Ketten fallen. Mèrimèe machte sich nichts vor: Der Bewohner dieser Klause wäre niemals so verrückt gewesen, sich nur auf sein Wort zu verlassen. Irgendwo war ein Spionauge, vielleicht sogar irgendein sündhaft teurer elektronischer Firlefanz versteckt, der seine Angaben erst überprüft hatte, bevor die Tür geöffnet wurde. Schulterzuckend sah Mèrimèe zu, wie das massive Hindernis quietschend nach innen schwang. Wo es noch düsterer als in der Gasse war. Der Bewohner trat Mèrimèe nicht entgegen, nur seine Hand winkte ihn herein. Er folgte der Aufforderung, war entschlossen, nicht die geringste Schwäche zu zeigen. Zaudern hätte vielleicht keine gesundheitlichen Folgen für ihn gehabt, aber bei einem raffinierten Verhandlungspartner später aller Wahrscheinlichkeit nach den Preis saftig in die Höhe
getrieben. Und daran war Mèrimèe nicht gelegen. Irgendwo besaß er eine höchst sparsame Ader... Vor ihm stand ein gichtkrumm daherkommender, vierschrötiger Kerl mit eisgrauen, fast leblos scheinenden Augen. Seine Haut war beinahe so weiß wie das Laken, auf dem Mèrimèe nachts schlief. Das Gesicht, die glatte Haut am Hals – die beste Stelle, um Altersschätzungen anzusetzen, bei Männern und bei Frauen – verriet jedoch, dass sein Gegenüber keinesfalls älter, wahrscheinlich sogar jünger als er selbst war. Zumindest der sichtbare Teil, dachte Mèrimèe, der die Gefahren und Heimtücken der Zone noch klarer einzuschätzen vermochte als andere. Immerhin hatte er ihre spektakulärsten Opfer tagtäglich vor Augen. Nicht zuletzt Sahbu. Er überlegte kurz, ob er den Mann fragen sollte, ob er in eine Anomalie getappt war. Dann entschied er jedoch, dass er dies nicht wirklich wissen wollte und nicht gekommen war, um eine weitere Attraktion anzuwerben. »Sie sind Crowley?« »Zumindest für Sie«, schnarrte der Krumme und verzog die wulstigen Lippen zu einem verächtlichen Grinsen. In Mèrimèe schrillte eine Alarmglocke. Wusste »Crowley« von seinem eigenen Inkognito – spielte die Bemerkung gerade darauf an? Aber der Bleiche wirkte alles in allem nicht so gewitzt, dass er ihm Spielchen dieser Art zugetraut hätte. »Wo ist es?«, fragte er. »Kann ich es sehen?« »Dafür sind Sie gekommen, oder?« Der Krumme schlug hinter Mèrimèe die Tür zu und begann, sie wieder mit einem Heer unterschiedlichster Mechanismen zu verriegeln, was bei ihm wie ein Ritual anmutete, an dem er sich ergötzte. Mèrimèes Blick fand einen kleinen Bildschirm an der Wand daneben, der seinen Verdacht bestätigte. Die Scheibe
zeigte den Bereich vor dem Haus, bis hin zum abgestellten Wagen. Endlich drehte sich der Krumme um. »Kommen Sie!« Durch einen kurzen Flur gelangten sie in einen Raum, der ebenso lieb- wie geschmacklos möbliert war, und das Einzige, was Mèrimèes Blick anzog, nicht abstieß, war eine offene Luke im Boden. »Haben Sie die Steinchen dabei?«, fragte Crowley. »Haben Sie die Ware?« »Hätte ich Sie sonst herbestellt?« Mèrimèe entschied sich, seine Skepsis ruhig durchblicken zu lassen. Er zuckte demonstrativ mit den Achseln und empfand das Gefühl, mit dem die Waffe über seinen Hemdstoff rieb, als durchaus wohltuend. Crowley wies auf die Stufen, die nach unten führten. »Da unten ist es.« »Nach Ihnen«, sagte Mèrimèe. Allmählich fragte er sich, ob dies der Tag sein könnte, an dem er seine riskante Sammelleidenschaft mit dem höchsten Gut würde bezahlen müssen, das er besaß. Langsam folgte er dem Krummen in die Tiefe... *** Als Abdul wieder zu sich kam, lehnte er mit dem Rücken an einer niedrigen Mauer. Er wunderte sich, wie klar sein Verstand war, dass er überhaupt noch lebte. Die Schmerzen in seiner Schulter waren stark, aber auszuhalten. Noch. Das würde sich ändern. Sofern er lange genug lebte. »Ibrahim?«, keuchte er. »Ich bin hier«, klang die Stimme des Älteren neben ihm auf. »Leise! Wir sind noch nicht in Sicherheit.« »Wo sind wir? Wie lange war ich weg?«
»Ein Häuserblock weiter, am alten Schlachthaus der Aschanti, direkt am Wald. Und du warst etwa eine viertel Stunde ohnmächtig.« Langsam klärte sich Abduls Blick. Er begriff, dass Ibrahim ihn zu dem ausgetrockneten Brunnen an der Grenze zwischen Little Africa und Ciudad Latina geschleppt hatte. Gefährlich nahe am Waldrand mit seinen giftigen, teilweise Fleisch fressenden Pflanzen. Niemand würde sich mitten in der Nacht freiwillig so dicht an den Gürtel der außerirdischen Vegetation begeben. Sie saßen in einer tintigen Schattenpfütze. Vor ihnen erstreckte sich ein etwa fünfzig Meter breiter freier Streifen, auf den etwas Licht aus einer schmalen Gasse fiel. Vor einem offenbar bewohnten Gebäude am anderen Ende des freien Streifens standen mehrere Gestalten und unterhielten sich. Sie machten nicht den Eindruck, als wären sie auf der Jagd. »Ich denke, wir haben sie abgehängt«, flüsterte Ibrahim nach einer Weile. Er drückte seinem Freund eine kleine Feldflasche in die linke Hand. »Glaubst du, du kannst laufen?« »Können Fliegen fliegen?«, fragte Abdul in einem Anflug von Galgenhumor zurück. Er führte die Flasche mit zitternden Fingern an die Lippen und trank gierig. Noch nie hatte ihm schlichtes Wasser so gut geschmeckt. Die Gruppe vor dem Wohnhaus schlenderte in gebührendem Abstand zum Waldrand gemächlich davon. »Rafael und seine Leute waren mindestens zu viert«, fuhr Ibrahim fort. »Einen habe ich noch erledigt, während du ohnmächtig warst. Ich glaube, er hieß Gustavo. Der Dicke mit dem Muttermal auf der Wange.« Er nahm die Feldflasche wieder an sich und hielt Abdul etwas anderes hin. Rafaels Katana. Ein echtes Samuraischwert, auf das der
Latino so stolz gewesen war. Mindestens 400 Jahre alt. »Es ist höllisch scharf und so leicht, dass du es auch mit der linken Hand benutzen kannst«, erklärte Ibrahim. »Wir müssen weiter. Komm, ich helfe dir.« Er zog seinen Freund vorsichtig hoch. Einen Moment lang befürchtete Abdul, wieder das Bewusstsein zu verlieren. Er unterdrückte einen Aufschrei, als er, auf Ibrahim gestützt, durch das Zwielicht humpelte. Seine ganze linke Körperseite pochte wie eine Basstrommel und fühlte sich klebrig an. Er musste viel Blut verloren haben. Vor ihnen schienen Nebelschwaden über den Boden zu kriechen. Eine Würgeranke, durchzuckte es Abdul. Die Ausläufer der Pflanze tasteten nach ihnen. Der Fedayyin umklammerte das Katana fester, bereit, die Ranke sofort zu durchtrennen, sollte sie versuchen, sich um seinen Fuß zu wickeln, aber Ibrahim hatte sie auch bemerkt und hielt respektvoll Abstand. Als sie das Gebäude auf der anderen Seite erreicht hatten und in einem engen Durchgang untertauchten, war Abdul so erschöpft, als wäre er mindestens drei Kilometer gerannt. Er bezweifelte, bis nach Dar-al-Arabya laufen zu können. Auch nicht mit Ibrahims Hilfe. »Sind wir hier nicht ganz in der Nähe von Mkeles Hauptquartier?«, fragte er. »Wir haben doch noch was bei ihm gut. Wenn wir es bis zu ihm schaffen, kannst du mich da abliefern und nach Hause zurückkehren.« Ibrahim blieb stehen. »Bist du verrückt? Ausgerechnet zu Mkele und seinen Aschanti-Kriegern? Mkele würde uns kalt lächelnd in Scheiben schneiden. Da könnten wir genauso gut Rafaels Witwe um Hilfe bitten.« »Wieso? Du hast Mkele das Leben gerettet. Damals im Kampf gegen Takemushis Ninjas.«
Der ältere der beiden Fedayyin starrte Abdul irritiert an. »Wovon redest du da? Wir haben auf Takemushis Seite gekämpft, während Mkele...« Seine Lippen wurden schmal. »Vergiss es! Drei Straßen weiter östlich verläuft die CairoRoad. Dort können wir eine Sänfte für dich mieten, ich habe genug Tauschware dabei, an der in Little Africa Mangel herrscht.« »Wie du meinst«, sagte Abdul. Er wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Seine Erinnerungen gerieten durcheinander. Ibrahim hatte Recht. Sie hatten tatsächlich mit Takemushi gegen Mkele gekämpft und den Anführer der Aschanti getötet, andererseits aber war er sich absolut sicher, dass der Afrikaner noch lebte. Und hatte Ibrahim nicht gerade selbst bestätigt, dass Mkele nicht gerade gut auf sie zu sprechen war? Sie humpelten weiter. Abdul hatte den rechten Arm um die Schultern seines Freundes gelegt und... Moment!, dachte er. Es ist der linke Arm! Er blinzelte und versuchte, sich zusammenzureißen. Es muss der Blutverlust sein. Mein Gehirn wird nicht mehr mit genügend Sauerstoff versorgt. Aber wieso kann ich dann noch laufen? Vor ihm in der Dunkelheit tat sich ein Riss auf, durch den sich zwei fleischige Pranken schoben, die Handrücken aneinander gelegt, die Handflächen nach außen gedreht. Die kräftigen Finger krallten sich um die gezackten Ränder des Risses und zogen ihn mühelos wie einen Bühnenvorhang auf. Goldenes Licht aus Messinglampen fiel in die enge Gasse zwischen den Häusern. Mkele trat durch den Spalt, ein breites Grinsen im Gesicht. Er trug eine Art bunte Pluderhose und ein grobmaschiges Kettenhemd, unter dem die dunkle Haut seines mächtigen Oberkörpers wie eingeölt glänzte. In der Hand hielt er ein großes Beil mit einer gebogenen doppelseitigen Schneide.
»Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss eben der Berg...«, begann er und stutzte. »Umgekehrt, Häuptling«, knurrte Ibrahim. Er löste sich von Abdul und zog blitzschnell zwei lange dolchartige Messer unter seinem weiten Gewand hervor. »Es muss heißen, wenn der Berg nicht zum Propheten kommt.« Abdul hob das Katana. Undeutlich wurde ihm bewusst, dass er es in beiden Händen hielt. Aus der Öffnung hinter Mkele schoben sich zwei weitere dunkelhäutige Männer, große kräftige Burschen, die neben dem hünenhaften Anführer der Aschanti trotzdem geradezu schmächtig wirkten. Einer ließ eine Art Morgenstern an einer kurzen Kette lässig kreisen, der andere stützte sich auf einen zweizackigen Spieß mit Widerhaken wie auf einen Spazierstock. »Wie auch immer«, erwiderte Mkele sanft. »Du weißt schon, was ich meine. Was hat euch so lange aufgehalten?« »Rafael und ein paar Schwachköpfe seiner gajada«, knurrte Ibrahim. »Nicht, dass es dich etwas angeht.« »Zu spät, meine Herren«, klang eine dünne Stimme von irgendwoher auf. Abdul schüttelte den Kopf. Er fühlte sich plötzlich leicht wie ein Ballon und gleichzeitig so voller Energie, als würde er jeden Moment bersten. »Tut mir Leid«, fuhr die körperlose Stimme fort, »aber wir müssen den Kampf hier beenden.« Ibrahim fuchtelte mit den Langmessern durch die Luft, als wollte er eine aufdringliche Fliege verscheuchen. Mkele runzelte ungehalten die Stirn. Sie hören die Stimme auch, erkannte Abdul. Ich habe sie mir also nicht eingebildet. Plötzlich stürmte der riesige Afrikaner mit einer Geschwindigkeit vor, die man seiner Körpermasse nie
zugetraut hätte. Seine beiden Begleiter folgten ihm leichtfüßig in drei Schritten Abstand. Abdul machte einen weiten Schritt nach links, bis er an die Mauer stieß. Ibrahim wich nach rechts. Die Gasse war keine drei Meter breit, von zwei geübten Kämpfern leicht zu verteidigen – wenn ihnen nicht gerade ein Muskelberg von zweieinhalb Zentnern entgegenstürmte, der eine mittelalterliche Schlachtaxt schwang. Die rasiermesserscharfe Schneide säbelte in Brusthöhe waagerecht durch die Luft, so schnell, dass Abdul ein Pfeifen zu hören glaubte. Der Versuch, den Schlag der schweren Waffe mit dem Katana zu blockieren, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Deshalb duckte er sich, warf sich gleichzeitig zur Seite und stieß noch im Fallen mit dem Samuraischwert von unten schräg aufwärts. Die Klinge verfehlte Mkeles Leistengegend um Haaresbreite, ritzte nur ein Bein der Pluderhose des Afrikaners auf. Ibrahim hatte ein spiegelbildliches Ausweichmanöver vollzogen und dabei eines seiner Langmesser geschleudert. Der Wurf war perfekt, aber die Klinge glitt von Mkeles Kettenhemd ab. Im nächsten Augenblick war der Aschanti-Führer auch schon hinter den beiden Fedayyin und wirbelte herum, während seine beiden Gefährten die Gasse auf der anderen Seite blockierten und ihren Gegnern den Weg versperrten. Es gab keinen Ausweg. Abdul und Ibrahim sprangen auf, standen Rücken an Rücken da. Ibrahim hatte keine Zeit, die Druckluft-Kombipistole aus seinem Gürtel zu ziehen, Abduls Armbrust lag irgendwo im Geröll des Hinterhofs, wo der Kampf begonnen hatte. Jetzt kam es nur noch auf Schnelligkeit und Geschicklichkeit an. Abdul, der Mkele gegenüberstand, sah, wie der Afrikaner
eine unglaublich schnelle Pirouette drehte und seinen Schwung nutzte, um das altertümliche Schlachtbeil erneut herumsausen zu lassen. Vielleicht hätte er noch ausweichen können, nicht aber Ibrahim, der ihm den Rücken zuwandte und den Schlag nicht sehen konnte. Verzweifelt riss Abdul das Katana hoch. Er wusste, dass er das Beil nicht würde aufhalten können, aber er wollte lieber sterben, als seinen Freund zu verraten. Sie hatten den Kampf gesucht, aus freien Stücken, nicht weil sie dazu gezwungen worden waren... Doch die Klinge erreichte ihn nie. Mkeles triumphierendes Grinsen war plötzlich buchstäblich verschwunden. Weil nämlich sein Gesicht fehlte. Von einem Sekundenbruchteil auf den anderen. Die Ränder seines Kopfes waren noch da, aber in der Mitte klaffte ein kreisrundes Loch. Als Nächstes verschwand sein Oberkörper. Die Arme hingen noch einen Moment lang wie zwei knorrige Äste in der Luft, dann segelten sie mit dem Beil davon, das klirrend und Funken sprühend neben Abdul an der Wand entlangschrammte und außerhalb seines Blickfeldes zu Boden fiel. »Ganz ruhig bleiben«, sagte die körperlose Stimme. »Gleich ist es vorbei.« Sahbu!, dachte Abdul, ohne dass er hätte sagen können, wer Sahbu war. Mkele löste sich vor seinen Augen in Nichts auf. Das Kettenhemd und die Pluderhose, von nichts mehr gehalten, folgten dem Zug der Schwerkraft und sackten in sich zusammen. Schlagartig verschwand auch der Druck in Abduls Rücken. Ibrahim war fort. Und die Welt wurde leerer, substanzloser, körniger. Als sich Abdul herumdrehte, standen die beiden anderen Afrikaner wie eingefroren vor ihm. Der zu seiner Linken
verblasste bereits, als würde eine Projektion erlöschen. Der andere blickte den jungen Fedayyin mit einem beinahe traurigen Gesichtsausdruck an, während geisterhafte Finger um sein Gesicht und seinen Hals herumtasteten. Müdigkeit erfasste Abdul. Eine angenehme Schläfrigkeit, ein warmer Schauder, der seinen Körper durchlief. Jetzt ist alles möglich, dachte er. Jetzt bin ich frei. Dann tasteten die fahl leuchtenden Finger auch nach ihm. Etwas Kühles, Kribbelndes breitete sich auf seiner Haut aus, irgendetwas zerrte an seinen Wangen, seinem Hals, seinem Nacken, seinen Schultern... Das Letzte, was er sah, bevor die Welt um ihn herum erlosch, war das belustigte Funkeln in zwei dunkelbraunen Augen, die zu dem Gesicht eines Jungen gehörten, den er kannte und irgendwie fürchtete. *** Der Raum hatte etwas von einer Höhle – obwohl er trocken war, knochentrocken, wie Prosper Mèrimèe routiniert feststellte. Er hatte ein Auge für Aufbewahrungsbedingungen. Manche Schätze, die man ihm anbot, waren in einem leidvollen Zustand. Andere sogar, ob der widrigen Orte, an denen sie deponiert waren, unrettbar verloren gewesen. Zerfleddert. Zerfallen. Er blieb am Ende der Stufen stehen. Überall türmten sich Gegenstände. Sie besaßen keinen erkennbaren Wert, außer vielleicht für den Besitzer selbst. Vielleicht waren es Erinnerungsstücke. »Also«, sagte Mèrimèe und legte eine genau dosierte Spur von Ungeduld in seinen Ton. Der Herr des Hauses, der Herr der Höhle, stand eine Weile
völlig regungslos da. Fast wie eine Statue, die ein düsteres Gemüt ersonnen und erschaffen hatte. Dann nickte er und verschwand in einem Winkel der überfüllten Kammer. Eine Weile hörte Mèrimèe nur Geraschel, vereinzeltes Husten und eine Serie von Flüchen, die darauf hindeuteten, dass der Krumme selbst nicht auf Anhieb fand, wonach er in diesem unentwirrbaren Tohuwabohu suchte. Doch dann kehrte er doch noch zurück, ein Päckchen in den Händen. Der Inhalt hatte ein nicht unbeträchtliches Gewicht, wie schon an der Art und Weise der Bewegungen erkennbar war. »Gehen wir nach oben?«, fragte Mèrimèe, der sich in dem Kellerloch zunehmend unbehaglich fühlte. »Es gibt keinen Grund, es hinaus zu zögern. Wir werden uns hier an Ort und Stelle einig – oder gar nicht«, krächzte der Krumme, machte aber keine Anstalten, Mèrimèe das Päckchen auszuhändigen. Mèrimèe widerstand dem Drang, sich zu kratzen. Das falsche Gesicht – eine Mischung aus Latex und Zusätzen, die es täuschend echt wirken ließen, aber in ihrer Summe nicht ganz unbedenklich waren – juckte ihm auf der realen Haut. »Auch gut«, sagte er. »Lassen Sie sehen!« »Lassen Sie sehen.« »Erst die Ware, dann...« Crowley lachte hässlich. Das Geräusch schnitt wie eine Klinge durch die Kellerstille. Er drehte sich um und entfernte sich wieder dorthin, woher er gerade gekommen war. »Hey! Was haben Sie vor?« »Sie meinen es nicht ernst.« »Beim Packa, kommen Sie schon her!« Er wusste, wann es Zeit war einzulenken. Während Crowley sich umdrehte und langsam zurückkam, nestelte Mèrimèe an seinem Gürtel und löste den faustgroßen Beutel, der daran befestigt war.
Es klirrte, als die Steine darin aneinander rieben. »Hören Sie das?«, fragte er. Der Krumme nickte. »Ich will es aber auch sehen.« »Dito«, knurrte Mèrimèe. »Sie schauen in den Beutel, ich in Ihr Päckchen. Um die genaue Summe verhandeln wir, wenn ich weiß, wofür ich biete.« Crowley schien zu überlegen. Er leckte über seine Oberlippe. Mèrimèe hatte viele Zungen gesehen, eine solche jedoch noch nicht – sie war fast schwarz und von eitrigen Pickeln übersät. Plötzlich war er bereit, von seinen Grundsätzen abzuweichen und auf langes Feilschen zu verzichten. Es gab so viele Krankheiten, das Getto war ein idealer Nährboden dafür, und er hatte keine Lust... »Einverstanden.« Crowley hielt ihm das Päckchen mit der einen Hand entgegen, während er die andere fordernd hinstreckte. Mèrimèe brachte den Tausch hinter sich, und während der Krumme an dem Beutel fummelte, um ihn zu öffnen, widmete er sich dem erhaltenen Paket. Er stellte es auf eine der Treppenstufen und faltete das Wachspapier auseinander, in das der Gegenstand eingeschlagen war. Vorsichtig... Falls Crowley zusah, empfand er die Vorgehensweise wahrscheinlich als übertrieben. Mèrimèe ließ sich davon nicht beirren. Er schlug den letzten Rest von Schutz beiseite, und das Buch lag vor ihm. Wie stets in solchen Momenten – die rar gesät waren im Vorhof der Hölle –, hielt er kurz inne, schloss die Augen und versuchte, den Geruch des Objektes aufzunehmen, das vor ihm lag. Es war tatsächlich ein Buch, wie Crowley ihn gelockt hatte. Keine Mikroverfilmung eines solchen, keine Box mit Disketten
oder Speicherdisks, keine Mentalfolie – überhaupt nichts auch nur annähernd Modernes – sondern ein echtes Buch aus Papier und Leder! Angegilbt, von feinen Rissen durchzogen, eingedellt, hier und da geknickt – aber absolut authentisch, kein Imitat, wie es ihm zwischendurch immer mal wieder angeboten wurde. Nein, auf den ersten Blick erkenntlich echt. Ein Schatz. Mèrimèe blickte auf den Rücken des Einbandes, auf dem sich die filigranen Goldverzierungen der Vorderseite fortsetzten, aber keine Schrift zu sehen war. Auch auf dem Rücken nicht. Es handelte sich um das monumentalste Werk, das ihm je unter die Finger gekommen war – rein vom Umfang her betrachtet. Ein Wälzer. Eine Schwarte, wie man es früher, in der PräMaster-Zeit, genannt hatte. Mèrimèe spürte, wie er immer nervöser wurde. Er streckte die Hände nach dem Buch aus, um es umzudrehen, stand dabei völlig im Bann des Gegenstands, der sein Sammlerherz höher schlagen ließ – und vergaß dabei völlig den Mann, der ihn hierher gelockt hatte. Gelockt! Was offensichtlich wurde, als Mèrimèe den Luftzug spürte, der ihn warnte. Zu spät warnte. Denn alles, wozu er noch fähig war, als er die Bewegung aus den Augenwinkeln erkannte, war ein Versuch, sich zu ducken, den Kopf aus der Bahn des niederfahrenden Knüppels zu bringen... wodurch er ihm wahrscheinlich noch ein wenig seiner Wucht und Treffgenauigkeit nehmen konnte. Das Quäntchen, das es ausmachte. Dennoch war der Hieb brutal. Die Keule schrammte an Mèrimèes Hinterkopf vorbei und traf das rechte Schlüsselbein mit der Wucht, die ihm hatte den Schädel spalten sollen. Einen Moment glaubte er, sich die Schulter gebrochen zu haben. Eine
Momentaufnahme... denn zu diesem Zeitpunkt reagierte er längst, ungeachtet des furchtbaren Schmerzes, der ihn rechts ganz taub werden ließ. In Crowleys Keller trafen plötzlich alle Faktoren zusammen, die es brauchte, um Mèrimèes fast schon beschlossenes Ende doch noch einmal auf unbestimmte Zeit auszusetzen. Er war Linkshänder. Als Rechtshänder hätte er selbst seine Minimalchance nicht mehr nutzen können. So aber... Seine linke Hand wischte nach oben, er fasste sich in den Nacken unter den Haaransatz und löste den Neuralschocker aus seiner Halterung. Die Entfernung daraus aktivierte zugleich den Chip in Mèrimèes Ohrläppchen – ein Brillantenimitat, das viel mehr war als purer Schmuck. Ein unsichtbarer Schutz legte sich um Mèrimèes Denkzentrum. Und im nächsten Moment löste er auch schon die stabförmige Waffe mit dem Kugelaufsatz aus. Ein Blitz durchzuckte den Keller. Eine Art EMP, das auf das menschliche Gehirn abgestimmt war und dort alle Funktionen zum Erliegen brachte. Mit anderen Worten: Crowley fiel um, wie vom sprichwörtlichen Blitz gefällt. Und Verblüffung brannte eine Momentaufnahme der Ewigkeit in seine eisgrauen Pupillen. *** Sahbu zupfte die letzten Saugnäpfe des Traumkriechers von Abduls Gesicht und Schultern und ließ den Fedayyin vorsichtig zu Boden gleiten. Diesmal war es ziemlich knapp gewesen, obwohl er den Traum der Kunden überwacht hatte. Er hatte sich von ihren Erlebnissen mitreißen lassen, und das war ein unverzeihlicher
Fehler gewesen. Hoffentlich erfuhr sein Herr nichts davon. Prosper Mèrimèe war ein geduldiger Mann und Sahbus Mentor, aber er duldete keine Leichtfertigkeit. Schließlich hatte er einen Ruf zu bewahren – oder zu verlieren. Den Ruf, die größten Attraktionen zu bieten, die es in diesem verfallenden Getto gab, das früher einmal Peking gewesen war. Vor langer, langer Zeit. Bevor die Master das Gesicht der Erde von Grund auf verändert und eine neue Ordnung geschaffen hatten. Sahbu richtete sich auf und sah sich um. Außer ihm befanden sich neun Personen in dem Hof, der auf drei Seiten von verfallenden Ruinen und Mauern umgeben war. Der offenen vierten Seite lag der Wald gegenüber, der unheimliche Dschungel außerirdischer Vegetation, eine undurchdringliche Barriere für jeden Menschen. So hieß es zumindest. Vielleicht nicht undurchdringlich für jeden. Sahbu hatte sich schon mehrfach einige hundert Meter in den Dschungel hineingewagt – wenn auch nur bei Tag. Aber er war ja auch etwas Besonderes. Genau wie sein Herr und väterlicher Freund Prosper Mèrimèe. Den er irgendwann in seiner Position als größter Showmaster des Gettos abzulösen gedachte. Sobald die Zeit dazu reif war. Noch musste er viel lernen... Rafael und die drei anderen Mitglieder der Los Tigres hatten sich bereits wieder erholt. Sie hockten mürrisch im Kreis – ein paar Meter abseits der nächsten Traumranke – und unterhielten sich leise. Ihr Abenteuer war nicht so verlaufen, wie sie es sich erhofft hatten. Nun, das war ihr Problem. Den Inhalt der Träume
bestimmten letztendlich die Kunden, besser gesagt ihr gemeinsames Unterbewusstsein. Das wusste jeder, der Mèrimèe aufsuchte. So stand es im Vertrag, den jeder unterschreiben musste, der auf die Reise gehen wollte. Mkele und die beiden anderen Aschanti fanden ebenfalls wieder in die Realität zurück. Noch blinzelten sie verwirrt in der ungewohnten Helligkeit des Tages, nachdem sie gerade erst durch eine virtuelle stockdunkle Nacht getappt waren. Die Schweden und Amerikaner, die ebenfalls an dem mentalen Abenteuer teilgenommen hatten, waren schon gegangen. Sie hatten ihren Obulus entrichtet und sich getrollt – die Verlierer dieses fiktiven Gemetzels. Gerade stemmte sich Ibrahim hoch. Er kratzte sich über die geröteten Stellen auf seiner Haut, an der vor wenigen Minuten noch die Saugnäpfe der Traumranke gehaftet hatten. Sein Blick fiel auf die schlanken Triebe der fahlgelben Pflanze, die sich langsam zurückzogen. »Hattest du eine gute Jagd, Effendi?«, fragte Sahbu liebenswürdig. Ibrahim starrte den halbwüchsigen Jungen an. Sahbu war klein, drahtig und flink, verschlagen und listig, wie geschaffen für ein Leben, das sich selbst nach Maßstäben des Gettos in einer Grauzone der Legalität bewegte. Ein Bursche, der bestimmt noch eine große Zukunft vor sich hatte. Und den man besser bei Laune hielt, auch wenn er nur Prosper Mèrimèes Gehilfe war. »War nicht schlecht«, erwiderte der Fedayyin. Er rieb sich über das Gesicht. »Wir haben zwei Americanos und vier Latinos erledigt«, fügte er nicht ohne Stolz hinzu. »Dann waren da noch Mkele und seine Jungs...« Er warf einen Blick zu den Afrikanern hinüber. Mkele nickte ihm zu, ließ sein berühmtes Grinsen aufblitzen, das sein dunkles Gesicht in zwei Hälften teilte, und
zog die Finger in einer ruckartigen Bewegung über seine Kehle. Eine eindeutige Geste. »Nun, da ist die Geschichte leider aus dem Ruder gelaufen«, brummte Ibrahim. »Zu viel Adrenalin«, erklärte Sahbu. »Und die Gruppe war nicht eingespielt.« Er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als zuzugeben, dass er nachlässig gewesen war. Du bist der Knotenpunkt in dem neuralen Geflecht, hatte ihm sein Meister immer wieder eingeschärft. Du bist der Moderator der Show. Lass die Zügel locker, aber lass sie nicht schleifen. Behalt die Kontrolle über das Geschehen, ohne dich einzumischen. Und wenn es zu chaotisch wird, wenn du es nicht mehr abfedern kannst, dann zieh den Stecker! In diesem Moment stöhnte Abdul auf, und Ibrahim wandte sich seinem Freund zu, der unkontrolliert zuckte. Sahbu verkniff sich ein erleichtertes Seufzen. Er hätte Abdul früher von der Traumranke trennen müssen. Es wurde gefährlich, wenn sich ein Spieler weigerte, den virtuellen Tod zu sterben. Und genau das hatte Abdul getan. Der korrodierte Eisenstab, in den er gefallen war, hatte seine Lunge durchbohrt und die Aorta angeritzt. Er hätte sterben müssen – und durch seine Weigerung die künstliche Gedankenwelt der Spieler pervertiert. Das war das Problem, wenn man auf die Traumreise ging. Man musste sich an die Spielregeln halten. Der außerirdische Urwald, der das Getto umschloss, bestand aus einer Vielzahl extraterrestrischer Pflanzen. Manche waren harmlos, manche gefährlich – und eine ganze Menge tödlich. Die Traumranke gehörte zu den tödlichen Exemplaren, obwohl sie nicht direkt gefährlich war. Denn sie tötete sehr, sehr langsam. In der Regel befiel sie nur schlafende Opfer, umwob sie mit
ihren dünnen Trieben und injizierte ihnen mit Hilfe kleiner Saugnäpfe eine Substanz, die die Barriere zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein der Betroffenen aufbrach. Mit der Folge, dass ihre Opfer besonders realistische Träume hatten, in denen sie tagelang verharrten, während die Ranke ihnen buchstäblich das Leben aus dem Leib sog. Ein äußerst angenehmer Zustand. Man musste ihn nur rechtzeitig beenden. Prosper Mèrimèe hatte eine Möglichkeit gefunden, sich diese Pflanzen dienstbar zu machen. Sie ließen sich wie eine Droge einsetzen. Aber im Gegensatz zu normalen Drogen konnte man mit ihnen mehrere Menschen quasi zu einem Netzwerk zusammenschließen, in dem sich ihre Phantasien zur gemeinsamen Traumwelt verschmelzen ließen. Die Möglichkeiten waren praktisch grenzenlos. Ob gewalttätige, erotische, surreale, religiöse oder wie auch immer geartete Phantasiewelten, alles war machbar. Doch um das Ganze zu koordinieren, benötigte man einen Moderator – und dazu waren nur sehr wenige Menschen in der Lage. Wie Mèrimèe selbst und sein Schützling Sahbu. Sie besaßen das Monopol, und ihre Kunden blieben ihnen treu, denn die Traumranken machten sie langsam abhängig. Unmerklich, nicht auf einen Schlag. Sondern schleichend und heimtückisch. Keiner der Süchtigen wusste, dass er süchtig war. Es gab keine akuten Entzugssymptome, nur ein immer stärker werdendes Verlangen, auf Traumreise zu gehen. Im Gegensatz zu seinen Kunden wusste Sahbu von der Gefahr, aber er hätte nicht sagen können, ob auch er süchtig war. Er redete sich ein, resistent gegen die Verlockungen zu sein. Wie Prosper Mèrimèe, sein Meister. Andererseits hatte er nie versucht, die Probe aufs Exempel zu machen. Denn es war seine Aufgabe, alle ein bis zwei Tage seine Kunden als Moderator auf die Traumreise zu begleiten.
Natürlich nicht, um seine eigenen Phantasien auszuleben, aber trotzdem... »Was... was ist geschehen?«, riss ihn Abduls Stimme aus seinen Gedanken. Der junge Fedayyin zitterte. Die Stellen auf seiner Haut, an denen die Saugnäpfe der Ranke gehaftet hatten, waren gerötet und feucht. Die Intensität der Farbe verriet, wie sehr er sich in die Phantasie hineingesteigert hatte. Kein guter Kunde. Der geborene Junkie, der an seiner Sucht sterben würde, bevor er genügend Profit abgeworfen hatte. Sahbu unterdrückte das in ihm aufsteigende Mitleid. Er durfte nicht sentimental werden. Wer Geschäfte machte, musste die Dinge aus einer professionellen Perspektive betrachten. Was nicht immer hieß, dass der Kunde dabei übervorteilt wurde. Im Gegenteil, in Abduls Fall war es ganz im Sinne des Klienten. »Ganz ruhig«, sagte Ibrahim sanft. »Dir ist nichts passiert. Du bist nicht verletzt. Das alles war nur ein Traum, ein realistischer Traum.« »Und es wäre dein Albtraum geworden, wenn Sahbu uns nicht aus dem Verbund gerissen hätte!«, rief Mkele, der das Gespräch der beiden Fedayyin offensichtlich belauscht hatte. Er hob die Hände und schloss sie in der Luft, als hielte er in ihnen das Schlachtbeil aus ihrem gemeinsamen Traum. »Du kannst mich gern in der Wirklichkeit besuchen, mein kleiner Freund. Dann werden wir ja sehen, ob du wirklich so schnell und zäh bist wie in deinen Träumen.« Abdul wollte auffahren, fiel aber sofort wieder kraftlos zurück. »Bastard«, keuchte er, »warte, bis ich wieder...« »Effendis, Sahibs, Freunde!« Sahbu hob beschwichtigend die Arme. »Dies ist ein Ort des Friedens. Keine Drohungen, oder ihr seid hier nicht mehr willkommen. Verwechselt eure
Träume nicht mit der Realität.« »Realität«, knurrte Ibrahim leise. Er legte Abdul einen Arm um die Schultern und half ihm vorsichtig auf. »In der Realität wärst du schon längst...« Obwohl Mkele ihn unmöglich hören konnte, sprach er den Satz nicht zu Ende. Es hatte keinen Sinn, Sahbu – und damit Prosper Mèrimèe – zu verärgern. Sahbu legte die gefalteten Hände an die Stirn und verneigte sich in Richtung seiner Kunden. »Ich hoffe, eure Träume haben eure Erwartungen erfüllt«, sagte er salbungsvoll. »Bitte, beehrt unser bescheidenes Heim wieder und empfehlt uns euren Freunden – natürlich nur vertrauenswürdigen Herren wie euch. Wie ihr wisst, bieten wir auch Träume ganz anderer Art«, er schaffte es irgendwie, ein gleichzeitig lüsternes wie unschuldiges Lächeln zustande zu bringen, »bei denen ihr die Sorgen des Alltags vergessen könnt. Unsere Preise sind bescheiden, unsere Leistungen unerreicht. Bei Nichtgefallen muss niemand bezahlen.« Der letzte Satz war eine unverblümte Aufforderung, den Obulus für die Traumsitzung zu entrichten. Und wie nicht anders zu erwarten, legten alle Teilnehmer ihre Beträge – in Naturalien oder der allgemein akzeptierten Währung des Gettos – in den Weidenkorb am Ausgang des Hofes... *** Mèrimèe starrte noch sekundenlang auf die facettenartig unterteilte, kirschgroße Kugel an der Spitze seines Schockstabs. Für einen Moment hatte er das Gefühl, in das funkelnde Auge eines tückischen Insekts zu blicken, und unwillkürlich rann ihm ein Schauder über den Rücken. Dem folgte Erleichterung – und das Bemühen, die eigene Lage realistisch einzuschätzen.
Die Reichweite der Waffe war auf wenige Meter eingestellt – schon aus Prinzip. Er wollte selbst im Notfall so wenige Leben wie möglich gefährden, zugleich aber auch die Effektivität wahren. Das hieß, dass er sich noch nicht in Sicherheit wiegen konnte. Es gab viele Neider in der Zone. Mèrimèe hatte es zu etwas gebracht, was die wenigsten Getto-Bewohner vorweisen konnten: bescheidenen Wohlstand. Und er hatte seit Jahren das Monopol auf anspruchsvolle Unterhaltung. Gründe genug, sich nicht nur Freunde zu schaffen. Mehr denn je überzeugt, in eine Falle getappt zu sein, ließ Mèrimèe das Netz feinster silbriger Fäden, die unsichtbar seine Kopfhaut durchzogen, aktiviert und umfasste den Schocker so fest, dass die Knöchel seiner Hand weiß hervortraten. Gleichzeitig hielt er den Atem an, lauschte. Dass kein verdächtiges Geräusch von oben herab drang, beruhigte ihn nur halbwegs. Er glaubte nicht eine Sekunde, dass Crowley alleine auf die Idee gekommen war, den großen Prosper Mèrimèe, Herr über sämtliche Zone-Freaks, linken zu wollen. Welcher der großen Bosse, welcher aufstrebende Halbseidene auch immer seine Hände mit im Spiel hatte und die Fäden im Hintergrund zog, er würde sich nicht allein auf den Krummen verlassen haben. Eile war also geboten... Mèrimèe wandte sich bereits der Treppe zu, als sein Blick noch einmal auf das Buch fiel, mit dem er geködert worden war. Verdammt. Er wäre ein noch größerer Narr, als ohnehin schon feststand, wenn er sich ganz ohne Lohn aus der Sache zurückgezogen hätte... Nein! Rasch schnappte er sich seine Edelsteine und das Buch, klemmte es unter den noch immer übel schmerzenden rechten Arm und schob wenig später vorsichtig den Kopf in Crowleys Behausung.
Wo sich nichts verändert hatte. Wo ihn niemand erwartete. Hatte der Krumme also doch auf eigene Rechnung gearbeitet? Mit welcher Absicht? War es ihm lediglich darum gegangen, Mèrimèe auszuräubern und das Buch zu behalten...? Mèrimèe war sich seiner Sache nicht mehr sicher. Er wusste nur eines: Er wollte so rasch wie möglich zurück in sein Refugium. Zurück zu Sahbu und den anderen, die nicht nur seinen Wohlstand begründeten, sondern ihn notfalls auch mit ihrem Leben schützen würden. Was er im Übrigen auch für sie getan hätte. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft geworden. Alle für einen, einer für alle... Ein Lächeln huschte bei dem Gedanken über sein Gesicht. Es gab da ein recht bizarres Buch... In diesem Moment erkannte er, warnte ihn sein Instinkt, dass sich doch etwas verändert hatte. Es war wärmer geworden. Und es roch unverkennbar nach... Forkas! Mèrimèe spürte, wie sein Herz gleich mehrere Takte übersprang. Nur mühsam hielt er die aufsteigende Panik im Zaum. Forkas war kein irdischer Stoff. Er stammte vom gleichnamigen Planeten, 132 Lichtjahre von der Erde entfernt, und war wie vieles andere auf Umwegen im Getto gelandet. Es kam immer wieder vor, dass Transporte, die neue Verbannte brachten, auch Dinge einschmuggelten, mit denen sich Bandenführer Vorteile gegenüber konkurrierenden Gangs versprachen. Etwas hereinzuschmuggeln, war möglich, etwas hinaus zu bekommen, nicht. An diesem Punkt endete alle Bestechlichkeit. Aber unter dem, was unerlaubt »importiert« wurde, fanden sich solche Monstrositäten wie die Silikatverbindung, deren Witterung Mèrimèe gerade aufgenommen hatte. Der Geruch war unverwechselbar. Ihm selbst war einmal
eine winzige Menge dieser Substanz angeboten worden. Er hatte abgelehnt. Er war kein Schlächter. Wo? Die Frage beschäftigte ihn nur eine Millisekunde. Dann rannte er los zum Ausgang. Die Befürchtung, im Haus auf weitere Gegner – menschliche Widersacher – zu treffen, hatte er abgelegt. Niemand blieb dort, wo Forkas freigesetzt wurde. Wenn, dann warteten sie draußen. Durch den kurzen Flur hin zur Stahltür – wo ihm klar wurde, wie verfahren seine Lage tatsächlich war. Die Tür war noch immer verrammelt, von einer unglaublichen Zahl an Sperren gesichert, und bei mindestens dreien hätte es Crowleys Unterstützung bedurft, um die Kombinationen einzugeben, die die Riegel lösten! Mèrimèe blieb wie vom Donner gerührt stehen. Der Gestank hier draußen im Flur war so durchdringend, dass er ihm fast das Bewusstsein raubte. Er hatte Mühe zu atmen. Und dann fand sein Blick die Quelle des Unheils. Eine ehemals unscheinbare Box nahe der Tür war aufgebrochen und bereits über und über mit Forkas- Kruste bedeckt. Ein zerstörter Mechanismus am Gehäuse deutete auf einen Fernzünder hin. Die Masse selbst wuchs sichtbar, und der begleitende Oxidationsprozess entzog der Luft wertvollen Sauerstoff. Aber das Wachstum würde selbst nach dem Aufzehren des Sauerstoffs nicht enden. Forkas entzog allem, was es berührte, Dinge, die es als Nahrung verwertete. Es war unersättlich. Es... Mèrimèe zwang sich zur Ruhe, überlegte, was er über Forkas wusste, kramte das kleinste Fitzelchen an Wissen aus seinem Gedächtnis hervor. Die Lebensdauer! Niemand wusste, warum, aber eine zur Erde geschmuggelte Probe des Stoffes, überdauerte einmal freigesetzt nicht länger als ein paar Stunden – selbst bei idealen
»Fütterungsbedingungen« nicht. Auf dem Höhepunkt ihrer Fressorgie zerfiel die Masse einfach zu harmlosem Staub. Aber ein paar Stunden waren definitiv zu lang für einen Menschen, der mit Forkas in einem Raum eingesperrt war. Mèrimèe schätzte, dass er im günstigsten Fall noch ein paar Minuten bei Bewusstsein bleiben würde. Eine Berührung mit der Substanz, die von einem Planeten mit völlig absurden Umweltbedingungen stammte, war augenblicklich tödlich, aber im Endeffekt sogar dem qualvollen Dahinsiechen vorzuziehen... War es das? Mèrimèe begriff, dass die Gase bereits Wirkung zeigten. Sie beeinträchtigten seinen Verstand. Crowleys Behausung besaß nach allem, was er gesehen hatte, keine Fenster, nur diese eine, vielfach verbarrikadierte Tür. Aber der Bau selbst, die Ziegelsteine... Er winkelte den linken Arm an. In Höhe des Handgelenks war der Codegeber für sein Hovercraft aufgeklebt. Damit konnte er es für den Eigengebrauch entsichern, in seiner Abwesenheit vor Dieben schützen... aber er konnte auch noch mehr. Er konnte es rufen. Wenige Berührungen der Sensoroberfläche genügten, um auf der hochfeinen Platte ein Display erscheinen zu lassen. Und während sein Verstand mehr und mehr umnebelte, das Gas seine Lungen füllte und seinen Körper vergiftete, richtete er das Hovercar draußen neu aus und beschleunigte es auf Höchstleistung... Gleichzeitig wich er in den Raum zurück, in dem Crowley gehaust hatte. Sekunden später drang ohrenbetäubendes Krachen an sein Gehör. Mèrimèe konnte sich gerade noch in die offene Bodenluke retten. Dann erschien auch schon die Schnauze des Hovercars zwischen Staub und herab fallenden Steinen...
Sofort leitete Mèrimèe das Stoppmanöver ein. Dann floh er aus dem Treppenloch und tastete sich mehr als er sah zu seinem Fahrzeug, öffnete es und schob sich in den Innenraum, den er sofort wieder hermetisch verschloss. Er verließ das Trümmerfeld, das einmal Crowleys Heim gewesen war und nahm kaum wahr, ob sich ihm noch jemand in den Weg stellte. Wie von Furien gehetzt, noch halb blind von den Dämpfen, denen er ausgesetzt gewesen war, schaltete er das Hovercar auf Autopilot, sank in den Sitz und gab sich endlich der Ohnmacht hin, die wie tausend schwarze Bluthunde an ihm zerrte... 3. Nachdem seine Kunden verschwunden waren, verschloss Sahbu die Tore des Hofes und begab sich ins Hauptgebäude, in Prosper Mèrimèes Palast. Eine hochtrabende Bezeichnung für das dreistöckige Haus, in dem Mèrimèe residierte. Aber im Vergleich zu den meisten Behausungen des Gettos durchaus zutreffend. »Heh, Sahbu!«, rief Gargantua, der auf dem herzförmigen Sandsteinblock vor dem Eingangsbereich saß und an seiner vermutlich zwanzigsten Bambusflöte schnitzte. »Alles fit im Schritt?« Gargantua, von Mèrimèe so getauft, war ein Koloss von einem Mann. Der schwerste Mensch, der jemals auf der Erde gelebt hat, so pries Prosper dieses Unikum an – nicht ohne Erfolg. Mit seinen rund acht Zentnern Gewicht bei einer Körpergröße von knapp zwei Metern bot Gargantua einen Anblick, der jedem »normalen« Menschen den Atem stocken ließ. Dass sich ein Mensch mit einer solchen Leibesfülle so leichtfüßig bewegen konnte, schien völlig unmöglich. Aber Gargantua strafte alle Naturgesetze Lügen.
Er trat in Schaukämpfen gegen ein halbes Dutzend Gegner gleichzeitig an und wälzte sie wie ein Sumoringer mit einer Leichtigkeit aus dem Ring, die seine Zuschauer in Entzücken und Fassungslosigkeit versetzte. Seine Fangemeinde wuchs mit jedem Tag. Dabei wusste niemand außerhalb von Mèrimèes Kuriositätenkabinett, welche sensible Seele sich hinter diesem unförmigen Fleischberg verbarg, der mit seinen selbst gefertigten Flöten Stücke von Mozart, Brahms und Schubert spielte, die sogar die hartgesottensten Gang-Führer buchstäblich zu Tränen rühren konnten. »Sicher«, erwiderte Sahbu. Er hätte sich problemlos in einer von Gargantuas Bauchfalten verstecken können. »Hast du den Boss gesehen?« »Nein. Obwohl er eigentlich längst zurück sein wollte.« Garagantuas Kinn und Wangen drohten, sich um seinen Hals zu schlingen und ihn zu erdrosseln, als er den Kopf schüttelte, so wild schwangen die Fleischmassen hin und her. »Er hatte wieder dieses Glitzern in den Augen, das er immer hat, wenn ihn das Jagdfieber packt. Warum muss er bloß immer allein losziehen? Eines Tages wird ihm das noch zum Verhängnis.« »Prosper weiß schon, was er tut«, sagte Sahbu zuversichtlicher, als er wirklich war. Sein Mentor neigte zur Leichtsinnigkeit. Zumindest war das Sahbus Meinung. Aber Mèrimèe schlug alle diesbezüglichen Warnungen in den Wind. So besonnen er sein Imperium auch führte, so unvernünftig verhielt er sich, wenn es um seine Passion ging. Eines Tages wird ihm das noch zum Verhängnis werden, wiederholte Sahbu Gargantuas Worte in Gedanken. Die Sorge um seinen väterlichen Freund hatte mehr als nur pragmatische Gründe. Er war Mèrimèes Kronprinz – aber auch so etwas wie sein Sohn.
Gargantua ließ das Messer sinken, betrachtete die Bambusflöte einen Moment lang kritisch und führte sie dann an die Lippen. Es erschien absolut widersinnig, dass ein Mann mit derart wulstigen Lippen und Fingern, die fast so dick wie die Handgelenke eines durchschnittlichen Menschen waren, ein so fragiles Gebilde wie eine Bambusflöte bedienen konnten. Aber Gargantua entlockte dem schlanken Musikinstrument eine makellos melodische Tonsequenz. Sahbu lächelte. Er konnte nicht anders. »Klingt gut, wenn du mich fragst«, sagte er aufrichtig. Gargantua mochte äußerlich eine Monstrosität sein, die das Publikum belustigte, aber sein Geist war so leicht und verletzlich wie ein Schmetterling. Der Koloss lächelte schüchtern. »Ich muss die Löcher noch glattfeilen«, murmelte er leise. »Die Ränder sind viel zu unregelmäßig, das verzerrt den Ton...« Er zog eine Rundfeile hervor und beugte sich tief über den Bambusstab. Sein Kopf verschwand zwischen den fleischigen Schultern, über die nur noch ein struppiger Haarschopf ragte. Im Inneren des »Palastes« herrschte gedämpftes Zwielicht. Der zentrale Bereich des Hauses war wie ein Dom geformt, eine etwa zehn Meter hohe Kuppel, deren Zwischendecken entfernt worden waren. Den ersten und zweiten Stock bildeten kreisförmige Galerien mit brusthohen Geländern. Dahinter erstreckten sich Regale, in denen Prosper Mèrimèe seine Schätze aufbewahrte, die er im Laufe seines Lebens gesammelt hatte. Eine Bibliothek verlorenen und in diesen Zeiten geächteten Wissens. Sie enthielt einige wenige echte Bücher, ansonsten gebundene Papierseiten mit Einbänden jeder Art. Alte Zeitungen und Magazine. Folianten, Kataloge,
Notizblöcke und sorgfältig verschnürte lose Blättersammlungen. Die Video- und Audiokassetten waren größtenteils nicht mehr abspielbar, aber vielleicht ja irgendwie doch noch zu rekonstruieren, sobald die entsprechende Technik verfügbar war. Mentalfolien, Speicherkristalle... Hier gab es alles, worauf Menschen – kritische Menschen! – nach der Ankunft Informationen und Daten gespeichert hatten. Dies war das Wissen einer Welt im Umbruch. Und natürlich Mèrimèes »gesammelte Werke«. All das, was er in Erfahrung gebracht und zusammengetragen hatte, Beobachtungen, Gespräche, Recherchen. Die Protokolle der Traumsitzungen, hauptsächlich von ihm, seit einiger Zeit aber auch von Sahbu angefertigt. Der eigentliche Arbeitsbereich befand sich im Erdgeschoss, in der neutralen Zone. Dort stand ein riesiger hufeisenförmiger Schreibtisch mit zahllosen Schubfächern. Darum verteilt befand sich eine bunte Ansammlung verschiedener Computer. Dieser Raum war in mehrerlei Hinsicht einzigartig im Getto. Zum einen lag es daran, dass Mèrimèe und seine Gehilfen hier ein Netzwerk aus uralten Rechnern zusammengestellt hatten, das im Getto seinesgleichen suchte. Rechner, die größtenteils schon vor der Ankunft Museumsstücke gewesen waren und die verheerende Explosion der lokalen Residenz nur überstanden hatten, weil man sie vorher aus unerfindlichen Gründen in unterirdischen Bunkern eingelagert hatte. Es hatte Jahre, viel Geld und Mühe gekostet, einen Teil der alten Geräte wieder zum Laufen zu bringen und eine eigene Software zu entwickeln, die mit den unterschiedlichen Systemen kompatibel war. Zum anderen war das Zentrum dieses Raumes quasi das stille Auge eines Orkans aus Zeitanomalien. In einem Kreis mit einem Durchmesser von rund sechs Metern herrschten völlig
normale Zustände – um ihn herum zog sich ein Gürtel temporaler Verzerrungen. Eine Zone, die nicht nur praktisch jedes auf elektronischen Komponenten basierende Gerät lahm legte, sondern auch die Gehirne »normaler« Menschen stark beeinflusste. Aber wie Prosper Mèrimèe war auch Sahbu kein »normaler« Mensch. Ihm bereitete es keine Schwierigkeiten, den Gürtel aus Zeitverwirbelungen zu durchqueren. Er spürte gerade das leichte Zupfen der ersten Ausläufer, als etwas in seiner Tasche summte. Sofort trat er drei Schritte zurück und zog das Funkgerät hervor, das äußerlich einem uralten Mobiltelefon ähnelte. Die Stimme am anderen Ende klang verzerrt und angespannt, aber Sahbu erkannte sie sofort. Es war Prosper. »Meister«, sagte er. »Ich höre.« »Notfall«, keuchte Mèrimèe erstickt. »Brauche Hilfe. Schaff den Doc her. Sofort!« »Wo bist du?«, fragte Sahbu. »Was ist los? Ich schicke gleich...« »Nicht nötig«, unterbrach Mèrimèe. »Ich schaffe es allein zurück.« Er hustete gequält. »Fahre mit Autopilot.« Wieder ein röchelndes Husten. »Sag dem Doc, dass... ich Forkas inhaliert habe...« Sahbu hatte das Gefühl, als würde ihm das Blut in den Adern gefrieren. Er wusste nicht viel über die heimtückische außerirdische Substanz. »Okay«, erwiderte er knapp. »Ich hoffe, er ist wach. Sahbu, Ende.« Er wirbelte herum, stürmte los und rief noch im Laufen nach Lydia. ***
Kurz zuvor... Da waren Fetzen. Bild- und Szenenfragmente. Splitter eines Mosaiks, das ihm wie ein Albtraum anmutete... Eine Frau, deren Namen Prosper nicht kannte, die ihm aber unfassbar nahe stand... gestanden haben musste... Nur wann? Ich halluziniere! Es war der Gedanke, mit dem er die Augen aufschlug. Der Gedanke, der sich wie ein Anker in diesen Mahlstrom aus verworrenen Bruchstücken senkte und es seinem Geist ermöglichte, sich aus dem Sumpf zu befreien. Licht. Zunächst waren da nur tanzende Schemen und Chimären. Dann... Prosper Mèrimèe richtete sich in dem Sitz auf, in dem er zusammengesunken, regelrecht in sich zusammengefallen war. Leises Pfeifen lag in der Luft. Das typische Arbeitsgeräusch der Steuerung, wenn sie auf Automatik geschaltet war. Dazu ein Rasseln, das ihm ins Gedächtnis rief, wie knapp er dem Tod entronnen war. Und wie nachhaltig seine Lungen darunter zu leiden hatten. Sie brannten und trieben ihm Tränen des Schmerzes in die Augen. Stöhnend wischte er sich übers Gesicht. Er streifte die Brille, die kurz verrutschte, sich aber sofort selbstständig wieder ausbalancierte. Die Erinnerung kehrte zurück. Zögerlich, wie ein zu oft getretenes Tier, das Mühe hat, einer ausgestreckten Hand zu vertrauen. Crowley... der Attentatsversuch... das Forkas... Etwas störte. Benommen blickte er auf den Gegenstand, dessen Gewicht doppelt und dreifach so hoch wirkte, wie es tatsächlich war.
Das Buch! Es klemmte immer noch zwischen Armbeuge und Oberkörper. Er hatte es während der ganzen, sich überschlagenden Ereignisse nicht verloren, sondern offenbar unterbewusst gegen alle Anfechtungen verteidigt! Fassungslosigkeit malte sich auf Mèrimèes Züge – und wurde begleitet von der Frage, wem er nun eigentlich diesen Schlamassel zu verdanken hatte... Und der Neugier, die nur ein Ziel hatte... Das Buch! Er bezähmte sie. Zuerst musste er sich um eventuelle Verfolger kümmern – von denen jedoch keiner auszumachen war. Das Hovercar wurde nicht verfolgt. Im Gegenteil hatte es Mèrimèe während der Besinnungslosigkeit schon fast nach Hause gebracht... Zwei, drei weitere schmerzvolle Atemzüge, dann übernahm Mèrimèe das Steuer wieder selbst. Gleichzeitig aktivierte er das »Getto-Radio«, wie er es nannte, und bemühte sich, eine Verbindung zu Sahbu herzustellen. Sein Vertrauter meldete sich nach wenigen Versuchen. »Meister?« Bei Sahbu klang diese Anrede genau so ironisch, wie Mèrimèe es haben wollte, um es ertragen zu können. Kein anderer durfte ihn so ansprechen, denn das Wort hatte normalerweise einen mehr als bedenklichen Beigeschmack... In groben Sätzen klärte Mèrimèe ihn über seinen lädierten Zustand auf und bat darum, den Doc zu verständigen, der im Getto eine ebensolche Institution war wie Prosper Mèrimèe selbst. In früheren Zeiten wäre ihm wahrscheinlich die Bezeichnung »Quacksalber« am gerechtesten geworden. Aber in den dunklen Tagen der Gegenwart gab es niemanden, der über solche »Feinheiten« nicht hinweggesehen hätte...
*** Es fiel ihm schwer, sich zu bezähmen. Aber Mèrimèes Gesundheit – oder das, was davon übrig geblieben war – ging eindeutig vor. Wie auf glühend heißen Kohlen erwartete Sahbu deshalb die Ankunft seines Mentors in der Garage – ein Komplex, der sich unmittelbar an den Zirkus anfügte; eine Art Anbau voll mit den skurrilsten Fahrzeugen, für die Mèrimèe ein ebensolches Faible hatte wie für sein anderes Steckenpferd, das ihn dieses Mal offenbar um ein Haar das Leben gekostet hätte. Als die Luke aufklappte, taumelte der schlanke Mèrimèe, der mit Vorliebe Mäntel trug, deren Säume fast über den Boden schleiften, Sahbu auch schon entgegen. »Hier, nimm!«, stieß der Ältere hervor. Die Aufforderung ersetzte jeden sonst wie gearteten Gruß. Sahbu konnte gerade noch reflexartig reagieren und das auf ihn zufliegende Objekt aus der Luft fischen. Jeglicher Protest blieb ihm im Halse stecken, als er den Zustand gewahrte, in dem sich sein Freund und Meister befand – er war noch lädierter, als er nach dem kurzen Funkkontakt befürchtet hatte. Sofort wollte Sahbu das dicke Buch unbesehen auf dem Boden ablegen und stattdessen Mèrimèe als Stütze zur Seite gehen. Doch dessen Fauchen hielt ihn zurück. Ein kurzer Hustenanfall schüttelte den Körper des Mannes, über dessen Alter nicht nur Sahbu, sondern auch Mèrimèe selbst rätselte. Haar flog wie unzählige winzige Peitschenschnüre durch die Luft. Doch dann straffte sich der »Meister des Zeitvertreibs« auch schon wieder und schnarrte: »Untersteh dich, dieses Kleinod hier rumliegen zu lassen!« Er schnaufte schwer und fügte dann hinzu: »Wo ist er?« »In deinem Schlafzimmer.«
»Warum ist er nicht gleich mitgekommen?« »Du kennst ihn doch...« Mèrimèe machte eine ärgerliche Geste und setzte seinen schwankenden Gang fort, ohne Sahbus Stütze anzunehmen. »Ist er wenigstens wach? Ich meine: hellwach?« »Seinen eigenen Beteuerungen zufolge: ja.« »Und deiner Beobachtung zufolge?« Sahbu presste das Buch fester gegen seinen Oberkörper, nahm den leicht modrigen Geruch wahr, der ihm daraus in die Nase stieg und schüttelte den Kopf – beinahe so heftig, um die Sicherung in seinem Kragen zu aktivieren. »Er hat lichte Momente«, sagte er, »sonst hätte ich ihn gar nicht gerufen.« »Das Gat wird ihn eines Tages umbringen – und den Patienten, der das Pech hat, gerade dann unter seinem Messer zu liegen, gleich mit!« Gat war das Extrakt einer außerirdischen Pflanze, die am Waldrand rund um die Zone zu finden war. Man konnte es schlucken oder rauchen – oder sich direkt in die Blutbahn injizieren, wie es der Doc praktizierte. Das Resultat war in allen Fällen gleich: Gat stürzte den Geist, abhängig von der Dosierung, in einen totengleichen Schlaf, in einen Zustand völliger Ruhe, aus dem man anfangs geistig erfrischt erwachte. Das genaue Gegenteil also von den Effekten der Traumranken, in denen der Geist auf eine surreale Ebene gehoben wurde. Aber für viele im Getto war Ruhe, Stille, todesähnliches Dahintreiben und damit einhergehendes Vergessen noch wertvoller als die Flucht in anregende Träume. Doch Gat machte schon nach erstem Gebrauch rettungslos abhängig, und der Eindruck von Erholung erledigte sich schon nach wenigen Malen. Danach hatte der Geist Mühe, wieder in den Wachzustand zurückzufinden. Beim Doc war es mittlerweile so weit, dass er zwischen seinen Fluchten ins
traumlose Nichts manchmal kaum noch ansprechbar war. Das war umso bedauerlicher, da der Doc mit jeder noch so bizarren Abnormität völlig unbefangen umging. Die Mitglieder des »Zirkus« vertrauten ihm, und daran hatten auch die persönlichen Probleme des Docs bislang nichts zu ändern vermocht. Sahbu folgte Mèrimèe in den weiten Korridor, der an die Garage anschloss. Sahbu hob den Gegenstand hoch, der Mèrimèe in Todesgefahr gebracht hatte. »Und für so ein Bündel Altpapier riskierst du dein Leben?« Mèrimèe wollte antworten, aber sein Körper forderte den Tribut für den Schindluder, den er mit ihm betrieben hatte. Abermals driftete sein Bewusstsein in unauslotbare Tiefen. Seine Beine knickten ein, und er stürzte. Sahbu konnte Schlimmeres verhindern, indem er sich von dem schweren Buch trennte, dessen Titel er gelesen, aber nicht weiter beachtet hatte. Das Buch mit den vergoldeten, brüchigen Lettern fiel achtlos zu Boden, während Prosper Mèrimèe in Sahbus fangbereite Arme sank... *** Das Gesicht des Docs wirkte so leblos wie das eines toten Fisches. Seine Augen schienen ins Nichts zu starren, seine Hände bewegten sich wie in Zeitlupe, und seine Stimme klang monoton. Trotzdem war er hellwach – für seine Verhältnisse. »Ich denke, das Schlimmste haben Sie überstanden«, leierte er. »Nehmen Sie jede Stunde eine davon.« Er schob Mèrimèe ein kleines Pillenfläschchen über den Tisch zu. »Und wenn Sie keine Luft bekommen, sprühen Sie sich etwas davon in den Mund.« Mèrimèe richtete sich in seinem Bett halb auf und
betrachtete die Sprühdose, die der Doc neben die Tabletten auf den Tisch gestellt hatte. »Danke«, krächzte er. Das Brennen in seiner Lunge hatte nachgelassen, seine Augen tränten immer noch stark, aber er konnte wieder halbwegs klar sehen. »Was würden wir nur ohne Sie tun?« Der Mann mit dem schlohweißen Haar antwortete nicht. Er saß einfach nur da und starrte durch ihn hindurch. »Doc!«, rief Sahbu und schüttelte den Alten. »Doc! Nicht einschlafen!« »Schlafen?«, murmelte der Arzt. Er seufzte. »Ja...« »Nein!« Sahbu versetzte ihm eine Ohrfeige. »Noch nicht! Gibt es sonst noch etwas, was Prosper tun soll? Worauf er achten muss?« Der Doc dachte offensichtlich angestrengt nach. »Viel trinken«, antwortete er schließlich. »Mineralsalz. Und ausruhen. Schlafen.« Sein Blick wurde noch leerer, wenn das überhaupt möglich war. »Lass ihn«, sagte Mèrimèe schwach. Er wandte sich an Lydia. »Bring ihn in sein Zimmer. Ich rufe ihn, wenn ich ihn brauche.« Lydia nickte. Sie nahm den Doc an der Hand und führte ihn aus Mèrimèes Schlafzimmer. Er folgte ihr wie in Trance. »Also«, begann Mèrimèe, nachdem er ein großes Glas Wasser getrunken hatte und sich in sein Bett zurücksinken ließ. »Hast du während der Traumsitzung irgendwas Interessantes erfahren?« »Der Doc sagt, du sollst dich ausruhen«, wehrte Sahbu ab. Er musterte seinen Mentor besorgt. »Schlaf erst, und später... Mèrimèe schnitt ihm mit einer kraftlosen Handbewegung das Wort ab. »Was gibt es Neues?« »Nicht viel«, erwiderte Sahbu widerwillig. »Die üblichen Spannungen zwischen den Gangs. Ich glaube, Mkele plant
einen Überfall auf die Schweden. Aber nichts Großes. Alles im üblichen Rahmen. Und sonst...« »Was?«, drängte Mèrimèe, als sein Gehilfe nicht weiter sprach. Sahbu zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten, aber Almighty scheint eine Frau gefangen zu halten. Eine besondere Frau.« Almighty war der Boss von Ameritown. Ein Bursche mit ausgesuchtem Hang zur Grausamkeit, der das Wort Gewissen wahrscheinlich nicht einmal buchstabieren konnte. »Eine besondere Frau in Almightys Gewalt?«, murmelte Mèrimèe. »Hast du ein Bild von ihr gesehen?« »Mehrere. So wie immer. Je nach dem, in welchen Gedanken ich war. Sie scheint hübsch zu sein. Und die Fedayyin halten sie für wichtig.« »Warum?« Mèrimèe tastete nach dem Wasserglas. Sahbu schenkte ihm aus einer Karaffe nach. »Weil sie angeblich in Verbindung zum Grauen steht. Wie aus dem Nichts. Niemand hat sie vorher gesehen.« Der Graue – so genannt in Ableitung des Begriffes »Graue Eminenz« – war eine extrem spezielle Figur im »Großen Spiel«, als das Mèrimèe das Leben im Getto gern betrachtete. Er besaß auch einen Namen, den aber weder Mèrimèe noch ein anderer Außenstehender je erfahren hatten. Der Graue führte eine Bande, eine Gang, die niemals offen in Erscheinung trat und dennoch die gesamte Zone zu kontrollieren schien – sozusagen an den übrigen Machtgruppierungen vorbei. Wer ihm nicht ins Gehege kam, der blieb unbehelligt von seinen Leuten. Und die verschiedenen ethnischen Gruppen waren in der Vergangenheit klug genug gewesen, nicht die Konfrontation mit ihm zu suchen. Über die genaue Stärke des Grauen, über die Zahl seiner »Soldaten« war nichts bekannt. Aber sie besaßen für Gettoverhältnisse modernste
Hilfsmittel und Waffen – was für sich allein genommen schon Grund genug war, sich nicht mit ihnen anzulegen. »Such mir das Protokoll der Traumsitzung raus, in der du von der Gefangenen erfahren hast.« »Aber ich sollte lieber bei dir bleiben!«, protestierte Sahbu. »Du hast gerade Forkas inhaliert und brauchst jemanden, der auf dich aufpasst.« »Lydia wird sich um mich kümmern«, sagte Mèrimèe mit Nachdruck. »Ich danke dir für deine Fürsorge, Sahbu, aber du hast jetzt eine Aufgabe zu erfüllen.« Einen Moment lang schien es, als wollte Sahbu widersprechen. Dann seufzte er ergeben und drehte sich um. Prosper war der Chef. Wenn er eine Anweisung gab, fügte man sich. So war es immer gewesen, und so würde es bleiben, bis er abtrat und ein anderer seinen Platz einnahm. Und obwohl er oft von diesem Tag träumte, hoffte Sahbu, dass bis dahin noch viel Zeit vergehen würde... *** Kurz nachdem Sahbu gegangen war, kam sie. Mèrimèes Muse. Mèrimèes zärtliche Vertraute. Keine einfache Dienerin, erst recht keine Sklavin. Die Liebe verband ihn mit ihr – eine Liebe, bedingungslos, wie Lebende sie einander gar nicht zu schenken vermochten. Deshalb hatte er sich eine »Tote« dafür erwählt. Eine jedenfalls, die längst hätte tot sein müssen. »Ich habe gehört, was passiert ist«, sagte Lydia. »Von wem?« »Sahbu.« »Manchmal weiß ich nicht, ob er den Anspruch wirklich erfüllen kann, den ich in ihn setze«, murrte Prosper.
»Du tust ihm Unrecht. Er ist voller Sorge.« »Genau das meine ich. Sorge ist kein guter Ratgeber. Eines Tages wird uns sein Temperament in Teufels Küche bringen.« »Hat nicht dein Temperament dich gerade mal wieder in Teufels Küche gebracht?« Mèrimèe lachte leise in sich hinein. Den Schmerz, den auch diese Regung in seinen geschundenen Lungen weckte, ignorierte er nach Kräften. Er betrachtete die Frau, die wie ein Gestalt gewordener Traum aussah. Er hatte sie aus dem Anomaliestrom gerettet, der sein innerstes Refugium umschloss. Sie war irgendwann in den letzten Jahrzehnten in einen Tümpel aus geronnener Zeit in irgendeinem gottverfluchten Winkel des Gettos getreten – und wie ein Blatt vom Wind der Entropie zu Mèrimèe geweht worden. Er schloss die Möglichkeit aus, dass sie aus einem künftigen Getto stammte. Es passte nicht zu dem, woran sie sich erinnerte, und das war wenig genug. Wir sind uns nicht nur darin ähnlich. Auch in seinem Gedächtnis gab es große, blinde Flecken – Lücken, deren Ursache ihm selbst unverständlich war. Er hatte versucht, sich an seinen Werdegang, seine Herkunft, das tückische Schicksal zu erinnern, das ihn hierher verbannt hatte. Doch da war so viel Dunkel, so viel unausgefüllte Leere, dass er inzwischen damit rechnete, die Antworten auf seine persönlichsten Fragen nicht mehr zu erhalten. Vielleicht, überlegte er, kam von diesen Klüften in ihm selbst das zwanghafte Verlangen, so viel Wissen über seine Umwelt anzuhäufen, zu horten und zu katalogisieren, wie ihm nur möglich war unter den beschränkten Bedingungen, unter denen er lebte. »Du solltest nicht so oft mit Sahbu reden«, tadelte er milde. »Er wiegelt dich gegen mich auf.« Nicht dass er dies ernst
meinte. »Niemand könnte mich gegen dich aufbringen.« Er nickte. »Ich weiß. Komm her.« Vom Bett aus streckte er ihr den Arm entgegen. Sie zögerte. Sah, worin er vertieft gewesen war, bevor sie eintrat. »Ist es das?«, fragte sie. »Was?« »Das Buch, für das du dein Leben aufs Spiel gesetzt hast.« »Ja«, sagte er. »Und? War es das wert?« Er musste nicht überlegen. »Ja. O ja, ich denke, das war es.« »Hoffnungslos«, seufzte sie. »Du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall.« Endlich kam sie zu ihm. Sie hatte unglaublich helle, milchig weiße Haut. Ihr schmales Gesicht hatte nur vordergründig etwas Kindliches. Allein schon die Augen widersprachen diesem ersten Eindruck, der sich bei flüchtigem Betrachten einstellen konnte. Solche Augen hatte nur ein Mensch mit Vergangenheit, ein Mensch, der das Leben bis zur Neige ausgekostet hatte. Nein, ein Kind war Lydia ganz gewiss nicht, und es war Mèrimèe bis heute nicht gelungen zu ergründen, wann und wo sie die Erfahrung gesammelt haben sollte, die ihr Blick, ihre Art, spöttisch den Mund zu verziehen oder die Nase zu kräuseln zumindest vorgaukelte. In nicht wenigen Nächten hier in seinem »Palast« war er nachts nach einer langen, kräftezehrenden Vorstellung schweißgebadet aus dem Schlaf geschreckt und war der festen Überzeugung gewesen, sie nie wieder zu sehen, nie wieder zu fühlen – weil sie reine Einbildung, ein bloßes Wunschgebilde war. Aber dieser Albtraum hatte sich bis heute stets als irreal erwiesen.
Doch bis heute war er nicht sicher, dass dies ewig so bleiben würde. Ewig... Ein Wort, das nirgends sonst so dehnbar in seiner Aussage war wie hier im Ground Zero. Sie setzte sich neben ihn und strich sich das Haar, das ihr bis zu den Brüsten fiel, in den Nacken. »Zieh dich aus«, sagte er. »Bitte.« »Aber du bist verletzt. Der Doc sagte...« Er hob den Arm und legte ihr den Zeigefinger auf die vollen Lippen. Daraufhin entkleidete sie sich mit wenigen Handgriffen und schlüpfte zu ihm unter die Decke. Er hatte sie nie anders genommen als jetzt: behutsam und vorsichtig, als sei sie etwas überaus Zerbrechliches. Ihr Gewicht, als sie über ihn glitt, spürte er kaum. Denn sie war noch behutsamer, betrachtete ihn als etwas noch Zerbrechlicheres. Sie ist meine Droge, erkannte Mèrimèe. Besser als jede Traumranke. Und erst recht als Gat. Sie war Genuss ohne Reue. Sie war seine Muse, seine zärtliche Geliebte. Es war keine Kraft, keine Anstrengung nötig, um eins mit ihr zu sein. Wann immer sie miteinander verschmolzen, geschah dies gleichsam spielerisch und schwerelos. Mèrimèe schloss nicht aus, dass Sahbu eifersüchtig auf diese Verbindung war. Sie hatten nie darüber gesprochen und würden es auch künftig nicht tun. »Hör auf damit«, flüsterte sie nah an seinem Ohr. Er fragte nicht, womit er aufhören sollte. Sie hatte gespürt, dass er in Gedanken nicht ganz bei ihr war. Das änderte er. Sie war eine sehr viel bessere Medizin als die, die er vom Doc erhalten hatte.
Verdammter Quacksalber! Mèrimèe hörte auf, sich den Kopf über irgendetwas zu zerbrechen. Und Lydia heilte die Wunden, die kein Arzt überhaupt je bemerkt hätte... *** Schon 24 Stunden später saß Prosper Mèrimèe wieder an seinem hufeisenförmigen Schreibtisch, im exakten Zentrum von Ground Zero des Gettos. Vermutlich war es nicht wirklich genau der Punkt, an dem sich vor über zweihundert Jahren die Basis des ehemaligen Äskulap-Schiffes und späteren Master-Turms befunden hatte, den der Kaiser des neochinesischen Reichs in die Luft gejagt hatte. Aber Mèrimèe hatte dafür gesorgt, dass die Legende für die meisten Bewohner des Gettos zur Realität geworden war. Und das nicht nur, weil es seinem Ruf förderlich war, auf historisch so bedeutsamem Grund zu residieren, sondern weil jeder die Zeitverwerfungen fürchtete, die in einigen Gegenden noch immer sehr gefährlich war. Niemand, der bei Verstand war, würde es wagen, ohne seine oder Sahbus Begleitung hier einzudringen. Was ist schon Wirklichkeit?, dachte Mèrimèe, während seine Finger über die altmodische Tastatur glitten und sich die Darstellungen auf dem Halbkreis der Bildschirme vor ihm veränderten. Eine individuelle Sicht der Welt, die sich ständig wandelt. Abhängig von ihrem Betrachter. Niemand wusste genau, wie viele Menschen im Getto lebten. 50.000... 100.000... eine halbe Million. Es hatte nie eine Volkszählung gegeben – und selbst wenn, bei den Schwankungen wäre sie schon nach einem Jahr wieder
Makulatur gewesen. Vermutlich sank die Bevölkerungszahl trotz der beachtlichen Geburtenrate kontinuierlich. Denn im Getto war der Tod allgegenwärtig. Und das lag nicht nur an den Gewalttätigkeiten, die tagtäglich zig Opfer forderten, sondern an den allgemeinen Lebensumständen. Ein von der Außenwelt nahtlos abgeschotteter Bereich wie der ehemalige Großraum Peking war dazu verdammt, mit seinen spärlichen Ressourcen hauszuhalten. Die Wirtschaft fußte gezwungenermaßen auf einer Art Kannibalismus: Alle vorhandenen Güter wurden so oft wiederverwertet, recycelt und zweckentfremdet, bis sie buchstäblich in ihre Atome und Moleküle zerfielen. Energie, um neue Produkte aus den Ausgangsstoffen zu erzeugen, war Mangelware. Landwirtschaftliche Fläche zur Erzeugung von Nahrungsmitteln war rar und wurde von den verschiedenen Gangs kontrolliert und erbittert verteidigt. Allein in den letzten zehn Jahren hatte es mindestens doppelt so viele Kriege um Felder und Acker gegeben, wie im gesamten Jahrhundert zuvor. Krieg war der Normalzustand im Getto, im Großen wie im Kleinen. Krieg um Land, Krieg um Wasserquellen, um Grundstoffe, Energie, technische Hinterlassenschaften, Arbeitskräfte – einfach um alles, was der Mensch zum Leben benötigte. Vieles war dabei auf der Strecke geblieben – Wissen, Geschichte, Kunst, Kultur. Die Menschen hatten sich auf das konzentriert, was sie zum unmittelbaren Überleben brauchten. Das Erbe ihrer Vorfahren hatten sie vergessen. Und waren deshalb ihrem Untergang geweiht. Die Menschheit des Gettos war auf dem direkten Weg, Jahrtausende zivilisatorischer Errungenschaften innerhalb
weniger Generationen zu verspielen. Prosper Mèrimèe war nicht bereit, sich von diesem Strudel mit in den Untergang reißen zu lassen. Er hustete und nahm schnell zwei Atemzüge aus dem Inhalator, den ihm der Doc gegeben hatte. Angeblich brauchte er sich keine Sorgen mehr wegen des Forkas zu machen, aber er hatte nicht vor, ein unnötiges Risiko einzugehen. Crowleys Angriff war nicht der erste Anschlag auf sein Leben gewesen, den er überlebt hatte. Und er war fest entschlossen, auch die nächsten zu überleben und erst im hohen Alter friedlich im Bett zu sterben. Ein flüchtiges Lächeln glitt über seine Lippen. Was hieß schon hohes Alter? Niemand wusste genau, wie alt er eigentlich war, nicht einmal er selbst. Biologisch wirkte er wie ein rüstiger Fünfzigjähriger. Aber das zu beurteilen, war sehr schwierig, jedenfalls nach objektiven Maßstäben. Denn Mèrimèe war in den Brennpunkten der von Zeitanomalien verseuchten Gebiete aufgewachsen, in denen die Entropie nicht nach den klassischen Gesetzmäßigkeiten verlief. Mit anderen Worten: Er lebte neben der Zeit. Was das für ihn konkret bedeutete, wusste auch er nicht. Er hatte sich sein Refugium in einer Zone eingerichtet, die alle anderen aus gutem Grund nach Möglichkeit mieden. Es sei denn, sie verlangten seine Dienste... Und davon hatte er einige anzubieten. Sahbus Ausbeute der letzten Traumsitzung war dürftig ausgefallen. Keine wesentlichen neuen Informationen. Das meiste war Mèrimèe bereits bekannt. Wie die verschiedenen Gangs und ihre Führer dachten, was sie planten und wo ihre Prioritäten lagen. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, auch der Graue oder einer seiner Leute hätte sich in all den Jahren einmal dazu verleiten lassen, inkognito an einer der
Traumsitzungen teilzunehmen... die keine noch so perfekte Maskerade gelten ließ. Aber das war nicht geschehen. Und allein dies war eines der Rätsel, die Mèrimèe bis zum heutigen Tage nicht hatte lösen können. Interessierte den Grauen nicht, was Mèrimèe im Herzen des Gettos an Unterhaltung betrieb? Oder wusste er längst alles über Mèrimèes Machenschaften und verfügte über ungeahnte Möglichkeiten, ihn auszuspähen, ohne dass er dafür auch nur das geringste Indiz entdecken konnte? Eine durchaus beunruhigende Vorstellung für einen Mann, der sich sonst von beinahe nichts aus der Ruhe bringen ließ... Wie dem auch sei: Es war selbst in Traumsitzungen eine Kunst für sich, die Gedanken mehrerer Menschen auszuspähen, die sich gerade in einem – wenn auch virtuellen – Kampf auf Leben und Tod befanden. Sahbu gelang dies dank seiner sehr speziellen und enorm ausgeprägten Fähigkeiten. So hatte Mèrimèe jüngst von Störenfrieden erfahren, die angeblich von außerhalb gekommen waren. Drei Männer und eine Frau. Sie hatten sich Verfolgungsjagden und Kämpfe mit mehreren Gangs geliefert und waren dann genauso plötzlich, wie sie auf der Bildfläche erschienen waren, wieder verschwunden. Mèrimèe war überzeugt, dass es sich dabei um mehr als nur um haltlose Gerüchte handelte. Die Berichte stammten von unterschiedlichen Quellen, die er von Mittelsmännern und Zuträgern hatte überprüfen lassen. Irgendjemand, der nicht hierher gehörte, war da gewesen, aber dabei konnte es sich nicht um offizielle Vertreter von draußen handeln, wie sie hin und wieder kurz im Getto erschienen. Denn Menschen, die unter der Obhut der Master standen, würden sich von den Gangs nicht wie die Hasen jagen lassen. Bisher war er davon ausgegangen, dass die Fremden entweder einen ihm selbst unbekannten Fluchtweg gefunden hatten oder getötet worden waren. Doch dann hatte Sahbu in
den Gedanken der Fedayyin und Latinos Hinweise auf eine fünfte rätselhafte Person gefunden, auf eine flüchtige Frau. Bildfragmente, die durch die subjektive Sichtweise der Männer nicht ganz einheitlich waren, aber genügend Parallelen aufwiesen, um sich zu einem brauchbaren »Phantombild« zusammenzusetzen. Angaben über Größe, Alter, Gestalt und Aussehen, mit denen sich zumindest ein grober Steckbrief erstellen ließ. Und so kam er einer Toten auf die Spur. Jemandem, der zumindest längst hätte tot sein müssen. Denn kein Mensch von damals erfüllte die Voraussetzungen, die nötig waren, um über zweihundert Erdenjahre alt zu werden. Wirklich nicht...? *** »Das ist absurd!«, sagte Sahbu, mit dem Mèrimèe kurz darauf über seinen Fund im Netzwerk diskutierte. »Du weißt selbst, wie absurd das ist!« Mèrimèe sah ihn wort- und ausdruckslos an. Sahbu ließ es sich eine Zeit lang gefallen, dann schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. »Bei den neunäugigen Würmern von Lago IV – du hältst es wirklich für möglich! Nein, nein, du kannst mich nicht täuschen, ich kenne dich. Wenn du mich so ansiehst, wie du mich gerade ansiehst, dann gebiert dein durchlöchertes Hirn gerade mal wieder die Sorte Gedanken, die keinem gut tun – am allerwenigsten dir selbst!« Nur einer sprach so mit Mèrimèe – und durfte so mit ihm ins Gericht gehen. Es änderte nichts daran, dass Sahbu ihn verehrte. Das wusste er, und er scheute sich nicht, dieses Wissen immer wieder auch ganz egoistisch einzusetzen.
»Es ist nicht nur der Name – ich habe auch Bilder von ihr aus jenen schadhaften Datensätzen herausgefischt, die uns irgendwann in die Hände fielen und die wir unter hohem Aufwand retten konnten. Es ist nicht nur der Name«, wiederholte er, »es ist auch das Gesicht aus deiner Beschreibung, die du, basierend auf der Traumsitzung, angefertigt hast... Ein wenig viel des puren Zufalls, meinst du nicht auch?« »Sie kann es nicht sein«, beharrte Sahbu stur. »Nenn mir außer dem Alter, das offenbar spurlos an ihr vorbeigegangen sein müsste, noch einen anderen Grund.« Sahbu lachte auf. »Dieser Grund genügt – mir zumindest.« »Mir nicht. Du weißt, wie schwer es ist, an Informationen über die Zeit vor der Ankunft heranzukommen. Vor dem Erscheinen der Master und ihrem ›segensreichen‹ Einflussnehmen auf die irdische Kultur.« Sahbu nickte. »All unser Wissen endet an der Grenze, die du auf der Suche nach dieser Frau gerade überschritten hast. Dabei bedienst du dich an Splittern von Wissen, die allesamt aus dem Zusammenhang gerissen sind. Wir... du hast in all den Jahren nicht mehr als einen Zipfel davon erhaschen können, wie die Welt vor den Mastern aussah. Und... sei mir nicht böse... manchmal habe ich den Eindruck, dass du auch der Einzige bist, den das alles noch interessiert. Mich jedenfalls beschäftigt in erster Linie, wie die Welt heute aussieht – und wie wir das Leben in diesem menschenverachtenden Kerker ein klein wenig rosiger gestalten können.« »Ich hatte dich weitsichtiger eingeschätzt.« Sahbu zuckte die Achseln. »Was nützt es, in der Vergangenheit zu schwelgen. Vielleicht war sie das Paradies. Bis sie kamen. Nicht einmal du kannst das bestätigen oder widerlegen.« Da irrst du dich, dachte Mèrimèe enttäuscht. Ein Paradies
war es nicht – aber im Vergleich zu heute hatte das Individuum noch Einfluss und Bedeutung. In diesem Moment wurde ihm klar, dass Sahbu nie der werden würde, den er immer in ihm zu sehen erhofft hatte – einer, der irgendwann einmal seine Vision der Aufhellung der Menschheitsgeschichte jenseits des Jahres null seit Erscheinen der Master fortsetzen würde. »Ich möchte allein sein«, sagte er. »Ich will noch etwas mehr über die Frau recherchieren, deren Name und Gesicht so auffällig mit dem übereinstimmt, was du mir über die Frau in Almightys Gewalt berichtet hast.« »Cuthbert. Sarah Cuthbert...« Sahbu schüttelte den Kopf. »Du willst es glauben und niemand wird dich davon wieder abbringen... bis du die Wahrheit herausgefunden hast.« Was ist schon Wahrheit, dachte Mèrimèe. Er verstand Sahbus Zweifel. Aber irgendwo in seinem Hirn hatte sich auch die fixe Idee festgesetzt, dass tatsächlich ein Zeuge jener Vergangenheit aufgetaucht sein könnte, die von den jetzigen Herrschaftsorganen der Menschheit geradezu akribisch aus dem Gedächtnis und den Geschichtsbüchern getilgt worden war. Und von diesem Augenblick an kannte Prosper Mèrimèe kein anderes Bestreben mehr, als Almighty so rasch wie möglich einen Besuch abzustatten – und ihm gegebenenfalls ein Angebot zu unterbreiten, das dieser nicht abschlagen konnte. *** Prosper Mèrimèe kannte die Quartiere praktisch aller Gangs des Gettos. In den meisten war er schon persönlich gewesen. Auf Einladung seiner Kunden, als Schlichter ihrer Streitigkeiten oder einfach als Besucher, wie es zumindest nach
außen hin den Anschein hatte. In Wirklichkeit aber machte Mèrimèe keine reinen Höflichkeitsbesuche. Wo immer er hinging, sammelte er Informationen. Über Personen, ihre Beziehungen, ihre Möglichkeiten, Ziele und Absichten. Almightys Operationsbasis zählte zu den besonders gut geschützten und ausgestatteten Quartieren der Getto-Banden. Mèrimèe hatte es erst zweimal betreten, denn Almighty war nicht gerade für seine Gastfreundschaft berühmt. Er ließ seine Besucher misstrauisch beobachten und gewährte ihnen nur Zutritt zu den Räumlichkeiten, in denen sich keine großen Geheimnisse verbargen. Kein Uneingeweihter – nicht einmal Mèrimèe – wusste, über welche Möglichkeiten Almighty wirklich verfügte. Der ungekrönte König von Ameritown ließ sich nicht in die Karten schauen, aber dass er zu den mächtigsten und einflussreichsten Bandenführern gehörte, stand außer Frage. Allerdings besaß Mèrimèe eine Art Grundriss des Hauptquartiers und zumindest einen rudimentären Plan über die technische Einrichtung, den er über die Jahre angelegt und aktualisiert hatte. Gute Kontakte zu pflegen, zahlte sich eben aus. Wenn Almighty tatsächlich eine Frau wie Sarah Cuthbert – eine Frau, die irgendwie Jahrhunderte übersprungen hatte – gefangen hielt, kamen eigentlich nur zwei Bereiche in Frage. Sein Verhörraum, ausgestattet mit technischem Gerät, von dem andere Gangs nur träumen konnten, oder sein Verlies, in dem sich eine besonders aktive und stabile Zeitanomalie befand. Mèrimèe tippte auf Letzteres. Sarah Cuthbert schien wertvoll für Almighty zu sein, und das Verlies war das sicherste Gefängnis. Ein Ort, den, ähnlich wie Mèrimèes »Palast«, niemand freiwillig betrat, der sich dort nicht auskannte oder gegen die Zeitwirbel immun war.
Den Zeitpunkt für seinen Besuch hatte Prosper Mèrimèe bewusst gewählt. In zwei Stunden würde sich Almighty mit Mkele an einem neutralen Ort treffen. Mèrimèe hatte vor, noch eine Weile im Hauptquartier des größenwahnsinnigen Bandenführers zu bleiben, nachdem dieser gegangen war. Und seine Chancen standen gut, denn Almighty würde an seiner Ware interessiert sein. Drogen, die Doc Peterson aus außerirdischen und einheimischen Pflanzen synthetisiert hatte. Neben dem Gat und einigen anderen milden Narkotika ein potentes Wahrheitsserum, eine der seltensten und wertvollsten Substanzen im Getto. Bestens geeignet für ein sanftes Verhör an den Mitgliedern »befreundeter« Gangs, weil es quasi als Nebenwirkung die Erinnerung an das Verhör auslöschte. »So werde ich auf meine alten Tage auch noch zum Drogendealer«, knurrte Mèrimèe finster. Er hatte sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Trotz der allgemeinen Gesetzlosigkeit, die im Getto herrschte, gab es Dinge, von denen er normalerweise die Finger ließ – und dazu gehörte der Verkauf von Drogen... Er parkte sein Hovercar hinter der Scheune eines Schmiedes, bei dem er noch einen Gefallen gut hatte, und betrat die baufällige Holzhütte. Der Hausherr war nicht da, dafür erwartete ihn ein junger Mann, der ihm mürrisch und neugierig zugleich entgegensah. Abdul, der hitzköpfige Fedayyin. Mèrimèe nickte ihm knapp zu. »Hast du alles dabei?« »Sicher«, erwiderte Abdul vorsichtig. Er blickte sich schnell um, bevor er ein paar Gegenstände unter seiner Kleidung hervorzog. Einen einfachen Laser, eine kleine Armbrust und mehrere schmale Messer und Dolche, einige aus Metall, andere aus biegsamem Kunststoff, und zwei
Garotten mit hauchdünnen Sehnen, von denen eine aus einer reißfesten Pflanzenfaser bestand, die von keinem Metalldetektor geortet werden konnte. Das Arsenal an Waffen hatte seinen Grund. Natürlich würden Almightys Leute ihre Besucher gründlich durchsuchen und misstrauisch werden, wenn ein Heißsporn wie der junge Fedayyin unbewaffnet erschien. Mèrimèe konnte nur hoffen, dass sie die nichtmetallischen Waffen – oder zumindest einen Teil davon – übersahen. Zwar wollte er auf Gewalttätigkeiten verzichten, aber er musste auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. »Worum geht es?«, fragte Abdul, nachdem er seine Mordwerkzeuge wieder verstaut hatte. »Um einen Besuch bei unserem Freund Almighty«, erklärte Mèrimèe. »Ich habe dort geschäftlich zu tun, und ich benötige einen fähigen Leibwächter und Gehilfen.« »Almighty«, murmelte Abdul, als handelte es sich um ein besonders übles Schimpfwort. Das war kaum verwunderlich, denn Almightys Chargen und die Fedayyin waren nicht gerade gut aufeinander zu sprechen. Von allen verfeindeten Gangs bekriegten sich diese beiden besonders erbittert. Und genau aus diesem Grund würde niemand auf den Gedanken kommen, dass Mèrimèe und sein Begleiter Böses im Schilde führten. Nur ein Wahnsinniger würde sich mit Almighty in dessen Herrschaftsbereich anlegen. »Und was springt dabei für mich raus?«, wollte Abdul wissen. »Was kannst du mir schon bieten, nachdem Sahbu mich nicht mehr auf Traumreise gehen lässt?« Sieh an, dachte Mèrimèe amüsiert. Statt nachzufragen, was genau er für mich tun soll, interessiert er sich in erster Linie für seinen Lohn. Mein Gefühl hat mich nicht im Stich gelassen. Abdul ist mein Mann. Er ist den Traumranken verfallen.
»Sahbu wird seine Entscheidung revidieren«, erwiderte er. »Ich weiß, was geschehen ist und warum er dich ausschließen will. Aber das letzte Wort habe ich. Wenn du den Auftrag zu meiner Befriedigung ausführst, hast du deine Zuverlässigkeit unter Beweis gestellt. Dann kannst du wieder an den Traumsitzungen teilnehmen.« Abduls Miene hellte sich auf, obwohl er sich bemühte, einen finsteren Gesichtsausdruck beizubehalten. Kein Wunder, schließlich war er es seinem Ruf schuldig, die Rolle des harten Burschen zu spielen. »Was soll ich tun?« »Mir den Rücken freihalten. Vielleicht ein kleines Ablenkungsmanöver starten. Und uns, falls es hart auf hart kommt, womit ich nicht rechne, was ich aber auch nicht ausschließen kann, lebendig aus der Höhle des Löwen wieder raus zubringen.« Mèrimèe zögerte einen Moment. Einerseits wollte er nicht zu viel preisgeben, andererseits musste er Abdul zumindest in Grundzügen über das Unternehmen informieren. »Es geht um eine Fremde, die vor kurzem hier aufgetaucht ist und seit einiger Zeit von Almighty festgehalten wird«, erklärte er weiter. »Sie heißt Sarah Cuthbert. Ich muss dringend mit ihr sprechen. Unbeobachtet. Noch besser wäre es, wenn wir ihr die Flucht ermöglichen oder Almighty überreden könnten, sie freizulassen. Da ich Letzteres für ziemlich unwahrscheinlich halte, werde ich versuchen, zu ihr zu gelangen und sie zu befreien, sodass sie allein fliehen kann.« Er zog drei Ausdrucke hervor und breitete sie vor Abdul aus. »Das ist ein Grundriss von Almightys Quartier. Hier wird man uns vermutlich empfangen. Das da ist der Verhörraum, und da unten, dieser Raum hier, ist ein ganz besonderes Gefängnis. Präg dir die Karten genau ein. Ich kann sie aus verständlichen Gründen nicht mitnehmen.« Abdul studierte die Ausdrücke konzentriert, zeichnete die
Gänge und Flure mit einem Finger nach. »Mein Plan ist folgender«, fuhr Mèrimèe fort. »Ich habe ein bestimmtes Wahrheitsserum für Almighty dabei. Um ihm zu demonstrieren, wie gut es wirkt, werden wir einen Versuch vor Ort durchführen, entweder an einem seiner Leute oder an einem seiner Gefangenen.« Er grinste humorlos. »Wahrscheinlich an einem Gefangenen, denn Almighty beherbergt ständig diese Art von ›Gästen‹. Sollte sich die Frau im Verhörtrakt befinden, bekommen wir sie automatisch zu sehen. Dann werde ich versuchen, unauffällig ihre Fesseln zu lösen oder das Schloss ihrer Zelle zu knacken und ihr den sichersten Fluchtweg zu schildern. Befindet sie sich aber unten im Verlies, werde ich mich unter einem Vorwand für ein paar Minuten davonstehlen. Das Verlies wäre besser. Aus Gründen, die ich nicht näher erläutern werde, hätte ich keine großen Probleme, sie dort herauszuholen. Ist so weit alles klar?« Abdul nickte. Seine Augen leuchteten. Vermutlich träumte er bereits von einem blutigen Kampf, aus dem er als glorreicher Sieger hervorgehen würde. »Gut«, sagte Mèrimèe. »Dann schluck das hier.« Er hielt Abdul eine erbsengroße Kapsel hin. »Warum?«, erkundigte sich der junge Fedayyin misstrauisch. »Was ist das?« »Nur keine Angst, ich habe bestimmt nicht vor, dich zu vergiften.« Mèrimèe lächelte. »Das ist ein Gegenmittel für das Wahrheitsserum. Nur für den Fall, dass Almighty die günstige Gelegenheit nutzt, mit Hilfe des Serums herauszufinden, ob ich wirklich nur gekommen bin, um mit ihm Geschäfte zu machen, oder ob ich in Wirklichkeit etwas ganz anderes vorhabe.« Abdul runzelte die Stirn. Dann grinste er, nahm die Kapsel entgegen und schluckte sie herunter. »Du überlässt auch wirklich nichts dem Zufall«, sagte er
anerkennend. »So ist es«, bestätigte Mèrimèe. Er war plötzlich wieder ernst. »Ich bin nicht ohne Grund so alt geworden, und ich habe vor, auch noch etwas älter zu werden.« Abdul grinste breit. Weder er noch Mèrimèe selbst ahnten, wie schnell ihre Pläne hinfällig werden konnten, und zwar aus einem einzigen Grund. Es lag ganz allein an Mèrimèe, dass er nicht auch diese Eventualität wenigstens in Betracht zog. Und zwei Stunden später, in Almightys Domizil, war es dafür bereits zu spät... 4. Es hatte Tage gedauert, bis Almighty tatsächlich begriff, was für ein unglaublicher Fang, was für ein Geschenk des Himmels ihm da ins Netz gegangen war. Seither schmiedete er Herrschaftsplane – zumindest auf den begrenzten Raum der Zone bezogen. Der Graue war ihm seit langem ein Dorn im Auge, und er hatte schon lange alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mehr über diese geheime Macht im Getto in Erfahrung zu bringen. Sie war real – daran zumindest gab es für den Paten von Ameritown seit langem nicht mehr den geringsten Zweifel. Dennoch war es ihm bislang nicht möglich gewesen, ausreichend Fakten über den Grauen und die verschworene Gemeinschaft seiner heimlichen Armee zu sammeln, um auch nur herauszufinden, von wo aus dieser operierte. Anfänglich hatte er sogar in Betracht gezogen, bei der Organisation des Grauen handele es sich um keinen Geringeren als die »Macht vor Ort«, die die Master installiert hatten, um auch in der Zone ein Mindestmaß an Kontrolle zu behalten. Nach dem, was Zoe nun aus Sarah Cuthbert herausgekitzelt
hatte, durfte dies ausgeschlossen werden. Denn: Die Frau, die in die geborgene Anomalie gelaufen war – und so auf Umwegen in Almightys Arme – wusste Dinge über den Grauen, die kein anderer Bewohner des Gettos auch nur ahnte. Und nun wusste es auch Almighty, und er war fest entschlossen, Kapital daraus zu schlagen! Die Zukunft sah golden aus. Seine Zukunft. »Shen Sadako«, murmelte er selbstvergessen – als es an die Tür klopfte. Sekunden später betrat Zoe das »Allerheiligste« des Mannes, der sich nie mit den engen, festgesteckten Grenzen seines Territoriums zufrieden geben wollte. »Endlich«, begrüßte er die Frau, mit der er Bett und Träume teilte. »Hast du es endlich?« Schon an Zoes Körpersprache war abzulesen, dass sie ihn wieder enttäuschen würde, und tatsächlich sagte sie: »Es ist schwieriger als erwartet. Das Problem ist, dass sie erst wenige Tage, bevor sie Will über den Weg lief, überhaupt in unserer Zeit wach wurde. Dementsprechend gering sind ihre Kenntnisse über das Getto – wobei gering noch untertrieben ist: Sie sind faktisch nicht vorhanden.« Almighty ballte die Fäuste so fest zusammen, dass es in den Knöcheln knackte. Selbst Zoe war nicht völlig sicher vor seinem Zorn, wenn sie unablässig nur Negativnachrichten überbrachte. »Was kann daran so schwierig sein, die Basis des Grauen zu lokalisieren? Sie war dort. Sie weiß, wie das Gebäude aussieht und kann es beschreiben. Selbst wenn sie sich in den Straßen nicht auskennt – was ich durchaus glaube – , muss sich anhand ihrer Schilderung feststellen lassen, wo Sadakos Unterschlupf liegt!« Er stemmte sich aus seinem Sessel. Der Raum war voller
Spiegel, in denen sich Almighty selbst betrachten konnte – was er auch gerne und ausgiebig tat. Selbstverliebtheit umschrieb diese Neigung nur unvollkommen. Selbst in Zoes Gegenwart, die einen weitaus attraktiveren Anblick abgab – zumindest aus Männersicht – als er, konnte er sich von diesen Reflexen nicht lossagen. Sein massiger Körper glänzte nicht nur wie eingeölt, er war es. Und das Aroma der Substanz füllte den Raum mit einem aufreizenden Moschusduft. Zoe widerstand dem aber mühelos. Auch sie war angespannt, regelrecht angefressen – nicht zuletzt aufgrund von Almightys Verhalten. »Dann prügele es doch aus ihr heraus!«, stieß sie hervor. »Verdammt, wir gehen ja schon Bereich für Bereich mit ihr durch. Aber das braucht Zeit. Die Beschreibung des Baus, in dem sich Sadako mit seinen Leuten verkriecht, ist so beliebig, dass es überall sein könnte – in jedem verfluchten Viertel. Nichts Charakteristisches, gar nichts! Und die Tussi ist offenbar so ziellos durch die Straßen getorkelt – und das stundenlang –, dass wir den Radius extrem weit stecken müssen, obwohl wir wissen, wo sie Will schließlich über den Weg gelaufen ist.« »Schon gut.« »Nichts ist gut! Ich mag es nicht, wie du mit mir redest.« Sie funkelte ihn an. Normalerweise mochte er dieses Glitzern in ihren Augen. Normalerweise erregte es ihn sogar. Hier und jetzt aber überwog die Ungeduld. Seine Träume waren schon zu weit gediehen, als dass er die Füße noch länger ruhig halten konnte. Von Sarah Cuthbert hatten sie die ungefähre Personenstärke von Sadakos Organisation erfahren. Almighty traute sich zu, den Unterschlupf – wenn er erst einmal gefunden war – in einem einzigen Angriff mit der
geballten Macht seiner Leute zu überrennen. Und dann... Dann würden ihm mit einem Schlag all die Mittel zur Verfügung stehen, von denen Sarah Cuthbert auch gesprochen hatte: Fahrzeuge, Waffen... weit moderner, weit effektiver als alles, was sonst bei den verschiedenen Banden der Zone verfügbar war. »Vielleicht sollte ich einfach mal mit ihr reden«, knurrte er. »Vielleicht versteht sie meine Sprache besser als deine. Ich werde ihrem Gedächtnis schon auf die Sprünge helfen – auf meine Art.« Zoe, die »seine Art« kannte, blitzte ihn nur noch herausfordernder an. »Nur zu. Du...« Neuerliches Türklopfen unterbrach sie. Einer aus dem Heer seiner Getreuen streckte den Kopf in den Raum und meldete: »Besuch. Besuch, der sich nicht abwimmeln lässt. Er besteht darauf, vorgelassen zu werden. Ich weiß nicht...« »Wer?«, unterbrach ihn Almighty, ohne ihn anzusehen. Sein Blick ruhte immer noch auf Zoe, von der er auch unter der martialischen Lederkluft jeden Quadratzoll kannte. »Prosper Mèrimèe und ein gewisser Abdul...« Almighty und Zoe blickten einander zunächst nur ungläubig an. Im nächsten Augenblick aber löste sich ihre Verblüffung in einem schallenden Gelächter auf. Ein Lachen, das nichts Gutes verhieß – für den Besucher... *** Sie waren einander noch nicht oft über den Weg gelaufen. Und in dem Moment, da er vor ihn trat, wünschte sich Mèrimèe, er hätte auf Sahbus Zweifel gehört und nicht der eigenen Sehnsucht nach einem Hirngespinst nachgegeben einer Zeitzeugin aus der Prä-Master-Ära. Realistisch betrachtet jagte
er einer Illusion nach. Realistisch betrachtet war es naiv, um nicht zu sagen der pure Irrwitz, sich einzubilden, diesen Mann übertölpeln zu können. Lass es!, riet ihm dementsprechend eine innere Stimme, während seine Beine ihn noch näher an die thronartige Konstruktion herantrugen, auf der Almighty ihn erwartete. Wie ein König, als der er sich auch zweifellos fühlte. Du kannst immer noch einen Rückzieher machen. Du und Abdul, ihr werdet genauso unbehelligt wieder abziehen können, wie ihr empfangen wurdet – wenn du kein Narr bist. Mach ihm Geschenke, schmiere ihm Honig um den Bart, lade ihn zu einer ganz besonderen Vorstellung ein... ganz egal, was: Nur fang nicht an, über ein lebendes Fossil namens Sarah Cuthbert mit ihm zu sprechen. Und bilde dir nicht ein, ihn reinlegen zu können. Pfeif Abdul zurück, bevor er Dinge tut, die nicht wieder rückgängig zu machen sind. MACH SCHON! Aber wann hatte er je auf seine innere Stimme gehört? »Was führt dich zu mir, Zirkusmann?«, begrüßte ihn der Hüne. Zu seiner Linken räkelte sich eine Gestalt auf einem Tierfell, von der sich Mèrimèe nicht zum ersten Mal fragte, ob sie nicht sehr viel mehr als ein attraktives Anhängsel des Bandenführers war. Zoe trug den gewohnt überheblichen Ausdruck zur Schau, solange sie in Mèrimèes und Abduls Richtung schaute. Kaum aber wandte sich ihr Gesicht in Almightys Richtung, wurde die Miene unterwürfig und zuckersüß, getragen von sexuellen Versprechungen, denen kein Mann widerstehen konnte. Zumindest keiner, der keine Muse besaß wie Mèrimèe. Er selbst empfand Zoe als weniger attraktiv denn billig und abstoßend. Primitiv war vielleicht die passende Umschreibung für sie. Roh und primitiv – aber zweifellos waren diese Attribute in einem ziemlich aufreizenden Körper verpackt.
Mèrimèe ignorierte seine Zweifel endgültig und begab sich auf das dünnste Eis, über das er je gegangen war. »Ein Geschäft«, hörte er sich sagen. »Ich dachte, du wärst die richtige Adresse, um es zuerst anzubieten – falls alles so läuft, wie ich es mir vorstelle, kannst du auch der Einzige sein, dem ich es unterbreite. Almighty winkte ihn näher zu sich – nur ihn. Abdul wurde mit einem einzigen Blick auf die Stelle gebannt, wo er gerade stand. Und fast schien es, als wäre er darüber erleichtert. Mèrimèe spürte eine ungute Vorahnung, wollte es aber nicht wahrhaben. »Hast du dir das auch gut überlegt?« Er blinzelte irritiert. Nicht Almighty hatte die Frage gestellt, sondern die raubkatzenartige Zoe. Die plötzlich stand, nicht länger lag, und die sich gegen einen von Almightys muskelprotzenden Oberschenkeln schmiegte. »Ich fürchte, ich verstehe nicht...«, begann Prosper. »Was sie sagen will«, übernahm Almighty die Erklärung, wobei er ungeniert auf Zoes in Leder gezwängte Brüste starrte statt zu Mèrimèe zu blicken, »ist, du hättest es dir besser überlegen sollen. Ich fürchte, es war eine deiner schlechteren Ideen, ausgerechnet zu dem zu kommen, dem du vor nicht allzu langer Zeit gerade erst entkommen bist – mit mehr Glück als Verstand.« Mèrimèe hörte Abdul fluchen. Und dann half ihm Almighty endgültig auf die Sprünge. »Hast du das Ding dabei, mit dem du Crowley umgelegt hast?« Okay, begriff Mèrimèe. Almighty steckt dahinter. Obwohl er nicht wusste, wie viele Waffen inzwischen auf ihn gerichtet waren, war er entschlossen, das Äußerste zu riskieren und sogar Abdul zu opfern, indem er den EMPSchocker aus der Nackenhalterung zog, auslöste und... Seine Hand war noch nicht in Höhe seiner Schultern, als ihn
auch schon ein Hieb auf den Hinterkopf traf. Sein Bewusstsein erlosch wie ausgeknipst – so als hätte der beabsichtigte EMP-Schlag ihn selbst getroffen. *** »Du bist zäher als ich dachte«, fand eine Stimme. Das Erwachen war ähnlich qualvoll wie nach dem ForkasAnschlag. Nur dröhnte ihm diesmal der Schädel, während seine Lungen keinen neuerlichen Schaden genommen hatten. Mèrimèes Bewusstsein kämpfte sich durch einen Strudel aus Schmerzen an die Oberfläche. Seine Augen weigerten sich im ersten Moment, ihm zu gehorchen und die Lider zu heben. Schließlich aber sah er sich doch mit Realitäten konfrontiert, die er gerne weiter verdrängt hätte. »Wo... bin ich? Wo ist... Abdul?« »Er war so nett, ein wenig mit uns zu plaudern, während du ausgeschlafen hast«, sagte Zoe herablassend. Ihre Mundwinkel hingen wie an unsichtbaren Gewichten nach unten, und eine Kälte, wie Mèrimèe sie nicht einmal von dem Eisigen Jungen her kannte, lag wie ein Schatten über ihrem abgründigen Gesicht. »Weshalb wir auch wissen, mit welcher Absicht du gekommen bist«, ergänzte Almighty. »Mit welcher wirklichen Absicht.« Mèrimèe begriff endgültig, dass sein Vorhaben schon im Ansatz gescheitert war. »Ein Deal«, behauptete er so kaltschnäuzig, wie er nur konnte. Er richtete sich mühsam auf und stützte sich mit den Ellbogen auf den Boden des Raumes, in den er gebracht worden war. Eine Art Folterstube, so viel erkannte Mèrimèe auf den ersten Blick. Auf Tischen verteilt lagen allerhand Instrumente
und Apparaturen, mit denen er ungern nähere Bekanntschaft gemacht hätte. Allerdings sah es nicht so aus, als ließe sich dies noch vermeiden. »Bislang dachte ich, dir vertrauen zu können«, fügte er hinzu. Obwohl er längst wusste, dass es sinnlos war, weiter den Unwissenden zu mimen. Almighty dachte nicht daran, ihn jemals wieder gehen zu lassen. »Bei manchen Fehlern erhält man nicht mehr die Chance, sie das nächste Mal nicht mehr zu begehen«, sagte Almighty in einem solch sanften Tonfall, dass Mèrimèe sich beinahe wünschte, er hätte lieber gebrüllt. »Weil es kein nächstes Mal gibt.« Mèrimèe resignierte. Wenn jemand gelernt hatte, die Gesetze des Gettos – fressen und gefressen werden – zu akzeptieren, dann er. »Warum?«, fragte er. »Weil«, sagte Zoe wie die zweite Stimme des Hünen kichernd, »wir schon lange wissen, was es mit den Traumranken wirklich auf sich hat – wie man sie außer zum Zeitvertreib noch nutzen kann.« Mèrimèes Züge entgleisten. Er hatte mit vielem gerechnet, damit nicht. »Und weil wir uns vorstellen können, wie man diese Eigenschaft noch wesentlich sinnvoller und nutzbringender einsetzen kann, als du es praktiziert hast«, fügte Almighty hinzu. »Dazu gehört aber, dass wir die absolute Kontrolle darüber erlangen – und jemanden haben, der sie künftig für uns einsetzt.« Sahbu, dachte Mèrimèe. Die Vorstellung, dass sich sein engster Vertrauter von Almighty hatte abwerben lassen, verursachte ihm Brechreiz,
sodass Zoes Worte ihn fast erlösten. »Wir kennen auch Sahbus Rolle. Er hat es uns selbst verraten, als wir ihn vor Wochen abpassten und einer kleinen Gehirnwäsche unterzogen – von der er hinterher nichts mehr wusste. Danach stand für uns fest, dass du der Verzichtbarere von euch beiden bist. Sahbu wird nach deinem Tod sicher froh sein, einen mächtigen Partner zu gewinnen, der ihm den Rücken frei hält. Als Gegenleistung darf er künftig Almighty mit all den Informationen versorgen, in deren Genuss bislang nur du gekommen bist. Außer ihm natürlich... Hältst du das für realistisch?« Verdammt, ja!, dachte Mèrimèe – und konnte Sahbu dafür nicht einmal verachten. Gleichzeitig dachte er an all die anderen, für die er sich immer verantwortlich gefühlt hatte, und an die harten Zeiten, die in Almightys Schatten auf sie warteten. »Ich bin im Weg.« Er nickte. »Kapiert.« Er suchte nach Anzeichen von Furcht oder gar Panik in sich. Aber da war nur stoischer Gleichmut. Was er sich nur so erklären konnte, dass eine Begegnung, eine Situation wie diese längst überfällig war. Er hatte sein Glück zu oft strapaziert, und nun, da die Strähne ihr Ende gefunden hatte, fand etwas in ihm dies als gerecht. Absurd. Er versuchte, sich aufzubäumen, seinen Willen gegen das drohende Schicksal zu aktivieren. Eine Tür ging auf, eine Frau wurde hereingeführt. »Das ist sie«, sagte Zoe überflüssigerweise. Er hatte sie sofort erkannt. Sarah. Sarah Cuthbert. »Was wolltest du von ihr?«, fragte Almighty. »Was hast du dir von ihr erhofft? Kennst du ihre Verbindung zum Grauen?«
Ihre Verbindung zum Grauen? »Der Graue ist eine Legende...«, sagte Prosper. Die Frau blieb zwischen zwei Angehörigen von Almightys Gang stehen. Sie sah völlig erschöpft aus, und ihre Augen ließen den Verdacht aufkommen, dass sie gar nicht richtig mitbekam, was geschah. »Sie könnte dir darüber etwas anderes erzählen«, spottete Zoe. Sie hielt plötzlich den Stab in der Hand, dessen Ende in einer kleinen, facettenartig abgesetzten Kugel endete. »Ein hübsches Spielzeug hattest du da bei dir. Was passiert, wenn ich hier drauf drücke?« Sie hielt Mèrimèe den EMP-Schocker entgegen und zeigte auf den Auslöser. »Dann sind wir alle tot«, sagte er. »Hast du damit Crowley umgebracht?« Er zuckte die Achseln. »Ich musste mich verteidigen.« Zoe kicherte wieder. »Wie zielt man damit?« »Man kann nicht damit zielen.« Er sah keinen Grund, ihr die Funktionsweise des Stabes vorzuenthalten. Ihm selbst würde er nichts mehr nützen, so oder so nicht. »Und warum bist du dann nicht auch umgefallen?«, fragte sie, als er fertig war. Auch das erklärte er ihr. Woraufhin sie ganz nahe zu ihm trat, um nach dem hauchdünnen Geflecht zu suchen, von dem er behauptet hatte, es überziehe seinen kompletten Schädel. Er spürte ihren Atem auf seinem Gesicht, als sie sich vorbeugte. »Man kann es nicht sehen«, sagte er. »Es steckt unter der Haut. Der Ohrstecker ist das Steuermodul.« »Unter der Haut«, echote sie – und hatte plötzlich eine Klinge in der Hand, die nicht den Schocker umfasste. »Das will ich sehen.« Das war der Moment, in dem das Entsetzen doch nach Mèrimèe griff. Und der Moment, in dem die Decke des Raumes mit
ohrenbetäubendem Krachen einstürzte – und den völlig erstarrten Almighty erschlug! *** Mèrimèe sah den großen schwarzen Mann sterben. Und handelte noch in den ersten Sekunden der Katastrophe, die ja auch ihn bedrohte. Neben ihm stand Almightys hochgefährliche Partnerin. Zoe galt im Getto als Inbegriff eines durchtriebenen, zu jeder Heimtücke fähigen Charakters. Und als jemand, der sich trotz der zierlichen Erscheinung auch zu wehren wusste. In diesen Sekunden aber war sie abgelenkt wie jeder im Raum, Mèrimèe eingeschlossen. Nur dass seine Lage schon vorher aussichtslos gewesen war – was ihm nun den entscheidenden Vorsprung beim Umschalten verschaffte. Ein kurzer Druck am Ohrläppchen aktivierte das neurale Netz – noch in derselben Bewegung packte er den EMP-Stab in Zoes Hand. Zeit, sich mit der Justierung auseinander zu setzen, blieb ihm nicht. So konnte er nur hoffen, dass niemand daran gedreht und sie verändert hatte. Es gelang ihm nicht, der Frau den Schocker zu entwinden, da sie in diesem Moment im aufwölkenden Staub immer weiterer herabstürzender Brocken aus ihrer Starre erwachte und Widerstand leistete. Aber das war auch nicht nötig. Mèrimèe musste nur den Auslöser berühren. Das Nächste war ein Blitz, der durch das Albtraumszenario zuckte. Ein Licht, das Hirne verbrannte! Zoes Hand gab den Stab frei. Ihr Körper kippte um, genau wie die beiden Männer, die Sarah Cuthbert hereingeführt hatten und Zoe zu Hilfe eilen wollten.
Mèrimèe nahm sich nicht die Zeit, all dies zu verarbeiten. Blind rannte er in die Richtung, in der sich hinter Schleiern aus Staub der Ausgang befinden musste. Und sie... Sarah Cuthbert. Die uralte jung gebliebene Frau. Das lebende Fossil, das eine Saite in Mèrimèe zum Schwingen brachte, die ihn selbst ratlos zurückließ. Bei aller Vorliebe für Historie. Bei allem Faible für Vergangenes. Bei aller Sehnsucht nach einer Mehrung seines Wissens... Da! Sie stand immer noch da wie zur Statue geworden. Mèrimèe hielt nicht einen Moment lang inne, packte sie am Arm und zerrte sie mit sich hinaus. Dabei dankte er dem, über den er die Nacht davor stundenlang in seinem schwer erkämpften letzten Bücherschatz gelesen hatte. Er dankte ihm, dass sie noch lebte und sich außerhalb des EMP-Radius befunden hatte... *** Überall in Almightys Palast herrschte Chaos, überall rannten Menschen ziel- und sinnlos durcheinander, suchten ihr Heil in der Flucht. Niemand scherte sich um den Mann und die Frau, die in dem Tumult nicht sonderlich auffielen. Als sie ins Freie traten, entdeckten sie die Ursache des Lärms, des Bombardements, der nach wie vor um sich greifenden Zerstörungen. Der Himmel über dem Getto schien zu kochen. Teerig schwarz brodelten Wolken über der Stadt. Der Himmel schien tiefer als jemals zuvor zu hängen, aber das mochte an dem überall aufsteigenden Rauch liegen. Und an den Balken aus
hochverdichteter Laserenergie, die Luftmassen umwühlte und so einen Mahlstrom aus Blitz und Donner erschuf. Es war ein Gemälde des Grauens. Sarah erinnerte sich an einen Maler, der damals, in dem Leben, das sie vor diesem Albtraum geführt hatte, als der Meister apokalyptischer Malerei gegolten hatte. Hieronymus Bosch... Sie erinnerte sich schwach an die Szenarien, die er entworfen und die sie in einer New Yorker Ausstellung betrachtet hatte – mit einem Frösteln auf der Haut, einem Frösteln an einem warmen Sommertag und umgeben von einem Heer von Menschen... Jetzt wurde dieses Frösteln, dieser Schauder von einst, zu einer Gänsehaut, die den ganzen Körper zu überziehen schien. Denn in diesem Augenblick – wahrscheinlich gleichzeitig mit dem Mann an ihrer Seite – begriff sie, was hier geschah. Das Getto, die Stadt der Rechtlosen und Ausgesonderten, die sich hier unter schwierigsten Bedingungen eine ganz eigene Gesellschaft und Ordnung aufgebaut hatten... Diese Stadt wurde angegriffen! Nicht nur an einer Stelle, sondern an einem Dutzend, an hundert Stellen gleichzeitig! Ein Ring von Kampfgleitern näherte sich von allen Seiten her den Stadtgrenzen. Und während sich die Schlinge enger und enger zusammenzog, feuerten die fliegenden Panzer aus allen Geschützen und übergossen Straßen, Häuser und Menschen mit sonnenheißer Glut. Böen schüttelten das Hovercar, das einen Schlingerkurs durch die Straßen fuhr. Die Manöver, mit denen Mèrimèe anderen Vehikeln, Menschen oder Gebäudetrümmern auswich, waren ebenso waghalsig wie zahllos. Im Gegensatz zu jetzt war das Getto früher fast von Friedhofsruhe gelähmt gewesen. Mèrimèe hatte kaum Zweifel daran, dass im Augenblick so gut wie alles auf
den Beinen war, was noch Beine hatte. Er musste das Hovercar bis an seine Leistungsgrenze beanspruchen, um überhaupt noch eine Chance zu haben voranzukommen. Glitt es normalerweise wenige Zentimeter über dem Erdboden dahin, so maß das Polster momentan fast zwei Meter. Immer wieder sauste er haarscharf über die Köpfe von panisch herumstolpernden Bewohnern hinweg. »Was ist das?«, keuchte Mèrimèe, als er sich einen flüchtigen Blick auf die Frau im Beifahrersitz gestattete. Sie hielt einen Fetzen Papier in der Hand, der ihm vorher nicht aufgefallen war. Sarah Cuthbert stand unter Schock. Das alles war zu viel für sie. Mèrimèe wusste nichts über die Details der Behandlung, die Almighty und Zoe dieser Frau hatten angedeihen lassen. Aber er ahnte, dass dabei mehr als intensiver Zuspruch, mehr als verbale Überredungskunst im Spiel gewesen war. Irgendwie schien Almighty tatsächlich überzeugt gewesen zu sein, Cuthbert habe etwas mit dem Grauen zu tun, dem Phantom des Gettos. Unerwartet bestätigte sie dies in diesem Moment. Sie schien wacher zu sein, als es ihr lädiertes Äußeres und ihr leerer Blick vermuten ließen. »Die Koordinaten«, sagte sie. Die Karosserie des Hovercars war schallgedämmt, anderenfalls hätte Mèrimèe die leisen Worte nicht verstehen können. Wovon, zur Hölle, spricht sie? Aber er hatte anderes im Sinn, als sie danach zu fragen. Zumal sie, einmal begonnen, nicht mehr aufhören wollte zu reden. »Wohin fahren wir? Wer sind Sie? Was geschieht hier? Wer sind die Angreifer? Gibt es rivalisierende...« »Später!« Mèrimèe schnitt ihr mit diesem Zuruf und einer brüsken Geste das Wort ab. Gleichzeitig langte er nach dem
Mikro, riss es vom Haken und aktivierte den Funk. »Prosper an Sahbu! Sahbu, kannst du mich hören? Prosper an...« »Beim Scheitan, endlich!«, krächzte eine Stimme aus dem Empfang. »Ich dachte schon...« »Wie ist die Lage bei dir, Sahbu?« »Es gab Einschläge, Treffer, aber niemand wurde verletzt. Noch nicht, jedenfalls. Was und wer steckt hinter diesem Wahnsinn, Meister? Sag mir nicht, dass es etwas mit deinem Ausflug zu tun hat. Sag mir nicht, dass du diesmal noch leichtsinniger und fahrlässiger warst und nicht nur dein Leben aufs Spiel gesetzt hast, sondern...« »Sei kein Narr, Sahbu!«, unterbrach ihn Mèrimèe. »Das hier ist kein Scharmützel unter Bewohnern. Wir werden angegriffen. Das ganze Getto wird unter Feuer genommen! Die Master...« Er hörte auf zu sprechen, als er begriff, dass die Verbindung tot war. Im günstigsten Fall bedeutete dies »nur« einen Treffer in die Antennenanlage des Zirkus. Im ungünstigsten... Aschfahl wandte er sich an Sarah Cuthbert. »Kann es sein, dass unsere Begegnung unter keinem günstigen Stern steht?« Sie erwiderte das gequälte Lächeln, und schon das allein machte sie ihm sympathisch. Mit Vollschub rasten sie dem Ort entgegen, der für Prosper Mèrimèe mehr war als ein Zuhause. Indessen schwoll der Zerstörungslärm noch an, und die ersten schweren Schwebepanzer erreichten das Zentrumsgebiet der Zone – fast zeitgleich mit Mèrimèes Eintreffen im Zirkus. *** Im Laufe der nächsten halben Stunde wurde auch Sarah Cuthbert klar, was da draußen geschah.
Shen ist gescheitert, dachte sie. Es kann nur bedeuten, dass Shen gescheitert ist – und dass das Getto nun den vollen Zorn der Master zu spüren bekommt. Sie wollen es dem Erdboden gleich machen! Sie behielt ihre Gedanken für sich – zumindest Shen Sadako betreffend. Mit ihrer Prognose für die Zone jedoch hielt sie nicht hinter dem Berg. »Wir kennen uns nicht gut genug, als dass Sie mir vertrauen müssten«, wandte sie sich an den Mann, von dem sie inzwischen wenigstens den Namen kannte. Umringt von den skurrilsten Gestalten, die sie in ihrem ganzen Leben gesehen hatte, diskutierte Prosper Mèrimèe mit dem um einiges jüngeren Sahbu, mit dem er schon von unterwegs Verbindung aufgenommen hatte. »Aber auch Sie sollten begriffen haben, dass da draußen der Weltuntergang stattfindet«, fuhr sie fort. »Zumindest ein lokaler Weltuntergang, der keinen Gettobewohner verschonen wird.« Mèrimèe hielt in seiner hitzigen Debatte mit Sahbu inne. Er und Sahbu starrten sie an, als überlegten sie, was ausgerechnet sie ihnen an Auswegen aus dieser Katastrophe anbieten könnte. Sarah hielt ihnen den Zettel entgegen, der Prosper bereits im Hovercar aufgefallen war. Kurz bevor sie in den Raum mit Almighty, Zoe und Mèrimèe geführt worden war, hatte sie es tatsächlich geschafft, anhand der von der Bande zur Verfügung gestellten Hilfsmittel die Koordinaten des Omikron-HQ zu fixieren. »Es gibt nur noch eine Möglichkeit, der Vernichtung zu entgehen«, erklärte sie. »Wenn wir schnell sind. Wenn wir die letzte Frist nicht mit fruchtlosen Disputen verplempern.« »Ach?«, krächzte Mèrimèe. In seinen Augen irrlichterte Unglaube neben einem Fünkchen Hoffnung, das ihm selbst suspekt zu sein schien. »Und wie, wenn ich fragen darf?«
Sie machte eine Geste, die all die Gestalten einschloss, die plötzlich nur zu ihr herüberzustarren schienen, und erwiderte so ruhig es ihr nur möglich war: »Ganz einfach. Ich habe die Fahrzeuge gesehen, als wir ankamen. Eine riesige Garage voller Fahrzeuge. Mit ihnen können wir vielleicht wenigstens uns retten. Wir müssen hier verschwinden!« *** Wir schaffen es nicht!, dachte Prosper Mèrimèe, während sich eine beispiellose Fahrzeugkolonne durch das Getto wand und dem ständigen Beschuss der Schwebepanzer ausgesetzt war. Wir schaffen es niemals! Sie kreuzten die Wege unzähliger Verzweifelter. Die wenigsten besaßen eigene Fahrzeuge, aber alle strebten dem Gettorand entgegen. Sie liefen lieber in den tödlichen Wald hinein, als in ihren Häusern und Kellern zu bleiben, wo nur der Tod auf sie wartete. Und ob das Ende im Wald leidvoller vonstatten gehen würde als das, was die Zerstörer an Verderben über der Zone ausschütteten, war für die meisten zumindest fraglich. Sie klammerten sich an den letzten Strohhalm. Wie Mèrimèe und sein Ensemble... Sie strebten dem Ort entgegen, den zu finden Almighty – und viele andere Führer im Getto – beinahe alles zu opfern bereit gewesen wären. Nun wurden sie erobert, nein, schlimmer: Was sich vor Mèrimèes Augen abspielte, war kein Feldzug, keine wie auch immer geartete Strafaktion der Master... Es war ein Schlachten. Ein Vernichten. Ein Ausrotten! Sie haben sich entschieden, die Enklave, die sie selbst seit langer Zeit mit »Insassen« fütterten, nicht länger zu dulden. »Was erwartet uns im Unterschlupf des Grauen?«, wandte er sich an die Frau, die neben ihm kauerte.
Hinter ihm saßen Sahbu und Lydia. Das Fahrzeug war ein anderes als das, mit dem sie aus Almightys Palast geflohen waren. Es handelte sich um eine Art riesigen Truck. Die Ladefläche war nicht nur mit anomalie- oder anderweitig geschädigten Menschen gefüllt, sondern auch mit allem, was Mèrimèe in der Eile aus seiner Bibliothek hatte bergen können. Ihm folgten ein Dutzend anderer, kleinerer Fahrzeuge, ebenfalls mit Angehörigen des Zirkus besetzt. »Ein Tunnelsystem«, antworte Sarah. »Der einzige wirklich Erfolg versprechende Weg nach draußen. Unter dem Wald hindurch.« Nach draußen... Wo auch immer das war. Was auch immer sie dort erwartete. Mèrimèe war nicht bereit, jetzt darüber nachzudenken. Wie durch ein Wunder erreichten sie wenig später tatsächlich die Koordinaten, die auf Sarah Cuthberts Karte markiert waren. Das Gebäude war noch völlig heil. Doch als sie ihre Fahrzeuge verließen und unter Cuthberts Führung ins Innere stürmten – erwartete sie dort jemand, der allen Hoffnungen ein Ende setzte. Mèrimèe beobachtete, wie der Anblick des Mannes speziell die Frau schockte, die sie hierher gelotst hatte. Sie brach regelrecht zusammen. *** Draußen tobte der Albtraum. Aber er war nicht schlimmer als der, der Sarah im Innern des Gebäudes erwartete. Wie kann er mich erwartet haben? Wie konnte er wissen, dass ich hierher unterwegs bin? Wahrscheinlich traf beides
nicht zu. Wahrscheinlich hielt er sich der Bedeutung dieses Ortes wegen hier auf – was aber nicht die Kleidung, die Waffen, die kleine Armee von Gefolgsleuten erklärte, mit denen er gewappnet war... »Sie!«, keuchte Sarah. Sie zitterte, schaffte es aber, nicht völlig die Kontrolle über sich zu verlieren. Sie verstand es nicht, aber er war da. Was für eine Ironie, den Mann, für dessen Ergreifung sie alles getan hätte, ausgerechnet in einem Moment zu finden, in dem sie keinen einzigen Gedanken mehr an ihn verschwendet hatte. Reuben Cronenberg, der Verräter! Er löste sich aus der Phalanx seiner Soldaten und kam gemessenen Schrittes auf die ehemalige Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika zu. Er erweckte den Eindruck eines Mannes, der nach langer Odyssee, nach langer Orientierungslosigkeit endlich den Platz im Leben gefunden hatte, der ihm seiner Meinung nach gebührte. Sarah Cuthbert sah die Waffe in seiner Hand und wartete nur noch darauf, dass er sie gegen sie hob... Epilog »Warum haben sie uns am Leben gelassen?«, fragte Prosper die neben ihm sitzende Sarah Cuthbert. Der Schweber der Master schaukelte unruhig über die Wipfel gewaltiger, exotischer Bäume hinweg, die vor zweihundert Jahren noch nicht zum Artenbestand der Erde gezählt hatten. »Um uns zu quälen«, sagte sie. »Zu quälen? Ein Sadist?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Die Methoden der Master müssten sich grundlegend verändert haben, wenn...«
»Sie haben sich verändert«, unterbrach sie ihn. »Glauben Sie mir. Sie haben sich in dem Moment verändert, als sie einen Pakt mit ihm schlossen.« »Sie hassen diesen Mann.« »Ich kenne diesen Mann.« Eine Weile herrschte Schweigen. Zusammengepfercht kauerten sie auf engstem Raum. Sarah Cuthbert, Sahbu, Lydia, die anderen Vertrauten aus besseren Tagen – und er selbst, Prosper Mèrimèe. Tief atmete er ein und aus, versuchte ein Gefühl für die Situation zu erlangen. Schließlich sagte er: »Kennen Sie ein Buch namens Bibel? Sie kommen aus einer Zeit, in der es vielleicht bekannt war. Verbreitet... Ich könnte es mir vorstellen nach allem, was ich in der kurzen Zeit darin lesen konnte.« »Bibel?«, echote sie. »Ja, ich gelangte erst vor kurzem unter Umständen, über die ich lieber nicht mehr sprechen möchte, in seinen Besitz.« Er schloss die Augen und ließ all die Eindrücke, die er daraus geschöpft hatte, Revue vor seinem geistigen Auge passieren. Schließlich seufzte er und sagte: »Ich habe mich oft gefragt, was das Schrecklichste unter der Herrschaft von Wesen ist, die kaum ein Mensch je zu Gesicht bekommen hat und die vom Gros der Gesellschaft sogar verehrt werden – die aber keinen dulden, der nicht mehr ins System passt. Ich habe nie eine Antwort gefunden, was wohl das Schrecklichste sein mag, das sie uns Menschen angetan haben, als sie damals kamen und uns in diese Zukunft führten.« »Das Buch hat Ihnen geholfen, es zu erkennen?« Er nickte. »Ja. Ich glaube das Buch hat mir die Augen geöffnet.« »Was ist es?« »Das Schrecklichste, was sie uns angetan haben – den
Menschen da draußen in den Metrops, die die Essenz aus Milliarden sind, die einst diese Welt bevölkerten... Das Schrecklichste ist, dass sie uns bestohlen haben.« »Bestohlen?« Er nickte. »Vielleicht ist es Ihnen noch gar nicht aufgefallen. Ich weiß auch zu wenig darüber, wie Ihre Welt beschaffen war – vor der Ankunft der neuen Herren. Aber ich stütze mich auf das Buch, das ich las – die Bibel. Und wenn ich die Menschen von heute mit denen vergleiche, über die darin geschrieben wurde...« »Ja?« »Unseren Glauben«, sagte er. »Sie haben uns unseren Glauben geraubt.« Und in Gedanken fügte er hinzu: Nicht nur an einen Gott. Auch an uns selbst. Der Wald endete, machte einer Wasserwüste Platz, und irgendwann folgte Land. Es war anders beschaffen als der tödliche Gürtel von Vegetation um das Getto. Fast malerisch. Und irgendwann tauchte in der Ferne eine Stadt auf. Eine der letzten Städte der Erde. Eine Metrop. Prosper Mèrimèe fragte sich, was dort auf sie warten mochte... ENDE