Der Leichenflur von Jason Dark, erschienen am 09.12.1996, Titelbild: Koveck
Justin Oldman hatte drei Brandys...
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Der Leichenflur von Jason Dark, erschienen am 09.12.1996, Titelbild: Koveck
Justin Oldman hatte drei Brandys und sechs Bier getrunken, nicht mehr als sonst, und doch hatte er diesmal das Gefühl, ersticken zu müssen. Er lag auf dem Rücken, während er verzweifelt zu atmen versuchte. Vergeblich. wenn sich das nicht rasch änderte, würde er bald die Reise in Jenseits antreten, das war ihm klar. Seine Beine bewegten sich wie von selbst. Die Bettdecke rutschte neben ihm zu Boden, wo sie seine Hauschuhe bedeckten. Dann riß er die Arme hoch. Ließ sie wieder fallen. Seine Hände umklammerten die Ränder der Matratze. Oldman erreichte nichts damit. Es waren nur mehr Verzweiflungstaten, und er wußte plötzlich daß er es nicht schaffen konnte!
Sein Körper zuckte in die Höhe. Einmal, zweimal. Dabei drangen schreckliche Geräusche aus seinem Mund. Wie bei einem Menschen, um dessen Kehle sich Würgehände gelegt hatten. Speichel sprühte aus seinem Mund. Der Magen spielte verrückt. Das viele Bier und die Brandys kamen wieder hoch und füllten seinen Mund. Instinktiv drehte er seinen Kopf zur Seite, damit er an dem Zeug nicht noch schneller erstickte. Wieder rang er nach Luft. Ohne Erfolg. Auf dem Bett konnte sich Oldman nicht mehr halten. Da er sich sowieso schon zur Seite gebeugt hatte, kriegte er das Übergewicht und fiel zu Boden. Über die Schulter rollte er sich ab und blieb auf dem Rücken liegen. Oldman roch das Erbrochene, doch Luft kriegte er noch immer nicht. Er würde den schlimmsten Tod erleiden, den man sich vorstellen konnte. Er würde elendig ersticken! Oldman gab trotzdem nicht auf. Er versuchte es noch einmal und fragte sich selbst, woher er die Kraft dazu nahm. Es mochte wohl der Überlebenswille sein, der in jedem Menschen steckt, und auch Oldman hatte ihn mobilisiert. Er kämpfte. Für einige Sekunden trommelten seine Fäuste auf den harten Bretterboden, dann schaffte er es, sich aufzusetzen. Schwankend und mit weit geöffnetem Mund blieb er hocken. Röchelnd. Die Zunge hing ihm aus dem Mund. Dunkel war es nicht in dem Zimmer. In dieser Nacht stand der volle Mond am Himmel, und ausgerechnet gegen Oldmans Zimmerfenster schickte er seinen matten Glanz, der durch die Scheibe drang und sich wie ein Schleier auf dem Boden verteilte. Keuchend und gurgelnd stierte Oldman auf diesen hellen Fleck, der sich plötzlich bewegte. Oder war das nur eine Täuschung gewesen? In seinem Innern stieg etwas in die Höhe, mit dem Oldman nicht mehr zurechtkam. War es Rauch? Waren es Gestalten? Waren es Geister, die sich bisher versteckt gehalten hatten? Er konnte es nicht sagen. Alles war so fremd für ihn geworden, aber die Geister bewegten sich auf ihn zu. Sie zitterten und breiteten sich plötzlich im Fußboden aus, so daß sie eine Schere bildeten. In ihrem Mittelpunkt befand sich Justin Oldman! Er bewegte den Kopf. Zuerst nach rechts. Da war die Klaue, eine verfluchte Geisterhand. Dann blickte er nach links.
Dort stand die Klaue ebenfalls. Der Arm ragte bleich aus dem Boden hervor, wobei sich die Hand zu einer Klaue gekrümmt hatte. Wieder der Blick nach rechts. Dort sah Oldman dasselbe Bild. Seine Angst wuchs ins Unermeßliche, als sich die Hände um seinen Hals legten. Blitzschnell war das geschehen. Oldman hatte sich nicht mehr zurückwerfen können. Jetzt spürte er die Hände an seiner Kehle. Sie waren kalt wie das Eis in der Arktis, aber sie waren nicht zu fassen. Oldman wolle sie von seinem Hals reißen. Das war unmöglich. Er faßte hindurch. Geisterklauen können nicht angefaßt, nicht abgelenkt werden. Das war unmöglich. Oldman sah es ein. Seine Arme sanken wieder nach unten, auch aus Schwäche. Er saß noch immer auf dem Boden. Die Geisterhände gaben keine Ruhe. Pardon kannten sie nicht. Sie drückten und würgten weiter, und das Gesicht des Mannes war längst blau angelaufen. Daß er starb, merkte Justin Oldman nicht mehr. Hart schlug er auf dem Bretterboden auf. Die Geisterklauen aber zogen sich zurück, als wären sie nie zuvor dagewesen . . . *** Lisa Fox gehörte zu den Frauen, die ihren Mann schon relativ früh durch einen Unfall verloren hatten. Dem Hafenarbeiter war eine Kiste auf den Kopf gefallen und hatte ihn getötet. Das war vor neun Jahren gewesen. Lisa hatte nicht sonderlich um ihren Gatten getrauert, denn verstanden hatten sie sich nie besonders gut. Ihr war es nur darauf angekommen, einigermaßen versorgt zu sein, und da hatte sie nicht klagen können, denn ein Teil des Lohnes hatte Gerry immer abgeliefert. Was ihr an Geld fehlte, das hatte sie sich durch Putzen selbst hinzuverdient. Wichtig war für sie auch die Wohnung gewesen, und in der lebte sie schon seit ihrer Hochzeit. Nicht komfortabel, um Himmels willen, so etwas hätten die beiden nicht bezahlen können. Ihr Zuhause war eine Baracke gewesen. Einfachbauweise. Mit einem winzigen Bad. Doch Lisa wollte nicht klagen. Sie lebte ja nicht so schlecht von der Unfallrente, die man ihr jeden Monat zahlte. Zudem ging sie auch weiterhin putzen und war in der Baracke so etwas wie das Mädchen für alles. Sie nahm die Beschwerden der anderen Mieter entgegen, räumte oder wischte auch mal den Dreck weg und trank hin und wieder mit den anderen Bewohnern einen Whisky oder ein Bier.
Besonders mit Justin Oldman, dem Eisenbahner. Nicht, daß sie ihn besonders gemocht hätte, aber er war ein Typ, auf den man sich verlassen konnte. Etwas knorrig, auch machohaft, trank er gern einen Schluck und konnte auch Witze erzählen. Ein paarmal hatte er versucht, die vierzigjährige Lisa in sein Bett zu bekommen, das war ihm nicht gelungen. Lisa war ihm immer wieder ausgewichen und hatte ihn auf später vertröstet. Und doch hielten die beiden zusammen. Ohne es jemals ausgesprochen zu haben, fühlten sie sich wie verwandte Seelen, und wenn Oldman Probleme hatte, wandte er sich vertrauensvoll an Lisa. In dieser Woche - seine Schicht fing erst am Mittag an - hatte er Lisa gebeten, ihm morgens ein Frühstück zu machen und es ihm gegen zehn Uhr ins Zimmer zu bringen. Natürlich bezahlte er dafür und legte immer noch etwas Geld drauf. So war es auch an diesem Morgen. Lisa hatte zuerst selbst etwas gegessen und sich danach mit dem anderen Frühstück beschäftigt. Sie wußte, daß Oldman gern Eier aß, die sie ihm mit Speck briet. Dazu bekam er Kaffee, zwei Toastscheiben und einen Becher Joghurt als Nachtisch. Lisa stellte alles auf dem Tablett zusammen und war bereit, ihre Wohnung zu verlassen. Mit dem Ellbogen drückte sie die Klinke nach unten und stieß die Tür mit dem rechten Fuß nach außen. Dann betrat sie den Flur! Lisa Fox wohnte ganz vorn, dem Eingang beinahe gegenüber. Oldmans Wohnung war die zweitletzte auf der linken Seite. Um diese Zeit war es ruhig. Die meisten Mieter hatten das Haus verlassen, um zur Arbeit zu gehen oder sich irgendwo herumzutreiben. Wie die beiden jungen Leute, die ebenfalls hier wohnten und aussahen, als würde es ihnen nichts ausmachen, einen Menschen umzubringen. Sie hatten das Haus nicht verlassen, denn selbst durch die verschlossene Tür hörte Lisa ihr Schnarchen. Tief holte sie Luft und schaute in den Flur hinein. Und wie immer in der letzten Zeit überkam sie dabei ein seltsames Gefühl. Eine gewisse Kälte drückte sich in ihr hoch. Lisa hatte den Eindruck, am Beginn einer Gruft zu stehen. Dieses Gefühl vermittelte ihr der lange und auch zumeist leere Flur. Er war eigentlich immer düster, denn es gab keine Fenster. Wer das Haus durch den normalen Eingang betrat, der mußte erst einige Stufen hochgehen und eine Tür aufstoßen, die in der oberen Hälfte kleine Glasfenster aufwies, wobei seltsamerweise noch alle Scheiben vorhanden waren. Die Tür stand offen, das hatte Lisa schon kurz nach dem Aufstehen getan, da sie sich bei geschlossener Tür immer eingesperrt fühlte wie in einem großen Grab. Die Kälte blieb.
Leer lag der Flur vor ihr. Niemand war zu sehen. Trotzdem glaubte Lisa daran, daß er auf eine Art und Weise besetzt war, mit der sie nicht zurechtkam. Aber von wem? Sie wußte es nicht. Sie ging einzig und allein davon aus, daß dieser Flur und auch das Haus ein Geheimnis bargen. Warum hätte es sonst in der letzten Zeit drei Tote geben sollen, deren Ableben mehr als rätselhaft gewesen war? Die Polizei hatte es nicht feststellen können und keinen Mörder gefunden. Seit dieser Zeit regierte im Haus die Angst. Aber kein Mieter war ausgezogen, zu knapp waren in London bezahlbare Wohnungen. Die Leute hatten etwas anderes getan, auch wenn sie es nicht zugaben. Sie hatten sich bewaffnet. Pistolen, Schlagstöcke, Sprays, wie auch immer. Nach außen hin gab das niemand zu, aber Lisa war eine Frau, die auch zwischen den Zeilen oder Sätzen las. Sie wußte Bescheid. Überhaupt war sie das Auge des Hauses mit dem langen Flur. Heute machte er ihr Angst. Sie ärgerte sich darüber, daß das Tablett in ihren Händen zitterte. Zudem wurde ihr kalt. Sie war froh, eine Strickjacke übergezogen zu haben. Der Flur war zu einem Eiskeller geworden. Dazu herrschte eine Stille wie in einer Leichenhalle. Und versteckt in den Wänden schien der Tod zu lauern. Es war kein guter Morgen, beileibe nicht. Ob gut oder schlecht, Justin Oldman mußte sein Frühstück bekommen. So war es abgemacht, und daran wollte sich Lisa Fox auch halten. Der Fußboden war mit Steinen belegt, die aussahen wie glattes, poliertes Holz. Die Frau ging langsam. Einmal war sie schon mit dem Tablett ausgerutscht, und dabei hatte sie sich den Arm böse geprellt. Das sollte ihr nicht noch einmal widerfahren. Sie bewegte sich an den Türen vorbei. Jeden Mieter kannte sie. Die ruhigen ebenso wie die verzweifelten. Oft genug hatte es Zoff gegeben, weil sich die Menschen untereinander nicht verstanden. Die zweitletzte Tür war es. Auf der linken Seite malte sie sich ab. Vor dem Zimmer blieb die Frau stehen. Sie hörte nichts und runzelte die Stirn, weil ihr das nicht gefiel. Es war anders als sonst. Meistens hatte sie Justins Schritte gehört. Ein kurzer Ruf reichte dann aus, um ihr die Tür zu öffnen. Heute war alles ruhig. Gefährlich still. . . In ihrem Hals wurde es trocken. Zudem drängte sich der Schweiß auf die Stirn und lag auch auf der Oberlippe. Lisa wußte nicht, was sie machen sollte. Sie traute sich einfach nicht, den Namen des Mannes zu rufen. Natürlich dachte sie an die drei Verbrechen. Sollte denen noch ein viertes hinzugefügt worden sein?
Glücklicherweise gehörte Justin Oldman zu den Menschen, die ihre Bude nie abschlossen. Es war ein Tick von ihm. Er haßte verschlossene Türen. Als Jugendlicher hatte er über ein Jahr in einer Besserungsanstalt verbracht. Da waren die Türen immer abgeschlossen gewesen. Seit dieser Zeit mußte er sie offen lassen. Zudem war bei ihm nichts zu holen, wie er immer sagte, und tatsächlich war bei ihm noch nie eingebrochen worden. Lisa Fox kannte das Ritual. Sie drückte mit dem Ellbogen die Klinke nach unten, ohne das Tablett dabei abzusetzen. Die Tür ging auf, und Lisa glitt in das Zimmer. Als sie sich umschaute, geschah es. Der plötzliche Schock hatte sie zu einer Statue werden lassen. Dennoch sah sie alles so klar und überdeutlich, als würde sie durch eine besondere Optik schauen. Justin Oldman lag auf dem Boden. Ohne in seine Nähe gegangen zu sein, wußte Lisa, daß es die vierte Leiche in diesem Haus war. Die anderen hatte sie damals gesehen, wenn auch nur flüchtig. Er lag auf dem Rücken. Aber sein Kopf war so zur Seite gedreht, daß Lisa in sein Gesicht schauen konnte. Ein Gesicht, das eine andere Farbe bekommen hatte. Es war nicht mehr so blaß wie früher, sondern bläulich angelaufen und schimmerte dementsprechend dunkel. Selbst die Hände waren noch verkrampft, als hätte der Mann kurz vor seinem Tod noch nach etwas greifen wollen. Wieviel Zeit seit der Entdeckung und dem plötzlichen Zitteranfall vergangen war, wußte Lisa nicht. Jedenfalls konnte sie das Tablett nicht mehr halten. Zuerst zitterte es in ihren Händen. Dann fing es plötzlich an zu rutschen, kippte nach links weg und fiel mitsamt dem Inhalt zu Boden. Der dabei entstehende Krach löste noch eine weitere Sperre. Lisa schrie und schrie . . . *** Frühling! Endlich Frühling, der laut Kalender schon vor zwei Wochen begonnen hatte. Nur hatte das Wetter nicht mitgespielt und uns weiterhin mit winterlichen Temperaturen und auch mit Schnee und glatten Straßen bedacht. Das war vorbei. Jetzt schien die Sonne, und der Himmel war sogar aufgerissen, um dem strahlenden Ball genügend Platz zu lassen. Es war einfach herrlich, und ich hatte an diesem Morgen tief durchgeatmet, nach einer Nacht, die mir einen wunderbaren Schlaf gebracht hatte. Ich fühlte mich fit, topfit - super. Suko erging es ähnlich. Hinzu kam, daß wir im Moment keinen Fall am Hals hatten. Wir brauchten uns nicht mit irgendwelchen obskuren
Gestalten herumzuschlagen, und so überlegten wir beide auf der Fahrt zum Yard, was wir unternehmen konnten. »Büroarbeit«, sagte Suko. »Aber nur bei offenem Fenster.« »Einverstanden. Und was noch?« »Eine verlängerte Mittagspause.« »Auch nicht schlecht. Zu zweit oder zu viert?« »Wie meinst du das?« »Wir können Glenda mitnehmen, und Shao wird sich auch loseisen können.« »Wieso loseisen?« »Sie hat doch vor zwei Tagen ihren neuen Computer bekommen und ist dabei, sich einzuarbeiten. Das habe ich dir doch erzählt.« Mir blieb nur ein Abwinken. »Erwähnt hast du es, aber was bedeutet das?« »So hörst du hin.« Suko grinste. »Aber ich kenne dich ja. Du machst dir nicht viel aus den Dingern.« »Eben. Im Büro haben wir auch keinen. Das muß man den anderen überlassen. Außerdem möchte ich nicht zum Sklaven einer Festplatte werden. Wenn ich daran denke, wie viele Stunden am Computer vergammelt werden, die man besser nutzen könnte . . . Trotzdem, der Computer ist ein Segen für die Menschheit, zumindest bis zur Jahrtausendwende. Denn dann gibt es Ärger, wenn er umgestellt werden soll.« »Daran arbeitet man schon.« »Wer trägt die Kosten?« »Keine Ahnung, John. Aber ich habe gehört, daß sie in die Milliarden gehen.« »Das las ich auch.« Natürlich gab es Staus, doch die konnten unserer guten Laune nichts antun. Wir genossen die Sonne, die ihre Strahlen in den Rover schickte. »Um noch mal auf die Mittagspause zurückzukommen«, sagte Suko. »Wäre das in deinem Sinne?« »Beim Italiener an der Ecke?« »Klar.« »Einverstanden. Falls nicht noch etwas dazwischenkommt. Ich bin da verdammt vorsichtig, weißt du?« Suko deutete zum blauen Himmel. »Heute? Nein, das denke ich nicht. Was soll denn da stören?« »Eine Gewitterfront namens Sir James Powell, die ich gern vertreiben würde.« Suko konnte das Lachen nicht unterdrücken. »Das sagst du, John, aber warte mal ab.« »Du kannst mir meine Laune nicht nehmen.«
Und die hielt auch noch an, als wir durch die Halle auf den Lift zugingen, aber vom Kollegen am Empfang zurückgerufen wurden. Als wir unsere Namen hörten, da entgleisten meine Gesichtszüge, wie man so schön sagt, und auch Suko schaute ziemlich konsterniert aus der Wäsche. »Das hat nichts Gutes zu bedeuten, John.« »Finde ich auch.« »Was machen wir?« »Gute Miene zum bösen Spiel.« Wir beeilten uns nicht, denn schlechte Nachrichten kann man nie spät genug hören. Der Kollege grinste so, daß es uns nicht gefallen konnte, bevor er sagte: »Man hat bereits nach Ihnen gefragt.« »War sie wenigstens hübsch?« erkundigte ich mich. »Es war ein Mann.« »Schade.« »Ein Kollege.« »Noch mieser.« »Hat er wenigstens seinen Namen genannt?« wollte Suko wissen. »Ja. Chief Inspector Tanner.« Nach dieser Antwort wurden unsere Gesichter so blutleer wie die eines Vampirs, der lange keinen Lebenssaft mehr getrunken hatte. O je, das war nicht gut, das paßte uns überhaupt nicht, denn immer dann, wenn Tanner auftauchte, gab es Ärger. Dann brannte die Luft. Dann war er mit seinem Latein am Ende. »Keine guten Nachrichten, die Herren?« »Nein«, sagte ich. »Wartet er oben?« »Ja, bei Sir James.« »Danke.« »Gehen wir zur Tür oder zum Lift?« fragte Suko. »Am liebsten zur Tür, aber die verdammte Pflicht klopft in meiner Brust.« »Wie poetisch.« »Klar, wir haben ja auch Frühling.« Wir stiegen in den Lift, wo Suko meinte: »Ich denke mal, daß wir die Pause am Mittag vergessen können.« Ich schüttelte den Kopf. »Mußt du mich jetzt daran erinnern?« »Ja. Damit du nicht enttäuscht bist.« Die Enttäuschung verschwand, als wir das Vorzimmer betraten, wo Glenda uns mit einem strahlenden Lächeln begrüßte. Auf ihrem Schreibtisch stand ein Strauß bunter Frühlingsblumen. Überhaupt war das Zimmer von den Strahlen der Sonne durchflutet. »Einen herrlichen, wunderschönen, guten Morgen!« begrüßte sie uns. Wir bekamen jeder einen Kuß auf die Wange, was bestimmt nicht zu jedem Dienstbeginn geschah. »He, he, was ist los?« »Frühling, John!« rief sie.
»Und ich dachte schon, es wären deine Hormone.« Glenda schüttelte den Kopf. »So etwas kann auch nur von dir kommen. Anstatt dich zu freuen, muffelst du hier rum. Der Winter ist vorbei. Das haben sie auch im Radio gesagt.« »Ja, man sieht es an dir.« Sie lächelte breit. »Gefällt dir mein neues Outfit?« »Ja, doch. Der gelbe Rock steht dir gut, und die weiße Bluse duftet wie in der Waschmittelreklame.« »Tolles Kompliment, wirklich.« Sie schüttelte den Kopf und fragte Suko: »Was für einen Ärger hat er denn?« »Es gab unten in der Halle leichte Probleme.« »Wieso?« »Eigentlich hatten wir heute mittag mit dir und Shao zum Italiener gehen wollen, aber wie wir hörten, ist bereits nach uns gefragt worden. Tanner soll hier sein.« »Der alte Brummbär?« Glenda schüttelte den Kopf. »Ehrlich, das ist mir neu.« Diesmal wunderte ich mich auch. »Hat er dich nicht besucht oder sich bei dir angemeldet?« »Nein. Wenn er tatsächlich da ist, muß er direkt zu Sir James gegangen sein. Vielleicht haben die schon vor Dienstbeginn miteinander telefoniert. Kann ja sein.« »Das denke ich auch.« »Aber wir werden noch nicht hingehen«, sagte Suko. »Langsam angehen lassen und eine gute Tasse Frühlings-Kaffee trinken.« »Dein zweitbester Vorschlag seit Mitternacht«, lobte ich ihn. »Und was war der beste?« »Das Essen zu Mittag.« »Vielleicht klappt es ja noch.« Ich stieß die Tür zu unserem Büro auf und sprach in den leeren Raum hinein. »Manche Menschen sind eben unverbesserliche Optimisten.« Meine Laune hatte sich um einige Grade gesteigert, denn die Sonne schien auch durch das Bürofenster. Nach dem langen, grauen Winter sah unsere Bude aus, als wäre sie ein fremder Raum. Der alte Mief war weg, und er hatte die schlechte Laune gleich mitgenommen. Seltsam, was die Sonne mit ein paar Strahlen doch ausrichten kann. Suko betrat mit den gefüllten Tassen das Büro. Er bekam große Augen. »Donnerwetter, das läßt sich sehen.« »Meine ich auch.« Mein Freund stellte die Tassen ab. Ich zog meine näher heran und probierte den ersten Schluck. Auch er schmeckte nach Frühling. Zumindest bildete ich mir das ein. Auf meinem Gesicht spiegelte sich dieser Ausdruck nicht wider. Das sah eher nachdenklich aus. Suko zog auch
die richtigen Schlüsse. »Jetzt denkst du darüber nach, was Freund Tanner wohl von uns beiden will?« »Exakt.« »Ich sehe das positiv«, sagte er ganz locker. »Kannst du das näher erklären?« »Ja.« Auch er trank, nickte zufrieden und dachte wahrscheinlich darüber nach, wie Glenda es geschafft hatte, aus einem Tee- einen Kaffeetrinker zu machen. Das hätte selbst Shao nicht geschafft, wenn sie in Hochform gewesen wäre. »Ich warte noch immer auf deine Antwort.« »Ja, sofort. Nur keine Eile. Ich stelle mir vor, daß Tanner vielleicht schon weg ist.« »Wie schön. Und warum sollte er verschwunden sein?« Die Tasse hielt ich in der Hand und schaute Suko über den Rand hinweg an. »Es kann doch ein privater Besuch gewesen sein. Oder nicht?« Ich konnte nicht anders und mußte einfach die Augen verdrehen. »Ein privater Besuch? Um Himmels willen! Wie kommst du denn darauf? Darüber kann ich nicht mal lachen. Das glaubst du doch selbst nicht. Nein, wie käme er denn dazu?« »Im Leben ist alles möglich.« »Aber nicht bei Tanner.« Ich räusperte mich. »Okay, ich will nicht kritisieren. Kann ja alles sein, Suko, aber dann möchte ich die Sache relativieren. Erinnere dich daran, als Tanner uns ebenfalls privat besucht hat. Nur brauchte er da Hilfe, denn es ging um seine Nichte Vera, die in die Fänge dieser Sekte geraten war. So und nicht anders sehen die privaten Besuche des verehrten Chief Inspectors ab. Das ist meine Meinung, und davon gehe ich auch nicht ab. Es wird Probleme geben, davon bin ich überzeugt.« »Mal sehen, wer recht behält.« Ich konnte das Lachen nicht zurückhalten. »Jetzt sprichst du wider deine Überzeugung.« Suko hob nur die Schultern, um einen Moment später nach rechts zu schauen, weil Glenda die Bürotür geöffnet hatte, aber nicht eintrat, sondern gestützt auf die Klinke, gebückt hineinschaute und uns beiden zunickte. »Ist es soweit?« fragte Suko. Die Frage hörte sich an, als hätte er sie einer Sprechstundenhilfe im Wartezimmer gestellt. »Ja, ihr sollt kommen.« »Hast du etwas von der Stimmung heraushören können?« »Neutral.« »Wenigstens etwas«, meinte Suko. Ich war schon aufgestanden, und Suko folgte meinem Beispiel. »Tja«, sagte er. »Dann wollen wir mal.« »Viel Spaß«, wünschte Glenda uns. Über diesen Wunsch konnte ich nicht mal grinsen.
*** Direkt nach dem Eintreten und nach der Begrüßung konzentrierte zumindest ich mich auf das Gesicht des Chief Inspectors, um herauszufinden, in welcher Stimmung er sich befand. Es war schwer, denn er wirkte zerknittert wie immer und trug auch seinen Hut, den er fast in den Nacken geschoben hatte. Da es im Raum leicht nach dem Rauch seiner Zigarillos roch, mußte er gerade eine geschmaucht haben, was bei Tanner selten vorkam, denn oft genug lutschte er nur daran. Zwischendurch ließ er ihn gekonnt von einem Mundwinkel in den anderen wandern. Wir reichten uns die Hände und nahmen auf den freien Stühlen unsere Plätze ein. »Ist das nicht ein herrliches Wetter«, sagte ich, um die Atmosphäre ein wenig aufzulockern, aber dafür hatten weder Sir James noch sein Besucher einen Draht. »Das Wetter mag schön sein«, sagte der Superintendent, »aber die Probleme sind geblieben. Die richten sich leider nicht nach den Jahreszeiten.« »Probleme, die dich betreffen, Tanner.« »Ja, sonst wäre ich nicht hier.« »Also doch kein privater Besuch«, murmelte Suko. Tanner, der nicht verstanden hatte, fragte: »Was ist los?« »Nichts, vergiß es.« Suko winkte ab. »Sag uns lieber, was du für einen Ärger hast.« Tanner fiel direkt mit der Tür ins Haus. »Es geht um vier Leichen, deren Tod verdammt rätselhaft gewesen ist. Jedenfalls wissen wir uns keinen Rat mehr. Leider.« »Wer ist wir?« fragte Suko. »Meine Kollegen und ich von der Mordkommission. Wir wissen nicht, wer die Menschen getötet haben könnte. Wir wissen nur, daß sie erstickt sind.« »Kannst du das näher erläutern?« mischte ich mich ein. Tanner nickte. »Deshalb bin ich ja hier. Es ist alles unglaublich, aber schon so abgefahren, daß es wieder der Wahrheit entsprechen kann. Die vier Toten, es waren Männer, sind alle im selben Zimmer umgekommen.« Tanner ließ uns Zeit für eine Frage, und Suko stellte sie auch. »Wo ist das geschehen? In welchem Haus?« »Die Frage war schon gut«, gab der Chief Inspector zu. »Es ist ein Wohnhaus. Nur möchte ich es nicht als normal bezeichnen.« »Warum nicht?«
»Ganz einfach, Suko, es ist eine Baracke. Mit kleinen Wohnungen für Leute mit kleinem Geldbeutel. Kein Luxus, aber mit Dusche.« Er klopfte mit der Spitze des Zeigefingers auf sein linkes Knie. »In diesem Haus sind die vier Menschen getötet worden.« »Tatsächlich immer in derselben Wohnung?« hakte ich nach. »Ja.« »Wer wohnt jetzt darin?« »Niemand, John. Sie steht leer.« Ich hob die Augenbrauen, weil ich schon etwas ahnte, aber ich hielt mich mit einer Frage zurück. Dafür sprach Tanner. Seine Stimme klang knarrend. »Den letzten Toten haben wir dort vor zwei Tagen gefunden. Der Mann hieß Justin Oldman.« »Wieder erstickt?« »Ja.« »Woran?« »Frag mich was Leichteres. Ich weiß es nicht. Die Experten wissen es nicht. Erstickt und erwürgt. - Wir stehen vor vier Rätseln.« »Wird das Haus nur von Männern bewohnt?« erkundigte sich Suko. »Nein.« Tanner mußte grinsen. »Es ist kein Bullenkloster, wie man im Volksmund sagt.« »Wie viele Frauen wohnen denn dort« »Zwei. Eine davon ist die Hausmeisterin. Sie heißt Lisa Fox und lebt in der ersten Wohnung. Diese Frau weiß eigentlich alles. Sie ist eine sprechende Zeitung.« »Aber sie weiß nicht, wie die Männer umgekommen sind.« Tanner hob die Schultern. »Das ist genau unser Problem. Sie ist ahnungslos. Allerdings hat sie den letzten Toten gefunden. Sie hatte dem Mann das Frühstück bringen wollen.« »Toller Service«, kommentierte ich. Tanner winkte ab. »So kannst du das nicht sehen, John. Das war so abgemacht, und er hat immer bezahlt. Aber das bringt uns nicht weiter. Nach wie vor wissen wir nicht, wie die yier Mieter ums Leben gekommen sind. Wir müssen also vier Morde aufklären.« Auf meinem Stuhl beugte ich mich vor. »Ihr, Tanner?« »Indirekt.« »Der Schwarze Peter liegt doch jetzt bei uns, denke ich mir. Du bist nicht aus Spaß zu uns gekommen.« »Stimmt, John. Ich möchte, daß ihr mal wieder die Kastanien aus dem Feuer holt.« Das war klar. »Wie hast du dir das denn vorgestellt?« erkundigte ich mich. In Wirklichkeit ahnte ich schon, was da über die Bühne laufen sollte.
»Eben auf eine unkonventionelle Art und Weise. Wie das bei euch so der Fall ist.« »Da bleibt uns nur der Einzug«, sagte Suko. Tanner strahlte plötzlich. »Richtig und falsch zugleich. Die Wohnung muß wieder belegt werden. Natürlich stehen die Mieter Schlange, aber das Haus wird durch ein Wohnungsamt verwaltet, und wir haben dafür gesorgt, daß dieses Zimmer zunächst nicht vergeben wird. Wir wollen abwarten, denn ich könnte mir schon jemanden denken.« Der Kollege von der Mordkommission hob den Daumen. »Aber nur einer von euch kann in die Bude einziehen, deshalb ist es falsch, wenn du uns sagst, Suko.« »Warum denn?« Tanner schüttelte unwillig den Kopf. »Das ist alles zu klein. Es gibt nur einen Raum, mehr nicht. Nebenan befindet sich noch die winzige Naßzelle, und damit hat es sich.« Ich stellte eine Frage. »Sind alle Wohnungen nur von einer Person belegt?« »Im Prinzip schon.« »Was heißt das?« »Man kann natürlich nie ausschließen, daß der eine oder andere jemanden mitbringt und ihn mal für ein paar Tage oder Wochen dort wohnen läßt. Im Prinzip aber gelten die Buden nur für eine Person. Da Sir James schon zugestimmt hat, müßt ihr euch einig werden. Ihr könnt auch losen.« Tanner hatte unseren Chef angesprochen, und der nickte zweimal. Er war einverstanden. Suko und ich mußten grinsen. Er oder ich. In diesen Dingen waren wir beide nicht gerade kompromißbereit, und so mußte das Los entscheiden, damit sich niemand übergangen fühlte. Das spürte auch Tanner, denn er griff in die schmale Seitentasche seiner grauen Weste und holte eine Münze hervor. »Losen?« fragte Sir James, dem das wohl nicht recht war. »Ja, Sir, nur das ist gerecht.« »Ich werde trotzdem zwei einsetzen, Mr. Tanner. Schließlich geht es um vier Morde. Daher denke ich, daß einer der beiden im Hintergrund agiert, während der andere einzieht.« »Das ist eine gute Lösung«, gab Tanner zu. »Aber wer zieht ein?« Sir James senkte den Blick. »Ich bin überstimmt. Also lassen Sie das Los entscheiden.« Freund Tanner versteckte seine Hände hinter dem Rücken. Er grinste dabei, den so etwas machte ihm Spaß. »Wer von euch beiden rät, in welcher Hand ich die Münze habe, kann einziehen. Einverstanden?« Wir nickten.
An den Bewegungen seiner Arme sahen wir, daß Tanner einige Male die Münze von Hand zu Hand wechselte. Dann streckte er die Arme wieder nach vorn, und jetzt waren die Hände zu Fäusten geschlossen. »So«, sagte er und lächelte, »dann macht mal.« »Du zuerst, John.« »Nein, Suko, du.« »Ich will nicht.« Bevor wir uns stritten, griff unser Chef ein. »Sie, Suko, werden beginnen.« »All right, mache ich doch gern.« Seinem Gesicht war anzusehen, daß es ihm nicht gefiel, aber er tat Sir James den Gefallen und sagte dann: »Links!« Tanner öffnete die Faust langsam. Dabei beugten wir uns vor, und einer machte ein enttäuschtes Gesicht. Es war Suko. »Verloren!« stellte der Kollege fest. »John hat das Vergnügen, in die Bude einzuziehen. Ob es das allerdings sein wird, wage ich zu bezweifeln. Na ja, wir werden ja sehen.« Ich lehnte mich zurück. »Okay, ich werde den Koffer packen. Als was ziehe ich denn ein?« Tanner winkte ab. »Sicherlich nicht in deiner Eigenschaft als Polizist, John. Du bist ein normaler Mieter. Ein Arbeiter, der im Moment Urlaub hat, weil er eine Wohnung sucht.« »Die wo liegt?« »Nicht weit vom Hafen entfernt. Die Gegend ist nicht eben die beste, wie du dir vorstellen kannst.« »Das hatte ich mir schon gedacht.« »Mit der Hausverwaltung haben wir uns in Verbindung gesetzt. Da die Leute ebenfalls daran interessiert sind, daß die Fälle aufgeklärt werden, wird man den Mund halten.« »Das ist natürlich zu hoffen oder vorauszusetzen.« Ich reckte mich. »Dann werde ich also Mieter eines EinZimmer-Apartments. In einer Baracke. Das habe ich mir schon länger gewünscht.« »Und was ist meine Funktion?« wollte Suko wissen. »Sie, Sir, sagten, daß Sie zwei Leute einsetzen wollen.« »Stimmt. Ich denke mir, daß Sie im Hintergrund bleiben und dabei eine Rückendeckung für John bilden.« »Wie haben Sie sich das vorgestellt?« »Überhaupt nicht. Das sollte eigentlich die Situation ergeben, finde ich.« Ich klopfte auf meinen rechten Oberschenkel. »Auch dort wird die Sonne scheinen, und bei schönem Wetter ist der Einzug sicherlich besser. Wann soll ich hin?« »So schnell wie möglich.« »Und wie sieht es mit den Möbeln aus.«
Tanner winkte ab. »Dafür ist gesorgt. Das Zimmer wird möbliert vermietet. Du brauchst nur einen Koffer mit deinen persönlichen Sachen mitzunehmen. Für frische Bettwäsche hat Lisa Fox gesorgt. Die Bude ist auch schon geputzt worden. Daß darin gestorben wurde, wird dich ja kaum stören, alter Geisterjäger.« »Welchen Geist soll ich denn jagen?« »Den würgenden, John.« »Und einen unsichtbaren?« »Kann auch sein.« »Habt ihr euch denn keine Gedanken gemacht, wer der Täter sein könnte?« wollte Suko wissen. »Genug, aber es gibt keine Spuren«, erwiderte Sir James. Seine Stimme klang leicht wütend. »Nichts. Wir stehen vor einem Rätsel. Sonst säße ich ja nicht hier.« »Ist mit dieser Baracke denn alles in Ordnung?« »Wie meinst du das?« »Nun ja, Tanner. Gibt es da einen Hintergrund?« »Keine Ahnung. Wirklich nicht. Das Haus ist schon okay, die Mieter auch. Irgendwelchen Ärger, der an die große Glocke gehängt wurde, hat es vor den Morden nicht gegeben. Es wohnen schon einige schräge Typen dort, aber wo hat man das nicht? In keinem Mietshaus ist alles Gold, was glänzt. Und in den hohen Wohnsilos schon gar nicht.« Da hatte er recht, denn davon konnten wir ein Lied singen. Wir waren also bereit, den Fall zu übernehmen. Als wir uns von Tanner verabschiedeten, sahen wir ihn erleichtert. Er sagte nichts, aber wir kannten ihn gut genug, um seinen Gesichtsausdruck deuten zu können. »Ihr schafft es«, sagte er. Auch Sir James zeigte sich zuversichtlich. Nur mir war nicht wohl. Irgendwo blieb schon ein bedrückendes Gefühl zurück, und die herrliche Sonne am Himmel kam mir plötzlich nicht mehr so hell und strahlend vor. Der Alltag hatte mich wieder . . . *** Den Schlüssel zum Zimmer hatte ich von Lisa Fox bekommen, das war vorerst auch alles, denn sie war sofort wieder verschwunden, da sie eine anderweitige Beschäftigung gefunden hatte, die sie noch in Anspruch nahm. Ich wußte nur, daß es das zweitletzte Zimmer auf der linken Seite war, in dem ich nun stand. Die Tür hatte ich hinter mir geschlossen. Der Koffer und die Reisetasche waren abgestellt worden, so daß sie mich bei meiner Wanderung durch den Raum nicht behinderten.
Nein, Ehre konnte man damit nicht einlegen. Das war keine Wohnung, das war eine Bude. Spartanisch eingerichtet und eng wie beim Militär. Immerhin brauchte ich mir die Bude nicht mit anderen zu teilen. Diese Möbel hatten schon etliche Jahre auf dem Buckel und hätten sich sonst nur noch für den Trödelmarkt geeignet. Ein alter Schrank, in dem ich meine Kleidung unterbringen konnte, drei Haken an der Innenseite der Tür, ein Bett aus Metall, allerdings frisch bezogen; der Tisch wackelte, die zwei Stühle waren ebenfalls altersschwach, und die Lampe an der Decke war früher einmal vom Material her hell gewesen, zeigte aber jetzt den berühmten Grauschleier aus Staub und Fliegendreck. Eine Spüle gab es auch. Sie war unter dem Fenster angebracht, ebenso wie die Kochplatte. Zum Glück elektrisch und nicht durch Gas betrieben. In einem Regal an der Wand entdeckte ich noch Tassen, Becher und Teller, die mein Vormieter zurückgelassen hatte. Auch nach dem Spülen wollte ich nicht daraus trinken, da mußte ich mir schon etwas anderes einfallen lassen. Die schmale Tür hätte ich beim ersten Hinschauen beinahe übersehen, so klein war sie. Dort mußte es zum Bad gehen, was natürlich übertrieben war, denn als ich sie öffnete, da mußte ich wirklich lachen. Das war wirklich nicht mehr als eine Naßzelle. Stand man in der Mitte, waren alle Wände in Reichweite. Es roch nach alter Seife, und in der schmalen Duschtasche entdeckte ich noch grau gewordene Schaumreste. Appetitlich war das nicht. Ich schloß die Tür rasch wieder und dachte daran, daß es vielleich besser gewesen wäre, wenn Suko »gewonnen« hätte. Ich drehte mich wieder in das Zimmer hinein und schaute aus dem Fenster. Die Aussicht konnte einen traurigen Menschen auch nicht froher machen. Vom Sonnenschein bekam ich nicht viel mit. Zudem hatte sich der Himmel zugezogen. Der Frühlingsgruß war nur von kurzer Dauer gewesen. Mir gefiel der Geruch im Zimmer nicht. Es roch nicht nach Leiche oder nach Verwesung, nein, hier mußte einfach mal gelüftet werden, und die Kreidestriche auf dem Boden, wo man den Fundort der Leiche eingezeichnet hatte, waren auch noch nicht ganz verschwunden. Sie blieben als Erinnerung. Ich wollte sie auch nicht wegputzen.Das Fenster kippte ich. Die Bude hier konnte einem Menschen schon die Stimmung rauben, aber ich war hier, um zu ermitteln, und das war nun mal mein Job. Ich drehte dem Fenster den Rücken zu und schaute in die Mitte des Zimmers hinein. In eine Leere. Auf einem Fußboden, der nur aus Holzbohlen bestand, über die niemand einen Teppich gelegt hatte. Und die Holzbohlen gehörten nicht mal zu den saubersten.
Ich sah überall Staub, auch auf den Regalen überall. Aber das nahm ich nur am Rande wahr, denn ich fragte mich, wie es der Killer geschafft hatte, in diesem Zimmer viermal zuzuschlagen. Er mußte aus dem Nichts erschienen sein, um zu morden. Jeder fremde Raum hat irgend etwas an sich, doch hier suchte ich vergebens danach. Er war nur einfach mies. Nur konnte ich mich darum nicht kümmern. Ich nahm den kleinen Koffer und die Reisetasche wieder hoch und stellte die Gepäckstücke aufs Bett. Danach probierte ich den Stuhl aus, der mein Gewicht aushielt. Aus der Innentasche zog ich mein Handy hervor und wählte die Nummer unseres Büros. Suko hob sofort ab, denn er hatte auf diesen Anruf gelauert. »Ah, der neue Mieter«, sagte er. »Wie ist denn so die Lage in deiner neuen Traumwohnung?« »Mehr ein Alptraum.« »Toll, dann habe ich wohl doch nicht verloren.« »Ja, hast du.« »Und weiter?« »Nichts, gar nichts. Ich habe noch keinen meiner Mitbewohner kennengelernt, abgesehen von dieser Lisa Fox, die allerdings ist schnell wieder verschwunden. Sie hatte zu tun. Also werde ich erst einmal abwarten.« »Das klang alles nicht optimistisch.« »So fühle ich mich auch nicht.« »Und es bleibt bei unserem Plan?« »Klar, Besuch kann man hier ja immer empfangen. Du kommst heute abend vorbei.« »Werde ich machen. Bis dann.« »Ja, grüß die anderen.« »Werde ich machen.« Lachend beendete mein Freund das Gespräch, der es wirklich besser hatte. Ich steckte mein Handy wieder weg und dachte daran, mich um diese Lisa Fox zu kümmern, als es gegen die Tür klopfte. Auf meinen kurzen Zuruf hin wurde die Tür etwas scheu aufgedrückt, dann schob sich eine Frau in das Zimmer. Eben Lisa Fox. Ich war aufgestanden, was sie mit einem Lächeln quittierte, denn so etwas kannte sie wohl nicht. »Aber bleiben Sie doch sitzen, Mr. Sinclair. Ich bin es nur.« »Bitte, nehmen Sie Platz.« Ich deutete auf einen freien Stuhl, und sie setzte sich. »Schön«, sagte sie. »Wieso?« »Daß die Wohnung wieder belegt ist.« »Aha, so meinen Sie das.«
»Ja, so. Ist doch nicht gut, wenn in der heutigen Zeit Wohnungen leerstehen, wo doch so viele Menschen eine Bleibe suchen.« Sie schaute mich an, überlegte und sprach dann weiter. »Wissen Sie was, Mr. Sinclair? Soll ich Ihnen ehrlich was sagen?« »Gern.« Ihr Gesicht lief etwas rot an, aber sie hielt mit der Antwort nicht hinter dem Berg. »Irgendwie passen Sie nicht in diese Wohnung und in diese Umgebung hinein.« Ich strich über mein Haar. »Nein, warum nicht?« »Weiß ich auch nicht genau. Ich verlasse mich auf mein Gefühl. Sie sind ein anderer Typ als die übrigen Mieter, die Sie ja noch kennenlernen werden. Dann können Sie mit eigenen Augen sehen, was ich gemeint habe.« Ich hob die Schultern. »Das nehme ich mal so hin, Mrs. Fox . . .« »Ach, sagen Sie Lisa, wie jeder hier.« »Gut, Lisa. - Ich habe Pech gehabt, bin krank gewesen, habe meinen Job verloren und fange in den nächsten Tagen bei einer Firma an, die Container baut. Sie befindet sich ganz in der Nähe, und deshalb bin ich froh, hier eine Wohnung gefunden zu haben. Zur Arbeit kann ich zu Fuß gehen.« »Gut, John. Darf ich hier rauchen?« »Bitte.« Lisa Fox wußte, wo der Aschenbecher stand. Sie holte das Metallgefäß vom Regal, und ich hatte die Gelegenheit, sie mir genauer anzuschauen. Vom Alter her war sie schwer einzuschätzen. Um die Vierzig würde ich sagen. Das Haar war gefärbt. Zwischen dem unnatürlichen Blond schimmerten ebenso unnatürliche rote Strähnen, die einen leichten Stich ins Violette bekommen hatten. Das Gesicht war ein wenig breit. Die Augenbrauen und die Augen selbst zu stark geschminkt. Der breite Mund zeigte eine rote Farbe, und die Haut wirkte alt. Den Rauch ließ sie durch die Nasenlöcher ausströmen. Sie schaute ihm nach, wie er sich wolkig auf der Tischplatte verteilte. Sie trug einen schwarzen Pullover und eine ebenfalls dunkle Hose. Beide Kleidungsstücke waren gut gefüllt, denn schlank war Lisa nicht gerade. Um ihren Hals hatte sie eine billige Kette aus Glasperlen gehängt, die bis zu den großen Brüsten reichte. »Sie sprechen so wenig«, stellte sie fest. Ich hob die Schultern. »Was soll ich sagen?« Lisa zog den Mund noch breiter. »Oder macht Sie diese Bude hier traurig?« »Sollte sie das denn?« »Klar. Oder wissen Sie nicht, was hier geschehen ist?« Ihre Stimme wurde flüsternd. »Oder hat man vergessen, Ihnen das zu sagen?«
»Nein, das nicht, Lisa. Ich weiß schon, daß hier Menschen ums Leben gekommen sind.« Sie mußte lachen und husten zugleich, weil sie sich am Rauch verschluckt hatte. »Gut gesagt, John, ehrlich. Aber ich würde es anders ausdrücken, wenn Sie mich fragen.« »Wie denn?« »Hier wurden vier Männer gekillt. Umgebracht. Brutal erstickt, und keiner von den Bullen hat den Killer fangen können. Man könnte meinen, daß es ihn gar nicht gibt, jedenfalls nicht als Mensch. Der Killer kann auch ein Geist sein.« Ich gab mich natürlich skeptisch. »Glauben Sie denn an Geister, Lisa? Ich nicht.« Sie ging auf die Frage nicht ein. »Aber Sie wissen schon, was hier abgelaufen ist.« »Ja, das weiß ich.« »Trotzdem wohnen Sie hier?« Ich legte den Kopf schief. »Erstens kann ich mir keine bessere Wohnung leisten, und zweitens bin ich nicht abergläubisch.« »Das waren Ihre Vorgänger auch nicht.« »Kann ich mir denken.« Sie drückte die Zigarette aus und schaute sich selbst dabei zu. Aber sie sprach weiter. »Wie dem auch sei, ich wollte es Ihnen nur gesagt haben. Ich bin in diesem Haus die Hausmeisterin. Wenn Sie irgendwelche Beschwerden haben, wenden Sie sich vertrauensvoll an mich, denn ich habe den Draht zur Verwaltung. Und noch etwas. Ihrem Vormieter habe ich immer das Frühstück gebracht. Ich weiß nicht, ob Sie das auch wollen . . .« »Danke, das ist sehr nett, aber ich muß morgens schon sehr früh raus.« »Das ist natürlich schlecht. Aber die Schlüssel haben Sie?« »Nein, noch nicht.« »Unsinn.« Sie schlug sich gegen die Stirn. »Wie konnte ich das nur vergessen? Nun ja, man wird alt.« Aus der Hosentasche holte sie einen flachen Schlüssel hervor. »Der ist für die Haustür. Der für die Wohnung steckt ja innen.« Sie legte den Gegenstand auf den Tisch und schaute sich im Zimmer um. »Ist schon komisch, sich wieder an einen neuen Mieter gewöhnen zu müssen. Hoffentlich hört das bald auf. Meine Nerven sind auch nicht mehr die besten.« »Das kann ich mir denken«, unterstützte ich sie, um sofort eine Frage zu stellen. »Und diese Taten sind wirklich alle in diesem Zimmer hier passiert, Lisa?« »Ja, vier Morde.« »Das ist ein Hammer!« »Da sagen Sie was. Die Bullen haben nichts herausgefunden. ES gibt allerdings keine Spuren, und allmählich fange ich an, an einen Geist zu
glauben.« Sie schüttelte sich, als hätte man sie mit kaltem Wasser bespritzt. »Was soll das denn für ein Geist gewesen sein?« »Keine Ahnung.« Zwischen uns entstand eine Pause. Ich unterbrach die Stille nach einigen Sekunden. »Mal ehrlich, Lisa, rechnen Sie damit, daß es auch mich erwischt?« Die Frage hatte sie wohl überrascht, denn sie schaute zur Seite und hob die Schultern. Die Hände lagen dabei aufeinander, und sie spielte mit den Fingern. »Wollen Sie wirklich meine ehrliche Meinung hören, John? Wollen Sie das?« »Ja.« Sie räusperte sich. »Ich befürchte auch für Sie das Schlimmste.« Sie schaute mich nicht an, sondern zur Seite. »Ja, davon können Sie ausgehen. Warum sollte dieser unheimliche Killer bei Ihnen eine Ausnahme machen? Ich habe mich schon nach dem zweiten Mord dafür stark gemacht, daß dieses Zimmer hier nicht mehr vermietet wird, aber die Angestellten der Hausverwaltung haben sich um meine Einwände nicht gekümmert. Jetzt könnten Sie das fünfte Opfer werden. Schön sind diese Aussichten wirklich nicht, John.« »Da haben Sie recht. Wer stirbt schon gern?« Lisa hob den Blick. »Sie wollen immer noch bleiben?« »Das hatte ich vor.« »Dann kann ich Ihnen nur alles Gute wünschen. Und hoffen. Sie darauf, daß Ihr Schutzengel die Augen nicht verschließt.« »Danke, das ist nett.« Als Lisa aufstand, erhob auch ich mich. Noch einmal blickte sie sich im Zimmer um wie eine Fremde. Ich sah, daß sie dabei eine Gänsehaut bekam, aber sie keltrte auch sehr schnell wieder in die Wirklichkeit zurück und bot mir an, mich bei irgendwelchen Fra- . gen vertrauensvoll an sie zu wenden. »Danke, Lisa, daß Sie das gesagt haben. Ich hätte da schon noch eine Frage.« »Bitte.« »Ich lebe ja nicht allein in diesem Haus. Was ist mit den anderen Mietern auf dem Flur?« »Alle Wohnungen sind belegt.« »Das hörte ich. Aber von wem? Ich will keinen Klatsch erfahren, sondern nur wissen, mit wem ich es zu tun habe.« Lisa überlegte. »Wissen Sie, John, hier wohnen keine Millionäre, aber alle können die Miete bezahlen. Wenn nicht, wären sie ja längst rausgeflogen. Es gibt hin und wieder Ärger, aber der hält sich in Grenzen. Vielleicht werden Sie sich mal von den beiden Typen schräg
gegenüber gestört fühlen. Einer von ihnen nennt sich Raver, und er hört oft bis tief in die Nacht seine Techno-Musik.« »Von den beiden, sagten Sie?« »Rayer wohnt zusammen mit Steve Cochran. Ein ziemlich finsterer Bursche, der schon einigen Ärger mit den Bullen hatte. Er lebt auch nicht offiziell dort. Ich sage es Ihnen gleich, bevor Sie es von den anderen erfahren. Außerdem ist Cochran viel weg.« »Und die anderen?« »Eine Amateurnutte haben wir hier auch noch. Sie wohnt zwei Türen neben Ihnen. Das ist Ginny Day.« »Bringt sie Freier mit?« »Nur sehr selten, meistens treiben sie es im Auto oder in einer billigen Absteige.« »Wer lebt noch hier?« Lisa Fox zählte einige Namen auf und fügte stets eine kurze Biographie hinzu. Die meisten Mieter gingen zur Arbeit, sogar der Techno-Freak tat irgend etwas, zumindest wenn er nicht gerade blau machte, aber sonst konnte oder wollte sie nichts Negatives über die Bewohner berichten. »Ich muß auch gehen«, sagte sie dann und packte ihre Zigaretten ein, die noch auf dem Tisch lagen. »Den Killer haben Sie vergessen«, sagte ich. Lisa hatte die Tür bereits aufgezogen, verließ den Raum aber noch nicht, sondern blieb wartend stehen. Sie machte den Eindruck einer Frau, die noch über etwas nachdenken wollte, und schließlich hatte sie sich zu einer Bemerkung entschlossen. »Sie können sagen, was Sie wollen, John, und wir kennen uns auch noch nicht lange, aber ich habe trotzdem bereits den Eindruck gewonnen, daß Sie hier in dieser Umgebung ein Fremdkörper sind.« Ich gab mich erstaunt. »Himmel, Lisa, wie kommen Sie denn darauf?« Kantig lächelte sie mir zu. »Feeling«, erklärte sie. »Ich habe so meine Erfahrungen mit Menschen sammeln können. In dieser Bude kann wirklich ein Seelenklempner mal die Praxis erleben. Aus Ihnen werde ich wirklich nicht schlau. Tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen.« »Macht ja nichts«, erwiderte ich. »Aber trotz allem bin ich froh, ein Zimmer bekommen zu haben.« Sie nickte mir zu. »Gut, dann sehen wir uns.« »Ja, gern. Und danke für die Aufklärung.« Ich hatte meine Worte gegen die Tür gesprochen, denn sie war bereits von außen zugezogen worden. Eine Weile starrte ich noch gegen die abgeblätterte Farbe und hing meinen Gedanken nach. Lisa Fox war zwar keine studierte Psychologin, aber sie verfügte über Menschenkenntnis und hatte Erfahrungen sammeln können. Bei diesen Mietern wirklich nicht zu knapp. Irgendwie schaffte sie es auch, mit allen Mietern zurechtzukommen. Auch das war nicht normal.
Ich hatte ja vorgehabt, mein Gepäck zu verteilen. Das schob ich zunächst auf, weil ich mich im Haus umschauen wollte. Da war nicht viel zu sehen, es gab auch keinen Keller, aber dieser Flur draußen war schon etwas Besonderes. Auf dem normalen Weg verließ ich den Raum, war dabei aber sehr vorsichtig und lugte in den Flur hinein, ob sich dort auch niemand herumtrieb, der mich bemerkte. Es war nicht der Fall. Leer lag der Flur vor mir. Hinter mir schloß ich die Tür leise und ging einige Schritte in den Flur hinein. Dort baute ich mich so auf, daß ich in Richtung Haustür sehen konnte, wobei mir der Flur vorkam wie ein langer, nur mäßig erhellter Tunnel. Das Licht hier brannte Tag und Nacht, weil es keine Fenster gab. Die Wohnungen mochten zwar alle gleich sein, aber dieser Flur war schon etwas Besonderes, nicht allein wegen seiner ungewöhnlichen Breite. Zur Wohnung der Lisa Fox hin sah ich eine Treppe, die aus vier breiten Stufen bestand. Dahinter befand sich eine breite Tür. Sie teilte den Flur ab. Nicht sichtbar für mich lag die Wohnungstür der Lisa Fox jenseits der Tür. Das untere Drittel bestand aus Holz, die beiden oberen aus Glas. Sogar ein Geländer war vorhanden. Es begleitete die vier Stufen. Der Flurboden bestand aus Holzbohlen. Sie hatten ihre ursprüngliche Farbe verloren, sahen grau und grün aus, als wären sie von einer Schimmelschicht bedeckt. Die alte Lampe unter der Decke war nicht weit von der Zwischentür entfernt. Sie sah aus wie eine halbe Kugel. Zwei Birnen leuchteten in ihr. Meine Tür hatte ich nicht abgeschlossen. Zwei Schritte von mir entfernt befand sich das nächste Zimmer, danach kam der Raum, in dem Ginny Day lebte. Ich hatte eigentlich vor, mich lautlos zu bewegen. Das gelang mir leider nicht, denn die Holzbohlen machten sich schon bemerkbar. Das Knarren und Ächzen erreichte meine Ohren als unangenehmes Geräusch. Als ich es zum erstenmal hörte, rieselte mir ein Schauer über den Rücken. Neben Ginny Days Tür blieb ich stehen und wandte mein Interesse der linken Seite zu. Dort lebte der Raver zusammen mit Steve Cochran. Auch aus diesem Zimmer drang kein Geräusch. Im Flur selbst herrschte eine merkwürdige Stille. Ich glaubte nicht, mir etwas einzubilden, aber sie kam mir nicht normal vor. Sie war so dicht und auch anders, als wäre meine Umgebung dabei, den Atem anzuhalten. Auch von draußen hörte ich kaum Geräusche. Die Mauern hielten wirklich viel ab. Ich hob das rechte Bein vom Boden, um den nächsten Schritt zu gehen. Wieder bewegte sich das alte Holz, dann setzte ich den Fuß auf. Weich war hier das Holz. Ungewöhnlich weich.
Zu weich! Ich sackte nicht ein, doch klebte meine Schuhsohle fest. Oder bildete ich mir das nur ein? Dann hörte ich die Stimmen! *** Zuerst glaubte ich, mich geirrt zu haben, denn in meiner sichtbaren Nähe befand sich niemand, von dem dieses Flüstern hätte stammen können. Es klang sehr leise, es war aber auch böse, und es hinterließ bei mir schon eine kalten Schauer im Nacken. Ich drehte mich um. Da war nichts zu sehen. Weder hinter mir noch vor mir. Die Stimmen jedoch bildete ich mir nicht ein. Sie erreichten auch weiterhin meine Ohren, und ich konzentrierte mich auf ihre Herkunft. Auch die war nicht genau herauszufinden. Die leisen Stimmen waren überall. Leider fand ich nicht heraus, ob sie etwas sagten. Ich hörte sie nur als Zischeln. Da waren mehrere Personen, die sich sehr leise unterhielten, und dabei ließ es sich nicht vermeiden, daß sich die einzelnen Stimmen überlagerten. Von beiden Seiten erreichten sie meine Ohren, als hätte sie jemand in den dicken Wänden versteckt, um sich auf diese geheimnisvolle Weise bemerkbar zu machen. Sogar von der Decke her fielen sie herab, und sie stiegen auch aus dem Fußboden. Zumindest glaubte ich das, weil mich das Flüstern wie ein Kreisel umgab. Mein Blick fiel zu Boden, der mir so weich vorgekommen war. Verändert hatte er sich nicht. Ich konnte auch weitergehen, aber nach zwei Schritten blieb ich wieder stehen, weil die Stimmen jetzt deutlicher zu hören waren. »Auch dich wird es erwischen - auch dich! Du wirst sterben. Du wirst so sterben wie die anderen, hörst du . . .« Ja, ich hörte, aber ich gab keine Antwort. Zumindest keine akustische. Statt dessen tat ich etwas anderes. Vorhin hatte ich über Lisas Worte gelächelt, als sie die Geister erwähnt hatte, nun aber lächelte ich nicht mehr. Umringten sie mich? Nahmen sie aus dem Verborgenen Kontakt mit mir auf? Ich wußte es nicht genau, aber ihr Zischeln bildete ich mir nicht ein. Es gab sie. Keine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Ich hörte sie verdammt gut. »Sterben - sterben . . .« Dieses eine Wort wiederholten sie immer wieder. Ich hatte mich schon daran gewöhnt und tat etwas anderes. Sehr bald schon lag das Kreuz
auf meiner offenen Handfläche. Ich suchte es nach einer Reaktion ab, die aber trat noch nicht ein. Es strahlte matt wie sonst auch. Wenig später klemmte ich die Kette zwischen meine Finger und schwang das Kreuz durch die Luft, damit es eventuell Kontakt mit den Geistern bekam, um sie aus ihrem unsichtbaren Reich hervorzuholen. Ich wartete auf ein Schimmern des Metalls, vielleicht auch auf eine Materialisation, leider erfüllten sich meine Wünsche nicht. Die Stimmen zogen sich zurück. Worte waren nicht mehr zu verstehen. Sicherlich behielten sie ihre Drohungen bei, aber das Flüstern wurde leiser und war sehr bald völlig verstummt. Die Stille hatte mich wieder. Ich hängte das Kreuz wieder um. Meine Lippen zeigten dabei ein wissendes Lächeln. In diesem Haus ging es nicht mit normalen Dingen zu. Auch die vier Männer waren auf eine ungewöhnliche Weise ums Leben gekommen. In der Mauer oder im Fußboden steckte etwas, das man durchaus als bösen Geist ansehen konnte, da hatte Lisa Fox schon recht gehabt, und ich wußte auch Bescheid. Geister gleich Gegner. Sie schienen schon erfahren oder begriffen zu haben, daß jetzt jemand in das Haus eingezogen war, mit dem sie nicht so leicht umspringen konnten. Sie hatten sich nicht gezeigt - möglicherweise würde ich sie nie zu Gesicht kriegen, aber es gab sie! Die Stille hielt nicht lange an. Hinter mir hörte ich das Geräusch einer sich öffnenden Tür, bei der die Angeln nicht gut geölt waren. Bevor ich mich noch richtig gedreht hatte, vernahm ich die weiche und trotzdem etwas rauh klingende Stimme der Frau. »Oh, der neue Mieter. Laß dich mal ansehen, schöner Mann . . .« Da wußte ich, daß Ginny Day die Tür geöffnet hatte. *** Sie wollte mich zwar ansehen, ich war auch auf sie gespannt, aber mit der Drehung beeilte ich mich nicht. Ich ließ es langsam angehen. Sie bewegte sich auch hinter mir auf mich zu. Das sah ich zwar nicht, dafür roch ich es, denn die Duftwolke erwischte meine Nase wie ein Gruß aus einer Parfüme-rie. Dann schauten wir uns an, und Ginny lächelte. Wahrscheinlich war es der berufsmäßige Reflex, der sie so handeln ließ. So reagierte sie immer, wenn sie einen Mann sah, und auch ich wollte ihr nicht nachstehen und verzog ebenfalls die Lippen. Ginny sah stark aus. Es war aber wohl noch nicht ihre Zeit, denn das Gesicht war ungeschminkt. Dabei war sie leidlich hübsch. Ein rundes
Gesicht, eine kleine Nase, der herzförmige Mund und die dunklen Augen, die allerdings nicht zu der bleichblonden Farbe des Wuschelhaares passen wollten, an deren unteren Ende das natürliche Dunkel schon durchschimmerte. »Ich bin Ginny.« Sie reichte mir die Hand. Von den Fingern war nur der Daumen ringlos, verschont von billigem Modeschmuck. Die Nägel waren nicht nur lang, sondern so rot lackiert, daß die Farbe schon in meinen Augen schmerzte. »Ich bin John.« Beim Händedruck spürte ich, wie kalt die Hand war. »Und ich wohne tatsächlich nebenan.« »Das hörte ich. Hier bleibt nichts geheim.« Plötzlich schauderte sie. »Du weißt, was da passiert ist?« »Ja.« Ginny schauderte und bekam eine Gänsehaut. »Vier Tote«, flüsterte sie. »Vier Tote! Und du traust dich tatsächlich, in diese Mordbüde einzuziehen, John?« »Was soll ich machen? Im Parkhaus übernachten?« »Stimmt auch wieder, aber . . .« Sie hob die Schultern. »Nun ja, ist nicht mein Problem. Ich versuche jedenfalls, so schnell wie möglich hier wegzukommen.« Sprunghaft änderte sich ihre Laune. Sie lächelte wieder und musterte mich wie einen Kunden. »Ich mag mutige Männer. Wenn du nichts weiter vorhast, können wir ja bei mir einen Kaffee trinken. Er läuft gerade durch.« »Dagegen habe ich nichts.« »Gut, dann komm.« Sie drehte sich um und ging vor mir her. Ich mußte grinsen. Ginny trug eine helle Strumpfhose und ein sehr kurzes Oberteil. So malte sich unter dem Stoff an ihrem Po der mehr als knappe Slip ab. Das Oberteil bestand aus einem roten Sweatshirt und war weit geschnitten. Auch Ginny bewohnte nur einen Raum. Es gab ein Fenster, ähnlich schreckliches Mobiliar, aber in einem unterschied sich die Einrichtung doch. Das Bett war anders. Eine breite Liege mit einer Holzeinfassung, einer roten Tagesdecke. Da die Decke Falten geworfen hatte, wirkte der aufgedruckte Mund ziemlich verzerrt. Einen anderen Tisch hatte sie sich ebenfalls besorgt. Es war ein kleiner mit heller Platte und Metallbeinen. Zwei Stühle umstanden ihn, und aus dem Regal holte Ginny noch eine zweite Tasse. Neben ihr stand ein Aschenbecher. Zum Frühstück hatte sie bereits zwei Zigaretten geraucht. »Du kannst dich ruhig setzen, John, ich muß mich nur ein wenig frisch machen. Die letzte Nacht war lang.« Sie grinste mich an. »Verstehst du ja -oder?« »Klar.«
Sie schnickte mit den Fingern. »Bis gleich dann.« Ich schaute ihr nach, wie sie die schmale Tür zur Dusche öffnete, sie aber nicht ganz schloß. Ich hätte zwar hinschauen können, dafür aber hätte ich mich verrenken müssen, und das wollte ich nicht, denn mich plagten andere Sorgen. Bevor ich noch das Rauschen der Dusche mitbekam, hörte ich von draußen her andere Geräusche. Männerstimmen. Dann knallte eine Tür zu, und einen Augenblick später wurde die Techno-Musik so laut aufgedreht, daß ich sie einfach hören mußte. Der Freak war also da. Das Radio in Ginnys Wohnung lief auch, allerdings so leise, daß ich die Musik nicht hörte. Dafür das Rauschen der Dusche und hin und wieder Ginnys falsches Singen. Anscheinend fühlte sie sich gut. Ich schielte auf die Kaffeemaschine. Die braune Brühe war bereits durchgelaufen. Neben der Maschine stand ein Päckchen mit Keksen. Es berührte die leere Schachtel einer Pizza. Auf den Tapeten hatte nicht nur Ginny ihre künstlerischen Ambitionen ausgetobt, mit Zeichnungen und Sprüchen. Unwillkürlich mußte ich grinsen, als ich die Worte las. Du warst super, Ginny. Die Stunde werde ich nie vergessen. Mach so weiter, Ginny. Da hatte mir die gute Lisa wohl nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ginny brachte ihre Freier mit nach Hause. Ihre Kunden mit den Morden in Verbindung zu bringen, wollte ich nicht, konnte ich auch nicht. Die geheimnisvollen Flüsterstimmen waren da schon eher verdächtig. Und sie waren keine Einbildung gewesen, ebensowenig wie Ginny, die die Dusche nun verließ, eingepackt in einen weißen Bademantel mit Goldstreifen. Den Gürtel hatte sie nur lässig verknotet. Der Blick auf ihre Brüste war frei. Appetit und Hunger auf mehr sollte ich wohl kriegen. Sie sah jetzt frischer aus, auch wenn das Haar noch naß war und als dunkler Lockenwirbel um den Kopf hing. »Ah, der Kaffee ist fertig!« Sie nahm die Kanne und schenkte uns ein. »Das hättest du auch machen können«, sagte sie. »Ich wußte nicht, wann du fertig bist. Dann wäre der Kaffee nachher noch kalt geworden.« Sie brachte Kekse mit, lächelte und setzte sich. »So besorgt, John? Himmel, du bist ja ein richtiger Kavalier. Das bin ich gar nicht gewohnt in dieser Bude. - Zucker?« »Etwas.« Sie holte Würfelzucker. Aus der Dose nahm ich zwei Stücke und ließ sie in den Kaffee plumpsen. Ginny trank, aß Kekse und beobachtete mich dabei. Immer dann, wenn sich unsere Blicke trafen, lächelte sie. Nur war das Lächeln nicht echt, denn die Augen waren nach wie vor prüfend auf
mich gerichtet. Ich wich dem Blick nicht aus, sondern ging in die Offensive. »Was denkst du jetzt?« Ginny knabberte am Keks. Dann nahm sie einen Schluck. »Ich weiß nicht so recht.« »Aber du denkst über mich nach.« »Das schon.« »Und?« »Ist schwer zu sagen.« Sie lehnte sich zurück und streckte unter dem Tisch die Beine aus. Ich spürte die Berührung ihrer Füße an meinen Waden, zog die Beine aber nicht weg. »Ich weiß wirklich nicht, was ich von dir halten soll, John. Du siehst mir eigentlich nicht so aus, als hättest du es nötig, in diesen Bau einzuziehen.« »Danke. Das hat man mir heute schon einmal gesagt.« »Wer denn? Lisa?« »Ja.« Ginny nickte. »Sie kennt die Menschen. Sie hat ein gutes Auge, das muß man ihr lassen.« Wieder knabberte Ginny an einem Keks. Den zweiten steckte sie ganz in den Mund, wobei sie mich beobachtete. »Ich bin froh, hier ein preiswertes Zimmer bekommen zu haben. Nach einer langen Krankheit hatte ich meinen Job verloren.« »Was hattest du denn?« »Malaria. Die habe ich mir in Afrika eingefangen. Dann kam noch eine Gelbsucht hinzu.« Ich legte dick auf. Ginny akzeptierte es. Sie lehnte sich zurück, und ihr Fuß verschwand aus der Nähe meines Beins. Dann verzog sie die Lippen. »Das hört sich aber nicht gut an.« »Es war auch nicht gut«, erwiderte ich. »Und jetzt bist du wieder okay?« »Ja, die Sache ist gelaufen. Nur mit meinem Job sieht es nicht so gut aus.« Ich hob die Schultern. »Aber was will man da schon machen?« »Jetzt hast du einen.« »Ich werde in zwei Tagen bei einer Firma anfangen, die Container herstellt.« »Im Büro?« »Genau. Woher weißt du das?« »Das sehe ich an deinen Händen. Körperliche Arbeit hätte Spuren hinterlassen.« »Stimmt auch wieder. Kompliment.« Ginny freute sich darüber. »Auch in meinem Job lernt man die Menschen kennen.« Schnell sprach sie weiter. »Jetzt erzähl mir nur nicht, daß du nicht weißt, wie ich meine Knete verdiene.« »Doch, schon . . .«
»Lisa, wie?« »Korrekt.« Ginny winkte ab. »Man darf ihr nicht böse sein. Sie ist schon verdammt in Ordnung und hier im Haus so etwas wie die Mutter der Kompanie. Wenn es Probleme gibt, Lisa löst sie.« »Nur von dem Killer hat sie nichts bemerkt - oder?« Ginny schaute mich an. Ihre gute Laune war verschwunden. Sie machte einen ängstlichen Eindruck. »Nein, hat sie nicht. Habe ich aber auch nicht, und die anderen ebenfalls nicht. Du glaubst gar nicht, wie froh ich darüber bin.« »Kann ich mir denken. Aber habt ihr Bewohner denn keinen Verdacht, wer es getan haben könnte?« »Nee. Auf keinen Fall.« Sie griff in die rechte Tasche des Bademantels und holte Zigaretten hervor. Ein Feuerzeug rutschte ebenfalls aus ihrer Hand. Ich lehnte ab, als sie mir ein Stäbchen anbot. Dafür bekam sie von mir Feuer. Die Flamme war schon erloschen, als sie meine Hand festhielt. »Weißt du, John«, sagte sie leise, »zieh hier erst gar nicht richtig ein. Das ist besser für dich. Ich will nicht, daß zwei Türen weiter bald der fünfte Tote liegt. Das wärst nämlich du.« »Ja«, sagte ich. »Da hast du schon recht. Ich kann nicht auf der Straße übernachten.« »Findest du denn keine andere?« Ihre Hand war kalt. Ich zog meine wieder zurück. »Wohnungen gibt es genug, aber wer kann die schon bezahlen, Ginny?« »Klar, das ist ein Problem.« Sie saugte den Rauch tief ein und stieß ihn erst aus, nachdem sie sich zurückgelehnt hatte. »Selbst ich hätte Schwierigkeiten, und manchmal verdiene ich wirklich nicht schlecht. Aber«, sie hob die Schultern, »das Geld sitzt nicht mehr so locker, John, das merken auch wir.« »Wie lange machst du das schon?« »Vier Jahre.« Ich nickte. »Und du bringst deine Freier mit hierher.« »Ja, aber nicht immer. Nur wenn sie gut zahlen.« Ginnys Augen verengten sich. »Willst du darauf hinaus, daß einer meiner Freier der Killer sein könnte?« »Das habe ich nicht gesagt.« Sie winkte ab. »Keine Ausrede, John, denn so etwas kenne ich. Auch die Bullen haben mich ausgequetscht, aber in den letzten Nächten habe ich keinen mit in die Bude gebracht. Es wäre auch kaum jemand mitgekommen, denn in den Zeitungen stand ja genug über die Morde und wo sie passiert sind.« »Das ist leider wahr.« »Ich arbeite dafür mehr draußen.« »Hotel?«
»Auch, meist im Auto.« Als sie meine gefurchte Stirn sah, sagte sie: »Tja, das Leben ist verflucht hart. Der eine so, die andere so. Irgendwie müssen wir ja durchkommen.« »Das stimmt.« Zwischen uns entstand eine Verlegenheitspause. Ginny nutzte sie aus, um ihre Zigarettenkippe auszudrücken. Dann hob sie die Schultern. »Ich weiß nicht, wie du über mich denkst, aber immer will ich das auch nicht machen.« Sie lächelte plötzlich und war wieder putzmunter. »Du, John, wohnst jetzt hier.« »In der Tat.« »Und manchmal«, sie beugte sich jetzt vor, so daß die beiden Hälften des Bademantels noch weiter auseinanderklafften, »habe ich meinen sozialen Tag. Dann schaue ich nicht so auf das Geld, verstehst du?« Ihre Hand kroch über den Tisch und legte sich auf die meine. »Du weißt, was ich damit meine, John.« »So naiv bin ich nicht.« »Und?« »Nicht jetzt.« w Ginny brummte zwar, aber sie gab nicht auf. »Hör mal, du brauchst kein Geld. Ich mache es aus Solidarität. Du wohnst zwei Türen weiter. Kann sein, daß es das letzte Mal ist, daß du mit einer Frau zusammen bist. Die Chance würde ich an deiner Stelle ergreifen.« »Hast du mich schon abgeschrieben?« fragte ich sie. »Nein, John, das nicht. So darfst du das nicht sehen. Ich mag dich wirklich. Du bist anders als die Typen, die vorher zwei Türen weiter gewohnt haben. Ich will nicht, daß man dich umbringt und . . .« Jetzt fehlten ihr die Worte. »Scheiße.« Sie stand plötzlich auf und nestelte an ihrem Gürtel, um den Bademantel ganz abzustreifen. Daß sie darunter nichts anhatte, ahnte ich. Der Knoten löste sich. Der Gürtel fiel auf beiden Seiten. Ich sah, daß sie tatsächlich nur die nackte Haut darunter trug, aber ich sah auch die roten Flecken zwischen Bauchnabel und Brüsten, und das waren sicherlich keine Mückenstiche. Die sahen nach etwas anderem aus. Ich wußte, daß es Leute gab, die ihre Zigarettenkippen auf der Haut anderer ausdrückten. Zuhälter hatten sich dabei stark hervorgetan. Zu fragen, ob diese Flecken tatsächlich von Zigarettenglut herrührten, kam ich nicht mehr. Vehement wurde die Tür aufgestoßen. Jemand stürmte in das Zimmer und wuchtete die Tür wieder zu. Ginny schrie auf. Und in ihren Schrei hörte ich die wilde Männerstimme. »Du hast mich wieder beschissen, das weiß ich. Aber dafür wirst du bezahlen . . .« ***
Alles war sehr schnell gegangen, und dieser Vorgang hatte mich unvorbereitet getroffen, so daß ich in eine nicht sehr gute Lage geraten war und plötzlich den Druck der kalten Klinge in meinem Nacken spürte. Den Kerl hätte ich nicht gesehen, er stand hinter mir, aber ich nahm sein Rasierwasser wahr, das ziemlich scharf roch. »Du rührst dich erst mal nicht, Mann!« »Gut«, sagte ich, »gut. . .« Dabei beobachtete ich Ginny, die totenbleich geworden war. Sie stand wie eine Statue an der Tischkante. Der Bademantel stand noch immer offen. In den Augen lag eine schon hündische Angst vor dem Kerl, der hereingestürmt war. »Bitte, Steve, bitte!« »Halt dein Maul, Ginny!« Steve? In meinem Kopf jagten sich die Gedanken. Hieß nicht Ravers Freund von gegenüber auch Steve? Das konnte eine Namensgleichheit sein, mußte aber nicht. Jedenfalls stufte ich diesen Typ als Ginnys Zuhälter ein, und ich war fest entschlossen, daß es nicht zu einer Abrechnung mit ihr kommen würde. »Ich - ich habe dich nicht betrogen, Steve, wirklich nicht. Du, du irrst dich.« Der Kerl lachte nur. Dann sagte er: »Ich mag keine Nutten, die mich bescheißen. Schon einmal hast du mir fünfzig Pfund unterschlagen, Süße. Du hast deine Strafe bekommen. Ich sehe sie noch auf deiner Haut, aber diesmal bin ich echt sauer, Ginny. Du hattest eine verdammt gute Nacht und hast nichts abgeliefert, obwohl du weißt, daß ich im Haus bin.« Ginny flatterte. »Ich habe Besuch.« »Na und?« »Ich bin schon länger hier«, sagte ich. »Schnauze, Arschloch!« Steve war sauer. Die Klinge verschwand auch dann nicht aus meinem Nacken, als er mit der freien Hand meine Haare packte und daran riß. Der Schmerz fraß sich durch meinen Kopf. Zum Glück ließ er mich wieder los, und ich atmete tief durch, wobei ich auf meine Hände starrte, die auf der Tischplatte lagen. »John ist der neue Mieter.« Der Mann hinter mir bewegte sich nicht. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Es vergingen einige Sekunden, bevor der die Nachricht verdaut hatte. »Stimmt das?« »Ja.« »Na wunderbar. Dann hat sie dich wohl eingeladen, sie zu bumsen, wie? Nachbarschaftshilfe. Wieviel solltest du denn bezahlen, Meister? Wieviel?« Er war sich seiner Sache sicher. Das Messer verschwand aus meinem Nacken, und er veränderte seinen Standort. Neben mir baute er sich auf, steckte die Klinge aber nicht weg. Der lange, schmale Stahl des
Schnappmessers funkelte mich an. Ich hasse Messer, denn ich habe oft genug erlebt, was sie anrichten können. Auch diese Klinge würde, wenn sie traf, tief in den Körper eindringen. Aber mich interessierte im Moment mehr der Mann. Inzwischen war ich davon überzeugt, es mit Steve Cochran zu tun zu haben. Wie ein Zuhälter war er nicht gerade gekleidet. Viele aus dieser Gilde legen ja Wert auf teure Designer-Klamotten und einen entsprechenden Schmuck, nicht aber Steve Cochran. Er sah völlig normal aus, trug blaue Jeans, Turnschuhe und das beige Hemd über der Hose. Seine dunklen Haare wirkten ungepflegt. Sie wuchsen weit über die Ohren und umrahmten ein Gesicht, in dem die gebogene Nase eine rote Narbe aufwies. Wahrscheinlich ein Andenken an eine Messerklinge. Die Augen waren klein. Sie blickten böse. Ansonsten zeigten die Wangen des ungefähr Dreißigjährigen dunkle Bartschatten. »Sie hat mich nicht eingeladen«, erklärte ich. Die Klinge zuckte für einen Moment vor. Ich spannte mich schon, aber die Klinge glitt wieder zurück in die Ausgangsposition und bedrohte mich nicht mehr so unmittelbar. »Hör zu, Herr Nachbar, du hast Glück, daß ich dich heute zum erstenmal sehe. Ich will dir mein Autogramm nicht in das Gesicht schnitzen. Außerdem wohnst du in einer Bude, in der du sowieso nicht lange überlebst. Da wirst du gekillt. Andere nehmen mir die Arbeit ab. Und da ich heute gut drauf bin, rate ich dir, jetzt aufzustehen und von hier zu verschwinden. Ich gebe dir fünf Sekunden, dann bist du weg und läßt mich mit Ginny allein.« Sie hatte alles mitbekommen. Ich hörte ihr Schluchzen und fragte Cochran. »Dürfen es auch sechs sein?« Er war so überrascht, daß er nicht wußte, was er sagen sollte. Darauf hatte ich spekuliert. Mit der rechten Hand hielt ich bereits die Tasse umklammert, die noch halb mit Kaffee gefüllt war. Einen Moment später nicht mehr. Da flog die braune Brühe dem Hundesohn bereits entgegen und klatschte ihm ins Gesicht. Er schrie auf, ging zurück, taumelte dabei und fuhr mit der freien Hand durch sein kaffeenasses Gesicht. Wieder bekam ich meine Chance. Ich war vom Stuhl hochgeschnellt, schnappte mir das Sitzmöbel, holte kurz aus und lief dabei auf den Kerl zu. Dann krachte der Stuhl gegen seinen Kopf, gegen die Schulter und wuchtete ihn zu Boden. Cochran fluchte. Das Messer hielt er noch immer fest, aber sein Arm lag günstig für mich. Ich brauchte einen Schritt, um das Ziel zu erwischen. Es war sein rechtes Gelenk, auf das ich meinen Fuß stellte und ihn somit am Boden festnagelte. Er lag auf dem Rücken. Sein Gesicht zeigte einen fremden Ausdruck, so verzerrt war es. Er atmete nicht, sondern keuchte und stöhnte. Der Stuhl
hatte ihn zudem unglücklich an der Stirn erwischt und die Haut aufgerissen. Aus der Platzwunde sickerte Blut. Ich verstärkte den Druck. »Laß deinen Zahnstocher los, Cochran!« »Hund, verfluchter! Ich . . .« Ich erhöhte den Druck. Das war zuviel für ihn. Die Schmerzen ließen sich nicht mehr aushalten. Seine Finger streckten sich, und ich kickte ihm das Messer aus der Hand. Es rutschte aus seiner Reichweite. Dann trat ich zurück, während Cochran noch am Boden liegenblieb. Den rechten Arm hatte er angewinkelt, und mit der linken Hand rieb er sein Gelenk. »Ich mach dich fertig, du Drecksack! Ich schneide dich in Stücke!« »Androhen kann man viel, Cochran. - Hoch mit dir! Komm auf die Füße, du Held!« Er tat noch nichts, sondern schaute mich verschlagen an. Natürlich hätte ich meine Beretta ziehen können, aber welch normaler Mieter lief schon mit einer Kanone durch die Gegend? So etwas hätte nur Mißtrauen gesät, und das wollte ich nicht. Noch hielt ich meine Rolle durch, und das wollte ich so lange wie möglich. Cochran drehte sich auf die Seite, damit ich gegen seinen Rücken schauen konnte. Den Trick kannte ich. Auf keinen Fall sollte ich seine Hände unter Kontrolle haben, aber mit der rechten konnte er nicht mehr viel anstellen. Wenn er etwas versuchte, dann mit der linken, und das würde schwierig werden. Ginny sagte etwas, das ich nicht verstand, weil ich mich auf Cochran konzentrierte. Er fummelte tatsächlich unter seinem Hemd herum, und ich gab ihm auch die Zeit. Die Kanone hatte in seinem Gürtel gesteckt. Er holte sie hervor, aber er war kein Linkshänder und entsprechend langsam. Als er sich mit ihr in der Hand herumwerfen wollte, war mein Fuß schneller. Der Tritt erwischte ihn an der Schläfe. Es sah so aus, als wollte er sich noch einmal aufbäumen, um der drohenden Bewußtlosigkeit zu entwischen. Das schaffte er nicht. Als Cochran auf dem Boden aufschlug, war er bereits bewußtlos. Mitten in der Bewegung war er gestoppt worden und rührte sich nicht mehr. Ich schaute mir sein Schießeisen an. Es war eine kleine Lady-Pistole. Das Fabrikat kannte ich nicht. Nur zweimal konnte man mit ihm schießen. Er verschwand in der Seitentasche meiner ältesten Jacke. Dann wandte ich mich Ginny zu, die sich noch immer nicht gefangen hatte und zitternd auf der Stelle stand. Sie hatte sich nicht getraut, sich zu setzen. An der Tischkante klammerte sie sich fest. Auf ihrem Gesicht lag noch immer das Entsetzen.
Ich nickte ihr zu, kam aber nicht dazu, sie anzusprechen, denn sie flüsterte: »Jetzt bist du tot, John, so verdammt tot. Das kannst du mir glauben.« »Nein, ich lebe.« »Hör auf, hör auf! Sag das nicht. Ich kenne Steve, der macht dich fertig und mich auch.« »Da habe ich noch ein Wort mitzureden.« Ginny verdrehte die Augen. »Du kennst ihn nicht, und du hast bisher Glück gehabt, John.« »Meinst du?« Sie nickte heftig. Dabei setzte sie sich wieder hin. Dann zündete sie sich eine Zigarette an, paffte einige Wolken und riet mir mit bebender Stimme, aus der Wohnung und auch aus dem Haus zu verschwinden, wenn ich noch länger leben wollte. »Schön und gut, Ginny, aber was geschieht mit dir?« »Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich komme schon zurecht, John. Ich kenne das Spiel. Ich bin sein Kapital. . .« »Auf dessen Körper er die Glut der Zigaretten ausdrückt, wie?« fragte ich sarkastisch. Sie senkte den Kopf, und es tat mir leid, die Antwort überhaupt gegeben zu haben, aber ich stand noch so unter Druck und war zudem dermaßen wütend, daß ich einfach nicht anders gekonnt hatte. Ich hörte sie leise schluchzen und wollte sie trösten, aber Ginny wehrte meine Bemühungen ab. »Ich glaube nicht, daß du das verstehst, John. Irgendwo bin ich von ihm abhängig. Nur durch ihn bin ich an dieses Zimmer gekommen, sonst sähe es übel aus. Die Miete hier kann man ja noch bezahlen, verstehst du? Andere sind es kaum, und in die Callgirl-Ringe komme ich nicht hinein. Da lehnt man mich ab. So blieb mir nur dieser Scheißkerl.« »Den ich dir erst mal vom Hals schaffen werde«, sagte ich. Sie erschrak und krallte sich an mir fest. »Was hast du mit ihm vor? Willst du ihn töten?« Ich lachte und schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Ich werde ihn nur in seine Wohnung schleifen und ihn seinem Kumpan vor die Füße werfen. Ach ja, noch etwas. Möchtest du die kleine Pistole haben, die ich ihm abgenommen habe?« »Nein, nur das nicht. Ich könnte wohl nicht auf einen Menschen schießen.« »Und das Messer?« »Auch nicht. - Nimm es mit.« »Okay.« Ich steckte die Klinge ein und wandte mich dann dem Bewußtlosen zu, den ich am Kragen in die Höhe zerrte und wie einen leblosen Sack in Richtung Tür schleifte. Zuerst schaute ich in den Flur hinein. Rechts und links war er menschenleer. Selbst die Hausmeisterin hielt sich zurück. Bevor ich die Tür hinter
mir schloß, drehte ich mich um. »Wir sehen uns, Ginny. Wenn du noch mal Ärger haben solltest, du weißt ja, wo ich wohne.« Sie kiekste auf. »Ich soll in das Mordzimmer? Nein, keine zehn Pferde kriegen mich da hinein.« Ich hob die Schultern und ging. *** Den Zuhälter beförderte ich zu seiner Wohnung, die er mit Raver teilte. Auf den war ich auch gespannt, aber das würde sich alles ergeben. Mein Tritt war hart genug gewesen. Cochran befand sich noch immer im Reich der Träume. Weit hatte ich außerdem nicht zu gehen. Es war auch zu hören, wohin ich mußte, denn der Typ hatte seine Musikanlage voll aufgedreht. Anscheinend sollten alle etwas davon haben. Das Anklopfen sparte ich mir bei dem Lärm. Die Tür war nicht verschlossen. Ich stieß sie auf und schaute verwundert in eine dunkle Bude. Helle Lichtblitze, farbig, durchschnitten wie Speere die Luft. Vor die Fensterscheiben war ein graues Rollo gezogen worden. Zwei Betten machten das Zimmer noch kleiner. Sie standen im rechten Winkel zueinander, und auf einem lag Raver. Der sah nichts, er hörte nur. Aus den Lautsprechern dröhnte der Rhythmus, und Raver bewegte sich auf dem Rücken liegend im Takt. Die Beine zuckten ebenso wie die Arme. Auch der Kopf bewegte sich. Wie ein tickender Ball schlug er immer wieder auf. Das Kopfkissen dämpfte den Aufprall. Raver war so in seine Musik versunken, daß er mich auch dann nicht bemerkte, als ich ihm seinen Freund vor das Bett legte. Dabei schaute ich mir noch die Wände an, die mit Plakaten beklebt waren. Alles Werbung für TechnoFeten in London und Umgebung. Es war schon lustig. Selbst als die Rhythmen nicht mehr aus den Boxen dröhnten, zuckte der Knabe weiter. Er trug ein graues Unterhemd und eine Hose aus billigem Leder. An den Seiten war sie mit hellen Nieten besetzt, ebenso wie der Gürtel. Neben seinem Bett stellte ich mich auf und wartete, daß Raver wieder in die normale Welt zurückkehrte. Es dauerte auch nicht mehr lange, denn seine Bewegungen wurden langsamer. Ich hatte Zeit, ihn genau zu betrachten und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Die meisten Haare auf seinem Schädel hatte er entfernen lassen. Nur ein Büschel mitten auf dem Kopf war geblieben, das ebensogut hätte ein Vogelnest sein können. Raver hatte ein knochiges Gesicht mit einem grauen Ziegenbart, eine lange, etwas gekrümmte Nase und einen schmallippigen Mund.
Ich stellte fest, daß er mich anschaute und fragte ihn: »Bist du wieder okay?« »Hau ab!« »Später. Ich wollte mich nur vorstellen. Ich heiße John Sinclair und bin der neue Mieter.« Jetzt grinste er. »Wie lange willst du denn bleiben? Meinst du, daß du den Morgen noch erlebst?« »Das will ich doch hoffen.« Er richtete sich auf. »Okay, du hast gesagt, was du loswerden wolltest, und jetzt verpiß dich.« »Willst du mir sonst Beine machen?« »Auch das. Wahrscheinlich Flügel. So schnell geht das.« Ich trat etwas zur Seite und bedeutete ihm, über die Bettkante zu schauen. »Da habe ich dir einen neuen >Teppich< hingelegt, Raver, und ich denke, der kommt dir bekannt vor.« Er glotzte nach rechts, erkannte Steve und rieb sich ungläubig die Augen. »Das ist ja Steve.« Ich verdrehte meine. Steve, hatte er gesagt. Ausgerechnet Steve. Zu einem miesen Typen, der einen menschlichen Körper als Aschenbecher benutzte. Manches im Leben war für mich einfach zu hoch, um es fassen zu können. »Ja, das ist Steve«, erklärte ich ihm. »Und er wird auch noch eine Weile schlafen .« Raver rieb seine schweißnasse Stirn blank. »Hast du das mit ihm gemacht?« »Ich war so frei.« Raver holte ein paarmal Luft. »Verdammte Scheiße, was hat er dir denn getan?« »Ich verachte Leute, die andere als Mülleimer ansehen.« »Wieso?« fragte er blöd. »Er wollte Ginny . . .« »Ach, die Nutte«, unterbrach er mich schon nach dem dritten Wort. Scharf holte ich durch die Nase Luft. Ich mußte mich zusammenreißen, um ihm nicht das Vogelnest von seinem Kopf zu pflücken. Raver merkte, daß er zu weit gegangen war. Auf seinem Bett rutschte er in Richtung Wand und streckte mir die Hand entgegen. »Ich sage ja nichts mehr.« »Ist auch besser so.« Mein rechter Zeigefinger wies auf den Bewußtlosen. »Wenn er wieder zu sich kommt, dann erkläre ihm, er soll sich weder bei mir noch bei Ginny blicken lassen. Beim nächstenmal werde ich wirklich wütend.« Raver starrte mich an. Er wollte etwas sagen und hatte auch schon den Mund offen, aber er blieb still. Vor dem Abschied tippte ich gegen seine Glatze. »Jetzt kannst du weiter deine Musik hören. Aber gib acht, daß dir von dem Lärm nicht der
Restverstand aus dem Schädel gedröhnt wird.« Ich klatschte gegen seine Wange. »Wir sehen uns noch, Freak.« Nach diesem Satz ließ ich ihn allein. So wie in der letzten halben Stunde benahm ich mich nur, wenn ich schauspielern mußte, und ich hoffte, glaubwürdig genug gewesen zu ein, auch bei Ginny. Bevor ich in mein Zimmer ging, schaute ich noch bei ihr vorbei. Ginny blickte' erst gar nicht auf. Sie hockte am Tisch, trank Schnaps aus der Flasche und heulte. Auch als ich sie ansprach, winkte sie ab. Ginny wollte allein bleiben. Den Gefallen tat ich ihr auch. In meiner Bude hatte sich nichts verändert. Auch jetzt ließ ich mein Gepäck in Koffer und Tasche. Als ich mich auf das Bett setzte, sackte ich nicht nur ein, sondern hörte auch die Geräusche alter, überstrapazierter Sprungfedern, die ihren Geist sicherlich bald aufgaben. Dieses Haus hatte es tatsächlich in sich. Seit meinem Einzug hatte ich schon allerlei erlebt, nur der geheimnisvolle Killer war mir noch nicht über den Weg gelaufen. Nun ja, die Nacht lag ja noch vor mir. Daran dachte ich, als ich das Handy hervorholte und Sukos Büronummer tippte. Ich bekam Glenda an den Apparat. »Ha, der neue Mieter meldet sich. Na, wie ist es in der Bude?« »Wunderbar. Ich möchte gar nicht mehr weg.« »Hast du nette Nachbarn?« Den Spott hörte ich natürlich aus ihrer Stimme heraus. Mein Mund verzog sich bei der Antwort zu einem Lächeln. »Sehr nette sogar. Vor allen Dingen Ginny.« »Bitte.« »Ja, sie heißt Ginny und ist blond.« »Aha.« »Außerdem wohnt sie nur zwei Türen weiter.« Locker schlug ich die Beine übereinander. »Ich habe sogar schon mit ihr Kaffee getrunken. Eine Nachbarin habe ich in meiner anderen Wohnung ja leider nicht. Man kann sich schon an das neue Zuhause gewöhnen.« »Ich stelle zu Suko durch«, erklärte Glenda spitz. »Er hat soeben das Büro betreten.« »Danke.« Ich lachte leise vor mich hin, bis ich die Stimme meines Freundes hörte. »Aha, der Herr Geister]äger läßt auch mal was von sich hören. Wie lief es bis jetzt?« »Recht gut.« Suko stieß einen Pfiff aus, daß ich fast den Hörer fallen ließ. »Dann hast du schon eine Spur von dem Killer?« »Das leider nicht.« »Was kann denn dann gut gelaufen sein?«
»Ich will es dir erklären.« In einer knappen Minute erfuhr Suko, was ich erlebt hatte, und er mußte zugeben, daß dies nicht von schlechten Eltern gewesen war. Dann fragte er: »Soll ich versuchen, etwas über Steve Cochran oder Ginny Day herauszubekommen?« »Das wird nicht nötig sein. Er ist Zuhälter, sie geht auf den Strich. Keine große Sache, außerdem weiß ich jetzt Bescheid.« »Aber ich bin mit am Ball, John. Hast du das vergessen?« »Nein, Suko. Es bleibt dabei, daß du hier beim Dunkelwerden als Rückendeckung auftauchst.« Ich streckte die Beine wieder aus. Die Haltung wurde zu unbequem. »Aber bleib zunächst draußen. Ich erkläre dir nur, wo mein Zimmerfenster liegt, das ich auflasse. Zur Sicherheit deponiere ich noch einen Hausschlüssel neben der Tür . . .« »Gute Idee.« Zu lange sprach ich auch nicht. Suko wollte nur noch wissen, was ich Glenda angetan hatte, denn ihr Gesicht mußte wohl entsprechend ausgesehen haben. »Nichts weiter. Ich habe ihr nur von Ginnys Einladung erzählt.« »O je. Weiß sie denn, womit diese Ginny ihren Lebensunterhalt bestreitet?« »Das weiß sie natürlich nicht.« »Dann werde ich es für mich behalten.« »Tu das. Und bis später.« Ich steckte das Telefon wieder in die Innentasche. Es gab Zeiten, da habe ich die Dinger regelrecht gehaßt, aber ohne waren Leute wie ich doch ziemlich aufgeschmissen. Ob es in diesem Haus ein Telefon gab, wußte ich auch nicht. Es war bisher nicht schlecht gelaufen, da war ich ehrlich gegen mich selbst. Nur dieser Steve Cochran bereitete mir Sorgen. Er gehörte zu den Typen, die nichts vergaßen, und ich war sicher, daß er nur auf den Einbruch der Nacht wartete, um endlich Rache nehmen zu können. Da mir die Gefahr bekannt war, sah ich sie nicht als so schlimm an. Außerdem würde ich so leicht nicht einschlafen und mich überraschen lassen. Trotzdem schwang ich die Beine hoch, legte mich aber nicht lang, sondern benutzte die Tasche in meinem Rücken als Stütze. Ich wollte über meine weiteren Pläne nachdenken, vor allen Dingen aber auch über den geheimnisvollen Killer. Er war noch nicht verschwunden. Es gab ihn. Ich hatte ihn nicht gesehen, aber gespürt, und ich hatte das Flüstern der Stimmen gehört, wobei ich mir auch jetzt nicht sicher war, ob nur eine Stimme mit mehreren Echos gesprochen hatte oder es viele gewesen waren. Beide Alternativen mußte ich in Betracht ziehen. Wie dem auch sei. Es würde etwas passieren. Der geheimnisvolle Killer wußte, daß ich mich im Haus befand, und wahrscheinlich war ihm auch bekannt, daß ich mich auf die Suche nach ihm gemacht hatte. Er mußte
also etwas unternehmen. Ich konnte in einer gewissen Ruhe auf ihn warten. Aus dem Flur hörte ich Geräusche. Diesmal waren es zwei fremde Männerstimmen. Eine klang nicht mehr ganz nüchtern. Dann fiel eine Tür mit lautem Knall zu. Ich hörte Lisa noch schimpfen. Schließlich war auch ihre keifende Stimme verstummt, und es trat wieder Ruhe ein. Das Fenster stand noch immer gekippt. Kühlere Luft fächerte in das Zimmer. Eine Heizung hatte man nicht eingebaut, nur einen kleinen Radiator zur Verfügung gestellt. Ich schaltete ihn nicht ein, mir war es warm genug. Ich dachte an Ginny und an ihre Angst. Sollte ich sie herholen? Es war bestimmt besser, auch wenn sie ein solches Zimmer nicht betreten wollte. Zur Not mußte ich mich ihr gegenüber eben zu erkennen geben oder Suko herkommen lassen, der sie in Schutzhaft nahm. Aber zuvor mußte mir Ginny sagen, was sie wollte. Ich war dabei, meine Beine über die Bettkante zu schwingen, als mein Blick zwangsläufig über den Fußboden streifte. Zuerst glaubte ich an eine Täuschung. Nur als ich genauer hinschaute, klopfte mein Herz plötzlich schneller. Auf dem Holzfußboden bewegte sich tatsächlich ein Gesicht auf das Bett und mich zu . . . *** Nach einer Erklärung suchte ich erst gar nicht. Ich nahm es einfach hin. In diesem Haus existierte ein Feind, der dabei war, sein Gebiet abzustecken. Ich sollte ihn sehen, er wollte mich in seiner Nähe spüren, so wurden Grenzen abgesteckt. Eine Überraschung war das Erscheinen des phantomhaften Gesichts schon für mich gewesen. Gepaart mit einem leichten Schock, weil ich nicht mit einem Angriff am Tage gerechnet hatte. Selbstverständlich schössen mir die Gedanken durch den Kopf. Woher kam es? Zu wem gehörte es? Welches verfluchte Wesen steckte in diesem Fußboden und wehte durch die Mauern? Die Beine zog ich an und setzte mich wieder auf das Bett. Den Vorsatz, es zu verlassen, hatte ich aufgegeben. Auf meiner kleinen Insel blieb ich als Beobachterposten hocken. Noch etwas bekam ich zu spüren. Man sagt immer, daß dort, wo Geister oder Geistwesen erscheinen, die Luft plötzlich kälter wird. Das war nicht nur Theorie. Ich hatte es selbst schon einige Male erlebt - auch hier. Es war kälter geworden. Nicht durch die Fensterlücke. Die Kälte drang vom Boden her in die Höhe. Sie kroch auf mich zu, fand den Weg durch meine Kleidung und glitt über den Körper hinweg, wo sie eine Gänsehaut hinterließ.
Inzwischen »schwamm« das Gesicht näher. Gespenstisch und geisterhaft, aber nicht allein, denn es zog dort, wo normalerweise der Hals beginnt, etwas hinter sich her wie einen hellen Schatten, der zudem allmählich zerflatterte. Das Gebilde erinnerte mich an Fäden, die allerdings blieben und sich nicht auflösten. Die geisterhafte Erscheinung war in ihrer normalen stofflichen Existenz früher einmal eine Frau gewesen. Noch zeichnete sich das schmale und zudem sehr jung wirkende Gesicht ab. Selbst in der feinstofflichen Form war dies nicht zu übersehen, ebenso wie die sehr langen Haare, die es umwehten. Ein niedliches Gesicht. Weiche Züge. Alles sehr jung. Ohne Falten. Ich stellte es mir normal vor. Da konnte dieses Mädchen höchstens sechzehn oder siebzehn sein und war in einer Zwischenwelt gelandet, wo es keine Ruhe fand. So etwas gab es. Und es waren nicht nur unbedingt irgendwelche Geschichten, die man sich erzählte, um sich gegenseitig Angst einzujagen. Innerhalb der Bohlen wirkte es wie von dünnen Pinselstrichen gezeichnet, aber dabei scharf konturiert, denn es floß nichts in- und durcheinander. Sogar die einzelnen Haarsträhnen konnte ich unterscheiden, und die Augen malten sich ebenfalls deutlich ab. Sie waren anders. Sehr weiß. Schon unheimlich hell. Es gab keine Pupillen, sondern nur eben das Weiße in den Öffnungen. Totenaugen . . . Auf dem Bett hockte ich mit angezogenen Knien und wartete ab. Mit einem direkten Angriff rechnete ich nicht. Der Geist war erschienen, um das Gelände zu sondieren und es abzustecken. Ich holte mein Kreuz hervor. Dabei ließ ich die feinstoffliche Erscheinung nicht aus den Augen und bewegte mich auch nur sehr langsam. Das Metall blieb kalt. Keine Erwärmung. Es spürte nicht die Nähe der anderen Gestalt. Beide schienen Welten voneinander getrennt zu sein, und das wunderte mich schon. Ich beugte mich vor. Noch schwamm die Erscheinung im Fußboden. Die hellen Augen, der offene Mund, als wäre er zum Schrei geöffnet, der nie mehr den Rachen verlassen konnte. Dann war es vorbei. Die Erscheinung sackte weg. Nicht die Bohlen bewegten sich, auch wenn es so aussah. Es war das Gesicht, das sich auflöste und zitternd in die Maserung hineindrängte, bevor es dann in der Tiefe verschwand. Ich war wieder allein. Tiefes Durchatmen. Das leichte Zittern verschwand. Der Schweiß klebte auf meiner Stirn, und mit einer mühsamen Bewegung wischte ich ihn weg. Die Erscheinung hatte sich nicht lange gezeigt, vielleicht für zwei,
drei Minuten, aber ich wußte jetzt, was mir bevorstand und mit wem ich es zu tun hatte. Es war ein Geist, aber auch ein Killer? Ja, davon mußte ich schon ausgehen. Mochte dieser Zuhälter auch noch so brutal und gefährlich sein, die vier Morde hatte er sicherlich nicht auf dem Gewissen. Es war diese feinstoffliche Erscheinung gewesen! Sie war gefangen in diesem Haus und konnte es nicht verlassen, weil sie unter einem bestimmten Druck stand. Es gab auch Regeln in der feinstoffliehen Welt, aber ich hatte keine Lust, mir jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Es würde eine akzeptable Lösung geben, da war ich sicher, und ich würde sie auch finden, ebenso wie das Motiv. Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob ich mich von meinem Bett. Ich trat genau auf die Stelle, in oder an der sich die Erscheinung zuletzt gezeigt hatte. Zu spüren war nichts, auch nicht, als ich nach dem Bücken die Hand dorthin legte. Da strömte keine Kälte auf meine Haut über. Der Geist hatte sich voll und ganz zurückgezogen. Natürlich fragte ich mich, wo er jetzt steckte. Unwillkürlich schaute ich mich um. Diese feinstoffliche Erscheinung konnte sich jedes Versteck leisten. In der Decke, der Wand und - wie gesehen - im Fußboden. . Auf der anderen Seite war ich froh, das Gesicht gesehen zu haben. Jetzt wußte ich wenigstens, mit wem ich es zu tun hatte. Ich kam mir nicht mehr so überflüssig vor. Allerdings in meiner trostlosen Bude. Sie war wirklich nicht viel wert. In ein derartiges Zimmer ging man, um Selbstmord zu begehen, das war alles. Nur wollte ich noch für einige Zeit am Leben bleiben. Auch wenn das in meinem Job nicht immer einfach war. Etwas zurückhaltend zog ich die Tür auf. Es war wieder ruhig auf dem Korridor geworden. Selbst von Raver hörte ich nichts. Aber normal kam er mir trotzdem nicht vor. Er glich eher einem Tunnel, der voller Überraschungen steckte, die sich allerdings nicht zeigten. Das wiederum ärgerte mich. Ich kam mir beobachtet vor. Unsichtbare Augen lauerten, taxierten mich, verfolgten jeden meiner Schritte, aber die Erscheinung brauchte nicht lange zu schauen, denn mein Weg führte mich wieder zu Ginny Day. ^ Ich wollte sehen, ob es ihr gutging und die Erscheinung nicht vor dem Besuch in meinem Zimmer bei ihr zugeschlagen hatte. Ziemlich laut klopfte ich gegen ihre Tür und hörte ein Geräusch, das nur entfernt Ähnlichkeit mit einer Stimme aufwies. Ich trat ein.
Ginny hatte ihren Platz am Tisch nicht verlassen. Nur die Sitzhaltung hatte sich verändert. Sie kam mir vor, als hätte ihr jemand befohlen, diese Pose einzunehmen. Ihr Kopf war nach vorn gesunken. Sie umklammerte mit einer Hand die beinahe leere Schnapsflasche und schaute jetzt mühsam hoch, als ich auf sie zuging. Dann lachte sie. Dieses Lachen kannte ich. Betrunkene lachten so, und Ginny war wirklich voll. Vielleicht hatte sie in ihrer Lage genau das Richtige getan. In diesem Zustand konnte sie einiges vergessen. Nur gab es auch eine schlechte Seite. Als Betrunkene war sie wehrlos, da hatten der Geisterkiller oder auch der Zuhälter leichtes Spiel. Sie war nicht so betrunken, als daß sie mich nicht erkannt hätte. Sogar meinen Namen wußte sie noch. »John - hi. . .« Ich nickte. »Hi, Ginny.« »Wie geht es dir, John?« lallte sie, ohne den Kopf zu heben. »Mir geht es beschissen. Ich habe mir furchtbar einen gepackt, verstehst du? Schrecklich gesoffen . . .« »Geht schon in Ordnung, Ginny, aber das hier ist kein guter Platz für dich.« »Warum nicht?« murmelte sie müde. Ich löste ihre Hand von der Flasche und gab ihr erst dann die Antwort. »Ich werde dich in dein Bett bringen, Ginny, da bist du jetzt besser aufgehoben.« »Wieso?« »Komm.« Sie war schwer. Ich faßte sie unter, und aus eigener Kraft konnte sie sich kaum bewegen. Sie hing wie eine Stoffpuppe in meinen Armen, murmelte immer etwas vor sich hin, ohne daß ich davon ein Wort hätte verstehen können. Der Weg zum Ziel war nicht weit. Ginny ließ sich auf, das Bett drücken. Sie lag auf dem Rücken. Ich konnte in ihr Gesicht schauen, in dem die Augen tatsächlich einen glasigen Ausdruck angenommen hatten. Die Lippen bewegten sich noch immer, aber ich hörte nichts mehr. Ich deckte sie zu. Bevor ich ging, streichelte ich ihr Gesicht, und sie hielt meine Hand fest. »Du bist toll, John, ehrlich. Du bist einfach irre.« »Klar, Ginny, geht schon klar.« »Willst du weg?« »Ja.« »Ich bin so müde.« »Dann schlaf jetzt.«
Sie murmelte etwas, und ihre Augen schlossen sich. Ich hatte zu ihr gesprochen wie zu einem kleinen Kind, und das schien ihr gefallen zu haben. Auf leisen Sohlen verließ ich das Zimmer, schloß die Tür und atmete zunächst tief durch. Das war geschafft. Schritte erregten meine Aufmerksamkeit. Ich hörte sie jenseits der Flurtür im Mittelteil. Die Tür wurde aufgerissen, und ein Mann im Stechschritt huschte hindurch. Es war einer der Mieter, und es überraschte mich, als ich ihn sah. Wenn er tatsächlich hier wohnte, paßte er nach meinem Dafürhalten vom Outfit her nicht in dieses Haus. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine graue Krawatte. In der linken Hand hielt er einen ebenfalls dunklen Hut. Die Finger der anderen Hand umspannten den Griff eines kleinen Managerkoffers. Der Typ wirkte wie gelackt, auch weil in seinem schwarzen Haar das Gel schimmerte. Ebenso blank waren seine Schuhe. Beide waren wir überrascht. Der Mann blieb für einen Moment stehen, dann kam er auf mich zu und schaute mich mit seinen braunen, eulenhaften Augen an. »Darf ich fragen, wer Sie sind, Mister?« Ich lächelte in dieses bleiche Trauergesicht. »Das dürfen Sie. Ich bin der neue Mieter. Mein Name ist John Sinclair.« Der Knabe überlegte. »Moment mal«, sagte er dann. »Soll das heißen, daß Sie in dem Mordzimmer . . .?« »Dort wohne ich.« »Sehr mutig, sehr mutig.« Er stellte seinen schmalen Koffer ab, um die rechte Hand frei zu haben. Er reichte sie mir, und als ich eingeschlagen hatte, stellte auch er sich vor. »Ich heiße Jason Leary. Falls Sie sich über meine Kleidung wundern, das gehört zu meinem Beruf. Ich bin Prediger und werde engagiert, um Begräbnisreden zu halten. Ob in der Trauerhalle oder am Grab, ich bin dafür der richtige Mann und nicht festgelegt.« »Was heißt das?« »Sie können mich auch für lustigere Anlässe mieten. Hochzeiten, zum Beispiel, wobei ich nicht weiß, ob die immer lustig sind.« Er lachte meckernd, griff dann in seine Jackentasche und holte eine Visitenkarte hervor. »Wenn Sie mal jemanden wie mich brauchen, dann rufen Sie mich doch an, Mr. Sinclair.« »Mal sehen.« Ich wollte die Karte schon nehmen, aber Jason Leary zog die Hand wieder zurück, was mich wunderte, und das sagte ich ihm auch. »Wissen Sie, Mr. Sinclair, ich weiß nicht, ob es sich lohnt, Ihnen meine Karte zu geben. In Ihrem Zimmer hat es bereits vier Tote gegeben. Und ich befürchte, auch Sie werden nicht mehr lange leben. Also brauche ich die Karte nicht aus der Hand zu geben. Sie verstehen?«
»Klar doch, Mr. Leary.« Er nickte mir noch einmal zu und näherte sich der Wohnung, die neben Ravers lag. Trotz des Ernstes dieser Lage mußte ich grinsen. In dieser Baracke wohnten wirklich komische Typen. Eine derartige Mischung hatte ich noch nicht erlebt. Jason Leary war in seinem Zimmer verschwunden, und ich setzte meinen Weg fort. Ich wollte die Baracke verlassen, weil ich unbedingt frische Luft brauchte. In diesem Bau war es doch ziemlich feucht. Ich kam mir vor wie in einem alten Knast. Die breite Mitteltür ließ sich leicht öffnen. Ich betrat den vorderen Teil des Flurs, der wesentlich kürzer war. An der rechten Seite lag eine Tür. Auf dem Holz prangte ein Namensschild. Mit dicken, schwarzen Buchstaben hatte sich Lisa Fox dort verewigt. Zu ihr wollte ich nicht, sondern wandte mich nach links, um die Haustür aufzustoßen. Sie war nicht abgeschlossen. Ohne eine Stufe zu benutzen, trat ich ins Freie. Die Luft roch schlecht. Der Hauch von Frühling hatte sich wieder verkrochen. Wolken und Dunst wehten über die Stadt und hielten den Gestank des Industrieviertels fest. Die Kulisse zeichnete sich vor mir ab. Ich sah die hohen Bauten der Lagerhäuser, aber auch die Kräne, die ihre mächtigen Stahlskelette in den Himmel reckten. Alles in einer gewissen Entfernung, aber der Lärm des Hafens drang noch an meine Ohren. Das Haus lag nicht in einer Straße, sondern in einer Gasse. Schlechtes Pflaster bedeckte den Boden. Nicht weit entfernt sah ich das Blechschild einer Kneipe. Kinder spielten in der Nähe Ball. Neben dem Haus war ein Grundstück frei und als wilde Müllkippe zweckentfremdet. Sicherlich ein Paradies für Ratten. Ich ging einige Schritte zur Seite und bewegte mich an der Schmalseite der Baracke auf die Rückseite zu. Die Mauer war zwar verputzt worden, aber im Laufe der Zeit hatte der Putz doch sehr gelitten. An vielen Stellen hatte er sich gelöst wie eine alte Haut. Darunter waren die alten Ziegelsteine zum Vorschein gekommen. Sie mußten mal rot gewesen sein. Jetzt hatten sie eine bräunliche Farbe bekommen, weil sie feucht waren. Auf dem Dach der Baracke wuchs sogar Unkraut. Es hing über den Dachrand hinweg, als wollte es irgendwann einmal das gesamte Gebäude umschlingen. Der Nachmittag ging allmählich dahin. Es näherte sich der Abend. Im April waren die Tage schon relativ lang, und es würde noch etwas dauern, bis die Dunkelheit eintrat. Ich war an einer günstigen Stelle stehengeblieben, wo ich unbeobachtet telefonieren konnte. Wieder wählte ich Sukos Büronummer. Er wollte bis
zu einer gewissen Uhrzeit warten, bevor er seinen Nachtdienst hier in der Nähe begann. »Ich bin es.« »Okay. Und?« »Den Killer habe ich bereits gesehen.« Suko reagierte schlagfertig. »Dann gratuliere ich dir dazu, daß du noch lebst.« »Danke, aber so schlimm war es nicht. Es glich eher einer ersten Kontaktaufnahme oder einem gegenseitigen Belauern.« Er bekam von mir einen Bericht, der ihn nicht sonderlich beeindruckte. Suko fragte nur: »Bleibt es denn bei unserem Plan?« »Sicher.« »Wie komme ich ins Haus?« »Ich lege dir den Schlüssel rechts neben die Tür, versteckt unter einem Stein.« »Okay. Wenn es dämmert, bin ich da, auch wenn du mich nicht siehst, Alter.« »Ja, bis dann.« Auf Suko konnte ich mich voll verlassen. Das war das Gute an unserer Zusammenarbeit. Es hatte uns schon so machen Pluspunkt gebracht und aus gewissen Situationen gerettet, die sehr lebensgefährlich gewesen waren. Viel zu sehen gab es an der Rückseite nicht. Abgesehen von der hinteren Hausfront mit ihren Zimmerfenstern konnte ich nichts erkennen, was mich hätte fröhlich stimmen können. Eine Mauer auf einem brachliegenden Industriegelände, wo nur mehr traurige Reste herumlagen. Wie Trümmer nach einem Bombenangriff. Ich ging wieder zurück. Ohne daß es von mir bewußt beeinflußt worden war, hatte sich die Spannung in meinem Innern erhöht. Da reagierte ich wie ein Seismograph auf Erdbeben. Es lag etwas in der Luft, und das war nicht eben gut. Lisa Fox wußte viel. Vielleicht sogar alles. Deshalb wollte ich sie noch einmal besuchen und auf mein Erlebnis mit der feinstofflichen Gestalt zu sprechen kommen. Bevor ich die Baracke allerdings betrat, versteckte ich neben der Tür den Schlüssel unter einem flachen Stein. Daß die Tür abgeschlossen wurde, wenn die Dämmerung eintrat, hatte mir Lisa Fox erzählt. Draußen war es nicht besonders hell gewesen, aber im Flur nahm mich wieder die graue Düsternis gefangen. Erst jetzt fiel mir auf, daß Lisa Fox ein besonderes Privileg hatte, denn rechts neben ihrer Tür zeichnete sich ein Klingelknopf ab. Den drückte ich nach unten und hatte den Finger kaum zurückgezogen, da wurde die Tür bereits geöffnet. Lisa schien auf mich gewartet zu haben. Lächelnd und nicht mal überrascht, schaute sie mich an.
»Kommen Sie rein, Mr. Sinclair, an Sie habe ich gerade gedacht.« »Warum?« »Kommen Sie, das zeige ich Ihnen.« Auch sie bewohnte nur einen Raum, und in ihm fiel der runde Tisch besonders auf. Er stand in der Mitte. Eine gehäkelte Decke lag auf der Platte, die zusätzlich noch von einem Blumenstrauß geschmückt wurde. Bewegen konnte man sich nicht sehr gut, denn die Bude war mit ziemlich viel Kitsch und Trödel vollgestopft. Auf der alten Couch mit der gebogenen Lehne standen oder saßen Puppen der unterschiedlichsten Größen. Die vier verschiedenen Stühle am Tisch waren entweder gepolstert oder mit Geflecht bezogen. Kleine Regale an den Wänden, ein alter Schrank, dessen Tür nicht ganz geschlossen war, und ein Bett in der Ecke, dessen Bezug beinahe das gleiche Blümchenmuster zeigte wie die Tapete. Lisa schien sich hier relativ wohl zu fühlen. Im Gegensatz zu mir. Ich betrachtete auch die zumeist kleinen Bilder an den Wänden, die allesamt fremde Motive zeigten. Fotografien aus den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, aber keine persönlichen Aufnahmen. Lisa hatte meinen Blick bemerkt, und sie fragte: »Gefällt es Ihnen, Mr. Sinclair?« »Ja, es ist sehr nett. Es wundert mich schon, was man aus so einem Zimmer machen kann.« »Ich wollte individuell leben.« »Kann ich verstehen.« Mit der Einrichtung von Sarah Goldwyns Zuhause war dieses Zimmer nicht zu vergleichen. Die Horror-Oma hatte Stil, hier aber herrschte Enge. Das Zimmer war so vollgestellt, daß man sich kaum bewegen konnte. »Was wollten Sie mir zeigen, Mrs. Fox?« »Ach, sagen Sie doch wieder Lisa.« »Okay, Lisa.« »Hier, kommen Sie ans Licht.« Ich folgte ihr bis zu einer schirmbesetzten Wandleuchte. Dort hielt sie eine kleine Karte hoch. Mit schwarzem Filzstift hatte sie den Namen Sinclair in Druckbuchstaben darauf geschrieben. »Für Sie, John. Für die Tür.« »Das finde ich aber nett - danke.« Lisa strich etwas verlegen durch ihr Haar. Sie hatte es ordentlich gekämmt und sich wohl ihre besten Sachen angezogen. Zudem lag ein leichtes Makeup auf ihrem Gesicht, auch die Augenbrauen hatte sie nachgezogen, und ihr Parfümgeruch erreichte meine Nase. »Nicht der Rede wert«, sagte sie. »Ich mache das für jeden neuen Mieter. Ist so meine Art, wissen Sie.« »Das macht aber nicht jede.«
Sie errötete, wollte das Thema wechseln, aber ich mußte noch etwas hinzufügen. »Außerdem beweist die Karte, daß Sie mit einem längeren Aufenthalt meinerseits in diesem Haus rechnen.« »Ja, das tue ich.« Sie nickte zweimal. »Und darauf sollten wir ein Glas trinken.« »Ich habe nichts dagegen.« »Setzen Sie sich ruhig.« Eine Hand legte sich gegen meinen Rücken und schob mich auf den Tisch zu. »Ich habe einen guten Rotwein, die Flasche ist schon offen, denn ich wollte mir gerade selbst ein Glas gönnen. In Gesellschaft trinkt es sich aber besser.« »Das meine ich auch.« Eine winzige Küchenzeile war ebenfalls noch in dieses Zimmer eingebaut worden. Dort stand die bereits geöffnete Flasche. Gläser schaffte Lisa auch herbei, dann setzte sie sich neben mich, und ich schenkte ein. Beide schauten wir zu, wie der Wein in die Gläser rann. Da der Heizofen eingeschaltet war, war es angenehm warm im Zimmer. Lisa trug ein beigegelbes Sommerkleid mit aufgedruckten kleinen Blumen. Das Kleid war nicht eben lang. Beim Sitzen war es noch höher gerutscht. Die Oberschenkel lagen ziemlich frei. Und obenherum war auch kräftig am Stoff gespart worden. Wir prosteten uns zu und stießen auch mit den Gläsern an. Erst als der helle Ton verklungen war, tranken wir. Mich überraschte die Qualität des Getränks, und damit hielt ich auch nicht hinter dem Berg. Lisa errötete noch stärker. »Na ja, etwas muß man sich ja auch gönnen, John, sonst hat das Leben keinen Sinn mehr.« »Richtig, da sagen Sie was.« »Und wie geht es Ihnen? Schon eingelebt?« Ich schaute sie an. Wir saßen nicht weit voneinander entfernt. In ihren Augen entdeckte ich einen etwas verhangenen Ausdruck. Mit einer Hand strich Lisa so sanft über die Tischdecke hinweg, als würde sie sie streicheln. Ich hob die Schultern. »Eingelebt ist zuviel gesagt«, erklärte ich. »Aber es hat schon erste Schwierigkeiten gegeben.« »Ach. Wieso denn?« Ich konzentrierte mich auf ihre erstaunten Augen. »Ich habe einige Mieter erlebt, nicht eben von der besten Seite.« »Wer war das denn?« »Ginny Day.« »Aha.« Die Antwort bewies mir, daß sie Bescheid wußte. Ich ging nicht näher darauf ein, sondern rückte mit den beiden nächsten Namen heraus. »Raver und Cochran.« »O ja.« »Raver scheint ja harmlos zu sein, was man von Cochran allerdings nicht behaupten kann.«
»Wieso?« »Kennen Sie ihn nicht so gut?« Sie spielte mit ihrem Glas und drehte es auf der Tischplatte. »Sagen wir so, John, ich kenne ihn nicht gut. Ich mag ihn aber auch nicht. Er ist mir unsympathisch. Ich finde ihn sogar widerlich, aber ich kann nichts gegen ihn unternehmen, weil er ja Ravers Freund ist und auch nicht immer hier wohnt, sondern nur, wenn er Raver besucht.« »Wobei er nicht nur zu ihm will.« »Das ist mir neu.« »Er ist auch Ginnys Zuhälter.« Lisa Fox hatte trinken wollen, aber die Hand mit dem Glas blieb auf halbem Weg in der Luft stehen. Dann stellte sie es so hart auf den Tisch, daß sogar Wein überschwappte. »Sagen Sie das noch mal, John. - Nein, das kann doch nicht wahr sein.« »Es stimmt.« Sie preßte die Hand gegen ihren wogenden Busen und flüsterte: »Wie konnte das denn passieren?« »Was meinen Sie?« »Daß Sie mit diesem verdammten Kerl aneinandergeraten sind?« Ich erzählte ihr, was ich mit Ginny und auch mit dem Zuhälter erlebt hatte. Lisa staunte immer mehr. Sie schüttelte sogar den Kopf, als könnte sie es nicht glauben. Dabei leerte sie das Glas bis auf einen geringen Rest und sagte: »Alle Achtung, John.« »Wieso?« »Daß Sie es geschafft haben, diesen Steve Cochran zu überwinden. Normal ist das doch nicht.« »Ich habe Glück gehabt.« Sie blickte mir aus schmalen Augen ins Gesicht. »Nein, John, das glaube ich Ihnen nicht.« »Warum nicht?« Sie deutete auf ihre Brust. »Gefühl, verstehen Sie?« »Nun ja, das . . .« »Sie passen nicht in diese Baracke, das war mir sofort klar, als ich Sie zum erstenmal sah. Irgendwie lief bei Ihnen alles anders ab, als bei den anderen Mietern.« »Wie denn?« »Es ging so plötzlich. Gestern noch war die Wohnung nicht belegt, und heute leben Sie darin.« »Das ist doch nicht tragisch - oder?« »Nein, nein, nein. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin ja froh, daß Sie hier wohnen wollen, aber ungewöhnlich ist das - sind Sie schon.« »So, meinen Sie das?« »Ja, ich glaube das.« Sie fing jetzt an zu lächeln. »Und ich bin mir ziemlich sicher, daß Sie nicht derjenige sind, als der Sie sich ausgeben.«
Ich ließ mir nichts anmerken, aber Lisa war schon eine schlaue Person, und in meinem Kopf klingelten bereits leise die Alarmglocken. Meine Identität wollte ich auf keinen Fall lüften. »Moment«, sagte ich deshalb, »das müssen wir gleich klarstellen.« Ich griff in meine Innentasche und holte meinen Ausweis hervor, den ich auf den Tisch legte. »Schauen Sie ruhig nach.« Lisa Fox las den Text, hob die Schultern und meinte, als ich den Ausweis wieder wegsteckte: »Das ist schon okay. Der ist echt.« »Dann können Sie ja zufrieden sein.« Sie winkte ab. »Nicht so ganz, denn mein Gefühl ist es nicht.« »Was habe ich denn falsch gemacht?« »Nichts, John, nichts.« . »Na bitte .« »Sie sind also derjenige, für den Sie sich ausgeben. Sie haben eine Wohnung gesucht und sie endlich gefunden . . .« »Natürlich.« Lisas Gesicht zeigte einen Ausdruck, der mir bewies, daß sie die Antwort nicht glaubte. »Und genau da fange ich an zu zweifeln. Das könnte auch anders sein.« »Nein, warum denn?« Lisa hob die rechte Hand. Vier Finger zeigte sie mir. »Es sind vier Menschen in diesem Haus getötet worden. Alle im selben Zimmer. Die Polizei hat den Mörder nicht gefunden, sie hat nicht mal etwas feststellen können.« »Eben.« »Ja, das ist das Problem. Nicht mit normalen Methoden, aber wenn es so nicht klappt, dann greift man eben zu etwas anderem. Sie verstehen, John?« Ich atmete durch die Nase ein. »Ja, ich fange an, Sie zu begreifen, Lisa. Sie halten mich also für einen Polizisten, der in geheimer Mission unterwegs ist.« »Nein, nicht unbedingt für einen Bullen. Ich denke da eher an einen Privatdetektiv.« »Nein«, erklärte ich. »Wirklich nicht?« Sie zweifelte noch immer. »Sie können es mir glauben.« Da schüttelte die Frau den Kopf. »Glauben oder nicht, John, ich habe es mir abgewöhnt, etwas zu glauben, denn das heißt nicht wissen. Ich verlasse mich da mehr auf mich selbst.« Sie streckte den Arm aus, um mich anzufassen. Die Bewegung fiel etwas zu hektisch aus, und mit dem Ellbogen stieß sie gegen das Weinglas. Es kippte um, fiel zu Boden und zerbrach. Der Inhalt versickerte im Teppich, wo er einen Fleck hinterließ, der beinahe so aussah wie Blut. »Bin ich ungeschickt!« beschwerte sich die Frau. Sie wollte sich bücken, um die Scherben aufzuheben, aber ich war schneller. Von meinem Stuhl
aus griff ich nach den Resten. Das Glas war praktisch nur in drei Teile zerbrochen, die ich auf meinen linken Handteller legte, um sie anschließend auf dem Tisch zu drapieren. Lisa Fox war aufgestanden und zu der Küchenzeile gegangen. Sie kehrte mit einem kleinen Salztopf zurück und verstreute die Kristalle auf dem Blutfleck. Dabei bückte sie sich. Ich konnte erkennen, daß sie unter dem Kleid, zumindest in der oberen Hälfte, nichts trug. »So, das müßte reichen«, sagte sie und rieb ihre Handflächen am Saum der Decke ab. »Seien Sie doch so nett und schenken Sie mir noch einen Schluck ein.« Ich griff nach der Flasche und tat ihr den Gefallen. Lisa hob das Glas. Sie hatte sich einen besonderen Trinkspruch für mich aufgehoben. »Auf einen rätselhaften Mann . . .« Ich konterte. »Auf eine nette Frau.« »Danke.« Wir tranken. Der Wein schmeckte mir noch immer, aber nicht so gut wie beim ersten Schluck. Ich stellte das Glas ab und dachte darüber nach. Dabei schaute ich Lisa an. Irrte ich mich, oder blickte sie mit einer besonderen Spannung zurück? Ihr Gesicht war noch dasselbe, aber es hatte sich trotzdem irgendwie veränderte, denn die Augen kamen mir größer vor. Ich wollte sie darauf ansprechen, nur fiel es mir schwer, Worte zu finden, und ich bekam auch meine Stimme nicht richtig unter Kontrolle. Irgend etwas war da nicht mehr in Ordnung. »Was ist denn, John?« Eine simple Frage. Nur wenige Worte. Sie aber hallten in meinem Kopf nach wie Donnerschläge. Verdammt, sie hatte mich reingelegt. Sie mußte etwas in meinen Wein getan haben, als ich die Scherben aufgesammelt hatte. Verflucht auch, ich war auf den ältesten Trick der Welt hereingefallen, aber ich versuchte mit aller Macht, mich zusammenzureißen. Der Schweiß brach mir aus allen Poren. Ich fühlte mich verdammt mies, und ich merkte, wie ich immer mehr die Kontrolle über mich verlor. Die Umgebung schien unterzugehen. »Lisa . . .«, würgte ich hervor. »Was ist denn?« Sie bekam keine Antwort mehr, denn mein Kopf wurde plötzlich schwer und sackte nach vorn. Zu schwer. Ich konnte mich nicht mehr halten. Lisa erhob sich. Wie ein Schatten schwebte sie von ihrem Stuhl hoch und schaute zu, wie ich zu Boden fiel. Aber das merkte ich schon längst nicht mehr . . . ***
Das Lachen klang böse und auch gemein. Zugleich triumphierend, denn Lisa lachte wie eine Hexe, die einen Sieg errungen hatte. Und so ähnlich fühlte sie sich auch. Vor ihr lag Sinclair. Einer, der sie hatte täuschen wollen. Jetzt war er selbst reingefallen. Wenn es jemanden gab, der andere täuschte, dann war sie es. So hatte sie es immer gehalten, auch bei dem Auffinden der vier Leichen. Alle hatte sie damit reinlegen können, und jetzt auch diesen verdammten Schnüffler. Daß Sinclair zu dieser Sorte gehörte, stand für sie fest, aber sie brauchte den letzten Beweis. Deshalb bückte sie sich und drehte den schlaffen Körper des Mannes auf den Rücken. So war es einfacher für sie, in seine Taschen zu gelangen. Und sie wollte etwas finden, das auf seine wahre Identität hinwies. Lisa arbeitete schnell und geschickt. Deshalb dauerte es nicht lange, bis sie einen bestimmten Ausweis gefunden hatte. Sie schaltete die Deckenleuchte ein. Der mit Stoff verkleidete Halbmond hing über der Tischmitte. Sehr genau studierte sie den Ausweis, nickte dabei, um dann zu flüstern: »Das ist der Hammer! Sie haben sogar einen Yard-Bullen geschickt. Hätte man sich auch denken können.« In einem Anfall von Wut trat sie Sinclair gegen die Hüfte, bevor sie sich wieder umdrehte, den Ausweis in der Hand schwang wie einen Fächer und dabei überlegte, was sie mit Sinclair anstellen sollte. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn umzubringen, und es hätte ihr auch nichts ausgemacht, aber sie wollte raffinierter vorgehen und einer bestimmten Person das Wichtige überlassen. Möglicherweise konnte sie Sinclair noch brauchen. Den Ausweis steckte sie wieder zurück in seine Tasche, bevor sie zur Tür des kleinen Bades ging. Sie öffnete sie, schaltete in dem Raum dahinter das Licht ein, dann ging sie wieder zurück und schleifte den schweren Körper unter ziemlichen Anstrengungen auf das Bad zu, das größer war als die anderen. Es hatte noch eine kleine Badewanne darin Platz gefunden. Mit großem Kraftaufwand wuchtete sie Sinclair dort hinein und setzte ihn so hin, daß er festklemmte. Für ihn war die Wanne zu klein, eine liegende Position konnte er nicht einnehmen. Das war ihr auch egal. Zufrieden verließ sie den kleinen Raum und schaute noch zufriedener auf die Pistole, die sie dem Bullen abgenommen hatte. Zwar wollte sie die Waffe verstecken, aber auch so hinlegen, daß sie schnell drankam, wenn es nötig war.
Im Zimmer schaute sie sich um. Der Blick blieb an einer kleinen Anrichte hängen. Auf ihr stand eine breite Tonschale, die rot und blau bemalt war. In der Schale saß ein knallgrüner Stofffrosch. Die Waffe verschwand dahinter. Lisa Fox war zufrieden. Lächelnd schenkte sie noch Wein nach und dachte daran, daß die Nacht ruhig kommen konnte . . . *** »Ich mach sie fertig! Ich mach sie fertig! Die wird sich selbst nicht mehr erkennen. Und dann kommt dieser Neue dran. Dem schneide ich die Kehle durch und anschließend die Ohren ab, die ich dann an die Wand nagele, darauf kannst du dich verlassen!« Steve Cochran hatte dieses Versprechen gegeben, als er mit nacktem Oberkörper das schmale Bad verließ. Er hatte sich dort abgekühlt und kaltes Wasser über seinen Kopf laufen lassen. Jetzt trocknete er sich mit einem kratzigen Handtuch die Haare ab und wischte sich auch über das Gesicht. Er war niedergeschlagen worden. Man hatte ihn gedemütigt, und die Folgen des Tritts spürte er noch immer. Da hatte auch das kalte Wasser nichts daran ändern können, denn im Schädel tuckerte und pochte es, was ihn mehr als wütend machte. Er ließ sich in einen zerschlissenen Sessel fallen und legte das nasse Handtuch über die Lehne. Raver saß auf dem Bett. Er hörte keine Musik mehr, aber er hatte nachgedacht und sagte. »Ich will dir ja nichts, Steve, aber das solltest du dir schon überlegen.« »Wieso?« »Das mit dem Umbringen« »Hast du Schiß?« Raver lachte glucksend. »Schiß? Ich doch nicht.« Er wies auf seinen Kumpel. »Du müßtest Schiß haben.« Bevor Cochran etwas sagen konnte, redete Raver schnell weiter. »Wenn du Ginny was antust und den Neuen killst, wird man dich auch für den Mörder der anderen vier Typen halten. Daran glaube ich fest.« Cochran überlegte. Obwohl Raver nur wenig gesagt hatte, mußte er über die Worte nachdenken. Wenn er ehrlich war, konnte man sie nicht so einfach von der Hand weisen, aber in ihm steckte trotzdem ein irrsinniger Haß. Man hatte ihn gedemütigt, und das schrie nach Rache. Zumindest bei einer Type wie Cochran. »Du denkst nach?« fragte Raver. »Mal sehen.« »Warte es ab.« Cochran lachte nur. »Abwarten, verdammt! Wie lange denn? Tage, Wochen oder . . .?«
»Nur so lange, bis es richtig dunkel ist.« Steve horchte auf. »Und dann? Was soll ich dann tun? Beide fertigmachen? Die eine so, den anderen so.« »Könntest du, aber du solltest variieren.« »Was ist das schon wieder?« Der Techno-Freak klemmte seine Hände um die angezogenen Beine und meinte: »Was Ginny angeht, stehe ich auf deiner Seite. Die braucht eine Lektion, wenn sie dich beschissen hat. Aber bei dem Kerl bin ich mir nicht so sicher. Ein Mord ist was anderes.« »Hast du einen besseren Vorschlag?« »Ja, du machst ihn fertig. Schlägst ihn zusammen, daß er nicht mehr weiß, ob er Mensch oder Hund ist. Erst nimm dir Ginny vor, dann diesen neuen Mieter.« Cochran dachte nach. Da seine erste große Wut etwas verraucht war, kam ihm der Vorschlag nicht mal so schlecht vor. Auch ohne Pistole und Messer kam er sich dem Neuen gegenüber besser vor. Besonders dann, wenn er ihn in seiner Bude überraschte. »Und?« fragte Raver. »Hast du dich entschieden?« »Ja!« brummelte Steve. »Ich mache es. Ich werde deine Theorie in die Tat umsetzen.« »Toll gesagt. Ist auch vernünftig.« »Hilfst du mir denn?« Raver zögerte mit der Antwort. »Na ja, mal sehen, wie es läuft. Am besten wird es sein, wenn du schon mal anfängst. Sollte es zu großen Ärger geben, kannst du mich ja holen.« »Du hast Schiß!« Der Techno-Freak hob die Schultern. »Was heißt hier denn Schiß? Das ist nicht meine Sache. Wir beide sind da schon verschieden. Das weißt du doch.« »Ist schon gut, Raver, ich ziehe das erst mal allein durch.« Steve streckte die Beine aus. Er hatte Kopfschmerzen und keine Lust, sich zu streiten. Tabletten befanden sich nicht im Haus, und das andere Zeug, das Raver nahm, um sich aufzuputschen, wenn er die Nächte durchtanzte, half nicht gegen Kopfschmerzen. »Was willst du jetzt machen?« »Warten auf die Dunkelheit.« »So lange?« »Oder auf die Dämmerung?« »Das hört sich schon besser an.« »Dann gehe ich zu Ginny«, murmelte der Zuhälter, und sein Freund bekam mit, wie die Stimme wegsackte, denn die Erschöpfung hatte Cochran überfallen. Er konnte die Augen nicht mehr aufhalten und schlief auf der Stelle ein.
Raver verhielt sich ruhig, auch wenn er zappelig war, denn er brauchte wieder seine akustischen Genüsse. Diesmal nahm er auf seinen Kumpan Rücksicht, legte die CD auf und hörte sich die Musik über den Kopfhörer an. Danach verließ er das Bett und tanzte im Zimmer so wild, als wollte er sich die Knochen einzeln ausschütteln. Er tanzte noch, als Cochran erwachte und blinzelnd die Augen aufschlug. Sehr fest und tief hatte er geschlafen. So wußte er im ersten Moment nach dem Erwachen nicht, was eigentlich los war. Er sah vor sich den Kasper, der voll und ganz in seine Musik und die Bewegungen versunken war, und allmählich fiel ihm ein, was er sich vorgenommen hatte. Sein Plan tauchte auf wie aus einem dicken Nebel. Mit beiden Händen umfaßte er seinen Kopf, aus dem die wütenden Stiche und Schmerzen verschwunden waren. Zurückgeblieben war nur ein leichter Druck, aber der ließ sich ertragen. Während des Schlafs hatte sich Cochran nach vorn bewegt und wäre beinahe vom Stuhl gekippt. Jetzt nahm er wieder eine normale Lage ein und konzentrierte sich auf den miesen Geschmack in seinem Mund. Hatte er einen Kamin ausgeleckt? Mit ziehenden Gliedern erhob er sich und ging an Raver vorbei, der ihn gar nicht zur Kenntnis nahm. Er hatte sich in eine Art von Trance getanzt, als wollte er für die Weltmeisterschaft üben. Im selben Bad spülte Cochran seinen Mund aus. Der üble Geschmack verschwand. Noch einmal kühlte er sein Gesicht. Als er hochkam und im fast blinden Spiegel über dem Becken trotzdem seine Platzwunde erkannte, überkam ihn wieder die Wut. Er nahm sich vor, mit den beiden besonders hart abzurechnen, und dieses wilde Vorhaben ließ den kalten Schweiß auf seinen Handflächen entstehen. Die würden sich wundern! Mit diesem Gedanken griff er nach seinem Hemd und streifte es über. Es hatte noch im Bad auf dem Deckel der Kloschüssel gelegen. Raver tanzte nicht mehr. Er hielt den Kopfhörer in der rechten Hand und schwang ihn hin und her. Mit den Gedanken war er noch immer in seiner Musik verhaftet. Er starrte Steve an wie einen Fremden. Cochran drückte seine Haare zurück. »Es ist soweit, Raver, ich verschwinde jetzt.« »Klar.« »Du weißt noch alles?« Der Knabe mit dem Ziegenbart und dem Vogelnest als Haarschmuck grinste dümmlich. »Das meiste habe ich behalten. Gib es ihr, und mach den Neuen fertig.« »Werde ich schon, keine Sorge.« Cochran hob die Arme an. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Damit«, erklärte er, »damit nehme ich die beiden auseinander.« . »Super.«
Bevor Cochran das Zimmer verließ, schaute er noch nach draußen und war zufrieden. Zwar hatte die Nacht den Tag noch nicht abgelöst, aber die Dämmerung spendete bereits viel Schatten. Um diese Zeit war es im Haus ruhig. Wer am Abend losgehen wollte, der war schon weg. Ansonsten hockten die Mieter vor der Glotze oder soffen sich einen an. Ein letztes Nicken, dann ging Cochran auf die Tür zu. Er war sehr vorsichtig, schaute in den Flur, fixierte Ginnys Tür und grinste dann, als er daran dachte, daß auch sie an diesem Abend bestimmt keinen Freier in die Bude holen würde. Cochran schloß die Tür leise hinter sich. Bis zum ersten Ziel brauchte er wirklich nicht weit zu gehen, aber er ließ sich Zeit. Zudem wollte er zunächst an der Tür horchen, um eventuell herauszufinden, was Ginny tat. Hinein in ihre Wohnung würde er immer kommen. Schließlich besaß er einen Nachschlüssel. Er kannte den Flur, und er mochte ihn nicht. Steve Cochran kam diese Strecke immer so vor wie der letzte Weg im Leben eines Schwerverbrechers, der zum elektrischen Stuhl. Sehr oft hatte er diesen Korridor durchschritten. Er haßte ihn, obwohl er jede Holzbohle so gut kannte, daß er ihr schon einen Namen hätte geben können. Er wußte auch, welche besonders laut knarrte, wenn sie sein Gewicht spürt. Auch die Tür des Neuen sah er. Sein Blutdruck stieg, als er an diesen Scheißkerl dachte. Der würde an die folgenden Stunden noch lange zurückdenken, das wußte Steve schon jetzt. Einen Schritt vor den anderen setzte er und bewegte sich wie ein Fremder. Er tastete die Bohlen unter sich ab, belastete sie zuerst mit einem Teil seines Gewichts, bevor er weiterging. So kam er weiter, den Blick auf Ginnys Zimmertür gerichtet. Der Mund war zu einem kalten Grinsen verzogen, die Augen zu Schlitzen verengt. Er hörte noch nichts und konnte sich vorstellen, daß Ginny im Bett lag und schlief. Um so besser für ihn. Der nächste Schritt. Etwas war anders. Steve Cochran merkte es in dem Augenblick, als sein rechter Fuß den Bodenbelag berührte. Da spürte er nicht mehr die gleiche Härte, sie war einfach verschwunden und hatte einem schwammigen Gegendruck Platz schaffen müssen. Cochran begriff das nicht. Er blieb auf der Stelle stehen und schüttelte den Kopf. Es war verrückt, nicht erklärbar. Das Holz hatte immer gehalten. Aber jetzt kam es ihm vor, als wäre es dabei, sich aufzulösen. Er schaute nach unten. Da hörte er die Stimme.
Oder waren es mehrere? Ein böses Flüstern, ein geheimnisvolles Wispern, eine unheimlich klingende Warnung, die einen kalten Schauer auf seinem Körper hinterließ. Plötzlich klopfte sein Herz schneller. Cochran traute sich nicht, den Kopf anzuheben. In der gebückten Haltung blieb er stehen. Er schaute zu Boden und weiter in den Flur hinein, und er sah, daß sich dicht unter den Bohlen - oder darüber hinweg? - etwas bewegte. Es schwamm auf ihn zu. Die Stimmen blieben. Lauter sogar und trotzdem leise. Sie malträtierten seine Ohren, und von der linken Seite her hörte er plötzlich ein Kichern. Cochran drehte den Kopf. Was er sah, war unglaublich und ließ ihn beinahe an seinem eigenen Verstand zweifeln. Aus der Wand hatte sich ein Schädel gelöst. Das heißt, nicht ganz, er hing noch fest, wirkte aber wie abgeknickt, denn seine Haltung war einfach nicht normal. t Der geisterhafte Kopf gehörte einem jungen Mädchen mit kalten, weißen Augen und sehr langem Haar, das nach unten hin und beinahe seinen eigenen Kopf streichelte. Er stöhnte auf. Steve wußte auch, daß er einen Fehler begangen hatte. Plötzlich dachte er wieder an die vier Morde. Sie waren in einem bestimmten Zimmer passiert, was aber nicht hieß, daß man diese Tatsache schon als Gesetz der Serie ansehen mußte. Es war durchbrochen worden. Jetzt war der Killer bei ihm. Nein, das stimmte nicht. Es war eine Killerin, und zudem kein Mensch, denn der konnte sich nicht in einer Wand verstecken. Ein Geist. Das mußte einfach ein Geist sein. Er wußte nicht viel darüber, aber er nahm es einfach hin. Mit dem Herzklopfen verstärkte sich auch seine Angst. Sie fuhr wie glühende Säbel durch seinen Körper. Er merkte, wie sich bei ihm alles zusammenzog. Dann bekam er mit, wie sich die Lippen in diesem geisterhaften Gesicht zu einem häßlichen Grinsen verzogen. So grinste nur jemand, der Bescheid wußte. Für den andere schon so gut wie tot waren. Cochran wollte weg. Er mußte weg. Da packten die Geisterklauen zu! *** Steve Cochran wußte nicht, woher sie so plötzlich gekommen waren. Er spürte nur die verdammte Kälte an seinem Hals, die stärker war als die Kälte, die ihn seit dem Entstehen dieser unwirklichen Erscheinung umgab.
Automatisch öffnete er den Mund, um Luft zu holen. Da gab es nichts mehr, was er einatmen konnte. Die Klauen schnürten ihm die Kehle zu, und sie machten ihn sogar bewegungsunfähig, denn er kam nicht mehr von seinem Platz weg, auch wenn er sich noch so bemühte. Die Klauen hielten ihn fest. Seine Zunge schnellte aus dem Mund. Er drehte den Kopf und verdrehte die Augen, so daß ihm ein Blick nach unten gelang. Aus dem Boden drangen die Arme hervor. Kalte, zitternde und lange Röhren, die in Händen endeten, um ihm jede Chance zu rauben. Es ging nicht mehr weiter. Er war unfähig geworden, sich überhaupt zu wehren, aber die Stille um ihn herum war verschwunden. Er hörte die röchelnden und gurgelnden Geräusche, bis ihm bewußt wurde, daß er es war, der diese Laute ausstieß. Noch hielt er die Fäuste auf dem Boden. Es war ihm noch nicht in den Sinn gekommen, sich zu wehren. Mit dem Mut der Verzweiflung änderte er dies. Er schleuderte die Arme förmlich in die Höhe. Seine Fäuste öffneten sich, und die Hände bildeten Klauen, um nach den verdammten Armen greifen und sie von seiner Kehle wegreißen zu können, auch wenn dabei die Haut in Fetzen ging. Cochran faßte zu - aber er packte hindurch. Er spürte keinen Widerstand mehr. Es war einfach nur die Kälte da, die über seine Hände strich, und genau in dem Moment wußte er mit hundertprozentiger Sicherheit, daß er verloren hatte und das fünfte Opfer in diesem Haus werden würde. Er stierte nach vorn. Seine Augen spielten nicht mehr mit. Irgend etwas hatte das Sehvermögen beeinträchtigt, denn als er nach vorn starrte, sah er alles doppelt. Zudem schwankte der Boden. Er warf Wellen, die aufeinander zuliefen, sich danach wieder auseinanderdrehten und plötzlich farbige Streifen bekamen, die er sich wohl nur einbildete. Sein Kopf kochte. Das Blut im Innern war heiß geworden. Jede Ader hatte die doppelte oder dreifache Größe erreicht, und alle standen kurz vor dem Platzen. In seinen Ohren rauschte eine unheimlich klingende Brandung. Wie nebenbei bekam Cochran noch mit, daß er sich drehte oder gedreht wurde. Dann landete er auf dem Boden, und die Kraft an seiner Kehle zerrte ihn herum auf den Rücken. Die Klammern würgten weiter. Raver - wo bist du? schoß es durch seinen Kopf. Verdammt noch mal, wo bist du? Er erhielt keine Antwort. Die Schlucht lauerte schon unter ihm. Die Tiefe des Todes. Mit einem letzten würgenden Röcheln verabschiedete sich Steve Cochran von dieser Welt. . .
*** Suko hatte den Dienst-Rover nicht bis vor das Haus gefahren, sondern vorher geparkt. Neben einer Plakatwand, wo eine knackige Blondine für einen japanischen Wagen warb, den sich die allermeisten der Betrachter sowieso nicht leisten konnten. Aber man weckte durch derartige Werbung immer wieder die Wünsche der Masse, und es war kein Wunder, daß einige aus der Masse schließlich durchdrehten und sich mit Gewalt das nehmen wollten, was sie auf normalem Weg nicht bekamen. Ändern konnte Suko es nicht. Da mußte schon ein gesamtes Umdenken stattfinden, und das würde - zumindest für die nächsten Jahre - ein Wunschtraum bleiben. Tagsüber war die Gegend schon düster genug. In der Nacht aber wirkte sie wie ein gewaltiger Friedhof mit hohen, unheimlichen Gräbern, denn so und nicht anders wirkten die grauen Fassaden der alten Häuser, die immer darauf warteten, abgebrochen zu werden, aber Sanierungsgebiete waren in Zeiten der Rezession nicht das Gelbe vom Ei, und so blieben die Bauten stehen, um wenigstens ärmeren Menschen eine Bleibe im verdammt teuren London zu bieten. Schales Licht drang aus dem Fenster, und selbst manch bunte Kneipenbeleuchtung schaffte es nicht, die Gegend aufzuhellen und die Trostlosigkeit zu vertreiben. Wer hier noch seinen Wagen am Straßenrand parkte, gehörte entweder zu den Bewohnern oder wollte, daß sein Fahrzeug gestohlen oder demontiert wurde. Ruhig war es nicht. Im Hafen wurde auch am Abend gearbeitet. Dann hörten sich die Geräusche sogar noch lauter an als tagsüber. Zweimal wich Suko Betrunkenen aus. Einmal wurde er von einer Frau angesprochen, die unbedingt mit ihm in einer Kneipe verschwinden wollte, aber der Inspektor reagierte überhaupt nicht. Ihn interessierte einzig und allein die neue Bleibe seines Freundes, auch Baracke genannt. Er sah sie sehr bald, und sie machte auf ihn einen ähnlichen Eindruck wie der immer grauer und düsterer werdende Himmel, auch wenn aus den Fenstern weicher Lichtschein sickerte und sich in Bodennähe verteilte. Suko wurde jetzt vorsichtiger. Seinen strammen Schritt hatte er verlangsamt, und er blieb ungefähr zehn Schritte von der Haustür entfernt stehen. Das Kreischen kämpfender Katzen in der Nähe störte ihn nicht sonderlich. Er war auch froh darüber, daß es in der Baracke ruhig blieb. Es verließ niemand das Haus, und es war auch keiner zu sehen, der es betreten wollte. Es sah alles gut für ihn aus. Kein Grund, um pessimistisch zu sein. Normal gehend und trotzdem zügig näherte sich Suko der Tür. Er tat so, als
wäre er ein Mieter, der nur noch die Tür aufschließen mußte, um die Baracke zu betreten. Das tat er zunächst nicht, sondern bückte sich. Trotz der Dunkelheit entdeckte er den Stein an der linken Seite und schob ihn zurück. Der Schlüssel lag genau dort, wo John es versprochen hatte. Der Stahl blinkte Suko noch entgegen, als wollte er ihm ein Zeichen geben. Der Inspektor nahm ihn an sich, drehte sich, schaute nach dem Schloß und drückte den normalen Schlüssel hinein. Tatsächlich war die Tür schon abgeschlossen worden. In dieser Gegend traute keiner dem anderen. Suko schloß auf. Er drückte sein Knie gegen die Tür und schob sie nach innen, froh drüber, daß er kein Quietschen hörte. Die Geräusche hielten sich in Grenzen. Zuerst fiel ihm der Geruch auf. Er war feucht. Zudem roch es nach Essen und möglicherweise auch nach Schimmel. Darauf hätte er aber nicht gewettet. John hatte ihm die Umgebung kurz beschrieben, und Suko fand alles so vor. An der rechten Seite lag der Flur. Dort würde er auch Johns Zimmer finden, und um seinen Freund machte er sich inzwischen etwas Sorgen, denn er hatte versucht, ihn über das Handy zu erreichen, aber John hatte sich auch beim zweiten Anruf nicht gemeldet. Suko rechnete damit, daß etwas schiefgegangen war. Deshalb wollte er selbst in der neuen Bleibe seines Freundes nachschauen. Die Tür war hinter ihm wieder leise zugefallen. Noch einige Sekunden blieb der Inspektor im Schatten stehen, wo er zusammen mit der Wand einen Schatten bildete, denn das Flurlicht erreichte ihn dabei nicht. Es konzentrierte sich mehr auf die Mitte und leuchtete auch eine Tür an, die geschlossen war. Dahinter lag die Wohnung einer gewissen Lisa Fox. Auch diese Frau hatte John erwähnt. Sie war in der Baracke die Hausmeisterin und kümmerte sich um viele Dinge. Die vier Morde hatte sie nicht verhindern können, und Suko hoffte stark, daß inzwischen kein fünfter geschehen war und er um seinen Freund trauern mußte. Eine breite Tür teilte den Flur. Suko drückte sie vorsichtig auf. Sie schwang lautlos nach innen, und dann schaute er in den Korridor, von dem rechts und links die Zimmertüren abzweigten. Er kam sich vor wie in einem Stall, der mehr schlecht als recht umgebaut und für Menschen bewohnbar gemacht worden war. Er gefiel ihm nicht. ' Er war dunkel. Nur zwei schwache Deckenlampen leuchteten ihn so weit aus, daß auf dem Boden liegende Hindernisse zu erkennen waren. Suko mußte über die Holzbohlen gehen, was ihm gar nicht gefiel. Er glaubte zumindest nicht daran, es lautlos schaffen zu können, wie es bei
einem Stein- oder Teppichboden der Fall war. Das konnte schon Probleme geben. Und richtig. Die Bohlen bewegten sich zwar nicht, aber an manchen Stellen knarrten und ächzten sie doch, als würden sie unter einer schlimmen Qual leiden. Der Inspektor wußte, daß Johns Zimmer auf der linken Seite lag und er die Tür auch nicht von innen abgeschlossen hatte. Bis zum zweitletzten mußte er durch, und das schaffte er, ohne gesehen zu werden, denn keiner der anderen Mieter verließ in dieser Zeitspanne sein Zimmer. Ruhig war es nicht. Fernseher liefen. Suko hörte Stimmen und Musik, was ihm sehr recht war. Vor der zweitletzten Tür auf der linken Seite blieb er stehen und legte das Ohr gegen das Holz mit der abgeblätterten Farbe. Nichts drang an sein Ohr. Wenn sich John im Zimmer dahinter aufhielt, dann war er sehr still. Hoffentlich nicht totenstill. . . Die alte und glatte Metallklinke lockte den Inspektor. Er legte seine Hand darauf, bewegte sie nach unten und war gespannt, ob John sein Versprechen eingehalten und die Tür nicht abgeschlossen hatte. Sie war offen. Man konnte sich eben auf ihn verlassen, auch wenn Suko das keineswegs beruhigte. Die Spannung nahm aber zu, als Suko sich über die Schwelle hinweg in das dunkle Zimmer drückte, das ihm vorkam wie ein Schattenkabinett. Im Magen und an den Händen bemerkte er das leichte Kribbeln. Die Spannung erhöhte sich von Sekunde zu Sekunde. Er ging auch nicht in den Raum hinein, sondern blieb an der Tür stehen. Eine eingeschaltete Taschenlampe war weniger auffällig als ein Lichtschein, der durch das Fenster ins Freie drang. Suko schaute sich um. Er ließ den hellen Lichtfinger wandern, und was er sah, verursachte bei ihm Kopf schütteln. In dieser Einrichtung konnte man sich nur wohl fühlen, wenn man seine Ansprüche in Richtung Nullpunkt schraubte. Ausgepackt hatte John noch nicht. Seine beiden Koffer standen auf dem Bett. Er selbst hielt sich nicht im Zimmer auf. Weder lebendig noch tot. Aber der Inspektor entdeckte auch die schmale Tür. Er wußte, daß dahinter das Bad lag mit der Toilette. Sehr schnell spürte er wieder das Kribbeln auf seiner Haut, und er hielt den Atem an, als er die Tür mit einem Ruck aufzog. Der Raum dahinter war so winzig, daß Suko nicht mal Licht brauchte, um erkennen zu können, daß sich niemand dort aufhielt. Auch kein John Sinclair. Wo steckte er dann? Sukos Gedanken rasten. Sie turnten durch seinen Kopf, aber er kam zu keinem Resultat. Für ihn stand nur fest, daß sein Freund das Haus mit
unbekanntem Ziel verlassen hatte, und das konnte ihm überhaupt nicht gefallen. Er schloß die Tür zum Bad. Gedankenverloren bewegte er sich durch das Zimmer. Er überlegte. Dann holte er wieder sein Handy hervor und versuchte es mit einem erneuten Anruf. Leider meldete sich niemand. Er steckte den Apparat wieder weg. Über den nächsten Schritt dachte er ebenfalls nach. Egal, was er tat, es konnte richtig und auch falsch sein. Ihm fiel ein, was ihm John von einigen Mitbewohnern erzählt hatte. Zwei Türen weiter lebte Ginny Day, die auf den Strich ging. Es konnte sein, daß sich sein Freund dort aufhielt, sicherlich nicht als Kunde, sondern als Beschützer. Konnte sein, mußte aber nicht. Welche Möglichkeiten gab es noch? Dieser Zuhälter fiel ihm ein. Cochran hieß er. Auch Raver kam ihm in den Sinn, aber letztendlich blieben seine Überlegungen doch an einer Person hängen: Lisa Fox. An der Frau, die alles wußte, die alles sah, die ihre Augen einfach überall hatte. Sie würde er sich anschauen, und Suko ging zudem davon aus, daß sie sich auch in der Wohnung aufhielt. Er verließ die trostlose Bude seines Freundes und bewegte sich ebenso leise durch den Flur zurück, wie er gekommen war. Er mochte ihn nicht, er war ihm suspekt. Suko war auf alles gefaßt, aber es blieb ruhig. War es die Ruhe vor dem Sturm? Vor der Tür blieb er für einen Moment stehen. Noch einmal schaute er sich um. Der Flur war und blieb leer. Ein gutes Zeichen? Suko wußte es nicht, aber er mußte weiterkommen, deshalb drückte er die breite Mitteltür auf. Die folgenden Sekunden liefen ab wie von einem Regisseur bestellt. Nicht nur die Flurtür öffnete sich, auch die Wohnungstür der Lisa Fox wurde aufgezogen, und im schwachen Schein einer Lampe zeichnete sich die Frau ab. Sie sah Suko, er sah sie. Und Lisa erschrak wegen der dunkeln Gestalt. Ihre rechte Hand bewegte sich auf den Mund zu, und der Ballen erstickte den leisen Schrei der Überraschung. »Bitte, Mrs. Fox, Sie brauchen keine Angst zu haben.« Suko hatte seine Stimme so normal wie möglich klingen lassen. Er trat auch nach vorn, um besser gesehen werden zu können. Die Hand der Frau sank wieder nach unten. »Wer sind Sie?« erkundigte sie sich. »Mein Name ist Suko.« »Klingt sehr fremd.« »Ich bin Chinese.« »Ah so. Und was suchen Sie hier?« »Ich wollte meinen Freund besuchen.«
»Hm.« Lisa überlegte. »Einen Freund, der hier wohnt? Wer soll das denn sein?« »Er ist erst heute hier eingezogen und . . .« Suko machte eine Pause. Hatte sich die Person etwa erschreckt? Beinahe war es ihm so vorgekommen, aber sofort veränderte sich ihr Gehabe, und sie zeigte ihm ein sehr herzliches Lächeln. »Den kenne ich.« »Und wo ist er?« »Nicht in seinem Zimmer?« »Nein, von dort komme ich.« Lisa hob die Schultern. »Dann ist er sicherlich nur eben ein Bier trinken gegangen, oder er macht noch eine Besorgung. Aber kommen Sie doch solange zu mir. Wir werden bestimmt hören, wenn Ihr Freund wieder zurückkehrt.« Sie lachte. »Ich sitze ja an der Quelle.« Suko überlegte, ob er der Einladung folgen sollte. Lisa trat schon zur Seite und schuf ihm den Platz, um an ihr vorbeigehen zu können. Er entschied sich dafür, Lisa den Gefallen zu tun. Sehr falsch konnte es nicht sein. Auch der Inspektor wunderte sich über die Einrichtung. Lisa Fox hatte es tatsächlich geschafft, aus dem einen Zimmer einen Trödelladen zu machen. Was dort alles stand, interessierte ihn weniger. Suko hielt nur nach seinem Freund Ausschau, von dem allerdings war nichts zu sehen. Hinter ihm schloß Lisa die Tür. Etwas verlegen lächelnd sprach sie Suko an. »John hat mir nichts davon erzählt, daß er Besuch bekommen würde.« »Hat er nicht?« »Nein.« »Dann haben Sie sich bestimmt mit ihm unterhalten.« Lisa nickte heftig. »Das schon. Wir waren einige Zeit zusammen. Er war auch in meiner Wohnung.« Sie lächelte Suko zu. »Ein feiner Mensch ist ihr Freund.« »Ja, wir kommen gut miteinander aus. Ich habe ihn während seiner Krankheit unterstützt.« Sie legte einen Finger gegen ihre Unterlippe, sprach aber trotzdem Weiter. »Richtig, das hat er erzählt.« »Daß ich ihn unterstützte?« »Nein, daß er krank gewesen ist und deshalb auch seinen Job verloren hat.« »Stimmt. Aber jetzt hat er einen neuen. Er wird in den nächsten Tagen anfangen. Das wollten wir eigentlich begießen. Schade, daß er nicht hier ist.« Lisa winkte ab. »Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Wenn sie verabredet waren, wird er schon zurückkommen. Haben sie denn einen genauen Zeitpunkt ausgemacht?«
»Das nicht. Mehr einen ungefähren. Ich habe schon eine halbe Stunde Karenz gegeben.« »Die können Sie auch bei mir verbringen. Ich bin froh, wenn ich mal ein anderes Gesicht sehen.« Suko lächelte mit geschlossenen Lippen. Ihm gefiel dieses Gespräch nicht, obwohl es normal ablief. Er jedoch hatte mehr den Eindruck, daß Lisa und er wie Katzen um den heißen Brei herumschlichen. Keiner wollte sich eine Blöße geben oder nicht die Wahrheit sagen. Zudem hatte Lisa ihm keinen Platz angeboten. Sie lehnte mit dem Rücken an einer kleinen Kommode. Ihr Körper verbarg eine bunte Schale, die Suko bei seinem Eintritt wie zufällig gesehen und dabei festgestellt hatte, daß sie leer war. »Schön haben Sie es hier«, bemerkte er, um wenigstens etwas zu sagen. »Wirklich, das hätte ich nicht gedacht.« Lisa hob die Schultern. Der Kleiderstoff raschelte dabei leise. »Was soll man sonst tun? Man muß eben das Beste aus einer Situation machen. Die Umgebung ist schon mies genug, da will ich mich zumindest einigermaßen wohl fühlen.« »Recht haben Sie!« Suko schaute auf seine Uhr. »Jetzt könnte er allmählich eintrudeln.« Die Frau verdrehte die Augen. »Seien Sie doch nicht so ungeduldig«, erklärte sie. »Ich habe immer nur angenommen, daß Frauen so reagieren, aber Männer . . .?« Suko wirkte bewußt etwas verlegen, als er sagte: »Es ist doch mal so, daß ich es von John nicht kenne.« »Ach . . .« »Ja, es ist alles anders bei ihm. Man kann sich auf ihn verlassen. Er hat mich noch nie im Stich gelassen, und das findet man selten.« »Sie sind sehr gute Freunde, wie?« »Schon seit langer Zeit.« Suko räusperte sich und schaute gegen die schmale Tür. »Was befindet sich dort? Auch die Toilette?« »Ja, wie bei Ihrem Freund.« Der Inspektor spielte den Verlegenen. »Wissen Sie, Mrs. Fox, es ist mir ja peinlich, aber ich verspüre ein menschliches Rühren. Wenn möglich, darf ich dann Ihre Toilette benutzen?« »Sie - ahm, warum?« »Nun ja, meine Blase und ,. .« »Das tut mir aber leid.« Sie schaffte es sogar, rot zu werden. »Ja, es ist mir schon peinlich. Aber ich muß gestehen, daß dies nicht möglich ist.« »Warum nicht?« »Weil die Toilette nicht in Ordnung ist. Verstopft, wenn Sie verstehen, Suko.« Ja, er hatte verstanden, aber er glaubte der Person kein Wort. Die Toilette war bestimmt nicht verstopft. Er war wütend darüber, daß sie ihn
zum Narren halten wollte." Aber er sagte nur, wobei er sogar noch lächelte: »Dann werde ich eben zu meinem Freund aufs Zimmer gehen . . .« »Ich muß Sie enttäuschen, aber das wird auch nicht klappen. Es ist ein allgemeiner Schaden. Ich habe schon angerufen, aber wer kommt um diese Zeit schon? Außerdem . . .« Der Schrei war da. Er war nicht zu überhören und hatte geklungen, als wäre er in Todesnot ausgestoßen worden. Beide wurden blaß. Suko aber handelte. Und Lisa ebenfalls! *** Raver hatte schon die zweite Dose mit Wasser geleert und fühlte sich innerlich trotzdem noch wie verbrannt, als er durch den Raum ging, um sich zu erholen. Das tat er immer nach einem langen Tanz. Er legte sich nicht sofort hin, sondern wandelte seine heftigen Bewegungen in eine normales Gehen um. So konnte er sich am besten erholen, denn die Pause zwischen den Tänzen brauchte er. Er wollte die Meisterschaft. Zumindest die von London. Danach sah man weiter, denn die Sieger aus den großen Städten gingen auf Tournee quer durch Europa. Und wenn er dann Sieger wurde, konnte er bis in den Weltmeisterschaftskader gelangen. Das alles schwebte ihm vor Augen. Dafür trainierte er. Dafür war er da. Er stieß die Luft aus und mußte aufstoßen. Dreimal hintereinander. Hunger verspürte er keinen, nur Durst. So holte er sich aus dem Kühlschrank eine dritte Dose. Mit der setzte er sich auf das Bett. Die Fernbedienung lag griffbereit in der Nähe. Die Glotze stand auf dem Kühlschrank, und er drückte auf den Knopf. Es dauerte seine Zeit, bis sich das Bild erhellte und eine schmalzige Filmszene zeigte. Ein alter Hollywood-Schinken, der in Gedenken an Gene Kelly gezeigt wurde, einen guten Schauspieler und begnadeten Tänzer. Den Ton stellte er ab. Er wollte die Dialoge nicht hören. Sie gingen ihm auf den Wecker, aber er wollte zuschauen, wie sich Kelly bewegte, denn er war ein sehr kraftvoller Tänzer, im Gegensatz zu seinem Konkurrenten Astaire, der mehr leichtfüßig durch die Filme glitt. Schade, daß beide nicht mehr lebten. Raver trank und schaute zu. Seine Blicke klebten förmlich an dem Ausschnitt. Die Dose hatte seine Handfläche naß werden lassen, und er stellte das Getränk sicherheitshalber auf sein Knie. Plötzlich fiel ihm etwas auf. So stark, daß er fast aufgesprungen wäre. Verdammt, Steve war nicht mehr da!
Raver stand auf. Um den Film kümmerte er sich nicht. Vor dem Bett drehte er eine langsame Pirouette, aber auch dieser Rundblick brachte ihm nichts. Cochran blieb verschwunden. Er schluckte. Sein Speichel schmeckte bitter. Plötzlich zuckerte es hinter seinen Augen. Ein Zeichen dafür, daß er anfing, sich zu ärgern. Zudem schwitzte er auch, und er dachte daran, daß ihn Cochran nicht grundlos verlassen hatte. Warum war er gegangen? Daß Steve mit ihm gesprochen hatte, fiel ihm wieder ein. Aber er war so in seinen Tanz integriert gewesen, daß er sich an die Worte nicht mehr erinnern konnte. Raver dachte trotzdem nach. Er stand gesenkt da, schnippte mit den Fingern, brummte manchmal wie ein Tier und war ärgerlich über sich selbst. Verdammt noch mal, ich kriege es einfach nicht in die Reihe, dachte er. Das macht mich irre. Ginny! Ha, wie ein Blitzschlag war es eingeschlagen. Natürlich, Steve hatte zu der kleinen Nutte gewollt, um mal kräftig mit ihr abzurechnen. Das hatte sie auch verdient. Das und nichts anderes. Tief in seiner Kehle grummelte es, und er führte den Gedanken fort, da er genau wußte, daß es noch nicht alles gewesen war. Es ging noch weiter. Ginny war es nicht allein. Steve Cochran hatte noch ein Problem gehabt. Aber welches? Sicher, der Neue! Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Er gratulierte sich selbst dazu, daß es ihm eingefallen war, und seine plötzliche Lache hallte gegen die Decke. Das war gut. Das war sogar sehr gut. Erst Ginny, danach der Neue. Wunderbar. Sie bekamen beide, was sie verdienten, und Stevie hatte sich bestimmt Zeit gelassen. Raver gehörte nicht zu den Leuten, die dabei zusahen, wenn andere fertiggemacht wurden, auch wenn Stevie nichts dagegen gehabt hätte. Jetzt aber verspürte er schon einen gewissen Kick, und er nahm sich vor, entweder seinen Freund bei Ginny oder bei dem Neuen zu suchen. Cochran hatte bestimmt alles im Griff, denn so leicht war er auch nicht zu überwältigen. Die letzte Dose war noch halb gefüllt. Raver setzte sie nicht an die Lippen. Er legte nur den Kopf zurück und ließ das Wasser aus einer gewissen Entfernung in seinen Mund fließen, bis die Dose leer war. Er konnte trinken, ohne zu schlucken. Das hatte er bei einem Urlaub in Spanien gelernt, als ein Kellner den Wein aus einer Schnabelkanne in seine Kehle hatte laufen lassen.
Nun ging es ihm besser. Das Durstgefühl war verschwunden. Auch die dritte Dose zerquetschte er und schleuderte sie zielsicher in einen Papierkorb, den er - o Wunder - erst vor einem Tag geleert hatte. Er fühlte sich wieder gut. Er war auch innerlich soweit, die nächste Zeit durchstehen zu können, denn was er bei Ginny oder dem Neuen sah, war nichts für schwache Nerven. Das wußte er schon jetzt. Er ging zur Tür. Nicht normal, sondern federnd und locker. Als wären unter seinen Sohlen Federn angebracht. Hätte ihm jetzt jemand zum Tanz geraten, er wäre wohl wieder voll eingestiegen. Er öffnete die Tür. Noch immer locker, im Kopf eine seiner Lieblingsmelodien aus der Techno-Szene. Auf einmal war es vorbei mit der Lockerheit. Wie angewurzelt blieb er auf der Türschwelle stehen und wollte nicht glauben, was er mit eigenen Augen sah. Vor ihm lag sein Freund Steve. Gar nicht mal weit entfernt, denn er hatte es bis zu Ginnys Wohnung nicht geschafft. Und er lag auf dem Rücken. Er war tot. Er war so blaß und bläulich zugleich. So mußten auch die vier anderen Opfer ausgesehen haben. Jedenfalls waren sie ihm von Lisa so beschrieben worden. Und jetzt Steve. Er weinte und merkte es nicht. Nur die Nässe an seinen Wangen zeugte von den Tränen. Aber er weinte nicht lange. Denn plötzlich schrie er los! *** Lisa war schnell, verdammt schnell sogar. Und sie war auch schneller als Suko. Hätte er alles gewußt und seine Waffe gezogen, wo wäre die Frau nicht dazu gekommen, hinter die Schale zu greifen, wo die BeuteBeretta lag. Nun gelang es ihr, die Waffe blitzartig zu ziehen und auf Suko zu richten. Er hatte die Frau noch nicht erreicht. Er sah aber die Pistole in ihrer Hand. Im Bruchteil eines Augenblicks hatte er erkannt, wem sie gehörte. Nämlich John. Was er dann tat, schaffte nicht jeder. Dazu brauchte man eine gewisse Körperbeherrschung, denn Suko war auch die Entschlossenheit im Blick dieser Lisa nicht entgangen. Sie würde schießen, wenn er sich falsch bewegte.
So brachte er es tatsächlich fertig, aus dem Lauf heraus zu stoppen und die Arme halb zu heben. »Das war im letzten Augenblick!« flüsterte Lisa. »Ich hätte sonst abgedrückt.« Suko nickte. »Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Sie bringen so etwas fertig.« »Ja«, erklärte sie. »Weil ich nichts zu verlieren habe.« »Stimmt!« Suko gab ihr recht. »Als vierfache Mörderin haben Sie das nicht.« Da sie ihn nicht korrigierte, ging Suko davon aus, daß sein Freund noch lebte. Doch sie schüttelte kurze Zeit später den Kopf. »Ich soll eine vierfache Mörderin sein?« »Sind Sie das nicht?« »Nein, das bin ich nicht.« »Dann haben Sie die Männer . . .?« »Hören Sie auf! Woher sollte ich die Kraft haben, Menschen zu erwürgen? Männer! - Ich, eine schwache Frau!« »So schwach sehen Sie mir nicht aus.« »Reden Sie nur weiter, aber ich war es nicht.« »Wer dann?« fragte Suko. Plötzlich fing sie an zu kichern. Es war gerade dieses Kichern, das Suko nicht gefiel, denn es hörte sich an, als wäre es von einer fremden Person abgegeben worden. Von einem Kind, einem Mädchen, wie auch immer. Und auch der Ausdruck in den Augen veränderte sich mit diesem so seltsamen Geräusch. Lisa Fox hatte einen nahezu irren Blick bekommen. Erst jetzt glaubte Suko ihr die Worte. Er wußte, daß mehr hinter der Sache steckte, als es den Anschein hatte. Sein Magen zog sich zusammen, und er hielt seinen Blick auf den rechten Zeigefinger der Frau gerichtet, der den Abzug berührte. Suko hätte sich gern bewegt. Das wiederum traute er sich nicht. Nur ein falsches Zucken, und sie hätte geschossen. Vielleicht hätte er beim Stopp noch den Stab berühren und das Wort Topar rufen sollen. Das war nun vorbei. Er mußte zusehen, wie er auf andere Art und Weise diese Lage unbeschadet überstand. Bisher war es im Haus ruhig geblieben. Nach dem Schrei hatte sich das geändert. Die Mieter waren aus ihren Wohnungen gestürmt, und im Flur herrschte plötzlich ein wirres Durcheinander. Suko konnte nur raten, aber er stellte sich vor, daß ein fünftes Opfer gefunden worden war. John? Nur das nicht! hämmerte es durch seine Gedanken. Bitte, nur das nicht! Sonst drehe ich noch durch. Seine Gefühle ließ er sich nicht anmerken, denn mit ruhiger Stimme sagte er: »Es hat alles keinen Sinn mehr, Lisa. Nicht mehr lange, und die
Polizei steht vor der Tür. Mich können Sie erschießen, aber die anderen nicht. Sie haben ausgespielt.« »Nein, habe ich nicht. Ich komme raus. Ja, ich komme raus!« Wieder klang ihre Stimme anders. So jung und gleichzeitig schrill. Gegen die Wohnungstür hämmerten Schläge. Auch die Klinke wurde nach unten gedrückt, aber die Frau hatte heimlich und sicherheitshalber abgeschlossen, so daß niemand hereinkam, ohne die Tür aufzubrechen. Auch auf das Rufen hin meldete sich Lisa nicht. Sie schüttelte nur den Kopf. »Wer ist der Tote?« fragte Suko. »Ha, ha, ha, ha . . .« Sie lachte mit offenem Mund. »Jetzt denkst du an deinen Freund, wie?« »In der Tat.« »Er ist es nicht. Ich kann dich beruhigen. Aber er wird sterben, ebenso wie du.« »Bist du sicher?« »Ja, verdammt!« »Und wer hat die anderen erwürgt?« - Auf Lisas Gesicht erschien plötzlich ein feines Lächeln. Sie sah aus, als würde sie strahlen oder vom Licht eines Engels gestreift werden. »Das«, so flüsterte sie, »war nicht ich. Das war Sabrina.« »Und wer ist das, bitte? Können Sie mich da aufklären?« »Sabrina?« wiederholte Lisa. »Ja, ich kann dich aufklären, mein Freund. Sabrina ist meine Tochter!« Sekundenlang herrschte Schweigen zwischen ihnen. Es hämmerte auch niemand mehr gegen die Tür. Dafür rief eine Stimme: »Sie ist nicht da. Ausgerechnet jetzt nicht. Einer soll die Bullen holen . . .« Nachdem Suko seine Überraschung verdaut hatte, fragte er: »Können Sie mir mehr über Sabrina erzählen?« »Warum?« »Sie ist tot, nicht?« »Nein!« schrie die Frau. »Sie ist nicht tot. Sie lebt, lebt, lebt. . .!« Suko befürchtete, daß sie schießen würde, aber sie hielt sich zurück, senkte nur den Kopf, aber nicht die Waffe. »Erzählen Sie mir von Sabrina -bitte!« forderte Suko sie auf. Womit er nicht gerechnet hatte, trat ein. Lisa Fox nickte und flüsterte dabei: »Ja, ich werde dir von ihr berichten. . .« *** Mir ging es be . . . scheiden. Das Erwachen aus einem derartigen Zustand war ja nicht neu für mich, aber diesmal fehlten die Kopfschmerzen. Zum Ausgleich revoltierte mein Magen und sorgte für
diese verdammte Übelkeit, die einfach nicht weichen wollte und in Schüben immer wieder in mir hochstieg. Mein Erinnerungsvermögen funktionierte. Ich sah mich wieder in diesem Kitschzimmer sitzen, mit Lisa einen Wein trinken, dann war ihr das Glas zu Boden gefallen. Ich hatte die Scherben aufgehoben, und wenig später war für mich die Welt untergegangen. So einfach. Eine Frau hatte mich mit einem uralten Trick reingelegt. Ich hätte mir selbst was gegen den Kopf schlagen können, so wütend war ich. Das würde nichts helfen. Die Übelkeit würde nur noch schlimmer werden. So durfte ich mich nur vorsichtig bewegen und wollte zugleich positiv denken. Ich lebte. Es hätte auch anders kommen können. Ich war wehrlos gewesen. In diesem Zustand kein Problem für Lisa, mir die Kehle durchzuschneiden. Zudem lag ich an einem Ort, wo ich mich nur schlecht bewegen konnte. Nein, so dunkel war es nicht. Die Tür stand zwar nicht offen. Unter ihr jedoch sickerte ein heller Lichtstreifen durch, der auch eine Wand berührte. Die Augen strengte ich schon an, um möglichst viel sehen zu können. Über meine Lippen huschte ein Lächeln. Lisa Fox hatte es sich leicht gemacht. Ich lag noch in ihrer kleinen Wohnung. Allerdings im Bad, wo ich meinen Platz in der kleinen Wanne gefunden hatte und ziemlich eingeklemmt war. Trotz der beschränkten Bewegungsfreiheit tastete ich mich ab. Das Kreuz war noch vorhanden. Daß die Beretta fehlte, nahm ich schon als eine Selbstverständlichkeit hin. Ich an Lisas Stelle hätte nicht anders gehandelt. Dennoch war ihr ein Fehler unterlaufen, denn die kleine Lady-Pistole hatte sie nicht entdeckt. Im nachhinein dankte ich Steve Cochran dafür, daß er diese Waffe bei sich getragen hatte. Auch sein Messer besaß ich noch. Die Tatsache sorgte bei mir für einen gewissen Schwung. Es ging mir wieder besser. Meine Hände fanden auf den Rändern der Wanne Platz. Langsam hochstemmen, nur keine zu heftigen Bewegungen, dann revoltierte der Magen. Ich würde mich übergeben müssen, und dieser Vorgang lief sicherlich nicht geräuschlos ab. Ich kam hoch, aber es ging mir schlecht. Der Kopf war irgendwie auch geschädigt, denn in meinen Ohren breitete sich ein dumpfer Druck aus, der zudem die Schädeldecke belastete. Leise schimpfte ich vor mich hin. Wie ein Greis kletterte ich über den Wannenrand, den Blick immer auf den schmalen Lichtstreifen gerichtet. Er blieb so. Niemand dachte vorerst daran, die Tür zum Bad zu öffnen. Was mir natürlich entgegenkam.
Neben der Wanne blieb ich stehen. Meine Beine zitterten. Der Schweiß brach mir wie Bachwasser aus, denn durch die andere Haltung stieg wieder die Übelkeit hoch und sorgte für einen Schwindel, den ich allerdings überstand. Durch die Nase holte ich Luft. Bisher hatte ich mich noch halten können. Nicht übergeben, nicht wehrlos werden. Ich wollte Lisa stellen, sie war gefährlich genug. Ich begriff nicht, daß sie die Mörderin war. Sie hatte die vier Leichen hinterlassen. Das war ein Wahnsinn, damit hätte niemand rechnen können. Sie war stark genug gewesen, um die Männer zu erwürgen. Sicherlich hatte sie das auch mit mir vorgehabt. Das wollte ich natürlich verhindern. Mit mir würde sie trotz meines Zustands einige Schwierigkeiten bekommen. Für eine gewisse Zeit hielt ich mich neben der Wanne auf und benutzte sie auch als Stütze. Durch meinen doch relativ lauten Atem übertönte ich andere Geräusche, aber ich glaubte auch, einen Schrei weit im Hintergrund gehört zu haben. Im Haus? Draußen? Ich hatte keine Ahnung. Wartete zunächst ab und konzentrierte mich auf die Tür. Der Lichtschein war geblieben, und doch hatte sich jenseits der Tür etwas verändert, denn ich hörte Stimmen. Die von Lisa war nicht zu überhören. Sie sprach mit einem Mann. Ihr neuestes Opfer? Es war alles möglich in diesem verdammten Spiel. Sie war es, die die Menschen wie Schachfiguren von einer Seite zur anderen schob. Lisa zog die Fäden. Und ich zog die kleine Waffe. Nachgeschaut, ob sie auch geladen war, hatte ich nicht. Ich hoffte darauf. Ein Typ wie Cochran lief nicht mit einer funktionsuntüchtigen Pistole herum. Dicht an der Tür blieb ich stehen. Warten, lauern und lauschen. Das Ohr hatte ich gegen das Holz gelegt. Der Mann sprach. Ich hörte ihn deutlicher. Der Adrenalistoß fegte durch meinen Körper. Ich fühlte mich wie jemand, der plötzlich abhebt. Trotzdem blieb ich mit beiden Beinen auf dem Boden stehen. Suko war da! Ja, auf diesen alten Tiger konnte man sich verlassen. Aber in mir hatte sich so etwas wie eine Sperre aufgebaut, denn ich zögerte damit, die Tür zu öffnen. Statt dessen bückte ich mich, wobei mir wieder übel wurde, obwohl ich mich langsam bewegt hatte, um durch das Schlüsselloch schauen zu
können. Ich hatte Pech. Der Schlüssel steckte von außen. Es war deshalb so gut wie nichts zu sehen. Vorsichtig stellte ich mich wieder hin. Die kleine Waffe hielt ich in der rechten Hand. Es blieb mir nichts anderes übrig, als die Tür behutsam zu öffnen. Ich mußte eingreifen, denn ich konnte mir vorstellen, daß Suko ahnungslos war. Lisa ließ ihn ebenso in ihre raffinierte Falle laufen wie mich. Mehrere kleine Eiskugeln rannen über meinen Rücken. Der Schweiß dort war kalt geworden. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Waren die Angeln gut geölt. Würden sie Geräusche abgeben? Es kam der Moment, wo alles auf des Messers Schneide stand. Ausgerechnet jetzt erwischte mich wieder eine neue Welle der Übelkeit. Ich mußte in mei-nenBemühungeninnehaltenundso lange warten, bis dieser Stoß vorbei war. Mir dauerte es zu lange, aber ich machte dann weiter und zog die Tür behutsam auf. Kein Geräusch. Der schmale Spalt. Die Helligkeit, die meine Augen traf und mich blinzeln ließ. Ich erweiterte den Zwischenraum. Jetzt sah ich besser. Lisa drehte mir den Rücken zu. Suko mußte vor ihr stehen. Und obwohl ich die Frau nicht von vorn anschaute, erkannte ich an ihrer Haltung, daß sie meinen Freund und Kollegen mit einer Waffe bedrohte. Sicherlich mit der Be-retta. Auch ich besaß eine Pistole. Und Lisa hatte mich bisher nicht gesehen, nicht einmal gespürt. Durch den Türspalt zielte ich auf ihren Rücken . . . *** Suko sah den schon irren Glanz in Lisas Augen und deutete ein Kopfschütteln an. »Sie ist die Täterin? Sie, deine Tochter, hat die Menschen umgebracht.« Lisa Fox nickte heftig. »Ja, sie. Das konnte nicht anders laufen. Sie mußte es tun. Sie hat sich gerächt. Sie hat sich an all denen gerächt, die ihr Gewalt angetan haben. Ich konnte sie nicht schützen, ich konnte ihren Tod nicht verhindern, aber Sabrina hat mir erklärt, daß sie zurückkehren würde.« »Als Geist?« »So ist es.« »Feinstofflich?« Suko zog seine Fragen bewußt in die Länge. Er wollte Zeit gewinnen, und er wollte auch, daß Lisa zunächst beim Thema blieb.
Sie war eine Frau, die nichts zu verlieren hatte. Wenn sie sich in der Klemme sah, würde sie durchdrehen. Es würde ihr nichts ausmachen, auf Suko zu schießen, und er traute ihr auch zu, ihn zu töten. »Warum denn?« fragte er weiter. »Warum hat Sabrina das getan?« »Rache, Polizist!« »An wem?« »An den Menschen, denn sie haben sie mißbraucht. Sie haben sie in diese Szene hineingezogen. In diese verdammten Dinge, die einfach so schrecklich sind, daß kein Mensch sie ertragen kann. Sabrina ist da hineingerutscht, und sie kam da nicht mehr raus.« »Wo hineingerutscht?« »In die Sekte. In die Gruppe der Satansanbeter. Sie war das Opfer. Sie hat sich auf den Altar gelegt und das verfluchte Blut trinken müssen. Ihr eigenes Blut, verstehst du? Sie haben schlimme Dinge mit ihr getrieben, sehr schlimme.« Die Frau keuchte. Sie stand unter Druck. Je mehr sie sich erinnerte, um so schlimmer wurde es. Ihr Gesicht war bleich geworden, und zugleich hatte es rote Flecken bekommend Der Mund zuckte, aber sie konzentrierte sich auf Suko und die Waffe. »Wie ging es weiter?« »Ich sagte doch schon, daß Sabrina das Opfer gewesen ist.« »Sie starb?« »Ja. Auf dem verdammten Teufelsaltar hauchte sie ihr Leben aus. Aber sie war nicht wirklich tot, denn ihr Geist fand keine Ruhe. Den Körper hat man«, Lisa schrie die nächsten Worte, »auf einer Müllkippe gefunden. Hast du gehört, Bulle? Auf einer verdammten Müllkippe hat meine Tochter gelegen! Darüber mußt du mal nachdenken - auf einer Müllkippe! Es waren die schrecklichsten Momente in meinem Leben. Ich habe sie gesehen, ich mußte sie sehen, aber ich brach nicht zusammen, denn schon während ich sie sah, da wurde mir klar, daß Sabrina etwas Besonderes war, und es stimmte. Der Teufel hat sein Opfer gezeichnet. Er hat nicht zugelassen, daß sie verschwand. Die Hölle dirigierte ihren Astralleib, und so konnte Sabrina das tun, was er verlangte.« »Deshalb tötete sie?« »Richtig.« »Hat sie auch diejenigen umgebracht, die ihr dies alles angetan haben? Hat sie sich an den Teufelsanbetern gerächt? Oder . . .« »Nein, die leben noch.« »Warum?« »Du hast mir nicht zugehört, wie?« Sie keifte Suko an. »Die gehörten ja zu ihm. Sie waren seine Diener. Warum sollten sie umgebracht werden?« »Und Sabrinas Geist befindet sich hier in diesem Haus?« »Ja, das ist ihr Versteck.«
Suko nickte. »Ich habe verstanden, aber ich frage mich, warum sie sich nicht zeigt. Du willst mich töten. Weshalb läßt du das nicht Sabrina tun? Ich hätte sie gern gesehen, wirklich.« »Sie hält sich versteckt.« »Und wo?« Lisa Fox schaute ihn an. Plötzlich kicherte sie, dabei öffnete sie den Mund, und sie sprach mit einer hellen Stimme weiter. »Kannst du dir das nicht denken? Wo ist für eine Tochter oder ein Kind schon das beste Versteck? Früher hat sie im Mutterleib gelegen, geborgen und warm. Fern aller Gefahren. Das hat sie nie vergessen.« Sie kicherte wieder. Ein schrilles, teenagerhaftes Lachen, und sie verdrehte dabei die Augen noch weiter. Suko wußte Bescheid. Vor ihm stand nicht nur Lisa Fox. In ihr steckte noch jemand anderer, und zwar ihre Tochter. Lisa bestand aus zwei Persönlichkeiten. Noch zielte sie auf ihn. Suko sah keine Chance. Sie war verflucht konzentriert. Ihr Mund schloß sich. Wenig später öffnete er sich wieder, und sie sprach. »Auf die Knie, Bulle!« Jetzt klang ihre Stimme wieder normal. »Los, auf die Knie!« wiederholte sie den Befehl. Suko nickte. »Ja, das mache ich!« »Die Hände bleiben oben!« »Ist schon gut.« Suko kniete nieder. Er ließ sich nicht einfach fallen, sondern tat es durchaus langsam, und die Frau nickte ihm zu. Sie war damit zufrieden. Suko ebenfalls. Er konnte sich vorstellen, daß Lisa näher an ihn herantrat, um ihn zu töten. Oder sie setzte den feinstofflichen Körper ihrer Tochter ein. Beides konnte klappen. Der Inspektor verdrehte die Augen, um in die Höhe schielen zu können. Er wollte das Gesicht sehen. Es war ihm zugewandt, denn Lisa hielt den Kopf gesenkt. Der breite Mund stand offen. Die rote Farbe um die Lippen herum war verschmiert, so daß dieser Gesichtsausdruck etwas schreckliches und auch Abstoßendes bekommen hatte. Im Mund bewegte sich etwas. Eine helle Masse, durchscheinend, ähnlich wie Gaze. Das war Sabrinas Geist. Er hatte sich den schützenden Körper gesucht. Wie vor einigen Jahren, als sie noch im Mutterleib gelegen hatte. So war sie jetzt auch geschützt. Niemand hatte sie finden können. Sie und ihre Mutter waren wieder eine Einheit. Nun kam sie frei. Der Stoff, er erinnerte an dünne Gaze, drängte sich aus der Mundöffnung. Noch war er ziemlich dicht und bildete beinahe schon eine
kompakte Masse. Lange blieb sie nicht, denn dicht vor den Lippen faserte sie auseinander wie Rauch, in den ein Windstoß hineingefahren war und ihn dabei zu einer bestimmten Figur formte. Ein Gesicht mit hellen Augen. Helle Haare, Arme und Klauenhände, die sich auf Suko konzentrierten. Die Mündung der Beretta glotzte ihn an. Sie war ein kaltes, tödliches Loch, und Lisa kicherte. »Wir werden dich gemeinsam töten!« verkündete sie. »Sabrina und ich. Ich werde dir die Kugel durch den Kopf schießen, und sie wird dich dabei würgen. - Laß die Arme oben!« schrie sie. »Laß sie oben!« Sabrinas Geist huschte herum. Die Kälte, die Suko schon zuvor gespürt hatte, nahm an Intensität zu. Obwohl er in höchster Lebensgefahr schwebte, irrten seine Gedanken ab. Es wollte ihm kaum in den Kopf, daß dieser Geist, der so harmlos aussah, mindestens vier Menschen brutal getötet hatte. Jetzt war er an der Reihe! Geisterfinger griffen zu. Suko spürte den Schmerz. Abrupt nahm man ihm die Luft. Vor ihm schwebte das feinstoffliche Gesicht mit den wirklich eingeschnittenen Zügen. Kaum vorstellbar, daß diese unglaubliche Gestalt darauf trainiert war, Menschen umzubringen. Ihm war es egal. Er mußte etwas tun. Trotz der Waffe, die Lisa auf ihn gerichtet hielt. Sie zielte gegen Sukos Kopf. Der Inspektor ließ seine Hände nach unten sinken. Er wollte an seinen Stab. »Nein!« brüllte die Frau. Da fiel der Schuß! *** Zu spät, dachte Suko. Zu spät. Du hast zu lange gewartet. Du bist selbst daran schuld, wenn du . . . Seine Gedanken brachen ab. Wieso konnte er denken? Wieso dachte ein Toter? Das war doch nicht möglich. Und warum konnte er atmen, wenn doch kalte Geisterfinger seinen Hals umklammerten und ihm die Luft abdrückten! Alles war auf den Kopf gestellt. Suko wußte auch, daß er durch Denken allein nicht weiterkam. Er mußte etwas tun. Unentschlossen starrte er nach vorn. Dort stand Lisa Fox. Hinter ihr und nahe der Tür zum Bad sah er seinen Freund John Sinclair. Er hatte geschossen, aber es ging ihm nicht gut. Er mußte sich an der Wand abstützten. Dabei hielt er den Kopf gesenkt. Lisa stand noch immer da. Suko sah
ihr Profil und auch den dünnen Blutstreifen, der aus dem rechten Mundwinkel sickerte. Und Sabrina? Ihr feinstofflicher Körper war ebenfalls verschwunden. Er umtanzte die Mutter. Der Kopf lag schief, als wäre er dabei, sich vom Körper zu lösen. Immer wieder drehte sich der Killergeist um den menschlichen Körper, als wollte er ihn beschützen. Suko stand auf. In diesem Augenblick brach Lisa Fox zusammen. Aus ihrem offenen Mund löste sich ein schrecklicher Laut, dann fiel sie nach vorn, schlug noch gegen einen Stuhl und blieb auf dem Bauch liegen. Suko sah das Blut in ihrem Rücken. Es war nicht viel, aber er wußte, daß John ihn mit seinem Rettungsschuß vor einem schrecklichen Tod bewahrt hatte. Dann sah er Sabrinas Geist. Ein dünnes Etwas, das über den Körper der Toten hinwegzog und dabei ausdünnte, bis es nicht mehr zu sehen war. Aus. Der Killer war verschwunden. Vernichtet. Als die Mutter starb, konnte auch die Tochter nicht mehr existieren, denn die Einheit zwischen ihnen war zerstört worden. Beim Fall hatte Lisa Fox die Beretta verloren. Suko nahm sie an sich und ging dann zu seinem Freund John Sinclair, der sich plötzlich wegdrehte, im Bad verschwand, um sich dort zu übergeben. *** Minuten später kehrte ich zurück. Ich hatte mich selbst über meine Reaktion geärgert, aber es gibt gewisse Momente, wo man sich nicht mehr unter Kontrolle hat. Suko hatte auf mich gewartet. Er wollte etwas sagen, aber ich winkte ab. »Behalte es für dich. Beim nächstenmal rettest du mir das Leben.« Ich wischte über meine Stirn, auf der kalter Schweiß lag. Aber ich fühlte mich besser. »Lisa hat uns beide reingelegt«, sagte mein Freund. »Darauf kannst du dich verlassen.« Ich grinste schief. »Da kann man noch so alt werden und noch so lange im Job sein, man lernt eben niemals aus.« »Richtig, so ist das Leben, John.« Vor dem Haus hörten wir das Heulen der Sirenen. Jemand hatte die Kollegen alarmiert. Denn irgendwo mußte ja alles seine Richtigkeit haben . . . ENDE