J. T. Edson
Der LiebespaarMörder
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Zuerst hielt man ihn für einen harmlosen Irren,...
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J. T. Edson
Der LiebespaarMörder
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Zuerst hielt man ihn für einen harmlosen Irren, einen Spanner, der sich, als Cowboy ausstaffiert, an Liebespärchen in parkenden Autos heranschlich. Doch dann überfiel und beraubte der »Spanner« seine Opfer. Als die Polizei kurz danach zwei junge Leute tot neben ihrem Wagen entdeckte, setzt eine gnadenlose Jagd auf den Liebespaar-Mörder ein...
Originaltitel THE OWLHOOT Aus dem Englischen übertragen von Norbert Wölfl Copyright © 1970 by J. T. Edson Copyright © 1977 by Karl Müller Verlag Erlangen Umschlaggestaltung Franz Wöllzenmüller
1 Der große, schlanke junge Mann trug einen schwarzen Stetson mit breitem Rand, der über dem einen Auge unternehmungslustig hochgezogen war. Um den Hals hatte er sich ein buntes Tuch geschlungen, dessen Enden vorn über das dunkelgrüne Hemd und die schwarzweiße Kalbsfelljacke hinunterhingen. Die verwaschenen Levishosen hatte er unten hochgeschlagen, wie es die praktisch veranlagten Männer im Wilden Westen taten, um die Aufschläge als Tasche für Nägel und ähnliche Kleinigkeiten zu benutzen. Außerdem trug er hochhackige, buntbestickte Stiefel und einen handgearbeiteten, sechs Zentimeter breiten Gürtel, in dem zwanzig lange dicke 45er Patronen mit Bleispitze steckten. Sie gehörten zu dem Revolver vom Modell Colt Cavalry Peacemaker in dem spezialangefertigten Halfter. Auf den ersten Blick sah er wie einer jener Cowboys aus, mit deren Hilfe sich Texas aus einer Wildnis in ein wohlhabendes Bundesland verwandelt hat. Daß er eine Meile außerhalb von Gusher City, dem Verwaltungssitz des County Rockabye, im Mondschein unter den Bäumen stand, konnte einen ganz harmlosen Grund haben. Vielleicht wollte er die grasenden Ladino-Rinder belauschen, die so wild und scheu sind, daß man sie am Tag kaum zu sehen bekommt. Oder er hielt Wache, um Rinderdiebe abzuschrecken. Wenn man seine Aufmachung betrachtete, konnte man auch auf die Idee kommen, daß er sich vielleicht mit einem hübschen jungen Mädchen aus der Stadt treffen wollte, deren Vater nichts von einem einfachen Cowboy als Schwiegersohn wissen wollte. Aber was er dann tat, bewies sehr schnell, daß er keineswegs etwas so Harmloses im Sinn hatte. Er zog ein zweites Tuch aus der Hosentasche und faltete es zu einem Dreieck. Dann band er -2-
es sich so vors Gesicht, daß zwischen der oberen Kante des Tuchs und der Hutkrempe nur noch die Augen und ein schmaler Streifen Stirn zu sehen waren. In diesem Augenblick war der Mann kein einfacher, ehrlicher Cowboy mehr. Er trug die bandana als Maske, um nicht so schnell erkannt zu werden. Ein harmloser Cowboy hat so etwas nicht nötig. Er wies sich damit als Verbrecher aus, als bandido, als ›Spanner‹. Als das Halstuch richtig saß, griff er mit der Rechten nach dem mit Perlmutt eingelegten Revolvergriff. Das Halfter unterschied sich in mehreren wichtigen Details von den üblichen Modellen. Am bemerkenswertesten war, daß es an der Vorderseite offen war und daß der Colt durch eine U- förmige Stahlfeder in dem Futteral festgehalten wurde. Zur Förderung der vertikalen Stabilität war das Halfter an der Seite höher als üblich und reichte über Bügel und Trommel hinweg. Der Lauf steckte in einem runden Loch am unteren Ende. Der junge Mann versuchte nicht, den Colt nach oben herauszuziehen, sondern drückte ihn nach unten. Nachdem die U-förmige Stahlfeder den Colt freigegeben hatte, glitt dieser aus dem Schlitz des Lederhalfters. Ein paar Sekunden lang stand der ›Spanner‹ da und wog die massive, zweieinhalb Pfund schwere und zweiunddreißig Zentimeter lange Waffe in der Hand. Dann warf er einen Blick hinüber zu der weißen Eiche, unter der sein Roß stand. Er wußte, daß alles für eine eventuell erforderliche Flucht bereit war, und schlich weiter hinter den Bäumen hindurch. Gleich darauf erblickte er seine Opfer. Er gab acht, daß er auf keine trockenen Äste trat, und blieb auf dem schmalen Weg, der sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte. Dabei ließ er sein Ziel nicht aus den Augen. Es handelte sich allerdings nicht um eine Postkutsche voll wohlhabender Passagiere oder um einen Rancher, der, mit Geld beladen, nach einem erfolgreichen Viehtrieb nach Hause zurückkehrte, sondern um eine elegante Cadillac-Limousine. -3-
Sie stand unbeleuchtet am Wegesrand. Das Mondlicht war aber ziemlich hell, so daß er alles Nötige erkennen konnte. Auf dem Vordersitz saßen eng umschlungen zwei Personen. Lautlos näherte sich der ›Spanner‹ dem Straßenkreuzer. Er spürte, wie die Erregung in ihm aufstieg. Sein Instinkt sagte ihm, daß er eine gute Wahl getroffen hatte. Der Besitzer eines solchen Automodells gehörte bestimmt nicht zu den armen Arbeitern aus den Pflanzgebieten um den Evans Park. Wer einen solchen Schlitten fuhr, wohnte schon eher im Prominentenviertel Upton Heights, dessen Lichter durch die Bäume schimmerten. Der Gebrauch von Kreditkarten breitete sich zwar immer mehr aus, aber solche Leute pflegten trotzdem ein schönes Sümmchen Geld in der Tasche zu haben. Behutsam schob er sich vor und streckte die linke Hand aus. Die beiden Insassen hatten ihn noch nicht bemerkt. Sie preßten sich leidenschaftlich aneinander. Als der ›Spanner‹ schon nach der Wagentür gefaßt hatte, merkte er, daß er keine Handschuhe trug. Das war zwar nicht gefährlich, aber solche Versehen mußte er in Zukunft vermeiden. Im Jet-Zeitalter bediente sich die Polizei einiger Methoden, die es im Wilden Westen noch nicht gegeben hatte. Er riß die Wagentür auf. Das Pärchen auf dem Vordersitz fuhr auseinander. Der Mann zog seine rechte Hand unter dem Minirock des Mädchens hervor und drehte sich zu dem Störenfried um. Als er die maskierte Gestalt vor sich sah, spiegelten sich auf seiner Miene Angst und ungläubige Wut. »Was zum Teufel...«, stammelte der Mann, während seine Begleiterin nur einen gedämpften Schreckensschrei ausstieß und beide Hände vors Gesicht schlug. »Das ist ein Überfall«, sagte der ›Spanner‹ eisig. »Aussteigen und Hände hoch. Wenn ihr mich nicht ärgert, passiert euch nichts.« -4-
Der Mann am Steuer des Cadillac begann zu protestieren. »Sie können doch nicht...« Er verschluckte die letzten Worte, als der ›Spanne r‹ mit dem rechten Daumen den Hahn des Colts zurückzog. Es war eine Geste, die zusammen mit dem charakteristischen Klicken jedem Liebhaber von Wildwestfilmen vertraut ist. Sie wirkte noch bedrohlicher in der modernen Umgebung. Die bizarre Kleidung des Gangsters und. das bunte Halstuch vor seinem Gesicht unterstrichen die Drohung, die vom Spannen des Revolvers ausging. Der Fahrer verzichtete jedenfalls darauf, den ›Spanner‹ anzuspringen. Wenn der Hahn der Waffe gespannt war, genügte schon ein ganz leichter Druck, um ihn auf das Zündhütchen vorschnellen zu lassen. Dann würde das Geschoß durch den gezogenen achtzehn Zentimeter langen Lauf rasen, der genau auf die Brust des jungen Mannes zielte. »Du sollst mich nicht ärgern, hombre«, warnte der ›Spanner‹ und ließ den Fahrer nicht aus den Augen. »Los, aussteigen, oder ich werfe dir Rauch ins Gesicht.« Die junge Frau hob zögernd die Hände und starrte den Maskierten an. Sie erweckte den Eindruck, als sei sie durch den Überfall fast erleichtert. »Tu, was er sagt, Marty«, bat sie. »Das ist ein guter Rat, hombre«, erklärte der ›Spanner‹. »Ich zähle jetzt bis drei, und wenn du dann noch nicht ausgestiegen bist, kannst du für immer sitzen bleiben.« Er machte eine kurze Pause, um der Drohung noch mehr Gewicht zu verleihen, und begann dann: »Eins...« »Schon gut, schon gut«, stieß der Fahrer hervor, »immer mit der Ruhe, Mann. Ich komme ja schon.« Der ›Spanner‹ trat zwei Schritte zurück und zielte genau auf die Autotür. Marty war klar, daß der Gangster ihn aus dieser Entfernung unmöglich verfehlen konnte. Er stieg aus. Marty war -5-
ein wenig größer und kräftiger gebaut als der ›Spanner‹; er hatte ein gutgeschnittenes, braungebranntes Gesicht und langes, schwarzes Haar. Seine Kleidung stammte aus der teuersten Boutique. Er trug eine goldene Armbanduhr und ein paar wertvoll aussehende Ringe. Und dann richtete er sich auf, sah den Maskierten so trotzig an, wie er es nach Lage der Dinge wagen durfte, und schob sich an dem Auto entlang zum Kofferraum. »Und jetzt Sie, Mädchen«, befahl der ›Spanner‹. »Hier heraus.« Sie gehorchte und schob sich am Lenkrad vorbei. Dabei hatte sie es so eilig, daß ihr der ohnehin schon kurze Rock noch höher rutschte. Als sie die schlanken Beine aus dem Wagen schwang, waren ihre Oberschenkel in voller Länge zu sehen. Dieser Anblick hätte jeden Mann veranlaßt, noch einmal genauer hinzuschauen, und auch der ›Spanner‹ blieb nicht immun. Er wurde auch durch den tiefen Ausschnitt abgelenkt, aber dann stand sie schon neben dem Wagen. Sie hatte blondes Haar, das zwar ein wenig zerzaust wirkte, aber trotzdem den teuren Friseur verriet. Das Minikleid ließ eine gute Figur erkennen. An ihren Fingern glitzerte im Mondschein kostbarer Schmuck, und auch ihre Halskette war nicht gerade billig. Die Handtasche, die sie an sich preßte, paßte in der Farbe genau zum Kleid. Marty merkte, daß der Maskierte für einen Augenblick abgelenkt war. Mit einem unterdrückten Schrei wütenden Triumphes warf er sich auf ihn. Er war zwar durch viele Schlägereien geübt, aber jetzt hatte er einen taktischen Fehler begangen. Als der ›Spanner‹ den warnenden Schrei von Marty hörte, riß er den Blick von der Frau los und fuhr herum. Marty hatte bei allem noch Glück. Der Gangster hielt zwar einen geladenen und gespannten Colt Peacemaker in der Rechten, aber er drückte nicht ab. Statt dessen holte er mit dem ausgestreckten rechten -6-
Arm aus und schlug Marty den langen Lauf an die Schläfe. So mancher alte Sheriff könnte bestätigen, daß gerade der schwere Peacemaker auch eine höchst wirksame Schlagwaffe darstellt. Martys Absicht wurde im Keim erstickt. Der Schlag ließ ihn zurücktaumeln und neben dem Cadillac zu Boden gleiten. Das Mädchen öffnete schon den Mund zu einem Entsetzensschrei, da wandte sich der ›Spanner‹ ihr zu. Genauso blitzschnell wie vorhin sprang er auf sie zu und rammte ihr den Revolverlauf in die Magengrube. Auch sie mußte ihm eigentlich dankbar sein. Der Stoß schmerzte zwar und benahm ihr den Atem, aber der Mann machte den Zeigefinger nicht krumm. Keuchend und würgend sackte das Mädchen auf dem Wagensitz zusammen und hielt sich den Magen. Sie starrte den ›Spanner‹ und ihren Begleiter an und bemerkte voll Entsetzen, daß Marty sich nicht mehr regte. Dann nahm sie ihre Handtasche und warf sie dem Gangster zu. »Hier!« stieß sie hervor. »Da, nehmen Sie!« Mit einem raschen Blick auf Marty überzeugte sich der ›Spanner‹ davon, daß ihm von dieser Seite keine Gefahr mehr drohte. Er schob den Colt wieder ins Halfter zurück, bis sich die Stahlfeder um den Zylinder spannte. »Wenn's sein muß, habe ich den Revolver schnell wieder in der Hand«, warnte er und machte die Handtasche auf. »Das ist nicht nötig«, versicherte ihm das Mädchen und wollte schon ihr Armband abnehmen. »Tun Sie mir bitte nichts!« Er zog eine gutgefüllte Brieftasche aus der Tasche und nahm das Geld heraus. Er stopfte es sich in die Hüfttasche der Levishose und legte die Brieftasche wieder zurück. »Lassen Sie nur«, sagte er mit einer abwehrenden Handbewegung auf das Armband und legte ihr die Tasche in den Schoß. »Das brauche ich nicht.« -7-
Dann beugte er sich über den regungslos daliegenden Marty und griff ihm in die Rocktasche. »Ist er tot?« fragte sie und bereute ihre Frage sofort. In diesem Fall hätte der Gangster sie als Augenzeugin kaum am Leben gelassen. »Nein«, antwortete er so gleichgültig, daß der Blondine das Blut in den Adern gefror. Der Maskierte nahm Marty die Banknoten aus der Brieftasche und schob sie ebenfalls in seine Hüfttasche. Das Mädchen rutschte nervös hin und her und ließ ihn nicht aus den Augen. Schon dieses Geräusch veranlaßte den ›Spanner‹, sofort aufzuspringen und die Brieftasche ins Gebüsch zu schleudern. Im selben Augenblick hatte er den Revolver gezogen und auf das Mädchen gerichtet. Sie wußte in ihrem Schrecken selbst nicht, wie nahe sie in dieser Sekunde dem Tod war, denn er hatte vorhin den Hahn gespannt gelassen. »Nicht schießen!« rief das Mädchen mit schriller Stimme und nachte sich auf dem Autositz so klein wie nur möglich. »Ich wollte wirklich nichts tun.« Man hörte, daß sie einem hysterischen Anfall nahe war. »Das hätten Sie auch bereut«, knurrte der Gangster. Er entspannte den Revolver und schob ihn wieder ins Halfter zurück. »Ich haue jetzt ab.« »Aber...« »Was?« »Was ist mit Marty?« »Was soll mit ihm sein?« fragte der ›Spanner‹ mit einem uninteressierten Blick auf den Bewußtlosen. »Er ist verletzt.« »Selbst schuld.« »Ja, schon möglich, aber wie kriege ich ihn ins Krankenhaus?« -8-
Es sah zunächst aus, als würde das den Maskierten gar nicht interessieren. Aber dann öffnete er achselzuckend die Hintertür des Wagens. »Gehen Sie 'rüber auf die andere Seite«, befahl er. »Eine falsche Bewegung, und Sie sind tot.« Sein Ton ließ keinen Zweifel daran, daß er es ernst meinte. Sie ging gehorsam um den Wagen herum und blieb regungslos wie eine Statue stehen, während der ›Spanner‹ sich bückte und Martys kraftlosen Körper in den Wagen schob. Dann schlug er die Tür zu und merkte, daß er schon wieder Fingerabdrücke auf dem blanken Metall hinterlassen hatte. Er zog ein Tuch aus der linken Hosentasche und wischte damit beide Autotüren sorgfä ltig ab. Die Blondine stand da wie aus Stein gehauen. Er sah sie aus kalten Augen an. Die Angst verzerrte ihr Gesicht. »Ich gehe jetzt«, sagte der ›Spanner‹. »Aber wenn Sie laut werden oder hupen, bin ich gleich wieder da.« Erst als der Maskierte zwischen den Bäumen verschwunden war, kam wieder Leben in das Mädchen. Ein Schluchzen schnürte ihr die Kehle zu, und sie stolperte um den Wagen herum. Sie sah sich nach Marty um und zwängte sich hinter das Lenkrad. Marty lag auf dem Rücksitz und stöhnte leise. Mit zitternden Händen ließ sie den Motor an und legte ungeschickt den Gang ein. Das Stöhnen hinter ihrem Rücken war auch nicht gerade dazu angetan, ihre innere Spannung zu mindern. Sie setzte zurück, bis sie eine Stelle fand, wo sie wenden konnte. Nach einer Weile bog sie auf die Hauptstraße nach Gusher City ein. Der ›Spanner‹ ging zwischen den Bäumen hindurch zu seinem Roß - einer schweren Honda Trail 90 - und hörte hinter sich den Motor des Cadillac. Bei dem Gedanken an seine Beute und die kriminelle Fahrweise der Blondine mußte er unwillkürlich lächeln. Wenn sie die Stadt erreichte, war er längst über alle Berge. -9-
2 Der ›Spanner‹ erinnerte in seiner altmodischen Aufmachung ein wenig an die Glanzzeiten des Wilden Westens. Das traf jedoch keinesfalls auf die Leute zu, die sich schon bald für ihn interessieren sollten. Die Deputys im Sheriff's Office von Gusher City arbeiteten in zwei Schichten: von acht bis sechzehn Uhr und von sechzehn Uhr bis Mitternacht. Ihr Arbeitsplatz erinnerte in nichts mehr an die früher übliche Kombination von Sheriff's Office und Gefängnis. Das Büro lag im dritten Stock des modernen sechsstöckigen Polizeigebäudes und entsprach in seiner Einrichtung ganz einer modernen Polizeizentrale des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Wachraum standen zwei Reihen von Schreibtischen mit Telefon und Schreibmaschine, und auch die Waffen waren nicht mehr in einem offenen Gestell untergebracht. Spezialwaffen wie Winchestergewehre vom Typ 12, Thompson-Maschinenpistolen, M1-Karabiner, Scharfschützengewehre mit Zielfernrohren und Granatwerfer sowie die dazugehörige Munition waren in den beiden großen Kästen untergebracht, die links und rechts den Durchgang zum Büro des wachhabenden Beamten flankierten. Zwei Wände waren mit Aktenschränken gefüllt, während links und rechts vom Haupteingang Anwesenheitsliste und schwarzes Brett an der Wand hingen. Hier waren Steckbriefe und andere Mitteilungen angeschlagen. Auf einem Tisch unter dem Dienstplan lag das Dienstbuch, in das sich jeder eintragen mußte. Keiner der sechs Deput ys im Raum hatte Ähnlichkeit mit einem Sheriff aus dem alten Texas. Zwei trugen Khakiuniformen mit offenen Revolvertaschen an Ledergürteln, die im Stil mehr ans Militär als an den Wilden Westen erinnerten. Alle übrigen hatten Zivilkleidung an, unter der unsichtbar die Handfeuerwaffen steckten. Sie sahen wie ganz -10-
gewöhnliche Bürger aus, die nirgends in den Staaten aufgefallen wären. Besonders einer der Deputys hätte bestimmt nicht in ein altes Sheriff's Office gepaßt, weil man dort kaum Frauen antraf. Deputy Sheriff Alice Fayde hatte zwar nichts von einem alten texanischen Sternträger an sich, aber trotzdem war sie eine tüchtige, vollausgebildete Beamtin. Das hübsch frisierte rote Haar umrahmte ein Gesicht, das Charme, Kraft und Energie ausdrückte. Die offene dunkelblaue Bluse betonte unaufdringlich ihre gutentwickelten weiblichen Formen. Der Baumwollrock war gerade kurz genug, um erkennen zu lassen, daß sie hübsche Beine hatte, auch wenn diese in Schuhen mit mittelhohem Absatz steckten. Wie sie so an ihrem Tisch saß und mit flinken Fingern auf der Schreibmaschine schrieb, sah sie aus wie eine tüchtige Sekretärin. Ihre fünf männlichen Kollegen im Raum wußten aber, daß ihre Fähigkeiten weit darüber hinausgingen. Früher hatte sie bei der weiblichen Schutzpolizei Streifendienst gemacht und war dann in einem der sechs Reviere von Gusher City in den Kriminaldienst übernommen worden. Dort sammelte sie ihre Erfahrungen in den verschiedenen Dezernaten der Stadtpolizei: Glücksspiele, Rauschgift, Jugendkriminalität, Verkehr. Dann wurde sie befördert und kam ins Sheriff's Office. Man betraute sie nicht nur mit den üblichen Aufgaben einer weiblichen Mitarbeiterin, wie beispielsweise Telefondienst oder Überwachung von Prostituierten, sondern sie wurde genauso voll eingesetzt wie die männlichen Beamten. Es war für sie nicht leicht gewesen, in diese reine Männerwelt einzubrechen. Alice und ihre Kollegin Joan Hilton von der Tagschicht mußten erst ihre Tüchtigkeit beweisen, ehe sie sich durchsetzen konnten. Durch die Aufklärung eines besonders schwierigen Falls, nämlich des Mordes an ihrem Onkel Deputy Sheriff Tom Cord, hatte sie die Achtung aller gewonnen. Danach zweifelte niemand mehr an der Gleichberechtigung der Frau in der Polizeiarbeit. Bei diesen Ermittlungen war auch als -11-
ständiger Mitarbeiter ein Kollege zu ihr gestoßen, um den sie viele Frauen beneidet hätten. Deputy Sheriff Bradford Counter maß über einsachtzig und hätte sich mit seinem blonden Haar und dem fast klassisch geschnittenen Gesicht ohne weiteres um den Titel ›Mister Universum‹ bewerben können. Er war auf jeden Fall der bestangezogene Kriminalbeamte weit und breit. Seine Jacke aus echtem Harris-Tweed verriet mit ihrem tadellosen Sitz den teuren Schneider. Auch wenn die Sportjacke zugeknöpft war, konnte man nicht sehen, daß unter der linken Achsel eine 45er Pistole vom Typ Colt Government in einem Hardy-CooperFederhalfter steckte. Er trug außerdem ein offenes dunkelgraues Hemd mit einem blauen Seidenschal und eine graue Flanellhose mit messerscharfen Bügelfalten. Brad Counter kleidete sich wie ein gutbezahlter Topmanager, fuhr einen MG-Sportwagen, wohnte in einem Luxusapartment im exklusiven Hotel ›Beverly Arms‹ in Upton Heights und verursachte seinen Vorgesetzten - First Deputy McCall und Sheriff Jack Tragg - keinerlei Kopfzerbrechen, was seine Ehrlichkeit betraf. Alle Mitarbeiter im Büro mußten, daß er aus einer der reichsten Familien in Texas stammte. Brad hatte sich dazu entschlossen, weder in das Ölgeschäft seines Vaters einzusteigen noch einen der Zweigbetriebe zu übernehmen, sondern Kriminalbeamter zu werden. Nachdem er mit Auszeichnung die Polizeiakademie an der Universität von Südtexas absolviert hatte, war er beim FBI geschult worden. Von dort aus war er direkt als Deputy ins Sheriff's Office gekommen, ohne erst noch Dienst bei der Stadtpolizei tun zu müssen. Sheriff Jack Tragg war damals, als er Brad eingestellt hatte, heftig kritisiert worden, weil viele bezweifelten, daß ein junger Mann mit rein theoretischen Vorkenntnissen der Arbeit eines Deputys tatsächlich gewachsen sei. Unterstützt von Deputy Tom Cord, hatte sich Brad jedoch bald praktische Erfahrungen -12-
angeeignet und alle, die ihm keine sehr erfolgreiche Laufbahn prophezeit hatten, Lügen gestraft. Brad und Alice hatten gemeinsam die beiden Berufsmörder gefaßt, die für den Tod des alten Deputys verantwortlich waren. Als die Verbrecher bei der Festnahme Widerstand leisteten, hatte die Pistole des blonden Hünen sie niedergemäht. Brad galt im ganzen County als der beste Pistolenschütze und war durch seine überlegenen Körperkräfte auch in der Lage, bei jeder tätlichen Auseinandersetzung seinen Mann zu stehen. Die Freude an der Polizeiarbeit und das Geschick im Umgang mit Feuerwaffen waren ein Erbe von seinem Urgroßvater väterlicherseits. In den wilden Jahren nach dem Bürgerkrieg hatte Mark Counter als Revolverheld Berühmtheit erlangt - aber nicht nur das: Jeder kannte damals auch seine ungeheure Körperkraft und seine enorme Wirkung auf Frauen. Selbst diese Eigenschaft seines berühmten Vorfahren hatte Brad geerbt - was Alice jederzeit bestätigen konnte. Alice und Brad hatten einen ruhigen Abend verbracht, der ihnen wenig Gelegenheit bot, ihre kriminalistischen Fähigkeiten zu beweisen. Es war beinahe so, als hätten sich die rund zweihundertfünfzigtausend Einwohner von Gusher City abgesprochen, auf schwere Verbrechen zu verzichten. Das Sheriff's Office war für das gesamte County zuständig und stellte innerhalb der Stadtgrenzen auch die Mordkommission. In ihren Bereich fielen zweiundzwanzig verschiedene Gesetzesübertretungen - wie Beschädigung von Bahneigentum, Körperverletzung und Kidnapping -, die eventuell zu einem Mord führen konnten. Doch an diesem Abend schien niemand daran zu denken, gegen eines dieser zweiundzwanzig Strafgesetze zu verstoßen. Vier der männlichen Beamten hatten inzwischen ihre Schreibarbeit erledigt und versammelten sich um den Schreibtisch der beiden anderen. Brad hockte auf der Kante des gemeinsamen Schreibtisches, um Alice bei ihrem Bericht mit -13-
Details auszuhelfen. Dabei putzte er die Winchesterbüchse, die er immer mitnahm, wenn besondere Schwierigkeiten zu erwarten waren. Da ging die Verbindungstür zum Chefbüro auf, und First Deputy McCall trat ein. Er hatte ein flächiges, verwittertes Gesicht wie ein alter Schäfer und trug zu seinem grauen Geschäftsanzug einen Stetson. Das bedeutete nicht etwa, daß er gerade erst gekommen war oder das Büro verlassen wollte. Man raunte sich zu, daß nicht einmal seine eigene Frau ihn jemals barhäuptig gesehen habe. »Heute abend kommen die Steuerzahler bestimmt auf ihre Kosten«, bemerkte McCall mit einem Blick auf die vier Beamten, die sich unterhielten. »Es ist wirklich sehr ruhig«, gab Deputy Sheriff Rafferty, ein stämmiger Ire, zu. »Vielleicht ist später mehr los«, meinte sein Kollege, Deputy Sheriff Valenca. »Das ist meistens so.« »Dann würde ich vorschlagen, daß Sie jetzt abwechselnd zum Essen gehen«, entschied McCall. »Wo sind Dick und Frank?« »Auf Streife unten in Greevers«, erwiderte Deputy Sheriff Chu, Raffertys chinesischer Teamkollege. »Aber dort ist auch nichts Besonderes los.« Für tüchtige Polizeibeamte gilt der Grundsatz, daß man auch an einem ruhigen Abend seine Runden drehen muß, um eventuellen Ärger gleich im Keim ersticken zu können. McCall war daher nicht überrascht, als er hörte, daß seine beiden Untergebenen - ein Neger und ein Mexikaner - gerade das Revier durchstreiften, in dem die meisten Farbigen lebten. Er betrachtete die vier ›arbeitslosen‹ Deputys mit kühlen Augen. McCall war zwar kein Antreiber, aber es belastete sein schottisches Gewissen, Beamte auf Kosten der Steuerzahler -14-
untätig herumstehen zu sehen. »Wer geht zuerst?« fragte McCall. »Was meinst du, Tom?« fragte Rafferty seinen Kollegen. »Könnten Sie nicht alle vier gehen?« fragte Alice und hob den Blick von der Schreibmaschine. »Vielleicht kann ich dann in Ruhe meinen Bericht fertigmachen. Ich hätte fast Ihren letzten Witz mitgeschrieben, Lars.« »Den habe ich vom Sheriff«, antwortete der hochgewachsene blonde Larsen mit der freundlichen Stimme eines höflichen Warenhausverkäufers. »Komm schon, Tony, es war ein Wink mit dem Zaunpfahl.« »Wir sind drüben im ›Badge‹, Mac«, sagte Chu und ging auf den Hauptausgang zu. Als die übrigen Beamten gegangen waren, trat McCall an den Schreibtisch von Alice und Brad. Er griff nach den Seiten, die sie schon getippt hatte. Es war der Bericht über einen Doppelmord, den sie vor kurzem gemeinsam mit Brad geklärt hatte. McCall setzte sich auf die Tischkante und begann zu lesen. Zehn Minuten verstrichen. Alice lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und stieß einen Seufzer aus. Brad hatte die Waffe fertig gereinigt und sah seiner Kollegin zu, wie sie die letzte Seite aus der Maschine nahm. Alice warf einen Blick auf die Wanduhr und wollte etwas sagen, aber das laute Summen des Telefons drüben in McCalls Büro unterbrach sie. Der First Deputy legte den Bericht auf den Tisch und verschwand durch die Tür. »Drück die Daumen«, sagte Alice halblaut zu Brad. »Du bist eben zu voreilig, Chefin«, antwortete Brad. »Im Augenblick sind wir die einzigen hier.« »Das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte Alice mit eine m charmanten südlichen Akzent. »Aber vielleicht ist es nicht wichtig.« -15-
Diese Hoffnung machte McCall gleich darauf zunichte. Er lächelte selten, aber als er wiederkam, tat er es und sagte mit einem Blick auf die leere Schreibmaschine und die fertiggeputzte Waffe: »Das sehe ich gern: Wenn eine Arbeit abgeschlossen ist, muß man gleich die nächste in Angriff nehmen.« »Was ist los, Mac?« fragte Alice mit einem Seufzer. »Die Stadtpolizei hat gerade angerufen. Eine junge Frau hat einen Mann ins Krankenhaus eingeliefert, wahrscheinlich Schädelbruch. Sie war ein bißchen durcheinander, hat sich aber inzwischen wieder beruhigt.« »Sicher kein Autounfall«, stöhnte Brad. »Das wäre wohl zuviel verlangt.« »Bei einem Autounfall hätte der Beamte im Unfallkrankenhaus bestimmt nicht das Sheriff's Office verständigt«, fügte Alice hinzu. »Nein, kein Unfall«, bestätigte McCall. »Nach ihrer Aussage hat ihm jemand einen Revolver auf den Schädel geschlagen!« Der Polizeibeamte in der Unfallstation hatte also richtig gehandelt. Nach dem Strafgesetzbuch von Texas war für alle Angriffe auf Leib und Leben das Sheriff's Office zuständig. »Dann müssen wir wohl hinfahren und sie nach dem Wer, Wann, Wo und Warum fragen«, sagte Alice, während Brad die Winchesterbüchse zum Waffenkasten trug. »Aber du hast recht: Ich hätte wirklich den Mund halten sollen.«
3 Alice und Brad fuhren mit dem Fahrstuhl nach unten und verließen das Gebäude durch eine Hintertür. Sie holten ihren Dienstwagen, einen schwarz-weißen Oldsmobile Super 88, von dem Parkplatz, der so geschickt angelegt war, daß ihn bei einem -16-
Großeinsatz sämtliche Polizeiwagen in kürzester Zeit verlassen konnten. Brad setzte sich ans Steuer, Alice meldete sich bei der ständig besetzten Zentrale. Keiner von beiden sprach viel während der kurzen Fahrt, aber sie hingen ähnlichen Gedanken nach. Handelte es sich nur um eine Routineangelegenheit, oder hatten sie es mit einem komplizierten, gefährlichen Fall zu tun? Noch lagen ja kaum Informationen vor, aber das überraschte sie nicht. Die Beamten im Krankenhausdienst waren berühmt für ihre knappen Meldungen. Jedes größere Krankenhaus der Stadt verfügte über eine ständige Polizeiwache. Der Krankenhausdienst war sehr wichtig, gleichzeitig aber für ältere Beamte recht bequem und nicht allzu gefährlich. Diese Leute waren alte Hasen und wußten, wie sie ihre Arbeit mit möglichst geringem Aufwand erledigen konnten. Nach der Ankunft im Unfallkrankenhaus, das an der Grenze zwischen zwei Polizeirevieren lag, parkten die beiden Deputys ihren Wagen und betraten die Halle. Aus einer Tür mit dem Zeichen der Stadtpolizei kam ein stämmiger, grauhaariger Beamter. Sie gingen auf ihn zu und zeigten ihm ihre Ausweise. »Hallo«, begrüßte sie der Wachtmeister. »Sie wartet da drinnen. Nach allem, was sie erzählt, würde ich sagen, daß es sich um Paragraph vierzehnhundertacht a handelt.« Alice und Brad tauschten einen raschen Blick. Dieser Paragraph des Strafgesetzbuches von Texas bezog sich auf bewaffnete Raubüberfälle. Auf dieses Verbrechen stand die Todesstrafe oder Gefängnis nicht unter fünf Jahren. »Noch etwas?« fragte Alice und schob ihre Ausweismäppchen wieder in die Schultertasche. »Sie heißt Mrs. Ivy Monoghan«, antwortete der Polizeibeamte. »Aber der Bursche ist nicht Mr. Monoghan, -17-
sondern Martin Hoopler, ein Freund der Familie.« »So ist das also«, murmelte Brad, der die Bedeutung der Worte des anderen sofort erfaßt hatte. »Ich bin nicht sicher«, antwortete der Beamte. »Aber wenn ich mich nicht irre, ist sie ein Typ, dem man bestimmt nicht so leicht widerstehen kann. Mein Gott, warum hat es solche Mädchen noch nicht gegeben, als ich jung war?« »Monoghan«, sagte Alice. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.« »Wer sie einmal gesehen hat, vergißt sie nicht so schnell wieder«, sagte der Wachtmeister zu Brad. »Sie sieht toll aus: blond und so gebaut.« Er fuhr mit der Hand durch die Luft und verdrehte die Augen. »Könnte eine Zwillingsschwester der Stripteasetänzerin im ›Queen of Clubs‹ sein.« »Mordfall Manders«, sagte Brad zu Alice. »Mrs. Monoghan war eine der drei Frauen, die als Opfer in Betracht kamen.« »Ja, natürlich.« Alice fielen inzwischen auch wieder die anderen Dinge ein, die sie über Mrs. Monoghan erfahren hatten, während sie versuchten, entsetzlich zugerichtete Mädchen zu identifizieren. »Gehen wir hinein, und reden wir mit ihr.« »Ich wollte uns gerade Kaffee holen«, bemerkte der Wachtmeister. »Kann ich Ihnen eine Tasse mitbringen?« »Das wäre großartig«, antwortete Alice. »Gehen wir, Brad. Wenn sie so aussieht wie Zippy Sharon, kannst du es sicher nicht mehr erwarten.« Auch Alice war gespannt darauf, die dritte der Frauen kennenzulernen, die damals als mögliche Opfer jenes brutalen Mordes in Frage gekommen waren. Aus verschiedenen Gründen war es während der Ermittlungen nicht nötig gewesen, mit Zippy Sharon oder Mrs. Monoghan zu sprechen. Alice trieb nicht nur weibliche Neugier, sondern auch noch ein anderer Grund. -18-
Brad öffnete die Tür und ließ seiner Kollegin den Vortritt. Über Alices Schulter hinweg sah er eine Frau auf dem Sofa sitzen, das sich die Beamten von der Krankenhauswache organisiert hatten. Ivy Monoghan stand auf und bewies, daß sie sich durchaus mit dem Stripteasestar Zippy Sharon messen konnte. Sie war Mitte Zwanzig und wußte genau, welcher Reiz von ihr ausging. Nach einem kurzen Blick auf Alice konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit ganz auf Brad. Bei dem Anblick des hochgewachsenen, ungewöhnlich gutaussehenden Deputys schien sie gleichzeitig besorgt und erfreut zu sein. »Mrs. Monoghan«, begrüßte sie Alice, »ich bin Deputy Sheriff Fayde, das ist mein Kollege Deputy Sheriff Counter.« »Ich glaube, wir kennen uns schon, Mr. Counter«, sagte Ivy mit mattem Lächeln. »Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden, aber ich habe Sie ein paarmal im ›Beverly Arms‹ gesehen.« »Ich wohne dort«, antwortete Brad sehr sachlich. »Bitte nehmen Sie Platz, wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen.« »Hier und jetzt?« fragte Ivy und stöhnte. »Hier und jetzt«, antwortete Alice und spürte die Feindseligkeit der anderen. »Es ist schon spät«, sagte die Blondine, »ich muß nach Hause.« »Wir werden Sie nicht länger aufhalten als unbedingt nötig«, versprach Alice. »Aber Sie müssen uns den Vorfall schildern. Also nehmen Sie bitte Platz.« »Ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen helfen kann«, antwortete Ivy und blieb stehen. »Das müssen Sie schon uns überlassen«, erklärte Alice. Ivy spielte unschlüssig mit ihrer Handtasche, während ihr Blick zwischen den beiden hin und her wanderte. Dann sah sie Brad mit einem Augenaufschlag an, der bisher bei keinem Mann -19-
seine Wirkung verfehlt hatte. »Mr. Counter, wenn ich Ihnen alles erzähle, was ich weiß, geben Sie mir dann Ihr Wort, daß ich vor Gericht nicht als Zeugin auftreten muß?« »Das können wir nicht versprechen«, antwortete Alice. »Dann kann ich auch nichts sagen.« »Wenn Sie nicht aussagen wollen, müssen wir Sie zum Sheriff's Office mitnehmen und als wichtige Zeugin festhalten«, warnte sie Alice und fuhr nach kurzem Zögern fort: »Denken Sie an eins: Hier gibt es keine Reporter, aber im Polizeigebäude halten sich immer ein paar auf.« »Reporter sind mir egal«, fauchte Ivy, aber ihr Ton strafte sie Lügen. »Sie können mich nicht mitnehmen!« »Wir müssen Sie aber leider mitnehmen«, versicherte ihr Alice. »Sie haben hier einen Verletzten eingeliefert, der nach Ihrer eignen Aussage mit einem Revolver niedergeschlagen wurde. Sie sind also Augenzeuge eines Verbrechens geworden. Da wir keine anderen Zeugen haben, müssen wir Sie festhalten, bis wir Ihre Aussage überprüft haben. Das mag für Sie vielleicht peinlich sein...« »Was wollen Sie damit andeuten?« fauchte Ivy. »Am besten erzählen Sie mir jetzt alles«, warf Brad ein und zeigte sich dabei freundlicher als seine Kollegin. »Ich könnte unsere Leute in der Presseabteilung bitten, Ihren Namen gegenüber der Presse nicht zu erwähnen. Hier im Krankenhaus ist es auch einfacher, den Reportern aus dem Weg zu gehen.« »Da haben Sie vollkommen recht. Es war albern von mir«, schnurrte Ivy und setzte sich wieder. Sie schlug die Beine übereinander und gewährte Brad dabei einen tiefen Einblick. Dann holte sie eine goldene Zigarettendose aus ihrer Handtasche und hielt sie ihm hin. Es steckten noch zwei Zigaretten mit Goldmundstück darin. »Rauchen Sie?« -20-
»Im Augenblick nicht«, antwortete Brad und zog das Feuerzeug aus der Jackentasche. Alice sah mit ausdrucksloser Miene zu, wie sich Ivys und Brads Hände beim Feuergeben berührten. Die Blondine ahnte nicht, daß sie auf einen der ältesten kriminalistischen Tricks hereingefallen war. Vom ersten Augenblick an hatte Alice die feindselige Haltung der anderen Frau gespürt und vermutet, daß sich Mrs. Monoghan einer Geschlechtsgenossin gegenüber störrisch verhalten würde. Alice wußte aus den Ermittlungen im Mordfall Manders, daß Ivys Ehemann erheblich älter war als sie und daß sie sich gern mit gleichaltrigen Männern umgab. Deshalb sagte sich Alice ohne jede Eifersucht, daß Brad auf eine solche Frau besonderen Eindruck machen mußte. Brad hatte bewiesen, daß er mit seinen Gedanken bei der Sache blieb, auch als Zippy Sharon auf der Bühne einen verführerischen Tanz hinlegte. Also wußte Alice, daß er bestimmt den geringeren Reizen einer Ivy Monoghan widerstehen würde. Sie wandten eine Technik an, die sich schon mehrfach als erfolgreich erwiesen hatte: Zuerst schlug Alice einen harten, fast abweisenden Ton an, dann nahm Brad mit seiner Freundlichkeit und seinem guten Aussehen die Frau für sich ein. Ivy zog nur widerwillig ihre Hand zurück, als ihre Zigarette rötlich glühte. Sie streifte Alice, die ein paar Schritte zurückgetreten war, mit einem triumphierenden Blick. Dann sah sie wieder Brad an und fragte, was er wissen wolle. »Fangen Sie mit einer Beschreibung des Tatortes an«, bat sie der blonde Hüne. »Es war auf einer Abzweigung von der Staatsstraße«, antwortete Ivy. »Marty und ich fuhren die Seitenstraße entlang. Ich hatte in unserem Jagdhaus in der Nähe von Euclid ein Paar Handschuhe liegengelassen und wollte sie holen. Wir hielten für einen Augenblick an...« »Warum?« fragte Brad. »Ich muß diese Frage leider stellen.« -21-
»Marty ist ein talentierter junger Schauspieler«, erklärte Ivy, besänftigt von dem Gedanken, daß Brad von der Rothaarigen wahrscheinlich eins aufs Dach bekam, wenn er eine wichtige Frage ausließ. »Er wartet nur auf seine große Chance. Heute abend wollte er mir eine seiner Rollen erklären, deshalb hielten wir an. Sie fragen sich bestimmt, warum er am Steuer saß und nicht mein Mann.« »Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht«, sagte Brad so überzeugend, als sei es die Wahrheit. »Es ist auch ganz harmlos«, schnurrte Ivy und zog an ihrer Zigarette. »Arnold, das ist mein Mann, hat heute abend eine Konferenz; deshalb hat sich Marty erboten, mich zu begleiten. Arnold wollte nicht, daß ich allein zum Jagdhaus hinausfahre.« »Und in dem Seitenweg haben Sie angehalten«, warf Alice ein. »Nur für einen Augenblick«, antwortete Ivy scharf. »Während Marty fuhr, konnte er mir nicht gut seine Rolle erklären.« Dann sah sie Brad an. Sie drückte ihre Zigarette aus, und ihrer Haltung war anzumerken, daß sie nun zum Höhepunkt ihres Abenteuers kam. »Plötzlich ging die linke Autotür auf, und der Mann stand da. Großer Gott, es war unheimlich.« »Wieso unheimlich?« fragte Brad. »Nun, wie er angezogen war... Genau wie in einem Wildwestfilm. Er trug einen Revolver, wie ihn Matt Dillon in der Serie ›Gunsmoke‹ verwendet.« »Einen Peacemaker?« rief Brad. »Ich weiß nicht, wie das Ding heißt. Der Revolver sah genauso aus wie der von Matt Dillon. Er hatte einen weißen Griff und einen langen Lauf.« »Also ein Cavalry Peacemaker«, erklärte Brad, der natürlich genau wußte, welchen Waffentyp James Arness in seiner Rolle als Matt Dillon in der Fernsehserie verwendete. -22-
Ivy nickte. »Wenn Sie es sagen, wird es schon stimmen. Er hatte sich sogar wie der Bösewicht in einem Wildwestfilm ein Halstuch vor das Gesicht gebunden.« »Können Sie den Mann beschreiben?« fragte Brad. Alice hatte sich etwas abseits auf einen der Stühle gesetzt. Sie hielt einen Kugelschreiber in der Hand und benutzte ihre Schultertasche als Schreibunterlage. Diese Tasche war von Pete Ludwig für weibliche Beamte entworfen worden und so geräumig, daß sie Ausweis, Handschellen, eine 45er Pistole vom Typ Colt Commander in einem abnehmbaren Halfter, zwei Reservemagazine und ein paar andere Sachen enthielt. »Er war groß«, antwortete Ivy, »aber nicht so groß wie Sie. Vielleicht zwei oder drei Zentimeter kleiner. Auch nicht so breit. Eine durchschnittliche Figur würde ich sagen.« Ihr Blick streifte mit offener Bewunderung Brads Körper. »Wie gesagt - er war gekleidet wie ein Cowboy: schwarzer Hut, schwarzweiße Weste, graues Hemd, Levishosen und hochhackige Stiefel. Dazu der breite Ledergürtel mit Patronen, die in Schleifen steckten. Sie wissen schon, was ich meine.« Nichts an der Miene der Frau deutete darauf hin, daß sie diese Geschichte erfunden hatte. Brad warf Alice einen Blick zu. Auch sie schien zu demselben Schluß gelangt zu sein. Trotzdem war ein Räuber, der sich wie ein Wildwestheld kleidete, ziemlich unwahrscheinlich. »Was geschah, nachdem er die Tür geöffnet hatte?« fragte Brad. »Wir mußten den Wagen verlassen. Marty stieg als erster aus und wollte den Mann anspringen, aber ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich so schnell bewegen konnte. Sein Arm flog einfach vor, und der Revolverlauf traf Marty am Kopf. Marty fiel um wie ein Baum. Ich dachte schon, er sei tot. Dann drehte sich der Mann zu mir um, stieß mir den Lauf in den Magen und befahl mir, stillzubleiben. Ich hatte solche Angst, ich -23-
war doch allein und wehrlos und ihm ganz ausgeliefert.« In diesem Augenblick trat der diensttuende Beamte mit einem Tablett ein. Er stellte es auf das Sofa, betrachtete intensiv Ivys Beine und goß dann den Kaffee ein. Als er Alice ihre Tasse reichte, zwinkerte er ihr wortlos zu. »Er hat Sie doch nicht verletzt, oder?« fragte Brad, während Ivy einen kleinen Schluck Kaffee trank. »Nein. Er schob den Revolver wieder ins Halfter und befahl mir, ihm meine Handtasche zu geben.« »Er hat die Waffe wieder weggesteckt?« fragte Alice. »Ja, das sagte ich doch«, antwortete Ivy. »Vielleicht hätten Sie ihn angefallen, aber ich bin ja nicht ausgebildet.« »Es war ganz richtig, daß Sie es nicht versuchten«, tröstete sie Brad. »Das weiß ich«, schnaubte Ivy und sah Alice wütend an. »Nachdem er meine Brieftasche ausgeleert hatte, gab er mir die Tasche zurück. Als er sich dann Martys Brieftasche vornahm, machte ich nur eine kleine Bewegung. Da sprang er hoch und zog blitzschnell den Revolver. Die Handbewegung konnte man kaum sehen.« »Wieviel hat er Ihnen entwendet?« fragte Brad. »Etwa hundertachtzig Dollar. Fast lauter Zehndollarnoten.« »Waren es neue oder alte Geldscheine? Bei neuen Scheinen könnten Miss Fayde und ich vielleicht die Seriennummern feststellen.« »Es waren keine neuen Scheine«, antwortete Ivy in einem Ton, als müsse sie sich entschuldigen. »Er hat nur das Geld genommen?« fragte Alice. »Ja. Ich habe ihm das Armband angeboten, aber er wollte es nicht haben. Dabei ist es ziemlich wertvoll, genauso wie meine Ringe und die Halskette. Aber ich habe ihm die Sachen natürlich nicht aufgedrängt.« -24-
»Und was geschah, als er gegen Sie die Waffe zog?« fragte Brad. »Nichts. Er sah ja, daß ich ihm nicht in die Quere kommen wollte. Ich mußte um den Wagen herumgehen, und er legte Marty auf den Rücksitz.« »Ist er zu Fuß weggegangen?« »Ich habe ihn dann nicht mehr gesehen, Mr. Counter. Er ist zwischen den Bäumen verschwunden. Sobald er außer Sicht war, stieg ich ein und fuhr weg.« »Sie haben aus der Richtung, in der er verschwunden ist, kein Motorengeräusch gehört?« »Nein. Ich bin so schnell wie möglich weggefahren.« Brad stellte noch ein paar vorsichtige Fragen und erfuhr, daß der ›Spanner‹ keine Handschuhe getragen hatte. Er habe zwar die Griffe der Autotüren abgewischt, aber Hooplers leere Brieftasche ins Gebüsch geworfen, als er den Colt zog. Ivy gestand ein, daß sie nur an Flucht und nicht an die leere Brieftasche gedacht hatte. Nach diesem Bericht fragte Alice den Kollegen von der Wache, ob er etwas über Hooplers Zustand wisse. Natürlich hatte sich der Beamte vorher nach dem Patienten erkundigt. Hoopler hatte einen Schädelbruch, war zur Zeit nicht bei Bewußtsein und frühestens am nächsten Abend vernehmungsfähig. »Trinken Sie aus, Mrs. Monoghan«, sagte Alice, klappte ihr Notizbuch zu und schob es in die Tasche. »Diktieren Sie unserem Kollegen hier Ihren Bericht, wir beide müssen inzwischen etwas erledigen. Dann werden wir Sie bitten, mit uns hinauszufahren und uns die Stelle zu zeigen.« »Es wäre für uns eine große Hilfe«, fügte Brad hinzu. »Natürlich tue ich Ihnen gern diesen Gefallen«, erklärte Ivy mit einem unmißverständlichen Blick auf den blonden Hünen. -25-
4 »Noch fünf Minuten, und sie wäre dir vorn unter die Jacke gekrochen«, sagte Alice kühl, als sie den Wachraum verlassen hatten. »Der berühmte Charme der Counters bewährt sich eben immer wieder«, antwortete Brad grinsend. »Was hältst du von der Sache, Chefin?« »Ich weiß nicht recht«, gab Alice offen zu und steuerte die Telefonzellen in der Halle an. »Eine unheimliche Geschichte. Dieser Kerl kleidet sich wie ein ›Spanner‹ aus einem Westernfilm, er leert die Brieftaschen, verzichtet aber auf Schmuck und Zigarettendose - Dinge, die ihm bei eine m Hehler bestimmt tausend Dollar eingebracht hätten. Vielleicht war das ganz schlau von ihm.« »Möglich«, sagte Brad, »aber in dieser Kleidung fällt er auf wie ein roter Hund.« »Ich werde Mac bitten, die anderen Reviere zu verständigen«, erklärte Alice. »Wenn ich ihm die Personenbeschreibung durchgebe, wird er mich für verrückt halten.« »Eins verstehe ich nicht ganz«, murmelte Brad. »Wenn er einen Cavalry Peacemaker hat, kann er doch nicht so blitzschnell ziehen.« »Matt Dillon kann es auch«, erinnerte ihn Alice. »James Arness ist fast einsneunzig groß und hat bestimmt Counterblut in den Adern«, erwiderte Brad. »Ein besonders großer Mann schafft das vielleicht, aber wer kleiner ist als einsachtzig, kann einen Revolver mit einem so langen Lauf niemals so schnell ziehen.« »Der Waffenexperte bist du, Brad. Ich überlege gerade, ob hinter dem Raubüberfall nicht noch ein anderes Motiv steckt.« »Welches zum Beispiel?« -26-
»Sie betrügt ihren Mann nicht zum erstenmal, wie ich von Connie Storm weiß. Vielleicht hat er Wind davon bekommen und wollte ihr und Hoopler einen Schrecken einjagen.« »Dann hätte sie ihn doch erkannt.« »Möglich«, gab Alice zu, »oder er hat jemanden dafür bezahlt. Kann sein, daß sie Hoopler selbst niedergeschlagen und die ganze Sache erfunden hat.« »In diesem Fall hätte sie sich bestimmt eine wahrscheinlicher klingende Geschichte ausgedacht.« »Oder auch nicht. War es ein doppelter Bluff?« Alice betrat eine der Telefonzellen und wählte McCalls Nummer. Sie berichtete, was sie von Ivy Monoghan erfahren hatte. Als der wortkarge Schotte die Personenbeschreibung hörte, konnte er einen überraschten Ausruf nicht unterdrücken. Er war sofort damit einverstanden, über die Zentrale einen Aufruf an alle Reviere durchzugeben. Das war eine reine Routineangelegenheit, denn sowohl Alice als auch Brad rechneten nicht damit, daß dieser Mann in seiner auffälligen Kleidung auf der Straße herumlief. Alice trat wieder aus der Telefonzelle und erklärte: »Ich habe Mac gesagt, daß wir ihn anrufen, falls wir am Tatort einen Fotografen oder die Laborexperten brauchen. Er schickt jemanden von der Fingerabdruckabteilung, der die Wagentüren kontrollieren soll.« »In Ordnung«, antwortete Brad. »Da kommt sie. Ich hole unseren Wagen vom Parkplatz.« »Hoffentlich dauert es nicht lange«, sagte Ivy gereizt, als sie zu Alice trat. »Wir werden uns beeilen«, versicherte ihr Alice. Sie standen schweigend nebeneinander, bis Brad mit dem Oldsmobile vorfuhr. Alice ging voraus und warf der Blondine einen Blick über die Schulter zu. »Sie müssen hinten einsteigen, -27-
Mrs. Monoghan, das ist Vorschrift.« Alice glitt auf den Beifahrersitz, ohne das enttäuschte Schnauben hinter ihrem Rücken zu beachten. Ivy nahm mürrisch hinter dem Fahrer Platz. »Ich habe einen Scheinwerfer aus dem Kofferraum geholt, Alice«, sagte Brad. »Vielleicht brauchen wir ihn.« »Gut«, antwortete Alice. »Sagen Sie uns Bescheid, Mrs. Monoghan, wenn wir zu der Abzweigung kommen.« »Mache ich«, versprach Ivy eisig. Dann wurde ihr Ton etwas wärmer. »Mr. Counter, darf ich Sie Bradford nennen? Haben wir uns nicht letztes Jahr bei Heverens auf dem Weihnachtsball getroffen?« »Ich war zwar eingeladen, hatte aber keine Zeit«, antwortete Brad. Alice fürchtete, daß Ivy nun die gesamte Gesellschaftsspalte von Upton Heights durchgehen würde. Deshalb stellte sie ihr eine Frage nach dem Gangster. Es ging um seine Ausdrucksweise. »Was heißt das eigentlich, Bradford: Rauch ins Gesicht werfen oder so ähnlich?« fragte Ivy. »Das ist eine Redewendung, wie sie früher unter den Ranchern üblich war. Die Cowboys pflegten ihre Waffen mit Schwarzpulver zu laden, wobei natürlich immer eine gewaltige Rauchwolke entstand. Wenn sie auf einen anderen Mann schießen mußten, sagten sie: Rauch ins Gesicht werfen.« »Sie wissen eine Menge über den Wilden Westen«, bemerkte Ivy. »Ihr Großvater war doch der berühmte Mark Counter, nicht wahr?« »Ist Ihnen der Räuber irgendwie bekannt vorgekommen, Mrs. Monoghan?« fragte Alice, bevor Brad antworten konnte. »Er war maskiert.« »Ich meine, erinnerte Sie sein Körperbau oder seine -28-
Handlungsweise an irgendeinen Bekannten?« »Nicht, daß ich wüßte«, antwortete Ivy. »Ich habe unter meinen Bekannten allerdings sehr wenige Straßenräuber.« »Er sah also niemandem ähnlich, den Sie kennen?« fragte Alice weiter. »Vielleicht einem Vertreter oder einem Angestellten Ihres Mannes?« »Er erinnerte mich nur an den Bösewicht in einem Wildwestfilm.« Ivy deutete über Brads Schulter hinweg. »Dort ist es.« »Auf dieser Straße kommt man aber nicht nach Euclid!« rief Brad. »Sagten Sie nicht, daß dort Ihr Jagdhaus steht?« »So, habe ich das tatsächlich gesagt?« stieß Ivy hervor. »Da muß ich mich geirrt haben. Aber das ist bestimmt die Abzweigung.« Alice und Brad wußten genau, daß jede weitere Frage doch nur mit Lügen beantwortet worden wäre. Alice stöpselte die lange Schnur des Scheinwerfers in den Stecker unter dem Armaturenbrett des Oldsmobile und erkundigte sich bei Ivy, wie weit sie mit Hoopler in die Seitenstraße hineingefahren sei. »Höchstens eine halbe Meile«, schätzte die Blondine. Brad fuhr im Schrittempo weiter. Als sie um eine Biegung kamen, sahen sie neben dem Weg ein unbeleuchtetes Kabriolett stehen. Die beiden Insassen fuhren erschrocken auseinander, als Alice den Scheinwerfer auf sie richtete. »Die müssen später gekommen sein«, sagte Ivy, »ich habe sie beim Wegfahren nicht gesehen.« Das überraschte die Deputys nicht. Ein Stückchen weiter parkte noch ein Auto. Wieder behauptete Ivy, der Wagen sei vorhin noch nicht dagewesen. Alice erschreckte das Pärchen, sah aber nichts Verdächtiges, und der Oldsmobile rollte langsam weiter. Die Seitenstraßen in der Nähe von Gusher City waren ein beliebter Treffpunkt für -29-
Liebespaare. Alice beugte sich aus dem Fenster und richtete den Scheinwerferstrahl über die Kühlerhaube hinweg auf die andere Straßenseite. Nach etwa einer halben Meile bogen sie um eine Kurve und entdeckten in dem hellen Strahl einen braunen Gegenstand vor dem grünen Hintergrund. Die beiden Deputys sahen, daß es sich um eine Brieftasche handelte, aber Ivy hatte sie noch nicht erblickt. Sie erklärte nach kurzem Zögern, hier habe sie mit Hoopler geparkt. Alice bat Ivy, im Wagen zu bleiben, und stieg aus. Brad holte eine kräftige Stablampe aus dem Handschuhfach und folgte Alice. Ein einziger Blick auf den festen Boden sagte ihm, daß die Vorsichtsmaßnahme überflüssig war. Es bestand wenig Hoffnung, hier Fuß- oder Reifenspuren zu finden. Auch das kurze, harte Gras würde ihm nur wenig über die Anwesenheit des ›Spanners‹ sagen. »In welche Richtung ist er gegangen, Mrs. Monoghan?« fragte Alice. »Dorthin«, antwortete Ivy und deutete durch das offene Fenster hinüber zu den Bäumen. »Sie werden mich doch hier nicht allein sitzen lassen?« »Wir wollen gar nicht weg«, antwortete Alice. Nun wurde Ivy böse. »Soll das etwa heißen, daß Sie ihn entkommen lassen?« »Nein, Mrs. Monoghan«, erwiderte Alice geduldig und rollte die lange Schnur der Lampe auseinander. »Wir lassen ihn nicht entkommen, aber mit der Taschenlampe sehen wir nicht genug, um eine Spur verfolgen zu können. Sobald es hell wird, kommen unsere Spezialisten von der Spurensicherung heraus.« »Aber bis dahin ist er ja über alle Berge«, protestierte Ivy. »Das ist er jetzt auch schon«, sagte Alice. »Wenn wir im Dunkeln herumtappen, verpfuschen wir unseren Fachleuten nur -30-
alles.« »Bring mir bitte einen Beutel, Alice!« rief Brad von der Stelle aus, wo die Brieftasche lag. Alice holte aus dem Handschuhfach einen Plastikbeutel, den man am oberen Ende mit einem Faden zuziehen konnte. Daran war ein Kärtchen befestigt. Sie trat neben ihren Kollegen und hielt den Beutel auf. Brad hob die Brieftasche auf, indem er einen Kugelschreiber hineinschob, und ließ sie in den Beutel fallen. Alice band den Beutel zu und notierte die Fundstelle auf der Karte. »Warum machen Sie das?« fragte Ivy. »Damit unsere Fingerabdrücke nicht auf der Brieftasche sind«, ant wortete Alice. »Mehr können wir hier nicht machen, Brad.« »Stimmt«, murmelte ihr Kollege. »Wir setzen Mrs. Monoghan am Krankenhaus ab und fahren ins Büro zurück.« »Könnten Sie mich nicht nach Hause bringen, Bradford?« fragte Ivy mit einem seltsamen Unterton. »Es könnte ja sein, daß der Mann uns beobachtet und Angst davor hat, daß ich ihn identifiziere.« »Sie sagten doch, Sie könnten ihn nicht identifizieren«, erklärte Alice. »Das weiß er doch nicht«, zischte Ivy, aber dann gab sie schnell ihre aufsässige Haltung wieder auf. »In Ihrer Begleitung würde ich mich sicherer fühlen, Bradford.« »Es ist höchst unwahrscheinlich, daß er irgend etwas gegen Sie unternimmt«, sagte Alice ganz ruhig. »Aber wir werden Sie vorsichtshalber nach Hause eskortieren.« So hatte Ivy sich das zwar nicht vorgestellt, aber sie schwieg dazu. Die beiden Deputy Sheriffs stiegen vorn ein, dann wurde auf der Rückfahrt nicht mehr viel gesprochen. Alice beobachtete die Blondine im Rückspiegel und merkte, wie angestrengt sie -31-
nachdachte. »Das war wahrscheinlich albern von mir«, bemerkte Ivy, als sie auf dem Parkplatz des Krankenhauses aus dem Oldsmobile stieg. »Natürlich ist er nicht hinter mir her. Sie können sich also die Zeit sparen und brauchen mich nicht nach Hause zu bringen.« »Wie Sie wollen, Mrs. Monoghan«, sagte Alice lächelnd. »Falls wir noch etwas von Ihnen wissen müssen, haben wir ja Ihre Telefonnummer. Gehen wir, Brad.« Trotzdem hatten die beiden Deputy Sheriffs die Absicht, Alices Vorschlag auszuführen. Natürlich wußte Brad, daß Ivy mit ihm flirten wollte, aber es konnte auch etwas Ernsteres dahinterstecken. Möglicherweise argwöhnte sie, daß der Raubüberfall von ihrem Mann inszeniert worden war - als Tarnung für eine Maßnahme gegen Hoopler. Doch schließlich kam Alice zu der Überzeugung, daß Ivy einen solchen Verdacht nicht hegte. Es konnten gute Gründe dafür vorliegen, daß die Blondine die Begleitung der Beamten nicht wünschte, Gründe, die ihr auf der Fahrt in die Stadt eingefallen waren. Falls sie Hoopler die Verletzung selbst zugefügt hatte, mußte man damit rechnen, daß sie irgendwelche Beweismittel beseitigen wollte. Das war nicht möglich, wenn ihr ein Polizeiwagen folgte. Deshalb bestand der Verdacht, daß sie Brad ihren Vorschlag unüberlegt gemacht hatte und erst nachträglich die damit verbundene Gefahr erkannte. Wer Tag für Tag mit Verbrechern zu tun hat, wird von Natur aus mißtrauisch. Sie folgten Ivys Cadillac durch die Straßen der Stadt, ohne daß die Blondine am Steuer davon etwas merkte. Ohne jeden Umweg fuhr sie hinauf nach Upton Heights. Dann lenkte sie den Wagen durch ein schmiedeeisernes Tor zu einem prächtigen Haus im pseudomexikanischen Stil. »Es ging ihr also doch nur um deine Begleitung«, bemerkte Alice, als sie dem Cadillac nachsahen, der hinter der -32-
automatisch schließenden Tür der Garage verschwand. »Sind nicht alle hinter mir her, Chefin?« fragte der blonde Hüne grinsend. »Und du hast mir meine Chancen verdorben. Wie schade.« Er griff nach ihrem Arm. »Trotzdem bin ich dir treu.« »Das möchte ich dir auch geraten haben«, warnte Alice. »Jetzt geben wir unseren Bericht ab, und dann darfst du mich ins ›Badge ‹ zum Essen einladen.« »Ich wette, wenn ich mit Ivy gegangen wäre, hätte sie bezahlt«, konterte Brad und fuhr wieder an. »Schon möglich«, schnaubte Alice. »Aber vergiß nicht, daß ich die Rangältere bin.« »Glaubst du, daß sie die Wahrheit gesagt hat?« fragte Brad, als sie ins Geschäftsviertel von Gusher City zurückfuhren. »Ich denke schon, abgesehen von der Begründung, weshalb sie mit Hoopler auf dem Seitenweg angehalten hatte«, antwortete Alice. »Selbst wenn ihr Mann die Sache eingefädelt haben sollte, glaube ich kaum, daß sie etwas vermutet oder den Burschen erkannt hat. War es aber ein einfacher Überfall, ist es nicht anzunehmen, daß sie etwas über den Gangster weiß.« »Sollen wir die Sache als Raubüberfall behandeln?« fragte Brad. Alice war immerhin die Chefin des Teams. »Natürlich. Mal sehen, was die Registratur für uns herausfinden kann. Wenn wir Glück haben, sind die Fingerabdrücke auf der Brieftasche brauchbar.« »Wenn wir soviel Glück haben, führe ich dich eine ganze Woche lang jeden Abend in den ›Queen of Clubs‹ aus und mache die Augen zu, wenn Zippy Sharon auftritt.« »Ich nehme dich beim Wort«, drohte Alice. Sie parkten den Oldsmobile auf dem Platz hinter dem Polizeigebäude und fuhren hinauf zum dritten Stock. Rafferty und Chu unterhielten sich gerade mit McCall. Die drei Kollegen -33-
sahen Brad und Alice mit ungewöhnlichem Interesse entgegen. »Was ist mit eurem ›Spanner‹ «, begrüßte sie McCall. »Was soll mit ihm sein?« fragte Alice. »Er hat auf anderen Nebenstraßen zwei weitere Autos überfallen«, antwortete der First Deputy. »Der eine Anruf kam gleich, nachdem ihr abgefahren seid.« »Warum haben Sie uns nicht verständigt?« fragte Alice. »Damit die anderen hier herumsitzen und nichts tun?« konterte McCall. »Sie sollen ruhig auch ihr Gehalt verdienen.« »Jemand verletzt?« fragte Brad. »Nein, deshalb habe ich Sie auch nicht benachrichtigt.« »Er hat nur verlangt, daß die Opfer ihre Brieftaschen in seinen Hut ausleeren«, berichtete Rafferty. »In beiden Fällen wollte er nur das Geld.« »Die Opfer waren natürlich verärgert über den Verlust«, fuhr Chu fort, »aber ansonsten schienen sie eher belustigt als verängstigt zu sein. Einer der Burschen hat die Sache sogar als einen Witz bezeichnet.« »Dann haben sie Glück gehabt«, sagte Alice ruhig. »Hoopler war weniger vernünftig. Ein Schädelbruch ist kein Spaß.«
5 Am Mittwoch nachmittag um fünf vor vier nahm Deputy Sheriff Alice Fayde das Schild ›dienstfrei‹ neben ihrem Namen von der Anwesenheitsliste, während sich Deputy Sheriff Bradford Counter in das Dienstbuch eintrug. In der vergangenen Nacht hatten sie sich noch mit den Kollegen unterhalten, die den beiden neuen Anzeigen gegen den ›Spanner‹ nachgegangen waren. Es kamen zwar noch ein paar nützliche Details zur Identifizierung hinzu, aber insgesamt -34-
wußten sie nicht viel mehr als vorher. Die überfallenen Pärchen sagten aus, daß der ›Spanner‹ nicht ganz einen Meter achtzig groß und schlank sei. Er habe stumpfbraunes Haar von mittlerer Länge, glatt und ohne Scheitel zurückgekämmt. Eines der männlichen Opfer war ein Waffenfanatiker und erklärte definitiv, daß es sich bei dem Revolver um einen Colt Cavalry Peacemaker gehandelt habe. Der Mann hatte sich außerdem das Revolverhalfter genauer angesehen und behauptete, es sei ein Berns-Martin vom Typ ›Speed‹ gewesen. Der breite Gürtel mit dem geschnitzten Blumenmuster stamme wahrscheinlich von derselben Herstellerfirma. Brad neigte dazu, dem Mann zu glauben. Bei diesem Halfter war es natürlich möglich, auch einen Peacemaker mit einem achtzehn Zentimeter langen Lauf blitzschnell zu ziehen. Die übrigen Opfer bestätigten lediglich Ivy Monoghans Beschreibung. Keines der Pärchen hatte nach dem Überfall einen Motor starten hören. Der Waffenfan erklärte, er habe mindestens fünf Minuten mit der Abfahrt gezögert, aber auch nichts bemerkt. Alice und Brad hofften nur, daß ihnen die Experten von der Spurensicherung etwas über das Fahrzeug des ›Spanners‹ berichten konnten. Die ersten Stadien der Routineermittlungen waren abgeschlossen, als die beiden Deputys Feierabend machten. Sie hatten ihre Informationen an die Registratur weitergeleitet und darum gebeten, die Namen aller bekannten Kriminellen herauszusuchen, die Westernkleidung bevorzugten, nach einer ähnlichen Methode vorgingen oder bei ihren Verbrechen einen Colt Cavalry Peacemaker verwendeten. Hooplers Brieftasche befand sich schon im Labor. Alice hatte das ungute Gefühl, daß die Anfrage in der Registratur zwecklos war, aber sie hoffte, wenigstens durch die Fingerabdrücke etwas zu erfahren. Begründen konnte sie dieses Gefühl nicht, aber wenn man acht Jahre als Polizeibeamtin Dienst macht, bekommt man ein Gespür für solche Dinge. Ihr Instinkt sagte ihr, daß sie es mit -35-
einem neuartigen, gefährlichen Fall zu tun hatten. Nach Feierabend unterdrückten Alice und Brad jeden Gedanken an diesen Fall. Sie wußten ja, daß die Zentrale, die nachts alle Anrufe entgegennahm, sie über jede weitere Entwicklung telefonisch verständigen würde. Als Chefin des Teams würde man Alice zuerst anrufen. Das war ganz günstig, denn während der gefährlichen Aktion gegen die mörderische Colismides-Bande waren Alice und Brad einander sehr nahegekommen. Sie verbrachten auch diese Nacht gemeinsam in Alices Wohnung. Gegen zehn Uhr morgens standen sie auf, sahen die beiden Tageszeitungen durch, fanden aber keine Zeile über den ›Spanner‹. Das überraschte sie nicht, da die Mitteilung der Presseabteilung für den Redaktionsschluß sicherlich zu spät gekommen war. Alice und Brad wußten aber auch, daß die beiden Zeitungen, der Daily Lightning und der Gusher City Mirror, den Fall groß aufziehen würden. Es ist schon eine interessante Sache, wenn im Jet-Zeitalter ein Verbrecher im Dress eines alten Cowboys auftritt. Erstaunt waren die beiden Deputys allerdings, als auch der Rundfunk in den Nachrichten nichts von den Überfällen erwähnte. Während Alice das Geschirr spülte, erkundigte sich Brad im Krankenhaus nach Hoopler. Der junge Schauspieler befand sich außer Gefahr, stand aber immer noch unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln. Der verantwortliche Arzt erklärte Brad jedoch, am Nachmittag sei ein kurzes Gespräch mit dem Patienten möglich. Brad vereinbarte einen Termin um fünf Uhr und legte wieder auf. Dann kümmerte sich Brad um ein paar private Angelegenheiten, während Alice die Wohnung aufräumte. Nach dem Mittagessen gingen sie in die Sporthalle der Polizei und kamen pünktlich zum Dienstantritt um vier Uhr ins Sheriff's Office. -36-
Alice sah sich um. Es waren nur Kollegen von der Nachtschicht da. In ihrem Eingangskorb lagen mehrere Blätter und eine Mappe aus der Registratur. Bevor sie und Brad die Papiere durchsehen konnten, bat McCall die beiden in sein Büro. Auch der First Deputy der Tagschicht und der Sheriff selbst waren anwesend. First Deputy Ricardo Alvarez war nur wenig über mittelgroß, sah aus wie der Liebhaber aus der Stummfilmzeit und bewegte sich mit der beherrschten Eleganz eines Stierkämpfers. Er trug wie üblich Uniform und hatte eine 45er Pistole vom Typ Colt Commander im Halfter am Gürtel hängen. Sheriff Jack Tragg, der oberste Vollzugsbeamte des County Rockabye, war über einsachtzig groß, hatte kurzgeschnittenes schwarzes Haar und ein gebräuntes, hartes Gesicht. Er brachte es fertig, trotz seines gutgeschnittenen braunen Anzugs mit weißem Hemd und elegantem Binder ein bißchen wie der Sheriff aus dem Wilden Westen auszusehen. »Hallo, Alice und Brad«, begrüßte Jack sie und deutete auf zwei freie Stühle vor seinem Schreibtisch. »Ihr habt also gestern abend den vierzehnhundertacht erwischt.« »Unser Pech«, antwo rtete Alice. »Da Sie und Brad vor den anderen Kollegen mit dieser Sache befaßt waren, bleibt der Fall natürlich an Ihnen hängen.« Alice und Brad tauschten einen raschen Blick und wußten, daß der Sheriff sie nicht zu sich gerufen hatte, um Kleinigkeiten mit ihnen zu besprechen. »Sie haben auf Ihrem Tisch ein paar Sachen liegen«, bemerkte McCall. Ihm paßte es nicht recht, daß seine Mitarbeiter Platz genommen hatten, weil er dafür war, so wenig Zeit wie möglich zu vergeuden. »Aber weiter kommen wir damit auch nicht.« »Kennen Sie den Fall, an dem Joan und Sam arbeiten?« fragte der Sheriff. -37-
»Natürlich«, antwortete Alice. Brad nickte. »Sie untersuchen den Mordfall Sandwich. Das war der Buchhalter der Kleiderfabrik Euro-Tex, der einen Nachtwächter ermordete und mit den Lohngeldern der Firma über den Rio Grande verschwand.« »Vielleicht hat er die Grenze gar nicht überschritten«, berichtigte Alvarez. »Captain Garcia hat in den letzten drei Tagen nichts über ihn erfahren.« »Das dürfte bedeuten, daß Sandwich sich nicht in Mexiko aufhält«, sagte Brad. Er wußte, wie tüchtig der mexikanische Kollege auf der anderen Seite der Grenze war. »Aber wo sollen wir ihn dann suchen?« »Joan hat so eine Ahnung, daß er gar nicht geflohen ist«, fuhr Alvarez fort. »Sie glaubt, daß er sich ganz in der Nähe versteckt. Entweder in Gushers City selbst oder irgendwo anders im County.« Sie alle kannten Joan Hilton als eine außerordentlich begabte Kollegin und nahmen deshalb eine solche Vermutung sehr ernst. Alice und Brad warteten gespannt. »Joan hat etwas in Erfahrung gebracht, was die Presse noch nicht weiß«, fuhr Alvarez fort. »Sandwich war mit einem Mädchen aus seiner Firma befreundet. Jemand hat die beiden bei der Kegelbahn beobachtet, wo sie sich zu treffen pflegten. Das Mädchen heißt Laurie Zingel, und die beiden glaubten wohl, daß niemand über ihr Verhältnis Bescheid wisse. Immerhin ist er verheiratet. Joan ist diesem Gerücht nachgegangen. Die kleine Zingel lebt weit über ihre Verhältnisse. Sie hat ihrem Hausmeister mitgeteilt, er solle sich keine Gedanken machen, falls er sie in den nächsten Tagen nicht sehe, sie wolle ihre Mutter in Kalifornien besuchen.« »Aber sie ist nicht dorthin gefahren«, vermutete Alice. »Sie ist Vollwaise«, antwortete Alvarez. »Das bedeutet also, daß sie verschwinden will, aber -38-
vermeiden möchte, daß der Hausmeister sich mit der Polizei in Verbindung setzt, wenn er sie ein paar Tage nicht sieht«, erklärte Brad. »Hat sie etwas gesagt, wann sie wegwollte?« »Nein«, erwiderte Alvarez. »Sie sagte zum Hausmeister, sie warte noch auf eine Nachricht. Seit Joan die Sache über sie und Sandwich erfahren hat, beobachten wir sie. Wir haben auch ihr Telefon angezapft. Bis jetzt hat sich niemand mit ihr in Verbindung gesetzt, auch nicht per Post, aber wir wissen nicht, ob sie etwas von der Überwachung ahnt. Kann sein, daß die beiden sehr vorsichtig sind. Das müssen wir herausbekommen. Von heute an soll sie wissen, daß sie beschattet wird.« »Also eine psychologische Maßnahme«, sagte Alice. »Genau«, bestätigte der Sheriff. »Wenn sie he ute abend nach Hause kommt, stehen Sie beide vor ihrem Mietshaus. Lars und Tony überwachen die Rückseite. Sie benutzen einen Streifenwagen, und einer von Ihnen trägt Uniform.« »Am besten ich«, schlug Alice vor. »Gut, Alice«, pflichtete ihr der Sheriff bei. »In der Nähe wartet ein getarntes Team. Wenn das Mädchen irgendwo hinfährt, fahren Sie ihr nach. Wenn wir Glück haben, führt sie uns bis zum Ende der Woche zu Sandwich.« »Und unser Paragraph vierzehnhundertacht?« fragte Alice. »Darüber wollte ich gerade mit Ihnen sprechen«, antwortete Tragg. »Nach den vorliegenden Berichten hat der ›Spanner‹ in der letzten Nacht etwa fünfhundert Dollar erbeutet. Wie die meisten Gauner dürfte er das Geld ausgeben, bevor er wieder etwas unternimmt.« »Vielleicht ist es ein Verrückter, der es aus Spaß macht«, sagte Brad. »Wenn es ein Verrückter wäre, hätte er Hoopler nicht nur niedergeschlagen«, widersprach Jack Tragg. »Nach Auskunft des Krankenhausarztes ist Hoopler nicht ernstlich verletzt, und -39-
sonst ist niemandem etwas passiert.« »Dagegen läßt sich wenig sagen«, murmelte Brad. »Sehen Sie Ihre Informationen durch«, schlug Jack vor. »Wenn eine brauchbare Spur vorhanden ist, verfolgen Sie sie. Wenn nicht, kümmern Sie sich um Laurie Zingel. Dieser Fall ist wirklich wichtig. Es geht nicht nur um das Geld; Sandwich hat immerhin einen Mord begangen. Offenbar hat er richtig durchgedreht, denn er hat den armen Kerl übel zugerichtet.« »Ich habe die Tatortfotos gesehen«, sagte Alice. »Einem solchen Burschen muß man das Handwerk legen.« Alice wußte natürlich, daß die Fahndung nach Sandwich vor der Untersuchung der Raubüberfälle Vorrang hatte. Wer es fertigbrachte, mit einem Messer so brutal zuzustechen, mußte so schnell wie möglich unschädlich gemacht werden. Ein anderer Sheriff hätte seinen Mitarbeitern vielleicht ohne weitere Erklärung den vorrangigen Fall zugeteilt. Aber das war nicht Jack Traggs Art. Wenn der Sheriff des County Rockabye ein Team von einem Fall abzog, gab er immer eine Erklärung dafür. »Abgesehen von Hoopler hat der ›Spanner‹ niemanden verletzt«, sagte McCall. »Die übrigen Opfer haben die Überfälle fast als Spaß angesehen.« »Genau das macht mir Sorgen«, erklärte Alice sachlich. »Wahrscheinlich dachte Hoopler zuerst dasselbe und wollte sich wehren - dafür liegt er jetzt mit einem Schädelbruch im Krankenhaus. Der nächste, der es versucht, kommt vielleicht nicht so glimpflich davon.« »Da haben Sie durchaus recht, Alice«, antwortete Jack. »Wenn nicht der Mordfall Sandwich wäre, würde ich auch sagen, Sie sollten sich ausschließlich um den ›Spanner‹ kümmern. Ich habe die Reviere ersucht, eventuelle weitere Fälle selbst zu bearbeiten, solange der Mann keine Gewalt anwendet. Aber heute abend dürfte kaum etwas passieren. Er wird erst einmal seine Beute verjubeln.« -40-
Alice war auch schon zu diesem Schluß gelangt, weil die meisten Verbrecher so handeln. Dem Sheriff und seinen beiden Stellvertretern war natürlich klar, wie groß die Gefahr war, daß ein weiteres Opfer den ›Spanner‹ unterschätzen und einen Abwehrversuch unternehmen könnte. Aber dieses Risiko mußten sie wegen des weitaus bedrohlicheren Falls eingehen. »Ich habe die Presseabteilung gebeten, alle unsere Informationen über den ›Spanner‹ an die Zeitungen weiterzugeben«, versicherte Jack. »Die werden die Sache bestimmt groß aufziehen.« »Das schreckt ihn vielleicht ab«, meinte Brad. »Das wäre mir nur recht«, entgegnete der Sheriff. »Wir sind mit Hoopler um fünf Uhr verabredet«, bemerkte Alice. »Sollen wir hingehen?« »Ob er Ihnen wohl etwas Neues sagen kann?« murmelte McCall. »Immerhin möglich«, meinte Brad. »Glauben Sie, daß die Überfälle für Monoghan nur ein Vorwand waren, um Hoopler eine Abreibung zu verpassen?« fragte Jack. »Durchaus möglich«, antwortete Alice. »In diesem Fall hätte er zuerst Mrs. Monoghans Wagen überfallen, Hoopler eins über den Schädel geschlagen und zwei weitere Pärchen angegriffen, um uns in dem Glauben zu lassen, es handle sich um normale Raubüberfälle.« »Behalten Sie das im Auge«, sagte Jack zu Alice und Brad. »Fahren Sie ins Krankenhaus, wenn Sie die Berichte durchgesehen haben. Laurie Zingel kommt etwa um sechs Uhr nach Hause. Wenn Sie in dem anderen Fall nicht auf eine brandheiße Spur stoßen, möchte ich, daß Sie dann vor ihrem Haus warten.« »In Ordnung«, sagte Alice und stand auf. »Ich nehme an, wir -41-
bekommen dafür Triplex-Radios?« Jack nickte. Im Laufe des Vormittags hatte das Nachrichtenkommando die Spezialfunkgeräte eingebaut; man konnte damit nicht nur mit der Zentrale sprechen, sondern auch von Wagen zu Wagen. »Alles vorbereitet«, erklärte der Sheriff. »Auch das Mädchen in der Telefonzentrale, wo der Anschluß des Mädchens überwacht wird, hat ein Triplex-Gerät, In dem Apartmenthaus haben sich im gleichen Flur zwei Kolleginnen einquartiert. Sie beobachten die Wohnung die ganze Nacht über. Sollte die Zingel weggehen, bekommen Sie Bescheid. Sie verfolgen sie dann, und wenn sie versucht, Sie abzuschütteln, verschwinden Sie ruhig.« »Verstanden«, antwortete Alice. Wenn Laurie Zingel den Polizeiwagen abgeschüttelt hatte, würde sie glauben, nicht mehr verfolgt zu werden. Das Zivilfahrzeug konnte ihr dann ungehindert folgen. »Besteht immer noch die Gefahr, daß sie sowohl uns als auch das Zivilfahrzeug abschüttelt«, warnte Brad. »Abends wenn es dunkel wird, bringen Lars oder Toni einen kleinen Peilsender an dem Wagen des Mädchens an«, erklärte Jack Tragg. »Auf diese Weise können wir sie mit dem Funkwagen jederzeit aufspüren. Wenn es hell wird, nehmen wir die Wanze wieder weg.« »Wir rechnen damit, daß sie sich erst nach Einbruch der Nacht mit ihm in Verbindung setzt«, sagte McCall mit einem deutlichen Blick auf die Uhr. »Wenn Sie gehen, schicken Sie Lars und Toni herein.« »Noch irgendwelche Fragen?« erkundigte sich Jack Tragg und mußte über diesen Wink mit dem Zaunpfahl lächeln. »Nein«, antwortete Alice. »Brad?« -42-
»Sie haben alle Fragen schon im voraus beantwortet, Sir.« Brad verließ mit seiner Kollegin das Büro. Alice gab McCalls Anweisung an Larsen und Valenca weiter, dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch. Sie nahm das oberste Blatt aus dem Eingangskorb und begann zu lesen. Brad setzte sich auf seinen Platz und griff nach dem zweiten Blatt. »Die Fingerabdruckabteilung hat einen Teilabdruck auf Hooplers Brieftasche gefunden«, berichtete Alice. »Sie haben schon Vergleichsabdrücke von Hoopler und Mrs. Monoghan genommen. Der Teilabdruck stammt nicht von ihnen. Es handelt sich um einen Mittel- oder Ringfinger der linken Hand, scharf genug für Vergleichszwecke, wenn wir unseren Mann schnappen.« Das überraschte Brad nicht. Es war zwar möglich, den einzelnen Abdruck von der Brieftasche mit einem anderen zu vergleichen, aber die Durchsicht der Tausende von Abdrücken im Archiv würde zuviel Zeit in Anspruch nehmen. Außerdem diente dieser Abdruck im Falle einer Verhaftung als Beweismittel dafür, daß der ›Spanner‹ bei dem Überfall die Brieftasche in der Hand gehalten hatte. »Die Spurensicherung hat nicht einmal so viel herausgebracht«, sagte Brad. »Es ist den Kollegen gelungen, die Stelle zu finden, wo der Kerl sein Fahrzeug abgestellt hatte. Vermutlich handelt es sich um ein Motorrad. Aber wohin er dann gefahren ist, kann man nicht sagen. Dasselbe gilt für die beiden anderen Überfälle. Er muß sich sehr gut im Gelände auskennen. Er wählt immer eine möglichst gerade Linie, vermeidet aber weichen Boden, wo er Abdrücke hinterlassen könnte.« »Also stammt er hier aus der Gegend«, sagte Alice und griff nach dem nächsten Bericht. »Ric Alvarez hat die Firma BernsMartin in Elberton in Georgia angerufen. Er hat sich erkundigt, ob irgendwelche Sechszentimetergürtel mit Blumenmuster und -43-
›Speed‹-Halftern in unserer Gegend verkauft worden sind. Man wollte die Unterlagen durchsehen und uns wieder Bescheid geben. Das ist heute morgen geschehen: Im County Rockabye wurde ein solcher Artikel nicht verkauft, der nächste Kunde sitzt in El Paso.« »Und wer war das dort?« »Ein Sergeant der Stadtpolizei. Ric hat ihn gefragt. Er besitzt den Gürtel noch. Die Firma Berns-Martin schickt uns zusätzlich eine Liste ihrer Kunden in Texas.« »Vielleicht kommen wir damit weiter«, sagte Brad und klappte die Fahndungsmappe auf. »Hier steht auch nicht viel.« Die Registratur der Personenfahndung hatte ihre Unterlagen durchgesehen, konnte aber keinen Verdächtigen anbieten, auf den die Beschreibung des ›Spanners‹ gepaßt hätte. Es lagen die Namen von drei Verbrechern bei, die sich gern wie Cowboys kleideten. Aber keiner von diesen dreien kam für den Raubüberfall in Betracht, da es sich um einen Hehler, einen Taschendieb und einen Safeknacker handelte. »Ric hat auch schon die Reviere angerufen«, fuhr Brad fort. »Bisher noch keine Antwort. Unsere Registratur hat die Angaben an das Zentralarchiv in Austin weitergeleitet. Vielleicht erfahren wir dort etwas.« »Das ist auch schon alles«, seufzte Alice. »Absolut nichts, was man eine brandheiße Spur nennen könnte. Fahren wir zu Hoopler. Auf dem Rückweg ziehe ich die Uniform an, falls auch er uns nichts Wesentliches mitteilen kann.«
6 Laurie Zingel war nicht der Typ Frau, der einen biederen Familienvater veranlassen könnte, einen brutalen Raubmord zu begehen. Sie war klein und füllig, trug ihr blondes Haar -44-
hochgesteckt und hatte ein hübsches, lebendiges Gesicht, das durch die Hornbrille nicht weniger attraktiv wirkte. Sie machte einen umgänglichen Eindruck, und sie sah auch ganz nett aus, aber es fehlte ihr die hinreißende Schönheit oder Eleganz, die einen Mann ins Verbrechen treiben kann. Doch genau das hatte sie getan. Hinter dem lustigen Gesicht und dem rundlichen Körper verbarg sich der harte Kern einer kompromißlosen, berechnenden Frau. Sie hatte schon immer das gute Leben geliebt und nach Möglichkeiten gesucht, sich ihre Wünsche zu erfüllen. Sie war nach Gusher City gekommen und arbeitete bei der Euro-Tex als Sekretärin, während sie auf eine bessere Chance wartete. Da lernte sie Arnold Sandwich kennen. Schon nach kurzer Zeit entdeckte sie in ihm einen verwandten Geist. Es fiel ihr leichter als erwartet, ihn zu dem Raub zu überreden. Natürlich hatten seine finanziellen Schwierigkeiten ihn solchen Vorschlägen gegenüber aufgeschlossener gestimmt, zumal er ein scheinbar normales Familienleben weiterführen und außerdem Lauries extravagante Wünsche erfüllen mußte. Sandwich war ganz hingerissen von Laurie, und es bedurfte nur geringer Überredungskünste, ihn davon zu überzeugen, daß sie beide mit den Lohngeldern von der Firma ein neues Leben beginnen könnten. Laurie hatte ihn darauf hingewiesen, daß Sandwichs Frau als überzeugte Katholikin nie in eine Scheidung einwilligen würde. Das bedeutete, daß sie Gusher City verlassen mußten. Laurie hatte darauf bestanden, daß vorher genügend Geld für einen bequemen Start in ein neues Leben vorhanden sein müsse. Nachdem sich Sandwich mit dem Gedanken abgefunden hatte, daß sich die vorhandenen Probleme nur durch einen Raub lösen ließen, hatte er Laurie durch seine planerischen Fähigkeiten überrascht. Er wollte nicht das Verbrechen begehen und sofort die Flucht ergreifen, sondern sich mit dem Geld in der Stadt verstecken. Erst wenn etwas Gras über die Sache -45-
gewachsen war, sollte Laurie Urlaub nehmen, angeblich um ihre kranke Mutter in Kalifornien zu besuchen. Dann wollte sie sich mit Sandwich treffen und über den Rio Grande nach Süden fliehen. Bis zu diesem Zeitpunkt sollte sie sich mit Sandwich nicht in Verbindung setzen. Sie wußte, wie sehr er unter ihrem Einfluß stand und daß sie ihm völlig vertrauen konnte. Der Mord an dem Nachtwächter hatte die beiden noch enger miteinander verbunden. Der schwarz-weiße Polizeiwagen auf der anderen Straßenseite beunruhigte sie überhaupt nicht, als sie nach Feierabend in ihrem Kabrio vorfuhr. Sie und Sandwich hatten sorgfältig darauf geachtet, daß ihre Beziehungen geheim blieben. Sie war ganz sicher, daß sie niemand mit Sandwich in Verbindung brachte. Sie lebte zwar in einer verhältnismäßig teuren Wohnung im Stadtbezirk Leander, kleidete sich immer nach der neuesten Mode und trug kostbaren Schmuck, aber sie hatte vorsichtshalber die Legende von reichen Eltern in Kalifornien verbreitet, die ihr Sekretärinnengehalt mit einem großzügigen Taschengeld aufbesserten. In dem sicheren Bewußtsein, ein perfektes Verbrechen begangen zu haben, lenkte sie ihr Plymouth-Kabrio aus der Longley Street auf den Parkplatz des ›Temple House‹. Sie hielt an und warf einen raschen Blick auf den Mann, der aus dem Seiteneingang des Gebäudes trat. Dann sah sie noch einmal genauer hin, denn seine Statur und sein Gesicht fielen ihr auf. Der gutaussehende blonde Hüne schlenderte hinüber zu einem offenen Sportwagen und machte die Tür auf. Dabei klaffte die teure Tweedjacke vorn auseinander. Laurie konnte von ihrem Platz aus erkennen, daß seitlich an dem dunkelblaue n Sporthemd ein schwarzes Schulterhalfter mit einer großkalibrigen Pistole darin befestigt war. Der Schreck ließ Laurie erstarren, als ihr klar wurde, was das -46-
bedeutete. Es gab nur zwei Personengruppen, die solche Halfter trugen: Verbrecher und Kriminalbeamte. Dann raffte sie sich auf und schwang ihre Beine aus dem Wagen. Der große blonde Mann sah nicht wie ein Gauner aus, aber er war auch wesentlich besser gekleidet als die Beamten, die sie seit dem Verbrechen dauernd in ihrer Firma gesehen hatte. »Hübscher Abend, Ma'am«, sagte der Blonde gemütlich, richtete sich auf und knöpfte die Jacke zu. »Ja«, antwortete Laurie und schlug die Wagentür zu. Dabei wich sie seinem Blick aus. »Sie sollten ihn abschließen, Ma'am«, sagte der Blonde, als sie ins Gebäude gehen wollte. »Wir - ich meine das Sheriff's Office - bitten immer wieder, die Autos nicht unverschlossen herumstehen zu lassen.« Es kostete Laurie einige Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Das Wort ›wir‹ war ein Versprecher gewesen, den der Blonde zwar rasch korrigiert hatte, aber sie wußte jetzt, daß es sich nicht um einen Gauner handelte. Trotz der eleganten Kleidung gehörte er zum Sheriff's Office, und er war aus dem Apartmenthaus gekommen, in dem sie wohnte. Laurie gab sich alle Mühe, möglichst nonchalant zu wirken, als sie den Wagen abschloß und den Schlüssel in ihre Handtasche fallen ließ. Der Mann nickte ihr höflich zu und ging weg. Beunruhigt trat Laurie auf den Seiteneingang des Hauses zu. In der Tür drehte sie sich noch einmal um. Der blonde Hüne stand da und sah ihr nach. Das war nichts Ungewöhnliches, da sie in ihrem Minikleid und dem kurzen Umhang einen hübschen Anblick bot. Als der Mann ihren Blick bemerkte, machte er auf dem Absatz kehrt und verließ den Parkplatz. Zu ihrem Ärger sah Laurie den Hausverwalter nicht, als sie durch den Flur ging. Sie hätte sich sonst beiläufig erkundigen können, was der Deputy Sheriff hier gewollt hatte. Ein Instinkt warnte sie davor, den Verwalter eigens in seiner Wohnung -47-
aufzusuchen, um ihre Neugier zu befriedigen. Also fuhr sie mit dem Lift in den ersten Stock hinauf und schloß ihre Wohnung auf. Sie durchquerte ihr Wohnzimmer und stellte sich neben das große Fenster an die Wand. Langsam schob sie den Vorhang beiseite und sah auf die Straße hinab. Ihr Verdacht wurde bestätigt. Der große Blonde stand neben dem Polizeiwagen und sprach mit der Frau am Steuer. Von ihrem Fenster aus konnte Laurie deutlich das schildförmige Abzeichen am Jackenärmel der Frau erkennen. Sie trug also eine Uniform. Es war nicht das dunkle Blau der Stadtpolizei, sondern die Khakifarbe des Sheriff's Office. Laurie ließ den Vorhang wieder zurückfallen und setzte sich auf einen Stuhl an dem kleinen Eßtisch. Fast eine Minute lang spielte sie nervös mit ihrer Handtasche und sah hinüber zu dem Telefon auf dem Schränkchen. Sie stand auf und setzte sich wieder. Ich darf unter keinen Umständen durchdrehen, sagte sie sich. Sie war so vorsichtig gewesen, daß man sie unmöglich mit Arnold Sandwich in Verbindung bringen konnte. Der große blonde Deputy Sheriff hatte das ›Temple House‹ sicher aus einem anderen Grund aufgesucht. Wenn sie noch einmal zum Fenster ging, war der Polizeiwagen bestimmt verschwunden. Erst nach vollen fünf Minuten konnte Laurie sich aufraffen, noch einmal aus dem Fenster zu sehen. Wieder schob sie behutsam die Gardine beiseite und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Der Oldsmobile parkte nicht mehr gegenüber dem Hauseingang. Also war ihre Besorgnis grundlos gewesen. Sie trat vor das Fenster und sah hinüber zu den vertrauten Häusern auf der anderen Straßenseite. Ihr Blick schweifte langsam von Harbys Sportgeschäft zum Friseurladen, vorbei am Drugstore und dann weiter zum Musikgeschäft Wymondhan. Plötzlich durchfuhr sie ein Schreck. Sie hatte unbewußt etwas wahrgenommen, was einen Alarm in ihr auslöste. Ihr Blick huschte zurück zu dem schmalen Durchgang zwischen dem -48-
Drugstore und dem Musikgeschäft. Dort war die Kühlerhaube eines schwarzen Wagens zu erkennen. Aber nein - nur die Haube selbst war schwarz, die Stoßstange war weiß gestrichen. Viel war von dem Fahrzeug nicht zu sehen, aber es konnte sich nur um den Oldsmobile des Sheriff's Office handeln, der vorhin auf der Straße gestanden hatte. Laurie biß sich auf die Unterlippe und kehrte zu dem Tisch zurück. Wieder streifte ihr Blick das Telefon. Nur mit Mühe konnte sie sich wieder beruhigen. Der Mann aus Nummer 14 hatte sich immer schon verdächtig benommen. Vielleicht waren sie hinter ihm her. Oder die Beamten überwachten grundsätzlich alle Mitarbeiter der Firma - in der Hoffnung, daß jemand, der ein schlechtes Gewissen hatte, einen entscheidenden Fehler beging. Warum ausgerechnet sie? Niemand in ihrer Firma hatte doch etwas von ihr und Sandwich gewußt. Aber möglich, daß alle beobachtet wurden. Dann würde sie es ja erfahren, wenn sie am nächsten Morgen ins Büro kam. Beruhigt sagte sie sich, daß der große Blonde sie auf dem Parkplatz niemals angesprochen hätte, wenn die Überwachung ihr galt. »Reiß dich zusammen, Laurie«, murmelte sie, »sie wissen nichts. Sie können nur dann eine Verbindung zwischen mir und Arnold herstellen, wenn ich sie zu ihm führe.« »Sie hat angebissen, Alice«, sagte Brad Counter zu seiner Kollegin. »Eins muß man ihr lassen: Für eine Frau hat sie ihre Überraschung beim Anblick meiner Pistole sehr gut überspielt.« »Mhm«, machte Alice und überhörte die letzte Bemerkung. »Du bist also sicher, daß sie dich als Deputy Sheriff erkannt hat.« »Ich habe rein zufällig herausrutschen lassen, daß ich zum Sheriff's Office gehöre«, antwortete Brad. »Wenn sie sich beim Verwalter erkundigt, wird er sich genau nach unseren Anweisungen richten.« »Er weiß nicht, hinter wem wir her sind?« -49-
»Nein. Ich habe gesagt, es gehe um die beiden Polizeibeamtinnen. Angeblich gehören sie zu einem Call-GirlRing, den wir sprengen wollen. Er macht sich Sorgen um den guten Ruf des Hauses, aber ich habe ihn davon überzeugt, daß es seine Bürgerpflicht sei, uns zu helfen. Er müsse also die Mädchen dort wohnen lassen, wo wir sie im Auge behalten können. Ich habe ihm verboten, mit irgend jemandem über die Sache zu reden, aber ich wette, daß er sie nicht für sich behalten kann, wenn Miss Zingel sich nach mir erkundigen sollte.« »Das müßte reichen.« Alice lächelte und beobachtete die Fenster im ersten Stock des ›Temple House‹. »Ich habe zwar keine Ahnung, was die Mädche n mit dir anstellen werden, wenn sie erfahren, wie du sie in Verruf bringst, aber... Sie sieht zu uns herüber, Brad. Wir warten, bis sie vom Fenster weggeht, dann postieren wir uns in der Einfahrt.« Alice ging um den Wagen herum und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Laurie stand nicht mehr am Fenster. Brad griff nach dem Sprechgerät vom Typ General Electric Voice Commander und schaltete es ein. »Psycho Eins an Posten«, sagte Brad. »Hier Posten«, kam sofort die Antwort von einer der Beamtinnen im ›Temple House‹. »Verdächtige Person zu Hause«, meldete Brad. »Lenken Sie uns in die Seitenstraße.« Alice hatte inzwischen den Oldsmobile in Bewegung gesetzt. Von ihrem Fenster aus beobachtete die Kollegin, wie der Wagen ein Stück die Straße entlangfuhr und dann rückwärts in die Lücke zwischen dem Drugstore und dem Musikgeschäft einparkte. »Noch ein Stück zurück«, dirigierte sie über ihr Triplex-Gerät. Sie versuchte, sich dabei vorzustellen, wieviel Laurie von ihrem Fenster drüben sehen konnte. »Halt, das müßte reichen. Ende, Psycho Eins.« »Ausgerechnet Psycho!« schnaubte Alice und schaltete den Motor aus. »Ich weiß nicht, wer die Decknamen aussucht, aber -50-
diesmal spinnt jemand.« Der Wagen war nun so geparkt, daß Laurie den Eindruck bekommen mußte, er sollte von ihr nicht gesehen werden. Nun bereiteten sich die beiden Deputys auf eine vielleicht sehr lange und langweilige Wartezeit vor. Alice ließ sich von Brad das Sprechgerät geben und überzeugte sich davon, daß die Verbindungen zu den anderen Stellen funktionierten. Bei dieser Gelegenheit gab sie die Geschichte durch, die Brad dem Hausverwalter erzählt hatte. Die männlichen Beschatter, die mithörten, lachten leise, aber die Frauen drüben im Haus schworen Rache. Alice und Brad hatten bei ihrem Besuch im Krankenhaus von Hoopler nichts Neues über den ›Spanner‹ erfahren. Dann waren sie zur Longley Street gefahren. Sie hatten ihren Wagen so geparkt, daß Laurie ihn bei der Rückkehr von der Firma unmöglich übersehen konnte. Brad wollte ganz sicher sein, daß Laurie auf ihre Anwesenheit aufmerksam wurde. Deshalb betrat er kurz vor sechs Uhr das ›Temple House‹ und sah sich den Verwalter an. Wenn er sich nicht sehr irrte, war das ein Typ, der besonders vor hübschen Mädchen gern angab. Sollte Laurie ihn nach Brads Besuch fragen, würde er zunächst bestimmt wunschgemäß antworten, es handle sich um eine reine Routinesache. Aber Brad war sicher, daß der Mann auf weitere Fragen eingestehen würde, daß der Besuch den Bewohnern von Nummer 18 gegolten habe. Die Gelegenheit, dem Mädchen gegenüber mit seinem geheimen Wissen prahlen zu können, ließ er sich bestimmt nicht entgehen. Der Besuch, diese Geschichte und das rein zufällige Zusammentreffen mit Laurie waren wohlüberlegte Bestandteile der psychologischen Beschattung, wie man es nannte. Durch die Anwesenheit der Beamten nervös geworden, würde Laurie bestimmt bald mit dem Verwalter sprechen. Wenn sie Brads Geschichte schluckte, was zu erwarten war, würde sie sich wieder beruhigen: Um so größer war dann bestimmt der Schock, -51-
wenn sie erkennen mußte, daß die Überwachung des Gebäudes in Wirklichkeit ihr galt. Laurie hatte einige Mühe, ihre innere Unruhe zu unterdrücken. Um nicht immer wieder ans Fenster zu laufen, ging sie in die Küche und kochte sich etwas zu essen. Sie erfreute sich sonst eines gesunden Appetits, aber diesmal stocherte sie nur lustlos in ihrem Essen herum. Dann beschloß sie, dieser Ungewißheit ein Ende zu machen. Wie sie den Hausverwalter kannte, war er sicher gern bereit, ihr etwas mehr über den Besuch des Deputy Sheriffs zu erzählen. Laurie zog eine schwarze Hose an und dazu einen knapp sitzenden Pulli, der die Taille frei ließ. Dann betrachtete sie sich im Garderobenspiegel. Der alte Kroon war sicherlich bereit, ihr ausführlich alle Fragen zu beantworten, wenn er sie dabei gierig mit den Blicken verschlingen durfte. Sie verließ ihre Wohnung. Wenn Laurie sich genau umgesehen hätte, wäre ihr vielleicht aufgefallen, daß die Tür zu Nummer 18 einen Spaltbreit offenstand. In dem Spalt hätte ein aufmerksamer Beobachter ein Auge bemerkt. Aber natürlich hätte sich die Tür sofort geschlossen, wenn Laurie sich umgedreht hätte. Die Blondine verschwand im Lift und fuhr nach unten. »Posten an alle«, sagte die gutaussehende, modisch gekleidete Beamtin, nachdem sie die Tür geschlossen hatte. »Verdächtige Person hat gerade Aufzug betreten. Verläßt vielleicht das Haus.« Laurie erreichte das Erdgeschoß und sah in der Halle die eckige Gestalt des Verwalters stehen. Als er Lauries Sandalen auf dem Steinboden klappern hörte, drehte er sich um und musterte sie ungeniert von Kopf bis Fuß. »Guten Abend, Miss Zingel«, grüßte Kroon und zog sie förmlich mit den Augen aus. »Hallo, Mr. Kroon«, antwortete Laurie mit einem verwirrenden Lächeln. »Wie geht's denn?« »Ich kann mich nicht beklagen«, antwortete Kroon und ließ -52-
seinen Blick langsam abwärts gleiten. »War das nicht ein Deputy Sheriff, den ich vorhin hier gesehen habe?« fragte Laurie betont beiläufig. Kroon tat ganz geheimnisvoll. »Ja, eine reine Routineüberprüfung.« »Oh«, antwortete Laurie und tat, als wollte sie sich abwenden. »Ich dachte schon, es wäre etwas Interessantes los.« Kroon wollte natürlich nicht, daß Laurie so schnell wieder ging. Er sah sich verstohlen nach beiden Seiten um und senkte seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern. »Ganz im Vertrauen, Miss Zingel: Das war nicht der eigentliche Grund seines Besuchs. Ihnen kann ich es ja sagen, weil ich weiß, daß Sie nicht mit den anderen Hausbewohnern tratschen. Aber vertraulich.« »Natürlich«, sagte Laurie. Sie spürte schon, wie die innere Spannung nachließ. Wenn der Deputy Sheriff sich nach ihr erkundigt hätte, wäre Kroon nicht so liebenswürdig gewesen. Aber ihre weibliche Neugier war nun erwacht, und sie wollte unbedingt wissen, wer von den Hausbewohnern die Gesetzeshüter auf sich aufmerksam gemacht hatte. »Er hat sich nach den beiden jungen Frauen im Apartment Nummer achtzehn erkundigt«, flüsterte Kroon geheimnisvoll. »Warum?« »Einer jungen Dame kann ich diese Frage kaum beantworten«, sagte Kroon augenzwinkernd. »Es hat etwas damit zu tun, wozu sie ihr Telefon verwenden.« »Oh«, schnurrte Laurie mit einem Augenaufschlag. »Ich verstehe. Und dabei sehen die Mädchen so nett aus!« »Ich wollte sie hinauswerfen, hab's mir aber anders überlegt. Wie ich dem Beamten sagte, müßte er sie sonst wieder suchen. Also lasse ich sie hier wohnen, bis die Polizei den ganzen Ring -53-
sprengen kann.« Laurie hätte zwar lieber das Gegenteil vernommen, ließ sich aber nichts anmerken. Die Beamten störten ihre Pläne nicht, denn sie hegten keinen Verdacht gegen sie. Also setzte sie ihr verwirrendstes Lächeln auf und wandte sich zum Gehen. »Sehr klug von Ihnen«, lobte sie. »Ich muß jetzt Essen machen.« »Wann werden Sie uns verlassen, Miss Zingel?« fragte Kroon. »Ich warte nur noch auf eine Nachricht von Mutter«, antwortete Laurie. »Aber ich bin bestimmt in vierzehn Tagen wieder zurück.« Kroon betrachtete von hinten ihre Figur, bis das Mädchen im Aufzug verschwunden war. Miss Zingels Wohnung würde also nicht frei werden. Sollte sich aber die rundliche Blondine noch einmal melden, konnte er ihr Nummer 18 anbieten. Wie war diese Frau nur auf den Gedanken gekommen, daß Miss Zingel ausziehen wollte? Aber er hatte ihr jedenfalls Bescheid gesagt. Kroon wußte nicht, daß Deputy Sheriff Joan Hilton es ausgezeichnet verstand, unauffällig Informationen einzuholen. Als Laurie den Aufzug verließ, warf sie einen Blick hinüber zum Apartment Nummer 18. Die Beamtin dort schloß so blitzschnell die Tür, daß Laurie es nicht merkte. Laurie ging in ihre Wohnung zurück, während die Beamtin drüben über Funk meldete, die verdächtige Person sei zurückgekehrt. »Nach dem Blick zu urteilen, den sie auf unsere Tür geworfen hat, muß sie mit dem Verwalter gesprochen haben«, meldete der weibliche Beobachtungsposten. »Brad Counter, Sie haben unseren guten Ruf ruiniert.« »Und jetzt können wir nicht einmal ausschlafen«, fügte ihre Kollegin hinzu, ein großes, schlankes schwarzhaariges Mädchen. -54-
»Ausgerechnet Sie müssen sich beschweren«, sagte die Stimme des Mannes, der das Telefon angezapft hatte. »Ich hocke hier in einem Keller und habe einen Hirschkopf vor mir, der mich vorwurfsvoll anschaut, als wollte er sagen: Warum hast du mich hier aufgehängt?« »Sie sind wenigstens unter Dach und Fach«, fügte Valenca aus seinem Wagen hinter dem Gebäude hinzu. »Ich sitze mit Lars hier in der Blechkiste.« »Wenn er so laut schnarcht wie Alice, tun Sie mir leid«, bemerkte Brad. »Woher wissen Sie überhaupt, daß Alice schnarcht, Psycho Eins?« fragte die Beamtin aus Nummer 18. »Wir haben gemeinsam Wache geschoben«, erwiderte Alice. »Woher sonst?« »Ja, woher sonst?« antwortete ihre Kollegin anzüglich. Dann wurde nicht mehr gesprochen. Alice und Brad machten es sich in ihrem Oldsmobile so bequem wie möglich. Sie wußten, was ihnen blühte. Ein Vorteil der psychologischen Beschattung war jedoch, daß sie gelegentlich aussteigen und ihre Beine vertreten konnten, ohne sich Sorgen darüber machen zu müssen, ob die verdächtige Person sie bemerkte oder nicht. Die Zeit kroch langsam dahin. Die Nacht brach herein. Offenbar wollte Laurie nicht mehr ausgehen. Sie zog die Vorhänge zu und schaltete um halb elf das Licht aus. Alice gab diese Beobachtung an den Posten im Apartment 18 weiter, aber von dort kam kein Bericht darüber, daß die Blondine ihre Wohnung verlassen hatte. Obgleich alles darauf hindeutete, daß Laurie schlafen gegangen war, saß ständig eine der beiden Beamtinnen an der einen Spalt breit geöffneten Tür. Im Keller des Sportgeschäfts hielt sich ein Techniker der Nachrichtenabteilung bereit, jedes Telefongespräch von Laurie Zingel auf Band aufzunehmen. Hinter dem ›Temple House‹ ließ Larsen seinen Kollegen im -55-
Auto sitzen, während er rasch etwas essen ging. In der schmalen Einfahrt gegenüber spielten Brad und Alice auf einem Reisebrett Schach. Ein Stück entfernt saßen Joan Hilton und ihr Kollege Sam Cuchilo, ein mittelgroßer Vollblutcomanche, in ihrem getarnten Wagen und warteten, ob etwas geschehen würde. Kurz nach Mitternacht sah Brad seinen Vorgesetzten McCall in die Seitengasse einbiegen. Alice schlief auf dem Rücksitz. Ohne sie aufzuwecken, stieg Brad aus. »Alles in Ordnung?« fragte McCall. »Alles klar«, antwortete Brad. »Es gibt nichts Schöneres als diese Nachtwachen. Aber noch lieber liege ich unten am Rio Grande während eines Wolkenbruchs unter einem Busch.« »Möglich, daß sich das einrichten läßt«, sagte McCall trocken. Die Männer unterhielten sich zwar leise, aber Alice hörte sie doch. Sie stieg ebenfalls aus, streckte sich und holte tief Luft. »Ist etwas?« fragte sie. »Nein«, antwortete Brad. »Die kleine Zingel ist vernünftiger, als wir dachten. Sie liegt jetzt schön warm in ihrem kuschligen Bett.« McCall ließ sich berichten und gab dann einen Brummton von sich, der wohl als Zustimmung aufzufassen war. »Nicht übel«, murmelte er, nachdem Alice ihren Bericht abgeschlossen hatte. Aus seinem Mund war das geradezu eine Ovation. »Der ›Spanner‹ hat übrigens wieder zugeschlagen. Heute abend hat er auf Seitenwegen der Autostraße drei Wagen überfallen. Diesmal hat er ungefähr vierhundert Dollar erbeutet.« »Jemand verletzt?« fragte Alice. »Nein. Er ging nach derselben Methode vor wie gestern abend: Die Opfer mußten den Inhalt ihrer Brieftasche in seinen Hut leeren. Nur trägt er jetzt Handschuhe. Einer der jungen -56-
Männer wollte sich wehren, sagte sich dann aber, daß es sich für fünfzig Dollar nicht lohne. Die anderen beiden betrachteten das Ganze beinahe als einen schlechten Witz.« Alice war zwar erleichtert, weil niemand zu Schaden gekommen war, aber McCalls Bericht weckte in ihr eine böse Vorahnung. Wenn nun jemand keinen Spaß verstand und das dem ›Spanner‹ handgreiflich zu verstehen gab - was dann?
7 Daß die Aufmerksamkeit der Beamten nicht dem Apartment 18, sondern ihr selbst galt, bemerkte Laurie Zingel erst, als sie nach Feierabend ihren Wagen vom Parkplatz der Euro-Tex holte. Aber selbst jetzt wollte sie sich noch nicht mit der bitteren Erkenntnis abfinden, daß das Sheriff's Office über sie vielleicht mehr wußte, als ihr lieb sein konnte. Am Morgen beim Aufstehen war sie ihrer Sache so sicher gewesen, daß sie sich nur mit einem flüchtigen Blick aus dem Fenster davon überzeugt hatte, daß die Beamten immer noch auf ihren Posten waren. Auf dem Weg durch die Stadt hatte der dichte Verkehr sie so abgelenkt, daß ihr der Dienstwagen, der ihrem Kabriolett folgte, nicht aufgefallen war. Sie hatte ihn zwar vor dem Parkpla tz bemerkt, als sie ins Büro ging, aber nicht weiter darüber nachgedacht. Zwei Männer saßen darin, nicht die rothaarige Beamtin und der blonde Hüne. Seit dem Diebstahl der Lohngelder gingen die Kriminalbeamten hier aus und ein, so daß sie ihr schon gar nicht mehr auffielen. Der Tag war für Laurie genauso verlaufen wie jeder andere: Routinearbeit im Büro, Abwehr von Annäherungsversuchen, Mittagessen in der Kantine und schließlich der Feierabend. Wenn sie zwischendurch ans ›Temple House‹ dachte, dann höchstens in Verbindung mit der Frage, ob die Beamten schon -57-
etwas über die illegale Beschäftigung der beiden Mädchen in Nummer 18 erfahren haben mochten. Als Laurie nun auf ihr Kabriolett zuging, wurde sie das Gefühl nicht los, von hinten beobachtet zu werden. Sie spürte dabei nicht den bewundernden Blick eines Mannes für ein hübsches Mädchen in aufreizender Kleidung, sondern es war etwas Kaltes, Berechnendes dabei. Dieses Gefühl wurde immer stärker. Also drehte sie sich um. Zuerst bot sich ihr nur der vertraute Anblick ihrer Kollegen, die ebenfalls schnell ihre Wagen holten, um nach Hause zu kommen. Dann sah sie hinüber zum Drahtzaun, der den Parkplatz umgab. Auf der Straße davor parkte wieder der schwarz-weiße Oldsmobile. Die Erkenntnis durchzuckte sie wie ein Blitz. Das war nicht der Wagen, der ihr am Morgen aufgefallen war, sondern der andere vom ›Temple House‹. Am Steuer saß die rothaarige Frau und sah hinüber zum Parkplatz. Laurie wandte sich schnell ab, als sich ihre Blicke begegneten. Drüben am Einfahrtstor stand wartend der blonde Hüne. Auch er sah direkt zu Laurie hinüber. Nervös stieg sie in ihren Wagen. Glücklicherweise war das Dach hinuntergeklappt, so daß niemand beobachten konnte, wie schwer sie um Selbstbeherrschung kämpfen mußte. »Sie können unmöglich hinter mir her sein«, murmelte sie, während sie den Motor anließ. »Das kann einfach nicht sein. Der Sheriff hat den Posten bestimmt ausgewechselt, damit die Mädchen nicht mißtrauisch werden. Die beiden sind jetzt wegen einer anderen Sache hier. Nicht meinetwegen.« Das sagte sie sich auf dem Heimweg immer wieder vor. Auf halbem Weg zur Longley Street mußte sie an einer Ampel halten und merkte, daß der Polizeiwagen genau hinter ihr stand. Sie erkannte auch die beiden Insassen. Lauries Selbstsicherheit war zwar erschüttert, aber noch nicht gebrochen. So schnell ging das bei ihr nicht. Sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, gemeinsam mit Sandwich die dumme Polizei überlistet zu haben, und wehrte sich einfach gegen das Eingeständnis, daß -58-
dies ein Irrtum sein könnte. Als Laurie das ›Temple House ‹erreichte, erlebte sie den nächsten Schock. Sie parkte ihr Kabrio und sah, wie der Oldsmobile auf der anderen Straßenseite hielt. In der Einfahrt zwischen dem Drugstore und dem Musikgeschäft stand niemand. Das konnte bedeuten, daß die Aktion erfolgreich abgeschlossen war. Trotz dieser Theorie brachte es Laurie nicht fertig, beim Aussteigen direkt zu dem Polizeiwagen hinüberzublicken. Sie sah betont nach der anderen Seite und stellte fest, daß am anderen Ende des Parkplatzes ein mittelgroßer Mann in der Khakiuniform eines Deputy Sheriffs stand. Er hob die Hand, um den Insassen des Oldsmobile ein Zeichen zu geben. Als er bemerkte, daß Laurie ihn beobachtete, wandte er sich ab und verschwand hinter dem Gebäude. Mit einem tiefen Seufzer rannte Laurie auf den Seiteneingang zu und ging ins Haus. »Sie wird nervös, Brad«, bemerkte Alice, nachdem sie die Reaktion der Blondine auf Valencas Erscheinen beobachtet hatte. »Sieht ganz so aus«, murmelte Brad. »Aber wird sie jetzt versuchen, sich mit Sandwich in Verbindung zu setzen?« »Hoffentlich. Ich möchte mich möglichst schnell wieder um den ›Spanner‹ kümmern.« Alice und Brad waren um vier Uhr morgens von einem anderen Team abgelöst worden und hatten nur ihren Wagen auf den Parkplatz hinter dem Polizeigebäude gestellt, ohne noch einmal ins Büro hinaufzugehen. Mit Brads MG waren sie in Alices Wohnung gefahren, hatten fast bis zum Mittag geschlafen und dann beim verspäteten Frühstück die Zeitungsberichte über den ›Spanner‹ überflogen. Wie erwartet, hatten der Lightning und der Mirror die Story groß aufgemacht. Irgend etwas an den Berichten störte Alice. -59-
Die beiden Zeitungen vertraten zwar genau entgegengesetzte politische Richtungen, aber sie behandelten die Raubüberfälle übereinstimmend eher wie einen Witz und nicht wie eine gefährliche Serie von Verbrechen. Es wurde nur am Rande erwähnt, daß eines der Opfer Verletzungen erlitten hatte, aber das mochte auch daran liegen, daß die Presseabteilung des Sheriff's Office auf Ivy Monoghans Wunsch Rücksicht genommen hatte, ihren und Hooplers Namen nicht zu erwähnen. Man hatte der Presse lediglich mitgeteilt, eines der Opfer sei von dem ›Spanner‹ mit dem Revolver niedergeschlagen, dabei aber nicht ernsthaft verletzt worden. Hoopler selbst stand für ein Interview nicht zur Verfügung. Ivy hatte dafür gesorgt, daß er gleich nach dem Gespräch mit den beiden Deputy Sheriffs heimlich in ein Privatsanatorium verlegt wurde. Dem allgemeinen Trend der Zeitungen folgten auch Radio und Fernsehen. Vier Opfer des ›Spanners‹ wurden interviewt, aber für sie schien der Verlust von Bargeld kaum mehr zu sein als eine Art Eintrittspreis zu einer Volksbelustigung. Beide männlichen Opfer erklärten, sie hätten sich nur deshalb nicht gegen den ›Spanner‹ zur Wehr gesetzt, weil sie einen offenbar Verrückten nicht ärgern wollten - also nicht aus Angst um die eigene Sicherheit. Die beiden Mädchen hatten sich auch nicht gefürchtet, sondern betrachteten das Erlebnis als einen Gag, von dem man im Büro erzählen konnte. Presse, Funk und Fernsehen gaben zwar die Warnung der Polizei weiter, daß der Verbrecher gefährlich werden könnte, aber sie behandelten diesen Aspekt nur ganz nebenbei. Brad, der Alices Besorgnis teilte, war gern bereit gewesen, an diesem Nachmittag früher ins Büro zu gehen. Um halb vier meldeten sie sich im Sheriff's Office und machten sich mit den letzten Entwicklungen im Fall des ›Spanners‹ vertraut. Es waren zumeist negative Meldungen. Der Brief der Firma Berns-Martin war noch nicht eingetroffen, die drei anderen Personen, die nach Auskunft der Fahndung in Frage kamen, verfügten über hieb-60-
und stichfeste Alibis und stritten außerdem energisch ab, zu einer solchen Verrücktheit überhaupt imstande zu sein. Die jüngsten Opfer konnten nichts weiter tun, als die bisherigen Aussagen zu bestätigen, und auch die Spurensicherungsexperten hatten nichts gefunden. Weder Jäger noch Liebespaare meldeten sich, die im Laufe der Nacht einen Mann auf einem Motorrad gesichtet hatten. Man konnte fast den Eindruck bekommen, daß der ›Spanner‹ ein Gespenst aus der Zeit des Wilden Westens sei, das zurückgekehrt war, um Verbrechen zu begehen, und dann wieder lautlos verschwand. Aber Alice und Brad wußten nur zu gut, daß es kein Gespenst gewesen war, das Hoopler den Revolverlauf über den Schädel geschlagen hatte. Sheriff Jack Tragg erkannte die drohende Gefahr natürlich auch, ordnete jedoch an, daß Alice und Brad die psychologische Beschattung von Laurie Zingel fortsetzten. Er versprach aber, gewisse Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Die Stadtpolizei patrouillierte mit Zivilfahrzeugen ständig die Abzweigungen der Autostraße. Das war zwar unbequem für die Liebespärchen, aber Alice mußte zugeben, daß sie selbst auch keine bessere Lösung des Problems wußte. Eine Streife mehr oder weniger spielte dabei keine große Rolle. Um vier Uhr lösten sie und Brad das Team ab, das tagsüber vor der Firma Euro-Tex auf Laurie gewartet hatte. »Warum nehmen sie diesen Burschen nicht ernst, Brad?« fragte Alice, nachdem sie den Oldsmobile in einer Seitenstraße geparkt hatte. »Das weiß ich nicht«, antwortete der blonde Hüne. »Wenn mich jemand mit einem Revolver bedroht, fasse ich das auf keinen Fall als Spaß auf. Hoffen wir, daß Laurie Zingel heute abend etwas unternimmt.« Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Als Laurie in ihrer Wohnung ankam, fühlte sie sich beinahe wieder so sicher wie -61-
zuvor. Sie sah den Wagen in der Durchfahrt zwischen den beiden Läden und sagte sich, daß die Überwachung vermutlich dem Apartment Nummer 18 galt. Die Anwesenheit der Beamten bei der Euro-Tex hatte nichts mit ihr zu tun, dachte sie. Das war wohl reiner Zufall, und nur ihr schlechtes Gewissen hatte sie zu der Annahme veranlaßt, die Deputy Sheriffs suchten nach ihr. Selbst der Zwischenfall auf dem Parkplatz ließ sich ganz harmlos erklären. Natürlich kontrollierten die Beamten die Rückseite des Gebäudes. Der Deputy Sheriff, den sie gesehen hatte, wollte seinem Kollegen lediglich ein Zeichen geben, daß er seinen Posten bezogen hatte. Sie wußte natürlich, daß diese Argumentation nicht ganz richtig war, aber über die Lücken wollte sie gar nicht nachdenken. Sie redete sich ein, alles laufe noch genauso, wie Sandwich und sie es geplant hatten. Auch als sie immer wieder wie von magischen Kräften ans Fenster gezogen wurde und hinunter zu den Polizeiwagen sehen mußte, machte sie sich vor, das geschehe aus reiner Neugier und nicht aus Angst. Um acht Uhr beschloß Laurie, zum Essen auszugehen. Auf diese Weise konnte sie endgültig klarstellen, ob die Anwesenheit der Beamten beim ›Temple House ‹ihr galt. Sie griff nach ihrem Umhang und verließ die Wohnung. Auf dem Flur warf sie einen raschen Blick hinüber zur Tür Nummer 18, aber die schwarzhaarige Beamtin dort hatte sie schon geschlossen, bevor Laurie sich umdrehte. Sekundenlang überlegte Laurie, ob sie die beiden Mädchen vor der drohenden Gefahr warnen sollte, aber dann ließ sie es bleiben. Vermutlich unternahmen die zwei dann einen Fluchtversuch und berichteten, wenn sie gefaßt wurden, was Laurie getan hatte. Sie wollte unter gar keinen Umständen die Polizei auf sich aufmerksam machen. Auf dem Weg zum Aufzug machte sich Laurie Gedanken darüber, wie sie die beiden angeblichen Call- Girls in ein Gespräch verwickeln und dabei unauffällig eine Andeutung -62-
fallenlassen konnte. Vielleicht war es ein guter Gedanke, sich etwas auszuleihen: Kaffee, Zucker oder ein Ei. Bei dieser Gelegenheit konnte sie dann ganz nebenbei die Deputy Sheriffs erwähnen. Je mehr sie darüber nachdachte, um so besser gefiel ihr diese Idee. Als Laurie den Aufzug verließ, war sie fast heiterer Stimmung. Sie brachte es jedoch nicht über sich, den Haupteingang zu benutzen. Das war auch nicht weiter wichtig, denn das chinesische Restaurant, in dem sie meistens aß, war von der Rückseite des Gebäudes aus viel leichter zu erreichen. Sie öffnete die Tür zum Parkplatz und sah gerade noch auf der anderen Seite der Danville Street den mexikanischen Deputy Sheriff näher kommen. Ihre Blicke trafen sich, und Laurie wandte sich unwillkürlich ab. Genauso schnell hatte der Mann kehrtgemacht und stand nun an einem Schaufenster, das er aufmerksam betrachtete. Laurie preßte sich mit dem Rücken an die Wand neben der Tür und warf einen vorsichtigen Blick hinaus. Der Deputy Sheriff stand immer noch am Schaufenster und schaute sich die ausgestellten Waren mehr als konzentriert an. Plötzlich begriff sie: Er konnte sie sehen, denn die andere Straßenseite spiegelte sich in dem Glas. Kein Zweifel, er hatte es absichtlich vermieden, ihr gegenüberzutreten. Es bestand auch keine Hoffnung, daß er sie mit einer der beiden Frauen im Apartment Nummer 18 verwechselte, denn keine von ihnen hatte auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Laurie. Also mußten die Deputy Sheriffs doch hinter ihr her sein. »Das ist nicht wahr«, sagte Laurie heiser und erschrak über ihre eigene Stimme. Sie brachte nicht den Mut auf, ihre Zweifel auf die Probe zu stellen. Mit raschen Schritten lief sie zum Aufzug zurück. Als sie wieder in ihrer Wohnung war, griff sie nach dem -63-
Telefonhörer. Aber dann legte sie auf, bevor sie eine Nummer gewählt hatte. »Sie bekommt es mit der Angst zu tun«, sagte Alice, nachdem die Telefonüberwachung drüben aus dem Keller berichtet hatte, was Laurie tat. Die oben postierte Polizeibeamtin hatte sofort gemeldet, daß Laurie ihre Wohnung verließ. Damit trat ein festgelegter Plan in Aktion. Gleichgü ltig, welche Tür sie benutzte, sie wäre auf jeden Fall einem Deputy Sheriff begegnet. »Scheint wirklich Sandwichs Freundin zu sein, Joan«, bemerkte Larsen über Funk. »Daran habe ich nie gezweifelt«, antwortete Joan Hilton ruhig. »Will jemand wetten, daß sie heute nacht noch hingeht?« »Hoffentlich«, meinte die schwarzhaarige Beamtin. »Heute hat mich der Hausverwalter jedesmal ganz komisch angesehen, wenn ich ihm begegnet bin.« »Warum wohl?« warf Joan ein. »Aber es wäre am besten, wenn wir rasch etwas essen gingen. Sie wird die Wohnung kaum vor Mitternacht verlassen, aber wir sollten auf jeden Fall um zehn Uhr wieder auf unseren Posten sein.« Als Chefin des Teams, das den Fall Sandwich übernommen hatte, leitete Joan die ›psychologische Beschattung‹. Die Nachrichtenzentrale arbeitete in drei Schichten, und der Mann im Keller des Sportgeschäfts mußte dort an Ort und Stelle etwas essen. Die beiden Beamtinnen oben in der Wohnung konnten sich entweder etwas kochen oder wie die anderen im ›Rawhide Diner‹ essen. Dieses Restaurant war ausgewählt worden, weil es nicht weit vom ›Temple House‹ entfernt war. »Wie steht's, Alice?« rief Larsen. »Soll ich Sie abholen, wenn ich die Wanze an Lauries Kabrio befestigt habe?« »Und wer bezahlt?« fragte Alice mißtrauisch. »Wenn Sie mich schon dazu zwingen, machen wir halbe -64-
halbe«, versprach Larsen. »Einverstanden«, bestätigte Alice. »Wenn wir uns gleich auf den Weg machen, sehen wir im Fernsehen noch die Nachrichten.« »Dann treffen wir uns dort«, sagte Joan. »Aber ich bezahle mein Essen selbst.« »Bei Ihrem Appetit bestehe ich auch darauf«, bemerkte Alice. Als Alice vom Essen zurückkam, merkte Brad, daß seine Kollegin verärgert war. Er bedrängte sie nicht, denn für diese Frage hatte er bis Freitag morgen um vier Uhr Zeit. Zusammen mit Sam Cuchilo und Valenca genehmigte sich Brad ein gutes Abendessen. Die Nachrichtensendung war zu Ende. Auf dem Fernsehschirm wurde die Erde gerade von fremden Eindringlingen bedroht. Valenca, ein Fernsehfanatiker, beklagte sich darüber, daß er nun doch nicht das ganze Programm sehen konnte. Brad kehrte zum Wagen S.O. 12 zurück und erfuhr, was Alice so ärgerte: Trotz der Warnung der Polizei vor dem ›Spanner‹ diesen Namen hatte der Wegelagerer inzwischen offiziell bekommen - wurden seine Überfälle in den Nachrichten immer noch als Witz behandelt. »Die Kollegen tun, was sie können«, beschwichtigte sie Brad. »Selbst wenn wir nicht den Auftrag hier hätten, könnten wir nicht mehr machen.« »Ich weiß«, pflichtete ihm Alice bei. »Und trotzdem hoffe ich, daß sie heute nacht etwas unternimmt.« Laurie saß an dem Tisch in ihrer Wohnung und überlegte, wie sie es anstellen sollte. Nach dem ersten Schrecken konnte sie jetzt wieder ruhig und logisch denken. Ihr erster Impuls war es gewesen, den Wagen zu holen und zusammen mit Sandwich einen Fluchtversuch in Richtung Grenze zu unternehmen. Aber -65-
unter den Augen der Deputy Sheriffs wäre das zu riskant gewesen. Sie warteten nur darauf, zu Sandwichs Versteck geführt zu werden. Solange sie nicht in seiner Gesellschaft gesehen wurde, gab es keine Beweise gegen sie. Aber sie wußte, daß sie diese Beschattung nicht mehr lange durchhalten würde. Dabei kam ihr niemals der Gedanke, Gusher City allein zu verlassen und sich erst später mit Sandwich in Verbindung zu setzen. Wenn sie sich zu weit entfernte, schwächte das vielleicht ihren Einfluß auf ihn, und er verließ ohne sie das Land. Alles in allem blieb ihr nur eine einzige Möglichkeit: Sie mußte wachsam sein, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit aus dem Haus entwischen, Sandwich abho len und in Richtung Mexiko fliehen. Nachdem Laurie diesen Entschluß gefaßt hatte, kochte sie sich zu Hause etwas zu essen. Um halb eins besuchte McCall die zur Beschattung eingesetzten Teams. Er berichtete Alice und Brad, daß der ›Spanne r‹ erneut zugeschla gen habe. Er war jedoch nicht an den bisherigen Tatort zurückgekehrt, sondern verübte vier Raubüberfälle an Zufahrten zur Staatsstraße 118 südlich der Stadt. »Niemand wurde verletzt«, fügte McCall hinzu, »aber in den letzten beiden Fällen hat er die Methode geändert.« »Inwiefern?« fragte Alice. »Er macht es wieder genauso wie am Anfang«, antwortete McCall. »Nach wie vor nimmt er nur Geld, redet wie ein altmodischer Cowboy und kleidet sich auch so, aber die letzten beiden Pärchen mußten aus dem Wagen aussteigen und ihr Geld übergeben.« »Es wird immer schlimmer«, stieß Alice hervor. »Wissen Sie, was ich denke?« »Was denn, Alice?« »Brad hatte recht: Der ›Spanner‹ ist ein Verrückter, der es nur zum Spaß macht.« -66-
»Aber ein sehr schlauer Verrückter«, warf Brad ein. »Er hat sich gedacht, daß wir die Staatsstraße und ihre Zufahrten überwachen werden.« »Wenn er so schlau ist«, erklärte McCall, »wäre er doch nicht zu einer Methode zurückgekehrt, die ihm gleich beim erstenmal fast zum Verhängnis geworden wäre.« »Wenn Brad recht hat und er es nur aus Spaß macht, regt ihn die sicherere Methode nicht mehr auf«, vermutete Alice. »Deshalb läßt er die Leute wieder aus dem Auto aussteigen. Er will, daß sich jemand wehrt.« »Möglich«, stimmte ihr Brad zu. »Vielleicht ärgert er sic h auch darüber, daß ihn Opfer und Nachrichtendienste nicht ernst nehmen. Deshalb bietet er den beteiligten Männern die Gelegenheit, ihn anzugreifen. Kann sein, daß er es noch nicht bewußt tut, aber das kommt noch.« »Weiter«, sagte McCall. »Falls niemand über ihn herfällt, wird er vielleicht vortäuschen, für einen Augenblick nicht wachsam zu sein, damit ihn der andere anspringt.« »Brad könnte recht haben«, sagte Alice. McCall bemerkte: »Als der ›Spanner‹ wieder zu der ersten Methode zurückkehrte, sprach ich sofort mit Doktor Hertel, und er ist genau derselben Meinung wie Sie.« »Was hat er sonst noch gesagt?« fragte Alice. Dr. Hertel war der Polizeipsychologe. »Sie finden heute nachmittag seinen Bericht auf Ihrem Schreibtisch«, versprach der First Deputy. »Er hat mir nur einen kurzen Überblick gegeben, schreibt Ihnen aber noch ausführlicher.« »Was auch in dem Bericht steht - diesem verdammten Idioten muß man das Handwerk legen«, sagte Alice grimmig. »Warum macht unsere Presseabteilung den Leuten nicht klar, wie -67-
gefährlich er ist? So nimmt ihn doch niemand ernst.« »Wir schon«, widersprach McCall, »und andere auch.« »Vielleicht Mrs. Traverson und ihr Verein gegen die Gewalt«, sagte Alice verbittert. »Ihr bietet der ›Spanner‹ doch nur eine Gelegenheit, sich vor den Fernsehkameras zu produzieren.« »An sie habe ich jetzt nicht gedacht«, sagte McCall. »Einem unserer Posten kam ein geparkter Wagen verdächtig vor. Er kontrollierte ihn und fand darin kein Liebespärchen, sondern zwei Männer, von denen einer einen Damenhut trug.« »Sie haben dem ›Spanner‹ aufgelauert?« »Genau. Einer der beiden hatte eine Betäubungspistole vom Typ Smith and Wesson Mercox auf dem Schoß liegen.« »Wer, zum Teufel, war das?« knurrte Brad. »Studenten aus Cardell, die der Polizei zeigen wollten, wie man einen solchen Kerl lebend fängt.« »Diese Idioten!« rief Brad. »Wenn der Pfeil aus der Nähe abgeschossen wird, muß er den Mann halb durchbohren. Aus sicherer Entfernung wirkt das Betäubungsmittel nicht schnell genug, und er kann immer noch schießen.« »Wo haben die Burschen die Mercox her?« fragte Alice. »Die Universität hat die Waffe für Experimente mit wild lebenden Tieren angeschafft«, antwortete McCall. »Unsere Kollegen haben sie beschlagnahmt und die Burschen nach Hause geschickt.« »Das war richtig«, sagte Alice, »aber der nächste, der auf diesen Gedanken kommt, hat vielleicht einen Revolver in der Hand.« »Ja«, gab McCall zu. »Und irgendein Jäger oder ein harmloser Passant, der sich nur erkundigen will, ob er vielleicht eine Panne hat, könnte niedergeschossen werden.« »Unsere Presseabteilung hat's nicht leicht. Betont sie zu sehr, wie gefährlich der Kerl ist, kommen vielleicht noch ein paar -68-
Narren auf den Gedanken, Waffen mitzunehmen. Trotzdem muß die Öffentlichkeit gewarnt werden.« »Und wie geht's weiter, Mac?« fragte Brad. »Wir können nicht mehr tun, als sein neues Operationsfeld ständig zu bewachen«, gab der First Deputy zu. »Ich habe den ganzen Abend unsere V-Leute angerufen, aber entweder wissen sie nichts, oder sie wollen nicht reden.« »Es kann sein, daß er gar keine Verbindung zur Unterwelt hat«, sagte Alice. »Am ersten Abend trug er keine Handschuhe. Einem Berufsverbrecher unterläuft ein solcher Fehler nicht.« »Außerdem nimmt er nur Geld«, fügte Brad hinzu. »Das könnte bedeuten, daß er besonders schlau ist oder daß er keine Hehler kennt. Ich behaupte immer noch, daß wir es mit einem Amateur zu tun haben, der zu seinem Spaß raubt.« »Wer es auch sein mag«, erklärte Alice, »man muß ihm das Handwerk legen. Wenn uns das nicht bald gelingt, wird er jemanden umbringen oder selbst ums Leben kommen.«
8 Am Freitag stellte Laurie trotz ihrer Entschlossenheit, ruhig zu bleiben, bei sich eine steigende Aufregung fest. Es war nicht mehr zu bezweifeln, daß der Polizeiwagen ihr am Morgen zur Euro-Tex folgte. Jetzt achtete sie darauf und hatte schon bald den schwarzweißen Umriß bemerkt. Als sie ihr Kabrio parkte, erkannte sie auch die Insassen: Der eine hatte rotes Haar, war sehr groß und stämmig gebaut, der andere etwa zehn Zentimeter kleiner, ein drahtiger Mann mit schwarzem Haar. Das waren zweifellos dieselben Beamten, die sie am Donnerstag morgen gesehen hatte. Im Laufe des Vormittags nahm Lauries Besorgnis noch zu. Zweimal ging sie in den Waschraum und warf unterwegs aus -69-
dem Fenster einen Blick auf den Parkplatz. Der Polizeiwagen stand immer an derselben Stelle. Laurie fröstelte, als ihr ein neuer Gedanke kam: Wenn Jack Tragg so viele Deputys auf sie ansetzte, mußte er einen sicheren Hinweis auf ihre Verbindung zu Sandwich haben. Dann saß Laurie an ihrem Schreibtisch und tippte eine lange Liste von Namen und Adressen für die Verkaufsabteilung. Da traten drei Leute ein. Die beide Deputy Sheriffs, die den größten Teil der Ermittlungen durchgeführt hatten, gingen mit der Bürochefin langsam zwischen den Tischreihen hindurch. Joan Hilton trug ihre Uniform, und auch Sam Cuchilo, dessen kupferbraune Haut und leicht mongolide Züge die indianische Herkunft verrieten, war uniformiert. Laurie interessierte sich mehr für den Grund dieses Besuchs. Sie hatte den Eindruck, ständ ig beobachtet zu werden. Auch als sie sich vorbeugte und so tat, als lese sie die getippte Liste, fühlte sie die Blicke der beiden Beamten. Sie gingen aber an ihrem Tisch vorbei, ohne sie anzusprechen. Laurie hörte, was die Beamtin aus dem Sheriff's Office zu Miss Othmar, der Bürochefin, sagte. »Ich weiß, wie sehr das stört, aber es muß leider sein. Wir haben von einem Gerücht Kenntnis bekommen, daß Sandwich mit einem Mädchen aus der Firma liiert war. Deshalb müssen wir alle einzeln befragen. Seien Sie so nett und schicken Sie die Damen nacheinander zu uns in Ihr Büro.« »Selbstverständlich«, antwortete Miss Othmar, da sie von der Geschäftsleitung angewiesen war, die Beamten in jeder Hinsicht zu unterstützen. »Fangen wir auf dieser Seite an?« Sekundenlang schwiegen die Deputy Sheriffs, aber diese Sekunden kamen Laurie wie Stunden vor. Sie wußte nicht mehr, was sie tippte. »Wir würden gern alphabetisch vorgehen«, antwortete Joan schließlich. »Das ist für unseren Bericht einfacher.« -70-
»Stören wir Sie bei der Arbeit, Ma'am?« Laurie unterdrückte nur mit Mühe einen Aufschrei, als sie merkte, daß die Frage des braunhäutigen Deputys an sie gerichtet war. Sie fuhr hoch und blickte in das ausdruckslose Gesicht mit den kühlen schwarzen Augen. »Wie bitte?« stieß sie hervor. Cuchilo deutete auf das Blatt in der Maschine. »Stören wir Sie beim Schreiben, Ma'am? Ich tippe nämlich auch nicht viel besser.« Laurie stellte erst jetzt fest, daß sie sich bei den drei letzten Worten verschrieben hatte. Aber bevor ihr eine passende Antwort einfiel, schlug Joan vor, mit den Vernehmungen zu beginnen. Laurie wagte kaum, einen Blick auf die Beamten zu werfen. Sie fummelte mit dem Radiergummi herum, rieb in ihrer Aufregung aber das Papier durch. Sie riß das Blatt aus der Maschine und spürte genau, wie jede ihrer Bewegungen beobachtet wurde. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hinausgerannt. Nach einer halben Ewigkeit wandten sich Miss Othmar und die beiden Beamten endlich zum Gehen. Die Bürochefin stellte arglos die Frage, die sich die Beamten erhofft hatten. »Glauben Sie, Miss Hilton, daß es Ihnen gelingen wird, dieses Mädchen zu entdecken?« »Ich denke schon«, antwortete Joan so laut, daß Laurie sie hören mußte. »Wir wissen einiges über sie, und sie wird sich bestimmt verraten.« Ein Mädchen nach dem anderen verschwand im Chefbüro und kam nach ein paar Minuten wieder. Laurie beobachtete sie und warf immer wieder nervöse Blicke zur Wanduhr. Zehn Mädchen arbeiteten in dem Raum, und Laurie war im Alphabet die letzte. Sie wußte, daß ihr das nichts helfen würde. Dieses blonde, stämmige Luder in Uniform schien ihrer Sache so sicher zu sein, daß es bestimmt kein Bluff war. Gerade die weiblichen -71-
Kriminalbeamten spürten immer sehr deutlich, ob eine Frau die Wahrheit sagte oder nicht. Als das sechste Mädchen wieder zurückkam, fragte Laurie: »Was soll das alles, Lilly?« »Sie glauben, daß Sandwich mit einer von uns etwas hatte«, antwortete Lilly. »Sie haben mich gefragt, wo ich am Abend des Geldraubs war, ob ich einen festen Freund habe, ob ich Sandwich kannte, ob ich ihn nett gefunden habe und so weiter. Als ich dann gerade hinausgehen wollte, kam die verrückteste Frage von der Frau.« »Welche?« »Gehen Sie kegeln? fragte sie, aber...« »Pst, Adlerauge sieht schon in unsere Richtung.« Lilly merkte, wie Miss Othmar sie mißbilligend beobachtete. Sie kehrte eilig an ihren Platz zurück und arbeitete weiter. Laurie konnte sich kaum auf die Schreibmaschine konzentrieren. Die unvermeidliche Vernehmung rückte immer näher. Sicher würden sich die Beamten daran erinnern, wie aufgeregt sie vorhin war. Eine eiskalte Hand fuhr ihr den Rücken hinunter. Sie hatte für den Abend des Verbrechens kein Alibi. Sie konnte nicht gut zugeben, daß sie sich in der Acme-Kegelbahn aufgehalten hatte. Die Deputys schienen also zu wissen, daß Sandwich mit einem Mädchen aus der Firma befreundet war und daß sich die beiden für gewöhnlich heimlich in einer Kegelbahn getroffen hatten. Falls der Verdacht auf sie fiel, würde man sie zu jeder einzelnen Kegelbahn in der ganzen Stadt schleppen, bis jemand bei ›Acme‹ sie bestimmt wiedererkannte. Sie sah keine Möglichkeit, die Vernehmung zu vermeiden. Davonlaufen half auch nicht, das wäre ein Schuldeingeständnis gewesen. Sie konnte nur hoffen, sich irgendwie durchzumogeln. Selbst wenn die Beamten herausfa nden, daß sie mit Sandwich befreundet war, konnten sie ihr eine Beteiligung an dem Verbrechen immer noch nicht nachweisen. Oder vielleicht -72-
doch? Wenn man ihre Handtasche durchsuchte, fanden sich genug Beweise, um sie zumindest als wichtige Zeugin festzuhalten. Wenn Arnold erfuhr, daß sie verhaftet worden war, machte er sich bestimmt auf den Weg zur Grenze. »Sie sind die nächste, Miss Zingel!« rief Miss Othmar, als wieder ein Mädchen zur Vernehmung in das Büro trat. Drei lange, qualvolle Minuten verstrichen, dann kam Virginia Young wieder heraus. Laurie stand mit einiger Mühe auf und ging den Gang entlang. Links und rechts arbeiteten die Mädchen ungerührt weiter. Sie rechneten schon längst nicht mehr mit irgendeiner dramatischen Wende, die Polizei gehörte mit zu ihrem Alltag. Selbst Miss Othmar warf Laurie nur einen flüchtigen Blick zu, dann beschäftigte sie sich wieder mit einer Anfängerin auf der anderen Seite des Büros. Nun stand Laurie vor der Tür des Chefzimmers. Sollte sie eine Ohnmacht vortäuschen? Das würde die Vernehmung nur um kurze Zeit hinauszögern. Weiß der Himmel, was die Beamten sich dann denken würden. Wahrscheinlich wären sie aufmerksam geworden. Laurie kam sich nackt und hilflos vor. Zu ihrem Entsetzen sah sie, wie die Tür aufging. Sie hatte genau beobachtet, daß die anderen Mädchen die Tür selbst geöffnet hatten. Warum behandelte man sie anders? Laurie kämpfte verzweifelt gegen den Drang an, schleunigst davonzulaufen. Die beiden Deputys kamen aus Miss Othmars Büro. »Wir haben gerade einen dringenden Anruf bekommen«, sagte Joan zu Miss Othmar und deutete auf den Voice Commander in der Hand ihres Kollegen. »Wir machen morgen weiter.« »Im Sekretariat wird am Samstag nicht gearbeitet«, antwortete Miss Othmar. »Außerdem ist nur noch Miss Zingel übrig.« -73-
Joan zögerte, und Laurie bekam wieder Herzklopfen. »Der Sheriff hat uns angewiesen, sofort zu kommen«, erklärte Cuchilo. »Sie haben recht«, murmelte Joan, ohne Laurie eines Blickes zu würdigen. »Wir müssen die Sache also auf Montag verschieben, Miss Othmar. Es sei denn, wir erwischen Sandwichs Freundin noch vorher.« Die beiden Deputy Sheriffs verließen das Schreibbüro durch die große Doppeltür und taten, als existiere Laurie überhaupt nicht. Sie stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. »Alles in Ordnung, Laurie?« fragte Miss Othmar. Diese Frage rief Laurie unsanft in die Gegenwart zurück. Für einen Augenblick starrte sie ihre Vorgesetzte an, dann brachte sie ein mattes Lächeln zustande. »Ich habe mich nur furchtbar aufgeregt. Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich mal hinaus.« Draußen vor der Glastür waren die Deputys stehengeblieben, um Lauries Reaktion zu beobachten. Auch das, was sie eben getan hatten, gehörte mit zur psychologischen Beschattung. Die Vernehmung der Mädchen in alphabetischer Reihenfolge stellte sicher, daß Laurie als letzte drankam. Hätte ihr Name nicht mit einem Z begonnen, so wäre eine andere Methode angewandt worden. Es ging darum, sie zum Schwitzen zu bringen und ihr Angst zu machen, weil sie ja nicht wußte, wie Sandwich auf ihre Festnahme reagieren würde. Natürlich wollte man sie nicht festnehmen, erst mußte sie die Polizei zu Sandwich führen. Es war kein Anruf vom Sheriff gekommen. Den beiden Deputys war es nur darum gegangen, Lauries Vernehmung zu verschieben. Als die kleine Blondine im Waschraum verschwand, verließen die Beamten das Gebäude und gingen zu Alice und Brad, die im Wagen S.O. 12 warteten. -74-
Joan berichtete von der Vernehmungstaktik. Dann erklärte Cuchilo: »Diese naivi war bleich, aber ungeheuer gefaßt. Hat sich besser gehalten, als ich erwartete.« »Wie haben Sie sie genannt?« fragte Alice. »Eine naivi. Das ist in der Comanchensprache die Bezeichnung für ein erwachsenes, unverheiratetes Mädchen«, übersetzte Brad. »Diese Indianer«, schnaubte Joan. »Wollt ihr nicht versuchen, Manhattan für denselben Preis zurückzukaufen, den wir damals bezahlt haben?« »Das versuchen wir seit Jahren«, antwortete Sam grinsend. »Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß das Mädchen zäh ist.« »Sie schmort auf kleiner Flamme«, sagte Joan, »auch wenn sie es sich nicht anmerken läßt. Sie wird nicht vergessen, daß sie uns am Montag gegenübertreten muß. Ich wette, daß sie noch vorher etwas unternimmt.« »Hoffentlich«, sagte Alice. »Machen Sie sich immer noch Sorgen wegen des ›Spanners‹?« fragte Joan. »Mehr denn je«, gab Alice zu. »Und keine brauchbaren Hinweise?« fragte Cuchilo. »Überhaupt nichts«, antwortete Brad. »Die Spurensicherung hat weder Fuß- noch Reifenabdrücke gefunden.« »Dann gibt's auch keine«, sagte Cuchilo. »Bill Hunting-Bear ist ein verdammt guter Fährtenleser.« »Es gibt keinen besseren«, pflichtete ihm Brad bei. Der Leutnant, der die Spurensicherung befehligte, war ebenfalls Comanche. »Die Liste von Berns-Martin ist gekommen«, fuhr Alice fort. »Ric läßt die Adressen durch die zuständigen Reviere überprüfen. Vielleicht kommt dabei etwas heraus.« -75-
»Ich würde mich nicht darauf verlassen«, sagte Brad gedehnt. »Ric läßt außerdem Kostümverleihe überprüfen und alle Geschäfte, die Westernkleidung verkaufen. Das wird natürlich einige Zeit dauern.« »Kommt Zeit, kommt Rat.« Diese kurze Redewendung war kennzeichnend für die Arbeitsweise des modernen Kriminalbeamten. Im Gegensatz zu den Detektiven der klassischen Kriminalromane hatten sie nur selten Gelegenheit, einen Fall durch einen Geniestreich zu lösen. Oder durch die geschickte Vernehmung von ein paar willigen Zeugen. Oft wurde ein Verbrecher durch eine bewußte Lüge oder eine falsch formulierte Antwort gefaßt, aber zuvor mußten die Beamten ihr Opfer erst dorthin bringen, wo sie es haben wollten. Deshalb gingen sie geduldig allen Hinweisen nach, obwohl sie wußten, daß die meisten Spuren in einer Sackgasse endeten. In vielen Fällen führte diese Geduld zum Erfolg. »Was Doktor Hertel gesagt hat, macht mir am meisten Sorgen«, erklärte Alice. »Wir waren vorhin im Büro und haben mit ihm gesprochen. Er ist auch der Meinung, daß es sich bei dem ›Spanner‹ um einen Verrückten handelt.« »Also ein ganz braver Junge, der plötzlich Westernkleidung anzieht und Überfälle verübt, weil er so etwas in Romanen gelesen oder im Fernsehen gesehen hat«, knurrte Cuchilo ärgerlich. »So ungefähr«, sagte Alice. »Nur nicht ganz so einfach. Doktor Hertel hält nichts von der angeblichen Verrohung durch das Fernsehen. Nach seiner Erfahrung neigen Kinder eher zum Abbau aufgestauter Aggressionen, wenn sie entsprechende Ersatzerlebnisse haben können.« »Der Meinung bin ich auch«, erklärte Cuchilo. »Seit man gegen die Brutalität im Fernsehen ankämpft, haben die Gewalttaten unter Minderjährigen zugenommen. Die Statistik beweist es.« -76-
»Trotzdem meint Doktor Hertel, daß sich unser ›Spanner‹ Westernfilme angesehen hat.« »Aber das widerspricht doch seiner eigenen Theorie«, bemerkte Joan. »Nicht ganz«, wandte Alice ein. »Der Doktor meint, die Eltern hätten es ihm zwar verboten, aber er habe sich die Filme heimlich angesehen. Indem er sich gegen den Willen der Eltern auflehnt, identifiziert er sich mit dem Bösewicht...« »Der immer verliert«, fiel Joan ein. »Klar«, sagte Alice. »Unbewußt ahnt der ›Spanner‹, daß er der Verlierer ist. Er will auch verlieren und für seinen Ungehorsam bestraft werden. Das ist zumindest Doktor Hertels Theorie. Es gibt natürlich auch noch ein paar andere Motive.« »Folgendes ist wichtig«, sagte Brad. »Wenn Doktor Hertel recht hat, ist der ›Spanner‹ ein farbloser, unscheinbarer Mann, der es aus Mangel an Fähigkeiten oder infolge von elterlichen Verboten nie zu etwas gebracht hat. Also macht er auf diese Weise auf sich aufmerksam.« »Und dabei stößt er nicht auf Furcht oder zähneknirschende Bewunderung, sondern er wird ausgelacht«, fuhr Alice fort. »Früher oder später wird ihn das so aufbringen, daß er eines seiner Opfer zum Angriff provoziert. Dann hört der Spaß auf.« »Hertel ist ein kluger Psychologe«, sagte Joan nüchtern. »Er irrt sich nur selten. Wenn wir Laurie bis Montag nicht weichkriegen, lasse ich Sie beide von dem Fall Zingel abziehen.« »Danke, Joan«, antwortete Alice. »Ich weiß ja, daß alles getan wird, aber ich möchte auch etwas dazu beitragen.« »So geht es uns allen«, sagte Cuchilo. »Deswegen tragen wir ja unser Abzeichen.« »Ich würde Sie gern gehen lassen, aber Sie wissen ja, wie es mit der Psychobeschattung ist. Die innere Spannung steigt -77-
gerade dadurch, daß der Betroffene immer von denselben Beamten überwacht wird.« »Ich weiß«, gab Alice zu, »das macht sie nervös. Wenn wir abgelöst werden, kann das ganze Unternehmen scheitern. Wir bleiben also.« »Es wird nicht mehr lange dauern«, meinte Cuchilo. »Jack kann nicht für längere Zeit drei Teams entbehren. Wenn sie bis Montag nichts unternommen hat, werden wir sie wahrscheinlich kassieren und ihr ein bißchen die Daumenschrauben anlegen. Hoffentlich ist das nicht nötig. Sie ist nämlich wirklich eine zähe, kleine naivi. Beim Verhör gibt sie bestimmt nicht nach.« »Das glaube ich auch, Sam«, sagte Joan. »Machen wir uns auf den Weg. Bis später, Alice und Brad.« »Wir bleiben in der Nähe«, versprach Brad. Für diesen Abstecher hatten Joan und Cuchilo ihren Dienstwagen benutzt, weil sie nicht wollten, daß Laurie eventuell ihr Zivilfahrzeug, einen Plymouth, zu Gesicht bekam, mit dem sie die Verdächtige später verfolgen wollten. Sie kehrten zu ihrem Oldsmobile S.O. 6 zurück, stiegen ein und fuhren los. Alice und Brad warteten, bis Laurie Feierabend machte.
9 Am Freitag abend fuhr Laurie sehr verstört nach Hause zurück. Mochte der Verkehr noch so dicht sein, sie sah immer den schwarzweißen Oldsmobile hinter sich - mit der rothaarigen Beamtin am Steuer und dem gutaussehenden blonden Riesen daneben. Laurie haßte diesen Wagen, seine Insassen und überhaupt das ganze Sheriff's Office. Die ständige Überwachung ging ihr auf die Nerven - genau das war auch die Absicht der psychologischen Beschattung. Wenn wenigstens einer der -78-
Beamten etwas unternommen hätte, ihr zum Beispiel Fragen gestellt hätte, wäre dadurch die Spannung etwas gemindert worden. Aber sie taten es nicht. Sie hielten sich nur im Hintergrund, beobachteten und verfolgten sie auf Schritt und Tritt. Für Laurie wurde die Heimfahrt zu einem haarsträubenden Abenteuer. Dreimal entging sie nur knapp einem Zusammenstoß, denn sie konnte sich einfach nicht auf den Verkehr konzentrieren. Ihr Zustand wurde auch nicht besser, als sie ihr Kabriolett auf den Parkplatz stellte und dort eine Reihe fremder Wagen entdeckte. Unter den Augen von Deputy Sheriff Valenca stieg sie aus. Er befolgte seine Anweisung und zog sich sofort zurück, als ihr Blick auf ihn fiel. Aber er achtete darauf, daß sie ihn kurz zu sehen bekam. Laurie war jedoch mehr an den fremden Fahrzeugen auf dem Parkplatz interessiert. Sie blieb am Hintereingang stehen und warf eine n Blick hinauf zur Feuerleiter, die hier nach unten führte. Sie hatte sich bereits davon überzeugt, daß diese Leiter und der Parkplatz nachts nicht beleuchtet waren. Als sie das Haus betrat, stand im Flur der Verwalter. »Die Hochzeit«, erklärte Mr. Kroon, als sie sich nach den Wagen erkundigte. »Sie wissen doch: Mrs. Alberts Tochter. Ein paar Freunde sind zum Polterabend gekommen. Hoffentlich wird es nicht so laut wie bei manchen anderen Partys.« »Das hoffe ich auch«, murmelte Laurie zerstreut, denn sie beschäftigte sich schon mit den Möglichkeiten, die sich durch die Anwesenheit so vieler fremder Fahrzeuge boten. Auf dem Weg hinauf zu ihrer Wohnung dachte sie angestrengt nach. Sie kannte Sally Albert und wußte, daß der Polterabend bestimmt eine ziemlich lange und feuchte Angelegenheit werden würde. Sie konnte damit rechnen, daß am Ende mehrere Frauen gleichzeitig das Haus verließen. Bei dem Krach und Durcheinander konnte sie dann ungesehen -79-
entwischen. Sie hatte zwei Kabrios vom selben Modell entdeckt, wie sie es fuhr, und bis Montag würde sich kaum eine günstigere Gelegenheit bieten. Sie zog sich bis auf Slip und BH aus, ging im Zimmer auf und ab und prüfte die verschiedensten Fluchtpläne. Dann betrat sie die kleine Küche, weil sie wußte, daß sie beim Essen logischer denken konnte. Durch die Anwesenheit der Deputy Sheriffs war sie nicht zum Einkaufen gekommen, aber die Vorräte im Kühlschrank reichten gerade noch für ein Abendessen. Sie setzte sich an den Tisch, griff nach Messer und Gabel und legte sich ihren Plan zurecht. Wann die Party bei den Alberts zu Ende war, konnte sie nicht im voraus wissen. Das Fest dauerte bestimmt bis zehn Uhr. Natürlich war es möglich, daß die Leute früher gingen und ihre Gastgeberin in ein Nachtlokal mitnahmen. Laurie beschloß, nach Einbruch der Dunkelheit das Haus zu verlassen und dann im Wagen zu warten, bis die anderen Frauen wegfuhren. Dann hielt sie plötzlich mitten in der Bewegung inne. Die beiden Mädchen in Nummer 18 fielen ihr ein, die angeblichen Call- Girls. Sie legte die Gabel wieder hin und starrte blicklos zum Fenster hinüber. Höchst unwahrscheinlich, daß der große blonde Deputy Sheriff es wagen würde, eine solche Geschichte über Unschuldige zu erzählen. Ganz bestimmt nicht einem Menschen wie Kroon, der die Sache sicher nicht für sich behalten würde. Bevor der Blonde so etwas herumerzählte, mußte er sich vergewissern, daß ihn die beiden Frauen nicht anzeigen würden. Also kannte er sie. Höchstwahrscheinlich waren es sogar Kriminalbeamtinnen, die mit zu dem Netz von Beobachtern rings um Laurie gehörten. Jetzt erinnerte sich Laurie, daß sie zweimal den Eindruck gehabt hatte, daß die Tür von Nummer 18 blitzschnell geschlossen wurde, als sie sich umdrehte. Wenn das stimmte, durfte sie von den beiden nicht gesehen -80-
werden. Glücklicherweise konnten sie von ihrem Fenster aus weder den Parkplatz noch die Feuerleiter überblicken. Um zu dem Fenster zu gelangen, mußte Laurie am Aufzug und am Treppenhaus vorbei. Wenn sie es geschickt anstellte, konnte es ihr jedoch gelingen, die Beobachterinnen zu täuschen. Aber zunächst gab es noch anderes zu tun. Sie zog ihre schwarze Hose, eine weiße Satinbluse und flache Schuhe an. Dann stopfte sie ein paar Kleider in einen Plastikbeutel. Bevor sie die Wohnung verließ, nahm sie einen Spiegel aus der Handtasche und versteckte ihn in der linken Hand. Mit der Handtasche und dem Beutel in der Rechten, trat sie auf den Flur hinaus und warf einen Blick auf die Tür von Nummer 18. Richtig: Die Tür wurde blitzschnell geschlossen. Während Laurie den Flur entlangging, konnte sie in dem kleinen Spiegel die Tür von Nummer 18 beobachten. Sie öffnete sich einen Spaltbreit. Laurie holte den Aufzug herauf und betrat die Kabine, drückte aber nicht auf den Knopf. Sie wartete fast dreißig Sekunden lang, dann öffnete sie die Tür wieder und schob den Spiegel vorsichtig zum Spalt hinaus. Die Tür von Nummer 18 war geschlossen. Die Beamtinnen waren vermutlich damit beschäftigt, zu melden, daß Laurie weggegangen war. Mit einem Seufzer der Erleichterung fuhr Laurie zum Erdgeschoß hinunter. Sie war entschlossen, nichts dem Zufall zu überlassen. Von der Haustür aus sah sie die rothaarige Beamtin scheinbar ziellos die Longley Street entlangschlendern. Laurie ging zur Hintertür und sah wie erwartet in der Danville Street den Mexikaner stehen. Ohne ihn zu beachten, marschierte sie zu der in der Nähe gelegenen Wäscherei. »Hoffentlich regnet es bald, und du wirst bis auf die Haut naß«, zischte Laurie wütend, während sie ihre Kleider in eine der Maschinen stopfte und auf der anderen Straßenseite Valenca beobachtete. Aber die Hoffnung erfüllte sich nicht. Laurie war mit der Wäsche fertig und kehrte ins ›Temple House‹ zurück. Sie fuhr -81-
zum ersten Stock hinauf, ohne den Deputy Sheriff zu beachten. Dort stieg sie aus und sah, wie sich der schmale Spalt in der Tür von Nummer 18 schloß. Sie öffnete ihre eigene Wohnung und stellte mit Hilfe des kleinen Spiegels fest, daß die Überwachung wieder aufgenommen wurde. Laurie warf den Beutel mit der Wäsche aufs Sofa. Es gab noch allerhand zu überlegen. Sie ging ins Schlafzimmer und zog die weiße Bluse aus. Dann holte sie aus der Kommode eine schwarze Bluse und schlüpfte hinein. Die weiße kam darüber. Laurie überzeugte sich im Spiegel, daß man das Schwarz darunter nicht sehen konnte. Alles Geld, das sie besaß, befand sich in ihrer Handtasche. Ein Koffer mit Kleidungsstücken lag seit dem Abend des Verbrechens in dem Kofferraum ihres Wagens. Sie holte aus der Schublade einen hellen und einen dunklen Schal. Mit dem dunklen bedeckte sie ihr blondes Haar, dann band sie den hellen darüber. Nun kehrte Laurie in das kleine Wohnzimmer zurück, griff nach dem Telefon und wählte eine Nummer. »Abhördienst an Tarnwagen«, kam es aus Alices Funkgerät. »Verdächtige Person telefoniert.« »Telefoniert?« fragte Joan. »Eigentlich nicht. Sie wählt, legt auf, wählt wieder, legt auf und wählt ein drittes Mal, aber sie hat nichts gesagt und keine Antwort bekommen.« »Dann müssen Sie...«, begann Joan. »Augenblick, Tarnwagen«, unterbrach sie der Mann vom Abhördienst. »Jemand wählt jetzt ihre Nummer. Legt auf, wählt wieder, legt auf und wählt noch einmal, legt auf.« »Ein Zeichen!« stieß Alice hervor, als nichts weiter folgte. »Ganz klar«, pflichtete Brad ihr bei. Joan bestätigte diese Vermutung. »Tarnwagen an Psycho Zwei. Ist der Sender am Wagen, Lars?« -82-
»Gerade erledigt«, antwortete Lars mit ruhiger Stimme. »Tarnwagen an Pfadfinder«, fuhr Joan fort. »Empfangen Sie das Signal?« »Gleichmäßig aus Richtung ›Temple House‹«, bestätigte der getarnte Peilwagen. »Gebe sofort Bescheid, wenn sich Signal in Bewegung setzt.« »An alle, an alle!« rief Joan mit ungewohnter Erregung. »Achtung, es ist wahrscheinlich soweit.« »Hoffentlich fährt sie bald los«, sagte Valenca. »Ihretwegen habe ich schon die Diskussion zwischen Doc Hertel und Mrs. Traverson von der Liga gegen die Gewalt im Fernsehen verpaßt. Aber vielleicht erwische ich noch die Spätausgabe.« »Die hätte ich selbst gern gesehen«, gab Joan zu. An jedem Freitagabend um sieben Uhr übertrug das örtliche Fernsehen des County Rockabye Diskussionen wichtiger Persönlichkeiten. An diesem Abend ging es um das Thema ›Spanner‹ und die Frage, welchen Einfluß Brutalität in Literatur und Fernsehen auf die Menschen ausübe. Die Deputy Sheriffs kannten Doktor Hertel als glänzenden Diskussionsredner und wußten, daß seine Auseinandersetzung mit der Liga gegen die Gewalt bestimmt sehens- beziehungsweise hörenswert war. »Wir können morgen alles im Mirror lesen«, tröstete Alice. Danach wurde nicht mehr gesprochen. Alice empfand die gleiche innere Spannung wie alle anderen. End lich hatte die Verdächtige etwas getan, was die lange, bisher ergebnislose Überwachung vielleicht doch noch zu einem erfolgreichen Ende führte. Sechzig lange Minuten krochen dahin, dann tat sich wieder etwas. »Posten an alle. Verdächtige hat Wohnung verlassen und ist zum Ausgehen gekleidet. Benutzt Treppe und nicht Aufzug.« »Psychoteams übernehmen die Verfolgung«, befahl Joan. -83-
»Vielleicht geht es los!« Wieder verstrichen fünf Minuten. Alice saß am Steuer des Wagens S.O. 12, den Blick auf den Hauseingang gerichtet. Brad beobachtete den Parkplatz und schimpfte, weil er nicht ausreichend beleuchtet war. Einige Teile lagen in tiefem Schatten, aber trotzdem hätte er es sehen müssen, wenn Laurie mit ihrem Kabrio wegfuhr. »Wo steckt sie nur?« fragte Alice. »Selbst wenn sie die Treppe benutzt hat, müßte sie längst unten sein.« Alice glaubte nicht, daß Laurie direkt zu ihrem Kabrio ging. Das Mädchen wußte, daß sie beobachtet wurde sie würde wahrscheinlich versuchen, das Haus zu Fuß zu verlassen und erst später den Wagen abzuholen oder aber Sandwich auf einem anderen Weg zu erreichen. Trotzdem war sie in der Longley Street nicht aufgetaucht, und Larsen und Valenca hatten auch von der Rückseite nicht gemeldet. »Psycho Zwei an Tarnwagen!« rief Larsen. »Verdächtige noch nicht aufgetaucht. Sie muß unbedingt hier oder drüben an der Longley Street hinaus.« »Hier war sie auch nicht«, meldete Brad. »Vielleicht ist sie zu der Party gegangen?« sagte die schwarzhaarige Beamtin vom Apartment Nummer 18. »Teufel, ja, die Party!« rief Alice. »Wie war sie gekleidet?« »Flache schwarze Schuhe, schwarze Hose, weiße Satinbluse, weißes Kopftuch, Handtasche.« »In dem Aufzug müßte man sie doch erkennen«, erklärte Joan. »Psycho Zwei, machen Sie eine rasche Rundfahrt, falls sie weggegangen ist. Sam, die Zentrale soll eine Durchsage an alle Wagen machen. Ich bitte um Meldung und Verfolgung, aber nicht festnehmen.« »Erledigt«, antwortete Cuchilo. »Psycho Eins an Tarnwagen«, sagte Brad. »Vielleicht ist sie -84-
hier herausgekommen und sitzt in ihrem Kabrio, bis sie zusammen mit den anderen Gästen ungesehen wegfahren kann.« »Bleiben Sie auf Ihrem Posten, Psycho Eins«, befahl Joan. »Folgen Sie ihr, wenn sie wegfährt. Wenn sie uns durch die Lappen geht, dürfte morgen der Teufel los sein.« Laurie schloß hinter sich die Tür und beobachtete im Handspiegel das Apartment Nummer 18. Sie ging den Flur entlang und blieb vor dem Aufzug stehen. Mit einer resignierten Handbewegung begab sie sich weiter zur Treppe. Nach drei Stufen blieb sie schon wieder stehen und benutzte ihren Rückspiegel. Die Tür von Nummer 18 blieb geschlossen. Die Beamtinnen durften nicht riskieren, daß ihre Meldungen von jemandem mitgehört wurden, der zufällig vorbeikam. Rasch entledigte sich Laurie des weißen Kopftuchs und der weißen Bluse. Sie schlang beides um ihre Handtasche und warf vorsichtig einen Blick um die Ecke. Ungesehen rannte sie den Gang entlang. Das Fenster zur Feuertreppe war nicht verriegelt. Sie hob es an und glitt hinaus. Ein paar Sekunden später kletterte sie in die Dunkelheit hinunter. Von der eisernen Leiter aus konnte sie den Oldsmobile erkennen. Die Besatzung schien nichts bemerkt zu haben. Laurie sprang auf den Boden hinab und erreichte ihren Wagen. Sie legte die Handtasche auf den Beifahrersitz und glitt hinter das Steuer. Die Autos der Gäste standen immer noch da. Sie war rechtzeitig aufgebrochen. Lauries Armbanduhr zeigte auf halb elf, als sich die Hintertür öffnete. Zusammen mit Mrs. Albert kamen die Gäste heraus. Ein paar Frauen und Mädchen stiegen laut lachend in ihre Wagen. Motoren wurden angelassen, und auch Laurie schaltete die Zündung ein. Sie wartete, bis die ersten drei Fahrzeuge in die Longley Street eingebogen waren, dann ordnete sie sich hinter einem anderen Kabrio ein. Sie wußte nicht, daß der kleine, von Magneten festgehaltene -85-
Sender ununterbrochen ein Signal aussendete. »Pfadfinder an Tarnwagen«, kam eine aufgeregte Stimme aus dem Triplex-Gerät. »Verdächtiges Objekt in Bewegung. Biegt auf Longley Street links ab.« »Du hast recht gehabt«, flüsterte Alice und sah die Wagen von dem Parkplatz kommen. »Sie ist die Feuertreppe hinuntergestiegen und hat auf die anderen gewartet.« Eine der Polizeibeamtinnen von Nummer 18 war kurz nach Lauries Manöver auf den Flur hinausgetreten und hatte das offene Fenster am Ende entdeckt. »So war das also«, sagte Brad und zeigte auf Laurie, die in ihrem Kabrio vorbeifuhr. »Sie hatte unter dem anderen Zeug ein dunkles Tuch und eine dunkle Bluse an. In den weißen Sachen wäre sie uns bestimmt aufgefallen.« Alice setzte den Oldsmobile bereits in Bewegung. Sie ordnete sich geschickt als zweiter Wagen hinter Lauries Kabrio ein. Brad konzentrierte sich wieder ganz auf seine Pflichten als Beifahrer. »Psycho Eins an Tarnwagen«, sagte er. »Verfolgen verdächtiges Fahrzeug. Auf Longley Street nach links.« »Folgen Sie ihr, bis sie versucht, Sie abzuschütteln«, sagte Joan. »Wir sind hinter Ihnen und übernehmen dann die Verfolgung. Tarnwagen an Pfadfinder. Halten Sie uns über die Position auf dem laufenden.« Alles schien glatt zu laufen, aber Joan wußte nur zu gut, wie leicht eine solche Verfolgung schiefgehen konnte. Deshalb wollte sie die Richtung, die Lauries Wagen einschlug, ständig überprüfen lassen. Sollten sie das Kabrio durch unvorhergesehene Zwischenfälle aus den Augen verlieren, war die Spur der kleinen Blondine immer noch durch den versteckt angebrachten Sender gesichert. Laurie blieb in der Autoschlange, bis sie eine verkehrsreiche -86-
Kreuzung in der Innenstadt erreicht hatten, dann bog sie ab. Das Fahrzeug hinter ihr fuhr geradeaus weiter, aber sie bemerkte, daß ihr der darauffolgende Wagen nachfuhr. Entsetzt stellte sie fest, daß es sich um einen Oldsmobile handelte, um einen der schwarzweißen Polizeiwagen, die seit zwei Tagen Bestandteil ihres Lebens geworden waren. Im ersten Augenblick war Laurie von einer Panik nicht weit entfernt. Ihr Kabrio brach zur Seite aus, aber dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. Nachdem sie den Beobachtungsposten getäuscht hatte, war es für sie ein Schock, einsehen zu müssen, daß die Deputy Sheriffs ihr noch auf den Fersen waren. Aber was ihr einmal gelungen war, würde sie vielleicht wieder schaffen. Sicher konnte sie den Oldsmobile in der hellerleuchteten Geschäftsstraße nicht abschütteln, aber in den dunkleren Außenbezirken mußte es möglich sein. Der Instinkt sagte Laurie: Je später du die Deputys abschüttelst, um so besser ist es für deine Pläne. Um so weniger Zeit bleibt ihnen, noch eine Suche durch andere Fahrzeuge zu organisieren. Hatte sie erst einmal ihren Bestimmungsort erreicht, würde die Auffindung des Kabrios den Beamten auch nicht mehr weiterhelfen. Sie biß die Zähne zusammen und fuhr weiter. Unter gar keinen Umständen durften die Deputy Sheriffs merken, daß sie sich ihrer Anwesenheit bewußt war. Laurie hoffte, die beiden damit einzulullen, bis ihre Aufmerksamkeit nachließ. »Sie hat uns bemerkt, Tarnwagen«, meldete Brad, als er das scheinbar sinnlose Ausbrechen des Kabrios bemerkte. »Dicht hinter ihr bleiben, bis sie versucht, Sie abzuschütteln«, sagte Joan. »Wir liegen etwa drei Wagen hinter Ihnen.« So ging die Verfolgung weiter. Brad meldete ständig die eingeschlagene Route, die von der Kontrolle im Peilwagen bestätigt wurde. Laurie führte die Kriminalbeamten quer durch den südöstlichen Teil des Geschäftsviertels in das -87-
Industriegebiet von Gusher City Süd. Dann wußte Laurie, daß ihr Augenblick gekommen war. Sie bog in eine lange, gerade Straße ein, die auf beiden Seiten von hohen, dunklen Gebäuden flankiert war und fast wie eine Schlucht wirkte. Nicht einmal das Mondlicht schien herein. Die Gebäude links und rechts waren durch Seitenstraßen und Einfahrten voneinander getrennt. Fluchtwege gab es hier genug. Laurie kannte sich in dieser Gegend gut aus, weil sie bei der Planung des Verbrechens gemeinsam mit Sandwich alle möglichen Vorkehrungen für den Notfall getroffen hatte. Es war nicht nur vereinbart worden, kein Wort über das Telefon in ihrer Wohnung zu sprechen, sondern Zeichen zu geben, deren Herkunft sich nicht feststellen ließ. Sie hatten auch für die Situation vorgesorgt, in der Laurie sich jetzt befand. Aus einer der Nebenstraßen sah Laurie einen Motorradfahrer kommen, beachtete ihn jedoch nicht. Auch seine ungewöhnliche Kleidung fiel ihr nicht auf. Für sie war nur eins interessant: daß es kein Polizeibeamter war. Wieder durchquerte sie den Lichtschein einer der vereinzelten Straßenlampen und überlegte, wie sie ihren Verfolgern entkommen sollte. Die beiden Deputy Sheriffs waren an dem Motorradfahrer weitaus mehr interessiert als die Blondine. Mehr noch: Er versetzte ihnen einen Schock, wie sie ihn bisher kaum jemals erlebt hatten. »Großer Gott«, stieß Alice hervor. »Psycho Eins an Tarnwagen!« rief Brad mit vor Erregung zitternder Stimme in das Funkgerät. »Hier Tarnwagen«, meldete sich Joan. »Joan«, sagte Brad. »Vor uns fährt der ›Spanner‹ her!« »Wiederholen Sie«, sagte Joan Hilton verdutzt. Alice und Brad beobachteten die Gestalt, die vor ihnen fuhr, und überzeugten sich davon, daß es keine Täuschung war. Der -88-
Mann auf dem Motorrad war groß und schlank; er trug einen flachen, breitrandigen Stetson, eine schwarz-weiße Kalbfellweste, ein offenes Hemd, Levishosen und hochhackige Stiefel. Um die Hüfte hatte er einen breiten Ledergürtel, an dem die Deputys selbst aus der Entfernung das Halfter mit dem langläufigen, weißbeschlagenen Revolver erkennen konnten. »So wahr mir Gott helfe, Joan«, antwortete Brad, »es ist die reine Wahrheit. Der ›Spanner‹ fährt genau vor uns her. Miss Zingel hat ihn gerade überholt. Was zum Teufel sollen wir jetzt machen?«
10 Ohne es zu wissen und zu wollen, löste Laurie dieses Problem. Als sie den beleuchteten Straßenteil hinter sich hatte, griff sie nach dem Armaturenbrett und löschte ihre Scheinwerfer. Sie drehte das Lenkrad herum, trat aufs Gaspedal und ließ den kleinen Wagen in eine noch dunklere Seitenstraße schießen. Dann hielt sie an, stellte den Motor ab und drehte sich auf ihrem Sitz herum. Erst fuhr der Motorradfahrer vorbei, dann das Oldsmobile. Den Beamten war ihr Manöver also nicht aufgefallen. Wenn sie wieder zurückkamen, war sie schon längst über alle Berge. Laurie lachte vor Freude und Aufregung. Sie setzte den Wagen wieder in Bewegung, fuhr die Seitenstraße entlang, überquerte die nächste Straße und bog auf der übernächsten nach rechts ab. Als sie sich umdrehte und merkte, daß ihr niemand folgte, hätte sie vor Freude am liebsten laut aufgeschrien. Laurie konnte natürlich nicht wissen, daß der Sender an ihrem rechten vorderen Kotflügel ein Peilzeichen gab, dem die Beamten auch folgen konnten, wenn das Fahrzeug nicht in Sicht -89-
war. Sie widmete einem anderen Wagen, der aus einer Nebenstraße einbog, zu wenig Beachtung. Alle Wagen des Sheriff's Office, die sie bisher gesehen hatte, waren auffällig gespritzte Oldsmobiles. Deshalb kam sie auch nicht auf den Gedanken, die schlichte schwarze Plymouth-Limousine mit dem Sheriff's Office in Verbindung zu bringen. Sie erkannte auch die beiden Insassen nicht wieder. Sie hatten sich inzwischen umgezogen: Joan trug einen grauen Pullover und eine gleichfarbige Hose, während Cuchilo eine Lederjacke, ein weißes Sporthemd, Jeans und hohe Stiefel anhatte. Sein 41er Revolver vom Typ Smith & Wesson Magnum steckte unter der Jacke. Joan hatte ihre Pete-Ludwig- Tasche auf dem Schoß liegen. Sie senkte das Sprechgerät, als sie vor sich das Kabrio erblickte. »Wir haben sie, Joan!« sagte Cuchilo mit ausdrucksloser Miene, doch mit Jagdfieber in den blitzenden Augen. Jetzt war er ein echter Indianer. Ein nemenuh, ein Angehöriger des Volkes, das früher einmal den größten Teil von Texas beherrschte. »Abstand halten«, rief Joan. »Du siehst aus wie ein Krieger, der hinter einem Skalp her ist.« »Haha, Bleichgesicht«, knurrte Cuchilo. »Bei uns Comanchen war das anders; bei uns gehörten die Frauen ins tipi und nicht auf den Kriegspfad.« Diese Unterhaltung diente lediglich dazu, die Spannung etwas zu mildern, aber Cuchilo und Joan blieben trotzdem aufmerksam und sahen Lauries Kabrio nach. Als der Plymouth ihr nicht weiter folgte, dachte Laurie nicht mehr daran. Die rothaarige Beamtin und ihr blonder Begleiter konnten sie nicht mehr einholen. Sicher riefen sie über Funk weitere Fahrzeuge herbei, aber das war ihr gleichgültig, da sie sich rasch dem Treffpunkt näherte. In fünf Minuten konnte sie in Sicherheit sein. -90-
»Pfadfinder an Tarnfahrzeug.« »Hier Tarnfahrzeug«, antwortete Joan. »Wagen der Verdächtigen hat angehalten. Befindet sich auf unbebautem Grundstück am Lake Drive neben der Autoverwertung El Paso. Kode Eins?« »Kode Eins«, bestätigte Joan. »Wir nähern uns dem Lake Drive. Ende.« »Ich kenne die Stelle«, bemerkte Cuchilo, als er in den Lake Drive einbog. »Hier bin ich früher mal Streife gegangen.« Die Straße verlief zwar am Westufer des Lake Rockabye, aber die Sicht auf das Wasser wurde durch eine Reihe von Gebäuden versperrt. Vor sich erblickte Joan eine breite Lücke. Cuchilo hielt den Plymouth dort an. »Jetzt gehen wir besser zu Fuß«, schlug er vor. Joan hängte sich die Tasche über die linke Schulter, behielt das Sprechgerät in der Hand und nickte. Beim Aussteigen zog Cuchilo den schweren Smith & Wesson aus seinem Halfter. Joan ließ ihren Colt Cobra in der Tasche, weil sie im Fall einer Schießerei doch Hilfe herbeirufen mußte. Seite an Seite erreichten sie das freie Grundstück. Vor einem hohen Maschendrahtzaun stand das Kabrio - unbeleuchtet und offenbar leer. »Was ist hinter dem Zaun?« flüsterte Joan. »Der Autofriedhof«, antwortete Cuchilo. »Man kann ihn nicht sehen, er liegt in einer Mulde.« Die beiden erreichten den leeren Wagen. Sie tauschten einen raschen Blick. »Sie muß...«, begann Joan, aber Cuchilo zischte ihr zu: »Deckung!« Joan wußte, daß sie sich völlig auf ihren Kollegen verlassen konnte, und gehorchte sofort. Keinen Augenblick zu spät. Zuerst sah Joan noch nichts, aber dann tauchten innerhalb des Zauns -91-
plötzlich zwei Gestalten auf. Trotz der Dunkelheit erkannte Joan einen Mann und eine Frau. Als die beiden den Drahtzaun erreicht hatten, konnte sie Laurie Zingel identifizieren. »Sie ist es«, flüsterte Joan. »Der Mann ist Sandwich.« »Sie haben das Geld nicht bei sich«, antwortete Cuchilo. Laurie und ihr Begleiter blieben an dem Zaun stehen. Den Beamten war vorher nicht aufgefallen, daß der Maschendraht bis fast obenhin durchgeschnitten war. Die Blondine bückte sich nach dem freien Ende des Zauns, und ihr Begleiter hob ihn hoch. Während Laurie geduckt durch die dreieckige Öffnung kam, hob ihr Begleiter auch auf der anderen Seite das abgeschnittene Ende hoch und befestigte es. »Verdammt«, zischte Joan, als das Mädchen auf den Wagen zukam. »Er bleibt stehen.« »Sie wollen hier den Wagen verschwinden lassen«, sagte Cuchilo. »Was machen wir jetzt, Chefin?« »Kümmere dich um ihn, und überlaß das Mädchen mir.« »Gern«, antwortete Cuchilo. Rund dreißig Meter trennten ihn von dem Mann, als er ins Freie sprang. »Polizei«, rief er. »Stehenbleiben, Sandwich.« Laurie hielt erschrocken inne und stieß einen ebenso überraschten wie wütenden Schrei aus. Sandwich ließ den Drahtzaun wieder los, aber gehorchte nicht. Er warf sich herum, überquerte mit wenigen Sprüngen das flache Gelände und verschwand in der Mulde. Cuchilo war zwar ein ausgezeichneter Schütze und führte eine Waffe, die für ihre Zielgenauigkeit bekannt war, aber er hielt sich zurück. Eine Magnum-Patrone trifft nicht nur sehr genau, sondern sie hat auch eine wesentlich größere Reichweite als normale Patronen. Wenn er Sandwich verfehlte, womit er unter diesen Umständen rechnen mußte, konnte das Geschoß über die Mulde hinwegfliegen und auf der anderen Seite einen unbeteiligten Passanten treffen. Deshalb rannte Cuchilo an Laurie vorbei zu dem Maschendrahtzaun. -92-
Seine Kollegin legte den Sender auf den Boden und richtete sich auf. »So, mein Mädchen«, sagte Joan und ging um den Wagen herum. »Jetzt ist alles vorbei. Kommen Sie...« Wenn Joan später über diesen Fall nachdachte, mußte sie sich selbst ganz allein die Schuld an dem geben, was nun passierte. Gerade sie hätte die Gefahr erkennen müssen. Sie hätte zumindest damit rechnen müssen, daß ein Mädchen von Lauries Statur außerordentlich beweglich sein konnte. Auch die Standhaftigkeit, die die kleine Blondine bei der psychologischen Beschattung bewiesen hatte, hätte Joan von ihrer Härte überzeugen müssen. Aber anstatt entsprechende Vorkehrungen zu treffen, ging Joan mit geschlossener Schultertasche auf Laurie zu. Laurie verschwendete keinen Blick an Cuchilo, sondern blieb stehen, sah Joan an und griff in ihre Handtasche. Ihre Rechte kam wieder zum Vorschein, es klickte, dann spiegelte sich der Mond in dem Stahl eines Schnappmessers. »Komm schon«, rief Laurie verächtlich. »Komm, hol mich doch.« »Spielen Sie nicht verrückt«, riet ihr Joan und ging weiter. »Nur weil Sandwich den Nachtwächter getötet hat...« »Das ist ein Irrtum«, antwortete die Blondine. »Arnold hat ihn nicht umgebracht, das war ich!« Jetzt wurde Joan blitzartig alles klar. Durchaus möglich, daß Laurie die Wahrheit gesagt hatte. Von Anfang an hatte Joan sich gefragt, wie Sandwich es fertiggebracht hatte, die Lohngelder von dem Safe zu seinem Wagen zu transportieren. Bis jetzt war sie davon ausgegangen, daß er diese Strecke mindestens zweimal zurückgelegt haben mußte, aber mit Hilfe des Mädchens konnte er es auch auf einmal geschafft haben. Laurie bewies ihr, daß sie mit dem Messer umzugehen wußte. -93-
Sie war kein hysterisches Mädchen mehr, sondern sie handelte wie ein erfahrener Messerstecher. Ein wenig gebückt, hielt sie die Klinge dicht vor ihren Körper und streckte die linke Hand aus, um einen Angriff abzuwehren oder einen Stich vorzubereiten. Joan erholte sich gerade noch rechtzeitig von ihrer Überraschung. Laurie kam sehr schnell auf sie zu, das Gesicht so verzerrt, wie Joan es nur ein einziges Mal bei einer Razzia gegen Rauschgiftschmuggler erlebt hatte. Einer der Männer hatte unter dem Einfluß des angeblich so harmlosen Marihuanas ein Messer gegen sie gezogen. Ohne zu zögern, hatte sie mit ihrem Colt Cobra auf ihn geschossen. Aber diesmal war es anders. Joan stand keineswegs einem berauschten, wesentlich kräftigeren Mann gegenüber, sondern einem Mädchen, das kleiner und schmächtiger war als sie selbst. Joan genoß unter ihrer weiblichen Kundschaft, den leichten Mädchen und Ladendiebinnen, den Ruf, daß man sich mit ihr besser nicht anlegen sollte. Wenn es nötig war, wußte sie sich durchaus zu helfen - und jetzt war es nötig. Die Zeit reichte nicht, um die Tasche zu öffnen und den Colt aus dem Halfter zu ziehen. Aber das hielt Joan auch nicht für notwendig. Sie sprang beiseite und wich dem Messer aus. In diesem Augenblick sah sie drüben Cuchilo durch die Lücke im Drahtzaun rennen. Sie blieb mit dem Absatz an einem Hindernis hängen und stolperte. In dieser Sekunde griff Laurie noch einmal an. Joan riß ihre Tasche von der Schulter und schleuderte sie dem Mädchen entgegen. Laurie wehrte die Tasche geschickt mit der linken Hand ab, aber Joan bekam wenigstens so viel Luft, daß sie ihr Gleichgewicht wiederfand. Lauries aufgestaute Erregung machte sich in einem lauten Schrei Luft. Joan wurde abgelenkt, als Cuchilo etwas rief und dann ein -94-
paar Schüsse krachten. Ein ohrenbetäubendes Geheul ertönte. Es folgten weitere Schüsse in rascher Folge. Beide Frauen hielten für einen Augenblick inne und sahen hinüber zum Autofriedhof. Joan erholte sich zwar als erste, tat aber so, als sehe sie immer noch zum Zaun hinüber. Laurie kam näher und stieß mit dem Messer zu. Joan hakte die Daumen ineinander, wehrte Lauries Handgelenk ab, bog ihren Arm nach oben und schwang ihn über den Kopf. Laurie stieß einen Schmerzensschrei aus, und das Messer fiel zu Boden. Erleichtert beförderte Joan die Waffe mit einem Fußtritt unter das Kabrio. Dann lockerte sie den Griff, um ihre Gefangene etwas zu beruhigen. Laurie bewies erstaunliche Körperkräfte und riß sich los. Furchtlos griff sie die Beamtin an. Joan packte das Mädchen mit beiden Armen und drückte sie an sich. Laurie wehrte sich zwar, konnte sich aber nicht aus dem Griff befreien. Fluchend und schimpfend strampelte sie und trat gegen Joans Schienbein. Joan drückte fester zu. Laurie hatte die Kunst der Selbstverteidigung als Angehörige einer Straßenbande gelernt und beherrschte alle möglichen Tricks. Sie bog den Kopf zurück und schlug mit der Stirn so hart gegen Joans Nase, daß die Beamtin vor Schmerz halb blind war und unwillkürlich losließ. Durch einen Schleier von Tränen sah Joan, wie Laurie wieder auf sie losging. Das Mädchen warf sich geschickt in die Luft und trat zu. Joan wurde gegen die Karosserie des Wagens geschleudert und konnte den Sturz zwar etwas abfangen, aber sie war doch benommen. Laurie griff nach ihren Haaren. »Wo, zum Teufel, steckst du, Sam?« stöhnte Joan. Sam Cuchilo wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß seine Kollegin Hilfe brauchte. Er hatte sie mehrfach in Aktion erlebt und war sicher, daß Joan leicht mit dem Mädchen fertig werden konnte, selbst wenn Laurie dumm genug sein sollte, sich zu wehren. Außerdem mußte er sich ganz auf den gefährlichen -95-
Mörder konzentrieren. Er näherte sich dem Rand der Mulde. Überall lagen und standen Autowracks herum, einige bis an den Abhang herauf. Unten, wo der Boden wieder eben war, rannte Sandwich zwischen zwei Karosserien hindurch. »Polizei, Sandwich!« rief Cuchilo noch einmal. Blitzschnell drehte sich der Mann um. In seiner rechten Hand zuckten zwei Flämmchen auf, und als die beiden Geschosse an Cuchilos Kopf vorbeizischten, reagierte der Deputy Sheriff ebenso rasch; aber nicht wie ein Kriminalbeamter des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern wie ein Jäger aus der alten Zeit, die in seinen Instinkten immer noch fortdauerte. Fast unbewußt stieß Cuchilo den markerschütternden Kriegsschrei seiner Vorväter aus, ein Laut, der noch Entsetzen verbreitet hatte, als alle übrigen Stämme der Comanchen das Kriegsbeil längst begraben hatten. Die dünne Schicht Zivilisation war von Cuchilo abgesprungen. Er war kein Absolvent der Polizeiakademie mehr, sondern ein Comanche im Kampf. Gleich nach dem Schrei sprang Cuchilo hoch. Automatisch zählte er die Schüsse mit und landete auf dem Dach eines Fords, der auf halber Höhe des Hanges stand. Mit dem Kopf voran rutschte er zur Kühlerhaube hinunter. Dicht hinter ihm traf ein Geschoß das Metall und prallte ab. Cuchilo hörte das Jaulen und warf sich zwischen die Autos. Als geübter Reiter verstand er es, geschickt zu fallen. Er achtete nicht auf die Steine, die ihm dabei in die Rippen drückten. Er drehte sich auf den Bauch herum, zielte mit dem Smith & Wesson und drückte ab. Sandwich schrie auf und stolperte, stürzte aber nicht. Er war zwar getroffen, konnte sich jedoch zwischen den Wracks in Sicherheit bringen. Neun Schüsse, dachte Cuchilo, als er aufstand und sich umsah. Entweder ist Sandwichs Pistole jetzt leergeschossen, -96-
oder er hat eine Browning Hi-Power und noch vier weitere Kugeln. Dem Klang nach muß es ein mittleres Kaliber sein. Aber auch zum Magazinwechseln braucht er höchstens eine Minute. Während Cuchilo darüber nachdachte, setzte er die Verfolgung fort. Er trug Stiefel mit weichen Sohlen, die auf dem festen Boden kaum ein Geräusch verursachten. Sein scharfes Gehör fing immer wieder ein paar Laute auf, die Sandwich auf der Flucht machte. Sandwich stolperte an Autowracks und Metallhaufen vorbei. Mit schmerzverzerrtem Gesicht tastete er nach der Wunde an seinem Oberschenkel. Leise wimmernd lehnte er sich an eine Karosserie. Da hörte er aus drei verschiedenen Richtungen Sirenen aufheulen: Sicher hatte jemand die Schüsse gehört und die Polizei angerufen. In diesem Fall verlor die Zentrale bestimmt keine Zeit, um ein paar Streifenwagen loszuschicken. Nach allem, was Laurie ihm über die letzten Tage berichtet hatte, mußten die Beamten in den Streifenwagen wissen, was hier vorging. Wenn es Sandwich nicht gelang, jetzt zu fliehen, konnte er dem Netz, das sich hier zusammenzog, nicht mehr entkommen. An Flucht war aber nicht zu denken, solange ihm dieser Beamte so dicht auf den Fersen war. Er duckte sich hinter den Wagen, sah sich um und erblickte einen mächtigen Fernlaster ohne Türen. Im Innern des Wracks war es pechschwarz. Sandwich humpelte hinüber und verschwand in der Dunkelheit. Er trug dunk le Kleidung und war kaum zu erkennen. Seine rechte Hand hielt die Browning HiPower schußbereit; er wartete auf seinen Verfolger. Auf dem etwas helleren Gelände außerhalb des Wagens sah er plötzlich eine Gestalt. Die Lautlosigkeit von Cuchilos Bewegungen überraschte ihn. Aber das war noch nicht alles. Er hob die Pistole und mußte feststellen, daß er nicht zielen konnte, -97-
weil sein Blick verschwommen war. Grimmig knirschte er mit den Zähnen und kroch ein Stück vor. Da blieb der Deputy Sheriff stehen und dreht e sich zu ihm um. Verzweifelt schoß Sandwich. Cuchilo hatte bemerkt, daß Sandwich plötzlich stehengeblieben war. Seit der Schießerei hatte er den Mann kaum zu Gesicht bekommen. Offenbar wartete Sandwich irgendwo auf eine Gelegenheit, seinen Verfolger außer Gefecht zu setzen. Cuchilo hörte die Sirenen näher kommen und konnte sich in die Lage des anderen versetzen. Er verfluchte dieses Geheul. Es verkündete zwar, daß Hilfe unterwegs war, übertönte gleichzeitig aber auch die leiseren Geräusche ringsum. Cuchilo wußte, daß sein Leben jetzt von seinem scharfen Gehör abhing. Er spannte alle Sinne an und erblickte den Fernlaster. Es erschien ihm zwar unwahrscheinlich, daß Sandwich sich dort verstecken sollte, aber er mußte mit allem rechnen. Da hörte er ein leises Geräusch. Sofort blieb er stehen und drehte sich um. Ein Instinkt warnte ihn und ließ ihn blitzschnell nach rechts springen. In dieser Sekunde krachte aus dem Lastwagen ein Schuß, und die Kugel verfehlte ihn nur um Millimeter. Auf dem linken Absatz drehte Cuchilo sich zu dem Wagen herum. Gleichzeitig ging er in die Hocke und stemmte die linke Hand unter die Handwurzel der rechten. Dann stellte er den linken Ellbogen auf das gebeugte Knie und zielte mit ausgestrecktem Arm. Diese Kniestütze, die von John Mahe von der kalifornischen Highway Patrol entwickelt worden war, erlaubte selbst bei dem kräftigen Rückstoß eines Smith & Wesson ein sehr genaues Zielen. Cuchilo drückte dreimal ab und schwenkte dabei die Mündung seiner Waffe quer über die schwarzgähnende Öffnung. Bei der dritten Explosion des rauchfreien Pulvers hörte er den dumpfen Aufschlag des Geschosses. Sandwich wurde von dem 41er Magnum-Geschoß in die Brust getroffen und zurückgeschleudert. Durch einen -98-
Muskelreflex gab er noch einen Schuß ab, dann fiel ihm die Pistole aus der Hand. Sie klapperte gegen die Seite des Lastwagens und blieb auf dem Boden liegen. Cuchilo rannte zu dem Wagen und ärgerte sich, weil er vergessen hatte, eine Taschenlampe mitzunehmen. »Ka-Dih«, stieß er hervor. Er gebrauchte seine Muttersprache und meinte damit den Großen Geist der Comanchen. »Verzeih einem tapferen Mann, der einen dummen Fehler gemacht hat.« Aus dem Lastwagen war nur ein dumpfes Stöhnen zu vernehmen. Trotzdem blieb Cuchilo wachsam. Er duckte sich neben dem Fahrzeug, zog mit der linken Hand das Feuerzeug aus der Hosentasche und stellte die Gasflamme auf groß. Als er das Feuerzeug hochhob, ohne daß ein Schuß ertönte, richtete er sich auf, bis er ins Innere des Lastwagens blicken konnte. Er sah Sandwich unbewaffnet auf dem Gesicht liegen. »Danke, Ka-Dih«, sagte Cuchilo nüchtern und kletterte aus dem Wagen. Dann sprach er englisch weiter: »Wo, zum Teufel, bleibt meine Begleiterin, dieses Bleichgesicht?« Verzweifelt machte Joan die Nackenmuskeln steif, um nicht zu hart auf den Boden zu prallen. Gleichzeitig bäumte sie sich auf und schüttelte Laurie ab. Sie brachte es fertig, ihre Gegnerin unter sich zu bekommen und sie mit ihrem Gewicht am Boden festzuhalten. Das Mädchen wehrte sich wie eine wilde Katze und tastete mit beiden Händen den Boden ab. Sie fand zwar keinen geeigneten Stein, aber sie warf Joan eine Handvoll Erde ins Gesicht. Joan war für ein paar Sekunden geblendet und mußte loslassen. Wieder griff Laurie an. Joan wehrte sie mit einem harten Schlag ab, aber dann machte sie einen Fehler: Laurie kroch auf das Kabrio zu, und Joan dachte schon, sie wollte fliehen. Stöhnend stützte sich die kleine Blondine auf den Boden und griff dabei mit der rechten Hand unter das Fahrzeug. Ihre Finger -99-
schlossen sich um das Heft des Messers. Jetzt merkte Joan, was Laurie vorhatte, und versetzte dem Mädchen einen Stoß in den Rücken, so daß ihr Kopf gegen das Blech des Wagens prallte. Mit letzter Kraft drehte Joan ihre Gegnerin auf den Rücken, merkte aber, daß Laurie schon bewußtlos war. Jetzt erst vernahm Joan das Heulen der Sirenen. Sie hörte Schüsse und registrierte trotz ihrer Erschöpfung erleichtert den dunkleren Klang des Smith & Wesson am Ende des Gefechts. Mit quietschenden Reifen hielt der erste Streifenwagen neben dem Kabriolett. Ein paar Beamte sprangen mit gezogenen Pistolen heraus. Einer der Männer hielt eine Taschenlampe in der Hand. »Was, zum Teufel, soll das?« knurrte er mit einem Blick auf die beiden am Boden liegenden Frauen. »Ich bin - Deputy - Hilton!« stieß Joan mühsam hervor. »Ich kenne Sie«, sagte der Mann. »Ich verstehe nur nicht, wie jemand Sie so zurichten konnte.« »Sam Cuchilo«, ächzte Joan und deutete auf den Maschendrahtzaun. »Dort drüben - hinter - Sandwich - her.« »Pete, sieh mal nach, ob er Hilfe braucht«, befahl der Fahrer. »Ich kümmere mich um die Frauen.« Drei Minuten später kam Cuchilo angerannt, weil er von dem Kollegen erfahren hatte, wie es Joan ergangen war. Er brachte es fertig, seine Besorgnis hinter einem maskenhaften Ausdruck zu verbergen. Er betrachtete Joans geschwollene Nase, dann drehte er sich zu Laurie um, die inzwischen mit Handschellen gefesselt war. Sie stieß ein leises, jämmerliches Stöhnen aus und kam allmählich wieder zu sich. »Kein Mitleid, Sam«, sagte Joan. »Sie hat den Nachtwächter bei Euro-Tex ermordet, nicht Sandwich.« »Hab's ja gleich gesagt«, antwortete Cuchilo. »Dieses Bleichgesicht ist eine wirklich zähe, kleine naivi. Wie geht's dir, -100-
Joan?« »Ich habe mich noch nie wohler gefühlt, seit ich zuletzt von einem vollbeladenen Bierwagen überfahren wurde«, antwortete Joan und wußte nicht recht, welches ihrer Glieder am meisten schmerzte. »Ich kann nur hoffen, daß Alice und Brad es mit dem ›Spanner‹ leichter haben.«
11 »Wie gehen wir vor, Chefin?« fragte Brad mit einem Blick auf den Motorradfahrer. Alice ließ den Oldsmobile im Schrittempo weiterrollen und überlegte eine Weile. Als Laurie von der Straße abgebogen war, hatten die beiden Deputy Sheriffs gewußt, daß ihre Rolle bei der psychologischen Beschattung beendet war. Brad verständigte Joan, und die Kollegin hatte dem Wagen S.O. 12 die Erlaubnis erteilt, die Verfolgung abzubrechen. Damit waren Alice und Brad frei für den Mann, der vor ihnen herfuhr. Jetzt mußten sie nur noch entscheiden, wie sie vorzugehen hatten. »Wenn er an der nächsten Straßenlampe vorbeifährt, schneide ich ihm den Weg ab«, sagte Alice. »Dann springen wir aus dem Wagen und schnappen ihn.« Brad hätte von sich aus genau denselben Vorschlag gemacht, nur mit einer kleinen Variante, über die Alice hinweggegangen war. Normale rweise würde Alice, wie sie es auch bei Verkehrssündern zu tun pflegte, den Oldsmobile vor dem Fahrzeug des Verdächtigen querstellen, so daß sie diesen rechts von sich hatten. Auf diese Weise konnte ihnen ihr Fahrzeug als Schutzschild dienen, während sie links auf der Fahrerseite ausstiegen. In diesem Fall hielt Brad etwas anderes für besser. »Ich steige rechts aus«, sagte er und legte das Funkgerät auf den Rücksitz. »Er hat zunächst genug mit seinem Motorrad zu -101-
tun.« »In Ordnung«, sagte Alice. Brad griff nach dem Autoradio und schaltete es ein. »S.O. Zwölf an Z.« »Hier Z«, antwortete die Zentrale. »Durchsage über Triplex verstanden. Zwei Streifenwagen zu Ihnen unterwegs.« »Bueno«, rief Brad ohne besondere Überraschung. In der Zentrale wußte man, was in solc hen Situationen zu tun war. Er fuhr fort: »Die Wagen sollen Kode Zwei kommen. Die Sirenen könnten bei der Psychobeschattung stören.« Code Zwei bedeutete, daß zwar auf schnellstem Wege, aber ohne Rotlicht und Sirene gefahren werden sollte. »In Ordnung. Was haben Sie vor?« »Wir nehmen den Verdächtigen an der nächsten Straßenlampe fest, auch wenn bis dahin die Verstärkung noch nicht hier ist.« »Ist das nötig, S.O. Zwölf?« »Ja. Hier gibt es so viele Fluchtrouten, daß wir nicht länger zögern dürfen. Der Verdächt ige nähert sich jetzt einem beleuchteten Straßenstück. Ende.« »Viel Glück«, sagte die Stimme aus der Zentrale, dann war das Funkgerät still. »Wenn wir nur einen Scheinwerfer hätten«, bemerkte Alice, ohne den Blick von dem Motorradfahrer zu wenden. »Wir könnten ihm ins Gesicht leuchten und ihn festnehmen, solange er benommen ist.« Alice war auch unter den männlichen Kollegen als ausgezeichneter Schütze bekannt, und Brad gehörte zu den wenigen Beamten, die wegen ihrer großartigen Erfolge bei den verschiedenen Wettbewerben als ›Meisterschützen‹ sechzehn Dollar pro Woche Zuschlag bekamen. Deshalb mochte dieser Vorschlag feige erscheinen, aber Brad wußte, daß die Festnahme einer gefährlichen Person keine sportliche -102-
Veranstaltung, sondern eine todernste Sache ist. Die Beamten waren zwar bereit, notfalls von der Waffe Gebrauch zu machen, aber sie wollten den Mann lebend haben. Daher auch ihr Interesse an einer möglichst sicheren Methode. »Er muß längst wissen, daß wir ihn verfolgen«, bemerkte Brad, während Alice die Geschwindigkeit des Oldsmobile erhöhte. »Warum flieht er nicht?« »Vielleicht will er, daß wir ihn einholen«, antwortete Alice. »Dann kann er auf uns schießen.« Wenn sich Dr. Hertel hinsichtlich der Motive des ›Spanners‹ nicht irrte, konnte Alice recht haben. Brad zog deshalb den Colt aus dem Halfter und griff mit der linken Hand nach der Tür. Je näher sie dem Mann kamen, um so rascher ging Brads Pulsschlag. Er sah die Patronen am Gürtel des Motorradfahrers. Nach der äußeren Form zu urteilen, mußte es sich bei dem Halfter um ein Berns-Martin ›Speed‹ handeln. Der Mann war groß und schlank und entsprach in allem der Beschreibung des ›Spanners‹. Noch ein paar Sekunden, dann würden die Beamten erfahren, ob Ivy Monoghan mit ihrer Aussage über das blitzartige Reaktionsvermögen des Mannes übertrieben hatte oder nicht. Der Oldsmobile glitt an dem Motorradfahrer vorbei, als sie sich genau unter der Straßenlampe befanden. Brad warf einen Blick zur Seite und merkte, daß ihn der Mann ansah. Das schmale, nicht gerade hübsche Gesicht drückte weder Überraschung noch Angst aus. Alices Hände spannten sich um das Lenkrad, als sie mit einem schnellen Blick die Entfernung zu dem Motorrad abschätzte. »Jetzt!« Kaum hatte sie das Wort ausgesprochen, riß sie das Lenkrad herum. Der Dienstwagen bog nach rechts ab und hielt auf den rechten Bürgersteig Zu. Gewandt und ohne Panik schaltete Alice in den Leerlauf. Sie brachte den Wagen zum Stehen. Das rechte -103-
Vorderrad berührte die Bordsteinkante und versperrte dem Motorradfahrer den Weg. Der Oldsmobile stand noch nicht, da hatte Brad schon seine Tür aufgestoßen. Er sprang aus dem Wagen, ging sofort in die geduckte Kampfstellung, wie sie beim FBI gelehrt wird - Beine gespreizt, Knie etwas gebeugt, Körper nach vorn geneigt -, und hielt dabei in Hüfthöhe den schweren Colt Government. Die Mündung der Waffe zeigte genau auf die Brust des Motorradfahrers. Alice stieg durch die linke Tür aus. Da sie ihre Uniform trug, hing ihr Colt an dem vorgeschriebenen Sam-Browne-Gürtel in einem Safariland-Halfter. Kaum stand sie auf der Straße, da griff sie schon nach dem Halfter, schob mit dem Daumen die Sicherung beiseite, zog die Waffe und lief zum Kofferraum des Wagens. Sie ließ sich auf das linke Knie nieder, legte den Arm auf dem Kofferraum auf und zielte mit beiden Händen. Die beiden Deputy Sheriffs arbeiteten so gut zusammen, daß sich der Motorradfahrer innerhalb einer knappen Minute durch zwei großkalibrige Waffen von beiden Seiten bedroht sah. Unter solchen Umständen wäre jeder Widerstand glatter Selbstmord gewesen. Der Mann schrie überrascht auf, als der Oldsmobile ihm plötzlich den Weg abschnitt, lenkte die Maschine nach rechts und trat auf die Bremsen. Das Vorderrad berührte die Bordsteinkante, und er hatte Mühe, nicht umzukippen. Selbst wenn er an Gege nwehr gedacht hätte, wäre unter diesen Umständen nichts zu machen gewesen. »Polizei«, rief Brad. »Hände hoch!« »Los, Hände hoch!« fügte Alice hinzu. Der Mann sah erst den blonden Hünen, dann das Mädchen mit dem grimmigen Gesicht an und ließ sein Motorrad zu Boden gleiten. Langsam hob er die Hände bis in Augenhöhe. Wie im Krampf öffnete und schloß er den Mund, aber es kam kein Laut heraus. -104-
»Treten Sie zur Seite«, sagte Brad. Nachdem der Mann den Befehl ausgeführt hatte, fuhr Brad fort: »Schnallen Sie mit der linken Hand ganz langsam den Gürtel ab, und lassen Sie ihn zu Boden fallen.« »Was soll das Ganze?« stieß der Mann hervor und starrte in die große Mündung der Pistole. »Tun Sie, was ich Ihnen befehle«, sagte Brad. Der Motorradfahrer mochte zwar vor Schreck und Überraschung halb benommen sein, aber er begriff. Er hielt die rechte Hand oben, öffnete mit der linken die Gürtelschnalle und ließ den Gürtel mit dem Halfter auf den Bürgersteig fallen. »Jetzt dort hinüber an die Wand«, befahl Brad. »Treten Sie ein Stück zurück, spreizen Sie die Beine, und stützen Sie die ausgestreckten Arme gegen die Wand.« Alice atmete ein wenig auf. Falls dieser Mann tatsächlich der ›Spanner‹ war und so viel Intelligenz besaß, wie sie vermutete, mußte er wissen, daß er in dieser Haltung den beiden Beamten ausgeliefert war und keinen Fluchtversuch unternehmen konnte. Wenn er jetzt nicht sofort handelte, war er endgültig außer Gefecht gesetzt. Langsam drehte der Mann sich um und ging zur Wand hinüber. Er warf einen Blick über die Schulter und sah, daß immer noch beide Pistolen auf ihn gerichtet waren. Da beugte er sich vor, spreizte die Beine und stützte beide Hände flach an die Wand. »Was soll das alles?« beklagte er sich. »Denken Sie scharf nach«, riet ihm Brad und steckte die Pistole ein. »Dann wird's Ihnen einfallen.« Alice erhob sich, behielt aber ihren Colt Commander in der Hand. Sie blieb rechts von dem Gefangenen stehen. Brad trat von links auf ihn zu. Ein schwarzer Wagen mit einem Rotlicht auf dem Dach kam näher, als Brad den Verdächtigen abtastete. -105-
»Sauber«, meldete er und richtete sich auf. Der Streifenwagen hielt an, die Insassen sprangen heraus. Einer von ihnen war ein großer, hagerer, grauhaariger Mann, der andere ein untersetzter Chinese. Sie trugen Zivil und hatten die Dienstmarken der Stadtpolizei an ihren linken Brusttaschen befestigt. »Hallo, Alice«, grüßte der Grauhaarige. »Sie haben ihn, wie?« »Ja, wir haben ihn«, sagte Alice. »Kennen Sie meinen Kollegen Brad Counter schon? Brad, das sind Doug Smith und Charlie Chan, die besten Kriminalisten von Gusher City Süd.« Die drei Männer begrüßten sich, dann fragte Chan: »Das also ist der ›Spanner‹?« »Sie kennen ihn?« fragte Alice überrascht, dann schob sie ihren Colt ins Halfter. »Er heißt Ernie Kochek«, antwortete Chan. »He, jetzt verstehe ich«, rief der junge Mann, richtete sich auf und drehte sich um. »Ihr haltet mich also für diesen idiotischen ›Spanner‹.« »Sind Sie das nicht?« fragte Brad kalt. »Der Teufel bin ich. Oder sehe ich so aus?« »Was das Gesicht betrifft, weiß ich's nicht«, antwortete Brad. »Aber die Zeugenbeschreibung der Kleidungsstücke stimmt.« »Kleidung?« krächzte Kochek, als falle ihm jetzt erst sein Aufzug ein. »Teufel! Das ziehe ich am Freitagabend doch immer an, wenn ich zum Schießklub gehe.« »Und Sie benut zen ein Berns-Martin-Halfter vom Typ ›Speed‹?« »Nein«, sagte Kochek ausweichend. »Und was ist das?« knurrte Brad. Er breitete ein Taschentuch über die rechte Hand, bevor er den Gürtel hochhob. »Das ist nur eine Kopie«, antwortete Kochek. -106-
»Die Berns-Martin- Halfter sind durch ein Patent geschützt«, erklärte Brad mit einem Blick auf den langläufigen Colt Peacemaker in dem Halfter. »Es gibt in Gusher City einen Mann, der die Dinger für uns anfertigt«, gab Kochek zu. »Aber ich bin nicht der ›Spanner‹.« »Wer kann das bestätigen?« fragte Brad. »Gehen wir.« »Wohin?« wollte Kochek wissen. »Zum Sheriff's Office natürlich«, antwortete Brad. Er wandte sich an seine Kollegen in dem Streifenwagen. »Irgend jemand soll das Motorrad holen.« »Z an D Vierundzwanzig«, klang es aus dem Autoradio. »D Vierundzwanzig«, meldete sich Chan, nachdem er sich das Mikrofon durchs Fenster geholt hatte. »Sofort ein Streifenwagen zum Lake Drive,« sagte die Zentrale. »Dort ist eine Schießerei.« »In Ordnung«, bestätigte Chan. »Wer ist in die Schießerei verwickelt?« fragte Alice, die inzwischen neben ihren Kollegen getreten war. »Ein S.O.-Team von der Psychobeschattung«, kam die Antwort. »Keine weiteren Informationen.« »Bitte, halten Sie uns auf dem laufenden«, bat Alice. »Mein Rufzeichen ist S.O. Zwölf.« »Mache ich«, versprach die Zentrale. »Ende.« Alice kehrte seufzend zu ihrem Kollegen zurück. Joan Hilton und Sam Cuchilo mochten gute Freunde sein, aber die Pflicht ging vor; sie mußten sich zuerst um Kochek kümmern. Der junge Mann lehnte mit dem Rücken an der Wand und ließ den Blick von einem zum anderen schweifen. »Soll das Ganze ein Witz sein?« fragte Kochek. »Wie kommen Sie darauf?« erkundigte sich Brad. »Ihr habt doch was gegen Privatleute, die Waffen besitzen.« -107-
»Das stimmt nicht, Mr. Kochek«, antwortete Alice. »Das Sheriff's Office respektiert das verfassungsmäßige Recht eines jeden Bürgers, Waffen zu tragen. Uns interessieren nur bewaffnete Verbrecher.« »Schon gut«, murmelte Kochek ein wenig besänftigt. »Wenn ich wirklich dieser ›Spanner‹ wäre, war's idiotisch von mir, in diesem Aufzug herumzulaufen.« »Das haben Sie gesagt«, knurrte Brad. »Es ist nämlich so, Mr. Kochek«, schaltete sich Alice ein. Sie warf einen kalten Blick auf ihren Kollegen. »Ich bin zwar von Ihrer Unschuld überzeugt, aber die Beschreibung des ›Spanners‹ trifft auf Sie zu: Größe, Körperbau, Kleidung, Bewaffnung, Motorrad. Wir müssen den Mann fassen, weil er gefährlich ist. Als verantwortungsbewußter Bürger wollen Sie uns dabei sicher unterstützen.« »Sie können sich auf mich verlassen«, versicherte ihr Kochek. »Was habe ich zu tun?« »Erzählen Sie uns, wo Sie die drei letzten Abende verbracht haben. Dann kommen Sie mit zum Sheriff's Office. Also bitte wo waren Sie an den letzten drei Abenden?« »Fangen wir mit heute abend an«, forderte Brad mit kalter Stimme. »Lehn mal Mr. Kocheks Motorrad an die Wand«, sagte Alice zu ihm. »Ich mache das schon.« »Du bist die Chefin«, knurrte Brad bitter und gehorchte. Smith und Chan hörten den beiden zu und grinsten insgeheim. Im Gegensatz zu Kochek wußten sie, daß alles nur Taktik war. Sie arbeiteten als Kriminalbeamte in einem Zeitalter, in dem Presse und Fernsehen ganz besonderes Gewicht auf die Bürgerrechte legten und jedem Fall von ›Verfolgung‹ durch die Behörden nachgingen. Selbst gegenüber einem gefährlichen Verbrecher mußte man da vorsichtig sein. Falls es sich wider -108-
Erwarten herausstellen sollte, daß Kochek nicht mit dem ›Spanner‹ identisch war, wollte Alice unter keinen Umständen eine Beschwerde bei der obersten Behörde des County riskieren. Sie hatten zwar guten Glaubens gehandelt und ihre Pflicht gegenüber den Bürgern erfüllt, aber trotzdem war eine solche Beschwerde sehr unangenehm. Deshalb wandten die Beamten die gleiche Technik an wie bei Ivy Monoghan, nur daß jetzt Alice die sympathische Rolle spielte. Was auch dabei herauskam, Kochek würde auf alle Fälle freiwillig mitmachen. »Können Sie uns sagen, wo Sie die letzten drei Abende verbracht haben, Mr. Kochek?« fragte Alice mit einem gewinnenden Lächeln. »Das ist ganz einfach«, antwortete der junge Mann erleichtert. »Heute abend war ich ab sieben Uhr auf dem Schießstand Wills Street bei der wöchentlichen Übung unseres Klubs. Gestern abend und am Mittwoch abend habe ich bis Mitternacht im Restaurant ›Stewpot Diner‹ gearbeitet. Dort verdiene ich mir nebenher das Geld für die teure Munition.« Alice bemerkte mit einem raschen Seitenblick, daß Smith etwas in ein Notizbuch schrieb. Er blinzelte Alice zu und beantwortete damit die unausgesprochene Bitte, das angegebene Alibi zu überprüfen. Brad trat zu den beiden, den Patronengürtel über der Schulter. »Was nun?« fragte der Blonde. »Mr. Kochek hat sich bereit erklärt, uns ins Büro zu begleiten«, antwortete Alice. »Sergeant Chan wird sich um Ihr Motorrad kümmern, bis es von unserem Lastwagen abge holt und ins nächste Revier gebracht werden kann. Selbstverständlich fahren wir Sie nachher mit dem Wagen wieder dorthin.« Das Zusammenspiel von Härte und Güte schien sich wieder einmal zu bewähren. Kochek gewann an Selbstbewußtsein und strahlte, weil er das Gefühl hatte, von den Kriminalbeamten ins -109-
Vertrauen gezogen zu werden. »Was halten Sie davon, Brad?« fragte Chan, als Kochek hinten in den Oldsmobile kletterte. »Ist er der ›Spanner‹?« »Was meinen Sie denn?« fragte der blonde Hüne zurück. »Wenn ja, dann ist er ein verdammt kaltblütiger Bursche«, sagte der Chinese. »Dabei soll der ›Spanner‹ doch ein Verrückter sein. Passen Sie auf der Fahrt ins Sheriff's Office gut auf.« »Mache ich«, versprach Brad und überlegte, ob sie wohl den Richtigen geschnappt hatten. Falls sich Doc Hertel nicht in dem Mann irrte, war er sicher idiotisch genug, unterwegs einen Fluchtversuch zu unternehmen. »Ich lasse ihn nicht aus den Augen, Charlie.«
12 Auch für Alice war es von vornherein klar, daß Kochek auf der Fahrt zum Sheriff' s Office streng bewacht werden mußte. Es gab verschiedene Fragen zu stellen, die er - ob er nun der ›Spanner‹ war oder nicht - bereitwilliger beantworten würde, wenn die Fragen von ihr kamen. Deshalb stieg sie rechts ein und überließ Brad das Steuer. Kocheks Patronengürtel legte sie sich über die Knie. Dann stützte sie den linken Arm auf die Rückenlehne und drehte sich halb um. Während Alice auf diese Weise Kochek beschäftigte, ging Brad um den Wagen herum, schloß die hinteren Türen ab und setzte sich ans Steuer. »Fein gemacht, wie Sie mich abgedrängt haben«, bemerkte Kochek voll Hochachtung und lehnte sich zurück, als hätte er keinerlei Sorgen. Vielleicht war das eine Pose, um die Beamten in falsche Sicherheit zu wiegen, aber Alice beabsichtigte, unter allen Umständen die bisherige Taktik fortzusetzen. -110-
»Das gehört mit zu unserer Ausbildung«, sagte sie lächelnd. »Jetzt weiß ich auch, warum Sie gleich die Pistolen gezogen hielten«, fuhr Kochek fort. »Das ist nämlich viel einfacher, als sich schnelles Ziehen anzugewöhnen.« Alice merkte, wie ihr Kollege neben ihr unwillkürlich steif wurde. Sie stieß ihm unbemerkt die Faust in die Rippen, damit er schwieg. Die Sache kam ihr trotz der immer noch drohenden Gefahr fast komisch vor. Das grimmige Gesicht des blonden Hünen an ihrer Seite entlockte ihr ein Lächeln. Dann widmete sie sich wieder Kochek. »Ja, das stimmt«, antwortete sie. »Dabei ist schnelles Ziehen gar nicht so schwer zu lernen«, sagte Kochek. »Man braucht nur viel Übung und eine gute Koordination aller Bewegungen.« »Ich wette, daß Sie sehr schnell sind«, sagte Alice in bewunderndem Ton. Brad wurde immer unruhiger. »Ich brauche für einen Schuß einundzwanzig Hundertstel Sekunden«, erklärte Kochek mit falscher Bescheidenheit. »Mein Gott«, stieß Alice hervor und tat sehr beeindruckt. »So schnell sind Sie? Dann müssen Sie in Ihrem Fach ein Meister sein.« »Bin ich auch, man hat mich nur einmal geschlagen.« Alice stieß Brad noch einmal den Finger zwischen die Rippen und fragte harmlos: »Und wer hat Sie geschlagen?« Kochek machte es offenbar nichts aus, diese Frage zu beantworten, zumal seine einzige Niederlage durchaus erklärlich war. »Vor ungefähr sechs Monaten kam ein Bursche vorbei, der nur einmal da war. Er machte mich darauf aufmerksam, wie gut das ›Speed‹-Halfter ist. Vorher habe ich immer nur sechsundzwanzig Hundertstel geschafft. Ich möchte ihn gern wiedertreffen. Vielleicht klappt's nächstes Jahr.« -111-
Alice überhörte geflissentlich das Brummen an ihrer Seite. Sie fragte: »Warum wollen Sie so lange warten, Mr. Kochek?« »Er hat hier in der Stadt Urlaub gemacht und Verwandte besucht.« »Wo in der Stadt?« Das weiß ich nicht. Ich glaube, draußen in Evans Hill. Er hatte ein Berns-Martin- Halfter und hat es uns gezeigt. Ein paar von uns haben sich danach Kopien anfertigen lassen.« »Auf jeden Fall ist das ein Verstoß gegen das Patentrecht«, knurrte Brad, der einfach nicht länger schweigen konnte. »Das geht uns nichts an«, erklärte Alice. Sie blieb Kochek gegenüber so charmant wie möglich. »Wieviel von diesen Halftern haben Sie anfertigen lassen?« »Vier oder fünf.« »Z an S.O. Zwölf«, ertönte es aus dem Lautsprecher. Alice und Brad hielten unwillkürlich den Atem an. Wenn Alice sich abwandte, um den Funkruf zu beantworten, könnte Kochek die günstige Gelegenheit ausnutzen. Da der Verkehr in dieser Gegend nicht sehr dicht war, griff Brad nach dem Mikrofon. »Hier S.O. Zwölf«, meldete er sich. »Wir sollen von der Stadtpolizei mitteilen, daß Sandwich durch einen Schuß schwer verletzt und Miss Zingel verhaftet wurde. Joan Hilton hat Schläge bekommen, aber sonst ist alles in Ordnung.« »Gott sei Dank«, stieß Alice hervor. »Ihre Position, S.O. Zwölf?« fragte die Zentrale, bevor sie sich Gedanken darüber machen konnten, wer Joan zusammengeschlagen haben mochte. »Wir kommen mit einem Verdächtigen zurück«, antwortete Brad. »Schicken Sie uns einen Fingerabdruckexperten ins Sheriff's Office. Er soll die Abdrücke von Hooplers Brieftasche -112-
mitbringen Kode Eins.« Alice verzichtete jetzt darauf, ihren Kollegen wieder anzustoßen, und griff unbemerkt nach dem Griff ihres Colt Commander. Kochek schien es jedoch gleichgültig zu sein, daß der ›Spanner‹ bei einem seiner Überfälle Abdrücke zurückgelassen hatte. Die Zentrale bestätigte Brads Bitte, dann hängte der Deputy Sheriff das Mikrofon wieder an den Haken, ohne daß der Mann auf dem Rücksitz eine verdächtige Bewegung gemacht hätte. Alice beschloß, aufs Ganze zu gehen. »Mr. Kochek, der ›Spanner‹ hat auf der Brieftasche eines seiner Opfer einen guten Abdruck hinterlassen«, bemerkte sie im Plauderton. »Einen nur?« Kochek schien nicht sehr beeindruckt zu sein, aber seine Unwissenheit war verständlich, wenn es stimmte, daß der ›Spanner‹ ein Amateur war. Brad sah aus den Augenwinkeln, daß Alice nach ihrer Waffe gegriffen hatte. Er nahm deshalb die rechte Hand vom Steuer und knöpfte lässig seine Jacke auf. »Dieser eine genügt«, erklärte Alice. »Unsere Experten werden Ihnen die Fingerabdrücke abnehmen und durch einen Vergleich mit dem aufgefundenen Abdruck Ihre Unschuld bestätigen. Wenn wir fertig sind, werden Ihr e Abdrücke natürlich in Ihrer Gegenwart vernichtet.« »Dann bin ich ja erleichtert«, seufzte Kochek mit einem finsteren Blick auf Brads Rücken. »Ich meine - wenn mir auch andere Leute glauben, daß ich nicht der ›Spanner‹ bin.« »Wir hoffen, daß Sie uns noch weiter helfen werden«, meinte Alice. »Gern, wenn ich kann.« »Wir brauchen die Namen Ihrer Freunde mit diesem ›Speed‹Halfter«, mischte sich Brad ein. »Und den Namen des Herstellers.« -113-
»Ich verpfeife doch nicht meine Freunde«, schnaubte Kochek empört. »Darum geht es gar nicht«, erkürte Alice freundlich. »Es könnte ja sein, daß er auch ein Halfter für den ›Spanner‹ angefertigt hat, natürlich ohne es zu wissen. Wir möchten nur Ihre Freunde von jedem Verdacht reinigen.« »Ach, so ist das«, murmelte Kochek. »Ich helfe Ihnen gern, soweit ich kann, Miss...« »Fayde«, sagte Alice. »Wollen Sie nicht am Freitag mal in den Klub kommen? Dann kann ich Ihnen vielleicht zeigen, wie man schnell zieht.« Alice nahm einen Augenblick ihre Hand vom Colt, um ihren Partner noch einmal anzustoßen. Dann antwortete sie in zuckersüßem Ton: »Eine großartige Idee. Wir verabreden das bei nächster Gelegenheit.« »Eins will ich Ihnen sagen«, fuhr Kochek fort. »Von den Besitzern der ›Speed‹-Halfter ist keiner der ›Spanner‹. « »Woher wissen Sie das?« fragte Alice. »Wenn er meine Figur hat und sich so kleidet wie ich und noch dazu einen Cavalry Peacemaker trägt, scheiden die anderen aus. Sie sehen ganz anders aus, kleiden sich anders und bevorzugen kürzere Waffen als ich.« »Und was war mit dem Mann, der Sie einmal geschlagen hat?« »Der ist doch nicht in der Stadt.« »Vielleicht ist er wieder hier«, meinte Alice. »Was für eine Waffe hat er benutzt?« »Einen Cavalry Modell Peacemaker - he, jetzt verstehe ich.« »Und wie sah er aus?« fragte Alice geduldig. »Ungefähr meine Größe, aber schmächtiger. Unscheinbar, nicht gerade häßlich, eben...« -114-
»Durchschnittlich«, meinte Brad. »Ja, das stimmt.« »Und wie hat er sich gekleidet?« fragte Alice. »Warten Sie mal - Lederhemd, Jeans und Stetson.« »Seine Haarfarbe?« »Bräunlich«, antwortete Kochek nach einer kurzen Pause. »Nicht sehr lang. Dazu einen schmalen Schnurrbart. Er sah aus wie ein Intellektueller. Aber er war wirklich großartig.« »Tatsächlich?« fragte Alice. »Ja«, bestätigte Kochek. »Wenn er sogar mich geschla gen hat. Und er wußte eine Menge vom alten Westen. Viele Storys, Ausdrucksweise und so weiter.« »Wie war sein Name?« fragte Alice. »Er hat sich als Teddy oder Terry Telfer vorgestellt«, antwortete Kochek. »Wir wollten unsere Adressen austauschen, haben's aber dann vergessen, und er ist nicht wiedergekommen.« Als sie beim Polizeigebäude eintrafen, lenkte Alice ihn so lange ab, bis Brad die Hintertür aufgeschlossen hatte. Über den Fremden, der einmal im Schießklub mit einem Berns-MartinHalfter vom Typ ›Speed‹erschienen war, erfuhr sie nicht mehr viel. Kochek stieg aus und ahnte nicht, daß er während der ganzen Fahrt eingesperrt gewesen war. Alice und Brad führten den jungen Mann in den Wachraum im dritten Stock. McCall und ein Beamter der Fingerabdruckabteilung standen in der Tür. Der Gerätekoffer lag auf Brads Schreibtisch. Alice führte Kochek an den Tisch, begleitet von Brad und von McCall. »Na, was ist, Brad?« fragte McCall mit einem Blick auf den Patronengürtel, den Brad in der Hand hatte. »Er hat recht«, antwortete Brad. »Es ist kein echtes BernsMartin-Halfter, sondern nur eine Kopie.« -115-
»Wir wissen aber nicht, ob der ›Spanner‹ ein echtes trägt«, erinnerte ihn McCall. »Nein«, pflichtete Brad ihm bei und nahm den Revolver aus dem Halfter. »Habe ich mir doch gleich gedacht: Wachskugeln.« Er deutete auf die Patronen im Gürtel. »Ich wette, daß es nur Attrappen sind. Der Mann ist ein Sportler, sonst nichts.« Das schnelle Ziehen ist nur ein Spiel, bei dem es darauf ankommt, innerhalb kürzester Zeit einen Single-ActionRevolver wie den Peacemaker in Anschlag zu bringen und abzudrücken. Wohin der Lauf im Augenblick des Schusses zeigt, spielt keine Rolle. Es werden entweder Platzpatronen oder Patronen mit Wachskugeln verwendet. Im Gegensatz dazu ist das Wettschießen ein echter Sport, bei dem zur Geschwindigkeit die Genauigkeit kommt. Dabei werden möglichst naturgetreu echte Situationen simuliert. Während das Ziehen ein Spiel bleibt, ist der Kampfsport eine ernste Sache, von der schon Polizeibeamte in aller Welt profitiert haben. Meisterschützen wie Brad sahen daher auf ›Experten‹ im Ziehen ein wenig verächtlich herab, wenn diese um Hundertstelsekunden wetteiferten. Bei einem echten Kampf waren Zeitspannen dieser Größenordnung ohnehin unwichtig und nicht ausschlaggebend für den Sieg. Brad hatte sich während der ganzen Fahrt Kocheks Geprahle angehört und war nun dem Siedepunkt nahe. In diesem Augenblick interessierte sich McCall aber weniger für Brads Ansichten über die Spielerei des Schnellziehens, sondern mehr für den festgenommenen Mann. »Ist er der ›Spanner‹?« frage der First Deputy. »Wenn er's wirklich sein sollte, ist er der kaltschnäuzigste Bursche, den ich jemals gesehen habe«, antwortete Brad. »Ich würde nein sagen, wenn sein Alibi stimmt und der Fingerabdruck mit dem auf der Brieftasche nicht -116-
übereinstimmt.« »Unter diesen Bedingungen würde ich das auch sagen«, antwortete McCall trocken und sah zu Alice und Kochek hinüber. »Hoffentlich haben Sie ihn nicht zu unsanft angefaßt.« »Alice hat dafür gesorgt, daß er freiwillig mitkam.« »Das Mädchen ist gar nicht ungeschickt.« »Keine Ähnlichkeit vorhanden, Alice«, erklärte der Spezialist, nachdem er die Fingerabdrücke verglichen hatte. In diesem Augenblick läutete Alices Telefon. Sie griff nach dem Hörer, meldete sich, hörte einen Augenblick zu, bedankte sich und legte auf. Dann bat sie den Experten, die Abdruckkarte vor Kocheks Augen zu vernichten, und ging hinüber zu McCall. »Das war Doug Smith aus Gusher City Süd«, sagte sie. »Kochek war gestern abend sowie am Mittwoch und am Dienstag in dem Restaurant und hat sich vor Mitternacht nie länger als ein paar Minuten entfernt. Das ist, ganz abgesehen von den Abdrücken, ein hieb- und stichfestes Alibi.« »Das wäre auch zu einfach gewesen«, bemerkte McCall. »Heute abend sind übrigens noch keine Überfälle gemeldet worden.« »Vielleicht haben ihn die Patrouillen abgeschreckt«, sagte Brad, aber es klang nicht sehr überzeugend. »Was wird mit Kochek?« »Ich lasse mir die Adressen seiner Freunde geben, damit wir sie überprüfen können«, antwortete Alice. »Dann besuchen wir den Mann, der die Halfter anfertigt. Viel ist das nicht, aber immerhin die einzige Spur, die wir haben. Anschließend fahren wir ihn zum Revier Gusher City Süd, damit er dort sein Motorrad abholen kann.« »Einverstanden«, sagte McCall. Sheriff Jack Tragg trat durch den Haupteingang ein. Ein Blick -117-
auf sein Gesicht sagte den anderen, daß es sich nicht um einen Höflichkeitsbesuch handelte. Jack wirkte erleichtert, als er Alice und Brad neben McCall stehen sah. »Bleiben Sie noch eine Weile da, Ben«, bat Jack den Fingerabdruckexperten. »Alice und Brad, Sie sind jetzt doch frei, nicht wahr?« »Ja, die psychologische Beschattung ist vorbei«, antwortete Alice. »Wieder der ›Spanner‹ ?« »Natürlich, Alice«, sagte Jack. »Leon Fortuna war in der Gegend der Hoseville Road und sah einen Wagen mit voller Beleuchtung in einer Seitenstraße stehen.« »Dann hat der Schweinehund schon wieder das Operationsgebiet gewechselt!« rief Brad, weil er wußte, daß Deputy Sheriff Fortuna im Außenbüro im Nordosten der Stadt stationiert war. »Er hat noch mehr gewechselt«, knurrte der Sheriff. »Er hat einen Mann mit dem Revolver niedergeschlagen und schwerer verletzt als Hoopler. Dann mußte das Mädchen die Luft aus allen vier Reifen lassen, nachdem er sie gezwungen hatte, sich bis auf die Haut auszuziehen.« »Vergewaltigung?« fragte Alice. »Leon weiß es nicht genau. Es war nicht viel aus ihr herauszubringen. Nach den bisherigen Angaben muß der Überfall gegen einundzwanzig Uhr dreißig verübt worden sein. Der ›Spanner‹ schlug ihren Freund nieder und befahl ihr, sich auszuziehen. Wenn sie an diesem Punkt ihres Berichtes anlangt, kriegt sie regelmäßig einen hysterischen Anfall. Sie sollten mal hingehen, Alice.« »Mache ich«, antwortete Alice. »Wir sind schon unterwegs. Könne n Sie mitkommen, Ben?« Kochek hatte mit offenem Mund zugehört und bemerkt, welche Veränderung mit Alice vorgegangen war. Sie war nicht -118-
mehr die warmherzige, hübsche junge Frau, die sich so charmant mit ihm unterhalten hatte, sondern ebenso kalt, hart und entschlossen wie ihre männlichen Kollegen. Kochek hatte auch herausgehört, daß sie die Befehle erteilte. Niemand schien sich dagegen aufzulehnen, daß die Anweisungen von einer Frau kamen. »Nehmen Sie auch einen Fotografen mit«, befahl Jack. »Die Ambulanz is t schon unterwegs.« »Während du den Kameramann holst, tanke ich den Oldsmobile auf, Alice«, schlug Brad vor. »Das wollte ich vor Dienstschluß ohnehin noch tun.« »Dann mach's jetzt«, sagte Alice. Sie streifte Kochek mit einem müden Lächeln. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Während Sie auf den Wagen warten, könnten Sie Mr. McCall die Namen und Adressen Ihrer Freunde geben.« »Natürlich, Miss Fayde«, versprach der junge Mann. »Kann ich sonst noch was tun, Alice?« fragte McCall. »Lassen Sie einen gewissen Teddy oder Terry Telfer überprüfen. Männlicher Amerikaner weißer Hautfarbe, Alter ungefähr dreiundzwanzig, Größe rund einsachtzig, schlank, stumpfbraunes Haar«, sagte Alice wie aus der Pistole geschossen. »Er spricht mit texanischem Akzent und behauptet, von außerha lb zu kommen. Wenn nichts gegen ihn vorliegt, möchte ich schnellstens ein Gutachten der Zentrale haben.« »Ich kümmere mich darum«, antwortete McCall. »Ist sonst noch etwas über ihn bekannt?« »Er trägt einen langläufigen Colt Peacemaker und ein BernsMartin-Halfter vom Typ ›Speed‹«, antwortete Alice und griff schon nach dem Telefon, um den Fotografen zu verständigen. Dann holten Alice und Brad ihren Wagen und fuhren in Begleitung der beiden Spezialisten durch die Straßen der Stadt nach Nordosten. Sie waren sehr schweigsam, bis sie die Straße nach Hoseville erreicht hatten. Da ertönte zu ihrer Überraschung -119-
die Stimme des Sheriffs aus dem Funkgerät. »Sheriff Tragg an Wagen S.O. Zwölf.« »Hier S.O. Zwölf«, antwortete Alice und ahnte schon mit dumpfem Schrecken, was den Sheriff veranlaßte, sich persönlich zu melden. »Vergessen Sie den Überfall, darum kümmert sich Leon«, befahl Jack Tragg. »Fahren Sie sofort zur Seitenstraße nach Stenton, etwa eine halbe Meile von der Einmündung entfernt finden Sie zwei Autos.« »Wieder der ›Spanner‹, stimmt's?« fragte Alice in bitterem Ton, weil sie wußte, daß nur eins den Sheriff veranlassen konnte, sie zurückzubeordern. »Ja, jetzt hat er es getan«, sagte Jack voll verhaltener Wut. »Er hat einen Mann und ein Mädchen erschossen. Alice und Brad, ich will den Kerl jetzt haben, und zwar pronto.«
13 Der ›Spanner‹ war ein wenig unzufrieden, als er sich an den Wagen seiner nächsten Opfer heranschlich. Er mußte an den ersten Raubüberfall zurückdenken - war das wirklich erst am vergangenen Dienstag gewesen? Das war noch eine echte Sensation! Dem Liebespaar in dem Cadillac hatte er sich voll Aufregung und innerer Spannung genähert. Er wußte, woher das kam: Er mußte sich in einem gefährlichen Spiel in Witz, Geschicklichkeit und Kraft mit anderen messen, eine Erfahrung, die ihm bisher immer verwehrt geblieben war. Man hatte es ihm zwar nicht verboten, dafür waren seine Eltern viel zu fortschrittlich. Sie hatten ihm statt dessen zugeredet, jeder Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Sein Vater war Mitglied einer sozialistischen Organisation und schrieb seinen Mißerfolg im Beruf der Vetternwirtschaft und -120-
politischen Unterdrückung zu. Seine Mutter förderte die Überzeugung, daß nur diese Gründe und nicht ein Mangel an Fähigkeiten dafür verantwortlich waren, daß der Vater nicht Karriere gemacht hatte. Da die meisten jener Leute, die sich vermeintlich gegen ihn stellten, Sportarten wie Jagen, Fischen und Schießen betrieben, waren die Eltern des ›Spanners‹ streng dagegen und verabscheuten jede Form der Gewalt. Der ›Spanner‹ hatte diesen Abscheu geerbt. In ihrem Bestreben, ihn vor allem Bösen zu schützen, hatten sie ihm Comics und andere Literatur mit Ersatzerlebnissen vorenthalten und ihm nur Filme gestattet, die das soziale Bewußtsein förderten oder eine echte ›Botschaft‹ übermittelten. Der ›Spanner‹ war zwar davon überzeugt, in verschiedenen Sportarten etwas erreichen zu können, aber seine Erziehung hatte ihn mit Angst, zu versagen, erfüllt und jedem Wettstreit ferngehalten. Das führte zu einer sehr einsamen Kindheit, denn Spielkameraden, die von seinen Eltern akzeptiert wurden, fand er langweilig. So war er dazu übergegangen, allein durch die Gegend zu streifen. Trotz aller Bemühungen seiner Eltern, ihn zu behüten, war er damals in verschiedene Raufereien verwickelt worden. Er war jähzornig, empfindlich und humorlos und unterlag meistens. Natürlich stritten seine Eltern empört ab, daß er aggressive Neigungen haben könnte. Wie war das auch bei einem Kind möglich, bei dem es keinen Trotz und keine geistige Auflehnung gegeben hatte - wie konnte jemand einen Streit anfangen, der nicht durch Schmutz und Schund nachteilig beeinflußt worden war? Nur er selbst wußte, daß er immer als erster zuschlug, wenn er von seinen Klassenkameraden geneckt wurde. Seinen ersten Westernfilm hatte der ›Spanner‹ mit achtzehn Jahren gesehen. Natürlich wußte er schon vorher, daß es sie gab. Andere Kinder hatten oft begeistert davon erzählt. So war in ihm der Wunsch entstanden, herauszufinden, was seine Alterskameraden so toll daran fanden. Andererseits wollte er nur -121-
seine Neugier befriedigen, nicht aber seine Eltern enttäuschen. Kurz nach seiner Ankunft in New York, wo er studieren sollte, hatte sich die Gelegenheit fast von selbst ergeben. Die Universitäten in Texas waren von den Eltern als ungeeignet abgelehnt worden. Der ›Spanner‹ blieb in einem New Yorker Kino nach einem Kriegsfilm einfach sitzen und sah danach den großartigen Western ›Hondo‹. Jetzt wußte er, warum so viele Leute diese Filmgattung liebten. Die aufregenden Dinge, die da auf der Leinwand geschahen, ließen ihn seine eigenen Sorgen und Kümmernisse vergessen. Bei den Filmen, die er sich bisher angesehen hatte, waren sie immer nur verstärkt worden. Von diesem Abend an ließ der ›Spanner‹ kaum einen Westernfilm aus. Er begann auch damit, Kriminalromane und Abenteuergeschichten zu lesen, besonders solche, die im Wilden Westen spielten. Er wollte mehr über diese Zeit wissen und besorgte sich Nachschlagewerke. Gelangweilt durch die endlosen Diskussionen seiner bisherigen Gesinnungsfreunde, schloß er sich einem kleinen Westernklub an. Dort versuchte er sich zum erstenmal in dem Spiel des Schnellziehens. Zu seiner eigenen Verwunderung entdeckte er bei sich eine große Begabung. Bei den Treffen im Klub trug er ebenso wie die anderen Mitglieder Cowboykleidung. Einer von ihnen verkaufte ihm den mit Perlmutt eingelegten Colt Cavalry Peacemaker und das Berns-Martin- Halfter vom Typ ›Speed‹. Sein schlechtes Gewissen beruhigte er damit, daß ein Geschicklichkeitsspiel mit Platzpatronen mit brutaler Gewaltanwendung nichts zu tun habe. Aber bei den Platzpatronen blieb es nicht. Er ging zu Wachskugeln über und benutzte in den Ferien, als er die Gegend von Gusher City durchstreifte, auch scharfe Munition. Wieder erlebte er eine freudige Überraschung: Er traf meistens auch dann, wenn er nur instinktiv zielte. Der Colt Peacemaker besaß die beste Zielvorrichtung aller bisher produzierten Handfeuerwaffen und verbesserte noch seine Erfolge. Natürlich -122-
wußten seine Eltern nichts davon. In seinen Briefen erwähnte er nichts von dem Westernklub, und während der Ferien blieben Kleidung, Waffengürtel, Colt und Munition im Koffer eingeschlossen. Vor sechs Monaten waren seine Eltern am Ende der langweiligen Ferien zu einem Kongreß gefahren und hatten ihn allein gelassen. Da beschloß er, dem Schießklub einen Besuch abzustatten. Er zog die Sachen an, die er in New York zu tragen pflegte, und erregte die Aufmerksamkeit aller, als er im Schnellziehen den derzeitigen Klubmeister schlug. Es war ein angenehmes Gefühl, die Bewunderung zu spüren, aber er achtete aus Gründen der Vorsicht darauf, daß seine Identität nicht bekannt wurde. Die Klubmitglieder interessierten sich natürlich mehr für seine Ausrüstung als für seine Adresse. Nach dem Staatsexamen war der ›Spanner‹ nach Gusher City zurückgekehrt und hatte im Stadtbezirk Jepson einen Posten als Lehrer bekommen. Natürlich erging es ihm wie vielen anderen jungen Intellektuellen: An der rauhen Wirklichkeit zerschellten die meisten seiner Illusionen. Er stellte fest, daß seine Schüler ihn kaum respektierten. Er versuchte nicht, ihr Vertrauen zu gewinnen, sondern wurde von Tag zu Tag verbitterter. Immer häufiger dachte er an die einzigen Leute, die er je beeindrucken konnte. Sein Pech war, daß seine Eltern sich in der Öffentlichkeit immer strikt gegen Waffen und Gewalt ausgesprochen hatten. In den Klub hätte man ihn deshalb wahrscheinlich kaum aufgenommen, wenn er seinen richtigen Namen genannt hätte. Um einen Ausweg zu finden, erklärte er seinen Eltern, er wolle ein Buch über die Gefahren der Gewalt in Literatur und Kino schreiben. Dazu müsse er solche Filme sehen und einschlägige Bücher lesen. Diese Täuschung hielt er einen Monat lang durch und fand sich immer mehr zu den Bösewichtern hingezogen. Dann kam ihm eine Idee: Er wollte ein Verbrechen begehen, um aus eigener Erfahrung zu lernen, -123-
wie einem Gesetzlosen dabei zumute ist. Nachdem dieser Entschluß gefaßt war, überlegte er gründlich, wie man ein solches Experiment mit dem geringsten Risiko durchführen konnte. Er mußte sic h eingestehen, daß Gusher City eine tüchtige Polizei besaß. Also mußte er Vorkehrungen treffen. Er kannte viele Stellen, an denen er den Kombiwagen mit dem versteckten Motorrad auf der Ladefläche abstellen konnte. Beide Fahrzeuge waren angeblich für naturkundliche Unternehmungen gekauft worden, dienten ihm aber in Wirklichkeit dazu, außerhalb der Stadt Gegenden zu erreichen, in denen er schießen konnte. Noch andere Dinge galt es zu überlegen: Die örtlichen Polizeibeamten würden keine Mühe scheuen, einen Mann dingfest zu machen, der bei seinen Verbrechen die Opfer mit einer Schußwaffe bedrohte. War ein solcher Mann in der Unterwelt nicht zu finden, würde man automatisch auf den Schießklub stoßen. Wenn der ›Spanner‹ die Kleidung eines Klubmitglieds - Kocheks zum Beispiel - nachahmte, würden die Kriminalisten bald glauben, daß dieser die Raubüberfälle ausgeführt haben mußte. Eine echte Gefahr bestand für Kochek nicht, weil er sicher ein Alibi vorweisen konnte. In dieser Absicht war der ›Spanner‹ nach El Paso gefahren, um alles zu kaufen, was er für die Verkleidung brauchte. Stirnrunzelnd dachte der ›Spanner‹ jetzt an seinen ersten Überfall. Ihm war zwar ein Fehler unterlaufen, aber seine Reaktionsfähigkeit hatte ihn gerettet. Niemals würde er die nackte Angst im Gesicht der Blondine vergessen, als er ihren Begleiter niedergeschlagen hatte und sie dann bedrohte. So hatte ihn vorher und nachher kein Mensch mehr angesehen. Die anderen Opfer waren zwar überrascht und wütend gewesen, aber nicht sonderlich verängstigt. Das war bei den Interviews im Fernsehen nur zu deutlich geworden. Die Blondine und ihr Freund waren aber nicht aufgetreten. Diesen ersten Raubüberfall schien man vergessen zu haben, die anderen wurden mehr als -124-
Witz abgetan. Seine zweite Methode, nämlich mit dem Hut das Geld einzusammeln, war zwar sicherer gewesen, aber längst nicht so aufregend wie der erste Überfall. Daher war er wieder zu der riskanteren Version zurückgekehrt und ließ die Opfer aussteigen. Trotzdem fehlte noch etwas. Er war bisher den Gesetzeshütern entgangen, weil er an jedem Abend ein anderes Operationsgebiet gewählt hatte. Man schien sich auch keine besondere Mühe zu geben, ihn zu erwischen. Offenbar hielten ihn auch die Polizeibeamten - genauso wie Presse, Fernsehen und Opfer - für einen harmlosen Spinner, den man nicht allzu ernst zu nehmen brauchte. Eins schwor er sich, als er auf den Wagen zuging: Seine künftigen Opfer sollten ihn in den Interviews nicht mehr auslachen. Der ›Spanner‹ griff nach der Wagentür und warf einen wütenden Blick auf das Liebespärchen im Innern. Er war jetzt drei Abende unterwegs; eigentlich dürften es die Bewohner des County längst nicht mehr wagen, abgelegene Waldwege zu benutzen. Er riß die Tür auf. »'rauskommen! Pfoten hochheben!« befahl er. Die beiden lösten sich aus ihrer Umarmung und drehten sich nach dem Störenfried um. Im ersten Augenblick wirkten sie erschrocken, aber dann trat ein Ausdruck der Erleichterung auf das Gesicht des Mädchens. Ivy Monoghan war nur deshalb erleichtert gewesen, weil sie gemerkt hatte, daß ihr nicht ihr Ehemann nachspionierte - dieses Mädchen aber fürchtete sich nicht vor dem ›Spanner‹. Der Mann am Steuer schien die Muskeln zu spannen. »Hau ab, du Vollidiot«, schrie er die maskierte Gestalt an. Da kam dem ›Spanner‹ ein wütendes Zischen über die Lippen. Der junge Mann wollte aussteigen, aber das Mädchen hielt ihn am Arm fest. -125-
»Barry, sei vorsichtig«, sagte sie heiser. »Sie hat wenigstens für einen Penny Vernunft«, knurrte der ›Spanner‹ mit wutbebender Stimme. »Aber jetzt pronto, sonst mache ich dir Fenster in den Schädel.« - »Los, tu ihm den Gefallen, Barry«, flüsterte das Mädchen. Danach stieg sie aus, die Augen auf den ›Spanner‹ gerichtet und nicht auf den langläufigen Revolver in seiner Hand. In ihrem Blick lag fast ein herablassender Spott, der die Wut des ›Spanners‹ nur noch steigerte. Er konnte sich vorstellen, wie sie ihren Freundinnen von dem Zwischenfall erzählen würde, und diese Freude wollte er ihr gründlich versalzen. Während er wartete, bis der junge Mann ausgestiegen war, betrachtete er das Mädchen. Elegante Frisur, sehr hübsch, tolle Figur, Minikleid, alles in allem eine Haltung, ein Stil, den er haßte. Solche Mädchen hatten den ›Spanner‹ immer besonders gereizt. Meist arbeiteten sie als Sekretärinnen oder Empfangsdamen in Großbetrieben und behandelten ihn voller Verachtung. Selbst mit dem Colt Cavalry Peacemaker in der Faust rief er bei ihnen nur Spott hervor. Der Mann stieg aus, groß, gut gekleidet, männlich und muskulös. Der typische junge Geschäftsmann auf dem Weg nach oben. Der ›Spanner‹ haßte auch diese Erscheinung. Beide reizten ihn, den Teil des Plans auszuführen, den er sich als zusätzlichen Nervenkitzel ausgedacht hatte. Der ›Spanner‹ schien so sehr durch das Mädchen abgelenkt zu werden, daß Barry nicht mehr zö gerte. Er sprang den Maskierten an. Genau darauf hatte der ›Spanner‹ aber gewartet. Er holte mit dem Colt aus und schlug Barry den Lauf an die Schläfe. Barry wurde gegen den Wagen zurückgeschleudert. Der ›Spanner‹ half mit einem brutalen Tritt nach. Barry schrie heiser auf und knickte zusammen. Noch einmal traf der Lauf des Revolvers mit einem gezielten Schlag den Kopf des jungen Mannes, dann blieb Barry regungslos liegen. -126-
Das alles war so rasch gegangen, daß das Mädchen nur entsetzt die Augen aufreißen konnte. Da stand der ›Spanner‹ schon vor ihr. Er machte es genauso wie bei Ivy Monoghan: Er stieß ihr den langen Lauf des Colts in die Magengrube. Sie ließ ein halbersticktes Gurgeln hören, dann lehnte sie keuchend an der Karosserie und starrte den ›Spanner‹ an. Er ging hinüber zum Wagen und schaltete die Innenbeleuchtung ein. »Warum - warum sehen Sie mich so an?« keuchte das Mädchen und strich sich eine braune Haarsträhne aus der Stirn. »Ausziehen«, befahl der ›Spanner‹. »Was?« »Alles ausziehen, aber pronto.« »Ich... nein, nein!« »Wie du willst«, sagte der ›Spanner‹ lässig und zielte mit dem Peacemaker auf den Kopf des Bewußtlosen. »Erst er, dann du.« Mit einem unterdrückten Aufschrei wollte sich das Mädchen von dem Wagen entfernen. Aber der Revolverlauf fuhr herum und berührte mit der Mündung ihre Nase. Die Reaktion des Mädchens war deutlich genug: Das Schicksal ihres Begleiters mochte ihr gleichgültig sein, aber um ihre hübsche Larve hatte sie Angst. Ihre Hände flogen nach oben, sie überzeugte sich sofort davon, daß kein größerer Schaden entstanden war. Der ›Spanner‹ drückte ihr den Lauf wieder in den Magen. »Ich zähle jetzt bis drei«, sagte er. »Hast du bis dahin nicht angefangen, dich auszuziehen, siehst du nicht mehr so hübsch aus. Eins...« Ein Ausdruck des Entsetzens verzerrte das hübsche Gesicht des Mädchens, wie der ›Spanner‹ es nicht einmal bei seinem ersten Opfer gesehen hatte. Keuchend griff sie nach hinten, zog den Reißverschluß hinunter und streifte das Kleid ab. Im Licht der Innenbeleuchtung stand sie da, nur mit Strumpfhose, Slip und BH bekleidet. Der ›Spanner‹ ließ den Blick über ihre üppige -127-
Figur gleiten und machte eine herrische Bewegung mit dem Revolverlauf. Leise schluchzend entfernte sie den BH. Der ›Spanner‹ fuhr sich genießerisch mit der Zunge über die Lippen und betrachtete die zwei vollen Brüste. »Los, weiter«, befahl er. Als sie zögerte und ihren Busen mit den Händen bedeckte, versetzte er Barry einen Tritt. »Wenn du widerspenstig bist, geht's dem Kleinen schlecht.« Das Mädchen sah die glühenden Augen über der Gesichtsmaske und fröstelte. Sie hätte am liebsten geschrien, konnte sich aber vorstellen, was dann geschehen würde. Wer sollte sie schon hören? Beim ersten Geräusch würde ihr der Maskierte bestimmt brutal das Gesicht zerschlagen. Sie streifte die Schuhe ab und sah ihn flehend an, aber er ließ nicht locker. Zögernd streifte sie die Strumpfhose und den Slip ab und hielt beides vor sich, bis der ›Spanner‹ ihr grob befahl, beides fallen zu lassen. Sie gehorchte, lehnte sich an den Wagen und versuchte vergeblich, mit beiden Händen ihre Blöße zu verdecken. »Die Hände auf die Hüften«, befahl der ›Spanner‹. Irgendwo hatte er einmal gelesen, daß ein Mensch sich nie so schutzlos und verwundbar fühlt, wie wenn er nackt ist. Genau das schien die Miene des Mädchens auszudrücken. Wenn er sie in ihrem Büro besucht hätte, wäre sie bestimmt kühl, distanziert und oberflächlich höflich gewesen. Aber nun hatten Tränen der Angst und des Schmerzes das Make-up verwischt. Er streckte die Hand nach ihrer Brust aus und sah, wie das Mädchen krampfhaft zurückzuckte. Brutal packte er zu, bis sie vor Schmerzen wimmerte. Als sie dann die Lippen zu einem Schrei öffnete, versetzte er ihr eine schallende Ohrfeige. Sie stolperte und sank auf Hände und Knie. Als er ihr ins Haar griff und das Gesicht hochzerrte, lallte sie ein paar zusammenhanglose Worte. Er hob schlagbereit den Colt. Aber der Hieb kam nicht. Der ›Spanner‹ schüttelte ihren Kopf -128-
und ließ sie dann los. Er deutete auf das rechte Vorderrad und befahl dem Mädchen, die Luft herauszulassen. Immer noch leise wimmernd, kroch sie nach vorn und gehorchte. Der ›Spanner‹ leerte inzwischen die Brieftasche ihres Begleiters. Dann nahm er ihre Handtasche aus dem Wagen und eignete sich das wenige Geld an, das sie mithatte. »Jetzt die anderen«, befahl er, als das erste Rad platt war. Das Mädchen kämpfte gegen die aufsteigende Hysterie an und ging von einem Rad zum anderen. Sie spürte die ganze Zeit die brennenden Blicke des Maskierten und wußte selbst nicht, wie sie es fertigbrachte, sich so lange zu beherrschen. Andererseits wäre ein hysterischer Ausbruch oder Widerstand das Ende gewesen. Als alle vier Reifen platt waren, durfte sie sich wieder aufrichten. »Nein, nein«, stöhnte sie. Der ›Spanner‹ ging auf sie zu, da huschte oben ein Lichtschein durch die Bäume. Ein Wagen war auf der Straße nach Hoseville vorbeigerast. Wenn sie der Fahrer zufällig bemerkt hatte, kam er sicher nachsehen. Das bedeutete, daß der ›Spanner‹ seinen Triumph nicht bis zum Ende auskosten konnte. Schade, denn es war seine erste Chance mit einem Mädchen dieser Art. Aber mit heruntergezogener Hose kann man nicht schnell genug laufen. Er lächelte selbst über diesen Witz und beschloß, ihr noch einen letzten Schock zu versetzen. Die Brünette drängte von ihm weg und wußte genau, daß sie ihren Schrei nicht mehr unterdrücken konnte, wenn er sie berührte. Aber dann wurde ihr schwarz vor den Augen, und sie brach ohnmächtig zu seinen Füßen zusammen. Eine Weile stand er da und sah auf sie hinab. Dann steckte er lächelnd den Colt ein. Er bückte sich und drehte das Mädchen auf den Rücken. Er spreizte ihr Arme und Beine und trat zurück. »Mal sehen, ob du auch noch lachst, wenn du das erzählst«, -129-
knurrte der ›Spanner‹, griff nach ihren Kleidungsstücken und schlenderte langsam davon. Als sie wieder zu sich kam, war sie viel zu verängstigt und hysterisch, um etwas Vernünftiges tun zu können. Sie setzte sich auf, überdachte ihre Lage und gelangte genau zu dem Schluß, den der ›Spanner‹ beabsichtigt hatte. Außerdem war sie so erregt, daß sie nicht logisch denken konnte. Sie kroch in den Wagen und kauerte sich schluchzend auf den Beifahrersitz, ohne sich um ihren bewußtlosen Begleiter zu kümmern. Jeden Augenblick fürchtete sie, daß der Maskierte zurückkehren könnte. Sie wußte ja nicht, was er während ihrer Ohnmacht getan hatte. Und wenn er wiederkam, würde er bestimmt dafür sorgen, daß sie nicht gegen ihn aussagen konnte. Fast zwei Stunden vergingen, bis sie ihre Gedanken einigermaßen gesammelt hatte. Sie wußte, daß es aussichtslos war, ihren Begleiter in den Wagen zu zerren und wegzufahren. Verzweifelt schaltete sie alle Lichter ein und hoffte, damit jemanden aufmerksam zu machen. Der ›Spanner‹ kehrte zu seinem Motorrad zurück und wollte die Kleider schon wegwerfen, da kam ihm ein besserer Gedanke: Er wollte eine Trophäe behalten. Ein Souvenir an den aufregendsten Augenblick seines bisherigen Lebens. Er betrachtete die Kleidungsstücke. Als Trophäe kam natürlich nur die Strumpfhose in Betracht. Er schob sie als erstes Stück seiner Sammlung in die Satteltasche. In bester Laune bestieg er das Motorrad und machte sich auf die Suche nach weiteren Opfern. Das eben war wirklich toll und aufregend gewesen. Viel befriedigender als der erste Raubüberfall. Wenn die Brünette erst einmal ihre Aussage machte, würde ihn niemand mehr verlachen. Besonders dann nicht, wenn noch andere Paare dazu kamen. Erst glaubte der ›Spanner‹ schon an eine Enttäuschung. Auf -130-
dem nächsten Waldweg entdeckte er keine geparkten Autos. Wütend fuhr er weiter und näherte sich dem nächsten vielfach gewundenen Waldweg. Er hoffte, hier auf der Abzweigung nach Stenton mehr zu erreichen, lehnte das Motorrad an einen Felsen und ging zu Fuß weiter. Aus Erfahrung wußte er, daß Liebespärchen gern an einer Stelle parkten, wo eine Biegung und Buschwerk sie gegen andere Benutzer des Seitenwegs abschirmten. Deshalb huschte er von Baum zu Baum und spähte hoffnungsvoll um jede Kurve. Endlich sah er gleich neben dem Weg eine Plymouth-Limousine stehen. Er lauschte und überlegte, wie weit es bis zu seinem Motorrad sein mochte. Da keine weiteren Autos in der Nähe waren, verzichtete er darauf, das Fahrzeug zu holen. Lautlos schlich der ›Spanner‹ an den Wagen heran und riß die Tür auf. Ein großer, kräftig gebauter junger Soldat ließ das niedliche rothaarige Mädchen los, das er geküßt hatte. Sein Blick war auf den Revolver und den gespannten Hahn gerichtet. Dann erst betrachtete er die maskierte Gestalt. Das Mädchen an seiner Seite begann zu kichern. »'raus, pronto«, befahl der Maskierte und schwor sich, daß ihr das Kichern schon vergehen sollte. »Das ist der ›Spanner‹, Dean«, flüsterte das Mädchen. »Der Kerl aus dem Fernsehen.« »Hast du nicht gehört?« fauchte der ›Spanner‹. »raus und Hände hoch.« »Schon gut«, antwortete der Soldat gelassen. »Immer mit der Ruhe. In Vietnam hat's mich nicht erwischt, und ich werde mich auch hier nicht zusammenknallen lassen.« Der Soldat stieg als erster aus, versuchte aber nicht, eine offenkundige Unaufmerksamkeit des ›Spanners‹ auszunutzen. Unbeweglich und mit hocherhobenen Händen stand er da, während der Blick des Maskierten auf den Mädchenbeinen ruhte. -131-
»Wenn's um Geld geht, Freund, hast du Pech gehabt«, erklärte der Soldat ruhig. »Mein Papa hat immer gesagt, ich soll nicht mehr mitnehmen als ich brauche, und wir hatten heute abend nichts vor.« Die furchtlose Gelassenheit dieses Paares bohrte in dem ›Spanner‹ wie ein Messer. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als diesen scheinbar so überlegenen Mann zu demütigen und sich dann an dem Mädchen zu rächen. Er wußte auch schon, wie er den Soldaten provozieren konnte. »Geld oder Spaß, Freundchen«, fauchte der ›Spanner‹ und deutete mit dem Revolverlauf auf das Mädchen. »Los, ausziehen.« »Ich werde dich...!« stieß der Soldat hervor und reagierte genau wie erwartet. Zufrieden holte der Maskierte aus, aber dann ging etwas schief. Der Soldat lief nicht blindlings in den Schlag hinein, sondern duckte sich blitzschnell. Dann schoß seine linke Faust vor und traf die Brust des Maskierten mit solcher Wucht, daß dieser ein paar Schritte zurückstolperte. Die Angst griff nach dem ›Spanner‹. Während er versuchte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, erinnerte er sich an böse Erlebnisse aus der Kindheit. Wenn er jähzornig über andere hergefallen war, hatte er fast immer den kürzeren gezogen. Genauso ging es ihm auch in diesem Augenblick. Nur war die Lage ernster. Er hatte Glück und blieb auf den Beinen. Er sah, wie der Soldat mit geballten Fäusten und drohender Miene auf ihn zukam. Verzweifelt riß er den Colt herum. Die Mündung war höchstens fünf Zentimeter von der Brust des Soldaten entfernt, als der ›Spanner‹ abdrückte. Eine Flamme beleuchtete den Khakistoff der Uniform, und der Soldat wurde herumgeschleudert. Mit verzerrtem Gesicht stürzte er zu Boden. »Dean!« -132-
Der ›Spanner‹ hörte den Schrei des Mädchens, der vor Angst und Wut fast animalisch klang. Mit Zähnen und Krallen ging sie auf den ›Spanner‹ los und sah gefährlicher aus als eine wütende Löwin, die ihren Wurf beschützt. Mechanisch spannte er wieder den Colt und hielt ihn auf sie gerichtet. Sie rannte gegen den Lauf, ließ sich aber nicht beirren. Mit haßblitzenden Augen stemmte sie sich gegen das Metall und streckte die Hände nach seinem Gesicht aus. Da drückte er wieder ab. Die Waffe krachte, aber es gab kein Mündungsfeuer, sondern es stank nur nach verbranntem Stoff und Fleisch. Das Mädchen flog zurück, ihr Kleid schwelte dort, wo es nicht von Blut durchtränkt war, dann fiel sie neben den Soldaten. Der ›Spanner‹ stieß einen leisen Pfiff aus und betrachtete die beiden leblosen Gestalten neben dem Wagen. Dann schob er den Colt ins Halfter und trat näher. Hatte jemand die Schüsse gehört? Er wartete eine Weile, aber nichts regte sich. Dann kniete er nieder und zog dem Soldaten das Portemonnaie aus der Hüfttasche. Er leerte es, warf es beiseite und wandte sich dem Mädchen zu. Während er ihr seine Trophäe abnahm, dachte er: Ab morgen früh ist der maskierte ›Spanner‹ für die Einwohner des County Rockabye kein schlechter Witz mehr.
14 »Ich bin Deputy Sheriff Fayde«, stellte Alice sich vor und zeigte den beiden Männern ihren Ausweis. Dann deutete sie auf die Beamten, die den Oldsmobile verließen. »Das sind meine Kollegen Counter, Vaughn und Hellman.« »Stan McGeary und Ollie Alexander«, antwortete der größere der beiden Männer. »Sie waren aber schnell da.« »Wir waren ohnehin schon unterwegs«, erklärte Alice und sah sich um. -133-
McGeary und Alexander waren Waschbärjäger, groß, hager und verwittert. In McGearys Armbeuge lag eine Schrotflinte, Alexander trug an der rechten Hüfte einen 22er Colt Woodsman im Halfter. Ein Stück von dem Plymouth entfernt stand in der Richtung, aus der die Deputy Sheriffs gekommen waren, ein alter, klappriger Jeep, an dessen vorderer Stoßstange zwei schwarzbraune Hunde angebunden waren. Alices Blick kehrte zu dem Plymouth zurück. »Das Mädchen hat noch gelebt, als wir herkamen«, berichtete McGeary mit mühsam beherrschter Stimme. »Ein bißchen Leben war noch in ihr.« »Sie haben sie doch nicht bewegt?« fragte Alice, während Brad und seine Kollegen die Geräte ausluden. »Hören Sie mal«, antwortete Alexander heiser, »im Krieg war ich als Sanitäter in der Normandie, dabei habe ich eines gelernt: Wenn jemand so schwer getroffen ist, dann legt man ihn nicht bequemer. Ich bin bei ihr geblieben, während Stan wie der Teufel nach Stenton fuhr und das Sheriff's Office benachrichtigte. Eine Minute, nachdem er weg war, starb sie. Verdammt, ich konnte wirklich nichts für sie tun.« »Hat sie noch etwas gesagt?« fragte Alice. Die hilflose Wut, die aus der Stimme des Mannes klang, hörte sie nicht zum erstenmal. »Sie hat von einem ›Dean‹ gesprochen. Vermutlich war das der Soldat. Als ich sie fragte, wer es war, sagte sie, der ›Spanner‹.« Alexanders Hand glitt über den Kolben des Colts. »Er war längst weg, als wir kamen, sonst wäre er bestimmt noch hier - aber für immer.« »Sie haben nichts gehört?« fragte Alice. »Keine Schritte, kein Motorrad?« »Nichts«, knurrte Alexander. »Das arme Kind...« »Ja«, murmelte Alice und warf einen Blick über die Schulter. »Fangen Sie schon mit den Tatortfotos an, Sam. Brad, bring mir -134-
die Taschenlampe, dann sehen wir uns mal um. Ben, würden Sie bitte Namen und Adressen der beiden Herren notieren?« »Klar Alice«, antwortete Vaughn, weil er mit der Suche nach Fingerabdrücken doch erst beginnen konnte, wenn der Fotograf fertig war. Sam Hellman sah aus, als gehörte er auch zu den Jägern. Dabei arbeitete er als Polizeifotograf in der technischen Abteilung der Stadtpolizei von Gusher City. Ihm fiel die undankbare, aber außerordentlich wichtige Aufgabe zu, den Schauplatz des Verbrechens auf Film zu bannen. Er hatte mit Alice schon früher zusammengearbeitet, schätzte ihre Fähigkeiten sehr hoch ein und bezweifelte nicht im mindesten ihr Recht, Befehle zu erteilen. Er befestigte eine Blitzlichtbirne an seiner Land-Polaroidkamera und betrachtete den Wagen. »Wollen Sie erst nachsehen, bevor ich anfange, Alice?« fragte der Fotograf. »Ist wohl besser«, antwortete sie, obwohl sie lieber mit nein geantwortet hätte. Aber wer die Dienstmarke des Sheriffs annimmt und dem Team der Mordkommission zugeteilt wird, muß sich auch Leichen ansehen. »Das Mädchen wird doch wohl die Toten nicht anschauen müssen, wie?« fragte McGeary und beobachtete Brad, der inzwischen die Schnur des Handscheinwerfers in den Stecker am Armaturenbrett des Oldsmobile stöpselte und neben Alice trat. Vaughn antwortete: »Dieses Mädchen, wie Sie sagen, ist eine kluge, gewitzte Kriminalbeamtin und tut nur, was sein muß.« »Das ist trotzdem irgendwie nicht richtig«, knurrte Alexander. »Ein Mord ist niemals richtig«, erwiderte Vaughn und klappte sein Notizbuch auf. »Keiner von uns mag so etwas. Aber wenn es passiert, tun wir, was getan werden muß.« Alice und Brad suchten den Boden im Schein der starken -135-
Lampe ab. Auch hier hatte das zähe Gras keine Fußabdrücke angenommen. Widerstrebend richtete Brad den Lichtschein auf die Leichen. Der Soldat lag auf dem Gesicht, und auf seinem Rücken klaffte eine große, häßliche Austrittswunde. »Anscheinend hat er dem Soldaten die Brieftasche geleert«, sagte Brad. »So schlecht kann's doch keinem Menschen gehen!« »Er hat inzwischen eine ganze Menge kassiert«, antwortete Alice. »Leuchte mal das Mädchen an.« Alice trat näher, kniete neben den bloßen Beinen des Mädchens nieder, hob den Rocksaum hoch und ließ ihn wieder sinken. Dann sah sie die beiden Jäger an. »Haben Sie ihr die Schuhe ausgezogen, Mr. Alexander?« »Nein«, antwortete der Mann. »Das muß schon vorher geschehen sein.« »Möglich«, sagte Brad, betrachtete die kleinere Einschußöffnung an der Brust des Mädchens und schwenkte den Lichtstrahl dann zur Seite. »Sie trägt keine Hose«, sagte Alice. »Und das letzte Opfer war nackt ausgezogen«, fügte Brad hinzu. »Mein Gott, Alice, so verrückt kann er doch auch nicht sein!« »Ich bin jederzeit bereit«, rief Hellman. »Fangen Sie ruhig an, Sam«, erwiderte Alice. »Wir werden den Doktor fragen, Brad.« Hellman arbeitete langsam und methodisch. Bevor er eine neue Aufnahme machte, prüfte er genau die letzte. Alice nahm die Handtasche des Mädchens aus dem Wagen und öffnete sie. Sie fand darin einen Brief und notierte sich die Adresse des Opfers. Brad kontrollierte inzwischen die Schußwaffen der beiden Jäger. Seine Entschuldigung wehrten sie mit einer Handbewegung ab und erklärten, sie würden noch weitaus mehr tun, als nur ihre Waffen kontrollieren zu lassen, wenn dadurch -136-
bloß der Kerl ge faßt würde, der die beiden jungen Leute umgebracht hatte. Brad glaubte nicht, daß diese Männer das Paar ermordet hatten, aber bei den Ermittlungen durfte nichts übersehen werden. Noch bevor die Ambulanz mit dem Polizeiarzt eintraf, hatte sich Alice mit der Zentrale in Verbindung gesetzt und erfahren, das letzte weibliche Opfer des ›Spanners‹ sei nicht vergewaltigt worden. Bei ihrem Begleiter stehe noch nicht fest, ob er die Verletzungen überleben werde. »Habe ich auf irgendwelche sichtbaren Beweise zu achten, Miss Fayde?« fragte der Polizeiarzt, nachdem er ausgestiegen war. »Wir haben nichts gesehen«, antwortete Alice und bat ihn zu überprüfen, ob das Mädchen mißbraucht worden sei. »Halten Sie das für möglich?« Der Doktor verzog das Gesicht. »Möglich ist alles«, murmelte Alice. »Er hat ihr die Schuhe ausgezogen, und bei diesem Minikleid hat sie Strumpfhosen oder mindestens einen Slip getragen.« »Mal sehen, ob ich Spuren finde«, versprach der Arzt. »Ganz sicher werden wir es aber erst nach der Autopsie sagen können.« »Ich verstehe«, sagte Alice. »Sie lebte noch, als sie von den beiden Jägern gefunden wurde.« »Hat sie etwas gesagt?« »Daß es der ›Spanner‹ war. Vielleicht erklären Sie den beiden, daß sie dem Mädchen wirklich nicht mehr helfen konnten.« »Mache ich.« Der Arzt nickte und begann mit einer ersten, oberflächlichen Untersuchung. Dann kam er zu Brad und Alice zurück und erklärte: »Bei dem Soldaten ist der Tod praktisch sofort eingetreten, und zwar vor etwas mehr als einer Stunde.« »Aha«, sagte Brad. »So lange hat er wahrscheinlich auch -137-
gebraucht, um nach dem ersten Überfall die nächste Abzweigung zu kontrollieren und hierher zu kommen. Und das Mädchen?« »Sie ist vor ungefähr einer halben Stunde gestorben«, antwortete der Arzt. »Als sie gefunden wurde, hätte nur noch ein Wunder sie retten können. Die beiden Jäger waren außerstande, ihr zu helfen. Soweit ich sehen kann, wurde sie nicht vergewaltigt.« »Wenigstens ein Trost.« Alice seufzte. »Haben Sie noch irgend etwas Wichtiges festgestellt, Doktor?« »In beiden Fällen hat die Kugel glatt durchgeschlagen, und die Pulververbrennungen sind weit ausgedehnter, als ich es je gesehen habe.« »Darf ich mir das ansehen, bevor Sie die beiden mitnehmen, Doc?« »Selbstverständlich. Wenn der ›Spanner‹ hier und an der übernächsten Abzweigung zugeschlagen hat, könnte er in der dazwischenliegenden Seitenstraße noch ein anderes Pärchen gefunden haben.« »Daran haben wir auch schon gedacht«, erwiderte Alice. »Der Sheriff hat gleich ein Team losgeschickt. Die beiden haben sich noch nicht gemeldet, also werden sie noch nichts gefunden haben.« Während Alice mit dem Polizeiarzt sprach, näherte sich Brad der männlichen Leiche. Der Soldat lag jetzt auf dem Rücken, so daß man die häßliche Wunde an der Austrittsstelle nicht mehr sehen konnte. Brad wollte die Verletzung genauer betrachten. Ein Blick genügte. Er fand das bestätigt, was er geahnt hatte. »Schwarzpulver«, sagte Brad, als er zu Alice zurückkehrte. »Mit rauchfreiem Pulver wären solche Verbrennungen unmöglich. Aber es paßt zu ihm. Viele von diesen revolverschwingenden Idioten benutzen Schwarzpulver. Es ist billiger, erzeugt keine hohen Anfangsgeschwindigkeiten und -138-
wirkt spektakulär, wenn man abdrückt.« »Ich schicke Ihnen so bald wie möglich einen ausführlichen Bericht«, versprach der Arzt. »Ben soll die Fingerabdrücke abnehmen, bevor Sie die beiden abtransportieren lassen«, bat Alice. »Es spart Zeit, wenn er sie gleich mit den Abdrücken am Wagen und an der Brieftasche des Soldaten vergleichen kann.« Vaughn ging zwar sehr gründlich vor, aber er fand keinerlei Abdrücke, die nicht dem Mädchen oder dem Soldaten gehörten. Auch in der näheren Umgebung entdeckten Alice und Brad keinerlei Hinweise. Alice beschloß, in die Stadt zurückzukehren. Hellman wußte, daß Alice nun vor der unangenehmen Aufgabe stand, die Eltern der beiden Opfer zu verständigen. Er schlug vor, mit Vaughn den Plymouth zur Polizeizentrale zu fahren, während sie und Brad sich um die Eltern kümmerten. Alexander und McGeary hatten auch keine Lust mehr zum Jagen. Der Jeep folgte dem Polizeiwagen und dem Plymouth, nachdem die Ambulanz mit den beiden Leichen weggefahren war. Kurz vor zwei Uhr morgens kehrten Alice und Brad ins Sheriff's Office zurück. Der Bereitschaftsraum war dunkel und verlassen, aber aus der halboffenen Tür des Büros daneben fiel noch Licht. First Deputy McCall saß an seinem Schreibtisch. Der Stellvertreter des Sheriffs hatte zwar Jacke und Schlips abgelegt, den Hut aber aufbehalten. Er sah aus, als hätte er gerade erst seinen Dienst angetreten. Sowohl Brad als auc h McCall merkten, daß Alice nervös und angespannt war. Es ist nie einfach, den nächsten Verwandten eine Todesnachricht zu überbringen, noch dazu, wenn so tragische Umstände vorliegen. »Wie war's?« fragte McCall und hob den Blick von einem Bericht, den er gerade gelesen hatte. »Lausig. Wie denn sonst?« fauchte Alice. »Kein Beweis dafür, daß es der ›Spanner‹ war?« fuhr McCall -139-
fort. »Nein, nur die Methode«, antwortete Brad. »Aber auch kein Hinweis darauf, daß es die Jäger getan haben.« »Sie müssen trotzdem überprüft werden«, erklärte McCall. »Es war der ›Spanner‹«, sagte Alice wütend. »Während wir uns mit der verdammten Psychobeschattung beschäftigten, hat er mindestens zwei Menschen umgebracht.« McCall sprang auf und schlug mit beiden Händen hart auf die Tischplatte. Er beugte sich vor, sein Gesicht wirkte zerklüfteter als sonst, und er knurrte: »Ich weiß, daß Sie gut sind und ein paar harte Nüsse geknackt haben, aber Sie sind nicht die einzige. Ein paar von uns haben schon Lumpen aus dem Verkehr gezogen, da waren Sie noch gar nicht bei der Polizei.« Alice machte einen Buckel wie eine Katze, die von einem Hund angegriffen wird. »Wenn Sie mit meiner Arbeit nicht zufrieden sind...« McCall ging um seinen Schreibtisch herum und holte hinten zwischen den Aktenschränken einen halbversteckten Stuhl hervor. Alice brach mitten im Satz ab, als er ihr den Stuhl hinstellte und darauf deutete. Brad riß verwundert die Augen auf. Dann mußte er lächeln, als er merkte, worauf McCall hinauswollte. Brad mußte stehenbleiben, McCall setzte sich wieder und fuhr fort: »Wenn ich einmal mit Ihrer Arbeit nicht zufrieden bin, Mädchen, werde ich es Ihnen sofort sagen. Ich will nur, daß Sie diesen Fall in der richtigen Perspektive sehen. Sie bilden zusammen mit Brad ein gutes Team, deshalb haben wir Sie bei der psychologischen Beschattung eingesetzt und keine Kollegen von der Stadtpolizei angefordert. Im Fall ›Spanner‹ hätten Sie auch nicht mehr machen können, als bereits getan worden ist. Schade ist nur, daß es nicht schneller ging. Aber wohe r sollten wir wissen, wo der Kerl heute nacht zuschlagen würde?« »Sie haben recht.« Alice seufzte. »Trotz der Patrouillen rings -140-
um die Stadt gibt es für ihn genügend Lücken, durch die er schlüpfen und dann zuschlagen kann, wenn nicht die Mädchen...« »Vielleicht reicht die Zeit sogar dafür«, unterbrach McCall sie. »Die Presseabteilung hätte deutlicher werden müssen«, sagte Alice. »Das hätte ihm geschmeichelt und ihn dazu gereizt, seinen Ruf zu bestätigen«, sagte der First Deputy. »Es mußte auf jeden Fall eine Panik vermieden werden, damit nicht jeder auf den Gedanken kam, zum Schmusen eine Kanone mitzunehmen.« »Vielleicht hätten die Leute aufgehört, auf den Waldwegen zu parken.« »So klug sind die Leute nicht, Alice. Und wenn schon, dann hätte der ›Spanner‹ vielleicht mitten in der Stadt zugeschlagen. Dann lieber noch draußen in den Wäldern!« »Stimmt«, mußte Alice zugeben. »Haben Sie irgendwelche Hinweise?« »Nein. Brad und ich glauben, daß es sich um den Mann handeln könnte, der vor sechs Monaten den Schießklub besuchte und Kochek im Schnellziehen schlug. Hat die Fahndung irgend etwas über die Berns-Martin- Halfter erfahren?« »Nein, der Bericht von der Landeszentrale ist noch nicht da.« »Wir werden uns am Nachmittag ein paar von den Burschen mit diesen Halftern ansehen, Alice«, bemerkte Brad. »Vielleicht hat der Hersteller auch außerhalb des Klubs solche Dinger verkauft.« »Möglich, daß Sie das weiterbringt«, sagte McCall. »Aber was machen wir, wenn nicht? Brad, fragen Sie doch den Sheriff, ob er nicht auch kommen möchte. Dann wäre es schön, wenn sich jemand zum Kaffeekochen freiwillig meldete.« »Ein Wink mit dem Zaunpfahl«, sagte Alice lächelnd. »Aber -141-
Sie wollen mich sicherlich nur loswerden, damit Sie den Stuhl wieder verstecken können.« »Das hat keinen Zweck.« McCall seufzte. »Gleich kommt der Sheriff, und der verwöhnt die Deputys ohnehin.« Während Alice Kaffee kochte, holte Brad den Sheriff und erfuhr, wie es Joan Hilton und Sam Cuchilo ergangen war. Einer der zur Verstärkung ausgesandten Streifenwagen hatte auf der anderen Seite des Autofriedhofs einen abgestellten Ford entdeckt, der bis auf zwei große Koffer leer war. Diese Koffer enthielten die Beute des Raubüberfalls auf die Euro-Tex. »Die Zingel und Sandwich wollten das Kabrio vermutlich auf dem Autofriedhof zwischen den Wracks verschwinden lassen«, sagte McCall gerade, als Alice mit dem Tablett hereinkam. »Sie hatten gehofft, daß niemand das Loch im Zaun bemerken würde. Möglicherweise hätte das, Kabrio tagelang herumstehen oder sogar in die Presse geraten können, ohne bemerkt zu werden. Inzwischen hätten die beiden mit dem Ford längst die Grenze überschritten.« »Wer hat Joan so verprügelt?« fragte Alice. »Die kleine Zingel.« »Diese halbe Portion?« fragte Alice erstaunt. »Es waren zwei kräftige Beamtinnen nötig, um diese halbe Portion oben in die Einzelzelle zu sperren«, antwortete Jack Tragg. »Sie hat den Nachtwächter erstochen und nicht Sandwich. Ein ganz gemeines Luder.« »Wenn die Flucht über die Grenze gelungen wäre, hätte ich keinen Cent für das Leben von Sandwich gegeben«, bemerkte McCall. »Ich wette, sie hätte ihn irgendwo kaltblütig abserviert.« »Aber jetzt geht es um den ›Spanner‹«, sagte Jack, nachdem Alice den Kaffee ausgeschenkt und sich wieder gesetzt hatte. »Das wird nicht einfach, wenn er kein Profi ist.« Das stand für die Beamten ohne weitere Debatte fest. Ein -142-
echter Berufsverbrecher kann seine Taten nur in den seltensten Fällen ganz geheimhalten. Früher oder später sickert etwas durch, irgendein V-Mann raunt einem Polizisten etwas zu. Bei einem Amateur ohne Verbindung zu Verbrecherkreisen war das nicht zu erwarten. Natürlich interessierte sich die Unterwelt für ihn, aber auch dort wußte man ebensowenig wie bei der Polizei, wo der Kerl zu finden war. Die Sache wurde dadurch noch erschwert, daß der ›Spanner‹ nur Geld nahm. Damit schied die Möglichkeit aus, über Hehler oder Altwarenhändler auf seine Spur zu kommen. »Vielleicht schreckt ihn der Doppelmord ab«, sagte McCall. »Mindestens für einige Zeit.« »Das glaube ich nicht«, widersprach Alice. »Sehen Sie doch mal, was er schon riskiert hat. Bis heute abend hätte ich noch geglaubt, daß er ganz dringend Geld braucht, aber jetzt nicht mehr.« »Der Meinung bin ich auch«, pflichtete ihr Jack bei. »Als ich von den Morden hörte, fuhr ich sofort ins Krankenhaus und sprach mit dem Mädchen, das sich ausziehen mußte. Anscheinend hat der ›Spanner‹ erst ihren Freund niedergeschlagen und dann nichts weiter getan, als sie ein wenig zu betatschen. Dabei brannte die Innenbeleuchtung des Wagens, und alles passierte nur eine Viertelmeile von der Hauptstraße entfernt. Nein, ich glaube, er tut es aus Spaß, selbst wenn es ihm am Anfang um Geld ging.« »Soweit wir wissen, hat er das Mädchen, das er erschoß, nicht mißbraucht«, sagte Alice. »Er hat ihr nur die Strumpfhose abgenommen.« »Vielleicht trug sie gar keine«, meinte McCall. »Bei diesem kurzen Kleid mußte sie eine Strumpfhose oder zumindest einen Slip tragen«, behauptete Alice. »Ich konnte mit einiger Mühe von ihren Eltern erfahren, daß sie am Abend beim Weggehen eine Strump fhose anhatte.« -143-
»Sie haben eine schreckliche Nacht hinter sich, Alice«, sagte Jack mitfühlend. »Wenn Sie jetzt lieber nach Hause wollen, werden wir...« »Erst will ich wissen, was gegen den ›Spanner‹ unternommen wird«, unterbrach ihn das Mädchen. Brad wußte genau, daß Widerspruch sinnlos gewesen wäre. McCall fügte sich in das Unvermeidliche und erklärte: »Zuerst müssen wir die Frage beantworten: Wird er nach den Morden aufhören?« »Ich behaupte nein«, sagte Brad. »Ich glaube es auch nicht«, fügte Alice hinzu. »Wenn er es wegen des Nervenkitzels tut, kann für ihn nichts aufregender sein, als neue Opfer zu suchen, nachdem er schon zweimal gemordet hat und die gesamte Polizei hinter ihm her ist.« »Wenn das so ist«, fuhr McCall fort, »erhebt sich die Frage: Wo wird er nächstes Mal zuschlagen?« »Er arbeitet immer in waldigem Gelände, nicht weiter als eine Meile von der Hauptstraße entfernt«, erklärte Brad. »Damit scheidet das offene Gelände im Nordwesten aus. Das gilt auch für den Osten der Stadt, weil er um den See herumfahren müßte, um dorthin zu gelangen.« Alice studierte die Landkarte an der Wand. »Eigentlich bleiben ihm nur die drei Gebiete, in denen er bisher schon operiert hat.« »Das ist auch so noch ein großer Bereich«, sagte McCall. »Wenn wir nur wüßten, in welcher Gegend er nächstes Mal zuschlagen wird«, begann Alice. »Das spielt keine Rolle«, sagte Jack Tragg in einem Ton, der die Beamten erstaunt aufhorchen ließ. »Wie meinen Sie das?« fragte Alice unwillkürlich, obwohl sie die geradezu phantastisch anmutende Antwort auf ihre Frage schon zu kennen glaubte. -144-
»Wir werden nämlich alle drei Gebiete mit getarnten Wagen besetzen«, erklärte Jack. Das war genau das, was Alice vermutet hatte. »Unsere Patrouillen werden jeden Zivilisten verscheuchen, den sie in den gefährdeten Gegenden antreffen. Wenn der ›Spanner‹ das nächste Mal zuschlägt, wird er zwei bewaffneten Deputy Sheriffs gegenüberstehen.«
15 »Der Teufel soll sie holen, Brad«, sagte Alice Fayde, als sie von der Autostraße abgebogen waren und den unbeleuchteten Wagen vor sich sahen. »Trotz aller Warnungen kommen sie immer noch zu ihren Schäferstündchen hierher.« Es war 21.30 Uhr am Samstag abend. Die beiden Deputys nahmen an der größten Aktion teil, die im County Rockabye jemals gegen einen Einzeltäter gestartet worden war. Jack hatte an diesem Morgen seine Vorbereitungen getroffen, noch bevor Alice und Brad wieder zum Dienst erschienen waren. Der ›Spanner‹ war so gefährlich geworden, daß sich der Sheriff keine Halbheiten mehr erlauben konnte. Zusätzlich zu seine n eigenen Beamten hatte er von den Außenstellen ringsum jeden verfügbaren Mann angefordert. Polizeichef Phineas Hagen hatte ihm auf seine Bitte hin das gesamte Personal der Stadtpolizei unterstellt. Auch die Sheriffs der benachbarten Countys waren sofort bereit gewesen, Jack Tragg zu unterstützen. Auf diese Weise bekam Sheriff Tragg die Mittel in die Hand, um in allen drei vom ›Spanner‹ bevorzugten Operationsgebieten seine Fallen zu stellen. Alle männlichen und weiblichen Beamten der Tag- und Nachtschicht wurden eingesetzt. Beamte, die eigentlich frei hatten, erschienen zum Dienst und erhielten ihre Befehle. Leute, die normalerweise an der Schreibmaschine, -145-
am Telefon, in der Registratur oder an anderen Stellen eine ruhige Kugel schoben, saßen paarweise in privaten oder getarnten Autos. Mit schußbereiter Waffe warteten sie darauf, daß der ›Spanner‹ den ausgelegten Köder schluckte. Auch unter Einsatz aller Kräfte - abzüglich der kranken oder im Urlaub befindlichen Kolleginnen - konnte die weibliche Abteilung nicht genügend Beamtinnen für jeden Wagen zur Verfügung stellen. In manchen Autos saßen daher zwei Männer, von denen einer als Tarnung einen von Frau oder Freundin geliehenen Damenhut trug, um den ›Spanner‹ wenigstens aus der Entfernung zu täuschen, wenn er sich anschlich. Zusätzlich zu diesen als Fallen aufgestellten Wagen patrouillierten weitere Streifen zu Fuß und in Fahrzeugen die verschiedenen Abzweigungen und achteten auf verdächtige Motorengeräusche. Jack Tragg hatte den ganzen Tag über praktisch pausenlos daran gearbeitet, dieses komplizierte Unternehmen auf die Beine zu stellen. Unterstützt durch Phineas Hagen und seine beiden Vertreter, hatte er nach einem sorgsam ausgeklügelten Plan alle verfügbaren Mitarbeiter an den strategisch richtigen Stellen postiert. Sie mußten ja auch ausgerüstet werden. Die Nachrichtenabteilung hatte jedes vorhandene Sprechgerät ausgegeben. Fast alle Fahrzeuge waren mit Funkanlagen ausgestattet, damit ständig Kontakt mit einer fahrbaren Einsatzleitung gehalten werden konnte. Auch für die Sicherheit der ›Lockvögel‹ mußte gesorgt werden. Jack Tragg wollte den ›Spanner‹ nach Möglichkeit lebend und ohne eigene Verluste fassen. Um keine Zivilisten zu gefährden, waren die Zeitungen und Funkstationen gebeten worden, entsprechende Warnungen zu verbreiten. Rundfunk- und Fernsehsender hatten tagsüber wiederholt ihr Programm unterbrochen, um ihre Hörer vor der Benutzung abgelegener Waldwege zu warnen. Von der konzentrierten Polizeiaktion wurde natürlich nichts erwähnt, -146-
aber Jack Tragg ho ffte, daß sich die Bevölkerung nach seinem Aufruf richten würde. Da die Rücklichter dieses unbeleuchteten Wagens nicht das vereinbarte Zeichen gaben, schienen die Warnungen zumindest in einem Fall auf taube Ohren gestoßen zu sein. Im Augenblick waren Brad und Alice nicht in der richtigen Stimmung, auch noch übertrieben taktvoll oder diplomatisch vorzugehen. Sie waren bis nach drei Uhr morgens im Büro gewesen und hatten um zehn Uhr vormittags wieder ihren Dienst angetreten. Von diesem Zeitpunkt an waren sie, abgesehen von einer knappen Essenspause, ununterbrochen auf den Beinen. Zuerst mußten die Berichte gelesen werden. Daß der ›Spanner‹ im zentralen Staatsarchiv nicht verzeichnet war, hatte die Deputys kaum überrascht. Der Autopsiebericht bestätigte lediglich, daß das tote Mädchen nicht mißbraucht worden war. Brad hatte recht gehabt: Bei dem Schuß war Schwarzpulver verwendet worden. Die ansonsten negativen Berichte der Fahndung beantworteten wenigstens eine weitere Frage: Die Spezialisten hatten die Kleidungsstücke der Brünetten gefunden - außer der Strumpfhose; damit war auch das Fehlen dieses Kleidungsstücks bei dem zweiten weiblichen Opfer geklärt. Der Maskierte schien tatsächlich zum Sammeln von Jagdtrophäen übergegangen zu sein. Aus dem Unfallkrankenhaus wurde gemeldet, das erste männliche Opfer des vergangenen Abends werde die Verletzungen überleben, es sei allerdings nicht zu sagen, welcher Schaden zurückbleiben würde. Der Mann und seine Begleiterin waren noch nicht vernehmungsfähig. Die Väter der beiden Opfer waren im Polizeigebäude erschienen, um die amtliche Identifizierung vorzunehmen. Auf Alices vorsichtige Fragen antwortete der Vater des Soldaten, sein Sohn sei viel zu erfahren im Umgang mit Waffen gewesen, -147-
um wegen einiger Dollar einen bewaffneten Räuber anzugreifen. Dadurch wurde Brads Ansicht gestützt, daß der ›Spanner‹ entweder so getan hatte, als werde er abgelenkt, oder daß er die Angriffe seiner beiden Opfer absichtlich provoziert hatte. Brad, der sonst so ruhig und ausgeglichen war, hatte lange und inbrünstig geflucht, nachdem er die beiden Väter zu den Wagen begleitet hatte, die sie nach Hause fahren sollten. Dann war er mit Alice zu einer ergebnislosen Serie von Besuchen losgefahren. Keiner der Besitzer von Berns-Martin-Halftern ähnelte auc h nur entfernt der vorhandenen Beschreibung des ›Spanners‹. Auch der Hersteller der Halfterimitationen sowie verschiedene V-Leute wußten nichts Brauchbares zu berichten. Der ›Spanner‹ hatte zwar auch in Verbrecherkreisen erhebliches Aufsehen erregt, aber niemand schien etwas zu wissen oder den Mund aufmachen zu wollen. Abends um sieben Uhr waren Alice und Brad zu der Überzeugung gelangt, daß es nur eine einzige Chance gab, den Verbrecher zu fassen: Man mußte ihn auf frischer Tat ertappen. Nach einem raschen Imbiß im ›Badge Diner‹ hatten sie ihren Streifenwagen S. 0. 12 geholt und sich auf den Weg in das Gebiet gemacht, wo der ›Spanner‹ in der zweiten Nacht seiner Umtriebe zugeschlagen hatte. Es paßte ihnen gar nicht, hier einen Privatwagen anzutreffen. Alice hielt am Straßenrand an und nickte Brad zu. Um die Identifizierung zu erleichtern, trugen sie beide Uniform. Brads Pistole steckte deshalb in einem schmalen, hochsitzenden Halfter vom Typ Bianchi Cooper-Combat Bikini mit Stahleinlage. Es war an seinem Sam-Browne-Gürtel mit einem zusätzlichen Elden-Carl-Sicherungsbügel befestigt. Außerdem hielt er ein Winchestergewehr Modell 12 zwischen den Knien. Da kaum damit zu rechnen war, daß sich der ›Spanner‹ kampflos ergeben würde, folgte er durch die zusätzliche Bewaffnung einer alten Grundregel erfahrener Kriminalisten. Brad legte die Flinte auf den Vordersitz, und stieg mit Alice -148-
aus. Ohne besonders leise aufzutreten, näherten sie sich dem italienischen Sportwagen. Die beiden Insassen umarmten sich so leidenschaft lich, als seien sie allein auf der Welt. Alice trat an die Fahrerseite, wo das Mädchen saß, Brad übernahm die andere Tür. Auch jetzt schien das Pärchen noch ahnungslos zu sein. Als Alice die Tür öffnete, ging automatisch die Innenbeleuchtung an. Die beiden fuhren auseinander. Im ersten Augenblick erschrak das Mädchen sichtlich, dann entdeckte sie die Uniform und machte ein verärgertes Gesicht. Sie war gepflegt und gut frisiert, anscheinend eine junge Frau, die sich dem gemeinen Volk überlegen fühlte. Der junge Mann nahm seine Hände von dem Mädchen und griff blitzschnell nach dem Handschuhfach, in dem ein kurzläufiger Revolver lag. Er wirkte in seiner ganzen Aufmachung wie ein tüchtiger junger Manager auf dem Weg nach oben. Brad hatte er noch nicht erblickt. Der blonde Deputy riß die rechte Tür auf und packte mit derselben unheimlichen Geschwindigkeit, mit der er eine Waffe ziehen konnte, das Handgelenk des jungen Mannes. »Was, zum Teu...«, begann das junge Mädchen empört und funkelte Alice an. »Hören Sie denn keine Nachrichten?« fragte Alice. »Wir warnen seit heute morgen dringend vor einer Benutzung dieser Nebenstraßen.« »Leben wir denn in einem Polizeistaat?« fauchte das Mädchen, offenbar verärgert darüber, daß Alice sie nicht mit dem gehörigen Respekt angesprochen hatte. »Haben Sie noch nie etwas von dem ›Spanner‹ gehört oder gelesen?« fragte Alice zurück. »Natürlich!« antwortete das Mädchen verächtlich, ohne zu ihrem Freund hinüberzusehen. »Wir sind entsprechend darauf vorbereitet.« -149-
»Sieht ganz so aus«, sagte Alice betont und blickte zur anderen Seite hinüber. »Nehmen Sie Ihre Dreckspfoten von mir weg!« schnaubte der junge Mann. Sein Handgelenk schien in einem Schraubstock zu stecken. »Lassen Sie die Waffe los«, befahl Brad. »Gegen uns brauchen Sie sie nicht. Wir kommen vom Sheriff's Office.« »Und was wollen Sie?« knurrte der Mann. Er ließ den Revolver los. »Es wäre sicherer, wenn Sie sich ein anderes Plätzchen aussuchen könnten«, antwortete Brad und gab die Hand des jungen Mannes frei. »Das hier sind die Jagdgründe des ›Spanners‹.« Anstatt für die Warnung dankbar zu sein, tauschten die beiden einen empörten Blick. Der junge Mann rieb sich das schmerzende Handgelenk. Er fühlte sich gedemütigt, weil er der Körperkraft des blonden Hünen nichts entgegenzusetzen hatte. »Sie haben kein Recht, anständige Steuerzahler so grob anzufassen«, sagte der junge Mann zornig. »Ich werde mich über Sie beschweren.« »Tun Sie das ruhig«, antwortete Brad. »Aber erst lassen Sie sich folgendes sagen: Der ›Spanner‹ hat letzte Nacht zwei Morde begangen, einen Mann halbtotgeschlagen und ein Mädchen nackt im Wald liegen lassen. Sie hat vor Angst fast den Verstand verloren. Der Kerl ist geistesgestört. Er wartet, bis Sie sich unbeobachtet glauben, und wenn Sie ihn angreifen, schlägt er Ihnen den Schädel ein.« »Und anschließend sind Sie an der Reihe«, sagte Alice zu dem Mädchen. »Deshalb bitten wir Sie, hier wegzufahren.« Die beiden wurden nachdenklich. Dann brummte der junge Mann etwas zahmer: »Na gut, wenn das so ist... Wir fahren sofort.« -150-
»Das wäre vernünftig«, sagte Alice und schloß die Tür. Auch Brad klappte die Tür zu, dann sahen sie dem Sportwagen nach, bis er hinter der nächsten Kurve verschwunden war. Etwa um dieselbe Zeit standen Joan Hilton und Sam Cuchilo im nordöstlichen Bereich vor einer ganz ähnlichen Situation. Sie rollten an einem Wagen vorbei, der das vereinbarte Signal nicht gegeben hatte. Er schien verlassen zu sein - ein verdächtiges Zeichen auf einem abgelegenen Waldweg. »Sehen wir lieber nach«, sagte Cuchilo. »Der Kofferraum ist groß genug für ein Trail-Motorrad.« Da die Gefahr bestand, daß es sich um das Fahrzeug des Verbrechers handelte, nahm Cuchilo seine Thompson-MP mit und näherte sich dem geparkten Wagen. Als sie näher kamen, hörten sie aus dem Inneren Geräusche. Joan öffnete die Tür und leuchtete hinein. Das Pärchen auf dem Rücksitz fuhr erschrocken auseinander. Der Mann - hager und nicht mehr ganz jung - nahm hastig die linke Hand unter dem Rock des Mädchens weg und zog die rechte aus ihrer Bluse. Die Kleine war erheblich jünger als ihr Begleiter und recht hübsch. Vor Schreck stieß sie einen kleinen Schrei aus und blieb regungslos auf dem Rücksitz liegen: Ihr Rock war hochgeschoben, ihr Büstenhalter verrutscht. Sekundenlang brachte der Mann vor Schreck den Mund nicht mehr zu. Dann wandelte sich sein Gesichtsausdruck. Er spielte den selbstgerechten, braven Bürger, der es sich nicht gefallen lassen wollte, daß die von seinem Geld bezahlten Ordnungshüter willkürlich sein Vergnügen störten. »Wie können Sie es wagen...«, begann er, während das Mädchen seine Kleidung in Ordnung brachte. »An Ihrer Stelle würde ich mir zum Schmusen ein anderes -151-
Plätzchen suchen, Mister«, sagte Cuchilo ungerührt. »Diese Waldwege sind in letzter Zeit sehr gefährlich geworden.« »Sie haben trotzdem kein Recht, so über uns herzufallen!« antwortete der Mann mit dem Zorn eines schlechten Gewissens. »Wir tun doch nichts Unerlaubtes!« »Wirklich nicht?« fragte Joan höflich und deutete auf das Mädchen. »Ist das Ihre Frau?« »Nein.« »Sollen wir die junge Dame nach ihrem Ausweis fragen?« fügte Cuchilo hinzu. »Mich würde das Geburtsdatum interessieren.« Die Andeutung, daß sie vielleicht noch minderjährig sein könnte, ließ das Mädchen sehr kleinlaut werden. Auch der Zorn des braven Bürgers verrauchte schnell. »Sie haben vielleicht recht«, murmelte er. »Ich sollte wohl wirklich...« »Tun Sie das«, sagte Cuchilo. »Und halten Sie erst wieder an, wenn Sie eine gutbeleuchtete Gegend erreicht haben.« Kopfschüttelnd sahen er und Joan dem davonfahrenden Paar nach. »Leichtsinnige Narren«, murmelte Sam Cuchilo.
16 Kurz nach 22.30 Uhr fuhren die Deputys Rafferty und Chu auf einen Pontiac zu, der neben dem gewundenen Waldweg nahe der Stelle parkte, wo der ›Spanner‹ das drittemal aufgetaucht war. Die Rücklichter blitzten auf und erloschen wieder. Sie fuhren mit ihrem Oldsmobile weiter. In dem anderen Auto saßen zwei Kollegen mit geladenen Pistolen in den Händen und warteten auf den Killer. Sie sahen dem -152-
Streifenwagen nach und machten es sich dann auf dem Vordersitz wieder so bequem wie möglich. Etwa eine Viertelstunde später knurrte Charlie Chan grimmig: »Rassendiskriminierung ist das, nichts weiter!« »Inwiefern?« erkundigte sich Doug Smith, der am Steuer saß. Er warf seinem Kollegen einen Seitenblick zu und mußte unwillkürlich über den Anblick grinsen, den Chan in Lederjacke, Levishose, Jagdstiefeln und einem breitrandigen, von Mrs. Smith gestifteten Damenhut bot. »Na, wir haben doch ein Dutzend Mädchen im Büro, darunter auch die niedliche kleine Chinesin aus dem Glücksspieldezernat«, knurrte Chan. »Und wen setzt man mir ins Auto?« »Den lieben, netten alten Smith«, antwortete sein Kollege. »Fragen Sie meine Frau - vor unserer Hochzeit war ich im Auto ein toller Hecht.« »Sie hat auch in puncto Hüte einen schlechten Geschmack«, erklärte Chan geringschätzig. »Aber sagen Sie ihr das ja nicht. Dafür kocht sie zu gut, und ich werde dann nicht mehr bei Ihnen eingeladen.« »Also doch keine Rassendiskriminierung«, stichelte Smith feixend. »Der Lieutenant kennt Sie eben als orientalischen Superliebhaber. Außerdem bin ich noch viel schlechter dran als Sie - Sie haben immerhin mich als Begleitung, aber ich muß mich mit Ihnen begnügen!« »Deprimierende Aussichten für eine lange Nacht, wie?« flachste Chan feixend zurück. »Ihr Hut sitzt schief!« »Meine Strumpfnaht ist auch verrutscht, aber ich schreie sofort nach einem Polizisten, wenn Sie daran herumfummeln! Ich lasse mir von einem verheirateten Mann...« Der nachgeahmte Falsetton brach ab. »Doug«, sagte Chan halblaut -153-
mit normaler Stimme. »Ich glaube, da drüben im Gebüsch bewegt sich etwas.« Mit einem Schlag waren die beiden Beamten wieder ernst. Ihre Hände umfaßten instinktiv die Griffe der Pistolen. Da der ›Spanner‹ sich vermutlich von Chans Seite her nähern würde, ließ Smith die Lampe vom Typ Burgess Radar- Lite auf dem Sitz liegen. »Was ist?« flüsterte Smith. »Weiß nicht.« Chan ließ den Rückspiegel nicht aus den Augen. »Ja! Entweder es ist tatsächlich der ›Spanner‹ oder irgendein verdammter Narr, der sich genauso kleidet wie er. Er hat den Revolver in der Hand und kommt näher.« »Machen Sie meiner Sarah bloß den Hut nicht kaputt!« warnte Smith und entriegelte mit der Linken seine Tür. »Reichen Sie mir die Flüstertüte herüber.« Zu den Vorsichtsmaßregeln, auf denen Sheriff Tragg bestanden hatte, gehörte auch das Verriegeln der Fenster und Türen aller getarnten Fahrzeuge. Dem ›Spanner‹ sollte für den Fall, daß er sich einem Wagen unbemerkt näherte, das Überraschungsmoment genommen werden. Chan holte das Voice-Commander-Gerät aus dem Handschuhfach und reichte es seinem Kollegen hinüber. »Lockvogel Siebzehn an Kontrolle Schwarz!« »Hier Kontrolle Schwarz.« »Er ist hier.« Für mehr reichte die Zeit nicht. Mehr brauchte er auch nicht zu sagen. Die Kontrolle Schwarz hatte auf einer Generalstabskarte die Position aller Fahrzeuge eingezeichnet und konnte überallhin Hilfe entsenden. Smith legte nach der kurzen Durchsage das Gerät aus der Hand und griff mit der Linken nach der Tür, um schnell hinausspringen zu können. -154-
Der ›Spanner‹ war an diesem Abend erst spät zu seinen Jagdgründen aufgebrochen. Nachdem er die wiederholten Warnungen in Radio und Fernsehen gehört hatte, fragte er sich, ob jemand dumm genug sein würde, trotzdem die einsamen Waldwege zu benutzen. Ganz bestimmt waren in den drei fraglichen Gebieten die Polizeistreifen verstärkt worden, so daß die Hoffnung auf ein ausführliches Vergnügen wie bei der Brünetten zunichte wurde. Fast wäre er zu Hause geblieben oder ins Kino gegangen. Aber dann fiel ihm ein, daß er durch sein Fernbleiben den Eindruck erwecken könnte, er habe Angst vor der Polizei. Der ›Spanner‹ hatte nun endlich sein Ziel erreicht: Er wurde ernst genommen. Dieses Image wollte er sich nicht verderben lassen. Am Vormittag hatte er aus Gesprächen unter seinen Schülern herausgehört, wie beeindruckt sie von seinem anderen Ich waren. Eine sehr befriedigende Sache! Auf keinen Fall durfte er riskieren, daß der Respekt dieser hartgesottenen Jugendlichen wieder nachließ. Kurz vor 22.00 Uhr verließ er sein Haus und holte den Kombiwagen mit dem Motorrad aus seinem Versteck. Die Zivilkleidung, unter der er seine abenteuerliche Aufmachung verbarg, ließ er zurück. Dann fuhr er mit dem Motorrad zu der Stelle, an der er seine dritte Serie von Überfällen verübt hatte. Er ließ das Rad unter einer mächtigen Weißeiche zurück und sagte sich, daß es nichts ausmache, wenn er keine geeigneten Opfer finden sollte. In diesem Fall konnte er behaupten, allen eine solche Angst eingejagt zu haben, daß sie sich nicht mehr in die Wälder trauten. Beim Anblick des geparkten Pontiac empfand der ›Spanner‹ eine Mischung aus Ärger und Befriedigung. Nach allem, was gestern geschehen war, hätte es eigentlich kein Liebespaar mehr wagen dürfen, zum Schmusen herzukommen, dachte er empört. Aber dann packte ihn gespannte Erwartung. Er schlich auf seine nächsten Opfer zu. -155-
Vom Innern des Wagens konnte er nur wenig erkennen. Nach den Umrissen zu urteilen, saß die Frau auf seiner Seite. Schade. Wenn sie nach ihrem männlichen Begleiter auf dessen Seite ausstieg, konnte er leichter so tun, als würde er abgelenkt. Aber so wichtig war das auch nicht, daß er deshalb um den Wagen zur Fahrerseite herumgegangen wäre. Der Soldat von gestern abend hatte ihm gezeigt, wie man Gegenwehr provozierte. Voll Vorfreude griff der ›Spanner‹ nach der Autotür. Sie rührte sich nicht. Als ihm die Warnung durch den Sinn schoß, flog schon drüben die andere Tür auf. Da sah er, wie kräftig und maskulin die ›Frau‹ wirkte. Mit einem halblauten Fluch sprang der ›Spanner‹ von dem Wagen zurück. Er zielte auf die Tür. Sein Peacemaker brüllte auf, das Mündungsfeuer erhellte die Nacht. Smith hatte sprungbereit dagesessen und aus den Augenwinkeln beobachtet, wie sich der ›Spanner‹ der Tür seines Kollegen näherte. »Jetzt!« zischte Smith, stieß seine Tür auf und ließ sich hinausfallen. Chan war gut auf seinen Kollegen abgestimmt und warf sich nach links. Er achtete nicht darauf, daß die Lampe ihm in die Seite drückte, und machte sich auf dem Sitz so klein wie möglich. Kaum war er in Deckung, da krachte schon der Schuß, und die Kugel durchschlug das Sicherheitsglas der Seitenscheibe. Erleichtert stellte Chan fest, daß das Geschoß seinen Kollegen nicht getroffen hatte, Im Nu packte er den Scheinwerfer und robbte durch die offene Tür hinaus. Smith hockte hinter dem Wagen. Als er den tiefen Klang des Colt Peacemaker vernahm, huschte er geduckt nach vorn hinter die Kühlerhaube. Da hörte er das Geräusch sich eilig entfernender Schritte. Er richtete sich auf, bis er mit seinem Colt Python 357 Magnum über die Haube hinweg auf die fliehende Gestalt zielen konnte. -156-
»Halt, im Namen des Gesetzes!« rief er der Form halber. Während Smith den ›Spanner‹ aufforderte, sich zu ergeben, hatte Chan die Limousine verlassen. Mit der Burgess- Lampe in der linken und seinem Smith & Wesson Modell 27 in der rechten Hand duckte er sich hinter den Kofferraum des Pontiac. Dann stand er auf, schaltete die Lampe ein und richtete den grellen Strahl auf die flüchtende Gestalt. Bevor Chan den Mann im Lichtschein erfassen konnte, drehte sich der ›Spanner‹ um und gab den nächsten Schuß ab. Chan hörte von seinem Kollegen einen unterdrückten Aufschrei und sah aus dem Augenwinkel, wie er zurücktaumelte. Chan riß die Waffe hoch, zielte rasch und feuerte. Noch während des Abdrückens sagte ihm sein Instinkt, daß er den Verbrecher verfehlt hatte. Aber nur knapp! Zum erstenmal in seinem Leben hörte der ›Spanner‹ das unheimliche Zischen eines knapp vorbeifliegenden Geschosses. Panik überkam ihn. Er wirbelte herum und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, auf die Stelle zu, wo er sein Motorrad zurückgelassen hatte. »Doug!« rief Chan, schaltete die Lampe aus und wandte sich. nach links. »Nur ein Streifschuß«, antwortete Smith. Er kniete am Boden und hielt sich die rechte Schulter mit der linken Hand. »Alles okay. Los, ihm nach! Ich übernehme das Radio.« Chan warf einen Blick auf seinen Kollegen und fluchte leise auf kantonesisch. Dann sprang er auf und spurtete los. Chan befand sich - wie jeder Polizeibeamte im County - in einer vorzüglichen körperlichen Verfassung, aber für ein Wettrennen war er zu kräftig gebaut. Besonders bei schwachem Mondschein im Wald. Er konnte den Abstand zu dem ›Gangster‹ nicht verringern. Er verwendete auch nicht die starke Handlampe, weil der Verbrecher zwischen den Baumstämmen ein schlechtes -157-
Ziel bot; blieb der Beamte stehen, war das unbewegte Licht eine Zielscheibe, die einen Schuß des Gegners geradezu herausfordern mußte. Aber es kam dem ›Spanner‹ nicht in den Sinn, sich zum Kampf zu stellen. Allem, was er gehört und gesehen hatte, mußte er entnehmen, daß die Insassen des Pontiac Polizeibeamte waren. Also gab es noch mehr von dieser Sorte auf den Waldwegen. Sheriff Tragg hätte nie einen einzelnen Lockvogel aufgestellt - in der Hoffnung, daß der Verbrecher ausgerechnet an dieser einen Stelle zuschlagen werde. Vermutlich wimmelte es überall von Beamten, die schon bald durch Funk herbeigerufen würden. Seine einzige Hoffnung lag darin, daß er das Motorrad schnell erreichte und die Sperrkette der Beamten unbemerkt durchbrach. Als er nun durch den Wald rannte, hörte er, daß mindestens ein Mann ihn verfolgte. Endlich war die Weißeiche erreicht. Mit zitternden Fingern steckte er den Revolver ins Halfter, kletterte auf das Motorrad und trat es an. Als Chan das Brummen des Motors hörte, fluchte er wieder und steigerte sein Tempo. Von beiden Enden des Seitenweges kam Sirenengeheul näher. Einer der Streifenwagen schien schon ganz nahe zu sein, aber Chan bezweifelte trotzdem, daß er noch rechtzeitig eintreffen würde. Chan mußte etwas unternehmen, wenn ihm der ›Spanner‹ nicht entwischen sollte. In diesem Augenblick trat er in ein verstecktes Loch und blieb an einer kräftigen Wurzel hängen. Er wurde vom eigenen Schwung nach vorn getragen und spürte im Knöchel einen stechenden Schmerz. Fluchend fiel er zu Boden. Instinkt und Übung veranlaßten ihn, dabei Lampe und Revolver hoch über den Kopf zu halten. Ein paar Sekunden lang ging ihm die Luft aus, dann hörte er das Motorrad wegfahren. Chan war davon überzeugt, daß sich der ›Spanner‹ kaum zu einem Zweikampf stellen würde. Er riskierte es, das Licht -158-
einzuschalten. Der helle Strahl tastete sich in die Richtung vor, aus der das Motorengeräusch kam. Gleich darauf sah Chan den ›Spanner‹ mit seinem Motorrad einen Hang hinauffahren. Der Kriminalbeamte streckte seine Hand mit dem Smith & Wesson aus, zog mit dem Daumen den Hahn zurück und zielte. Er wußte, daß er keine Zeit verlieren durfte. Deshalb drückte er schnell ab. Es wurde ein ausgesprochener Sonntagsschuß. Das Geschoß verfehlte zwar den ›Spanner‹ selbst, traf aber sein Fahrzeug. Als erfahrener Schütze verwendete Chan Patronen mit flacher, konischer Spitze, die von Elmer Keith entwickelt worden waren. Das Geschoß verläßt den kurzen Lauf mit einer Geschwindigkeit von 366 Meter in der Sekunde. Die Kugel durchschlug den Reifen des Motorrads und traf die Felge mit solcher Wucht, daß sie verformt wurde. Der ›Spanner‹ wurde in grelles Licht getaucht und wollte seine Maschine zur Seite reißen, da spürte er den harten Ruck am Hinterrad. Er verlor die Herrschaft über das Motorrad. Der Fahrer wurde vom Sattel geschleudert, segelte durch die Luft und landete an einem Baumstamm. Die Angst machte ihm Beine, schnell erhob er sich wieder und brachte den Stamm zwischen sich und den Verfolger mit der Lampe in der Hand. In der Ferne erstarb das Sirenengeheul, Autotüren klappten, Stimmen waren zu hören. Die erste Verstärkung war also bei dem Pontiac eingetroffen. Er mußte das Weite suchen, solange ihn nur der eine Mann verfolgte, der sein Motorrad getroffen hatte. Der ›Spanner‹ sprang auf und rannte, so schnell es ging, den Hang hinauf. Der Lichtstrahl erwischte ihn, als er gerade die Hügelkuppe überquerte. Er rechnete jeden Augenblick damit, den lähmenden Aufprall einer Bleikugel zu spüren; kopfüber warf er sich in die willkommene Dunkelheit jenseits der Kuppe. Chan stellte das Feuer ein. Er wollte aufstehen, aber der Knöchel schmerzte so sehr, daß er wieder zurücksank. Da er -159-
selbst den ›Spanne r‹ nicht verfolgen konnte, versuchte er wenigstens, seinen Kollegen die Richtung zu weisen. Er schaltete den Scheinwerferstrahl ab, stellte die Laterne auf den Boden und betätigte einen anderen Schalter. Sofort blitzte grellrot und rhythmisch die Warnleuchte auf. Schnell war nun Hilfe da. Die Deputys Rafferty und Chu kamen herbeigelaufen. Ihre Gesichter zeigten deutliche Besorgnis, als sie Chan am Boden liegen sahen. »Hat er Sie erwischt, Charlie?« fragte Chu. »Nein«, antwortete der Beamte. »Ich habe mir nur den Fuß verstaucht. Verdammt, ausgerechnet eine kleine, zähe Baumwurzel...« »Wohin ist er gelaufen?« fragte Rafferty. »Dort über den Hügel«, antwortete Chan. »Vorsicht, er hat noch vier Geschosse im Lauf.« Rafferty warf einen Blick auf sein fünfzigschüssiges Trommelmagazin. »Wir haben mehr, Tommy!« »Das schon«, sagte Chu, denn auch sein Karabiner enthielt fünfzehn Patronen. »Können wir Sie allein lassen, Charlie?« »Los, lauft schon!« »Lassen Sie die Warnleuchte an, und halten Sie den Revolver schußbereit«, riet ihm Rafferty. »Der ›Spanner‹ darf auf keinen Fall eine Geisel in die Finger kriegen.« »Klar«, versprach Charlie Chan. »Dort kommt schon Verstärkung!« Sechs weitere Kriminalbeamte näherten sich der Signallampe. Rafferty und Chu machten sich auf den Weg. Daß so viele Leute verfügbar waren, überraschte Chan nicht. Vier von ihnen hatten an anderen Stellen des Waldweges als Lockvögel gedient, die beiden anderen stammten von einer Streife der Stadtpolizei. Einer der sechs blieb bei Chan, die anderen nahmen die Verfolgung auf. Die neuangekommenen Beamten hatten -160-
verschiedene Waffen, zwei Burgess-Radar- Lite-Lampen und ein tragbares Funkgerät vom Typ Voice-Commander bei sich. »Kommen Sie, amigo«, sagte der bullige Beamte, der bei Chan geblieben war. Er stammte aus dem County Presidio und hatte sich freiwillig gemeldet. Da er das Gelände nicht so gut kannte wie die hiesigen Beamten, war er bei Chan geblieben, um ihm zu helfen. »Gehen wir zurück zu Ihrem Wagen.« »Was ist mit meinem Kollegen?« fragte Chan. »Als ich ihn zuletzt sah, ging es ihm recht gut«, antwortete der Kollege aus Presidio grinsend. »Los, stützen Sie sich ruhig auf mich!« Während Chan zurückhumpelte, berichtete er von seinem Pech. Das Sprechen lenkte ihn von den ziehenden Schmerzen im Knöchel ab, aber er fragte sich doch, warum der andere die Verletzung von Doug Smith so amüsant fand. Als sie den Pontiac vor sich sahen, blieb Chan erstaunt stehen. Jetzt wußte er, warum der Kollege aus dem Nachbarcounty gelacht hatte. »Also doch Rassendiskriminierung!« knurrte Chan grinsend. Smith hockte bequem auf der vorderen Stoßstange des Pontiac, die Wunde an der Schulter war bereits verbunden. Zwei Mitglieder der weiblichen Polizei halfen ihm gerade in Hemd und Uniformjacke.
17 Wenn der ›Spanner‹ ein geeignetes Versteck gefunden hätte, wäre er vielleicht dem Polizeikordon entgangen. Aber er lief weiter. Jack Tragg hatte seine Leute so geschickt eingeteilt, daß der ›Spanner‹ von seinem Kombiwagen abgeschnitten wurde. In welche Richtung er sich auch wandte, überall sah der Maskierte die grellen Scheinwerferfinger aufleuchten. Über den Wipfeln -161-
kreiste ein Hubschrauber und meldete alle Beobachtungen weiter. Plötzlich befand sich der ›Spanner‹ in einer erst kürzlich geschlagenen Schneise, die auf einer weiten Lichtung endete. Es gab kein Zurück, denn seine Verfolger schwärmten kaum vierhundert Meter hinter ihm nach allen Richtungen aus. Unsicher blieb der ›Spanner‹ stehen und sah ein Licht vor sich. Es war kein greller Strahl von einer Polizeilampe, sondern das gelbliche Licht in einem Fenster. Also ein Haus. Und ein Haus bedeutete in dieser Entfernung von Gusher City irgendein Transportmittel. Wenn es ihm gelang, dieses beleuchtete Haus zu erreichen und einen Wagen zu erbeuten, konnte er vielleicht den Polizeikordon durchbrechen und in die Stadt gelangen. Der ›Spanner‹ schlich über die Lichtung. Er lief immer schneller und fürchtete, jeden Augenblick von einem Scheinwerferstrahl erfaßt zu werden. Er vergaß dabei, daß seine Verfolger nicht so schnell vorankamen wie er selbst. Es gelang ihm, die halbe Meile bis zu der Lichtquelle zurückzulegen, ehe Rafferty und Chu den Rand der Lichtung erreichten. Der ›Spanner‹ näherte sich vorsichtig dem hellen Viereck, das die Rettung bedeuten konnte. Es war das Fenster einer einstöckigen Jagdhütte. Das Haus schien noch nicht fertig zu sein - nur aus dem einen Fenster drang Licht. Schlimm war nur, daß offenbar keinerlei Fahrzeug bei dem Haus stand. Er hörte drinnen Musik und näherte sich vorsichtig dem erleuchteten Viereck. Nach dem ersten Blick durch das unverhangene Fenster stieß er einen überraschten Pfiff aus - er kannte den Mann, die Frau und die beiden Mädchen an dem offenen Kamin. In unmittelbarer Reichweite sah er die Lösung seines Problems vor sich. Als er sich umdrehte, erblickte er die Lichter am Rand der Lichtung. Er ging zur Tür des Jagdhauses und klopfte an. »Was meinen Sie, Tommy?« fragte Rafferty halblaut, als er -162-
den Lichtstrahl über die Lichtung gleiten ließ. »Ich könnte schwören, daß er unsere Linien nicht durchbrochen hat«, antwortete Chu. »Pat - dort ist gerade jemand ins Haus gegangen!« Auch Rafferty hatte beobachtet, wie für einen Augenblick ein länglicher Lichtschein aus der Hütte gefallen war. »Wir dürfen nichts riskieren«, flüsterte der Ire. »Wir bleiben in Deckung, bis wir die anderen fragen können, ob sie ihn nicht gesehen haben.« Neben Rafferty hockte ein anderer Kollege mit einem Sprechgerät. Kontrolle Schwarz verneinte die Frage des Deputys. Rafferty betrachtete das erleuchtete Fenster und verzog das Gesicht. Wenn der ›Spanner‹ den Kordon nicht durchbrochen hatte, konnte er sich nur in dem Jagdhaus befinden. »Die Frage ist nur«, beme rkte Rafferty, »ob das Haus ihm gehört oder ob er sich mit einem Trick eingeschlichen hat.« Die beiden neigten mehr zu der zweiten Möglichkeit. »Wir sollten die anderen davon abhalten, die Lichtung zu überqueren, Pat«, schlug Chu vor. »Hm, wenn er da drin bei Fremden ist...« »Kontrolle Schwarz!« rief der Beamte. »Niemand darf die Lichtung betreten! Der Verdächtige hat sich wahrscheinlich in ein bewohntes Gebäude geflüchtet.« »Klar, verstanden«, antwortete die Einsatzzentrale. »Sheriff Tragg ist schon unterwegs zu Ihnen.« »Irgendwelche neuen Befehle?« »Sie sollen das Jagdhaus erkunden«, lautete die Antwort. »Einzeln, ohne Risiko. Kode Eins?« »Kode Eins«, bestätigte Rafferty. »Tommy - nur Sie, ich und Harry mit seiner Lampe.« -163-
Die beiden Deputys verließen, begleitet von dem Polizisten mit dem Radar- Lite, die Deckung der Bäume. Mit schußbereiter Waffe rückten sie vor. Das Aufblitzen von Lichtern zu beiden Seiten zeigte ihnen an, daß noch weitere Einheiten die Lichtung erreicht hatten. Offenbar war der Wald an keiner einzigen Stelle weniger als eine halbe Meile von dem Haus entfernt. »Und nur offenes, ungedecktes Gelände!« stöhnte Chu. »Wer das Haus gebaut hat, muß etwas gegen uns haben!« Inzwischen hatten sie ungefähr die halbe Entfernung zurückgelegt. Da ging die Haustür auf. Eine Gestalt trat heraus, dann schloß die Tür sich wieder. Die drei gingen sofort in die Knie. »Ein Mann kommt auf uns zu!« stieß der Sergeant hervor. »Anleuchten!« befahl Rafferty. »Wir geben Feuerschutz, aber halten Sie die Lampe zur Seite!« »Klar«, antwortete der Mann mit der Lampe. Er richtete den Lichtstrahl auf die Gestalt, die aus der Hütte getreten war. »Das ist nicht der ›Spanner‹ !« »Ausschalten!« befahl Rafferty. Ein rundlicher, untersetzter Mann kam auf die Beamten zugerannt. Er hatte graues Haar, trug einen verwaschenen Pullover und Jeans, aber jeder wußte, daß er zu den reichsten Leuten im County Rockabye gehörte. Die Deputys senkten die Waffen und traten vor. »Was ist los, Mr. Heveren?« fragte Rafferty. Der Ölmagnat blieb stehen. Er holte tief Luft, dann deutete er zurück zu dem Haus. »Der ›Spanner‹ ist im Haus.« »Dachten wir uns schon«, knurrte Rafferty. »Er hält meine Frau und meine Töchter gefangen«, fügte Heveren hinzu. »Zurück zu den Bäumen«, flüsterte Rafferty. »Der Sheriff soll -164-
das selbst entscheiden.« Zehn Minuten später erschien Sheriff Jack Tragg am Waldesrand. Auch Alice und Brad waren sofort gekommen, als sie hörten, was sich im Sektor Schwarz abspielte. Sie hatten für alle Fälle den Psychologen Dr. Hertel mitgebracht. »Ich habe gleich an Ihre neue Jagdhütte gedacht, Paul«, sagte Jack Tragg. »Maggie und ich sind heute nachmittag mit den Mädchen hergekommen, um das Haus auszumalen«, sagte Heveren. »Sie haben den Wagen in die Stadt zurückgeschickt, damit ich bleiben mußte. Verdammt, an den ›Spanner‹ haben wir gar nicht gedacht.« »Klar«, murmelte Tragg. »Für das Schmusen auf einem Waldweg sind Sie schon zu alt.« »Dafür ist man nie zu alt...« Heveren führte ein bekanntermaßen gutes Familienleben. Seine saloppe Bemerkung deutete nur auf seine innere Spannung hin. Er wußte, daß er keine ungerechtfertigten Forderungen an die Polizei stellen konnte. »Was ist geschehen, Paul?« fragte Jack. »Er klopfte an, und ich Narr habe ihm aufgemacht. Er drückte mir den Lauf seines Colt Peacemaker in die Magengrube und drängte mich zurück. Ich weiß natürlich, daß es gegen einen gespannten Revolver keine Widerrede gibt. Und dann der Blick in seinen Augen! Er befahl Maggie, die Mädchen auf Stühlen festzubinden. Dann mußte ich Maggie fesseln. Jack, ich konnte wirklich nichts gegen ihn tun.« »Sie haben sich richtig verhalten«, bestätigte der Sheriff. »Warum hat er Sie hinausgeschickt?« »Ich soll Ihnen seine Forderung überbringen.« »Was will er?« »Einen Wagen, der ihn morgen früh zum Flugplatz bringt, wo -165-
eine Maschine mit Pilot und genug Sprit bis Cuba auf ihn warten soll.« Jack brachte seine Mitarbeiter mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Sonst noch etwas?« »Er wird sicherheitshalber Gloria mitnehmen. Ich soll Ihnen mitteilen, daß er den Lauf der geladenen Waffe dauernd auf ihre Rippen gerichtet hält.« Jack Tragg holte tief Luft und klatschte sich mit der Hand auf die Schenkel. Der ›Spanner‹ hielt eine gute Trumpfkarte in der Hand. Nicht einmal ein Scharfschütze konnte auf diese Entfernung etwas nützen. Selbst wenn er den ›Spanner‹ traf, hatte dieser immer noch genügend Zeit, dem Mädchen eine Kugel zwischen die Rippen zu jagen. »Wir könnten es vor Tagesanbruch versuchen«, sagte Rafferty. »Der ›Spanner‹ sagt, er wird sofort schießen, wenn er ein verdächtiges Geräusch hört«, erklärte Heveren. »Er ist so verrückt, daß er es bestimmt tun wird.« »Wie sieht er aus, Paul?« fragte Tragg. »Groß und schlank. Auffällig ist an ihm nur seine Kleidung.« »Kräftig? Sportlich?« fragte Brad. »Nein.« »Was soll das, Brad?« erkundigte sich Tragg. Anstelle einer Antwort wandte sich der blonde Hüne an den Psychologen. »Sind Sie sich über die Motive des ›Spanners‹ im klaren, Doktor?« »Einigermaßen.« Brad erläuterte ihm seinen Plan und schloß mit der Frage: »Glauben Sie, Doktor, das könnte funktionieren?« »Möglich«, antwortete Hertel. »Andererseits könnten Sie das -166-
Leben des Mädchens gefährden, falls ich mich irre.« »Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Brad grimmig. »Wenn er nicht anbeißt, verschwinde ich so schnell wie möglich.« »Was halten Sie davon, Paul?« fragte Tragg. Heveren ließ sich mit der Antwort Zeit. Er betrachtete den blonden Deputy und dachte an alles, was er über ihn gehört hatte. Er war ein Mann, der immer jede Situation von allen Seiten her beleuchtete. »Ich riskiere nicht gern Glorias Leben«, sagte er schließlich. »Aber ich möchte auch nicht, daß der verrückte Kerl ungeschoren davonkommt. Je länger er Gloria in seiner Gewalt hat, um so eher kann etwas schiefgehen. Er ist verrückt genug, um sie ohne jedes Motiv zu töten. Ich werde das Flugzeug zur Verfügung stellen, aber ich bin bereit, Brad einen Versuch zuzugestehen.«
18 »Euer Papi hat die Spürhunde anscheinend gezähmt«, sagte der ›Spanner‹ zu Mrs. Heveren und den beiden Mädchen, die gefesselt auf ihren Stühlen saßen. Die Frauen hatten eine qualvolle Nacht hinter sich, aber sie zeigten weder Angst noch Panik. Der ›Spanner‹ hätte an ihnen gern sein Mütchen gekühlt, aber die Sorge um die eigene Sicherheit verbot es ihm. Er war die ganze Nacht unruhig am Fenster auf und ab gewandert. Bei Tagesanbruch setzte sich endlich ein Wagen in Bewegung und kam vom Rand der Lichtung her auf die Hütte zu. Heveren hatte also darauf bestanden, das Leben seiner Familie nicht aufs Spiel zu setzen. Typisch Kapitalist, dachte der ›Spanner‹ verächtlich. Bei dem angeforderten Wagen handelte es sich um -167-
ein ausländisches Kabriolett mit heruntergeklapptem Dach. Er sah deutlich, daß nur ein Mann darin saß. Er zog seinen Colt und trat neben Gloria Heveren. Das schlanke Mädchen war genauso gekleidet wie Vater, Mutter und Schwester. Sie wurde von den Fesseln befreit, blieb aber sitzen. Als sie das Klicken des Hahnes hörte, stand sie gehorsam auf. »Los, und keine Tricks!« befahl der ›Spanner‹. »Wenn mich einer hereinlegt, gehörst du der Katz!« »Tu alles, was er sagt«, bat ihre Mutter. Das Mädchen versprach es. Gloria durchquerte das Zimmer, die Mündung des Revolvers immer zwischen den Rippen. Dabei fragte sie sich, was ihr Vater und der Sheriff wohl ausgebrütet haben mochten. Es war höchst unwahrscheinlich, daß sie sich einfach den Forderungen des Maskierten gefügt hatten. Sie wollte nicht, daß der Verbrecher entkam. Deshalb blieb sie wachsam, um jede Chance zu nützen, ohne Mutter und Schwester zu gefährden. Der ›Spanner‹ stand in der offenen Tür und sah, wie der Sportwagen wendete. Der Fahrer stieg aus. Jetzt erst bemerkte der ›Spanner‹ die Kleidung des anderen. Er sah aus wie ein Sheriff aus dem Wilden Westen. Die Kleidung des Mannes stammte aus derselben Epoche wie die des›Spanners‹. Brad hatte sich im Laufe der Nacht einen breitrandigen Stetson, einen bunten Schal, ein braunes Hemd und zu seinen Jeans buntbestickte Stiefel besorgt. Auf der linken Brusttasche glitzerte der Sheriffstern in der Morgensonne. Nur der Gürtel mit dem Halfter war modern. Keiner seiner Kollegen hatte ihn ausgelacht, als er am Morgen in dieser abenteuerlichen Aufmachung erschienen war. Drei Menschenleben hingen davon ab, ob Brads Aufmachung bei dem ›Spanner‹ die erwartete Reaktion auslöste oder nicht. »Los!« schrie der ›Spanner‹. »Umdrehen und weitergehen!« -168-
Brad blieb stehen, die Beine leicht gespreizt. Nun kam der Augenblick der Entscheidung. Die nächsten Sekunden mußten beweisen, ob Dr. Hertels Theorie stimmte. »Was ist los, ›Spanner‹?« rief Brad. »Kannst du mich denn nicht zwingen?« »Habe ich nicht nötig!« erwiderte der Maskierte. »Los, hau ab!« »Du bist doch der schnellste Revolverheld weit und breit, erzählt man sich«, fuhr Brad fort. »Aber du kannst nur wehrlose Männer niederschlagen und Frauen belästigen. Du versteckst dich hinter einem Weiberrock. Du hast nicht den Schneid, mir gegenüberzutreten!« »Ich warne dich...«, zischte der ›Spanner‹. »Du warnst mich!« unterbrach ihn Brad. »Pures Gewäsch! Hier im Wagen ist ein Mikrofon eingebaut. Jedes Wort, das wir sprechen, wird von den Radiosendern übertragen. In aller Öffentlichkeit sage ich dir, daß ich der beste Schütze im Sheriff's Office bin und dich herausfordere! Wie steht's, ›Spanner‹? Nimmst du an, oder bist du wirklich nur ein verdammtes, feiges Waschweib?« Diese Worte, im alten Westen die schlimmsten Beleidigungen, trafen den ›Spanner‹ wie Messerstiche. Eine unerklärliche Erregung machte sich in ihm breit. Das also war der Höhepunkt seiner Laufbahn: Er stand einem bewaffneten Sternträger gegenüber. Er dachte daran, daß er schon andere nach der elektronischen Zeitmessung im Ziehen geschlagen hatte. Kaum anzunehmen, daß jemand anders die gleichen schnellen Reflexe aufzuweisen haue wie er selbst. Aber noch blieb er vorsichtig. »Damit mich ein paar Scharfschützen niederknallen, wie?« »Dann hast du immer noch das Mädchen«, erwiderte Brad. »Ich ziehe mich so weit zurück, daß du sie in den Wagen führen kannst. Wenn du mich erledigst, kannst du einsteigen und zum -169-
Flugplatz fahren. Dort wartet ein Jet nach Cuba. Du hast die Wahl: Wenn du willst, gehe ich jetzt weg. Aber was sollen dann die jungen Leute von dir denken, die dich jetzt achten und fürchten?« Brad hatte damit unfreiwillig einen empfindlichen Nerv getroffen. Der ›Spanner‹ zweifelte nicht daran, daß seine Anhänger jedes seiner Worte über den Rundfunk hören konnten. Wenn er einen Rückzieher machte, würden ihn seine Schüler als Feigling verachten. Nach seiner Flucht mußte seine Identität ja doch bekanntwerden. Wenn seine Schüler erfuhren, daß ihr Lehrer der ›Spanner‹ war, würde sein Ansehen bei ihnen ins Unermeßliche steigen. Aber nur, wenn er die Herausforderung annahm. »Wenn du unbedingt willst«, spottete Brad, »nehme ich die Hände in Schulterhöhe, damit du einen kleinen Vorteil hast!« »Ich brauche keinen Vorteil!« fauchte der Maskierte. »Geh vom Wagen weg, dann bin ich bereit.« Brad schätzte die Entfernung genau ab und zog sich langsam zurück. Zwanzig Meter vor der Stoßstange blieb er mit verschränkten Armen stehen und wartete. Der ›Spanner‹ drückte Gloria immer noch den Revolver zwischen die Rippen. Erst als das Mädchen eingestiegen war, steckte der Maskierte die Waffe ein. »Wenn du den Wagen anläßt, gehe ich zurück und töte deine Mutter«, drohte der ›Spanner‹, dann sah er Brad an. »Nimm die Arme herunter, ich brauche keinen Vorteil!« Brad war erleichtert. Er verachtete zwar die Spielereien mit Platzpatronen, wußte aber, daß einige Fachleute wirklich ein unglaubliches Geschick im Ziehen entwickelten. Einen großen Nachteil wollte er deshalb nicht riskieren. Dabei ging es ihm weniger um die eigene Sicherheit, als um die Tatsache, daß die Polizei gegen den ›Spanner‹ noch nie eine bessere Chance hatte als in diesem Augenblick. -170-
Langsam ließ Brad seine Hände sinken. »Zählen Sie bis drei, Gloria«, sagte er ruhig. »Du kannst ziehen, sobald du willst, ›Spanner‹!« »Eins, zwei - drei!« zählte Gloria heiser. Die Hand des ›Spanners‹ zuckte zum Peacemaker hinunter. Er war schnell, sehr schnell sogar. Aber schon mitten in der Bewegung erkannte er, daß der Deputy ihm an Schnelligkeit gewachsen war. Blitzartig krümmte Brad den Ellbogen und öffnete die Hand. Der günstig geformte Kolben sprang ihm förmlich von selbst in die Handfläche, während sein Daumen die Sicherung beiseite schob. Die Feder sprang zurück und gab die Pistole frei. Brad beugte sich zurück und riß die Waffe aus dem Halfter. Erst als die Mündung genau auf den Gegner zeigte, schlüpfte der Zeigefinger hinter den Bügel, und der Daumen zog die vergrößerte Sicherung zurück. Trotzdem dauerte es alles in allem nur eine Viertelsekunde, bis die Pistole dicht über dem Halfter krachte. Diese Methode war nur auf kurze Entfernung anwendbar. Beide Waffen brüllten praktisch gleichzeitig auf. Erst flog dem ›Spanner‹ der durchlöcherte Stetson vom Kopf, dann spritzte zwischen Brads Beinen der Dreck hoch. In panischer Angst spannte der Verbrecher seinen Peacemaker noch während des Rückstoßes und jagte den zweiten Schuß los. Er mußte die Weisheit des alten Sprichwortes einsehen lernen: Schnelligkeit ist gut, Genauigkeit ist besser! Brad schoß diesmal nicht aus der Hüfte, sondern er hob die Pistole mit beiden Händen in Schulterhöhe und zielte nach der Methode von Sheriff Jack Weaver. Ohne auf das Geschoß zu achten, das dicht an seinem Ohr vorbeipfiff, zielte er sorgsam und drückte ab. Der ›Spanner‹ spürte, wie ihn das Geschoß mit voller Wucht -171-
in der rechten Brustseite traf. Er wurde zurückgeschleudert, wirbelte um die eigene Achse und drückte mit letzter Kraft ab. Die alte Waffe bellte, eine Pulverwolke erhob sich, aber die Kugel wühlte nur zwische n den beiden Gegnern den Staub auf. Durch den Rückstoß wurde dem Maskierten die Waffe aus den erschlafften Fingern gerissen. Er ging in die Knie und fiel nach vorn aufs Gesicht. Langsam senkte Brad seine Pistole. Das verzweifelte Hasardspiel hatte sich gelohnt - der ›Spanner‹ hatte seine Verbrechen wirklich nur aus Freude an der Sensation begangen. Nie war er imstande gewesen, einen sportlichen Wettkampf zu gewinnen. Deshalb konnte er auch der letzten Versuchung nicht widerstehen, sich mit einem anderen in der Disziplin zu messen, in der er ein Meister war. Brad trat vor und betrachtete das Mädchen, das bleich und starr vor Schrecken am Steuer saß. »Alles ausgestanden, Gloria«, sagte er leise. Von allen Seiten her jagten die Fahrzeuge in wahnwitzigem Tempo über die Lichtung und trafen sich vor dem Jagdhaus. Brad kniete neben dem ›Spanner‹ nieder. Ein Blick auf den Rücken des Maskierten genügte. Der Schuß war tödlich gewesen. Brad drehte die Leiche herum und zog ihr das bunte Seitentuch vom Gesicht. Ein blasses, schwächliches Gesicht fast ohne Kinn kam zum Vorschein. Den Schnurrbart hatte sich der Mann abrasiert, als er merkte, daß ihn seine Schüler deshalb verspotteten. Brad drehte sich um, als er hinter sich einen erstaunten Ausruf hörte. Gloria Heveren lehnte an dem Sportwagen und starrte auf die regungslose Gestalt. »Was gibt's, Gloria?« »Ich kenne ihn, Brad!« -172-
»Wer ist es?« »Er heißt Maurice Traverson«, antwortete das Mädchen. »Seine Mutter ist...» »Die Vorsitzende der Liga gegen die Gewalt, Bezirksverband Rockabye«, ergänzte Brad. Dann deckte er mit dem bunten Halstuch das Gesicht des Toten zu. ENDE
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