KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
KUNO
HEFTE
UTTENDÖRFER
AUS DEM LEBEN E...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
KUNO
HEFTE
UTTENDÖRFER
AUS DEM LEBEN E I N E S GEFIEDERTEN
RÄUBERS
V E R L A G S E B A S T I A N LUX MURNAU • M Ü N C H E N . I N N S B R U C K • BASEL
Das alie Habichtmännclien Drei Tage und drei Nächte schon tobt ein eisiger Sturm über das Hügelland der sächsischen Lausitz, meterhoch türmen sich an den Hängen die Schneemauem, Felder und Straßen sind fast leergefegt. Als der vierte Tag anbricht, dreht sich der Wind, wirbelt den Schnee in Wolken hoch und führt ihn Hunderte von Metern weit mit sich fort. Auch der Himmel ist blankgekehrt: nur noch vereinzelte Wolkenfetzen jagen unter der riesigen blau:n Glocke dahin. Die Februarsonne, die am Morgen blutigrot über den Horizont gekommen ist, verliert ihre Farbe, je höher sie steigt. Sie wärmt bereits ein wenig, zum mindesten an windgeschützten Stellen. Das alte Habichtmänncheh in der dichten, hohen Fichte schüttelt sich. Hier im Schutz des Gezweiges ist der Räuber Wind und Schnee nur wenig ausgesetzt gewesen, aber der Hunger quält. Zwei Goldammern und ein Ruchfink, die in den letzten drei Tagen als Beute angefallen sind, haben den anderthalb Pfund schweren Habicht kaum satt werden lassen. Ein größerer, nachhaltigerer Happen ist fällig! Sonne und blauer Himmel künden bestes Jagdwetter und versprechen bequemere Beute. Allzu reichlich wird zwar die Feldflur noch nicht bevölkert sein, dafür sind Wind und Kälte noch zu scharf. Der Habicht plustert sich auf und krault und kratzt sich hier und da ergiebig durchs Gefieder. Dann glättet er die Schwingen und streicht durch die Wipfel der Bäume ab. Die kurzen Flügel und seine wendige Flugkunst erlauben ihm auch im Holz reißende Schnelligkeit. Am Waldrand beschreibt er einen eleganten Bogen und bäumt in einer hohen Kiefer auf. Weithin kann er von hier aus die Landschaft überschauen. Aber nichts regt sich im Gelände: weder Hase noch Kaninchen, weder Rebhuhn noch Taube. Hochaufgerichtet, ganz steil sitzt er da. Aber so weit er auch Auslug hält mit seinen gelbglühenden Raubvogelaugen, die Feldmark ist leer. Nicht allzuweit von dem Hungrigen entfernt tritt ein Sprung 2
von fünf Rehen aus dem Wald und zieht langsam und vorsichtig sichernd bis in die vom Wind freigelegte Saat. Das ist nichts für ihn. Also noch warten, bis ein Hase folgtV Das dauert zu lange, wenn der Magen knurrt. So läßt sich unser Habicht von dem hohen Sitz niederfallen und schwingt sich mit hastigen Flügelschlägen dicht über dem Boden bis zu der einsamen Linde an der Kreuzung der beiden Feldwege, von denen einer zum nahen Dorf führt. Geschwind nimmt er Unterschlupf im Geäst und drückt sich dicht an den Stamm. Die Linde ist einer seiner Ansitzbäume, von wo er schon oft erfolgreiche Jagd gemacht hat. Raubgierig späht er hinüber zu der großen Strohmiete, die, 150 Schritte entfernt, am Wegrand steht. Hier hat er während der Schneesturmtage die beiden Goldammern gegriffen. Vielleicht erwartet ihn heute dort bessere Kost. Die der Linde zugekehrte Seite des Strohhaufens ist schneefrei. Der Sturm hat die Flocken davongewirbelt, und nur im Rückstau des Windes hat sich ein niedriger weißer Wall gebildet. Zwischen diesem Windschutz und dem Strohberg liegt eine dicke Schicht loser Spreu. Ein Volk Rebhühner vergnügt sich dort und hudert sich im Staubbad'. Sie sind sehr munter und lassen sich im Wimdlschatten von der Sonne wärmen. Die Spreu bietet willkommene Weide und Nahrung genug, daß niemand zu hungern braucht. Keines der munteren Wesen, nicht einmal der immer mißtrauische Hahn, ahnt die Gefahr, die in der Linde lauert. Sieiben Köpfe zählt noch das Volk, das voriges Jahr nach beendeter Jagd mit dreizehn Hühnern in den Winter gegangen ist. Zwei sind inzwischen unserem Habicht zum Opfer gefallen, eines hat sich der Fuchs geholt, ein drittes der Waldkauz. Auch der nachts aus dem Dorf bis weit in die Felder streunende graue Kater hat eines der Hühner erwischt. Die Henne selber, die im Herbst von einem Schrotkorn im linken Flügel getroffen worden war, ist von einem Schwärm Krähen zu Tode gehetzt worden. Es ist schon ein Jammer um diese Rebhühnerfamilie! Das alte Habichtmännchen ist im Lauf der Jahre zum klugen Taktiker geworden. Ein schnurgerader Angriff von der Linde her auf die Miete zu wäre aussichtslos. Mag das Hühnervolk zur Zeit noch so sorglos sein, mag der Habicht noch so rasch die hundertfünfzig 3
Schritt durchstoßen — die Hühner werden ihn bestimmt vorher eräugt haben und blitzschnell im Strohberg verschwinden. Am reißenden Sturzflug hindert ihn zudem der starke Gegenwind. Eine Weile hockt er mit krummem Rücken da, als überlege er sich die Sache, dann plötzlich reckt er den Hals lang und wirft sich nach unten. Mit raschen Flügelschlägen schwenkt er, vom Wind getrieben, in entgegengesetzter Richtung davon. Weit draußen aber schlägt der Heimtücker, sich dicht über dem Boden haltend, einen weiten Bogen, der ihn bis hinter die Miete trägt. Fünfzig Schritt von ihr entfernt setzt er zum Endspurt an, im rasanten Flug, dem der Wind nachhilft, schwingt er sich über den gewaltigen Strohhaufen, streift ihn fast mit den Krallen. Mitten im jähen Flug stürzt er nieder, ein furchtbarer Schatten. Noch im Fall hat er das stärkste Stück des Hühnervolkes auserseben, den alten Hahn. Die nadelscharfen Griffe fahren auf ihn nieder. Wie hypnotisiert duckt sich ringsum das Jungvolk an den Boden, dann schreit es schrill auf und hetzt auseinander. Unter der Wucht des Aufpralls ist das Opfer tief in der fußhohen Spreu versunken. Aber der Habicht faßt nach. Die tödlichen Fänge zerren die Beute hervor. Der grelle Schreck hat den alten Hahn den Schmerz kaum spüren lassen. Ein Blitz, und der Tod ist über ihn gekommen. Der Räuber fußt einige Augenblicke verschnaufend und kraftschöpfend auf einem Steinbrocken. Es ist schon ein mühsames Geschäft, sich mit der gewichtigen Beute emporzuschwingen! Aber es glückt, das Männchen ist schon mit ganz anderen Lastern fertig geworden. Auf der Miete blockt es auf. Der Wind zaust kräftig in den Federn, aber der Ausblick ist nahezu unbegrenzt und schützt vor unliebsamen Überraschungen. Ein betagter Raubvogel hat da so seine Erfahrungen! Ein kurzes, aber scharfes Sichern in Richtung des Dorfes und die Feldwege entlang, dann beginnt die Zurichtung der Mahlzeit, die Rupfung. Mit beiden Fängen die Beute festhaltend, reißt der Habicht mit dem Schnabel zunächst die starken Flugfedern aus, dann die rostroten Schwanzfedern. Es folgen die stärkeren Deckfedern an Rücken und Schwanz und an den Flügeln. Im Winde treibt das meiste davon, nur einige Langfedern verhaken sich im Stroh. Schließlich fliegen ganze Büschel des Daunengefieders dahin, wirbeln und tanzen durch die Luft. 4
Links: Raubgierig, mit weit vorgestreckten Fängen, stößt der Habicht auf die Beute — Rechts: Der Raubgraf prüft sichernd die Umgebung
Die Arbeit ist getan, das Vergnügen, die Stillung des Hungers, kann folgen. Nochmals ein sorgsamer Blick ringsum: nichts! Störenfriede, unwillkommene Mitesser, Futterneidische sind nicht zu erwarten. Der Habicht dreht sich den Bissen zurecht. Was noch an Federn haften geblieben ist, stört den Freßgierigen nicht mehr. Die Federreste rutschen mit allem anderen in den Kropf, der zusehends zu schwellen beginnt. Denn auch der Habicht läßt nicht sämtliche Nahrung gleich in den Magen wandern, sondern bewahrt das, was im Magen zunächst keinen Platz hat, im Kropf auf, einem dehnbaren Hantsack am Anfang der Speiseröhre. Die heißhungrige Mahlzeit dauert eine knappe halbe Stunde. Es bleiben keine großen Besite, als das Habichtmännchen trägen Fluges über das freie Wiesenland zum. Walde abfährt. Die Läufe, der Schnabel, das 5
Brustbein, ein Oberarmknochen, der Darm — und die gerupften, verhakten oder verwehten Federn: Das ist alles, was der Habicht von seiner Mahlzeit übriggelassen hat. Einige Zeit später finde ich die Bescherung, als ich mich behutsam nach dem Rebhuhnvolk umschauen will. Die Federn am Fuß der Miete haben mich nichts Gutes ahnen lassen. Ich klettere die steile und rutschige Strohwand hinauf und entdecke die Überreste. Dicht daneben erkenne ich etwas Großgefieder von zwei Goldammern, die sicher den gleichen Weg gewandelt sind wie der Feldhahn. Aus der Tatsache, daß noch einiges Verdauliche an Ort und Stelle liegt, kann ich schließen, daß die Habichtsmahlzeit erst vor kurzem stattgefunden haben muß. Offenbar haben die Nebelkrähen den Habicht diesmal bei seinem Tun nicht beobachtet, sonst wären sie schon dagewesen. Sie wissen: Wo ein Habicht mit Erfolg gejagt hat, fällt fast immer etwas für sie ab. Freilich muß man recht vorsichtig dabei sein, der Habicht ist der grimmigste Feind der Nebelkrähen.
Die Raubritterburg Den Hungernden und Feinschmecker, der das Rebhuhnvolk heimgesucht und offenbar auch den Goldammern den Garaus gemacht hat, kenne ich übrigens — nicht nur seiner Gattung nach. Ich weiß, um welchen Habicht es sich handelt; es ist jener alte Vogel, der, in Luftlinie gemessen, zwei Kilometer von meinem Heim und der großen Geflügelfarm entfernt in einer Kiefer des Staatsforstes seine Raubritterburg hat. Mir fällt ein, daß ich längere Zeit nicht mehr draußen gewesen bin, und ich nehme mir fest vor, dem Raubgrafen bald einmal wieder in seiner Häuslichkeit einen Besuch abzustatten. Aber die Berufsarbeit läßt mir gerade in dieser Zeit keine Verschnaufpause. Erst drei Wochen nach dem Feldhahnfund — es geht inzwischen auf Mitte März zu, und der Schnee ist bis auf die schmutzigen Reste der gewaltigen Wehen verschwunden — steige ich im dichten Frühnebel den Berghang hinan. Ich folge der alten Ulmenallee, die ich in dieser verhaltenen Stimmung besonders 6
Raubritterburg in einer Birke
liebe. Zwei Elstern fliegen kurz vor mir schackernd ab. Im Nebel haben sie mich erst recht spät entdeckt. Ein Waldbaumläufer huscht in Spiralen an einer der Ulmen hoch. Eine Kohlmeise zirpt; aber ihr Zirpen kommt ganz schwach, ihr fehlt noch die Sonne. In den Haselnußsträuchern fällt der goldgelbe Staub der Kätzchen auf die purpurroten weiblichen Blüten. Wo die Allee zu Ende ist, beginnt, von Brombeergestrüpp besäumt, der Wald, der sich mit langweiligem Fichtenstangenholz wenig freundlich einführt. Wispernde Goldhähnchen und trillernde Haubenmeisen bringen etwas Leben in das Grau. Gemütvoller ist schon der bald folgende hohe, alte Kiefernbestand mit seinen Fichtengruppen und dem Unterholz von Hasel und Holunder. Ein Eichelhäher ratscht, der langgezogene Trillerruf eines Schwarzspechtes dringt aus der Ferne herüber. Hier beginnt, wie
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ich weiß, das engere Revier meines Habichts, und tatsächlich sind es kaum noch zehn Minuten, bis ich aus fünfzig Schritt Entfernung seine Burg hoch in einer alten Kiefer wiedererkenne. Die ersten Sonnenstrahlen dringen durch den sich lichtenden Nebel und erhellen das Bild. Vorsichtig bleibe ich hinter ein^r dichten Fichte in Deckung und beobachte durchs Glas. Die Hurg befindet sich in Zweidrittelhöhe der geradschäftigen Kiefer zwischen dem Stamm und zwei starken, schräg nach oben strebenden Ästen. Mindestens dreiviertel Meter re'ckt sich der Bau in die Höhe, die Äste mögen, so scheint's mir, eine Zentnerlast zu tragen haben. Selbstverständlich ist diese Burg nicht in einem Jahr gewachsen. Wohl ein Jahrzehnt lang haben verschiedene Habichtmännchen — da« Weibchen beteiligt sich nicht am Bau — das Werk allmählich geschaffen. Daß auch in diesem Jahr wieder einiges hinzugekommen ist, läßt sich durchs Glas gut ausmachen: frische grüne Zweige heben sich deutlich auf dem Horstrand ab. Den Trieb, ihren Horst mit frischen Zweigen zu „schmücken", haben verschiedene Raubvögel, am ausgeprägtesten vielleicht der Wespenbussard, der welkgewordene „Schmuck"-Zweige entfernt und durch neue ersetzt. Mir deutet die bauliche Veränderung an, daß mein altes Männchen wieder ein Weibchen gefunden hat. Die Habichtin vom vorigen Jahr ist im Winter auf einer Hasentreibjagd abgeschossen worden. Ich erinnere mich, wie das gewesen ist. Sie hatte, wie sie es gewohnt war, nach der Treibjagd Nachsuche gehalten. Und das war nicht nur altüberkommenes Recht in der Habichtsippe, sondern für manchen krankgeschossenen Hasen, der sonst mit den Schroten im Leib ein elendes Ende genommen hätte, ein wohltätiges Werk. Der Jagdaufseher, so ernst er seine Pflicht nahm, konnte nicht alle angeschossenen Hasen aufspüren. Im Fang des Fuchses und in den Fängen des Habichts gab es einen raschen und fast schmerzlosen Tod. Bei solchem Tun hatte das Habichtmännchen das Pech gehabt, dem gleichen kranken Hasen zu folgen wie der Jagdaufseher; als es seine Fänge in den Hasen schlagen wollte, erlag es der Kugel des Jägers. So hatte die erste Ehe unseres Habichtmännchens ein tragisches Ende gefunden. 8
Ein Habicht muß heute sehr vorsichtig und durch Erfahrungen klug geworden sein, wenn er sein Leben auf einige Jahre bringen will. Da der Uhu nur noch ganz vereinzelt vorkommt, hat der Habicht eigentlich nur noch einen Feind, und das ist der Mensch, insbesondere der Freund der Niederjagd, dem es darauf ankommt, im Herbst und Winter möglichst große Strecken von Rebhuhn, Fasan und Hase zusammenzubringen, Seinem Zielfernrohr, seiner Schrotflinte und Habichtskorbfalle, seiner List und Gewitztheit ist kein Raubvogel gewachsen. Um so mehr freue ich mich, daß mein altes Habichtmännchen noch am Leben ist, daß es ein neues Weibchen gefunden hat und alle Hoffnung bestellt, daß es sein Geschlecht fortpflanzen wird, sein Geschlecht unerhört kühner, verwegener und gewandter Räuber, und daß seine Jungen von ihm seine Klugheit und Gewandtheit erben werden. Wieder wird die alte Raubritterburg ein Frühjahr und einen Sommer lang ihren Zweck erfüllen. Aus nicht allzu weiter Entfernung erklingt ein scharfer, heller Pfiff. Kommt er aus der Luft, kommt er aus einem der Baunvwipfel? Auf alle Fälle ist einer der Habichte in der Nähe. Vorsichtig verziehe ich mich von meinem Standort. Jetzt, da bald die Paarung und danach die Brutzeit beginnt, sollten die Raubvögel in Ruhe gelassen werden. Erst wenn das Weibchen fest auf den Eiern sitzt, kann man sieh getrost in die Nähe des Horstes wagen; es läßt sich beim Brutgeschäft so leicht nicht stören. Ich trete den Heimweg an. Was ich in Erfahrung gebracht habe, daß bald wieder Horstzeit sein wird, genügt mir für heute. Inzwischen ist die Sonne aus dem Nebel hervorgetreten. In einem der Kiefernwipfel beginnt eine Misteldrossel ihr Lied, eine zweite fällt ein. Ein Ringeltauber gurrt. Ihrer beider so verschiedenartige Melodien vereinen sich mit dem Ratschen des Hähers und dem Trillern des Schwarzspechtes. All das gehört in den Kiefernhochwald im Vorfrühling.
Von Arbeitsteilung, Beute und Jagdmethoden Als ich diesen Horst im Spätsommer des vergangenen Jahres entdeckte, stellte ich fest, daß er zur Brut benutzt worden war und 9
dal» Junge aufgezogen worden waren. Die Junghabiehte waren indes bereits verschwunden, und die beiden Alten ließen sich nicht mehr oft im Revier sehen. Sorgfältig hatte ich den Waldboden im Umkreis nach Beuteresten abgesucht: sie gehörten nun einmal zur Umgebung einer zünftigen Habichtsbehausung. Als Beute ließen sich 71 Vögel und 11 Säugetiere feststellen; mehr als drei Viertel waren Tiere des Waldes, und zwar eine recht große Anzahl Eichelhäher, Ringeltauben, Mistel- und Singdrosseln, dazu drei Eichhörnchen. Von der Jagd über dem Feld stammten drei Rebhühner, fünf Haustauben, sieben Feldlerchcn und wohl auch die drei Hasen. Zwei von ihnen waren noch junge Tiere gewesen. Meine Bekanntschaft mit Habichten war allerdings viel älter als diese Begegnung im Kiefernhoehwald. In den Jahren 1928 bis 1937 hatte ich im Hügelland der sächsischen Oberlausitz sechs Habichtreviere kennengelernt, die freilich nicht alle jedes Jahr besetzt waren. Meine Wohnung lag geradezu ideal, an einem einzigen Nachmittag konnte ich von dort aus drei Horste besuchen. Wollte ich jedoch ausführlicher beobachten, mußte ich mich natürlich mit einem begnügen. Damals bin ich mit den Lobensgcwohnheiten des Habichts und mit seinen Eigenarten aufs beste vertraut geworden. Sofort fällt auf, daß bei einem Paar das größere Tier gar nicht das Männchen ist: das Weibchen ist viel stattlicher. Deutsche Habichtmännchen wiegen bis zu 750, die Weibchen bis zu 1250 Gramm: nordische Habichte, die bei uns im Winter auftauchen, sind noch schwerer: die Männchen wiegen bis 1120, die Weibchen bis über 1500 Gramm. Daß das Weibchen so besonders groß ist, finden wir bei allen Raubvögeln, am ausgeprägtesten aber bei den Habichten, Sperbern und Wanderfalken. Der Leser wird sich denken können, daß diese Bevorzugung d?s Weibchens durch die Natur ihren Sinn hat. Das Weibchen muß überlegen kräftig sein, weil ihm vor allem die Horstverteidigung und die Sicherung des Nachwuchses obliegt. Dem Männchen sind meist andere Aufgaben gestellt. Schon bevor das Weibchen mit der Eiablage beginnt, m u ß das Habichtmäranchen sich jagend abplagen, um die seßhaft gewordene Gefährtin mit Nahrung zu versorgen. Später kann man es beobachten, wie es sich besonders in der ersten Hälfte der Brutzeit einige Stunden täglich beim Brut10
geschfift beteiligt, danach nur noch, wenn das Weibchen seine Mahlzeiten zu sich nimmt. Im übrigen ist das Männchen unermüdlich auf der Jagd. Frau Habicht ist während des größten Teiles des Tages allein beim Horst und bei ihren Jungen. Während sie brütet, ist sie wachsam wie ein Schloßhund. Und jetzt braucht sie die ihr zugeteilten besonderen Kräfte, da Marder und Krähen fernzuhalten sind. Auch nach dem Schlüpfen — die Brutdauer beträgt 35 bis 36 Tage — können die Jungen sich noch nicht selber überlassen bleiben; die mütterliche Betreuung geht noch acht bis zehn Tags weiter. Aber auch dann setzt die Habichtin die Wache auf dem Horst und in dessen unmittelbarer Nähe fort, und wehe dem Störenfried, der es wagen sollte, sich blicken zu lassen! Das Weibchen mausert in dieser Zeit; es verliert in kurzer Zeit sein gesamtes Großgefieder, das sich allmählich durch neues ersetzt, und ist im Fliegen äußerst behindert. Deshalb hat es gar nichts gegen seine „Angebundenheit" einzuwenden. Das Männchen macht ebenfalls eine Mauser durch, aber sie geht so langsam vor sich, daß der Federkleidwechsel fast nicht zu bemerken ist und den Vogel kaum bei der Jagd beeinträchtigt. Meine diesjährigen Horstbesuche im Kiefernhochwald bestätigen mir erneut, was ich in jenen Jahren von 1928 bis 1937 an Erfahrungen mit Habichten gesammelt habe. Solange das Weibchen allein zu ernähren ist, macht das Männchen täglich zwei Futter flüge durch Wald und Flur, am Morgen ist es unterwegs, und zum zweiten Male am Nachmittag. Wenn aber die ewig hungrigen Jungen erst einmal da sind, genügen die beiden Beutezüge bei weitem nicht mehr. Dann muß das Habichtmännchen drei- bis fünfmal am Tage Forst und Feldmark abjagen, um die Schnäbel der Jungha'hichte vollzustopfen. Und jede Beute wird erst mundgerecht gemacht. Auf diese Weise entstehen die Rupfungen im Horstgebiet. Oftmals bringt das Männchen die Beute auch schon gerupft mit, wenn sich eine gute Gelegenheit bot, das Säuberungsgeschäft an Ort und Stelle der Jagd zu besorgen. Nähert sich der Habicht mit seinem Jagdertrag, so läßt er ein scharfes Rufen hören, das etwa wie „giak-giak-giak-giak" oder auch ,,gip-gip-gip" klingt. Das Weibchen hört es, fliegt ihm entgegen und übernimmt die 11
Beute in der Luft oder auf einem Ast. Hat es ab^r keinen Trieb dazu, zum Beispiel in der zweiten Bruthälfte, wenn es fest auf den Eiern sitzt, so legt das Männchen den erjagten Vogel auf den Horstrand, der während der gesamten Dauer der Brut durch neue Äste hübscher ausgestattet und erhöht wird. Ich habe mir sorgfältig notiert, was ich während des letzten Beobachtungsjahres an Resten von Vögeln und Säugetieren im Horstbereich aufsammeln konnte. Das meiste hatte das Habichtmännchen geschlagen. Die Liste ist selbstverständlich nicht vollständig, da manches verweht wurde oder weit draußen gesucht werden müßte. Was hier genannt ist, erschloß ich aus Rupfungen, die ich im e-ngeren Revier fand, oder aus Knochenfunden unter dem Horst oder im Horst selber. Ich z ä h l t e
allein
31 Eichelhäher 15 Ringeltauben 1 Hohttaube 3 Turteltauben 9 Misteldrosseln 7 Singdrosseln 3 Amseln 2 Schwarzspechte 1 Grünspecht 3 Buntspechte 2 Waldohreulen 1 Steinkauz
109 V ö g e l : 2 1 1 1 4 6 3 3 3 2 3 2
Turmfalken Sperber Waldschnepfe Kuckuck Rebhühner Haustauben Feldlerchen Stare Nebelkrähen Elstern Goldammern Buchfinken.
. u n d 17 S ä u g e t i e r e 4 1 1 4
Eichhörnchen Hauskärzchen Hermelin Hasen
2 Kaninchen 2 Maulwürfe 3 Wasserratten
Aus dieser Liste und aus anderen Beobachtungen habe ich mancherlei erschließen können. Sie enthüllen mir, wo das Habichtmännchen am meisten gejagt hat und welche Beutetiere es bevor12
zugt. Wenn ich meine Liste der Rupfungen vom vorigen Jahre dazunehme, stelle ich vergleichend fest, daß Freund Habicht seiner Gewohnheit vom Vorjahr treu geblieben ist: Er ist ein ausgesprochener Waldjäger! Wieder sind über 70 Prozent der geschlagenen Vögel und Säugetiere im Wald und seinen Vorgehölzen beheimatet. Kleinere Happen, wie Finken, Goldammern und Lerchen, werden augenscheinlich stark vernachlässigt, sie bieten dem Habicht zu winzige Portionen und lohnen das Abschleppen nicht. Dagegen werden Tiere mittlerer Größe bevorzugt, von der Singdrossel, die 60 g wiegt, angefangen, über Amsel und Star, die beide etwa 80 g wiegen, und über Eichelhäher (170 g) und Eichhorn (220 g) bis zum Rebhuhn (400 g) und zur Taube und Krähe (450 bis 550 g). Ich schätze das Jagdrevier auf 25 bis 30 Quadratkilometer. Der Habicht muß also Jägdflüge von mehreren Kilometern unternehmen, um das Rechte zu finden, ü b e r solche Strecken kann das Habichtmännchen nur Beute befördern, die nicht mehr als ein Pfund wiegt, und auch das wird ihm gewiß nicht leicht. Noch etwas ergibt sich mir aus meiner Sammlung von Rupfungen: Menschliche Siedlungen, die überall verstreut in seinem Bereich liegen, meidet er. Die Geflügelfarm jenseits des Dorfes mit ihren zweitausend Hennen und mehreren tausend heranwachsenden Küken hat er nicht ein einziges Mal aufgesucht. Ich ließ mir von dem Besitzer der Hühnerfarm sagen, daß er um so mehr von den Krähen belästigt werde. Sie richteten beträchtlichen Schaden an, und es sei sehr schwer, sich ihrer zu erwehren. Für mich ist es immer ein erregendes Erlebnis, den Habicht bei der Jagd zu beobachten. Er beherrscht alle Methoden des Jägers, die für einen gefiederten Räuber nur möglich sind. Sein langer Stoß — so nennt der Jäger den Schwanz beim Federwild — und die kurzen Flügel befähigen ihn, auch im schnellsten Flug fast rechtwinklig aus der eben noch eingehaltenen Richtung abzubiegen. Großartig, wie er sich im reißenden Flug auf den Rücken wirft, um die Beute von unten zu schlagen! Er schlägt so gewandte Flieger wie Kiebitz oder Lachmöwe. Aus einem jäh dahinstürmenden Starenschwarm greift er sich ein bestimmtes, ausgewähltes Opfer. Hauptmerkmal seiner Jagdkünste und Jagdlisten ist die geschickte Dberraschungstaktik, deren er sich bedient. Von hoher Warte aus 13
— einem Ansitzbaum im freien Feld, am Waldrand oder im kleinen Feldgehölz — beobachtet er eine Zeitlang scharf, ob sich nicht etwas rührt, dann fährt er los. In rasch förderndem Fluge schwingt er sich nahe am Boden her, bis er plötzlich unter die Tauben, Rebhühner oder Lerchen einfällt, um dann von unten, von der Seite oder von oben her, wie es gerade paßt, einen der erschreckt aufflatternden Vögel zu fassen, oder einen Hasen in jähem Stoß auf dem Boden zu schlagen. Im Wald lauert er an einer Lichtung, ob sie vielleicht von einigen Eichelhähern überquert wird: und er ist schon über oder auch unter seinem Opfer, bevor es den jenseitigen Waldrand erreichen kann. Von seinem Ansitz auf hoher Kiefer sieht er den Ringeltauber zum Balzflug aufsteigen: fast senkrecht von unten stößt er empor und schlägt den Tauber, bevor der Verliebte den fröhlichen Reigen beginnen kann. Auf das über den Erdboden von einem Stamm zum anderen huschende Eichhörnchen läßt sich der Habicht einfach niederfallen: erwischt er es nicht, so jagt er das an der Kiefer angstvoll emporhetzende Tier solange um den Stamm herum, bis es ermattet das Rennen aufgibt; es sei denn, dem gejagten Eichhorn glückt in letzter Sekunde ein rettender Sprung in die benachbarte dichte Fichte. Dort im verfilzten Gezweig allerdings ist auch der Habicht machtlos. Der Habicht tötet sein Opfer meist auf der Stelle, ehe es überhaupt erfaßt hat, was mit ihm geschieht. Die stark gebogeinen Krallen schlagen zu und dringen beim Packen dar Beute mitten ins Lebenszentrum: Griff und Töten sind ein einziger Akt. Manchmal kommt es vor, daß der Zangengriff der Krallen zu wuchtig gewesen ist und der Räuber sich nicht mehr von seinem Opfer befreien kann. Bei solcher freilich recht seltenen Gelegenheit ist schon mancher Habicht gefangen worden. Der Schnabel ist Werkzeug für alles. Er dient zum Rupfen der Federn oder Haare, zujn Mundgerechtmachen der Bissen für die Verfütterung an die Jungen. Und diese Rupfungen verraten uns dann, welches Tier zur Stillung des unbändigen Appetits des Habichts und seines Nachwuchses das Leben gelassen hat.
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Die Rupfungen In meinem ,,Eulenvolk' 1 , im Lux-Lesebogan 231, sehrieb ich: Wer die Eule möglichst genau kennenlernen will, darf nicht an-ihren Gewöllen vorübergehen. Etwas Ähnliches gilt von den Itupfungen des Habichts. Zwar speien sämtliche Tagraubvögel auch Gewölle aus; aber während bei den Eulen in den Speiballen die Knochen meist tadellos erhalten sind, findet man beim Habicht keine Knochen. Seine Verdauung arbeitet anders, die scharfen Magensäfte zerstören die mitgekröpften Knochen, sie werden völlig verarbeitet. Dafür entschädigen uns die ausgerupften Federn oder Haare. Besonders wichtig sind diejenigen, die man in der Umgebung der Horste findet. Sammelt man hier die Rupfungen und notiert sorgfältig Zahl und Art der Beutetiere, so erhält man ein sehr genaues Bild des Täters. Man lernt nicht nur die Habichtfamilie kennen, sondern man gewinnt das höchst persönliche Bild von einem ganz bestimmten Habicht: das ist besonders der Fall, wenn mehrere Jahre hindurch der Inhaber des Horstes der gleiche ist, wie hier in der Burg unseres Raubritters. Mancher, der in freier Wildbahn beobachtet, wie ein Habicht ein Rebhuhn oder einen Fasanen, einen Hasen oder eine Haustaube schlägt, zieht daraus den Schluß, daß der Habicht sich vor allem diese Tiere als Beute; auswähle. Ist der Beobachter ein Freund oder Inhaber einer Niederjagd oder ein Taubenbesitzer, so heißt es sofort: Der Habicht ist ein ausgesprochener Schädling der Nieder jagd, er schlägt unsere Hasen und Rebhühner, er dezimiert unsere Tauben. Ich habe so viele Habiehthorste längere Zeit unter Kontrolle gehalten, daß sich mir ein völlig anderes Bild ergeben hat — das Bild der Wirklichkeit. Gewiß werden sich unter den Beutetieren meist auch Rebhuhn, Hase, Haustaube und, wo er vorhanden ist, ein Fasan finden, aber in der Mehrzahl ist die Beute viel reichhaltiger. Es ist viel Belangloses dabei, auch Schädliches, wie Rabenkrähen oder Nebelkrähen. Sie schaden der Niederjagd und, wie wir gesehen haben auch den Hühnern, meist mehr als der Habicht, und zwar deshalb, weil sie viel zahlreicher sind. Ich habe lange Zeit gebraucht, bis ich es lernte, Rupfungen 15
Was von einem Wachtelkönig übrigblieb, der einem Habicht zum Opfer gefallen ist und an seinem Horst gerupft wurde
richtig auszudeuten. Man m u ß eine gute Federkenntnis besitzen, die man nicht erlangt, wenn man einen Vogel nur im Sitzen, Hupfen oder Klettern beobachtet; bei diesen Gelegenheiten sind die Flügel- und Schwanzfedern zusammengelegt. Erst beim Flug und in der Erregung werden die Federn gespreizt oder gefächert, besonders bei der Balz, wenn das Männchen sich dem Weibchen in seiner ganzen Pracht zeigen möchte. Eine gute Federkenntnis erfordert jahrelanges Studium und viel Vergleichsmaterial. Wer sich damit beschäftigen will, fängt am besten mit Winterrupfungen an. Im Winter ist die Zahl der Vogelarten beschränkt. Aber selbst dann gibt's für den Anfänger manche Schwierigkeiten, da eine gerupfte Feder oft ein anderes Bild ergibt, als eine Feder im Ganzen des Federkleides, und da oftmals noch winterliche Farbänderungen zu berücksichtigen sind. 16
Im Frühjahr und Sommer wird die Bestimmungsarbeit sehr viel schwieriger, es tritt die große Zahl unserer Sommervögel hinzu. Freilich gilt das mehr für die Horste des Sperbers, der ein naher Verwandter des Habichts ist, als für den Habichthorst selber. Bei einem Sperberhorst kann es dann sehr bunt aussehen, wenn mehrere Rupfungen übereinander liegen und die Federn der vier oder fünf gerupften.Vögel ein wenig arg durcheinander gekommen sind. Das Federgewirr zu ordnen und nach Vögeln zu sichten, -kann manchmal eine mühsame Arbeit am Arbeitstisch werden. Selbst in einem solchen Falle aber ist eine genaue Zählung noch möglich. Die oberste Schwinge und die äußerste Schwanzfeder sind leicht kenntlich und sie werden gesondert gelegt. Sie bieten eine vorzügliche Kontrolle beim mehrmaligen Zählen. Der Erforscher der Tagraubvögel und Eulen, Otto Uttendörfer, dessen brüderlichem Rat ich viele Einsichten verdanke, konnte in mehr als fünfzigjähriger Sammeltätigkeit die Rupfungen von etwa 250 Vogelarten Mitteleuropas zusammentragen, dazu eine kleinere Sammlung von Rupfungen aus dem Himalaja, die ihm Freunde gesandt haben. Die Federn waren in der richtigen Zusammenstellung auf die Innenseiten großer Papierbogen geklebt. Von vielen Arten waren mehrere Exemplare vorhanden: Männchen, Weibchen, Jugendkleid, Sommer- und Wintergefieder, dazu abnorm gefärbte Stücke, wie Albinos oder Teilalbinos. Die Sammlung bot ein außerordentlich wertvolles Vergleichsmaterial. Und es war ein Genuß, wenn der Besitzer eine der Mappen hervorlangte und Blatt um Blatt vor mir ausbreitete. Welche Fülle verschiedener Farbentöne, welche mannigfaltigen Zeichnungen des Gefieders! Diese Buntheit und Mannigfaltigkeit wird die Sammlung aus dem Revier eines einzigen Vogels natürlich niemals erreichen können. Aber wer sich einmal die Mühe gibt — und eine Mühsal ist es immer — auf solche Zeugnisse aus dem Tierleben zu achten, sie aufzulesen, zu sichten und zu ordnen, wird die frohe Erregung des echten Naturforschers verspüren. Unser ganzes Wissen um das oft so rätselvolle Dasein der gefiederten Freunde ist auf solche Kleinarbeit unzähliger Beobachter aufgebaut.
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Der Kampf rnit dem Kater Es ist in der zweiten Maihälfte. Der große, graue Kater aus dem Dorf ist wieder einmal zu einem seiner Raubzüge unterwegs. Schon manchen Junghasen, manches Rebhuhn hat er gemeuchelt, und er jagt nicht nur in der Feldmark, sondern auch im Wald, wo es jetzt von halbflüggen Singdrosseln und Amseln förmlich wimmelt. Der Kater zieht Geschmacksfäden und wischt mit der Zunge ums Mäulchen. Schnell schnürt er bergwärts in dem trockenen Graben, der zum Walde führt; hier ist er hinter den Schlehdornhecken, die beide Grabenseiten umrahmen, so gut wie unsichtbar. Der Streuner ist sehr vorsichtig geworden, seitdem die Schrotkörner um ihn geprasselt sind und der Jagdpächter ihn zu hassen begann. Oft genug sind sie im Feld auf die Reste von Rebhühnern und Junghasen gestoßen und haben feststellen müssen, daß nicht der Habicht der Übeltäter gewesen ist. Die Federn waren abgebissen, und das Fell der Junghasen war nicht gerupft. Nur Fuchs oder Katze kamen hier in Frage. Jagdpächter und Jagdaufseher legten sich auf die Lauer, und so kamen sie dahinter, daß es der graue Kater war. Aber jedesmal war ihnen der gerissene Bursche entwischt. Und jedesmal war der schleichende Wilderer vorsichtiger geworden. Die Abneigung beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Mehrmals verhofft der Kater, lauscht auf den Gesang der hoch über ihm sehwebenden Lerchen, die jetzt Junge in ihren Nestern haben. Aber da ist nichts zu erwarten. Es ist heller Tag, und die Jagd im freien Feld äußerst gefährlich. Also weiter zum Wald, auf wohlbekannten und ungefährlichen Wegen! Singdrossel und Amsel, nach denen ihm der Appetit stünde, rühren sich nicht. Der Kater nimmt Kurs auf den alten Habichthorst. Er kennt den Fleck. Oft schon gab es hier unter den Resten der Habichtsbeute noch etwas zu knabbern, ein Stück Darm, einen nicht völlig vom Fleisch befreiten Flügelknochen. Aber dem Waldläufer steht es heute nach würzigerer Kost: Frisches Blut reizt ihn. Etwa dreißig Schritt von der Horstkiefer entfernt bezieht er Posten, 18
von irgendwo kommen Töne. Der Kater streckt sich lang auf den Boden, die Gehöre richten sich leicht spielend aufwärts nach vorn. Was er erlauscht hat, ist das Gieren der vierzehn Tage alten Habichte im Horst. Nur undeutlich, als dunklen Klumpen, erfassen die Seher des Katers den gewaltigen Burgbau im Kiefernwipfel. Das Habichtweibchen sitzt etwa zwei Meter überm Horst am Stamm und scheint zu schlafen. Hört es nicht d;u sich nahenden Schleichtritt, spürt as nicht die Nähe des lauernden Räubers ? Der Kater erfaßt die scheinbare Gunst des Augenblicks. In ein paar lautlosen Sätzen ist er an der Kiefer, klettert am Stamm hinauf. Aber er unterschätzt den Habicht, wenn er glaubt, daß der sich so tölpelhaft überlisten ließe. Dem scharfen Ohr des Horstwächters ist das leise Auftreten der Tatzen beim Sprung nicht entgangen, erst recht nicht das Einschlagen der Krallen in die rissige Rinde. Das Habichtweibchen ist hellwach, läßt sich plötzlich fallen und landet, böse flügelschlagend in der Höhe des Katers, der, erschreckt vom Geräusch des fallenden Raubvogels, den Kopf wendet. Schon rüttelt das geflügelte Ungeheuer vor ihm und streckt seine leuchtend-gelben Fänge nach ihm aus. Jetzt müßte der Kater den Fang mit den spitzen Eckzähnen als Waffe einsetzen. Aber es geht nicht. er klebt verdattert am Stamm. So läßt er sich zu Boden stürzen, fünf Meter tief. Katzenartig sicher landet er auf allen Vieren. Aber das Weibchen ist schon über ihm, und es bleibt keine Zeit. sich auf den Rücken zu werfen, die krallenbewehrten Pranken dem Habicht entgegenzustrecken und mit dem Fang nach dessen Kehle zu greifen. Der Habicht schlägt mit den Fängen zu, als es dem Kater gelingt, auf die Hinterbeine zu kommen. Mit dem Rücken an die Kiefer gelehnt, wehrt er, das Maul weit geöffnet, mit den Vorderpranken den geflügelten Räuber ab. Wild schlägt der Habicht mit den Flügeln, greift mit den Krallen nach dem zähnestarrenden Maul: der Kater beißt zu und erwischt die Hinterkralle. Dann aber wird ihm die Luft knapp. Ein Krallengriff trifft seine Halsschlagader. Das ist das klägliche Ende, der Tod.
» Ich ahne nichts von dem. was vorgefallen ist, als ich drei Tage nach dem dramatischen Kampf meinen wöchentlichen Besuch beim 19
Habichthorst mache. Das Habichtweibchen, das mich nun schon kennt und weiß, wie ungefährlich ich bin, verläßt vorsichtshalber doch seinen Stammsitz und bäumt einige Kiefern weiter wieder auf. Als ich die Büschel mit gerupften Katzenhaaren bemerke, kann ich mir im Augenblick keinen Reim darauf machen. Ich suche weiter und finde Knochenteile, dabei einen größeren Unterkiefer mit Raiubtierzähnen. Da geht mir ein Licht auf: Eine Katze hat ihr Leben Lassen müssen. Daß ein Habicht mit einer ausgewachsenen Katze fertig wird, ist für mich eine Überraschung. Ich entdecke bei sorgfältigem Suchen die abgebissene Hinterzehe des Habichts. Ein wilder Kampf muß das gewesen sein. Es ist also schon nötig, daß das stärkere Habichtweibchen beim Horst wacht und sich nicht an der Jagd beteiligt; die heranwachsenden Jungen brauchen eine solch tapfere und starke Schutz wache. Ich sammle die Trophäen auf und kehre in meine Häuslichkeit zurück. Auf dem Schreibtisch breite ich einen Bogen aus und ziehe aus einer Klebstofftube einige Leimstriche darüber: sorgsam werden die Katzenhaarbüschel aufgeklebt. Der Unterkiefer und die Habichtkralle kommen in eine geeignete Schachtel, die ihr Etikett und eine Beschriftung erhält. Jäger und Jagdaufseher werden sich wundern, daß es jetzt mit dem Wildern aufhört und keine abgebissenen Rebhuhnfedern und keine Reste gerissener Junghasen mehr zu finden sind. Der räubernde Kater, so werden sie denken, wird gewiß ein anderes Jagdrevier bezogen haben. Irgendwo im Dorf aber wartet eine alte Frau auf ihren schnurrenden Zimmergefährten, dem sie in ihrer Gebrechlichkeit die heimlichen Gänge nicht hat verwehren können. Sie grollt dem Jäger und dem Jagdaufseher, denen sie die ganze Schuld zuschiebt. Einige Wochen später sitze ich abends mit dem Jäger und dem Jagdaufseher zusammen in der Dorfkneipe. Die Rehbockjagd ist so gut wie beendet, die Jagd auf Hühner ist noch nicht aufgegangen, und es ist viel Zeit zu einem Schwatz. Harmlos erkundige ich mich, ob sie endlich den wildernden Kater erwischt hätten. Nein, aber er sei spurlos verschwunden. 20
Ich lächle vor mich hin. Der Jäger bemerkt es und blickt herüber: „Dann wissen Sie bestimmt etwas Näheres", sagt er. „Sie haben recht", antworte ich. „Wo der Kater geblieben ist? das kann ich Ihnen §agen: Ein Habichtweib und seine vier Jungen haben sich in ihn geteilt." „Das ist doch nicht möglich. Die Katze hatte bestimmt ihre acht, wenn nicht gar neun Pfund. Der Vogel, wenn's hoch kommt, zweieinhalb." Ich greife in die Tasche und hole die Schachtel mit den Beweisstücken hervor. Sie werden eingehend geprüft. „Das ist ein tolles Stück!" bemerkt der Jagdaufseher. Ich berichte, wie ich mir den Verlauf des Kampfes vorstelle. Sie sind so nobel, nicht danach zu fragen, wo der Habichthorst steht; sie wissen, damit beißen sie bei mir auf Granit. Zwar erhebt sich die alte Raubritterburg in einem Waldstück, das nicht zu ihrem Revier gehört, aber besser ist besser. Es könnte sonst geschehen, daß auch der Habicht eines Tages „spurlos verschwunden" wäre.
Die Beringung der Junghabidite Anfangs Juni sind die jungen Habichte vier Wochen alt. Wenn ich sie beringen will, so muß es jetzt geschehen. Ganz ungefährlich ist die Sache nicht. Man kann nicht wissen, wie sich die Habichtin benehmen wird. Es ist bekannt, daß Habichtweibchen häufig genug den Menschen angegriffen haben, wenn sie ihre Jungen in Gefahr glaubten. Dazu kommt die Frage, wie ich möglichst unbemerkt auf den Baum komme. Ic,h spreche mit dem Förster, dem Freund der Greifvögel. Er hat mehrere Paar Steigeisen für seine Forstarbeiter. Ich übe ein paarmal und es klappt. Das erste Problem, wie die glattschäftige Kiefer ohne allzu große Mühe bezwungen werden kann, ist damit gelöst. Der Förster ist Motorradfahrer, so bieten sein Lederhelm und seine Schutzbrille genügend Schutz für Kopf, Ohren und Augen. Eine Lederjacke besitze ich, Lederhandschuhe und ein dicker Schal für den Hals kommen hinzu. Vorsichtshalber nehme ich eine Wäscheleine zum Anseilen mit. Die Ausrüstung ist fertig.
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Viel passieren kann eigentlich nicht mehr. Doch halt: für alle Fälle noch Heftpflaster und Wasserstoffsuperoxyd. Des Försters Gehilfe fährt mich bis zum Waldrand, und dann pürschen wir beide bis in die Nähe des Kiefernhorstes. Hier nehme ich Deckung, hole meine Ausrüstung aus dem Rucksack und lege sie an, die Steigeisen schnalle ich erst am Fuße der Kiefer an die Stiefel. Ich blicke hinauf. Das Habichtweibchen, das wie gewöhnlich zwei Meter über dem Horst gethront hat, ist bei unserer Annäherung in eine der nächsten Kiefernkronen geflogen. Die Leine wird mir unter den Achseln fest um den Leib geschlungen. Dann beginnt die Kletterpartie. Es geht ohne Schwierigkeiten, wie daheim an dem Dbungsbaum in meinem Garten. Als ich fast in Horsfhöhc bin, warnt mein Gehilfe von unten: „Achtung, der Habicht!" Ich höre den sausenden Flügelschlag, fast streifen die Spitzen der Schwingen mein Gesicht. Aber mehr wagt der Angreifende nicht. Ist der neue ,,Kater' ; , der da zu ihm heraufgeklettert ist, nicht doch etwas zu groß? Ich warte einen Augenblick. Noch einmal fährt der drohende Flügelschlag dicht an meinem Kopf vorbei, dann höre ich die Stimme von unten: „Er sitzt wieder im Nebenbaum.'' Ich habe also freie Bahn und klettere noch höher am Stamm hinauf, auf der dem Horst abgewandten Seite. Ich befinde mich jetzt etwas über dem breiten und hohen Horstbau und werfe das Seil über einen kräftigen Ast, das eine Ende landet in den Händen meines Helfers. So, jetzt bin ich für alle Fälle gesichert und kann etwas sorgloser an die Arbeit g^hen. Mit Muße betrachte ich von oben die flache Nestmulde: Die vier jungen Habichte haben sich auf den Rücken geworfen und strecken mir drohend ihre krallenbewaffneten Fänge entgegen. Ich zaudere nicht lange und packe zu. Alles Wehren hilft nichts. Mit der Rechten halte ich den jungen Habicht an den Läufen, mit der Linkem ziehe^ich einen der Ringe aus der Tasche und lege ihn an. Der kleine Kerl sträubt sich, zappelt, aber ich habe ihn sicher in Händen, und die Beringungsoperation glückt. Dann kommen die beiden nächsten dran, und auch bei ihnen gibt's keine besonderen Schwierigkeiten. Und jetzt das letzte der Jungen. Es ist bei weitem das stärkste, wohl ein werdendes Weibchen. Als ich nach ihm greifen will, zieht es sich zunächst 22
Die Kamera hatte Glück: Hühnerhabicht im ilorsf
einmal bis an den äußersten Horsirand zurück. Soweit reicht mein Arm nicht, und ich muß die Steigeisen etwas versetzen. Schließlich erwische ich es doch. Allein welches Theater geht nun los! Das Habichtjunge ist außer Rand und Band und wehrt sich viel energischer als die anderen. Schon nimmt es den Schnabel zu Hilfe und hackt auf mich ein. Eine seiner Krallen dringt durch das Leder meines rechten Handschuhs, und ich spüre plötzlich im Ballen dicht unter dem Daumen einen stechenden Schmerz. Gut, daß Heftpflaster zur Hand ist. Ich legs gleich ein Stückchen auf die Wundstelle. Dann ist die eigentliche Arbeit beendet. Aber ich steige noch nicht ab. Erst durchsuche ich den Horst noch auf Beutereste: Knochen, Federn und Gewölle. Hier aus der Nähe sieht der Horst etwas liederlich aus. Er ist im Innern auch 23
nicht so groß, wie es von außen aussieht. Das brütende Weibchen könnte den langen Stoß gar nicht mehr darin unterbringen und müßte ihn über den Nestrand hinausragen lassen. Ich stopfe alles, was mir interessant erscheint, schnell in die Taschen und melde meinem Gehilfen: „Fertig! Ich steige a b . " Er läßt das Seil locker, damit es bei meinem Abstieg glatt über den Ast laufen kann. Glücklich lande ich unten und schnalle zuerst die Steigeisen herunter. „So, nun fort! Der Habicht und die Jungen müssen bald wieder zur Ruhe kommen." • Wir entfernen uns so rasch wie möglich etwa hundert Schritte und machen hier hinter einigen dichten Fichten halt, nach ist der Horst in Sichtnähe. Ich lege auch die übrige Ausrüstung ab, in der es mir recht warm geworden ist. Der Schweiß läuft mir übers Gesicht. Ich schaue nochmals nach der kleinen Wunde und lege noch ein paar sichernde Streifen darüber. Dann greife ich zum Glas und beobachte gerade, wie das Habichtweibchen auf den Horstrand zufliegt. Die Jungen, die alles vergessen zu haben scheinen, gieren schon wieder nach Futter. Aber diesmal bringt die Alte nichts, sie will nach der Störung nur nach dem Rechten sehen: sie hat gewiß nicht die geringste Absicht, Horst und Junge wegen des Zwischenfalls aufzugeben. Unser kleines Unternehmen ist gelungen, im Hause Habicht scheint wieder alles in Ordnung zu sein.. Die vier Jungen werden ihre Ringe zunächst mit Verwunderung, vielleicht auch etwas verärgert tragen, später werden sie ihnen wie ein Stück der eigenen Leiblichkeit vorkommen. Ich verstaue meine Ausrüstung im Rucksack, am Waldrand besteigen wir wieder unser Fahrzeug. Zu Hause ist es mein erstes, die Karte an die Vogelwarte fertig zu machen, mit den Angaben der Ringnummern, des Beringungstages und der örtlichkeit. Und jetzt sollen die Habichte erst einmal vierzehn Tage lang Ruhe vor mir haben.
Der Fraß der Kannibalen Aus den vierzehn Tagen sind fast drei Wochen geworden. Als ich wieder zu meinen Habichten hinaufsteige, sind die Jungen sechs24
Flugbilder des balzenden Habichts (nach D. König)
einhalb Wochen alt. Im Horst muß irgend etwas Ungewöhnliches los sein. Schon aus großer Entfernung höre ich wildes Geschrei, das nur von den jungen Habichten herrühren kann. Ich nähere mich vorsichtig, nehme hinter einem Busch Deckung und beobachte durchs Glas. Das stärkste Junge — es ist wohl das Weibchen, das ich zuletzt beringt habe — steht in der Horstmitte über einem anderen, das offenbar tot am Boden liegt. Der starke Junghabicht ist eifrig am Rupfen. Deutlich kann ich sehsn, wie es ihm noch Mühe macht, die kräftigen Schwingen herauszuziehen. Auf zwei Ästen in unmittelbarer Nähe hocken erregt die beiden noch lebenden Geschwister. Sie würden wohl gern an der Mahlzeit teilnehmen, fürchten aber offensichtlich den Unmut der starken Schwester, die eben gierig zu kröpfen beginnt. Endlich fliegt sie gesättigt mit vollem Kropf auf einen Ast. Jetzt erst darf einer der beiden anderen Junghabichte zum Horst, um zu kröpfen; ihn löst der dritte ab und sucht zusammen, was das Jungweibchen und der Bruder verschmäht haben. Es ist anscheinend viel zu wenig für so viel Hunger. Aber bald wird ja einer der alten Habichte mit Beute 25
auftauchen, dann wird auch der halbgcsättigte Jungvogel sein Teil kriegen. Es ist ein seltsames Geschehnis, und ich rühre mich nicht von der Stelle. Ich stehe volle zwei Stunden, dann ist alles vorüber. Von dem toten Habichtjungen werden nur noch Federn und Knochen übriggeblieben sein. In der Fachsprache heißt dieser Vorgang, das Töten und Verzehren des Artgenossen, das bei vielen Raubvögeln und auch bei den Eulen vorkommt, „Kannibalismus''. Geht man mit menschlichen Gefühlen an diese Dinge heran, so ist derlei nicht gerade erbaulich. Aber in Fällen der Not fallen in der Tierwelt gewisse Schranken, die normalerweise eingehalten werden. Es wäre sinnlos, die Natur verniedlichen zu wollen; niedlich ist sie nun einmal nicht. Wenn es um die Selbsterhaltung geht, gilt das Lebensrecht des Stärkeren. Genau so wie hier die drei jungen Habichte ihren Nestgefährten töten und mitleidlos kröpfen, weil die Nahrung ausbleibt, genau so kann es gjschehsn, daß die Elterntiere ein oder zwei der Jungen schlagen und an die beiden anderen verfüttern, nicht, ohne selbst an der Mahlzeit teilzunehmen. Und schließlich kommt es vor, daß das stärkere Weibchen das schwächere Männchen schlägt und ohne irgendwelche Bedenken verschlingt. Die Arbeitsgemeinschaft Otto Uttendörfer konnte bei folgenden Ha üb vögeln und Eulen einen ähnlichen Kannibalismus nachweisen: beim Wanderfalken, Turmfalken, Mäusebussard, bei der Rohrweihe, beim Sperber, dem Schwarzen Milan, der Waldohreule, dem Waldkauz und der Schleiereule. Wenn die Zahlen bei Habicht, Mäusebussard und besonders beim Sperber recht hoch liegen, so hat das selbstverständlich nichts mit einer besonderen Grausamkeit dieser drei Raubvögel zu tun; es hängt vielmehr damit zusammen, daß von diesen dreien besonders zahlreiche Horstbeobachtungen vorliegen. So sind zum Beispiel beim Sperber über achthundertfünfzig Brüten kontrolliert worden. Gibt es eine einleuchtende Erklärung für dieses ungewöhnliche Verhalten? Nehmen wir an, ein Sperberpaar habe sechs Junge, das Frühjahr ist sehr naß und kalt, und diese Witterung hält auch noch den ganzen Mai über an. Die F"olge ist, daß zahlreiche Vogelbruten 26
nicht voll hochkommen. Das bedeutet für das Sperbermännchen Mangel an Beute: um sechs Junge zu ernähren und auch noch das Weibchen sattzufüttern, m u ß es täglich zehn bis zwölf Vögel von etwa Finkengröße an den Horst bringen und dabei selber auch noch satt werden. Er wird das bei aller Gewandtheit nicht schaffen. Die Jungen quält der Hunger, die Stärksten unter ihnen reißen den Schwächeren die Beutebrocken weg, und so wird für die Betroffenen das Darben immer größer. Und dann ist es sehr rasch so weit: Eines Tages fallen die Stärkeren über die Schwächeren her, geben ihnen gleichsam den Gnadentod und finden endlich etwas, ihren Hunger zu stillen. Auch das Weibchen kann in solcher Notlage zur Kannibalin werden. Allzu lange hat es für seine Jungen auf Beute gewartet, die das Männchen herbeibringen sollte. Aber irgend etwas ist dazwischen gekommen. So packt es schließlich das Schwächste seiner Jungen, tötet und verfüttert es. Unerhört häßlich und grausam, werden meine Leser sagen. Aber die tierische Natur hat ihre eigenen Gesetze. Oberstes Gebot ist die Erhaltung der Art, der einzelne muß zurücktreten. Der Kater frißt gelegentlich seine Katzenjungen, der Rammler bei den Kaninchen, die gar keine Fleischfresser sind, macht es ebenso, und das Spinnenmännchen muß, wenn der Nachwuchs gesichert ist, schleunigst flüchten, um nicht vom Weibchen gefressen 211 werden. Diese Tiere tun das Ungeheuerliche nicht einmal immer aus Nahrungsmangel. Wir wissen nicht, was für verborgene Absichten die Natur bei solchem Geschehen bewegen. Aber in unserm Habichtfall kommen wir, anscheinend wenigstens, doch hinter ihre Planungen. Das Männchen ist aus irgendeinem Anlaß allzu lange ausgeblieben. Die Jungen müßten verhungern und fänden ein recht elendes Ende. Also läßt die Natur das Ungewöhnliche geschehen und verhütet auf ihre Weise noch größeren Schaden. Bei anderen Raubvögeln mag auch ein allgemeinerer Instinkt wach werden, wenn sie ihre eigene Brut verringern. Käme der ganze Nachwuchs hoch, so würden merkliche Lücken in die sowieso schon schwache Vogelwelt gerissen. Vielleicht ist ei auch ein Vorgefühl dafür, daß ungünstige Witterung zu erwarten ist und daß für alle geschlüpften Jungen im Verlaufe der Zeit nicht Nahrung genug herangeschafft werden kann.
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Das Räderwerk Die Natur steckt voller Probleme. Sie ist zudem ein ungeheuer kompliziertes Räderwerk, in dem, für den Menschen meist unsichtbar, ein Rädchen ins andere greift. Ohne genaue Kenntnis der Zusammenhänge stört der Mensch — oft in sehr plumper Weise — den Lauf eines dieser Rädchen, und schon kommt das ganze Räderwerk in Unordnung. Weil unser Habicht die Niederjagd schädigt, wird er in einer bestimmten Gegend ausgerottet. Die Jagd wird dadurch um kein Haar besser; denn Raben- oder Nebelkrähen und Elstern vermehren sich jetzt so stark, daß die Gelege von Rebhühnern und die Junghasen noch gefährdeter sind als durch den Habicht. Um den Elstern und Krähen beizukommen, wird manchmal Gift ausgelegt — es ist ein unfaires Mittel, aber die Krähen und Elstern sind damit ausgerottet. Gibt's nun mehr Hasen und Rebhühner? Gewiß: nach einem trockenen Frühjahr und Sommer wird die Jagd auf dieses Wild ergiebiger sein. Kommt dann aber ein kaltes, nasses Frühjahr hinterher, ein verregneter Sommer, so folgt ein kläglicher Rückschlag. All die kranken und schwachen Hasen und Rebhühner, die sonst dem Habicht zum Opfer gefallen wären, in dem trockenen Sommer aber mit hochgekommen sind, sterben hinweg und stecken mit Seuchen auch noch das Gesunde und Starke an. Die Gesundheitspolizei von Habicht und Sperber, von Krähe und Elster — natürlich auch von Fuchs, Marder, Iltis und Raubwiesel — bat gefehlt. Das pflegt der Gang der Dinge zu sein, wenn der Mensch am verkehrten Ende eingreift. . Auch dem Förster kann solch ein Eingriff gar nicht recht sein; er bekommt keine Eichelsaat mehr hoch, weil Eichelhäher und Eichhorn überhandnehmen, sein Wald droht zu veröden, weil das Nestplündern durch die beiden kein Ende nehmen will. Es ist keine reine Freude mehr. Der Förster beschließt dann vielleicht, den Habicht künftig zu schonen. Aber es kann dann zu spät sein. Die alten Habichthorste sind nämlich längst verfault oder von Herbst- und Frühjahrsstürmen vernichtet worden. Zum Glück gibt es noch mehrere Bussardhorste, vielleicht nimmt ein Habichtmännchen einen solchen fremden Horst an und macht erneut den 28
Habicht mit seinen Jungen am Horst
Versuch, sein Geschlecht wieder in die Höhe zu bringen. Hoffen wir es! Daß der Freund der Singvögel entsetzt ist, wenn er die Rupfungsliste eines Räubers zu Gesicht bekommt, ist verständlich. Aber die Natur ist weise, sie baut überall Sicherungen ein. An 317 Habichthorsten fand man 90 Sperberrupfungen, gelegentlich rottet ein einziger Habicht ganze Familien dieses leidenschaftlichen Singvogeltöters aus. So wird mancher Schaden, den der Vogelfreund beklagt, wieder wettgemacht. In den letzten Tagen, als ich die Niederschrift dieses Lesebogens gerade zu Ende führen will, erhalte ich die erfreuliche Nachricht, daß im Hügelland der Obcrlausitz, wo sich hauptsächlich meine Erlebnisse mit dem Habicht abgespielt haben, der Raubvogel auch beute noch am Werk ist. Ja, sein Bestand hat zugenommen. Als ich in den dreißiger Jahren dort beobachtete, zählte ich im Höchstfall sechs besetzte Habichthorste. In dem Brief, den ich bekommen habe, schreibt mir ein Freund, daß heute im gleichen Gebiet zwölf Horste bestehen. Die Zukunft unserer Habichte hat sich etwas aufgehellt, seit vor einigen Jahren das Bejagen der für die Aufzucht des Nachwuchses notwendigen alten Habichte für die Zeit vom 1. Mai bis 15. Juli — in Mitteldeutschland vom 16. März bis 15. Juni — verboten worden ist. Ich bin der Meinung, daß für ganz Deutschland die Schonzeit von März bis Mitte Juli reichen sollte. Der Habicht beginnt sein Brutgeschäft Ende März — Anfang April. Können während dieser Zeit die alten Vögel noßh erlegt werden, so sterben die Eier ab, und der Nachwuchs b l e u t aus. Und es wäre auch besser, wenn das Ende der Schonzeit allgemein auf den 15. Juli verlegt würde, bis die Jungen völlig über den Berg sind. Man sollte nicht vergessen, daß dieser schmucke Greifvogel altangestammtes Heimatrecht bei uns hat.
\ v i r nehmen Abschied vom Habicht. Er ist ein harter Geselle — er ist so, wie ihn die Natur geschaffen hat, nicht besser und nicht schlechter. In der Fachsprache trägt er den Namen Hühnerhabicht oder lateinisch „Accipiter gentilis gallinarum", ,.Habicht 30
des Hühnervolkes". Dieser Name bezieht sich bestimmt nicht auf seine Rebhuhnjagd, sondern auf den einst häufigen Raub von Haushühnern. Zur Zeit dieser seiner Namensgebung durch den alten Brehm war der Habicht weit häufiger als in der Gegenwart und wurde trotz des Haushuhnraubes längst nicht so scharf verfolgt wie heute wegen seiner Rebhuhn-, Hasen- und Fasanenjagd. Diese rücksichtslose Nachstellung hat unseren Habicht sehr vorsichtig gemacht. Er meidet die menschlichen Siedlungen und schlägt Haushühner nur noch bei einzeln gelegenen Gehöften oder Förstereien. Er scheint zu spüren, daß der Mensch sein Feind ist, also bleibt er so weit weg von ihm wie nur möglich. Mein altes Habichtmännchen im Kiefernhochwald hat im folgenden \\ inter diese wichtige Habichtregel anscheinend nicht genau geimg befolgt. Ich fand die Raubritterburg im Kiefernwald im nächsten Jahr unbesetzt. Hatten ihn die Schrote eines Schützen getroffen, war er der Kugel eines waidgerechten Jägers zum Opfer gefallen oder war er angeschossen und waidwund die Beute von Fuchs oder Marder geworden? Ich weiß es nicht. Schade um ihn. den kühnen, unübertrefflichen Raubritter! Ich hatte ein; stille Liebe zu ihm und seinem tapferen Weib. Wieder singt die Misteldrossel ihr Lied, unbekümmert betreibt der Ringeltauber seine Liebesspiele, ohne Angst ratscht der Häher, und nach wie vor dringt das Trillern des Sehwarzspechtes durch den ^ ald. Aber es fehlt etwas in den alten Kiefern: der Habichtsruf ,,giak-giak-giak-giak" und seine kräftigen ,,Gip-gip-gip' ; Rufe, mit denen er dem Weibchen sein Kommen und die Beute ankündigte.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dob9ky Biklnachweis: Bilderdienst Ullstein, Krämer, Loges, Hege
L u x - L e s e b o g e n 2 5 3 (Naturkunde) — H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hef:e - Bestellungen (vlerteljährl. G Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Muriiau (Überbayern), Seidl-Park — Druck: Buchdruckerei Auer. Donauwörth
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STENOCORD
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