Der Hort der Wächter von Timothy Stahl
»Allmächtiger Vater … Die Zeichen stehen danach, als würde sich erfüllen, was e...
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Der Hort der Wächter von Timothy Stahl
»Allmächtiger Vater … Die Zeichen stehen danach, als würde sich erfüllen, was ehedem Deinem Diener Johannes offenbart wurde und was er verkündete und niederschrieb. Du hast mich gesandt, auf daß ich mich dem entgegenstelle. Dafür erbitte ich Deinen Beistand und Deine Kraft, o Herr. Ich spüre, daß der Kreis sich schließen wird. Was vor einer Ewigkeit begann, als ich den Abtrünnigen in ewige Verdammnis stürzte, soll hier und jetzt sein Ende nehmen. Auf die eine oder auf die andere Weise …«
Was bisher geschah … Alle Vampiroberhäupter rund um den Globus werden von einer Seuche befallen, die sie auf ihre Sippen übertragen. Die Vampire – bis auf die Anführer selbst – können ihren Durst nach Blut nicht mehr stillen und altern rapide. Gleichzeitig wird in einem Kloster in Maine ein Knabe geboren, der sich der Kraft der todgeweihten Vampire bedient, um schnell heranzuwachsen. Die Epidemie macht auch vor einem Stamm von Vampir-Indianern nicht halt, die dem Bösen widerstehen, indem sie geistigen Kontakt zu ihren Totemtieren, den Adlern, halten. Ihr Häuptling Makootemane kämpft mit dem Traumbild der Seuche, einem Purpurdrachen. Hidden Moon, Makootemanes Schüler, bittet Lilith Eden um Hilfe. Sie steht den Arapaho gegen die Seuche bei, die jedoch alle Adler und letztlich – durch Lilith – auch Makootemane tötet. So zerstreut sich der Stamm auf der Suche nach neuen Totemtieren. Weil Lilith Hidden Moons Adler tötete, »staut« sich nun das Böse in dem Arapaho – bis er erkennt, daß Lilith die Rolle des Adlers übernommen hat und er nur in ihrer Nähe dem Bösen widerstehen kann. So schließt er sich ihr an. Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Knaben namens Gabriel erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Para-sensible Menschen träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer. Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Rafael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie aus einer Traumwelt, in der Vampire die Erde beherrschen, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens scheinen eng an ein Tor in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom gebunden. Gabriel wird auf das Tor aufmerksam. Er erkundet die Lage und
ruft gleichzeitig Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet … Umblende: Der Geist einer jungen Frau »erwacht« mit gebrochenem Genick in einem Korridor und wird auf ein fernes Licht zugezogen – als plötzlich sämtliche Türen des Korridors aufspringen und ihr Geistkörper in eine davon gesogen wird. Ohne Erinnerung an ihr früheres Leben erwacht sie im Jahre 1618 vor den Toren Prags. Um ihre Körperlichkeit wiederzugewinnen, raubt sie die Lebensenergie der Menschen, wird alsbald als Hexe verhaftet und eingekerkert. Der Inquisitor Matthäus Wenzel soll mehr über sie in Erfahrung bringen. Doch nicht die junge Frau ist das wahre Böse in Prag. Ein Wesen, das die Menschen wohl »Satan« nennen, streckt seine Klauen nach dem Land aus. Mit Ränke verleitet es die Menschen zum »Prager Fenstersturz«, der zum Auslöser für den dreißigjährigen Krieg werden soll. In den Wirren der Geschehnisse flieht Justus, der Eleve des Inquisitors, zusammen mit der jungen Frau, die eine seltsame Macht auf ihn ausübt. Man wird noch von ihr hören …
Kühle Feuchtigkeit füllte die Felskammer wie ein steter Hauch aus dem Jenseits. Obwohl der Raum weder in Länge noch Breite mehr als zehn, allenfalls elf große Schritte maß, waren seine Wände nicht auszumachen. Das Licht einer einzelnen Kerze reichte gerade aus, um das steinerne Podest, auf dem sie flackernd brannte, in eine rotgoldene Glocke zu hüllen. Selbst den Mann, der mit nacktem Oberkörper und gesenktem Haupt kaum einen Meter davon entfernt am Boden kniete, berührte ihr Schein nur, ohne ihn den Schatten ringsum zu entreißen. Salvats Hände lagen auf dem Knauf eines gewaltigen Schwertes, dessen breite, bizarr geformte Klinge im Kerzenlicht wie in frisches Blut getaucht aussah. Seine Stirn ruhte am Griff, der zwei Fäusten Platz bot. Und zweier Fäuste – zweier sehr kräftiger Fäuste! – bedurfte es gewiß, die sichtbar schwere und seltsam monströse Waffe zu führen. Trotz der klammen Kühle, die hier, tief im Berg unter dem Kloster Monte Cargano herrschte, liefen glänzende Rinnsale entlang der tiefen Linien, die wie mit einem Messer in das markante Gesicht geschnitten schienen, weiter über Hals und Nacken, um schließlich den sehnigen Oberkörper in ein glitzerndes Netz zu spinnen. Allein der Gedanke an das Bevorstehende genügte, dem Führer der Illuminati den Schweiß aus den Poren zu treiben. Das »Bevorstehende« … Gespenstisch wehte Salvats Stöhnen durch die düstere Kaverne. Er wußte doch selbst nicht, wie es sich äußern würde, dieses »Bevorstehende« … Noch nicht … Aber er würde es erfahren, bald schon. Salvat war entschlossen, endlich zu tun, was getan werden mußte, um es in Erfahrung zu bringen – um die Geheimnisse der Para-Träumer zu lüften, die seine Gesandten aus aller Welt nach Monte Cargano geholt hatten.* Irgend etwas, in jedem Fall aber etwas Unheilvolles, hatte das kosmische *siehe VAMPIRA T05: »Para-Träume«
Machtgefüge erschüttert, und para-sensible Menschen hatten unterbewußt darauf reagiert – in ihren Träumen. Darauf wiederum war die Illuminati aufmerksam geworden und hatte ihrerseits entsprechende Maßnahmen getroffen. Maßnahmen, die in den Augen anderer als Entführungen und damit als verwerflich gelten mochten. Doch – so sah man es in den Reihen des Ordens – was bedeutete die Freiheit einer Handvoll Menschen, wenn das Schicksal einer ganzen Welt auf dem Spiele stand? Zudem war die Aktion abgesegnet gewesen von »ganz oben« – nach irdischem Maßstab gemessen … Lange hatte Salvat gezaudert und andere Wege erprobt, um die Rätsel der Träume zu lösen, die darin enthaltenen Botschaften zu entschlüsseln. Weil er wußte, daß dieses eine Mittel, das gewiß zum Erfolg führen würde, nur der allerletzte Ausweg sein durfte – und daß es nur einmal anzuwenden sein würde. Das Mittel … Wieder stieß Salvat ein leises, klagendes Geräusch aus, das in der weithin herrschenden Einsamkeit hier unten ungehört verhallte. Sein Unterbewußtsein schien eine Personifizierung dieses »Mittels« vermeiden zu wollen, um ihm die Entscheidung zu erleichtern – oder wenigstens doch erträglicher zu machen. Doch es nützte nichts. Denn Salvat wußte – und würde es weder je vergessen noch auch nur ignorieren können –, daß dieser »allerletzte Ausweg« ein Leben kosten würde. Wenn auch kein Menschenleben … Oder …? Nicht einmal Salvat wollte es auf sich nehmen, diese Frage klar zu bejahen oder zu verneinen. Er war auch nicht hier herab gestiegen, um eine Antwort darauf zu finden, oder gar in der Erwartung, daß ihm die Entscheidung abgenommen würde. Er hatte einzig Kraft gesucht, um diese Entscheidung, die eine Flut weiterer nach sich ziehen würde, überhaupt fällen zu können. Und obgleich sich nichts merklich verändert hatte
(Nicht einmal die Kerzenflamme hat geflackert, dachte Salvat mit dem Anflug eines harten Lächelns), so hatte der Großmeister doch gefunden und erhalten, worum er gebeten hatte. Die erhoffte spürbar stärkende Wirkung indes war ausgeblieben. Salvat fühlte sich um keinen Deut besser, als er sich nach einer ganzen Weile wieder erhob. Im Gegenteil, er hatte den Eindruck, das Gewicht der ihm aufgebürdeten Aufgabe dabei tatsächlich emporstemmen zu müssen – und mit ihr die Last seines wirklichen Alters. Das eigene Ächzen war Salvat ein beunruhigendes Zeichen dafür, welche Mühe ihn diese an sich kaum nennenswerte Bewegung kostete. Nein, er ging nicht körperlich gekräftigt und vitalisiert aus dem Gebet hervor. Doch die Stärke, die ihm seine Aufgabe abverlangte, war ohnehin nicht eine Frage von physischer Kraft. Nicht nur … Dennoch, und auch wenn er es sich selbst gegenüber nicht wirklich zugeben mochte, hatte Salvat sich etwas mehr erhofft – von Ihm. Irgend etwas in welcher Art auch immer Greifbares, Praktikables – nun, Hilfe eben … Doch all das war ihm versagt geblieben. Manchmal fühlte Salvat sich von Ihm verlassen; mehr noch glaubte er, daß Gott diesen Teil seiner Schöpfung verlassen oder einfach nur sich selbst überlassen hatte, auf daß die Menschen von sich aus lebens- und vor allem überlebensfähig würden. Doch eine Ewigkeit hatte nicht genügt, jene, die sich als »Krone der Schöpfung« sahen, Respekt zu lehren vor allem Gottgegebenen, Verantwortung zu übernehmen für das, was ihnen geschenkt worden war … Salvat ließ den Gedanken vergehen. Es war weder seine Aufgabe noch Teil seines Auftrags, über das Gebaren der Menschheit nachzusinnen. Sein Auftrag … Salvat schnaubte, und hätte ihn jemand gehört, so würde er geglaubt haben, es läge etwas wie Belustigung in diesem Laut. Ein Irrtum. Denn Salvat hatte in all der langen Zeit auch gelernt, Bitternis
und ähnliche Regungen hinter allen möglichen Facetten von Zynismus zu verbergen. Bisweilen glaubte Salvat, daß der Auftrag selbst seine Kräfte und Möglichkeiten übersteigen könnte … Schon die Vorbereitungen waren nicht einfach gewesen; natürlich nicht. Sonst hätte es nicht seiner Person bedurft, sie zu treffen. Nicht umsonst hatte Er andere vor Salvat entsandt, um die Bruderschaft ins Leben zu rufen. Unter Salvats Führung war schließlich in aller Welt nach weiteren potentiellen Mitgliedern gesucht worden. Sie hatte man dann unter seiner Anleitung auf die schwere Aufgabe vorbereitet, der sie sich eines Tages würden stellen müssen. Eines nicht mehr fernen Tages, wie Salvat heute wußte. Zuviel war geschehen in der allerjüngsten Vergangenheit, als daß diese Dinge etwas anderes hätten sein können als Zeichen; Zeichen, die darauf hindeuteten, daß sie alle sich schon bald würden bewähren müssen. Sie – die Wächter des Tores. Jemand oder etwas würde kommen oder geschehen, um das Tor in den felsigen Tiefen des Klosterberges zu öffnen. Um herüber zu lassen, was jenseits der Siegel lauerte. Um zu vollenden, was vor langer Zeit begonnen worden war. Salvat wußte nicht, wer oder was da kommen würde; ebensowenig wußte er, auf welche Art oder in welcher Form die Macht hinter dem Tor nach der Welt der Menschen greifen würde. Nur eines wußte der Großmeister der Illuminati mit einer Gewißheit, fester als der Fels, auf dem Monte Cargano vor langer, vor sehr langer Zeit als Hort der Wächter erbaut worden war: Daß es nie geschehen durfte! Denn sonst war dieser Welt ein Schicksal beschieden, schlimmer als Tod und Untergang …
*
Das Licht der Kerze veränderte sich. Es verlor an Kraft. Die eben noch fast fingerlang lohende Flamme duckte sich einem lebenden Wesen gleich, das um Leib und Seele fürchtete, wand sich auf unmögliche Weise – und verlöschte. Starb … Salvats starrer Blick ruhte noch sekundenlang auf dem glimmenden Docht. Das Ganze war für ihn nicht mehr als eine Fingerübung gewesen, mit der er sich vielleicht selbst beweisen wollte, daß da noch Kraft war in seinem alten Körper. Und doch war dieser »Erfolg« nur lächerlich im Vergleich zu dem, den er in naher Zukunft würde vollbringen müssen. Aber es war müßig, sich schon jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen, müßig und belastend. Und so befreite Salvat sein Denken von allem unnötigen Ballast, schuf Raum für jene Dinge, die dort Einlaß finden mußten, wenn er jenen allerletzten Weg beschritt, sich jenes einen Mittels bediente … Im Dunkeln griff der Führer des Ordens nach der abgelegten Kutte, die nicht schmuckvoller war als die seiner Brüder. Der Unterschied bestand allein im Zuschnitt des Kleidungsstücks, doch davon wußte niemand. Salvat streifte die Robe über und zog sie so zurecht, daß der besondere Schnitt die Besonderheiten seines Körpers verbarg … Auf sein eigenartiges Schwert gestützt trat Salvat dann zur Tür der Kaverne … … und verließ sie als etwas gebeugt gehender Mann, unter dessen Kutte sich ein leichter Buckel abzeichnete und dessen Schritte vom Klicken eines unscheinbaren Gehstocks auf dem nackten Felsboden begleitet wurden. Die Gänge und Flure unterhalb des Klosters wanden sich wie das Gedärm eines gigantischen Monstrums durch den Fels des riesigen Berges. Der allgegenwärtige Gestank, der Salvat und allen Brüdern
im Laufe der Zeit längst zum bloßen Geruch geworden war, schien diesen Vergleich noch zu unterstreichen. Die verschiedenen Ebenen waren ineinander verschachtelt, Treppen und Rampen verbanden sie miteinander. Hier und da durchbrachen verriegelte Türen die Monotonie der Felswände, und hinter manchen davon wurden, wenn Salvat sie passierte, Geräusche laut, die selbst in ihm noch Unbehagen wachriefen. Obwohl es sich in den allermeisten Fällen um nichts anderes handelte als um den Atem Schlafender … … und schlafender Kreaturen, die besser nie mehr erwachten … Ein Ortsunkundiger hätte sich in dem Labyrinth unter Monte Cargano rettungslos verirrt. Denn manche Treppe führte nur scheinbar nach oben, während sie tatsächlich tiefer in den Berg hineinging. Und einige Gänge gaukelten nur vor, schnurgeradeaus zu verlaufen … Zugleich aber wäre ein Fremder hier unten nicht lange genug am Leben geblieben, um an Durst oder Hunger zu sterben. Eine der zahlreichen Fallen hätte ihn vor diesem Schicksal bewahrt – darunter einige, die ihm einen weit qualvolleren Tod, als Verdursten oder Verhungern es sein mochten, beschert hätten … Salvat jedoch hätte seinen Weg auch blind gefunden. Wie von unsichtbarer Hand geführt wich er den Auslösern der Fallen aus, berührte keinen scheinbar lose umherliegenden Stein, streifte keines der von der Decke hängenden Spinngewebe … Unzählige Male war er den Weg schon gegangen, wenn auch nur wenige Male bis zu seinem wirklichen Ende. Meist hatte er vor der Tür innegehalten und sich mit einem Blick durch die Luke in die dahinterliegende Kaverne begnügt. Heute nicht. Zwar blieb er auch jetzt zunächst vor der massiven Bohlentür stehen, die kaum hoch genug war, um aufrecht hindurchgehen zu können. Und er blieb sehr lange stehen, reglos, wie versteinert, während jenseits der Ausdruckslosigkeit seiner Miene ein Widerstreit der Ge-
fühle, von Vernunft und anderen Dingen tobte. Mit einem einzigen befehlenden Gedanken beendete Salvat den Aufruhr in seinem Innersten schließlich. Und tat, was getan werden mußte, wollte er das Geheimnis der Para-Träumer endlich entschlüsseln. Und das wollte er nicht nur, er mußte es. Er brach die Siegel der Tür, sieben an der Zahl, und öffnete sie, ohne jedoch gleich einzutreten. Ein vages Glimmen erfüllte die Felskaverne. Es sickerte aus dem Nichts, schien jedes noch so winzige Teilchen der Luft für einen kaum meßbaren Moment weiß aufglühen zu lassen und war doch spürbar mehr als nur Licht. Als Salvat schließlich in den Raum trat, fühlte er sich wie von Elektrizität umflossen, die ein feines, nicht einmal unangenehmes Prickeln über seine Haut sandte. Und doch rührte es an etwas, das nicht einfach nur unter seiner Haut lag, sondern sich sehr viel tiefer verborgen gehalten hatte in all der endlos langen Zeit. Jetzt kroch es hervor aus dunklen Winkeln, zog Spuren eisiger Kälte durch Salvats Leib, während es höher und höher kam, quälend langsam, und ihn schließlich zur Gänze erfüllte, kaltem Fieber gleich, das ihn schaudern und jeden Atemzug zur Anstrengung geraten ließ. Nichts hatte sich verändert, seit Salvat zum letzten Mal einen Blick in die Kaverne geworfen hatte. Ein Bild spürbarer Friedlichkeit bot sich ihm. Und nun war er gekommen, um es zu zerstören. Entlang der kreisrunden Felswandung reihten sich zwölf steinerne Podeste, Altären gleich, und auf jedem davon ruhte reglos ein Mensch, wie tot. Doch Salvat wußte, daß dem nicht so war. Sie alle schliefen nur und lebten, jeder ein Leben, wie es wunderbarer und friedvoller nicht sein konnte. Noch … In der Mitte des Raums erhob sich ein weiterer Steinsockel, und auch darauf lag jemand.
Salvat trat näher und sah auf die Schlafende hinab. Nichts regte sich in dem überirdisch schönen Gesicht des Mädchens, das doch viel mehr – oder etwas ganz anderes – als nur ein Mädchen war. Ihre Haut schien auf eine eigenartige Weise transparent und ließ doch keinen Blick hindurch. Ihr Leib war von einer Zartheit, daß jeder, der ihn ansah, fürchten mußte, er könnte allein deswegen zerspringen wie Glas. Einer erstarrten Wolke gleich breitete sich das Haar um den Kopf der Schlafenden, von der Salvat wußte, daß sie sehr viel mehr tat als nur zu schlafen. Obwohl sie nicht einmal zu atmen schien. Er streckte die Hand nach ihr aus, berührte ihre Stirn und ließ den Finger tiefer wandern, unendlich langsam, unendlich behutsam, bis er ihr Kinn erreichte. Die Spur, die sein Finger zog, färbte sich zu einer dunklen Linie, die das schöne Gesicht in zwei Hälften teilte. »Erwache …«, flüsterte der Führer der Illuminati. Nichts geschah. Salvat wiederholte das Wort, kaum merklich lauter zwar, aber unüberhörbar befehlend. »Erwache!« Die Lider des Mädchens flatterten und öffneten sich schließlich. Ihr leerer Blick füllte sich in dem Maße mit Leben, in dem die dunkle Linie in ihrem Gesicht nach allen Richtungen hin zerfloß und einen nur annähernd natürlichen Ton über ihre Haut legte. Das Gläserne, Zerbrechliche blieb ihr. Ihr Blick traf Salvat, und das Senken ihrer Lider bedeutete ihm Verstehen. »Es ist soweit«, sagte er dennoch. Er reichte ihr die Hand und half ihr, sich aufzusetzen. Dann deutete er zur Tür. »Laß uns gehen«, bat er sie und ging voran. Das Mädchen blieb noch sitzen und ließ den Blick über die Schlafenden ringsum schweifen – wehmütig, abschiednehmend.
Das Glimmen in der Luft verblaßte mit jedem Gedanken, den sie sich von ihren Träumen entfernte – von dem, was sie den Schläfern geträumt hatte … Salvats Stimme erreichte sie wie aus weiter Ferne, trotzdem er kaum zwei Schritte von ihr entfernt stand. »Morphea?« »Ja, ich komme.«
* »Oh, ja … Ich … ich komme!« Doch Landru ließ es nicht zu. Seine Hand schoß empor und packte die dralle Bauerntochter im Genick. Dann zog er sie grob zu sich herab, grub seine Finger in ihr schwarzes Haar und bog ihr den Kopf in den Nacken. Die Haut ihres Halses spannte sich. Landru genoß einen Moment lang den Anblick der pochenden Ader darunter, in der Blut in größter Wallung dahinschoß, ehe er die dornenspitzen Augzähne hineinschlug. Voller Wut … Denn Wut war dem Vampir zum steten Begleiter geworden in den vergangenen Tagen. Und wenn er ihr nicht ein ums andere Mal ein Ventil gegeben hätte, hätte er längst für nichts mehr garantieren können. Aber auch so zeichnete eine Spur des Todes seinen Weg nach. Nicht der Durst hatte ihn in dieser Zeit unverhältnismäßig oft zur Ader getrieben, sondern die Suche nach Ablenkung – und nach Möglichkeiten eben, seinem Zorn Luft zu verschaffen … Eine (nur in Landrus Augen) komische Mischung aus Lust, Staunen und Entsetzen grub sich tief in die Züge des Mädchens, während das Leben aus ihr floß. Fast verzweifelt versuchte sie sich noch im Sattel seiner Lenden zu halten, doch dann versiegte auch ihr letztes bißchen Kraft. Tot glitt sie schließlich von Landru, als er ihr vor Lust aufgeschäumtes Blut bis zur Neige ausgesaugt hatte.
Im Aufstehen drehte er dem jungen Ding das Gesicht auf den Rücken, damit sie nicht als Untote auferstand, nachdem sein Biß unweigerlich den Keim in sie gepflanzt hatte. Während der Vampir in seine Kleider schlüpfte, öffnete er das Fenster der engen Dachkammer. Würzige Nachtluft vertrieb den Geruch leidenschaftlicher Zweisamkeit. Landru mochte ihn nicht mehr in der Nase leiden, wenn es erst einmal vorüber war … Und heute, da ihm der Sinn ohnehin nicht wirklich danach gestanden hatte und er nicht recht bei der Sache gewesen war, schon gar nicht. Andere Dinge beschäftigten ihn – hatten es vorher und währenddessen getan und taten es jetzt noch, in wieder stärkerem Maße. Nach all den Katastrophen und Fehlschlägen der jüngsten Vergangenheit hatte sich Landru endlich ein Hoffnungsstreif am Horizont seiner ewigen Wanderung gezeigt. Doch er vermochte ihn nicht zu erreichen, ja nicht einmal ihm nahezukommen! Es schien, als bliebe es unerreichbar für Landru – das Kind, auf dem all seine Hoffnung ruhte. Denn Landru war überzeugt, daß dieses Kind, das ihm der Lilienkelch in einer Art Vision gezeigt hatte, der Messias der Alten Rasse war, den Vampiren geboren in größter Not, da eine todbringende Seuche ihr Volk zur Gänze auszulöschen drohte. Diesem Kind mußte es bestimmt sein, die vampirische Rasse neu zu begründen. Und er, Landru, wollte an diesem Neubeginn entscheidend teilhaben – wie es ihm gebührte. Schließlich hatte er tausend Jahre lang den Fortbestand der Alten Rasse gesichert. Als Hüter des Lilienkelchs war er unerkannt von Sippe zu Sippe gereist, um ihnen mit Hilfe des Unheiligtums wahren vampirischen Nachwuchs zu bescheren. Und als der Kelch geraubt worden war, hatte Landru sich auf die Suche danach gemacht, fast dreihundert Jahre lang, und nicht eher aufgegeben, bis er ihn gefunden hatte.
Damit jedoch hatte das Elend erst seinen Lauf genommen … Denn der Lilienkelch war vergiftet worden. Gott selbst hatte den tödlichen Keim gesät, und als Landru die erste Kelchtaufe nach 269 Jahren hatte vollziehen wollen, hatte er sich aus dem Gral gelöst und war als vernichtende Seuche über die Vampirsippen in aller Welt gekommen. Allein die Oberhäupter, deren eigenes Blut einst in den Kelch geflossen war, verschonte der qualvolle Tod, den die Überlebenden heute den »Zorn Gottes« nannten.* Landru hatte weder Mittel noch Weg gefunden, das Sterben aufzuhalten. Bis er sich der alten Prophezeiung erinnert hatte, die besagte, daß auch dem Volk der Vampire wie einst dem der Menschen irgendwann ein Messias geboren würde. Und dieser Zeitpunkt schien gekommen. Anders konnte (und wollte) Landru sich die Vision jenes Kindes nicht erklären. Sein verzweifeltes Bemühen, den endgültigen Niedergang der Alten Rasse zu verhindern, war Ausdruck jener Schuldgefühle, die ihn im Innersten plagten, weil er selbst seinem Volk der Todesbote gewesen war. Wie besessen ging er jeder Möglichkeit nach, die Rettung bedeuten konnte. Und so hatte er auch die Spur jenes Kindes aufgenommen und verfolgt. In Indien hatte der Kelch ihm die Vision gebracht, in Rom schließlich hatte er die Suche nach dem Messias der Alten Rasse begonnen.** Die Fährte, die er einem Wolf gleich aufgenommen hatte, hatte nordwärts geführt – und war dann in viele Richtungen verlaufen wie hingegossenes Blut …! Ein ums andere Mal hatte die Spur Landru im Kreis geführt, wieder und wieder war er wie in Sackgassen gelaufen, wo die Witterung sich buchstäblich in nichts auflöste. Als wollte ihn jemand narren, indem er aus purer Boshaftigkeit immer neue und immer falsche Fährten legte. *siehe VAMPIRA T01: »Der Durst nach Blut« **siehe VAMPIRA T13: »Der Hüter und das Kind«
Der Hüter hatte in den Dörfern, in die sein Weg ihn führte, nach dem Kind gefragt, doch niemand hatte ihm Auskunft geben können. Viele der Befragten hatten ihre Unwissenheit mit dem Leben bezahlen müssen. Denn die Erfolglosigkeit weckte in dem Vampir eine Art von Zorn, die nur Blut löschen konnte. Für eine Weile wenigstens … So war es auch jetzt gewesen. Der Spur folgend, hatte Landru ein weiteres kleines Dorf im Norden Roms erreicht, nicht mehr als eine Handvoll Häuser, die wie hingeworfen inmitten karger Äcker und Felder standen, deren Ertrag gerade zur Deckung des eigenen Bedarfs reichen mochte. Die Fährte hatte den einstigen Gralshüter zum größten der ärmlichen Gehöfte geführt. Dort hatte er sich Einlaß verschafft und zunächst den Anschein eines einsamen Wandersmannes erweckt, der nichts anderes suchte als für die Nacht ein Dach über dem Kopf und ein wenig Stroh, auf das er sich betten konnte. Erst als er auch nach einer Weile keinen Hinweis auf das Kind fand, hatte Landru begonnen, Fragen zu stellen – sehr eindringlich und in einer Art, die keine Lüge duldete. Als ihm auch damit kein Erfolg beschieden war, hatte der einstige Gralshüter die Maske fallen lassen und den Bauersleuten sein wahres Gesicht offenbart. Doch war ihnen nicht viel Zeit geblieben, es sich einzuprägen. Daß sie es jedoch selbst im Moment des Todes nicht vergessen hatten, bewiesen ihre Züge, in die das Entsetzen wie hineingemeißelt war, als Landru an den Toten vorüber durch die Wohnküche des Hauses und schließlich hinausging. Vom Nachtwind umweht, der erdigen Duft von den nahen Äckern herantrug, fühlte er eine Unruhe, wie er sie selbst zu Zeiten der Kelchjagd nicht verspürt hatte. Die Tochter des Hauses hatte ihm kaum Zerstreuung geboten; selten war Landru derart unbefriedigt von einem fremden Lager gestiegen. Der Verdruß über die bisherige Erfolglosigkeit seiner Suche nagte längst nicht mehr nur in ihm – er fraß einer ganzen Horde von Ratten gleich, und es mischte sich eine Art von Schmerz in dieses ohne-
hin schon ungute Gefühl, der über das Körperliche hinausging. Landru war, als zehrte etwas auch an seinem Geist, unbarmherzig und wahnsinnweckend. Lange würde er dieses Gefühl nicht mehr ertragen. Dann würde er nicht mehr anders können, als dem freien Lauf zu lassen, was seinen Verstand mit sich reißen wollte in einen Abgrund, aus dem es keine Rückkehr mehr geben würde. Ein Gedanke, der aus jenem Abgrund zu kriechen schien, in keinem Fall aber sein eigener sein konnte, stahl sich hinter seine Stirn. Vielleicht, meinte dieser Gedanke mit wispernder Stimme, die selbst Landru schaudern ließ, ist dies der Preis für … … DEIN VERSAGEN! »Niemals!« Landrus Stimme ließ selbst den Wind verstummen. »Ich habe nicht versagt, in einer Ewigkeit nicht!« schrie er in die Einsamkeit der Nacht. »Keinem anderen hat die Alte Rasse mehr zu verdanken als mir. Gäbe es mich nicht, wäre unser Volk längst schon vergangen und vergessen. Doch das wird nie geschehen, solange noch schwarzes Blut in diesen Adern fließt!« Er ballte die Hände zu Fäusten und reckte sie gen Himmel – drohend, wie er meinte. Ein anderer hätte darin vielleicht eine Geste der Verzweiflung gesehen … Es mochte Zufall sein, ebensogut aber konnte es eine Reaktion auf Landrus Ausbruch sein: In jedem Fall hob der Wind von neuem an. Aber er tat es in anderer Weise als zuvor. Mächtiger, brausend, und es war mehr als nur die Bewegung von Luft. Landru fühlte sich nicht wie von bloßen Sturmfäusten gepackt, sondern vielmehr wie von einem Sog erfaßt, ohne besondere Kraft, und er konnte ihm ohne Mühe widerstehen. Doch er spürte, wußte mit einemmal, daß er besser daran tat, sich ihm zu ergeben. Denn es lag etwas wie ein Wispern in dem Wind, wortlos und ohne Stimme zwar, aber auf nicht faßbare Weise eindringlich, beinahe beschwörend.
Zugleich brachte der Wind jene Witterung mit sich, die Landru längst in einem Maße vertraut war, als ginge sie nicht von irgendeinem Kind aus – sondern von seinem, seinem ganz eigenen, wie von einem leiblichen Sohn! Obwohl Landru wußte, daß dieser Eindruck nichts anderes sein konnte als eine Täuschung seiner aufgewühlten Emotionen, so verriet ihm die Intensität doch, daß die Spur diesmal nicht in die Irre führen würde. Sie war echt, und sie würde erst am wirklichen Ziel enden. Dort, wo der Messias der Alten Rasse seiner harren würde. Auf daß das Volk der Vampire unter ihrer beider Führung neu erstand. Gemeinsam würden sie die geheime Herrschaft über die Menschen wieder herstellen. Sie – der Hüter und das Kind. Wie Vater und Sohn … Landrus Gestalt schien wie erleichtert in sich zusammenzusacken. Doch tatsächlich veränderte sie sich nur, schrumpfte und verformte sich. Dann ließ der Vampir sich treiben, fast ohne seinen Flug mit ledrigen Schwingen zu steuern. Wie von selbst fand er den rechten Kurs. Er führte ihn in nordöstlicher Richtung, dorthin, wo die lichtlosen Schatten der Abruzzen sich himmelhoch gegen die Nacht erhoben.
* … die da hören die Worte der Weissagung und behalten, … denn die Zeit ist nahe. Offenbarung, Kap 1, Vers 3 Ein Chor wie vom Klagen tausend verdammter Seelen wehte ihnen entgegen, lange bevor sie die Kammer der Träumer erreichten. Jam-
mern und Wimmern verfing sich im Fels um sie her und zerbrach in unzählbare Echos, so daß jeder einzelne Laut klang, als käme er aus Dutzenden Kehlen zur gleichen Zeit. Das Wehklagen war lauter geworden, seit Salvat die Para-Träumer zum letzten Mal aufgesucht hatte. Auch dieser Umstand zählte zu den Beweggründen, weshalb er das Mädchen schließlich geweckt hatte. Bald schon würden die Träumer verstummen, auf ewig. Denn keines Menschen Geist konnte auf Dauer ertragen, was sie seit Wochen schon zu erdulden hatten. Unheilbarer Wahnsinn mußte die Folge sein, der Tod eine Erlösung. Und so wertete Salvat auch dies – nämlich die Tatsache, daß die Träumer die Visionen kaum mehr ertrugen – als Zeichen dafür, daß der Tag nicht mehr fern war, an dem geschehen sollte, weswegen die Bruderschaft seit einer Ewigkeit über das Tor wachte. Salvat gestattete sich ein flüchtiges Lächeln, das nicht mehr als seine Lippen berührte, als er an die Zeit dachte, in der die Illuminati bereits gewirkt hatte – die wahre Illuminati. Mit jenem freimaurerischen Geheimorden, der in aller Welt in künstlicher Heimlichkeit auftrat, hatten die Brüder von Monte Cargano nicht mehr gemein als den Namen. Diese Gesellschaft hatte sich erst im 18. Jahrhundert gegründet – nachdem der Klosterorden sich dem Vatikan offenbart hatte, weil man dort durch einen unglücklichen Zufall auf die Existenz der Bruderschaft und Monte Carganos aufmerksam geworden war. Irgendwie mußte dann der Name »durchgesickert« sein, und jemand hatte sich das Mysterium darum zunutze gemacht, um seinerseits einen Geheimbund ins Leben zu rufen. Seither hielt die Bruderschaft Kontakt zur geistlichen Obrigkeit der Welt – und richtete sich nach deren Willen. Scheinbar … Salvat konnte nicht leugnen, daß ihm seine gelegentlichen Besuche in Rom eine gewisse – nun, Freude bereiteten. Denn im Grunde tat er damit nichts anderes, als jene vorzuführen, die da meinten, die
Fäden der wahren Macht in Händen zu halten – zu seinem ganz persönlichen Vergnügen, um sich über ihre vermeintliche Bedeutung und nur selbstgesetzte Wichtigkeit zu amüsieren … Wenn sie wüßten, mit wem sie es in der Illuminati wirklich zu tun haben, dachte Salvat, sie würden nichts unversucht lassen, den Orden auszulöschen. Obwohl ihnen bekannt ist, worauf unsere Bruderschaft hier achtgibt und was zu verhindern ihre Aufgabe ist … Unvermittelt fühlte Salvat sich aus seinen Gedanken gerissen, als das Mädchen, deren Hand er an seinem Arm führte, plötzlich stehenblieb. Er wandte ihr den Blick zu und stellte fest, daß sich der Eindruck ihrer Zerbrechlichkeit verstärkt hatte. Fast so, als würde sie sich – auflösen … »Was ist?« fragte er, ruhig, obgleich er sehr wohl wußte, was sie innehalten ließ. Er konnte es ja selbst spüren, wenn auch nur vage und längst nicht in jenem Maße, in dem es sie treffen mußte. Für sie mußte das Unbehagen, das die Nähe der Para-Träumer in ihm auslöste, einer Sturmwoge gleichkommen, die sie fast von den Füßen riß. »Dieser Ort«, begann das Mädchen, »ist nicht für mich geschaffen.« Aber du bist für diesen Ort geschaffen, erwiderte Salvat, wenn auch nur in Gedanken. Laut sagte er: »Du darfst nicht zögern. Ich bin bei dir, nichts wird dir geschehen.« Er log, und sie wußte es. So wie sie wußte, daß sie vielleicht nur geboren worden war, um diesen Weg bis zu seinem Ende zu gehen, das auch ihr eigenes Ende bedeuten würde … Aber etwas zu wissen und etwas wissentlich zu tun, waren zwei verschiedene Dinge. Und ihr Zögern machte sie für Salvat auf eine Weise menschlich, die ihm Schmerz verursachte. Und Zweifel weckte an der Richtigkeit dessen, was er im Begriff war zu tun … Mit einem unnötig heftigen Ruck setzte er sich in Bewegung, ihre
Hand an seinem Arm haltend und mit sich zerrend. Ihre Hand … Sie … Warum nannte er sie nicht einmal in Gedanken mehr bei ihrem Namen? Morphea … Seit langem war sie schon bei ihnen, hatte sie geschlafen im Fels unter Monte Cargano – geschlafen und geträumt. Einer der Gesandten, deren Mission es war, außergewöhnliche Talente in aller Welt zu suchen, war einst in Griechenland auf das Mädchen aufmerksam geworden – oder vielmehr auf den Umstand, daß sie nicht zu altern schien und in der Folge in ihrer Heimat als »Hexe« verrufen gewesen war. Ihre außergewöhnliche Gabe hatte der Gesandte erst danach entdeckt. Eine Gabe, die in ihren Träumen bestand – darin, daß sie Macht darüber hatte. Ihre Träume konnten Wirklichkeit werden, und sie selbst konnte die Träume anderer aufsuchen, als wären sie Wirklichkeit. Stets war sie daraus zurückgekehrt, unversehrt und ewig jung. Aber sie wußte, daß dies anders sein würde, wenn sie auch nur einmal einen Alptraum »betrat« … Der Gesandte hatte sie mit sich genommen und nach Monte Cargano gebracht. Ob ihre Gabe der Illuminati zum Nutzen und Vorteil gereichen würde, hatte zu jener Zeit niemand gewußt. Viele außergewöhnliche Talente hatte man im Laufe langer Jahre gewissermaßen »gesammelt«, allein der Möglichkeit wegen, daß man ihrer Hilfe irgendwann einmal bedürfen könnte. Die allerwenigsten indes würde man wirklich brauchen. Morphea war eine von ihnen … Ob Morphea ihr wirklicher Name war, wußte Salvat nicht. In jedem Fall paßte er zu ihr. Und womöglich war sie ja tatsächlich ein Abkömmling desjenigen, den die Griechen als Gott des Traumes verehrt hatten … Wer vermochte das schon zu sagen? Derjenige, der es zu sagen gewußt hätte, sprach schon lange nicht mehr zu Salvat …
Mit jedem Schritt, den sie der Kammer näherkamen, wuchs Morpheas Widerstreben. Bis Salvat schließlich nichts anderes mehr blieb, als das Mädchen förmlich mit sich zu schleifen. Erst als sie unmittelbar vor der Tür anlangten, erlosch ihr Widerstand – so unvermittelt, daß Salvat einen Moment lang fürchtete, sie könnte … Ruckartig wandte er den Blick. Nein, durchfuhr es ihn, das darf nicht sein! Nicht jetzt, so kurz vor dem Ziel …! Seine Befürchtung war unbegründet, und die keimende Panik verging so rasch, wie sie aufgeflammt war. Morphea hing zwar reglos in seinem Griff, doch der Glanz ihrer Augen und das vage Beben ihrer gläsernen Züge verrieten ihm, daß sie sehr wohl noch am Leben war. Noch … Salvat schluckte den bitteren Geschmack, der seinen Mund plötzlich füllte, hinab, ohne ihn dadurch völlig vertreiben zu können. Mit der einen Hand das Mädchen haltend, klemmte er sich den Gehstock unter den Arm, um mit der freien Hand die Riegel der Bohlentür zurückzuziehen. Dann stieß er sie auf- und das Klagen der vielleicht bedauernswertesten Kreaturen dieser Welt brandete ihnen mit der Gewalt eines Orkans entgegen! Morphea krümmte sich darunter, und auch Salvat hatte Mühe, nicht kurzerhand zurückzuweichen wie unter einem tatsächlichen Sturmwind. Es lag nicht an der plötzlich ungedämpften Lautstärke der Wehlaute; was sie mit der Gewalt von Hammerschlägen traf, waren vielmehr der Schmerz und das Leid, die dem Chor innewohnten – und die sie beide nun empfanden, als wären es ihre eigenen. Um wieviel schlimmer mußte es da sein, wenn es die eigenen Empfindungen waren? Und welches Grauen mußte solchen Gefühlen zugrundeliegen …? Sie würden es erfahren. Bald schon …
»Komm«, sagte Salvat nur und trat ein. Morpheas Blick flehte ihn an, ihr das nicht anzutun. Er konnte ihren Blick spüren, wenngleich er es vermied, das Mädchen anzusehen. Doch ihre Lippen blieben stumm, versiegelt von einem Entsetzen, an dem sie bisher nur teilhatte – und das trotzdem schon jetzt genügte, ihren Geist zu geißeln. Die Kammer der Träumer war weit mehr als nur eine »Kammer« – von fast domartigen Ausmaßen war sie, und die Felsendecke verschwand in der Finsternis hoch oben. Nur ein paar aufragende Steinsäulen verrieten, daß dort in unsichtbarer Höhe etwas war, das sie stützten. Kerzen tauchten den Raum in lebendig scheinendes Licht, schufen Bewegung, wo keine war – und ließen die Gesichter der Träumer aussehen, als kröche etwas unter ihrer Haut einher. Wie die Schläfer in jenem Raum, aus dem Salvat das Mädchen geholt hatte, lagen auch die Para-Träumer auf steinernen Liegestätten. Doch im Gegensatz zu den anderen ruhten sie nicht still und friedlich; die Träumer wanden sich unruhig und stöhnend und schreiend auf dem Fels. Ihre Kleider waren längst zerrissen; blutige Striemen und verkrustete Schürfwunden zeugten von wochenlangem Hinund Herwälzen auf dem rauhen Grund. Die Zahl der Träumer war im Zwielicht kaum zu überschauen, aber das Echo ihres aus Qual geborenen Klagens ließ diese Zahl weit größer scheinen, als sie tatsächlich sein mochte. Salvat führte Morphea tiefer in den Raum hinein. Dabei beobachtete er das Mädchen sehr aufmerksam. Er sah, daß sie sich duckte, als ginge sie unter einer unsichtbaren, aber tiefhängenden Decke, der sie immer wieder mehr als nur ängstliche Blicke zusandte. Als sähe sie etwas, das den Augen anderer verwehrt blieb. Aber Salvat konnte zumindest spüren, was Morphea sah. Und es schien ihm intensiver denn je zuvor. Als wäre ein Teil der Visionen der Para-Träumer schon fast greifbare Wirklichkeit geworden. Die Zeit drängte. Mehr noch, als er es befürchtet hatte …
Etwa in der Mitte des Raumes blieb Salvat stehen. Seine Finger legten sich unter Morpheas zartes Kinn und hoben ihr Gesicht eine Winzigkeit an, so daß ihre Blicke einander begegneten. Und er wußte, daß er den Ausdruck ihrer gläsern wirkenden Augen nie vergessen würde. Vielleicht war diese Bürde ein Teil des Preises, den er zu zahlen hatte – für ein ewigkeitslanges Leben und für jene, deren Leben er im Laufe des eigenen opfern mußte … Salvat fragte das Mädchen nicht, ob es bereit sei. Er wollte sie weder zur Lüge zwingen, noch wollte er die Wahrheit hören. So sagte er nur: »Tu es!« Morphea nickte nicht einmal. Am ganzen Leib bebend wie in ärgster Kälte, richtete sie den Blick weiter nach oben, hob die Hände und vollführte eine Bewegung, als teilte sie etwas. Diesen Anschein erweckte ihre Geste zumindest für Salvat. Doch die Worte beschrieben nur in sehr vereinfachter Weise, was das Mädchen wirklich tat. Und vielleicht hätte es der teilenden Bewegung nicht einmal bedurft, vielleicht war sie einzig dazu gedacht, Salvat zu veranschaulichen, was Morphea bewirkte. Sie schuf – ein Tor. Einen Riß in der Wirklichkeit, der hinüberführte in andere, in geträumte Wirklichkeiten. Ein Schlund tat sich auf wie das Maul eines Ungeheuers, das Angst und Schrecken atmete. Sinneszermürbende Emotionen, wie kein Mensch sie sich ausmalen konnte, brachen daraus hervor, ergossen sich über das Mädchen und den Großmeister der Illuminati. Dann, als wenigstens Salvat längst um die Unversehrtheit seines Geistes fürchtete, kehrte sich die Wirkung um. Ein mörderischer Sog entstand, der alles wieder in sich hineinschlürfte und wie mit unsichtbaren Händen an ihnen zerrte. Morphea gab ihm nach, erfüllt einzig von dem Wunsch, es möge endlich vorüber sein. Sie tauchte ein in den Schlund … … während Salvat zögerte; nur einen winzigen Moment lang, der
aber doch um Haaresbreite genügt hätte. Alles wäre umsonst gewesen, das Opfer vergebens, wenn er nicht im allerletzten Augenblick noch die Hand ausgestreckt und Morphea berührt hätte! So aber nahm sie ihn mit auf die Reise. Ins Reich der Träume. In eine Welt, in der Chaos herrschte und regierte. Und in der Tod erstrebenswerter war denn Leben …
* »Ich spüre den Tod«, sagte der alte Mann. »Fürchte dich nicht«, erwiderte der Junge. Der Blick des alten Mannes kehrte zurück aus der Leere. Giuseppe Mazzano mochte etwas darin gesehen haben, was jedem anderen verwehrt bleiben mußte. Denn es gab niemanden, der die Erinnerungen, denen er sich hingegeben hatte, mit ihm teilte. Niemanden mehr, seit Livia tot war. Gestorben an Altersschwäche – in der Blüte ihres Lebens … Giuseppe fand nichts Seltsames daran. Er dachte nicht einmal wirklich über die Umstände von Livias Tod nach. Seine Gedanken verliefen nur noch auf vorgeschriebenen Bahnen, und alles schien ihm normal; manches Mal zwar unwirklich, aber normal. Auch die Tatsache, daß wenige Wochen genügt hatten, seinen kräftigen Leib zu dem eines Greises zu machen, wunderte ihn nicht. Er nahm es hin, und damit ließ er es gut sein. Er wußte, daß der Tod seiner harrte, und er akzeptierte es. Nun, vielleicht gab es in diesem Punkt sogar eine Ausnahme. Insgeheim begrüßte er den Schnitter. Denn er würde nicht seinem Leben ein Ende setzen, sondern dem, was daraus geworden war … Der Gedanke verging, als löschte ihn eine Hand von einer Tafel … »Nein, ich fürchte mich nicht«, sagte Giuseppe Mazzano, während sein Blick über das Gehöft wanderte, das er hier, am Fuße der
Abruzzen, mit seiner Frau bewirtschaftet hatte. Der Ertrag hatte zum eigenen Leben gereicht, und daneben hatten sie »in denen da oben« zuverlässige Abnehmer gehabt. Mazzano sah auf zu den Gipfeln. Seine trüb gewordenen Augen hatten Mühe, jenen Ort auszumachen, an dem die Bruderschaft sich niedergelassen hatte. Er wußte nichts über das Kloster, das wie der steinerne Horst eines monströsen Adlers dicht unterhalb des Berggipfels aus dem Fels ragte und oft in den Wolken verschwand. Ebensowenig wußte er, welchen Dingen der Orden jenseits der Mauern dort nachging. Es hatte ihn nie interessiert, so wie es auch seine Vorfahren nicht interessiert hatte, die das Kloster zu ihrer Zeit mit Feldfrüchten und Obst beliefert hatten. Zwischen den Mazzanos und der Bruderschaft schien über die Generationen etwas wie eine Symbiose bestanden zu haben – die Bauern versorgten die Mönche mit Nahrung, und im Gegenzug schienen ihre Gebete dafür zu sorgen, daß jede Ernte im nötigen Maße gedieh. Ihre Gebete, oder was immer sie dort oben taten … Doch diese Verbindung würde bald ein Ende finden. Giuseppe Mazzano wußte, daß jede Stunde seine letzte sein konnte, und er und Livia hatten keine Nachkommen gehabt, die fortan den Hof bewohnen und die Felder bestellen würden. Und der Junge … Nun, er war jung, zu jung. Und er war nicht sein Sohn, trotzdem er Giuseppe ans Herz gewachsen war – aber eben nicht in der Art eines eigenen Kindes, sondern vielmehr wie etwas, das sich vom Herzen anderer nährte … »Ich heiße den Tod willkommen wie einen Freund«, fuhr Giuseppe Mazzano schließlich fort, ohne den Knaben anzusehen. Sein Blick ging über den Hof, der sich in den vergangenen Wochen verändert hatte wie alles andere. Oh, der Mazzano-Hof war nie ein besonders ansehnlicher gewesen; schlicht war er gewesen und nicht im geringsten modern – aber
gepflegt, ordentlich, sauber und aufgeräumt. Heute bot sich Giuseppe ein gänzlich anderes Bild. Hätte er nicht gewußt, daß dies sein Hof war, er hätte ihn für einen fremden gehalten. Das Anwesen erweckte den Anschein, als würde es seit langer Zeit nicht mehr bewirtschaftet, ja, nicht einmal mehr bewohnt. Dürres Pflanzenwerk rankte sich um Gerätschaften, Haus und Stallungen, und ein Gestank nach Moder und Verfall hing über allem. Die wenigen Tiere im Stall hatten seit langem keinen Taut mehr von sich gegeben … Der Tod war eingekehrt auf dem Mazzano-Hof, und er hatte alles an sich gerissen. Und nun griff er auch nach Giuseppe, der sich nichts mehr wünschte, als daß er jene kalte Hand endlich zu spüren bekäme, damit sie ihn nahm und forttrug aus diesem Leben, das keines mehr war. Einzig die Sorge um den Jungen hielt ihn davon ab, sich dem Sensenmann ganz und gar freiwillig zu stellen … »Was wird aus dir, wenn ich nicht mehr bin?« fragte der alte Mann. Nun endlich wandte er doch den Kopf und sah hinab auf den dunklen Lockenschopf des Knaben. Der hob seinerseits den Blick und sah Giuseppe an, aus blauen Augen, die ihm jedesmal aufs neue wie stille Seen vorkamen, in denen nichts als Unschuld war. Stille Wasser sind tief, ging es dem Alten durch den Sinn, zusammenhangslos, wie ihm schien, und so vergaß er den Gedanken wieder. Der Junge lächelte seltsam, wissend. »Sorge dich nicht um mich, Vater«, antwortete er dann. »Mein Weg ist mir vorbestimmt, und er wird mich an mein Ziel führen, ganz gleich, was um mich her geschieht.« »Dein Ziel?« echote Giuseppe. »Was ist dein Ziel? Willst du es mir verraten?« Der Junge schwieg und wandte sich ab. Doch sein Blick richtete
sich wie zufällig himmelwärts, dorthin, wo hinter Wolken verborgen seit Ewigkeiten ein Geheimnis ruhte … Giuseppe dachte nicht darüber nach. Statt dessen fiel ihm ein, daß er ja nicht einmal den Anfang jenes Weges, von dem der Knabe gesprochen hatte, kannte. Wie aus dem Nichts war der Junge auf dem Hof aufgetaucht – und wie selbstverständlich bei ihnen geblieben. Und zur gleichen Zeit hatte es begonnen, war alles anders geworden … Welch ein Zufall … Der Gedanke zwängte sich schmerzhaft in Giuseppes Denken. Ein leises Stöhnen entrang sich seiner mager gewordenen Brust, doch eine Bewegung neben ihm lenkte ihn ab von dem plötzlichen Schmerz. Gabriel – diesen Namen hatte der Knabe als den seinen genannt – erhob sich von dem Stein, auf dem er gesessen hatte, und trat vor den Mann hin, der ihn wie ein Vater aufgenommen hatte. Fest sah er ihm in die aschgrauen Augen, deren Iris vom Alter fast gelb wie Eiter geworden war. »Was ist?« fragte Giuseppe verwundert. »Ich möchte mich verabschieden«, sagte Gabriel. »Verabschieden?« Der Junge nickte. Dann schloß er die kleinen Arme um den Nacken des alten Mannes und drückte sich gegen ihn. »Weil du sterben wirst«, sagte der Junge. »Ja, schon«, begann Giuseppe, »aber …« »Jetzt!« behauptete Gabriel. Sein Gesicht rutschte an der faltigen Wange des Alten entlang, noch einmal begegneten sich ihre Blicke, und dann berührten die Lippen des Jungen Giuseppes Mund. Ungerührt beobachtete Gabriel wie das letzte bißchen Glanz in den Augen Giuseppe Mazzanos verlosch, während er den Atem des unter seinen Küssen altgewordenen Mannes trank und ihm damit sein Leben vollends nahm, nachdem er all die Zeit, die er nun schon
hier zubrachte, nur davon gezehrt hatte. Jetzt aber war die Zeit gekommen, da er es nicht länger aufsparen mußte und es sich zur Gänze nehmen durfte. Denn endlich war die Zeit reif, da er demjenigen den Weg hierher weisen durfte, von dessen Energie Gabriel sich wahre Wunderdinge versprach. Er hatte das Potential dieser Kraft selbst in der Vision gespürt – und es war überwältigend gewesen! Überwältigender fast noch, als es ihm in Erinnerung war … Denn dem Jungen war, als würde er den anderen schon seit langer, seit sehr langer Zeit kennen. Obgleich es doch unmöglich sein konnte, denn er war vor wenigen Monaten erst geboren worden von einer jungfräulichen Nonne namens Mariah …* Nun, auch dieses Geheimnis würde nicht mehr lange eines bleiben … … denn was an Lebenskraft in jenem »Fremden« mit der häßlichen Narbe im Gesicht war, würde ihm, Gabriel, reichen, um zu genügender Reife zu gelangen. Dann endlich würde in ihm schlummerndes Wissen erwachen und Kräfte entfalten, die ihn zu tun befähigten, weswegen er an diesen Ort gekommen war. Wieder wanderte der Blick des Knaben die felsige Flanke des Berges hinauf … Selbst im Sterben noch um Jahre gealtert, sank Giuseppe Mazzano tot um und schlug knirschend zu Boden. Gabriel hatte sich längst abgewandt, während die Züge seines Gesichtes sich kaum merklich veränderten, ein kleines bißchen »reiften«. Er sah nun in jene Richtung, aus welcher der Fremde kommen mußte. Er bereitete ihm den Weg, nachdem er ihn lange in die Irre geführt hatte, weil andere Dinge erst noch zu besorgen gewesen waren, und legte ihm endlich die richtige Spur. Der Wind würde sie ihm einflüstern und den rechten Weg weisen. In den Tod. *siehe VAMPIRA T03: »Die Auserwählte«
* Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte zehn Hörner und sieben Häupter … Offenbarung, Kap 13, Vers 1 Obgleich sein Fuß nicht wirklich den Boden berührte und nichts von allem um ihn her von wirklicher Substanz war, wünschte Salvat sich nichts sehnlicher, als die Augen schließen zu können und nie mehr öffnen zu müssen. Aber wie alles ringsum war auch er in diesen endlosen Momenten nur Vision, reiner Geist – der auf ewig besudelt und befleckt sein würde, wenn er dieser Hölle auf Erden je entkam. Wenn er ihr entkam … Denn obwohl Salvat wußte, daß nichts um ihn herum wirklich war, so spürte er doch mit einer Deutlichkeit, die des Körperlichen nicht bedurfte, daß der Odem, der alles hier tränkte, längst auch nach ihm griff, ihn vergiftete und zu einem Teil dieser Unwirklichkeit werden ließ. Jeder Augenblick, den er zu lange hier verweilte, konnte ihm eine Rückkehr unmöglich machen. Um so wichtiger war es, die Zeit zu nutzen, alles aufzunehmen, was es zu sehen gab, um es hernach zu deuten und danach zu handeln. Im allerersten Augenblick sah er in eine Welt, die öd und leer war – doch der Eindruck währte nur für die Dauer dieses Augenblicks. Dann wurde offenbar, daß es eine zerstörte, eine verwüstete Welt war. Und Salvat hatte das Empfinden, sie zu einem viel größeren Teil übersehen zu können, als es normal gewesen wäre. Fast meinte er, diese ganze Welt mit einem Blick zu erfassen … Und es war nicht irgendeine Welt, sondern die Erde selbst, deren
Antlitz ein Krieg verwüstet hatte, der alle bisherigen in den Schatten stellte. Alles Leben, wie es aus der Schöpfung hervorgegangen war, war getilgt worden. Anderes war an seine Stelle getreten. Leben, wie es in der Verdammnis gedieh. Die Hölle selbst schien ausgespien zu haben, was sich an ihrem tiefsten Grund in ewigem Leid und Schmerz gewunden hatte. Kreaturen und Dinge, die sich jeder Beschreibung entzogen, krochen überall umher, brüllend und tobend – und doch nur mitleiderregend, weil sie den Ort ihrer bisherigen Verdammnis hatten eintauschen müssen gegen jenen, an dem sie einst gelebt hatten – und doch noch immer nur Verdammte waren … Das Bild wandelte sich mit jeder noch so winzigen Veränderung der Blickrichtung. Salvat sah sich nicht in der Lage, die Eindrücke, die sich einer Sturmflut gleich in seinen Geist ergossen, zu verarbeiten. Mitunter vermochte er sie nicht einmal voneinander zu trennen oder auch nur richtig zu erkennen. Es würde später einer langen Phase der Meditation brauchen, um die Szenen zu ordnen und wirklich zu sehen, was sie bedeuteten. Salvat sah … … das Sterben eines ganzen Volkes. Der Tod war über jene gekommen, die seit Anbeginn der Zeit die geheimen Herrscher über die Menschen gewesen waren. Jetzt aber vergingen sie – und ihr Verschwinden hinterließ eine Lücke im Machtgefüge. Brachte Licht und Dunkel, Gut und Böse aus dem Gleichgewicht. Salvat sah … … die Geburt eines Kindes. Das Szenario allein verhieß, daß etwas Besonderes daran war – denn die Geburt geschah in einem Nonnenstift, fern von Monte Cargano. Salvat sah … … einen Knaben, schön und unschuldig, wie Menschen (und nur sie) sich einen Engel vorstellten. Er unternahm eine weite Reise und hinterließ eine Spur aus Tod und Ödnis. Und er hatte ein Ziel, war
ihm schon nahe. Salvat sah … … ein widderköpfiges Wesen, in dessen Augen das Böse einer ganzen Welt Platz gefunden hatte. Es schien ihm realer als alles andere, als wäre sein Platz hier in den Träumen und nicht in der Wirklichkeit außerhalb der Visionen. Salvat sah … … eine Frau, deren Schönheit selbst ihn im ersten Moment nicht unberührt ließ. Nachtschwarzes Haar umwehte ein rassiges Gesicht, dessen Blässe nicht ungesund, sondern nur anmutig und anziehend wirkte. Nicht einmal die elfenbeinfarbenen Dornen, die unter ihrer Oberlippe hervorstachen, konnten daran etwas ändern … Plötzlich aber liefen schwarze Schlieren über ihren herrlichen Leib, als badete sie in – schwarzem Blut? Und dann verging auch ihr eigentümlicher Zauber. Salvat krümmte sich selbst im Geiste vor Schmerz und Zorn zugleich. Seine Stimme war von der Gewalt eines Donnerschlags, der die Träume um ihn her erbeben ließ. »Verdammte!« schrie er, vor Wut und Haß wie von Sinnen. Mit unsichtbarer Faust schwang er sein monströses Schwert. Die Klinge stand in lohenden Flammen. Brüllend und fauchend fraß sie sich Bahn … … doch Salvat schlug nicht zu. Zwar vergingen sein Haß und Zorn nicht, doch ihnen wurde Einhalt geboten, als führen sie gegen eine Mauer, die ihnen kurz vor jenem Punkt erwuchs, an dem sie sich entladen mußten. Etwas anderes erreichte statt ihrer jenen Punkt, der Salvats Tun und Denken kontrollierte. Wissen, wie von fremder Hand hineingesät. Wissen, das ihm zwar nicht das wahre Wesen dieses Weibes offenbarte, das ihm aber verriet, daß sie nicht gegen ihn stand. Mehr noch – daß sie vielleicht alsbald nicht unbedingt seine einzige, wohl aber
seine wichtigste Verbündete sein könnte. Allein das Verständnis für dieses Wissen fehlte Salvat. Denn wie konnte das angehen? Wie, in Gottes Namen, konnte sie seine Verbündete sein? Sie – die Mörderin seines eigenen Sohnes!
* Die Fledermaus ritt mit ausgebreiteten Schwingen wie auf den Wogen eines schwarzen Ozeans, nicht mehr als ein Schatten in der Nacht. Und doch barg dieser kleine Leib die Hoffnung eines ganzen Volkes in sich und trug sie dorthin, wo sie sich erfüllen sollte – erfüllen mußte! Irgendwann, als Landru schon fürchtete, die Spur würde ihn noch über die Gipfel der Abruzzen hinwegführen, verlor der Wind an Macht, wurde zum Lüftchen, das den Vampir nur mehr noch voranwehte, um ihn schließlich ganz aus seinem Strom zu entlassen. Landru transformierte in menschliche Gestalt, noch bevor er den Boden erreichte. In vieltausendmal vollzogener Bewegung kam er auf und verharrte, starr und schweigend, nur lauschend und seine Umgebung sondierend. Sie unterschied sich nicht sehr von jener Gegend, in der er aufgebrochen war zu seiner Reise auf dem Wind. Allenfalls war sie noch eine Spur kärglicher. Der Boden unter seinen Füßen und ringsum schien noch weniger ertragreich, und das Gehöft, das er in einiger Entfernung fast so mühelos wie bei Tage ausmachte, noch ärmlicher. Selbst über die Distanz nahm Landru die dort herrschende Verlassenheit wahr, und der davon rührende Geruch nach Verfall und Alter reichte bis zu ihm her. Dennoch machte der Vampir sich auf den Weg dorthin. Denn zum einen gab es weit und breit nichts, wo das Kind sonst Unterschlupf gefunden haben konnte, und zum anderen war die Spur hier noch nicht zu Ende. Sie führte geradewegs zu den geduckt am Fuße des
Berges stehenden Gebäuden hin. Landru vermochte sie zu sehen; seinen Sinnen war es, als zeichneten sich die Abdrücke fremder Schritte wie glühend am Boden ab. Jenseits des nur noch in Fragmenten vorhandenen Zaunes, der sich um das einsame Gehöft zog, verschwanden sie jedoch – oder wenigstens ließen sie sich nicht mehr deutlich erkennen. Sie verliefen kreuz und quer durcheinander. Aber immerhin entfernten sie sich nicht. Landru wertete das als positives Zeichen. Denn es bedeutete, daß das Kind noch hier war, irgendwo auf dem Hof versteckt. Er blieb stehen und fragte sich, wie er weiter vorgehen sollte. Einfach nach dem Kind rufen, so wie die Menschen ihre Kinder zum Essen heimriefen? Das schien ihm – nun, nicht angebracht. Immerhin handelte es sich hier nicht um irgendein Kind. Und Landru wußte nicht, wie es reagieren würde, wenn man ihm auf solch respektlose Weise gegenübertrat. Nicht, daß er das Kind fürchtete – aber wenn es war, wofür er es hielt, dann durfte ihre Beziehung nicht auf solch banale und unwürdige Weise ihren Anfang nehmen. Nur – wie sollte er es anfangen? Und wichtiger noch schien ihm mit einemmal eine andere Frage: War sich das Kind seiner Rolle, seiner Bedeutung überhaupt bewußt? Oder würde es ihm, Landru, zufallen, es auf seine große Aufgabe vorzubereiten, es zu führen und anzuleiten? War dies vielleicht überhaupt der Grund, aus dem es ihn hierher gezogen hatte? Der einstige Hüter konnte es drehen und wenden, wie er wollte – es stellten sich ihm nur Fragen, die neue nach sich zogen. Antworten indes würde er erst finden, wenn er auch das Kind gefunden hatte. Also ging er weiter. Sein nachtsichtiger Blick schweifte bald hierhin, bald dorthin, und überall fand er bestätigt, was er schon von weitem angenommen hatte: Der Hof war verlassen. Die landwirtschaftlichen Geräte, die samt und sonders aus dem vorigen Jahrhundert zu stammen schie-
nen, wurden offenbar seit einem Menschenalter nicht mehr benutzt. Die Dächer des Wohnhauses und der kleinen Ställe waren teilweise eingesunken und löchrig … … und doch empfand Landru etwas als störend an allem Offensichtlichen. Irgend etwas schien ihm nicht so, wie es hätte sein sollen. Vage keimte der Gedanke in ihm, die Verfallserscheinungen um ihn her hätten etwas – nun, Künstliches. Als wären sie nicht das Werk langer Jahre und Jahrzehnte, sondern – arrangiert … Er wußte nicht, worauf sein Verdacht sich gründete. Und vielleicht war es auch nicht wirklich von Bedeutung. Aber es war ihm zumindest ein Zeichen dafür, daß hier etwas nicht mit rechten Dingen zugehen mochte. Ein Zeichen dafür also auch, daß er am rechten Ort war … Etwa in der Mitte des totenstill daliegenden Hofes blieb der Vampir stehen. Scheinbar starr wie eine Statue, streckte er doch seine Fühler aus. Er ließ seine Macht, die jene »normalsterblicher« Vampire von jeher weit übertroffen hatte, fließen. Wie die Wellen, die ein ins Wasser geworfener Stein verursacht, lief sie in alle Richtungen, reflektierte jedes Hindernis, ob aus Stein oder woraus auch immer, und schuf so in Landrus Geist ein umfassendes Bild seiner Umgebung, das ihm auch zeigte, was außerhalb seines eigentlichen Gesichtsfeldes lag. Da! Landru hatte Mühe, ein Zucken zu unterdrücken. Das Abbild eines Körpers erschien vor seinem inneren Auge, ohne detaillierte Konturen zwar, aber zweifelsohne von menschlicher Gestalt. Er war reglos – wie tot …! Landru ortete ihn. Er lag hinter dem kleinen und baufällig gewordenen Wohnhaus. Eilends lief er hin – und gestattete sich ein erleichtertes Aufatmen. Es handelte sich nicht um das Kind, wie er insgeheim befürchtet hatte. Statt dessen sah er hinab auf den Leichnam eines Mannes, der
ein wahrhaft biblisches Alter erreicht haben mußte, und der Tod mußte ihm eine Erlösung gewesen sein. Denn das Leben in einem solcherart ausgemergelten Körper konnte nur die Hölle gewesen sein. Natürlich empfand Landru kein Mitleid. Er traf nur eine Feststellung, kalt und nüchtern. Aber das Gefühl von vorhin schlich sich wieder ein – wie schon beim Betreten des Gehöfts, so hatte er auch jetzt den letztlich nicht faßbaren Eindruck, als wäre das Alter dieses Mannes nicht wirklich, nicht echt … »Er war mir ein Vater.« Dieses Mal zuckte Landru zusammen! Als hätte jemand den Namen des Verhaßten genannt, so hastig fuhr der Vampir herum, und er hatte Mühe, sein augenblicklich in Zorn umschlagendes Erschrecken zu bezähmen. Der sich ihm bietende Anblick ließ ihn jedoch alle Wut vergessen. Einen zeitlosen Moment lang hatte Landru das Gefühl, sie wären allein auf der Welt. Er – und das Kind. Der Junge hatte sich völlig lautlos genähert. Jetzt sah er stumm zu Landru auf, sein Gesicht vor Blässe fast leuchtend in der Nacht, die Augen dunkel vor – Trauer? Nur für die Dauer des Gedankens verspürte Landru die Versuchung, kraft seines Geistes hinter diese Augen zu sehen, um zu erkunden, was sich dort verbergen mochte. Aber er widerstand und verbat sich schließlich den bloßen Wunsch, es zu tun. Wenn das Kind der Messias der Alten Rasse war, durfte er ihm nicht mit solchem Mißtrauen begegnen. Er durfte sich keinen Zweifel erlauben, nicht ungläubig sein … Der Hüter suchte nach Worten und sagte schließlich: »War er dein Vater?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein. Aber er half mir zu werden, was ich bin.« »Und wer bist du?« fragte Landru nun doch, ohne allerdings die
leiseste Spur eines Zweifels in seine Stimme zu legen. Seine Frage klang nur, als suchte er damit eine Bestätigung dessen, was er schon wußte. »Gabriel«, erwiderte der Knabe lediglich. »Gabriel …«, wiederholte der Vampir leise und lauschte, ob der Name irgend etwas in ihm auslöste, vielleicht an altem Wissen rührte. Doch es geschah nichts derartiges. Er spürte den Blick des Jungen auf sich und wandte sich ihm wieder zu. »Möchtest du …«, setzte Gabriel an, zaghaft und dann zögernd, wie es schien. »Ja?« forderte Landru ihn auf weiterzusprechen. »… mein Vater werden?« vollendete der Junge seine Frage. Um die Lippen des Hüters legte sich ein Lächeln, von dem niemand, der ihn kannte, auch nur angenommen hätte, daß er dazu fähig wäre. Als genieße er es selbst, ließ er sich mit der Antwort Zeit. Dann sagte er: »Ja, das möchte ich. Sehr gern sogar.« Und der träge Schlag seines dunklen Herzens ging ein klein wenig schneller.
* Denn es ist gekommen der große Tag ihres Zorns, und wer kann bestehen? Offenbarung, Kap 6, Vers 17 Der Anblick der von schwarzem Blut besudelten Frau verging nicht wie alle anderen, die wie die immer neuen Bilder eines Kaleidoskops auf Salvat einstürmten. Und die unverhoffte »Begegnung« mit ihr stürzte Salvat für Momente in tiefste Verwirrung – lange genug, um seinen Geist fast spürbar bis zum Bersten anzufüllen mit Ein-
drücken, die einander in Grauen und Rätselhaftigkeit stets zu übertreffen trachteten. Nicht mehr lange, erkannte Salvat, und das Gefäß seines Geistes würde zerbrechen unter dem immensen Druck! Gar nicht mehr lange …! Jetzt! Salvat spürte etwas wie den Stich einer glühenden Nadel inmitten seines Schädels. Sengender Schmerz fraß sich, Blitzen gleich verästelnd, durch seinen ganzen Körper. Er brüllte, bäumte sich auf, mobilisierte allen Widerstand, alle Energie, die im Wahnsinn zu vergehen drohte. Kraft seines Willens schuf er Schilde um sein Innerstes, an denen der Ansturm des Irrsinns abprallte. Sein Geist focht einen ebenso verzweifelten wie mörderischen Kampf gegen das Fremde, das ihn und alles in ihm verzehren wollte. Salvat gewann die Schlacht. Dieses Mal. Ein zweites Mal würde selbst er nicht die Kraft dazu aufbringen können. Denn sie war nicht einfach nur übermenschlich, sie war von überirdischer Qualität gewesen … »Raus hier!« Salvat merkte erst, daß sein Gedanke laut geworden war, als ihm die eigenen Worte wie Donner in den Ohren dröhnten. Der Druck an seinem Arm, den er bisher kaum wahrgenommen hatte, weil ihn die gewaltigen Eindrücke und Empfindungen blind und taub für alles andere gemacht hatten, nahm ein klein wenig zu. Ein Laut ging damit einher, der ihn auf furchtbare Weise an das erinnerte, was eben noch nach ihm gegriffen hatte. Wahnsinn … Ein gespenstisches Kichern drang an Salvats Ohr. Zum ersten Mal, seit er mit ihr die Visionen der Para-Träumer »betreten« hatte, widmete er seine Aufmerksamkeit Morphea.
»Zu spät. Viel zu spät …« Ihre Worte erreichten ihn, eingewoben in ein irrsinniges Kichern. Wahnsinn lachte hinter ihren gläsernen Zügen. Ihre Miene selbst indes verzerrte sich, wurde erst zu einem Spiegel all des Grauens, das um sie her war, und dann eine Maske des Hasses, wie er Salvat nie zuvor entgegengeschlagen war. Obwohl es, weiß Gott, genug Menschen gegeben hatte und gab, die ihn gehaßt hatten und haßten … Morphea, das zarte, so zerbrechlich wirkende Mädchen, verwandelte sich in eine Furie. Geifernd und brüllend vor Haß und Zorn warf sie sich Salvat entgegen. Alles, was er ihr angetan hatte, verlieh ihr Kraft und Macht. Hastig, als könnte er das Unausweichliche damit verhindern, wich Salvat zurück, ließ Morphea ins Leere laufen. Doch es war nur ein unbedeutender Aufschub, der nichts anderes bewirkte, als ihre Qual zu verlängern. Und eine Sekunde im Griff des Wahnsinns mußte ihr wie eine Ewigkeit erscheinen. Salvat blieb nur eines, um sich ihrer zu erwehren – und um ihr zu helfen: Er mußte es beenden … Mit beiden Fäusten diesmal riß er das mächtige Schwert empor. Augenblicklich leckten Feuerzungen daran entlang, zeichneten die bizarre Form der Klinge nach. Hoch schwang Salvat die Waffe über den Kopf, und fauchend fuhr sie nieder, als sich Morphea von neuem auf ihn stürzte. Im allerletzten Moment versuchte Salvat sich die Illusion zu verschaffen, es wäre sie, die er da erschlug – sie, die Mörderin seines Sohnes. Aber das machte die Tat nicht leichter. Denn es war Morpheas brechender Blick, der sich tief in seine Seele fraß, um sich bis ans Ende aller Zeit dort festzusetzen. Dann zersplitterte ihr Körper. Wie Glas, aus dem er bestanden zu haben schien. Myriaden glitzernder Splitter stoben in alle Richtungen. Der Anblick erinnerte Salvat an den, der sich ihm in der Kammer
der Schläfer geboten hatte, als Morphea noch dort geträumt hatte. Nur war das Glimmen, das sie im Sterben auslöste, ungleich stärker. Das grell weiße Flimmern wehte über die ganze Traumwelt, senkte sich und vernichtete, was es berührte. So brachte Morpheas Tod nicht nur ihr selbst Erlösung. Er bereitete auch den Qualen derer ein Ende, in deren Visionen sie und Salvat eingedrungen waren. Salvat wußte nicht, ob es vonnöten war. Aber es zu tun, gewissermaßen sein Scherflein zur Erlösung der Para-Träumer beizutragen, mochte ihm Erleichterung verschaffen. Als könnte er damit wenigstens einen kleinen Teil seiner Schuld an all dem Leid abtragen, das er über so viele gebracht hatte. Er streifte die Kutte ab – und entfachte einen Sturm, der Morpheas Traumkräfte selbst in die verborgensten Winkel der Visionen trug. Diese Welt, die nur eine mögliche gewesen war, verging. Salvat stürzte zurück in jene, deren Wächter er war und die doch bald schon das Abbild jener sein konnte, aus der er zurückkehrte – am Ende seiner Kraft und einen Anblick bietend, der niemanden zu der Vermutung verleitet hätte, daß ihm hier ein Weltenretter zu Füßen lag … Auch Lilith Eden kam nicht auf diesen Gedanken. Nicht einmal im Traum …
* Wie von einem unsichtbaren Berg aus konnte Lilith Eden zu dem verkrümmt auf dem Rücken liegenden Mann hinabschauen, während dieser Berg unter ihren Füßen zu wachsen schien, rasend schnell. Immer höher trug er sie hinauf in finstere Leere, so daß der Mann immer kleiner wurde und schließlich vollends ihren Blicken entschwand. Um sie her war – nichts mehr. Die fremde Welt, deren Antlitz sich
mit jedem Blick verändert hatte und doch immer grauenhaft geblieben war, war vergangen. In einem Sturm, der mit keinem vergleichbar war, den sie bislang erlebt hatte – in der Wirklichkeit. Ihm hatte die Macht eines zürnenden Gottes innegewohnt, und diese Kraft hatte genügt, eine Welt nicht einfach nur zu verheeren, sondern auszulöschen. Der Mann, dem Lilith in dieser Welt begegnet war und der sie mit einem flammenden Schwert hatte erschlagen wollen, ehe irgend etwas ihn davon abgehalten hatte, stand zweifelsfrei mit jenem Sturm in Zusammenhang. Er selbst schien ihn entfacht zu haben, als er … mit … Lilith suchte in ihren Gedanken nach dem zugehörigen Bild, doch sie fand es nicht. Es war verschwunden, als hätte der Sturm es mit allem anderen ringsum ausgelöscht. Oder als wollte etwas oder jemand nicht, daß sie sich daran erinnerte … Trotz all des Grauens, das um sie gewesen war, verspürte Lilith kein wirkliches Entsetzen, kein tiefgehendes zumindest. Denn sie wußte, daß es nichts anderes war als Teil eines Traumes. Eines Traumes, der nun vergangen war – und der nicht ihr eigener gewesen war. Nicht nur jedenfalls. Ganz kurz nur überlegte Lilith, ob es vielleicht eine neue Laune des Schicksals sein mochte, sie fortwährend in fremde Träume einzuschleusen. Denn erst in der vorigen Nacht hatte sie etwas Ähnliches schon einmal erlebt. Sie war gefangen gewesen in einem Traum, der sich zwar ihrer ureigensten Erinnerungen bedient hatte, den aber eine fremde Kraft manipuliert hatte. Nur mit der Hilfe Hidden Moons war es ihr letztlich gelungen, daraus zu entkommen.* Sie und der Arapaho-Vampir, der seit kurzem ihr Begleiter und ein bißchen mehr war, hatten Stunden damit zugebracht, über dieses Erlebnis zu reden, und in dem Versuch, es zu ergründen. Befriedigende Antworten indes hatten sie nicht gefunden. Nur eines schien klar: Jemand oder etwas hatte Lilith in diesem Traum festsetzen *siehe VAMPIRA T15: »Die zweite Wirklichkeit«
wollen, wohl mit dem Ziel, sie aus dem Weg zu haben. Das Motiv dahinter blieb ihnen jedoch schleierhaft. Erschöpft von den letztlich fruchtlosen Diskussionen war Lilith später in tiefen Schlaf gesunken – und wieder in eine bizarre Traumwelt geraten, in der nichts wirklich und auf schwer zu beschreibende Weise doch möglich schien. Schließlich war Lilith jenem kuttentragenden Mann begegnet, und sie hatte ihn wiedererkannt. Schon einmal hatte sie ihn gesehen, aber auch damals nur wie in einer flüchtigen Vision. Als das seltsame Kind sie in eine Alptraumwelt versetzt hatte, in der Vampire die Herrschaft ganz offen an sich gerissen hatten, und Raphael Baldacci, der geheimnisvolle Gesandte, sie durch seinen Tod daraus gerettet hatte, war Lilith auf dem »Rückweg« in die Wirklichkeit ganz kurz auf diesen Mann getroffen.* Sie erinnerte sich an sein markantes Gesicht, das von tiefen Linien durchzogen war, umrahmt von silberdurchwirktem dunklem Haar. Vor allem aber die Augen waren es, die sie nie vergessen hatte. Schon damals hatte ein düsterer Funke darin geglommen, und bei ihrem neuerlichen Zusammentreffen war nun ein unheilvolles Glühen daraus geworden, das nur Ausdruck eines einzigen Gefühls sein konnte – Haß! Aber warum sollte der Fremde sie hassen? Was hätte sie ihm antun können, wo sie einander doch nie wirklich begegnet waren …? Irgend etwas hatte ihn jedenfalls von seinem Vorhaben, sie mit dem flammenden Schwert anzugehen, abgebracht. Statt dessen hatte er ein seltsames Wesen erschlagen, das Lilith wie aus milchigem Glas bestehend vorgekommen war. Und dann hatte der Fremde die Kutte abgelegt und … irgend etwas getan … Wieder vermochte sich die Halbvampirin nicht daran zu erinnern. Die imaginäre Welt um sie herum war in jedem Fall verschwunden, und der Fremde war gestürzt, als der Boden sich unter ihm buchstäblich aufgelöst hatte. Hart war er schließlich auf felsigem *siehe VAMPIRA T08: »Im Bann des Kindes«
Untergrund aufgeschlagen und reglos liegengeblieben, während Lilith sich fortgehoben fühlte. Immer tiefer hinein in ein lichtloses – Vakuum? Sie merkte, wie ihr die Luft knapp wurde. Gierig wollte sie den Atem einsaugen, doch es war nichts Atembares mehr um sie her! Panik wallte in der Halbvampirin auf, ihr Denken drohte unterzugehen in dunklen Wogen, während die Angst vor dem Ersticken immer mächtiger und schließlich nahezu alles beherrschend wurde. Nur für einen Gedanken blieb noch Raum: Was kann ich tun? Es gab eine Rettung. Sie schien so einfach, und doch forderte ihre Umsetzung Lilith gewaltige Anstrengung ab. Es kam ihr vor, als müßte sie Tonnengewichte stemmen, allein mit der Kraft ihres Willens bewegen. Schweiß lief in Strömen über ihre bleiche Haut. Und schweißgebadet brachte sie es endlich fertig, die Augen zu öffnen und … … aufzuwachen! Ruckartig setzte Lilith sich auf, den Mund weit geöffnet, keuchend wie eine fast Ertrunkene. Ihr Körper war klamm und klebrig vor feuchter Kälte. Nur allmählich verebbten die schwarzen Schlieren, die einen irren Tanz vor ihren Augen zu vollführen schienen. Stück um Stück klärte sich ihr Blick für die schlichte Einrichtung der tief in den Wäldern der Cedar Buttes gelegenen Blockhütte, in der sie die Nacht zugebracht hatten. Sie spürte etwas Warmes, das wie streichelnd über ihre Haut fuhr, ohne sie tatsächlich zu berühren. Blicke, voll von Zärtlichkeit – und Sorge. »Was ist geschehen?« hörte sie die Stimme Hidden Moons. »Ich … habe schlecht geträumt«, erwiderte sie, während sie sich zu ihm umdrehte. Der Arapaho mit dem nachtschwarzen Haar lag neben ihr auf dem Lager aus Fellen, auf einen Arm gestützt und die Augen dunkel von Sorge.
»War es wieder …?« begann er, ohne den Satz zu vollenden. Lilith wußte, daß er eine Wiederholung jenes Traumes befürchtete, aus dem er sie vor kurzem erst gerade noch hatte retten können. »Nein«, sagte sie beruhigend, wenn auch noch immer bebend. »Es war anders. Ich war Teil … fremder Visionen. Und ich sah Dinge, die mir vertraut schienen. Ich … kann es nicht besser erklären.« Hidden Moon rückte näher zu ihr und legte den Arm um sie. Wie schutzsuchend lehnte sie sich an den indianischen Vampir, dessen Sippe sich anders entwickelt hatte als alle anderen. Sie hatten in den Menschen nicht Opfer gesehen, sondern in friedlicher Symbiose mit ihnen gelebt – nehmend und gebend. Dank ihres Oberhauptes Makootemane widerstanden sie sogar dem »Zorn Gottes«. Doch der Stamm hatte sich in alle Winde zerstreut, und seither war Hidden Moon Liliths Begleiter. Ein ganz besonderes Band bestand zwischen ihnen. Der Arapaho konnte ohne Lilith nicht mehr sein – im wörtlichen Sinne. War sie nicht an seiner Seite, baute sich das Böse in Hidden Moon auf, bis er den dunklen Trieben nachgab, denen er so lange entsagt hatte … »Irgend etwas Merkwürdiges geschieht mit dir«, meinte der Vampir. »Etwas greift nach dir, vielleicht um sich deiner zu bedienen. Du scheinst Teil eines Plans zu sein, der für uns im dunkeln liegt.« »Möglicherweise …«, entgegnete Lilith und erzählte ausführlicher, was in jenem Traum geschehen war. »Du bist diesem Mann also schon zum zweiten Mal begegnet«, sagte Hidden Moon. »Vielleicht ist er der Schlüssel zu allen Geheimnissen.« »Aber wie soll ich das herausfinden?« fragte Lilith. »Ich weiß weder seinen Namen, noch wo ich ihn suchen sollte.« Leise Verzweiflung glomm in ihren grünen Augen, als sie den Arapaho ansah. Hidden Moon lächelte geheimnisvoll und wissend in einem. »Es gibt nur einen Ort, an dem wir ihn suchen können.« »Und wo wäre das?«
»In deinen Träumen«, sagte Hidden Moon.
* Salvat schlug die Augen auf und empfand, was Menschen sich unter himmlischer Ruhe vorstellen mochten. Als er sich umschaute, änderte sich sein persönlicher Eindruck. Was um ihn her war, war einzig – Totenstille … Er war an jenen Ort zurückgekehrt, an dem seine imaginäre Reise mit Morphea begonnen hatte: in die Kammer der Para-Träumer. Doch ihr Schreien und Stöhnen war verstummt. Auf ewig. Salvat hatte ihnen die Träume genommen. Und Ruhe geschenkt. Erlösung … Es fiel ihm nicht ganz leicht, diese Interpretation des Geschehens zu akzeptieren. Ebenso hätte er nämlich gelten lassen müssen, daß er den Träumern den Tod beschert hatte, indem er ihre Visionen vernichtete. Reglos lagen sie ringsum auf den felsigen Blöcken, und als Salvat den Blick über sie schweifen ließ, erkannte er hier und da ein Lächeln auf den starren Gesichtern, friedlich und selig. Als hätten sie nach all dem Grauen etwas Wunderschönes gesehen im Augenblick des Todes. Und vielleicht würde es ihnen bleiben. Bis in alle Ewigkeit. »Friede sei mit euch«, flüsterte Salvat, ehe er seine Kutte überzog und auf seinen Gehstock gestützt die zur Gruft gewordene Kammer verließ. Von draußen versiegelte er die Tür auf eine Weise, daß sie nie mehr geöffnet werden konnte. Niemand sollte die wohlverdiente Ruhe dieser Toten stören, die in so kurzer Zeit mehr Schrecken gesehen und durchlitten hatten als jeder andere Mensch in seinem ganzen Leben. Auf seinem Weg durch die Gänge und Stollen unterhalb des Klosters fand Salvat dann endlich Gelegenheit, über jene Frau nachzusin-
nen, die in der Traumwelt aufgetaucht war. Er war ihr nie wirklich begegnet. Sie war ihm nur einmal erschienen, einer Vision gleich – unmittelbar nachdem er den Todesschrei seines Sohnes gehört hatte! Wie aus dem Nichts war sie für einen einzigen Augenblick drunten vor dem Heiligtum, dem Tor, erschienen. Und im gleichen Moment hatte Salvat gespürt, daß der junge Gesandte Raphael Baldacci gestorben war. Er wußte nicht, wie, aber das Erscheinen der Fremden war ihm Zeichen genug, daß sie dafür verantwortlich war. Sie war es auch gewesen, die Raphael zu suchen ausgezogen war. Er hatte es bitter gebüßt. Salvat hatte der Schwarzhaarigen damals den Tod geschworen, wenn er sie irgendwann fände. Nun hatte er vielleicht die Möglichkeit gehabt, sein Versprechen einzulösen – und es nicht getan. Nur – warum nicht? Weil er aus unerklärlichen Gründen plötzlich zu wissen gemeint hatte, sie könnte ihm eine Hilfe sein bei der schweren Aufgabe, die ihm bevorstand. Woher dieses Wissen rührte, konnte Salvat nicht ergründen. Ebensowenig wie er sich vorstellen konnte, in welcher Weise ihm die Fremde eine Unterstützung sein könnte. All dies konnte er erst erfahren, wenn er die wichtigste Antwort von allen fehlenden gefunden hatte – die Antwort nämlich auf die Frage: Wer war diese Frau? Zweifelsohne stand sie in irgendeinem Zusammenhang mit den furchtbaren Dingen, die ihre Schatten vorauswarfen. Denn sie war auch schon aufgetaucht, als die Bruderschaft die Rätsel der ParaTräume auf andere Weise zu ergründen versucht hatte. Die Schwarzhaarige war auf Bildern zu sehen gewesen, die nach den »Traumprotokollen« angefertigt worden waren. Ihre Rolle indes war mysteriös geblieben und auch ein klein wenig untergegangen in all den anderen Eindrücken, welche die Maler und Zeichner hatten verarbeiten müssen. Salvat näherte sich jener Kammer, in der er die nötige Ruhe finden
würde, um sämtliche Eindrücke, die auf ihn eingestürmt waren, zu ordnen und zu interpretieren. Und einen Teil der Zeit, die er dort zuzubringen gedachte, würde er gewiß dem Rätsel widmen, das ihm die schwarzhaarige Schönheit aufgab. Zuvor jedoch machte Salvat noch einmal Halt vor jener Kammer, aus der er Morphea geholt hatte. Diesmal trat er jedoch nicht ein und beschränkte sich auf einen Blick durch die Luke in der Tür. Die bleichen Gestalten, deren Haut nie ein wirklicher Sonnenstrahl berührt hatte, ruhten nach wie vor auf den steinernen Lagern, still und friedlich, schlafend und träumend. Ein Bild des Friedens. Doch Salvat spürte die vage Veränderung, die jenseits der Tür unsichtbar vonstatten ging. Einzig das Glimmen in der Luft verriet, daß etwas vorging: Es war merklich schwächer geworden, so daß es nur noch aussah, als schwirrten weißstrahlende und nur punktgroße Insekten umher. Und ihre Zahl sank weiter. Wenn das Flirren vollends verlosch … Salvat wußte, was dann geschehen würde, und er konnte nur hoffen, daß sich alles fügen würde. Der Große Plan enthielt noch genügend unbekannte oder wenigstens doch unwägbare Faktoren, die alle ihre Bemühungen scheitern lassen konnten. Neben allem anderen würden sie auch eines brauchen zum Erfolg: Glück – oder das, was manche »Gotteshilfe« nannten. Salvat verließ sich auf das Glück … Er schloß die Luke und strebte seiner stillen Kammer zu. Im Licht der einzelnen Kerze dort ließ er sich zu Boden sinken, nachdem er wieder die Kutte abgelegt hatte. Starr und schweigend hockte er dann mit untergeschlagenen Beinen da, die Hände auf den Knien, die Augen fast geschlossen. Immer ruhiger ging sein Atem, bis nicht nur sein Leib, sondern auch sein Denken völlig entspannt war. Nichts, was um ihn her geschehen wäre, hätte ihn jetzt noch berührt. Er saß da wie von aller Welt abgeschirmt –
– durch zwei mächtige Schwingen …
* … ein Traum ist unser Leben auf Erden hier. Johann Gottfried Herder Diese Welt war vollkommen, doch Simon wußte es nicht. Denn er hatte nie erfahren, was Arg oder gar Böses wäre. Wie auch seine Brüder, elf an der Zahl, es nie erfahren hatten. Worte wie diese und alles, was mit ihnen war, existierten nicht für sie. Sie lebten in einer Welt, die man anderswo – und doch nur einen Traum entfernt – Paradies oder Garten Eden geheißen hätte. Es mangelte ihnen an nichts, und ihre Tage bestanden allein darin, sich des Lebens zu freuen und einander wohlgesonnen zu sein. Alles in ihrer Welt wuchs und gedieh, ohne daß es ihres Zutuns bedurft hätte, und die Luft war wie Balsam. Es gab keine Dunkelheit, noch nicht einmal Schatten, in denen sich etwas hätte verbergen können. Das Glimmen war allgegenwärtig und brachte Licht auch dorthin, wo das des Himmels über ihnen nicht hinreichte. Doch dann geschah es, daß jenes Flirren nachließ. Kaum merklich zwar, aber durch seine bislang so stete Präsenz fiel es Simon dennoch auf. Er ging hin zu einem seiner Brüder und fragte ihn, den sie Thaddäus hießen: »Habe ich mich getäuscht, oder hast auch du es bemerkt?« Thaddäus nickte. »Ja. Etwas wird anders.« »Was mag es zu bedeuten haben?« fragte Simon. Allein die Tatsache, etwas hinterfragen zu müssen, beunruhigte ihn – wenn er das Wort gekannt hätte … »Ich weiß es nicht«, antwortete Thaddäus. »Aber … vielleicht endet unsere Ewigkeit und mit ihr unsere Welt …«
»Was soll dann geschehen?« entfuhr es Simon. »Vielleicht steht der Tag unserer Bestimmung bevor«, sagte Thaddäus leise. »Du meinst …?« Wieder nickte Thaddäus. Simon fröstelte. Die Bestimmung … Weder er noch einer seiner Brüder hatten je davon gesprochen, obschon das Wissen darum in ihnen allen war. Indem aber nie die Rede davon gewesen war, schien der letztendliche Zweck ihres Daseins bei jedem in Vergessenheit geraten zu sein. Vielleicht war es ein Fehler gewesen. Vielleicht hätten sie öfter daran denken sollen. Denn nun, da das fast Vergessene mit Macht heraufbeschworen wurde, erzitterte Simon darunter. Mit bebenden Lippen sprach er aus, was die Worte seines Bruders meinten: »Der Tag also, an dem wir erwachen …« Landru wußte nicht, wann er zum letzten Mal ein Gefühl solch tiefer Ehrfurcht und Befriedigung empfunden hatte. Vielleicht noch nie … Nicht einmal das Gefühl, als er den Lilienkelch nach 269 Jahren wieder in Händen gehalten hatte, schien ihm vergleichbar mit dem, das die Gegenwart des Kindes in ihm auslöste. Ihre Begegnung konnte der Beginn eines Ereignisses sein, das die Welt verändern mochte. Und er, Landru, würde Teil dieses Prozesses sein, vielleicht sogar der bestimmende, der lenkende, der letztlich triumphierende Teil. Denn nichts deutete bislang darauf hin, daß der Knabe sich seiner Bedeutung bewußt war. Vielleicht, überlegte Landru nicht ohne Stolz, war es ja so, daß das Kind ihm an die Hand gegeben wurde – als Mittel zum Zweck gewissermaßen. Womöglich war er selbst es, dem die große Aufgabe zuteil wurde, die Alte Rasse in gewissem Sinne neu zu erschaffen, das Kind nur solange nutzend, bis es vollbracht war …
»Woran denkst du?« fragte Gabriel, der ihm in der Stube des Bauernhauses bislang schweigend gegenübergesessen hatte, scheinbar selbst in Gedanken versunken. Landru sah auf und drängte alle Nachdenklichkeit aus seinen Zügen. Er lächelte, wenn auch nicht mehr ganz in der Art eines Vaters, sondern eher verschlagen, wie es ihm im Grunde eigen war. »Mich würde vielmehr interessieren, woran du denkst«, erwiderte er. Das hätte er in der Tat gerne gewußt. Bislang hatte Gabriel mit keinem Wort bestätigt, was Landru in ihm sah. Doch er zögerte noch immer, sich dieses Wissen kraft seiner geistigen Macht anzueignen. »An mein Ziel«, sagte der Junge da endlich. »Dein Ziel?« Gabriel nickte. »Wie sieht es aus, dein Ziel?« fragte Landru, seine Unruhe mühsam bezwingend. »Worin besteht es?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte der Junge im Tonfall kindlicher Unbedarftheit. »Weißt du denn irgend etwas darüber?« hakte der Vampir weiter nach. »Nur, daß es von großer Bedeutung ist.« »Von großer Bedeutung für wen?« »Für …«, Gabriel zögerte einen Moment wie überlegend, als müßte er die notwendige Information erst mühevoll suchen, dann: »… uns.« Etwas wie ein Leuchten schien über Landrus stets düstere Miene zu huschen. »Für uns?« echote er und fragte dann wie beiläufig: »Wer ist uns?« »Ich.« Gabriel lächelte, und Landru fragte sich, woher der stille Triumph in diesem Lächeln rührte. »Das … verstehe ich nicht ganz«, meinte er dann. Der Junge zuckte die Schultern. »Das mußt du ja auch nicht.«
»Ich würde dir aber gerne helfen«, erklärte Landru. »Hast du mich nicht gebeten, dein Vater zu sein? Väter helfen ihren Söhnen nun einmal.« »Du wirst mir helfen«, gab sich der Knabe überzeugt. »Sehr sogar. Denn ohne dich könnte ich mein Ziel nicht erreichen.« Landru spürte, wie ihm sein schwarzes Blut ein klein wenig schneller durch die Adern kroch. Das Gespräch schien in die richtige Richtung zu laufen, auf Umwegen zwar, aber immerhin gelangten sie allmählich näher an den Kern der Sache. Vielleicht war es an diesem Punkt ihres Dialogs ja noch zu früh, aber Landru konnte die entscheidende Frage kaum mehr zurückhalten. »Das heißt, wir werden es gemeinsam angehen?« stellte er dann doch noch eine andere. »Du wirst mich – nun, hinbringen, so könnte man es nennen«, sagte Gabriel. »Dazu muß ich aber den Weg kennen«, wandte der einstige Hüter ein. »Das ist nicht nötig«, behauptete der Junge. Es hatte kaum Momente im Leben Landrus gegeben, da er um Worte verlegen gewesen wäre. Jetzt aber war er es. Die Kehle wurde ihm trocken, die Zunge schwer. Seine Lippen bewegten sich zunächst stumm, bis er endlich die Frage stellte, die ihn mehr als alles andere beschäftigte. »Gabriel«, setzte er an, »bist du der, für den ich dich halte?« Der Junge sah nachdenklich zu dem Vampir hin. »Für wen hältst du mich denn?« »Für den, der unser Volk erneuern wird!« entgegnete Landru voller ungezügelter Leidenschaft. »Für den, der sich dem Niedergang der Alten Rasse entgegenstellt! Der ihre Macht zu frischer, zu nie gekannter Blüte führen wird!« Gabriel begegnete Landrus erwartungsvollem Blick mit Schwei-
gen. »Ich halte dich«, fuhr der Hüter fort, nun in fast sachlichem, ruhigem Ton, »für den Messias der Vampire.« Der Junge sagte eine ganze Weile nichts, als müßte er Landrus Worte auf sich wirken lassen. Dann stahl sich ein feines Lächeln auf seine schmalen Lippen. »Aus welchem Grund glaubst du, daß ich der bin, für den du mich hältst?« »Weil alles darauf hindeutet«, erwiderte Landru, und in seinen Augen gloste ein Feuer, das unzweifelhaft Fanatismus schürte. »Die Zeit ist reif für das Erscheinen eines Erlösers, und ich habe die Zeichen gesehen.« »Zeichen welcher Art?« »Du weißt, wovon ich spreche«, sagte der Vampir. »Ich habe dich beobachtet durch den Kelch, und ich bin sicher, daß auch du mich gesehen hast. Das bedeutet nichts anderes, als daß wir einander begegnen sollten.« Die merkwürdige Scheu, die Landru bislang verspürt und die ihn gehemmt hatte, all das zu sagen, was die Situation seiner Meinung nach verlangte, war von ihm abgefallen wie eine alte Haut. Er fühlte sich stark und voller Eifer, beseelt von einer Kraft, die allein von der Präsenz des Kindes herzurühren schien. »Ich habe gesehen, wie du Tinto, das Sippenoberhaupt von Rom, getötet hast«, sprach er weiter, »und mir wurde alles klar. Die Blutväter der Familien wurden von der Seuche verschont, damit du dich von ihren nähren kannst. Ihre Kraft geht auf dich über, und du wirst sie nutzen für die Neugeburt eines ganzen Volkes.« Gabriel nickte langsam. »Ja, ich nutze die Kraft«, bekannte er. »Sie weckt, was in mir schlummert, Stück um Stück. Und bald schon wird alles in mir dem Schlaf des Vergessens entrissen sein, wird meine Kraft die Potenz derer sein, die ich zu mir genommen habe. Bald …«
Etwas im Gesicht des Jungen irritierte Landru für einen flüchtigen Moment. Dann war es vorüber. Die Gewißheit, daß das Schicksal sich nach seinem Wunsch wenden würde, ließ ihn kaum etwas anderes wahrnehmen. Er lachte düster, als er an jene dachte, die ihn in all den Jahren verlacht hatten, da er als Hüter schon nach einem besonderen Kind Ausschau gehalten hatte, das der Messias der Alten Rasse sein konnte. Nie war er fündig geworden, und irgendwann hatte auch er die Suche aufgegeben. Doch ganz und gar vergessen hatte er die Prophezeiung nie. Zu Recht, wie sich nun bewies. Oh, er würde dem Jungen helfen, sich an der Kraft all jener zu laben, die sein Ansinnen vor langer Zeit als Hirngespinst eines Verzweifelten abgetan hatten. Und er selbst, Landru, würde es sein, der ihnen letztlich den Hals brach! Vergessen war der Kodex, der da besagte, daß kein Vampir einen anderen töten durfte. Eine neue Zeit brach an – eine Zeit, in der er, Landru, die Regeln schrieb! »Laß uns aufbrechen«, sagte er schließlich. »Aufbrechen?« fragte Gabriel. »Wohin?« »Zu jenen, deren Kraft du dir nehmen sollst«, antwortete der Hüter konsterniert. »Ich führe dich zu ihnen. Wir sollten keine Zeit verlieren.« »Nein, das sollten wir nicht …«, meinte der Junge lahm. Landru sah ihn auffordernd an und erhob sich. Gabriel folgte seinem Beispiel. Der Vampir ging voran zur Tür, die leisen Schritte des Jungen hinter sich hörend. Bis sie plötzlich verstummten. Landru wandte sich um, doch er vollendete die Drehung nie. Etwas traf ihn in der Bewegung und stieß ihn zu Boden, mit der Kraft und Gewalt eines angreifenden Tieres. Trotzdem waren es kleine Hände, die im Liegen nach seinem Gesicht tasteten, ein kleiner Körper, der sich über den seinen schob. »Was soll das?« preßte Landru hervor, mehr überrascht denn
wirklich erschrocken. Eine kleine Faust raste in sein Blickfeld, und sie hielt etwas Dunkles, Großes – – und Hartes, wie er im nächsten Moment feststellte, als das »Etwas« seine Schläfe traf und dort zu explodieren schien! Ehe die Schwärze um ihn herum selbst für seine Augen undurchdringlich wurde, hörte er noch Gabriels Stimme wie aus immer größer werdender Ferne: »Schlafe, mein Vater – und träume süß …«
* »Was hast du vor?« Verunsicherung klang aus Liliths Stimme. Wie Hidden Moon es sie geheißen hatte, lag sie ausgestreckt auf dem Fellager. Er selbst saß neben ihr, während er seine Finger immer wieder in kleine Tiegel tauchte, um dann undeutbare Zeichen auf ihre Haut zu malen. Dazu hatte sie ihrem Mimikrykleid befehlen müssen, sich zurückzuziehen, so daß sie nun nackt bis auf ein schwarzes Band um die Hüften dalag. Unter anderen Umständen hätte sie diese Tatsache ebenso genossen wie die sanften Berührungen des Arapaho. Er hatte in der Zeit, die sie nun schon zusammen verbrachten, bewiesen, daß er phantasievoll war, was Liebesdinge anbetraf, und der Akt als solcher mit seinem Höhepunkt war ihm nicht immer das Wichtigste. Manches Mal hatten sie beide tiefste Befriedigung erlangt, ohne wirklich miteinander geschlafen zu haben. Jetzt aber war Lilith nur unangenehm, was Hidden Moon mit ihr tat. Die düstere Ernsthaftigkeit seiner Miene und die gemurmelten fremdartigen Worte, die nicht einmal sie verstand, obgleich sie sich in jeder Sprache dieser Welt verständigen konnte, taten ein Übriges, um die Situation unheimlich werden zu lassen.
»Nicht reden. Vertrau mir«, flüsterte der Vampir, und für den Moment schien er mit zwei Zungen zu sprechen. Denn das Murmeln verstummte nicht, während er zu ihr sprach. Im Grunde wußte Lilith ja, was Hidden Moon versuchte. Er wollte eine neuerliche Begegnung mit dem Fremden »heraufbeschwören« – oder zumindest erkunden, was sie vielleicht insgeheim von ihm wußte, ohne daß es ihr selbst bewußt gewesen wäre. Wie er dieses Ziel jedoch erreichen wollte, hatte er Lilith nicht näher erklärt. In deinen Träumen … Obwohl sie den Arapaho nun schon eine Weile kannte, war er für Lilith noch immer ein Mysterium. Sie wußte nur wenig über seine Macht und Möglichkeiten. Er hatte ihr nur erzählt, daß er der Lieblingssohn Makootemanes gewesen war. Der alte Arapaho war schon vor der Kelchtaufe, die ihn im Jahre 1688 zum Vampir gemacht hatte, mit Dingen vertraut gewesen, die ein Weißer und auch viele seines eigenen Volkes sich nie hätten vorstellen können. Die Vampirwerdung mußte ihm dann den eigenen Horizont noch erweitert haben. Magie war ein nur unzureichendes Wort für das, wozu Makootemane vor seinem endgültigen Tod fähig gewesen war. Lilith selbst hatte ja einen Bruchteil davon aus eigener Anschauung erfahren, und schon dieses Wenige war mehr als nur unglaublich gewesen … Einen Teil seines Wissens hatte Makootemane mit Wyando, wie Hidden Moon unter den Arapaho hieß, geteilt. Um ihn alles zu lehren, dazu hätte vielleicht nicht einmal das beinahe ewige Leben eines Vampirs gereicht. Dennoch reichten die Fähigkeiten und Kenntnisse Hidden Moons, um Erstaunliches zu vollbringen, das für menschliche Begriffe an Zauberei grenzte. Beruhigt von diesen Gedanken, schenkte Lilith dem Arapaho das Vertrauen, um das er sie gebeten hatte, und ließ ihn gewähren. Sie lauschte den fremden Worten und ließ die wohlige Schwere,
die in ihre Glieder drängte, willig ein. Ihre Lider begannen zu flattern, und nach einer Weile schlug Lilith sie nicht mehr auf. Sie versank in der Ruhe, die über sie gekommen war, wurde unempfindlich für alles andere. Einzig Hidden Moons Berührungen nahm sie noch wahr, doch sie schienen sich nicht mehr auf die Oberfläche ihrer Haut zu beschränken, sondern tiefer zu dringen. Als öffneten die Symbole, die der Arapaho daraufgemalt hatte, ihren Leib, um ihn selbst einzulassen, auf daß er teilhatte an allem, was darin war. Nicht in ihrem Fleisch, sondern in dem, was Blicken unsichtbar blieb und allein mit Sinnen zu erfahren war. Lilith wußte nicht, daß ihre Gedanken Hidden Moons tatsächlichem Tun sehr nahe kamen … Der Arapaho hatte selbst längst die Augen geschlossen, sich blind und taub gemacht für alles, was sich nicht den Bewegungen seiner Finger und Hände erschloß. Alles andere war ohne Bedeutung für das, was er tat, hätte nur gestört, was auf Wegen verlief, die allein der reine Geist beschreiten konnte. Mit Farben und Pasten, die er aus Gräsern, Wurzeln und anderen Gaben der Natur gewonnen hatte, zeichnete er, stets mit mehreren Fingern zugleich unterschiedliche Bewegungen vollführend, Symbole und Worte entlang der natürlichen Linien und Formen ihres Körpers. Ein Duft stieg von Lilith auf, als wäre sie selbst Teil der Natur. Sie roch nach Erde, nach Wald und Harz, nach Sonne und Mond – und nach Weite, unendlicher Ferne … Als er das Gefühl hatte, seine Hände würden hineinreichen in diese Weite, sammelte Hidden Moon Kraft an einem einzigen Punkt tief in seinem Innersten. Er ließ diesen Punkt anschwellen unter konzentrierter Kraft, bis ein glühender Schmerz davon ausging. Dann, kurz bevor er das Gefühl hatte, der Punkt müßte explodieren, ließ er die Kraft frei. Nur einen Weg hielt er ihr geöffnet, alle anderen schottete er kraft seines Willens ab. Er spürte, wie die Energie sengend in seinen Armen entlangfuhr, bis in die Spitzen seiner Finger.
Und dort wechselte sie über in Lilith! Ein Teil seines Bewußtseins floß mit dieser Kraft hinüber in sie. Er ritt auf ihren Wogen durch Liliths Sein; suchend, ohne zu sehen; lauschend, ohne zu hören – und alles, ohne fündig zu werden. Hidden Moon war nicht enttäuscht. Er hatte nicht erwartet, schon an der Oberfläche von Liliths Sein zu finden, was er suchte. Es mußte tiefer liegen, so tief, daß die Halbvampirin selbst nicht darum wußte. Der Arapaho ließ die Energie andere Wege gehen, weiter hinab, stets darauf bedacht, diese Wege nicht zu verlassen, damit nichts von der Kraft, die ein Teil seiner Selbst war, unwiederbringlich verlorenging. Sein Tasten traf auf neue Ziele. Wenn er einen Vergleich hätte ziehen müsse, so hätte er diese Dinge vielleicht Kokons genannt, die etwas Fremdes bargen. Hidden Moon ließ seine Kraft darum fließen, eine Möglichkeit suchend, ihnen ihr Geheimnis zu entlocken, ohne sie zu zerstören. Das durfte er nicht. Der Schaden, den er damit angerichtet hätte, wäre irreparabel gewesen – und hätte Liliths Geist wenigstens verletzt, vielleicht sogar schlimmere Folgen gehabt … Der Arapaho fand keine solche Möglichkeit. Nicht, weil es keine gegeben hätte. Sondern weil ihm keine Gelegenheit blieb. Etwas – kam! Es bahnte sich Wege in Lilith, schuf Öffnungen in ihrem Sein und drang ohne Rücksicht oder auch nur Behutsamkeit ein! Hidden Moon hatte den Eindruck, als würden Dämme niedergerissen und Sturzfluten sich in Lilith ergießen. Doch zugleich zog und zerrte das Fremde auch an ihm, mit einer Gewalt, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Ihm blieb nicht die Zeit, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die fremde Kraft würde mit einem Teil seines Ich entschwinden. Er würde nicht mehr er selbst sein, wenn es geschah. Und Lilith war längst fortgesogen worden von dem gewaltigen Strom, weil sie in
ihrem momentanen Zustand nicht in der Lage war, auch nur irgendwie zu reagieren. Die tiefe Trance, in die der Arapaho sie versetzt hatte, machte sie zur willenlosen Spielpuppe der unbekannten Macht, die ihren Geist erst geflutet hatte und sich nun wieder zurückzog. Erschrocken, als hätte sie erkannt, daß sie Unheil angerichtet hatte. Aber es war längst zu spät. Hidden Moon blieb nur eines zu tun, wollte er sich selbst und damit auch Lilith retten. Er verschmolz mit dem Teil seiner Kraft, der durch Lilith geflossen war und mittlerweile unwiderstehlich hinweggezerrt wurde. Der Arapaho tauchte ganz und gar in Lilith ein, die Wege nutzend, die er geschaffen hatte. Er tat es im allerletzten Moment, bevor der Körper der Halbvampirin verschwand, buchstäblich von einem Augenblick zum anderen. Zurück blieb ein leeres Lager aus Fellen in einer leeren Blockhütte in den Zedernwäldern South Dakotas am oberen Missourilauf. Nichts zeugte davon, welche Mächte hier aufeinandergeprallt waren. Und ebenso wenig gab es ein Anzeichen dafür, daß die Entscheidung um das Schicksal der Menschheit und ihrer Welt in diesem Moment begonnen hatte.
* Salvat fand Kontakt – und schrie auf! Unter Aufbietung aller Kunst und Kraft brachte er es fertig, die eigene Trance gerade noch aufrechtzuerhalten. Die Folgen eines sofortigen Abbruchs wären unabsehbar, gewiß aber verheerend gewesen – auch für ihn selbst … Zunächst hatte Salvat sich mit der Sichtung all dessen befaßt, was in den Visionen der Para-Träumer wild auf ihn eingestürmt war. Er
hatte die verworrenen Eindrücke quasi auseinandergeklaubt und neu zusammengesetzt, so daß sie Sinn ergaben. Einen zutiefst erschütternden Sinn … Details über das Bevorstehende blieben ihm zwar verwehrt, doch was er erfuhr, war viel entsetzlicher, als er befürchtet hatte. Und es stand unmittelbarer bevor, als er geglaubt hatte. Der Zwischenfall von vor ein paar Tagen, der Bruder Elias das Leben gekostet hatte, war in der Tat ein Zeichen gewesen, das Salvat aber erst jetzt wirklich verstand. Wie auch die Vision seines toten Sohnes Raphael, der ihm gekreuzigt am Tor erschienen war, eine Warnung bedeutet hatte – eine Warnung von jenseits des Tores, die Salvat nicht recht verstanden hatte …* Dennoch – wenn er unverzüglich reagierte und den Großen Plan in Kraft treten ließ, konnte die Zeit genügen, um sich allem entgegenzustellen. Trotzdem die Zeit drängte, hatte Salvat nicht von seinem Vorhaben gelassen, auch nach ihr zu suchen – nach der schwarzhaarigen Frau, die ihm in den Träumen erschienen war, von schwarzem Blut besudelt. Salvat schöpfte aus vielen Quellen, auf die er stieß, und folgte vielen Strömen, die in andere mündeten. Und so stieß er irgendwann auf erste Hinweise, die sich schließlich zu einer Spur verdichteten. Er fand sie und drang in sie. Und traf auf eine Macht, die der seinen weder ebenbürtig noch ähnlich schien – und vor der er doch zurückschrak. Allein deshalb schon, weil er nicht wußte, woran er da rührte und welche Folgen ein längerer Kontakt haben konnte. Aber es war schon zu spät! Das Fremde vermengte sich mit jenem Teil seiner Macht, den er in Leib und Geist der Frau hatte fließen lassen. Zugleich sog der durch das Aufeinandertreffen entstehende Strudel – ein Effekt ähnlich wie *siehe VAMPIRA T13
beim Zusammenfließen von Wassern unterschiedlicher Temperatur – erst das Bewußtsein der Frau selbst mit sich, um sich schließlich auch ihres Körpers zu bemächtigen. Salvat zog seinen Machtstrom zurück, so hastig, wie man etwas Heißes fahren ließ, kaum daß man es berührt hatte. Aber er riß damit auch all das in den nichtirdischen Strom hinein, was seiner Macht anhing wie etwas Klebriges – die Schwarzhaarige und das Fremde …! Auf Wegen, die keines Menschen Sinne zu erfassen imstande waren, floß Salvats Kraft ihm wieder entgegen. Immer mächtiger wurde dieser Strom, bis er einer Sturmflut gleichkam. Salvat wußte, daß sie ihn vernichten würde, wenn sie sich in ihn ergoß. Sein Geist würde einem solchen Ansturm fremder, nicht einschätzbarer Kraft nicht gewachsen sein, nicht wenn sie ihn unvorbereitet traf. Und um ihn bereit zu machen, dazu blieb ihm keine Gelegenheit mehr. Denn all das geschah binnen einer Zeit, die allenfalls in Sekunden zu zählen war. Salvat entschied rasend schnell, wie im Reflex. Die Flut aus eigener Macht und fremder Kraft war nahe, zum Greifen gewissermaßen. Gleich mußte sie ihn treffen, sein Innerstes ertränken, seinen Geist bersten lassen … Er faßte einen Gedanken, der wie ein Schrei durch sein Bewußtsein donnerte. ABSCHOTTEN! Der Strom donnerte lautlos gegen ein imaginäres Schild, riß daran und ließ es erbeben, ohne es jedoch zu überwinden. Die Flut zerstob daran, gestoppt im allerletzten Moment. Salvat sank haltlos vornüber. Zäh und unendlich langsam sickerte ihm die eigene Macht zu. Was sie mit sich geführt hatte, stürzte jenseits der Mauern Monte Carganos haltlos in die Tiefe. Zwei Wesen, die nach kurzer Gemeinsamkeit im Leben der Tod
auf ewig vereinen wollte.
* Der Schlaf ist das Bild des Todes. Cicero Landru wußte nicht, wo er war. Aber es war nicht der Ort, an dem er … … eingeschlafen war? Erschrocken wollte er die Augen aufreißen, erwachen – doch er konnte es nicht! Weil er längst wach war? Landru konnte den Boden unter sich spüren, die Luft schmecken und sehen, was um ihn her war. Obwohl da im Grunde nichts war, das zu sehen sich lohnte. Der Vampir fand sich inmitten einer öden Wüstenei wieder, von der er wußte, daß er sie nie zuvor betreten hatte. Vielleicht, weil ihm seine Umgebung nicht ganz wirklich schien, nicht echt bis ins Detail. Mehr wie das Werk eines begnadeten Modellbauers, der aber doch nichts anderes tun konnte, als die Wirklichkeit nachzubilden anstatt sie neu zu schaffen. Der Hüter konnte sich nicht entsinnen, aufgestanden zu sein. Trotzdem stand er da. Und als nichts sich regte oder gar geschah, ging er ein paar Schritte in eine willkürliche Richtung. Völlig lautlos, obwohl der Boden unter seinen Füßen hart war! Was war passiert? Wo war er hingeraten? Und – – wo war das Kind? Die Rückkehr der eigenen Erinnerung traf ihn mit der Wucht eines Hammerschlags! Er sah sich und den Jungen in jenem verlassenen Bauernhaus sitzen, hörte sich selbst sagen, daß es an der Zeit war zu
gehen, und dann … Gabriel hatte ihn angegriffen – und niedergeschlagen! Warum? Bedurfte der junge Messias denn seiner Hilfe nicht? Oder wußte der Knabe schlicht nicht, wen er in Landru vor sich hatte? Daß er keinen besseren Mentor finden konnte als ihn? Irgend etwas lief nicht so, wie Landru es als vorbestimmt betrachtet hatte … Welches Geheimnis hütete Gabriel, worin bestand sein Ziel konkret, und auf welchem Weg wollte er dorthin gelangen? Nun, er hatte Landru schon gezeigt, daß er über Leichen ging – aber würde er auch über die seine gehen …? Landru blieb stehen und erkundete die Ödnis ringsum aus geschmälten Augen, ohne jedoch etwas zu entdecken, das ihm Gefahr oder auch nur Bedrohung signalisiert hätte. Und doch wurde er angegriffen! Die Attacke erfolgte wie aus dem Nichts, traf ihn unvorbereitet und warf ihn in den Staub. Noch im Sturz drehte sich Landru ein wenig, so daß er zu dem hinsehen konnte, der ihn angegangen hatte. Das Entsetzen lähmte selbst ihn für eine Sekunde. Denn es war kein Mensch oder Vampir, dem er sich da gegenübersah! Nicht zur Gänze jedenfalls … Lediglich von den Füßen bis zum Hals war die Gestalt menschlich. Auf den Schultern jedoch saß der gehörnte Schädel eines Tieres – eines Widders! Die Augen darin blickten starr und kalt, und doch vermeinte Landru auf ihrem Grund etwas wie Bewegung auszumachen – ein Flackern, das ihm vertraut war; er hatte es in den Augen vieler Vampire gesehen, wenn Blut zum Beißen nahe war. Es war der Ausdruck von kaum noch gebändigter Gier, und er hatte eine recht genaue Vorstellung von dem, wonach es dem Widderköpfigen ver-
langte … Das nackte Wesen, dessen Leib zu Teilen von borstigem Fell bewachsen war, sprang. Mit keiner Regung hatte es die neuerliche Attacke erahnen lassen, und so traf auch sie Landru überraschend. Das Gewicht des auf ihn stürzenden Körpers trieb ihm pfeifend den Atem aus den Lungen. Seine Rippen knirschten vernehmlich unter dem Aufprall. Schlimmer aber war der Treffer, den er im Gesicht hinnehmen mußte. Das Widderwesen drosch ihm das Gehörn mitten hinein. Haut riß, Knochen knackten. Schwarzes Blut lief Landru in die Augen und machte ihn für zwei, drei Lidschläge blind. Eine Zeit, die der andere nutzte. Der Vampir spürte die Berührung von etwas Rissigem, Hartem an seinen Lippen. Dann drängte etwas Samtrauhes darüber. Endlich sah Landru wieder – und er schaute dem Widderköpfigen direkt in die Augen, die ihm seltsam vertraut schienen … Das Monstrum – küßte ihn! Freilich ohne Leidenschaft, nur brutal und fordernd. Und es mochte auch kein tatsächlicher Kuß sein, sondern vielmehr … Landru rang nach Atem. Der Widderköpfige raubte ihm die Luft. Seine Lungen sackten zusammen wie leere Ballonhüllen, und mit dem Atem entwich dem Vampir noch mehr. Seine Kraft. Schwäche floß an ihre Stelle, und Leere kehrte ein. Der Hüter erstickte die aufwallende Panik mit einem einzigen Gedanken. Er besann sich seiner geheimen Kräfte, die ihn stets über andere erhoben hatten. Und er ließ ihnen freien Lauf! Wie von unsichtbaren Fäusten fortgezerrt, wich der Widderköpfige von ihm. Landru wollte eilends auf die Beine kommen, doch es wurde ein Taumeln daraus, das er mit gestreckten Armen ausgleichen mußte. Seine Körperkräfte hatten in der kurzen Zeit mehr gelitten, als er angenommen hatte … Gehetzt sah der Vampir sich um. Er hatte keinen Zweifel mehr: Er
befand sich in wörtlichem Sinn auf Feindesboden! Diese »Welt« war die des Widderköpfigen, seine Arena für den Kampf gegen Landru, und nur er diktierte hier die Bestimmungen. Wenn der Hüter eine Chance haben wollte, mußte er den Kampf anderswo fortsetzen, auf neutralem Terrain, in seiner Wirklichkeit. Doch wie sollte ihm die Flucht von hier gelingen? Er wußte doch nicht einmal, wie er hergelangt war … Oder doch? War er nicht schon auf dem richtigen Weg gewesen, als er versucht hatte – zu erwachen? Landru wiederholte den Versuch. Nur mobilisierte er diesmal andere Kräfte zu diesem Zweck. Sie kamen aus der finstersten Tiefe seines Ichs, lösten sich von dort wie aus zähem Schlamm. Doch einmal freigesetzt, stürzten sie sich förmlich auf seinen Geist, um ihn wie Drogen zu stimulieren. Landru brüllte auf. Donner gleich rollte sein Schrei durch diese Welt. Risse entstanden darin wie in einem Spiegel. Sie wurden zu lichtlosen Klüften, die Trümmer drifteten im Zeitlupentempo auseinander, und zwischen ihnen sah der Vampir das stückhafte Abbild des Widderköpfigen, der sich ihm von neuem entgegenwarf! Doch ehe das Wesen ihn erreichte, ging diese Nicht-Welt vollends in die Brüche, und dahinter zeigte sich – endlich! – die Welt, die Landru kannte. Er fand sich im Haus des verlassenen Gehöftes am Fuße der Abruzzen wieder. Und er war nicht allein. Das Kind war bei ihm. Das Kind? Nein, es schien ihm verändert, als wäre es gereift. Und es stand Landru in der gleichen Pose gegenüber, wie es eben noch der Widderköpfige getan hatte. Doch damit nicht genug, vollendete es auch den Angriff, den die Mischkreatur noch begonnen hatte! Dabei fand der Hüter die Antwort auf eine der Fragen, die ihn all die Zeit beschäftigt hatte. Auf jene nämlich, welcher Art und wie
groß die Macht des Kindes wohl sein mochte. Landru erfuhr es. Sie war – immens!
* Obwohl es ihm erlaubt war, die meiste Zeit des Tages am wärmsten und wohligsten Platz innerhalb der Mauern Monte Carganos zuzubringen, haßte Aleksej diesen Ort. Denn die Arbeit in der Küche war alles andere denn ein Privileg. Der junge Russe empfand seine Aufgabe manches Mal als Strafe, fast immer jedoch als Schande. Und er war überzeugt, daß seine Sichtweise der eigenen Situation nicht so falsch war, wie die anderen Brüder ihn glauben machen wollten. Alle jene Adepten der Illuminati, die sich ihrer besonderen Gabe noch nicht bewußt waren oder sich ihrer noch nicht im ausreichenden Maße bedienen konnten, wurden zu solch niederen Diensten abgestellt. Einige von ihnen durften aber wenigstens dazwischen Übungen absolvieren, um ihr verborgenes Talent, dessentwegen sie in das Kloster geholt worden waren, vollends zu erwecken. Aber Aleksej durfte sich noch nicht einmal zu jener kleinen erlesenen Schar zählen. Manchmal war er fast sicher, daß ihn der Gesandte einst nur aus einem Grund von seiner Familie fortgeholt hatte: Weil im Kloster ein Dummkopf gebraucht wurde, der die Küche in Schuß hielt und das Essen rechtzeitig auf die langen Tische im Speisesaal brachte … Insgeheim mußte sich Aleksej freilich eingestehen, daß es so nicht sein konnte. Einen Koch und Küchenburschen in Personalunion hätte die Bruderschaft wohl überall gefunden. Dazu hätte es weder der langen Reise nach Rußland bedurft, noch der aufwendigen Aktion, ihn außer Landes zu schmuggeln. Dieses Eingeständnis änderte jedoch nichts daran, daß Aleksej sich
absolut im Unklaren war, weshalb man ihn nach Monte Cargano gebracht hatte. Denn er spürte nichts in sich, das ihn den anderen Brüdern gleich oder auch nur ähnlich gemacht hätte. Er schien über keine besondere Gabe zu verfügen. Er konnte weder Dinge bewegen, ohne sie zu berühren, noch vermochte er in völliger Dunkelheit zu sehen oder Reaktionen anderer voraussagen, weil er sie in ihren Gedanken las … Der junge Bursche seufzte und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch den ohnehin schon zerzausten Blondschopf. Er schaffte es ja noch nicht einmal, die Küche wirklich in Ordnung zu halten … In dem ebenso schlicht wie zweckmäßig ausstaffierten Raum stapelten sich in einer Ecke benutzte Töpfe und schmutziges Geschirr, während die Vorratskammer fast schon gähnende Leere zeigte. Für letzteres allerdings gab Aleksej nicht sich die Schuld. Was konnte er dafür, wenn der Nachschub ausblieb? Mazzano, der Bauer, der den Hof unten am Fuße des Berges bewirtschaftete, hatte am Ersten des Monats keine Lebensmittel hochgeschickt. Bislang – und, wie Aleksej wußte, seit Generationen schon – hatte dieses Abkommen stets funktioniert. Ein Bruder ließ den Windenkorb, der zugleich die einzige Möglichkeit war, überhaupt zum Kloster zu gelangen, hinab, und der Bauer drunten füllte ihn mit Früchten, Gemüse und anderen Lebensmitteln, jeweils am ersten Tag eines Monats. Diesmal jedoch hatte Aleksej den Korb leer hochgezogen, ebenso wie die weiteren Male, da er es versucht hatte. Giuseppe Mazzano, den er nie persönlich gesehen hatte, weil er das Kloster seit seiner Ankunft hier nicht mehr verlassen hatte, hatte weder ein Zeichen gegeben noch eine Nachricht heraufgeschickt, die die Verzögerung erklärt hätte. Dennoch hatte Aleksej bisher darauf verzichtet, einen der anderen Brüder darüber zu benachrichtigen. Irgendwie hätten sie sicher ihm die Schuld daran unterschoben …
So improvisierte der junge »Koch« bei den Mahlzeiten mit den Dingen, die noch auf Lager waren, und ließ Tag um Tag den Korb hinab, um zu sehen, ob Mazzano sich nicht vielleicht doch noch rührte. Auch jetzt machte Aleksej sich wieder auf den Weg. Der Seilkorb und die Winde waren in einem kleinen Anbau untergebracht, der wie ein steinernes Geschwür aus der Klostermauer wuchs. Der Korb, der im Bedarfsfall fünf Männern Platz geboten hätte, hing über einer Bodenöffnung, unter der auf über eintausend Metern nichts lag. Sah man hinab, so ging der Blick nur an schroffer Felswand entlang. Hätte sich dort etwas bewegt, so wäre es von hier oben aus nicht zu sehen gewesen. Nun, dachte Aleksej fast wehmütig, zumindest ich würde nichts sehen. Andere Brüder, die eine Gabe ihr eigen nennen dürfen, könnten es wohl … So blieb ihm nichts anderes, als den Korb auf Verdacht hinabzulassen und eine Weile zu warten, um ihn dann wieder hochzuziehen und zu sehen, ob etwas darin war. Eine schweißtreibende Angelegenheit war das, und um so ärgerlicher, wenn er es – wie in den vergangenen Tagen – umsonst tat. Nichtsdestotrotz löste Aleksej auch heute die Arretierung der Winde und begann die Kurbel mit beiden Händen zu drehen. Unendlich langsam verschwand der Korb durch die Öffnung. Und er war noch nicht lange hindurch, da standen dem jungen Mann schon die ersten Tropfen auf der Stirn. Weitere fünfzehn Minuten später hing das Seil ein wenig durch; das Zeichen, daß der Korb unten aufgesetzt hatte. Schweratmend lehnte Aleksej sich gegen die Mauer, rutschte daran herab zu Boden und wartete, bis das Rauschen des Blutes in seinen Ohren soweit abgeklungen war, daß er wenigstens sein eigenes Keuchen wieder vernahm. Dann gab er noch etliche Minuten zu, bevor er wieder an die Winde trat. Die Kurbel zu bewegen fiel ihm nicht deshalb schwerer, weil der Korb an Gewicht zugenommen hätte. Es lag einzig daran, daß seine Armmuskeln zu versteinern
schienen, mit jeder Bewegung ein kleines bißchen mehr. Nach über einer halben Stunde schob sich der Korb durch die Luke empor. Leer … Natürlich. Aleksej fluchte in einer Art, die ihm zu Hause eine Tracht Prügel seines Väterchens eingetragen und Mütterchen in Tränen hätte ausbrechen lassen. Wut und Verzweiflung mengten sich in den Gedanken des jungen Russen zu einer gefährlichen Mischung. Sie schien wie Gift in seinem Denken zu wirken. Denn er faßte einen verbotenen Plan. Er würde selbst nach dem Rechten sehen dort unten. Und das hieß: Er würde tun, was niemandem außer den Gesandten erlaubt war – das Kloster verlassen. Einen Augenblick lang zögerte er noch, als er das Bein schon über den Rand der Öffnung streckte, um mit dem Fuß nach dem Korb zu angeln. Und dieses Zögern hätte ihn ums Haar das Leben gekostet! Aleksej verlor das Gleichgewicht – und kippte vornüber! Schon sah er sich in die Tiefe stürzen, seinen Körper wieder und wieder gegen die steile Felswand schlagen, bevor er zerschmettert unten ankam, nur noch ein formloses Etwas aus Blut, zersplitterten Knochen und zerfetztem Fleisch …! Aleksej schloß die Augen, nur um dem Tod nicht ins Angesicht sehen zu müssen. Zugleich aber streckte er wie im Reflex die Arme vor – und berührte mit den Händen die Wandung des Korbes. Seine Finger schlossen sich darum. Das eigene Gewicht zerrte schmerzhaft in seinen Schultergelenken, aber er ließ nicht los. Der Korb geriet ins Schaukeln, pendelte hin und her, schlug gegen die Kanten der Luke, und auch Aleksejs Rücken wurde dabei arg in Mitleidenschaft gezogen. Aber er hielt sich fest, stöhnend vor Schmerz, aber eisern. Ganz ruhig versuchte er zu bleiben, damit der
schwankende Korb halbwegs zur Ruhe kam. Dann versuchte er sich hochzuziehen. Womit der Korb erneut in Bewegung geriet … Irgendwann fiel Aleksej mehr über den Rand des Korbes, als daß er hineinstieg. Gerettet … Einen Moment lang wollte er nichts anderes tun, als den Korb wieder verlassen, in seine Kammer gehen und sich ausruhen, bis dieses verfluchte Zittern seiner Glieder nachließ. Aber er tat es nicht. Statt dessen trat er an die Vorrichtung, mit der man den Korb von hier aus abseilen konnte. Langsam schien das Kloster über Aleksej in die Höhe zu steigen. Er verstand selbst kaum, was er da tat. »Mich muß der Teufel reiten«, murmelte er.
* Der Geschmack des Todes ist auf meiner Zunge, ich fühle etwas, das nicht von dieser Welt ist. Letzte Worte von Wolfgang Amadeus Mozart Mit seinen Kinderfäusten schlug Gabriel nach Landru. Die Wirkung seiner Treffer war gewaltig! Sie trieben den Vampir nach hinten, und der Junge setzte nach, aufheulend vor Triumph und blanker Gier – und Zorn! Dem Traum, in den er Landru geschickt hatte, um sich dort seiner Kraft zu bemächtigen, war der Vampir entkommen. Diese Flucht stachelte Gabriels Wut an. Zugleich war sie ihm ein Zeichen dafür, daß Landrus Macht noch größer war, als er geglaubt hatte. Aber auch das Wenige, das er ihm schon davon geraubt hatte, zeigte dem Knaben, daß sich jeder Preis und jede Anstrengung lohnen würde, sie sich zur Gänze zu holen! Gabriel fühlte Stärke in sich pulsieren, unter der bislang geheimes
Wissen förmlich explodierte in den Tiefen seines Geistes. Nichts konnte ihn mehr aufhalten, niemand war ihm mehr gewachsen – das Ziel lag zum Greifen nahe, nur noch durch einen dünnen Schleier von ihm getrennt, der zerreißen würde, wenn Landru erst bar allen Lebens vor ihm lag. Gleich … Der Knabe setzte dem stürzenden Vampir nach, bereit, sich ihm entgegenzuwerfen nicht bloß mit seinem Körper, sondern mit geballter Macht. Sie würde sein Bewußtsein auslöschen und ihn gefügig machen. Dachte er … Doch etwas geschah mit dem Vampir. Er verwandelte sich – – in ein Monstrum! Fleisch und Muskeln verformten sich mit feuchtem Lauten unter seiner Haut, seine Muskeln schwollen zu stählernen Strängen. Seine Kleidung zerriß. Und sein Gesicht wurde zur Fratze, geifernd, verzerrt, ein Spiegelbild jener Bestie, die in ihm erwachte und sich seines Leibes bemächtigte. Gabriel wich zurück. Nicht aus Furcht, sondern um blitzschnell zu überlegen. Um das neue Wissen in seinem Geist zu durchforsten in Windeseile, auf der Suche nach … Ein Prankenhieb traf ihn mit mörderischer Wucht, schleuderte ihn zurück. Ein Schrank stoppte seinen unfreiwilligen Flug; klirrendes Geschirr begrub den Jungen unter sich. Hastig wühlte er sich aus den Scherben und wich dem nächsten Schlag gerade noch aus. Wie blind schlug er selbst wieder zu, traf und verschaffte sich für eine oder zwei Sekunden Luft. Genug Zeit, um aufzustehen und weiter zu suchen in seinem neuen Wissen, das doch uralt war. Und er fand, was er sich erhofft hatte! Als Landru – oder das Ding, zu dem er geworden war – sich vor
ihm erhob, die Arme ausgebreitet und seinen einzig noch aus Kraft bestehenden Leib noch weiter anwachsen ließ, sah der Junge ihm ruhig entgegen. Und als der Vampir die Pranken schließlich um ihn zuschnappen lassen wollte wie eine todbringende Zange, schrie Gabriel. Nicht aus Angst oder vor Schrecken, sondern in seltsam monotoner Weise und beinahe gelassen. Worte kamen über seine Lippen, die sich unter Schmerzen durch seine Kehle wanden. Worte in einer Sprache, die nicht für menschliche Zungen geschaffen waren – und deren Sinn Gabriel nicht einmal wirklich verstand. Wohl aber sah er, was sie bewirkten. Und Landru schien sie zu verstehen! Der Junge selbst sah sich in einen Hauch gehüllt, der ihm wie der Widerschein von Glut vorkam. Aber es ging keine Hitze davon aus. Nur das Gefühl, nichts fürchten zu müssen, während Landru vor ihm in die Knie brach, brüllend und sich windend. In ihm schien etwas zu wüten, das schlimmer sein mußte als der ärgste Schmerz. »Ja«, lachte der Junge. »Knie nieder vor mir und bete mich an, dann will ich dir etwas zum Geschenk machen.« Ein nur vordergründig verzweifelter Blick aus beinahe wieder menschlichen Augen traf den Knaben. Dahinter jedoch erkannte er ein Feuer, das selbst der unsägliche Schmerz nicht auszulöschen vermochte in Landru: das Feuer von Haß und Zorn. Nur Rache würde es löschen können, Tod … Aber dazu wollte Gabriel dem Vampir keine Gelegenheit mehr geben. »Ein großzügiges Geschenk«, fuhr er fort. »Die Erlösung von allem Schmerz – einen sanften Tod!« Er ging selbst in die Knie und beugte sich über den am Boden liegenden Vampir. Der Gestank verbrannten Fleisches stieg auf, als Gabriels Aura Landrus Haut berührte. Der Hüter stöhnte gepeinigt auf. Doch Gabriels Mund erstickte den Laut auf seinen Lippen.
* Auf seinem Weg hinab im Korb versuchte Aleksej sich mit allerlei Gedanken abzulenken, nur um sich nicht ständig seiner in Krämpfen schmerzenden Arme gewahr sein zu müssen. Doch all diese Gedanken brachten ihm nur anderen Schmerz, der auf seine Art vielleicht noch schlimmer war. Der junge Russe dachte an zu Hause, an seine Familie, der er über Nacht entrissen worden war. Seine Eltern und Geschwister wußten nichts über seinen Verbleib. Sie mußten glauben, er hätte sie aus freien Stücken verlassen, als wäre ihm das Leben mit ihnen nicht gut genug gewesen. Aber so war es nicht! Er hätte viel darum gegeben, es wieder führen zu dürfen – oder seinen Lieben wenigstens mitteilen zu können, was ihm widerfahren war. Doch es ging nicht. Niemand durfte von der Existenz des geheimen Ordens wissen, und wer es verriet, war des Todes – und mit ihm alle, denen er das Geheimnis anvertraut hatte. Die Gebote des Herrn galten der Bruderschaft nur soweit, wie sie im Einklang mit ihrer Mission standen. Und der Herr selbst schien es hinzunehmen. Weil er sah, daß das Wohl weniger nicht so schwer wog wie das der gesamten Menschheit – oder weil er den Blick längst abgewandt hatte … Aleksej erinnerte sich dunkel an das Gefühl, seit Tagen beobachtet worden zu sein, ehe der Gesandte der Illuminati ihm in jener Nacht in den Weg getreten war und ihn mit sich genommen hatte. Er hatte sich nicht dagegen gewehrt, als wäre sein eigener Wille in diesem Moment erloschen. Was aber mochte den Gesandten dazu veranlaßt haben, gerade ihn auszuwählen? Was hatte er an ihm gefunden in der Zeit, da er ihn
offenbar belauert hatte wie ein Tier seine Beute? Aleksej konnte es sich nicht recht vorstellen. Gut, er hatte in seinem Leben zwar manches Mal den Eindruck gehabt, Dinge, die andere nicht sahen, mit einem Blick zu erkennen. Er hatte hinter Masken sehen können und Lüge ohne Mühe von Wahrheit zu unterscheiden gewußt. Aber wieviel Unnatürliches war daran, und wieviel beruhte einfach auf gesunder Menschenkenntnis? In keinem Fall schien es ihm eine Gabe, die seine Zugehörigkeit zur Illuminati rechtfertigte. Denn wie konnte dem Geheimorden eine solch vage Fähigkeit nutzen – noch dazu, wenn derjenige, der sie besaß, fast noch ein Knabe war, kaum 18 Jahre alt? Ein Knirschen und ein harter Ruck schreckten Aleksej aus seiner Gedankenversunkenheit, als der Korb am Fuß des Berges auf einer flachen Felsplatte aufsetzte. Bevor er ausstieg, sah der junge Russe sich um. Still und friedlich schien ihm die mit Strauchwerk und hartem Gras bewachsene Umgebung. Tot und verlassen wäre eine andere, vielleicht treffendere Beschreibung gewesen … Ein Stück entfernt machte Aleksej Gebäude aus, die ihm selbst aus dieser Ferne heruntergekommen erschienen. Doch er wunderte sich nicht. Der Hof der Mazzanos mußte uralt sein, wenn sie das Kloster schon seit Generationen mit Lebensmitteln versorgten. Und sie mochten weder einen Grund noch die nötigen Mittel haben, das Anwesen ansehnlich herzurichten und ordentlich instandzuhalten. Der Adept schwang sich über den Rand des stabilen Korbes und machte sich auf den Weg, ohne sonderliche Eile. Niemand im Kloster schien seinen heimlichen Ausflug bemerkt zu haben, und einen Moment lang spielte er mit dem wahnwitzigen Gedanken, nicht mehr zurückzukehren. Aber er verdrängte ihn so rasch, wie er ihm gekommen war. Die Gesandten würden ihn finden, wo er sich auch
verstecken mochte – und vor allem wußten sie, wo sie seine Familie finden konnten … Je näher Aleksej dem Hof kam, desto mehr Details nahm er wahr. Und nun begann er sich doch zu wundern. Denn mit jedem Schritt schien es sich seinem Blick anders zu zeigen. Die Zeichen von Verfall und Alter – verschwanden … Nicht abrupt, sondern wie Stück um Stück verblassend. Und darunter kam ein Hof zum Vorschein, der weder modern noch auch nur auf dem neuesten Stand war, aber doch ordentlich und vor allem bewohnt und bewirtschaftet wirkte. Nun legte Aleksej doch größere Eile an den Tag und schritt weiter aus. Als er endlich bei dem Gehöft anlangte, war kaum mehr die Spur des Eindrucks auszumachen, den es von weitem erweckt hatte. Nur die Stille blieb. Wie etwas Erstickendes lag sie über allem. Und vielleicht vernahm der junge Adept nur deshalb den winzigen Laut, der sonst vielleicht sogar im Geräusch des Windes untergegangen wäre. Es klang in seinen Ohren wie ein verhaltenes Stöhnen, und es schien aus dem Wohnhaus zu kommen. Aleksej lief hin, blieb aber lauschend unter der Tür stehen, um sich zu orientieren. Hinter der Schwelle lag ein kleiner Flur, von dem drei Türen und eine nach oben führende Treppe abgingen. Die Türen waren nur angelehnt … Da war es wieder! Unverkennbar ein Stöhnen. Aleksej ging leise zu der Tür, hinter der es hervorgedrungen war. Durch den Spalt konnte er in einen Raum sehen, der seiner Einrichtung nach als Küche und Wohnstube gleichermaßen genutzt wurde. Und jenseits des Tisches bewegte sich etwas am Boden! Aleksej konnte es von der Tür aus nicht sehen, und so schlüpfte er durch den Spalt, trat einen Schritt zur Seite – – und sah! Sah auf eben jene Weise, die ihm bislang oft ein wenig unheimlich erschienen war!
Nur auf den allerersten Blick waren die beiden Gestalten dort am Boden ein Mann mit schlaffen, alt wirkenden Gesichtszügen, in deren Falten sich eine auffällige Narbe beinahe verbarg, und ein zwölf-, vielleicht dreizehnjähriger Junge. Dann wechselte das Bild vor Aleksejs Augen. Wurde ausgetauscht gegen – – die Wahrheit! Die Gestalt des Mannes veränderte sich dabei kaum. Der junge Russe sah lediglich zwei unnatürlich lange Eckzähne aus seinem Oberkiefer ragen. Das Kind jedoch – war plötzlich keines mehr! Und es war auch nicht mehr nur eine einzige Gestalt … sondern – drei …? Aleksej schrie gepreßt auf. Das Entsetzen sprang ihn an wie ein wildes Tier und wollte seinen Verstand zerreißen. Wie war das möglich? Was ging hier vor? Der junge Mann kam nicht mehr dazu, über Antworten auch nur im Ansatz nachzusinnen. Denn es sprang ihn tatsächlich etwas an. Sie kamen über ihn. Und in ihn. Alle Fragen waren mit einemmal ohne Bedeutung. Andere Dinge beschäftigten seinen Geist, neues Wissen füllte ihn bis in jeden Winkel und bestimmte fortan sein Tun. Er hatte ein neues Ziel, obwohl er doch nur dorthin zurückkehrte, von wo er eben gekommen war. Aber es wartete eine neue Aufgabe dort auf ihn. Ohne Zögern wandte Aleksej sich um und machte sich auf den Weg hinüber zum Berg, wo der verlassene Seilkorb stand. Den Toten ließ er achtlos zurück.
* Hidden Moon schrie stumm auf, als etwas wie ein unsichtbarer
Damm den machtvollen Strom urplötzlich stoppte. Der kochende Fluß aus Energien zerschellte förmlich daran – und der Arapaho hatte das schmerzhafte Gefühl, dieses Schicksal zu teilen. Zeitlos schien ihm die »Reise« in jenem Strom gewesen zu sein, der ihn mitgerissen hatte – nur scheinbar ins Nichts, denn er raste sehr wohl einem Ziel zu. Doch zumindest er selbst langte nicht bei diesem Ziel an. Jene Mauer verhinderte es und bereitete dem »Flug der Geister« ein vorzeitiges Ende. Der Arapaho stürzte, und er glaubte es in unzähligen Trümmern zu tun, in die sein Geist und Körper an diesem Wall zerborsten waren. Doch jedes einzelne dieser Stücke seines Ichs empfand und nahm wahr. Er spürte schneidend kalten Wind. Er sah Himmel und Erde aus Hunderten von Perspektiven zugleich, und jedes einzelne Bild wirbelte noch für sich umher. Dazwischen wischte immer wieder felsiges Grau an ihm vorüber, und jede Berührung damit bescherte ihm dutzendfach brennenden Schmerz. Selbst Hidden Moons Schrei schien zersplittert und aus unzähligen Kehlen zugleich zu kommen. Tausend Tode zu sterben würde für ihn zur wahrhaftigen Erfahrung werden. Und zur letzten … Der Arapaho-Vampir versuchte sich zu sammeln – im wörtlichen Sinn. Er verschloß sich dem Sturz, konzentrierte sich allein auf die Teile seines Selbst, zwang sie aufeinander zu. Es geschah – aber unendlich langsam und unter unsäglicher Mühe. Zu langsam womöglich, denn der Erdboden schien ihm schon entgegen zu springen! Hidden Moon forcierte seine Anstrengung ins Übermenschliche. Und endlich – Kontakt! Die Fetzen seines Geistes berührten einander, begannen zu verschmelzen. Langsam, quälend langsam … Aber es gelang. Augenblicklich wuchs nun jedoch die Geschwindigkeit, mit der er herabstürzte! Es konnten nur noch Sekunden sein, bis er dort unten
aufschlug, am Fuß des Bergmassivs, an dessen Steilwand ihn sein Sturz entlangführte … Doch nun, da er wieder ganz und gar eins war, fiel es Hidden Moon nicht schwer, sich selbst dieses Ende zu ersparen. Im rasenden Fall leitete er die Verwandlung seines Körpers ein. Er verformte sich. Seidiges Gefieder sproß, und mächtige Adlerschwingen verwandelten den Sturz in Flug. Steil stieg der gewaltige Vogel dicht an der Felswand nach oben, mit scharfen Augen scheinbar alles ringsum zugleich sondierend. Denn es war noch nicht vorbei … Der Adlerblick suchte nach Lilith. Wie Hidden Moon selbst mußte auch sie quasi aus allen Wolken gefallen sein, als der Strom der fremden Macht, dessen Gefangene sie gewesen waren, plötzlich abgebrochen war. Und sie, deren Geist und Körper zwar nicht getrennt gewesen waren, mochte sich vielleicht nicht aus eigenem Antrieb retten können, indem sie sich in eine Fledermaus verwandelte. Denn womöglich befand sie sich noch immer in der Trance, in die Hidden Moon sie versetzt hatte! Warme Nässe spritzte auf das Federkleid des Adlers. Er mußte nicht hinsehen, um zu wissen, worum es sich handelte. Seit über dreihundert Jahren war dem Vampir dieser Geruch vertraut wie kaum ein anderer. Blut … Der Adler sah auf – und seine tierische Kehle gebar einen fast menschlichen Schrei des Entsetzens! Ein blasser Arm hing von einer Felsnase über ihm. Dunkles Haar wehte an anderer Stelle über die gezackte Kante. Und dazwischen lief ein dunkles Rinnsal über den Stein, um sich tropfenweise davon zu lösen … Liliths Blut …!
*
Spätestens als er sich endlich wieder erhob, spürte Salvat, daß ihm seine Kraft nicht mehr im vorherigen Maße zur Verfügung stand. Ein Teil der ausgesandten und dann überstürzt zurückbefohlenen Macht war unwiederbringlich vergangen an dem Schild, das er gegen die unkontrollierbare Geistesflut errichtet hatte. Natürlich würde sich ihr Fehlen im Laufe der Zeit ausgleichen. Seine Kräfte würden sich regenerieren, so wie Wunden verheilten. Aber es würde nicht bis zu jenem Zeitpunkt geschehen sein, da er seiner ganzen Macht bedurfte – und vielleicht würde sie nicht einmal in ihrer unversehrten Gesamtheit genügen … Salvat verbannte alle Sorge und Zweifel. Es war passiert und nicht mehr zu ändern. Er mußte mit dem zurechtkommen, was ihm geblieben war, und er mußte versuchen, das Beste daraus zu machen. Zudem stand er nicht allein gegen das, was da kommen sollte … Seine Gestalt straffte sich, wenn auch nur unter dem scheinbaren Zufluß frischer Kraft. Dann verließ er sein Refugium der Stille, wieder in die Kutte gehüllt und auf den schlichten Gehstock gestützt, und lief erneut durch düstere Gänge und Stollen, unsichtbaren Hindernissen und geheimen Mechanismen ausweichend, die selbst seinen Tod bedeutet hätten. Nach einer Weile blieben Ruhe und Einsamkeit hinter ihm. Salvat erreichte Regionen des Labyrinths, in denen es nicht unbedingt lebhafter zuging als in den hinter ihm liegenden, wo aber spürbar mehr Leben war. Die Gänge wurden breiter, und es war ersichtlich, daß sie häufiger benutzt wurden als die, aus denen Salvat gerade kam. Dann drangen durcheinanderschwirrende Geräusche an sein Ohr, mit jedem Schritt, den er ging, lauter werdend. Bald konnte er sie von einander unterscheiden und schließlich identifizieren – klirrende Waffen, dumpfe Hiebe und im Kampf ausgestoßene Schreie! Salvat trat durch eine Öffnung im Fels, und die Geräusche, die an eine Schlacht gemahnten, schlugen über ihm zusammen, weil sie
den riesigen Raum jenseits des Durchgangs bis in den letzten Winkel ausfüllten. Der Führer des Ordens der Illuminati ging weiter vor, bis eine steinerne Balustrade ihn aufhielt. Sein Blick ging in die Tiefe, hinab in eine felsumrandete Arena – – in der ein Kampf tobte, dessen gewaltige Ausmaße sich kein Außenstehender hätte vorstellen können!
* Das Leben ist eine Mission. Giuseppe Mazzini Ein Toter erwachte. Aber er war noch immer eine Unendlichkeit entfernt von dem, was ihm Leben bedeutet hatte. Landru zwang seine hornig gewordenen Lider, sich zu öffnen. Er glaubte ein leises Schaben zu vernehmen, mit dem sie über seine ausgedörrten Augäpfel rieben. Schon diese einstmals nicht einmal nennenswerte Bewegung überstieg fast das bißchen Kraft, das noch in seinem ausgezehrten Leib war. Und es rührte an dem Wunsch, doch zu sterben … »Nein …« Raschelnd wie Pergament tropfte ihm dieses eine Wort von den Lippen, selbst für seine eigenen Ohren kaum verständlich. Aber es barg etwas in sich, das ihm sein Todessehnen austrieb. Landru wollte nicht sterben. Und er würde nicht sterben. Nicht, weil er sich der Alten Rasse verpflichtet fühlte und sie vor dem Untergang bewahren wollte. Nein, das Schicksal seines eigenen Volkes war ihm in diesen Momenten von geringem Interesse. Er wollte leben aus einem anderen, einem ganz persönlichen Grund.
Und um an ihm festzuhalten, bedurfte es aller Kraft, die der Hüter noch aufzubringen vermochte. Er richtete sich auf an diesem einen Gedanken, klammerte sich daran, als wäre er der einzige Anker, der ihn noch im Diesseits hielt. Der Gedanke glühte auf unfaßbare Art vor Kälte, und er sandte etwas wie ein eisiges und doch brennendes Prickeln durch Landrus Bewußtsein. Er wollte stöhnen vor Schmerz, doch er hütete sich, Kraft so leichtfertig zu vergeuden, kaum daß er sie neu gewonnen hatte. Er fühlte sich vitalisiert, unendlich langsam, aber stetig. Vielleicht würde er nie wieder zu seiner alten Macht finden, und wenn, würde es lange dauern. Aber was da in ihm neu erwuchs, aus Quellen schöpfend, die er nie bewußt würde nutzen können, weil sie zu tief und zu verborgen in seinem Innersten lagen, mußte genügen, um jenen einen Gedanken in die Tat umzusetzen, der ihm diese neue Kraft erschloß. Dieser Gedanke hieß – Rache! Mochte dieses Kind auch der Messias der Alten Rasse sein – es würde büßen für das, was es ihm angetan hatte! Denn niemand, auch das höchste Wesen nicht, durfte ungestraft nach Landrus Leben und Macht greifen! Er würde das verdammte Balg jagen und finden – und dann gnade ihm … in wessen Auftrag es auch immer gekommen war. Gerade noch konnte Landru verhindern, daß er Seinen Namen auch nur dachte. Das Empfinden von Haß hatte seine Regeneration eine Spur beschleunigt. Der Hüter war zu ersten Regungen fähig, und nach einer Weile vermochte er sich aufzurichten. Schließlich kam er auf schwachen Beinen zu stehen, die seinen Körper nur deshalb zu tragen vermochten, weil er noch immer mehr an eine leere Hülle denn an einen mit Leben gefüllten Leib erinnerte. Landru wußte, was ihn stärken würde. Nur – wie und wo sollte er in dieser Einöde an das belebende Elixier namens Blut gelangen?
Das Schicksal schien ihm wohlgesonnen. Denn der Vampir witterte zweierlei. Zum einen den schwachen Widerhall von Leben – und damit von Blut. Zum anderen die ihm so vertraut gewordene Spur des Kindes. Beides entsprang ein und derselben Quelle. Landru entdeckte sie, als er, der Witterung folgend, aus dem Haus trat und den Blick himmelwärts richtete. Der Ort, zu dem die Spuren wiesen, lag dort oben im Schoß der Wolken. Getarnt fast bis zur Unsichtbarkeit lag er dort im Grau der Felsen verborgen. Doch Landru hätte ihn nicht einmal sehen müssen, um ihn zu finden. Blind wäre er dort hingelangt. Blind wie – – eine Fledermaus … Mit schrillem Schrei stieg das Tier auf.
* Er hatte vieles gesehen in seinem Leben, das Menschen zu Tode entsetzt hätte und ihn doch kaum angerührt hatte. Dieser Anblick jedoch fuhr Hidden Moon einem Pflock gleich ins Herz. Jedes Glied Liliths lag unnatürlich verrenkt da. Ihr Körper war zerschrammt und zerschlagen. Blut hatte sich mit den Farben vermengt, die der Arapaho auf ihre Haut gemalt hatte … Doch fast härter als der Anblick ihres wie tot wirkenden Leibes traf Hidden Moon etwas anderes: ein Gefühl, das ihm das Herz zu zerreißen schien. Trauer …? Er hatte dieses Gefühl in seinem Leben noch nicht kennengelernt – bis heute, da er fürchten mußte, Lilith zu verlieren. Aber, so fragte er sich, betrauerte er damit nicht letztlich sich
selbst? Weil Einsamkeit seine Gefährtin an Liliths statt werden würde? Und vor allem – weil ihr Tod auch den seinen bedeuten würde, zumindest aber das Ende des Lebens, das er jetzt führte … Denn Lilith war ihm sehr viel mehr als nur eine Gefährtin. Sie war es letztlich, die dafür sorgte, daß er nicht seinen dunklen Trieben folgen mußte. Sie war – sein Totemtier! Jeder vom Stamme der Arapaho war mit einem solchen in besonderer Weise verbunden gewesen. Jeder hatte sich einen Adler zum steten Begleiter gewonnen. Zwischen ihrer beider Seelen war eine Verbindung entstanden, über die das Dunkle aus den ArapahoVampiren hinüberfloß in die Adler. Und deren reine Tierseelen hatten gefiltert, was von ihren Herren in sie drang, hatten Makootemanes Kinder erlöst vom Bösen, das in ihrem schwarzen Blut gedieh. Auch Hidden Moon hatte über die Jahrhunderte stets mit einem solchen Adler in Verbindung gestanden, bis Lilith in sein Leben trat – und sein Totemtier umbrachte! Alle Versuche des Arapaho, sich einen neuen Adler zu nehmen und ihn zu seinem Seelentier zu machen, waren hernach fehlgeschlagen. Bis er erkannt hatte, daß er längst einen neuen gefunden hatte – in Lilith! Denn in dem Moment, da sie das Tier getötet hatte, war seine Bestimmung auf die Halbvampirin übergegangen: das, was an Dunklem aus Hidden Moon drängte, in sich aufzunehmen und zu absorbieren. Wenn sie nun starb, würde es nicht lange dauern, bis der Arapaho zu einem Vampir von der Art wurde, wie das Gesetz der Alten Rasse es eigentlich wollte … »Du darfst nicht sterben!« Der Wind, der scharf und kalt über die schmale Felsplattform fuhr, riß Hidden Moon den Schrei von den Lippen. Der Arapaho kniete neben der schwerverletzten Halbvampirin; sein Blick hing wie gebannt an ihr. Wohl nahm er die Bemühungen ihrer selbstheilenden Kräfte, wie sie einem Vampir eigen sind, wahr,
aber es war zu erkennen, daß sie nicht genügen würden, um die Folgen des schweren Sturzes auszugleichen. Hätte Lilith sich das Genick gebrochen bei dem Aufprall, wäre alles vorüber gewesen. So aber sah Hidden Moon noch eine Chance. Er wußte nicht, ob er nach der kräfteraubenden »Reise« im Strom des fremden Geistes noch genug Energie aufbringen konnte, aber er zögerte nicht. Seine Hände berührten Lilith. Selbst dieses sanfte Anfassen mußte ihren Schmerz wecken. Obwohl sie ohne Besinnung war, wehte ein gepeinigtes Stöhnen von ihren Lippen. Wie schon einmal sandte Hidden Moon von seiner eigenen Kraft in Lilith, weniger diesmal, aber zielgerichteter. Er suchte und fand jenen Teil ihrer Energie, der für die Wiederherstellung verantwortlich war, und unterstützte ihn mit seiner Kraft. Eine Weile geschah nichts. Eine lange Weile … Hidden Moons Anspannung ließ nach, als er sich kaum mehr konzentrieren konnte. Die Narben seines eigenen Geistes waren noch nicht verheilt, und der davon ausgehende Schmerz ließ sich nicht länger ignorieren. Resignierend wollte er sich aus Lilith zurückziehen – als ein feines Knirschen sein Ohr erreichte! Er öffnete die Augen und sah – – wie Liliths gebrochener Arm sich bewegte! Wie von Geisterhänden gerichtet, glitt er über den Fels, bis er in natürlicher Haltung dalag und die Bruchstellen des Knochens sich aneinanderfügten, während die Wunde darum sich schloß und neue Haut den Blick auf Sehnen, Aderwerk und Fleisch verwehrte. Ähnliches geschah mit Liliths ganzem Körper. An vielen Stellen zugleich schienen unsichtbare Chirurgen am Werk zu sein, die die gröbste Arbeit taten, um dann Wunderheilern Platz zu machen. Dennoch dauerte es lange, bis zumindest Liliths körperliche Unversehrtheit wiederhergestellt war. Denn die Augen öffnete sie auch dann nicht wieder. Hidden Moon wußte, wie er dazu beitragen konnte, damit sie es
tat. Vielleicht tat … Wäre Lilith bei Bewußtsein gewesen, hätte sie es ihm vielleicht verboten. So aber griff der Arapaho nach einem scharfkantigen Felssplitter, setzte ihn an seine Pulsader – und schnitt sie auf! Schwarzes Blut quoll aus der Wunde. Noch bevor es sich zu einem Rinnsal sammeln und herablaufen konnte, brachte Hidden Moon sein Handgelenk dicht an Liliths Mund und ließ die schwarze Flüssigkeit, die zäher war als menschliches Blut und vor allem kalt, zwischen ihre Lippen tropfen, die er mit der anderen Hand vorsichtig auseinanderschob. Seit Lilith zurückgekehrt war vom Anfang der Zeit, wo sie ihre vorgegebene Bestimmung erfüllt hatte – nämlich die Ur-Lilith, Adams erstes Weib und Mutter der Alten Rasse, mit dem Allmächtigen auszusöhnen –, nährte sie sich nicht mehr vom Lebenssaft der Menschen. Schwarzes Blut war zu ihrem Elixier geworden. Gott selbst hatte Lilith dazu verdammt, um sie anzuspornen, ihre neue Aufgabe zu erfüllen. Und die hieß, alle Vampire, die von der Seuche verschont wurden, zu vernichten. So hätte sie eigentlich auch Hidden Moon töten müssen. Aber sie hatte es nicht getan und würde es nicht tun. Weil der Arapaho wie auch seine Brüder und Schwestern im Blute anders war – und weil sie ihn liebte … Manches Mal mußte die Versuchung, es all dem zum Trotz doch zu tun, gewaltig sein, wie Hidden Moon wußte. Denn der Durst nach vampirischem Blut war nicht so leicht zu stillen wie der nach menschlichem. Ein Vampir bereitete denen, die ihm ans Leder wollten, ärgere Probleme – wenn er erst einmal gefunden war. Die Ader des Arapaho hatte Lilith dennoch verschont, weil ihr Biß einen Keim übertrug, der das schwarzblütige Opfer gefügig machte, seinen Willen brach und zu ihrem Werkzeug degradierte. Und dieses Schicksal wollte sie ihrem Gefährten nicht zuteil werden lassen. Nach einer Weile ließ Hidden Moon zu, daß die Wunde an seinem
Gelenk sich schloß und der schwarze Fluß versiegte. Im rechten Moment, wie es schien – – denn Lilith schlug die Augen auf! Nicht langsam und zögerlich, sondern so ruckartig, als schnellten ihre Lider nach oben. Hidden Moon zuckte zurück, erschrocken nicht nur über die Plötzlichkeit, in der Lilith erwachte, sondern auch ob des Erschreckens, das er in ihren Augen las. »Landru …!« Das Wort kam nur als leiser Ruf über ihre Lippen, aber Hidden Moon entging das Entsetzen darin nicht. »Was?« entfuhr es ihm. »Ich …«, setzte sie an und vollendete den Satz dann unzweifelhaft anders, als sie es ursprünglich gewollt hatte: »… nichts. Ich muß mich geirrt haben. Ein Traum vielleicht …« Lilith wußte, daß sie Landrus flüchtige Präsenz nicht gespürt haben konnte. Sie hatte die Fähigkeit, die Nähe anderer Vampire wahrzunehmen, am Anfang der Zeit verloren. »Wo sind wir?« fragte sie erstaunt, als sie ihrer Umgebung gewahr wurde. »Wie kommen wir hierher? Und …« Eine beruhigende Handbewegung des Arapaho ließ sie verstummen. Er erklärte ihr in knappen Sätzen, was vorgefallen war, was er getan hatte und wo sie sich seiner Meinung nach befanden. »Du meinst«, sagte Lilith dann, »wir sind in seiner Nähe?« Hidden Moon nickte ernst. »Ich glaube, es war seine Kraft, die in dich gedrungen ist. Offenbar hat auch er nach dir gesucht. Und seine Vorgehensweise läßt darauf schließen, daß er kein – nun, sagen wir zumindest, kein gewöhnlicher Mensch ist.« »Das hatte ich auch nicht vermutet«, meinte Lilith. Ihre Stimme klang noch immer schwach, und ihr Teint war bleicher noch als sonst – nicht anmutig, sondern nur krank wirkend.
»Aber wo soll er sich verbergen?« fragte sie dann. Dabei sah sie über die Ränder der Felsnase hinab. Ein Frösteln überlief ihre Haut. Die Entfernung zum Fuß des Berges weckte etwas wie Todesfurcht. Hidden Moon richtete den Blick schweigend nach oben. Lilith folgte der Richtung. Weit über ihnen ragte etwas aus der Flanke des Berges, ähnlich dem Vorsprung, auf dem sie hockten. Nur hundertfach gewaltiger. »Was ist das?« wollte sie wissen. Der Arapaho zuckte die Schultern. »Ich bin nicht sicher. Nur eines spüre ich: Es ist kein Ort, der für unsere Art bestimmt ist.« Als wären seine Worte der Auslöser, fühlte Lilith mit einemmal Unbehagen in sich aufsteigen. Leichte Übelkeit ging damit einher und ein vages Schwächegefühl. So wie es immer war, wenn sie die Nähe geweihten Bodens spürte.
* Lilith Eden! Der verhaßte Name gellte durch Landrus kleinen Schädel. Die Aura der Hurentochter streifte ihn zwar nur wie ein Gluthauch, aber er war unverkennbar. Daß sie, die allen Vampiren den Kampf und den Tod angesagt und ihm so manches Mal schon die Pläne vereitelt hatte, hier in der Nähe war, mußte etwas zu bedeuten haben. Und Landru war sich gewiß, daß es nichts Gutes war. Dennoch verzichtete er darauf, es zu ergründen. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, Creannas Balg wirklich zu suchen. Nicht das geringste Quentchen seiner erst wieder erwachenden Kräfte durfte er darauf vergeuden. Er würde alles brauchen, um seine Rache zu erfüllen. Nichts war ihm jetzt wichtiger, als das Kind ausfindig zu machen und zu bestrafen für seinen Frevel. Zuvor aber würde Land-
ru sich Stärke antrinken, und allein dafür würde er alle bis dahin wiedergewonnene Macht brauchen. Denn es war nicht so, daß ihm seine Opfer willig zu Füßen sanken. Nun ja, dachte Landru, nicht alle jedenfalls … Das kleine Maul der Fledermaus schien sich für einen Moment zu verzerren, als versuchte es ein Lächeln nachzuahmen. Der Vampir nutzte jeden Flügelschwung bis zum Letzten. Auch darauf durfte er nicht mehr Kraft verwenden, als unbedingt erforderlich war. Und so rückte das unförmige Bauwerk unterhalb des Gipfels nur langsam näher. Je näher er dem Ort kam, an dem Blut und Kind waren, desto intensiver spürte der Hüter die Aura, die davon ausging. Schon unten hatte er sie vage wahrgenommen. Jetzt zweifelte er nicht mehr im geringsten daran, daß es ein Kloster oder etwas in der Art war, worauf er da zuflog. Die verfluchte Ausstrahlung hemmte sein Vorankommen, ein Gefühl dem nicht unähnlich, als liefe man durch Wasser. Seltsamerweise fühlte Landru sich aber nicht richtig gehindert. Als wäre die Aura des Ortes dort nicht vollends rein, als durchsetze sie etwas, das eher von seinem Wesen war – dunkel und bedrohlich, vergiftet fast. Als wäre dort oben schon Blut geflossen, das nicht Ihm zu Ehren vergossen worden war … Der Hüter erreichte den Fuß des kantigen Mauerwerks, stieg im Flur daran empor und über die Zinnen der Mauern hinaus, um die Lage zu sondieren. Schließlich fanden seine tierischen Sinne eine Stelle, die von keiner Seite aus einsehbar war. Dort ging Landru nieder und verwandelte sich zurück. Sein Aufsetzen war diesmal jedoch weniger elegant und sicher als sonst. Sein Geist schien sich rascher zu erholen als sein Körper, und so standen Wille und Tun nicht im Einklang zueinander. Aus seiner Deckung heraus verschaffte Landru sich einen Überblick.
Die Anlage war zweifelsohne uralt, steinalt im wörtlichen Sinne eben – und sie war gewaltig. Größer jedenfalls, als sie von unten den Anschein erweckte. Ein Teil erstreckte sich noch in die Flanke des Berges hinein, so daß dieser Bereich wie unter einem steinernen Himmel lag. Die Gebäude waren aus groben Felsblöcken errichtet und strahlten etwas Archaisches aus. Über dem gesamten Kloster hing eine Atmosphäre, der auch Landru sich nicht entziehen konnte. Obwohl die christliche Ausstrahlung Ekel und vagen Schmerz in ihm wachrief, verspürte er doch auch etwas wie Ehrfurcht – und richtige Furcht. Etwas war an diesem Ort. Etwas ganz und gar – Böses …? Landru erschrak, als er registrierte, was mit ihm geschah. Er schauderte! Er fröstelte, wie es sonst nur die Menschen taten, denen er gegenübertrat! Landru versuchte zu ignorieren, was den Schauder ausgelöst hatte. Es gelang ihm leidlich. Mit seinen vampirischen Sinnen und zugleich mit Blicken forschend begann er die Suche. Die Nähe fließenden Blutes war spürbar. Und da entdeckte er auch schon, woher sie rührte. Ein Stück entfernt trat ein kuttengewandeter Mann aus einem Treppenüberbau auf die zinnengesäumte Klostermauer hinaus. Vielleicht ein Wächter, der vor etwaigen Eindringlingen warnen sollte … »Zu spät, mein Bester«, knurrte Landru. Kurz überlegte er, wie er sich seinem Opfer am sichersten nähern konnte. Auf dem Weg entlang der Zinnen gab es keine Deckung, so daß der andere ihn würde kommen sehen. Also anders … Wieder stieg ein flatternder Schemen in die Luft auf. Lautlos, weil nur vom Wind getragen und den Kurs mit sachten Bewegungen der Schwingen korrigierend, schlug er einen Bogen, an dessen Ende der Mönch stand.
Mit angelegten Flügeln stürzte Landru auf ihn nieder. Doch noch bevor er den Mann auch nur berührte, transformierte der Vampir. Schwer prallte er gegen den Mönch und stieß ihn in die Lücke zwischen zwei Zinnen. Sein Schrei ertrank in feuchtem Gurgeln, als Landru ihm die Zähne in den Hals schlug. Der Vampir verzichtete darauf, ihn bis zur Neige auszusaufen. Als nur noch ein paar Tropfen durch sein Aderwerk rannen, ließ er ab von dem Mönch, packte seine Beine und warf ihn über die Mauer. So ersparte er sich die Mühe, ihm selbst den Hals brechen zu müssen … Hitze glühte in Landrus Eingeweiden. Das Blut hatte in ganz besonderer Weise gemundet, obwohl doch nichts anderes als Angst es gewürzt haben konnte. Der Hüter kam nicht dazu, länger darüber nachzudenken, was noch im Blut des Mönches gewesen sein könnte. Ein Schrei ließ ihn herumfahren! »Da! Seht! Ein Fremder!« »Er hat Bruder Heinrich ermordet!« rief ein anderer mit hartem Akzent in seinem Italienisch. »Greift ihn!« fielen andere mit ein, und auch ihre Stimmen klangen in Landrus Ohren wie von unterschiedlicher Herkunft. Unten im Hof des Klosters und zu beiden Seiten auf der Mauer entstand Bewegung. Mit wehenden Kutten stürmten Brüder unterschiedlichsten Alters in Landrus Richtung, etwa zehn an der Zahl. »Es ist angerichtet«, zischte der Vampir voller Vorfreude. »Kommt nur, kommt zu mir.« Wenn das Blut all dieser Mönche so herrlich schmeckte und vor allem kräftigte, stand ihm ein wahrer Festschmaus bevor … »Bin schon da, verdammter Mörder!« Landru kreiselte erschrocken herum. Der Bruder, der plötzlich an seiner Seite stand, war nicht wie aus dem Nichts aufgetaucht – er war aus dem Nichts aufgetaucht!
Der Hüter übersprang die Schrecksekunde und schlug ansatzlos zu. Ins Leere. Denn der silberbärtige Kuttenträger stand nicht mehr dort, wo er eben noch gewesen war! Dafür spürte Landru seine Hand an der Schulter. Der Mönch riß ihn herum, wich auch dem nächsten Hieb des Vampirs wie fortgezaubert aus und versetzte ihm dann von einer anderen Seite her einen Stoß, der ihn haltlos nach vorn taumeln ließ. Landrus Fuß trat ins Bodenlose; er stürzte. Schwer schlug er auf dem Fels des Innenhofs auf. »Jetzt reicht es«, knurrte er eher unwillig denn wirklich wütend – und zeigte seinerseits, was schon wieder in ihm steckte! Das Blut jener Brüder, die ihn fast schon erreicht hatten, färbte den Fels als erstes …
* Mit steinerner Miene beobachtete Salvat, was tief unterhalb der Felsgalerie, an deren Brüstung er stand, vor sich ging. Eine Schlacht tobte dort, Mann gegen Mann. Aber es floß kein Blut. Waffen prallten aufeinander, wie sie nie ein Mensch außerhalb Monte Carganos gesehen hatte. Denn sie waren hier konstruiert und gefertigt worden und nur für denjenigen bestimmt, für den sie geschaffen worden waren. Da wurden Schlagwerkzeuge geschwungen, die mit silbernen Klingen besetzt waren. Andere wieder sahen aus wie harmlose Stöcke, und allein die Symbole, die in die Schäfte gebrannt waren, ließen sie nicht völlig unscheinbar wirken. Andere Männer wiederum kämpften gänzlich ohne Waffen, manche sogar, ohne sich auch nur zu bewegen. Dafür schlugen wieder andere sich scheinbar mit unsichtbaren Gegnern. Hiebe aus dem Nichts trafen ihre Körper und ließen sie wie betrunken hintaumeln.
»Sie sind die mächtigste Armee auf Gottes weiter Welt.« Salvat zuckte leicht zusammen. Er hatte sich dem Anblick dort unten so sehr hingegeben, daß er nicht bemerkt hatte, daß jemand neben ihn getreten war. Auch jetzt warf er nur einen flüchtigen Blick auf den alten Mann, der eine Kutte mit dem verschlungenen Symbol der Illuminati trug. Er reichte dem Ordensführer gerade bis zur Schulter. Sein schütteres Haar glänzte wie Silberfäden auf seinem Haupt. »Ja, und ihre Macht ist dein Verdienst, Adrien«, sagte Salvat und widmete sich wieder dem Geschehen in der Tiefe. Er konnte das Lächeln des Alten beinahe hören. »O nein«, wehrte Adrien ab. »Ich habe ihnen nur den Weg gewiesen. Gehen mußten sie ihn allein. Und es gab genug, die allem Anschein zum Trotz nicht das Zeug dazu hatten.« Wie von den Worten des alten Mannes heraufbeschworen, tauchte die Gestalt Raphael Baldaccis vor Salvats geistigem Auge auf. Ein bitterer Zug legte sich um seine Mundwinkel. Adrien hatte Salvat seinerzeit gewarnt, Raphael als Gesandten auszuschicken, bevor dieser seine Ausbildung abgeschlossen hatte. Salvat hatte damals nicht auf den weisen Lehrer gehört – und seinen Sohn letztlich in den Tod geschickt … »Verzeih«, sagte Adrien leise. »Ich wollte nicht …« »Ich weiß.« Eine Weile sahen sie beide schweigend dem Kampftraining zu. »Ich habe dafür gebetet, daß wir sie nie wirklich in den Kampf schicken müssen«, brach Adrien schließlich das Schweigen, ehe es zu einer trennenden Mauer zwischen ihnen werden konnte. Salvat seufzte schwer. »Deine Gebete wurden nicht erhört, Adrien.« Die Hand des Lehrmeisters packte Salvat an der Schulter und riß ihn fast herum. »Was sagst du …?« entfuhr es dem Alten erschrocken.
Salvat nickte nur. »Du weißt, wovon ich spreche.« »Dann ist der Tag also nahe …«, flüsterte Adrien. Sein Blick schien durch Salvat hindurchzugehen, und dort wiederum schien er Dinge zu sehen, die ihn schlicht entsetzten. »Nicht nahe«, verbesserte Salvat. Und nach einer wohlgesetzten Pause: »Er ist gekommen!« Die immer noch kräftige Hand des Alten abstreifend, die sich in seine Schulter gekrallt hatte, wandte Salvat sich wieder um. Noch einmal streifte sein düsterer Blick jeden einzelnen Mann in der Trainingsarena, die ihn an jene des unseligen Kolosseums in Rom erinnerte. Wo man morgens den Löwen und Bären Menschen zum Fraß vorgeworfen hatte, so hatte sein alter Freund Seneca es damals beschrieben, und mittags Menschen ihren unmenschlichen Zuschauern … Salvat straffte sich, dann erhob er die Stimme. Er rief nicht sonderlich laut, aber das eine Wort hatte doch genug Macht, um alles andere zu übertönen. »Brüder!« Das Szenario unterhalb der Felsgalerie schien einzufrieren. Dann kam wieder zaghafte Bewegung hinein, als die Männer fast synchron zu Salvat aufsahen. Morituri salutant! ging es ihm schmerzhaft durch den Sinn. Die Todgeweihten grüßen dich … Über den Felsendom senkte sich vollkommene Stille, in der selbst das Rascheln des Kuttenstoffs überlaut klang, als Salvat wie beschwörend die Arme hob; nur um sie gleich wieder sinken zu lassen. Theatralik war nicht seine Sache. Der Führer der Illuminati sah schweigend zu den Begabten hinab, während er stumm nach Worten suchte. Daß er sie nicht parat hatte, bewies ihm nur, daß er gehofft hatte, nie einen Grund zu haben, sie an die versammelte Bruderschaft richten zu müssen. Und allein sein Schweigen mußte den Ordensbrüdern schon Zeichen sein, daß ihrer aller Hoffnung sich nicht erfüllen würde …
Salvat wollte von Angst reden, die selbst er verspürte, und daß niemand sich seiner Furcht schämen müßte. Doch das hätte geheißen, die Moral der Truppen (er haßte allein dieses Wort!) zu untergraben. Er hätte vom Wohl der Menschheit sprechen können, für das es sich zu sterben lohnte. Aber es wäre eine Lüge gewesen, die ihm vielleicht nicht einmal von den Lippen gekommen wäre. Und so wollte er schließlich nichts anderes als die schlichte, erschreckende Wahrheit sagen. »Es ist soweit! Der Tag ist gekommen!« Salvat zuckte zusammen wie unter dem berühmten Peitschenhieb. Die Blicke aller Anwesenden wandten sich von ihm ab – denn nicht er war es gewesen, der die Worte mit Stentorstimme gebrüllt hatte! Ein einzelner Mann brach in die starr stehende Menge in der Arena ein. Salvat erkannte einen fast kupferroten Haarschopf, doch schon die Stimme des anderen hatte ihm verraten, wer der Überbringer der Hiobsbotschaft war. Sie nannten ihn der Macht seiner Stimme wegen »Bruder Banshee« – sein richtiger Name war Sean O’Meara gewesen, in seinem anderen Leben, in Irland. Natürlich in Irland … Ein absurdes Lächeln huschte über Salvats Gesicht, ehe seine Züge wieder zur altgewohnten Kantigkeit zurückfanden. Sein eigener Ton stand dem Bruder Banshees an Gewalt kaum nach. Laut hallten seine Worte durch das felsumschlossene Oval. »Was ist geschehen?« Bruder Banshee sah zu Salvat empor. Blutschlieren machten sein Gesicht zu einer schrecklichen Maske, in der die Augen selbst über die Entfernung sichtbar flackerten. »Ein Fremder!« rief er herauf. »Er ist ins Kloster eingedrungen, und oben im Hof tobt ein blutiger Kampf! Er ist kein Mensch, Bruder Salvat! Seine Macht ist der unseren ebenbürtig, überlegen vielleicht! Er muß –«, der Ire schluckte hart, »– der Leibhaftige selbst
sein!« Das ist er gewiß nicht, erwiderte Salvat in Gedanken. Laut sagte er nur: »Auf, Brüder! Tut, was zu tun ist …!« … und Friede euren Seelen. Aber auch diese Worte behielt Salvat für sich, während unter ihm die versammelten Brüder aus der Arena stürmten. Von hier oben sah es aus, als würde die Menge hinausfließen. Salvat schloß sich ihnen nicht an. Nicht, weil er das Gemetzel nicht mitansehen wollte. Er hatte anderes zu tun, mußte sich um andere Maßnahmen kümmern. Der Große Plan … Einer mußte ihn in die Wege leiten – oder zwei. Salvat stieß Adrien an. »Komm mit«, sagte er im Davoneilen. »Wohin?« rief der Alte ihm nach, während er Salvat schon folgte. »Ein paar Jungs aus den Federn werfen!«
* Gabriel fühlte sich – großartig. Glücklich. Wie ein Kind, das überreich beschenkt worden war. Er glaubte die Welt aus den Angeln heben zu können. Doch er wußte, daß das nicht erforderlich sein würde. Er lächelte ein fremdes Lächeln. Er mußte nichts aus den Angeln heben, nur etwas – öffnen. Dann jedoch würde etwas geschehen, was die Welt, wenn schon nicht aus den Angeln heben so doch in jedem Fall verändern würde. Verändern in ihrem Sinn, wie sie es wollten seit Anbeginn. »Und der Herr sah«, kicherte Gabriel hämisch, »daß es schlecht war!« »Aleksej?« Der junge Mann blieb stehen, wandte sich nach der Stimme um. Durch seine Augen sah Gabriel einen uralten Mönch, und im ver-
drängten Bewußtsein Aleksejs fand er den zugehörigen Namen. »Bruder Cadfael?« entgegnete er mit fremder Zunge. Der Alte trat gebückt näher heran. Er mußte hinter einer der zahllosen Abzweigungen, die von dem Felsstollen wegführten, hervorgekommen sein. »Was tust du hier, Junge?« fragte Cadfael verwundert. »Du weißt, daß es jedem verboten ist, hier einzudringen, der nicht zu den Wächtern gehört.« Gabriel zuckte mit Aleksejs Schultern. »Mir ist nichts verboten.« »Wie redest du denn?« brauste der Alte entrüstet auf. »Bist du von Sinnen?« »Ganz und gar nicht.« »Verschwinde, dann will ich vergessen, daß ich dich gesehen habe und was du dir an Dreistigkeit herausgenommen hast.« »Oh, das tut mir leid …«, erwiderten Aleksejs Lippen. »Was?« Ein überlegender Zug zwang sich in die Miene des jungen Adepten. »Nein, das war gelogen«, sagte er dann leichthin und grinste den Alten frech an. »Junge, wovon sprichst du?« fragte Bruder Cadfael, nun eher besorgt denn aufgebracht. »Es tut mir nicht leid«, erklärte Aleksejs Stimme. »Was denn, im Namen aller Heiligen? Daß du hierher gekommen bist …?« »Nein. Das ich – dich töten muß!« Aleksej sprach’s, und Gabriel tat’s. Entseelt sank Bruder Cadfael zu Boden. Dann ging der junge Russe Gabriels Weg weiter. Der steuerte den fremden Körper fast blind. Er wußte, wie er an sein Ziel gelangte. Er hatte es schon einmal aufgesucht, im Traum allerdings nur. Diesmal würde er selbst vor das Tor treten.
Leibhaftig gewissermaßen … Fröhliches Kinderlachen geisterte durch die Gänge und Stollen tief unter Monte Cargano.
* Landru watete im Blut seiner Opfer. Im übertragenen Sinne freilich nur, aber er schlug sich doch wacker. Die Tricks seiner Gegner glich er durch Geschick und Schnelligkeit aus, und so dezimierte er die Reihe des Feindes nach und nach. Stets erwischte der Vampir genug Blut aus ihren Wunden, um in die Waagschale geworfene Kraft zurückzugewinnen – und ein bißchen mehr dazu. Es klappte solange, bis die Brüder Verstärkung erhielten. Sie quollen förmlich aus dem Zugang zum Hauptgebäude hervor, und binnen Sekunden war ihre Zahl kaum mehr zu schätzen. Landru gab sich keinen Illusionen hin. Gegen diese Übermacht hatte er keine Chance. Und so würde Flucht nicht gleichbedeutend mit Feigheit sein, sondern nur Taktik. Überdies hatte er vorerst gefunden, weswegen er gekommen war. Er fühlte sich gekräftigt, wenn auch noch weit entfernt von alter Stärke. Aber die war mit Blut allein ohnehin nicht zu erreichen. Der Hüter leitete die Verwandlung ein und schwang sich empor in die Luft … »Er flieht!« »Er entkommt!« »Das darf nicht geschehen!« »Das wird nicht geschehen!« brüllte eine Stimme mit der Macht eines Sturmes. Dann rief der Rothaarige Namen in die Menge. Eilends traten die Gerufenen zu ihm. Sie bildeten einen Kreis, schlossen ihn mit ihren Händen. »Eure Kraft in meine!« brüllte die Stimme des Rotschopfs. »Meine
Kraft in eure!« Elmsfeuer umflorte die Körper jener, die da im Kreis standen. Sie hoben die Blicke, visierten die Fledermaus an. Landru spürte die Blicke wie elektrisierende Berührungen. Unter ihm nahm das Leuchten um die Brüder zu. Immer heller wurde es, greller – und dann entlud es sich! In einem Blitz, der nicht vom Himmel herab, sondern zum Himmel auffuhr! Landru vollführte noch einen tollkühnen Schwenk. Doch dem Blitz entkam er nicht. Einer gewaltigen Speerspitze gleich traf das weißglühende Licht seinen Körper. Es tötete ihn nicht, löschte nicht einmal sein Bewußtsein. Es lähmte ihn nur. Zu keiner noch so geringen Bewegung mehr fähig, stürzte Landru ab. Wie ein Stein schlug er inmitten des Kreises der Brüder auf.
* Adrien hatte Mühe, halbwegs in Salvats Schatten zu bleiben. Mit raumgreifenden Schritten hastete der Ordensführer durch das felsige Labyrinth. »Du weckst also die Schläfer?« fragte der Alte, schon merklich schwerer atmend. »Natürlich. Ihre Stunde ist gekommen«, erwiderte Salvat. »Sie müssen tun, weshalb sie die Jahre seit ihrer Geburt schlafend und träumend zubrachten. Behütet und abgeschirmt von allem Übel der Welt, so daß sie zur personifizierten Unschuld wurden. Reinheit in ihrer ureigensten Form erfüllt sie, und so kann keine Macht Böses in ihnen wecken – weil es nichts zu wecken gibt!« Adrien lachte freudlos auf. »Man sollte die ganze Menschheit in solchen Schlaf versetzen. Es gäbe nichts Böses mehr auf der Welt.«
»Wie langweilig wäre eine solche Welt«, gab Salvat trocken zurück, ohne auch nur eine Spur langsamer zu werden. Sie langten vor der Kammer an, aus der Salvat Morphea geholt hatte. Es war erst wenige Stunden her, und doch schien ihm eine Ewigkeit vergangen seitdem. So vieles war geschehen … Er langte nach der Tür, öffnete sie – und wich zurück. Ein fahles Glimmen wehte ihnen entgegen und an ihnen vorüber, ehe es ein Stück entfernt verging. Dunkelheit füllte die Kammer jenseits der Schwelle. »Wir kommen zur rechten Zeit«, sagte Salvat und trat ein. »Wie meinst du das?« fragte Adrien, der ihm nachfolgte. »Das Leuchten«, erwiderte Salvat und wies auf den Gang hinaus. »Es ist verloschen. Und damit erlischt auch ihre Welt, die Morpheas Macht aufrechterhalten hatte.« Dabei deutete er auf die bleichen schlafenden Gestalten, die im Kreis um sie herum träumten. Noch … »Erwacht!« befahl Salvat.
* Das Glimmen in der Luft verblaßte – und verlosch. Simon stöhnte auf. »Es ist vorbei«, sagte Thaddäus an seiner Seite. »Nein«, erwiderte Jakobus. »Es beginnt erst.« Die Welt um sie her starb. Alle Pflanzen verdorrten und wurden zu Staub, und jedes Tier sank tot hin und wurde eins mit der Erde, von der es genommen war. jeder Berg zerbrach, und jedes seiner Stücke verging. Alles Wasser versickerte im Staub, zu der die Welt geworden war. Doch als die Zwölf schon selbst zu sterben fürchteten, hörten sie die Stimme wie von einem Engel, die ihnen befahl: »Erwacht!« Und sie gehorchten der Stimme.
Jeder einzelne von ihnen, wie sie da hießen mit Namen, von denen sie nicht wußten, wer sie ihnen gegeben hatte: Simon, Andreas, Johannes, Philippus, die beiden Jakobus’, Bartholomäus, Thomas, Matthäus, Thaddäus, Simon Kananäus und Judas Iskariot. Sie alle schlugen die Augen auf, zum allerersten Mal. Und sie sahen eine Welt, die anders war als die ihre. Eine Welt, so fremd und unrein, daß sie nicht in ihr leben mochten. Aber jeder einzelne von ihnen wußte, daß sie dieses Leben nicht lange würden erdulden müssen. So sagten es die Worte ihrer Bestimmung … Salvat wies ihnen die Tür. »Gehet hin und tut, was euch aufgetragen ist«, sagte er, ruhig, fast kalt, obwohl er wußte, daß er sie in den Tod schickte. Stumm gingen die Zwölf an ihnen vorüber und hinaus. Zum Tor hin … »Willst du ihnen nicht folgen?« wollte Adrien erstaunt wissen, als die zwölf wie Tote aussehenden und alterslos erscheinenden Männer (Waren sie denn Männer? fragte er sich selbst) verschwunden waren und ihre Schritte draußen verklangen. »Sie finden ihren Weg. Er ist ihnen vorgezeichnet«, behauptete Salvat. Er wandte sich zum Gehen. »Laß uns sehen, ob unsere Brüder siegreich waren.« »Gegen wen haben sie gekämpft?« fragte Adrien auf dem Weg nach oben. »Gegen etwas Ungeheuerliches«, antwortete Salvat. Er hatte recht. Und irrte sich doch.
* Als Salvat und Adrien das Labyrinth hinter sich ließen, hörten sie nichts von dem Kampfeslärm, den sie erwartet hatten. Keine Schreie – weder solche, wie sie in der Schlacht gebrüllt wurden, noch von
der Art, wie sie im Moment des Todes aufstiegen. Das konnte ein gutes Zeichen sein, eines, das auf Sieg hinwies … … ebenso aber auch ein schlechtes, wenn es die Folge von Niederlage war. Erst als die beiden Männer fast schon aus dem Gebäude getreten waren, vernahmen sie leises Raunen, ohne etwas daraus zu verstehen. Und als sie schließlich hinausgingen, sahen sie die Brüder auf dem Hof versammelt wie in einem großen Kreis, um etwas herum. »Was ist?« wollte Salvat wissen, nun doch endlich erregt. »Sieh selbst«, klang es ihm entgegen. Eine Gasse bildete sich in der Menge, von Schweigen flankiert. Salvat stürmte sie entlang, Adrien ihm nach, bis der Alte gegen ihn stieß, weil er unvermittelt stehenblieb wie gegen eine Wand gelaufen. Zu Salvats Füßen lag der, den die Bruderschaft bezwungen hatte. Eine Kreatur, weder Mensch noch Tier, und doch zur Hälfte beides. In den Zügen ihrer Visage dominierte das Menschliche. Es waren die eines Mannes, den anscheinend nicht Jahre hatten altern lassen, sondern tiefe Erschöpfung. In den Falten zeichnete sich das rote Fleisch einer Narbe ab, deren Form Salvat vorkam wie eine Verhöhnung des Zeichens Christi … Die Mundpartie war eher die eines Tieres, wie zu klein geraten, und die Zähne, die in dem Maul blitzten, waren winzig. Der Leib selbst weckte allein durch seinen Anblick Schmerz. Nichts daran war auch nur entfernt von natürlicher Proportion. Die Glieder an einer Stelle dürr und zerbrechlich, an anderer wieder von kräftigem Wuchs. Hier sproß borstiges Haar, da lag nackte Haut. Und aus dem Rücken der verkrümmt daliegenden Gestalt ragte etwas hervor, das verkrüppelten Flügeln gleichkam … »Es ist vollbracht!« Salvat vernahm Bruder Banshees Stimme und antwortete ihm, ohne auch nur aus den Augenwinkeln zu ihm hinzusehen. Sein
Blick hing wie gebannt an der unglückseligen Kreatur. »Einen Teufel habt ihr …« »Den Teufel gefangen, das ist wohl wahr«, gab sich der Ire lautstark überzeugt. »Das habt ihr nicht«, entgegnete Salvat, mühsam das Beben seiner Stimme beherrschend. »Aber sieh doch hin!« fuhr Bruder Banshee auf. »Er –!« »Schweig!« brüllte der Ordensführer. Stille trat schlagartig ein, in der nur die vagen Bewegungen der Kreatur zu vernehmen waren. Knirschend und feucht klingend schritt die Mutation fort. »Das ist nicht der, den ich sah in den Träumen.« Salvats Worte tropften schwer in die Stille, und ihr Echo schien wie niemals enden wollend zwischen den Felsen ringsum hin und her zu wehen. »Wer ist er dann?« fragte Adrien hinter ihm leise. »Ich weiß es nicht.« »Wen hast du denn gesehen?« wollte der Alte weiter wissen. »Ein …«, begann Salvat, doch ein Ruf aus der Menge unterbrach ihn. »Da! Seht!« Als hätten alle den Fingerzeig des einen Bruders gesehen, wandten sie den Blick gemeinsam in die gewiesene Richtung. Jeder sah, was die Aufmerksamkeit des Bruders auf sich gezogen hatte. Zwei Schemen, die sich dunkel gegen das Firmament abzeichneten, groß und mächtig der eine, klein und unscheinbar dagegen der andere. Beide sanken sie mit ausgebreiteten Flügeln auf die Krone der Klostermauer herab. Doch bevor sie den Fels des Wehrganges berührten, änderte sich beider Gestalt. Sie nahmen menschliche Form an, und schließlich standen da oben: eine Frau und ein Mann, beide mit langem, dunklem Haar, in dem der Wind spielte. Wie auf ein geheimes Kommando traten die Brüder näher zur
Mauer hin, schweigend. Allein Salvat sprach. Ein einziges Wort nur. Es kam ihm ohne Haß und Zorn über die Lippen, weil er nichts mehr fand von all dem, was er bis vor kurzem noch für sie empfunden hatte. Und so schien dieses eine Wort für die Ohren aller anderen ohne jeden Sinn: »Mörderin …«
* »Was meint er damit?« Hidden Moon fragte es, ohne den Blick von der Menge unter ihnen zu nehmen. »Ich weiß es nicht«, antwortete Lilith. »Er scheint mich zu hassen …« Und nach einer kurzen Pause, in der sie sich des leidenschaftslosen Tonfalls des anderen entsann: »… oder mich hassen zu wollen. Warum auch immer …« »Wir sind hier, um den Grund zu erfahren«, erinnerte der Arapaho sie. Sie hatten noch eine ganze Weile, in der Lilith sich erholen konnte, auf dem Felsvorsprung zugebracht. Als jedoch hoch über ihnen der Blitz zum Himmel aufgefahren war, hatte Hidden Moon zum Aufbruch gedrängt. Ohne zu wissen, ob ihnen Gefahr drohte von dem, was hinter den Mauern des Klosters vorging. Er war allein seinem Instinkt gefolgt, und Lilith hatte sich ihm anvertraut. »Ich glaube nicht, daß die uns einen Grund nennen werden«, warf Lilith ein. »Die sehen eher aus, als wollten sie uns lynchen.« Hidden Moon holte tief Luft. »Wir sind –« »Wir wissen, wer ihr seid!« schallte es ihm entgegen. »Und was ihr wollt!« rief ein anderer. Die Menge der Mönche schob sich weiter vor, wie ein Ozean, den die Gezeiten bewegten. »Laßt uns nicht länger reden!« tönte es. »Ja, handeln wir endlich!«
Die Worte waren noch nicht verklungen, als Lilith und Hidden Moon sich auch schon attackiert – fühlten, nicht sahen! Hände griffen aus dem Unsichtbaren nach ihnen, packten sie und zerrten und stießen sie von der Mauer, hinein in die Menge. Mit ein paar raschen Hieben, in denen sie beide ihre übermenschliche Kraft legten, verschafften sie sich ein wenig Luft. Wenn auch nicht für lange … Eine einzelne Faust reckte sich Lilith entgegen, und die Faust veränderte sich, schien plötzlich zu glühen. Lilith meinte die Knochen der Hand durch die Haut schimmern zu sehen, als auch schon ein ungeheurer Energieschlag sie niederstreckte. Hidden Moon stürzte neben sie, obwohl auch ihn niemand berührt zu haben schien. Schatten legten sich drohend über sie, als die Mönche den kleinen Kreis um sie herum noch enger zogen. »Hört auf!« Lilith identifizierte die Stimme als die desjenigen, der sie schon so herzlich willkommen geheißen hatte. »Was …?« fragte jemand. »Auch diese beiden sind nicht jene, von denen die Gefahr droht«, antwortete der andere. Ein Schrei drang von hinten her durch die Menge. »Er ist weg! Seht, er ist verschwunden!« Das Interesse an Lilith und Hidden Moon erlosch fast übergangslos. Die Brüder drängten von ihnen fort, dorthin, wo die Stimme aufgeklungen war. »Wo ist er hin?« »Hat ihn denn niemand bewacht?« Unruhe legte sich spürbar über die Versammelten. Lilith und Hidden Moon bahnten sich einen Weg zum Zentrum des scheinbaren Geschehens. Scheinbar deshalb, weil sie nichts vorfanden, als sie dort anlangten.
»Es kann nur einen Ort geben, zu dem es ihn zieht«, sagte der Mann neben Lilith. Es handelte sich um jenen, den sie aus den Visionen kannte, doch er schien sie in diesem Moment nicht einmal wahrzunehmen. »Aber was will er dort?« fragte ein alter Mönch mit silbergrauem, schütterem Haar. »Salvat, du sagtest doch, er wäre nicht …« »Das zählt nicht. Ich spüre, daß er auf dem Weg ist«, antwortete der, den der Alte Salvat genannt hatte. »Was immer auch seine Absicht sein mag, ich muß ihn aufhalten!« »Wen denn, zum Teufel? Wer ist er?« entfuhr es Lilith verwirrt. »Der Hüter …« Erstaunt wandte sie sich Hidden Moon zu, der aus geschmälten Augen zum Hauptgebäude hinsah. »Landru?« Der Arapaho nickte knapp. »Ich spüre seine Aura. Komm!« Er rannte los, schuf sich rücksichtslos Bahn. Auf halbem Weg über den Hof leitete Hidden Moon die Verwandlung ein und schoß als gefiederter Schemen mit machtvollen Flügelschlägen in das Hauptgebäude hinein. Lilith zögerte nicht, ihrem Gefährten zu folgen. Auch wenn ihre Schwingen sie nicht so rasch vorantrugen wie ihn, war sie doch schneller als die Brüder hinter ihr, die ebenfalls zu laufen begannen.
* Wäre Aleksej noch er selbst gewesen, so wäre er vor Ehrfurcht erstarrt beim Betreten jenes Bereiches tief unter Monte Cargano, den die Bruderschaft die »Innere Halle« nannte. So aber schritt der junge Mann unbeeindruckt weiter hinein, vorüber an den mächtigen Säulen, die die himmelhoch scheinende Decke des Felsendoms stützten, und durch das grünliche Leuchten, das aus den Wänden selbst sickerte und alles in weiches, nebliges Licht
tauchte. »Heda! Bleib stehen!« Gabriel ließ Aleksej auf den Zuruf nicht einmal reagieren. Er wußte um die Wächter des Tores und nahm sich ihrer selbst an. Ohne Spielerei wie vorhin noch bei Cadfael. Seine Macht reichte längst aus, um sich solcher Probleme im Vorübergehen zu entledigen. Zwölf Brüder waren es, die zu Wächtern berufen worden waren – und denen die Berufung nun den Tod eintrug. Ihr Fleisch wurde ihnen welk auf den Knochen, als sie Aleksejs ansichtig wurden, und ihre Knochen selbst zerfielen zu Staub. Die zwölf anderen indes, geisterhaft bleich wirkende Gestalten, taten nichts, reagierten in keiner Weise auf den Eindringling. Gabriel kannte sie nicht, wußte nicht, weshalb sie hier standen, im Halbkreis aufgereiht um das Heiligtum. Bei seinem Besuch im Traum waren sie jedenfalls noch nicht hiergewesen. Sie irritierten ihn. Und seine Verwirrung wuchs noch, als er feststellen mußte, daß er ihnen nichts anhaben konnte. Weil er nichts in ihnen fand, was für seine Macht angreifbar gewesen wäre. Eine Erfahrung, für die er in seinem immensen Wissen keine Erklärung fand. Aber solange sie nichts taten oder ihn gar aufzuhalten versuchten … Gabriel ließ Aleksej sich dem Heiligtum zuwenden. Es war gewaltig und auf eine Weise beeindruckend, der nicht einmal Gabriel sich zu entziehen vermochte. Das Portal nahm den größten Teil der Nordwand der Halle ein. Es bestand aus dunklem Eichenholz und zwei Flügeln, von denen jeder so groß war wie ein Haus. Über und über war es mit Nieten beschlagen, die in ihrer Gesamtheit sinnverwirrende Muster schufen. Gewaltige Riegel und Schlösser sollten dafür sorgen, daß niemand das Tor öffnete. Gabriel verließ Aleksej, trat wie ein Schemen aus dem Körper des
Adepten und gewann dann feste Substanz, während der junge Russe an seiner Seite niedersank wie eine Hülle, die ihres Inhalts beraubt worden war. Das Kind sah auf. Die Nieten auf dem geschwärzten Eichenholz begannen zu glühen und schließlich in weißer Glut zu schmelzen. Die alten Zeichen lösten sich auf, als das flüssige Metall zischend am Holz herablief. Gabriel stand da, als würde er nichts anderes tun als nur interessiert zuzusehen, was da passierte. Ein gewaltiges Knarren und Ächzen ließ das Portal erbeben und pflanzte sich in den Fels ringsum fort, als schließlich auch das letzte Symbol verschwand. Aufmerksam betrachtete der Knabe nun die Riegel und Schlösser des Tores. Und verfuhr mit jedem einzelnen davon in gleicher Weise. Ein Riegel nach dem anderen brach, wenn er in Weißglut stand. Und ein Schloß nach dem anderen gab rumpelnd nach, wenn ein glühender Schlüssel sich darin drehte.
* Landru fühlte sich längst nicht stark, als die Lähmung des Bannstrahls endlich von ihm abfiel. Dennoch konnte er der Versuchung nicht widerstehen, der Spur zu folgen, der Fährte des verhaßten Kindes … Ein anderes Balg, das er ebenso sehr verfluchte wie den Knaben, hatte ihm unwissentlich die Flucht vor der mysteriösen Bruderschaft ermöglicht. Lilith Edens Auftauchen hatte die Aufmerksamkeit der Mönche von ihm abgelenkt. So konnte er ungesehen verschwinden, als er wieder vollends Herr seines Körpers war. Wie ein Schatten stahl Landru sich in das Gebäude und folgte der Witterung, bis er an einer Treppe anlangte, die direkt in den Fels des Berges führen mußte. Die Zahl der Stufen schien endlos. Irgend-
wann erreichte der Hüter aber doch einen Gang, dem er folgte, um in andere abzubiegen, wenn die Spur des Kindes es tat. Manches Mal vollführte sie auf völlig ebener Strecke abrupt einen Schwenk, und Landrus scharfer Blick erkannte, weshalb das so war. So wich auch er jeder Falle aus, die man für ungebetene Besucher hier unten eingerichtet hatte. Wo mochte die Fährte hinführen, wenn man den Weg an ihr Ziel solcherart sicherte? Ihr Ziel … Gabriels Ziel. Landru fragte sich, worin das Ziel des Knaben bestehen mochte. Was hatte er vor, was war seine Aufgabe, seine Bestimmung vielleicht …? Er würde es erfahren. Bald schon. Denn er spürte, daß die Spur dichter wurde, daß das Kind nahe war … Und dann sah er es! Fast unvermittelt fand Landru sich in einer gewaltigen, von grünem Licht erfüllten Halle im Fels wieder, in der eines alles beherrschend war. Ein haushohes Tor … das sich in genau diesem Moment – – öffnete.
* Das Knarren und Ächzen des Tores war von schmerzhafter Lautstärke und so machtvoll, daß es sich im Fels fortsetzte und Wände, Boden und Decke erbeben ließ. Die Hälften des Portals schwangen auseinander, wie zögernd noch, als rührte die Bewegung nur von ihrem Gewicht her. Doch Landru konnte spüren, daß etwas von der anderen Seite her im Begriff war, sich gegen das schwarze Holz zu werfen, um das Tor schier zu sprengen.
Noch aber klaffte zwischen den gewaltigen Flügeln nicht mehr als ein vielleicht armbreiter Spalt, den Schwärze füllte. Doch diese Finsternis schien Landru, als bewegte sich etwas in ihr; etwas, das nicht ans Licht wollte, noch nicht, weil es Äonen im Dunkeln zugebracht haben mochte … Das Kind stand ungerührt, wie teilnahmslos genau vor diesem Spalt. Hinter ihm reihten sich zwölf bleiche Gestalten im Halbkreis, reglos wie Statuen aus hellem Stein. Der einstige Gralshüter ging weiter in die Halle hinein. Im ersten Moment war sie ihm wie eine Kathedrale erschienen, doch jetzt war es, als würde alles Heilige und Geweihte fortgewaschen. Weder die Zwölf noch der Knabe wurden auf den Vampir aufmerksam. Ihr Augenmerk galt einzig dem Tor – oder vielmehr dem, was dahinter war. Und auch Landru selbst verlor das Interesse an den dreizehn Gestalten davor. Auch ihn zog viel stärker an, was sich noch immer in Schwärze hüllte, als müßte es noch sondieren und sich sammeln. Derweil legte Landru die Hälfte des Weges zum Portal hin zurück. Was um ihn her war, würdigte er kaum eines Blickes. Nicht, weil es ihn nicht interessiert hätte, sondern weil das Tor ihn wie in Bann schlug. Was immer sich noch in seinem Schutz verbarg, Landru fühlte eine vage Vertrautheit – die eisiges Entsetzen in ihm weckte. Denn die Finsternis dort übertraf jene seiner eigenen Seele in unvorstellbarem Maße! Schon jetzt, da das Fremde jenseits des Tores noch nicht einmal recht erwacht schien … Das dunkle Wogen zwischen den Hälften des Portals nahm zu. Stück um Stück glitten sie weiter auseinander, und jede Handbreite, die sie aufschwangen, ging einher mit Krachen und Beben, als wollte der Felsboden des Domes jeden Moment aufbrechen.
Dann – ein Laut wie ein Seufzen, wie vor Erleichterung, aber das bloße Geräusch war schon von erschütternder Macht. Und mit dem Laut wehte ein Atem von jenseits gegen das Holz, dem die Gewalt eines Sturmes innewohnte! Wie unter der Wucht von Riesenfäusten wurde das Tor aufgerissen! Und der Atem fegte in die Halle! Der Sturm füllte sie, und seine Kraft schien groß genug, den Fels bersten zu lassen. Der Atem, der ihn entfachte, trug stinkende Dämpfe mit sich und eisige Kälte, die alles in dem Dom und den Fels selbst mit ätzendem Reif umkrustete. Landru fühlte sich gepackt und wie in Säure geworfen. Seine Haut brannte, und der Schmerz drang tiefer, versengte ihm jeden Nerv. Der Vampir brüllte – nicht allein des Schmerzes wegen, sondern weil er instinktiv wußte, daß all dies erst der Auftakt war. So mußte es sein, ging es ihm durch sein tosendes Denken, wenn die Hölle selbst sich auftat …! Während der Sturm ihn hin- und herschleuderte, gelang es ihm, aus tränenden Augen zum Tor hin zu sehen. Und er sah, daß der Atem aus der Dunkelheit dort plötzlich »Dinge« mit sich trug. Wie ausgespien vom Maul eines gewaltigen Wesens drangen sie durch das Tor. Schlierige Dinge, wie glühender Nebel und unablässig ihre Form verändernd. Doch in einzelnen Phasen der steten Veränderung glaubte Landru verzerrte, durchscheinende Gesichter eher zu erahnen, denn wirklich zu sehen. Fratzen, die Wahnsinn, Schmerz und unvorstellbare Empfindungen geformt hatten und denen doch eines gemeinsam war: In ihren wabernden Zügen schien etwas zu liegen, das Landru wie Erleichterung vorkam. Erleichterung darüber, daß sie ein unmenschliches Joch abgestreift hatten … Immer mehr der glühenden Nebelgeister trieben aus dem Tor. Die Schwärze dahinter schien mit einemmal wie von glutgefüllten Löchern zerrissen, und durch diese Risse kamen jene Wesen, ritten auf
dem fremden Atem und fuhren ohrenbetäubend kreischend und jaulend und wie suchend durch den Dom. Und sie fanden – – Landru! Ihre streifenden Berührungen schürten seine Schmerzen noch. Längst hatten sie jene Grenze erreicht, hinter der sie selbst einem wie Landru unerträglich werden mußten. Er lernte den Wahnsinn kennen, von Angesicht zu Angesicht. Er erschien ihm in Gestalt einer grinsenden Visage, die körperlos auf Tausenden von eisigen Tentakeln und auf dürren, vielgelenkigen Gliedern saß, die sich alle zugleich nach ihm streckten … Aber sie bekamen ihn nicht. Etwas riß ihn zurück, bevor sein Verstand von kalten Spinnenfingern zerrissen werden konnte. Der Atem aus dem Tor … er strömte nicht länger in den Dom. Was immer ihn ausgestoßen hatte, schien nun plötzlich – einzuatmen! Der Sturm kehrte sich um, wurde zum Sog, der an allem riß und zerrte. Die nebelhaften Wesen widerstanden ihm, vielleicht, weil sie keine Substanz besaßen, an der die Macht des Atems sie greifen konnte. Landru indes war ihm ausgeliefert. Haltlos wurde er auf das weitgeöffnete Tor zugezogen. Und hinein. Der Hüter tauchte in die Schwärze. Die glutbrodelnden Löcher darin wuchsen um ihn her zur Größe von Sonnen, deren Hitze ihn marterte, aber nicht verbrannte. Statt dessen verschmolz Landru damit, ohne aber wirklich zu vergehen. Und so stürzte er hinein in etwas – – das ihm sein ganz persönliches Fegefeuer war.
*
Hidden Moon fegte förmlich in die Halle. Keine Spur von Landru. Doch sein Verbleib erschien ihm plötzlich ohnehin nicht mehr von Bedeutung. Was er sah und spürte, übertraf alles andere. Ein riesenhaftes Tor, das sperrangelweit aufgetan war. Ein Kind. Zwölf totenbleiche Gestalten. Und etwas, das wie ein Sturm an ihm zog und zerrte und in dem die Geister Verdammter tanzten. Der Atem einer fremden Macht mußte es sein, und er umtoste Hidden Moon nicht einfach nur, sondern drang in ihn – und rührte tief in seinem Innersten an Dingen, die er selbst nicht einmal in Gedanken zu berühren wagte, geschweige denn nutzte. Sie lagen brach seit langer Zeit, und so mußte es bleiben! Finstere Begierde wurde aufgewühlt in verborgenen Winkeln seines Ichs. Hilfe! durchfuhr es Hidden Moon, während er sich in menschliche Gestalt zurückzwang. Ich brauche Hilfe! Nur eine konnte sie ihm gewähren. Er rief, brüllte ihren Namen: »LILITH!« Doch die Gefährtin taumelte, noch immer im Körper einer Fledermaus, einem welken Blatt im Sturmwind gleich durch den Dom. Geradewegs auf das Tor zu!
* Eli, Eli, lama asabtani? (Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?) Matthäus, Kap 27, Vers 46
Lilith glaubte auf dem Weg in die Tiefe den Wind zu spüren, den der rasende Flug des Adlers verursachte. Wie von einem Sog fühlte sie sich darin mitgerissen, so daß die Distanz zwischen ihr und Hidden Moon nicht allzu groß wurde. Dann plötzlich gewann der Sog an Macht. Sie erkannte, daß er nicht länger von der Bahn des Arapahos herrührte. Und entsetzt stellte sie fest, daß sie dieser Kraft in ihrem immer noch geschwächten Zustand nicht entkommen konnte! Schwärze und wie irr tanzende und heulende Geistwesen füllten ihr Blickfeld, während sie haltlos dem Schlürfen einer gewaltigen Kraft ausgeliefert war. Bis die Finsternis sich ganz und gar um sie schloß, alles beherrschend wurde – – und in ihrem Denken nur noch Raum für einen Wunsch ließ. Zu sterben …
* Salvat rannte, als wäre der Leibhaftige höchstselbst hinter ihm her. Hinter ihm … Lachhaft … Er gestattete sich ein knappes Grinsen. Am Beginn der Treppe blieb er so plötzlich stehen, daß es ihn selbst überraschte. Irgend etwas hatte ihm befohlen, es zu tun. Und er hatte es umgehend getan. Ebenso schien ihm das Fremde die Worte einzuflüstern, die er laut an die ihm nachfolgenden Brüder weitergab: »Bleibt zurück!« »Aber …« »Ich befehle es euch. Ich gehe allein hinab.« Was rede ich da? durchfuhr es ihn, aber er widerrief seine Worte nicht. Aus einer Gewißheit heraus, die einfach in ihm war und die
ihm sagte, daß die Anwesenheit aller Brüder dort unten nicht erforderlich sein würde. Was zu tun war, mußte er allein vollbringen – ob es ihm gelingen würde oder nicht, war eine andere Sache … Jedenfalls war es nicht notwendig, sie der Gefahr auszusetzen – und vor allem mußte er sein eigenes Geheimnis nicht vor ihnen lüften … Salvat wandte sich an Adrien. »Wenn ich nicht zurückkehre …«, sagte er. »Sag es nicht«, erwiderte der Alte. »Du kennst die Redensart: Man soll den Teufel nicht an die Wand malen.« »… dann führe du den Orden, bis …«, sprach Salvat dennoch weiter. »… bis dein Nachfolger herabsteigt?« vollendete Adrien den Satz als Frage. »Herab oder herauf«, sagte Salvat bitter. »Manchmal bin ich mir dessen selbst nicht sicher, alter Freund.« Adrien nickte ihm zu, wie zum Abschied. Dann wandte Salvat sich um und trat auf die Treppe. Als er die erste Kehre hinter sich gelassen hatte, riß er sich die Kutte vom Leib. Er durfte keine Zeit verlieren, nicht eine Sekunde vielleicht. Er spannte die Muskeln seines Rückens und seiner Schultern, daß sie wie Taue anschwollen und hervortraten. Dann raste er ähnlich dem Adler zuvor durch die Stollen und Gänge. Nur ungleich schneller.
* Hidden Moon sah Lilith jenseits des Tores verschwinden. Die glutdurchwobene Schwärze dort verschlang sie wie ein gefräßiges Maul. Und er spürte, wie das geheime Band zwischen ihnen riß. Als hätte Lilith diese Welt verlassen … Augenblicklich nahm das dunkle Wallen in ihm zu. Der Arapaho nutzte die sekündlich dahinschwindende Zeit, in der
er noch er selbst sein durfte. Er ergab sich dem Sturm, ließ sich auf das Tor zureißen, damit die Finsternis auch ihn fraß. Vielleicht würde er darin mit Lilith vereint sein, vielleicht sterben – was auch immer dort mit ihm geschah, es konnte nicht schlimmer sein als jenes Dasein, das im Diesseits seiner harrte, gierig und geifernd. Doch Hidden Moon erreichte das Tor nie. Eine andere Macht langte nach ihm, entriß ihn dem Sturm und warf ihn zu Boden, wo sie ihn wie mit Ketten niederhielt. Sein Blick fiel in die Richtung des Eingangs zu der Halle. Wo ein Wesen aufgetaucht war, das dem entstammen konnte, was die Menschen Himmel nannten – – aber ebensogut geradewegs der Hölle!
* Sein nackter, sehniger Leib war der eines Menschen, sein kantiges, von tiefen Linien durchfurchtes Gesicht Hidden Moon vertraut. Doch alles andere erschien dem Arapaho einzig – monströs! Und selbst dieses Wort schien ihm nicht das richtige zu sein, um zu beschreiben, was er sah. Riesenhafte … Gebilde, die dem Mann aus dem Rücken wuchsen, das eine nicht geformt wie das andere. Und doch hielten ihn diese schlagenden und sich in sich bewegenden »Flügel« über dem Boden. Die Schwingen bestanden weder aus Federn, noch aus etwas, das Flughäuten auch nur ähnlich sah. Sie waren ein in seiner Struktur wahnsinnerweckendes Geflecht aus schwarzen Strängen unterschiedlichster Stärke, und jeder einzelne davon schien sich zu winden, als würde ihn ganz eigenes Leben erfüllen … Hidden Moon schloß die Augen. Für einen Moment wenigstens. Der bloße Anblick dieser Ungeheuerlichkeiten schmerzte ihn, weckte Schwindelgefühl und Übelkeit. Währenddessen nahmen die Dinge ihren Lauf.
Eine Stimme erhob sich über das Brausen, mit dem der Sturm der Schwingen und der Atem aus dem Tor aufeinanderprallten. Hidden Moon öffnete erst dann wieder die Augen, als er in all dem Chaos ein Ächzen und Knarren hörte. Wie von einem sich schließenden Tor …!
* Salvat sah den Knaben in der Inneren Halle – das Kind, das er aus den Visionen als jenen kannte, der kommen würde, um das Tor zu öffnen. Er war gekommen, und er hatte das Tor aufgetan. Und was seit Äonen dahinter eingesperrt gewesen war, sandte schon seinen verderblichen Atem in diese Welt. Salvat folgte dem Großen Plan. Er rief die Worte, die seit Anbeginn in ihm waren. Sie schmerzten ihn ob ihrer Fremdartigkeit in der Kehle wie auf der Zunge. Aber er hielt nicht ein. Seine Worte öffneten die Zwölf, Gefäßen gleich, in die strömen konnte, was durch das Tor herüberkam. Wo es nichts Böses wecken konnte. Währenddessen verstärkte er die Bewegung seiner Schwingen, die seit jeher nur deshalb auf Gemälden nicht in ihrer wahren Form gezeigt wurden, weil niemand ihren Anblick lange genug ertrug, um sich hernach noch daran erinnern zu können … Unter der Gewalt von Salvats Orkans bewegten sich die Flügel des Portals. Zurück …! Das Tor schloß sich, und im gleichen Maße versiegte, was daraus griff und wehte und in die Zwölf hineinfloß. Dumpf schlug das Portal zu, und Salvat machte sich, getreu dem Großen Plan, daran, es erneut zu versiegeln. Dem Kind widmete er nur einen geringen Teil seiner Aufmerksamkeit. Von ihm drohte keine Gefahr, im Augenblick zumindest nicht. Es hatte getan, weswegen es gekommen war, und darüber
hinaus schien seine Konditionierung nicht zu reichen. Einhalt wurde Salvat von anderer Seite geboten. Der, der sich in einen Adler zu verwandeln vermochte, kroch über den Boden auf ihn zu, mühsam Worte keuchend. »Öffne … das … Tor … bitte!« »Bist du von Sinnen?« entgegnete Salvat mit unverändert machtvoller Stimme. »Ich flehe dich an, es zu tun.« »Niemals, und nun – schweig!« befahl Salvat. Flammen lösten sich schlangengleich von der Klinge seines Schwertes, krochen zu Hidden Moon hin und fesselten ihn in Schmerz. Salvat trat zu den Zwölf, hob das flammende Schwert der Cherubim – und erschlug jeden einzelnen von ihnen! Doch sie starben nicht unter seinen Hieben. Die Macht des Schwertes ließ ihre Körper zerbersten, und ihr Blut sprengte wie kochend gegen das Eichenholz des Tores, wo die Tropfen gerannen und in ihrer Gesamtheit die alten Zeichen formten. Auch die Teile ihrer Leiber trieb es zum Portal hin, wo sie zu flüssiger Glut schmolzen, um in neuer Form zu erstarren und das Tor verschlossen und verriegelten. Als es vollendet war, nahm Salvat den Knaben bei der Hand. Vor Hidden Moon blieb er stehen und sah auf ihn hinab. »Die Flammen mögen verbrannt haben, was von jenseits des Tores in dich kam. Ich befreie dich und lasse dich ziehen, wenn du schwörst bei deinem Blute, daß du nie zurückkehrst an diesen Ort.« Hidden Moon schwieg, obschon der Schmerz ihn jeden Eid schwören lassen wollte. »Nun?« fragte Salvat. »Öffne … das … verdammte … TOR!« »Nie mehr. Nichts und niemand wird mehr von hier hinüber gelangen – und nichts und niemand von drüben hierher zurückkehren!
Diesen Preis bin ich mit Freuden bereit zu zahlen.« »Du wirst … mit deinem … Leben bezahlen …, wenn du … es nicht tust …!« knirschte Hidden Moon voll Wut und Verzweiflung. Salvat lächelte düster. »Es gibt wenige Dinge, die selbst ich mit Gewißheit zu sagen weiß. Eines davon ist, daß dein Schwur sich nie erfüllen wird.« »Wart’s … ab …«, ächzte Hidden Moon, sich nach wie vor in Flammen wälzend, ohne sich von der Stelle bewegen zu können. »Vertrau mir, wenn ich dir sage, daß ich genug Zeit habe, um zu warten bis in alle Ewigkeit«, erwiderte Salvat. »So lange mußt du nicht warten.« »Du hattest die Wahl«, meinte Salvat und ging, den Knaben mit sich führend. Durch das Wabern des Feuers hindurch sah Hidden Moon ihm nach, beobachtete, wie die monströsen Flügel sich zurückbildeten, bis sie wie verkrüppelte Gewächse zwischen Salvats Schultern hervorragten. Der Arapaho blieb allein zurück. Für Stunden. Bis es ihm gelang, die feurigen Schlangen soweit niederzuringen, daß er ihnen entkommen konnte. Dann floh er. Ohne auch nur versucht zu haben, das Tor zu öffnen, verschwand er aus dem Kloster. Seine Verzweiflung über Liliths Verlust schien hinter den Mauern Monte Carganos zurückzubleiben. Der scheinbar grundlose Schmerz in ihm war nur noch irritierend. Denn als der Adler sich draußen in die Nacht aufschwang, begann schon die dunkle Kraft zu seinem Seelentrieb zu werden … ENDE des ersten Teils
Coreys letzter Schuß Leserstory von Pal Lamian Die Szene an sich hatte nichts Außergewöhnliches. Absolut nicht. Jeden Tag wurden Männer erschossen. Ob in irgendwelchen aufsehenerregenden Duellen, am hellichten Tage auf der Hauptstraße, unter den Augen der ängstlichen und gebannten Bewohner der Stadt, oder in aller Ruhe und Abgeschiedenheit, bei Nacht und Nebel, beobachtet vielleicht nur von ein paar müden Pferden oder Präriehunden. Die Szene, die sich hier abspielte, gehörte zu der äußerst unspektakulären Sorte, Zeugen gab es nicht. Vor der Mündung des Revolvers kräuselte sich noch der Rauch, als der Schütze die Waffe lässig in den Holster zurückgleiten ließ. Er verließ sein Versteck hinter einem der Bäume und schlenderte auf die Gestalt zu, die bewegungslos am Boden lag. Vom Pferd des Erschossenen war nichts mehr zu sehen. Als sein Reiter getroffen aus dem Sattel gestürzt war, hatte das erschreckte Tier laut wiehernd sein Heil in der Flucht gesucht. Schade eigentlich. Na ja, vielleicht ließ es sich ja noch irgendwie einfangen … Der Schütze hieß Corey und nannte sich selbst »Eagle Eye«. Er zog von Stadt zu Stadt mit seiner Nummer als »bester Kunstschütze Amerikas« und verdiente sich so Kost und Logis. Mit dem Geld, das er darüber hinaus bekam, setzte er sich meistens an die Spieltische bei Whiskey, Klaviermusik und verrauchter Luft in den ortsüblichen Saloons. Wobei man sagen muß, daß er nicht eben besonders gut war im Spielen, weder im Poker noch in irgend etwas anderem, was man mit Spielkarten so anstellen konnte. Es war an sich also auch nichts Besonderes gewesen, als er gestern spät nachts am Spieltisch
seine letzten Dollars verloren hatte. Jetzt lag der glückliche Gewinner des Geldes hier im Staub des Weges mit einer beachtlichen Schußwunde im Rücken – »Eagle Eye« Corey hielt nicht viel von irgendwelchen hoffnungslos romantischen Auseinandersetzungen, wo die Widersacher sich gegenüberstanden und minutenlang beäugten, darauf wartend, daß der andere doch endlich die Nerven verlor. Nein, Corey zog es vor, einem Widersacher bei Nacht aus dem Hinterhalt eine Kugel in den Rücken zu verpassen. Er beugte sich zu dem Erschossenen hinunter und stöberte in dessen Taschen, um schließlich mit einem zufriedenen Lächeln das gestern verlorene Geld hervorzukramen. Mit einer fröhlichen Melodie auf den Lippen richtete sich Corey wieder auf, tippte sich lässig an die Hutkrempe und schritt von dannen, um sein eigenes Lager aufzusuchen, sein Pferd zu satteln und zur nächsten Stadt weiterzuziehen. Soweit, so gut. Normalerweise hätten sich nun im Laufe der Nacht ein paar Tiere eingefunden, wären zunächst zaghaft auf den Körper des Erschossenen zugetappt und hätten sich früher oder später an ihm gütlich getan. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte am nächsten Tag irgendwer, vielleicht ein einsamer Reiter oder auch ein Postkutscher, den erkalteten und erstarrten Leichnam des Gemeuchelten gefunden und die Nachricht von dem Mord in die nächste Stadt getragen. Dieses Mal jedoch löste sich ein Stöhnen aus der Kehle des Erschossenen, und nach und nach kam Bewegung in den Körper. Mit einem Fingerzucken fing es an, und es endete schließlich damit, daß sich der vermeintlich Tote aufrichtete und auf noch etwas unsicheren Beinen in den Wald hineinging, um sich an die Fährte des schlechten Verlierers zu heften … Für Corey ging es nun, nachdem er einen halben Tag in diesem staubigen Kaff zugebracht hatte, ans Geldverdienen. Überall in der Stadt hatte er seine Plakate angeschlagen und im Saloon auch
mündlich für seine Show geworben. Für die Händler, Handwerker und Freudenmädchen – und was sonst noch für Leute in diesem traurigen Örtchen ansässig waren, um an den Durchreisenden zu verdienen –, bot sein Auftritt eine willkommene Abwechslung. Er erwartete somit eine recht ansehnliche Zahl von Zuschauern und dementsprechende Einnahmen. Aber das konnte man vorher nie genau sagen. Er mußte sich überraschen lassen, wie gebefreudig die Leute waren. Spät abends hatte er dann auf dem Platz vor dem Saloon Fackeln aufgestellt und unter den Augen der langsam anwachsenden Zahl von Schaulustigen seine Show vorbereitet, die Colts geladen, die Gewehre überprüft und so weiter. Als das Gemurmel immer unruhiger wurde und sich der ganze Ort um ihn versammelt zu haben schien, drehte er sich zu seinem Publikum um. Augenblicklich wurde es stiller. Wer nichts mitbekommen hatte und weiterredete, wurde von seinem Nachbarn angestoßen und so ebenfalls zum Schweigen gebracht. Corey setzte sein strahlendes Lächeln auf und breitete in einer theatralischen, aber immer wieder wirkungsvollen Geste die Arme aus. Er trug eine leuchtend rote Jacke und ansonsten weiße Kleidung. Weiße Hosen, weiße Handschuhe, einen weißen Hut. Einzig die Stiefel waren aus braunem Leder. Die Zuschauer regten sich nicht. Jemand klatschte in die Hände, ließ es aber beschämt bleiben, als er merkte, daß es ihm niemand gleichtat. Aha, dieses Publikum wollte erst etwas zu sehen bekommen, bevor es ihm Beifall gönnte. Sollte es ruhig. »Eagle Eye« Corey begann mit den zwei Flaschen, die er in die Luft warf und zu Scherben zerschoß. Erster Beifall war zu hören. Nach der mit einem Schuß gelöschten Kerzenflamme wurde der Applaus schon etwas lebhafter, und nach der Nummer mit dem in die Luft geworfenen Pennystück war das Publikum ganz auf seiner Seite.
Während des ganzen Programms klatschten und jubelten die Leute von nun an immer lauter, johlten ein paar Betrunkene begeistert vor sich hin, lachten die Frauen und Männer und stimmten immer wieder raunende Oh’s und Ah’s an, wenn sie sich von dem, was Corey ihnen vorführte, in Staunen versetzen ließen. Corey war sich seiner Sache sicher; diese Leute hier fraßen ihm förmlich aus der Hand. Es schien ganz so, als wären noch nicht sehr viele Kunstschützen mit ihrer Show in diese Gegend gekommen. Irgendwann hatte er sein Programm durch, und es wurde Zeit für seine beste Nummer, mit der er seinen Auftritt wirkungsvoll zu beenden pflegte. Mit ausgebreiteten Armen gebot er Ruhe, und sofort folgte die Masse der Geste und schwieg gehorsam und gespannt. »Ladies und Gentlemen! Ich darf um Ihre werte Aufmerksamkeit bitten!« Unnötig, das zu sagen; die Leute klebten an seinen Lippen wie die Fliegen an einem Haufen Pferdemist. Wichtig waren vor allem klug gesetzte rhetorische Pausen, die hatten immer ihre Wirkung. »Wir kommen nun zum absoluten Höhepunkt! … Ich werde hier, vor Ihren Augen! … mit diesem Gewehr! … rückwärts! … ein Ei zerschießen! … aus der Hand einer lebenden Person!« Ein Raunen ging durch die Menge. Vereinzelt wurden Köpfe geschüttelt, über Möglichkeit und Unmöglichkeit dieser Darbietung diskutiert. Erneut gebot er Ruhe. »Ich brauche dazu einen furchtlosen Freiwilligen! … Wie ist es? … Beweisen Sie Ihren Mut, Gents!« Und damit brandete das verhaltene Raunen erneut auf. Köpfe wurden noch heftiger geschüttelt als zuvor, unsicheres Lachen machte sich unter den männlichen Zuschauern breit, höhnisches unter den weiblichen. Corey kannte das. Man mußte den Leuten etwas Zeit geben, ehe sich einer unter ihnen zusammenriß und mit unbewegtem Gesicht den Arm hob und vortrat mit einem lauten »Ich! Ich
tu’s!« oder ähnlichen Worten auf den Lippen, die eine Lawine von Steinen auslösten, die den anderen von ihren Herzen fielen. Er grinste vor sich hin und wartete. Und tatsächlich. Rechts von ihm traten die Leute auseinander, um Platz zu machen. »Da haben wir einen Freiwilligen, der Mut hat?« Unzählige Blicke richteten sich auf den Mann, der vorgetreten war, so auch Coreys. Im nächsten Moment weiteten sich jedoch seine Augen. Das war … »Ich melde mich freiwillig!« Während die Menge wieder in frenetischem Jubel ausbrach, schüttelte Corey innerlich den Kopf. Das konnte nicht sein. Ein Zufall? Es mußte ein Zufall sein … Der Kerl sah genau aus wie der Spieler, den er letzte Nacht … Aber das konnte unmöglich sein! Corey bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen, und lächelte dem Publikum zu. »Kommen Sie her, Mister!« rief er. »Beweisen Sie, daß Sie tatsächlich so mutig sind!« Schon erstaunlich, wie fest seine Stimme klang. Mit einem – hämischen? – Grinsen trat der Freiwillige an ihn heran und nickte ihm zum Gruß zu. (Na? … Erkennen wir uns wieder, Corey?) Der Kunstschütze wandte sich ab und griff nach dem Hühnerei, das auf dem Tisch mit den Accessoires bereitlag. Er hielt es hoch, damit die Menge es sehen konnte. Vor allem, wie klein das Ei war. Wie gesagt, es kam nur auf eine wirkungsvolle Inszenierung an, dann konnten die Leute gar nichts anderes als begeistert sein. (Das war nicht sehr nett von dir, Corey … Ganz und gar nicht nett …) Er griff nach dem Winchester-Gewehr und wandte sich wieder seinem Freiwilligen zu, der ihm immer noch grinsend entgegenblickte. Corey trat vor ihn hin (Und ich bin nun mal leider etwas nachtragend …) und reichte ihm das Ei. Die Finger des anderen fühlten sich
merkwürdig kalt an. »Ich darf Sie nun bitten, sich dreißig Yards von mir zu entfernen und sich dort aufzustellen! Machen Sie bitte einen Korridor für uns frei! Und einen Applaus für diesen mutigen Gentleman!« Und die Leute tobten. Bevor er sich umdrehte und in Bewegung setzte – und Corey sah ganz deutlich das Einschußloch in der Jacke des Fremden! –, blickte der Mann ihm noch einmal in die Augen. (Sehr nachtragend sogar, Corey-Boy …) Während sein Freiwilliger zu der ihm zugewiesenen Stelle ging, nahm Corey den Handspiegel vom Tisch und brachte sich ebenfalls in Position. »Ich darf um absolute Ruhe bitten, Ladies und Gentlemen!« Augenblicklich senkte sich wiederum Schweigen über den Platz. Corey räusperte sich und schloß für einen Moment die Augen. Blind wandte er sich um, so daß er seinem Freiwilligen den Rücken zudrehte. (Eagle Eye’s letzter Schuß, Corey.) Er lud das Gewehr durch und legte den Lauf auf seine Schulter, so daß die Waffe nach hinten gerichtet war. In der Hand, mit der er den Gewehrkolben umklammerte, hielt er gleichzeitig den Spiegel. Diese Haltung hatte er einmal bei einem anderen Kunstschützen gesehen, es selbst ausprobiert und seitdem die Nummer in sein Programm eingebaut. Noch nie war etwas schiefgegangen. Dieses Mal jedoch zitterten seine Hände. Corey hatte kein gutes Gefühl. (Mach was draus …) Er öffnete die Augen und blickte in den Spiegel. Und er sah … nichts. Nur den Korridor, den die Menge freigemacht hatte. Er sah ganz deutlich die gespannten Gesichter der Leute. Und einen kleinen weißen Punkt, der in der Luft zu schweben schien. War das das Ei? Corey drehte den Kopf zur Seite.
Aus den Augenwinkeln sah er den Mann. Er stand an der ihm zugewiesenen Stelle. (Schieß auf mich, Corey …) Corey schluckte. Das konnte nicht sein! Aber als er noch einmal in den Spiegel schaute, sah er wiederum nur die umstehenden Leute. Der Kerl war einfach nicht zu sehen! (Wie gestern …) Und das Ei schwebte in der Luft! Coreys Gedanken überschlugen sich. Was sollte er jetzt machen? Da stand ein Mann hinter ihm, den er gestern Nacht zu den Engeln geschickt hatte und der nun als Freiwilliger in seiner Spiegelschuß-Nummer war, und er konnte ihn im Spiegel einfach nicht sehen! Alles, was er sah, war dieses alberne in der Luft schwebende Ei! (Gestern hast du es noch gekonnt, Corey …) Corey beschloß, es kurz zu machen, bevor die Leute unruhig wurden, und nahm den weißen Punkt aufs Korn. Er drückte ab. Das Gewehr ruckte an seiner Schulter, als sich der Schuß löste, und er glaubte, im Spiegel das Ei auseinanderplatzen zu sehen. Sofort ließ er Gewehr und Spiegel sinken und drehte sich um. Die Leute blieben erstaunlich still … Corey erstarrte, als er den Mann am Boden liegen sah. Durch seinen Schädel brandete ein Lachen, das niemand außer ihm hören konnte, das nur ihm galt. (Schadenfreude ist doch die schönste Freude …) Unsicher setzte er einen Schritt vor den anderen und legte irgendwie die dreißig Yards zurück, während sich hinter ihm der Korridor der Leute schloß und das raunenden Tuscheln immer lauter wurde. Schließlich stand er über dem Körper des Mannes und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. (Erinnerst du dich an gestern, Corey?) Er drehte den Körper des Mannes um und schaute in das Gesicht des Fremden, während die Leute ihn umkreisten. Der Tote grinste immer noch. Und für einen Augenblick, als Corey den Kopf des To-
ten anhob, öffnete sich dessen Mund. Nur einen Spalt. Aber Corey hatte die spitzen Eckzähne gesehen. Zähne wie die eines Vampirs … Auf der Stirn aber klaffte ein Loch mit blutigen Rändern. (Das war ein guter Schuß …) Corey fiel auf, daß kaum Blut aus der Wunde lief, als die ersten Rufe um ihn herum laut wurden. Die Rufe, die ihn als Mörder abstempelten und seine Hinrichtung forderten, übernahmen irgendwann die Vorherrschaft. Als sich kräftige Hände auf seine Schultern legten, blickte Corey noch immer in das hämisch grinsende Gesicht. (Jetzt sitzt du ganz schön in der Scheiße, was, Corey?) © Klaus Giesert, Semmelländerweg 10, 13593 Berlin
Jenseits des Tores von Timothy Stahls Das Tor existiert seit Äonen. Von der Bruderschaft der »Illuminati« unter dem Befehl des Vatikans bewacht, hat keines Menschen Fuß es je durchschritten. Und nie hätte es auch nur geöffnet werden dürfen. Doch es ist geschehen. Ein Kind – oder vielmehr die Gestalt eines Kindes – hat die Siegel gebrochen. Und Lilith Eden, Geschöpf zweier Welten, ist hindurchgegangen. Das Reich, in das sie tritt, ist Legende. Eine Legende des Bösen, ein Hort der Furcht, ein Kerker der Verzweiflung. Wo sie all das wiedertrifft, was sie zu verdrängen suchte. Es ist ein Schritt in eine Welt, die die Menschen »Hölle« nennen …