Der Geisterbügel JOHN CRAWFORD 1. Das Gewitter, das fast die ganze Nacht drohend über dem Horizont gehangen hatte, brac...
21 downloads
550 Views
4MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Der Geisterbügel JOHN CRAWFORD 1. Das Gewitter, das fast die ganze Nacht drohend über dem Horizont gehangen hatte, brach kurz nach drei Uhr morgens los und ergoß sich über die dunkle Landschaft. Blitze zuckten über den Himmel, und das Grollen des Donners und kurz darauf das Platschen des Sturzregens an der Windschutzscheibe verschluckten das Geräusch des Motors. Nur mit Mühe konnte sich Terry Amberley dazu zwingen, seine Gedanken nicht in die finsteren, lautlosen Tiefen abgleiten zu lassen. Er wußte schließlich, daß er eine unmenschlich lange Strecke hinter sich gebracht hatte, ohne auch nur einmal anzuhalten. Er reckte den krummen Rücken und konzentrierte sich wieder ganz auf die schlechte Straße, über die der Strahl der Scheinwerfer tanzte. Seiner Schätzung nach war er noch an die fünfzig Meilen von seinem Ziel entfernt. Trotz der nervösen Hast, die ihm wie ein lauerndes Tier im Nacken saß, ging er ein wenig mit der Geschwindigkeit herunter. Vor einer halben Stunde war er von der Fernverkehrsstraße abgebogen und hatte sein Auto über die kurvenreiche Landstraße gesteuert, die in einem regenüberströmten Nichts zu enden schien. Seine Glieder waren steif und schmerzten, das hohle Gefühl in seinem Magen machte sich immer unangenehmer bemerkbar. Jetzt, dachte er, paßt wenigstens auch noch das Wetter dazu: Vorspiel zu einer Beerdigung, die Natur in Aufruhr. Irgendwie konnte er es immer noch nicht ganz glauben, daß sein Bruder tot war. Er schien etwas verloren zu haben, das kostbar und gleichzeitig lebensnotwendig war, und empfand eine ungeahnte Leere. Dem Telegramm hatte er herzlich wenig entnehmen können. Er wußte also nicht, was ihn erwartete. Vor zwei Tagen hatte es ein Ermittlungsverfahren gegeben, also
konnte Malcolm keines natürlichen Todes gestorben sein. Dazu kamen andere, seltsame Details, die sich nicht zu einem erklärlichen Ganzen zusammenfügen ließen und ihm mehr Sorgen machten, als er sich im Moment eingestehen wollte. Er streckte kurz die müden Finger, dann umfaßte er das Steuer wieder mit festem Griff und riß es eine Sekunde später plötzlich herum. Fast hätte er die Kurve, die ihn aus der nassen Dunkelheit anzuspringen schien, übersehen. Er durfte sich nicht durch wirre Gedanken ablenken lassen. In Redforde würde er bestimmt auf seine unzähligen Fragen Antwort bekommen. Treherne, der beste Freund seines Bruders, der das Telegramm geschickt hatte, mußte Bescheid wissen. Eine Stunde später fiel die Straße plötzlich steil ab. Am Fuß des Hügels schimmerte ein Wirrwarr von orangefarbenen Lichtern. Ein Schild am Straßenrand: Tenterton. Jetzt hatte er es fast geschafft. Eine sehr lange Fahrt von London hierher. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er sich um die Beerdigung gedrückt. Malcolm war sein einziger Bruder gewesen, aber seit mindestens drei Jahren hatten sie sich nicht gesehen und auch nichts voneinander gehört. Zumindest nicht persönlich. Daß sich Malcolm hier in diesem kleinen Dorf in Mittelengland mit seltsamen Dingen beschäftigt hatte, war ihm zu Ohren gekommen. Er war damals, als man ihm davon erzählt hatte, ziemlich schockiert gewesen. Und heute war er es erst recht. Wenn etwas an den seltsamen Gerüchten dran war, dann erklärten sich damit vielleicht die mysteriösen Umstände, unter denen sein Bruder gestorben war. Er sah auf die Uhr. Fünfunddreißig Minuten nach vier. Über dem Wald in der Ferne bereits ein schwacher Lichtschein. Die Hügel allerdings, die ihn umgaben und wie bucklige, alte Männer aussahen, waren noch schwarz. Die Morgendämmerung breitete sich schnell aus. Ihr grauer Schein verjagte das Gewitter. Tropfende Hecken säumten die Äcker. Zuweilen traf sein Blick auf ein Bauernhaus am Fuß eines saftigen Hügels. Über den Rand eines flachen Hügels hinweg sah er Redforde liegen. Viele der Häuser waren hinter den uralten, hohen Bäumen versteckt, die die Main Street einsäumten, die sich wie eine graue Narbe durch die Landschaft fraß und am Ende der Ortschaft einen
Hang hinauf kroch. Es war fast fünf Jahre her, seit er zum letztenmal in Redforde gewesen war, aber kaum etwas schien sich verändert zu haben. Ein verlassenes Nest mit einer Geschichte, die fast zwölf Jahrhunderte zurückreichte, von der Außenwelt unberührt und vergessen. Er fuhr an den großen Steinpfosten des Tores vorbei, hinter dem am Ende der Wageneinfahrt das finstere Herrschaftshaus stand, lenkte sein Auto durch die verlassene Main Street und zog vor dem efeubewachsenen Haus neben der Kirche aus dem 12. Jahrhundert die Bremse. Er schaltete den Motor ab, und die totale Stille, die ihn plötzlich umgab, war ihm unheimlich. Er stieß die Autotür auf und stieg aus. Die Kirchturmuhr schlug. Viertel nach fünf. Er hatte länger gebraucht als vermutet. Nur widerwillig ging er auf die Haustür zu. Er mußte sich erst einen Idioten schimpfen und tief Luft holen, bevor er klopfte. Drei Minuten später wurde aufgemacht, und Ralph Treherne stand vor ihm. Mit seinem Vollbart, der ihm das Gesicht verfinsterte, sah er seltsam fremd aus. Er bat Amberley herein und schloß mit einer fast verstohlen wirkenden Bewegung die Tür. „Bin ich froh, daß du so schnell kommen konntest, Terry!" sagte Ralph und schob den jungen Mann in den Salon. „Ich hätte dir nie zugemutet, die Nacht hindurch zu fahren, aber jetzt, wo du da bist, bin ich heilfroh. Setz dich. Ich hole dir etwas zu trinken. Du scheinst einen ordentlichen Schluck gebrauchen zu können." „Richtig." Terence Amberley ließ sich in einen Sessel neben dem Kamin fallen, in dem die Asche noch leicht glühte. „Soviel ich deinem Telegramm entnommen habe, ist die Beerdigung doch schon am frühen Nachmittag, und ich wollte rechtzeitig dasein." Ralph Treherne kam mit einem Drink zurück und wartete, bis Amberley fast die Hälfte getrunken hatte, bevor er sprach. Eine Schulter gegen den Kaminsims gelehnt, machte er eine zögernde Handbewegung. „Unter den gegebenen Umständen", sagte er, „wußte ich nicht, was ich tun konnte. Ich fand deine momentane Adresse unter Malcolms Papieren und habe dir dann gleich nach dem Ermittlungsverfahren das Telegramm geschickt." Er sah Terry Amberley von der Seite an. Offensichtlich wartete er auf ein ermutigendes Wort. „Ich hatte den Eindruck", fuhr er fort, als es ausblieb, „daß
Malcolm und du, daß ihr in den letzten Jahren wenig zusammengewesen seid. Er hat ein- oder zweimal von dir gesprochen, aber auch nicht mehr." „Jeder hatte mit sich und seiner Arbeit genug zu tun, und Malcolm hat es vorgezogen, sich hier in Redforde zu vergraben und seinen seltsamen Recherchen nachzugehen." Terry beobachtete seinen Gesprächspartner genau und wartete auf seine Reaktion. Er sollte nicht enttäuscht werden. Bei der Erwähnung der seltsamen Recherchen, die Malcolm angestellt hatte, blickte Treherne auf sehr schuldbewußte Weise zu Boden, und Terry war sich plötzlich sicher, daß mehr hinter dem Ganzen steckte, als er bisher geglaubt hatte. Er war müde nach der langen, anstrengenden Fahrt, aber nicht so sehr, daß er nicht gemerkt hätte, wie sehr sich dieser Mann hinter seinem ruhigen Äußeren zu verstecken suchte. Er ging nervös im Salon auf und ab, die rechte Hand um sein Whiskyglas geklammert. Der Teppich verschluckte seinen Schritt. Endlich blieb er vor dem Fenster stehen, schob den schweren Vorhang zur Seite und sah auf die Straße hinaus. „Willst du mir nicht sagen, wie mein Bruder gestorben ist?" fragte Terry, als das drückende Schweigen anhielt und Ralph keine Anstalten machte, davon zu erzählen. „Nachdem ein Ermittlungsverfahren angestrengt worden ist, nehme ich an, daß die äußeren Umstände etwas außergewöhnlich waren." „Vieles, was im Zusammenhang mit Malcolms Tod steht, war mehr als außergewöhnlich." „Zum Beispiel?" Treherne zuckte mit den Schultern und leerte sein Glas. „Der Ort, an dem seine Leiche gefunden wurde, die Art, wie er gestorben ist, und wohl vor allem die Natur der Dinge, die er überprüft hat." „Ich fürchte, ich verstehe dich nicht." Terry lehnte sich in seinem Sessel zurück. Die Worte des jungen Mannes erschreckten ihn. Ralph Treherne setzte sich und ließ die Hände zwischen den Knien nach unten hängen. Er starrte eine Zeitlang auf das leere Glas, als sei die Antwort auf so manche Fragen in die glatte Oberfläche geschrieben. Dann hob er endlich den Kopf, und jetzt erst fiel es Terry auf, wie sehr Ralph in den letzten zwei Jahren gealtert war. Die Ränder unter den Augen und die Falten in der Stirn
waren wie mit dem Messer eingekerbt. Außerdem wurde er an den Schläfen schon grau. Und das mit knapp dreißig. „Terry", begann er zögernd, „bevor du überhaupt einiges von dem Grauenvollen verstehen kannst, das sich ereignet hat, mußt du gewisse Dinge als gegeben hinnehmen. In dieser Grafschaft regiert der Aberglaube. Er ist hier tiefer verwurzelt, als sonstwo. Es gibt hier unerklärliche Erscheinungen, die sich aus dem Mittelalter in unsere Zeit herübergerettet haben. Sie gehören zum Leben der Menschen, und nicht einmal die Kirche hat es geschafft, sie auszumerzen, wobei sich jeder neue Vikar noch fieberhafter ins Zeug gelegt hat als sein Vorgänger. Die alten Ideen sind unsterblich. Hexerei, die Auferstehung der Toten, Geister, Übernatürliches - nenn es wie du willst. Hier läuft alles unter einem Namen: Schwarze Magie." „Und du glaubst, daß Malcolm etwas damit zu tun hatte?" Wenn Ralph nicht so ernst geblieben wäre, hätte Terry frei hinausgelacht. Aber es war ihm nicht nach Lachen zumute, denn die Angst des jungen, früh ergrauten Mannes war spürbar. „Ich glaube es nicht, sondern ich weiß es. Er hat damit zu tun gehabt, aber nicht so, wie du meinst. Er hat die alten Legenden lediglich auf rein wissenschaftlicher Basis untersucht. Er wollte den Fortbestand des Bösen durch die Jahrhunderte hindurch beweisen." Er überlegte kurz, dann wurde seine Stimme ungeduldig. „Schau mich doch nicht so an. Ich weiß, daß sein Tod ein schwerer Schock für dich gewesen ist, aber ich weiß auch, was ich sage. Diese Gegend ist verpestet, und nirgends ist das Böse mehr zu Hause als zwischen den drohenden Steinen draußen vor der Ortschaft, wo die Leiche deines Bruder vor vier Tagen gefunden wurde." „Weiter", sagte Terry, als Ralph zögerte. „Was ist geschehen?" „Er muß spät am Abend hinausgegangen sein. Wahrscheinlich hat er etwas gesucht. Er war überzeugt, daß es gewisse psychische Kräfte gibt, die dort draußen noch wirksam sind, und ist deshalb oft stundenlang herumgewandert zwischen den Gesteinsbrocken, die wie drohende Finger in den Himmel weisen - daher der Name. Als er am nächsten Morgen noch nicht wieder zurück war, habe ich nach ihm gesucht. In der Dunkelheit kann man leicht fallen und sich ein Bein brechen, habe ich gedacht." Terry hatte das vage Gefühl, daß Ralph auf etwas Bestimmtes hinauswollte, aber nicht den richtigen Anfang fand.
„Ich habe ihn sofort gefunden", fuhr Ralph fort. „Er lag mit dem Gesicht nach unten in einem Rund, das von Felsblöcken umgeben ist. Ich dachte zunächst, daß er gestürzt sei und sich am Kopf verletzt habe. Ich habe ihn umgedreht und dann..." Er brach ab und schüttelte sich vor Entsetzen. „Es war grauenvoll! Ich werde das Gesicht mein Leben lang nicht vergessen! Aber es war nicht das allein. In seiner Brust steckte ein Messer, bis ans Heft hineingetrieben, und seine Finger umklammerten den Griff." Terry Amberley spürte, wie ihm ein Schaudern durch den Körper ging. Es war ihm, als habe sich eine fremde Angst seiner bemächtigt. „Willst du damit sagen, daß er sich umgebracht hat?" fragte er fassungslos. Ralph Treherne sah ihn mit starrem Blick an, seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich in seinem Gesicht. „Du hast Malcolm genausogut gekannt wie ich. Er hätte sich nie das Leben genommen." „Sondern? Meinst du, daß er ermordet worden ist?" „Der Ermittlungsrichter glaubt nicht an Mord. Die Möglichkeit wurde kurz erwähnt, aber sofort abgetan. Alle Beweise sprachen dagegen. Die einzigen Fingerabdrücke auf dem Messer waren seine eigenen. Dr. Harmon hat angegeben, daß er praktisch auf der Stelle tot war und es für einen anderen unmöglich gewesen wäre, ihm die Finger in der Weise um den Messergriff zu legen. Ganz abgesehen davon wurde die Frage der Fußspuren aufgeworfen. Am frühen Abend hatte es geregnet, und der Boden war durchnäßt und weich. Außer Malcolms Spuren hat man nichts entdeckt. Und meinen, natürlich." „Dann scheint der Fall doch völlig klar zu liegen", sagte Terry Amberley und goß sich noch einen Whisky ein. Das graue Licht der Dämmerung war vom gelben Schein des neuen Tages vertrieben worden, und in dem Salon war es hell. Terry bemühte sich krampfhaft, die Müdigkeit zu verscheuchen, aber sie wollte nicht weichen. „Ich wollte, ich könnte mir dessen so sicher sein wie der Ermittlungsrichter", sagte Ralph und stand mühsam auf. „Der Fall hat so viele lose Enden, und niemand scheint in der Lage zu sein, die richtigen miteinander zu verknüpfen. Von der Tatsache, daß Malcolm kein Mensch gewesen ist, der Selbstmord begeht, einmal
abgesehen, ist auch das Messer absolut nicht zufriedenstellend erklärt. Ich habe es nie in seinem Besitz gesehen. Dabei habe ich deinen Bruder besser gekannt als sonst jemand. Wenn es zu seiner außergewöhnlichen Sammlung gehört hätte, wäre es mir aufgefallen. Davon bin ich überzeugt. Nein, Terry, ich hatte genug Zeit, über diesen Fall nachzudenken, und bin von Stunde zu Stunde fester überzeugt, daß dein Bruder ermordet worden ist." „Du willst mir doch hoffentlich nicht einreden, daß ihn jemand erstochen haben soll, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen, und es obendrein noch geschafft hat, daß alles auf Selbstmord hindeutet?" „Nein, das will ich ganz bestimmt nicht." „Sondern?" Ralph Treherne lächelte schwach. „Ich kann dich gut verstehen und mache dir keinen Vorwurf, daß du so skeptisch bist, weil du eben nicht wie ich all die Jahre damit zu tun hattest. Vielleicht habe ich es sogar irgendwie kommen sehen, ich konnte nur nichts dagegen unternehmen. Ich glaube, daß Malcolm im Verlauf seiner neueren Recherchen etwas entdeckte, das vielleicht seinen Geist beherrscht und ihn gezwungen hat, sich das Messer in die Brust zu treiben." „Ralph - bitte, bleibe mit den Beinen auf der Erde!" Terry Amberley ging zum Fenster und sah auf das regennasse Land hinaus. Zwischen hohen Hecken ein schmaler, sich windender Pfad, der über einen Hügel kletterte, auf dessen oberem Rand große Steinsäulen in den Morgenhimmel ragten, als müßten sie Gott und den Menschen trotzen. Dort oben hatte Malcolm den Tod gefunden. Er schauderte zusammen. Nicht, weil es kühl war im Salon, sondern weil ein seltsam frostiger Hauch seinen Körper streifte. „Du glaubst mir nicht." Keine Spur von Gefühlsduselei in Ralphs Stimme. Offensichtlich hatte er damit gerechnet und wäre erstaunt gewesen, hätte der Bruder seines Freundes anders reagiert. „Du darfst aber nicht vergessen, daß wir nicht in London sind. Wir sind hier den alten Geschichten näher und verbundener mit ihnen als ihr in der Großstadt. Wer von uns klug genug ist, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht so, wie wir sie gern hätten, spürt oft das, was im Bösen mitschwingt. Pein Bruder gehörte auch dazu." „Ich habe nicht behauptet, daß ich dir nicht glaube, Ralph, aber
- gerechter Himmel - wir befinden uns schließlich im zwanzigsten Jahrhundert und nicht im tiefsten Mittelalter!" „Richtig." Ralph Treherne seufzte etwas dramatisch. Er zündete sich eine Zigarette an und ging zur Tür. „Ich kann nur hoffen, daß du nach der Beerdigung noch ein paar Tage in Redforde bleiben kannst. Vielleicht änderst du dann doch etwas deine Meinung." Er sah Terry Amberley einen Moment mit forschendem Blick an, dann" entschuldigte er sich. Terry hörte ihn die Treppe hinaufgehen. Eine Tür wurde aufgemacht und geschlossen. Er stützte sich auf den Fenstersims und sah wieder hinaus. Zum erstenmal seit seiner Ankunft kam ihm alles auf seltsame Weise bekannt vor. Er war schon hiergewesen, sicherlich, aber er hatte sich nicht an die Landschaft erinnert. Plötzlich war er verwirrt, unlogische und ihm völlig fremde Gedanken drangen auf ihn ein. Terry hielt sich am Sitz fest, als sie durch das alte schmiedeeiserne Tor des kleinen Friedhofs fuhren, und ein Schaudern kroch über seinen Körper. Die Rotbuchen streckten die regennassen Äste in den Himmel. Die Wagen mit den Trauergästen hielten vor der efeubewachsenen Kirche. Er stieg aus und ließ den Blick über die moosbedeckten Grabsteine schweifen. Graue Nebelschwaden zogen über die Wege zwischen den Gräbern und schienen sich um die Stämme der Bäume zu winden. Die feuchte Kühle kroch durch alle Nähte. Der Sarg wurde aus dem Leichenauto gehoben und zu dem Grab getragen, das in der nassen Erde gähnte. Der Kies knirschte unter dem Schritt der Trauernden. Der Vikar hielt den Kopf gebeugt und sah von unten herauf auf die kleine Prozession, die näher kam. Vorsichtig wurde der Sarg in das Grab gelassen. Amberley stand mit hängenden Armen am Grab und beobachtete die anderen aus dem Augenwinkeln. Einige von ihnen erkannte er wieder. Barcroft, mit seinen undurchdringlichen Zügen. Und Dr. Harmon, grauhaarig und für seine siebenundfünfzig Jahre sehr alt aussehend. Andere Gesichter bedeuteten ihm nichts und öffneten keine Türen in seiner Erinnerung. Sie standen um das Grab herum. Amberley spürte den Nebel in seinem Nacken und unterdrückte ein Husten. Der Vikar trat einen
Schritt nach vorn, die offene Bibel mit dem purpurroten Buchzeichen in der Hand. Er begann zu sprechen. Seine Stimme war weich und tragend. „Die Tage des Menschen sind gezählt, und selbst mitten im Leben sind wir im Tod. Der Herr aber hat uns versprochen, uns am Jüngsten Tag zu sich ins Himmelreich zu holen. Wir werden auferstehen, die Gräber werden sich öffnen und die Toten freilassen, damit sie nach ihren Taten gerichtet werden..." Amberley hörte die weiteren Worte wie aus unendlicher Ferne. Er hatte das Gefühl, nicht zu der kleinen Trauergemeinde zu gehören. Irgendwann fiel Erde auf das blankpolierte Holz des Sarges, der Nebel verschluckte das Geräusch. Jemand hüstelte, ein anderer scharrte mit dem Fuß. Wieder sprach der Vikar. Genauso monoton wie vorher: „Asche zu Asche, Staub zu Staub. Wir vertrauen unseren von uns gegangenen Bruder der Erde an, aus der er gekommen ist, mit der gläubigen Gewißheit, daß Gott in seiner unendlichen Güte seine Sünden vergeben und seine Seele zu sich erheben wird. Amen." Ralph Treherne stand ein paar Schritte von Amberley entfernt, den Kopf gebeugt, den Blick in das Grab gesenkt. Er wirkte wie jemand im Trancezustand. Wie jemand, der sich dessen, was um ihn herum vor sich geht, nicht bewußt ist. Als der Totengräber näher kam, die Schaufel hinter sich herziehend, hob Treherne den Kopf. Es schien ihn Mühe zu kosten. Plötzlich stand ein völlig veränderter Ausdruck auf seinem Gesicht. Er zuckte zusammen und konnte sich kaum mehr aufrecht halten. Einen Moment lang dachte Terry, der Kummer um den besten Freund, der da unten in seinem kalten Sarg lag, sei daran schuld, doch dann sah er zu seinem Entsetzen, daß Treherne nicht in das Grab blickte, sondern über die gebeugten Schultern des Vikars hinweg auf die kleine Baumgruppe am Rand des Kirchhofs. Amberley folgte dem angstvollen Blick. Plötzlich schien alles tödlich still zu sein. Nichts. Nur Nebelschwaden und die dunklen Silhouetten der Bäume. Trotzdem hätte Amberley schwören können, daß er etwas gesehen hatte. Der kalte Schweiß lief ihm über den Rücken. Sein Magen krampfte sich zusammen. Irgend etwas war da unter den Bäumen.
Aber was - in Gottes Namen? Er strich seltsam formlos durch die Bäume. Amberley hatte das Gefühl, als ob eine Nebelschwade versuche, menschliche Form anzunehmen. Ein ungewohntes Prickeln an seinen Schläfen, das sich zu einem stechenden Schmerz steigerte. Wie mit dem Boden verwachsen, mit pelzigen Armen und Beinen, starrte er auf die Nebelgestalt, die jetzt vor die Baumgruppe getreten war. Sein Atem stockte, seine Kehle war trocken. Er hörte, wie Ralph Treherne schwer atmete. Der Beweis, daß der junge Mann dasselbe sah wie er. Die Fingernägel in das Fleisch seiner Handflächen gebohrt, stand Amberley da und war unfähig, den Blick abzuwenden. Daß dort ein Mann stand, war für ihn inzwischen Gewißheit geworden. Ein Mann mit verschwommenem Gesicht, auf dem Kopf eine Art Kappe, die Augen so tief in den Höhlen, daß sie wie Löcher in einem Totenschädel aussahen. Ralph Trehernes unterdrückter Schrei war kaum zu hören - ein ersticktes Rasseln in seiner Kehle, das im Aufprall der Erdschaufeln auf dem Sarg unterging. Amberley zwang sich, den Kopf von der Nebelgestalt abzuwenden und sah in das aschfahle, völlig eingefallene Gesicht des jungen Mannes. Trotz der feuchtkalten Luft standen ihm Schweißperlen auf der Stirn und liefen ihm über den Nacken in den Hemdkragen. Er drückte die Augen zu und wischte sich mit der flachen Hand über das Gesicht. Dr. Harmon unterbrach Terry Amberleys verwirrte Gedanken. „Geht es Ihnen nicht gut, Treherne?" fragte er. „Was? Ach Sie sind es, Doktor." Ralph Treherne riß sich sichtlich zusammen. „Ja, schon. Es muß die Aufregung der letzten Tage sein." „Sie sehen auch nicht sonderlich wohl aus, Mr. Amberley", sagte Harmon freundlich. „Vielleicht kommen Sie beide kurz mit in meine Praxis. Man hat mir erzählt, Mr. Amberley, daß Sie die ganze Nacht durchgefahren sind. Ich gebe Ihnen etwas zum Schlafen. Sie machen einen völlig ausgelaugten Eindruck." Terry Amberley versuchte mit aller Kraft, das unkontrollierte Zittern seines Körpers zu unterdrücken. Während er den Arzt höflich ansah, schien jeder Nerv seines Körpers zu vibrieren. Er konnte nicht anders, er mußte noch einmal zu der Baumgruppe hinübersehen: aber dort war nichts mehr. Nur der Nebel schien an der Stelle etwas dichter zu sein.
Dr. Harmon hakte sich bei ihm ein und führte ihn aus dem Friedhof. Ralph Treherne folgte ihnen. Hinter einem steinernen Rundbogen warteten die Wagen. Dr. Harmon sprach kurz mit einem der Fahrer. Der Mann nickte, bedachte Terry mit einem neugierigen Blick und setzte sich hinter das Steuer. „Ich habe ihm gesagt, daß er uns direkt zur Praxis fahren soll", erklärte der Arzt und setzte sich neben Amberley. „Ich nehme an, daß Sie keine Lust haben, mit all den anderen zu reden. Der Tod Ihres Bruders muß ein schwerer Schock für Sie gewesen sein. Unfaßlich! Ich habe Malcolm gut gekannt. Er war in gewisser Weise ein seltsamer Mensch, vielleicht etwas exzentrisch, aber er hat gut hierher gepaßt und war sehr beliebt bei den Leuten." „Mag sein, aber seine Recherchen scheinen mir nicht nur sehr exzentrisch, sondern vor allem höchst gefährlich gewesen zu sein." „Gefährlich?" Der Arzt sah Ralph Treherne mit einem schnellen Seitenblick an. „Wieso?" „Das fragen Sie?" Terry machte aus seinem Erstaunen kein Hehl. „Jeder scheint doch der festen Überzeugung zu sein, daß Malcolm an dem kaputtgegangen oder - um es noch stärker auszudrücken - daß Malcolm von dem zerstört worden ist, was sein ganzes Interesse in Anspruch genommen hat." „Kann ich Ihnen als Arzt einen guten Rat geben? Hüten Sie sich vor derlei Gedanken. Ich sage es nicht gern, aber Ihr Bruder hat Selbstmord begangen. Die Tatsache, daß er oben bei den Drohenden Steinen gefunden worden ist, bedeutet rein gar nichts." Er wurde noch ernster. „Ich wollte Ihnen das nicht gleich sagen, Mr. Amberley, aber Sie zwingen mich praktisch dazu: Ihr Bruder war ein sehr kranker Mann." „Ach was!" sagte Terry etwas schärfer als beabsichtigt. „Malcolm hat sein Leben lang vor Gesundheit gestrotzt." „Ich spreche nicht von einer physischen Krankheit", sagte der Arzt ruhig. „Wollen Sie mir vielleicht einreden, daß mein Bruder im Kopf nicht ganz in Ordnung war?" Dr. Harmon zögerte. Die Unterredung war ihm offensichtlich nicht angenehm, und er suchte nach den richtigen Worten. Um Zeit zu gewinnen, stopfte er sich umständlich seine Pfeife und steckte sie genauso umständlich an. Allem Anschein nach fühlte er sich verpflichtet, etwas zu sagen,
wußte aber nicht wie. „So würde ich es nicht nennen", sagte er schließlich, als der Wagen von der Main Street abbog. „Folgendes: sein übersteigertes Interesse an den Legenden vergangener Zeiten schien ihn ab und zu, ich meine sogar eigentlich recht häufig in Depressionen zu stürzen, die manchmal an Verfolgungswahn grenzten. Ich bin überzeugt davon, daß er auch einen dieser Anfälle von Niedergeschlagenheit hatte, als er sich das Leben nahm. Bitte - ich kann Ihnen nur noch einmal den Rat geben: Lassen Sie es damit bewenden und versuchen Sie nicht, sich in diese unerklärlichen Dinge hineinzusteigern." „Wie gerne würde ich Ihnen glauben", sagte Terry, als er aus dem Wagen stieg. „Sie müssen mir glauben", sagte der Arzt mit Nachdruck. „Die Toten sind tot. Man sollte sie in Frieden ruhen lassen." Er ging voran und sperrte die Tür zur Praxis auf. Terry Amberley warf Ralph einen schnellen Blick zu und erschrak. Der Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Mannes war erschütternd. Angst, nackte Angst quälte ihn. Um Fragen zu stellen war jetzt nicht der Moment. „Nachdem Ihr Bruder begraben ist, Mr. Amberley, darf ich Sie vielleicht fragen, ob Sie noch lange hierzubleiben beabsichtigen?" Terry sah den Arzt an. Er hatte das bestimmte Gefühl, daß der Mann etwas gegen seinen Aufenthalt in Redforde hatte. „Das hängt von einer ganzen Reihe von Dingen ab", sagte Terry. „Zum Beispiel?" Dr. Harmon zog die Stirn kraus. „Machen wir uns doch nichts vor", sagte Terry. „Gewisse Dinge im Zusammenhang mit dem Tod meines Bruders sind völlig ungeklärt, und ich..." „Aber der Ermittlungsrichter..." Terry schüttelte den Kopf. „Jeder weiß doch, wie es bei so einem Ermittlungsverfahren zugeht. Man versucht prinzipiell, eine logische Erklärung für alles zu finden, wobei wichtigste Dinge außer acht gelassen werden." „Und Sie glauben, daß das hier der Fall gewesen ist?" „Je mehr ich über den seltsamen Tod meines Bruders höre, desto mehr bin ich überzeugt davon." Der Arzt schien eine scharfe Bemerkung noch hinunterschlucken
zu können. Er verschwand im Nebenzimmer. Ralph Treherne fuhr zu Amberley herum. „Warum in aller Welt mußt du ausgerechnet davon anfangen?" fragte er wütend. „Das Urteil des Ermittlungsrichters hat sich doch einzig und allein auf das Gutachten Harmons gestützt." „Schon möglich." Terry nickte. Er spürte, wie seine innere Spannung von Minute zu Minute wuchs. „Aber du hältst das Urteil ebensowenig für zutreffend wie ich. Nicht einmal im Traum würdest du glauben, daß sich Malcolm das Leben genommen hat. Und erst recht nicht, daß er geistig nicht ganz normal gewesen ist." „Ist es nicht völlig egal, was ich glaube und was nicht?" Ralph zuckte mit den Schultern. Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, bot Terry eine an und gab ihm und sich mit zitternder Hand Feuer. „Das ganze Dorf will daran glauben. Wenn du anfängst, in den alten Geschichten herumzuwühlen, machst du alles nur noch schlimmer. Viel schlimmer sogar. Nimm Harmons Rat an und laß die Toten in Frieden ruhen." Harmon kehrte zurück. Er gab Terry eine kleine Flasche. „Nehmen Sie zwei davon kurz vor dem Schlafengehen", sagte er berufsmäßig nüchtern. „Morgen früh sehen Sie alles mit ganz andren Augen. Ich verstehe, daß die unerwarteten Ereignisse Sie aufgeregt haben. Aber sie müssen mir glauben, daß Sie nichts unternehmen können. Sie müssen die Situation akzeptieren. Und zwar so, wie sie ist." Terry steckte das Fläschchen in die Tasche. „Ich bin überzeugt, daß Sie es gut meinen, Dr. Harmon", sagte er. „Ich habe nicht den geringsten Wunsch, länger hierzubleiben als absolut nötig, aber erst muß ich die Wahrheit herausfinden." Harmon seufzte. „Die Wahrheit", wiederholte er und fuhr sich durch die grauen Haare. „Falls Sie zufällig darauf stoßen, woher wollen Sie wissen, daß es auch wirklich die Wahrheit ist?" Sein Blick wurde abwesend. „Sie reden genau wie Ihr Bruder, als er damals vor Jahren nach Redforde kam. Er wollte die Wahrheit entdecken - und was war das Resultat?" „Genau! Was war das Resultat, und wie kam es dazu?" Terry sah zu Ralph Treherne hinüber, der mit dem Rücken zu ihnen vor dem Kamin stand und in die schwach glühenden Kohlen starrte. „Du weißt auch viel mehr, Ralph", sagte Terry, „als du mir bisher erzählt hast."
Ralph Treherne fuhr wie von der Tarantel gestochen herum. „Was willst du damit sagen?" Er leckte sich nervös über die Lippen. „Du denkst doch nicht etwa, daß ich an seinem Tod schuld bin, oder?" Seine Stimme war schrill geworden, und die Stille, die seinen Worten folgte, war seltsam greifbar. „Nein, das denke ich nicht", sagte Terry nach einer Weile peinlichen Schweigens. „Ich bin bloß überzeugt davon, daß es hier etwas unaussprechlich Böses gibt und du dir dessen bewußt bist. Ich habe vorhin auf dem Kirchhof etwas gesehen. Was es genau gewesen ist, weiß ich nicht, ich weiß lediglich, daß auch du es entdeckt hast. Du brauchst es gar nicht erst abzustreiten. „Ich -" Ralph Treherne wischte sich über das Gesicht. Er lehnte sich gegen den Kaminsims, als müsse er sich abstützen, um nicht zusammenzubrechen. „Ich habe überhaupt nichts gesehen", sagte er mit schwacher Stimme. „Lediglich die ganze Atmosphäre, der Nebel und die Kälte und..." Harmon schien sich überhaupt nicht mehr auszukennen und sah erstaunt vom einen zum anderen. „Bitte - was haben Sie gesehen?" fragte er Terry. „Ich kann nicht genau sagen, was es gewesen ist. Mir fiel zufällig auf, daß Ralph wie gebannt über die Schultern des Vikars in die Ferne starrte, und ich folgte seinem Blick. Erst erkannte ich es nicht, aber dann wurden die Umrisse immer klarer. Ich bin bereit, jeden Eid zu leisten, daß unter der Baumgruppe eine Gestalt stand. Vielleicht war es ein Mann..." „Nichts stand unter der Baumgruppe", sagte Ralph mit gepreßter Stimme. „Gar nichts! Ich habe nichts gesehen." „Gut, dann hast du eben nichts gesehen", sagte Terry ruhig. „Aber ich leide nicht an Halluzinationen, und ich habe etwas gesehen. Ob es mit dem, was hier vor sich gegangen ist, zu tun hat, weiß ich nicht. Aber das ist einer der Gründe, warum ich in Redforde bleibe, bis ich Bescheid weiß. Jemand verschweigt und verheimlicht etwas, und da es sich um meinen Bruder handelt, kann es mir niemand verübeln, wenn ich die Wahrheit feststellen will." Seltsamerweise kam kein Einwand mehr. Harmon schwieg, Ralph Treherne versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Sie sollten erst einmal gründlich ausschlafen", sagte der Arzt
schließlich ruhig. „Am Morgen hat alles ein ganz anderes Gesicht." Er führte die beiden jungen Männer zur Tür. „Nur noch ein guter Rat, Mr. Amberley. Ihr Bruder war von der Idee besessen, den alten Legenden auf die Spur zu kommen. Es war eine Manie. Ganz gleich, was Sie zu unternehmen gedenken, versuchen Sie, von dem Gedanken loszukommen, auf dem Friedhof eine Gestalt gesehen zu haben. Der Nebel kann seltsame Formen annehmen, wie jeder weiß, und die Phantasie des Menschen ist manchmal unberechenbar - vor allem in Momenten physischer und psychischer Überanstrengung... Und bitte, nicht mehr als zwei Tabletten vor dem Schlafengehen. Sie sind sehr stark, und eine Überdosis könnte gefährlich sein." „Vielen Dank, Dr. Harmon." Terry verabschiedete sich und trat, von Ralph Treherne gefolgt, in den Nebel hinaus. Auf dem Weg durch das Dorf fiel kein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach. Terry Amberley spürte die innere Angst, von der Ralph Treherne beherrscht war, und ahnte, daß ihn Grauenvolles erwartete. 2. Terry Amberley zog sich an diesem Abend früh zurück. Er war total erschöpft. Nicht, daß er sich nicht schon öfter eine Nacht um die Ohren geschlagen hätte. Die makabren Ereignisse des Nachmittags mußten schuld daran sein, daß er völlig ausgelaugt war wie Doktor Harmon es genannt hatte. Sein Zimmer ging auf den Garten hinaus. In seinen warmen Morgenmantel gehüllt, stand Terry am Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus. Der Nebel hatte sich vorzogen, und die Nacht war kalt und kristallklar. Der milchige Schein des Mondes ließ die scharfen Silhouetten der Bäume deutlich hervortreten. Es war, als ob das Land in tödlichem Schweigen den Atem anhielte. Kein Blatt bewegte sich. Alles war wie erstarrt. Absolute Stille, aber keine wohltuende Ruhe. Die Luft schien vom Bösen geschwängert zu sein, das drohend über dem Dorf und den Feldern dahinter schwebte. Links von ihm der Kirchturm, dessen langer schmaler Schatten über den Friedhof fiel. Die Grabsteine schienen sich vorwurfsvoll gegen den kalten Schein des Mondes zu wehren.
Terry Amberleys Hände waren kalt und feucht. Warum hatte Ralph Treherne das, was sie beide am Nachmittag gesehen hatten, so entschieden abgestritten? Hatte er Angst, für verrückt erklärt zu werden? Und die Bemerkungen und guten Ratschläge des Arztes? Hatte er ihm vorsichtig beibringen wollen, daß Wahnsinn manchmal erblich war? Daß die Möglichkeit bestand, daß auch er, wie sein Bruder, den Verstand verlieren konnte, wenn er sich auf Dinge einließ, die seelisch nur schwer zu verkraften waren? Terry war plötzlich froh, daß er von seinem Fenster aus Cranston Hill mit den Drohenden Steinen nicht sehen konnte. Eine dicke Wolkenbank schob sich vor den Mond, und es war, als ob sich von einer Sekunde auf die andere ein großes schwarzes Tuch über die Landschaft gelegt hätte. Terry hatte nun noch einen Wunsch: ins Bett zu kriechen, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und - wenigstens für ein paar Stunden - alles zu vergessen. Er brachte es jedoch nicht fertig, sich vom Fenster abzuwenden. Er zündete sich eine Zigarette an und sog den Rauch tief in die Lungen. Er beschloß, am Morgen mit einigen Leuten im Dorf zu sprechen. Von seinen früheren Besuchen her, die bis vor ein paar Jahren recht häufig gewesen waren, kannte er noch einige der Bewohner von Redforde. Damals hatte er nie etwas von dem Grauenvollen gespürt, das ihn jetzt so intensiv zu umgeben schien. Vielleicht stieß er auf jemand, der bereit war, mit ihm über Malcolm zu sprechen. Die Wolken rissen plötzlich auseinander, und der Mond kam wieder heraus und tauchte die Landschaft erneut in sein fahles Licht. Im gleichen Moment eine Bewegung auf dem Weg, der am Haus vorbeiführte, sich nach ungefähr hundert Metern gabelte und nach rechts zu dem Haus am Hügel lief, das seinem Bruder gehört hatte und jetzt in völliger Dunkelheit lag. Irgendwie hatte Terry noch nicht den Mut gehabt, hinzugehen und sich um Malcolms Sachen zu kümmern. Und jetzt ging eine schmale Gestalt schnell auf das Haus zu. Es dauerte einen Moment, bis Terry sie erkannte. Es war Angela Cowdrey. Was in aller Welt tat sie da draußen zu dieser unchristlichen Stunde? Angela und Malcolm waren sehr eng befreundet gewesen. Terry
hatte fest angenommen, daß die beiden eines Tages heiraten würden. Erst jetzt fiel ihm auf, daß das Mädchen nicht bei der Beerdigung gewesen war. Vielleicht hatte sie es sich nicht zugetraut, nach all dem Schrecklichen auch noch das über sich ergehen zu lassen. Terry beobachtete die schlanke Gestalt, bis sie auf dem Pfad verschwunden war, der zu Malcolms Haus führte. Seine Gedanken waren verwirrt, alles war völlig unzusammenhängend. Die Zigarette glühte zwischen seinen klammen Fingern, während er das dunkle Haus beobachtete. Alles um ihn herum war wie elektrisch geladen. Die Luft schien zu knistern, eine böse, bedrohende Macht zerrte an seinen Nerven. Plötzlich ging in einem der unteren Zimmer ein Licht an. Terry starrte wie hypnotisiert auf das erhellte Fenster. Angela besaß also einen Schlüssel zu dem Haus. Aber warum machte sie ihren Besuch mitten in der Nacht? Und warum mutterseelenallein? Terry klammerte sich an den Fenstersims. Wie lange er so dastand und das Haus seines Bruder beobachtete, wußte er später nicht mehr. Mindestens eine halbe Stunde verging, bis das Licht wieder verlosch, und ungefähr fünfzehn Minuten später sah er Angela, den Kragen ihres Regenmantels hochgeschlagen, an Ralphs Haus vorbeigehen. Terry bildete sich ein, gesehen zu haben, wie sie den Kopf zu seinem Fenster hob, wußte es aber nicht sicher. Als das Mädchen aus seinem Blickfeld verschwunden war, sank er auf das Bett. Er zitterte am ganzen Leib. Ralph Treherne verrührte den Zucker in seinem Kaffee, trank mit kleinen Schlucken und sah Terry über den Rand der Tasse hinweg an. „Ich habe keinen Schlüssel, Terry", sagte er nach einer Weile. „Die Polizei hat alles mitgenommen." „Dann muß ich eben zur Polizei", sagte Terry. Angela Cowdreys nächtlichen Besuch nicht zu erwähnen, hatte er schon in der vergangenen Nacht beschlossen. Vielleicht gab es eine logische Erklärung dafür, wenn es ihm im Moment auch unerklärlich war.
„Ich nehme an, daß du die persönlichen Dinge deines Bruders ordnen willst", sagte Ralph und stellte die Tasse ab. „Das Haus wird schwer zu verkaufen sein. Seit Malcolms Tod hängt ihm etwas an. Du weißt, wie die Leute hier auf dem Land reden. Nicht daß etwas an ihren Gerüchten dran wäre, aber trotzdem können sie die Dinge sehr negativ beeinflussen." Terry lehnte sich zurück. „Ich wollte auch Angela Cowdrey besuchen", sagte er. „Wohnt sie noch in Redforde?" „Angela? Natürlich. Malcolms Tod war ein schwerer Schock für sie. Die beiden waren sehr eng befreundet. Wir haben alle gedacht... ich meine, daß die beiden eines Tages heiraten." Ralph stand auf. „Paß auf, was du zu ihr sagst. Angela ist ein sehr sensibles Mädchen, und jetzt noch der Schock... „Ich passe schon auf", sagte Terry. Er sah aus dem Fenster. Blasser winterlicher Sonnenschein lag auf der Straße und auf den Feldern, die im Rauhreif glitzerten. Es war kurz vor zehn. „Auf!" sagte Terry, wie um sich Mut zu machen. „Erst zur Polizei, dann zu Angela." „Soll ich mitkommen?" fragte Ralph. Terry Amberley schüttelte den Kopf. „Nein. Danke. Ich gehe lieber allein." Der Wind war beißend kalt und fegte erbarmungslos durch die Main Street, auf der nicht einmal ein Hund herumschlich. Wer nichts erledigen mußte, blieb zu Hause. Der Polizeisergeant hinter seinem Schreibtisch sah Terry fragend an, dann hellte sich sein Gesicht plötzlich auf. Er hatte den jungen Mann wiedererkannt. „Sie sind doch Mr. Amberley, oder täusche ich mich?" sagte er und streckte Terry die Hand entgegen. „Verzeihen Sie, daß ich Sie nicht gleich erkannt habe, aber es ist ja auch eine ganze Weile her, nicht wahr?" „Eben." Terry schüttelte dem Sergeant die Hand. „Ich wäre gern öfter gekommen, aber ich hatte einfach nicht die Zeit dazu. Jetzt mache ich mir natürlich Vorwürfe. Ich hätte mir die Zeit nehmen müssen. Dann wäre vielleicht alles anders gekommen." „Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen, Sir. Solche Geschehnisse sind eben nicht vorauszusehen." Der Sergeant schien sich gern auf eine Unterhaltung mit Terry einzulassen, was nicht weiter verwunderlich war, denn das Leben
des Dorf Polizisten war sicherlich nicht besonders aufregend und abwechslungsreich. „Kannten Sie meinen Bruder gut?" fragte Terry und setzte sich auf den Stuhl, der ihm mit einer Handbewegung angeboten wurde. „So gut wie jeder im Dorf", sagte der Sergeant. „Er war ein komischer Kauz - wenn Sie es mir nicht übelnehmen. Komische Ideen im Kopf. Ich stamme nicht aus Redforde, sonder komme aus Nottingham, muß aber betonen, daß ich den seltsamen Legenden dieser Gegend sehr aufgeschlossen gegenüberstehe. Nicht daß ich wie Ihr Bruder an die Geschichten glaube, aber ich habe mit Malcolm Amberley oft darüber diskutiert. Und vor allem gern. Von den Dorfbewohnern bekommt man nämlich nichts heraus. Sie reden einfach nicht darüber." Terry rutschte nach vorn auf die Stuhlkante. Sein Interesse war geweckt. „Worüber haben Sie sich mit meinem Bruder unterhalten, Sergeant..." „Sergeant Willingham, Sir." Der Polizist machte eine kleine Verbeugung. „Ihr Bruder hat mir eben so manches erzählt. Er hat zum Beispiel so lange auf den Vikar eingeredet, bis er die alten Chroniken einsehen durfte, die in der Gruft der Kirche aufbewahrt werden. Allem Anschein nach sind vor fünfhundert oder sechshundert Jahren sehr seltsame Dinge aufgezeichnet worden. Damals müssen die Bewohner von Redforde droben auf dem Cranston Hill, wo die Drohenden Steine sind, sonderbare Zusammenkünfte abgehalten haben. Ihr Bruder war überzeugt, daß diese Zusammenkünfte etwas mit Schwarzer Magie zu tun hatten und daß in gewissen Nächten dem Teufel gehuldigt und ihm Opfer gebracht wurden. Menschenopfer auf einem geschnitzten Steinaltar, der zwischen den Felssäulen stand. Jetzt ist er natürlich nicht mehr da, und niemand im Dorf kann sich an einen solchen Altar erinnern, aber in den Chroniken steht davon geschrieben." „Aha." Terry fuhr sich nachdenklich mit der Hand über den Nacken. „Wissen Sie", fuhr der Sergeant fort, „meiner Meinung nach ist Ihr Bruder noch viel weiter gegangen, und daher die Tragödie. Er schien davon überzeugt zu sein, daß alles Böse, das in unseren Tagen Gestalt annimmt, noch aus der Zeit von damals stammt.
Ich habe nie ganz begriffen, was er damit gemeint hat, und habe immer wieder versucht, ihn zum Reden zu bringen, aber er hat eben auch Worte benutzt, die ich nicht verstanden habe. Einmal hat er gesagt, er halte es für möglich, daß bestimmte Menschen in Redforde noch in Verbindung stehen mit den teuflischen Dorfbewohnern des Mittelalters, und daß damit eine Macht existiert, die von denen, die ursprünglich damit zu tun hatten, unabhängig ist." Der Sergeant sah Terry an, als sei auf seinem Gesicht endlich die Erklärung für das Unerklärliche geschrieben. „Wissen Sie, was er damit gemeint hat?" fragte er, als Terry schweig. „Ich glaube schon", sagte Terry Amberley. „Er war offensichtlich überzeugt davon, daß zwischen den Menschen, die damals dem Teufel gedient und ihm Opfer gebracht haben, und den Menschen, die heute in Redforde leben, eine Art spiritistisches Bindeglied besteht." „Das kommt mir aber recht unwahrscheinlich vor, finden Sie nicht auch?" „Ich weiß nicht, ob das wirklich so unwahrscheinlich ist. Wie dem auch sei, ich bin aus einem ganz anderen Grund zu Ihnen gekommen, Sergeant Willingham. Ich wollte Sie fragen, ob ich einen Schlüssel zum Haus meines Bruder haben kann. Wie man mir sagte, wurde es vor dem Ermittlungsverfahren abgeschlossen." „Ja, das stimmt." Der Sergeant stand auf und ging zu einem Schrank. „Wir hielten es für das beste, das Haus bis zu Ihrer Ankunft abzuschließen. Sie wissen ja selbst, wie die Leute sind. Je gruseliger etwas ist, desto mehr Neugierde legen sie an den Tag und glauben auch oft noch, Souvenirs mitgehen lassen zu müssen. Vielleicht befinden sich ja auch Wertsachen im Haus Ihres Bruders." Er kam zurück und gab Terry einen Schlüsselbund. Dann zog er ein Wachstuchheft aus der Schreibtischschublade und hüstelte verlegen. „Wenn Sie mir bitte durch Ihre Unterschrift bestätigen würden, Sir, daß ich Ihnen die Schlüssel ausgehändigt habe. Ordnung muß eben sein. Nichts als eine Formalität, aber mein Chef besteht darauf." „Aber selbstverständlich", sagte Terry. „Das versteht sich von
selbst." Nachdem er unterschrieben hatte, bedankte er sich und ging. Alte Legenden und Chroniken, Menschenopfer auf dem Cranston Hill, ein geschnitzter Steinaltar... obwohl er inzwischen eine Ahnung von dem hatte, was das ganze Interesse seines Bruders in Anspruch genommen hatte, hatte er nichts Konkretes in der Hand, das den plötzlichen Tod Malcolms erklären konnte. Seine Gedanken überstürzten sich, als er durch das schmale Gartentor aus Weidengeflecht über den gepflegten Rasen auf das kleine, hübsche Haus zuging, in dem Angela Cowdrey wohnte. Er zog an der Glocke und wartete. Das gesunde, alltägliche Geräusch eines Traktors drang an sein Ohr. Das Dorf ging der gewohnten Arbeit nach. Die Ereignisse des Vortages waren vergessen oder wenigstens in den Hintergrund gedrängt, wo sie nicht stören konnten. Angela machte die Tür auf, starrte Terry zunächst fassungslos an, dann strahlte sie. „Terry! Komm rein." Sie führte ihn in das kleine, gemütliche Wohnzimmer. Auf dem Tisch stand ein großer Strauß mit den letzten Rosen aus dem Garten, die sie gerade noch vor dem ersten Frost geschnitten hatte. „Mein Vater ist im Moment nicht da", sagte sie, „aber er muß jeden Moment zurückkommen... Ist das nicht schrecklich, Terry? Ich bin fassungslos. Am Tag zuvor war Malcolm noch so glücklich und aufgeregt, weil er etwas Wichtiges entdeckt hatte." „Dann glaubst du also auch nicht, Angela, daß er sich das Leben genommen hat?" Sie schüttelte den Kopf und kämpfte mit den Tränen. „Nein. Aber was will man machen, wenn die Beweise angeblich erdrückend sind? Man hat natürlich alles in Betracht gezogen. Seine schnell wechselnden Gemütszustände, eben noch deprimiert und dann wieder, ohne Übergang, ausgelassen, fröhlich und positiv eingestellt. Manchmal war Malcolm so sonderbar, daß ich Angst vor ihm hatte." Das Mädchen schauderte zusammen, obwohl es in dem kleinen Wohnzimmer angenehm warm war. „Ich habe mit Sergeant Willingham gesprochen", sagte Terry. „Er hat mir ein wenig von Malcolms Arbeit erzählt, aber ich muß zugeben, daß ich nur die Hälfte begriffen habe. Er kann doch nicht so verbohrt gewesen sein, daß er an diesen Unsinn von He-
xenkult und Teufelsbeschwörung auf dem Cranston Hill geglaubt hat, oder?" Angela runzelte die Stirn. „Doch, Terry. Er hat daran geglaubt. Er war felsenfest davon überzeugt, daß die Chronik nicht lügt. Du sagst verbohrt, Terry, und genau das war Malcolm: verbohrt. Wenn er von seinen Untersuchungen erzählt hat, dann mit einer solchen Überzeugung, daß man es auch geglaubt hat. Während der letzten Monate war ich von einem derart starken Gefühl der Angst besessen, daß ich das Böse ständig in meiner Nähe glaubte. Ich weiß, daß Malcolm dasselbe Gefühl hatte und obendrein noch spürte, wie das Grauenvolle immer gigantischer zu werden schien." „Und du glaubst, daß es etwas mit seinem Tod zu tun hat?" „Ich bin mir nicht sicher. Ich war bei dem Verfahren dabei. Als Zeugin. Sonst wäre ich nicht hingegangen." „Und das Urteil? Bist du derselben Meinung wie der Ermittlungsrichter?" Angela biß sich auf die Unterlippe. „Unter den gegebenen Umständen", sagte sie zögernd, „konnte der Richter zu keinem anderen Urteil kommen." „Und trotzdem bist du überzeugt davon, daß es falsch ist." Das Mädchen nickte. „Seit Malcolm angefangen hat, sich in die alten Chroniken zu vertiefen, sind so viele unerklärliche Dinge passiert, Terry." Sie packte ihn plötzlich am Arm und verkrallte sich fast im Ärmel seines Jacketts. „Ich habe Angst, Terry. Manchmal habe ich gedacht, ich verliere den Verstand." Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. „Ich habe Dinge gesehen, Terry, du kannst es dir nicht vorstellen! So etwas von grauenhaft! Ich habe noch nie gewagt, mit jemand darüber zu sprechen. Man würde mir nicht ein einziges Wort glauben." „Kannst du es nicht mir anvertrauen, Angela? Es ist nicht gut, alles in sich hineinzufressen." „Du würdest mir auch nicht glauben, Terry", murmelte sie, aber seine Worte hatten ihr offensichtlich gutgetan. „Ich werde es versuchen, Angela." „Vielleicht hast du recht. Ich muß mit jemand darüber sprechen." Wie um sich Mut zu machen, holte sie tief Luft. „Es ist ungefähr acht Wochen her. Malcolm war außer sich vor Freude, weil er - wie er glaubte - sehr wichtige Aufzeichnungen gefunden hat-
te und es ihm gelungen war, sie zu übersetzen. Er war überzeugt davon, daß im frühen Mittelalter die Kultversammlungen auf dem Cranston Hill in der Nacht zum ersten Mai und in der Nacht vor Allerheiligen abgehalten wurden. Er hatte beschlossen, die Nacht vor Allerheiligen oben auf dem Hügel bei den Drohenden Steinen zu verbringen, und hat mich gebeten, mitzukommen, weil er einen unparteiischen Zeugen haben wollte - nur für den Fall, daß tatsächlich etwas passieren sollte. Es war total verrückt, ich weiß es, aber ich dachte, daß er sich in einem so erregten Zustand befand, daß er in der Lage war, sich die irrsten Dinge einzubilden." „Also bist du mitgegangen?" Sie nickte. Ihr Gesicht bewölkte sich immer mehr, in ihren Augen lag das Entsetzen der Erinnerung. „Ich bin mitgegangen, weil ich ihm den Gefallen nicht abschlagen wollte. Die Nacht war klar. Der Mond stand am Himmel, ein eisiger Wind ließ einem die Glieder erstarren. Seltsamerweise war ich gar nicht auf die Idee gekommen, daß tatsächlich etwas passieren könnte. Ich betone das, damit du nicht denkst, ich wäre innerlich irgendwie darauf vorbereitet gewesen, das Fürchten zu lernen - wie es in dem Märchen heißt. Eine halbe Stunde vor Mitternacht waren wir auf Cranston Hill und setzten uns neben einen der Drohenden Steine. Ich weiß nicht, Terry, ob du schon einmal da oben gewesen bist. Bei Nacht, jedenfalls, und noch dazu, wenn der Mond scheint, ist es wirklich unheimlich. Malcolm hatte eine kleine Kamera und ein Tonbandgerät mitgenommen. Nachdem beides aufgestellt war, saßen wir einfach da und warteten." Angela legte wie jemand, der friert, beide Hände auf die Schultern. Ihre Stimme wurde immer leiser. „Es muß kurz vor Mitternacht gewesen sein", fuhr sie fort, „als wir etwas hörten. Ich kann es nicht genau beschreiben. Es war wie eine Vibration in der Luft, als ob Stimmen aus weiter Ferne hergetragen würden, entstellt und von dem Geläut einer großen Glocke übertönt, die aber auch kaum hörbar war. Ich hatte das Gefühl, daß nicht nur meine Ohren die Vibration aufnahmen, sondern sie in jede Pore meines Körpers eindrangen. Malcolm hatte gerade das Tonbandgerät angestellt und wollte zur Kamera gehen, die auf einem Stativ stand, als das Stativ wie von einer riesigen, unsichtbaren Hand geschleudert durch die Luft flog. Und im
selben Augenblick legte sich etwas Furchtbares über uns. Ich kann es nicht beschreiben, es gibt einfach keine Wort dafür. Ich weiß nur, daß es das Böse schlechthin war und überwältigende Macht und Kraft besaß." „Nichts Greifbares?" fragte Terry dazwischen. „Kannst du nicht einmal sagen, woher es gekommen ist?" „Nein. Ich hatte das Gefühl, daß es sich von oben auf uns senkte und uns einfach verschluckte. Malcolm hat es auch gespürt, aber er war meiner Meinung nach darauf vorbereitet. Er hatte es vielleicht sogar erwartet. Aber das war ja noch gar nicht das Schlimmste. Das sollte erst noch kommen." Angelas Stimme, nur noch ein Flüstern, wurde wieder stärker. „Ich glaube, es fing mit einer Art Nebelbildung zwischen den Steinen an, aber es war kein normaler Nebel. Er drehte und wand sich, bis er sich zu Gestalten geformt hatte." „Was für Gestalten?" fragte Terry. Erst am Tag zuvor hatte er eine ähnliche Erscheinung gesehen: Nebelschwaden, die sich zu einer menschenähnlichen Gestalt zusammengezogen hatten. „Was für Gestalten?" wiederholte Angela nachdenklich. „Einige sahen aus wie Männer und Frauen, die in sonderbar gebückter Haltung zwischen den Drohenden Steinen hin- und herzustreichen schienen. Aber da waren noch andere..." „Andere?" Amberley spürte, wie sich alles in ihm Zusammenkrampfte. Das Mädchen zitterte wie Espenlaub. „Gestalten", fuhr sie fort, „die nichts Menschliches mehr an sich hatten. Nicht einmal annähernd. Ich wurde ohnmächtig und muß wohl eine ganze Zeit besinnungslos gewesen sein, denn meine Erinnerung setzt erst wieder ein, als mich Malcolm den Hügel hinunterführte. Er versuchte mich zu beruhigen und sagte, wir hätten uns alles nur eingebildet, aber ich weiß, daß das nicht stimmt. Ganz gleich, was ich da oben gesehen und erlebt habe, es war keine Einbildung, sondern grausame Wirklichkeit." Also wohnte das Böse doch in diesem ruhigen, fast verschlafenen Dörfchen in Mittelengland. Es gab hier etwas, dem Terry Amberleys Bruder auf der Spur gewesen war, und das zweifellos seinen Tod herbeigeführt hatte. In diesem Augenblick wußte Terry mit Gewißheit, daß er Redforde nicht eher verlassen würde, bis er dem Geheimnis auf den
Grund gegangen war. Abrupt änderte er das Thema. „Ich habe dich vergangene Nacht in Malcolms Haus gehen sehen, Angela", sagte er. „Ich wußte gar nicht, daß du einen Schlüssel hast." „Natürlich habe ich einen Schlüssel. Ich habe Malcolm doch viel geholfen bei seiner Arbeit. Ich habe alles für ihn getippt und katalogisiert. Es ist schon eine ganze Zeit her, daß er mir einen Schlüssel gegeben hat." Sie stand auf, holte ihn und gab ihn Terry. „Ich war gestern nacht in seinem Haus, weil ich etwas zu finden hoffte, das Licht in diese dunkle Affäre bringt." „Und hast du etwas gefunden?" „Nein. Ich habe gedacht, daß vielleicht die Kamera da ist. Oder das Tonbandgerät. Damit hätte ich wenigstens den Beweis gehabt, daß tatsächlich etwas war in jener Nacht." „Das beste wird sein, wenn ich mich möglichst schnell daran mache, Malcolms Haus zu durchsuchen", sagte Terry und lächelte. „Deshalb habe ich mir von Sergeant Willingham die Schlüssel geben lassen. Ich nehme an, du möchtest nicht mitkommen, oder? Du kennst das Haus allerdings besser als ich..." „Wenn ich dir helfen kann, komme ich natürlich mit, Terry. Ich schreibe nur noch schnell einen Zettel für meinen Vater, damit er sich nicht unnötig Sorgen macht. Malcolms Tod hat auch ihn schwer getroffen. Er hatte deinen Bruder sehr gern." Das hohl klingende Echo ihrer Schritte in der langgezogenen, staubigen Diele echote von Wand zu Wand. Der abgestandene Geruch des unbewohnten Hauses drang ihm in die Nase, als sie die Bibliothek betraten. „Hier hat Malcolm immer gearbeitet", sagte das Mädchen. „Hier hatte ich etwas zu finden gehofft, aber es war nichts Ungewöhnliches da." „Vier Augen sehen oft mehr als zwei", sagte Terry. Langsam und systematisch arbeitete er sich durch die langen Bücherreihen. Manche Bände waren uralt. Unbezahlbare Erstausgaben, manche so zerlesen und vergilbt, daß man kaum in ihnen zu blättern wagte. Nach kurzer Zeit schon hatte Terry einen ziemlich genauen Ein-
blick in die Recherchen, die Malcolm in den letzten Jahren an Redforde gebunden hatten. Ohne es selbst zu merken, seufzte Terry plötzlich tief auf. „Hast du etwas gefunden?" fragte Angela sofort und sah auf das Buch in seiner Hand herunter. „Damit hätte ich im Leben nicht gerechnet", sagte Terry. „Soviel ich weiß, ist die zweite Ausgabe davon unter Verschluß in einem speziellen Raum im British Museum." „Das Daemonomicon", sagte das Mädchen. „Was heißt das? Ich sehe das Buch zum erstenmal." „Es wundert mich nicht, daß Malcolm es nicht öffentlich zur Schau gestellt hat", sagte Terry. „Ich habe bisher immer nur davon gehört, hätte mir aber nicht im Traum einfallen lassen, je eine Ausgabe davon in der Hand zu halten." Es lief ihm kalt den Rücken hinunter, als er durch die vergilbten Seiten blätterte und das Buchzeichen entdeckte. Terry ging mit dem Band zum Fenster, hielt ihn ans Licht und las den Absatz, der angestrichen war: „Das Land im Norden des Dorfes Redforde ist seit langem als verflucht bekannt. Auf dem Cranston Hill, am Rande der Ortschaft, sollen satanische Zusammenkünfte stattgefunden haben, die jene in der Abtei Thurnley und im High Tor in Devon bei weitem übertreffen. Die Drohenden Steine, eine prähistorische Naturerscheinung, haben vor allem im späten 13. Jahrhundert die Szenerie für Geisterbeschwörungen und Hexerei geliefert. Die Legenden, die sich an diese teuflischen Aktivitäten und vor allem auch an die Familie de Grinley, die Lehnsherren Redfordes, knüpfen, setzten sich durch vier Jahrhunderte fort, in denen Hexenverbrennungen an der Tagesordnung waren. Einmal sollen mindestens dreißig Männer und Frauen, die ihre Seele dem Teufel verschrieben hatten, zwischen den Drohenden Steinen auf dem Cranston Hill verbrannt worden sein. Der letzte große Hexenmeister war Richard de Grinley. Er wurde 1642 geboren. Über seinen Tod ist nichts bekannt. Die Legenden in Zusammenhang mit Richard de Grinley sind zahlreich und glaubwürdig überliefert. Er soll in der Lage gewesen sein, das Böse zu entfesseln und die Toten auferstehen zu lassen. Er hat die Prophezeiung ausgesprochen, unsterblich zu sein, solange der Altar von Belial im Dorf sei." „Was kann denn das alles bedeuten?" fragte Angela mit erstick-
ter Stimme. „Jahrhundertelange Unsterblichkeit, das ist doch nicht möglich." „Ist es auch nicht", sagte Terry. „Das ist eben eine von den Legenden, von denen Redforde voll ist. Trotzdem heißt das noch lange nicht, daß das Böse inzwischen gebannt ist. Es kann in vielerlei Formen existieren, ist aber immer an etwas gebunden, worin es sich äußern kann." „Es verhält sich ungefähr so wie der Magnetismus. Um ein magnetisches Feld aufzubauen, braucht man zwei Pole. Und hat man das magnetische Feld, kann man es nicht sehen, man kann nur seine Auswirkungen spüren. Eine böse Macht verhält sich genauso. Zwei Pole sind nötig, um sie zu entfesseln, und wenn sie entfesselt ist, dann ist das Phänomen grauenvoll, aber weder sichtbar noch erklärlich." „Wie furchtbar." Sie schauderte zusammen und wandte sich ab. „Ich habe noch nie von den de Grinleys gehört. Sie müssen damals die Besitzer des Herrschaftshauses gewesen sein. Vielleicht weiß Lady Parrish etwas über die Familie." „Wir können sie ja fragen. Aber erst möchte ich mich hier noch genauer umsehen. Wenn Malcolm eine Kamera und ein Tonbandgerät in jener Nacht dabeigehabt hat, dann hat er - wie ich ihn kenne -den Film sofort entwickelt und das Band abgespielt. Daß er so wertvolles Beweismaterial zerstört hat, halte ich für höchst unwahrscheinlich, also muß es hier irgendwo sein." Eine genaue Durchsuchung der Bibliothek brachte keinen Anhaltspunkt. Bücher über Bücher, erschreckende und furchterregende Titel, aber Terry nahm sich nicht die Zeit, sich hineinzuvertiefen. Im Moment war er daran interessiert, handfestere Beweise zu finden. Er mußte sich über die Vorgänge in Redforde und seiner Umgebung Gewißheit verschaffen. In der Küche wie auch in den meisten der anderen Räume fand sich nichts Bemerkenswertes. Schließlich erreichten sie ein großes Zimmer im rückwärtigen Teil des Hauses. Es machte einen viel bewohnteren Eindruck, und Terry Amberley sah sich neugierig um, bis er die Tür in der gegenüberliegenden Wand entdeckte und sie zu öffnen versuchte. Sie war abgeschlossen. „Weißt du, was hinter dieser Tür ist, Angela?" fragte er das Mädchen. Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, es ist auch ein Arbeits-
zimmer, aber ich bin mir nicht sicher." Beim vierten Versuch paßte der Schlüssel und ließ sich im Schloß drehen. Terry stieß die Tür auf, betrat den dunklen Raum und tastete nach dem Lichtschalter. Als er ihn betätigt hatte, sah er sich um: eine voll ausgerüstete Dunkelkammer mit Vergrößerer, Projektor und einer kleinen Leinwand. Neben der Tür ein Metallschränkchen mit vielen schmalen Schubladen. Schon in der obersten lauter kleine, beschriftete Pappschachteln mit Filmrollen. „Vielleicht haben wir hier den Beweis", sagte Terry aufgeregt. Er las die Aufkleber auf den Schachteln. Glücklicherweise war Malcolm ein sehr ordentlicher Mensch gewesen und hatte ausführliche Erklärungen auf die Schachteln geschrieben, so daß Terry mühelos aussortieren und sich das heraussuchen konnte, was ihn interessierte. Drei Filme waren es schließlich, die er aus der Schublade nahm. „Bitte such eine Steckdose und stell den Projektor an", sagte er zu dem Mädchen, das immer noch wie versteinert neben der Tür stand und ihn beobachtete. Gehorsam wie ein Schulmädchen bückte sie sich nach der Schnur und steckte den Stecker in einen Kontakt neben der Tür. Sofort erhellte der grelle Lichtstrahl die Leinwand. Innerhalb weniger Sekunden war der Film eingespannt. Terry schaltete die Deckenbeleuchtung aus und ließ den ersten Film durch den Projektor laufen. Der Streifen war offensichtlich bei hellem Tageslicht auf dem Cranston Hill aufgenommen worden: ein langsamer Schwenk über die Steinsäulen, die sich unheimlich aus dem nackten Boden in den Himmel erhoben, wobei sie eine Art Rund umstanden, in dem kein einziger Grashalm wuchs. „Dort muß im dreizehnten Jahrhundert der Altar gewesen sein", sagte Terry. „Ich möchte bloß wissen, wann er weggeschafft wurde - und warum." „Und vor allem wohin", setzte Angela hinzu. Während Terry auf die Leinwand starrte und im Raum nur das Surren des Projektors zu hören war, spürte er plötzlich eine drohende Gefahr. Es war ihm, als stehe er allein auf dem einsamen Hügel und fühle sich von den Steinsäulen eingeengt. Abrupt änderte sich das Bild. Die Kamera war offensichtlich nach unten ge-
richtet worden, der Boden wurde abgefilmt. Malcolm mußte also plötzlich etwas gesehen haben, das seine Aufmerksamkeit erregte. Terry hatte das Gefühl, als zuckten elektrische Stöße durch sein Gehirn. Einen kurzen Moment war das Bild verschwommen, dann wurde es wieder völlig klar, und man konnte in dem feuchten Boden ganz deutlich Fußspuren erkennen. Terry wollte seinen Augen nicht trauen. Das Herz schlug ihm bis in den Hals. Die Spuren von nackten Füßen, es bestand nicht der geringste Zweifel! Menschenfüße - und dann... Angela stieß einen kurzen Schrei aus. Auch sie also hatte die Abdrücke gesehen, die nichts mehr mit dem Fuß eines Menschen gemein hatten. Stammten sie von einem Tier, das dort oben hatte geopfert werden sollen? Ehe Terry einen Gedanken fassen konnte, war der Film zu Ende, und der lose Streifen flatterte über die Rolle. Terry hätte sich am liebsten übergeben und hätte sich wohl auch nicht beherrschen können, wenn Angela nicht neben ihn getreten wäre und ihm eine Hand auf den Arm gelegt hätte. „Hast du diese seltsamen Spuren auf dem Boden gesehen?" fragte sie mit heiserer Stimme. „Irgendein Tier", sagte er mit gewollt gleichgültiger Stimme, doch Angela spürte seine Aufregung. „Auf dem Film ist kein Datum, aber ich zweifle nicht daran, daß Malcolm ihn aufgenommen hat, womit bewiesen ist, daß auch noch heute auf dem Cranston Hill Opfer dargebracht werden. Die Abdrücke können, wie er sie gefilmt hat, nicht älter gewesen sein als vierundzwanzig Stunden. Beim nächsten Regenschauer sind sie bestimmt weggewaschen worden." Terry legte den Film in die Schachtel und ließ den zweiten ablaufen. Er zeigte ungefähr dasselbe Panorama, wobei die Kamera immer wieder auf die Kirche zuschwenkte. Zwei Einstellungen aus ihrem dunklen Innern, in dem man kaum Details erkennen konnte. „Wenig interessant", sagte Terry, als er den Film aus dem Projektor nahm und den letzten einspannte, dessen Schachtel nicht beschriftet war.
Das Gefühl, daß sich noch eine dritte Person im Zimmer befand, war inzwischen so stark, daß Terry über seine Schulter blickte. Die nervöse und bedrohliche Spannung, die in der Luft hing, war unerträglich. Wie um sich abzulenken, drückte Terry auf den Knopf und ließ den letzten Film ablaufen. Die Leinwand blieb fast völlig dunkel, und Terry spürte, wie sich Angelas Finger in seinen Arm bohrten. „Das ist der Film, Terry", flüsterte sie. Terry Amberley hielt die Luft an. Das Licht reichte kaum aus, aber die Steinsäulen waren gerade noch zu erkennen. „Paß gut auf", sagte das Mädchen, und Terry spürte, wie sie neben ihm erstarrte. Anfangs nur die Drohenden Steine. Dann krampfte sich plötzlich ohne Vorwarnung sein Magen zusammen, und der kalte Schweiß lief ihm über den Rücken. Irgend etwas, entstellt und verzerrt, als sei die Kamera schlecht eingestellt, erschien auf der Leinwand. Terry kniff die Augen zusammen, und es dauerte einen Moment, bis er begriff, daß an der Einstellung nichts falsch war, sondern daß er etwas Menschliches hatte sehen wollen, wo Menschliches nicht mehr zu finden war. Wieder stülpte sich ihm der Magen um. Er spürte einen trockenen, bitteren Geschmack im Mund. Was für teuflische Gestalten hatte hier die Kamera auf dem ahnungslosen Film festgehalten? Es war wie eine Szene aus Dantes Hölle. Terry sträubten sich die Haare. Die abscheulichen Erscheinungen waren so furchterregend, daß ihn schieres Entsetzen überkam und er an ihre Echtheit einfach nicht mehr glauben wollte. Wenn diese Schreckensgestalten nicht nur auf die Leinwand gebannt gewesen wären, hätte er das Bewußtsein verloren. Er erinnerte sich an Angelas Worte. Nebelgestalten. Es stimmte zwar, klang aber viel zu harmlos für das, was er hier sehen mußte. Als der Film abgelaufen war und nur noch das grelle Licht der Birne die Leinwand erhellte, mußte sich Terry zwingen, zu reagieren. Er atmete schwer und rasselnd. Angela, neben ihm, war vom selben Entsetzen gezeichnet wie er. Terry fuhr sich über die feuchte Stirn, stellte den Projektor ab, ging wie mechanisch zur Tür und knipste die Deckenbeleuchtung an.
„Glaubst du mir jetzt?" fragte Angela leise. Sie hatte beide Hände vor das Gesicht geschlagen, ihre Augen waren dahinter weit aufgerissen, die Pupillen unnatürlich vergrößert. „Wenn wir den Film der Polizei zeigen, muß man uns glauben." „Nein, das können wir nicht tun." Terry schüttelte den Kopf. „Der Film würde überhaupt nichts beweisen." „Aber..." „Man würde behaupten, es seien Trickaufnahmen. Malcolm war ein ausgezeichneter Fotograf, und es stimmt nicht, daß die Kamera nie lügt. Nein, wir brauchen mehr und bessere Beweise, bevor wir uns an die Polizei wenden können." „Aber was für Beweise?" „Das weiß ich im Moment selbst noch nicht. Ich brauche Zeit zum Überlegen. Aber von etwas bin ich überzeugt: im Dorf gibt es jemand, der viel mehr über dieses gräßliche Treiben weiß als du und ich zusammen. Wahrscheinlich auch viel mehr, als Malcolm gewußt hat." „Wieso bist du dir da so sicher?" „Weil das Böse, wie ich dir vorhin erklärt habe, nur existieren kann, wenn es von einem Gegenpol angezogen und auf den Punkt konzentriert werden kann, an dem es seinen Schaden anrichten soll. Vielleicht sind wir schon zu spät dran. Vielleicht wird die entsprechende Person oder das entsprechende Objekt schon nicht mehr gebraucht. Wenn das der Fall ist, dann kann uns nur noch Gott helfen." Sie sperrten das Haus wieder ab und gingen Arm in Arm über den schmalen Pfad. Erst als sie das Gebäude nicht mehr sehen konnten, waren sie in der Lage, wieder normal zu atmen und normal zu denken. Sie waren schon längst auf der Main Street, als Angela wieder sprechen konnte. „Das war doch alles echt, oder?" fragte sie. „Ich meine, wir haben es tatsächlich auf dem Film gesehen, nicht wahr?" „Ja", sagte Terry. „Wir haben es tatsächlich gesehen." 3. Zwei Meilen außerhalb von Redforde drängten sich die Hügel näher an die Landstraße. Ihre flachen Buckel hatten etwas Finsteres, und Terry Amberley, in der Stille nur vom Klang seiner
Schritte begleitet, spürte schon wieder, wie ein Schaudern durch seinen Körper lief. Vor zehn Minuten hatte er die Landstraße verlassen und ging jetzt auf den Cranston Hill zu, der etwas höher war als die anderen Erhebungen. Angela hatte mitkommen wollen, aber er hatte es nicht zugelassen. Nach dem, was sie beide am Tag zuvor in Malcolms Dunkelkammer erlebt hatten, hatte er das Mädchen nicht bei sich haben wollen. Die Landschaft um ihn herum war alles andere als ungenehm. Tödliche Stille lag über den abgeernteten Feldern. Selbst die Hecken, die die Äcker einsäumten, und die vereinzelten Baumgruppen wirkten leblos. Kein Vogel auf den knorrigen, krummen Ästen, nicht eine Maus, kein Insekt - nichts. Das wenige, was hier wuchs, sah auf sonderbare Weise verkrümmt und entstellt aus. Es war, als ob die Natur beschlossen hätte, sich selbst auszurotten. Der Pfad führte durch eine Art Hohlweg. Die Zweige des Buschwerks zu beiden Seiten trafen sich über Terrys Kopf und bildeten ein häßliches, braunschwärzliches Geflecht, das das Licht der blassen Wintersonne kaum mehr durchließ. Die Luft in dem Hohlweg war schwer von Feuchtigkeit und Fäulnis. Vor Jahrhunderten war die Angst auf dem Cranston Hill zu Hause gewesen, und sie war es heute noch, wenn Malcolms Film nicht log. Vielleicht war alles nur durch Überlieferung von Generation zu Generation entstanden. Und durch die Chroniken, die auf schaurige Weise von den Greueltaten auf dem Hügel sprachen. War daraus schließlich ein Mythos entstanden, der für diese einfach denkenden, aber hochgradig abergläubischen Menschen eine nackte Wirklichkeit darstellte? Eine Wirklichkeit, die verheerend sein konnte? Terry mußte mehr über die de Grinleys in Erfahrung bringen. Er war überzeugt davon, daß in dieser Familie der Schlüssel zu dem Geheimnis lag. Als er aus dem Hohlweg kam, holte er tief Luft. Der Pfad wurde so schmal, daß er nur noch wie ein Kratzer in der Landschaft aussah. Am Fuß des Hügels war das Gras braun und sah aus, als sei es von zahllosen Jahrhunderten zertrampelt. Wenige Minuten später erreichte Terry Amberley den Rand der
Nebelhaube, die auf dem Hügel lag. Die Sonne verlor ihre letzte Spur von Wärme, und klamme Feuchtigkeit legte sich um ihn wie ein Parasit. Er zog den Mantel enger um seinen Körper und stellte den Kragen auf. Die Sonne drang nur noch ab und zu durch einen Riß im Nebel. Wie Malcolm und Angela den Mut aufgebracht hatten, in finsterer Nacht auf diesen gottverlassenen Hügel zu steigen, war Terry Amberley ein Rätsel. War es doch im hellen Tageslicht schon schlimm genug. Mußte er sich doch bei jedem Schritt zwingen, nicht plötzlich kehrtzumachen und den Hang hinunterzuflüchten. Keuchend erreichte er endlich die abgeflachte Kuppe des Hügels. Lange stand er reglos da und sah um sich. Der Nebel war so dicht, daß die gespenstisch aussehenden Steinsäulen nur ab und zu herausragten und dann einen seltsam schwebenden Eindruck machten. Terry Amberley machte ein paar vorsichtige Schritte. Das geisterhaft Unheimliche dieses Ortes war nicht nur eine Folge der absoluten Stille und des Nebels. Wenn auch nur ein Quentchen Wahrheit in den alten Legenden steckte, dann hatten diese bösen Menschen den idealen Ort für ihre teuflischen Zusammenkünfte gefunden. Terry ging um das Rund herum und stellte plötzlich fest, daß die Drohenden Steine nicht nur von Wind und Wetter zerfressen waren, sondern unzählige Inschriften trugen. Terrys Kenntnis alter Schriften reichte nicht aus, um das Geschriebene zu entziffern, er glaubte aber zu erkennen, daß manche Zeichen aus prä Keltischen Epochen stammen mußten. Hier in diesem Rund hatte Ralph Treherne den toten Freund, Terrys Bruder, gefunden. Hier hatte er ihn mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen sehen, hatte ihn umgedreht, ahnungslos und überzeugt davon, daß der Freund nur die Besinnung verloren hatte. Und dann das Messer, bis zum Heft in die Brust getrieben... Die Antwort auf all diese Rätsel mußte hier irgendwo sein. Terry suchte den kargen, steinigen Boden zentimeterweise ab und hatte schon nach wenigen Sekunden die erdige Stelle entdeckt. Sie war ungefähr drei Meter lang und vielleicht einen Meter breit. Terry kniete sich daneben auf den Boden. Auch hier wuchs kein Grashalm. Terry ließ die flache Hand über die Stelle gleiten. Grauer Staub.
Die Stimmung war so bedrückend, daß man sich einbilden konnte, die Luft über den Steinen sei ein Mosaik aus Angst und Panik. Terry sah sich nach allen Seiten um: niemand. Er hielt die Luft an: nichts. Nicht einmal die Spur eines Geräusches. Hier also mußte der Steinaltar gestanden haben. Beim Gedanken an all die hilflosen Opfer, die hier abgeschlachtet worden waren, um den alten Göttern Regen, gute Ernten, Sieg über den Feind oder was auch immer zu entlocken, schauderte Terry zusammen. Sieg über den Feind - dabei lag der mächtigste Feind im Menschen selbst. Das blutige Opfer einer Jungfrau und einen Tag später wolkenbruchartiger Regen. Nur Aberglaube? Rituelle Tänze und Gebetsgeschrei zwischen den Drohenden Steinen, und das Vieh der Feinde wurde von einer Seuche befallen und siechte dahin. Wieder nur Aberglaube? Ein junger Mann, tief in die alten Legenden verbohrt, kam bei Nacht und Nebel zu diesem grauenvollen Ort und wurde am nächsten Morgen tot aufgefunden. Aberglaube? War es nicht vielleicht eine viel tödlichere und viel grausamere Kraft, die hinter allem steckte? Etwas, das lebte und über Jahrhunderte hinweg all jenen das Blut aus den Adern gesogen hatte, die es genährt hatte? Terry stand auf und wollte den unheimlichen Ort verlassen, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Langsam ging er darauf zu und bückte sich: ein Loch im Boden, als sei dieser an der Stelle eingebrochen. Vorsichtig steckte Terry die Hand hinein und tastete mit den Fingern. Das Loch war tiefer, als er geglaubt hatte. Er mußte sich schließlich flach auf den Boden legen und den Arm bis zur Schulter hineinstecken, bis seine ausgestreckten Finger einen kalten, harten Gegenstand spürten. Mit einigem Geschick gelang es ihm, den Gegenstand zu packen und aus dem Loch zu ziehen. Trotz der dicken Kruste aus Staub und vertrocknetem Lehm wußte Terry sofort, daß er ein Stück Metall in der Hand hielt. Er hockte sich auf die Fersen, zog sein Taschentuch heraus und machte sich daran, den Fund von der Schmutzhülle zu befreien. Als sichtbar wurde, was er da aus dem Loch geholt hatte, überkam ihn fast körperlicher Ekel. Die schmale Schneide war geschwungen, auf dem Griff standen Schnitzereien, die den Inschriften auf den Drohenden Steinen glichen.
„Mr. Amberley?" Terry fuhr hoch und drehte sich um. Bei dem plötzlichen Anruf aus der Stille wäre ihm fast das Herz stehengeblieben. In seinem Entsetzen brauchte er einen Moment, bis er den Mann vor sich erkannte. Es war der Vikar James Ventor, der ihn mit seltsam fragendem Gesichtsausdruck anstarrte. „Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe", sagte der Geistliche. „Sie waren so mit sich beschäftigt, daß Sie mich nicht gehört haben. Dazu kommt natürlich der Nebel, der alle Geräusche verschluckt." Er entdeckte das Messer in Terrys Hand, und sein neugieriger Ausdruck machte einen Moment lang einem Ausdruck nackter Angst Platz, der aber so schnell wieder verschwand, wie er gekommen war. „Ich muß zugeben, daß ich erstaunt bin, Sie hier oben zu treffen, Vikar", sagte Terry. „An diesem Ort hätte ich alles erwartet, aber gewiß keinen Mann der Kirche." „Weil es ein heidnischer Ort ist?" Der Vikar zog eine Pfeife aus der Tasche und stopfte sie. „Um ehrlich zu sein, ich bin hier heraufgekommen, weil ich Sie zu treffen hoffte. Ich habe gesehen, wie Sie das Dorf verließen und diese Richtung einschlugen." Er zündete ein Streichholz an, hielt die Flamme an den Pfeifenkopf und zog so lange, bis sich blauer Rauch in die Höhe kräuselte. „In einer kleinen Gemeinde wie der unseren erfährt der Vikar immer sehr viel. Die Menschen sind überzeugt davon, daß sie ihm all ihre Sorgen anvertrauen können." „Aha." Terry Amberley lächelte schwach. „Demnach macht sich jemand Sorgen oder zumindest Gedanken über mich." „Richtig. Man hat Angst, daß Sie Dinge aufwühlen könnten, die sich nicht mehr kontrollieren lassen, wenn sie einmal geweckt sind." „Damit geben Sie zu, Vikar, daß es Dinge gibt, die darauf warten, aufgewühlt und geweckt zu werden." „Sie sind ein kluger Mann, Mr. Amberley, aber so fangen Sie mich nicht. Ich gebe nichts zu." Er zog genüßlich an seiner Pfeife. „Gegen den Aberglauben anzukämpfen, der in dieser Gegend blüht, ist nicht leicht. Wir sind nicht nur eine kleine Gemeinde, sondern auch eine sehr isolierte Gemeinde, womit für den Aberglauben der ideale Boden geschaffen ist. Sie scheinen ein sehr energischer Mensch zu sein, Mr. Amberley, der sich nicht so
schnell von etwas abbringen läßt. Irgend jemand muß Ihnen die Idee in den Kopf gesetzt haben, daß der bedauerliche Tod Ihres Bruders nicht durch seine eigene Hand und seinen eigenen Willen herbeigeführt wurde." Terry drehte das Messer in der Hand. „War es ein Messer wie dieses?" Der Vikar zögerte. „Es kann ähnlich ausgesehen haben", gab er schließlich zu. „Woher haben Sie es?" „Ich habe es hier aus dem Boden gezogen. Es muß lange Jahre hier begraben gewesen sein." „Schon möglich. Wenn man den alten Aufzeichnungen Glauben schenken will, wurden hier an diesem Ort im Mittelalter orgienartige Zusammenkünfte abgehalten." Der Vikar betrachtete wohl das Messer, schien sich aber zu hüten, es zu berühren. Terry wickelte die Klinge in sein Taschentuch und steckte es vorsichtig ein. Er ging neben dem Vikar her, der etwas auf dem Herzen zu haben schien, aber erst eine Weile brauchte, bis er sich dazu aufraffen konnte. „Wie sehr sind Sie entschlossen herauszufinden, was mit Ihrem Bruder geschehen ist, Mr. Amberley?" fragte er schließlich, nachdem er sich mehrmals geräuspert hatte. „So sehr, daß Sie bereit sind, sich selbst in Gefahr zu begeben?" „In welche Gefahr? In dieselbe, in der mein Bruder umgekommen ist?" „Schon möglich." Der Vikar war plötzlich so ernst, daß Terry sich Gedanken machte. Worauf wollte der Mann hinaus? Oder, was noch wichtiger war, was wußte er von der bizarren Affäre? „Sehen Sie, Amberley", sagte der Vikar, als sie die Landstraße erreicht hatten, „ich bin ein Diener Gottes, aber, um an Gott glauben zu können, muß man auch an den Teufel glauben. O ja", setzte er schnell hinzu, als er den perplexen Ausdruck auf Terrys Gesicht sah, „das Böse ist eine sehr große und sehr wirklichkeitsnahe Macht. Ob sie wirklichkeitsnah genug ist, um die Dinge zu erklären, die im Alten Testament geschrieben stehen, möchte ich dahingestellt sein lassen, denn ich weiß es nicht. Wenn jedoch die Behauptungen in unseren Chroniken auf Tatsachen beruhen, dann existiert das Böse noch unter uns. Es lebt und ist in der Lage, zu zerstören. Auch einen Menschen."
„Darf ich Sie fragen, ob Sie Malcolm ebenfalls auf diese Weise gewarnt haben?" Terrys Ton war härter und schärfer, als er beabsichtigt hatte. Der Vikar blieb stehen und deutete mit seiner Pfeife auf den Hügel mit den Drohenden Steinen. „Malcolm Amberley war ein sehr dickschädliger Mensch. Ungefähr drei Monate vor seinem Tod kam er mit einer geradezu unglaublichen Geschichte zu mir. Er redete von grauenvollen Dingen, die er auf dem Cranston Hill erlebt haben will. Von grotesken Gestalten, die in alptraumhafter Gräßlichkeit zwischen den Steinsäulen Tänze aufgeführt haben sollen. Vielleicht suchte er eine Art Unterstützung bei mir. Oder Hilfe. Wenn ich ihm hätte helfen können, wäre er heute vielleicht noch am Leben." „Dann glauben Sie also auch nicht, daß mein Bruder Selbstmord begangen hat?" „Bitte, Amberley", sagte der Vikar ruhig und klopfte die Pfeife am Absatz seines rechten Schuhs aus, „zwingen Sie mir nicht gewisse Gedanken auf. Wenn mein Bischof unser Gespräch belauschen könnte, wäre er entsetzt. Hexerei mitten im zwanzigsten Jahrhundert! Sie dürfen nicht vergessen, daß ich weder etwas gesehen noch miterlebt habe. Ich weiß nur das, was man mir anvertraut hat und was ich heimlich in diesen verfluchten Schriften gelesen habe." „Wenn ich vielleicht mal diese Schriften studieren könnte..." „Sie sind verschlossen", schnitt der Vikar dem jungen Mann das Wort ab. „Nur unter einer Bedingung lasse ich mich vielleicht breitschlagen, Sie darin herumblättern zu lassen: Sie müssen genau wissen, was Sie tun und was die Folgen sein können." „Natürlich." Terry nickte. Der Nebel war über dem Cranston Hill heruntergerollt, wallte jetzt die Landstraße entlang und verdunkelte das Dorf. Terry mußte an die grauenvollen , Augenblicke auf dem Kirchhof denken, wo Malcolms Sarg in das Grab gelassen worden war und sich die Nebelschwaden unter der Baumgruppe zusammengeballt und menschliche Form angenommen hatten. Nur mit Mühe konnte er ein Schaudern unterdrücken. „Erklären Sie mir bitte folgendes, Vikar", sagte Terry, als ihm
das Schweigen unangenehm wurde. „Seit ich in Redforde bin, stoße ich auf eine Mauer, sowie ich mit jemand über meinen Bruder und seine Recherchen sprechen will. Warum ist jeder so ablehnend? Dafür muß es doch einen Grund geben." „Leider gibt es dafür einen Grund, Mr. Amberley", sagte der Vikar mit ernstem Gesicht. „Einen sehr schwerwiegenden Grund sogar. Sie müssen wissen, daß Ihr Bruder nicht der erste gewesen ist, der unter sehr mysteriösen Umständen den Tod fand. Es hat eine ganze Reihe von anderen gegeben, und sie waren alle sehr an den Geschehnissen auf dem Cranston Hill interessiert. Ihr Bruder besaß ein Buch, das sich mit den heidnischen Riten im Mittelalter beschäftigt. Er hat es mir einmal geliehen, aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen, es ganz zu lesen." „Sie meinen das Daemonomicon." „Genau." Das Gesicht des Vikars bekam einen angeekelten Zug. „In dem Buch stehen Dinge, die einen an der Existenz Gottes zweifeln lassen. Zumindest an der Existenz eines Gottes der Güte und Vergebung. Geradezu abstoßende Ereignisse werden in dem Buch geschildert, wobei das Erschreckende daran ist, daß die Zwischenfälle Dinge erklären, wie sie in letzter Zeit passiert sind. Sich eine Vorstellung von der vollen, schwarzen Kraft des Bösen in unserem vernunftbetonten Jahrhundert zu machen, ist nicht leicht und schon gar nicht für einen Mann des Glaubens wie mich, aber dieses Buch schafft es." Der Vikar wischte sich über die Stirn, auf der trotz des kalten Wetters die Schweißperlen standen. „Es kommt einem absurd, grotesk und unglaublich vor", fuhr er nach kurzer Pause fort, „aber es ist eine Tatsache. In dem Buch ist eine Liste von mehr als fünfzehn Menschen aufgeführt, Männer und Frauen, die in den letzten zweihundertfünfzig Jahren unter ähnlichen Umständen den Tod gefunden haben. Die Kirche von Redforde steht seit über tausend Jahren, und meine Vorgänger haben durch die Jahrhunderte hindurch alles versucht, das Dorf von seinem Fluch zu befreien und die Dämonen zu verjagen, an deren Existenz zu glauben sie gezwungen waren. Dabei waren sie alle gottesfürchtige Männer wie ich. Und alle haben versagt. Jämmerlich versagt." Am Nachmittag regnete es in Strömen, und Terry Amberley
konnte erst gegen Abend die wenigen Dinge, die er mitgebracht hatte, in das Haus schaffen, in dem sein Bruder so viele Jahre gelebt und gearbeitet hatte. In das Haus, in dem das Geheimnis seines Todes verborgen sein mußte. Ralph Treherne hatte Terry von dem Umzug abzuhalten versucht, aber ohne jeglichen Erfolg. Terry hatte die Gastfreundschaft des jungen Mannes nicht verletzen wollen und sich herzlich für alles bedanket, aber entschieden erklärt, nichts könne ihn von seinem Vorhaben abbringen. Den letzten Anstoß hatte das Gespräch mit dem Vikar gegeben. Terry wußte, daß er in fast physischem Kontakt mit Malcolms Büchern leben mußte, wenn er das Geheimnis lüften wollte, das wie eine düstere Wolke über dem Dorf hing. Terry war gezwungen gewesen, seinen Wagen an der Straße stehen zu lassen, denn der Fußpfad, der zum Haus seines Bruders führte, war zu schmal. Bei seinem ersten Besuch mit Angela hatte er das Haus mit gemischten Gefühlen betreten, aber jetzt, als er es zum zweitenmal sah, hatte es bereits etwas fast Anheimelndes. Als er die schwere Eingangstür hinter sich schloß, fragte er sich, was Malcolm wohl veranlaßt hatte, das abseits gelegene, sehr alte Haus zu kaufen. Der Wunsch nach Abgeschiedenheit vielleicht, nach absoluter Ungestörtheit, um sich seinen okkultischen Forschungen in aller Ruhe widmen zu können. Als Terry seine Sachen in dem großen, vorderen Zimmer abstellte, stieg ihm plötzlich ein seltsamer Geruch in die Nase, der ihn an Weihrauch erinnerte. Er knipste das Licht an und zog die schweren Vorhänge zu. Anschließend machte er Feuer im Kamin und wartete ungeduldig darauf, daß der Raum etwas wärmer wurde, bevor er sich an die Lektüre der alten Gemeindeschriften machte. Eine sonderbare und furchterregende Chronik. Bei hellem Tageslicht darin herumzulesen, wäre gruselig genug gewesen, aber am Abend neben einem knisternden Kaminfeuer, umgeben vom Knacken und Stöhnen eine alten Hauses, dessen Geräusche einem fremd waren - Terry Amberley wurde von einer Kältewelle nach der anderen erfaßt und von Seite zu Seite steigerte sich sein Entsetzen. Langatmig, oft rein statistisch und verschroben genealogisch, wie der Text stellenweise war, faszinierte er den jungen Mann auf schreckliche Weise doch so sehr, daß er nicht eine Silbe
ausließ und sich - wie wahrscheinlich vor ihm sein Bruder - in nie geahnte Horrorvorstellungen steigerte. Jetzt war ihm klar, warum der Vikar die Chronik unter strengem Verschluß hielt und sie nicht jedem zum Lesen gab. Sie begann mit der Geschichte der Familie de Grinley und verwirrte durch ein Labyrinth von Daten, die den verschiedensten Quellen entnommen waren und sich oft widersprachen. Anfangs wußte man nichts von finsteren Begebenheiten in dieser Familie. William de Grinley war ein Protege Wilhelm des Eroberers gewesen und hatte für seine treuen Dienste die Ländereien um Redforde herum bekommen - im Süden bis zu den Sümpfen und im Norden bis zum Zusammentreffen der beiden Flüsse. Das Herrschaftshaus war 1073 erbaut worden, und in den folgenden eineinhalb Jahrhunderten war das Dorf unter der Herrschaft der Grinleys aufgeblüht und zu Wohlstand gelangt. Im Jahre 1202 war eine Seuche im Dorf umgebrochen und hatte über die Hüllte der Bevölkerung dahingerafft. Die pestähnliche Krankheil hatte sogar die Natur erfaßt. Die Pflanzen und die Früchte des Feldes waren von einem Tag zum andern gräßlich entstellt, verwachsen und verwuchert, und Hexerei zog in das Dorf ein. Die Leute glaubten, das große Steinmonument im Norden des Dorfes sei der Sitz alles Schrecklichen, sie sprachen besondere Gebete in ihrer Kirche, um Böse zu bannen, und begannen an Gott zu zweifeln, als ihre Gebete nicht erhört wurden. Finstere, rituelle Zusammenkünfte begannen, 1223 von einem Mann namens Edward Cranston angeführt. Terry Amberley saß fast unbeweglich auf dem Stuhl mit der hohen Lehne, das Buch mit den vergilbten Seiten auf den Knien, und starrte in das Kaminfeuer. Ein Mensch aus Fleisch und Blut also, jemand, der gelebt hatte, war Namensgeber für den Ort des Schreckens. Wie vom Fieber befallen, las Terry weiter. Edward Cranston wurde als entsetzlich entstellte Kreatur beschrieben, die den Menschen ihren Willen aufzwingen und sie davon überzeugen konnte, daß nur die Beschwörung der teuflischen Götter die Seuche von Redforde vertreiben würde. Und jetzt, wie Terry Amberley eigentlich erwartet hatte, kamen die de Grinleys ins Bild. Hubert de Grinley, der einzige Sohn Edmonds und damaliger
Lord des riesigen Besitzes, nahm überzeugt an diesen teuflischen Orgien teil. Er verbrachte seine übrige Zeit damit, merkwürdige Bücher zu lesen und zu schreiben. Er war derjenige, der den Dorfbewohnern einredete, die dunklen Götter könnten nur mit Menschenopfern versöhnlich gestimmt werden. Menschenopfer auf dem Steinaltar zwischen den Drohenden Steinen. Zu seinen Lebzeiten wurden insgesamt dreihundertdreißig Opfer auf dem Cranston Hill dahingemetzelt. Anschließend, so scheint es, feierten die de Grinleys die blutigsten Orgien, die sich ein Menschenhirn nur ausdenken konnte. Der makabre Wahnsinn, der mit Hubert de Grinley begonnen hatte, setzte sich über mehr als vier Jahrhunderte durch die Generationen hindurch fort und fand in dem vielgefürchteten Richard de Grinley seinen Höhepunkt. Der Meister der Grausamkeit, dessen Greueltaten unbeschreiblich gewesen sein mußten, schockierte selbst die Menschen, bei denen Hexerei zum täglichen Leben gehörte. Die Pest, die vor Jahrhunderten die Teufelsbeschwörungen hervorgerufen hatte, war längst vergessen und von den Hexenverfolgungen in ganz England abgelöst worden, mit dem Erfolg, daß sich die erschreckten Menschen in den schützenden Mantel der Kirche zurückzuretten versuchten. Unglücklicherweise fanden die abergläubischen Menschen aber keinen Trost mehr im Gebet, und viele Unschuldige verschwanden spurlos im Kampf gegen die Schwarze Kunst. Die Chronik ließ keinen Zweifel daran, wie gefürchtet und gehaßt Richard de Grinley zu seiner Zeit gewesen sein mußte. Er hatte immer noch Anhänger und fuhr fort mit den gotteslästerlichen Verschwörungen auf dem Cranston Hill und schickte die schlimmsten Verfluchungen über das Dorf. Das Gerücht, daß unmenschliche Gestalten zwischen den Drohenden Steinen ihr Unwesen trieben, vor allem in der Nacht zum 1. Mai und in der Nacht vor Allerheiligen, vertiefte sich. Die vom König ausgesandten Hexenjäger schienen Redforde übersehen zu haben, denn von Hexenverbrennungen wurde nichts berichtet, aber die Dorfbewohner nahmen das Gesetz; schließlich selbst in die Hand. Vom Vikar angeführt, stürmten sie in einer mondlosen Nacht das Herrschaftshaus und zogen jeden de Grinley heraus, den sie erwischen konnten. Am Tag darauf vor die Kirche gezerrt, wurden
sie allesamt zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Das Ende des Berichts war verwirrend und unbefriedigend. Richard de Grinley wurde mit keinem Wort mehr erwähnt. Derjenige, der die grausamen Geschehnisse aufgezeichnet hatte, schien offensichtlich der Meinung zu sein, daß Richard de Grinley von seinen bösen Meistern, die er verehrt und denen er so eifrig geopfert hatte, gerettet worden ist. Es wurde nur noch betont, daß der Fluch immer noch auf dem Dorf liege und Richard de Grinley nie sterben werde, solange sich der Altar von Belial in Redforde befinde. Terry Amberley rieb sich die Augen, schlug die Schrift zu und legte sie auf den kleinen Tisch neben sich. Er stand auf, räkelte sich, ging zum Fenster und zog den Vorhang zurück. Der Mond ergoß sein grünlich blasses Licht auf die Landschaft. Terry Amberley sah auf die Uhr. Längst Mitternacht vorbei, also viel später, als er gedacht hatte. Das Feuer im Kamin war zu einem schwachen Glühen erstorben. Terry ließ den Vorhang zurückgleiten und stieg in das Zimmer hinauf, das er sich als Schlafraum ausgesucht hatte. Er zog sich im Dunkeln aus. Seine Gedanken waren verwirrt - mehr, als er es sich einzugestehen wagte. Er wußte, daß es Menschen gab, für die Hexerei lediglich ein Relikt aus früheren Zeiten war, Ein Zeichen der Ignoranz aus Jahrhunderten, wo die Menschen noch Dingen huldigten, die sie verstandesmäßig eben nicht erfassen konnten. Andere wiederum lächelten nur über so eine absurde Idee und taten sie mit einer gleichgültigen Handbewegung ab und meinten, über Massenhypnose und die falsche Interpretation wissenschaftlich erklärlicher Dinge zu diskutieren, sei verschwendete Zeit. Wie gut konnte Terry diese Meinung verstehen! Bis vor einer Woche war es ihm nicht anders ergangen. Er hatte zwar nur halb an Gott geglaubt, die Existenz des Bösen als wirkliche und mächtige Kraft aber entschieden abgestritten. Und von einer Stunde zur anderen war er nun in diesen Alptraum gestürzt, in diesen Morast aus Angst und Aberglaube, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. Handelte es sich denn wirklich nur um eine alte Legende, die plötzlich als erschreckende, greifbare Realität aus den Tiefen vergangener Zeiten aufgetaucht war? Lag auch nur eine Spur Wahr-
heit in den trockenen, vergilbten Seiten der Schrift? Ein Mensch, der weder an Gott noch an den Teufel glaubt, fürchtet sich nicht vor dem, was nach dem Tod kommt. Für ihn ist der Tod der endgültige Abschluß. Für ihn enthält die Dunkelheit nichts, was nicht vom Menschen geschaffen ist, für ihn gibt es keine schleichenden Schatten und kein Knacken im Gebälk eines alten Hauses. Terry Amberley lächelte schwach. Das war alles schön und gut, aber gab es tatsächlich einen Menschen auf dieser Welt, der frei von Angst und Furcht war? Der Aberglaube war viel älter als jede Form der Religion. Soweit man zurückdenken kann, beobachtet der Mensch Blitz und Wetterleuchten am Himmel, er horcht auf das Grollen des Donners, das von den Hügeln zurückgeworfen wird. Terry Amberley stand am Fenster und sah auf die dunkle Masse des Cranston Hill hinaus und stellte sich unzählige Fragen. Das, was er in der alten Kirchenchronik gelesen hatte, mußte seine Gedanken und Sinne befallen haben, denn mit dem Schlaf kamen ihm Visionen, die unmittelbar der Apokalypse entsprungen zu sein schienen. Er war draußen vor dem Dorf und ging langsam auf den Geisterhügel zu. Seine Füße schienen an der Landstraße zu kleben, aber obwohl es ihn unmenschliche Mühe kostete, ein Bein vor das andere zu setzen, trieb ihn eine unsichtbare Kraft weiter. Plötzlich war es, als nähme diese Kraft Gestalt an und trete neben ihn, und er sah im blassen Schein des fahlen Mondes, daß es sein Bruder Malcolm war. Oder er wußte es vielmehr, denn das grauenvoll entstellte Gesicht hatte er noch nie gesehen - eine teuflisch boshafte und grinsende Fratze. Den plötzlichen Griff an seinem Arm, hart und kalt, konnte er nicht abschütteln. Er wurde im fließenden Licht eines Mondes, den er nicht sehen konnte, auf den Hügel unter die Drohenden Steine gezerrt. Daß noch andere anwesend und ihnen den Hang hinauf, gefolgt waren, spürte er, wie er auch ein dumpfes Pulsieren spürte, das in jede Pore seines Körpers einzudringen schien. Die Dinge, die er am Morgen in Wirklichkeit gesehen hatte, nahmen jetzt in seinem Traum die verwirrendsten, unwahrscheinlichsten Formen an.
In dem von Säulen umstandenen Rund ein Steinaltar, darauf etwas formlos Weißes. Malcolm ließ seinen Arm los, drückte ihm etwas in die rechte Hand und trat zurück. Dämonische Gesichter starrten ihn an, während sich das Böse wie ein Raubvogel mit riesigen Schwingen auf ihn herabsenkte und seinen Körper umspülte. Er spürte, wie etwas in ihn einzudringen versuchte, wie es versuchte, Besitz von ihm zu ergreifen und sich seinen Willen zu unterwerfen. Er hob den rechten Arm, um sich gegen das Ungeheuer zu wehren, und sah plötzlich nackten Stahl glitzern. In seinem Alptraum war er wie gelähmt vor Angst, während sein Denken ihm zuschrie und ihm mitzuteilen versuchte, daß das alles nur Einbildung sei. Er bäumte sich auf und wollte aus dem Bann des Terrors entfliehen. Das Pulsieren schien seine Schläfen sprengen zu wollen, und Stimmen, die vorher nur gemurmelt hatten, kreischten ihm in die Ohren. Der Rest des Traums war verschwommen. Er schrie laut auf, und der grauenvolle Bann war plötzlich gebrochen. Er rannte, vom Heulen des Windes begleitet, den Abhang hinunter. Terry Amberley wachte auf. Er zitterte am ganzen Körper und war in Schweiß gebadet. Draußen am Himmel ein blaßgrauer Schein. Der neue Tag wollte anbrechen und versuchte, die Nacht zu verscheuchen. Terry rieb sich die verkrampften Muskeln des rechten Arms, dann starrte er plötzlich in schierem Entsetzen auf den Gegenstand, den seine steifen Finger umklammert hielten. Er ließ ihn neben dem Bett auf den Boden fallen. Sein Körper wurde von einem unkontrollierbarem Zucken geschüttelt. Er wußte hundertprozentig, daß er das Messer, das er auf dem Cranston Hill gefunden hatte, am Abend zuvor in der Bibliothek gelassen hatte. Wie kam es in seine Faust? Terry schwang sich aus dem Bett, hielt mitten in der Bewegung inne und drohte die Besinnung zu verlieren. Er sah schlammige Erdspuren auf dem Teppich und an seinen nackten Füßen. 4. „Die einzige mögliche Erklärung ist, daß du schlafgewandelt bist."
Angela Cowdrey versuchte ein Schaudern zu unterdrücken. „Ein Alptraum muß dich aus dem Bett getrieben haben. Kein Wunder, dieses Haus würde jedem Angst und Schrecken einjagen." „Ich bin noch nie im Schlaf gewandelt", sagte Terry Amberley, und seine Stimme klang fast amüsiert, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht war todernst. „Nein, da steckt mehr dahinter. Etwas im Zusammenhang mit dem Messer, das ich gefunden habe." „Das verstehe ich nicht." Angela stand auf und holte sich eine neue Tasse Kaffee. „Willst du damit sagen, daß Malcolm etwas Ähnliches passiert sein soll?" „Das nehme ich stark an." „Aber wie kann denn ein einfacher Gegenstand einen Einfluß besitzen, der uns heute noch schaden kann?" Angela schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Terry, aber findest du nicht auch, daß man die Leichtgläubigkeit etwas zu weit treiben kann?" „Nicht die Leichtgläubigkeit, Angela, sondern die Aneinanderreihung von Zufällen", sagte Terry Amberley. „Ich bin mehr denn je überzeugt davon, daß Malcolm in den Tod getrieben wurde. Bis jetzt besteht die einzige Übereinstimmung zwischen seinem Tod und dem, was ich vergangene Nacht erleben mußte, in der Tatsache, daß er die seltsamen Geschehnisse auf dem Cranston Hill untersuchen wollte und ein gleiches Messer besaß, wie das, das ich gefunden habe." Amberley dachte einen Moment nach. „Ich glaube, zunächst werde ich mich mit Lady Parrish unterhalten müssen. Vielleicht kann sie mir etwas über die frühe Geschichte des Herrschaftshauses erzählen. Ein oder zwei Punkte sind völlig unklar, wenn man der alten Chronik glauben will, die mir der Vikar gestern geliehen hat." „Hast du etwas dagegen, wenn ich mitkomme?" Angela stand auf. „Lady Parrish kann manchmal recht launisch sein und ist vielleicht weniger verschlossen, wenn ich dabei bin." Angela lächelte. „Ich komme nämlich sehr gut mit ihr aus, was nicht jeder von sich behaupten kann", setzte sie hinzu. Als sie das Haus verließen, hörten sie Schritte auf dem Kiesweg, und kurz darauf sahen sie Dr. Cowdrey, Angelas Vater, näher kommen. Er schüttelte Terry herzlich die Hand. „Tut mir leid, Terry", sagte er. „Immer, wenn Sie uns besuchen,
bin ich nicht da. Nach dem Begräbnis Ihres Bruders - schrecklich, sein Tod - sind Sie ja mit meinem früheren Kollegen so schnell verschwunden, daß ich auch kein Wort mit Ihnen wechseln konnte." „Stimmt, Sie haben sich ja aus dem Berufsleben zurückgezogen", sagte Terry, der sich in diesem Augenblick daran erinnerte, daß der Arzt seine Praxis aufgegeben hatte. „Mir kommt es gar nicht wie zwei Jahre vor, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben." „Ja, seit Ende des vergangenen Jahres ist meine Praxis zu", sagte Dr. Cowdrey. „Einige von meinen alten Patienten versorge ich allerdings noch. Sie konnten sich an keinen anderen Arzt gewöhnen. Warum, weiß ich auch nicht, aber sie wollten die Tatsache, daß ich nicht mehr praktiziere, einfach nicht hinnehmen. Gott sei Dank hat Dr. Harmon nichts dagegen, und ich sitze nicht ganz so untätig herum." Terry bot dem Arzt eine Zigarette an und bediente sich ebenfalls. Er wollte Dr. Cowdrey nach den seltsamen Umständen in Zusammenhang mit dem Tod seines Bruders fragen, kam aber nicht rechtzeitig zu Wort. „Ich komme gerade von Miß Munderford", sagte Dr. Cowdrey. „Sie erinnern sich doch, sie ist unser Postfräulein." Terry nickte. Er besann sich schwach auf die dünne, grauhaarige Frau, die stets einen randlosen Zwicker auf der scharfen Nase sitzen hatte und deren altmodisches Fahrrad, vor dem Postamt an die Hauswand gelehnt, mit den Gebäude verwachsen zu sein schien. Oder mit ihr, wenn sie am Abend nach Hause fuhr. „Eine komische Sache", fuhr der Arzt fort. „Sie ist die letzte, die ich für phantasiebegabt gehalten hätte." „Was hat sie denn?" fragte Angela. Dr. Cowdrey schüttelte den Kopf. „Jemand muß ihr einen üblen Streich gespielt haben - anders kann ich es mir nicht erklären. Ich habe ihr geraten, Sergeant Willingham von der Sache zu erzählen, aber sie ist überzeugt davon, daß es sich um keinen Witz handelt." „Was ist ihr denn passiert?" fragte Terry und hatte das ungute Gefühl, die Antwort auf seine Frage bereits zu kennen. Der Arzt räusperte sich, starrte auf die Glut an seiner Zigarette und wollte offensichtlich nicht so recht mit der Sprache herausrü-
cken. „Sie hatte eine Nichte in Tenterton besucht", erzählte er schließlich widerwillig, „und war länger geblieben, als ursprünglich beabsichtigt. Da es eine mondhelle Nacht war und sie ja am Morgen wieder hinter ihrem Schalter sein mußte, beschloß sie, trotz der späten Stunde noch zurückzuradeln. Es war schon weit nach Mitternacht, und normalerweise hätte sie die nächtliche Fahrt nicht gewagt, denn sie ist genauso abergläubisch wie jeder hier im Dorf, aber der helle Mondschein hat ihr wohl den Mut gegeben, am Cranston Hill vorbeizufahren, auf dem es ja angeblich spuken solle. Wie dem auch sei, unsere Miß Munderford ist schon an der kritischen Stelle vorbei und etwa nur noch eine halbe Meile von Redforde entfernt, als sie etwas in dem Acker zu ihrer Linken hört. Sie hat versucht, mir das Geräusch zu beschreiben, aber ohne großen Erfolg. Auf alle Fälle bekommt es unsere Miß Munderford mit einer Heidenangst zu tun und tritt wie wild in die Pedale." Dr. Cowdrey warf die Zigarette auf den Kiesweg und trat sie aus. „Zu fahren wie eine Irre", fuhr er fort, „war offensichtlich das Dümmste, was die Arme tun konnte, denn so springt ihr prompt die Kette heraus, und sie landet im Straßengraben. Wenn sie es dabei belassen und den Rest zu Fuß erledigt hätte, wäre sie vielleicht mit diesem ersten Schrecken davongekommen. Aber nein, sie macht sich über ihr Fahrrad her und versucht die Kette wieder anzumontieren." Terry konnte sich die arme alte Jungfer gut vorstellen, wie sie im blassen Mondlicht versuchte, ihr Fahrrad zu reparieren, und keine Menschenseele weit und breit. Dr. Cowdrey scharrte mit der Fußspitze im Kies. „Alles, was jetzt kommt", sagte er, „klingt absolut irre, und wenn es mir jemand anders erzählt hätte, wäre ich bestimmt der Meinung, das kommt davon, wenn man zu tief ins Glas schaut, aber ich weiß ja, daß Miß Munderford noch nie in ihrem Leben einen Tropfen angerührt hat. Folgendes: sie hat es fast geschafft, die Kette wieder anzubringen, als sie plötzlich merkt, daß jemand vom Dorf her die Straße entlangkommt. Sie denkt nämlich sofort, daß ihr derjenige helfen kann, steht auf und läuft auf die Straße. Erst jetzt merkt sie, daß mit der nächtlichen Gestalt etwas nicht stimmt. Wie sehr sie erschrocken ist, kann ich nicht wissen und auch nicht beurteilen,
aber sie behauptet sicher zu sein, daß es ein Mann gewesen ist, daß ihr lediglich sein Gang sehr komisch vorkam. So wie sie es beschrieben hat, ist er mehr geglitten als gegangen." „Du weißt, Vater ", sagte Angela, „daß sie sehr kurzsichtig ist. Vielleicht hat sie es sich bloß eingebildet." „Das habe ich ihr auch gesagt, aber sie ist absolut sicher, daß sie sich nicht getäuscht hat. Als die Gestalt näher kam, erkannte sie sie und zögerte daraufhin keine Sekunde länger. Sie ließ ihr Fahrrad Fahrrad sein, nahm die Beine unter die Arme und rannte um ihr Leben. Erst als sie zu Hause die Tür hinter sich abgeschlossen hatte, konnte sie wieder frei atmen." „Aber, wer...", Angela sprach die Frage nicht zu Ende. Dr. Cowdrey sah Terry mit ernstem Gesicht an. „Miß Munderford schwört", sagte er mit hartem Ton, „daß es Ihr Bruder gewesen ist, Terry. Sie behauptet, daß ihr Malcolm Amberley - oder zumindest sein Geist - begegnet ist." In der bedrückten Stille, die folgte, preßte Terry beide Hände an seine Schläfen. „Das ist doch unmöglich!" brachte er schließlich heraus. „Es ist lächerlich. Wie will sie denn..." „Fragen Sie mich nicht", sagte der Arzt mit plötzlich besorgtem Ton. „Ich bin nur ein praktischer Arzt im Ruhestand. Ich habe nicht die geringste Erfahrung mit übernatürlichen Dingen und kann lediglich vermuten, daß sich Miß Munderford alles nur eingebildet hat -vielleicht ist sie überanstrengt. Aber eines weiß ich mit Sicherheit: sie wird eine Zeit brauchen, bis sie den Schock überwunden hat und wieder die alte ist. Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, und im Moment schläft sie wenigstens tief und fest." Seine Augen wurden schmal. „Ich habe das Gefühl, Terry, Sie denken, daß dieser seltsame Vorfall -nennen wir es einmal so etwas mit den merkwürdigen Umständen zu tun hat, unter denen Ihr Bruder ums Leben gekommen ist. Sie überlegen vielleicht, ob Sie Miß Munderford ausfragen sollen. Falls Sie das vorhaben, muß ich Sie bitten, noch eine Weile damit zu warten. Jede Art von Aufregung kann die schlimmsten Folgen haben. Das verstehen Sie doch, oder?" „Natürlich verstehe ich das", sagte Terry Amberley. „Ich wollte übrigens eben mit Angela zu Lady Parrish, weil ich hoffe, von ihr
vielleicht etwas mehr über die Geschichte des Herrschaftshauses zu erfahren." „Sie kann Ihnen sicher manches erzählen, Terry." Der Arzt runzelte die Stirn. „Ich kann verstehen, daß Sie sich über den Tod Ihres Bruders Klarheit verschaffen wollen, daß es ein schwerer Schock für Sie gewesen ist und es Ihnen nicht leicht fällt, das Urteil des Ermittlungsrichters zu akzeptieren. Trotzdem möchte ich Sie bitten, einen guten Rat anzunehmen: vertiefen Sie sich nicht zu sehr in Dinge, die man am besten vergißt." „Glauben Sie, daß Malcolm Selbstmord begangen hat?" fragte Terry. „Als Mediziner muß ich sagen - ja. Ich habe die Leiches Ihres Bruders auf Harmons Drängen hin auch noch einmal untersucht. Außerdem wußte ich von den seelischen Nöten Ihres Bruders während der letzten Wochen vor seinem Tod. Er war höchstgradig nervös und überspannt. Bitte - ich behaupte nicht, daß er geistig gestört war, wie man es in dem Verfahren angedeutet hat, aber auch ich muß sagen, daß manche seiner Handlungen einfach nicht normal gewesen sind. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen ausgerechnet jetzt..." „Aber ich bitte Sie, Dr. Cowdrey", fiel Terry dem Arzt ins Wort. „Ich verstehe Ihre Lage." Die lange düstere Halle des Herrschaftshauses kam Terry nicht fremd vor. Die Reihen von Ritterrüstungen entlang der Wand, die Ahnenporträts, der staubige, leicht dekadente Geruch brachten längst vergessene Erinnerungen aus der Kindheit zurück. Es mußte mindestens fünfzehn Jahre her sein, daß . er hiergewesen war und sich mit bewunderndem, ehrfürchtigem Blick umgesehen hatte. Heute, an diesem kalten, klaren Morgen, fiel ihm nur auf, daß alles viel zu dunkel war in diesem herrschaftlichen Gemäuer. Wie alt das Gebäude war, war schwer zu sagen, bestimmt einige Jahrhunderte. Natürlich gab es noch Teile, die aus der Zeit stammten, in der die de Grinleys nach Redforde gekommen waren - und mit ihnen die Hexerei. Der Butler klopfte an eine der Türen am rückwärtigen Ende der Halle, wartete einen Moment, machte sie dann auf und trat zur
Seite, um Angela und Terry eintreten zu lassen. Die Tür schloß sich leise hinter ihnen. In diesem Raum war Terry nie gewesen. Er war hell und geräumig und machte einen sehr bewohnten Eindruck. Lady Parrish stand von ihrem Sessel auf und streckte Angela lächelnd die Hand entgegen. „Wie nett, daß ich Sie auch wieder einmal sehe, Mr. Amberley", begrüßte sie Terry. „Es muß lange her sein." „Über fünfzehn Jahre, Lady Parrish", sagte Terry und setzte sich auf den ihm angebotenen Stuhl. „Und damals natürlich unter ganz anderen Umständen." Lady Parrish lehnte sich in ihrem Sessel zurück. „Eine Tasse Tee?" „Sehr gern." Lady Parrish griff nach der Tischglocke. „Ich hoffe, daß wir Sie nicht zu sehr stören", fuhr Terry fort, „aber im Zusammenhang mit dem Tod meines Bruders sind ein paar Fragen aufgekommen, die ich mir nicht erklären kann. Ich dachte, daß Sie mir vielleicht etwas weiterhelfen könnten." „Ich tue natürlich gern, was ich kann, aber ich glaube nicht..." „Lady Parrish", fiel Terry der alten Dame ins Wort, „ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, aber in Redforde ist eine ganze Reihe von Leuten unter sehr seltsamen Umständen gestorben. Mein Bruder war lediglich der letzte in dieser Reihe. Ich habe in den alten Kirchenchroniken geblättert, die mir der Vikar liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellt hat, und ich bin überzeugt, daß böse Mächte hier in der Gegend lauern und sich auf dem Cranston Hill und auch hier im Herrschaftshaus grauenvolle Dinge tun." Lady Parrish lächelte schwach. „Was das Haus hier anbelangt, müssen Sie sich täuschen, Mr. Amberley. Ich lebe hier, so lange ich denken kann, also fast mein ganzes Leben, und wenn es hier spuken würde, müßte ich es wissen. Aber wenn Sie sich etwas genauer umsehen wollen -von Herzen gern. Ich würde Sie gern selbst herumführen, aber meine Beine erlauben es mir heute leider nicht mehr, in den Kellergewölben und den älteren Flügeln herumzustöbern wie früher." „Darf ich Sie fragen, wie alt das Haus ist?" Lady Parrish dachte nach. „Dieser Flügel stammt aus dem frühen siebzehnten Jahrhundert", sagte sie schließlich. „Aber es gibt ältere Teile. Der Grundstein wurde, soweit ich weiß, im zwölften
Jahrhundert gelegt. Im späten Mittelalter wurde öfter umgebaut. Daß der Besitz ursprünglich der Familie de Grinleys gehörte, ist Ihnen sicherlich bekannt. In den Kellergewölben unter dem Ostflügel steht eine ganze Reihe von Steinsärgen. Wenn Sie auch diesen Teil des Hauses auskundschaften wollen, darf ich Sie bitten, äußerst vorsichtig zu sein. Der Ostflügel ist praktisch eine Ruine und an vielen Stellen besteht Einsturzgefahr." „Natürlich sind wir vorsichtig, Lady Parrish", sagte Angela. „Ich bin ja schon als kleines Mädchen dort herumgeschlichen." Der ältere Teil des Herrschaftshauses war natürlich der viel interessantere. Terry und Angela gingen durch den Garten, denn der Ostflügel, von dem Lady Parrish gesprochen hatte und der wirklich praktisch eine Ruine war, stand mit dem jetzt bewohnten Teil nicht in Verbindung. Trotz der Wintersonne empfand Terry ein Frösteln, als sie vor dem teilweise eingebrochenen Mauerwerk der Fassade standen. Der alte Bau hatte etwas Bedrohliches. Die großen Steinquadern waren schon sehr alt. Die tiefen Schatten wirkten mitternächtlich und schienen sich lähmend über die Sinne zu legen. Angela sah zu Terry auf. „Sieht ziemlich gespenstisch aus, was?" sagte sie. Ihre Stimme löste sich in Echos auf, die von Mauer zu Mauer sprangen und kein Ende zu finden schienen. Der lange, finstere Gang vor ihnen schien in das Innerste der Erde zu führen. „Ich kann es Lady Parrish nicht verübeln, daß sie uns nicht begleitet hat", murmelte Terry. Mit eingezogenem Kopf ging er tiefer in die Ruine hinein, das Mädchen folgte ihm. Die Steinplatten auf dem Boden waren durch die Feuchtigkeit der Gemäuer glitschig und mit einer grünlichen Schimmelschicht überzogen, aus den Mauern wuchsen zum Teil häßliche, krank aussehende Pflanzen. In der Luft hing ein widerlicher Fäulnisgeruch. Alles war so unheimlich und bedrohlich, daß Terry sich umsah. Auch Angela hatte Angst, trotzdem brachte sie ein schwaches Lächeln zustande. Nach ungefähr fünfzehn Metern öffnete sich der Gang zu einer großen, breiten Kammer, deren Gewölbe von dicken Steinsäulen getragen wurden. Kleine Schlitze in der Mauer ließen etwas Tageslicht nach innen dringen, das in sternförmigen Streifen auf den Boden fiel. Der Rest war dunkel.
Ein leichtes Kratzen in einer Ecke ließ beide zusammenfahren. Kurz zwei rot leuchtende Augen, dann huschte ein kleiner schwarzer Schatten über die schimmeligen Steinplatten und verschwand wieder. „Nur eine Ratte", sagte Terry zu dem Mädchen, das eine Hand vor den Mund hielt, als wolle es den Schrei, der ihm in der Kehle saß, nicht herauslassen. „Davor brauchst du keine Angst zu haben." „Ich habe keine Angst", flüsterte Angela. „Ich bin nur erschrocken. Ich habe nicht daran gedacht- hier muß es ja von Ratten wimmeln." Terry ging mit vorsichtig schlürfenden Schritten bis zur Mitte der Kammer, griff in die Tasche und zog sein Feuerzeug heraus. Der schwache gelbe Schein der Flamme durchdrang die Dunkelheit höchstens in einem Umkreis von zwei Metern. Terry hatte das bestimmte Gefühl, daß es hier mehr gab als Mäuse und Ratten. Vorsichtig arbeitete er sich Schritt für Schritt weiter, wobei er das Mädchen am Ärmel seiner Strickjacke hielt und hinter sich herzog. Auch hier wuchsen aus den Mauerritzen gelblichweiße, pilzähnliche Flechten, kränkliche Pflanzen, die nie das Tageslicht gesehen hatten. Als sich seine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah Terry die Reihe von Steinsärgen, die an der Wand entlang standen. Ihren Inhalt wagte er sich nicht vorzustellen. War das der ursprüngliche Teil? Derjenige, der aus dem 12. Jahrhundert stammte? Sie mußten sich in der Familiengruft der de Grinleys befinden. „Da drüben ist eine Tür oder so etwas Ähnliches", murmelte das Mädchen. Sosehr sie sich zwang, sich nichts anmerken zu lassen, das Zittern der Hand, mit der sie in eine Ecke deutete, verriet sie. „Wenn ich mich recht erinnere, führt sie noch tiefer in die Gewölbe hinein." „Hast du Mut?" „Wenn du ihn hast..." Die Tür war aus dickem Holz, mit gekreuzten Eisenbändern zusammengehalten, die so verrostet waren, daß stellenweise nur noch rötlicher Staub übrig war. Das Holz war von der ewigen Feuchtigkeit grau und aufgeworfen. Durch die Ritzen drang ein unschöner Geruch, der die Flamme des Feuerzeugs zum Flackern
brachte und ahnen ließ, was hinter der Tür lag. Terry gab dem Mädchen das Feuerzeug und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür; einen Moment lang wiederstand sie, doch dann ging sie plötzlich mit bleierner Schwere auf. Die Luft, die ihnen entgegenschlug, war ekelhaft. Die Flamme drohte auszugehen, und Angela machte instinktiv einen Schritt zur Seite. Vor ihnen zähflüssige Finsternis. Terry biß die Zähne so fest zusammen, daß ihm die Kaumuskeln weh taten. Nur mit Anstrengung konnte er sich zu ruhigem Atmen zwingen. Schließlich war diese Angst absolut lächerlich. Ein paar Ratten und hinter ihnen die Gebeine der lang verstorbenen de Grinleys - war das Grund genug, sich so verrückt zu machen? Trotzdem konnte er sich kaum dazu zwingen, den ersten Schritt in die Finsternis hinein zu tun. Der Schein seines Feuerzeugs erleuchtete die glänzenden Stufen zu seinen Füßen, die in unbekannte Tiefen führten. Die feindselige Atmosphäre, als sei er in ein Jahrhunderte verschlossenes Grab eingebrochen, berührte Terry mehr, als er sich im Moment bewußt war. Er mußte plötzlich wieder an die sonderbare Geschichte mit Miß Munderford denken, die Angelas Vater vorhin erzählt hatte, und an den nächtlichen Film, den Malcolm im Mondschein auf dem Cranston Hill aufgenommen hatte. Wieder, wie in der Dunkelkammer auf der kleinen Leinwand, zogen die flüchtigen, frevlerischen Schreckensgestalten an ihm vorbei, ohne daß er etwas dagegen tun konnte. Terry fragte sich, ob es nicht tatsächlich besser war, gewisse Dinge auf sich beruhen zu lassen. War es nicht vielleicht besser, unwissend und ahnungslos zu bleiben? Aber seine Überzeugung, daß es für diese abnormen, parapsychischen Phänomene eine logische und wissenschaftliche Erklärung geben mußte, war stärker und trieb ihn weiter. Da er nun schon einmal so weit gegangen war, konnte er seine Untersuchungen nicht mittendrin abbrechen. Und schon gar nicht aus Feigheit. Zögernd stieg er die Stufen hinunter, die in den felsigen Grund geschlagen waren. Angela klammerte sich fest an seinen Arm, während sie immer tiefer in die bodenlose Finsternis eintauchten. Im Schein der Flamme sahen sie die Zeichnungen, die in die Mauern des schmalen Gangs geritzt waren.
„Gräßlich, was?" flüsterte Terry. Das Mädchen schauderte zusammen. „Wie man sich nur so etwas Abscheuliches ausdenken kann!" Die Zeit hatte die Darstellungen zum Teil verwischt, aber genug war noch zu erkennen, um die Angst wieder in Terry aufsteigen zu lassen. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Diabolische Fratzen in Stein gehauen. Dämonen von einer solchen Grausamkeit, daß sie nicht der Phantasie des Künstlers entsprungen sein konnten. Die Tatsache jedoch, daß sie Terry auf bedrückende Weise bekannt vorkamen, erschütterte ihn am meisten. Er zwang sich, an etwas anderes zu denken. Langsam stiegen sie tiefer in den Alptraum hinein, nur vom hohlen Echo ihrer Schritte begleitet. Als sie fast unten angekommen waren, glaubte Terry ein schwaches Geräusch zu hören, eine Art Schlürfen. Erschreckt blieb er stehen und bat Angela durch ein Zeichen, keinen Laut von sich zu geben, aber alles blieb still. Nichts mehr zu hören. Nur noch das unterdrückte eigene Atmen und das wilde Schlagen des eigenen Herzens. „Wie weit geht es denn noch hinunter?" flüsterte Terry schließlich. „Ich glaube, nicht mehr weit", flüsterte Angela zurück. „Ich kann mich gar nicht erinnern, daß das Gewölbe so tief unten ist." Keine fünf Sekunden später ging die Flamme des Feuerzeuges plötzlich aus, und sie schienen in einem Tintentümpel zu stehen. Terry strengte Augen und Ohren an, aber ohne jeden Erfolg. Sie waren in dem Gewölbe, tief unter dem Erdboden, von dessen Boden ein schwacher, modriger Dunst aufzusteigen schien. Terry knipste das Feuerzeug wieder an. Wie lange würde das Benzin noch reichen? Plötzlich sah er etwas zu seiner Rechten. Er hörte, wie Angela die Luft anhielt und erschreckt nach seinem Arm griff. Anfangs war es unmöglich, die Form, die näher zu kommen und sich wieder zurückzuziehen schien, genau zu bestimmen. Terry hielt das Feuerzeug mit ausgestrecktem Arm und nahm seine Sinne zusammen. Erst als sie nur noch wenige Schritte davon entfernt waren, erkannte er wenigstens die Konturen. Ein Block von ungefähr dreieinhalb Metern Länge und eineinhalb Metern Breite, aus einem einzigen Stein gehauen und am unteren Rand offensichtlich mit denselben grauenvollen Reliefs verziert.
Die Inschriften waren kaum noch zu erkennen. Terry bückte sich und wollte sie entziffern, aber ohne Erfolg. Die Sprache war ihm nicht bekannt und hatte nichts mit Altenglisch zu tun. Trotzdem erschauderte Terry, als er sich wieder aufrichtete, und ließ fast das Feuerzeug aus den zitternden Fingern fallen. „Weiß du, was das sein muß?" fragte er in atemlosem Flüstern. Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung." „Es ist der Altar, der früher zwischen den Drohenden Steinen auf dem Cranston Hill gestanden hat. Ich bin mir ganz sicher. Man muß ihn vor Jahrhunderten hier heruntergeschafft haben." Terry fuhr sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Die Luft um sie herum schien plötzlich zu zittern und zu vibrieren. Wurden sie aus den undurchdringlichen Schatten dieses kerkerähnlichen Gewölbes von feindseligen Augen beobachtet? Lauerte etwas in ihrem Rücken und wartete nur darauf, sich auf sie zu stürzen? Terry hatte nur noch den Wunsch, aus diesem Höllenloch in die Außenwelt zu fliehen, die Stufen hinaufzulaufen und alles, aber auch alles hinter sich zu lassen. Terry versuchte sich zusammenzureißen und sich einzureden, daß seine Phantasie wieder einmal mit ihm durchgegangen sei. Jahrhunderte waren vergangen, seit der große Steinaltar von Belial in diese finstere Tiefe geschafft worden war. Die Hände, die diesen grauenvollen Block aus dem Stein gehauen hatten, waren längst tot und konnten niemandem mehr schaden. Aber warum war der Altar von dem Hügel geholt worden? Wie war es überhaupt möglich gewesen, diese sicherlich mehrere Tonnen schwere. Masse zu transportieren? Das wußte nur Gott allein. „Komm, Angela", sagte Terry mühsam. „Nichts wie raus hier." Hand in Hand tasteten sie sich zu den Stufen zurück und stiegen, wie vom Teufel gehetzt, wieder zum Tageslicht hinauf. Erst als sie das Gestrüpp erreichten, das die Ruine umgab, vermochten sie wieder ruhiger zu atmen und einen klaren Gedanken zu fassen. Angela war leichenblaß. „Nie wieder gehe ich da hinunter", sagte sie mit erschöpfter Stimme. „Es war grauenvoll. Und die vielen Särge! Sind sie..." „Die de Grinleys liegen da begraben", sagte Terry. „Bis 'auf einen. Nämlich Richard de Grinley, dem letzten seines Ge-
schlechts." „Glaubst du, daß etwas Wahres an der alten Legende ist? Ich meine, daß er nie gestorben ist?" „Ich würde etwas darum geben, wenn ich das wüßte", sagte Terry mit finsterem Gesicht. „Ich habe die Aufzeichnungen sehr genau studiert. Nirgends ist sein Tod auch nur mit einem Wort erwähnt, was allerdings nicht unbedingt etwas beweist. Wenn man nicht sämtliche Särge öffnet und..." „Terry - ich flehe dich an", fiel ihm Angela ins Wort. „Gehen wir zu Lady Parrish zurück. Aber sage ihr um Gottes willen nicht, was wir entdeckt haben. Sie ist eine alte Dame und würde es nicht verkraften." „Natürlich. Nicht ein Wort." An dem Abend, als Terry bei einer hastig zubereiteten Mahlzeit saß - hastig, weil er nicht viel Zeit versäumen und sich in der Bibliothek weiter mit Malcolms Büchern beschäftigen wollte -, an diesem Abend also klingelte es plötzlich. Er stand auf, ging durch die Diele und öffnete die Tür. Die späten Besucher waren Ralph Treherne und Dr. Harmon. „Können wir einen Moment reinkommen und mit dir sprechen, Terry?" sagte Ralph Treherne. „Es geht möglicherweise um Leben und Tod." „Das klingt ja recht dramatisch", sagte Terry Amberley lachend und bat die beiden Männer, mit ihm in die Bibliothek zu kommen. Terrys Lachen war nicht echt. Die Störung paßte ihm nicht. Außerdem machte er sich wegen der ernsten Gesichter sofort Gedanken. „Ich will nicht lange um den Brei herumreden, Amberley", begann Dr. Harmon, setzte sich vor den Kamin und hielt die kalten Hände in die Wärme. „Ich möchte, daß Sie auf der Stelle Ihre wilden Erkundigungen einstellen. Mehrere Leute aus dem Dorf haben mir erzählt, daß Sie nicht nur die blödsinnigsten Fragen stellen, sondern daß Sie auch in den Ruinen des alten Herrschaftshauses herumstöbern." Zorn überkam Terry, und er hatte eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, beherrschte sich aber im letzten Augenblick. „Und mit welcher Begründung machen Sie mir diese Vorschriften, Dr. Harmon?" fragte er statt dessen höflich. „Ich habe meine Gründe, Amberley", sagte der Arzt. „Möglicherweise haben Sie keine Ahnung davon, aber Ihr Bruder hat
sich in den letzten drei oder vier Monaten vor seinem Tod genauso benommen wie Sie im Moment - sehr zum Ärger der Dorfbewohner. Seit seinem Tod konnten sie wieder aufatmen -wenn Sie mir den Ausdruck verzeihen. Sie haben geglaubt, daß alles vorbei und vergessen sei. Und jetzt tauchen Sie plötzlich auf und kurbeln alles wieder an. Das paßt den Leuten nicht, Mr. Amberley." Terry schweig eine Zeitlang. Der Arzt wußte offensichtlich über jeden Schritt Bescheid, den er in den letzten zwei Tagen gemacht hatte, was bedeutete, daß man ihn beobachtete und den Arzt informierte. „Ich fürchte", sagte er schließlich und zuckte mit den Schultern, „ich sehe nicht ganz ein, was mein Tun und Lassen andere angeht. Daß mein Bruder Selbstmord begangen haben soll, wie mir hier jeder einzureden versucht, bleibt für mich nach wie vor unwahrscheinlich. Deshalb bin ich fest entschlossen, die Wahrheit herauszufinden, und niemand wird mich daran hindern." Ralph Treherne lehnte sich vor. „Sei doch vernünftig, Terry. Sicher hast du die besten Absichten, aber trotzdem ist die Sache äußerst gefährlich. Du kannst in die allergrößten Schwierigkeiten kommen." Terry sah den jungen Mann einen Augenblick erstaunt an. „Ich hoffe, das soll keine Drohung sein, Ralph", sagte er dann. „Darauf würde ich nämlich sehr ungehalten reagieren." „Sie wissen, wie es Ihrem Bruder ergangen ist -und das alles nur, weil er keinen guten Rat annehmen wollte und in Dingen herumstöbern mußte, die ihn nichts angingen", schaltete sich Dr. Harmon ein. „Es ist mir völlig klar, daß die Nachricht vom Tod Ihres Bruders ein schwerer Schlag für Sie gewesen ist und daß Sie sich wehren, die damit verbundenen Tatsachen als gegeben hinzunehmen, verstehe ich auch." Er zog einen Umschlag aus der Tasche, nahm mehrere Schreiben heraus und hielt sie Terry Amberley hin. „Hier ist der ausführliche Bericht des Ganzen. Sie können ihn gern haben." „Ich weiß Bescheid", sagte Terry Amberley eisig. „Ich glaube kein Wort von dem, was in Ihrem Bericht steht." Harmon zog die Augenbrauen hoch und sah Terry nachdenklich an. Er faltete seine Papiere wieder zusammen und ließ sie in der Tasche seines Jacketts verschwinden. „Demnach muß ich annehmen, daß Sie sich auch weiterhin um
die Angelegenheiten anderer kümmern wollen?" „Sehr richtig. Ich möchte weder unhöflich erscheinen noch jemand im Dorf auf die Füße treten, aber ich habe leider Dinge entdeckt - wie offensichtlich mein Bruder Malcolm vor mir -, die mit einer bloßen Legende nichts mehr zu tun haben. Allein der merkwürdige Vorfall bei der Beerdigung meines Bruders genügt schon, sich mehr als ernsthafte Gedanken zu machen." Terry warf Ralph Treherne einen schnellen Blick zu und sah, wie das Gesicht des jungen Mannes aschfahl wurde. „Du warst Zeuge, Ralph", setzte er hinzu. „Du brauchst gar nicht so zu tun, als wüßtest du von nichts. Du hast die Gestalt - oder was es auch immer gewesen ist - genauso unter der Baumgruppe stehen sehen wie ich. Du warst halb von Sinnen vor Angst und bist es immer noch." „Nichts und niemand stand unter der Baumgruppe", murmelte Ralph Treherne. „Du hast es dir nur eingebildet." „Gar nichts habe ich mir eingebildet, Ralph. Du hast so gezittert, daß du dich kaum mehr auf den Beinen halten konntest. Irgendeine böse Macht lauert auf dem Cranston Hill und ist wahrscheinlich heruntergekommen, um sich zu vergewissern, daß Malcolm auch wirklich tot ist." Die letzte Behauptung hatte Terry fast nur aus Trotz hingeworfen, aber ein Blick in das eingefallene Gesicht des jungen Mannes genügte, um ihm zu bestätigen, daß er vielleicht sogar recht hatte. „Ach, hör doch mit dem Blödsinn auf.", sagte Ralph Treherne mit zusammengekniffenen Lippen. „Du unverbesserlicher Narr! Du weißt ja nicht, was du tust. Du hast keine Ahnung..." „Reg dich nicht auf, Ralph." Dr. Harmon faßte den jungen Mann mit festem Griff am Arm. „Amberley ist im Moment in einer geistigen Verfassung... aber lassen wir das. Es nützt ja doch nichts. Wir haben alles versucht, ihn zu warnen. Wenn er sich weigert, einen guten Rat anzunehmen, muß er die Konsequenzen selber tragen. Als Arzt kann ich Ihnen nur noch eines sagen, Amberley: Wenn Sie so weitermachen, landen Sie bestenfalls im Irrenhaus." Er stand auf und zog Ralph Treherne mit sich hoch. An der Haustür drehte sich der junge Mann noch einmal zu Terry um. Seine Stimme hatte einen fast flehenden Unterton. „Dein Bruder war mein bester Freund, Terry", sagte er. „Das weißt du.
Ich habe mehrmals versucht, ihn zu bitten, wie ich dich jetzt bitte, die Finger von der Sache zu lassen. Er hat nicht auf mich gehört - und jetzt ist er tot. Großer Gott, Terry, nimm doch Vernunft an, bevor dir dasselbe Schicksal blüht." Terry Amberley sah den beiden Männern schweigend nach. Bevor sie hinter einer hohen Hecke aus seinem Blickfeld verschwanden, gewann er den Eindruck, daß sie miteinander stritten. Terry schloß die Tür und setzte die unterbrochene Mahlzeit fort. Der Tee war natürlich kalt. Terry überlegte kurz, ob er sich frischen machen sollte, entschied sich dann aber doch für einen Drink. Er holte die Flasche Whisky aus dem Schrank, von der sein Bruder nur noch die Hälfte hatte trinken können, goß sich ein Glas ein und ging damit zum Kamin. Es kam ihm plötzlich kühler vor als vorhin, obwohl die Scheiter lichterloh brannten. Was hatten die beiden, vor, fragte er sich. Was wußten sie? Offensichtlich hatten sie größte Angst, er könne herausbekommen, wie und warum Malcolm hatte sterben müssen. Was ging sie eigentlich die ganze Angelegenheit an? Fürchteten sie, daß er unliebsame Propaganda für dieses abgelegene Nest machen könnte, wenn die Sache an die Öffentlichkeit drang? Oder machte sich Harmon Sorge um seinen Ruf als Arzt, wenn sich herausstellen sollte, daß Malcolm nicht, wie allgemein angenommen, Selbstmord begangen hatte? Er trank seinen Whisky in kleinen Schlucken. Langsam wurde ihm wieder etwas wärmer. Daß der Winter mit großen Schritten kam, war nicht mehr zu leugnen. Terry zündete sich eine Zigarette an, stand auf und sah nach, ob auch alle Fenster gut verschlossen waren, denn die Kälte kroch bereits wieder an ihm hoch. Er ging in die Diele hinaus und stieg langsam die Treppe hinauf. Vielleicht wurde auch deshalb die Kälte immer spürbarer, weil er in den oberen Räumen bisher noch nicht geheizt hatte. Er wollte gerade die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnen, als sich seine Aufmerksamkeit auf die Tür am Ende des Flurs richtete. Er hatte das Zimmer dahinter bisher noch nicht betreten. Warum er sich ausgerechnet jetzt dafür interessiert, wußte er selbst nicht. Ein ungutes Gefühl befiel ihn, das er vergeblich zu verdrängen oder abzuschütteln versuchte. Es war ihm, als komme die kriechende, unangenehme Kälte ge-
nau aus diesem Zimmer und ergieße sich von dort über das ganze Haus. Deine Gedanken werden immer idiotischer, versuchte er sich einzureden und glaubte, die Phantasie sei wieder einmal mit ihm durchgegangen. Aber dann beschlich ihn plötzlich eine leichte Angst. Angenommen, es war etwas an der wirren Geschichte dieses Postfräuleins? Skepsis, gut und schön, aber seit er in Redforde war, hatten sich derart unglaubliche Dinge ereignet, daß er nichts mehr als unsinnig abtun konnte. Da Terry wußte, daß er doch nicht einschlafen konnte, wenn er seiner drängenden Neugier nicht sofort nachgab, ging er zu der Tür und legte die Hand auf die Klinke, wobei er halb hoffte, sie verschlossen zu finden. Aber nein. Sie gab dem Druck leicht nach und glitt lautlos nach innen. Terry blieb auf der Schwelle stehen und versuchte mit Hilfe des schwachen Lichtscheins vom Flur etwas zu erkennen. Der Raum schien völlig leer zu sein. Nicht ein Möbelstück. Terry tastete rechts neben der Tür nach einem Lichtschalter, fand aber keinen. Er versuchte, die Angst, die ihm bereits wieder den Atem stocken ließ, als lächerlich abzutun. Warum sich vor einem leeren Zimmer fürchten? Er stieß die Tür weit auf, ging hinein und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Merkwürdigerweise war es heller in dem Raum, als er angenommen hatte, fast, als ob Mondschein hereinströmte. Aber es gab kein Fenster. Leicht fröstelnd machte Terry noch einige Schritte. Die Atmosphäre in diesem Raum war seltsam klamm und stickig. Plötzlich stieß er mit dem Ellbogen gegen einen harten Gegenstand und fuhr mit einem unwillkürlichen Aufschrei zurück. Ein großer, eiserner Kerzenleuchter auf drei Beinen. Terry atmete auf, zog sein Feuerzeug aus der Tasche und zündete die einzelne Kerze an. Plötzlich war der Raum in Licht getaucht, und was Terry jetzt sah, ließ ihn noch mehr erstarren als die ungewisse Düsterkeit. Jeder Muskel seines Körpers zuckte, sein Mund war plötzlich trocken. Keine Teppiche auf dem Fußboden, aber statt dessen seltsam kabbalistische Zeichnungen in leuchtendem Rot und grellem Blau. Ein fünfzackiger Stern, an jedem Zackenende ein Kris-
tallkelch, bis zur Hälfte mit einer blaßgrünen, ekelerregenden Flüssigkeit gefüllt. Schon beim Anblick dieser Szene sträubten sich ihm sämtliche Haare, aber es sollte noch schlimmer kommen. Sein Herz drohte stehenzubleiben, seine Sinne drohten zu schwinden. Ein dumpfes, fernes Keuchen und Ächzen drang an sein Ohr, das plötzlich von Schreien abgelöst wurde, die aus unendlicher Weite zu kommen schienen, und im gleichen Augenblick stieg ein teuflischer Gestank in seine Nase, der wie aus einer Fontäne in der Zimmermitte zu strömen schien. Sein Geist, erstaunlicherweise genauso in Alarmbereitschaft wie seine Sinne, spürte sofort, daß hier Übermenschliches vor sich ging. Instinktiv zog er sich zur Tür zurück. Er hatte kaum zwei Schritte gemacht, als ihn eine unbeschreiblich böse und feindselige Macht mit festem Griff zu packen schien und er wie gelähmt war. Wie versteinert stand er da und starrte auf den Fleck zwischen den drei Füßen des Kerzenleuchters. Irgendwie schien er schon auf der Schwelle dieses Zimmers geahnt zu haben, daß das Böse hier lauerte, aber trotzdem war er nicht auf das Grauenvolle gefaßt, das sich seinen entsetzten Augen nun bot: der Boden unter den Kerzenleuchter öffnete sich und Fäulnisdämpfe sprudelten und kochten dickflüssig, nebelähnlich, grünlich schillernd heraus, tanzten um die Kerze und formten sich zu furchterregenden, dämonischen Gestalten. Ein nie empfundener Haß peitschte wie von Tausenden von Geißeln getrieben auf ihn ein, und er wäre zu Boden gestürzt, hätte ihn nicht die feindselige Macht mit eisernem Griff auf den Beinen gehalten. Schattenhaft und einem Monstrum gleich wuchs sie und hing über ihm, bis auch sie Gestalt angenommen hatte. Terry sah die Umrisse eines gierig lefzenden Gesichts mit Glutaugen voller Grausamkeit und teuflischer Willkür. Die Hölle hatte sich geöffnet und eine Gestalt angenommen, die jenseits allen menschlichen Begreifens stand. Dagegen anzugehen war sinnlos. Terry spürte, wie er gezogen wurde. Seine Füße, schleiften über den Boden. Verzweifelt versuchte er, den Kopf von der grauenerregenden Fratze abzuwenden, von dem geifernden Maul, dem spitzen, ziegenbärtigen Kinn, der fliehenden, flachen Stirn mit den zwei Hörnern -aber vergebens. Er fiel in ein schwarzes Loch von unendlicher Tiefe.
Als neben seinem Körper etwas wie Glas in tausend Scherben zersprang, spürte er dasselbe Geräusch in seinem Kopf. Ein entsetzlicher, wilder und vom Schmerz zerrissener Schrei entrang sich seiner Kehle, seine Brust wurde zusammengepreßt, und Nebel hüllte sein Denken ein und schien es zu ersticken. Als sei plötzlich ein Jahrtausende altes Grab geöffnet worden, schlug ihm eine Wolke apokalyptischen Verwesungsgestanks entgegen, er fiel gegen die Wand, seine Beine rutschten unter seinem Körper fort, und er sackte in sich zusammen. Sein Blick nahm nur noch verschwommen wahr, wie sich aus einem Kristallbecher unter dem Kerzenleuchter eine klebrig gelbe Flüssigkeit ergoß. 5. Terry Amberley verharrte eine Zeitlang in diesem geradezu chaotischen Zustand. Er wußte nicht, ob er bei Besinnung war, ob er den Verstand verloren hatte oder nicht. Mit größter Anstrengung rappelte er sich auf, bis er auf dem Boden kniete, und stierte auf die klebrige Flüssigkeit. Am liebsten hätte er laut schreiend dieses verfluchte Haus verlassen. Daß Malcolm mit seiner ganzen Psyche dem Bösen verhaftet gewesen war, wußte er, aber daß es so grauenvoll war, hatte er nicht ahnen können. Irgendwie gelang es ihm, auf die Beine zu kommen. Er zitterte am ganzen Leib. Die Kerze flackerte und ging aus, als er aus der Tür stürzte. Er lief in sein Zimmer und schloß sich ein. Ohne sich auszuziehen, setzte er sich auf den Bettrand und versuchte wieder zu sich zu kommen. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er zündete sich eine Zigarette an und versuchte mit ihrer Hilfe, die quälenden Gedanken zu verscheuchen. Daß er im Moment noch nicht beurteilen konnte, ob er das Opfer von Halluzinationen oder alles grausame Wirklichkeit gewesen war, wußte er. Der ekelerregende Geruch, der ihm immer noch in der Nase hing, schien zu beweisen, daß die alte Legende nicht log. Heidnische Zeichen wie die auf dem Fußboden, besaßen angeblich seltsame Kräfte - was zweifellos auch Malcolm aus seinen merkwürdigen Büchern erfahren hatte.
Terry fror. Das Vermächtnis einer Legende, die Redforde über fünf Jahrhunderte hinweg verfolgt hatte, konnte hypnotisierend auf das Denken der Leute gewirkt und eine Art ansteckenden Wahnsinn hervorgerufen haben. War es ihm ja eben auch nicht anders ergangen. Nach der Lektüre der Kirchenchronik war es für einen phantasiebegabten Menschen kaum noch möglich, zwischen Wirklichkeit und Alptraum zu unterscheiden. Wo hörte der Wahnsinn auf, und wo begann der echte Horror? War es möglich, daß er einer Art von Eigenhypnose zum Opfer gefallen war? Terry machte die Zigarette aus und legte sich auf das Bett. Draußen rauschte der Wind in den alten Bäumen. Amberley machte die Augen zu und versuchte zu schlafen, aber trotz aller Erschöpfung und Mattigkeit war er nicht in der Lage dazu. Sein Kopf war voll von quälenden Fragen. In der Ferne hörte er die Kirchturmuhr die halbe Stunde schlagen. Er drehte sich auf die Seite und starrte auf das blasse Rechteck des Fensters, in das sich gerade ein kränklicher Mond schob. Der Morgen dämmerte, als er mit steifen Gliedern aufwachte. Er schwang die Beine vom Bett und blieb einen Moment nachdenklich sitzen. Die Ereignisse der vergangenen Nacht kamen ihm mittlerweile mehr als zweifelhaft vor; nur das Gefühl, daß eine böse Macht im verborgenen auf ihn lauerte, war geblieben. Er mußte an Ralph Trehernes Besuch denken. Hatte ihn der junge Mann davor zu warnen versucht? Wußte er, daß das Böse, das über Redforde hing, manchmal Formen annahm, die mit einer Legende nichts mehr zu tun hatten? Er blieb eine volle Stunde auf dem Bett sitzen, ehe er sich endlich wusch, rasierte und nach unten ging. Er aß ein hastiges Frühstück und wollte gerade das Geschirr wieder in die Küche tragen, als es an der Haustür klopfte. Es war Angela. „Guten Morgen, Terry", begrüßte sie ihn mit einem Lächeln. Als sie das Frühstückgeschirr auf dem Tisch sah, machte sie ein enttäuschtes Gesicht. „Ich bin extra so früh gekommen", sagte sie, „Weil ich dir Frühstück machen wollte. Ich glaube nämlich, daß du nicht ordentlich ißt." „Ich habe vergangene Nacht ziemlich schlecht geschlafen", sagte Terry. „Deshalb war ich schon sehr früh auf."
Angela runzelte die Stirn. „Ist etwas passiert, Terry?" „Nein. Wieso fragst du?" „Weil du einen sehr besorgten Eindruck machst. Oder eher verschreckt. Als ob du einen Geist gesehen hättest." Sie lächelte schwach. „Du hast doch nicht, oder? Einen Geist gesehen, meine ich." Fast hätte er ihr erzählt, was er in dem Zimmer im ersten Stock erlebt hatte oder erlebt zu haben glaubte. Er konnte sich gerade noch davon abhalten. Was für einen Sinn hatte es, dem Mädchen unnötig und noch zusätzlich Angst zu machen. Außerdem wußte er ja selbst nicht einmal genau, was passiert war. Er schüttelte den Kopf. „Ich habe wahrscheinlich zu lange in diesen gruseligen Büchern geblättert. Außerdem hatte ich gestern abend Besuch von Ralph Treherne und Dr. Harmon und habe mich gründlich über die beiden geärgert." „Wieso?" Angela sah von dem Kaffee auf, den sie sich eben eingegossen hatte. „Weil sie sich einbilden, mir Vorschriften machen zu können. Sie haben mir gesagt, daß ich mit meinen Nachforschungen im Dorf aufhören soll." „Haben sie dir einen Grund genannt?" „Sie haben bloß gesagt, daß es gefährlich für mich werden könnte, wenn ich nicht aufhöre, in anderer Leute Kram herumzustöbern. Wie Malcolm könne es mir ergehen, haben sie gesagt." Sie sah ihn mit einem sehr ernsten und besorgten Gesichtsausdruck an. „Und?" fragte sie. „Wirst du damit aufhören?" „Nein. Ich kann nicht. Je mehr ich mich mit der Sache beschäftige, desto mehr bin ich überzeugt, daß Malcolm einer diabolischen Macht auf der Spur gewesen ist. Einer Macht, die ausgerottet und zerstört werden muß. Die Dinge, die vor sechs- oder siebenhundert Jahren in Redforde passiert sind, müssen so grauenvoll gewesen sein, daß das Böse, das damit in Verbindung stand, heute noch existiert. Ich will nicht behaupten, daß man Richard de Grinleys Fluch, den er über den Ort ausgesprochen hat, zu wörtlich nehmen sollte, aber es gibt sogar Wissenschaftler, die glauben, das sowohl gute wie auch böse Ausstrahlungen Vibrationen im Äther hervorrufen können, die sich auch dann noch halten, wenn diejenigen, die sie
ausgelöst haben, längst tot und vergessen sind." „Es würde mich interessieren, warum dich Dr. Harmon und Ralph Treherne davon abhalten wollen, deine Nachforschungen fortzusetzen", sagte Angela nachdenklich. „Jetzt, wo du davon erzählt hast, fällt mir ein, daß er es bei Malcolm genauso gemacht hat. Er ist sogar so weit gegangen, ihm zu drohen." „Die Geschichte wird von Tag zu Tag undurchsichtiger", sagte Terry. „Entweder hat Harmon Angst um seinen guten Ruf als Arzt, oder es steckt viel mehr dahinter. Vielleicht..." Er brach ab, weil es an der Haustür klopfte, und stand auf. „Wer kann denn das sein? Doch nicht etwa Dr. Harmon, der sich entschuldigen will?" Es war nicht Dr. Harmon, sondern ein Junge mit einem Fahrrad, der Terry ein Telegramm gab. „Für Mr. Amberley", sagte er. „Verzeihen Sie, daß es etwas länger gedauert, hat, aber ich mußte ganz aus Tenterton kommen, weil das Postfräulein von Redforde krank ist." „Ich weiß", sagte Terry, bedankte sich und gab dem Jungen zwei Shilling Trinkgeld. Wieder im Haus sah er eine ganze Weile mit gerunzelter Stirn auf den Umschlag in seiner Hand. „Hoffentlich keine schlechten Nachrichten", sagte Angela. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, was das sein soll", sagte Terry. „Höchstens, daß mich in London jemand dringend sprechen will, aber auch das ist eigentlich unwahrscheinlich." „Wie wär's denn, wenn du das Telegramm aufmachen würdest? Dann weißt du Bescheid." Terry nickte gedankenverloren, riß den Umschlag auf und zog das Telegramm heraus. Es kam aus Nottingham. Der Text war ihm zunächst ein Rätsel. HÖRE, DASS SIE GESCHEHNISSE IN UND UM REDFORDE ERFORSCHEN! BITTE SIE UM EIN MÖGLICHST RASCHES TREFFEN. MÖGLICHERWEISE GEHT ES UM LEBEN UND TOD! Wortlos reichte Terry dem Mädchen das Telegramm. Mit völlig verdattertem Gesicht las sie die Nachricht. „Wer ist denn dieser Clivedon Park?" fragte sie und starrte auf den Absender. „Kennst du den Mann überhaupt?" „Nie gesehen", sagte Terry. „Vielleicht ist es ein Bekannter von Malcolm." „Und was soll das Ganze bedeuten?" fragte Angela. „Möglicherweise geht es um Leben und Tod. Vielleicht irgendein Irrer, der
sich mit Okkultem befaßt." „Durchaus möglich. Andererseits kann es natürlich sein, daß er wichtige Informationen für mich hat." „Dann wirst du ihn also aufsuchen?" „Ja." Terry sah auf die Uhr. „Es ist erst halb neun", sagte er. „In einer knappen Stunde könnte ich in Nottingham sein." „Terry, nimmst du mich bitte mit? Die Sache wird von Tag zu Tag interessanter." „Interessanter?" Terry schüttelte den Kopf. „Ich habe das ungute Gefühl, daß gefährlicher das passendere Wort ist." Er mußte an die Ereignisse der vergangenen Nacht denken und wollte ihre Bitte gerade abschlagen, als ihm die Idee kam, daß sie möglicherweise in seiner Begleitung sicherer war als allein hier in Redforde. Leichter Nieselregen hüllte alles in ein gleichmäßiges Grau, als sie eine Stunde später durch einen Vorort von Nottingham fuhren. Angela kannte sich in der Stadt aus und zeigte Terry den Weg zu der gesuchten Straße. Vor einem kleinen Haus hinter einer Hecke, die den Vorgarten einzäunte, zog Terry die Bremse. Er hatte das Gefühl, daß hier die Zeit vorbeigezogen war, ohne Spuren zu hinterlassen. Auf ihr Klingeln tat sich zunächst nichts. Es blieb still. Doch dann wurde die Tür plötzlich aufgemacht, und eine ältliche Frau mit grauen Haaren und Nackenknoten stand starr vor ihnen. Terry hielt ihr das Telegramm hin. „Ich habe von einem gewissen Mr. Park eine Nachricht erhalten", sagte er freundlich. „Er hat mich gebeten, ihn möglichst schnell aufzusuchen. Mein Name ist Terry Amberley." Die Frau nickte. „Mr. Park erwartet Sie, Mr. Amberley. Kommen Sie bitte herein." Terry und Angela folgten der Frau in eine kleine, peinlich saubere Diele. Terry wußte nicht genau, was er eigentlich erwartet hatte, aber ganz gewiß nicht das. An den Wänden hingen scheußliche Totenmasken, über einer Tür ein weißgebleichter Totenschädel, der sie ausdruckslos anzugrinsen schien. Die Frau klopfte an der Tür darunter. „Der Besuch, den Sie erwarten, Mr. Park", rief sie. Eine unverständliche, bellende Antwort folgte, die Frau machte die Tür auf und forderte Terry und Angela mit einer Handbewe-
gung auf, einzutreten. Der Mann, der mit dem Rücken zu ihnen an einem der schmalen Fenster stand, war mindestens eins-fünfundachtzig groß, wirkte aber durch seine schlechte Haltung viel kleiner. Er war hager, und das viel zu große Jackett hing an ihm wie an einer Vogelscheuche. Aus den zu kurzen Ärmeln ragten knochige Hände. Der Mann drehte sich so abrupt um, daß Angela fast vor Schreck aufgeschrien hätte. Über den scharfkantigen Zügen schneeweiße Haare. Der stechende Blick der grauen Augen wanderte von Terry zu Angela und zurück. Die buschigen Brauen hoben sich fragend. „Das ist eine Bekannte von mir, Mr. Park", sagte Terry schnell. „Miß Angela Cowdrey. Sie hilft mir bei meinen Nachforschungen in Redforde." „Ich verstehe." Die dünnen Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Lächeln. „Ich frage mich allerdings, ob die junge Dame weiterhin gewillt ist, Ihnen zu helfen, wenn sie gehört hat, was ich Ihnen zu sagen habe." „Wie bitte?" „Nehmen Sie doch erst einmal Platz. Mrs. Forsyth soll uns Tee bringen. Nach einer Fahrt tut das immer gut." Terry warf Angela einen schnellen Blick zu und setzte sich auf einen der Stühle mit den hohen Lehnen. Er sah sich in dem düsteren Raum um. Durch die kleinen Fenster drang wenig Licht, vor allem, weil die dunklen Vorhänge fast ganz zugezogen waren. Dieser seltsame Mann schien das Tageslicht zu scheuen. Vielleicht hatte Angela doch nicht so unrecht, und dieser Mr. Park war tatsächlich einer von den schrulligen Typen, die sich mit übersinnlichen Dingen beschäftigen. Vielleicht war er einer von denen, die Karten legten und spiritistische Sitzungen abhielten. Terry hatte ihn nicht klingeln sehen, aber trotzdem ging die Tür auf, und die Frau trat ein. „Tee, bitte", sagte Mr. Park kurz. „Natürlich, Mr. Park." Die Tür ging wieder zu. Terry deutete auf das Telegramm in seiner Hand. „Ich verstehe nicht ganz, wie das gemeint war, Mr. Park", sagte er. „Haben Sie mir irgendwelche wichtigen Mitteilungen zu machen?" „Wichtig?" wiederholte Mr. Park. „Sind Sie sich denn nicht im
klaren darüber, auf was Sie sich da eingelassen haben?" Er schüttelte fassungslos den Kopf. „Ganz offensichtlich nicht. Das ist der Grund, warum ich Sie zu mir gebeten habe. Und zwar, bevor etwas passiert -Ihnen beiden." „Dann wissen Sie also, was in Redforde vor sich geht?" fragte Angela. „Ja, ich weiß Bescheid, Miß Cowdrey." Sein Blick wanderte zu Terry. „Ihr Bruder hat sich sehr für die alten Legenden in Verbindung mit dem Cranston Hill interessiert." Er fuhr sich mit dem Finger über die lange, schmale Nase. „Ich habe Ihren Bruder nicht persönlich gekannt, also können Sie von ihm auch meinen Namen nicht gehört haben. Trotzdem weiß ich mehr über ihn, als Sie ahnen. Ich habe sogar das Urteil des Ermittlungsrichters gelesen. Selbstmord, hat man gesagt, nicht wahr?" „Genau", sagte Terry. „Diese engstirnigen Narren!" zischte Mr. Park. „Absolut idiotisch. Wenn ihnen etwas über den Weg läuft, das sie nicht verstehen, müssen sie sich hinter bedeutungslosen Worten verstecken und irgendwelche für sie logische Erklärungen erfinden, damit sie die Sache ein für allemal vergessen können. Dem Ermittlungsrichter mache ich keinen Vorwurf. Er hat lediglich auf Grund von Beweismaterial, das man ihm vorgelegt hat, sein Urteil gefällt. Diesen bürokratischen Idioten, die ihm das Beweismaterial untergejubelt und das übrige, das sie sich nicht erklären konnten, einfach unterschlagen haben - diesen Idioten mache ich den Vorwurf. Sie stecken einfach den Kopf in den Sand und glauben, daß der Feind sie dann nicht sehen kann. Wenn wir es mit dem Bösen schlechthin zu tun haben, dann können wir uns nicht dadurch retten, daß wir weglaufen und so tun, als existiere es nicht. „Aber wie..." Terry unterbrach sich, denn die Haushälterin kam mit einem Tablett herein. Sie stellten es neben Clivedon Park auf den kleinen Tisch und wollte Tee eingießen, aber Mr. Park wehrte mit einer Handbewegung ab. Er wartete, bis sich die Tür wieder hinter der Frau geschlossen hatte. „Wie man das Böse bekämpfen kann?" sagte er, als wiederhole er lediglich eine Frage, die man ihm gestellt hatte. „Das hängt von einer Menge von Faktoren ab. Es gibt Mittel und Wege, aber die Gefahr ist sehr groß und der Preis für ein eventuelles Versagen grauenhaft."
„Wollen Sie damit sagen, daß uns dasselbe Schicksal blühen könnte wie Malcolm?" fragte Angela. Mr. Park sah das Mädchen lange an. Als er endlich sprach, war seine Stimme viel weicher als zuvor. „Meinen Sie den Tod, Miß Cowdrey?" fragte er, ohne auf eine Antwort zu warten. „Der Tod wäre noch das geringste Übel. Es gibt Dinge, die viel schlimmer sind." Terry spürte, wie sich ihm wieder der Magen zusammenkrampfte und seine Hände feucht wurden. Dieser Mann war kein Scharlatan - er meinte es absolut ernst. Er wußte, wovon er sprach. „Ich sehe Ihnen an, daß Sie begriffen haben, was ich meine, Mr. Amberley", sagte Mr. Park ruhig. „Aber - verzeihen Sie - ich vergesse meine Pflichten als Gastgeber." Er goß Tee ein und schob den Teller mit Gebäck zu Angela hinüber. „Verzeihen Sie mir die Frage", sagte Terry, als er von seinem Tee getrunken hatte, „Aber welches Interesse haben Sie an dem Fall? Sie wissen offensichtlich viel über das, was passiert ist, ich verstehe aber nicht, warum Sie sich um Menschen, die Sie überhaupt nicht kennen, in diesem Fall um uns, Sorgen machen." „Natürlich, wie ungeschickt von mir! Daß ich so gut informiert bin, ist in keiner Weise rätselhaft. Wie Sie sicherlich schon vermutet haben, beschäftige ich mich seit vielen Jahren mit übersinnlichen Dingen. Anfangs war ich, genau wie Sie, sehr skeptisch. Eine Anzahl von hysterischen Dorfbewohnern bildet sich ein, auf einem einsamen Hügel geisterhafte Erscheinungen beobachtet zu haben, und sofort ist von satanischen Kräften oder Mächten die Rede, und die Legenden wuchern. Jemand malt sich alte Runenzeichen auf den Fußboden, murmelt ein paar Zaubersprüche, die er aus einem alten Buch hat, und ein Geist erscheint ihm. Sich selbst aufgesetzte Hypnose würde ich sagen. Der schiere Aberglaube. Die Chroniken aus dem Mittelalter sind voll von dererlei Berichten. Vor über vierzig Jahren habe ich mich entschlossen, den alten Legenden nachzugehen und das Körnchen Wahrheit herauszufinden, das sie möglicherweise enthalten. Glauben Sie mir, die sprichwörtliche Stecknadel im Heuhaufen zu finden, ist leichter als die Aufgabe, die ich mir gestellt habe. Aber ich gab nicht auf und mußte bald feststellen, daß sich unter dem Wust von Lügen
und Halbwahrheiten Dinge verbergen, die sich nicht zufriedenstellend erklären lassen. Es ist eine nicht wegzuleugnende Tatsache, daß es derlei Dinge gab und noch gibt. Das Böse kann eine sehr potente und sehr gefährliche Macht sein, Mr. Amberley. So wie wir uns inzwischen daran gewohnt haben, an Wunder zu glauben, die irgendwann in der Vergangenheit geschehen sind, müssen wir auch daran glauben, daß das Böse wachgerufen werden kann und verheerende Zerstörungen anrichtet." „Und Sie glauben, daß so eine Macht des Bösen in und um Redforde herum tätig ist?" „Absolut. Deshalb ist die Gefahr für jemand, der nicht damit umzugehen weiß, so unbeschreiblich groß. Die Familie de Grinley ist Ihnen ein Begriff, oder?" „Ja. Sie scheint der Kern der Legende zu sein." „Mehr als das", sagte Mr. Park und beugte sich vor. „Richard de Grinley ist der Grundstein, wenn ich es einmal so nennen darf." „Das verstehe ich nicht", sagte Angela. „Ganz gleich, was die Chronik schreibt, beziehungsweise verschweigt, muß er doch schon seit Jahrhunderten tot sein." „Die Kreatur, die sich Richard de Grinley nannte, ist vielleicht vor Jahrhunderten gestorben", sagte Clivedon Park mit nachsichtigem Ton, „aber nicht der Dämon, der sie beherrschte." Er stand auf. „Daß im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert eine große Anzahl von Menschen in Redforde gestorben ist, wissen Sie, nicht wahr?" „Sie meinen durch Hexenverbrennungen und dergleichen?" „Aber nein! Natürlich hat es Hexenverbrennungen und ähnliches gegeben, daran besteht kein Zweifel. Ich spreche hier aber von anderen Ereignissen. Man fand zahlreiche Menschen hinter verschlossenen Türen mit entstellten Gesichtern und verstümmelten, gezeichneten Leibern. In den Chroniken steht, daß diese Menschen aus Angst gestorben sind - aber in verschlossenen Räumen ohne Eingang oder Ausgang?" „Das ist alles sehr interessant, Mr. Park", sagte Terry und stellte seine Teetasse ab. „und wir sind Ihnen für Ihre Warnung auch sehr dankbar, aber ich bin darum nur um so entschlossener, der Sache auf den Grund zu gehen." „Das habe ich erwartet", sagte Clivedon Park prompt. „Ich woll-
te Sie nur bitten, meine Hilfe anzunehmen. Um ehrlich zu sein, ich habe zwanzig Jahre lang sehnlich auf einen solchen Fall gewartet. Übrigens - falls Sie sich die Frage stellen, wieso ich so gut informiert bin, dann muß ich Ihnen erklären, daß ich eine Art guten Geist in Redforde habe, der mich immer auf dem laufenden hält. Er hat mich sogar über gewisse Umstände in Zusammenhang mit dem Tod Ihres Bruders aufgeklärt, von denen Sie wahrscheinlich keine Ahnung haben." Terry saß schweigend da, bis ihm plötzlich die Erkenntnis kam. „Der Vikar", sagte er und nickte. „Richtig. James Ventor. Er hat mich gestern angerufen und mir erzählt, daß er sich hat überreden lassen, Ihnen die Chronik zu geben. Ich nehme an, daß Sie sie noch haben." „Ja, aber unter festem Verschluß", sagte Terry. „Ich bin mir durchaus bewußt, daß sie nicht jedem unter die Augen kommen darf." „Womit für mich folgendes bewiesen ist: auch Sie sind mittlerweile überzeugt davon, daß die uns zur Verfügung stehenden Tatsachen auf einen - sagen wir - schwebenden Einfluß hinweisen, der sich in Redforde niederschlägt." „Sagen wir lieber, daß ich das Thema mit sehr offenen Augen betrachte. Sie bieten uns Ihre Hilfe an, und ich bin Ihnen sehr dankbar dafür. Bis jetzt war mein Wissen von übernatürlichen Dingen auf das des normalen Durchschnittsmenschen beschränkt, und..." Clivedon Park, der vor einem der Fenster gestanden war, fuhr herum, die Hände auf dem Rücken zusammengepreßt. „Stimmt das wirklich, Mr. Amberley?" fragte er. „Sie hatten bisher keinen greifbaren Kontakt mit diesen Mächten?" „Da war doch diese seltsame Sache vor zwei Nächten, Terry", schaltete sich Angela spontan ein. „Sehen Sie, dachte ich es mir doch", rief Mr. Park aufgeregt und setzte sich wieder in seinen Sessel. „Und was war das?" „Ach, im Grunde nichts von Bedeutung." Terry war im Moment aus dem Konzept gebracht. „Ich muß wohl, im Schlaf gewandelt sein, was ja völlig normal ist." „Sicherlich. Es kann zumindest normal sein, was ich jedoch vorläufig noch dahingestellt sein lassen will, wenn Sie erlauben. Vielleicht sind Sie so freundlich und erzählen mir nähere Details."
„Aber gern. Ich habe auf dem Cranston Hill ein Messer gefunden, das allem Anschein nach sehr sehr alt ist und das dem ähnelt, das in der Brust meines Bruders steckte. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich das Messer in der Bibliothek in die Schreibtischschublade geschlossen, bevor ich mich an die Lektüre der Kirchenchronik machte. In derselben Nacht hatte ich eine Art Alptraum. Ich kann mich nur noch schwach daran erinnern. Es war mir, als führe mich mein Bruder zu einer Zusammenkunft auf dem Cranston Hill. Ich sehe mich noch vor einem Altar stehen, auf dem etwas Weißes lag, und Malcolm drückte mir plötzlich dieses Messer oder ein ähnliches in die Hand. Es war, als habe ich den Befehl erhalten, das Opfer zu vollziehen und... ja, da war noch etwas." Terry schauderte unwillkürlich zusammen. „Mir gegenüber, auf der anderen Seite des Altars, stand eine gräßliche, fratzenhafte Gestalt, die nichts Menschliches an sich hatte." „Weiter, weiter", drängte Clivedon Park, als Terry zögerte. „Was war dann?" „Nicht sehr viel. Ich muß im gleichen Moment aufgewacht sein. Das Merkwürdige war bloß, daß ich das Messer in der Hand hatte und der Teppich vor meinem Bett und meine nackten Füße lehmbeschmiert waren." „Aha." Mr. Park fuhr sich nervös mit dem Finger durch den Kragen. „Die Lage ist demnach viel ernster, als ich gedacht habe. Ich persönlich hege berechtigte Zweifel. Hier handelt es sich nicht um Schlafwandeln, wie Sie zu glauben scheinen. Ich halte es für das beste, Mr. Amberley, wenn ich mit Ihnen nach Redforde zurückfahre. Ich weiß, daß mein Freund, der Vikar, nichts dagegen haben wird, mich einige Tage als Gast aufzunehmen. Für mich wird es eine große Erleichterung sein, an Ort und Stelle zu sein, denn ich mache mir die größten Sorgen." Terry traute seinen Ohren nicht und warf Angela einen schnellen Blick zu. Das Mädchen lächelte schwach. Offensichtlich hielt sie Clivedon Park für einen exzentrischen Einsiedler, der sich mit seinen verschrobenen Ideen abgab und kaum eine große Hilfe sein konnte. „Ich nehme Sie natürlich gern mit", sagte Terry höflich, aber sehr wohl war ihm nicht bei dem Gedanken. Eine halbe Stunde später fuhren sie durch die Dezembersonne. Zu beiden Seiten der Landstraße erstreckten sich kahle Felder, die vollen Straßen von
Nottingham lagen längst hinter ihnen. Hier draußen in der freien Natur schienen alle schwülen, finsteren Gedanken wie weggewischt zu sein. Die unerklärlichen Schrecken, die er in den letzten Tagen hatte erleben müssen, hatten ihre bedrückende Bedeutung verloren. Vielleicht war es auch die Anwesenheit Clivedon Parks auf dem Rücksitz, die Terry alles wieder in einem normalen Licht sehen ließ. „Als ich vor zehn Monaten zum letztenmal in Redforde war", sagte Clivedon Park, „hat man mir das Haus Ihres Bruders gezeigt, Mr. Amberley. Wohnen Sie jetzt auch dort?" „Ja. Ich wollte Ralph Treherne nicht zu lange zur Last fallen. Außerdem hoffte ich im Haus meines Bruders Anhaltspunkte zu finden." „Ich verstehe." Clivedon Park überlegte einen Moment. „Dann kennen Sie inzwischen auch das Zimmer im ersten Stock, oder? Das am Ende des Flurs, meine ich." Terry zuckte fast unmerklich zusammen. Er nickte. „Vergangene Nacht", sagte er. „Warum fragen Sie?" „Das tut im Moment nichts zur Sache." Park lehnte sich wieder in seinen Sitz und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. „Nur noch eine Frage, Mr. Amberley", sagte er mit ausdruckslosem Gesicht. „Ist Ihnen in diesem Zimmer irgend etwas Außergewöhnliches aufgefallen?" Terry schweig. „Das habe ich mir gedacht", sagte Clivedon Park nach einer Weile. „Und Sie haben es mir nicht erzählt. Wenn ich Ihnen helfen soll, Mr. Amberley, dürfen Sie mir nichts verschweigen... Nun, was war es denn? Ein Gefühl von unnatürlicher Hitze? Oder Kälte? Haben Sie beobachtet, wie plötzlich etwas Form angenommen hat?" Terry spürte, wie Angela ihn von der Seite her beobachtete, und tat so, als sei er voll auf die Landstraße konzentriert. „Gut", sagte er schließlich. „In Gottes Namen. Ja -ich habe etwas in dem Zimmer zu sehen geglaubt, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher und halte es für möglich, daß ich mir alles nur eingebildet habe." „Davon hast du mir ja gar nichts erzählt, Terry", sagte Angela vorwurfsvoll. „Ich wollte dich nicht mit meinen wilden Phantastereien beunruhigen", sagte Terry schwach.
„Aber jetzt sollten Sie es erzählen, Mr. Amberley", sagte Clivedon Park in ziemlich autoritärem Ton. „Wie Sie meinen. Die Geschichte ist so irre, daß Sie mir wahrscheinlich sowieso nicht glauben." Er berichtete in knappen Worten, was ihm passiert war. Clivedon Park unterbrach ihn nicht ein einziges Mal. Als Terry geendet hatte, holte der Mann auf dem Rücksitz tief Luft. „Sie hatten Glück, daß Sie noch mit dem Schrecken davongekommen sind", sagte er. „Unheimliches Glück sogar. Ich hätte nie gedacht, daß Ihr Bruder so weit gekommen ist. Er muß es geschafft haben, einige von den alten Schriften zu übersetzen." Er schwieg eine Zeitlang, dann sprach er weiter, aber wie zu sich selbst. „Die Angst lauert seit undenkbaren Zeiten in Redforde und Umgebung. Sie ist fast zur Tradition geworden. Der Hügel mit den Drohenden Steinen ist seit eh und je der Mittelpunkt wildester Geschichten, von denen Sie nicht die Hälfte glauben würden. Monströse Geschichten über das Böse, das manchmal Menschengestalt annimmt, aber nur, wenn es wieder einmal ein Opfer im Ort oder in der Umgebung gefunden hat. Ich fürchte, wir müssen im Moment mit dem Schlimmsten rechnen." „Was meinen Sie damit?" fragte Angela mit ängstlicher Stimme. Sie drehte sich um und sah den merkwürdigen Mann an. „Ich meine folgendes, Miß Cowdrey", antwortete dieser. „Wenn die alten Chroniken recht haben, dann nistet sich das Böse irgendwo ein und rührt und regt sich nicht, bis es fast vergessen ist und nur noch in den Gruselgeschichten existiert, die sich die Dorfbewohner in mondhellen Nächten erzählen. Dann und wann jedoch taucht jemand auf, der es nicht lassen kann, sich intensiver mit den seltsamen Vorkommnissen in Redforde zu beschäftigen als die anderen, der sich mit den alten Riten abgibt und die Geister ruft - wenn Sie so wollen - und schließlich zu ihrem Opfer wird. Wenn das passiert, ist die böse Macht wieder von ihrem lähmenden Bann befreit und macht sich ausgeruht, sozusagen mit frischen Kräften, an ihr Vernichtungswerk. Ihr Bruder, Mr. Amberley, war so ein Mensch. Jetzt ist er tot, und diese geisterhafte Macht ist frei. Was passieren wird, läßt sich nicht voraussagen. Das, was Sie vergangene Nacht erleben mußten, entstammte nicht Ihrer Phantasie, Mr. Amberley. Ich wünschte zu Gott, Sie hätten sich alles nur eingebildet."
Das drückende Schweigen, das seinen Worten folgte, hielt durch Tenterton bis Redforde an. Im Sonnenschein des frühen Nachmittags lag das Dorf in die umliegenden Hügel eingebettet und schien friedlich vor sich hinzudösen. Terry Amberley hatte plötzlich das ungute und völlig unbegründete Gefühl, daß in diesem Frieden etwas unbeschreiblich Böses lauerte und darauf wartete, endgültig zuschlagen zu können. Neben dem baufälligen Pfarrhaus hinter der Kirche zog er die Bremse. Der Vikar war in seinem kleinen Garten und schnitt die Hecke, die ihn umgab. Als er seinen Besuch aus dem Wagen steigen sah, kam er sofort zum Tor und wischte sich die Hände an einem alten Lumpen ab. Clivedon Park plötzlich in Redforde zu sehen, schien ihn wenig zu erstaunen. Er schüttelte dem Freund herzlich die Hand. „Damit habe ich fast gerechnet", sagte er lachend. „Meine Spürnase läßt mich doch nie im Stich." Clivedon Park nickte, schien aber die gute Laune des Vikars nicht teilen zu können. „Nach dem, was ich von diesem jungen Mann gehört habe", sagte er und deutete auf Terry, „komme ich gerade noch rechtzeitig." 6. Zwei Nächte später rollte der Donner über die Hügel, die Redforde umgaben. Ein Sturm, der plötzlich vom Norden her aufgekommen war, trieb schwarze Wolken vor sich her und verdunkelte die Sterne. Im Wohnzimmer des Pfarrhauses verbreitete das knackende Feuer im Kamin eine angenehme Wärme, die für Terry Amberley durch die zwei Whiskys, die er getrunken hatte, noch wohliger wurde. Der Vikar zog gerade seinen Mantel an und knöpfte ihn zu. Er nahm die Pfeife vom Kaminsims, steckte sie zwischen die Zähne und zündete sie an. Er sah mittlerweile ganz anders aus als der Mann, an den sich Terry immer gern erinnert hatte. Nichts mehr war übrig von dem immer lachenden, fröhlichen Ausdruck auf dem gutmütigen Gesicht. Seine Stirn war bewölkt, die Falten um die Augen und Mundwinkel waren tiefer denn je. „Sind Sie ganz sicher, daß Sie die Sache durchkämpfen wollen,
Amberley?" fragte er. „Sie können es sich immer noch anders überlegen. Schließlich verlangen wir eine Menge von Ihnen. Die Sache ist so beispiellos, daß ich mich fragen sollte, ob ich mich ohne das Einverständnis meines Bischofs überhaupt daran beteiligen sollte." „Ich kann Ihre Zweifel gut verstehen, mein lieber Ventor", sagte Clivedon Park, die langen, hageren Beine von sich gestreckt. „Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, uns das zu beweisen, was wir beweisen wollen, dann wäre ich der erste, der sie wählen würde - das könnten Sie mir glauben. Aber unglücklicherweise scheint es eben keine andere Möglichkeit zu geben." Er bedachte Terry mit einem Blick aus zusammengekniffenen Augen. „Wir müssen Ihren Bruder exhumieren, Mr. Amberley. Es ist mir völlig klar, daß wir damit das Gesetz verletzen und jeder von uns ins Gefängnis kommen kann. Wobei...", er stand auf und lächelte schwach, „man uns sicherlich mildernde Umstände anrechnen würde, weil der Vikar dabei ist." Draußen klatschte plötzlich der Regen gegen die Fenster. Die Nacht war für dererlei Unternehmungen alles andere als ideal. Die drei Männer hatten den ganzen Nachmittag von nichts anderem gesprochen. Anfangs hatte Terry den Vorschlag glatt abgelehnt, und allein bei dem Gedanken war ihm übel geworden. Aber Clivedon Park hatte ihn langsam aber sicher davon überzeugt, daß der Schritt unumgänglich war, weil man sich die unvermeidlichen Folgen an allen fünf Fingern abzählen konnte, wenn die Leiche des Bruders nicht exhumiert wurde. „Sie können sich auf mich verlassen", hatte Clivedon Park gesagt. „Ich erledige alles, was für Sie eine Zumutung und eine zu große Belastung wäre." Vikar Ventor nahm die Pfeife aus dem Mund und drückte mit dem Daumen auf die schwache Glut. „Und was hoffen Sie eigentlich zu finden, Park?" fragte er. „Wie Sie wissen, verfolge ich die Ereignisse in meinem Sprengel seit einer ganzen Zeit. Eben seit ich von den Vorgängen hier erfuhr und ahnte, wozu es noch kommen würde. Ich habe sogar mit meinem Bischof gesprochen und ihm meine Ängste offenbart, aber er ist leider ein sehr nüch-
terner Mann und lehnt es ab, Dinge zu glauben, die ihm nicht konkret bewiesen sind, und dazu war ich eben nicht in der Lage." „Genau diese Beweise will ich Ihnen beiden heute nacht liefern", sagte Clivedon Park. „Glauben Sie vielleicht, ich würde mich sonst in ein solches Unternehmen stürzen?" Sein schwaches Lächeln änderte kaum etwas an seinem finsteren, energischen Gesicht. „Die Tatsache, daß das Böse greifbare Form annehmen kann, wird von so gut wie allen Menschen nicht nur abgelehnt, sondern als komplett unsinnig verlacht. Die Wissenschaft tut sich leicht und spricht einfach von dummem Aberglauben. Nur ein paar auserwählte Menschen wie wir wissen Bescheid. Nehmen Sie doch nur den Werdegang Ihres Sprengels, Ventor. Überlegen Sie sich, wie viele Ihrer Vorgänger versucht haben, Redforde von dem Fluch zu befreien und wie sie alle der Reihe nach versagt haben." Ventor rieb nervös die Hände aneinander und paffte an seiner Pfeife, als könne sie ihm wenigstens eine Spur Trost bringen. Der müde Ausdruck auf seinem Gesicht schien zu beweisen, daß er es endlich aufgegeben hatte, sich dagegen zu sträuben. „Gut, einverstanden", sagte er. „Aber angenommen wir finden tatsächlich das Erwartete, wie wollen wir dann das Böse bekämpfen, an dem so viele brave Männer der Kirche zerbrochen sind?" „Dieses Hindernis", sagte Clivedon Park, „werden wir nehmen müssen, wenn es so weit ist. Und wie wir es nehmen, entscheidet sich erst dann, Ventor. Zunächst müssen wir Tatsachen sammeln. Bis wir nicht genau wissen, wo wir stehen, lassen sich keine Pläne machen, nur die nötigen Vorsichtsmaßnahmen können und müssen getroffen werden." Terry machte wortlos den obersten Knopf seines Jacketts auf und deutete auf das große silberne Kreuz, das ihm Ventor gegeben hatte. Clivedon Park nickte. „Ja, das ist eine der Vorsichtsmaßnahmen. Seit Menschengedenken ist das Kreuz die größte Macht gegen das Böse. Schon in vorchristlichen Zeiten wurde es von den Priestern zu kultischen Zwecken benutzt." Terry knöpfte das Jackett wieder zu. Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach elf. „Gut", sagte er mit einer Stimme, die er selbst nicht wiedererkannte. „Worauf warten wir dann noch? Je schneller wir es hinter uns bringen, desto besser." Wind und Regen schlugen ihnen entgegen, als sie mit gebeug-
ten Köpfen das Haus verließen. Clivedon Park hatte eine Laterne dabei, Terry eine große Taschenlampe. Innerhalb kürzester Zeit waren sie bis auf die Haut durchnäßt. Die Mäntel schlugen ihnen schwer um die Beine. Der Wind zerrte an den Ästen der alten Bäume. Der Boden unter ihren Füßen war aufgeweicht und glitschig. Terry mußte an die Fahrt von London nach Redforde denken. Wenn er in jener Nacht bereits gewußt hätte, welche finstere Kette von Ereignissen auf ihn wartete, hätte er bestimmt kehrtgemacht und wäre zurückgefahren. Und wieder plagte ihn die entscheidende Frage: Welche heidnischen Methoden hatte Malcolm angewandt, um die diabolischen Kräfte zu rufen? War es möglich, daß eine Reinkarnation Richard de Grinleys stattgefunden hatte, die - wie Clivedon Park glaubte ihre zügellose Rache gegen Redforde und seine Bewohner richtete? Im Norden zuckte plötzlich ein greller Blitz über den schwarzen Nachthimmel. Terry hob automatisch den Kopf und sah den Cranston Hill als bedrohliche Masse vor sich. Der titanische Donner, der fast im selben Moment die finstere Landschaft überrollte, zerriß ihm fast das Trommelfell. Er zuckte zusammen. Bloß nicht an das denken, was sie vorhatten. Schon jetzt war der bittere Geschmack in seinem Mund so ekelhaft, daß er sich am liebsten übergeben hätte. Er machte sich Vorwürfe, die beiden Männer nicht davon abgehalten zu haben. Seltsamerweise hatte er jedoch keinerlei Gewissensbisse. Die grauenvollen Ereignisse der letzten Tage und Nächte schienen sein Denken in gewissen Dingen stumpf gemacht zu haben. Es war, als habe er sich hinter eine schützende Mauer zurückgezogen und tat nur noch, was unbedingt getan werden mußte, ungeachtet der möglichen Folgen. Ein metallisches Klicken ertönte, als der Vikar das Tor des Friedhofs aufmachte. Die uralten Bäume schienen mit ihren tropfenden Ästen nach ihnen greifen zu wollen, als sie den Kirchhof betraten. Selbst der Kirchturm wirkte unheilvoll. Schweigend gingen sie an den alten, zum Teil mit Moos bewachsenen Grabsteinen vorbei, bis Ventor stehenblieb und auf einen Erdhügel deutete. „Das ist das Grab", sagte er.
„Sind Sie sich ganz sicher?" fragte Clivedon Park im Flüsterton. „Hundertprozentig", sagte der Vikar. „Ich verstehe nur nicht, was mit den Kränzen und Blumen passiert ist. Wer tut denn so etwas?" Die drei Männer starrten auf die zerpflückten und zerrissenen Überreste der Blumen und Zweige, die einmal zu Kränzen gebunden gewesen waren. „Nicht wer das getan hat, ist wichtig", sagte Clivedon Park, „sondern warum es getan worden ist." Ohne auf eine Entgegnung zu warten, packte er die Schaufel und machte sich an die ungewöhnliche Aufgabe, die er sich gestellt hatte. Vielleicht bin ich mittlerweile völlig abgestumpft und gefühllos, dachte Terry. Seit über zwanzig Minuten schaufelten sie schon. Das Loch war gut eineinhalb Meter tief. Von Clivedon Park sah man nur noch den Kopf und die Schultern. Das Gewitter hatte sich in die Ferne verzogen. Man hörte nur noch ab und zu den Donner grollen und sah den Horizont in gelblichem Schein aufleuchten. Es regnete noch in Strömen. Der Sturm hatte sich etwas gelegt. Die Luft war bitterkalt. Am Himmel waren einige Sterne aufgetaucht. Als Clivedon Park plötzlich sprach, schraken Terry und Ventor zusammen. „Ich bin soweit", sagte Park. „Gebt mir die Laterne herunter." Mit zitternder Hand reichte Terry die Laterne in das Loch. Die feuchten Erdwände glühten in dem gelben Schein. Nur mit Mühe konnte sich Terry zurückhalten. Am liebsten wäre er einfach in die Nacht hineingerannt. Warum nur hatte er sich auf dieses grauenvolle Unternehmen eingelassen? Welches Recht hatten sie, einen Toten in seiner ewigen Ruhe zu stören? Er konnte nur hoffen, daß Angela nie davon erfuhr. Sie würde nicht das geringste Verständnis dafür aufbringen, davon war er überzeugt. Nach einer Ewigkeit, wie es ihnen schien, hörten sie plötzlich einen erstickten Ausruf. Ventor fuhr zusammen. „Nun reden Sie doch schon, Park!" rief er fast wütend, Nach langem Schweigen tauchte Clivedon Parks Kopf wieder
auf. Er stellte die Laterne neben den Erdhügel an den Rand des Lochs „Sie müssen sich das wohl selbst anschauen", sagte er mit zitternder Stimme. „Leuchten Sie mit Ihrer Taschenlampe herunter, Amberley." Es dauerte einige Sekunden, bis Terry sich dazu zwingen konnte. Er machte schließlich zwei Schritte nach vorn und richtete den kräftigen Lichtstrahl in das Loch. Im gleichen Augenblick schoß ihm das Blut aus dem Kopf, und die Angst packte ihn wie mit tausend klammen Fingern. Er wollte etwas sagen, aber die Worte vertrockneten in seiner Kehle. Das war schierer Wahnsinn! Die Ausgeburt des Irren schlechthin! Der Deckel war zersplittert und der Sarg leer! Ventor stammelte etwas, aber Terry verstand die Worte nicht. Er trat zurück, denn Clivedon Park stützte beide Hände auf den Rand des Lochs und zog sich hoch. „Helfen Sie mir, das Grab wieder zuzuschütten, Amberley", sagte er mit tonloser Stimme. „Meine schlimmsten Ängste sind bestätigt, mehr können wir jetzt nicht mehr tun." Terry nahm die Schaufel und reagierte wie ein Roboter. Sein Denkvermögen war wie abgestellt und schien sich zu weigern, die Realität zu akzeptieren. Er arbeitete fieberhaft, bis das Grab wieder völlig zugeschaufelt war. Erst als sie wieder im Pfarrhaus waren und Terry einen doppelten Whisky im Magen hatte, erst dann gelang es ihm wieder, einen klaren Gedanken zu fassen. „Wie kann das bloß geschehen sein?" sagte der Vikar, der als erster wieder zu Worten fand. „Ich meine das, was wir mit eigenen Augen gesehen haben. Wie kann denn jemand so etwas tun? Und vor allem -warum?" „Vergessen Sie nicht, Ventor", sagte Clivedon Park, „daß wir es auch tun wollten, daß wir fest dazu entschlossen waren." Er fuhr sich durch das spärliche Haar. „Die Frage ist, wo sich die Leiche jetzt befindet." Terry beugte sich in seinem Sessel vor. „Wissen wir denn überhaupt mit Sicherheit, daß Malcolm tot ist?" fragte er. „Vielleicht haben wir einen leeren Sarg begraben."
Clivedon Park schüttelte langsam den Kopf. „Sie dürfen jetzt nicht nach Ausflüchten suchen, Amberley", sagte er. „Glauben Sie nicht, daß ich Sie nicht verstehe. Sie würden am liebsten glauben, daß Ihr Bruder gar nicht gestorben ist, um nicht mit der Realität konfrontiert zu sein. Ich..." Er zögerte. „Sprechen Sie ruhig weiter", sagte Terry. „Sie haben mit eigenen Augen gesehen, daß der Sarg leer ist. Aber etwas haben Sie offensichtlich nicht bemerkt. Als ich den Sarg öffnete, war der Deckel schon zerschmettert." „Dann muß ihn in den letzten Tagen jemand gewaltsam geöffnet haben", sagte Ventor. „Das ist richtig", sagte Clivedon Park. „Gewaltsam - ja. Aber es handelt sich trotzdem nicht um Leichenschändung. Sehen Sie -" er räusperte sich - „der Sarg ist nämlich nicht von außen geöffnet worden, sondern von innen." „O Gott!" Der Ausruf des Vikars klang unnatürlich laut in der Stille des Raumes. Terry Amberley fand in der Nacht keinen Schlaf. Er saß in einem Sessel vor dem Fenster und versuchte, Ordnung in seine verwirrten Gedanken zu bringen. Seine Nerven schienen völlig außer Kontrolle zu sein. Sie waren angespannt und bäumten sich gegen die feindselige Flut auf, die vom Cranston Hill herunterzurollen und in sein Zimmer zu kriechen schien. Terry stand nervös auf, machte das Licht aus und kehrte im Dunkeln an das Fenster zurück. Das Dorf lag wie ausgestorben vor ihm. Nur im Pfarrhaus war Licht. Sonst war alles dunkel. Clivedon Park und der Vikar konnten also auch nicht schlafen. Worüber die beiden wohl im Moment redeten? Waren sie dabei, ihre unvorstellbare Entdeckung zu besprechen, Pläne zu machen? Pläne, trotz der Gefahr, die überall lauerte, die man nicht sehen, die aber jeden Moment zuschlagen konnte? Ohne Vorwarnung. Würden sie stark genug sein, ihr entgegenzutreten, wenn der Augenblick gekommen war? Gab es überhaupt eine Möglichkeit, sie zu besiegen? Einige Minuten verstrichen. Die bleiche Sichel des Mondes tauchte langsam am Horizont auf und schickte ihren kränklichen
Schein über die leere Landschaft. Der Sturm hatte sich gelegt, aber die Luft schien noch genauso pestgeschwängert zu sein wie vorher. Der Schweiß klebte an Terrys Körper und rann ihm über den Rücken. Von irgendwoher drang ein schwaches Summen und Murmeln an sein Ohr. Es war so schwach, daß er sich nicht sicher war, ob er es tatsächlich hörte. Konnte es sein, daß es nur in seinen Gedanken existierte? Er drehte langsam den Kopf nach allen Seiten, vermochte aber nicht festzustellen, aus welcher Richtung das akustische Gefühl kam, das in seiner Haut zu pulsieren schien und sich so steigern konnte, daß es ihn wie Elektroschocks durchfuhr. Lange Zeit stand Terry so am Fenster, bis sich plötzlich sein Körper gegen seinen Willen auflehnte und sich auf die Tür zubewegte. Es war, als ob ihn eine unsichtbare Hand vorwärtsschob. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht und tropfte ihm in die Augen, aber er spürte es kaum. Seine merkwürdig gefühllosen Finger tasteten nach der Türklinke und drückten sie nach unten. Mit automatischen Bewegungen stieg er die Treppe hinunter und ging in die Bibliothek. Durch den Nebel, der seinen Geist einzuhüllen schien, wehrte sich Terry Amberley mit aller Kraft gegen die unsichtbare Macht, die ihm ihren Willen aufzwang - aber er scheiterte. Das Pulsieren in seinem Kopf wurde immer stärker. Er kam nicht gegen die Macht an, die ihn beherrschte. Ob Treherne und Dr. Harmon diese Macht gemeint hatten? Wenn ja, woher wußten sie, daß sie existierte? Gegen seinen Willen schloß Terry Amberley die Schreibtischschublade auf und holte das alte Kultmesser heraus. Die Luft in dem Raum schien auf diabolische Weise zu knistern; zugleich wußte er, daß dieses Knistern nur in seinem Kopf existierte. Etwas lockte ihn aus dem Haus. Die feuchtkalte Nachtluft legte sich wie heißer Leim auf seine Glieder. Er wurde immer benommener und wunderte sich, daß er überhaupt noch in der Lage war, den Wind im Gesicht zu spüren. Die Häuser im Dorf lagen im tiefen Dunkel, aber am Rand seines Blickfeldes war ein blasses, eitriges Glühen. Er drehte den Kopf, und als er sah. woher das Glühen kam, überfiel ihn unbeschreibliches Entsetzen. Die Kuppe des Cranston Hill mit den drohend gegen den Himmel gerichteten Steinsäulen war in den Widerschein eines Höllen-
feuers getaucht, das bis zu den Wolkenfetzen hinaufreichte. Wie Terry Amberley gewahr wurde, daß er sich auf den unheilvollen Hügel zubewegte, erfaßten ihn Tausende von neuen, quälenden Ängsten, die aus der Erinnerung gespeist wurden. Terry Amberley wollte stehenbleiben, aber seine Beine gehorchten ihm nicht, sondern trugen ihn Schritt für Schritt weiter. Das Murmeln und Surren erfüllte wie ein Trommelwirbel seinen Kopf und rollte wie ein endloses Echo durch seinen Schädel. Sollte alles, was er bisher erlebt hatte, nur der Vorgeschmack auf die Hölle sein, in die er jetzt eintauchen mußte? Hatte das alles nur die Schrecken dieser Nacht vorbereitet? Als Terry an die Straße gekommen war, blieb er stehen, als sei er sich nicht sicher, ob er ins Dorf oder in die entgegengesetzte Richtung gehen solle. Die Stille der Nacht war hörbar. Sie hatte nichts mit der Ruhe eines Dorfes zu tun, in dem jeder Bewohner in tiefem Schlaf lag, sondern enthielt die hohle Abgeschiedenheit eines Orts, der von Menschen gemieden wurde. Terry Amberley wandte sich dem höllischen Glühen am Horizont zu und ging weiter. Gott allein konnte wissen, welche Schrecken ihn dort erwarteten, aber er spürte, daß er hinwandern mußte, denn er war hilflos dem Griff der unsichtbaren Macht ausgeliefert. Ein tiefhängender Zweig schlug ihm ins Gesicht, und er taumelte zur Seite. Er fuhr sich mit der Hand über die schmerzende Stelle. Sie war feucht. Entsetzt betrachtete er seine fünf Finger. Sie waren blutig. Irgendwo glaubte er Stimmen zu hören, aber ihr Laut ging in dem Dröhnen seines Kopfes unter. Irgend etwas schlug ihn auf den Rücken. Terry ging in die Knie und stützte sich gerade noch mit den Händen ab, sonst wäre er auf das Gesicht gefallen. Dann hatte er das Gefühl, als würde etwas um seinen Nacken geworfen. Einen Moment lang wehrte er sich. Ein tödliches Feuer schien in seiner Brust zu brennen und sein Herz durchbohren zu wollen. Im nächsten Augenblick war der Bann gebrochen und sein Geist war wieder klar. Er tastete sich mit zitternden Fingern über das Gesicht und fand die Stelle, wo sich die Dornen tief in das Fleisch eingegraben hatten. Sein Kopf fiel zur Seite, und keuchender
Atem entrang sich seiner Brust und zwängte sich durch die zusammengebissenen Zähne. Verschwommen sah er eine große, hagere Gestalt, die sich über ihn beugte und deren Gesicht immer näher kam. Schlohweiße Haare rahmten es wie ein Heiligenschein ein. Die Augen waren dunkel und stechend, der Blick sorgenvoll „Ist alles in Ordnung, Amberley?" Clivedon Park schrie ihm die Frage ins Gesicht, weil er ihn zu schocken hoffte. Im ersten Augenblick wollte sich Terry dagegen auflehnen. Warum ließ man ihn nicht in Ruhe? Er wollte schlafen und von allem nichts mehr wissen. Doch ein Arm zog ihn in die Höhe, ein anderer stützte ihn. Terry wandte den Kopf und erkannte plötzlich den Vikar, dem das Entsetzen und die Angst ins Gesicht geschrieben standen. „Was... was ist denn passiert?" stammelte Terry. „Wo bin ich?" Es schüttelte ihn vor Kälte und Erschöpfung. Seine Finger berührten etwas Kaltes, Metallisches an seiner Brust. Er senkte den Kopf. Das silberne Kreuz! Das war es also, was um seinen Nacken geworfen worden war. „Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht zu sehr weh getan", sagte Clivedon Park. „Aber unter den gegebenen Umständen ist mir nichts anderes übriggeblieben. Noch einen Moment, und Sie wären verloren gewesen." „Wir haben gerufen und geschrien, als wir Sie sahen", sagte der Vikar, „aber Sie haben uns nicht gehört. Sie waren wie im Trancezustand." „Das war er ja auch", sagte Clivedon Park, nahm Terry am Arm und führte ihn zurück. „Warum haben Sie denn auch das Kreuz abgenommen?" „Ich kann mich nicht erinnern, es getan zu haben", sagte Terry. „Es muß unbewußt geschehen sein." „Unbewußt oder nicht, es war das Dümmste, was Sie tun konnten, aber offensichtlich war Ihnen das nicht klar." Clivedon Park schüttelte verständnislos den Kopf. „Hoffentlich ist es Ihnen wenigstens eine Lehre." Als sie am Ende des Pfades angekommen waren, drehte Terry den Kopf und sah zurück. Keine Spur mehr von dem Glühen, das er gesehen oder zu sehen geglaubt hatte. Sollte er sich wieder alles nur eingebildet haben? Er erschauder-
te in seinen feuchten Kleidern. „Sagen Sie mir", murmelte er leise, „ist es wirklich passiert oder nicht? Ich meine das merkwürdige Vibrieren in der Luft und dann die unsichtbare Macht, die mich aus dem Haus getrieben hat." „Ja - diesmal war es kein Traum, und wir wissen wenigstens, wogegen wir anzugehen haben. Wir standen glücklicherweise am Fenster und unterhielten uns, als der Vikar Sie plötzlich durch die Nacht gehen sah. Wenn Sie tatsächlich an diesem verfluchten Ort da oben angekommen wären, hätten wir nicht mehr helfen können." Terry Amberley ließ sich von den beiden Männern zurückführen. In der Diele brannte noch Licht. Nachdem er die Haustür verriegelt hatte, gingen sie ins Wohnzimmer, und der Vikar fachte das Kaminfeuer wieder an und legte neue Scheite auf. „Ich schlage vor, daß wir für den Rest der Nacht zusammenbleiben", sagte Clivedon Park. „Wir müssen damit rechnen, daß sie es noch einmal Versuchen. Wir haben uns zunächst gut geschlagen, aber der Kampf ist noch nicht gewonnen." Terry ließ sich in einen Sessel fallen und lehnte sich erschöpft zurück. Das Stechen in seinem Kopf hatte nachgelassen und einem dumpfen Hämmern Platz gemacht. „Und was war es eigentlich?" fragte er. „So etwas habe ich noch nie in meinem Leben mitgemacht." „Das kann ich Ihnen mit ein paar Worten erklären", sagte Clivedon Park. „Den Zauberern und Hexenmeistern des Mittelalters hatte man das Talent zuerkannt, ihre Opfer über große Entfernungen hinweg rufen zu können. In Afrika soll es dasselbe Phänomen immer noch geben." „Das ist doch völlig unmöglich." „Es ist eben leider doch möglich. Wir haben es hier mit dunklen Mächten zu tun, die gefährlicher sind, als wir auch nur ahnen. Doch wir schweben wenigstens nicht mehr ganz im Ungewissen. Sagen Sie, Amberley, ist Ihnen nichts Ungewöhnliches aufgefallen? Im Dorf, meine ich. Oder Ihnen, Ventor?" Die beiden schüttelten den Kopf. „Das Dorf war völlig leer", sagte Clivedon Park. „Nicht das geringste Lebenszeichen. Und wollen Sie wissen, warum? Weil alle auf dem Cranston Hill waren."
7. Terry Amberley und der Vikar starrten Clivedon Park in stummem Entsetzen an. Ventor fand als erster die Sprache wieder. „Vor dem Tod Malcolm Amberleys hatte ich manchmal schon den Eindruck", sagte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Es hat Nächte gegeben, in denen eine ähnliche Stimmung herrschte wie heute und ich am Fenster stand und nicht wußte, warum Redforde so ausgestorben wirkte. In keinem Haus Licht. Immer nur bei den Cowdreys." Bei den letzten Worten fiel Terry ein Stein vom Herzen. Er hatte nicht daran zu denken gewagt, daß Angela in die teuflischen Machenschaften verwickelt sein könnte. Sie wäre sonst bestimmt nicht, dachte er jetzt erleichtert, mit mir in die unterirdische Gruft gegangen. „Aber warum gehen sie da hinauf?" fragte er. „Es muß doch einen Grund geben, warum anständige Leute, die tagsüber völlig normal sind, nachts plötzlich ganz anders werden." „Das ist eine alte Geschichte", begann Clivedon Park. „Wenn Sie sich die überlieferten Chroniken vornehmen, stellen Sie fest, daß das Dorf zu gewissen Zeiten von einer Art Wahnsinn befallen wurde. Früher begnügte man sich damit, von Hexerei und Schwarzer Magie zu sprechen, wir haben heute aber auch keinen anderen, geschweige denn einen besseren Namen dafür. Sie haben es am eigenen Leib verspürt, Amberley, wie unwiderstehlich diese Macht Ihnen ihren Willen aufzwingen kann. Nur die Kraft des Kreuzes konnte Sie davon abhalten, zu ihnen hinaufzugehen. Die Leute haben nichts, was Sie beschützt." Er stand auf. „Übrigens, da wir jetzt schon einmal hier sind, sollten Sie uns den Raum im ersten Stock zeigen. Wenn die bösen Geister es noch einmal versuchen sollten, dann bestimmt dort." Auf der letzten Stufe legte Clivedon Park eine Hand auf Terrys Arm und legte den Zeigefinger vor den Mund. Sie standen eine Weile reglos da und lauschten. Alles war und blieb still. Nichts Ungewöhnliches war zu sehen. Schließlich nickte Clivedon Park kurz mit dem Kopf. „Gehen wir weiter", flüsterte er. Terry setzte sehr langsam und sehr vorsichtig einen Fuß vor den anderen.
Die Erinnerung an das, was er in dem Zimmer erlebt hatte, war noch so stark, daß er ein Schaudern nicht unterdrücken konnte, als er die Tür öffnete. Er blieb auf der Schwelle stehen und ließ Clivedon Park an sich vorbeigehen. Erst einen Moment Dunkelheit, dann das Aufflackern eines Streichholzes. Clivedon Park zündete die Kerze an. Nun betraten auch Terry und der Vikar den Raum. Von der frostigen Atmosphäre, die er das letzte Mal empfunden hatte, war nichts zu spüren. An der Stelle, wo die grünlich schillernde Flüssigkeit auf den Boden gelaufen war, ein Fleck Staub. Clivedon Park betrachtete die Zeichen eingehend. Anschließend suchte er mit den stechenden Augen jeden Quadratzentimeter des Raumes ab. Terry kam sich plötzlich wie jemand vor, der fürchterlich und völlig grundlos übertrieben und dramatisiert hatte. Allerdings fühlte er sich von unsichtbaren Augen beobachtet. Auch er betrachtete nochmals die seltsamen Zeichen auf dem Fußboden. Je länger er sich in sie vertiefte, desto mehr faszinierten und erschreckten sie ihn. Er spürte plötzlich, daß eine merkwürdige Kraft von den geometrischen Formten ausging, und mußte an die Zeichnungen denken, die er an den Wänden der Gruft unter der Ruine gesehen hatte und die ihm auch wie die Quintessenz des Bösen vorgekommen waren. Er fuhr zusammen, als sich Clivedon Park räusperte und das Geräusch wie ein Ball zwischen den Wänden hin- und herzuspringen schien. „Wenn Ihr Bruder diese Zeichen auf den Boden gemacht hat", sagte er, „dann muß er tiefer in allem gesteckt sein, als wir geahnt haben. Wahnsinn, sich einzubilden, daß man diese Macht noch zügeln kann, wenn man sie einmal entfesselt hat." „Mir ist es immer noch ein Rätsel, wie er sich darauf hat einlassen können", sagte der Vikar. „Jemand, der voll bei Verstand ist, würde so etwas doch nie wagen." „Ich fälle kein Urteil über ihn", sagte Clivedon Park. „Ich versuche nur, eine möglichst logische Erklärung zu finden. Die Menschen beschäftigen sich aus den verschiedensten Gründen mit Schwarzer Magie. Manche suchen nur den Kitzel, der damit verbunden sein kann, andere wieder wenden sich ihr zu, weil Gott ihre Gebete nicht erhört und ihre sehnlichen Wünsche nicht erfüllt hat. Und wieder
andere sind ein Opfer ihrer unstillbaren Neugier oder sie suchen nach Macht und glauben, auf diese Weise zürn Ziel gelangen zu können, wobei sich in den meisten Fällen die Macht gegen sie wendet und sie vernichtet." „Ich wollte, ich könnte Ihnen helfen", sagte Terry. „Ich meine, was Malcolm anbelangt, aber wir hatten in den letzten Jahren wenig Kontakt. Ich hab zwar ab und zu etwas von ihm gehört, aber davon habe ich nichts gewußt." Clivedon Park bedachte Terry mit einem fast mitleidigen Lächeln. „Kein Wunder", sagte er. „Derlei Dinge hängt man auch nicht an die große Glocke." Er ging in eine Ecke des Raumes und stöberte auf einem niedrigen Regal herum, das Terry bisher nicht bemerkt hatte. „Sehen Sie sich das an", sagte Park nach einer Weile und winkte die beiden Männer zu sich. Auf dem Regal standen Bücher, die zum Teil so alt waren, daß man Angst hatte, sie in die Hand zu nehmen. Manche waren in Schweinsleder gebunden, die Seiten waren vergilbt und die Schrift stellenweise unleserlich. „Ein Vermögen sind diese Bücher wert", sagte Clivedon Park. „Unsummen! Wie er nur an sie herangekommen ist! Großer Gott! Einige von diesen Bänden gelten seit Jahrhunderten als verloren, und dieses hier -" er hielt es in den Schein der Kerze - „ist zwar in okkultischen Schriften mehrmals erwähnt, aber man hat daran gezweifelt, ob es je geschrieben wurde. Jetzt ist mir klar, wo Malcolm Amberley die symbolischen Zeichen gelernt hatte und woher er wußte, mit welchen Zaubersprüchen man die Geister rufen kann." „Ich glaube, ich weiß, woher die Bücher stammen", sagte Terry ohne zu überlegen. „Woher?" fragte Clivedon Park aufgeregt. „Aus der Gruft unter der Ruine des ehemaligen Herrschaftshauses", antwortete Terry. „Ich war neulich unten." Der Vikar sah ihn erstaunt an. „Eine Gruft unter der Ruine? Ich habe noch nie davon gehört. Sind Sie sich ganz sicher? Ich meine, Sie können sich nicht getäuscht haben?" Terry Amberley schüttelte den Kopf. „Nein", sagte er. „Ich kann mich nicht getäuscht haben, und geträumt habe ich auch nicht, denn Angela Cowdrey war dabei. Wir waren zusammen bei Lady Parrish, weil ich sie über manches ausfragen wollte. Ich hatte
gehofft, durch sie vielleicht einen Anhaltspunkt zu finden, durch den mir der Tod meines Bruders leichter erklärlich werden könnte. Im Verlauf des Gesprächs erzählte sie uns, daß das jetzige Haus nur ein paar Jahrhunderte alt ist und das ursprüngliche Herrschaftshaus an einer anderen Stelle im Park stand. Angela hat sich daran erinnert, schon als Kind in der Ruine gespielt zu haben, und hat mir den Eingang in die Gruft gezeigt." „Und Sie waren unten?" fragte Clivedon Park aufgeregt. „Glauben Sie, daß es sich um die ehemalige Familiengruft handelt?" „Ganz bestimmt, denn die Särge sind noch da. In der ersten Gruft." „In der ersten?" fragte Clivedon Park. „Heißt das, daß es eine zweite gibt?" „Ja", sagte Terry. „Sie liegt noch einige Meter tiefer und ist leer. Bis auf einen Steinaltar, den ich für den... „Der Altar von Belial!" rief Clivedon Park atemlos. „Der Altar, der einmal oben auf dem Cranston Hill stand, umringt von den Drohenden Steinen. Da ist er also! Und niemand ist auf die Idee gekommen, dort zu suchen." „Bis auf Malcolm", sagte Terry. „Zumindest bin ich überzeugt davon, daß er in der Gruft gewesen ist. Und da hat er meiner Meinung nach auch die Bücher gefunden. Es sei denn, sie stammen aus dem Besitz Ihrer Kirche, Vikar." Ventor schüttelte den Kopf. „Nein, das kann nicht sein, denn ich habe diese Bücher noch nie gesehen. Sie haben sicherlich recht, Amberley. Sie müssen aus der Gruft stammen." „Wir müssen in die Gruft", sagte Clivedon Park fest entschlossen. „Natürlich nicht heute nacht, aber gleich morgen früh, denn ich fürchte, daß sich dort unter der Erde meine schlimmsten Ahnungen bestätigen." Obwohl er sich fest vorgenommen hatte, in der Nacht nicht zu schlafen, döste Terry im Sessel ein, eine Wolldecke um die Beine geschlagen. Als er wieder aufwachte, fror es ihn, und seine Glieder waren steif. Draußen gähnte graue Morgendämmerung, der erste Lichtschein des neuen Tages lag auf den Kuppen der Hügel. Park war noch wach, saß neben dem Kamin und las in einem
Buch, das er aus dem Zimmer im ersten Stock mitgebracht hatte. Ventor allerdings schlief wie ein Stein in seinem Sessel und schnarchte mit offenem Mund. Terry Amberley stand auf und räkelte sich. Jeder Knochen tat ihm weh. Der Schlaf hatte ihn nicht erfrischt. Er fühlte sich total ausgehöhlt, und sein Kopf schmerzte. Als die Erinnerung wieder über ihn herfiel, schüttelte es ihn vor Entsetzen. Ob alles nur ein Traum gewesen war? Er fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht und stöhnte auf, als er die Kratzer berührte, die die Dornen hinterlassen hatten. Damit hatte er den Beweis, daß er nicht geträumt hatte. Alles war grausame Wirklichkeit. „Na, fühlen Sie sich jetzt wieder etwas wohler?" fragte Clivedon Park und legte das Buch aus der Hand. „Ich habe gedacht, ich lasse Sie lieber schlafen. Nach dem, was Sie vergangene Nacht mitgemacht haben, war Ruhe die beste Medizin. Außerdem haben wir heute eine Menge vor. Das haben Sie doch hoffentlich nicht vergessen, oder?" „Nein, ich habe es nicht vergessen. Aber von bessergehen kann nicht die Rede sein. Ich fühle mich wie durchgeprügelt." „Nach einem kräftigen Frühstück sieht die Welt gleich ganz anders aus, Sie werden schon sehen. Wo ist die Küche? Ich mache uns etwas zu essen." Er hob die rechte Hand, als er sah, daß Terry protestieren wollte. „Nein, ich koche nämlich ganz gut. Das gibt sogar meine Haushälterin zu. Sie bleiben ruhig sitzen und kommen erst einmal richtig zu sich." Terry Amberley blieb natürlich nicht ruhig sitzen, sondern wusch und rasierte sich, während Clivedon Park in der Küche herumwirtschaftete. Die Rißwunde an seiner Stirn hatte stark geblutet, mußte also sauber sein und brauchte nicht desinfiziert zu werden. Als Terry fertig war, kam auch Clivedon mit dem Frühstück. „Schütteln Sie unseren Freund lieber wach", sagte er, „sonst schläft er noch den ganzen Tag." Der Vikar war sofort wach. „Ich habe Frühstück für uns gemacht", sagte Clivedon Park. „Kommen Sie, Vater, essen wir, solange es warm ist." Sie machten sich schweigend über die Rühreier mit Speck her, die tatsächlich ausgezeichnet schmeckten. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Als sie fertig waren, stand die Sonne am Himmel, und der Tag versprach klar zu werden. Nur ein leichter
Wind vom Süden. Eine halbe Stunde später verließen sie das Haus und gingen ins Dorf. Terry Amberley blieb plötzlich mitten auf der Main Street stehen und stellte erstaunt fest, daß er alles mit neuen Augen sah. Nach außen hin hatte sich nichts verändert. Jeder ging seiner gewohnten Arbeit nach und tat, als sei die Welt in Ordnung. Man grüßte ihn und den Vikar freundlich und ehrerbietig. Sollte Clivedon Park wirklich recht haben? Waren diese braven, biederen Leute vergangene Nacht zu einer teuflischen Zusammenkunft auf dem Cranston Hill gewesen? Terry Amberley beobachtete die Gesichter und vor allem die Augen der Leute und glaubte zu bemerken, daß sie seinem Blick auf merkwürdige Weise auswichen. „Ich muß schnell im Pfarrhaus vorbeigehen", sagte der Vikar, „und meiner Köchin Bescheid sagen, sonst glaubt sie noch, daß ich verlorengegangen bin. Vor allem, wenn sie merkt, daß ich heute nacht nicht in meinem Bett geschlafen habe." Der Vikar sollte recht behalten. Die Köchin war bereits sehr aufgeregt. Die kleine, zierliche Frau Ende Fünfzig war sichtlich erleichtert, den Vikar bei voller Gesundheit zu sehen. „Das sind Sie ja!" rief sie, und man hörte fast den Stein von ihrem Herzen plumpsen. „Ich habe mir schon die größten Sorgen gemacht. Wie ich gesehen habe, daß Ihr Bett unbenutzt ist, wollte ich schon zu Sergeant Willingham gehen und fragen, ob er weiß, was mit Ihnen los ist." „Sie sind eine gute, besorgte Seele, Miß Weston", sagte der Vikar. „Wie Sie sehen, ist alles in Ordnung, und es geht mir ausgezeichnet. Ich habe gestern abend Mr. Amberley einen Besuch abgestattet, und wir haben uns so festgeredet, daß es schließlich sehr spät war und ich nicht mehr nach Hause gehen wollte." „Haben Sie denn schon gefrühstückt? In fünf Minuten ist alles fertig und..." „Danke, Miß Weston. Alles schon erledigt. Außerdem muß ich gleich wieder weiter. Ich habe etwas sehr Wichtiges zu erledigen. Wahrscheinlich komme ich erst gegen Mittag zurück." „In Ordnung." Die Frau nickte und verschwand im rückwärtigen Teil des Hauses. „Wirklich eine gute Seele", sagte der Vikar. „Aber manchmal fällt sie mir auf die Nerven mit ihrer Fürsorge."
Clivedon Park nickte. „Ich habe mir eben überlegt", sagte er, „daß wir Lady Parrish vielleicht erst einen Besuch abstatten sollten. Ich nehme an, daß das ehemalige Haus noch zu ihrem Besitz gehört." „Natürlich werden wir das tun", sagte der Vikar. „Ich bin überzeugt davon, daß sie nichts dagegen hat, wenn wir uns ein wenig in ihrem Park umsehen. Sie geht in letzter Zeit kaum noch aus dem Haus, denn ihre Beine machen nicht mehr so recht mit." Keine fünfzehn Minuten später klopften sie an der Eingangstür des Herrschaftshauses. Im Park wehrten sich die letzten bunten Blätter gegen das Zerren des Windes. Lady Parrish, sagte der Butler, empfange sie in ein paar Minuten, ob sie sich solange in der Bibliothek gedulden könnten? Er begleitete die drei Männer, in den hohen Raum mit den Bücherregalen, die bis zur Decke gingen. Während sie warteten, ging Clivedon Park zu einem der großen Fenster, und sah in den Park hinaus. „Sind das die Überreste des ehemaligen Hauses?" fragte er und deutete hinaus. Terry Amberley trat neben ihn und nickte. „Ja", sagte er. „Das Haus der de Grinleys", sagte Clivedon Park wie zu sich selbst. „Völlig logisch. Richard de Grinley muß gewußt haben, daß sich seine Leute früher oder später gegen ihn und seine bösen Geister auflehnen und alles zerstören würden, was mit den finsteren Mächten in Zusammenhang steht. Deshalb hat er den Altar hierher geschafft." „Aber wie - frage ich mich", sagte Terry. „Der Altar muß Tonnen wiegen, und selbst wenn er Leute gehabt hat, die ihm halfen..." In diesem Augenblick ging hinter ihnen eine Tür auf, und Lady Parrish trat, auf ihren Stock gestützt, ein Terry Amberley schon wieder bei sich zu sehen, schien sie etwas zu erstaunen, aber sie lächelte freundlich und bot den drei Besuchern Platz an. „Verzeihen Sie, daß ich Sie warten lassen mußte", sagte sie, „aber außer Angela Cowdrey sehe ich kaum einen Menschen, und deshalb ziehe ich mich am Morgen immer ziemlich spät erst an." „Wir müssen um Verzeihung bitten, Madam", sagte Clivedon Park und machte eine altmodische Verbeugung. „Ich hoffe sehr, Sie vergeben uns, daß wir Sie überfallen haben, aber im Dorf sind in den letzten Tagen leider Dinge passiert, denen wir auf den Grund gehen möchten, ehe sie völlig außer Kontrolle geraten."
Echtes Erstaunen machte sich auf den feinen Zügen der alten Dame breit. „Pardon, aber ich verstehe nicht, was Sie meinen. Was für Dinge?" Sie sah den Vikar an. „Hat es etwas mit der Kirche zu tun?" „Nur indirekt", sagte Ventor. „Darf ich Ihnen erst einmal meinen Freund Clivedon Park vorstellen, Madam. Sein Beruf ist meinem sehr entgegengesetzt -wenn ich es so ausdrücken darf -und doch arbeiten wir auf dasselbe Ergebnis zu, nämlich auf den Triumph über das Böse. Während ich um das geistige Wohl meiner Gemeinde bedacht bin, versucht er dasselbe zu erreichen, also den Seelenfrieden, aber mit anderen Mitteln. Mit praktischeren." „Ich verstehe immer noch kein Wort", sagte die alte Dame. „Ich bin jemand, der nach der Wahrheit sucht, Madam", erklärte Clivedon Park, „weil ich glaube, daß nur aus ihr der Seelenfriede kommen kann. Bei meiner Suche nach der Wahrheit interessiere ich mich mehr für die dunklen, unerklärten Aspekte der Religion, sozusagen für die Realität, die sich hinter den alten Legenden verbirgt." Der Ausdruck auf dem Gesicht der alten Dame blieb gleich, aber trotzdem glaubte Terry eine leichte Veränderung zu spüren. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann war alles wieder wie vorher, und Terry wußte wieder einmal nicht, ob er ein Opfer seiner Einbildung war. Was war es eigentlich gewesen? Ein ängstlicher Blick? Ein kurzer Moment der Auflehnung? „Soll das heißen, Mr. Park, daß Sie, wie Mr. Amberley, glauben, Malcolm Amberley habe sich nicht selbst das Leben genommen?" „Ich bin felsenfest überzeugt davon", sagte Clivedon Park. „Ich gehe in meinen Behauptungen sogar noch weiter und bin bereit, jeden Eid zu leisten, daß Malcolm Amberley von einer bösen Macht in den Tod getrieben wurde. Einer Macht, die im Dorf immer noch ihr Unwesen treibt und in der Lage ist, jeden zu zerstören, wenn wir sie nicht endlich und für immer ausschalten." „Verzeihen Sie, Mr. Park, aber so etwas kann ich nicht glauben. Da ist mir zu unfaßlich." Sie wandte sich an Terry. „Ich verstehe vollkommen, Mr. Amberley, daß Sie es lieber hätten, wenn Ihr Bruder eines anderen Todes gestorben wäre, und Sie immer noch nach einer Erklärung suchen, aber ich muß Ihnen leider sagen, daß Sie eben an den Tatsachen nicht vorbeisehen können. Ein Ermittlungsverfahren findet doch nicht statt, um Tatbestände zu
vertuschen, sondern um sie festzustellen. Was haben Sie denn für einen Beweis, daß angeblich das Böse - wie Sie es vage ausdrücken - die Hand im Spiel hat?" „Zumindest keinen, der vom Gesetz anerkannt werden würde", sagte Clivedon Park. „Aber mehr als genug, um uns selbst zu überzeugen." „Und warum sind Sie jetzt bei mir?" „Darf ich das vielleicht erklären, Lady Parrish", sagte Terry. „Als Angela und ich vor ein paar Tagen hier waren, sind wir in die Kellergewölbe unter der Ruine gestiegen. Wir haben dort Dinge entdeckt, die uns vielleicht als weiteres Beweismaterial dienen könnten. Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, aber, was ich da unten gesehen habe, hat mich zu Tode erschreckt - das gebe ich zu. Mr. Park jedoch kennt sich aus und ist in der Lage zu sagen, ob die Angst, die mich befallen hat, begründet ist oder nicht." „Das heißt, daß Sie noch einmal in das Gewölbe unter der Ruine steigen wollen?" „Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind, Madam", sagte der Vikar. „Glauben Sie mir, ich säße nicht hier, wenn ich nicht auch glauben würde, daß an dem, was Mr. Amberley und Mr. Park sagen, etwas dran ist. Ich habe in den letzten Tagen Dinge gesehen, die ich nie für möglich gehalten hätte, wäre ich nicht selbst Zeuge gewesen." Trotzdem zögerte Lady Parrish noch. Terry konnte sich ihr Zögern nicht erklären. Ihm und Angela hatte sie doch sofort erlaubt, in der alten Ruine herumzustöbern. Vermutete sie vielleicht auch... „Also gut", unterbrach die alte Dame Terrys Gedanken. „Wenn Sie glauben, Vikar, Ihre meiner Meinung nach reichlich lächerlichen Nachforschungen anstellen zu müssen, will ich Ihnen nicht im Wege stehen. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen -mit dem besten Willen nicht - was Sie da unten zu entdecken hoffen." Nach dem Regenguß der vergangenen Nacht waren das Gras und die moosbedeckten Steine immer noch naß und schlüpfrig, und sie mußten jeden Schritt vorsichtig setzen. Eine falsche Bewegung, und jemand konnte sich das Bein brechen. Der Vikar hatte eine starke Taschenlampe mitgebracht und
leuchtete die feuchten Stufen hinunter, die ins Endlose zu führen schienen. Um sie herum zerfallenes Gemäuer, Steinbrocken und gähnende Finsternis. Von unten herauf ein kaltfeuchter Luftzug, der mit klammen Fingern über ihre Gesichter zu streichen schien. Irgend etwas Wirkliches, Faßbares, das sich in einen Mantel des Mysteriösen gehüllt hatte, um sich dahinter zu verstecken, schien in den Tiefen der Erde auf sie zu warten. Welch unvorstellbare Kraft, welche vom Teufel und allen bösen Geistern besessenen Elemente hatten diese Gewölbe ausgehoben? Und wozu? Nur, um die de Grinleys dort zu begraben? Aus unerklärlichen Gründen war Terry überzeugt davon, daß das unmöglich der einzige Anlaß gewesen war. Clivedon Park hatte sich von Ventor die Taschenlampe geben lassen und ging voran. Dann folgte Terry, dann der Vikar. Das Gefühl, in die Klauen eines unwiederbringlichen Schicksals geraten zu sein, wurde für Terry immer stärker. Im Strahl der Taschenlampe waren die obszönen, gräßlichen Zeichnungen an den Wänden diesmal deutlicher zu erkennen. Clivedon Park blieb immer wieder stehen und betrachtete sie genau. Jedesmal nickte er, als fände er seine Vermutungen voll und ganz bestätigt. Und Terry Amberley drängte sich immer mehr die Frage auf, ob es nicht heller Wahnsinn war, daß sie sich in die Tiefen dieser unheiligen Erde hineinwagten. Aber gleichzeitig schien er sich damit abzufinden, daß das Schicksal sein ganzes Tun in die Hand genommen hatte und für ihn Entscheidungen traf, nach denen er sich willenlos zu richten hatte. Seit er den Fuß nach Redforde gesetzt hatte, um seinen Bruder zum Grab zu begleiten, erging es ihm so. Jemand zwang ihm seinen Willen auf, und er konnte sich nicht dagegen wehren. In ungefähr zehn Metern Tiefe lag die erste Gruft, die Grabstätte der de Grinleys. Park blieb stehen und leuchtete die feuchten Wände ab, aus deren Ritzen lepröse Pilzgewächse wucherten und Moos, das krank und verpestet schillerte. „Sie haben recht." Clivedon Parks Stimme rollte in kurzen Echowellen zu ihnen herüber. „Das ist eindeutig die Grabkammer. Ist sie in den Chroniken der Kirche erwähnt, Ventor?" „Nein", sagte der Vikar mit kaum hörbarer Stimme. Offensichtlich wollte er den Echoeffekt vermeiden. „Über das Geschlecht
der de Grinleys ist sehr viel aufgezeichnet, aber wo die einzelnen Mitglieder begraben sind, ist nirgends erwähnt." „Kein Wunder, daß es vor den Dorfbewohnern geheimgehalten werden sollte", sagte Clivedon Park finster. „Sie scheinen geahnt zu haben, daß eines Tages Hexenverfolgungen über das Land ziehen und dann sämtliche Arten von Reliquien vom Mob zerstört werden würden." Er ging zu einem der Steinsärge und betrachtete ihn von allen Seiten. Die Mauer dahinter war zerrissen und sah aus, als habe Jahrhunderte lang ein Rinnsal an ihr gefressen. Nach einer Weile kehrte Clivedon Park zu den anderen zurück und leuchtete die Decke des Gewölbes ab, bevor er die gegenüberliegende Wand inspizierte. „Ich nehme an, hier ist der Zugang zu der tiefer liegenden Gruft", sagte er. „Ja", sagte Terry und deutete etwas weiter nach rechts. „Dort, wenn ich mich richtig erinnere." Clivedon Park ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe über die Mauer gleiten. Schließlich blieb er auf dem roh gehauenen Loch hängen, das weiter in die Erde hineinführte. Trotz der Stärke der Batterie schien der Lichtstrahl von der Finsternis abzuprallen, tauchte sie nur in einen milchigen Schein. Es kostete Terry Amberley Überwindung, den anderen zu folgen. Ihre Anwesenheit war ihm wenig Trost. Er hatte Angst vor der Tiefe und fühlte sich wieder von dieser unwiderstehlichen Macht getrieben. Die modrig-kalte Luft und die Feuchtigkeit, die mit glitschigen Fingern nach ihm zu greifen schien, erhöhten sein Unbehagen. Hier, in diesem zweiten Gang nach unten, waren die Zeichnungen an den Wänden im Schein der Taschenlampe noch besser zu erkennen, weil sie erstaunlicherweise viel besser erhalten waren. Die grausam wirkende Eckigkeit der geometrischen Figuren riefen in Terry alptraumhafte Visionen hervor. Wie lange sie brauchten, bis sie die zweite Gruft erreichten, wußte anschließend keiner mehr. Sie hatten es schließlich geschafft und standen in der Mitte der Gruft, neben dem Steinaltar. Clivedon Park ging langsam darum herum und studierte die Inschriften und Runenzeichen. Endlich richtete er sich wieder auf. „Es besteht nicht der geringste Zweifel", sagte er mit einem
seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht. „Das ist der Altar Belial. Wenn… wenn ich mich recht erinnere, hat Richard de Grinley geschworen, unter den Lebenden zu bleiben, solange dieser Altar innerhalb der Grenze des Sprengels verharre. Langsam scheint sich alles zu einem logischen Ganzen zusammenzufügen." „Nur für mich nicht", sagte Terry Amberley verzweifelt. „Ich verstehe immer weniger. So grauenvolle Dinge sind seit meiner Ankunft in Redforde passiert, daß ich nicht mehr weiß, was ich glauben soll." „Sie müssen mir vertrauen", sagte Clivedon Park mit sehr ernstem Gesicht. „Ich möchte jetzt erst einmal einige dieser Zeichen kopieren. Wenn Sie mir bitte die Taschenlampe halten könnten, Ventor. Heute abend müssen wir dann auf den Cranston Hill steigen. Ich muß Sie warnen: es wird uns dort beachtliche Gefahr drohen. Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie nicht mitzukommen." „Welche Art von Gefahr?" fragte der Vikar. „Körperlicher oder seelischer Natur?" „Sowohl als auch", sagte Clivedon Park. Er kniete sich auf den Boden, zog Bleistift und Papier aus der Tasche und machte sich an die Arbeit. Während er damit beschäftigt war, die Inschriften und Runenzeichen zu kopieren, die in den Sockel des Altars geschnitten waren, suchte Terry Amberley die Wände der Gruft ab. Er wußte selbst nicht, was er zu finden hoffte; er wurde sozusagen vom Instinkt getrieben. Auch hier Inschriften und Zeichen, vom Fraß der Jahrhunderte verstümmelt. In einer Ecke war das Gestein der Decke eingebrochen. Als er sich auf allen vieren über den Haufen hinwegzuarbeiten versuchte, berührte seine rechte Hand einen kleinen, metallischen Gegenstand. Er hob ihn auf und brachte ihn zu den anderen. „Haben Sie etwas gefunden?" Der Vikar sah hoch, als ihm Terry die flache Hand entgegenstreckte. Terry schwieg eine ganze Weile und starrte nur auf den Gegenstand, den er im Schein der Taschenlampe sofort wiedererkannt hatte. „Das ist der Beweis", sagte er schließlich mit heiserer Stimme, „daß Malcolm hier unten gewesen ist. Seine Krawattennadel! Ich habe sie ihm vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt." „Das ist mir schon lange klar", sagte Clivedon Park. „Ich meine,
daß Ihr Bruder hier unten gewesen sein muß. Wo hätte er sonst die Zeichen herhaben können, die er in dem Zimmer im ersten Stock auf den Fußboden gemalt hat?" Schließlich steckte Clivedon Park den Zettel und den Bleistift wieder in die Tasche und richtete sich auf. Er ließ sich von dem Vikar die Taschenlampe geben und leuchtete das Gemäuer ab. Zu schätzen, wie weit sie unter dem Erdboden waren, war nicht leicht. Vielleicht dreißig Meter. Nicht ein Lichtstrahl hatte die Gruft seit Jahrhunderten gestört. „Ich nehme an, daß die Gruft damals eine Art Zufluchtsort war", sagte nun Ventor mit schwacher Stimme. „Die de Grinleys müssen in den unruhigen Zeiten des Mittelalters viele Feinde gehabt haben." „Meiner Meinung nach wurde die Gruft zu viel böseren Zwecken ausgehoben", sagte Clivedon Park und ging langsam auf eine Stelle in der Mauer zu, auf der der Strahl der Taschenlampe schon eine ganze Weile ruhte. Er tastete das Gestein ab. „Sehen Sie sich das an", sagte er. Terry Amberley brauchte einen Moment, bis er den Torbogen entdeckt hatte, der einmal hier gewesen sein mußte, der aber jetzt zugeschüttet war. Das Gestein hatte sich im Laufe der Zeit so miteinander verbunden, daß man die Konturen kaum noch erkennen konnte. „Ich frage mich...", murmelte Park, ging einige Schritte zurück und sah über die Schulter. „Wenn ich mich nicht täusche, sind wir doch Richtung Osten abgestiegen. Die Stufen führen gerade in die erste Gruft hinunter. Dort muß man sich im rechten Winkel nach rechts wenden, wenn man in die zweite Gruft absteigen will. Dieser ehemalige Torbogen liegt dem Eingang zur zweiten Gruft genau gegenüber, das heißt, er führt in Richtung Norden, wenn man sich einen unterirdischen Gang dahinter vorstellt." Amberley schauderte zusammen. „Wollen Sie damit sagen..." „Genau das will ich sagen", schnitt ihm Clivedon Park das Wort ab. „Früher muß ein unterirdischer Gang vom Haus der de Grinleys zum Cranston Hill geführt haben. Wenn man es sich genau und logisch überlegt, hätte man von selbst darauf kommen müssen. Ein heimlicher Gang, durch den die de Grinleys ungesehen die Opferstätte erreichen konnten." „Ist Ihnen klar, was Sie damit sagen?" fragte der Vikar. „Die Gruft liegt eine gute Meile vom Hügel entfernt. Einen unterirdi-
schen Gang solcher Länge zu graben, muß in jenen Tagen ein Ding der Unmöglichkeit gewesen sein." „Vielleicht, aber jeder weiß, daß zu allen Zeiten die unmöglichsten Dinge vollbracht worden sind. Was mich im Moment viel mehr beschäftigt, ist die Frage, warum der Gang zugeschüttet wurde und von wem." „Wahrscheinlich von den Dorfbewohnern, als sie sich gegen die verfluchte Familie zusammenrotteten", sagte Ventor. „Eine logische Erklärung", stimmte Clivedon Park zu. „Ich hoffe nur zu Gott, daß es auch die richtige ist." 8. Die Uhr schlug elf, als Terry Amberley die Tür aufmachte und den Vikar und Clivedon Park hereinließ. Am Nachmittag hatte er Angela besucht und ihr ein wenig von den letzten Ereignissen erzählt und von Parks Befürchtungen. Allerdings hatte er seinen Bericht so vorgebracht, daß das Mädchen nicht in Angst und Schrecken versetzt wurde. Kurz bevor er wieder ging, hatte er ihr das feste Vorsprechen abgenommen, daß sie im Haus bleiben würde, ganz gleich, was in der kommenden Nacht geschehen sollte. Auf dem Heimweg war ihm alles so melodramatisch und übertrieben vorgekommen, vor allem an einem so strahlend klaren Wintertag, daß er sich vor sich selbst geschämt hatte. Wie hatte er sich in eine solche Hysterie hineinsteigern und sich einreden lassen können, daß das Böse auf dem Hügel lauerte und in der Nacht in teuflischer Wut loszubrechen gedachte! Jetzt allerdings, in der kalten Finsternis der Nacht, war er froh, daß er mit Angela gesprochen hatte. Daß er sie mehr oder weniger auf das Schlimmste vorbereitet hatte. Das Böse klebte wie ein Krebsgeschwür an der Landschaft und warf wie seit Jahrhunderten seine - satanischen Schatten auf das kleine Dorf in Mittelengland. „Sind Sie wirklich bereit, sich mit hineinzustürzen, Amberley?" fragte Clivedon Park, während der Vikar die Tür hinter sich schloß. „Ich möchte noch einmal betonen, daß die Vorsichtsmaßnahmen, die ich für uns alle getroffen habe, möglicherweise nicht ausreichen, um die böse Macht zu besiegen, der wir gegenübert-
reten werden." „Ich bin nicht nur bereit", sagte Terry, „sondern fest entschlossen, dem Grauenvollen ein Ende zu bereiten. Ich habe mich bis hierher vorgewagt, und jetzt will ich auch den letzten Schritt tun. Ich will wissen, wie und warum Malcolm sterben mußte." „Gut." Clivedon Park nickte und deutete auf die Treppe. „Dann würde ich vorschlagen, daß wir vom ersten Stock aus die Straße und das Ende des Pfades beobachten." Sie gingen in Terrys Schlafzimmer hinauf, und Clivedon Park bezog seinen Posten am Fenster. Auf seine Bitte hin wurde das Licht ausgelöscht. Die drei Männer saßen im Dunkeln und beobachteten die Nacht. Der Himmel war klar. Nur ein paar Wolkenfetzen zogen darüber hin und verdunkelten kurze Zeit die Sterne. Der fast neue Mond würde erst kurz vor der Morgendämmerung aufgehen. Von ihm war also kein Licht zu erwarten. Wann das Geräusch aufgekommen war, konnte keiner von den drei Männern sagen, denn es war schon eine ganze Zeitlang da, als es das Ohr wahrnahm und auf ihre Sinne einwirken ließ. Terry griff unwillkürlich, nach dem Fensterbrett und spürte, wie sich seine Nägel in das Holz krallen wollten. Ein kurzer Blick auf die kaum sichtbaren Gesichter seiner Freunde sagte ihm, daß auch sie den merkwürdigsten Gefühlen ausgesetzt waren. Innerhalb weniger Sekunden hatte die Angst, die sich in Terrys Gedanken festgefressen hatte, ihren Höhepunkt erreicht. Noch ein paar Lichter in den Häusern des Dorfes, die sich in der Dunkelheit noch enger zusammenzukuscheln schienen. Immer wieder wanderte Terrys Blick zu der Kuppe des Cranston Hill hinüber, denn das letzte Mal hatte mit dem Geräusch zusammen, mit diesem Pulsieren in seinem ganzen Körper, das höllische Glühen begonnen. Aber heute blieb alles finster, und es sah nicht so aus, als ereigneten sich außergewöhnliche Dinge auf dem Hügel mit seinen Drohenden Steinen. „Jetzt wird es nicht mehr lange dauern", sagte Clivedon Park im Flüsterton und lehnt sich noch weiter vor. „Und was passiert?" fragte der Vikar heiser. Das Leisesprechen schien ihm Schwierigkeiten zu bereiten. „Das sehen Sie gleich", war die einzige Antwort, die er bekam, und er begnügte sich damit. Eine Viertelstunde verstrich. Terry hörte die Uhr an seinem
Handgelenk ticken und spürte, wie ihm das Herz gegen die Rippen pochte. „Endlich!" zischte Clivedon Park fast erleichtert und holte tief Luft. „Was denn?" Terry sah in die klebrige, stickige Dunkelheit hinaus, die über den Feldern und dem Dorf lag. Die Stille kam ihm so laut vor, daß er sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Plötzlich gingen sämtliche Lichter im Dorf aus. Im gleichen Augenblick wurde die Vibration stärker, und gewaltige, strudelartige Wellen schlugen ihnen entgegen und zogen sich wieder zurück. Mit Fingern, die unkontrollierbar zuckten und zitterten, tastete Terry nach dem silbernen Kreuz, das er um den Hals hängen hatte. Der Wunsch, aufzustehen und in die Nacht hinauszulaufen, wuchs in ihm, war jedoch nicht so unwiderstehlich wie gestern nacht. Sein Kopf fuhr wie von selbst herum, als er plötzlich draußen am Ende des Pfads eine Bewegung wahrzunehmen glaubte. Zwischen den Schatten der Häuser tauchte eine dunkle Gestalt auf, kurz darauf eine zweite. Terry glaubte Dr. Harmon zu erkennen. Er wurde von jemand begleitet, der am Stock ging und demnach nur Lady Parrish sein konnte. Terry Amberley versuchte mit allen Mitteln, sich gegen das zu wehren, was ihm seine Augen boten. Sein ganzes Denken lehnte sich dagegen auf. Das war nicht möglich! Das konnte nicht geschehen! Er mußte aus diesem verlogenen Alptraum aufwachen, mit dem er nur gequält werden sollte, der nur aus den Hirngespinsten geboren war, auf die er sich während der letzten Tage eingelassen und die er für Wirklichkeit gehalten hatte. Aber dann war die Angst wieder stärker als seine Auflehnung, und er mußte zusehen, wie sich eine schweigende, schleppende Prozession durch die klare Nacht auf die Landstraße zu bewegte. Eine Unendlichkeit schien zu vergehen, bis die letzte dunkle Gestalt aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Das Dorf war leer. Sämtliche Bewohner befanden sich auf dem Weg zum Cranston Hill. Als sich Clivedon Park mit eckiger Bewegung vom Fenster abwandte, schien der Bann, der sie in starrer Untätigkeit hatte zusehen lassen, plötzlich gebrochen zu sein, die kerkerhafte Atmos-
phäre war so plötzlich verschwunden, daß Terry Amberley die momentane Leere als Schock empfand. Die Stille knisterte und knackte, und sein Sehvermögen, das sich inzwischen eigentlich an die Dunkelheit gewöhnt haben sollte, schien ihn im Stich zu lassen. Er fühlte sich wie in milchige Tinte getaucht, in der Zerrgestalten auf ihn zuschwammen und sich kurz vor ihm in Nichts aufzulösen schienen. Wie betäubt folgte er den anderen zur Tür, stieg hinunter über die knarrenden Treppenstufen und ging in die bebende Nacht hinaus. Bis sie das Ende des gewundenen Pfades erreicht hatten, war die Landstraße vor ihnen leer und verlassen. Nicht eine Menschenseele. „Wir müssen uns beeilen", flüsterte Clivedon Park. „Und eines noch: Wenn wir oben auf dem Hügel sind, befolgen Sie meine Anweisungen, ganz gleich, was passiert, was Sie hören oder sehen. Wenn sie uns entdecken oder wenn sie unsere Anwesenheit auch nur ahnen, greifen sie uns vielleicht an, auf okkultischer Ebene natürlich oder vielleicht sogar auch physisch. Falls wir fliehen müssen, lassen Sie sich durch nichts aufhalten. Versuchen Sie zu vergessen, daß die Menschen da oben unsere Freunde sind. Sie sind es im Moment nicht, denn sie stehen unter dem Einfluß des Bösen und wissen nicht, was sie tun. Morgen früh, bei Anbruch des Tages, haben sie wahrscheinlich schon alles vergessen und würden Ihnen auch dann nicht glauben, wenn Sie ihnen konkrete Beweise zeigen." Terry Amberley und der Vikar nickten, der junge Mann jedoch wurde plötzlich von einem Gefühl totaler Unwirklichkeit befallen und hätte am liebsten laut aufgelacht. Daß man gewisse, dafür besonders geeignete Menschen hypnotisieren und anschließend zwingen konnte, gegen ihren Willen zu handeln, wußte er, aber daß Massenhypnose auf einer so breiten Basis möglich sein sollte, konnte und wollte er einfach nicht glauben. Eine respektierte und hochverehrte alte Dame wie Lady Parrish, die noch dazu kaum in der Lage war, das Haus zu verlassen, sollte plötzlich nur mit Hilfe ihres Stocks diesen Hügel hinaufsteigen, um mit den anderen braven Dorfbewohnern an einer Teufelsbeschwörung teilzunehmen, an deren Zweck er nicht zu denken wagte! Nein, es war einfach nicht möglich. Er wehrte sich gegen die
Bilder, die auf ihn einströmten, sah aber trotzdem, wie die Prozession die Bäume zu beiden Seiten der Landstraße passierte und eine seltsame Unruhe das Laubwerk erfaßte und schüttelte. Er glaubte die schlurfenden Schritte zu hören, die nicht von menschlichen Füßen herrühren konnten und auch nicht von Hufen, Tatzen oder Pfoten. Irgend etwas lauerte über der nächtlichen Landschaft, schien alles zu verändern und nach seinem Willen zu formen... Nach etwa zwanzig Minuten blieb Clivedon Park stehen, sah um sich und deutete schließlich nach rechts. „Wir gehen lieber querfeldein", sagte er mit kaum hörbarer Stimme. „Man weiß ja nie, vielleicht sind Wächter an der Straße aufgestellt, obwohl ich das nicht glaube." Seine Taschenlampe leuchtete kurz auf. Ein paar Meter weiter war ein Loch in der Hecke, die das anliegende Feld einsäumte. Sie gingen darauf zu. Der Boden unter ihren Füßen war weich und tückisch. Terry Amberley hielt unwillkürlich die Luft an, bis sie in seinen Lungen wie Feuer brannte. Dann atmete er weiter. Wir machen viel zuviel Krach, dachte er, als ein Zweig unter dem Schuh des Vikars knackte. Vor ihnen, über den Feldern, stiegen dünne Nebelschwaden aus der feuchten Erde auf. Je weiter sie die Straße hinter sich ließen, desto dunstiger und zähflüssiger schien die Luft um sie herum zu werden. Irgendwo murmelte Wasser. Kurz darauf mußten sie über einen Bach springen. Clivedon Park führte den Weg an. Er schien der einzige zu sein, dessen Blick den inzwischen dichten Nebel zu durchdringen wußte. Mit schlafwandlerischer Sicherheit wich er Dornengestrüpp und felsigen Hindernissen aus und führte die anderen darum herum. Die Luft bebte und vibrierte mittlerweile so stark, daß ihre Körper davon geschüttelt wurden. Noch drei Felder hatten sie zu überqueren. Der Boden unter ihren Füßen wurde immer verwachsener und unwegsamer. Wurzelarme, die schon längst nicht mehr zu Bäumen gehörten, schienen hinterhältig nach ihren Füßen greifen zu wollen, modrige, sumpfige Stellen veranlaßten sie, Sätze zu vollführen wie aufgeschreckte Karnickel. Erst als sie schon mehrere Meter über leicht ansteigendes Ge-
lände gegangen waren, begriff Terry Amberley, daß sie den Fuß des Hügels erreicht hatten und bereits Anstalten machten, seinen Osthang hinaufzusteigen. Sie waren gezwungen, die Schritte noch vorsichtiger zu setzen als bisher, denn unter losem Geröll verbargen sich stinkende Lachen, die zum Teil knöcheltief waren. Daß sie schon seit geraumer Zeit von unsichtbaren Gestalten begleitet wurden, spürten sie alle drei. Die Gestalten schienen sich parallel zu ihnen am Rande ihres Blickfeldes zu bewegen. Mit unglaublicher Willensanstrengung gelang es Terry immer wieder von neuem, seine Muskeln zu beherrschen, die sich in epileptischen Zuckungen zusammenziehen wollten, um im selben Moment wieder auseinanderzuschnellen. Das Vibrieren in der Luft war inzwischen eins geworden mit dem Vibrieren in seinem Schädel. Den Blick starr auf den gebeugten Rücken Clivedon Parks gerichtet, ging Terry weiter und kämpfte bei jedem brennenden Atemzug gegen die diabolischen Elemente. Inzwischen hatten sie die obere Nebelgrenze erreicht und sahen das bläßlich flackernde Glühen, das die Kuppe des Hügels erhellte. Als dazu noch die Temperatur von einer Sekunde auf die andere um mehrere Grad fiel und eisiger Frost nach ihnen zu greifen schien, drohte Terry Amberley das Herz stehenzubleiben. Was da oben zwischen den Drohenden Steinen vor sich ging, wußte er nicht. Er konnte es nicht einmal ahnen, aber er war überzeugt davon, daß der Teufel seine Hand im Spiel hatte. Er spürte die Schwingen des Bösen in der Luft und hatte das Gefühl, daß jede Pore seines Körpers von seinem Krötengift erfüllt war. Der ekelerregende Gestank, der ihnen plötzlich entgegenschlug, legte sich auf die Schleimhäute und machte das Atmen zur Qual. Unter ihren Füßen war nur noch nackter Stein. Sie mußten auf allen vieren wie die Würmer in die Höhe kriechen, und die scharfkantigen Felsen zerschnitten ihnen die Hände. Hinter einem knorrigen Dornenbusch, der seine Äste wie im Krampf grotesk in alle Richtungen streckte, hielten sie an und sahen sich um. Lange Zeit war Terry Amberley durch das teuflische Glühen geblendet und konnte nichts erkennen außer den Ästen des Dornengestrüpps. Als er es jedoch endlich wagte, den Kopf etwas höher zu heben, traf seine Augen der grauenvollste
Anblick, den er je gesehen hatte, und er war unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen. Er war vor Angst gelähmt. Clivedon Park hätte befehlen und drohen können, er wäre nicht in der Lage gewesen, sich von der Stelle zu rühren. Er hätte es wahrscheinlich nicht einmal gehört, hätte der hagere Mann etwas zu ihm gesagt. Jeder Nerv, ja, jede Zelle vollkommen verkrampft, konnte er nur dahocken und zusehen. Direkt über ihnen das höllisch flackernde Glühen. Kalter, klebriger Schweiß rann ihm in kleinen Bächen über den Rücken und sammelte sich in seinen Achseln. Ein spitzer Stein bohrte sich in seine Handfläche, auf die sein ganzes Gewicht gestützt war, aber er spürte den Schmerz nicht. Der Vikar neben ihm wurde von Krämpfen geschüttelt. Wie aus Tausenden von Ventilen drang aus dem Hügel Fäulnisund Leichengestank. Das blaßrötliche Glühen erleuchtete die Steinsäulen, die anklagend in den Himmel ragten. Es flackerte auf den Gesichtern der Männer und Frauen, die sich innerhalb des Rundes versammelt hatten. Eine Szene wie in Dantes Inferno. Nur vage war sich Terry Amberley bewußt, daß das Vibrieren in seinem Kopf nachgelassen hatte, von einer Sekunde auf die andere. Eine seltsame Stille trat ein. Das Herz schlug ihm bis in den Hals und drohte aus seinem Leib zu springen. Das höllische Glühen schien den Horizont berühren zu wollen und zog brennende Gassen durch die Dunkelheit. Gassen, in denen formlose Schatten auf und ab tanzten. Ob das, was er sah, Wirklichkeit war oder nicht, sollte Terry Amberley nie erfahren. Er sah den Widerschein der Hölle auf den Gesichtern der Dorfbewohner. Er sah Dr. Harmon und Ralph Treherne nebeneinander am Rande des Rundes stehen. Er sah Miß Munderford, das Postfräulein, der man ihre wilde Geschichte nicht geglaubt hatte. Er sah Lady Parrish und viele andere, die er kannte, aber deren Namen ihm im Moment nicht gewärtig waren. Kein Wunder, daß man ihm ausweichend begegnet war. Daß man ihn davon hatte abhalten wollen, sich weiter mit den mysteriösen Geschehnissen zu befassen. Daß man ihn hatte glauben machen wollen, Malcolm sei durch eigene Hand aus dem Leben geschieden. Man hatte ihn aus Redforde vertreiben wollen, damit
man in Ruhe und ungestört dem Bösen huldigen konnte. Terry Amberley spürte den Zwang, sich aus seiner Starre zu lösen und wegzulaufen. Weg von diesem Irrsinn, der aus dem Satan geboren war, der den Aberglauben des Mittelalters in das 20. Jahrhundert herübergeholt und seine Hexenmeister und Geister mitgebracht hatte. Auch der Vikar schien fliehen zu wollen und versuchte, sich aus dem Griff Clivedon Parks zu befreien. Der hagere Mann sah seine beiden Freunde mit durchdringenden Augen an, als könnte sein Blick Trost und Vertrauen spenden, aber Terry zumindest fand keinen Trost in diesem Blick. Er konnte nur zu Gott hoffen, daß Clivedon Park wußte, was er tat, daß sein Wissen über diese Dinge groß genug war, um das Böse zu bannen. Plötzlich eine Bewegung am Rand des Lichtscheins. Das Blut wich Terry aus dem Gesicht, als er die Gestalt erkannte. Langsam und schwerfällig schleppte sie sich weiter, wie jemand, der gegen seinen Willen gezogen und gestoßen wird, jedoch der unsichtbaren Macht gehorchend. Terry Amberley hatte aufgehört zu atmen. Es war sein Bruder Malcolm! Langsam ging er durch den Kreis von Männern und Frauen in die Mitte der Runde, wo er beide Arme hob und plötzlich erstarrte. Trotz des Schocks, den das unheimliche Auftreten seines toten Bruders ausgelöst hatte, war Terry Amberley auf einmal von seiner Lähmung befreit und war wieder in der Lage, sich zu bewegen - doch er rührte sich nicht. Er zwang sich, regelmäßig und tief zu atmen. Finster und gigantisch, viel größer wirkend als zu Lebzeiten, stand der Geist seines Bruders in dem unheimlichen Kreis, und jetzt begann der erschreckende, auf und ab wogende Gesang der Dorfbewohner. Plötzlich kam eine Fontäne von Sprühnebel aus dem Boden. Genau an der Stelle, wo der Altar von Belial gestanden sein mußte. Mit hämmernden Schläfen beobachtete Terry Amberley, wie sich der Nebel kräuselte und dichter wurde und schließlich feste Form annahm. Der Aasgestank, der wie ein Atomregen vom Himmel sank, drohte Terry Amberley zu ersticken. Aus welchem Abgrund höllischer Verdammung, aus welchem Schlund verrotteter Zeit die Gestalt aufgestiegen war, konnte Terry Amberley nicht einmal erahnen. Gespenstisch und zugleich
merkwürdig menschlich stand sie vor Malcolm. Wogen unbeschreiblicher Feindseligkeit und Zerstörungslust gingen von der Gestalt aus und schlugen über den drei Männern zusammen, die hinter dem Dornenbusch kauerten. Mensch oder Satan - es war nicht zu bestimmen. Terry atmete das schiere Entsetzen ein und spürte, wie seine Glieder gefühllos und stumpf wurden. Neben ihm hatte Clivedon Park angefangen, mit zusammengebissenen Zähnen vor sich hinzumurmeln. Die einzelnen Worte konnte Terry zuerst nicht verstehen, dann merkte er, daß sie der lateinischen Sprache entstammten. Clivedon Park sprang plötzlich auf, das silberne Kreuz an der dicken Kette von sich gestreckt, und ging langsam auf die Gestalt zu, die aus der Hölle aufgetaucht sein mußte. Blauer, spuckender Dunst kam auf, und einen Moment lang sah es so aus, als würde die Gestalt in sich selbst zurückkriechen. Ein zerrissenes Geräusch hing in der Luft, die Gestalt bäumte sich auf und schien noch zu wachsen und sich über Clivedon Park zu beugen, der zwar stetig weiterging, aber gleichzeitig gegen eine grausame, unsichtbare Macht zu kämpfen schien. Die Angst drückte Terry Amberley immer tiefer in den Boden. Der Vikar neben ihm murmelte nun ebenfalls Gebete oder Zauberformeln vor sich hin. Das höllische Glühen schien plötzlich nicht mehr Wirklichkeit, sondern Kontrast. Schattenhaft und ungeheuerlich wogte der Kampf, und Terry Amberley wußte plötzlich, daß das Böse gewinnen würde. Langsam wurde Clivedon Park zurückgedrängt. Ein tierisches Brüllen wie aus den Rachen von tausend Bestien, ein einziger Schrei dämonischen Triumphes! Und dann, mit der schnellenden Bewegung einer Schlange, wand sich Clivedon Park zur Seite und warf das silberne Kreuz in die teuflische Fratze über sich. Sämtliche Blitze des Himmels schienen sich zu einem gleißenden Lichtschrei zusammenzubündeln. Die dämonische Gestalt bäumte sich ein letztes Mal auf und fiel in sich zusammen. Nur eine Dunstwolke blieb übrig und der ekelerregende Gestank. Clivedon Park kam zurückgetaumelt, das Gesicht weiß und blutleer, die Stirn klitschnaß. „Schnell!" keuchte er. „Wir müssen wieder ins Dorf!" „Aber wir haben es doch besiegt", sagte der Vikar.
„Wir haben es gebannt." „Nein, das haben wir nicht", sagte Clivedon Park, und es war fast wie ein Aufschrei. „Ich unverbesserlicher Idiot! Ich hätte es wissen müssen. Es gibt nur eine Möglichkeit, dem Grauen ein Ende zu bereiten. Wir müssen die Leiche de Grinleys finden, aber ich glaube zu wissen, wo sie ist." Er packte Terry Amberley am Ärmel und zog ihn hinter sich den gefährlichen Abhang hinunter. Hinter ihnen wilde Schreie, die nichts Menschliches mehr an sich hatten. Terry warf einen schnellen Blick über die Schulter. Ein Strom von Gestalten raste über den Hang. Was diese Männer und Frauen vorhatten, war nur zu offensichtlich. Die böse Macht war zurückgeschlagen, aber nur auf einer Ebene. Wie Clivedon Park vorausgesehen hatte, sollte der Angriff nun greifbar werden. Die Teufelsgestalt, die die Inkarnation Richard de Grinleys gewesen war, hatte die Gefahr gesehen. Sie hatte den Leuten ihren Willen aufgezwungen und sie zu ihrem Werkzeug gemacht. Sie sollten die drei Männer töten. Sich fast den Abhang hinunterwerfend, erreichten sie flaches Gelände und rannten über die offenen Felder. Sie holten das Letzte an Kraft aus ihren bleischweren Körpern heraus. Ventor stolperte mehrmals und brach zusammen und wurde jedesmal von Clivedon Park und Terry Amberley hochgezogen und weitergezerrt. Wie Trunkene schwankend, keuchend und schmerzlich atmend, liefen sie blind durch das nasse Gras, die ganze Zeit von lautlosen, unsichtbaren Gestalten verfolgt, die über ihren Körpern durch die Luft zu schweben schienen, auf dem Wind reitend. Dornen zerrissen den drei Männern die Gesichter und wollten sich in ihren Kleidern verhaken und sie zurückhalten. Vor ihnen, aber noch unendlich weit entfernt, der Kirchturm. Daneben schweigend und verläßlich das Pfarrhaus. Zwischen ihnen und ihren Verfolgern konnten keine zweihundert Meter Abstand mehr sein. Und dieser Abstand würde sich immer mehr verringern, denn die Dorfbewohner hasteten auf der Landstraße entlang, während die drei Männer durch rauhes, gefährliches Gelände liefen. Wenn es der rasenden Menge gelang, ihnen den Weg zum Pfarrhaus, abzuschneiden, gab es keine Rettung mehr. Welche
Hoffnung ihnen blieb, wenn sie das Pfarrhaus doch erreichten, wußte Terry Amberley nicht. War bisher doch alles schiefgegangen! Und wo in Gottes Namen war die Leiche Richard de Grinleys? Terry Amberleys Gedanken schienen neben ihm herzulaufen, gejagt von der Erinnerung an die Schrecken der Nacht, die noch längst nicht zu Ende war. Aus den Augenwinkeln sah er die Masse der Dorfbewohner am Rande Redfordes ankommen. Die Männer und Frauen blieben stehen und blickten wild in alle Richtungen. Offensichtlich suchten sie nach ihren Opfern. „Sie haben uns noch nicht entdeckt", flüsterte Clivedon Park. „Aber mit größer Wahrscheinlichkeit kennen sie unser Ziel. Wir müssen quer über den Kirchhof. Das kann höchst gefährlich sein, denn das Böse kann sich dort zusammengeballt haben, aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Wir müssen das Risiko eingehen." Clivedon Park bog nach links ab, weg von der Straße, und lief auf das Loch in der Hecke zu. Über allem schien plötzlich der Kirchturm zu ruhen. Dort müßten wir vor dem Bösen sicher sein, dachte Terry. Es sei denn, auch die Kirche wurde irgendwann zu unchristlichen Zwecken benutzt. Die drei Männer wagten kaum zu atmen, als sie durch die Reihen der schweigenden Grabsteine schlichen. Sie machten einen Bogen um die Kirche und waren schließlich an dem schmalen Pfad, der in den Garten des Pfarrhauses führte. Vorsichtig pirschten sie sich weiter, als plötzlich ein Schrei durch die Nacht gellte. Ein zweiter Schrei folgte, und dann war es auf einmal, als seien sie von Schreien eingezingelt. „Vielleicht reicht die Zeit trotzdem noch", flüsterte Clivedon Park. „Wir brauchen Weihwasser, Ventor. Der Geist, den wir bannen müssen, ist in der Gruft unter dem ehemaligen Herrschaftshaus. Glauben Sie, daß Sie es schaffen?" „Ich hoffe", antwortete der Vikar mit zitternder Stimme. „Wir brauchen aber nicht ins Pfarrhaus zu gehen. Ich habe Weihwasser in der Kirche." Er zog einen großen Eisenschlüssel aus der Tasche und ging auf das schwere Eichenportal zu. Er schloß es auf, und die drei Männer verschwanden in den schützenden Mauern der Kirche. Das allumfassende Gefühl von Geborgenheit und Frieden, das Terry Amberley in dem Moment empfand, sollte er nie vergessen. Der Vikar verschwand nur einen Moment in der Sakristei. Er kam
mit einer kleinen Flasche und einem schwarz eingebundenen Buch zurück. „Ich bin bereit", sagte er mit einer Stimme, in der keine Spur von Angst mehr schwang. In der tiefen Finsternis der Nacht wirkte der verwilderte Park sehr unheimlich. Der Schein der Taschenlampe in Clivedon Parks Hand tanzte über das Gemäuer der Ruine, die wie ein wildes Tier zu lauern schien. Langsam stiegen sie in den schmalen Gang abwärts, gefolgt von dem Geschrei im Dorf, das sich jetzt um die Kirche konzentriert hatte. Jeden Muskel angespannt, folgte Terry Amberley dem hageren Mann auf den Fersen. Der Weg bis zur Grabkammer der de Grinleys, die wie ein verhexter Brunnen unter ihnen lag, schien diesmal endlos zu sein. Schließlich angekommen, ließ Clivedon Park den Schein der Taschenlampe über die lautlose Reihe der Steinsärge wandern. Nichts Ungewöhnliches, alles schien so zu sein wie beim letztenmal. Ohne weitere kostbare Sekunden zu verlieren, ging Clivedon Park weiter. Sie mußten in die zweite Gruft hinunter. Hinunter zu dem Altar von Belial. Schon auf der ersten Stufe wurde Terry Amberley von einer Angst befallen, die alles, was er bisher empfunden hatte, in den Schatten stellte. Die überwältigende Macht des Bösen schlug ihm spürbar entgegen, warf seinen Körper aber nicht zurück, sondern zog ihn mit magischer Gewalt an. Selbst wenn er gewollt hätte, er hätte nicht fliehen können. Würde das Weihwasser ausreichen, um die Kräfte zu bannen, die Malcolm in seiner Unwissenheit entfesselt hatte? Wenn nicht, was dann? Clivedon Park hatte von einem Schicksal gesprochen, das schlimmer war als der Tod. Clivedon Park zögerte nicht einen Moment, als sie in der zweiten Gruft angekommen waren. Er ging direkt auf den großen Steinaltar zu. „Wir müssen die Platte abheben", sagte er mit ruhiger Stimme. „Ganz gleich wie, wir müssen es schaffen." „Haben Sie denn immer noch nicht begriffen, Ventor?" fiel Clivedon Park dem Vikar ins Wort. „Denken Sie doch nur an die Chroniken. Nirgends ein Wort darüber, wann und wie Richard de Grinley gestorben ist." „Aber die Legende behauptet doch, daß er überhaupt nicht ge-
storben ist", sagte Terry Amberley. „Und in diesen Legenden steckt oft ein Körnchen Wahrheit", setzte Clivedon Park hinzu. „Erst vorhin, oben auf dem Cranston Hill, habe ich begriffen, was die Legende meint. Richard de Grinley ist hier in diesem Altar begraben. Im Altar von Belial. Deshalb wurde der Altar hierhergebracht. Deshalb der Spruch, er würde nie sterben, solange sich der Altar in der Gemeinde von Redforde befindet. Oben auf dem Hügel zwischen den Drohenden Steinen war er zu großen Gefahren ausgesetzt. Was wir heute nacht auf dem Hügel gesehen haben, war der Geist Richard de Grinleys. Seine Gebeine liegen in diesen Steinsarkophag." Clivedon Park ging um den Altar herum und tastete den Rand der Steinplatte ab. Als er plötzlich zusammenzuckte und stehenblieb, fuhren auch die anderen zusammen. „Genau wie ich es vermutet habe", sagte er zufrieden und drückte auf eine leicht hervortretende Stelle in der Verzierung. Nichts Sichtbares passierte, aber irgendwo tief in der Steinmasse ertönte ein Grollen. „Fassen Sie mit an", sagte Clivedon Park und legte die Taschenlampe auf den Boden. Mit zusammengebissenen Zähnen stemmten sich die drei Männer mit ihrer ganzen Körperkraft gegen die Schmalseite der Steinplatte, bis sie endlich halb von ihrem Sockel glitt. Und dann plötzlich ein Geräusch, das von außerhalb zu kommen schien. Die drei Männer fuhren herum und starrten auf die Stufen, die nach oben führten. Nichts. Keine Bewegung, nicht einmal ein Schatten. Dann wieder das Geräusch, und jetzt wußten sie, woher es kam: aus dem verschütteten unterirdischen Gang, den sie morgens entdeckt hatten. „Können Sie sich das erklären?" fragte der Vikar mit zitternder Stimme und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Jemand muß versuchen, sich vom Hügel her zu uns durchzugraben", sagte Clivedon Park mit einer Stimme, in der zum erstenmal auch Angst zu schwingen schien. Er bückte sich nach der Taschenlampe und leuchtete die Stelle ab, wo einmal der Zugang zu dem unterirdischen Gang gewesen war.
Die Risse und Öffnungen in dem zusammengebackenen Staub, den sie am Morgen noch für Geröll gehalten hatten, das im Laufe der Jahrhunderte zu einer felsigen Masse geworden war, wurden zusehends größer und breiter. Die Verzweiflung verlieh ihnen übermenschliche Kräfte. Mit letzter Anstrengung stemmten sie sich noch einmal gegen die Steinplatte, bis sie donnernd auf dem Boden aufschlug. „Jetzt ist es an Ihnen, Ventor", sagte Clivedon Park. „Sie wissen, was Sie zu tun haben." Er holte tief Luft, trat einen Schritt vor und richtete den Schein der Taschenlampe in das Innere des Sarkophags. Sein Gesicht blieb unbeweglich wie das eines Menschen, der in seinem Leben schon so viel Grauenvolles gesehen hatte, daß ihn nichts mehr erschüttern konnte. Er knipste die Taschenlampe aus und trat wieder zurück. Alles war im Bruchteil einer Sekunde geschehen, aber Terry Amberley hatte trotzdem alles mitbekommen. Er hatte die Gebeine in dem Steinsarg gesehen. Die Überreste Richard de Grinleys, des Monsters, aus dessen Totenschädel zwei Hörner ragten. Zögernd erst, aber dann mit immer stärkerer Stimme, begann der Vikar die Absolution zu sprechen und die Gebeine gleichzeitig mit Weihwasser zu besprengen. Er hatte kaum damit angefangen, als ein entsetzlicher Schrei die Gruft erfüllte und in nicht enden wollenden Echos von Wand zu Wand geworfen wurde. Und dann plötzlich Stille. Tiefe, endgültige Stille. Woher Clivedon Park die Kraft und den Mut nahm, die Taschenlampe wieder anzuknipsen und den Lichtstrahl auf das Innere des Sargs zu richten, war Terry Amberley ein Rätsel. In dem Sarkophag lag nur noch ein Häufchen Staub. Am darauffolgenden Nachmittag schien die kalte Wintersonne auf den Park des Herrschaftshauses und das Dorf, das den Eindruck machte, als sei es plötzlich von einem ekelhaften Krebsgeschwür befreit, das sich in seine Dächer und seine Menschen verkrallt hatte. Der Vikar hatte am Morgen Clivedon Park nach Nottingham zurückgefahren, und jetzt stand Terry Amberley mit Angela im Garten seines toten Bruders und ließ den Blick über eine Landschaft schweifen, die nach langer Erstickung wieder aufzuatmen schien. Daß jeder seiner alltäglichen Arbeit nachging und nichts von dem Grauen der Nacht zu wissen schien, war ihm nach wie vor
unbegreiflich. Eine kleine Gruppe von Dorfbewohnern war am Morgen auf die Bitte des Vikars hin zu den Drohenden Steinen hinaufgegangen und hatte die Leiche Malcolms gefunden. Friedlich habe sein Bruder ausgesehen, hatten ihm die Leute gesagt. Fast mit einem Lächeln auf dem toten Gesicht. Am darauffolgenden Tag sollte er noch einmal begraben werden. Angela, etwas erstaunt über das lange Schweigen, hakte sich bei Terry Amberley ein und sah zu ihm auf. „Du hast mir immer noch nicht erzählt, was vergangene Nacht passiert ist", sagte sie. „Irgend etwas muß geschehen sein, denn alles ist so anders. Auch die Leute im Dorf." „Da gibt es nicht viel zu erzählen", sagte Terry. „Das Böse ist endgültig gebannt, und mein toter Bruder kann endlich in Frieden ruhen." „Und du? Was machst du jetzt? Gehst du nach London zurück?" „Für kurze Zeit", sagte Terry. „Ich muß. Aber sobald ich kann, komme ich zurück. Ich will hier leben. Hier, wo alles so friedlich ist und die Zeit keine Rolle zu spielen scheint." „Gut, daß du zurückkommst, Terry", sagte das Mädchen. „Dieses Haus hier hat so viel Böses gekannt, daß es verdient hat, Gutes zu umschließen." Sie gingen durch das Gartentor. Wie ein goldener Vorhang hing das Licht der strahlenden Sonne über dem Dorf. Im Schutz der Hecke, wo niemand sie sehen konnte, legte Terry die Arme um das Mädchen und küßte es. Zum erstenmal seit seiner Ankunft in Redforde war Terry Amberley glücklich.
Ende Als Vampir-Taschenbuch Nr. 2 erscheint:
Visionen des Grauens Neun Stories — herausgegeben von Peter Haining Das Grauen ist immer um uns, Tag und Nacht. Oft haftet es an den alltäglichsten Dingen. Schnecken sind harmlose Tierchen. Aber ihre glitschigen Leiber werden zur tödlichen Gefahr, wenn
sie zu Hunderten über einen Menschen herfallen. Ein Spiegel verbreitet Angst und Schrecken, denn wer hineinsieht, erblickt die blassen Gesichter der der Verstorbenen. Das Portrait einer jungen Dame erwacht auf geheimnisvolle Weise zum Leben, während das hilflose Modell zur gleichen Zeit der Leichenstarre erliegt. Sogar schwarzer Rauch wird zur Vision des Grauens, wenn er einen Mörder so lange umhüllt, bis die blutige Tat vollbracht ist. Berühmte Schockspezialisten haben diese Grusel-Stories für Sie geschrieben. Wer das Makabre, das Spukhafte, das Unheimliche sucht - hier findet er es. Die Vampir-Taschenbücher erscheinen monatlich und sind im Buch- und Bahnhofsbuchhandel sowie im Zeitschriftenhandel erhältlich. Preis DM 2,80.