Victor Koman
Der Jehova-Vertrag Die Verschwörung gegen Gott
Deutsche Erstveröffentlichung
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Victor Koman
Der Jehova-Vertrag Die Verschwörung gegen Gott
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE UNHEIMLICHE BÜCHER Nr. 11/24
Titel der amerikanischen Originalausgabe THE JEHOVA CONTRACT Deutsche Übersetzung von Wolfgang Lotz
Scanned by Doc Gonzo
Copyright © 1984 by Victor Koman Copyright © 1985 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 1985 Umschlagfoto: MALL Photodesign, Stuttgart Umschlaggestaltung: Atelie r Ingrid Schütz, München Gesamtherstellung: Ebner Ulm ISBN 3-453-44078-1
Für Sandra Hendrick, eine dreifache Dame.
l Ich habe das alles schon erlebt und zur Hälfte selbst verschuldet und - offen gestanden - ich war voll und ganz bereit, die Konsequenzen zu ziehen. Also warf mich das, was der Doktor sagte, nicht um. Ich hatte die >Times< zur Hälfte ausgelesen, als Schwester Evangeline ins Wartezimmer kam und mich ansah. Ihre braunen Rehaugen waren feucht, als hätte sie gerade von einem geliebten Teddybär Abschied genommen. »Mr. Ammo? Dr. La Vecque erwartet Sie.« Ich schaltete die elektronische Zeitungsplakette aus und ließ sie in meine Brusttasche gleiten. Als ich an ihr vorüberging, klopfte ich ihr mit der Hand aufs Kreuz, ungefähr da, wo sich die Lawine ihres platinblonden Haares zu kräuseln begann. Diesmal lächelte sie nicht wie sonst. Jetzt wußte ich Bescheid. »Du mußt lernen, die Dinge mit mehr Gefaßtheit zu akzeptieren, Evvie. Verstehst du?« Ich grinste sie an. Sie warf mir noch einen Blick zu, und ihre Spannung schien nachzulassen. Ich versetzte ihr noch einen Klaps und ging ins Sprechzimmer. Dr. La Vecque behandelte die meisten der alternden Vagabunden, die sich in der Gegend von Figueroa und Fourth herumtrieben, so daß ich mich ihnen automatisch zugehörig fühlte. Und - ebenso selbstverständlich - sein Sprechzimmer war den Patienten angepaßt. Alle Nadeln waren weggeschlossen, ebenso die Drogenmuster und ähnliches. Seine Praxis lag acht Stockwerke unter meinem Büro in Arco Tower, oder vielmehr jenem Teil, der noch steht. Nachdem ich etwa zwanzig Minuten mit feuchten Handflächen gewartet hatte, hörte ich, wie sich die Tür öffnete. 5
»Nehmen Sie Platz.« La Vecque hielt nicht viel von Formalitäten. Ich setzte mich auf die Tischplatte, und er ließ seine schmächtige, vogelartige Gestalt in den zerschlissenen Sessel daneben sinken. Er warf die Akte, die er in der Hand hielt, auf den Tisch, rieb sich den Nasenrücken und seufzte. »Soll ich es Ihnen schonend beibringen, Dell?« »Nein.« »Sie haben noch sechs Monate - höchstens ein Jahr. Das Sarcoma ist metastatisch. Hat schon sämtliche Knochen angegriffen.« »Hört sich schmerzhaft an.« »Wird es auch sein. Ich kann Ihnen schmerzstillende Mittel geben.« »Vergessen Sie es, Doktor. Ich will nicht als Junkie sterben.« Einen Moment lang sah er gekränkt aus, ließ die Bemerkung aber durch. Kopfschüttelnd lehnte er sich zurück und musterte mich mit dem unparteiischen Blick eines Technikers. »Das staatliche Institut für Krebsforschung unterhält eine Klinik für osteogenes Sarcoma. Die könnten Sie umsonst behandeln.« »Ja, und dann sehe ich aus wie ein plastisches Skelett, imprägniert mit Kobalt Sechzig. Nein, danke. Wenn es soweit ist, kratze ich eben ab.« Er zog seine spärlichen Augenbrauen hoch und fragte: »Sind Sie ein religiöser Mann?« »Ich bin ein Mann. Und ich will nichts anderes sein, bis ich sterbe.« Ich stand auf. Er sah mich an, als hätte ich die Portokasse ausgeraubt, was mich daran erinnerte, warum er wohl seine Praxis mitten in Skid Row betrieb. Ich dankte ihm für seine Prognose und verschwand, wobei ich Evangeline noch einmal zuwinkte. An der Art, wie ihre Augenlider zuckten, erkannte ich, daß sie als Krankenschwester recht ungeeignet war. Aber ich konnte mir denken, warum La Vecque sie behielt. 6
Ich stieg die acht Stockwerke bis zu meinem Büro hinauf und überlegte mir dabei, wie lange es wohl noch dauern würde, bis der Schmerz und die Anstrengung zuviel wurden. Wie lange noch, bis ich mich auf den klapperigen Fahrstuhl verlassen mußte, bis ich starb, oder das Ding mich umbrachte. Zwanzig Stockwerke in einem Stahlsarg in die Tiefe zu sausen, schien mir ein sauberer Tod als nachts wach zu liegen und zu fühlen, wie die Knochen langsam verfaulten. Ich bekam Depressionen. Lieber besoffen als deprimiert, dachte ich und ging durch die Tür mit der Aufschrift >D LL AMMO, SOLUTIONS, I C.Die Idee des AtheismusStraße der Träume< herumlagen, um nicht barfuß in den Schmutz zu treten. Wir gingen weiter nach Westen, bis sie nach links deutete. »Da drin.« Das kleine Gebäude war ein bescheidener Laden, der mit den benachbarten Läden durch keine gemeinsamen Wände verbunden war. Auf der Schaufensterscheibe stand in großen, verschnörkelten Buchstaben: 77
TRISMEGISTOS und in kleinerer, weniger verschnörkelter Schrift: Kerzen, Weihrauch, Zaubersprüche, Öle Heilwurzeln und anderes. »Das kannst du mir doch nicht antun!« »Halb so schlimm, Dell. Ich kenne die Frau, die den Laden führt.« »So? Woher denn?« Sie blieb stehen, die Türklinke in der Hand. »Also wenn du es unbedingt wissen mußt - das Haus gehört der Bautista Corporation. Ich habe den Mietver trag abgeschlossen.« Sie stieß die Tür auf. Ein Glöckchen klingelte fröhlich. Ein junges Mädchen kam aus dem Hinterzimmer in den Laden. Sie trug ein knöchellanges Kleid, das vor Jahrzehnten modern gewesen sein mochte. Ihr schwarzes Haar hing ihr, zu einem dicken Zopf geflochten, den Rücken herunter. Sie lächelte, als Ann auf sie zuging und leise mit ihr sprach. Der Laden sah überhaupt nicht spukig aus. Drei von Neonlampen erleuchtete gläserne Schaukästen enthielten den Großteil des Angebots. Weitere Waren standen auf Regalen an den Wänden. Es waren vorwiegend Kerzen und Glasfläschchen mit farbigem Inhalt. Die selbstkle benden Etiketten waren mit der Schreibmaschine beschriftet. Man hatte nichts unternommen, um dem Ganzen einen übernatürlichen Anstrich zu geben. Alles war so nüchtern und geschäftsmäßig wie der Drugstore an der nächsten Ecke. Besonders, da keinerlei Plakate und Reklame-Posters herumhingen, die wundersame Heilungen versprachen. Einer der Glaskästen enthielt eine Sammlung von Messern, die als >Athame< bezeichnet waren. Es war der einzige Teil des Ladens, dem ein Hauch von Zauberei anhaftete. Einige der Dolche waren von einfacher Ausführung und steckten in hölzernen Scheiden. Andere waren künstlerisch verarbeitet. Einer hatte als Griff einen Messingdrachen, der die Klinge mit seinen Armen umschlungen hielt. 78
»Dell.« Ich wandte mich um. Arm winkte mir zu kommen. Ich ging auf sie zu. »Wir werden jetzt mit Bridget sprechen.« »Mit wem?« »Mit der Besitzerin. Kasmira hier ist ihre Enkelin.« Wir folgten dem Mädchen ins Hinterzimmer. Dort hörte jede Normalität auf.
6 Sie hätte genausogut tot sein können, so still stand sie da. Tot und gegen die Tür des nächsten Zimmers gelehnt. Kasmira ging vor Ann und mir her und hielt vor der alten Frau an. Das einzige Wort, sie zu beschreiben, wäre >alte Hexeer< besonders betonte. »Dell Ammo«, stellte ich mich vor, meinerseits den Nachnamen betonend, »von der Agentur Solutions Incorporated.« »Ich hatte mir gedacht«, sagte Ann, »daß Sie uns vielleicht bei der Lösung eines kleinen Problems helfen könnten. Vor etwa fünfzehn Minuten...« ».. .haben Sie einige Phänomene beobachtet.« »Ja. Haben Sie es auch gesehen?« »Ich habe ein paar Störungen aufgefangen. Am Rande. Hat mir eine Zauberformel versaut. Kasmira ging hinaus, 79
um nachzusehen, was los war. Sie sah, daß die Menschen auf der Straße sich eigenartig verhielten. Darauf versetzte sie sich in Trance und sah das gleiche, was die anderen sahen.« »Das Blut«, sagte Ann. »Ja, das hat sie mir erzählt. Ich hatte mir gedacht, daß Sie vielleicht die Quelle dieses Phänomens für uns herausfinden könnten.« Die Alte nahm die Arme von der Brust und stieß sich vom Türrahmen ab. Hinter einem Wandbehang zog sie einen Gehstock hervor, beugte sich, auf den Stock gestützt, vor und sagte: »Das ist eine schwere Arbeit. Warum sollte ich es tun?« Ann neigte sich zu ihr ans Ohr und flüsterte ihr etwas zu. Die Alte schüttelte den Kopf und zeigte mit dem Finger auf das andere Ohr. Ann wechselte auf die andere Seite hinüber und flüsterte weiter. Einen Augenblick später weiteten sich Bridgets Augen, und sie blickte mich an. »Das haben schon andere versucht. Ohne Erfolg.« »Aber das waren keine Profis.« Ann lächelte mir zu. Die Sache schien ihr Spaß zu machen. Die alte Hexe kniff die Augen zusammen und musterte mich, als sei das Ganze ein schlechter Witz. »Aber was hat das damit zu tun, daß Sie die Ursachen eines psychischen Phänomens ergründen wollen?« »Die Auswirkungen scheinen sich auf uns zu konzentrieren«, erklärte ich ihr. Dann gab ich ihr eine genaue Beschreibung von allem, was uns auf dem Herweg widerfahren war. Als ich mit meiner Erzählung fertig war, verhörte sie mich mit der scharfen Genauigkeit eines Staatsanwalts. »Hat es wirklich ausgesehen wie ein Elchkopf?« fragte sie. »Wie? Oh. Ja, in Umrissen. Eher wie die Zeichnung eines Kindes. Nur die Augen stimmten nicht. Sie lagen zu hoch - genau unter dem Geweih.« »Wie sah der Spalt in der Wolke aus - rund? Oval? Viereckig?« 80
»Wie ein Schnitt. Dann suchten wir Schutz im Eingang des Wohnhauses, und der ganze Zauber hörte auf.« Sie verwarf die Bemerkung mit einer geringschätzigen Bewegung ihrer ledernen Hand. »Das hat nichts mit Ihrem Problem zu tun. Dort wohnten einmal ein paar äußerst machtvolle - eh - Hexen. Eine von ihnen hielt sich lange genug dort auf, um den Komplex gegen äußere Einflüsse abzusichern. Es gibt viele solche Orte. Dort haben Sie doch kein Blut vom Himmel regnen sehen, oder?« »Aber wo ist der Ursprung?« fragte Ann. Bridget seufzte und änderte ihre Stellung. Kasmira ging in den Laden, um einen Kunden zu bedienen. »Das herauszufinden, würde eine gehörige Anstrengung erfordern«, sagte die Alte. »Sie haben mir immer noch keinen ausreichenden Grund dafür angegeben. Es ist ja nicht so, als ob ich nur ein kurzes Gebet sprechen müßte, und schon käme ein Engel und brächte mir die Antwort per Sonderzustellung. Die Ergebnisse hängen immer davon ab, wieviel Zeit und Mühe man darauf verwendet.« Sie blickte uns abwartend an. Anns Lippen zogen sich zu einem dünnen Strich zusammen und öffneten sich dann ein wenig. Ihre Stimme nahm einen schneidenden Ton an, wie ich ihn von ihr noch nie gehört hatte. Bridget gerade in die Augen blickend, sagte sie leise und kühl: »Die Dame verlangt von Ihnen, daß Sie uns helfen.« Die Alte starrte sie längere Zeit schweigend an. Jahrzehntelanges, mißbilligendes Stirnrunzeln hatte tiefe Falten in ihr Gesicht gekerbt. Ich hatte die ganze Zeit lang kein Wort gesprochen. Der Umgang mit verrückten Hollywood-Typen war nicht meine Stärke, und ich wollte die Verhandlungen nicht zum Platzen bringen. Ihre verrunzelte Hand, die den Stock hielt, schloß und öffnete sich abwechselnd. Mit geschlossenen Augen nickte sie ein paarmal vor sich hin. Dann stieß sie die Tür hinter sich auf. 81
»Hinein.« Sie deutete mit dem Finger in das verdunkelte Zimmer. Ann ging als erste hinein, gefolgt von der Alten, die das Licht einschaltete. Ich kam als letzter und fragte mich, was für mystischen Unsinn sie uns jetzt auftischen würde. Leider hatte das Wort >Unsinn< nicht die übliche Überzeugungskraft. Der Raum war nicht viel größer als das Vorzimmer meines Büros. Drei der Wände, einschließlich der Wand; wo sich die Tür befand, waren mit schweren, dunklen Vorhängen verkleidet. An der vierten Wand stand ein Bücherregal, das vom Fußboden bis zur Decke reichte. Die Bücher, neue und alte, waren mit handbeschrifteten Etiketten versehen, die den Inhalt anzeigten. Gegenüber, vor einer der verhängten Wände, befand sich eine Art Altar, der wie ein Kaffeetisch aussah, und auf dem ein wirres Durcheinander herrschte. Eine Anzahl Kerzen, Holzschnitzereien von Hirschen, Rehen und Halbmonden lagen darauf herum. Ein Weihrauchbrenner, geformt wie ein Drache, stieß gelegentliche kleine Rauchwölkchen aus. An der Wand gegenüber der Tür stand ein Kartentisch. Bridget setzte sich auf einen der Klappstühle, die um den Tisch herumstanden, und bedeutete uns mit einer Handbewegung, ebenfalls Platz zu nehmen. Ann und ich setzten uns an die andere Seite des Tisches und warteten ab. »Also gut«, sagte sie. »Ich werde es tun. Bleiben Sie sitzen und verhalten Sie sich still.« Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und nahm meine Packung Zigaretten aus der Tasche. Bevor ich noch eine herausholen konnte, blickte sie auf. »Nicht rauchen.« Ich nickte und steckte die Packung wieder weg. Dann steckte sie soviel Weihrauch in Brand, daß es genügt hätte, ein Obdachlosenasyl auszuräuchern. Ann lehnte sich etwas zurück und schloß die Augen. Nur ihr zerzaustes, verschwitztes Haar, das über die Stuhlleh82
ne hing, zeugte davon, was sie in den letzten Stunden durchgemacht hatte. Ansonsten war ihr nichts anzumerken. Sie strahlte die Ruhe einer verschlafenen Katze aus. Bridget schob einen Pack Spielkarten in die Mitte des Tisches. Ihre Finger waren erstaunlich flink und geschickt, als sie die Karten mischte, die größer und dik ker waren als gewöhnliche Spielkarten. Dabei murmelte sie vor sich hin, mit einer Stimme wie Samt und Seide. Sie legte die Karten aus wie bei einem Patience-Spiel. Ich hatte einen derartigen Satz Karten noch nie gesehen. Bilder von Männern, die an den Füßen aufge hängt waren, Männer und Frauen mit Schwertern und Pokalen in den Händen, Narren und Lustknaben. Jedes der Bilder schien von einem anderen Maler zu stammen. Bridget legte die Karten nach einem bestimmten Muster aus. Ihr Blick wanderte zwischen den Karten und mir hin und her. Von Zeit zu Zeit blickte sie zu Ann hinüber. Dabei sprach sie kein Wort. »Also, was ist nun?« Langsam wurde ich ungeduldig. Sie erhob eine Hand und sammelte mit der anderen die Karten ein. Ann öffnete die Augen und sah mich mit leichtem Kopf schütteln lächelnd an. Dann wandte sie den Kopf ab und schloß wieder die Augen. Die Alte mischte nochmals die Karten. Ich stieß einen Seufzer aus und blickte mich im Zimmer um. Die Vorhänge waren von sattem Burgunderrot. Der dicke Samt schloß jedes Geräusch aus. Nur das Klatschen der Karten auf der Tischplatte war zu hören. Als die Alte schließlich fertig war, herrschte absolute Stille. Viele Minuten später öffnete Ann ein Auge. Die Alte blickte zu Ann hinüber, dann auf die Karten, dann wieder auf Ann. Sie schien äußerst erstaunt. »Gott segne mich«, murmelte sie mit ihrer kurzatmigen Greisenstimme. Dann wandte sie sich um und rief laut: »Kasmira!« 83
Einen Moment später kam das Mädchen ins Zimmer. »Geh und hole mir zwei orangefarbene Kerzen und eine purpurrote. Du kannst sie als Geschäftsunkosten abschreiben. Dann paß auf den Laden auf und störe uns nicht.« Kasmira verschwand mit einem Kopfnicken. »Kommen Sie hier herüber«, sagte die Alte und führte uns zum Altar. Dabei klopfte ihr Stock auf den hölzernen Fußboden wie der Absatz eines Skeletts. Sie ließ sich vor dem Altar nieder, zog ihren Kimono zurecht und begann, die einzelnen Gegenstände auf dem niedrigen Tisch zu ordnen. Während sie ihren Arbeitsplatz aufräumte, stellte sie Fragen. »Womit beschäftigt sich eigentlich Ihre Firma, > Solutions Incorporateddas erste Blut< und sprach von der >MondflutDer Schwanz des Teufels deutet hinab< und so weiter.« »Du könntest als Gedächtnisgenie im Variete auf treten.« 90
»Ich mußte mir doch alles merken. Du tatest es ja nicht.« »Es schien mir nicht der Mühe wert, das ganze Geplapper im Gehirn zu speichern.« Sie schüttelte verärgert den Kopf und vertiefte sich ihrerseits in die Betrachtung des Straßenverkehrs. Auf ihre Überlegungen konzentriert, durchkämmte sie ihr zerzaustes Haar mit den Fingern. »Hör mal zu, Dell«, sagte sie schließlich. »Das, was viele Leute Zauberei nennen, ist lediglich eine Methode zur Erschließung von Teilen des menschlichen Gehirns, um gewisse Handlungen auszuführen oder bestimmte Erscheinungen wahrzunehmen. Nach allem, was uns heute passiert ist, kannst du nicht leugnen, daß manche Menschen Dinge sehen, die andere nicht wahrnehmen können.« »Vielleicht stehe ich immer noch unter dem Einfluß von Drogen.« Sie nahm die Finger aus den Haaren und seufzte auf. Offenbar hatte sie mit ihrem Gerede alles nur noch mehr kompliziert. »Dell - nur weil die meisten Leute die Winkel eines Dreiecks nicht bestimmen können, ist ein Mathematiker, der es kann, noch lange kein Magier.« »Vor tausend Jahren wäre er einer gewesen.« »Ja, aber heute sehen wir den Unterschied. Er ist einfach dazu ausgebildet, bestimmte Berechnungen anzuwenden. Genauso wie eine - wie wollen wir es nennen - eine Hexe - gelernt hat, Symbole zu deuten.« »Hier kommt unser Bus.« Ann stand auf und streckte sich wie eine goldene Katze. Der Autobus, eine uralte, überforderte Kiste, keuchte heran und blieb an der Haltestelle stehen. Ann zahlte für uns beide, und wir setzten uns neben den hinteren Ausgang. Eine alte Frau vor uns und ein ver wahrloster, junger Stromer, der ganz hinten saß, waren außer uns die einzigen Fahrgäste. Die Alte trug einen zerschlissenen Stoffmantel und hielt eine Papiertüte 91
voller Papiertüten an die Brust gedrückt. Dauernd vor sich hin murmelnd, beschwerte sie sich bei der Welt über ihr Schicksal. Der junge Stadtstreicher las eine Zeitung, das sauberste, was er an sich hatte. Die Achseln seiner Drillichjacke waren von Schweiß verfärbt. Er kaute an etwas herum, das ihm gelegentlich in den Bart tropfte. Es hätte mich interessiert, ob er die Zeitung las oder nur die Bilder betrachtete. Nachdem Ann einige Minuten schweigend dagesessen hatte, fragte sie mich: »Glaubst du an Gott?« »Nein. Das weißt du doch.« »Glaubst du an Satan?« »Das kommt doch alles in der gleichen Verpackung, Mädchen. Wenn du den Teufel kenn enlernen willst, brauchst du nur bis zur nächsten Polizeiwache zu gehen, wo die Bullen Geständnisse aus den Verdächtigen her ausprügeln. Oder zu einem der Regierungsämter, wo nett gekleidete Beamte dir das Geld abnehmen und es sich in die Tasche stecken. Oder in die Innenstadt, wo du zusehen kannst, wie irgendein junger Strolch seiner Großmutter den Schädel einschlägt, um ihr das Geld für die nächste Heroinspritze abzunehmen.« »So schlecht ist die Menschheit gar nicht, Dell.« »Gewiß«, höhnte ich. »Irgendwo glüht noch die hehre Flamme von Wahrheit und Vernunft und Gerechtigkeit und Hoffnung.« Ich steckte mir eine Zigarette an. »Eines Tages hätte ich das alles gern einmal gesehen.« Die alte Frau vor uns hustete in die hohle Hand, betrachtete ihre Handfläc he und wischte sie sich am Mantel ab. Ann schien es nicht zu bemerken. Sie lächelte mir zu und sagte: »Eines Tages wirst du es vielleicht mal sehen.« »Ja - wenn Schweine fliegen lernen.« Ich blickte aus dem Fenster. »Weil wir gerade von fliegenden Schweinen sprechen - dieser Polizeihubschrauber da drüben schwebt schon viel zu lange über der Van Ness Avenue.« 92
Ann folgte meinern Blick und runzelte die Stirn. »Glaubst du, daß die den Porsche schon gefunden haben?« »Geld spricht eine Sprache, die die Bullen gern hören. Und auch die Kirche beherrscht diese Sprache perfekt.« »Wir sollten zunächst einmal die Nachricht völlig ent schlüsseln.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Meinst du, wir können es riskieren, in die Nähe deines Büros zu gehen?« Ich tat einen tiefen Zug aus meiner Zigarette und überlegte. Schließlich sagte ich: »Ich glaube, es wird noch eine Weile dauern, bis sich die Polizei ans Arco wagt. Das Gerücht über nukleare Ausstrahlung im Arco ist immer noch im Umlauf. Da werden sie sich erst ver gewissern wollen. Die Bullen sehen vielleicht dämlich aus, sind es aber nicht.« »Gambit«, sagte sie. Ich drückte meinen Zigaretten stummel mit dem Absatz auf dem Fußboden aus und sah sie fragend an. »Das ist ein Schachzug, bei dem zu Beginn des Spiels eine Figur geopfert wird, um einen strategischen Vorteil zu erringen.« »Ja. Gewöhnlich ist es ein Bauer«, sagte ich. »Na und?« »Bridget sprach von paradoxen Schachzügen.« »Und was oder wer stellt einen paradoxen Schachzug dar?« »Sie sagte: >Tausend Männer und doch kein einzigere Das ist zum Beispiel ein Paradox.« »Eher ein Widerspruch. Du glaubst also, daß man irgendwo tausend Männer opfern wird?« »Vielleicht. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hat es eher etwas mit der Jungfrau und ihrer ersten Menstrua tion zu tun. Und was ist mit den Ungeheuern unter der Erde, die das Feuer gebar?« »Die Hölle, offenbar. Eine bildliche Umschreibung.« »Aber wofür?« Der Autobus knatterte über die Harbor-Freeway-Kreu93
zung, die mehr aus Schlaglöchern als aus Asphalt bestand. Ich drückte auf den Halteknopf. Der Fahrer drehte sich zu uns um und musterte uns mit teilnahmslosem Blick. An der Haltestelle in der Third Street brachte er den Bus zum Stehen. Die Luftdruckbremsen zischten, husteten einmal kurz auf, und die Türen öffneten sich. »Denk doch mal nach«, sagte ich, »in wieviel verschiedenen Versionen die Geschichten aus der Bibel überliefert sind.« Ich stieg aus dem Bus und hielt ihr galant die Hand hin. Hoheitsvoll, wie eine zerzauste Prinzessin, stützte sie sich auf meinen Arm und trat hinunter auf den Gehsteig. Wir überquerten die Schnellstraße und gingen weiter in Richtung Flower Street. »Was die alte Bridget da von sich gegeben hat, kann man auf hundert verschiedene Arten auslegen«, sagte ich. »Dann probieren wir doch erst mal eine aus, und wenn die nicht paßt, die nächste.« »Großartig. Mein Honorar beträgt fünfhundert pro Tag - in Gold. Aber zur Zeit arbeite ich an einem anderen Fall.« Sie hielt an und wandte sich mir zu. Der Wind von der Schnellstraße blies ihr durchs Haar, daß es aussah wie fallender Goldstaub. »Dies hier gehört zu deinem Fall. Es ist ein Teil davon. Die Erscheinungen, die wir gesehen haben, waren kein Zufall. Diese Jesus-Typen kamen nicht nur zufällig an Bridgets Laden vorbei. Und die Priester haben uns auch nicht rein zufällig entführt.« »Also habe ich jemandem Angst eingejagt. Dell Ammo bereitet einen Gottesmord vor, und die Welt erzittert.« Ich ging weiter. Sie holte mich ein und ging neben mir her. »Es ist nicht nur das. Bridget sagte: >Die Zeit der großen Zahl rückt näher. < Damit muß die Jahrtausendwende gemeint sein.« »Prost Neujahr. Auch im neuen Jahrtausend wird die Welt nicht besser riechen.« »Viele Menschen glauben daran, daß die Jahrtausend94
wende die Wiedergeburt von Jesus Christu s und das Königreich Gottes bringen wird.« »Die Leute lieben eben große, runde Ziffern. Beson ders, wenn sie auf Banknoten gedruckt sind. Die fal schen Propheten aller Zeiten haben die Scheine immer schon einkassiert, als Gegenwert für nicht gelieferte Ware. »Das hört sich an, als ob du es nicht erwarten könn test, Ihn umzubringen«, sagte sie. Wir bogen in die Flower Street ein und näherten uns dem Arco Tower. »Bring Ihn mir nur her. Ich hätte schon Vorjahren eine Gruppe organisiert, Ihn zu lynchen, wenn wir damit all die Schwindler und Betrüger losgeworden wären.« Jetzt hatte ich genug alberne Weisheiten von mir gegeben und hielt den Mund. Auch Ann sagte nichts mehr, bis wir am Fuße des Arco Tower ankamen. Es war ein klarer Tag, der Himmel so blau, wie er nur sein konnte, und die meisten Stadtstreicher hatten sich woanders hin verzogen. Wirklich ein schöner Tag. Die abgebröckelten Kanten des nördlichen Turmes hoben sich gegen den Himmel ab. Die alte Innenstadt lag still und friedlich vor uns und warf lange, kühle Schatten. Ann erstarrte ganz plötzlich und deutete mit dem Finger. »Du bist viel zu hübsch, um einen Vorstehhund zu imitieren«, sagte ich. »Was ist denn los?« Sie zeigte auf die Reste eines Schildes, welches auf die Reste des Arco Tower zeigte. »Dell...« Sie ließ die Hand fallen und drehte sich zu mir um. »Wie sieht der Schwanz des Teufels aus?« Ich sah sie an. Sie zitterte ein wenig. Die Farbe war aus ihrem sonnengebräunten Gesicht gewichen. Ihre Lippen waren bleich. »Nun, um deine Frage konventio nell zu beantworten«, erwiderte ich, »hat der Teufel nach traditioneller Mode einen langen, schwarzen Schwanz mit einer Bommel am Ende, die wie ein Herz oder ein Pik geformt ist.« 95
»Etwa wie ein Pfeil?« Ich nickte. Sie nickte ebenfalls. Ich blickte auf das Schild, das zur Plaza hinwies. Sie blickte ebenfalls auf das Schild, das zur Plaza hinwies. Ein geschwungener Pfeil, der nach unten deutete. »>Der Schwanz des Teufels deutet hinab ins Fegefeuer und beschreibt einen fast vollen KreisWerCafe of the AngelsDer obsidianische Dolch< - >mehr Blut wird fließenhübsch< bezeichnen können, weil er keineswegs weichlich aussah. Er war ganz einfach schön. Und ich bin nicht der Mann, dem so was liegt. Seine Augen besaßen die Farbe des Morgenhimmels am Meer. Sie sahen mich aufmerksam, aber nicht aufdringlich an. Sein Haar hing ihm in sanften Wellen über den Hemdkragen. Es >blond< zu nennen wäre das gleiche gewesen, wie Gold als >gelbliches Metall< zu bezeichnen. 135
Sogar hier, in dem matt erleuchteten Raum, glänzte es wie das >gelbliche Metall< im hellen Sonnenlicht. Sein Gesicht sah aus, als könne es nach Belieben einen schelmischen oder todernsten Ausdruck annehmen. Im Moment war es schelmisch. »Willkommen in die Kirche des Mannes, der das Heilige Abendmahl zu einem Mönch-Barbecue gemacht hätte.« Er lächelte mich an. Ein wunderschönes Lächeln. Ein Lächeln, das nicht in diese lausige Bude gehörte. Der Raum war lediglich ein fünf mal sechs Meter großes Büro. Das verschmierte Fenster blickte auf eine Ziegelmauer hinaus. Zwei nackte, von Fliegen beschmutzte Glühbirnen brannten an der Decke. An allen vier Wänden standen Regale, aus Brettern und Ziegelsteinen improvisiert, die sich unter der Last zahlloser Bücher bogen. Vielleicht waren es weniger Bücher als im Hause von Theodore Golding. Aber nur deshalb, weil sie umgekippt wären, hätte man sie bis zur Decke hochgezogen. Ich fragte mich, wie diese wackeligen Dinger die gelegentlichen Erdbeben in Los Angeles überlebten. Eine wohlgenährte Fliege hätte sie umwerfen können. In der Mitte des Zimmers, auf ein em Teppich, der soviel Flor hatte wie ein Mehlsack, stand ein Altar, auf dem ein Mann saß. »Hör auf zu spinnen«, sagte er mit rauher, heiserer Stimme, »und laß ihn rein.« Der Schöne trat zur Seite. Ich blieb im Türrahmen stehen. Der Mann auf dem Altar saß im Schneidersitz, was ihm bei seiner gedrungenen, muskulösen Figur nicht leicht fiel. Er trug einen Straßenanzug, der mindestens eine Konjunkturwende, zwei oder drei Wirtschaftskrisen und möglicherweise ein Paar Pleiten überlebt hatte. Als das Wort > stämmig < erfunden wurde, mußte man an jemand wie ihn gedacht haben. Er füllte seinen Anzug bis zum Bersten. Die Hände, die er im Schoß hielt, erinnerten an Felsbrocken. Sein Gesicht war so freundlich wie das eines streikenden Lastwagenfahrers. 136
»Sie kennen Joey?« fragte er. Ich habe schon Bulldoggen höflicher bellen gehört. Schweigend holte ich eine Zigarette hervor und zündete sie umständlich an. »Ich kannte ihn«, sagte ich, heute schon zum zweiten Mal. »Ich kannte ihn auch.« Ein Funken von Bedauern glomm in seinen Augen. Nicht viel, aber es schien echt zu sein. Er zog die Beine unter sich hervor, stützte sich mit den Händen ab und ließ sich von dem FormicaWürfel, der den Altar darstellte, herabgleiten. Er war viel kleiner, als ich erwartet hatte. Seine Augen starrten zu mir hinauf. Hätte er geradeaus geblickt, wären sie etwa auf der Höhe meines Adamsapfels gewesen. »Nimm dem Mann doch seinen Hut ab, Tom.« »Nicht nötig«, sagte ich und blies Tom den Rauch in sein schönes Gesicht. Er rümpfte weder die Nase, noch gab er ungehaltene Laute von sich. Er zwinkerte ledig lich mit seinen verträumten Augen und ließ ein ge dämpftes Lachen hören. Ich behielt den Hut auf. Die Frisur, die mir LaVecque verpaßt hatte, hätte mein Image vermindert. »Sie heißen Dell Ammo«, sagte der Kurzbeinige. »Nachdem wir uns jetzt gegenseitig bewiesen haben, daß wir kaltblütige, harte Männer sind, könnten wir eigentlich zur Sache kommen.« »Sie haben noch gar nichts bewiesen«, sagte ich. Ich spielte wieder mal den Superklugen. Dell Am mo, der Härteste von allen. Ein Faustschlag, und ich landete draußen auf dem Treppenabsatz. Er hatte auf die Magengrube gezielt und sie nicht verfehlt. Ich hielt mir den Leib und gab Geräusche von mir, wie ein Ertrinkender. Meine Hand fuhr an den Gürtel. Er sah es, wandte sich ab und ging zum Altar zurück. »Angeber«, hörte ich ihn durch das Summen in meinen Ohren sagen. »Kaum hat er den ersten Klapps weg, greift er nach der Kanone.« Er kletterte wieder auf den 137
Altar und ließ sich dort nieder. Ich kehrte ins Zimmer zurück - nicht mehr ganz so keck wie vorhin. »Joey und ich waren Freunde an der Berkeley Universität«, erzählte er mir. »Ich war damals eher rechts konservativ eingestellt. Er war Trot/kist und las eine Menge Sowjetliteratur. Dann war er plötzlich von Tolstoi begeistert. Wurde mehr und mehr Pazifist. In einem Semester erschien er mit einemmal in Priesterkleidung. Er hatte den Trotzkismus aufgegeben, sich der russischorthodoxen Kirche angeschlossen und religiöse Studien als Hauptfach gewählt. So wie Tom hier.« Tom lachte. Es war nicht das kristallklare Lachen eines Apollo, oder wem immer er ähnlich sah, hatte jedoch einen sorglos fröhlichen Klang. »Joeys Familie war mexikanisch-katholisch, also können Sie sich vorstellen, wie er zu Hause aufgenommen wurde. Er kam nach Los Angeles zurück und fing an, in den Mexikanervierteln zu arbeiten. Wie er Sie kennenlernte, weiß ich nicht.« »Wir haben uns mal zusammen in einer Bar besoffen, und er schleppte mich nach Hause.« »Man konnte gute Gespräche mit ihm führen, Ammo. Genauso wie mit Tom hier. Gute Gesprächspartner sind nicht leicht zu finden. Wenn man einen findet, gibt man ihn so leicht nicht wieder auf. Er besaß einen scharfen Verstand - war manchmal etwas durcheinander, vielleicht ein wenig naiv...« Er blickte auf seine Hände herab. Ich sah mich nach einem Aschenbecher um. Als ich keinen fand, ließ ich die Kippe auf den Boden fallen und trat sie mit dem Absatz aus. Tom blickte mich an und lächelte nachsichtig. »Er schien Sie sehr zu respektieren.« Die rauhe Stimme hatte einen weichen Klang angenommen. Auch sein Gesicht hatte seinen harten Ausdruck verloren und sah nicht mehr so aus, als hätte man damit ein Schnitzel weichgeklopft. »Er machte sich Sorgen um Sie, nachdem 138
ihm ein paar große Leute von der Erzdiözese einen Besuch abgestattet hatten.« Er verlagerte sein Gewicht und gab einen grunzenden Laut von sich. »Jedenfalls stellten die eine Menge Fragen, die Sie betrafen. Möglicherweise sind Sie der Annahme, daß Priester und Bischöfe und solche Leute nur dasitzen und beten und anderen Menschen die Sünden vergeben, die sie selbst erfunden haben, um Angst und Schuldgefühle in ihnen zu erwecken. Vergessen Sie es. Religion ist ein Geschäft wie jedes andere. Die Kerle haben ein ausgezeichnetes System für Nachrichtenbeschaffung. Wenn man es sich richtig überlegt...«, er fuhr sich mit der Hand übers Kinn, »wäre doch der Beichtstuhl eine hervorragende Quelle für Informationen, mit denen man die Leute erpressen könnte.« »Wie, glaubst du, finanzieren sich denn die Kirchen?« fragte Tom grinsend. »Abgaben und Stiftungen sind natürlich freiwillig, aber die unausgesprochene Drohung ist immer präsent, daß du nicht in den Himmel kommst, wenn du nicht zahlst. Man deutet an, du würdest dann in der Hölle braten. Man droht den Leuten mit einem viel schlimmeren Schicksal, als jedes Gericht und jedes Skandalblatt ihnen bereiten könnte.« »Hören Sie mal zu«, sagte ich. Ich zog mir einen dreckigen Klappstuhl heran und setzte mich. »Kommen wir doch endlich zur Sache. Joey war also ein gemeinsamer Bekannter von uns. Gut. Er wurde in meinem Büro tot aufgefunden. Was hat das mit uns beiden zu tun?« »Beruhigen Sie sich, Ammo. Wir stehen auf der gleichen Seite. Das nehme ich wenigstens an.« Er richtete seinen dicken Zeigefinger auf mich. »Sie wollen die organisierte Religion vernichtet sehen, und irgendwie haben Sie es geschafft, daß eine bestimmte Gruppe religiöser Führer sich jetzt vor Angst in die Kutte macht. So sehr, daß sie Joey verfolgten, als er versuchte, Sie im Büro zu erreichen.« 139
»Und dann brachten sie ihn um und warteten nicht auf mich? Ihre Logik stinkt.« »Vielleicht hatten sie Angst vor der Radioaktivität. Joey arbeitete immer in der Nähe der Altstadt. Sie auch?« Ich nickte. »Vielleicht war es das. Oder vielleicht wollen sie Ihnen nur Angst einjagen...« »Jemand anderer hat das schon probiert.« »Na schön. Oder Ihnen etwas anhängen.« Er ließ sich von dem Altar heruntergleiten und kam zu mir herüber. Jetzt, wo ich saß, befanden sich unsere Augen auf gleicher Höhe. Er stolzierte um meinen Stuhl herum und musterte mich. Besonders die Wunden an meinem Kopf, die der Hut nicht ganz verdeckte. »Vielleicht sind Sie wirklich ein harter Bursche. Es gibt nicht viele Leute, die sich der Ecclesia entgegenstellen und zwei Verwarnungen überleben.« Er bemerkte mein Stirnrunzeln. »Ich sagte >EcclesiaRandyBoys Town< und anschließend die Philadelphia StoryDer GottesstaatWir vertrauen auf Gott-^=-*~ ~^ ~~~~~~^' :*^rseaf9K? Machthabern zusammen, und Toms Worte bestätig« einen Verdacht, der schon mehrmals in mir aufgekeil ^Überlegen Sie doch mal«, sagte er im Ton ein Theologiestudenten. »Die ersten Münzen m diesem U de trugen die Symbole der Freiheit: Göttinnen, dieC l* II
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schenke darbrachten, Adler in majestätischem Flug, indianische Ureinwohner, immer noch edel und unge beugt.« Er schwang das Fußgelenk übers Knie und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Dann brachte Victor Brenner im Jahre 1909 den Lincoln-Cent heraus. Ein toter Statist in der Münzprägung. Ein Sieg für die Patriarchisten, die bereits seit einem halben Jahrhundert den Namen ihres männlichen Gottes auf ihre Münzen prägten - manchmal unmittelbar neben die Freiheitsgöttin.« Er blickte der Moderatorin voll ins Gesicht. »Ich brauche Sie wohl nicht daran zu erinnern, daß fünf Jahre später der Erste Weltkrieg ausbrach, in den die Vereinigten Staaten nach drei Jahren hineingezogen wurden. Und daß die Zahlen fünf und drei von großer mystischer Bedeutung sind.« Die Moderatorin sah besorgt aus. Ich auch. Tom machte einen unbekümmerten Eindruck. Das Schweigen währte so lange, daß ich mich fragte, warum man nicht ein paar Werbespots einschob. »Um das Thema zu wechseln - Sie wollen doch wohl nicht behaupten, daß auch kommunistische Staaten von religiösen Gruppen beherrscht und gelenkt werden?« Offenbar hielt sie das für eine vernichtende Frage. Noch bevor ich Toms Grinsen sah, wußte ich, daß er nur darauf gewartet hatte. »Trotz ihres zur Schau getragenen Atheismus wurden und werden die Staaten des Ostblocks von einer uralten Hierarchie abtrünniger Druiden beherrscht, die ihre Göttin verraten hatten und auf Eroberungen aus waren.« Die Moderatorin gab einen Laut von sich, als hätte sie sich verschluckt, und fragte: »Druiden? Ein Haufen
Baumanbeter aus England? Und die sollen die mächtigsten Nationen der Erde beherrschen?« Tom sah so froh aus wie ein Chemiestudent, der ein Loch in der Zimmerdecke vorweisen konnte. »Betrachten Sie doch einmal die Nationalflagge der Sowjetunion.« Die Moderatorin warf einen flehenden 151
Blick himmelwärts, äußerte sich jedoch nicht. »Sie zeigt einen goldenen Hammer und goldene Sichel auf rotem Feld. Die übliche Erklärung dafür ist das Proletariat und die Farbe der Revolution. Aber auch diese« - er hob den Zeigefinger und streckte ihn der Kamera entgegen: »Erstens - die goldene Sichel wurde von den Druiden dazu benutzt, Mistelzweige von den Eichen zu schneiden, als symbolische Nachahmung der Entmannung von Kronos durch seinen Sohn Zeus. Die Mistel ist ein Phallussymbol. Zweitens - der Hammer - so wie er auf der Natio nalflagge dargestellt ist - erinnert ebenfalls an einen Phallus, an den die Sichel angesetzt ist, um ihn zu zerschneiden.« Er streckte den dritten Finger hoch. »Drittens - rot ist bei den Druiden die Farbe des Lebens und die Farbe der Nahrung, die bei der Totenweihe den Verstorbenen dargeboten wird. Und viertens - der rote Stern, den die Sowjets und fast alle anderen kommunistischen Staaten zum Symbol haben, ist eine Variante des uralten Drudenfußes - der fünfkantigen Figur oder des fünfzackigen Sterns, der bei jeder Art von Magie gut oder böse - angewandt wird. Auch auf unserer Flagge haben wir Drudenfüße, und die Farben Rot, Weiß und Blau sind die Farben der Göttin.« Bevor er weitere Punkte an den Fingern der anderen Hand abzählen konnte, unterbrach ihn die Moderatorin: »Also wurden die Kriege dieses Jahrhunderts durch einen religiösen Streit zwischen den Nachkommen von Pyramidenerbauern und Baumbeschneidern verur sacht?« »Nein«, erwiderte er. Sein Lächeln war verschwunden. »Obwohl es kleinere Auseinandersetzungen gegeben hat, bei denen die Führer des einen Gott -Staates ihre Sklaven gegen die Sklaven eines anderen Gott Staates in den Kampf schickten, kooperieren doch alle Regierungen der Welt miteinander, mit dem Zie l, ihre Machtstrukturen zu erhalten und jeden zu vernichten, der die Notwendigkeit des Staates oder die Existenz 152
ihres Gottes in Frage stellt. Warum haben Atheisten und Anarchisten...« »Ich danke Ihnen, Tom«, sagte die Moderatorin. »Das war Tom Russel von der St.-Jude-...« »Judas!« »... Kirche, dessen Buch >Der Gottesstaat< eben erschienen ist. Wir setzen in wenigen Minuten unser Programm mit Roger Merthon fort, der Ihnen erklären wird, wie man junge Hunde färbt, ohne ihnen Schaden zuzufügen.« Das Bild wechselte, und ich schaltete eine Station weiter. Die Verschwörungstheorie hatte ich schon gehört. In der Ausübung meines Berufes hatte ich schon selbst dergleichen in Umlauf gebracht. Wie bei allem, gab es Beweise dafür und Beweise dagegen. Wenn er recht hatte und die >Gott-Staaten< herausfanden, was ich zu tun beabsichtigte, würde es mir schwerfallen, die nächsten paar Atemzüge zu überleben. Regierungen lassen nicht mit sich spaßen. Sie heuern Leute wie mich an, die in aller Stille und ohne vorherige Warnung zuschlagen. Wie die Eule, die um Mitternacht auf ihr Opfer herabstößt. Regierungen lieben Geheimnistuerei. Religiöse Verbände ebenfalls. Irgendwo war da ein Hinweis, was ich unternehmen mußte, aber mein müdes, altes Hirn war durch den Fernsehschirm abgelenkt. Ich hatte Lust auf einen Drink und griff nach der Schublade im Nachttisch. Dann fiel mir ein, daß ich beim Trinken gern nette Gesellschaft hatte. Ich hob den Hörer ab und wählte Anns Zimmernummer. Sie würde in zehn Minuten da sein, sagte sie. Ich legte auf und vertrieb mir die Zeit damit, einem Doktor-Typ auf dem Bildschirm zuzuhören, der behauptete, seine Droge sei besser als alle anderen. Als wenn die beste Droge der Welt nicht bereits erfunden wäre: Fernsehen mit seiner hypnotischen Ausstrahlung ... 153
Gehirne betäuben... Über Satelliten... Ann klopfte an die Tür. »Ich bin fertig«, rief sie. »Ich habe mich schön gemacht und hoffe, du wirst den richtigen Rahmen für ein nettes Abendessen finden, Dell.« Rahmen... Ausstattung... Dosierung... »Ann!« rief ich, fast schreiend, und sprang zur Tür. »Ich habe es!« »Was?« fragte sie, als ich die Tür aufriß und sie hinter mir zuschlagen ließ. Sie trug ein enganliegendes rotes Kleid, in dem sie aussah wie eine von Sonnenlicht gekrönte Feuergöttin. Niemand in der Halle drehte sich auch nur nach ihr um. Ich hätte sie alle für Eunuchen oder noch Schlimmeres gehalten, wenn ich nicht gewußt hätte, wie sie auf Gaffer reagierte. Ich ging neben ihr her und überlegte mir, ob ich sie einweihen sollte und wie weit. »Ich habe herausgefunden, wie ich Gott töten kann.« Sie hielt mitten im Schritt an, zögerte kurz und ging weiter. »Okay«, sagte sie. »Ich werde dir helfen. Das weißt du.« »Ich hatte gehofft, daß du das sagen würdest. Hier, schau mal.« Ich übergab ihr einen Bogen Hotel-Briefpapier, auf dem ich mir Notizen gemacht hatte. »Das ist nur ein Teil von dem, was ich brauche. Ich habe noch nicht alle Einzelheiten ausgearbeitet.« Sie sah sich die Liste mit der Intensität eines Rechnungsprüfers durch und las dann laut vor: »Mescaline, Psilocybin, LSD 25, THC, STP, BZ, DMT das erinnert mich an meine Schuljahre - Tryptophan, Vasopressin, ein starker Nervenlähmer, VideoSat Synchronsatelliten - was ist denn das? - eine Weltraumrakete, eine Werbeagentur - was willst du denn mit all dem anfangen?« »Das weiß ich noch nicht genau«. Wir bogen um die 154
Ecke und gingen auf die Cocktail-Bar des Hotels zu. »Ich weiß aber, daß ich Gott töten kann, wenn ich genügend religiöse Werke lese, die Drogen dazu verwende, mein Gehirn entspannen und den Nervenlähmer auf die Gehirne der anderen ansetze.« Ich fischte nach einer Zigarette. »Und dann?« »Dann brauche ich eine Methode, meine Gedanken auf sie zu projizieren. Eine Art Sender. Eine Art...« »Wo seid ihr zwei Fickvögel denn gewesen?« ertönte die Piepsstimme von Isidore Volante. »Ich habe euch überall gesucht.« Sie holte uns ein. Ich blickte sie an, klopfte die Zigarette auf meinem Handrücken fest und schob sie lächelnd in den Mund.
13 Ich rief so viele Werbeagenturen an, bis ich beide Ohren mit Sprüchen über Plastikwaren und Haushaltsartikel voll hatte. Nur einige wenige von ihnen schienen die Originalität und Fantasie zu besitzen, die über Plakate und Handzettel hinausging. Diese bestellte ich mir in mein Büro im Union-Bank-Gebäude. Um sie dazu zu bewegen, ins alte Stadtzentrum zu kommen, erwähnte ich die Riesensummen, die ich bereit wäre, für meine Werbekampagne auszugeben. Danach äußerte keiner mehr moralische Bedenken über das Thema des Werbefeldzugs. Eine Woche später hatte ich ein Dutzend von ihnen in meinem Büro versammelt. Ann saß in einer Ecke und beobachtete, wie sie sich präsentierten. Dunkle Halbmonde der Erschöpfung hingen unter ihren Augen. Sie hatte mir angeboten, Geld für die Werbung aufzutreiben, in dem sie nachts im Auberge-Kasino hohen Poker spielte an den Tischen mit unbegrenztem Einsatz. Sie war müde und gereizt. Der erste Werbemensch holte eine illustrierte Tafel aus 155
seinem Kunstleder-Portfolio. Sein Gesicht hätte man auf einen Axtstiel setzen und zum Holzhacken verwenden können. »Dies hier ist ein erstes Konzept unserer Vorstellung von dem, was Sie uns am Telefon mitteilten«, sagte er mit unerwartet tiefer Stimme. Ich steckte mir eine Zigarette an und betrachtete das Plakat, das er hochhielt. Es war in den fröhlichen Farben einer Waschseifenreklame gehalten. Du fühlst keine Schuld und keine Not am Ersten des Jahres bei Gottes Tod »Zu viele Worte«, sagte Ann und lehnte sich müde zurück. »Aber in diesem Konzept sind alle Elemente enthalten, die Sie wünschten - Gottes Tod und das Datum seines Ablebens.« »Es ist eine Rasiercreme-Reklame, keine philosophische Stellungnahme. Und ich könnte weit bessere Verse mit einem Vorschlaghammer schreiben.« »Sie können den Massen keine Philosophie verkaufen«, sagte er und nahm sein Portfolio wieder an sich. »Mit Ihnen gewiß nicht«, sagte Ann. Der Mann hatte ihr bereits den Rücken gekehrt und sich auf den Weg gemacht. »Der Nächste«, sagte ich. Einer in der Gruppe schluckte hart und verließ den Raum, ohne uns sein Konzept zu präsentieren. Ein anderer machte sich nicht die Mühe, aufzustehen und hielt mir nur seinen Zeichenblock vor. Dort stand in blauen Buchstaben auf grauem Hinter grund: Gott ist nicht tot Noch nicht »Nicht schlecht«, äußerte ich mich. 156
»Es ist negativ«, sagte Ann halb gähnend. »Was wir brauchen, ist eine positive Erklärung, daß Gott sterben wird. Und das Datum.« »Gehört die zu Ihnen?« fragte der Werbemensch. »Raus.« Als nächste meldete sich eine Frau zu Wort. Sie war mittleren Alters, klein und rundlich. Dick konnte man keinen nennen, der ein so fröhliches Gesicht machte. Sie trug eine Männerbrille, durch die sie mich erwartungs voll ansah. »Sie wollen also den Leuten beibringen, daß Gott tot ist«, sagte sie lächelnd. In ihrer Stimme klang ein europäischer Akzent mit. Einem Pappzylinder entnahm sie einen großen Poster, den sie aufrollte. »Das wird den Leuten in die Augen stechen.« Der Poster zeigte das in Wasserfarben gemalte Bild eines am Galgen hängenden menschlichen Skeletts. Auf seiner Schulter hockte das winzige Skelett einer Taube. Darunter stand in leuchtend gelben Buchstaben: Das Jahr des Herrn 2000 findet nicht statt Die Frau lächelte fröhlich. Ich wäre jede Wette eingegangen, daß sie für sämtliche Kinder in ihrer Nachbarschaft Kekse buk. Wahrscheinlich hatte sie auch einen hübschen Blumengarten vor dem Haus. Ann räusperte sich und sagte so schonend wie möglich: »Es ist sehr hübsch, aber - um - doch etwas unverständlich. Es geht über die Köpfe der Leute hinweg.« Die Frau lächelte ergeben und rollte ihr Aquarell zusammen. »Man kann nicht immer Erfolg haben«, sagte sie beim Hinausgehen. »So ist das im Leben. Ciao.« Sie winkte uns zu und schloß leise die Tür hinter sich. Eine große, dunkelhaarige Frau kritzelte abwesend mit einem Buntstift auf ihrem Zeichenblock. Sie sah zuerst mich an, dann Ann, und fragte: »Über wessen 157
Köpfe wünschen Sie nicht hinwegzugehen?« Ihre Stimme war tief und kühl, wie trockener, eisgekühlter Wein. »Wir wollen alle ansprechen«, sagte Ann. »Unsere Idee bis zur Übersättigung anbringen. Wir wollen Menschen ansprechen, die rationellen Argumenten nicht zugänglich sind, die man emotionell anpacken muß. Leute wie Analphabeten und Intellektuelle.« Die Frau begann mit schnellen Strichen zu zeichnen. Das Licht fiel auf ihr dunkles Haar, das stellenweise kupferfarben aufblitzte. Während sie zeichnete, sprach sie weiter. »Wir sollten am besten einfache Formulierungen und Symbole anwenden. Symbole sind besonders wichtig. Die meisten Leute können nicht lesen. Jetzt sagen Sie mir genau - welche Ideen wollen Sie anbringen?« »Wir wollen die Leute davon überzeugen, daß Gott am ersten Tag des Jahres zweitausend sterben wird.« Mit schnellen, präzisen Bewegungen skizzierte sie eine Inschrift auf der oberen Hälf te des Blattes. Einige der anderen Werbeleute lehnten sich hinüber, um ihr zuzusehen. Einer sammelte mit einem Seufzer seine Muster ein und verschwand. Als die Frau fertig war, betrachtete sie einen Moment lang ihr Werk und zeigte es Ann. Ann lächelte. »Wie könnte ich so etwas zurückweisen?« sagte sie. »Dell?« Die Frau drehte den Block so, daß ich die Skizze sehen konnte. Rote, scharfwinklige Buchstaben blitzten mir entgegen: Am ersten Tage des Jahres 2000 wird Gott sterben Ich nickte zustimmend. Die Frau bot ihren Kunden genau das, was sie wollten. »Was ist das für ein Ding da unten?« Ich wies auf eine Zeichnung, die eine Wolke oder die Seitenansicht eines Wasserfalls darstellen mochte. »Unser visuelles Symbol. Für die Druckfahne nehmen wir das Original.« 158
»Aber was soll das sein?« Es sah einem brennenden Haus ähnlich. »Michelangelos Gemälde von Gott in der Sixtinischen Kapelle. Fast jeder in der judeo-christlichen Welt bringt dieses Bild mit Gott in Verbindung, selbst wenn er Ihn sich anders vorstellt.« »Und was haben Sie hier eingezeichnet?« Sie blickte stirnrunzelnd auf das eingekreiste X. »Das ist das Fadenkreuz eines Zielfernrohrs«, sagte sie. Ich drückte meine Zigarette aus und dankte den anderen dafür, daß sie sich herbemüht hatten. Als sie gegangen waren, fragte ich: »Für wen arbeiten Sie, Schätzchen?« »Ich arbeite für die McGuinne Corporation. Und mein Name ist Kathleen, nicht Schätzchen.« Ich spürte, daß dies der Anfang eines prächtigen Ar beitsverhältnisses war.
14 Das riesige Reklameschild, das am Sunset Strip nach Westen hin aufgestellt war, war von Kings Road bis hinauf zu den oberen Stockwerken an der La-CienegaKreuzung deutlich sichtbar. Der Mann auf dem Gerüst bemalte gerade den letzten Buchstaben des letzten Wortes. Als er fertig war, wurde das Gerüst langsam heruntergelassen. Er stieg ab und sammelte seine Pinsel und Farbtöpfe ein. Wahrschein lich glaubte er, das Ganze sei eine Filmreklame. Hätte er geahnt, daß Tausende von Leuten wie er überall auf der Welt das gleiche Schild in Hunderten verschiedener Sprachen bemalten, hätte er wohl etwas anderes ver mutet. Ann betrachtete das Schild mit verschränkten Armen. 159
Sie trug ein blaues Kostüm, das ihr goldenes Haar besonders zur Geltung brachte. Unten rechts auf dem Schild war eine Reproduktion von Michelangelos sixtinischem Gemälde von Gott. Adam hatte man weggelassen. Gott deutete mit dem Finger auf den Sunset Boulevard. Sein Kopf war übermalt mit dem Fadenkreuz eines Zielfernrohrs. Die Fäden kreuzten sich genau über seiner linken Schläfe. Darüber, in grellroten Buchstaben, die den größten Teil der Fläche einnahmen, stand unser offizieller Slogan: AM ERSTEN TAGE DES JAHRES 2000 WIRD GOTT STERBEN »Und du glaubst, daß es niemand ernst nehmen wird«, sagte Ann, sich mit dem Fin gernagel übers Kinn streichend. »Nimmst du etwa Zigarettenwerbung ernst?« Wir standen auf dem Gehsteig neben dem Roxy. Der im Vergleich mit dem Schild winzig aussehende Maler war hinter der riesigen Tafel verschwunden. Ein paar Minuten später sank das Gerüst zu Boden. Das letzte Wort, auf dem die Farbe noch feucht war, leuchtete in der Nachmittagssonne wie frisches Blut, das eben anfing zu trocknen. Wir gingen hinüber zu meinem Chrysler, der in der Olive Street geparkt war. »Es dient zweierlei Zwecken«, sagte ich. »Zunächst deckt es unsere Tätigkeit ab, weil kein Mensch an eine Verschwörung glaubt, die nicht geheimgehalten wird. Zweitens prägt es den Leuten den Gedanken ein, daß Gott sterben wird. Es ist alles ein Teil des >RahmensPeripherals< im Laufe der letzten zehn Jahre entwickelt.« Die Vorgeschichte interessierte mich nicht. »Können wir bitte zum Verkaufsgespräch kommen?« Er räusperte sich lange genug, um sich ein Stück Twinkie-Gebäck in den Mund zu schieben. Dann wischte er sich die Hände an seinem Laborkittel ab und wartete einen Augenblick, bis er die Kehle frei hatte. »Der Thetawellenverstärker kann das Volumen der Hirnwellen in der Region von vier bis acht Hertz verstärken, der Region der Träume und der Kreativität, während das Volumen in den Delta- und Alpha-Frequenzen gleich bleibt.« »Gekauft.« »Wie bitte?« 162
»Ich sagte >gekauft Casino of the Angels Casino of the Angels< betrat, war sie bereits am Werk. Sie trug ein schillerndes, smaragdgrünes Kleid mit einem Seitenschlitz und saß an einem der Poker-Tische, an denen um unbegrenzte Einsätze gespielt wurde. Ein paar Gesichter kamen mir bekannt vor. Leute, die hoch spielten. Ann schien sie alle aufs Kreuz zu legen. »Verdammte Scheiße«, rief ein hagerer, dunkelhaariger Mann aus und warf seine Karten auf den Tisch. Er stand auf, um den Tisch zu verlassen, überlegte es sich und setzte sich wieder. »Noch eine Runde«, sagte er. »Eine einzige.« Das mußte George sein. Ann lächelte ihm zu. Sie sprach kein Wort. Ihr Lächeln drückte deutlich genug aus, was sie dachte: Trottel. Die anderen fünf Herren waren geteilter Meinung. 164
Zwei von ihnen schienen bester Laune zu sein, während die anderen drei so sauer wirkten wie abgestandene Zigarrenasche. Einer der Gutgelaunten, ein rundlicher älterer Herr mit großer Nase, verteilte die nächste Hand. Ann strich ihr Haar zurück, nahm ihre Karten auf und hielt sie sich dicht vor die Brust, die ohnehin den Blick der herumstehenden Lustmolche auf sich zog. Die Einsätze kamen langsam, bis auf den des dunkelhaarigen, hageren Mannes, der nervös und gedankenlos setzte. Er stürzte sich verzweifelt ins Spiel. Die aufgestapelten Jetons neben Ann reichten ihr bis zur Schulter. Dutzende von Stapeln. Ich steckte mir eine Zigarette an und trat an den Tisch. Ann ließ sich zwei Karten geben und erhöhte, als die Reihe an sie kam. Die drei Mißmutigen schieden daraufhin sofort aus. Der Rundliche, sowie ein magerer, älterer Herr mit feinem Lächeln blieben im Spiel, in der Hoffnung, das Glück würde sich gegen Ann wenden. George blieb ebenfalls drin und warf wütend seinen Einsatz auf den Tisch. Sein dunkles, gewelltes Haar hing ihm in die Augen - Augen, so wild wie die einer in die Ecke getriebenen Katze. »Ich halte mit«, sagte er, nachdem zweimal erhöht worden war. Er warf seinen Einsatz auf den Tisch. Ann deckte ihre Karten auf. Drei Damen. Der Hagere knirschte mit den Zähnen und warf seine Karten weg. Zwei Paare und ein As. Die zwei anderen Spieler schüttelten die Köpfe und legten ihre Karten ab, ohne sie zu zeigen. »Das Glück ist heute auf Ihrer Seite, meine Liebe«, sagte der Dicke. Ann lächelte nur. Der Hagere war an der Reihe auszuteilen. Er nahm die Karten und mischte sie, als wolle er mit Gewalt das Glück in sie hineinhämmern. Ann blickte sich im Zimmer um, sah mich und lächelte. Sie schien mit den Augen zu zwinkern, aber vielleicht kam es mir nur so vor. Dann nickte sie George aufmunternd zu. 165
George teilte eine Runde aus. Ann ließ sich nach dem ersten Einsatz drei Karten geben und schied aus. Einer der drei Mißmutigen, die aussahen, als seien sie soeben aus Sizilien eingetroffen, gewann die Runde, worauf sich seine Stimmung sichtlich besserte. George ballte die restlichen Karten in der Faust zusammen. Seine rechte Hand, die auf der Tischkante lag, zitterte. Dann schob er sie vor und mischte. »Eine Runde Stud Poker«, sagte er verbissen. Er teilte verdeckte Karten, dann die erste offene. Ann orientierte sich mit einem schnellen Blick. Der Dicke hatte einen König. »Ich bin draußen«, sagte sie. Die Finger von George verkrampften sich. Unter erstauntem Gemurmel der Zuschauer wurde die Runde ausgespielt. Es war allen klar, daß Ann nach ihrem Ausscheiden zwar nicht gewinnen konnte, aber auch nicht viel verlor. Bei der letzten Erhöhung hatte der Dicke alle vertrieben, außer George. Der junge Mann hielt mit. Das hätte er lieber nicht tun sollen. Der Dicke hatte vier Karo offen. Eine mögliche Sequenz. George hatte ein Paar schwarze Damen. Der Dicke strich sich lächelnd über sein schütteres blondes Haar und drehte seine verdeckte Karte um. Ein König. Pik. Er lachte und rückte vom Tisch ab. Der junge Mann drehte seine verdeckte Karte um und rief fast schreiend: »Drei gleiche!« Er streckte die Hand aus, um seinen Gewinn einzustreichen. »Moment mal«, sagte Ann. Ebensogut hätte sie versuchen können, mit einem Stück Seidenpapier ein Nashorn aufzuhalten. »Sehen Sie sich doch Ihre Karten richtig an«, sagte sie zu dem Dicken. »Das ist doch keine verpfuschte Sequenz, was Sie da haben.« »König, As, Bube, Zehn und...« Er blickte zu dem äußerst beschäftigten jungen Mann auf der anderen Tischseite hinüber. Die anderen Spieler betrachteten interessiert die Zimmerdecke oder ihre Fingernägel. »Dame«, sagte er. 166
»Sie waren so eifrig damit beschäftigt, ihn aus dem Spiel hinauszubluffen, daß Sie die Sequenz, die Sie in der Hand hatten, gänzlich übersahen«, sagte Ann. Der alte Herr sah sie an und nickte leicht benommen. »Ich habe wirklich gewonnen.« Es klang, als sei das für ihn ein seltenes Ereignis. Er lächelte breit. Ich stellte mich hinter George und räusperte mich. Er sah sich um. »Eine Sequenz bis zum As schlägt drei Damen«, sagte ich freundlich. Ein hilfsbereiter Mitmensch. Die Augen, die er zu mir aufschlug, hatten die Farbe schlammigen Wassers. »Er hat sein Blatt nicht deklariert.« »Braucht er auch nicht. Die Karten sprechen für sich selbst.« Seine rechte Hand zuckte nervös. Dann schob er die Jetons von sich. Wortlos mischte er die Karten. Der Spieler zu seiner Rechten hob ab, und er teilte. Wieder eine Runde Stud. Anns offene Karte war ein As. »Ich eröffne mit einem Paar Assen«, sagte sie mit zuckersüßem Lächeln. Vielleicht glaubte man ihr, vielleicht auch nicht. Ich persönlich glaubte fest an eines: Sie konnte Poker spielen. Ein Weib, das sich auf etwas so Halsabschneiderisches einläßt, wie eine Pokerpartie mit Männern, die sich am liebsten gegenseitig die Leber herausreißen würden, hat man gern auf seiner Seite. Zwei der Sizilianer erhöhten in der nächsten Runde. Der dürre alte Herr schied aus, erhob sich und ging in die Bar. Der Dicke kratzte sich die Nase, runzelte die Stirn und hielt mit. George sah sich seine verdeckte Karte an und erhöhte. Er tat mir fast leid. Ann hielt mit und sagte: »Okay, es war ein Bluff.« Sie gab sich so besorgt, wie sie konnte. Ich fragte mich, was für ein Blatt sie wirklich hatte. Jedesmal, wenn einer der Spieler sie ansah, kehrten seine Augen mit einer Art träumerischen Blick zu seinem eigenen Blatt zurück. So wirkte sie auf Männer. Es half ihrem Spiel. Bei der dritten Erhöhung war noch kein einziges Paar 167
offen. Ann parolierte. Die drei Ausländer schieden aus und begannen sich zu unterhalten. Der Dicke parolierte ebenfalls. Der dunkelhaarige junge Mann knirschte mit den Zähnen und erhöhte weiter. Sehr hoch. Ann erhöhte nochmals. Erheblich. »Vielleicht habe ich keine Asse«, schnurrte sie, »aber...« Das Ende des Satzes blieb in der Luft hängen wie zarte Damenwäsche auf der Leine. Der Dicke schürzte die Lippen, prustete wie ein Pferd und schied aus. Der einzig übriggebliebene Spieler strich sich das verschwitzte Haar aus den Augen. Ich griff an ihm vorbei und drückte meine Zigarette in seinem Aschenbecher aus. »Ich würde Ihnen raten auszuscheiden«, sagte ich leise. »Dann glaubt sie, daß Sie das Spiel beherrschen.« »Ich brauche kein - ich kann nicht. Es ist...« Er sog in kurzen, heftigen Atemzügen die verrauchte Luft ein. Manche Leute sollten eben nicht Poker spielen. Ich trat zurück und sah zu, wie er weiter erhöhte. Ann warf gleichmütig ein paar Jetons auf den Tisch und sagte: »Ich bin drin.« Dann lehnte sie sich zurück und wartete darauf, ihm den Gnadenstoß zu versetzen. Er verteilte die Karten. Sie bekam eine Zehn zu ihrem As und zwei andere kleine Karten. Er bekam die Pik -Dame zu seinem Karo König, Karo Zehn und Karo Fünf. Anns Lippen spitzten sich zu einem enttäuschten Schmollen. Sie sah sich ihre verdeckte Karte an und ließ die Schultern sinken. »Parole«, sagte sie teilnahmslos. Georges Augen leuchteten auf. Er blickte auf die Einsätze in der Mitte des Tisches, dann auf das kleine Häuflein Jetons vor ihm. Er schob die Hälfte davon in die Mitte. Die Zuschauer drängten sich um den Tisch. Ann starrte gleichmütig ins Leere, bis George seinen Einsatz deponiert und die Hand zurückgezogen hatte. Dann grinste sie ihn an und schob einen Stapel Jetons in die Mitte. »Ich erhöhe«, sagte sie. Der junge Mann reagierte, als 168
hätte sie ihm eine Ohrfeige versetzt. Jetzt hatte sie ihn. Ich konnte mir genau vorstellen, welches Blatt jeder von ihnen in der Hand hielt. Er schob seine restlichen Jetons in die Mitte und senkte den Kopf. »Ich kann Ihnen einen Scheck ausstellen«, murmelte er. Der alte Herr schüttelte bedauernd den Kopf und flüsterte ihm zu: »Sie kennen doch die Regeln, Junge. Keine Schecks oder Schuldscheine. Und kein Kredit.« Ann sagte gar nichts. Ihr Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. Sie sah ihn kühl an und wartete ab. »Ich...« Er blickte sich um und sah, daß ihn alle beobachteten. »Ich habe ein paar Aktien. Auf meinen Namen.« Er zog Dokumente aus der Jackentasche. »Mehrheitsanteile. Ein Drittel davon dürfte den Einsatz decken.« »Geht in Ordnung«, sagte sie. »Sie werden es ja doch zurückgewinnen.« Das war brutal, dachte ich. Die Augen des jungen Mannes brannten wie Öl auf einem verschmutzten See. Lächelnd warf er fünf gefaltete Dokumente auf den Tisch. »Aufdecken«, sagte er und streckte die Hand aus, um seine verdeckte Karte umzudrehen.« »Erst erhöhe ich.« Ihre Augen klammerten sich ineinander wie zuschnappende Handschellen. Die Zuschauer standen stumm und unbeweglich wie ein Garten voller Standbilder. Der einzige, der nicht erstarrte, war George. Er begann zu zittern, sah auf die Dokumente, die ihm verblieben waren, und warf sie ebenfalls auf den Tisch. Ich hatte richtig Mitleid mit ihm. Aber Mitleid hat keinen Platz beim Pokerspiel. Ebensowenig wie Narren. Nachdem der Einsatz bezahlt war, drehte e r seine verdeckte Karte um. Ein Paar Könige, wie sie erwartet hatte. Kraftlos ließ er seine Hand von der Tischkante gleiten und in den Schoß fallen. Alles starrte auf Anns verdeckte Karte, als könne bloße Willenskraft sie hochheben. Aber sie blieb liegen, bis Ann die Hand ausstreckte 169
und sie umdrehte. Ein As. Ein Karo-As zu dem Herz-As, das bereits offen dalag. Der Dicke lachte und blickte den Verlierer an. Sein Lachen verschwand, als er sah, daß der junge Mann eine Pistole auf Ann gerichtet hielt. Dann drückte er ab. Ich reagierte so schnell ich konnte. Ich schloß die Hände zu einer doppelten Faust und schlug ihn mit voller Kraft auf die rechte Schulter, einen Sekundenbruchteil nach dem Rückschlag der abgefeuerten Waffe. Er fiel vorwärts wie ein nasser Müllsack. Die Pistole schlitterte quer über den Tisch und blieb mit einer der scharfen Kanten am Stoffbezug hängen. Der Stuhl, auf dem Ann gesessen hatte, wies ein Loch auf. Sie selbst war verschwunden. Alles starrte den bewußtlosen Mann an. Ich sah mic h nach Ann um. Ich bemerkte sie erst, als ich ihre Jetons vom Tisch gleiten sah. Sie saß auf dem Boden und schaufelte die Jetons in eine große Nylontüte. Keiner schien sie zu beachten. Die Leute schienen durch sie hindurchzusehen. Ich ging zu ihr hinüber. Einer der Wächter drängte sich durch die Zuschauermenge. »Gratuliere«, sagte sie und reichte mir die Aktien. »Du bist jetzt Mehrheitsteilhaber in einer gescheiterten Raumfährengesellschaft.« George begann sich zu regen, als erwache er aus einem tiefen Schlaf. Der Wachmann nahm die Pistole vom Tisch und hielt sie locker in der Hand. Ann warf ihr Haar zurück und stopfte die letzten paar Jetons in die Tüte. Einige der Leute sahen mich an. Sobald ihre Blicke auf Ann fielen, wurden ihre Gesichter aus druckslos, und sie sahen schnell wieder weg. George rappelte sich auf und sah sich benommen um. »Du hast ihn ausgenommen wie einen Besoffenen«, sagte ich zu Ann. »Poker hat große Ähnlichkeit mit Mord, Dell. Manchmal muß man eben jemanden umlegen.« »Und Mord hat oft große Ähnlichkeit mit Poker. Man muß die Gedanken des Gegners erraten können. Ich kann 170
mir aber immer noch nicht erklären, warum du dich mit diesen Dingen abgibst. Nur weil man dich ein bißchen in die Mangel genommen hat? Das kann doch nicht der einzige Grund sein.« Sie sagte kein Wort, während sie ihre Jetons an der Kasse einwechselte. Der Kassierer schenkte Ann keinerlei Beachtung. Man hätte meinen können, daß hier jeden Abend auf Frauen geschossen wurde. Anns Gesicht war vor Aufregung gerötet. In ihren Augen schien ein warmes Licht, wie Feuer unter einer Eisdecke. »Es gibt sehr vieles, wofür ich mich revanchieren muß, Dell. Nicht nur dafür, daß man mich neulich durch die Mangel gedreht hat.« »Deine Eltern waren wohl bibelschwingende Fundamentalisten, oder?« Sie lachte gedämpft. »Nicht daß ich wüßte.« »Dann hast du einen ausgewachsenen Elektra-Komplex, den du dadurch zu unterdrücken suchst, daß du den Himmlischen Vater umbringst.« Diesmal brach sie in lautes Gelächter aus. »Wohl kaum«, sagte sie. Mit einemmal war sie so ernst, als hätte man ihr eine Ohrfeige versetzt. Sie sagte nichts weiter. Am nächsten Tag besuchten wir die Raumfährenfabrik.
16 STRATODYNE CORPORATION ALTERNATIVE TRANSPORTSYSTEME KEIN ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE! »Die geben sich aber große Mühe, das Geschäft zu beleben«, sagte ich, das abblätternde Schild am Tor 171
betrachtend. Auch von dem Tor selbst blätterte der Rost ab. Ein großes Vorhängeschloß hielt die Enden einer Kette zusammen, die man mit einer Schere hätte durchschneiden können. Ann griff mir ins Lenkrad und hupte. »Es besteht kein Anlaß für besondere Sicherheitsmaßnahmen«, sagte sie, »aber sie tun so, als ob.« Ein älterer Mann in der Uniform eines Wachmannes warf einen Blick auf die Karte, die Ann ihm vor die Nase hielt und nickte. Er schloß das Tor auf und schob es zur Seite. Wir fuhren einen Sandweg entlang und wirbelten genug Staub auf, um unsere Ankunft im Umkreis von Kilometern bekanntzugeben. Der Weg schlängelte sich durch eine enge Schlucht. Ein Wassertropfen klatschte auf die Windschutzscheibe wie ein wütendes Insekt. Die Staubwolken würden uns nicht mehr lange belästigen. Der Himmel verdunkelte sich und weitere Regentropfen explodierten im Straßenstaub. Ein aufgeschreckter Spatz hüpfte schimpfend aus dem Weg. Hinter der nächsten Biegung erweiterte sich die Schlucht. Vor uns lag das StratoDyne-Imperium: ein halbverfallenes Gebäude, etwa einen Hektar groß, ein Parkplatz von der gleichen Größe und eine Betonpiste, die durch eine schräge Betonmauer von dem Gebäude abgetrennt war. Eine Krähe flog über unsere Köpfe hinweg, bemüht, den Regentropfen auszuweichen. Sie landete auf dem Gebäude und duckte sich unter einen Stahlträger. Der einzige Laut in dem kleinen Tal war das Pladdern des Regens. Ich legte den Gang ein und fuhr auf das Gebäude zu. Die Besetzung des Parkplatzes verdoppelte sich durch unsere Ankunft. Der einzige andere Wagen, der dort geparkt war, war ein dreißig Jahre alter Buick mit mehr Rost als Farbe. Der Regen spülte ihm den Staub in kleinen Bächen an den Seiten hinunter. Wir stiegen aus und rannten auf die Bürotür zu. Sie stand halb offen, und innen brannte Licht. Es fing an zu gießen, als sei es das Ende der Welt. Ann schloß eiligst die Tür hinter uns. 172
Das Büro war leer. Leere Stühle standen vor nackten Schreibmaschinen. Ablegekästen für Dokumente standen auf den Schreibtischen herum wie hungernde Tiere, die darauf warteten, gefüttert zu werden. Weit weg spielte ein Radio leise die längst vergessene Melodie einer längst vergessenen Rock-Band. Die Uhr an der Wand ging eine halbe Stunde nach. Jemand hatte ein Poster der NASA-Raumfähre mit spitzen Bleistiften beworfen, die dort steckengeblieben waren. Ich blickte fragend zu Ann hinüber. Sie zuckte mit den Schultern und sagte: »Gehen wir der Musik nach?« Ich nickte. Wir gingen durch die Hintertür und kamen in die Montagehalle. Etwa ein Hektar. Ich hatte schon Tennishallen gesehen, die erheblich größer waren. An verschiedenen Stellen waren Zwischenwände aufgehängt, und aufgestapelte Materialien versperrten uns die Sicht über die gesamte Halle, aber wenn man zur Decke hinaufsah, konnte man die Länge der Halle abschätzen. Wir gingen auf die Mitte zu. Dort stand es auf seinem Fahrwerk - weiß und glitzernd und graziös. Es sah aus wie eine Taube von der Größe eines Flugzeugs, die Flügel nach hinten gestreckt, bereit zum Abheben. Hoch über uns war die Pilotenkanzel, ein Ding mit zahllosen Augen, die mit gleichmütiger Ruhe auf uns herabblickten. »Wie schön es ist«, flüsterte Ann ehrfürchtig. »Nichts als ein Stück Schrott«, sagte eine tiefe Stimme hinter uns. Wir drehten uns um und erblickten einen hochgewachsenen Mann in einem ölverschmierten weißen Overall. Er saß neben dem Radio, an einen Stapel Aluminiumstreben gelehnt, und hielt die Hände hinter dem Kopf ver schränkt. »Wieso Schrott?« fragte ich. Er erhob sich und sagte: »Der alte Geislinger hatte eine gute Idee. Preiswerte Raumfähren bauen. Dann über173
nahm George die Firma, als der Alte abkratzte, und begann Änderungen zu machen. Ja, natürlich sieht das Ding schön aus. Das Geld, das da hineingesteckt wurde, entzog man den anderen Projekten.« Er streckte sich. »Ich heiße Cranfield. Früher war ich Pilot von einigen Raumfähren des Alten, bis Georgie-Boy das Ganze übernahm und mich in die elektronische Abteilung steckte.« Er hielt mir die Hand hin. Ich ergriff sie. Sein Händedruck war fest, sein Lächeln offen und bescheiden. Sein gewelltes, schwarzes Haar kräuselte sich über dem Nacken. Ann und ich stellten uns vor. »Können Sie dieses Ding fliegen?« fragte ich. »Ich könnte es, wenn ich Selbstmordabsichten hätte. Alle regten sich schon auf, als der Alte entschied, daß doppelte und dreifache Kontrollsysteme nur Geldver schwendung seien. Er hätte es noch erleben sollen, als George die Stabilisierungsraketen abschaffen wollte, weil sie zu teuer waren. Daraufhin habe ich die Sache den Aktionären vorgetragen, und sie wurden beibehalten. Darum hat er mich dann hierher versetzt.« »Warum sind Sie geblieben?« »Finden Sie mal so schnell ein anderes Privatunternehmen für Raumfahrt. Da hat die Regierung mit ihrer Vereinigten Raumfahrt-Kommission einen Riegel vorgeschoben.« Politische Wissenschaften interessieren mich nicht. »Hätten Sie Lust, das Ding da bei einer Raumfahrt zu führen?« fragte Ann. »Nur wenn ein paar Änderungen vorgenommen werden.« Er betrachtete erst Ann, dann die Fähre. »Ich nenne sie >StarfinderStarfinder< hinauf. »Um wieder mal ins All zu kommen, würde ich auch Gott töten«, sagte er leise. »Wo ist der Rest der Besatzung?« fragte Ann. Sie strich mit der Hand über die Unterseite der Raumfähre. Eine der Ablativplatten löste sich und fiel ihr auf die Hand. »Auch das noch«, rief Cranfield. Er nahm die Platte und eilte an seine Werkbank. »George hat den Klebstoff billig eingekauft. Zu billig. Dieses Zeug hier ist besser.« Er beschmierte die Platte mit einer zähflüssigen Substanz, ging zur Fähre zurück und setzte sie vorsichtig an ihren Platz zurück. So liebevoll und vorsichtig, als würde er einer Geliebten ein Schönheitspflästerchen aufkleben. »Ja«, sagte er, als er fertig war. »Ich habe die Akten der gesamten Besatzung. Ich werde sie kommen lassen. Rechnen Sie mit einer Anlaufzeit von ungefähr fünf Monaten für Programmierung und Systemüberprüfung. Die Auftriebtanks sind noch in Quatemala. George hat sie nach dem letzten Start noch nicht abholen lassen.« »Wir brauchen auch ungefähr so lange, um alles vorzubereiten und die Ladung fertig zu machen«, sagte ich. »Dann wäre ja alles geregelt.« Er lächelte uns an, als hätten wir eben seine Mutter aus dem Gefängnis befreit. Als wir uns verabschiedeten, fragte er: »War es Ihnen ernst damit, daß Sie Gott töten wollen?« »Und Ihnen?« fragte ich ihn. Der Blick, den er uns nachwarf, war eher nachdenklich als erstaunt.
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17 Ann und Kathleen arbeiteten an unserer Werbekampagne und hatten mich fast völlig hinausgedrängt. Nac hts spielte Ann Poker und tagsüber verwaltete sie das gewonnene Geld. Sie schlief, wann immer sie sich ein paar Stunden freimachen konnte. Ich verbrachte die meiste Zeit in der Bibliothek im alten Stadtzentrum. Dort saß ich, eingepfercht zwischen alten Büchern und alten Pennern, und las bei trübem Licht über Religion, Drogen ESP, Psychologie... Für meine früheren Tötungsaufträge hatte ich immer trainiert. Gewöhnlich bestand das Training darin, mein Opfer zu beobachten und das Schema seiner Gewohnheiten und seines Tagesablaufs zu erlernen. Diesmal hielt sich das Opfer versteckt. Wenn es an der Zeit war, Ihn zu töten, würde ich Ihm begegnen, aber ich mußte mich auf jede Eventualität vorbereiten. Inzwischen verdiente ich mir meine Fünfhundert pro Tag, die Mr. Zacharias regelmäßig im Tresor des Casino Grande für mich hinterlegte. Offenbar gab es Kontrakte, die selbst er einhalten mußte. Es war schon Ende Oktober, als mir klar wurde, daß ich Hilfe benötigte. Ich hatte gerade das x-te Buch ausgelesen, das Werk eines Analphabeten, der behauptete, intime Kontakte mit dem Heiligen Geist zu haben, und erfahren, daß es der Menschheit vorbestimmt war, sich für immer und ewig von Weizenkeimen und Bohnenschößlingen zu ernähren. Ich schleuderte das Buch gegen den Stapel zu meiner Linken, worauf er umkippte und die Verrücktenliteratur über den schmierigen Tisch verstreute. Fast hätte ich den Bibliothekar geweckt, der einen Sack mit Gin-Flaschen als Kopfkissen benutzte. Endlich war mir aufgegangen, wo das Problem lag: Ich glaubte nicht an den ganzen Scheiß. Der Gedanke traf micht wie ein Faustschlag - mußte ich 176
an Gott glauben, um Ihn zu töten? Und wenn ich an Ihn glaubte, würde ich Ihn immer noch töten wollen? »Du könntest ja glauben, daß Er das Böse verkörpert «, schlug Ann vor, als ich ihr abends nach der Pokerpartie davon erzählte. Sie hatte heute den Gegenwert von etwa einem Kilo Gold gewonnen - ein schlechtes Ergebnis, wenn man bedachte, was die Werbekampagne kostete. »Aber wenn Er das Böse ist, muß auch irg endwo ein Gutes existieren. Zacharias ist es nicht.« »Du bist auf ein elementares theologisches Problem gestoßen. Aber mach dir keine Sorgen. So sehr man auch vorgeben mag, nicht an Gott zu glauben - tief in uns allen wurzeln immer noch die Spuren der Furc ht vor'dem Unbekannten. Diese Furcht bestärkt den Glauben an eine unbekannte übermenschliche Macht. Das, an was du glaubst, existiert tatsächlich und muß vernichtet werden.« »Ihr Buchhalter seid alle gleich«, sagte ich, sie betrach tend. Obgleich sie fünf Stunden lang in einem verrauch ten Zimmer am Kartentisch gesessen hatte, strahlte sie immer noch Frische und Energie aus. Sie spielte mit ihrem Champagnerglas und lächelte mir zu. »Vielleicht solltest du deinen Unglauben mal eine Weile an den Nagel hänge n. Nur zeitweilig.« Sie schien etwas verlegen, setzte sich aber darüber hinweg und sprach weiter: »Magische Zeremonien und Rituale sind genau das, was du jetzt brauchst, um die richtige Atmo sphäre zu schaffen.« »Magie? So etwas, was Zacharias mit der Kle inen angestellt hat?« »Nein.« Sie hörte auf, mit ihrem Glas zu spielen, und blickte mir ins Gesicht. »Was er aufgeführt hat, war eine christliche Ketzerei, die man Schwarze Messe nennt. Es ist auch ein magisches Ritual, aber nicht das, was ich meine. - Ich spreche von der uralten Zauberkraft, die Bridget praktiziert.« Ich starrte sie ungläubig an. »Hexen? Besenstiele und schwarze Katzen und Hexenkessel? Walpurgisnacht?« 177
»Ich glaube, du hast inzwischen schon genug darüber gelesen, um zu begreifen, daß das alles nur falsch verstandene Mythen sind. Ich bezweifle, daß Bridget überhaupt einen Besen besitzt, außer vielleicht für rituelle Zwecke .« Ich trank meinen Bourbon aus und starrte auf die Theke. Das war alles etwas zuviel für mich. »Ich hatte geplant, Ihn mit technischen Mitteln umzubringen.« »Erinnere dich an Bridgets Worte: >Zwei mächtige Kräfte müssen sich treffen und aufeinanderprallenGut gemacht, Sherlock HolmesPRISONER OF ZELDAThe Great Gatsby Die Ecclesia< zu nennen belieben, sind ziemlich überzeugt davon, daß es keine höhere Macht gibt, die über dem Menschen steht. Sie können Gott schon deshalb nicht töten, weil Er nicht existiert. Ebenso wissen wir, daß das Verlangen, Gott zu töten, ein weitverbreiteter Wunsch der Menschen ist. Wenn Sie ihnen ihren Gott zerstören, würde das zweierlei verheerende Konsequenzen nach sich ziehen: Sie zerstören damit den Wunsch des Menschen nach Erfolg, metaphorisch die einzige Möglichkeit, Gott zu töten und den Respekt vor sich selbst wiederzuerlangen. Gleichzeitig würden Sie uns das einzige Mittel nehmen, den Menschen ein Schuldgefühl zu suggerieren und ihren Killer-Instinkt in produktive Bahnen zu leiten.« »Mit anderen Worten: Wenn Gott stirbt, ist Ihr Geschäft im Eimer. Das ist alles.« »An wen würde der Mensch sich wenden, um für seine Sünden Vergebung zu finden, wenn es niemanden gäbe, der ihm erklärt, was Sünde ist. Wir spenden den Menschen Trost.« »Bah...«, unterbrach ihn der Mann im Safrankaftan. 185
»Keiner von euch kann davon leben, daß er ein paar Mördern und Dieben ihre Sünden vergibt. Dafür sind es nicht genug. Die meisten der Religionen, die hier vertreten sind, haben es geschafft, den Menschen das Leben selbst als Sünde darzustellen.« »Wir predigen ihnen, daß es Sünde ist, zuviel zu verlangen«, sagte der Mann mit den Schläfenlocken. »Wir reden ihnen ein, es sei Sünde, alles zu essen, was sie wollen und wann sie wollen. Daß es Sünde ist, zu lieben, wen sie wollen und wann sie wollen. Einige von uns.. .«er blickte zu dem Dicken in Weiß hinüber - »... gehen sogar soweit, jeden dafür zu verdammen, daß er geboren wurde.« Der Dicke lächelte. Ich beugte mich zu Isidore hinüber und flüsterte ihr zu: »Kannst du es mit allen auf einmal aufnehmen?« »Was?« Sie sah mich an, als hätte ich ihr zugemutet, auf den Mond zu fliegen. »Alle zusammen - leg sie aufs Kreuz. Derselbe Trick, wie bei deinen Freiern.« Sie überlegte. »Das einzige Mal, wo ich das gemacht habe, war bei den siamesischen Zwillingen. Die wollten...« »Keine Einzelheiten, Kindchen. Hat es geklappt?« Sie nickte. »Aber den ganzen nächsten Tag war ich vollkommen erschöpft.« »Mr. Ammo.« Der Mann in Weiß rutschte ungeduldig auf dem Sofa herum. »Wir haben nicht mehr lange Zeit.« »Stimmt. Und wenn ich trotzdem versuche, die Gans zu schlachten, die Ihre goldenen Eier legt - was dann?« »Dann, fürchte ich, werden Sie dieses Zimmer nicht lebend verla...« Seine Gesichtszüge erschlafften ganz plötzlich. Er starrte mit glasigen Augen ins Leere. Ein paar Sekunden später zeigten alle anderen die gleichen Symptome. Pater Beathan fiel gegen die Wand und sank zu Boden. Alle anderen lagen so sc hlaff herum wie Stoffpuppen - bis auf eine Körperstelle. 186
»Ann«, wisperte ich laut, »ich glaube, sie hat sie alle erwischt.« Ann kam aus dem Garderobenzimmer und blickte hinüber zu der Kleinen. Sie saß auf dem Kaminsims und war ebenso abwesend wie die Männer, die sie in Trance versetzt hatte. »Was jetzt?« fragte Ann. Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich wieder hin. »Wir können sie nicht alleine hierlassen, also müssen wir bleiben, bis sie fertig ist.« »Das kann noch Stunden dauern.« »In ihrer kleinen Welt vergeht die Zeit schneller. Schau mal.« Ich deutete mit dem Kopf auf die Männer, die auf den Sofas herumlagen. Einige wanden sich und stöhnten. Es klang wie in einem Irrenhaus. Sie bewegten sich zuckend hin und her, immer schneller- die leeren Augen blicklos in sich hinein gerichtet. Isidore fing an zu zittern. Sie hielt die Augen geschlossen. Tränen flössen ihr die Wangen hinunter. Sie schrie auf und bebte am ganzen Körper. Als ich auf sie zutrat, packte sie mich am Arm. »Bring mich hier raus. Bitte.« Ihre Worte waren kaum hörbar. Ich hob sie auf. »Es war furchtbar. Die Männer waren furchtbar«, schluchzte sie. Ich hatte keine Ahnung, wie man ein Kind beruhigt. Also ließ ich sie weinen. Ann kramte in ihrer Handtasche. »Sie haßten mich alle. Sie haßten mich, weil ich ein Mädchen bin, und sie sagten, daß sie mich nicht ficken würden, weil ich keine Jungfrau mehr sei und weil ich schmutzige Gedanken hätte, und statt dessen schnitten sie mich - schnitten sie mir - in die...« Sie vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter und schluchzte so wild, daß sie meine Jacke durchnäßte. Ich besah mir die Männer auf den Sofas. Sie hielten jetzt die Augen geschlossen und lächelten verkrampft. »Gehen wir«, sagte ich. Ich kam mir vor wie in einer Leichenhalle. 187
»Warte mal«, sagte Ann. Sie nahm keine Rücksicht darauf, daß ich immer noch das dreißig Kilo schwere Kind auf dem Arm hielt. Sie zog etwas aus der Handtasche und trat an den Dicken in der weißen Robe heran. »Mit diesem Zeichen«, sagte sie feierlich, »bist du mir unterlegen.« Damit schnitt sie ihm einen fünfzackigen Stern in die Stirnhaut. Dann setzte sie das Messer tiefer an und schnitt ihm die Nasenspitze ab. Ich hatte sie nicht für so rachsüchtig gehalten. Ohnehin konnte ich keine Hand freimachen, sie zu stoppen. Ich probierte es auf die moralische Tour. »Vielleicht genügt es, wenn du sie einfach alle mal in die Eier trittst.« Ohne mich zu beachten, packte sie den Kerl mit den Schläfenlocken und schnitt ihm ein Stück Ohr ab. »Für deinen Abodah Zarah«, sagte sie zu seinem schlafenden Gesicht. Ein dünner Blutstrom floß unter seinen schwarzen Locken hervor. Auf die Stirn des Mannes im Burnus schnitzte sie ein paar verschlungene arabische Buchstaben. »Im Namen von AI Lat«, sagte sie fast zischend. Sie ignorierte die anderen und kam zu mir an die Tür. Ihre Augen waren ebenso glasig und leer, wie die der Männer gewesen waren. Ohne hinzusehen, steckte sie das Messer weg. Dann legte sie Isidore die Hand auf den Kopf. Ich erwartete, daß sie jetzt etwas Wichtiges oder Symbolisches sagen würde. Oder wenigstens etwas Tröstendes. Aber sie zog ihre Hand wieder weg und ging uns voran, durch die Tür. Am nächsten Abend gewann sie zwölf Kilo Gold beim Poker.
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20 Die Presse begann sich für uns zu interessieren. Artikel über unsere Reklameschilder und Inserate erschienen in mehreren Tageszeitungen. Die Spekulationen waren sogar erstaunlich akkurat. Die meisten Reporter glaubten wirklich daran, daß jemand plante, Gott zu ermorden. Davon waren besonders die Zeitungen in Washington DC überzeugt. Die hatten schon ganz andere Dinge erlebt. Die Veröffentlichungen in den Zeitungen und die Gerüchte, die im Umlauf waren, nützten uns nur. Kathleen betrieb ihre Werbekampagne jetzt noch intensiver. Mitte Dezember hatten wir Radio - und Telefonwerbung, Himmelsbeschriftung durch Flugzeuge bei Fußballspielen (die über Notre-Dame verursachte fast eine Revolte), Ansteckknöpfe, T-Shirts und Posters. Ann und die Kleine zeigten Anzeichen von Überarbeitung. Es fiel mir schwer, sie zu überzeugen, daß die Stunden, die ich in der Bibliothek verbrachte, ebenso anstrengend waren. Weihnachten näherte sich wie ein Trauerzug. Priester und Pastoren wiesen auf die satanische/kommunistische/korporative - oder was auch immer- Verschwörung hin. Rabbiner und Imame deuteten an, daß allein der christliche Gott am christlichen Neujahrstag sterben würde. Die Brahmanen hüllten sich in Schweigen. Sie wußten, was geschehen würde - oder taten wenigstens so. Verrückte Kulte krochen aus ihren Löchern hervor und faselten von Apokalypse und Armageddon. Ich hatte eine neue Idee, wie wir uns Geld unter den Nagel reißen konnten, und gab in verschiedenen Zeitungen und religiösen Zeitschriften diskrete Inserate auf. Darin bat ich um Geldspenden, um der >Lügenkampagne der Gottesmörder< ein Ende zu setzen. Die Spenden vermehrten unser Werbefonds um fünfzig Prozent, die wiederum den Inseraten auf beiden Seiten zuflössen. Ein paar Tage vor Weihnachten saß ich in der Biblio thek und informierte mich darüber, warum Thomas 189
Paine für religiöse Organisationen nur Verachtung übrig hatte. Daß er gleichzeitig seine eigene unorganisierte Religion anpries, hinderte mich nicht daran, nützliche Informationen zu sammeln. Plötzlich erschien Ann. Es war das erste Mal, daß sie mich in der Bibliothek besuchte. Sie sah aus, als hätte man sie zusammengeknüllt, in die Hosentasche gesteckt und sich drauf gesetzt. Sie setzte sich neben mich und legte den Kopf auf einen Stapel Bücher. »Herzliche Glückwünsche«, murmelte sie und starrte auf das Buch, auf dem ihre Nasenspitze lag. Ihr Poker spieler-Teint verlieh ihrer Haut die Farbe von zerkochten Spaghetti. »Ich danke dir, Schätzchen, aber mein Geburtstag ist erst in einem halben Jahr.« »Die Glückwünsche sind nicht zum Geburtstag. Der Thetawellenverstärker ist fertig an Bord eingebaut. Die Nervenlähmerschaltungen sind auch schon unterwegs. Außerdem habe ich einen Lieferanten für die Drogen aufgetrieben. Sie sind bereits bezahlt. Es wurde höchste Zeit, denn lange kann ich das nicht mehr durchhalten.« Ihr Kopf rollte kraftlos zur Seite, und sie sah mich mit müdem Blick an. »Es laugt einen schon aus, wenn man Tag für Tag am Spieltisch sitzt und keiner der Leute, die man ein halbes Jahr lang jeden Abend ausgenommen hat, sich daran erinnern kann. Nur manchmal in der Nacht träumen sie davon, wachen schreiend auf und vergessen es wieder.« Sie hob den Kopf. »Es ist, als wenn man gar nicht lebte.« »Wie lange besitzt du schon diese Eigenschaft?« »Mein ganzes Leben lang. Es gab Zeiten, als nicht einmal meine Eltern mich sehen konnten.« Sie versuchte zu lachen, aber es mißlang. »So konnte ich mir allerhand Streiche leisten. Meine Mutter sah mich oft nicht, aber sie durchschaute mich. Vater war leichter an der Nase her umzuführen. Sogar jetzt fällt es mir schwerer, mich Frauen gegenüber unsichtbar zu machen als bei Männern. Aber meistens schaffe ich es auch bei Frauen.« 190
»Ich glaube, du brauchst nicht länger ins Kasino zu gehen, Engelchen. Wir haben alles, was wir brauchen, gekauft und bezahlt. Allenfalls müssen wir noch ein paar Schmiergelder zahlen. Sag der Kleinen, daß sie jetzt auch aufhören kann. Sie muß am Ersten voll in Form sein.« »Ich habe mit Bridget gesprochen«, sagte sie. »Sie hat keinerlei Herz- oder Kreislaufschwächen und glaubt, die Reise antreten zu können.« »Gut.« Ich blätterte um und überflog die nächste Seite. »Dell?« »Ja?« »Bei den meisten Männern muß ich mich sehr anstrengen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Das ist einer der Gründe, warum ich mich so auffallend anziehe.« »Ja.« Offenbar wollte sie mir etwas sagen. Ich ließ ihr Zeit, darauf zu sprechen zu kommen. »Bei dir brauche ich mich überhaupt nicht anzustrengen. Du siehst mich.« Sie setzte sich auf und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Ich hatte schon immer wissen wollen, was der Ausdruck >katzenartige Anmut< bedeutete. Sie schien sich sehr schnell von ihrer Erschöpfung zu er holen. »Du bist der einzige, der keine Lügen glaubt.« »Erzähle das mal Emil Zacharias.« »Ich meine, du glaubst nicht an Dinge, von denen du weißt, daß es Lügen sind. Du weigerst dich, an etwas Falsches zu glauben, nur weil es der einfachste Ausweg ist.« »Ja, und was habe ich davon? Ich bin im Mordgeschäft. Ein regelrechter Tugendbold.« Ich klappte das Buch zu und sah sie an. »Es ist zum Beispiel eine Lüge, wenn ich behaupte, daß alle anderen unrecht haben, und daß die Leute, die ich umgelegt habe, es verdienten, zu sterben.« »Auch diese Lüge ist im Grunde Wahrheit. Du hast nur Tyrannen getötet, die...« »Die meisten Menschen würden sie >Führer< nennen.« »Hör auf, den Teufelsanwalt zu spielen.« 191
Ich lachte so laut, daß sich die Leser in der Bibliothek aufgeregt hätten, wenn welche dagewesen wären. »Weißt du, wie man sich vorkommt, wenn man nicht imstande ist, die Aufmerksamkeit eines Mannes für länger als ein paar Sekunden auf sich zu lenken? Je näher er mir kommt, um so mehr muß ich mich konzentrieren, bis ich nicht mehr kann, und dann steht er plötzlich da und weiß nicht, wie ihm geschieht, und haut ab. Ich weiß wirklich nicht...«, sie machte eine hilflose Geste und ließ dann die Hände in den Schoß fallen, ».. .vielleicht wollte ich diese Männer gar nicht haben.« »Aber da wir beide einander haben wollen...«. Jetzt war es an mir, eine Bombe hochgehen zu lassen. Ich mußte wirklich die magische Formel gesprochen haben, denn sie wurde ganz still und blickte mich verträumt an. »Und dabei habe ich mich nicht einmal angestrengt«, sagte sie einen Augenblick später. »Willst du mich wirklich haben?« Ich nickte. »Dann nimm mich doch!« »Hier?« »Nein«, sagte sie und erhob sich. »Gehen wir in die Philosophie-Abteilung.« Sie war die See und ich der mächtige Wellenreiter. Sie stöhnte wie der Meereswind - unter dem ich mich bog wie ein Baum. Sie brannte - und ich wurde von den lodernden Flammen verzehrt. Sie hüllte mich ein wie warme Erde - die mich unter sich begrub. Weitere Vergleiche fielen mir nicht ein. Außerdem hatte ich keine Zigaretten mehr. Aber ich hatte gar keine Lust zu rauchen. Ich lag da und betrachtete den goldenen Schatz, der mir in den Schoß gefallen war. Lächelnd zog sie ein Buch unter sich hervor. »Logik mag die Grundlage der Philosophie sein«, sagte sie, nachdem sie auf den Umschlag geblickt und das Buch 192
zur Seite geworfen hatte, »aber auf diese Weise kön nen Kalish und Montegue einem Kreuzschmerzen bereiten.« Aus Respekt vor dem Thema des Buches hielt ich den Mund. Ohnehin fiel es mir schwer, etwas zu sagen. Ein Killer läßt sich nicht ernsthaft mit Frauen ein, außer wenn er sie als Werkzeuge benötigt. Meine Affären mit Frauen waren eben immer nur Affären gewesen. Danach - ein kurzer Abschied, wenn überhaupt. Ich hatte noch nie mit jemandem geschlafen, mit dem ich befreundet war. Aber harte Burschen denken nicht an Dinge wie Liebe und Wärme und Verehrung und Festhalten für immer und ewig. Und Dell Ammo war ein harter Bursche. Dell Ammo würde nie eine Frau verehren. Oder einen Mann. Oder irgendeinen kosmischen Eierkuchen, der durchs Weltall schwebt. Was verehrte ich eigentlich? Gab es so etwas? Gerechtigkeit, möglicherweise. Wirklich? Wenn ich mir selbst lobend auf die Schulter klopfte, würde ich mir wahrscheinlich den Arm ausrenken. Dell Ammo - Killer und rächender Engel des Herrn. Oder wessen immer. Ann zog mich an sich. »Siehst du mich immer noch?« »Wie einen Traum, den ich nach dem Erwachen mit mir genommen habe.« »Du bist kein Gangster«, sagte sie, mir übers Haar streichend. Mein Haar war wieder pechschwarz, wie vor Jahren. »Du bist ein feinfühliger und genialer Mann.« »Quatsch. Siehst du, Schätzchen, jetzt hast du mir die Tarnkappe vom Kopf gerissen. All diese Narben sind nur hingeschminkt. In Wirklichkeit bin ich John Donne.« »Also, ist das die Erklärung - was ist dir denn?« Mein entsetzter Gesichtsausdruck war ihr aufgefallen. Die Bibliothek wirbelte um mich herum und fiel zusammen wie 193
nasse Seide. Totale Dunkelheit umgab mich. Von irgendwoher schrie mir Isidore eine Warnung zu. Dann war ich wieder in der Bibliothek und bemühte mich, auf die Füße zu kommen. Draußen knatterten Schüsse. »Dell, was ist denn los?« Ich sah mich nach meiner Pistole um. Sie lag neben meinen Schuhen. »Die Ecclesia greift an.«
21 Der Wohnblock über der Auberge brannte wie ein Scheiterhaufen. Hubschrauber knatterten über den Berg hin weg, durchschnitten die dicken, schwarzen Rauchschwaden und schössen in die Menschenmenge auf der Straße. Ich zog Ann hinter einen Betonvorsprung und beobachtete die Szene. Einer der Hubschrauber feuerte einen Schuß aus seiner Bordkanone ab. Ein Teil des Berges barst auseinander und legte einen Abschnitt der unterir dischen Anlagen bloß. Es sah aus wie ein Teil des Hilton. Überall in den Ruinen lagen Leichen herum. »Was ist mit der Kleinen?« fragte Ann. »Ich weiß nicht. Ich hörte nur ihren Warnruf, sonst nichts.« »Dann geh sie doch suchen.« Die Wachmannschaften in der Auberge hatten eiligst 15-mm-Maschinengewehre in Stellung gebracht und erwiderten das Feuer. Sie waren immer auf einen Überfall vorbereitet. »Warum gebrauchen sie ihre Nervenlähmer nicht?« »Die sind nicht stark genug. Und die extrastarken haben einen so großen Aktionsradius, daß sie beide Seiten außer Gefecht setzen würden.« Der Wohnblock stürzte ein. Rauch und Funken wehten 194
Hunderte von Metern in die Höhe. Winzige Gestalten rannten in allen Richtungen auseinander. Die Hub schrauber schössen und bombardierten mit der Gründlichkeit eines Betrunkenen, der auch den allerletzten Tropfen ausleckt. »Wo ist nur die Polizei?« Einer der Hubschrauber explodierte in der Luft. Die Männer, die ihn abgeschossen hatten, sprangen und tanzten lachend herum, bis ein anderer Hubschrauber ihre Stellung unter Feuer nahm. Sie wurden durch die Luft geschleudert und purzelten den Berg hinunter. »Warum sollten sich die Bullen darum kümmern? Hinterher heißt es dann, es war eine Unterweltfehde, die ausgetragen wurde. Die Hubschrauber tragen keine Kennzeichen. Die Autos dort auch nicht.« Ich zeigte auf die Kombiwagen, die vor dem Hope -Street-Eingang vorgefahren waren. Weitere Fahrzeuge waren wahr scheinlich zum anderen Eingang in der Second Street gefahren. Dutzende junger Männer, kräftig und gut bewaffnet, sprangen aus den Wagen, bereit für einen neuen Kreuzzug, für einen Jihad. Sie stürmten den Hügel und feuerten auf alles, was sich bewegte. Es war wirklich herzergreifend, zu sehen, wie die großen Religio nen der Welt zur Abwechslung mal gemeinsame Sache machten. Ich zählte meine Munition nach und schob den Ladestreifen ein. Ann packte mich am Arm. Hart. »Du mußt sie finden. Versuche es übersinnlich.« »Was soll ich tun?« »Du kannst es. Du mußt dich nur entspannen und dich ganz leicht auf sie konzentrieren, sie dir vor stellen.« Ich kam mir vor wie ein alberner Junge, den ein Hypnotiseur auf die Bühne geschleppt hat. Trotzdem wollte ich es versuchen und strengte mich an, so sehr ich konnte, aber ich war innerlich überzeugt davon, daß ich es nicht schaffen würde. 195
»Eine Reihe von Spiegeln«, sagte ich überrascht, als sei es mir eben erst eingefallen. »Siehst du«, sagte Ann, »du empfängst schon etwas.« »Aber ich weiß nicht, ob es von ihr kommt oder ob es nur meine Einbildung ist.« »Solange du empfängst, spielt das keine Rolle.« Die Erde begann zu beben. Ein Lear Jet schoß über die Bibliothek hinweg. Die Maschinengewehre unter den Flügeln schnatterten. Der Hubschrauber, der immer noch über der Auberge schwebte, kippte zur Seite. Die Pilotenkanzel barst in Stücke, die Maschine begann sich wie verrückt um sich selbst zu drehen und sackte über dem Musikzentrum ab. Schließlich krachte sie gegen die Überführung in der Second Street und blieb dort hängen wie eine aufgespießte Schmeißfliege. Der Jet überflog das Bonaventure Hotel und ver schwand in westlicher Richtung. Das Feuer spiegelte sich in den Scheiben der Pilotenkanzel wider. »Sie hält sich im Bonaventure versteckt.« Ich richtete mich ein wenig auf, blieb jedoch immer noch in gebückter Haltung. Ann machte es mir nach, und wir rannten am Geländer der Bibliothek entlang, bis es abbog und uns den Weg versperrte. Ich hielt vorsichtig über den Rand hinweg Ausschau. Die Angreifer hatten die Ruinen der Auberge erstürmt und feuerten auf jeden, der den Flammen zu entkommen suchte. Wir liefen die Stufen hinunter über den Parkplatz und hielten uns, so gut es ging, in Deckung hinter Büschen und Sträuchern. Meine Pistole hielt ich in der Hand. Ich würde sie brauchen. Zwei junge Kerle kamen an der Flower Street um die Ecke gerannt und richteten ihre Gewehre auf uns. Sie bewegten sich viel zu langsam. Ich stand längst in Feuerstellung, die Pistole in beiden Händen, und zielte auf den Jungen links vor mir - einen Teenager mit sandfarbenem Haar, der aussah wie der Hauptdarsteller in einer Gymnasiasterlvorstellung des Theaterstücks >Der Idiot*. Der 196
andere, ein Pan-Araber, versuchte, seine Waffe gleichzeitig auf Ann und mich zu richten. »Keiner von euch beiden schießt«, sagte ich, »weil dann wenigstens einer von euch noch vor mir dran glauben müßte.« »D-das w-wäre eine S-Seele, die für Jaweh g-geopfert wird«, sagte der mit dem sandfarbenen Haar. Er stotterte wie ein Motorboot, aber nicht vor Angst. Die Hände, die das Gewehr auf uns gerichtet hielten, stotterten nicht im geringsten. »Eine Seele für Allah«, korrigierte ihn der Dunkelhaarige. Ein Rauchfetzen aus dem brennenden Untergrund zog an uns vorbei. Es roch nach Tod. Den panarabischen Jungen schien das nicht zu stören. Er hatte offenbar die Konsolidierung der arabischen Staaten vor zehn Jahren überlebt. Er behielt uns beide im Auge. Nur einen Moment lang blickte er zu dem Sandfarbenen hinüber. Das war meine Chance. »Für wen soll es nun sein? Allah oder Jaweh?« Ich sah beide an, ohne meine Waffe zu senken. »Allah«, sagte der Dunkle. »Jaweh«, sagte der Helle. Beide zielten auf mich. Ich mußte sie ablenken. »Beide behaupten, der Größte zu sein. Welcher ist es wirklich?« »Jaweh.« »Allah.« Sie blickten sich an und begannen ihre Gewehre einander zuzuwenden. »Allah«, sagte der Dunkle. »Jaweh«, sagte der andere. »Kali!« schrie eine Stimme aus der Unterführung neben uns. Die beiden Jungens fuhren herum. Eine Sekunde später traf jeden von ihnen eine Kugel in die Brust. Sie waren tot, bevor sie wußten, wie ihnen geschah. Ihre Gewehre fielen klappernd aufs Pflaster, bevor sie selbst umfielen. Ich gab Ann einen Stoß in die Richtung des 197
Bonaventura Hotels und rannte ihr nach. Ich hörte je mand hinter mir herlaufen und drehte mich um, die Pistole schußbereit. »Ein ganz harter Bursche«, rief eine heisere Stimme, »kann noch nicht mal zwei kleine Jungens totschießen.« Es war Randolph Corbin. In einer seiner übergroßen Hände hielt er einen M-14-Karabiner, die andere hatte er an den Magen gepreßt. Er keuchte schwer. Seine Kleidung sah aus, als sei sie mit einer Kreissäge zugeschnitten. Seine Jacke und sein Gesicht waren voller Ruß. Seine Hosenbeine waren unten versengt. »Wie ich sehe, haben Sie an einer religiösen Diskussion teilgenommen«, sagte er. »Ja, aber Sie hatten die besten Argumente vorzubrin gen.« Ich deutete auf die bronzefarbenen Fenster des Bonaventure Hotels. »Wir haben hier etwas zu erledigen. Auf Wiedersehen.« Ich nickte Ann zu, und wir machten uns auf den Weg. In der Ferne war eine Polizeisirene zu hören, die immer näher kam. »Na endlich«, sagte Ann, unbeeindruckt. Corin lief keuchend hinter uns her. »Ammo - warten Sie.« Ich wartete, hielt aber nicht an. Er ging neben mir her. Ich versuchte eine der Türen zu öffnen, die in den riesigen Zementblock eingelassen waren, hatte aber kein Glück. »Das war die Ecclesia, die die Auberge überfallen hat«, sagte Corbin. »Die haben nach Ihnen gesucht.« »Ja. Ich weiß.« Wir gingen zur Südseite hinüber. »Woher wußten Sie das? Nicht einmal die Geschäftsleitung der Auberge wußte Bescheid. Die hat ihre Informanten, die sie warnen, wenn die Polizei oder das FBI kommt, aber wer hätte sich vorstellen können, daß die Ecclesia so einen Überfall unternimmt?« »Sie, offenbar.« »Ich hörte es von einer Buddhistin, die ich kenne. Sie hatte zuviel Stoff geschnupft, unten in der...« 198
»Kommen Sie«, ich stieß eine Seitentür auf, und wir gingen hinein. Das Bonaventure Hotel war noch immer in Betrieb, obgleich es nicht mehr die Luxusherberge von einst war. Die Radioaktivität von Arco-Süd griff nicht hierher über und stellte kein Problem dar, aber die Leute hatten Angst. Zwar gehörten die Herumtreiber und Vagabunden, die das Hotel bevölkerten, einer besseren Klasse an, aber Vagabunden sind eben Vag abunden. Rechts von uns saß ein schmierig aussehender Hotelangestellter mit einer elektronischen Zeitungsplakette und hatte die Rennberichte eingeschaltet. Er blickte teilnahmslos auf, als wir hereinkamen. Dann sah er uns genauer an. Mich mit der Pistole und Corbin mit seinem halbautomatischen Sturmgewehr. Er begann zu schwitzen. »Machen Sie keinen Mist, Mann«, sagte er mit einer Stimme wie ein schwindsüchtiger Spatz. »Wir haben Schutz.« Mein Daumen glitt über den Sicherungsflügel meiner Waffe. »Sie persönlich auch?« erkundigte ich mich. Er schluckte wie ein Meerbarsch und schwitzte noch stärker. Seine Hände klammerten sich an die Tischkante. Die Zeitungsplakette fiel zu Boden. »Wir suchen ein kleines Mädchen«, sagte Ann. »Wir bleiben nur ein paar Minuten.« Er sah sie nicht einmal. »Es dauert nicht lange«, sagte Corbin. Er holte tief Atem und sah sich um. Die Lampe auf dem Tisch war die einzige Beleuchtung in der Halle des Bonaventure. Durch die Fenster am oberen Rand des zylindrisch konstruierten Raumes schien die Sonne. Es erinnerte an die geruhsame At mosphäre in einer mittelalterlichen Kathedrale, bis auf die zwei Penner, die im Zwischenstock laut schnarchten. 199
»Welcher Aufzug funktioniert?« fragte ich. Der Hotelmensch zeigte mit zitternder Hand auf einen Betonpfeiler zu unserer Linken. Wir zwängten uns hinein. »Welches Stockwerk?« fragte Ann und besah sich die lange Reihe von Knöpfen auf der Schalttafel. Durch die zersprungenen Glaswände des Fahrstuhls war ein ausgetrockneter künstlicher Teich zu sehen, der jetzt nur noch leere Dosen und Müllsäcke enthielt. Sogar ein paar altmodische Glasflaschen, die zeigten, wie lange der verwahrloste Zustand des Hotels schon anhielt. Durch die Masse von Abfall hindurch sah ich eine geisterhaft schimmernde Gestalt vor dem Hintergrund des Flammenmeeres. »Fangen wir im obersten Stockwerk an und arbeiten uns nach unten vor.« Wenigstens krächzte und zitterte der Aufzug nicht wie der, der zu meinem Büro führte, sondern glitt problemlos in die Höhe, an den Fenstern des Atriums vorbei ins Sonnenlicht. Als wir oben waren, gab es einen leisen Klick, und der Aufzug hielt an. Corbin hob sein Sturmgewehr und richtete es auf die Tür. Ich schob Ann hinter meinen Rücken. Die Tür glitt zur Seite. Nichts als absolute Stille. Corbin trat mit vorgehaltenem Gewehr aus der Tür und sicherte nach allen Seiten. Ich wanderte hinter ihm her und beobachtete, wie er mit militärischer Präzision jede Nische und jeden Seitengang absuchte. »An der Universität waren Sie wohl nicht n ur ein rechtsgerichteter Konservativer«, sagte ich. »Sie müssen bei den Minutemen gewesen sein.« Er grinste mich an und ging ein paar Stufen hinunter. Einige Sekunden später kam er zurück und meldete: »Alles klar. Hier war früher das Restaurant. Was suchen wir eigentlich?« »Ein junges Mädchen.« »Etwa einsfünfzig groß?« fragte er. »Rötliches Haar, auffallend und geschmacklos gekleidet...« 200
»Halten Sie Ihre freche Schnauze.« »... hat ein dreckiges Vokabular und säuft Kahlua mit Milch.« »Eine ziemlich akkurate Beschreibung«, meinte Ann und ging an mir vorbei in die Cocktail Lounge. Ich ging ihr nach und sah die Kleine. Sie stand an einen Tisch gelehnt und sah den Feuerwehrleuten zu, die darüber debattierten, wie das Feuer am besten zu löschen wäre. Unternommen hatten sie noch nichts. Polizisten standen herum und aßen Krapfen. »Wie bist du denn hierhergekommen?« fragte ich. Sie zupfte an dem dünnen Band, das ihr zitronengrünes, fast durchsichtiges Kleid hochielt. »Ich war im >Casino Grande < und hatte plötzlich das gleiche Gefühl wie damals in dem Hotelzimmer, wo mich diese alten Furze im Geist vergewaltigten. Einer der Wächter ließ mich durch die Kühlanlage nach oben entkommen.« »Ein Vergehen gegen die Sicherheitsbestimmungen.« »Ich habe so meine Methoden. Wie hätte ich Sie sonst warnen können, da oben auf dem Berg?« Ich sah mich um. »Gibt es hier irgendwo ein Telefon?« »Fragen Sie doch den Bartender«, sagte Isidore. Hinter der Theke war gedämpftes Schnarchen zu hören. Ich ging hin, suchte herum und entdeckte schließlich ein Telefongerät unter einem Stapel leerer Schnapsbehälter. Ich rief die Werbeagentur an. »Sam - ist Kathleen dort?« »Sie redigiert den neuen Artikel für die Zeitschriften.« »Und Andy?« »Der ist in New York wegen des Radioprogramms.« »Dann möchte ich Neu oder Steve sprechen. Oder Sandy.« »Die sind bei StratoDyne und machen alles fertig.« »Dort muß ich auch hin.« »Ich könnte Sie in einer Stunde abholen, wenn der Kombi zurückkommt.« 201
»Nicht nötig.« Ich legte auf. Ann gab einen ärgerlichen Laut von sich, nahm das Telefon an sich und wählte eine Nummer. »Cindy? Schicke uns mal eben den Sechssitzer ins Bonaventure Hotel. Wir sitzen hier fest wegen der Unruhen in der Auberge. Sag Batelle, er soll schnell machen.« »Ach so«, sagte ich. »Die Bautista Corporation hat ja ihren eigenen Hubschrauber, oder?« Sie nickte. »Und fünf Rolls-Royce. Die haben nichts zu tun, als sich wichtig zu machen.« Sie machte eine höflich einladende Handbewegung. »Begeben wir uns aufs Dach?« Corbin begann nach einer Tür zu suchen, die auf s Dach führte. »Ich komme nicht mit«, piepste die Kleine. »Ich haue ab.« »Die Auberge existiert nicht mehr, Kindchen. Und schau mal aus dem Fenster. Alles voller Bullen. Sobald die daran denken, kommen sie hier rauf.« Das machte soviel Eindruck auf sie wie ein nasser Waschlappen. »Ich lasse es darauf ankommen. Wie ich höre, gibt es noch so ein unterirdisches Lokal in San Francisco - direkt unter dem Union Square.« »Ich denke, du willst dich an der Ecclesia rächen.« »An wem?« »An den alten Kerlen, die dich gefoltert haben.« Sie wandte sich von mir ab und schaute aus dem Fenster. Die Bullen hatten einige der Auberge-Wächter aufgestöbert und unterhielten sich damit, sie mit Fäusten und Knüppeln zu bearbeiten. Ein grüner Strahl flammte zwischen zwei Betonblöcken auf, und drei der Bullen fielen zuckend zu Boden. Das Zucken hörte auf, als ihre Wunden zu bluten begannen. Isidore sah mich an. »Wie gedenken Sie denn, sich an denen zu rächen? Wollen Sie ihnen Gift in ihr Geritol schütten?« Ich grinste und zeigte nach oben. 202
»Bist du schon mal in einem Raumschiff gefahren?« Zu viert kletterten wir einen Schacht hinauf, der für Pygmäen gemacht schien und aufs Dach führte. Dort standen wir in einem Gewirr von Kühlanlagen, Luftschächten und ähnlichem. Die kalte Dezemberbrise blies den Geruch des Feuers von uns weg. Hier und dort waren noch vereinzelte Schüsse zu hören. In der Mitte des Daches hatte man einmal eine Landeplattform für Hubschrauber errichtet. Jetzt wies sie Risse auf und die Farbe blätterte in großen Flocken ab. »Er fliegt den Kopter von Maywood ein«, sagte Ann, ohne jemand im einzelnen anzusprechen, »also müßte er bald hier sein.« »Wenn er Verstand hat, kommt er von Westen, damit ihn die Bullen erst im letzten Augenblick sehen«, sagte Corbin und checkte seine Waffe. Die Kleine rannte ans Geländer und versuchte hinüberzusehen. Ann ließ ihr Haar im Wind flattern. Rauch und Staub hatten seinen Glanz kaum gemindert. Es war wie bei einem Picknick. Ich lehnte mich gegen einen Schacht der Klimaanlage und wartete. Von weitem ertönte das Knattern von Drehflügeln. Einen Augenblick später erschien ein Hubschrauber von der Größe eines kleinen, doppelstöckigen Farmhauses, flog zwischen dem Union-Bank-Gebäude und dem Arco Tower hindurch, schwebte ein paar Sekunden über uns in der Luft und setzte dann wie ein Schmetterling auf der Landeplattform auf. Das Dach ächzte unter seinem Gewicht. Ann stieg als erste ein. Ich schnappte mir die Kleine und half ihr hinein. »Ich habe Höhenangst!« brüllte sie. »Wir werden noch viel höher fliegen«, überschrie ich das Motorengeräusch. Sie schnallte sich ganz fest an. Ann hielt ihre Hand. Ich blickte zu Corbin hinüber. Ich wußte nicht recht, ob ich ihm trauen durfte oder nicht. Zwar hatte er die zwei 203
Jungens erschossen, die Ann und mich sonst vielleicht erschossen hätten, aber wozu lief er überhaupt während des Überfalls mit einem Gewehr herum? Er deutete meinen Blick richtig. »Hören Sie«, schrie er mir über das Rotorengetöse zu, »wenn Sie mir nicht trauen, bleibe ich hier. Ich bin ein ziemlich hartgesottener Kerl. Die Bullen werden mich nicht finden.« In diesem Augenblick beschlossen die Bullen, sich das Dach anzusehen. Zwei von ihnen stiegen durch dieselbe Luke, durch die wir gekommen waren. Sie blickten sich auf dem Dach um und sahen uns. Dann sahen sie Corbins Sturmgewehr. Corbin schloß die Tür hinter uns. Seine riesigen Hände waren vor Aufregung rot angelaufen. Seine Lippen verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln, und er rief mir etwas zu, was ich nicht verstehen konnte. Die Bullen eröffneten das Feuer auf ihn, als der Hubschrauber abhob. Der Luftstrudel wirbelte Staub und Ruß auf, was jedoch seine Zielsicherheit nicht beeinträchtigte. Beide Bullen fielen zu Boden. Ein Mann nach meinem Geschmack. Er winkte uns zu, abzufliegen. »Bringen Sie uns nach Hollywood«, sagte Ann zu dem Piloten. Der Pilot, der aussah, als sei er in seinem Sitz aufgewachsen, wendete den Kopter und flog in nord westlicher Richtung davon. Ich fühlte mich, als hätte ich Kieselsteine im Magen. »Glauben Sie, daß er entkommt?« fragte mich Isidore. »Ich frage mich, ob wir entkommen.« Ich blickte hinunter auf die Polizisten, die überall in den Ruinen der Auberge herumkrochen, und hoffte, sie würden es sich nicht in den Kopf setzen, ihre zwei Kollegen zu suchen. Der Polizeihubschrauber stand auf dem Parkplatz. »Ihre Bemerkungen sind heute nicht sehr originell.« »Kindchen, wir fliegen heute ins Weltall.« Sie blickte zu mir auf, dann zu Ann hinüber. 204
»Einfach so? Ohne Vorbereitungen? Ohne Testflug?« »Die Vorbereitungen sind seit einem halben Jahr im Gange. Ein Testflug wäre ebenso riskant wie der operative.« »Wohin in Hollywood, Sportsfreund?« fragte der Pilot. »Ich zeige es Ihnen. Nehmen Sie sich vor tieffliegenden Besenstielen in acht.« Er ließ die Strickleiter der Ladeklappe herunter, und ich ließ mich zur Erde gleiten. Bridget stand in der Tür ihres Ladens, die Fäuste in die Hüften gestemmt. »Was zum Teufel machen Sie da?« schrie sie mich an. »Los, wir fliegen ab«, schrie ich zurück. Sie warf die Arme in die Luft und ging in den Laden. Ich schrie ihr nach. Sie schüttelte den Kopf und zog eine kleine Reisetasche unter dem Tresen hervor. Einen Augenblick später kam sie wieder zur Tür, begleitet von Kasmira. Sie küßte das Mädchen sanft auf die Stirn und umarmte es. Dann küßten sie sich noch mal. Ich hasse langes Abschiednehmen. Ich ließ die Strickleiter los und nahm der alten Hexe die Reisetasche ab. Sie nickte mir zu und umarmte Kasmira zum letzten Mal. Als ich wieder auf die Strickleiter stieg, war sie bereits neben mir. Ich legte ihr den Arm um die schmale Hüfte. Sie schüttelte ihn ab und bedeutete mir voranzuklettern. Ich kletterte, und sie kam mir ohne jede Hilfe nach. Ann streckte uns die Hand entgegen und half uns hinein. »Warum sind Sie schon so früh gekommen?« fragte Bridget und schnallte sich an. Isidore lehnte sich vor und sagte: »Ich kenne solche Männer, Lady. Die kommen immer, bevor man es er wartet.« »Also das ist die Kleine, nicht wahr?« Bridget blickte fragend zu Ann hinüber. Ann nickte. Die Alte wandte sich wieder Isidore zu »Du hast beträchtliche telepathische Kräfte, mein 205
Kind«, sagte sie, Isidore über den Kopf streichend. Ich wunderte mich, daß die Göre ihr nicht die Hand abbiß. Wir überflogen die Berge von Sierra Madre und drehten dann nach Osten ab, in Richtung StratoDyne. Der Rauch von den Ruinen der Auberge stieg hoch zum Nachmittagshimmel wie ein Ausrufungszeichen. Er war sichtbar, bis wir im Tal landeten. Die Raumfähre stand bereits auf der Abschußrampe, aber wir waren zu sehr in Eile, um dergleichen Einzelheiten zu bemerken. Ich stürzte ins Zimmer des Flugleiters, der sich gerade einen Krapfen und einen Becher Gin zu Gemüte führte. »Wir fliegen heute ab. Jetzt sofort.« »Unmöglich«, erwiderte er, sich in seinem Bürosessel zurücklehnend. Er war älter als ich und von zuviel Schreibtischarbeit verweichlicht. »Ich bezahle Sie nicht dafür, daß Sie mir erklären, meine Weisungen seien unmöglich auszuführen.« »Ein guter Witz. Den muß ich mir aufschreiben.« Er biß ein Stück von seinem Krapfen ab und spülte es mit einem Schluck Gin hinunter. Ich trat einen Schritt auf ihn zu. »Das Raumschiff ist startbereit. Sie haben es die ganze Woche getestet.« »Hören Sie mal, Mr. Del Taco, oder wie immer Sie heißen mögen. Für unseren Flugplan sind wir momentan nicht in der richtigen Position. Ein Start ist vor vier oder fünf Uhr früh nicht in Betracht zu ziehen.« »Ziehen Sie ihn trotzdem in Betracht«, sagte ich und riß ihm den Krapfen aus der Hand. Er starrte seine leeren Finger an. »Hören Sie, ich kann die Flugbahn ändern, indem ich den Druck verstärke, aber bei diesem Kasten kann es uns passieren, daß die Treibstoffpumpe explodiert und uns in kleinen Stücken über den gesamten Mittleren Westen verstreut.« »Wie stehen die Chancen?« »Eins zu zehn.« Ich packte ihn an seinem kragenlosen Hemd und zog 206
ihn auf die Füße, damit wir uns Auge in Auge unterhalten konnten. Er gab einen schluckenden Laut von sich, ließ mich jedoch weitersprechen. »Die Chancen stehen eins zu eins, daß uns die Ecclesia dicht auf den Fersen ist. Sie haben uns im Hubschrauber aufsteigen sehen. Und sie sind fest entschlossen, keine Gefangenen zu machen. »Lassen Sie mich runter«, sagte er. Ich ließ ihn runter. »Ich werde neu programmieren. Gehen Sie inzwischen rüber zur Abschußrampe und suchen Sie Günther. Sagen Sie ihm, ich komme bald.« »Machen Sie schnell«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. »Ich mache es schon richtig«, sagte er und setzte sich vor die Konsole. Die Tasten begannen zu klappern wie Steptänzer, die es eilig haben. »Gehen wir«, sagte ich zu meinen Begleiterinnen, als ich herauskam. Sie schlössen sich mir an, und wir wanderten durch die Halle. Überall rannten Leute an uns vorbei, von denen keiner eine Art Uniform oder Einheitskleidung trug. Die meisten von ihnen waren noch jung, einige schon recht alt. Das mittlere Alter war kaum vertreten. »Ist dies ein Raumfahrtprojekt in Bluejeans?« wollte Isidore wissen. »Was weißt du schon von Raumfahrtprojekten, Kleine?« fragte ich sie. »Zur Zeit, wo man der Raumfahrt noch Glanz und Herrlichkeit verlieh, warst du noch gar nicht da. Heute sieht es aus wie ein Transportunternehmen.« Sie ging mit über der Brust verschränkten Armen weiter, bis sie bemerkte, wie albern sie aussah. »DerPapi meiner Mutter ist auf dem Mond herumspaziert. Sie erzählte mir, er sei einer der ersten zwölf gewesen.« Ich nickte. Ich hörte gar nicht richtig zu. Aus einem der Fenster sah ich das Raumschiff im letzten Tageslicht stehen. Das Rot auf seinem Rumpf färbte sich immer 207
dunkler. Die Lichter auf dem Gerüst wurden eben angeschaltet - kleine bunte Lichtpunkte, wie in Disneyland. Ich verlor sie aus den Augen, als wir die Pre-AbflugAbteilung betraten. Günther kam mit langsamen, gichtigen Schritten auf uns zu. »Vier Personen?« fragte er. Sein Haar hatte die Farbe und Textur von Lämmerwölkchen in der Sonne. Helle, fröhliche Augen zwinkerten uns zu. Seine Gesichtshaut sah aus wie der Ledereinband eines alten Buches. Er musterte Isidore. »Jetzt weiß ich, für wen der kleine Ra umanzug bestimmt ist.« Er griff ihr väterlich unters Kinn. In einem halben Jahrhundert hatte ich niemand mehr einem Kind väterlich unters Kinn greifen sehen. Sie biß ihm fast den Finger ab. »Behalten Sie Ihre Hände bei sich, Sie perverser Hund. Was ich habe, können Sie nie bezahlen.« »Das bißchen, was du hast«, sagte er grinsend, »würde nirgends Interesse erwecken, auch wenn man es auf die Bank legen könnte.« »Ich bin von Komödianten umgeben«, sagte sie schmollend. »Sir«, sagte Bridget. »Wir sind alle in Eile.« Er sah zu ihr auf. Es war, als hörte er Geigen im Himmel. »Ja«, sagte er, nachdem er sich wieder gefaßt hatte. »Ja, natürlich.« Unsere Raumanzüge hingen, mit Namensschildern versehen, auf einem Kleiderständer. Er reichte sie uns und drehte uns dann diskret den Rücken zu. Ich wandte den Damen ebenfalls den Rücken zu und begann mich zu entkleiden. Die Kleine lachte spöttisch. Bridget brachte sie zum Schweigen. »Kann ich mich jetzt wieder umdrehen?« fragte Günther. »Sie sind aber beide reichlich viktorianisch«, meinte Bridget. 208
»Wir sind offenbar Gentlemen«, erwiderte Günther. »Gentlemen ignorieren nicht einen Frauenkörper, als sei er etwas Abstoßendes.« Während sie noch sprach, drehte sich Günther um und tat sein Bestes, sie zu beäugen. An meinem Anzug war ein Reißverschluß, der nicht funktionierte. Das Telefon läutete. Beim dritten Läuten hob Günther ab. »Sind Sie ganz sicher?« war alles, was er sagte. Dann legte er auf. Irgendwo weit weg schrie ein Lautsprecher. Gleichzeitig erklang eine Alarmsirene. »Abschuß in zehn Minuten«, sagte Günther. »Was?« schrie Ann. »Unser Radar hat drei Hubschrauber auf dem Schirm, hier ganz in der Nähe. Das Raumschiff wird bereits aufgetankt. Unsere neue Flugbahn hat nur eine Abschußspanne von drei Minuten.« Günther sah besorgt aus. »Gehen wir«, sagte ich. »Folgen Sie mir bitte zum Wagen.« Wir folgten ihm durch die Hintertür zu einem uralten Dodge, von dem der Lack abblätterte. Er ließ den Motor an und fuhr los, bevor Ann sich noch gesetzt hatte. In der ersten Kurve flogen die Türen auf, in der zweiten knallten sie wieder zu. Nach weniger als einer Minute rasender Fahrt erreichten wir das Gerüst. Wir stiegen aus, und Günther führte uns zum Aufzug. »T - minus fünf Minuten, dreißig Sekunden«, dröhnte eine gelassene Stimme aus dem Lautsprecher. Ein Dutzend Männer und Frauen waren an der Abschußrampe und am Gerüst beschäftigt. Ein kalter Luftzug schien von dem Raumschiff auf uns niederzuwehen. Ich blickte nach oben. Der Himmel war fast schwarz. Sterne blitzten, und davor hob sich der weiße, anmutige Vogel an der Seite der mächtigen Rampe ab. Ich fühlte etwas wie Ehrfurcht. Eine Hand schob mich unsanft in den Aufzug. »Los, los!« Die Türen schlössen sich, und Günther 209
drückte auf einen Knopf. Der Aufzug schnellte in d ie Höhe. Günther paßte auf, ob jemand An/eichen von Schwindel zeigte. »Wo ist Canfield?« fragte Ann. »Der sitzt über seiner Checkliste, seit Sie angekommen sind.« Der Aufzug hielt ruckartig an, und wir schnellten noch ein paar Zentimeter in die Höhe. Die Drahttür glitt /ur Seite, und Günther führte uns über den Gerüstarm zum Einstieg in die Pilotenkanzel. »Bevor Sie reingehen«, sagte er und langte in die Taschen seines Laborkittels, »müssen Sie diese Dinger aufsetzen, um Ihre Augen zu schützen.« Er übergab jedem von uns eine Brillenmaske mit buschigen Augenbrauen und einer falschen Nase. Er wartete, bis wir alle gelacht hatten, und schob uns dann in die Einstiegluke. »Rein, rein. Guten Flug. Wir sehen uns, wenn Sie zurück sind.« Er warf einen letzten Blick auf Bridget und schloß die Luke. Sie klappte mit scharfem Zischen zu. Der Luftdruck war in den Ohren zu spüren. Der Pilot saß bereits auf seinem Platz auf der linken Seite. Er hatte seinen Flughelm auf und den Gesichtsschutz - eine goldfarbene Metallplatte bereits heruntergezogen. Wenn wir ihm ins Gesicht schauten, sahen wir lediglich unser Spiegelbild. »Nehmen Sie Ihre Plätze ein und setzen Sie Ihre Flughelme auf.« Seine Stimme klang blechern und kam aus einem kleinen Lautsprecher, der an seiner Brust platte aufmontiert war. Ich setzte mich in den Sitz des Copiloten zu seiner Rechten. Ann, Isidore und Bridget saßen direkt hinter uns. Unsere Flughelme waren an den Sitzlehnen befestigt. Ich nahm meinen herunter und stülpte ihn mir über den Kopf. »T- minus zwei Minuten. Abschußfläche freimachen.« »Machen Sie es sich bequem«, sagte der Pilot. Seine Stimme kam jetzt aus den Kopfhörern unserer Flughelme. 210
»Unterhalten Sie keinen Sprechkontakt mit dem Kontrollturm?« erkundigte sich Isidore mit ihrer piepsenden Stimme. »Bis wir in die Umlaufbahn kommen, läuft fast alles automatisch, Kindchen.« Seine Stimme klang ruhig und selbstbewußt. »Ich greife nur ein, falls etwas Unerwartetes geschieht.« Etwas klickte. Canfield blickte zur Einstiegsluke hin. Die goldene Schutzplatte verbarg sein Gesicht. »Gerüstarm eingezogen«, sagte die Stimme vom Kontrollturm. Canfield nickte und lehnte sich wieder zurück. »T - minus eine Minute«, meldete der Kontrollturm. Gleich darauf war aufgeregtes Stimmengewirr zu hören. »Ruhe«, sagte die Stimme. Dann: STARFINDER EINS wir haben eine Meldung über Hubschrauber mit weitem Angriffsradius. Wollen Sie den Flug stornieren?« »Nein«, sagte ich. »Ich würde sagen, wir stornieren«, meinte Canfield, »aber es ist Ihre Entscheidung.« »Wir starten.« »Eine Rakete mit Thermo-Lenkung könnte uns in der Luft in Stücke sprengen.« Ich blickte zu ihm hinüber. Sein Gesicht war hinter der blanken Schutzmaske verborgen. »Hier auf dem Boden würden sie uns auch töten. Wenn wir starten, haben wir wenigstens eine Überlebenschance.« Unter uns krachte es mehrmals. »Bomben«, sagte er lakonisch. »Um Gottes willen, Mann, sagen Sie den Start ab!« »Gerade deshalb nicht.« »T-minus zehn Sekunden, Zündungsablauf beginnt.« Die Pilotenkanzel erbebte wie ein Riese, der uns abzuschütteln versuchte. Die Stimme aus dem Lautsprecher begann den Countdown von zehn bis null. Der Riese drückte mir fast den Brustkorb ein. Wie aus weiter Ferne hörte ich die Meldung >AbschußZwei mächtige Kräfte müssen aufeinanderprallen^ Vor dem Zeitalter der Raumfahrt hatte niemand die Möglichkeit, Gott zu töten, weil man nicht die technischen Mittel besaß. Dazu braucht man eine Kombination von Wissenschaft und Zauberkraft. Technik und Geist. Logik und Instinkt.« »Wenn Sie noch kein Mitglied unserer Gilde sind, sollten Sie es werden. Sie quatschen genauso, wie manche von uns. Also machen wir alles fertig - oh, verdammt.« »Was ist denn?« fragte Ann. »Wir sind schwerelos. Die Kerzen bleiben nicht auf dem Altar stehen.« »Dann schmelzen Sie unten das Wachs und kleben Sie sie auf«, sagte ich. Sie zündete ein Streichholz an. Es brannte ein paar 215
Sekunden und ging aus, eine kleine Rauchfahne hinter lassend. Sie probierte es noch mal mit dem gleichen Ergebnis. »Der Rauch steigt nicht auf. Er erstickt die Flamme.« Ich drehte an der Düse des Ventilationssystems, bis der Luftstrom zum Altar hin blies und die Kerzen aufflakkerten. Innerhalb des Laderaums ließ ich Ann und Bridget völlig freie Hand. An der einen Seite war der Altar aufgebaut, mit allem Zubehör des Zauberhandwerks. Am anderen Ende - weniger als zehn Meter entfernt - stand der Thetawellenverstärker. Dazwischen waren zwei Tische aufgestellt - einer für mich, der andere für Isidore. Beide standen auf einziehbaren Sockeln. An den Wänden rundum waren Hunderte von Ösen angebracht. Ich ließ mich zu dem Wellenverstärker hinübergleiten und schnallte mir den mit Elektroden gespickten Helm um. Ich sah aus wie Bück Rogers und kam mir auch so vor. Bis Bridget weitersprach. »Ihr solltet eure Raumanzüge ablegen. Wir brauchen die Energieausstrahlung eurer Körper.« Prächtiger Einfall. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß ich andere Sorgen hatte, als mich darum zu küm mern, wie mein nackter Körper den Damen gefallen würde. Wir würden alle mit ganz anderen Dingen beschäftigt sein. Isidore seufzte auf. »Ich habe mir ja schon alle möglichen perversen Touren geleistet, aber noch nie im Weltraum.« »Nichts hast du dir geleistet.« Sie streckte mir die Zunge heraus. »Ich habe mir schon mehr perverse Maschen ausgedacht, als Sie für möglich halten.« »Na schön, Kleine. Dann mache dich mal fertig für den endgültigen Geistesfick mit dem gesamten Planeten. Alle auf einmal.« Sie zog sich nackt aus und warf ihren Raumanzug in die Ecke, wo er haften blieb. Sie streckte sich und gähnte. 216
»Es sieht ganz so aus, als hätte ich die besseren Chancen.« Ann legte ebenfalls ihren Schutzanzug ab. Ihr goldenes Haar fiel ihr um die Schultern wie eine Wolke in der Abendsonne. Sie betrachtete ihren Körper, dann mich, und lächelte. Ich lächelte zurück und zitierte: »Und ihre Schönheit war wie die Tränen der Götter - süß, warm und überirdisch.« »Hört auf zu quatschen«, rief Bridget scharf. »Wir müssen anfangen, die Hexenwiege fertigzumachen.« Sie warf Ann eine Spule mit rotem Garn zu und holte eine zweite Spule mit weißem Garn aus demselben Behälter. »Legt euch hin.« Ich nickte der Kleinen zu, die sich daraufhin auf dem kleineren der beiden Tisch ausstreckte. Ich legte mich auf den größeren, was im schwerelosen Zustand ni cht so einfach war. Man lag nicht, sondern schwebte dicht über der Tischplatte. An entgegengesetzten Seiten der Kabine begannen Ann und Bridget das rote und weiße Garn durch die Ösen zu ziehen und zu einem kompliziert und abstrakt ausse henden Muster zu v erflechten. Als sie halb fertig waren, zog Bridget das Gestell ein, auf dem die Tischplatten befestigt waren. Isidore und ich blieben in den Maschen hängen, wie Fliegen in Spinnweben. »Sieh mal einer an«, murmelte die Kleine. »Bizarrer Fesselungs-Sex bei Null-G. Wenn das mein Großpapa sehen könnte.« Bridget gebot ihr zu schweigen und flocht weiter an ihrer Hexenwiege. Ihre graue Mähne umwallte sie wie die Wellen eines uralten, versteckten Meeres. »Dergleichen hat die Welt noch niemals erlebt«, sagte sie zu Ann. »Der mächtigste Zauber, den je ein Magier anwandte. Der Endsieg über den Usurpator.« »Großartig, Mädchen«, sagte ich. »Wann werde ich denn nun eingeschläfert?« 217
Sie zog das Garn unter meinem Rücken durch. »Erst müssen wir die Göttin anrufen. Und wir müssen sicher sein, daß Mr. Canfield vom Satelliten aus den Nervenlähmer in Betrieb gesetzt hat. - So.« Sie knüpfte einen seltsam aussehenden Knoten an der letzten Öse und schnitt das restliche Garn ab. Ann tat das gleiche auf ihrer Seite. Die Kleine und ich schwebten innerhalb eines verstrickten Netzes, von den Schnüren fest eingeschlossen. Es mochte ganz gewöhnliches Garn sein, aber es hielt uns umklammert wie eine Zwangsjacke. Sie hatten eine kleine Öffnung gelassen, durch die sie an meine Arme herankommen konnten, und eine zweite am Spant, zum Vorbeigehen. Die Belüftungsanlage schien plötzlich auf höheren Touren zu arbeiten. Den Grund dafür konnte ich riechen. Bridget hatte eine Art Holzkohlenbrikett in Brand gesteckt und es in eine Schale mit s üßlich riechendem Weihrauch gelegt. Die Hälfte der glühenden Körnchen wurden von der Belüftungsanlage auf die andere Seite der Kabine geweht. Eine bläulich-graue Wolke breitete sich aus, doch schien sie eine beruhigende Wirkung zuhaben. Isidore hustete. Das Netz, in dem sie gefangen war, bewegte sich kaum. Ein Summen zeigte an, daß Canfield den Satelliten an das VideoSat-Sendenetz angeschlossen hatte. Unser Satellit leitete jetzt die Strahlen, die von dem Nervenlähmer ausgingen, an zwei andere Satelliten in der synchronen Umlaufbahn weiter, und alle drei bestrahlten den Planeten Erde aus allen Richtungen. Niemand würde es merken, wie sein Unterbewußtsein suggestiv beeinflußt wurde. Den meisten würde es nicht einmal auffallen, daß ich über Isidore mit ihnen Kontakt aufnahm. Bridget machte ein Zeichen mit der Hand und band sich einen Dolch, der in der Scheide steckte, mit einer roten Kordel um die Hüfte. Ann tat das gleiche mit ihrem eigenen Dolch, nur daß die Kordel bei ihr purpurrot war. 218
»Wo ist Osten?« fragte Bridget mit leichtem Stirnrunzeln. Schwerelos schwebend blickte sie sich in der Kabine um. Ann erwiderte: »Wir können uns an dem Zirkel und den Achsen der Himmelskörper orientieren.« Sie zog den Rolladen an einer der Ausguckluken hoch un d blickte hinunter zur Erde. Dann zeigte sie auf die Kabinenwand neben dem Wellenverstärker. »Zirkel ist Quatsch«, sagte Bridget. »Wir müssen jede Achse dreimal überschneiden.« Sie glitt zu der Wand hinüber, die Ann ihr anzeigte. »Dreidimensionale Zauberei ist etwas ganz Neues«, murmelte sie. »Wo ist denn Süden?« Ann zeigte es ihr, und Bridget begann einen ziemlich eckigen Zirkel abzuzeichnen, der an den Spanten anstieß. Vor dem Garnnetz hielt sie an. »Nächstes Mal müssen wir das besser vorbereiten«, sagte sie. Sie steckte den Dolch zwischen die Fäden und arbeitete sich auf die andere Seite vor. Dann packte sie den Griff des Messers und fuhr fort, den Zirkel abzuzeichnen. »Die Dame wird Verständnis aufbringen«, sagte Ann leise. Sie klappte einen kleinen Aktenkoffer auf und begann verschiedene Injektionsspritzen in unterschiedlicher Dosierung aufzuziehen. Dabei mußte sie jede einzelne kräftig schütteln, um in der Schwerelosigkeit die Luftbläschen herauszudrücken. Es machte mir Spaß, ihr zuzusehen. Sie war nicht wie andere Frauen. Allerdings war keine der drei so wie andere Frauen. Ich war selten im Leben mit normalen Dingen behaftet ge wesen. Bridget beendete den dritten Zirkel, nahm die Weihrauchschale zur Hand und drehte noch einige Runden. Als sie fertig war, ließ sie die Schale neben dem Altar in der Luft hängen. Null-Gravität produziert eigenartige Effekte. Nun streute Bridget etwas Wasser und ein paar weiße Körner aus. Sie schwebten durch den Raum wie kleine 219
Planeten und Asteroiden. Eines der Körnchen berührte meine Lippen. Es schmeckte salzig. Das Wasser, das sie ausgeschüttet hatte, formte kleine, wabblige Klümpchen. Die meisten davon blieben an den Wänden oder an der Hexenwiege haften. Wenigstens würden wir nicht lange genug hierbleiben, um uns um Rostflecken Sorgen machen zu müssen. Ann drückte auf ein paar Knöpfe, und der Altar glitt in die Mitte der Zirkel. Bridget wandte sich nach Osten und beschrieb mit ihrem Dolch einen Stern in der Luft. »Heil euch, Mächte des Ostens! Heil dir, Ursprung des heiligen Feuers! Iris, Aurora, Astarte, Göttin allen Beginnens. Seid Zeugen der uralten Riten, die wir hier vollziehen!« Dann schwebte sie zur Südseite hinüber. Ann, die neben dem Altar schwebte, sah ihr gelassen zu. Bridget rief den Süden an: »Heil euch, Mächte des Südens. Heil dir, Ursprung des heiligen Feuers! Vesta, Esmeralda, Heartha - kommet und seid Zeugen der uralten Riten, die wir hier vollziehen!« Nach Westen gewandt sprach sie: »Heil euch, Mächte der lebenden Wasser! Venus, lebenspendende Aphrodite, Themis, Göttin des Gesetzes und des Mondes. Kommet und wachet über diesen unseren Zirkel, und seid Zeugen der uralten Riten, die wir hier vollziehen.« Ich begann, schläfrig zu werden. Aus der Pilotenkanzel kamen kratzende Geräusche, und ich nahm an, daß Canfield die vordere Schleusenkammer benutzte, um uns nicht zu stören. Bridget entschwebte meinem Blickwinkel, und ich hörte, wie sie den Norden ansprach: »Heil dir, Ursprung aller Macht! Arianrhod des Silberrades, Großer Memeter, Persephone, Mütter der Erde und der Schicksale! Beschützerin! Wachet über unseren Zirkel und seid Zeugen der uralten Riten, die wir hier voll ziehen!« Etwas kratzte an der Tür zwischen der Pilotenkanzel und der Kabine. 220
Bridget machte eine abschließende Geste an drei Punkten des Zirkels und küßte Ann. »Der Zirkel ist geschlossen. Gesegnet sei er.« »Gesegnet sei er«, wiederholte Ann und nickte mir zu. Ich sprach ihr den Segensspruch nach und machte der Kleinen ein Zeichen, meinem Beispiel zu folgen. Sie zog ein saures Gesicht und schien unbeeindruckt. »Gesegnet sei er«, brachte sie schließlich heraus, mit etwa soviel Begeisterung wie ein zwangsweise eingezogener Rekrut beim Treueschwur. Bridget faltete die Hände und sprach mit leiser Stimme: »Gnädige Göttin und Königin des Himmels, Ewige Mutter und Schwester, Königin Isis - segne die Werkzeuge deiner einstigen und künftigen Zauberkunst. Segne dieses Haus und alle, die sich darin befinden...« Das Kratzen an der Tür wurde lauter. Es hörte sich an wie ein Hund, der freigelassen werden wollte. »... und beglücke uns mit deiner Anwesenheit, auf daß wir deinen Lehren lauschen können.« Die Alte blickte erst mich an, dann auf den Thetawellenverstärker, und schließlich auf die Injektionsspritzen, die Ann auf dem Altar bereitgelegt hatte. »Dies ist eine Beschwörung zur Auflösung und Befreiung. Tausende von Jahren hat der Usurpator Deine Welt im Würgegriff gehalten, hat Schönheit vernichtet und Liebe zerstört, hat alles Gute böse genannt und alles Böse als gut bezeichnet. Der Usurpator hat mit der Zunge von Menschen gesprochen, hat Deine Gesetze mißachtet und uralte Bindungen zerstört, hat Dein Reich in sinnloses Leiden und endloses Elend gestürzt. »Man hat uns ermordet und verbrannt und uns ge zwungen, im Elend zu leben, aber wir haben Dein Licht nie erlöschen lassen, so wie auch Du nie aufgehört hast, auch in der dunkelsten Nacht über uns zu wachen. Und jetzt ist die Zeit gekommen, wo Deine größte Macht - die Wissenschaft - uns befreien wird. Seit den Ursprüngen der Wissenschaften - Alchemie und Astrologie - hat der 221
Usurpator gegen sie angekämpft, ihre Diener verun glimpft und Seite an Seite mit uns auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen. Ohne es zu wissen, waren wir Verbündete in diesem uralten Kampf, und erst jetzt haben wir uns zusammengeschlossen - wir, die wir mächtiger sind als der Usurpator, so wie Liebe mächtiger ist als Haß, so wie derjenige, der aufbaut, mächtiger ist als derjenige, der zerstört. So wie Sie, die Leben gebärt, mächtiger ist als Er, der tötet. Zwei Hälften haben sich vereint - der Kampf hat begonnen. »So sei es!« Ann nahm eine der Injektionsspritzen und griff durch die Öffnung im Netz. Ich spürte einen leichten Einstich und dann wachsende Benommenheit. Wenigstens wußte sie, wie man eine Spritze verabreichte. Das Kratzen an der Tür war jetzt sehr laut. Wieder spürte ich einen Einstich. Ich wollte Ann von dem Loch berichten, das jemand in die Einstiegluke zu reißen versuchte, aber meine Worte kamen nur als undeutliches Gemurmel heraus. Ein fürchterliches gelbes Licht umgab mich. Zu meiner Linken fing der Wellenverstärker an zu glühen, in Farben, die wie Laserstrahlen zustachen. Ich blickte hinüber zu Isidore. Sie hatte sich mir gänzlich geöffnet. Ihre innersten Gefühle waren vor mir ausgebreitet wie auf einem psychologischen Büffet. Ich kannte sie in- und auswendig, und sie mich. Gemeinsam mit ihr erlitt ich die Sehnsüchte ihres Körpers und die Strafen ihrer Eltern. Sie weinte um meine hoffnungslose Kindheit ohne Inhalt. Ich zitterte mit ihr vor ihren Eltern, die nur geistige Errungenschaften anerkannten. Sie weinte unter dem Spott meiner Eltern über alles, was mich zu Ehrfurcht oder Ehrerbietung bewegte. Aber ich verehrte die Freiheit, und sie erreichte das Körperliche durch meine Gedanken. Gemeinsam bewältigten und überkamen wir alles. Tausend Nadeln stachen auf mich ein, und Dunkelheit umgab mich. Die Einstiegluke brach nach innen auf. 222
23 Ich stand im leeren Flachland. Auf einer leeren Ebene. Wenn Gott kommen würde, sich mir zu zeigen, würde Er es hier in dieser endlosen, trostlosen Einöde tun. Ich wartete ab. Er würde kommen. Und dann kam Er nicht. Ich ging weg. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich ging, und wußte daher auch nicht, wann ich dort ankam. Aber ich kam irgendwo an. Der Erdboden begann steil nach unten abzufallen, obgleich die Ebene immer noch flach und endlos aussah. Meine Fußsohlen rutschten ab und wir belten Staubwolken auf, die mir in die Tiefe folgten. Ich fiel auf den Rücken und rutschte abwärts, wobei ich die Augen immer noch auf den endlosen Horizont gerichtet hielt. Ich fiel, rollte und schlitterte und versuchte, mich mit den Fingern festzukrallen. Meine Haut riß überall auf. Ich schrie. Es war ein hohlklingender, gedämpfter Schrei, wie aus dem Inneren eines geschlossenen Behälters. Der Boden fiel jetzt senkrecht ab. Ich stürzte abwärts. Bei meinen verzweifelten Versuchen, mich festzuhalten, brachen meine Finger ab. Der Boden fiel gänzlich unter mir weg, und ich stürzte ins Leere, in einen hellen, unbewölkten Himmel hinein. Stundenlang fiel ich. Tagelang. Ich zählte meine Herzschläge. Als ich bei 443557 ankam, geriet ich in einen Schwärm von Rasiermessern. Fleischstreifen fielen von mir ab. Die Ebene sah immer noch endlos und flach aus, obgleich ich schon Millionen Kilometer entfernt sein mußte. Eine dunstige Blutwolke rauschte an mir vorbei wie ein rubinroter Komet. Dann schlug ich auf. Der Schmerz überwältigte mich, als mich die spitzen Eisenstäbe, auf denen ich gelandet war, durchbohrten. Einer mußte mir in den Schädel eingedrungen sein. Als ich nach oben schielte, konnte ich auf meiner Stirn einen schleimigen, roten Zapfen hängen sehen. 223
»Also gut, Du hast Dich bewiesen«, schrie ich. Ich konnte nur heiser krächzen, weil einer der eisernen Dornen meine Lunge durchbohrte. »Zeige Dich jetzt und laß uns weitermachen.« Kein Laut war zu hören, außer dem Herabtropfen meines Blutes aus einer Arterie an meinem Hals. Ich versuchte aufzustehen. Hautstreifen und Fleischfetzen blieben auf dem Boden liegen. Ich hob sie auf und steckte sie in die Tasche. Der Boden, auf dem ich stand, kam mir ungewöhnlich vor. Ich bückte mich. Die Eisenstäbe schienen aus kleinen Ausbuchtungen im Erdboden herauszuwachsen. Ich überlegte, wo ich dergleichen schon einmal gesehen hatte. Die Antwort kam schnell. Eine riesenhafte Hand schoß auf mich zu und packte mich zwischen zwei Fingern. Der Schmerz war so groß, als sei ich von einer Dampfwalze überrollt worden. Die zwei Finger drückten und rollten mich wie einen Popel und öffneten sich dann. Über einen Abgrund hinweg, eine Million Kilometer breit, und auf einem Arm sitzend, der etwa die Größe von Florida hatte, betrachtete ich meinen Gegner. »Ich liebe dich!« brüllte eine Stimme wie ein Erdbeben. Ich blickte an mir herunter. Er hatte mich auf dem vordersten Glied seines Zeigefingers abgestreift. Alles, was nur weh tun konnte, tat mir weh. »Laß den Unsinn, Dicker«, rief ich. »Das macht alles keinen Eindruck auf mich. Mich haben schon Profis in der Mangel gehabt. Die Bullen in Los Angeles.« »Ich liebe euch doch alle, und ihr seid so schlecht zu mir.« Er hatte einen Bürstenhaarschnitt. Ich hatte mir Gott noch nie mit einem Bürstenhaarschnitt vorgestellt. »Sag mal«, schrie ich. »Erzählst Du hier Monologe, oder darf ich auch etwas sagen?« »Du verspottest mich. Du hast mich immer verspottet. Ich habe die Welt erschaffen, um euch glücklich zu machen...« 224
»Ja«, sagte ich, meine Chance wahrnehmend, »Stürme und Erdbeben hast Du geschaffen, Hungersnot und Krieg und Leiden, statt die Erde zu ein em Paradies zu machen.« »Natürlich habe ich das getan«, brüllte Er. »Ihr habt euch schlecht benommen, und so mußte ich euch aus dem Paradies hinauswerfen.« »Wir haben lediglich Deine Autorität angezweifelt.« Er zog mich mit rasender Geschwindigkeit zu sich heran, und ich blickte in ein Auge, so groß wie eine Welt. »Ihr wart ungehorsam. Ihr seid zu einer Einheit geworden. Ihr habt euch selbst zu Göttern erhoben und mir nichts übriggelassen. Nichts!« In dem einen Auge, das ich sehen konnte, formten sich Sturmwolken. Blitze schlugen heraus. Einer zischte dicht an mir vorbei. Sie war es! Es war das Werk der Frau. Ich habe meinen Sohn heruntergeschickt, um ihr Werk zu zerstören. Aber ihr seid der Sünde verfallen, und ich mußte euch bestrafen. Und jetzt sündigt ihr mehr als je zuvor. Ihr vergeßt mich, ignoriert mich und lacht mich aus - lacht mich aus! Jeder freie Gedanke ist eine Sünde gegen mich.« »Warum?« Es war ein alter Trick, den ich da anwandte. Vielleicht hatte ich Glück damit. »Weil ihr mir, eurem Gott, gehorchen müßt.« »Warum?« Ich streckte die Hand aus und begann Stückchen von mir selbst einzusammeln. »Weil ihr meine Kinder seid.« »Warum?« »Weil - weil...« Er erstickte fast. »Weil ich euch in meinem Ebenbild erschaffen habe.« »Warum?« »Damit ihr mir gehorcht.« »Warum?« Er stieß mich zurück, damit ich den Zorn in seinem Gesicht sehen konnte. »WEIL ICH GRÖSSER BIN ALS IHR!!« 225
Dann blies er mich von seiner Fingerspitze. Ich purzelte herunter, drehte mich um mich selbst und fiel, und fiel bis mich ein grelles rotes Licht umhüllte. Ich saß beim Kartenspiel, gemeinsam mit anderen Spielern. Neben meinem rechten Ellbogen, der links von mir, zusammen mit einem Teil meines Beines auf dem Tisch lag, waren noch andere Körperteile. Die anderen Spieler setzten ebenfalls verschiedene Teile ihres Körpers ein. Ich gewann ein Stück Hirn von einem Opernsänger und die halbe Arschbacke eines Mannes namens Martin. Ich gab sie zurück und ging weg. Ich war ja nicht wie Ann. Ich brachte es nicht fertig, einem Mann seinen Arsch beim Pokern abzugewinnen. Die nächsten drei Stunden war ich damit beschäftigt, meine verschiedenen Körperteile wieder zusammenzubauen. Ein Unbekannter setzte sich zu mir an den Tisch. Er war groß und schlank und trug die perfekt geschnittene Kleidung des Profi-Spielers. Er zog drei Spielkarten aus der Westentasche und warf sie mit der Bildseite nach unten auf den Tisch. Jede der Karten wies in der Mitte eine scharfe Falte auf. »Vertrauen Sie mir?« fragte er. Seine Finger manipulierten die Karten so geschickt, daß mein Blick ihnen nicht folgen konnte. »Sie haben sich hier noch nie gezeigt«, sagte ich. »Ich habe keinen Grund, Ihnen zu vertrauen.« »Aber Sie haben auch keinen Grund, mir zu mißtrauen.« Er drehte eine Karte um - Pik-König. »Ich spiele dieses Spiel schon sehr lange«, sagte er und drehte noch eine Karte um. Karo-König. »Mal gewinne ich, mal verliere ich. Meistens gewinne ich. Aber Sie sehen aus, als könnten Sie mich schlagen. Sie müssen mir allerdings vertrauen, sonst haben Sie keine Gewinnchance.« »Wenn ehrlich gespielt wird, ist es keine Frage von Vertrauen.« Ich klebte mir das letzte Stückchen Haut wieder an und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. 226
»Wenn Sie mir nicht vertrauen, verlieren Sie.« »Und gewinne ich, wenn ich Ihnen vertraue?« »Das habe ich nicht gesagt.« Er lächelte berechnend. »Ich habe nur gesagt, daß Sie verlieren, wenn Sie es nicht tun.« »Und wenn ich mich weigere, überhaupt zu spielen?« Er drehte noch eine Karte um. Pik As. »Dann verlieren Sie auch, fürchte ich.« »Das ist ja eine tolle Masche.« »Ich lebe davon. Und für meine Jungens fallen dabei auch genügend Jetons ab.« Er manipulierte die Karten und wies mit einer Kopfbewegung nach hinten. Ein halbes Dutzend seiner Jungens stand an der Bar und grinste mich an. »Ein gutes Spiel, an dem man sich gesundstoßen kann. Aber Sie müssen mir vertrauen.« Die Karten schnellten ihm aus der Hand auf den Tisch. Er drehte eine um und zeigte sie mir. Ein As. Ich versuchte, seinen blitzschnellen Bewegungen zu folgen. Er zeigte noch mal auf die Karte und deckte sie auf. Sie hatte sich in Treff-König verwandelt. Ich versuchte immer noch herauszukriegen, wie er das machte. »Wenn Sie mir vertrauen, werde ich Sie nicht be schwindeln«, sagte er. »Vertrauen ist die Grundlage für eine gute Beziehung.« Wieder kam das As, glitt ihm durch die Finger und verwandelte sich in Karo-König. Ich bemühte mich, ihn noch schärfer zu beobachten. »Schauen Sie auf die Karten«, sagte er. »Schauen Sie auf die Karten und vertrauen Sie mir. Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig.« Dann gab es eine kleine Störung. Ein Paar Hände legte sich mir auf die Schultern. Ich verspürte den Geruch von Patchouli Parfüm. »Hauen Sie ab, Lady«, sagte er zu ihr, ohne den Blick von mir abzuwenden. Ich blickte nur auf die Karten. »Sie haben mir nie getraut.« »Weil er betrügt«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Ich habe 227
guten Grund, ihm nicht zu trauen. Er soll dir erst mal beweisen, daß er ehrlich spielt.« »Kann ich die Karten sehen?« Ich hielt die Hand ausgestreckt wie eine Schaufensterpuppe. Er strich sie mit einer Handbewegung ein. »Niemand darf alle drei sehen. Sie müssen Vertrauen haben.« »Warum?« Ich hätte nicht zu fragen brauchen. Seine Jungens hatten die Bar verlassen und kamen auf unseren Tisch zu. »Das sind die Spielregeln.« »Dann spiele ich nicht«, erwiderte ich und schickte mich an, aufzustehen. »Dann verlieren Sie«, knurrte er und lehnte sich über den Tisch. »Wenn man nicht spielt, kann man weder gewinnen noch verlieren«, sagte sie. »Er blufft.« Lächelnd setzte ich mich wieder. Ihre Hände drückten auf meine Schultern. Er lehnte sich noch weiter vor, die Karten in der einen Hand, die andere eine geballte Faust. Sie lachte und riß ihm die Karten aus der Hand. Alle drei waren Könige. »Das As hat er im Ärmel. Das ganze Spiel ist Betrug.« Sie warf die Karten auf den Tisch, mit der Bildseite nach unten. »Sie haben mir noch nie getraut«, sagte er, schmollend wie ein Kind. »Sonst hätten Sie vielleicht gewonnen.« Sie lachte. Es klang wie Regentropfen auf Kristall. »Ich gewinne immer, und Sie haben noch nie gewonnen. Darum können Sie nicht aufhören zu spielen.« Alle erstarrten wie in einem Filmstreifen, der im Vorführapparat steckengeblieben ist. Dann lösten sie sich in Luft auf, und ich blieb allein zurück. Ich deckte die Karten auf. Drei Herz-Damen. Jede sollte ein Joker sein, dachte ich. Ich stand auf und ging228
24 Die Straße war mit Leichen bedeckt. Ich drehte mich um, um in die Kneipe zurückzukehren. Sie war plötzlich verschwunden. Wo sie gestanden hatte, befand sich ein endloses Feld, mit Leichen übersät. Einige hatten kaum noch Fleisch auf dem Skelett, andere sahen frisch aus. Die meisten waren in einem Zustand reiferer Verwesung und strömten einen Geruch aus, den jemand mal als den > süßlich-widerlichen Gestank frischgebackenen Brotes < bezeichnet hatte. Aber es stank schlimmer. Es war erstikkend und brannte in der Kehle und in den Lungen. Zwischen den Toten lagen Tierkadaver aller Art herum. Die Fliegen hätten ein Festessen gehabt. Aber ich sah nur tote Insekten. Nichts lebte mehr, nichts bewegte sich. Außer mir. Und noch jemand. Natürlich. Er zerrte eine Leiche heran und legte sie neben eine andere in inniger Umarmung. Dabei brach ein Arm ab, und er war gezwungen, ihn so gut es ging, an seinen Platz zurückzulegen. »Pfui«, sagte er und blickte auf. »Was wollen Sie?« verlangte er zu wissen. Er war ungefähr so groß wie ich, mit langem, zerzaustem, grauem Haar und am ganzen Körper mit Furunkeln bedeckt. Seine Stimme klang, als hätte er Sandpapier im Hals. »Sie haben hier nichts zu suchen. Sie sind ja noch nicht am Verwesen.« »Ist das hier die Hölle?« Er starrte mich an, als hätte ich mich erkundigt, ob hier das chinesische Theater sei. »Natürlich nicht, Sie blöder Armleuchter. Es gibt weder Hölle noch Himmel. Man kommt nirgends hin, wenn man tot ist. Außer vielleicht unter die Erde.« Er hob einen abgefallenen Finger vom Boden auf und schwenkte ihn mir vor der Nase herum. »Und sprechen Sie bloß nicht über Seelen, Sie hirnloses Arschloch. Die Seele stirbt auch.« 229
»Energie kann weder geschaffen noch zerstört wer den«, sagte ich. Das hatte ich mal irgendwo gelesen. »Meine Gedanken sind elektro-chemische Energie und können nicht einfach vernichtet werden. Irgendwo wandern sie hin.« Er setzte sich einem Pferdekadaver auf die Brust und stand wieder auf, als er knackend und zischend unter ihm zusammenbrach. »Wollen Sie über Thermodynamik diskutieren?« Er legte zwei aufgedunsene, bläulich angelaufene Leichen übereinander und setzte sich rittlings darauf. »Also bitte. Was geschieht mit den gespeicherten Daten eines Taschenrechners, wenn Sie ihn abschalten?« »Wie bitte?« »Die elektronischen Teile, die die Zifferschablone errechnen, bleiben bestehen, aber die Schablone selbst wird zerstört.« »Ist denn meine Seele eine Schablone?« »Ihr Gehirn ist eine elektrochemische Struktur, die im Laufe der Zeit - in einer Zeitspanne von zwanzig, dreißig, fünfzig Jahren - herangewachsen ist. Gewiß, die einzelnen Teile bleiben nach dem Tode bestehen, aber die Struktur als solche ist zerstört und funktioniert nicht mehr. Die Seele stirbt mit dem Menschen.« »Sie sind ja ein Herzchen.« Er lächelte mir zu. »Ich habe hier schon einige der besten Gehirne gegessen. Früher oder später kommen alle hierher. Sie sind tot und ihre Seelen sind tot. Aber ich esse ihr Hirn und...« »Und die Toten leben weiter in Ihnen?« »Ach, Scheiße«, sagte er. »Und unten auf der Erde«, fuhr ich fort, während erden Kopf auf die Handflächen sinken ließ, »leben sie weiter in ihren Errungenschaften.« »Nur metaphorisch«, sagte er mit müdem Kopfschütteln. »Das ist alles, was wir benötigen. Wir sind Produkte 230
genetischer Regeln.« All die unklaren Philosophiebücher, die ich gelesen hatte, kamen mir jetzt zu Nutzen. Er blickte mich aus flehenden Augen an. »Lassen Sie mich doc h zufrieden. Geben Sie mir mein Nichts wieder.« Eine Stimme dröhnte über das Feld zu uns herüber. »Wer ist das?« verlangte die Stimme zu wissen. »Wer stört meine Ruhe, meinen Seelenfrieden?« »Ich etwa?« fragte ich. »Dies ist mein Reich. Alle Menschen kommen auf diese Weise zu mir.« Der kleine alte Mann buddelte sich unter einer Leiche ein, aus der schwärzlicher Schleim tropfte, und ver steckte sich. Gleich darauf erschien Er. Er trug einen tiefschwarzen Ärztekittel. Sogar der runde Spiegel auf seiner Stirn strahlte ein Licht aus, das aus dem Dunkel zu kommen schien. Von seinen Handschuhen tropfte Blut. »Alle Geschöpfe der Luft und alle Tiere des Meeres. Alles, was geht und läuft und kriecht und atmet. Alle kommen sie hierher und verenden. Hier hört alles auf. Nichts bewegt sich mehr. Das ist die Ruhe. Dies ist die Ewigkeit.« »Hört sich recht langweilig an«, sagte ich, mich umsehend. »Es erinnert einen an eine politische Versammlung.« Er lachte nicht. »Sogar der Humor stirbt hier.« Das Blut von seinen Handschuhen lief ihm seitlich an den Hosenbeinen herunter und hinterließ zwei breite, rote Streifen, wie bei einem Hotelpagen. »Aber alles, was gestorben ist«, sagte ich, »kehrt eines Tages zur Erde zurück und wird Teil eines neuen Lebens.« »Vergiß die Erde. Auch sie wird eines Tages sterben.« »Und wird ein Teil des Universums werden oder Teil einer neuen Welt.« »Auch das Universum wird enden.« 231
»Und ein neues gebären«, sagte ich. Die Leichen und der Gestank waren vergessen. Ich hatte Ihn in die Defensive gedrängt. »Vergiß es. Geburt ist eine Illusion. Nichts wird geboren. Das einzige, was es gibt, ist der Wechsel.« »Was nicht geboren wird, kann auch nicht sterben.« »Ich kann dem Wechsel Einhalt gebieten«, schrie Er. Dabei ballte Er die Fäuste, daß ihm das Blut zwischen den Fingern hervorspritzte. »Das allein ist schon ein Wechsel. Ein Wechsel im Wechsel.« »Vergiß es. Es gibt nur noch den Tod. Tod und später nichts mehr.« »Ich lebe aber.« Um es zu beweisen, drohte ich ihm mit dem Finger. »Auch ich wurde geboren. Geburt ist Wechsel. Und der Tod ist Wechsel. Und er führt wieder zur Geburt. Er ist...« »Sprich es nicht aus!« kreischte Er und warf die Arme in die Luft. Das Blut tropfte ihm von den Ellbogen. Er warf den Kopf zurück, daß ihm der Spiegel über s Gesicht rutschte. »Ich wollte nur sagen, daß es ein Zyklus ist...« »Nein!« »So wie ein Rad!« Er kreischte auf. Jetzt hatte ich Ihn. »Ein Rad, das sich ewig dreht. Immer im Kreise. Kein Anfang, kein Ende...« Er trat zurück und stolperte über eine der Leichen. Der Himmel färbte sich dunkelrot. Eine Brise wehte hinter mir und trug den Duft von Äpfeln und Orangen heran. »Sie gehören mir!« schrie Er. »Ich lasse sie nicht an das Rad heran. Ich beschütze sie vor der Wiedergeburt, hier in dem Land ohne Wechsel.« »Sogar Du bist ein Teil des Rades.« »Nein!« brüllte Er. Er schien sich vor mir zurückzuziehen. Der Wind wurde stärker und trocknete das Blut an Seinen Händen. Er blies die obere Schicht der Leichen 232
fort. Sie rollten an uns vorbei. Ich versuchte eine zu packen, sie festzuhalten - für Ihn. »Nein, nein, nein«, sagte Er. »Du hast die Winde des Wechsels heraufbeschworen.« Die Leichen waren nur noch undeutlich zu sehen. Sie flogen in den flammenden roten Himmel und lösten sich dort auf. Das Blut an Seinen Händen war getrocknet und blätterte ab. Die Handschuhe schälten sich von Seinen Händen und entblößten eine glatte, harte, leichenhaft weiße Haut. Jemand mit langen, grünen Fingernägeln drückte mir von hinten eine goldene Sichel in die Hand. Ich warf sie auf Ihn. Die Sichel blieb in seiner Brust stecken und riß ein Loch von mehreren Zentimetern auf. Aus dem Riß kamen Tausende von Schmetterlingen in allen erdenklichen Farben geflogen. »Ich wollte Frieden«, sagte Er. Tränen flössen Ihm übers Gesicht und schwemmten es langsam fort. »Ich wollte Frieden - nicht Leben im Tode.« Dann nahm Er allmählich die Urformen an. Er wurde ein Affe, dann ein Reptil, ein Fisch, schließlich ein Klümpchen Urschleim. Nur Seine Stimme ertönte noch verwundert und traurig, als hätte Er zu spät eine Entdekkung gemacht. »Kein Kreis. Eine aufsteigende Spirale.« Von weither ertönte das Lachen einer Frau. Wo die Leichen gelegen hatten, wuchsen frische Pflanzen. Mittendrin saß ein trauriger alter Mann. »Wo nehme ich jetzt Gehirne her?« »Probieren Sie doch mal Ihr eigenes«, sagte ich. Unmittelbar darauf schlug eine Rakete ein und zer schmetterte alles.
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25 Um mich herum explodierte alles. Ich duckte mich in einen Krater und steckte den Kopf in den Schlamm. Gewehrkugeln zischten mir über den Kopf. Pfeile flogen hin und her. Ein blendend heller Laserstrahl, ein Kilo meter über mir, ionisierte die Luft. Jemand stolperte in den Krater neben mir. Er war schlammbedeckt und hielt ein Gewehr in der Hand. Auf seinem Gesicht, das aussah wie ein Klavier, lag ein breites Grinsen. »Jetzt haben wir die Hurensöhne bald. Was, Junge?« Er war ein paar Jahre jünger als ich. Warum nannte er mich >Junge