John McLaren
Der Hellseher
scanned by ab corrected by moongirl
Calum Buchanan ist ein wahrer Pechvogel. Kein Erfolg i...
57 downloads
653 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
John McLaren
Der Hellseher
scanned by ab corrected by moongirl
Calum Buchanan ist ein wahrer Pechvogel. Kein Erfolg im Beruf, kein Glück im Lotto, und nun hat ihn auch noch seine Frau Marianna verlassen. Aber dann entdeckt er, daß er über telepathische Fähigkeiten verfügt. Seine Karriere an der Börse hebt raketenartig ab, er knackt zweimal den Jackpot und ist auf einmal ein reicher Mann. Doch nicht nur Marianna interessiert sich jetzt plötzlich für ihn – auch die Unterwelt und verschiedene Geheimdienste möchten sein Talent für ihre Zwecke nutzen. ISBN 3-453-16089-4 Originalausgabe 7th Sense Aus dem Englischen von Ulrich Hoffmann 2000 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG Umschlagillustration: IFA-Bilderteam/International Stock Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Das Buch Calum Buchanan ist ein Looser. Der Amerikaner schottischer Herkunft hat weder in seinem Beruf als Börsenmakler noch in der Liebe Erfolg. Als ihn seine Frau Marianna, die er anbetet, verläßt, stürzt er in eine tiefe Krise. Nun hat er nur noch eines im Kopf: er will möglichst viel Geld machen, um Marianna, die den weltlichen Dingen sehr zugetan ist, zurückzugewinnen. Dafür reist er zunächst nach Schottland zu seiner Tante Morag, die Calum von ihren hellseherischen und telepathischen Fähigkeiten erzählt. Calum hofft natürlich, daß er die Gabe geerbt hat. Tatsächlich erweist er sich als begabt, und Morag weist ihn in ihre Kunst ein. Calum plant, mit Hilfe seiner neuentdeckten Fähigkeiten den Jackpot zu knacken. Doch bald muß er feststellen, daß ein Hellseher gefährlich lebt. Zu viele Leute wollen sein Können für ihre Zwecke nutzen …
Der Autor John McLaren war neun Jahre Diplomat und ist heute ein Direktor der Handelsbank Deutsche Morgan Grenfell in London. Auch sein erster Roman ›Das ComputerKomplott‹ ist bei Heyne erschienen. John McLaren lebt in London.
Für meine doch immer wieder erstaunlichen Eltern
Prolog Nummer zwölf. Er schaute weg vom Fernseher und runter auf seinen Notizzettel, was völlig unnötig war. Ja! Sein Puls wurde ein wenig schneller. Zweiundvierzig. Wieder derselbe unkontrollierbare Reflex. Ja, verdammt … O bitte, bitte, laß den nächsten kleinen gelben Ball die Sechzehn sein … Wie lange er brauchte, um an seinen Platz zu hopsen. SECHZEHN, großer Gott! Bumm, bumm, bumm. Er hatte das Gefühl, als würde sein Herz ihm gleich aus der Brust springen. Als nächstes war die Neun dran. Bei der war er am sichersten – im Geist beschäftigte er sich schon mit der Fünf. NEUN! Da war sie, die kleine Schönheit. Und jetzt kam der Augenblick der Wahrheit. Die Fünf war am verschwommensten, am unschärfsten, bei der war er nicht ganz sicher. Er war bislang nicht religiös gewesen, aber plötzlich war er reif zum Konvertieren. O Gott, wenn du ein Zeichen senden willst, dann laß es bitte die Nummer dreiundzwanzig sein. Neun Wochen hatte er es versucht, und nie hatte er mehr als drei aus sechs gehabt. Er war sicher, daß die sechste und die Zusatzzahl richtig kommen würden, wenn die Dreiundzwanzig gezogen wurde. Die Spannung tat weh. Schließlich die fünfte Zahl … YEAHÜÜ! O nein, nein, NEIN! Die hüpfende Kugel hatte ihn getäuscht. Die gottverdammte Siebenundzwanzig. Und jetzt kam auch schon die sechste, ebenfalls total falsch. Er konnte es einfach nicht glauben. All die Hoffnung, die Spannung, die steigende Erregung dahin. Dabei war er so zuversichtlich gewesen. Er hatte schon geplant, was er als nächstes tun würde, alles war bereit. 5
Und jetzt … nichts. Scheiße. Er stand auf, trat den Stuhl beiseite, griff sich mit beiden Händen in sein zerzaustes braunes Haar und zog laut schreiend daran. Es reichte nicht, um seine Frustexplosion auszuleben, also sprang er zur Seite und schlug seinen Kopf mit aller Kraft gegen die Wand; das tat weh, und schließlich ließ er sich elend zurück aufs Sofa fallen. Der Adrenalinstoß ließ nach, die Müdigkeit hing schwer in seinen Gliedern, die deprimierende Wirklichkeit bekam ihn erneut in den Griff. Schon wieder ein einsamer, leerer Sonntag, den er durchhalten mußte … und am Montag würde er wieder in die gottverfluchte Bank zurücktrotten, die voll war von diesen widerwärtigen englischen Clowns. Dann eine ganze Woche warten, bis er wieder eine Chance bekam. Der Jackpot beim Mittwochslotto war zu gering, um ihm etwas zu nützen, und bis Mittwoch hatte er auch noch nicht genug Energie gesammelt, um die ganze Prozedur erneut durchzuziehen.
6
1 »Hi, Calum. Schönes Wochenende?« »Soso.« »Warst du weg?« »Bei dem Wetter? Machst du Witze?« Kein Fahrstuhlgespräch, das nach drei Stockwerken nicht zu Ende wäre. Dann steht man stumm mit starrem Grinsen da, bis der erste aussteigt und sagt: »Also dann …« Normalerweise ignorierte Calum seine vertikalen Mitreisenden, aber zu den Sekretärinnen konnte er nicht unhöflich sein. Sie waren die einzigen, die überhaupt jemals nett zu ihm gewesen waren, seit er hier aufgetaucht war. Im Zwölften stieg Marjorie aus und sagte: »Also dann …« Calum drückte ungeduldig den ›Tür schließen‹Knopf, obwohl ihm absolut klar war, daß das den kapriziösen Takt des Fahrstuhls nicht im geringsten beeinflussen würde. Er fuhr an einem weiteren Stockwerk vorbei und ließ sich im Vierzehnten ausspucken. Als er rüber zu seinem Tisch ging, konnte er immer noch spüren, daß man sich den Kopf zerbrach, warum er sich am Freitag so verhalten hatte. Niemand in der City räumte seinen Schreibtisch auf oder aus, es sei denn, er war gefeuert oder wollte kündigen. Das gesamte Team fand sein Timing eigenartig. Heute war Bonus-Day, um Himmels willen. Calum war doch sicher nicht dumm genug zu glauben, daß so eine Nummer Bossman dazu bringen würde, seinen Bonus zu erhöhen. Aber was sonst sollte dahinterstecken? War vorstellbar, daß er von einer anderen Bank ein besseres Angebot bekommen hatte und daß ihm also wirklich alles egal war? 7
Sie waren höllisch neugierig. Am Freitag hatte er sich wie immer verabschiedet und war nach Hause geschlurft, und wie immer waren die anderen – Adam, Mike, Catherine, Doug und Borzo – rüber ins Corney & Barrow marschiert und hatten sich die ersten beiden Flaschen Haus-Champagner genehmigt. An jenem Abend hatten sie nur über Calum geredet. Anti-Calum-Sessions gehörten zu ihrem Lieblingszeitvertreib. Als er vor ein paar Monaten zu ihnen stieß, war es ihnen ganz normal erschienen, ihm Steine in den Weg zu legen, wie man das mit Neuen nun mal so machte. Sie betrachteten sich als die Platzhirsch-Gang und ihn als Eintrittswilligen. Daß er aus dem Ausland kam, machte es ihnen einfacher, aber es wäre genauso gelaufen, wenn er Engländer mit besonders peinlichem Akzent gewesen wäre. Die Aufgabe des Neulings bestand darin, für harmlose Unterhaltung zu sorgen, während man herausbekam, ob er schwimmen konnte oder unterging. Wenn er schwamm, wurde er einer von ihnen. Wenn er unterging, mußte er verschwinden – oder wurde zur peinlichen Pointe all ihrer Insider-Jokes. Sie dachten nicht im geringsten darüber nach, wie gemein sie pausenlos zu ihm waren, und als Calum anfing zurückzubeißen, hatte er bei ihnen endgültig verschissen. Den ganzen Montagmorgen versuchten sie, ihm sein Geheimnis aus dem Kreuz zu leiern, und ihre Bemerkungen wurden immer schärfer, je erfolgloser sie waren. Für Calum schleppte sich der Tag noch elender dahin als andere. Er hatte sich noch nicht von der Erschöpfung durch den Lotto-Versuch erholt, und seine Kopfschmerzen wären sogar für eine Kuh tödlich gewesen. Natürlich konnte man an einem so ruhigen Tag auch kaum an Arbeit denken. Der Handel mit 8
Eigentümerverschreibungen lebt von Volatilität, und die Märkte zeigten sich schrecklich lahm. Bis in den Nachmittag hinein glotzte er mit leerem Blick auf die Bildschirme, kritzelte vor sich hin und versuchte, die bösen Bemerkungen einfach zu ignorieren. Er war höchst erleichtert, als Bossman sie einen nach dem anderen in seine Glaskiste rief, um ihnen ihre Bonusse mitzuteilen. Calum schaute sie an, als sie herauskamen. Doug grinste, Adams Gesicht glich einer Gewitterwolke; Borzo war erleichtert, Cathy den Tränen nahe. Außerhalb des Handels-Teams war es immer dieselbe Geschichte, kein Gesamtmuster von Freude oder Schmerz. Die mit den Festgehältern, die ein echt gutes Jahr hingelegt hatten, schienen etwas enttäuscht, wohingegen die mit Erfolgsbeteiligung aussahen, als wären sie besser weggekommen als erwartet. Insgesamt war der Level aber in Ordnung; die schwächsten Performer brachten es immer noch auf sechs Stellen, und die Besten hatten die Million hinter sich gelassen. Für Calum war das ein gutes Zeichen. Wenn er im Lotto gewonnen hätte, wäre es egal gewesen. Jetzt aber brauchte er den Bonus unbedingt, und er klammerte sich an die Hoffnung, daß Bossman ihn trotz des Hasses, den er ihm immer spüren ließ, fair behandeln würde. In Wahrheit verstand er nicht das Geringste von Eigentümerverschreibungen, aber in den paar Monaten, die er hier gewesen war, hatte seine Geheimmethode der Bank mehr Geld eingebracht als irgendein anderer im ganzen Jahr hergescheffelt hatte. Das sollte ihnen doch wenigstens vier- oder fünfhunderttausend wert sein. Selbst die Hälfte davon wäre ein Anfang. Er trank den fünfzehnten Kaffee des Tages. Die Warterei machte ihn nervös. Schließlich, kurz nach fünf, war er dran. 9
»Setzen Sie sich, Calum. Wollen wir gleich zur Sache kommen?« Bossman raschelte mit irgendwelchen Papieren; offensichtlich machte es ihm Spaß, Calum noch ein paar Sekunden länger auf die Folter zu spannen. Er liebte Bonus-Days noch mehr als die Tage, an denen er Leute rausschmiß. Jemand zu feuern war die hohe Kunst, und man konnte es in die Länge ziehen; man konnte wie eine Katze mit einer Maus spielen, man konnte in aller Ausführlichkeit das Versagen des Opfers analysieren, man konnte das zarte Rämmchen der Hoffnung schüren, daß es doch noch gut ausginge – und dann konnte man ihnen ganz plötzlich die Köpfe abhacken. Das Problem bestand darin, daß man nur Nieten feuern konnte. Das wunderbare am Bonus-Day dagegen war das kurzfristige Machtgefühl, das ihn im Hinblick auf alle diese Arschlöcher überkam. Bossman hatte sich Calum als kleine Freude bis zuletzt aufgehoben. Er haßte jeden Zug an diesem Amerikaner, zumal er gezwungen worden war, ihn einzustellen, und insofern noch nicht mal gelobt wurde, wenn der Junge sich wacker schlug. Er wollte, daß Calum versagte, um einen Grund zu haben, ihn zu feuern. In der Zwischenzeit aber mußte er sich mit zarten Quälereien zufriedengeben. Mit neunundzwanzig Jahren war Calum Buchanan so alt wie die anderen, aber er hatte etwas Naives an sich, und Bossmans Laserinstinkt ortete mangelhaftes Selbstbewußtsein unter der aufgesetzten Lockerheit. Bossman war stolz auf seine Fähigkeit, kleine Fehler in der Oberfläche einer Persönlichkeit aufzufinden und darunter fundamentale Charakterschwächen auszumachen. Jetzt freute er sich darauf, herauszubekommen, was passieren würde, wenn er Calums grandiose Erwartungen einfach mit den Füßen zertrat. Mit ein wenig Glück stürmte der Junge vor lauter Wut einfach raus aus der Bank, und er war ihn los. 10
»Also, schauen wir mal. Es sind fünfzehntausend. Wie finden Sie das?« Es war nicht ganz einfach, ernst zu bleiben, so wie Calum schluckte. Was hatte er denn erwartet, was hatte er denn beruflich vorzuweisen? Einen Job bei irgendwelchen Brokern in Los Angeles, von denen man kaum je gehört hatte, und anschließend eine wenig zufriedenstellende und noch dazu ungeklärte Lücke nach diesem Job. Irgendwie hatte Calum einen wichtigen alten Klienten überredet, den Geschäftsführer der Bank zu bewegen, ihn an Bord zu holen. Bossman bezweifelte, daß der Kerl sonst überhaupt einen Job in der City gefunden hätte. Er sah zu, wie Calum versuchte, sich zu beruhigen. Es wäre schrecklich enttäuschend, wenn er einfach ohne ein Wort davonschlurfen würde. Er mußte ihn doch zu irgendeiner Reaktion provozieren … »Ich habe gefragt, wie finden Sie fünfzehntausend? Ich möchte wissen, was Sie davon halten.« »Kein Kommentar.« »Was soll das heißen, Calum? Ich hatte gehofft, Sie würden sich freuen.« »Ich habe Geld für Sie verdient, das wissen Sie. Aber wenn Sie glauben, fünfzehn sei mein Marktwert, was soll ich dazu sagen?« »Wenn Sie mal ein wenig darüber nachdenken, dann haben Sie eigentlich gar keinen Marktwert, nicht wahr, Calum? Welche andere Bank würde sich denn die Mühe machen, Ihnen eine Arbeitserlaubnis zu verschaffen?« »Oh, das ist es also.« »Kommen Sie, Ihnen ist doch klar, daß keine Bank auch nur einen Penny mehr zahlt als nötig, und in Ihrem Fall ist es eben nicht nötig. Sie haben Glück, überhaupt einen 11
Bonus zu bekommen. Trotzdem möchte ich keine Überraschungen erleben, wenn Sie das Geld aufs Konto kriegen. Also – kann ich davon ausgehen, daß das okay für Sie ist …? Kommen Sie, Calum, ich hatte einen langen Tag, machen Sie jetzt keinen Mist.« Calum kochte vor Wut über diese Ungerechtigkeit. Von so etwas war nicht die Rede gewesen, als sie ihn genommen hatten. Das Blut brodelte in seinen Adern. Er hatte sich vorgenommen, cool zu bleiben, wie die Summe auch ausfiele. Aber jetzt, wo ihm klar wurde, wie grandios sie ihn verarschten, war er trotzdem wütend. »Wenn ich mich je entscheide, zu kündigen, verspreche ich Ihnen, daß Sie der erste sind, der es erfährt.« »Hat das mit Ihrem Schreibtisch zu tun? Sie haben ihn am Freitag ausgeräumt. Was sollte das denn?« »Ich bin einfach nur ein ordentlicher Typ.« »Ist mir noch nie aufgefallen. Kann ich ehrlich mit Ihnen sein?« »Aber sicher. Ich fand Sie sowieso schon immer ganz erfrischend ehrlich.« Bossmans Augenbrauen schossen nach oben. Dieses Sackgesicht. Das würde er ihm heimzahlen. »Ehrlich gesagt, Calum, Sie sind ein wenig eigenartig. Und Sie geben sich keine Mühe, Teil des Teams zu werden …« »Wie undankbar von mir, nachdem man mich so herzlich willkommen geheißen hat.« »Ihre Kollegen verhielten sich ganz normal. Schließlich waren sie zuerst da. Es ist ihr Territorium. Die haben Sie nicht ausgesucht.« »Und Sie auch nicht.« Wunderbar, er hatte den Köder geschluckt, er wurde wütend. Jetzt konnte er ihn vorführen. 12
»Ja, das stimmt. Ich war dagegen, und vielleicht hatte ich recht. Es war die Idee des Geschäftsführers, und der ist mein Boß, also habe ich mein bestes gegeben, daß es funktioniert. Was mehr ist, als man Ihnen zuschreiben kann. Sie haben sich nicht die geringste Mühe gegeben, sich anzupassen. Natürlich muß ich auch auf das Teamwork Rücksicht nehmen, wenn ich die Bonuszahlungen kalkuliere, und das findet dann seinen entsprechenden Ausdruck – aber das ist nicht das Wichtigste.« »Und was ist dann das gottverdammt Wichtigste?« Jetzt klang er wunderbar sauer. »Ich kann nicht nachvollziehen, wie Sie Ihre Kauf- und Verkaufsentscheidungen treffen. Es ist, als agierten Sie blind, ohne jede solide Basis.« »Dann feuern Sie mich doch.« »Nichts würde mir größeres Vergnügen bereiten wenn Sie kein Geld machen würden. Aber das tun Sie, obwohl ich nicht weiß, warum und wieso. Selbst an schwierigen Tagen treffen Sie ein paar gute Entscheidungen, obwohl das immer nur Vermutungen zu sein scheinen. Kurzfristige Handelsvermutungen. Klappt prima an Tagen, wenn sich der Markt abrupt bewegt, ist aber ansonsten nutzlos. Sie machen nichts Langfristiges, nichts, was Sie erklären könnten. Den Großteil des Tages sitzen Sie nur rum und traden eigentlich erst, wenn die Märkte in London schon fast geschlossen haben.« »Ich arbeite nun mal lieber mit New York. Finden Sie das problematisch?« »Nicht unbedingt ...« Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, ihn sich winden zu lassen. 13
»… aber ich habe ein Problem mit Ihren kleinen Spielchen. Oh, ich weiß, ich weiß, unterschätzen Sie mich nicht. Sie machen keinen Deal, ohne vorher in den Konferenzraum zu gehen und aus dem Fenster zu schauen, nicht wahr? Was treiben Sie da drin, hm? Brauchen Sie einen kleinen Fix, um genug Mumm zu haben, oder was?« »Ich denke eben gern nach, daß ist alles. Ich überprüfe meine Handelsinstinkte in aller Ruhe.« »Diesen Gefühlskrempel kaufe ich Ihnen nicht ab. Calum, solange Sie mir nicht erklären, wie Sie Ihre TradeEntscheidungen treffen, können Sie nicht erwarten, an irgendwelchen Profiten teilzuhaben. Es geht hier um ein Kommunikations-Problem. Ehrlich gesagt weiß ich wirklich nicht, ob Sie gut sind oder einfach nur Glück haben …« Calum starrte ihn schweigend an. Plötzlich amüsierte sich Bossman viel weniger. Der Idiot schien von der Drogenandeutung nicht ganz so beeindruckt zu sein, wie er erwartet hatte. Er saß einfach bloß da, was langsam richtig ärgerlich war. »Und, wollen Sie einfach bloß dasitzen? Ich versuche hier, ein Gespräch mit Ihnen zu führen.« »Ach, das ist ein Gespräch? Ich dachte, das wäre so eine Art englischer Paarungstanz.« Jetzt wurde Bossman wütend. Sein Gesicht rötete sich ein wenig, seine Hände krampften sich um den Bleistift, den er hielt, und seine Stimme wurde härter. »Okay, Calum, wie’s Ihnen beliebt. Ich habe wirklich alles versucht, Ihnen zu helfen, aber wenn Sie nicht wollen, dann wollen Sie eben nicht. Manchmal frage ich mich, was zum Teufel Sie eigentlich in London treiben.« »Ich mag London. Ich mag bloß einige der Leute nicht, die hier leben, das ist alles.« 14
»Sie sind echt ein Klugscheißer, was? Na denn, raus mit Ihnen. Und sagen Sie nicht, ich hätte es nicht versucht… Ach, und noch ein letzter Rat. Am Bonus-Day betrinkt sich das ganze Team gemeinsam. Die Glücklichen zahlen, die Unglücklichen weinen in ihr Bier. Ich gehe selbst auch hin. Warum nicht einmal gesellig sein und einen neuen Anfang machen?« »Würde ich gern, aber ich hab’ heute abend schon was vor.« »Überraschung! Was haben Sie denn vor?« »Was privates.« »Oh, erzählen Sie es mir, Calum, ich möchte wirklich gern wissen, was so gottverdammt wichtig ist, daß Sie das Besäufnis Ihres Teams dafür verpassen.« »Wenn Sie es wirklich wissen wollen – ich geh’ zur Abendschule.« »Ach ja? Und in welchem Fach?« »Moderne Sprachen. Sprachen jedenfalls.« »Wirklich? Welche denn?« »Cockney-Englisch.« »Raus hier, Sie arroganter Ami-Arsch!« Nachdem Calum sich beruhigt hatte, gab er doch nach und kam auf ein Bier mit. Er beantwortete Dougs Frage nach seinem Bonus und nahm das Gelächter darüber gutwillig hin. Der Abend war erträglich, bis Borzo sich eine eiskalte Champagnerflasche holte und ihn damit vollspritzte. Dadurch hatte er eine plausible Entschuldigung, zu gehen, bevor Bossman auftauchte. Einsam und allein marschierte er zur Bahnstation. Die Rolltreppe war wieder kaputt, und er mußte fünfzehn Minuten auf den nächsten Zug der Central Line warten. Na toll. Wie kamen die Londoner 15
eigentlich darauf, zu behaupten, sie wohnten in der tollsten Stadt der Welt, bei so einer Infrastruktur? Was hatte man von all den Musicals, Konzerten und Theateraufführungen, wenn niemand pünktlich dort sein konnte? Die Zeit verging, und er wurde immer wütender und wütender, bis er nicht mehr wütender werden konnte und sich entspannte. In Wahrheit haßte er sich dafür, so wenig von London zu profitieren. Aber das Leben in der Großstadt war nach sechs Monaten extremer Ruhe ganz schön anstrengend, und im Oktober, zu Beginn des halbjährigen Winters, in London anzukommen, war auch nicht gerade angenehm gewesen. Einen Job anzunehmen, den er haßte, hatte es noch schlimmer gemacht. Aber was war ihm anderes übrig geblieben? Wenn er nicht bald richtig Kohle machte, würde er Marianna nie zurückkriegen, und wo in London konnte man schneller Megadollars verdienen, wenn nicht in der City? Allerdings – so wie man ihn heute behandelt hatte, wurde selbst das zu einem Witz. Als der Zug einfuhr, dachte er darüber nach, daß er tatsächlich seinen Teil dazu beigetragen hatte, wie es in der Bank lief. Er war ohne Freunde in der Stadt angekommen und hatte naiverweise erwartet, daß seine neuen Kollegen ihm eine Fülle von Sozialkontakten anbieten würden. Von der feindseligen Reaktion des Teams auf seine Ankunft war er total überrascht worden. Wochenlang hatte er sorgfältig seine Verzweiflung verborgen, wieder in der Finanzwelt arbeiten zu müssen, er hatte über ihre bösen Witze gelacht, hatte gegrinst, wenn sie seinen Akzent nachahmten, und hatte ihre gnadenlose, endlose Flut häßlicher Hänseleien geduldig heruntergeschluckt. Er wollte unbedingt akzeptiert werden, und ihre konstante Ablehnung verletzte ihn mehr, als sie ahnen konnten. Sie machten ihn fertig, und bald 16
zeigte er Stück um Stück sein wahres Gesicht und bekämpfte Feuer mit Feuer. Aber das machte alles nur noch schlimmer. Sich ein Sozialleben abseits der Bank aufzubauen war nicht einfach gewesen. Kurz nachdem er eingezogen war, hatte ihn das Mädchen in der Wohnung über ihm zu einer Party eingeladen. Ihre männlichen Freunde erwiesen sich als schrecklich langweilig, und noch dazu schauten diese kinnlosen Wunderknaben auf ihn herab. Worin sie sehr geübt schienen. Außerdem waren sie großkotzig genug, ihn mittels ihres exquisiten englischen Understatements wissen zu lassen, wie unglaublich erfolgreich sie alle waren. Calum fragte sich, ob er mit den Frauen besser klarkommen würde, ob er vielleicht sogar einen Vorteil daraus ziehen könnte, aus den Staaten zu sein. Aber sie waren nicht interessiert. Kaum hatte er es erwähnt, entdeckten sie einen langen nicht gesehenen Pierre, Toby oder Jason und ließen sich quietschend umarmen und auf die Wangen küssen. Er stand in einer Ecke, trank für sich allein ein Glas Wein und machte sich schließlich aus dem Staub. Nach kurzer Zeit versuchte er es gar nicht mehr mit den Briten und zog sich zu den Euros zurück, die man in den meisten Bars und Clubs traf. Die waren offen und freundlich und freuten sich immer, sich zum Brunch oder auf einen Drink zu treffen und darüber zu reden, daß auch sie in England nicht akzeptiert wurden. Calum war ein guter Zuhörer und lauschte ihrem Jammern geduldig. Wenn er sich dann jedoch auf das dünnere Eis seiner Scheidung von Marianna begab, und davon erzählte, wie unglaublich er sie vermißte, lächelten sie ihn starr an und gähnten verstohlen. Also gab er auch das auf und verbrachte den Großteil seiner Abende und Wochenenden in jenem langen, kalten Winter im Kino und im 17
Fitneßcenter. Er war so einsam, daß er manchmal sogar eines seiner Elternteile anrief, wobei er dann schnell im Alkoholdunst seiner Mum zu ersticken drohte oder sich über die Ich-hab’s-ja-gleich-gesagt-Bemerkungen seines Dads ärgerte. Manchmal stand er am Rande eines Zusammenbruchs und glaubte, das ganze verzweifelte Projekt abbrechen zu müssen. Wann immer er an diesen Punkt kam, starrte er stundenlang Mariannas Foto an, um sich zu vergegenwärtigen, wieviel schlimmer er sich noch fühlen würde, wenn er die Hoffnung aufgab, wieder mit ihr vereint zu sein – mit ihr, dem einzigen Außergewöhnlichen, das je in sein Leben getreten war. Schließlich erreichte der schlitternde, vibrierende, rasende Zug Notting Hill, und er machte sich auf die Suche nach einer Tiefkühlpizza. Er wollte noch arbeiten heute nacht, wie jede Nacht in dieser Woche, und er hatte keine Zeit mit etwas zu vertrödeln, was in der Mikrowelle sowieso nicht gar wurde. In seiner kleinen Souterrainwohnung machte er die Pizza nicht warm genug, aß sie noch halb gefroren und spülte sie mit einem Bier hinunter. Dann wickelte er sich in zwei Sweater und eine Windjacke, kickte die schief in den Angeln hängende Tür zu dem kleinen Betonviereck hinter dem Haus auf und trug den Holzstuhl raus. Die nächsten zwei Stunden saß er halb erfroren und reglos da und starrte himmelwärts, während die Wolken vorbeihasteten. Manchmal summte er ein altes Volkslied von den Hebriden. Als er schließlich steifgefroren und zitternd aufstand und sich aufwärmen ging, dachte er nur an den wechselnden Mond und seine verzweifelte Hoffnung, daß der Himmel am kommenden Samstag wieder klar sein würde. Er zog sich aus, putzte sich an dem gesprungenen alten Becken die Zähne und taumelte ins Schlafzimmer; halbherzig versuchte er noch, 18
die Laken geradezuziehen, bevor er ins Bett stürzte. Auf dem Nachttisch stand in einem Holzrahmen das Foto einer faszinierend schönen, jungen Blondine am Strand. Er schaute es stolz eine volle Minute an, bevor er das Licht löschte. Den Rest der Woche gingen sie nicht übler mit Calum um als sonst. Eigentlich sogar freundlicher. Vielleicht hatte sich das eine Bier doch ausgezahlt. Entweder das, oder es hatte geholfen, daß sie alle soviel besser als er behandelt worden waren. Cathy und Adam verbrachten halbe Tage damit, ins Telefon zu flüstern und irgendwas bei irgendwelchen Headhuntern anzuleiern oder sich bei ihren Freunden bei anderen Banken schlauzufragen. Für keinen von beiden würde es so einfach werden. Mehrere große Banken hatten dichtgemacht, und Eigentümerverschreibungen waren sowieso nicht gerade in. Jeder, der auch nur ein bißchen Bescheid wußte, würde auch von allein daraufkommen, daß sie nicht gerade erstklassig waren. Natürlich würden sie ohne Probleme einen neuen Job kriegen, wenn sie sich bereit erklärten, ins Ausland zu gehen. Ausland hieß alles außer britisch oder amerikanisch. Was nicht den Ort betraf, sondern das Management. Fast alle britischen und mehrere amerikanische Handelsbanken gehörten mittlerweile den Schweizern, den Deutschen oder den Holländern. Die zählten nicht als Ausland, und der Einfluß ihrer Eigentümer war begrenzt. Sie konnten schließlich nicht fünftausend Briten und Amerikaner feuern, weil sie nie im Leben fünftausend gerissene Holländer, Schweizer oder Deutsche finden würden, um sie zu ersetzen. Manchmal reagierten sie auf schreckliche Verluste oder unsägliche Fehler, indem sie ein oder zwei ángelsächsische Köpfe rollen ließen, aber dann schauten sie sich auf dem Markt um und zahlten einem anderen 19
Angelsachsen sogar noch mehr, um die Sache wieder ins Lot zu bringen. Die richtigen Auslandsbanken waren anders und wurden vor allem mit Versagern besetzt, die wie alternde Profi-Footballer alle paar Jahre die Leiter ein wenig weiter runterrutschten, bis sie am Boden der Liga landeten und schließlich verschwanden. Alles hing davon ab, ob Adam und Cathy zu diesem Abstieg schon bereit waren. Am Freitag war es schon wieder wie zuvor. Doug gab sich besonders hochnäsig, nervte aber so sehr, daß selbst er es bemerkte. Borzos Erleichterung hatte sich in einen milden Dämmerzustand gewandelt. Adam und Cathy mußten irgend etwas angeleiert oder aufgegeben haben. Mike, der genauso behandelt worden war, wie er selbst sich sah, hatte geduldig darauf gewartet, daß der Rest des Teams wieder zu sich kam, um den amerikanischen Störenfried vorzuführen. »Hey, Cath, hast du gehört, wofür der Yankee Doodle seinen Bonus ausgegeben hat?« »Ne, was denn, Mikey?« »Ein Bacon-Sandwich und ein Bier.« »Echt! Meinst du, daß er sich mit seinem Bonus ein ganzes Bier leisten konnte? Aber man muß ihm schon zugestehen, seine Aufräumerei hat’s gebracht, oder, Dougie?« »Zweifellos, der Typ ist gerissen. Dummerweise ist der Schreibtisch jetzt viel zu aufgeräumt, um es noch mal zu versuchen. Warum hilfst du ihm nicht, Borzo?« Borzo sprang auf und kippte seinen überquellenden Papierkorb auf Calums Tisch aus. Dann war Mike an der Reihe.
20
»Hey, Furzfresse, wenn’s dir hier sowieso nicht paßt, wieso verpißt du dich nicht wieder nach Amerika?« »Nett, daß du fragst, Mike. Dummerweise kann ich nicht gehen, bis ich die Prüfungsarbeiten für meinen Masterabschluß fertig habe.« »Oh, ein Master, ja? Was für ein kluges Kerlchen! Worüber schreibst du denn, Kaugummi?« »Primaten und Eigentümerverschreibungen.« »Oh-ho, wie toll. Das findest du witzig, was?« Calum versuchte, das Gespräch zu beenden, indem er den Telefonhörer abnahm. Das hinderte Adam aber nicht daran, ihm eine Dose Coke über das Jackett zu gießen. Er entschied sich, es später sauber zu wischen; wahrscheinlich war es sowieso im Arsch. Großer Gott, was für Saftsäcke! In anderen Banken wurde der Handel mit Eigentümerverschreibungen von Menschen erledigt, die manchmal sogar Verstand hatten. Aber ihm war natürlich das Glück zugefallen, mit diesem Neandertal-Quintett zu arbeiten! Er betete, daß seine Methode morgen funktionieren, daß er im Lotto gewinnen und daß er keinen von ihnen je wiedersehen würde. Es wurde Samstag morgen. Er ging einen Cappucino trinken und blätterte in den Zeitungen; das einzige, was ihn interessierte, war die Wettervorhersage. Gemischt, aber nicht schlecht. Tagsüber bedeckt und möglicherweise Regen, am Abend verzogen sich die Wolken. Gar nicht übel für Anfang März. Er wollte noch nicht mit den Vorbereitungen beginnen, also bummelte er eine halbe Stunde durch die Schrottläden in der Portobello Road. Dann aber blieb ihm nichts anderes übrig, als zurück in seine Wohnung zu gehen und anzufangen, zu meditieren. Er setzte sich im Schneidersitz 21
auf sein Bett und schloß die Augen. Anderthalb Stunden vergingen, bevor sich etwas in ihm rührte. Ihm war schattenhaft bewußt, daß es länger dauerte als letzte Woche, aber er hatte keine Ahnung, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Gegen eins und gegen vier machte er kurze Pausen. Als er sich auf seine letzte Session vorbereitete, sorgte er sich so sehr im Hinblick auf die Tiefe seines Trance-Zustandes, daß er seinen Wecker auf sieben stellte. Jetzt konnte er die Energie in sich wachsen spüren. Er mußte darauf achten, nicht vorzeitig an Lottozahlen zu denken. In den vergangenen Wochen hatte das seine Konzentration gestört und ihn im wichtigsten Augenblick verwirrt. Drei Minuten vor sieben öffnete er seine Augen und stellte den Wecker ab. Er stand vom Bett auf und ging rüber zu dem Stuhl, auf den er sorgfältig seinen Mantel, seine Geldbörse, einen Stift, Fundstücke und die Hausschlüssel gelegt hatte. Unter dem Stuhl standen nur seine Slipper, ordnungsgemäß parallel. Er zog den Mantel an, steckte die anderen Sachen ein und verließ die Wohnung über die wackeligen Holzstufen Richtung Straße. Innerlich war er ruhig, aber er fühlte die Spannung in sich, als er den Himmel musterte. Viele Wolken, doch im Westen sah es besser aus. Er mußte an einer langen Zeile Reihenhäuser vorbeigehen, bevor er ihn sehen konnte. Und da war er. Ein großer, gelber, fetter Mond. Es dauerte acht Minuten bis zum Zeitungsladen. Er ging auf die andere Straßenseite und schloß die Augen, um die Kraft zu sammeln, dann öffnete er sie wieder und starrte mit brutaler Intensität den Mond an. Drei, vier, fünf Minuten vergingen. Ein paar Teenager marschierten an ihm vorbei, sie brüllten ihm irgend etwas zu. Calum hörte sie nicht. Sechs, sieben Minuten. Jetzt war es 22
sechsundzwanzig Minuten nach sieben, verdammt nah am Zeitlimit. Die Menschenschlange, die vor zehn Minuten noch dagewesen war, hatte sich aufgelöst. Niemand wollte so knapp abgeben, der letzte zahlte gerade. Aber er war nicht in Eile. Er ging gelassen über die Straße und in den Laden hinein. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, daß noch zwei Minuten blieben. Er nahm drei Scheine, kreuzte überall die gleichen Zahlen an und reichte sie zusammen mit dem Geld dem indischen Ladenbesitzer. Um sieben Uhr neunundzwanzig wurden sie abgestempelt. Sorgfältig steckte er die Quittung in seine Börse und ging. Jetzt hieß es eine Stunde warten. Er war weniger angespannt und erschöpft als sonst. Sein Appetit war zurückgekehrt, also stoppte er in einem Pub und bestellte sich einen Shepherd’s Pie und ein Bier. Während der letzten Wochen hatte er sich die Ziehung zu Hause angeschaut, aber in diesem Pub gab es einen Fernseher, und genug Leute redeten vom Lotto, um sicherzugehen, daß sie nicht umschalteten. Sein Puls beschleunigte sich, bevor die erste Kugel fiel, aber als er sah, daß es wirklich die einundzwanzig war, beruhigte er sich wieder. Diesmal war er sicher. Alle Zahlen waren mit überraschender Klarheit vor seinem geistigen Auge vorbeigezogen. Er zweifelte nicht daran. Sein Herz schlug kaum schneller, als seine Flotte, ein Schiff schön nach dem anderen, in den Hafen einfuhr.
23
2
Rückblende: Im Frühling zuvor »Oh, hi. Wieso bist du noch auf?« »Ich hab’ auf dich gewartet.« »Das ist doch nicht nötig.« »Wo warst du, Marianna?« »Aus.« »Wo aus?« »Mit Freunden, wir haben ein paar neue Tanzschuppen am Hollywood Boulevard ausprobiert.« »Was für Freunde gehen denn an einem Montag abend bis halb drei aus?« »Fang doch nicht schon wieder damit an, Calum. Wenn du darüber reden willst, dann solltest du erst nüchtern sein. Wieviel Wodka hast du heute getrunken, hm?« »Du hast Nerven! Wer hat mich denn dazu gebracht?« »Du trinkst nur, weil du mit dem Leben nicht klarkommst.« »Mit dem Großteil des Lebens komme ich prima klar. Du bist das Problem.« »Es ist also alles meine gottverdammte Schuld, wie? Ist es meine Schuld, daß du es bei der Arbeit nicht bringst?« »Ich bringe es.« »Ach ja! Du nennst fünfzigtausend Bonus es zu etwas bringen? Hast du gehört, was andere Broker machen – so wie Charlie oder Mike? Charlie sagt, selbst ein 24
Schimpanse könnte in den Märkten richtig Geld verdienen. Klingt für mich, als wärst du noch nicht so weit, ganz zu schweigen davon, es zu bringen.« »Ich mach’ schon noch Geld dieses Jahr. Und jetzt rede dich nicht raus. Mit wem warst du weg?« »Cal, hast du jemals darüber nachgedacht, dein eigenes Leben zu leben, statt mir im Weg zu stehen? Du kannst es einfach nicht ertragen, daß ich mich weiterentwickle, meinen Horizont erweitere, während du einfach auf der Stelle trittst, was? Das ist bloß Eifersucht, und du kommst damit nicht klar.« »Ach ja? Wessen Freunde haben dir denn überhaupt den Job besorgt? Wie wärst du denn ohne meine Hilfe auch nur in die Nähe des Filmgeschäfts gekommen?« »Das hätte ich schon geschafft. Und du bist wirklich ein Heuchler. Ich bin erst einen Monat dabei, und du wünschst dir schon, du hättest es nicht getan. Oder …? Du versuchst so zu tun, als würdest du mich unterstützen, aber das stimmt gar nicht. Weißt du, Calum, wenn du so weitermachst, wirst du das letzte bißchen Respekt verlieren, das ich noch für dich habe. Du mußt lernen, dich zurückzuhalten.« »Verstehe. Meine Frau spricht kaum noch mit mir, bleibt jede Nacht ewig weg, höchstwahrscheinlich in Gesellschaft anderer Männer. Wenn ich den Mund halte, beachtet sie mich nicht, und wenn ich sage, daß mich das nicht glücklich macht, verliere ich ihren Respekt. So oder so verliere ich, was?« »Ist dir schon aufgefallen, wie oft du in der letzten Zeit in bezug auf dich das Wort ›verlieren‹ benutzt?« »Ist das denn so überraschend, wenn du dauernd darauf hinweist, daß ich ein Verlierer bin? Sag schon, Marianna, werde ich dich auch verlieren?« 25
»Ich muß morgen früh arbeiten. Wenn du um kurz vor drei über so was nachdenken willst, bitte. Ich gehe jetzt schlafen …« »Oder hab’ ich dich vielleicht schon verloren? Ist da jemand anders?« »Das ist typisch für dich. Du hast kein Vertrauen. Wenn du auch nur ein bißchen Selbstachtung hättest, dann würdest du solch lächerliche Fragen gar nicht stellen.« »Ist es Brett Marquardt?« »Ich muß wirklich nicht...« »Er ist’s, nicht wahr? Du hast den Abend mit diesem greisen Arschgesicht verbracht, oder?« »Woher nimmst du dir das Recht, jemanden wie Brett als Arschgesicht zu bezeichnen?« »Wie hat er dich gekauft, Marianna? Ein schöner großer, glitzernder Diamant? Ein Nerzmantel? Brett hat doch das Geld, das du so respektierst, nicht?« »Leck mich am Arsch.« »Komm, war’s denn nicht eklig, dieses faltige alte Fleisch anzufassen?« »Nein, es war... Ich schlafe im Gästezimmer.« Calums geistiger Recorder konnte jedes dieser Gespräche wiedergeben, so tief waren sie in sein Gedächtnis eingebrannt, von den ersten kleinen Streitigkeiten, bis zu den letzten bitteren Wortgefechten, die zwischen eisiger Zivilisiertheit und brutalen Wettschreiereien wechselten. Das, woran er gerade gedacht hatte, spielte er sich am häufigsten vor, weil er zum ersten Mal sicher gewesen war, daß sie tatsächlich eine Affäre hatte. Danach ging es nur noch bergab, unterbrochen von mühsamen Entschuldigungen Calums für seine Ausbrüche; er 26
umarmte ihren wunderbaren, unnachgiebigen Körper und bettelte eifrig um einen Neuanfang. Marianna verlor das Interesse an ihm, sie verlor ihre Geduld mit ihm und schimpfte nur noch: Versager, Versager, Versager. Er würde nie irgend etwas erreichen, nie Geld verdienen, nie von irgend jemandem wirklich respektiert werden. Am schlimmsten war, daß sie ihm sein Versagen im Bett vorwarf und endlose Zweifel daran weckte, ob es ihm je gelingen würde, eine Frau an sich zu fesseln. Er versuchte, ihre ständige Forderung nach einer schnellen mexikanischen Scheidung zu ignorieren und klammerte sich an die Hoffnung, daß er das Steuer noch irgendwie herumreißen könnte. Am 20. Januar dann riskierte er das schicksalhafte Spiel – er setzte jeden Cent, den er hatte, und viele, die er nicht hatte, auf eine wilde Options-Wette. Wenn der Markt sich in seine Richtung bewegt hätte, wäre er eine halbe Million reicher gewesen, was ihr Interesse bestimmt wenigstens für ein Weilchen wiedererweckt hätte. Aber der Markt tat ihm den Gefallen nicht, und er verlor zusammen mit seiner Wette auch seinen Job. Vier verwaschene Tage lang war Wodka sein einziger Begleiter. Sein Widerstand brach zusammen, und benommen begleitete er Marianna nach Guadalajara und unterschrieb. Auf der Hinfahrt war sie kühl und besorgt; sie fürchtete immer noch, daß er es sich anders überlegte. Auf der Rückfahrt machte sie sich keine Mühe mehr, ihre Freude zu verbergen. Es war das erste Lächeln, das er seit Monaten auf ihrem Gesicht sah. Calum saß taubstumm neben ihr, sein Herz hing in Fetzen in seinem Brustkorb, und er bewunderte immer wieder von der Seite ihre atemberaubende, unvergeßliche Schönheit. Sie gab ihm die Hand, riet ihm, es nicht persönlich zu nehmen, und
27
sagte noch einmal, wenn er erfolgreicher gewesen wäre, hätte alles ganz anders kommen können. Als er dann in dem vollgestopften Flieger saß, hatte er die ganze Zeit Tränen in den Augen, wie schon so oft zuvor. Später mühte er sich mit aller Kraft, die Gedanken an sie zu verdrängen. Manchmal begrüßte er sie auch, die bittere Selbsterniedrigung war immer noch besser, als zu versuchen, über sie hinwegzukommen. Er wollte seine Freunde nicht sehen, die sich darin einig waren, daß sie ihn nie geliebt und ihn nur benutzt hatte und daß er froh sein sollte, sie los zu sein. Statt dessen spazierte er allein den Strand entlang oder saß stundenlang vor dem Telefon und zwang es, zu klingeln. Sie sollte dran sein. Nach einem Glas zuviel krabbelten seine Finger unkontrolliert zum Hörer: ihre harschen und immer kürzeren Antworten ließen ihn peinlich berührt darüber zurück, daß er überhaupt angerufen hatte. Der Schmerz wurde schlimmer und schlimmer, bis er ihn nicht mehr aushalten konnte. Jede Straße, jedes Café, jedes Restaurant schrie ihm Erinnerungen ihrer gemeinsamen Zeit entgegen. Wenn er nichts unternahm, wenn er LA nicht verließ, würde er unter diesem schwarzen Tuch nie mehr hervorkommen. Doch es gab nur einen Ort auf Erden, der ihn wie ein Magnet anzog, der Ort seiner Kinderträume. Er entschied sich, buchte den Flug und verschwand. Marianna aber war im Geiste immer bei ihm, auf der Taxifahrt zum Flughafen, auf dem langen transatlantischen Flug, und auf den langweiligen Aufenthalten in Heathrow und Glasgow. Schließlich war die anstrengende Reise fast vorbei, und er konnte Land sehen, niedrige grasbewachsene Hügel, die ihre Ausläufer wie verknorpelte alte Zehen in die bewegte See streckten. Es sah überhaupt nicht aus wie das schottische Lewis seiner Fantasie, wo immer eine kalte 28
Sonne schien. In Wirklichkeit war es erstaunlich naß. Der Regen trommelte gegen die Fenster, als die Turboprop schließlich schaukelnd niederging, hart auf die Landebahn knallte und schlingernd zum Stehen kam. Die dürre Stewardeß öffnete die Tür und wurde vom Wind fast von den Füßen gerissen. In dem lustigen kleinen Terminal gab es kein Kofferkarussel. Bevor er kapierte, wie es funktionierte, platzte eine Palette Koffer durch ein Loch in der Wand, und die Passagiere stellten sich in Reihe auf, um ihre vollgeregneten Gepäckstücke rauszusuchen. Eines der Schlösser an Calums Koffer hatte dem vollgepackten Inhalt nachgegeben, und das Ding grinste ihn nun an wie eine halboffene Auster; innen drin war alles klatschnaß. Egal, er würde sich von nichts die Magie verderben lassen, an diesem speziellen Ort angekommen zu sein. Der Mietwagen war wie gebucht vorhanden. Es war nicht das neueste Modell, und die Karosserie wirkte ein wenig rostzerfressen, aber das Ding hatte vier Räder und irgendeinen Motor. Calum hörte dem Mann kaum zu, der ihm erklärte, wie der Wagen funktionierte, so sehr überraschte ihn der Akzent. Bisher kannte er schottischen Akzent nur aus den Videos Braveheart und Highlander, und er vermutete bald, daß der Akzent immer irrer wurde, je weiter nördlich man sich begab. Wenn man sich also hier auf diesen Inseln aufhielt, klang es wie ein Wäschetrockner mit einem Katarrh. Die Stimme des Mannes war sanft, geschmeidig, beinahe weiblich. Nachdem Calum sich hatte bestätigen lassen, daß es in Ordnung wäre, den Wagen im Westen der Insel zurückzugeben, fuhr er los, und mit Hilfe von Kupplung und Schalthebel känguruhhopste er die Straße entlang. An Kreuzungen und Kreiseln links zu fahren war so, wie ein schwieriges Computerspiel zu spielen. 29
Ihm war durchaus bewußt, daß es Narretei war, so übermüdet Auto zu fahren, und es wäre definitiv vernünftiger gewesen, sich für eine Nacht in Stornoway einzumieten. Aber er entschied sich dagegen. Es würde noch ungefähr eine Stunde hell sein, und er wollte so sehr dort ankommen, in dem Dorf Sgurr nan Creag, dessen Name für ihn so wichtig gewesen war, seit sein Großvater ihn das erste Mal ausgesprochen hatte. Also fuhr er weiter durch die eigenartige, nackte Mondlandschaft und war sehr gespannt, wie es dort aussehen würde. Als er das Meer und das Dorf dann vor sich hatte, hielt er an und stieg aus. Selbst im Dämmerlicht wirkte die Landschaft dramatisch: einige schneebedeckte Berge schwangen sich hinab zum verblüffend weißen Strand einer halbmondförmigen Bucht. Obwohl er nie ein Foto davon gesehen hatte, war er irgendwie davon ausgegangen, daß es ihm beruhigend bekannt vorkäme. Aber dies hier sah fremd und unbekannt aus. Er zitterte. Teufel, war der Wind heftig. Besser, er fuhr ins Dorf und suchte sich etwas zum Schlafen, am besten ein billiges Bed & Breakfast-Quartier. Alles, was ihm geblieben war, waren die achthundert Pfund, die er in der Tasche hatte, und er konnte es sich nicht leisten, sie zu schnell zu verbrauchen. Aber was auch immer es kosten sollte, er war fest entschlossen, in diesem Dorf zu bleiben, seine Atmosphäre in seine Poren eindringen zu lassen – und so schnell wie möglich das Familienoberhaupt der Buchanans ausfindig zu machen. Langsam fuhr er durch die Straßen. Die Häuser waren klein und schmal, manche kuschelten sich aneinander, andere standen weit entfernt. Kein Anzeichen eines B & B oder eines Hotels. Ein eingemummeltes Wesen schwankte auf ihn zu, vornübergebeugt gegen den Wind. Calum
30
fragte und bekam den Weg zu dem einzigen Hotel erklärt, dem Shobost, das ein wenig nördlich des Dorfes lag. Die ältere Dame, die auf das Klingeln der Glocke hin erschien, paßte zu der bescheiden spröden Atmosphäre des Hotels. Sie erklärte, wenig begeistert, daß das Frühstück im Preis eingeschlossen sei, andere Mahlzeiten jedoch nicht. Er war zu müde, um irgendwo anders hinzugehen, also bestellte er Abendessen. Sie holte ein uraltes Gästebuch heraus, in das er sich eintragen mußte, und dann überprüfte sie sorgfältig, ob sie seine Handschrift entziffern konnte. Bildete er sich das ein, oder atmete sie tatsächlich einmal tief durch, als sie seinen Eintrag las? So selten konnten amerikanische Touristen hier doch auch wieder nicht sein … Sie schlurfte vor ihm her und präsentierte ihm den strengen Charme von Zimmer 4 und dem Bad am gegenüberliegenden Ende des zugigen Flurs. Heißwasser war ebenfalls verhandelbar. Nachdem sie ganz eindeutig klargestellt hatte, daß die Gäste normalerweise morgens badeten, bekam er doch noch welches, allerdings durch Rohre, die zitterten und dröhnten, als wollten sie dagegen protestieren, noch einer weiteren Anforderung entsprechen zu müssen. Wenigstens war das Wasser wirklich warm, und Calum entspannte sich in dem ersten Komfort, seit er der kalifornischen Sonne Goodbye gesagt hatte. Er pfiff leise vor sich hin, während er sich anzog. Vom Baden war er hungrig geworden. Er traute dem Koch des Shobost nicht gerade Haute cuisine zu. Etwas einfaches wäre völlig in Ordnung, vielleicht ein Pizzabrot oder ein Chefsalat. Entschlossen ging er runter in das düstere Eßzimmer und begrüßte die anderen Gäste, ein etwas älteres englisches Paar. Die Frau zog eine 31
Grimasse, vielleicht sollte es ein Lächeln sein; der Mann aß einfach weiter. Calum wartete darauf, daß etwas passierte. Es gab keine Karte, bloß Besteck, einen Wasserkrug mit Glas, Salz- und Pfefferstreuer, einer verstopft, der andere leer, alles auf einem abgenutzten Wachstuch. Nach fünf Minuten ging die Küchentür quietschend auf, und die wächserne Empfangsdame stürmte mit einem Teller brauner Suppe herein. Die Suppe schwappte hin und her, aber nicht über den Tellerrand. Sie stellte ihm den Teller hin, und es begann eine Diskussion, die beide Beteiligte unbeeindruckt ließ, wobei die Dame es geradezu skandalös fand, daß der Amerikaner vorschlug, er müßte weniger zahlen, weil es so spät wäre. Die drei Gänge kamen und wurden fast vollständig wieder abgetragen. Die Empfangsdame schnaufte jedesmal lauter. Es war erst halb neun. Er hatte sich ordentlich ausruhen wollen, bevor er seine Erkundigungen anstellte, aber zum Teufel, warum sollte er nicht gleich in der Hotelbar anfangen? Er wollte nicht mehr haltlos trinken, aber ein oder zwei Glas würden ihm helfen, mit dem Jetlag klarzukommen. Und wer weiß? Wenn das die einzige Bar im Dorf war, konnte es durchaus sein, daß die Gäste wußten, mit welchem Buchanan er zuerst reden sollte. Vielleicht würde er sogar reinmarschieren und gleich einigen seiner verloren geglaubten Verwandten begegnen! Er drückte gespannt die Türe auf. Schweigen breitete sich aus, als er eintrat. Sein grüßendes Lächeln wurde nicht erwidert, und dann nahmen sie ihre Gespräche wieder auf. Er setzte sich an die Bar, hinter der der Barkeeper in einer fremden Sprache mit einem seiner Kunden redete. Wow, das mußte gälisch sein. Wie aufregend! Calum wartete in aller Ruhe ab, während sie weiterredeten, sah sich um und achtete darauf, 32
daß sein freundliches Lächeln nicht verschwand. Es gab zehn Gäste, lauter Männer, keiner unter fünfzig. Er wandte sich wieder der Bar zu und versuchte, den Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen. Kein Erfolg. Schließlich rief er leise: »Entschuldigen Sie, Sir«, aber auch das half nichts. Erst nachdem der Barkeeper das Glas seines Gesprächspartners aufgefüllt und sich selbst einen Whisky eingegossen hatte, schlenderte er gelassen zu Calum rüber. »Was kann ich für Sie tun?« »Hi, ich hätte gern ein Bier.« »Was für eins?« »Was haben Sie? Beck’s Michelob? Können Sie was empfehlen?« »Die meisten Kunden nehmen das Eighteen Shilling.« »Ich wußte nicht, daß Sie hier noch die alte Währung haben. Wieviel ist das in … englischem Geld?« »Wir haben hier nicht die alte Währung, und die neue Währung ist nicht englisch, sondern schottisch. Das Bier heißt so. Wollen Sie ein Pint oder ein halbes Pint?« »Oh, ganz bestimmt ein Pint.« Das Bier begann im Glas zu schäumen. Calum beugte sich vor. »Entschuldigen Sie, gehört einer Ihrer Gäste hier zu den Buchanans?« Die Hand des Barkeepers verkrampfte sich ein wenig am Zapfhahn. Er brauchte ein oder zwei Sekunden für die Antwort. »Ich glaube nicht. Das macht zwei Pfund fünfzehn.«
33
Calum ließ den Barkeeper in Ruhe und hoffte auf ein herzlicheres Willkommen bei den vier Männern, die langsam und ruhig Dart spielten. »Entschuldigen Sie, ist der Tisch hier frei? Stört es Sie, wenn ich mich hinsetze?« »Uns stört das nicht.« Er schaute ihnen zwanzig Minuten lang zu und applaudierte bei allen gelungenen Würfen, doch sie achteten nicht weiter auf ihn. Nach dem zweiten Spiel nahm er all seinen Mut zusammen. »Das sieht lustig aus. Spielen Sie nur für sich, oder darf ein Fremder mitmachen?« »Nur für uns.« »Ach so … Aber ist es Ihnen recht, wenn ich zusehe, oder?« »Wie Sie wollen.« Calum saß höflich ein weiteres Spiel ab, dann kehrte er zurück an die Bar und näherte sich dem einen zerzausten Trinker, der ebenfalls dort stand. »Entschuldigen Sie, Sir, ist dieser Stuhl frei?« »Es sieht nicht so aus, als säße jemand drauf, junger Mann.« »Ich fürchtete bloß, daß es der Stammplatz von jemand wäre, das ist alles. Ich bin heute erst angekommen und möchte nicht gleich am ersten Tag irgendeinen schrecklichen Fauxpax begehen … Es ist schön hier.« »Im Shobost?« »Nein, ich meinte Sgurr nan Creag, sofern ich das einigermaßen richtig ausspreche.« »Und was gefällt Ihnen daran so sehr?«
34
»Alles, schätze ich. Die Schönheit, die heile Natur. Das Meer, die Berge, die Umgebung. Ist tausendmal besser als LA. Ganz bestimmt.« »LA?« »Los Angeles, da komme ich her. Die Heimat von Tinseltown, den Freeways und dem Smog. Waren Sie je dort?« »Ich war noch nie in Amerika. Ich war überhaupt erst zweimal auf dem Festland.« »Das kann ich verstehen. Wenn ich von hier wäre, würde ich auch nie weggehen.« »Und warum das?« »Weil ich es hier schön finde. Sie müssen doch das Gefühl haben, im Paradies zu leben.« »Meine Vorstellung vom Paradies ist ein wenig wärmer. Wenn sie länger an diesem Ort lebten, würden Sie dieses Paradies ganz schön langweilig finden. Es gibt hier nicht viel zu tun. Jetzt ist es für mich zu spät, aber wenn ich halb so alt wäre, würde ich verschwinden, wie die meisten unserer jungen Leute.« »Verrückt, oder? Die halbe Welt versucht, ruhiger zu werden und zu einem Ort wie diesem zu gelangen, und Leute wie Sie möchten in die Großstadt ziehen!« »Die menschliche Natur ist nun mal pervers.« »Das stimmt wohl. Sagen Sie, ich würde Sie gern wegen ein oder zwei Sachen um Auskunft bitten. Kann ich Sie vielleicht zu einem Drink einladen?« »Nett, daß Sie vorher fragen. Bitte seien Sie nicht beleidigt, wenn ich lieber keinen Drink von einem Fremden annehme. Junger Mann, wenn Sie mich jetzt entschuldigen möchten – ich muß mit meinen Freunden dort drüben sprechen.« 35
Calum schaute die kleine Bar auf und ab, konnte aber kein weiteres Opfer entdecken. Er versuchte, den Gesprächen zu lauschen. Dann und wann kam tatsächlich mal ein englisches Wort vor, aber viel zu selten, als daß er hätte herausbekommen können, worüber sie redeten. Er war sich nicht ganz sicher, ob Gälisch eine richtige Sprache war, in der sie sich immer unterhielten, oder ob das nur ein elaborierter Code war, um Neulinge auszuschließen. Was würde passieren, wenn er rausging und plötzlich, ohne Vorwarnung, wieder zurückkehrte? Würden Sie dann alle Englisch sprechen? Er versuchte sich darüber klar zu werden, warum sie so unfreundlich waren. Zu Hause würde fast jeder mit einem reden, solange man nicht besoffen oder komplett durchgedreht war. Er mußte also irgend etwas falsch machen. War er zu gradlinig, zu amerikanisch, wenn er so auf sie zuging? Das war ja wieder typisch für ihn, alles zu vermasseln. Vielleicht sollte er einfach mal damit anfangen, ein Weilchen ganz allein hier zu sitzen, Freundlichkeit auszustrahlen und darauf zu warten, daß die Eingeborenen auf ihn zukamen. Er leerte drei Pints Bier. Die übrigen Gäste hielten bei den Bieren in etwa mit, kippten aber noch beachtliche Mengen Whisky nebenbei. Keiner sprach mit ihm, und so ging der Abend zu Ende. Bevor sie verschwanden, kaufte jeder von ihnen ein Fläschchen Scotch und steckte es ein. Fraser, der Mann, mit dem Calum geredet hatte, nickte ihm beim Gehen zu. Die anderen kümmerten sich nicht weiter um ihn. Der Barkeeper erwiderte seinen Abschiedsgruß, ohne auch nur vom Tischwischen aufzuschauen. Calum zog sich auf sein Zimmer zurück und setzte sich traurig aufs Bett. So hätte das nicht laufen dürfen. Sein Großvater hatte ihm von Sgurr nan Creag erzählt, obwohl er selbst nie dort gewesen war. Er hatte immer 36
geschworen, wenn Calum je hinführe, würden ihn die wunderbaren Buchanans aus Sgurr ganz sicher ohne weitere Fragen in die Arme nehmen. Die lebhaften Bilder, die sein Großvater ihm vorgeführt hatte, waren die eines Ortes voll offener Herzen, fröhlicher Kinder und lächelnder Großmütter. Wo man tanzte, wo die Volksmusik dröhnte, wo längst vergessene Sagen noch am Leben waren. Wo alles noch stimmte und nichts jemals schiefging. Für Calum bedeutete das mehr, als seine Wurzeln zu finden. Nachdem sein Leben begonnen hatte, zu zerbrechen, war er in seiner Fantasie immer öfter bei den Buchanans in Sgurr gewesen; er hatte sie sich als freundliche, offenherzige Menschen vorgestellt, die es absolut nicht interessierte, daß er in allem bloß mittelmäßig war. Zum erstenmal in seinem Leben würde er irgendwo sein, wo er hingehörte, wo er seine Wunden lecken und sich wieder sammeln konnte. Wenn es hier nun nicht so war, wo sollte er denn dann noch hin? Er stand auf, schaltete das Licht aus, zwang den verrosteten metallenen Fensterrahmen hoch und schaute hinaus aufs Meer. Dichte Wolken verdeckten den Mond. Dort draußen herrschte nichts als tintenschwarze Dunkelheit. Die samtene Stille wurde nur durchbrochen vom Rauschen der Wellen. In seinem Apartment in LA, ein paar Blocks von Venice Beach, konnte er das Meer auch hören. Aber die schottische See klang viel älter. Es wurde kalt im Zimmer. Er machte das Fenster zu, zog sich aus und ging ins Bett. Ein paar Sekunden später schaltete er das Licht noch mal an, schleppte seine müden Glieder rüber zum Koffer und fummelte das gerahmte Bild Mariannas heraus. Er stellte es so nah wie möglich ans Bett, bevor er in tiefen, traumbeladenen Schlaf versank. 37
3 Er schlief lange und frühstückte wie ein Wolf. Heute ging es ihm viel besser. Es mußte doch ganz einfach sein, in so einem kleinen Dorf Familienangehörige der Buchanans zu finden. Die einsilbige Empfangsdame kannte jedoch keine und schlug ihm vor, es im Dorfladen zu versuchen. Auch der Ladenbesitzer konnte ihm nicht helfen und bat ihn frostig, die anderen Kunden nicht aufzuhalten. Das einzige öffentliche Telefon des Dorfes stand dem Laden gegenüber. Er blätterte durchs Telefonbuch. Keine Buchanans. Merkwürdig. Telefonauskunft? Auch kein Eintrag. Er stopfte Hände voll Münzen in das Gerät und telefonierte ebenso lange wie ergebnislos mit den Behörden in Stornoway. Nein, es gab keine Buchanans in der Datenbank von Sgurr. Das machte ihm Sorgen. Aber egal. Sie gaben selbst zu, daß in ihren Unterlagen nur Leute stünden, die ihre Fragebögen ausfüllten, insofern konnten durchaus welche fehlen. Was jetzt? Es schien keine Polizeiwache zu geben. Vielleicht die Kirche? »Oh, hi. Darf ich mich umsehen?« »Besucher in unserer Kirche sind immer willkommen.« »Könnte ich Sie etwas fragen, Vater?« »Das ist ein Begriff aus der katholischen Kirche. Hier benutzen wir den Begriff Pfarrer.« »Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer. Draußen auf Ihrem Friedhof gibt es fünf oder sechs Grabsteine für Buchanans.« 38
»Ja, allerdings.« Der Pfarrer kniff die Augen zusammen. »Entschuldigen Sie mich? Ich habe zu tun.« »Nur noch einen Augenblick. Ich habe mich gefragt… der letzte Grabstein stammt von 1907. Ist das immer noch ein verbreiteter Name in der Gegend? Ich bin selbst ein Buchanan und suche nach meinen Vorfahren. Meine Ahnen stammen aus diesem Teil von Lewis.« »Vor langer Zeit gab es hier Buchanans. Das ist ein alter Name aus Lewis.« »Und inzwischen?« »Vielleicht finden Sie welche in Stornoway.« »Nein, ich meinte hier in Sgurr nan Creag. Ich konnte im Telefonbuch keine Buchanans finden, aber vielleicht sind sie bloß nicht aufgeführt. Kennen Sie welche?« »Es sind keine in meiner Gemeinde.« »Gehen denn die meisten der Dorfbewohner zur Kirche?« »Sie werden feststellen, daß wir diesen Ort nicht gerne als Dorf bezeichnen, so klein er auch sein mag. Ja, der Großteil von ihnen kommt regelmäßig. Dies ist eine gottesfürchtige Gemeinde.« »Und was ist mit denen, die nicht kommen? Kennen Sie überhaupt irgendwelche Buchanans?« »Mir fallen keine ein.« »Sie können doch nicht alle gestorben oder verzogen sein?« »So was passiert ab und zu auf diesen Inseln, bei all den Abwanderungen und der Armut. Viele Menschen waren gezwungen, auszuwandern. Zweifelsohne betraf das auch Ihre Vorfahren. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen möchten, junger Mann – ich muß meinen Pfarrerspflichten nachkommen. Schönen Tag noch.« 39
Okay, was nun? Das kleine Volksmuseum unten in der Nähe des Strandes? Vielleicht fand er dort etwas über Clans oder Familien, womit er anfangen konnte. Und wenn er so nicht weiterkam, mußte er zurück in die Bar und diesen Typen fragen. Das war schließlich nicht so schlecht gelaufen. Der hatte wenigstens überhaupt mit ihm geredet. Heute war sein neunter Tag in Sgurr, und der bislang kälteste. Oben auf dem Gipfel war seine Hi-Tech-Jacke nutzlos. Sie funktionierte vielleicht prima in der Arktis, aber die Erfinder dieser vielfach patentierten, vielfach getesteten superleichten Fasern hatten nicht mit den Hebriden gerechnet. Aber er würde sich von der Kälte nicht aufhalten lassen. Nachdem er zögernd hingenommen hatte, daß sich niemand an irgendeinen Buchanan erinnern konnte, egal ob lebend oder tot, hatte er sich vorgenommen, statt dessen alle acht Berge zu besteigen, die die Stadt umgaben. Ben Mhor war sein sechster, und er war steiler und zackiger als die anderen. Noch zwei Tage und zwei Berge, dann war er weg. Trotz der bitteren Enttäuschung, keine Verwandten gefunden zu haben, blieb es ein besonderer Ort für ihn, und er wollte jedes Fleckchen Erde sehen und tief in seine Erinnerungen einbrennen. Ganz sicher waren es nicht die Leute, die den Ort zu etwas Besonderem machten. Im besten Fall verhielten sie sich unterkühlt zivilisiert und völlig desinteressiert an seiner Suche. Es war die Gegend selbst, die ihn faszinierte, die ihn ein wenig beruhigte, seine Verzweiflung ein wenig linderte, seine Panik milderte und ihm Verbindung zur Erde verschaffte. Der Ort hatte etwas merkwürdig Absolutes an sich, eine Klarheit, die ihm half, seine Sorgen in der richtigen Perspektive zu betrachten.
40
Seine nahe Zukunft sah düsterer aus als je zuvor. Weiter im Hotel zu wohnen konnte er sich nicht leisten, und hier zu arbeiten war völlig unmöglich. Er hatte gefragt, und er hatte es sofort bereut. Was konnte er denn? Fischen? Das war schwere körperliche Arbeit, und es gab wenig genug davon. Erntehelfer? Hier kümmerte sich jeder um seinen eigenen Acker. Wo sollten die Leute denn das Geld hernehmen, ihn zu bezahlen? Und sonst? Wußte er überhaupt, wie schlimm das mit der Arbeitslosigkeit hier war? Wollte er den Einwohnern etwa die wenige Arbeit wegnehmen? Ohne Buchanans, die ihm halfen, hatte er keine andere Wahl, als weiterzuziehen. Das war traurig, wo er doch gerade am einzigen Ort auf der ganzen Welt war, an dem er sein wollte. Wo sollte er hin? Glasgow oder London wären wahrscheinlich am günstigsten. Es sollte nicht allzu schwierig sein, dort irgendeine Arbeit aufzutreiben, bis er wieder auf die Beine kam. Er konnte einfach nicht zurück nach LA gehen, ohne eine müde Mark in der Tasche und so dumm wie zuvor. Wie sollte er es ertragen, nur ein paar Meilen von Marianna entfernt zu leben, aber nicht mit ihr zusammen zu sein? Selbstmord war keine schlechte Möglichkeit, obwohl seine Erfahrungen in diesem Bereich nicht gerade vielversprechend waren, nachdem man ihm mit sechzehn kurzerhand den Magen ausgepumpt hatte. Seine Mutter war nicht mal vorbeigekommen, und sein Dad hatte später immer wieder darauf herumgeritten, daß Calum wirklich auch gar nichts zustande brächte. Als er die letzte Windung vor dem Gipfel hinter sich brachte, konnte er plötzlich das Meer wieder sehen; der Ausblick raubte ihm den Atem, und zitternd kniete er sich auf einen Fels, um die Sicht zu genießen. Über sich konnte er durch ein paar Wolkenlöcher einen goldenen Adler mit einer Spannweite von zwei, vielleicht sogar zweieinhalb 41
Metern ausmachen, der mühelos im thermischen Aufwind kreiste. Calum war fasziniert. Der Adler schwebte höher und höher. Dann stürzte er plötzlich wie ein Geschoß erdwärts. Großer Gott, das verrückte Vieh würde auf den Felsen zerschellen! Im letzten möglichen Augenblick, als Calum schon keine Hoffnung mehr hatte, wechselte er die Richtung. Die Schwingen schlugen, dann schwebte er wieder himmelwärts; er hatte irgend etwas – vielleicht ein Kaninchen – in seinen Killerklauen. So verschwand er in den Wolken. Calum fand das sehr bewegend. Mit steifen Gliedern rappelte er sich auf und kletterte weiter. Als er den schneebedeckten Gipfel erreichte, dämmerte es schon, und er konnte nur eine kurze Pause machen, bevor er den Abstieg begann, für den er einen gradlinigeren, steileren Pfad als für seinen Aufstieg wählte. Endlich wurde der Weg flacher, doch da war es schon fast dunkel. Der Boden war sehr unebener, und er mußte näher am Meer entlanggehen. Wenn Ebbe war, könnte es einfacher sein, bis zum Strand zu gehen und dann zur Bucht. Aber es war zu dunkel, und er war froh, daß er eine Mini-Taschenlampe bei sich hatte. Der Strand konnte nicht weit sein, sofern das den Geräuschen nach zu beurteilen war. Die Wellen rauschten lautstark. Noch ein kleiner Hügel, dann hatte er es geschafft. Er erschrak zutiefst, als er den Umriß vor dem dunklen Himmel entdeckte. Mit zitternden Händen zog er seine Taschenlampe heraus, brauchte aber drei Versuche, bevor ein schmaler Lichtstrahl vor seinen Füßen tanzte. Er leuchtete wild um sich. Großer Gott, bitte, laß es kein schreckliches Monster sein! Es war ein keltisches Kreuz, sehr groß und ein wenig schräg stand es da. Calum schwang den Lichtstrahl nach 42
rechts und links. Die kleine Mauer war ihm noch gar nicht aufgefallen, obwohl er sie beinahe erreicht hatte. Der kleine Friedhof war nicht größer als fünfzehn mal acht Meter, ein alter Ruheplatz mit Blick aufs Meer. Abgesehen von dem Kreuz gab es noch sieben oder acht aufrecht stehende Grabsteine und eine ganze Reihe, die umgefallen waren. Er fand keinen Eingang, also kletterte er einfach über die Mauer und ging rüber zu den erhaltenen Steinen. Sie standen alle schief. Calum versuchte, die Inschriften im Taschenlampenlicht zu entziffern. Die erste war zu verwittert, die nächste erinnerte an einen MacDonald. Der dritte Name war unlesbar, aber er erkannte die Jahreszahlen 1832-1876. Zwei weitere unlesbare, dann ein ganz klarer Macintosh, ein Kindstod im Jahre 1904. Er fluchte, als er sich schmerzhaft den Zeh an einem umgefallenen Grabstein stieß. Ein MacLeod lag darunter, daneben ein Nicholson. Der letzte Stein stand stolz und gerade, wie ein alter Soldat bei seinem letzten Salut. Ein merkwürdiges Gefühl überkam ihn, als er darauf zuging, und er senkte den Lichtstrahl. Zuerst wollte er den Stein einmal fühlen. Er hatte harte, kantige Ecken und schien kaum verwittert; ganz offensichtlich war er jünger als die anderen. Er hob die Taschenlampe. Die Worte waren klar und eindeutig. Gormelia Buchanan, geboren 1898. Gestorben 1976. Betrauert von ihrer liebenden Tochter Morag. Calum schaltete die Taschenlampe aus und sackte vornüber gegen den Grabstein, er drückte sein Gesicht dagegen, umschlang die Seiten mit beiden Händen. Er wollte ihn gar nicht wieder loslassen. Seine Finger tasteten über das Wort Morag, den Namen auf der Rückseite des verblaßten alten Fotos, das sein Großvater von seinem Vater geerbt und an Calum weitergegeben hatte, 43
zusammen mit einer kaputten Uhr und einer gälischen Bibel. Konnte diese Morag das Kind auf dem Bild sein? Zurück zum Shobost zu gelangen, dauerte eine Ewigkeit, und er war klatschnaß, weil es inzwischen regnete. Im Hotel badete er lange und heiß, denn er mußte sich Zeit lassen. Schwanger mit seiner Entdeckung hätte er direkt in die Bar reinmarschieren und sie den Einwohnern wie einen Fehdehandschuh hinknallen können. Aber er mußte vorsichtiger und klüger vorgehen; er mußte herausfinden, was sich dahinter verbarg. Das Durchschnittsalter der Stammkunden ließ es undenkbar erscheinen, daß keiner von ihnen Gormelia Buchanan oder ihre Tochter gekannt hatte. Konnte das Whiskysaufen tatsächlich die kollektive Erinnerung an beide ausgelöscht haben? Bestimmt nicht. Diese Leute waren alle hier geboren und aufgewachsen. Es gab hier viel weniger Kommen und Gehen als in einer Stadt auf dem Festland. Und was war mit Morag selbst? War sie weggezogen, nachdem ihre Mutter gestorben war, oder schon vorher? Der Inschrift auf dem Grabstein konnte er auch nicht entnehmen, ob sie immer noch Buchanan hieß oder verheiratet war und einen anderen Namen trug. Da ihre Mutter 1891 geboren wurde, war die Tochter höchstwahrscheinlich irgendwann zwischen 1910 und den frühen i92oern zur Welt gekommen. Sie würde inzwischen also ganz schön alt sein, sofern sie überhaupt noch lebte. Wie standen die Chancen, daß sie sich hier aufhielt? Da es in Sgurr im Augenblick nicht unbedingt allzuviele Buchanans gab, wie viele Morag Buchanans konnte es dann damals gegeben haben? Er lag eine halbe Stunde in der Badewanne und dachte nach. Vielleicht gab es eine ganz vernünftige Erklärung. 44
Vielleicht hatten sie die Leute wirklich vergessen. Dann sollte er sich nicht darüber aufregen, er sollte ihnen einfach nur einen freundlichen Knuff geben, um ihrer Erinnerung nachzuhelfen. Aber wenn das nicht klappte, was dann? Und wenn es keine so unschuldige Erklärung gab, wenn sie ihn aus irgendeinem Grund tatsächlich in die Irre schicken wollten …? Dann mußte er sie notfalls eben austricksen. Er ging runter in die Bar. Inzwischen hatte er sich an ihr warmes Bier ganz gut gewöhnt. Das war ein prächtiges Gegenmittel, wenn man sich die Eier auf dem Berg abgefroren hatte. Innerhalb von zehn Minuten kippte er zwei Pints und nahm zum zweiten einen kleinen Whisky dazu. Fraser wirkte freundlicher als sonst und erzählte ihm ein oder zwei Geistergeschichten aus Lewis. Was hatte diesen plötzlichen Ausbruch menschlicher Wärme verursacht? Akzeptierten sie ihn jetzt endlich, oder hatte sich herumgesprochen, daß er bald abfuhr? Calum bestellte ein drittes Pint und überredete Fraser tatsächlich, sich von ihm einladen zu lassen. Damit war das Tor geöffnet. Er sah, wie Héctor, der älteste des DartQuartetts, und der größte dazu – er hatte schlohweißes Haar und eine Narbe unter dem rechten Auge –, auf gälisch mit dem Jüngsten sprach. Donald kam daraufhin zu Calum rüber und lud ihn mit Grabesstimme ein, mitzuspielen. Sie waren extrem duldsam. Calum spielte zum ersten Mal Dart, und das merkte man. Er brauchte eine Weile, bis er überhaupt die Zielscheibe traf, und auf bestimmte Zahlen zu zielen war noch lange nichts für ihn. Aber keiner sagte etwas darüber, außer Calum, der konstant über seine eigene Inkompetenz plapperte. Sie lobten ihn vorsichtig für jeden Treffer über zehn Punkte und reichten ihm die Pfeile zurück, die von den Wänden abprallten. 45
Auch sein Partner Sandy war keineswegs genervt davon, an dieses wandelnde Handicap gefesselt zu sein, und der kahle, dürre Hamish, der für ihn aussetzte, schaute mit höflichem Interesse zu. Manchmal sagte Hector etwas. Seine Stimme hatte denselben Akzent wie die anderen, aber sie war tiefer, düsterer. »Sie werden uns also bald verlassen, stimmt das?« »Ja. Geldprobleme. Sie wissen ja.« »Sie sind hergekommen, um Ihre Wurzeln zu finden haben Sie das nicht Fraser gesagt?« »Genau. Wir Amerikaner können nicht anders … Toller Wurf, Sandy.« »Ihre Vorfahren sind also aus Lewis, oder?« »Yup. Mein Urgroßvater ist 1923 emigriert, und zwar genau aus dieser Stadt. Er ging nach Kanada, später nach Detroit. Ich habe ihn nie kennengelernt. Er ist 1929 gestorben.« »Dann wird er auf der Metagama gesegelt sein?« »Der was?« »Der Metagama. Das war das Schiff, das die Auswanderer beförderte. Die meisten Jungs aus Lewis fuhren mit. Es gehörte der Canadian Pacific Trailway Company. Sie ließen sie auf dem Schiff arbeiten.« »Erinnern Sie sich daran?« »Nein, mein Freund, ich war damals erst zwei. Die Metagama gehört zu den Sagengeschichten hier.« »Die wird es dann wohl gewesen sein.« »Ihr Wurf.« »Was brauchen wir …? Doppelsechs …? Oh, nein … Warum bin ich so unglaublich schlecht?«
46
»Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie herausgefunden haben?« »So, so. Es war gut, mitzubekommen, wie man hier lebt, aber ich bin enttäuscht darüber, keinen meiner Verwandten gefunden zu haben. Es scheint hier keine Buchanans mehr zu geben, soweit ich das feststellen konnte.« »Vielleicht sind sie alle weggezogen.« »Könnte sein – oder sie sind gestorben. Von Ihnen erinnert sich auch niemand an jemand mit diesem Namen? Keine Buchanans, die im Laufe Ihres Lebens gestorben sind? Oder Frauen, die vielleicht geheiratet und ihren Namen abgelegt haben?« »Sie sind wieder dran ... Nein, ich glaube nicht.« »Doppeldrei? Na toll! Was für ein Mist. Sagen Sie, Hector, wo in Sgurr leben Sie?« Er lag bis zehn im Bett und wartete, daß das Adrenalin sich durch seinen dröhnenden Kater fraß. Zu zeitig anzufangen war sowieso nicht sinnvoll. Er konnte nicht allzu früh am Morgen an Türen klopfen. Obwohl er so viel getrunken hatte, war er noch in der Lage gewesen, sich aufzuschreiben, wo Hector und Donald wohnten, bevor er ins Bett gegangen war. Sandy und Hamish wohnten im nächsten Ort, also stellten sie kein Problem dar, und Fräsers Hütte lag irgendwo im Nirgendwo. Er wollte nicht riskieren, daß das erste Haus, an dem er klopfte, ausgerechnet das von Hector war. Sicher würden die Buschtrommeln in Sgurr nan Creag ziemlich gut funktionieren. Und wenn die Männer in der Bar zu früh herausbekamen, daß Calum herumschnüffelte, könnten ihm die Türen vor der Nase zugeschlagen oder gar nicht erst geöffnet werden. 47
Er haßte es, so vorgehen zu müssen. Drei Stunden lang hatte er an der Bar immer wieder Hinweise gegeben und gehofft, daß der Alkohol ihre Zungen lockerte. Doch jedesmal, wenn er das Thema anging, wechselten sie es abrupt. Es war völlig unnatürlich, und in den Blicken, die sie wechselten, lag eine gewisse Spannung. Er wußte jetzt ganz sicher, daß irgend etwas Merkwürdiges vorging; sie wollten ihm irgend etwas vorenthalten. Er mußte jetzt gegen sie antreten. In der Liebe, im Krieg und bei der Suche nach Vorfahren war alles erlaubt. Draußen war es so kalt wie immer, aber wenigstens trocken. Er wanderte einmal durch die ganze Stadt, um ein systematisches Vorgehen zu planen, trug Markierungen in seine handgemalte Karte ein und bedachte Hectors und Donalds Häuser mit großen schwarzen Kreuzen; noch war er sich nicht ganz sicher, ob er sich wie ein Geheimagent auf einer Mission oder wie ein Vollidiot fühlen sollte. Nachdem er das erledigt hatte, marschierte er bis zum Rand der Felder im Süden der Stadt und trat vor die erste Haustür. Keine Antwort. Noch ein Versuch. Immer noch keine Antwort. Nächstes Haus. »Entschuldigen Sie, Sir...« »Ja?« »Ich führe eine Umfrage über Familiennamen in Lewis und Harris durch. Würden Sie mir bitte helfen? Ich muß nur Ihren Nachnamen und den Geburtsnamen Ihrer Frau wissen.« »Wozu?« »Für das US Bureau of American History. Wir vergleichen die Immigrationen zu Beginn dieses Jahrhunderts mit der Entvölkerung in den Orten, aus denen die Leute kamen. Wir wollen feststellen, wie die Zahl der Familien in den Staaten zu- und in anderen Ländern abnahm.« 48
»Das geht mich nichts an.« »Ich brauche doch nur Ihren Namen.« »Ich werde nichts unterschreiben.« »Das ist auch nicht nötig. Sie können es mir einfach sagen.« »Ich will nicht, daß irgendwelche Vertreter meinen Namen notieren. Ich brauche keine Doppelglasfenster, und wir haben schon eine Satellitenschüssel.« »Darum geht’s doch gar nicht. Ich verspreche es Ihnen.« »Warten Sie hier, ich spreche mit meiner Frau … Na gut. Ich bin ein MacDonald, sie war eine Morrison. Und vergessen Sie nicht, was Sie mir versprochen haben, sonst werde ich mich an die Polizei wenden.« »Guten Morgen, Ma’am. Hätten Sie einen Augenblick Zeit, mir ein paar Fragen zu beantworten?« »Nein, habe ich nicht. Ich bin Mitglied der Free Church of Scotland und will mit den Mormonen nichts zu tun haben.« »Ich bin kein Mormone.« »Dann eben die Zeugen Jehovas. Ihr Leute habt wirklich Nerven, bei mir zu klopfen und euren Unfug loszuwerden!« »Darum geht’s doch nicht. Ich brauche nur Ihren Namen für eine Umfrage.« »Gehen Sie sofort!« Er entdeckte einen braunen Umschlag, der auf einem Tisch nur etwa einen Meter von der Tür entfernt lag, aber er konnte ihn nicht lesen. »Hey, kommt da nicht Rauch aus Ihrer Küche?« »Was ...?« 49
Die paar Sekunden, in denen sie sich umsah, reichten. MacIver. Gut. Dann mußte er eben ohne ihren Mädchennamen klarkommen. Die Frau wandte sich mit zornigem Blick wieder um. Calum versuchte, nicht zu grinsen. »Nein …? Dann muß ich mir das eingebildet haben. Wie auch immer, vielen Dank, Ma’am.« Sie knallte die Tür vor ihm zu. Er brauchte bis vier Uhr nachmittags, um alle Häuser abzuklappern, außer den beiden, die er bewußt ausließ. Bei drei der sechsundzwanzig Häuser hatte ihm keiner geöffnet. Vier Leute hatten sich geweigert, ihm ihre Namen zu sagen, drei davon waren Männer, und die eine Frau war höchstens sechzig. Die, die ihm antworteten, waren vorsichtig und auf der Hut, sie warteten auf den Pferdefuß abgesehen von einem alten Mann, der ihm einen Whisky anbot und dann völlig sinnlos eine halbe Stunde vor sich hinbrabbelte. Calum hatte dem Kerl wahrscheinlich den Höhepunkt seines ganzen Jahres verschafft, und ihn allein zu lassen, war das schwierigste gewesen. Keine Buchanans auf seiner Liste. Er war ja ein toller Geheimagent. Mittlerweile wußten die Stammtrinker im Shobost bestimmt Bescheid, und sie würden ziemlich sauer sein, daß er an ihnen zweifelte. Sein Ruf in Sgurr war jetzt wahrscheinlich nicht mehr viel besser als der in LA. Aber bevor er aufgab und zu ihnen zurückkehrte, würde er noch einmal bei denen klopfen, die nicht geöffnet hatten. Zwei waren jetzt da, ein Murray und ein Mackenzie. Es blieb nur ein vernachlässigtes Haus mit Blechdach und niedrigen dicken Mauern; ein Stück von 50
der Straße entfernt sah es älter aus als alle anderen. Er ging den kleinen Weg entlang und klopfte an die Tür. Keine Antwort. Die Dornenbüsche hinderten ihn daran, durch die kleinen Fenster zu spähen, die sowieso völlig verdreckt waren. Er kehrte zur Tür zurück und lauschte. War da was? Ein leises Geräusch? Er würde noch einmal laut klopfen. Nichts. Was hatte er zu verlieren? Entweder war sie hier – oder nirgends. Er trat zwei Schritte zurück und rief, fast brüllte er: »Morag Buchanan!« Noch einmal ihr Name. Nichts. Er ging rund um das Haus und klopfte heftig gegen eine dunkle Glasscheibe. »Morag Buchanan, ich bin Calum Buchanan. Der Großneffe Ihres Bruders!« Immer noch keine Antwort. »Miß Buchanan, machen Sie bitte auf. Ich muß mit Ihnen reden. BITTE.« Stille, abgesehen vom Pfeifen des Windes. Er klopfte noch ein letztes Mal halbherzig gegen die Haustür, dann ging er den Weg wieder zurück. Jetzt war der Augenblick gekommen für einen letzten verzweifelten Trick. Wenn man die drei verlassenen, verrottenden Ruinen nicht zählte, war das nächste Haus gut hundert Meter entfernt. Eine streng dreinschauende kleine Frau hatte ihm geöffnet und sehr zögerlich ihren Namen genannt. Er wanderte dorthin zurück. Sie öffnete noch einmal, und diesmal schaute sie noch mißtrauischer. Bevor sie die Tür wieder schließen oder irgend etwas verweigern konnte, redete Calum hastig auf sie ein. »Tut mir leid, Sie schon wieder zu belästigen, Mrs. Matheson. Das alte Haus die Straße herunter, wo die 51
alte Frau wohnt … Ich kann ihren Namen, den ich mir aufgeschrieben habe, nicht mehr lesen, und sie macht jetzt nicht auf. Könnten Sie ihn mir bitte sagen?« Sie schaute ihn an, als hätte er von ihr verlangt, Gift zu schlucken. »Im Moment kann ich mich an ihren Namen wirklich nicht erinnern …« »Wenn ich ihn nur noch lesen könnte! War es vielleicht Ballantyne?« Mrs. Matheson schaute ein wenig erleichtert, aber Calum hatte ihre spontane Verwirrung bemerkt. »Ja, ich glaube, das stimmt.« »Nein, Augenblick … Das heißt gar nicht Ballentyne … es heißt Buchanan, oder?« Sie wurde weiß, starrte ihn entgeistert an und knallte die Tür vor seiner Nase zu. Er ging zu der Hütte zurück und klopfte noch einmal, erwartete aber keine Antwort. Dann kritzelte er eine Nachricht auf ein Stück Papier und wickelte es um das vergilbte Foto eines jungen Mädchens mit Löckchen. Er schob es unter der Tür durch und stand einfach da; geduldig wartete er die zehn Minuten, die es dauerte, bevor die Tür sich quietschend öffnete.
52
4 Sollte er, oder sollte er nicht? Die Vernunft sagte: wegbleiben. Der Draufgänger in ihm, den seine Freunde zweifelsohne seinen kriegerischen Hochland-Vorfahren zuschrieben, fordere eindeutig: Finde es raus. Warum hatten sie ihn angelogen? Haßten sie Amerikaner so sehr, daß sie einfach Freude daran hatten, ihn zu verarschen? War das ein Spiel? Würden sie alle lachen, wenn er jetzt in die Bar kam, und ihm zu seinem Sieg gratulieren? Oder verbarg sich dahinter etwas Merkwürdiges, Tieferes? Könnte es vielleicht einen wirklich guten Grund für ihr Benehmen geben? Wenn ja, dann mußte Calum herausbekommen, worin er bestand. Würden sie mit ihm jetzt wenigstens offener sprechen – jetzt, wo er Bescheid wußte? Oder wären sie so wütend über seine verlogene Umfrage, daß sie ihm endgültig die kalten Schultern zeigten? Dann würde er die Wahrheit vielleicht nur noch herausbekommen können, indem er sie unter Druck setzte. Reichte sein Selbstbewußtsein aus, eine so schwierige Situation geschickt zu meistern? Allerdings. Er dachte noch ein paar Minuten darüber nach, während er seine Klamotten in dem kleinen Waschbecken wusch, mit den letzten Überresten eines Seifenstücks. Dann war er schließlich neugierig und durstig genug. Er mußte nicht lange auf eine Reaktion warten. Fraser saß mit den anderen dreien an einem Tisch; als er hereinkam, schwiegen sie, dann sprachen sie leise auf gälisch weiter. Calums fröhlicher Gruß wurde nicht erwidert. Er bestellte sich ein Pint und ging rüber zu ihrem Tisch. 53
»Ich glaube, ich sollte noch ein wenig Dart üben. Ist Ihnen vielleicht nach einem Spiel?« Fraser schüttelte den Kopf. Hector starrte einfach durch Calum hindurch. »Nein …? Na gut, dann spiel’ ich einfach alleine. Gehören diese Pfeile irgend jemand?« Keine Antwort. Das gälische Murmeln wurde fortgesetzt. Er wurde jetzt nervös, und es fiel ihm schwer, das Zittern seiner Stimme zu unterdrücken. »Nun ja, wenn die niemandem gehören, dann versuche ich mich mal daran.« Er warf zehn Minuten lang sehr schlecht mit den Dartpfeilen und war ungemein unsicher, was er als nächstes tun sollte. »Ich bin nicht gerade ein Naturtalent. Ich sollte beim Trinken bleiben. Kann ich Ihnen vielleicht einen Whisky spendieren? Fraser? Hector? Sandy?« Fraser und Sandy schüttelten die Köpfe. Hector machte sich nicht die Mühe. Die anderen beiden starrten wie gelähmt in verschiedene Richtungen. Spannung und Unsicherheit knisterten geradezu in der Luft. Calum fühlte sich extrem unwohl, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Er mußte all seinen Mut zusammennehmen und weitermachen. Nachdem er noch ein Pint bestellt hatte, zog er einen Stuhl nah an ihren Tisch heran. »Wissen Sie was, Fraser, ich habe herausgekriegt, daß es doch einen Buchanan in Sgurr nan Creag gibt…« Das Gälisch verebbte. »… ja, eine alte Dame, bestimmt schon achtzig. Sie heißt Morag. Und sie hat ihr ganzes Leben hier gelebt. Sehr merkwürdig, daß Sie sie nicht kennen.« Schweigen. 54
»Sie jedenfalls hat von Ihnen allen schon gehört.« Hector murmelte etwas. Es klang nicht freundlich. »Es war schön, herauszubekommen, daß ich doch noch lebende Vorfahren hier habe.« Er hatte sich so sehr an ihr Schweigen gewöhnt, daß es ihn erschreckte, als Fraser zu reden begann. »Und nachdem Sie jetzt Ihre Wurzeln gefunden haben, werden Sie morgen glücklicher abreisen, nehme ich an.« »Glücklicher? Ganz bestimmt, aber ich habe meine Pläne geändert. Ich werde nicht abreisen.« Die Reaktion der Männer am Tisch war wortlos, aber trotzdem sehr deutlich. »Bleiben Sie im Shobost?« »Hier? Oh, nein, das kann ich mir nicht leisten. Morag hat mich eingeladen, ein Weilchen bei ihr zu wohnen.« Ein kurzer, scharfer Wortwechsel am Tisch. Was auch immer sie sagten, es schien, als hätten sie Fraser irgendwie zu ihrem Sprecher ernannt. »Junger Mann, wir hatten nicht vor, Sie zu täuschen. Was wir getan haben, taten wir aus gutem Grund. Wir taten es in Ihrem eigenen Interesse.« »Ach ja? Sprechen Sie weiter, Fraser.« »Es ist absolut verständlich, daß Fremde wie Sie Ihre Wurzeln entdecken wollen. Daran sind wir gewöhnt.« »Na, dann vielen Dank für die große Hilfe.« »In jedem anderen Fall hätten wir gerne so gut geholfen, wie wir können.« »Aber bei mir?« »Das liegt nicht an Ihnen, das liegt an Ihrer … Verwandten.« »Morag?« 55
»Ja.« Calum spürte, daß Fraser nicht einmal ihren Namen aussprechen wollte. »Es gibt da bestimmte … Dinge, die Ihnen nicht bewußt sein können.« »Dinge? Was für Dinge?« »Dinge, die vor sehr langer Zeit geschehen sind. Dinge aus der Vergangenheit, die … schmerzhaft sind, die man am besten ruhen läßt. Wir sind davon ausgegangen, daß niemand ein Interesse daran hat, auch Sie nicht, die Vergangenheit wieder aufzuwecken. Wir fanden es besser für Sie, zu erfahren und zu glauben, daß hier keine lebenden Verwandten von Ihnen existieren. Wenn Sie auch nur ein bißchen Vernunft haben, werden Sie selbst jetzt noch so tun, als wäre das der Fall.« »Und einfach abreisen, meinen Sie? Wieso sollte ich das tun? Mir gefällt es hier, und jetzt kann ich ja auch irgendwo wohnen.« »Nehmen Sie unseren Rat an und halten Sie sich von dieser Frau fern. Daraus kann nichts Gutes entstehen.« »Was reden Sie da, Fraser? Ist sie eine böse Hexe oder was?« Hamish atmete tief durch. Hector murmelte etwas, was wie ein Fluch klang. Fraser schaute unglücklich drein. »Ich kann es Ihnen nicht sage, Calum, aber glauben Sie mir, es wäre besser, wenn Sie abfahren.« »Ohne den Grund zu kennen? Hören Sie, Fraser, es tut mir leid, wenn Sie die Art verärgert hat, wie ich es herausbekommen habe, aber wenn ich hierüber etwas informiert werden sollte, dann müssen Sie ehrlich mit mir sein, sonst werde ich das Angebot der alten Dame auf jeden Fall annehmen. Sie ist alt, verdammt noch mal. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie ein bißchen … eigenartig ist. Aber sie ist auch mit mir verwandt, und sie war nett genug, mich einzuladen. Ich kann nicht 56
behaupten, daß ich mich wirklich darauf freue, in dieser kleinen Hütte zu wohnen, aber es ist umsonst, was bei meiner finanziellen Lage sehr wichtig ist. Also, wenn Sie keinen sehr guten Grund haben …« »Haben wir, Calum, aber es ist wirklich besser, die Vergangenheit nicht …« Hector unterbrach ihn, er schrie beinahe, aber er schaute dabei weder Calum noch Fraser an. »Sag’s ihm! SAG’S IHM!« Fraser sagte nichts. Calum gab nicht nach. »Kommen Sie, Fraser, ich bin einer Meinung mit Hector. Sagen Sie es mir … Oder noch besser, Hector, warum sagen Sie es mir nicht selbst?« Hector reagierte nicht auf ihn, weder mit Worten noch mit einem Blick. Fraser begann wieder zu sprechen, mühsam, zögernd: »Ihre Verwandte … Ich will mich jetzt nicht mit Details aufhalten, aber sie ist keine gute Frau. Im Gegenteil, sie ist böse. Man sollte sie bis zum Ende ihrer Tage allein lassen.« »Wieso böse? Was hat sie denn so Schreckliches getan?« »Sie hat böse Dinge getan. Aber schlimmer als das ist…« »Oh, ich verstehe, sie ist wirklich eine Hexe, ja?« »Junger Mann, Sie finden es lustig, darüber zu spotten, aber Sie sind näher an der Wahrheit dran, als Sie es sich vielleicht vorstellen können.« »Bin ich? Was macht Morag denn mit ihren Kräften? Es sieht ja nicht so aus, als hätte sie einen von Ihnen in einen Frosch verwandelt.« 57
Hector blitzte ihn zornig an, und Calum verfluchte sich, daß er einen so dummen Witz gerissen hatte. Er wollte sich gerade entschuldigen, als Fraser fortfuhr; seine Stimme klang jetzt ebenfalls unfreundlicher. »Hören Sie auf unseren Rat, oder Sie werden es bereuen.« »Fraser, ich bezweifle nicht, daß Sie ganz ernsthaft an irgend etwas glauben, aber worum geht es hier eigentlich? Es gibt keine Hexen. Wenn doch, dann hätten wir welche in LA. Keine Frage. Dort gibt’s auch alle möglichen anderen Spinner. Aber nichts da von Zaubersprüchen, Hexenversammlungen und Flüchen. Sie können doch nicht im Ernst von mir erwarten, daß ich Morags Angebot ausschlage, wenn Sie nicht irgend etwas Genaueres …« Calum wartete. Er wagte es nicht, noch ein Wort zu sagen. Natürlich hatte er alles sehr blöd angefangen, aber jetzt würden sie ihm bestimmt die Wahrheit verraten. Die Stille wurde durch ein scharfes Scharren unterbrochen, als Hector seinen Stuhl zurückschob und aufstand. Nach einem geknurrten gälischen Befehl erhoben sich die anderen ebenfalls. Hector baute sich turmhoch vor dem immer noch sitzenden Calum auf. »Wir haben Ihnen gesagt, daß wir die Vergangenheit nicht aufwühlen wollen. Wir haben versucht, Ihnen zu helfen. Sie haben darauf mit Zorn und Unglauben reagiert. Sie sollten auf uns hören, und wenn Sie das nicht tun, dann werden Sie es bereuen. Aber es ist Ihre Entscheidung. Tun Sie, was Sie wollen.« Mit diesen Worten wandte er sich ab, ließ sich ein Fläschchen Whisky geben und ging. Fraser und die anderen folgten ihm. Calum blieb allein in der Bar, er war erschütterter von dem Gespräch, als er zugeben mochte. 58
Dringend brauchte er jetzt einen anständigen Drink, doch der Barkeeper war verschwunden und kam auch auf sein Rufen nicht zurück. Hinter die Bar zu gehen und sich ein anständiges Glas einzugießen, galt ihm als kleines Symbol für seinen Widerstand gegen sie alle. Der Malt Whisky half ihm, sich für sein letztes Zusammentreffen mit dem harten Bett im Shobost zu entspannen, aber er verhalf ihm weder zu einem guten noch traumlosen Schlaf. »Na schön. Der Hahn ist draußen, links neben dem Eingang.« Er füllte sich ein gesprungenes Glas und setzte sich wieder. Sie starrte ihn durch ihre alte, vielfach reparierte Brille an, als hätte sie Mühe, ihn zu erkennen. Calum grinste zurück, und je länger das Schweigen dauerte, desto unwohler fühlte er sich. Nur die Uhr an der Wand tickte. Sie saß ganz klein auf ihrem winzigen Holzstuhl, strahlte aber eine kraftvolle Energie aus. Unter der wettergegerbten Haut deuteten die hohen Wangenknochen darauf hin, daß sie einmal schön gewesen war. Ihr dünnes weißes Haar hatte sie zu einem unsauberen Knoten hochgesteckt. Sie trug einen groben Tweed-Rock, einen formlosen Sweater, dicke braune Strümpfe, die so oft gestopft worden waren, daß von dem ursprünglichen Material kaum noch etwas zu sehen war, und zwei unterschiedliche hohe schwarze Schnürstiefel. Das helle Morgenlicht drang kaum in das dunkle Zimmer. Nachdem Calums Augen sich daran gewöhnt hatten, schaute er sich um. Die Wände waren von einem gleichmäßig dunklen Braun, wahrscheinlich in Jahrzehnten gefärbt vom Rauch des Ofens, der vor sich hin schmurgelte. Das kleine Wohnzimmer mit dem unebenen Kopfstein-Boden wurde von einem uralten, 59
eisengerahmten Webstuhl dominiert. In einer Ecke standen Waschbecken und Ofen, daneben eine alte Eichenholzkommode, in der Morags wenige Küchenutensilien, verbeulte Pfannen und Töpfe lagerten. Obendrauf standen zwanzig oder dreißig eselsohrige Bücher, dazu ein riesiges Holzradio, das aussah, als gehöre es in ein Museum. Es gab keine Nippessachen oder Bilder, auch konnte Calum weder einen Kühlschrank noch eine Spülmaschine, einen Fernseher oder ein Telefon entdecken. An den beiden gegenüberliegenden Seiten des Wohnzimmers befanden sich jeweils zwei kleine Schlafräume, deren Böden aus festgetretener Erde bestanden. Im Haus roch es auch nicht gerade toll. Calum schaute zurück zu Morag. Sie starrte ihn immer noch mit ihren stechend blaugrünen Augen an. Er fühlte sich langsam ziemlich komisch und wollte wenigstens irgendwas sagen. »Und, Morag, habt Ihr in diesem Haus schon als Kinder gewohnt? Ist mein Urgroßvater hier aufgewachsen?« »Nein, haben wir nicht. Hast du die drei Ruinen die Straße runter gesehen? Die mittlere war unseres. Es war auch ein Blackhouse, bloß ein bißchen größer als dieses.« »Ein Blackhouse?« »Das ist das Inselwort für diese alten Häuser. Die, die sie auf die neue Art bauen, nennen wir Whitehouses. Dieses hier war ursprünglich schindelgedeckt. Das rostige Blechdach haben wir vor ungefähr dreißig Jahren draufgemacht.« »Warum bist du umgezogen?« »Das Haus war in schlechtem Zustand und zu groß für nur meine Mutter und mich. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Ich war viel jünger als Murdo, dein Urgroßvater, und auch als meine Schwester Fiona. Unser 60
Vater verstarb drei Monate, bevor ich zur Welt kam, 1917. Er ist nicht im Krieg gefallen, sondern auf dem Rückweg. Die meisten Männer aus Lewis machten den letzten Teil ihrer Reise auf einem Schiff namens Iolaire. Der Captain nahm im Sturm den falschen Kurs, und das Schiff lief nicht weit von Stornoway entfernt auf Grund. Über siebzig Männer starben. Es heißt, so wäre in Lewis noch nie getrauert worden. Meine Mutter sprach nicht gern darüber; Fiona hat mir später davon erzählt.« »Was wurde aus Fiona?« »Sie hat Heringe eingesalzen und in Fässer gepackt. Das war damals eine Riesensache. Sie haben sie in die ganze Welt exportiert. Die Hering-Girls mußten viel reisen. Im Sommer nach Stornoway oder rüber aufs schottische Festland, im Winter in die Häfen Englands. In Yarmouth traf sie einen Engländer und heiratete ihn. Sie starb im Kindbett, das Baby ebenfalls. Es war dasselbe wie bei Murdo, wir haben sie nie wieder gesehen, nachdem sie gegangen war.« »Kannst du dich daran erinnern, wie dein Bruder die Insel verließ?« »Als wäre es gestern gewesen. Er war erst achtzehn, aber in meinen Augen war er ein richtiger Mann, eher ein Vater als ein Bruder. Ich habe ihn sehr geliebt.« »Und – hast du dich nicht verlassen gefühlt, wo er doch der einzige Mann in der Familie war?« »Für Murdo gab es hier keine Arbeit, und er wollte sein eigenes Leben führen. Er hat gesagt, er würde ein Vermögen machen und als reicher Mann zurückkehren, oder er würde uns zu sich nach Amerika holen.« »Wie traurig, daß es nicht geklappt hat.« »Das Leben kann schrecklich sein. Dabei hat es für ihn so gut ausgesehen. Er hat uns geschrieben. Er hat uns von 61
dem Mädchen erzählt, das er geheiratet hat – Mary, deine Urgroßmutter. Sie waren beide erst neunzehn. Er hat Fotos von ihnen beiden geschickt, und von deinem Großvater, als der auf die Welt gekommen war. In den nächsten paar Jahren hat Murdo nur noch selten geschrieben, bis wir von Mary hörten, daß er an Tuberkulose gestorben war. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Auch meine Mutter zerbrach daran, aber sie wußte nicht, daß es noch schlimmer kommen würde.« »Und Mary blieb nicht mit euch in Verbindung?« »Oh, für eine Weile schon. Sie hat noch ein oder zwei Fotos von dem Kind geschickt. Dann kamen keine Briefe mehr von ihr, und unsere kamen zurück mit dem Vermerk ›verzogen‹. Wir haben nie herausbekommen, was damals geschehen ist.« »Wir sind nach New England gezogen. Sie ist wenig später gestorben. Mein Großvater wuchs in einem Waisenhaus in Maine auf. Er starb vor zwei Jahren an Krebs.« »Das tut mir sehr leid. Ich hätte ihn gerne kennengelernt.« »Ich bin sicher, Großvater hätte das auch gewollt. Er war ein sehr freundlicher, netter Mann. Er betrieb einen Laden für Angelzubehör. Ich stand ihm sehr nahe, näher als meinen eigenen Eltern. Er erinnerte sich sehr gut an seinen Vater, obwohl er erst fünf war, als er starb, vor allem an seine Erzählungen von Sgurr und Lewis. Großvater hat sie an mich weitergegeben. Deswegen hat mich dieser Ort so fasziniert.« »Wann wurde dein Vater geboren?« »1946. Er hat eine jüngere Schwester, Marnie, die jetzt in Seattle lebt. Dad ist in Mutters Heimatstadt gezogen, San Diego.« 62
»Und dort leben deine Eltern immer noch?« »Nein, Mom hält sich in Oregon auf, sie ist jetzt mit einem Tierarzt im Ruhestand verheiratet und Dad wohnt in Palm Springs, er hat seine vierte Ehe schon halbwegs hinter sich. Mom und er reden nicht miteinander.« »Du hast gesagt, ihr stündet einander nicht nahe?« »Nein, wir haben uns auseinandergelebt. Sie sind beide ziemlich beschäftigt mit ihrem Leben. Ich finde es ganz schön schwierig, mit ihnen auch nur zu reden. Dabei weiß ich noch, wie sehr ich sie geliebt habe, als Kind. Sie haben immer miteinander gestritten. Mom sah klasse aus, aber sie war schon damals ganz schön scharfzüngig! Als ich ungefähr zehn war, hat Dad sich entschieden, daß er ein ruhigeres Leben haben will und hat sie für eine ruhigere Kugel in LA verlassen. Zuerst fand ich das gar nicht so schlecht. Ich hab’ Dad einmal im Monat gesehen, und weil ich ein Einzelkind war, hatte ich Mom für mich. Dann hat sie sich mit einem anderen Typen eingelassen, Denny, einem DJ beim Lokalradio. Als der auftauchte, hat Mom irgendwie das Interesse an mir verloren. Sie war nicht gemein – es war bloß so, als wäre ihr Hirn einfach immer auf Urlaub. Sie war von dem Typ besessen. Ich habe ihn gehaßt, oder jedenfalls abgelehnt. Mom wollte mit ihm zusammenziehen, aber ich nicht, also habe ich ihn echt angenervt. Ich habe nicht damit gerechnet, daß er mich austrickst. ›Schaff das Kind weg, und ich zieh’ morgen mit dir zusammen. Wenn das Kind bleibt, kannst du mich vergessen.‹ Hat prima geklappt, sie hat meine Sachen gepackt, und ich lebte plötzlich bei Dad in LA. Das hat seine neue Frau natürlich richtig angemacht, wie du dir vorstellen kannst, und Dad fand es auch nicht so toll.« »Was ist mit dir, Calum? Hast du eine Freundin?«
63
»Willst du ihr Bild sehen? Augenblick … Da, wie findest du’s? Sie heißt Marianna.« »Sie ist wunderschön. Wirst du sie heiraten?« »Hab’ ich schon. Wir sind geschieden.« »Tut mir leid. Liebst du sie immer noch?« »Wie verrückt.« »Armer Junge.« »Nein, eigentlich nicht. Marianna befindet ich in einer Phase, in der Geld ihr sehr viel bedeutet, und ich hatte einfach nicht genug. Brett, der Idiot, mit dem sie jetzt lebt, hat tierisch viel Geld. Er ist ein Riesentier in der Firma, wo sie arbeitet.« »Habt ihr Kinder?« »Ich wollte welche, aber Marianna nicht. Sie hat Angst, ihre Figur zu ruinieren. Aber sie hat auch noch richtig viel Zeit. Sie ist erst sechsundzwanzig. Wenn sie es sich anders überlegt, werden wir hoffentlich trotzdem noch Kinder haben. Sie sagt nur, daß sie mich nicht mehr liebt, aber vielleicht wird sie eines Tages wieder zu sich selbst finden. Und dann muß ich für sie da sein.« »Wenn sie aber so viel Wert auf Geld legt und ihr neuer Mann so reich ist … Ist es dann wahrscheinlich, daß sie sich besinnt?« »Bevor sie mich verlassen hat, sagte sie immer, wenn ich viel Geld hätte, fünf Millionen Dollar oder so, dann wäre alles anders. Ich habe die Wahl: Entweder ich komme über sie weg, oder ich schaffe fünf Millionen ran. So wie es mir jetzt geht, ist es viel, viel einfacher das Geld aufzutreiben, als über sie wegzukommen. Aber wer weiß? Noch ein paar Wochen hier, und ich vergesse vielleicht, daß es sie je gab.«
64
»Ich hoffe es, um deinetwillen. In Lewis ist es wirklich nicht einfach, Millionen zu verdienen.« »Morag, entschuldigst du mich mal bitte? Wo ist das Bad?« »Hinten raus gibt’s ein Klohäuschen, aber ich habe kein Bad. Ich wärme mir einmal die Woche auf dem Ofen eine Wanne Wasser. Hinterher wasche ich darin meine Sachen.« Er besuchte das Klohäuschen und kehrte so schnell wie nur irgend möglich zurück. »Sag mal, Morag, ich kann mich doch sicher irgendwie nützlich machen, während ich hier bin. Kann ich dir mit irgendwas helfen?« »Da kannst alles mögliche für mich tun, aber lassen wir das doch erst mal. Vor allem möchte ich, daß du mit mir redest. Seit meine Mutter gestorben ist, hat mir nur das Radio Gesellschaft geleistet.« »Hast du denn überhaupt keine Freunde?« »Nein.« »Wieso nicht, Morag? Magst du keine Leute?« »Nicht unbedingt. Aber vor allem mögen die Leute mich nicht.« »Hast du nicht mal einen Hund?« »Ich hatte viele Hunde über die Jahre. Collies. Der letzte ist vergangenes Jahr gestorben, nachdem wir dreizehn Jahre zusammen waren. Jetzt bin ich zu alt, mir einen neuen zu holen. Wenn ich sterbe, würde sich niemand um das arme Tier kümmern … So, Calum, es wird spät, ich muß jetzt Essen für uns machen. Während du hier wohnst, gibt es Porridge zum Frühstück, mittags Suppe, und Fleisch und Kartoffeln zum Abendbrot. Danach webe ich Tweed, höre Radio und trinke ein Gläschen. Ich stehe um 65
sechs auf und bin um zehn im Bett. Du machst es genauso.« Calum nickte und bedankte sich bei ihr. Er wollte das einfache Leben kennenlernen, und es klang so, als wäre das hier auf alle Fälle möglich. Sie hatte gesagt, er könne einen Monat bleiben. Er hoffte, daß er solange durchhalten würde. Wie, zum Teufel, sollte er in diesem winzigen Bett schlafen?
66
5 Nach ein paar Wochen bemerkte Calum, daß es ihm nicht wirklich etwas ausmachte, geächtet zu werden. Genaugenommen hätte er sich wahrscheinlich gar nicht so eng mit Morag solidarisieren können, wenn ihn nicht die ganze Stadt geschnitten hätte, seit er bei ihr eingezogen war. In Sgurr nan Creag gab es keine Heuchelei. Zickigkeit, Engstirnigkeit, offene Bosheit – ja; Heuchelei – nein. Calum kehrte nie in die Shobost-Bar zurück, und wenn er, was selten genug der Fall war, gelegentlich Fraser, Hector oder einen der anderen auf der Straße traf, ignorieren sie ihn einfach. Das hinderte ihn aber nicht daran, sich umzuschauen. In dem kleinen Laden beispielsweise bediente man ihn. Stumm nahmen sie sein Geld entgegen. Er mußte nicht oft dort hingehen, weil Morag ein gut funktionierendes System für die tägliche Lieferung entwickelt hatte. Da der Ladeninhaber und seine Frau sich weigerten, Morags Haus zu besuchen, wurde die Kiste von dem Tweed-Mann geliefert, der ohnehin zu ihr mußte. Der Tweed-Mann bezahlte im Laden und zog es von dem ab, was er Morag schuldete, und auf dieselbe Weise kümmerte er sich auch um ihre Nebenkosten. Er war der einzige Mensch, der einigermaßen freundlich zu ihr war, aber er lebte auch nicht in Sgurr, er reiste durch alle kleinen Orte in der Gegend und holte die frischgewebten Stoffe ab. Calums Beziehung zu Morag entwickelte sich sehr langsam. Als sie die Familiengeschichte erst einmal komplett durchgekaut hatten, wurde es schwieriger, Themen zu finden. Morag sagte zwar, daß sie gerne mit 67
ihm redete, sie hatte aber keine Übung darin und schien lange Gesprächspausen keineswegs störend zu finden oder auch nur zu bemerken. Calum fragte am ersten Abend beim Essen nach Hector und Fraser. Morag schüttelte den Kopf, stand auf, räumte die Teller weg und ging dann ohne ein weiteres Wort rüber an ihren Webstuhl. So lernte er, den Mund zu halten und nicht jede Minute nach Gesprächsthemen zu suchen. Das Leben in der kleinen Hütte war unglaublich einfach, aber überraschenderweise gewöhnte er sich daran. Die Luft von der See her war so kräftig, daß die harten Bretter und das kleine Brett ihn nicht davon abhielten, hervorragend zu schlafen. Morags Mahlzeiten waren einfach und nicht besonders vielseitig, aber zweifellos nahrhaft, wie ein kleiner Rettungsring um seine Taille bald bewies. Mit den Wochen dehnten sich seine Gespräche mit Morag aus und wurden auch häufiger. Am Anfang umgab sie trotz ihrer Freundlichkeit etwas freudloses; sie erinnerte Calum an ein vernachlässigtes Kind, dem nie jemand beigebracht hatte, wie man spielt. Aber dann veränderte sie sich. Ihr Blick verlor diese verzweifelte Leere, und manchmal entdeckte er sogar ein Funkeln in ihren Augen. Er freute sich, wenn sie anfing zu lächeln und Spaß an etwas hatte. Der Monat, auf den sie sich geeinigt hatten, verging, und keiner von ihnen empfand es als notwendig, eine neue Zeitspanne zu definieren. Das einzige, was ihm immer noch Schwierigkeiten machte, war das Waschen. Er gab sich alle Mühe, sich in seiner Koje zusammenzurollen, wenn Morag badete, sie tat ihm diesen Gefallen umgekehrt jedoch nicht. Beim ersten Mal erwärmte sie das Wasser in der kleinen Blechwanne und setzte sich dann davor. Als er freundlich 68
fragte, wohin sie gehen wolle, während er badete, sagte sie, sie fühle sich dort wohl, wo sie säße. Er stand noch ein Weilchen herum und hoffte darauf, daß sie sich wenigstens abwandte, erst als sie dazu keine Anstalten machte, zog er Hemd und Jeans aus; bestimmt würde sie jetzt wenigstens wegschauen. Aber auch das tat sie nicht. Er zitterte in seinen Boxer-Shorts und starrte sie entschlossen an. Sie starrte zurück. Ihm blieb nichts anderes übrig, als es auszusprechen. »Entschuldige, Morag. Ich möchte baden. Hättest du etwas dagegen …?« »Wogegen?« »Mich in Ruhe zu lassen.« »Wieso? Stell dich nicht so an. Ich bin deine Urgroßtante. Mach dir keine Sorgen. Steig einfach rein.« Was blieb ihm anderes übrig. Sie hatte die besseren Nerven. Beim ersten Mal stieg er noch samt seinen BoxerShorts in die Wanne und kam sich dabei vor wie ein Schuljunge. Beim nächsten Mal zog er sich aus, und sie betrachtete ihn in aller Ruhe, pudelnackt wie er war. Calum half ihr, Gemüse zu pflanzen, was verdammt anstrengend war, und er erledigte auch einige kleinere Reparaturen. Danach schmerzten ihn Muskelpartien, die kein Fitneß-Center in Kalifornien je entdeckt hatte. Sie schickte ihn auf das niedrige Dach, um die Bleche besser zu befestigen, und lachte lauthals, als er sofort wieder herunterrutschte und in einem Busch landete. Abends aßen sie früh, damit Morag anschließend noch weben konnte. Während sie webte, lief immer das Radio, so laut aufgedreht, daß das dauernde Klicken des Webstuhls übertönt wurde. Manchmal machte Morag eine Pause, nahm einen Schluck Whisky und gab präzise Kommentare zu den Meinungen der Nachrichtensprecher ab; Calum 69
war erstaunt, wie gut informiert sie war. Sie war unglaublich interessiert an allem Neuen und ließ sich von Calum erklären, wie das Internet funktionierte und wie das Leben in Amerika war. Im Gegenzug erzählt sie ihm alte Geschichten von den Inseln und ihrer frühen Kindheit, aber immer noch hatte sie ihm nicht erklärt, warum die Dorfbewohner sie schnitten. Das war das einzige, was ihn noch verunsicherte. Ab und zu dachte er an Fräsers Warnung und … nun ja, er dachte einfach daran. Bis er herausbekam, was dahintersteckte, würde er sich in Morags Gegenwart stets ein wenig unsicher fühlen. Aber er wartete den richtigen Augenblick ab, bevor er die Frage eines Abends noch einmal zu stellen wagte. »Morag, diese Männer im Shobost … Fraser und seine Freunde. Sie haben ein paar merkwürdige Sachen gesagt. Darf ich dich fragen, worum es dabei ging?« Sie hörte auf zu weben und schaute Calum an. Er konnte den Schmerz in ihrem Blick sehen und verwünschte sich. Aber nun war es dafür zu spät. »Was haben sie dir gesagt?« »Nicht viel. Bloß, daß du … daß es vielleicht keine so gute Idee wäre, wenn ich mich hier rumtreibe.« »Und was noch?« »Eigentlich nichts. Einer von ihnen hat dich eine Hexe genannt.« »Immer noch eine ›Hexe‹, nach all den Jahren, und das, nachdem sie doch selbst so alt sind … Na gut, Calum, ich werde dir die ganze lange, traurige Geschichte berichten. Es gibt Teile davon, die ich noch nie einem lebenden Menschen erzählt habe, nicht einmal meiner eigenen Mutter. Du mußt mir versprechen, daß du sie für dich behalten wirst, solange ich lebe. Wenn ich nicht mehr bin, ist es mir egal. Versprichst du das?« 70
»Natürlich.« »Es begann alles, als ich ungefähr fünfzehn war. Damals gab es noch andere Buchanans hier, vier Familien alleine in Sgurr nan Creag. In einer dieser Familien gab es einen Jungen in meinem Alter, Iain, einen Cousin von mir. Wir wurden in der gleichen Woche geboren, und als Kinder verbrachten wir viel Zeit miteinander. Eines Tages im Sommer spielten wir am Ufer eines Flüßchens bei Ruigh. Iain spritzte mich mit Wasser naß, und ich ihn auch. Das hatten wir schon oft gemacht. Aber diesmal war es anders. Ich fühlte mich komisch, ich zitterte beinahe, als ob irgend etwas über mich käme. Ich schaute Iain an, und ich konnte in seinen Augen lesen, daß es ihm genauso ging. Plötzlich küßten wir uns. Dabei verloren wir das Gleichgewicht und fielen ins Wasser, aber Iain ließ nicht los, und wir küßten uns immer weiter, während das Wasser um uns herum aufschäumte. Wir hatten Glück, daß es noch nicht mal einen Meter tief war, sonst wären wir ertrunken. Natürlich waren wir klatschnaß und zitterten vor Kälte, als wir herausstiegen. Wir sagten nichts; wir schauten einander nicht einmal an. Völlig durchnäßt konnten wir nicht heimgehen, also mußten wir unsere Sachen auswringen und in der Sonne herumrennen, bis wir wenigstens halb trocken waren.« »War das dein erster Kuß?« »Mit fünfzehn? Natürlich! Damals hatte man in dem Alter noch keine Freunde, so wie heute. Wenn meine Mutter gewußt hätte, daß ich irgendwen küßte, hätte sie mir die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen. Und weil wir Cousin und Cousine waren, kam es uns noch verbotener vor. Ich hatte keine Ahnung, wie die Gesetze lauteten, aber ich war ganz sicher, daß es falsch war.« »Und was geschah dann?« 71
»Iain und ich sahen einander ein paar Tage nicht. Ich habe die ganze Zeit an ihn gedacht. Eines Abends war ich dann wieder in der Nähe des Flusses …« »Ganz zufällig?« »Was glaubst du denn?« »Erzähl weiter.« »Wir küßten uns wieder, eine Stunde lang. Aber diesmal achteten wir darauf, nicht ins Wasser zu fallen.« »Und …?« »Kein und. Wir küßten uns einfach. Du hast ja keine Vorstellung davon, wie rein und unverdorben wir damals alle noch waren. Danach trafen wir uns, so oft wir konnten. Es war ein schreckliches Geheimnis, und wir mußten sehr vorsichtig sein. Wenn man uns entdeckt hätte, wären nicht nur meine Mutter und Iains Eltern ausgerastet, auch der Priester wäre über uns gekommen. Die Kirche ist heutzutage immer noch mächtig, aber wie es damals war, würdest du mir bestimmt nicht glauben. Sie kamen jeden Monat ins Haus, um zu überprüfen, ob wir die Bibel auch richtig studierten. Wenn sie gewußt hätten, was wir vorhatten, hätten sie uns gehängt, gehackt und gevierteilt. Aber wir konnten nicht anders, so verliebt waren wir ineinander. Wir wollten warten, bis wir achtzehn waren, was in Schottland Volljährigkeit bedeutete, und dann klären, ob Cousin und Cousine heiraten konnten. Wenn nicht, würden wir gemeinsam davonlaufen und irgendwo anders unter falschem Namen leben.« »Und was geschah dann?« »Das schlimmste auf der ganzen Welt. Iains Vater war Kleinbauer und mußte vier hungrige Mäuler stopfen. Das war während der Depression nicht einfach. Du mußt wissen, Iain war der älteste in seiner Familie, die anderen waren noch zu jung, um zu helfen, die wollten bloß essen. 72
Ein Cousin von ihnen war nach Neuseeland ausgewandert; er schrieb und bot ihnen an, einen Teil seines Landes zu bewirtschaften. Iains Vater wußte hier nicht mehr weiter und entschied sich, ihm zu folgen.« »Sofort?« »Nein, Gott sei Dank nicht, wir hatten noch ein paar Monate, bevor sie abreisten. Wir schworen uns Treue und schlossen einen geheimen Pakt, daß wir wieder zusammenkommen würden, sobald wir alt genug wären. Aber trotzdem konnten wir es nicht aushalten, so lange getrennt zu sein. In jenem Alter schien das eine Ewigkeit zu sein. Wir mußten einander nahe bleiben. Damals brauchten Briefe drei Monate … Calum, mein Glas ist leer, und ich glaube, ohne einen weiteren Drink kann ich nicht zu Ende erzählen. Holst du die Flasche unter dem Ausguß hervor, die mir der Tweed-Mann zu Weihnachten geschenkt hat?« »Den Bowmore? Ich dachte, den wolltest du für einen besonderen Anlaß aufheben.« »Dies ist ein besonderer Anlaß... Also, wo war ich?« »Ihr wolltet einander nahe bleiben.« »Oh, ja. Zwischen ihm und mir gab es immer dieses Etwas – und damit meine ich nicht die Liebe. Schon als Kinder wußten wir, was der andere dachte oder fühlte. Ich wußte es einfach, wenn mit ihm etwas nicht stimmte, ohne ihn auch nur zu sehen. Wir fragten uns, ob das auch über Tausende von Meilen hinweg funktionieren würde, oder ob die Entfernung zu groß wäre. Also fingen wir an zu üben, miteinander in Verbindung zu treten. Wir setzten uns zusammen, einer von uns konzentrierte sich auf etwas, und der andere mußte raten, auf was.« »An was habt ihr da so gedacht?« 73
»Oh, irgendwas. Einfache Sachen – an einen Fisch oder einen Apfel. Am Anfang war es schwer. Einmal wollte ich ihn ärgern und konzentrierte mich auf den Slip, den ich trug. Iain riet den Pfarrer. Darüber haben wir uns kaputtgelacht. Mit der Zeit wurden wir besser, also vergrößerten wir die Entfernung. Jeder ging zwei oder drei Meilen in entgegengesetzte Richtungen, dann versuchten wir es noch einmal. Es ging gut. Wir übten so intensiv, daß wir nach zwei oder drei Monaten beinahe miteinander reden konnten. Nichts Kompliziertes natürlich – aber wie wir uns fühlten, was wir machten.« »Schließlich warst du bereit, ihn gehen zu lassen?« »Wir waren vorbereitet, ja. Trotzdem war es ein schrecklicher Tag. Sie sind mit einem Ponywagen bis zur Bushaltestelle gefahren, ich bin den ganzen Weg hinter ihnen hergegangen und hab’ mir die Augen ausgeheult. Dann kam der Bus und brachte sie nach Stornoway.« »Aber du und Iain, ihr habt die ganze Fahrt über ›geredet‹.« »Soviel wir konnten, auf dem Dampfer nach Glasgow, dann auf dem Schiff durch den Suez-Kanal, den Indischen Ozean und den Pazifik. Ich kann mich nicht mehr an alle Häfen erinnern, in denen sie ankerten.« »Und nachdem sie in Neuseeland angekommen waren?« »Die Farm lag auf South Island, nahe am Meer. Das Leben dort war schwerer, als sie erwartet hatten. Das Land war ungepflügt und zu nichts zu gebrauchen, außer zur Schafzucht, und sie hatten kein Geld, sich Schafe zu kaufen. Also mußte Iains Vater anfangs auf der Farm seines Cousins arbeiten.« »Das alles weißt du aus Iains >Berichten