K I. I I N i: IS [ I L ] O T II E K 1) E S \Y ! S S E N S
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K I. I I N i: IS [ I L ] O T II E K 1) E S \Y ! S S E N S
LUX-LESEBOGEN N AT L: R- U N D k U LT U R K V N I) El C 11 E II E F T E
ALB E R T H O C H H E I M E R
DER FALSCHE DEMETRIUS I) E R WEG ZUM
DES HOFDIENERS ZA RENTHRON
V ERLAG S E B A S T I A N LUX MURN
AU-MÜNCHEN-INNSBRUCKBASEL
Demetrius-Palast in Moskau
Hinter dem Eisernen Vorhang is ins 17. Jahrhundert hinein blieb Rußland dem Westen wie hinter einer undurchdringlichen Wand von Finsternis und Grauen verborgen. Nur selten gelang es Reisenden, bis nach Moskau vorzudringen. Was man erfuhr, war nicht verlockend. Christlich und heidnisch-barbarisch war die Natur des Staatswesens, orientalischer Brauch, übernommen oder aufgedrängt von den Tataren, beherrschte das armselige, freudlose Dasein der Menschen. Wenig einladend war auch das rauhe Klima und die Trostlosigkeit der unermeßlichen Steppen, in denen Edelleute wie Bauern, Kaufleute wie Handwerker in Selbsterniedrigung, in Trägheit, im Kriechen vor der Knute und ausgebeutet von herzlosen Steuereinziehern dahinvegetierten. Die Natur war hier des Menschen Feind. In engstem Kreis, auf des Leibes Notdurft ausgerichtet, bewegte sich das Leben, und jeder Fremde galt als Schmarotzer, der den kargen Besitz schmälerte. Kein Laut des Weltgeschehens drang bis an die Moskwa, und so völlig unzugänglich war die Haltung der Russen den Ausländern gegenüber, daß noch um 1664 ein russisdier Schriftsteller schreiben konnte: „Die Ausländer haben in unsere Grenzen eine Bresche geschlagen und können deshalb unsere 2
inneren Angelegenheiten ohne Mühe im Auge behalten: das geschieht mit Hilfe der jüngst eingerichteten Briefpostverbindung, die vielleicht dem Zaren finanzielle Vorteile bringt, dem Land aber nur schadet. Was auch bei uns geschehen mag, von allem wissen die Ausländer gleich . . . Mir scheint, man müßte das Loch baldmöglichst ganz fest schließen, ja, auch alle Reisenden auf das schärfste überwachen, damit niemand ohne Wissen der Behörde irgendwelche Nachrichten ins Ausland befördern kann." Um die gleiche Zeit macht ein Sekretär des englischen Gesandten über die innerstaatlichen Zustände Rußlands folgende Bemerkung: „Die Zaren haben den Grundsatz, ihre Untertanen in Unwissenheit zu halten, sonst würden sie nicht Sklaven bleiben wollen. Damit ist es hier ebenso bestellt wie im tiefen Orient. Es ist den Russen verboten, außer Landes zu gehen, weil sie sonst die Sitten und Anschauungen anderer Völker kennenlernen und sodann bedacht sein könnten, die Ketten ihrer Knechtschaft zu brechen." — Beklagenswert war die Stellung der Frau; je höher der Stand, desto vollständiger war ihre Absperrung von der Außenwelt. Das ging so weit, daß selbst die Zarinnen davon betroffen wurden und nicht einmal die kleinen Fenster ihrer festgeschlossenen Kutschen öffnen durften; und wenn der Arzt ihren Puls fühlen wollte, mußten sie ihm, hinter einem Vorhang versteckt, die Hand in einem Handschuh verborgen entgegenstrecken. Und so ähnlich verlief auch das Leben der Bojarinnen, der Frauen des Hochadels. Unbeschreiblich war die Armut des Volkes und groß der Mangel an allem, was der Verschönerung, der Erheiterung und Sicherheit des Lebens diente. Ärzte gab es so gut wie keine — von 1600 bis 1650 waren es etwa 22 für das ganze Reich; Pflasterung der Straßen und Bauten aus Stein waren selbst in bedeutenderen Ortschaften wie Kiew, Smolensk und Witebsk höchst selten, und alle städtischen Siedlungen, ob groß oder klein, machten den Eindruck von verkommenen Dörfern. In den kümmerlich bevölkerten Städten wüteten oft verheerende Brände, die die Holzhäuser ganzer Viertel in Asche legten. Ziergärten und Parks gab es nicht, nur schmucklose Gemüsegärten. Und wie in den Dörfern, Städten und Adelshöfen ging es auch ärmlich und dürftig bei Hofe zu. Nur der Zar erhob sich über alle Niedrigkeit als der oberste, 3
durch nichts behinderte Machthaber, diktatorisch, in Starrheit und Würde einer Ikone vergleichbar. Er war Mittelpunkt einer Art Überwelt gegenüber der Unterwelt des russischen Volkstums, das in den Steppen und Dörfern unwandelbar, von Kultureinflüssen kaum berührt, weiterlebte — mit seinen Schwärmern, Sektierern und Asketen.
Iwan der Schreckliche Um die Mitte des 16. Jahrhunderts, als Kaiser Karl V. im Westen regierte, bestimmte Zar Iwan IV. die Geschicke des russischen Reiches und Volkes. Iwan wurde 1530 geboren, verwaiste früh, verlor mit vier Jahren den Vater und bald auch die Mutter. Das grüblerisch veranlagte, lebhafte, mit biegsamem Verstand begabte Kind geriet unter die Obhut und den Einfluß brutaler, ehrsüchtiger Fürsten, die sich um Rang und Würden stritten und einander gegenseitig umbrachten. Inmitten dieser blutigen Machtkämpfe, die sich vor den Augen, ja selbst im Zimmer des Knaben abspielten, blieb der zarten, unberührten Kinderseele keine Erniedrigung erspart. Nur wenn man den ganzen Schrecken sinnloser Grausamkeit, blindwütiger Feindschaft, die seine und seines jüngeren Bruders Jurij Kindheit vergifteten, nur wenn man die entsetzlichen Umstände seiner Jugend in Erwägung zieht, läßt sich begreifen, warum Iwan als Zar ein erbarmungsloser Hammer war. Aus der erlittenen Mißhandlung erwuchs ihm das Gefühl des Verlassenseins, der Verwaistheit; das war der Grundzug seines Charakters, und tiefes Mißtrauen gegen die ganze Menschheit verdüsterte seinen Geist. Zum Jüngling herangereift und kaum gekrönt, suchte er sich eine Frau nach altbyzantinischer Art, indem er seinen Statthaltern im ganzen Reich befahl, hundert der schönsten Mädchen in den Kreml zu schicken. Unter ihnen wählte er ohne Bedenken, nur nach Blick und Neigung, und trat wie im Märchen aus dem Dunkel bitterer Jugendjahre in den hellen Glanz strahlender Liebe. Die Auserkorene hieß Anastasia und stammte aus dem altadeligen, aber bis dahin wenig in Erscheinung getretenen Geschlecht der Romanow. Es war in Wahrheit eine Liebe auf den ersten Blick. Und nun geschieht das kaum Faßliche: Der triebhafte, ungebärdige junge Herrscher erliegt dem Zauber dieses sanften, anmutigen 4
Stadtplan Moskaus aus dem 16. Jahrhundert (Holzschnitt) Madchens, das, schmal und blaß, nicht einmal eine ausgeprägte Schönheit ist. Für ihn gibt es auf der Welt von jetzt an nur diese Frau, die ihn, mitfühlend bis in sein Innerstes, zu verstehen sucht. Jede Stunde der Trennung von ihr ist ihm unerträgliche Qual. So verläßt er mitten im Krieg, nach der Eroberung von Kasan, das Heer und jagt fast allein den weiten Weg nach Moskau zurück, um die Gattin in ihrer schweren Stunde nicht allein zu lassen. Noch nach Jahrzehnten, in den schlimmsten Zeiten seines Wütens, bricht er in Tränen aus, wenn er Anastasias gedenkt. Sie ging dahin, als er ihrer am meisten bedurfte, und ließ ihn mit gebrochenem Herzen zurück. Allein und führerlos treibt sein Leben von nun an durch alle Abgründe. Zwar schafft er viel Gutes für sein Volk, aber in den 5
Stunden des Wahns und dem Irrsinn nahe, der seinen Geist von Zeit zu Zeit umdüstert, zertritt er achtlos Menschenleben zu Zehntausenden, zerstört die Städte seiner eigenen Untertanen, verwüstet, vernichtet mit dem gewaltsamen Fanatismus des Menschenverächters, so daß er von der Geschichte mit Recht als „der Schreckliche" gebrandmarkt ist. Und dennoch muß Iwan IV. als erfolgreicher russischer Herrscher gelten. Als er mit 54 Jahren starb, waren die Tataren zurückgedrängt, Kasan unterworfen, Astrachan genommen, der Wolgaweg gesichert, das Tor nach Sibirien weit geöffnet und das Land gerechter verteilt.
Die Tat des Boris Godunow Nach dem Tode des Zaren Iwan ging die Regentschaft an einen obersten Reichsrat von fünf Fürsten über; denn der einzige erwachsene Sohn Iwans, Zar Feodor, klein von Wuchs, mit blassem, aufgedunsenem Gesicht, immer kränkelnd und wenig begabt, kümmerte sich nicht um die Regierungsgeschäfte. Seine ganze Neigung, wenn er überhaupt zu einem tiefen Gefühl fähig war, galt dem Klang der Kirchenglocken, die er stundenlang selbst läutete, und vor allem seiner Gemahlin, der ebenso schönen wie liebenswürdigen und energischen Irene Godunow. — Es war unter diesen Umständen nur natürlich, daß der ehrgeizige Bruder der Zarin, Boris Godunow, seine Rivalen bald von den Stufen des Thrones verdrängen konnte; dem schönen, gewandten, von der Schwester geliebten und verehrten Mann wurde es leicht gemacht, Einfluß auf Zar Feodor zu gewinnen. Mit den höchsten Hofwürden betraut, soll er so viel Land sein eigen genannt haben, daß er auf seinen Gütern eine Armee von 100 000 Mann ins Feld stellen konnte. Es steht fest, daß die vierzehn Jahre, während deren Feodor den Zarenthron innehatte und Boris Godunow in Wirklichkeit regierte, zu den glücklichsten Rußlands zählen. Godunows Regieren hätte dem Land auch weiterhin Segen gebracht, wäre er der rechtmäßige Herrscher gewesen. Das aber war er nicht, und es bestand fürs erste nur geringe Aussicht für ihn, je Zar zu werden. Nach dem Tode des kränklichen regierenden Herrschers würde die Krone 6
auf den Knaben Demctrius, den Sohn Iwans aus einer späteren Ehe, übergehen und die wirkliche Macht den Verwandten des Kindes mütterlicherseits zufallen, dem Geschlecht der Nagois, die Godunows Todfeinde waren. Dieser Gedanke war für Boris Godunow unerträglich. Wer die Macht in Händen gehalten hat, dem kann es keine Befriedigung mehr sein, als einflußreicher Höfling zwisdien anderen Höflingen das Knie vor dem Thron zu beugen, das langweilige, ereignislose Leben eines Landedelmannes zu führen und seine Tage in Müßiggang zu verbringen. Das alles war kein Leben für einen Mann wie Godunow. Längst war er daran gewöhnt, seine Heere gegen die Tataren zu schicken, Verordnungen zu erlassen und mit lässiger Selbstverständlichkeit Minister und Hofschranzen zu kommandieren. Er dachte nur noch in Provinzen, in Statthaltereien und betrachtete Rußland, die Tatarei, ganz Asien als ihm uneingeschränkt zugehöriges Eigentum. Weil die Macht ihm so gewaltig zugemessen war, weil sie ihm die ganze Befriedigung seines Ehrgeizes gewährte, überschattete sie alle Einwendungen der Vernunft, der Moral und des Gewissens. Und so beschloß er — sicher nach langen inneren Kämpfen, denn er zögerte jahrelang — sich vorzusehen, um nicht eines Tages, wenn das Kind Demctrius den Thron bestieg, hinweggefegt zu werden. Um dieser Wahrscheinlichkeit vorzubeugen, gab es nur ein Mittel — Mord an dem mutmaßlichen Thronfolger. Die Zarin-Witwe, Mutter des Demetrius, lebte in Uglitsch, zwar auf fürstlichem Fuß, doch in Wirklichkeit in Verbannung, und es war kein Geheimnis, daß sie in Boris Godunow einen erbitterten Feind hatte. Sie war deshalb vorsichtig, denn ein Menschenleben, selbst das eines fürstlichen Kindes, wog in jener Zeit der Herrscherwillkür wenig, und die Absichten Godunows waren leicht durchschaubar. — Ein erster Anschlag auf das Leben des Prinzen mißlang. Godunow hatte Anfang 1591 das Kindermädchen des Prinzen und dessen Sohn zu einem Attentat überredet, doch das Verbrechen — ein Vergiftungsversuch — wurde entweder nur scheinbar oder mit unzureichenden Mitteln ausgeführt. Andere Handlanger wollten sich lange nicht finden, bis sich endlich ein Hofbeamter zur Tat bereit erklärte. Ein von Boris Godunow veranlaßter Befehl 7
des Zaren Feodor ernannte ihn zum Schutzherrn der Zarin-Witwe in Uglitsch und gab ihm somit die Möglichkeit, in ihrem Palast ein- und auszugehen. Am 15. Mai 1591 wurde dann die Untat begangen, die in den Akten so dargestellt ist, als hätten der Prinz und seine Spielgefährten mit Messern hantiert, von denen eines dann in der einen oder anderen Weise, wahrscheinlich durch einen Sturz des Prinzen, das Unglück verschuldete. Aber es gibt noch eine andere Meinung und sie besagt, daß diesem Attentat nicht das Kind Demetrius, sondern ein fremder Knabe zum Opfer gefallen sei. Wie sich die Dinge in Wahrheit abgespielt haben, darüber ist niemals Klarheit geschaffen worden. Für Boris Godunow aber, der immer nur zu seinen Sternen aufblickte, war nun der Weg frei. Er bestieg nach dem Ableben des Zaren Feodor im Jahre 1598 den Thron Rußlands als gekrönter Zar.
Bericht des Leibdieners Über die Anfänge des „falschen Demetrius", der entweder der genialste Betrüger der Weltgeschichte war oder tatsächlich der, für den er sich ausgab, ist die Überlieferung nicht absolut eindeutig, vermutlich aber wird sich sein erster Schritt ins Rampenlicht der Geschidne wohl folgendermaßen zugetragen haben: Beim Fürsten Adam Wischnewtzki zu Bragina in Litauen steht im Jahre 1603 ein ungewöhnlich intelligenter junger Mann in Diensten. Jeder, der ihn sieht, hat den Eindruck: Dieser Jüngling hat kein dumpfes, schwerfällig rollendes Bürger- oder Bauernblut in den Adern. Und in der Tat, schon äußerlich sticht er mit seiner auffällig weißen Haut, mit den blauen Augen und den ins Rötliche schimmernden Haaren allzusehr von den schlichthaarigen, breitgesichtigen Leibeigenen und Hintersassen ab. Er beherrscht die polnische wie die russische Sprache gleichermaßen vollkommen, kennt auch ein wenig das Lateinische und ist für seinen Stand sehr belesen und beredt, voll heftiger, mitreißender Leidenschaft und sportlich hemmungslos ehrgeizig. Er ist von mittlerem Wuchs, ein wenig untersetzt, mit einem kürzeren Arm und einer häßlichen 8
Warze unter dem linken Augenwinkel, aber über seiner Liebenswürdigkeit und seiner feurigen Bercdtsamkcit vergißt man seine körperliche Unzulänglichkeit. Niemand, der Fürst eingeschlossen, weiß Genaues über sein früheres Leben, und er selbst schweigt sich über seine Vergangenheit aus. Es wird gemunkelt, er habe sich eine Zeitlang mit kühnen Freibeutern Litauens am Dnjepr herumgetrieben und bei ihnen das Waffenhandwerk erlernt. Das aber mag üble Nachrede sein. Soviel ist jedenfalls gewiß, daß er in der Schule des Städtchens Gaschtscha polnische und italienische Grammatik büffelte und hinter seinen Büchern von dem Fürsten entdeckt wurde, der ihn mitnahm und zu seinem Leibdiener machte. Es vergeht einige Zeit, ohne daß sich etwas Bemerkenswertes ereignet. Dann erkrankt der junge Mann eines Tages ernstlich und verlangt in seiner Not, da er zu sterben meint, nach einem Beichtvater. Und so kommen die Dinge ins Rollen. Der Geistliche wird herbeigerufen, setzt sich ans Bett und spricht einige Trostworte, ermuntert den Kranken auch, sein Gewissen zu erleichtern. — Ein Schweigen bricht an. Dumpf und muffig hängt die Luft zwischen den Wänden der ärmlichen Kammer. Eine Kerze auf dem Tisch verbreitet dürftige Helle. Zuweilen wird der Kranke von einem Hustcnanfall geschüttelt, ein Kranz von Schweißperlen tritt auf seine Stirn, und fröstelnd zieht er die schäbige Decke höher ans Kinn. Aber als er zu guter Letzt zu reden anfängt, kommen ihm die Worte, trotz des Fiebers, ruhig und überlegt über die Lippen; offenbar sind sie häufig durchdacht und für diese Stunde aufgespart worden. Er sagt: „Ich heiße Demetrius. •— Mein Vater war Zar Iwan und meine Mutter war Fürstin Nagoi, bevor sie meinen Vater heiratete. Ich bin geboren am 19. Oktober 1583 zu Moskau, und wie Ihr seht, Hochwürden, bin nicht ich es gewesen, der vor zwölf Jahren in Uglitsch umgebracht wurde. Man hat einen anderen an meiner Statt ermordet." Der Geistliche ist betroffen und überlegt, was er mit dieser phantastischen Eröffnung anfangen soll. Törichtes Geschwätz scheint es nicht zu sein, vermutlich aber wohl die Traumwelt eines Fiebernden. Das beste ist, man läßt den Kranken reden. 9
„Es war damals in Uglitsch, am Hof meiner Mutter, ein offenes Geheimnis", fährt der junge Mann fort, „daß Boris Godunow mir nach dem Leben trachtete. Wir alle wußten es, meine Amme und natürlich auch meine Mutter und ihre Brüder. Und ich kann mich erinnern, daß ich selbst, obwohl ich noch zu jung war, eine Vorstellung vom Tod zu haben, schreckliche Angst vor dem bösen Oheim Boris hatte. Es wurden Vorsichtsmaßnahmen getroffen, von denen ich aber im einzelnen nichts mehr weiß. Nur daran denke ich noch zuweilen, daß meine Mutter sehr aufgebracht war, als ein Hofbeamter des Kreml bei uns ein und aus zu gehen begann; auf Anordnung des Zaren, wie es hieß, in Wirklichkeit aber auf Geheiß Boris Godunows. Von dieser Zeit an durfte ich nicht einmal mehr in meinem Bett schlafen. Abends, wenn es Zeit wurde, sich zur Ruhe zu begeben, schlüpfte ein Junge in meinem Alter und von meiner Statur ins Zimmer. Die Amme Irene nannte ihn Istom. Sie zog ihm eines meiner Nachthemden an und legte ihn in mein Bett. — Es sdiicn ihm Spaß zu machen, wohl darum, weil mein Bett bequemer war als das seine . . . " Auf der Stirn des Kranken zeichnet sich eine tiefe Falte ab. Er zögert ein Weilchen und dreht das Gesicht zur Wand. Sein Mund ist verkniffen, als sei es ihm schmerzlich zu berichten, was sich nun weiter zutrug. Und während der Geistliche sich vorbeugt, damit ihm kein Wort dieser seltsamen Beichte entgehe, beginnt er wieder: „Ich selbst schlief im gleichen Schlafraum bei meinem Lehrer, der zugleich unser Arzt war. Er hieß Simon und stammte aus Köln in Deutschland. Das soll ein wunderschönes Land sein, sonnig und heiter. Steppen wie bei uns kennt man dort nicht, wohl Rebberge und Städte mit steinernen Häusern. Er hat mir oft davon erzählt — wohl aus Heimweh. — Eines Nachts nun wurde ich durch ein Geräusch im Zimmer geweckt. Ich wollte mich aufsetzen, um nachzusehen, was es sei. Der Mond schien hell ins Zimmer, und ich bemerkte, daß sich die Tür am Fußende des Bettes bewegte und zwei oder drei Schatten ins Zimmer huschten. Aber Simon drückte mich fest an sich, daß ich fast erstickte und nicht sehen und hören konnte, und da ich ahnte, was vorging, verhielt ich midi still. — 10
Noch heute sitzt mir die schreckliche Angst jener Nacht in den Gliedern. Zuweilen träume ich noch davon . . ." Wieder tritt eine Pause ein. Der Kranke wischt sich den Schweiß von der Stirn, dreht dem Geistlichen sein Gesicht zu und fährt entspannter, wie von schwerer Bürde befreit, ruhig und gesammelt fort: „In der frühen Morgendämmerung kamen meine Mutter und Irene ins Zimmer. Ich wurde angezogen. Sie küßten mich, weinten auch ein bißchen und gaben mir ein Säckchen mit Spielzeug und Zuckerwerk. Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen. Dann nahm mich Simon auf den Arm, schlug seinen Mantel um mich, und wir verließen den Palast und die Stadt Uglitsch. — In jener Nacht war der kleine Istom an meiner Statt umgebracht worden." Der Kranke stockt und atmet hastig. Dunkelheit senkt sich hernieder, denn die Kerze ist fast ganz heruntergebrannt. Der Geistliche sagt: „Erzähl weiter! — Was geschah dann? — Ich meine — wie hast du von jener Nacht in Uglitsch an bis heute die Zeit verbracht? Wie hast du gelebt?" „Ich bin mit meinem Lehrer Simon von Kloster zu Kloster gezogen. Vieles habe ich gesehen und gelernt, das mir entgangen wäre, hätte ich Uglitsch nicht verlassen. Und vor allem lernte ich das russische Volk kennen. Ich sah, wie entsetzlich es leidet unter den Fußtritten des Zaren und seiner Trabanten. Zuweilen packte mich die Wut, aber Simon hielt mich zurück; er sagte, später einmal könnte ich das ändern. — Und dann starb er eines Tages. Ich war kaum 17 Jahre alt." „Wie bist du nach Polen-Litauen gekommen?" „Nach dem Tode Simons setzte ich meine Wanderung fort. Ich hielt mich in den Klöstern nie länger als ein paar Monate auf, um nicht gezwungen zu werden, das Mönchsgelübde abzulegen. Und zu guter Letzt nahm ich eine Stelle als Hauslehrer bei einem Edelmann an, Hoyski mit Namen. Das war schon in Litauen, und ich war froh, den Schergen des Zaren entgangen zu sein." Wiederum bricht ein langes Schweigen an. Für den Geistlichen ist es klar, daß der Kranke kein Traumgebilde erzählt hat. So sachlich und selbstverständlich redet nur einer, der wirklich Erlebtes berichtet. Und dennoch, was er da zu hören bekommen hat, ist so 11
unglaublich und abenteuerlich, daß sich in der Tiefe seines Herzens Mißtrauen regt, und achselzuckend meint er: „Möglich, daß du die Wahrheit sprichst, mein Freund. Möglich, daß du ein Zarensohn bist. — Es geschehen ja auch zu unseren Lebzeiten noch Zeichen und Wunder. — Solange aber keine Beweise für deine Behauptungen vorliegen, wird dir niemand glauben, und man wird dich für einen Narren halten. Vielleicht läßt dich der Fürst auspeitschen und jagt dich davon, wenn du ihm deine Geschichte erzählst." Der junge Mann setzt sich im Bett auf, zieht unter seinem Kopfkissen ein sorgfältig verschnürtes Dokument hervor, wickelt es auf und reicht es dem Pfarrherrn: „Darin ist alles enthalten", sagt er, „was über meine Abstammung bekannt ist." Der Geistliche wirft beim trüben Schein der Kerze einen flüchtigen Blick auf das Geschreibsel und schüttelt den Kopf: „Das mag schon seine Richtigkeit haben", sagt er. „Aber Papier ist geduldig, und die Unterschriften und das Siegel . . . nun, wer kann sie nachprüfen? Wer kann sagen, ob sie echt sind? Hast du nichts anderes vorzuweisen?" Da reißt der Kranke sein Hemd auf, zeigt ein wundervolles goldenes Kreuz mit kostbaren Edelsteinen auf seiner Brust, und heiser vor Erregung sagt er: „Das Kreuz hier ist ein Geschenk des Fürsten Mstislawski, meines Paten. — Glaubst du mir jetzt?" Dem Geistlichen verschlägt es die Sprache. Nie hat er eine ähnliche Kostbarkeit gesehen, und indessen er mit behutsamen Händen nach dem Kreuz faßt und seine Lippen darauf drückt, flackert die Kerze auf und verlischt.
Am Königshof zu Krakau Nichts Glücklicheres konnte Demetrius widerfahren, als dem Fürsten Adam Wischnewtzki vorgestellt zu werden. Das Urteil der Zeitgenossen über die Einfalt dieses Fürsten ist einstimmig, und es nimmt darum nicht wunder, daß er mit freudiger Genugtuung sofort jedes Wort glaubt, das ihm Demetrius über seine Abstammung erzählt und jeden Beweis für unanfechtbar hält. Hat er nicht sofort geahnt, daß etwas Besonderes hinter diesem jungen Manne 12
steckt? Und die Jasager und Speichellecker an seinem Hof stimmen ihm bei und verbeugen sich tief vor dem eben noch kaum beachteten Diener. Selten im Laufe der Geschichte stieß einer auf eine so bereitwillige und leichtgläubige Anerkennung wie der Jüngling, der behauptete, ein Sohn Iwans IV. zu sein. Er wird aufs prächtigste ausgestattet und dem Bruder des Fürsten, Konstantin, zugeführt, der ihn wiederum seinem Schwiegervater, dem Gouverneur von Sandomir, Mnischek, vorstellt. Auch diese neue Bekanntschaft ist ein Glücksfall für Demetrius, denn Mnischek, Besitzer riesiger Ländereien und tief verschuldet, ist ein Freund des Königs Sigismund von Polen-Litauen, der in Krakau residiert. Er begreift, wie vielversprechend vertraute Beziehungen zu einem künftigen Zaren sind, dem man die Leiter hält. Darum ist er ohne weiteres Feuer und 1 lamme, sucht Demetrius fest an sich zu binden und verspricht ihm seine Tochter Marina zur Frau — natürlich in der Erwartung, daß der Lohn für seine Hilfsbereitschaft nicht ausbleiben wird. So erlebt die Welt das seltsame Schauspiel, daß der ehemalige Diener und Landstreicher und nunmehrige Prinz Demetrius binnen kurzem Zutritt zum königlichen Palast in Krakau erhält und in den prunkvollen Korridoren und Vorzimmern vertrauliche Händedrücke tauscht. Seine Echtheit ist inzwischen durch die Aussagen eines russischen Überläufers und eines Polen, der als Gefangener in Uglitsch gelebt hat, erhärtet, und einer Audienz beim König steht nichts mehr im Wege. Was bei dieser Zusammenkunft verhandelt wird, gelangt nur teilweise an die Öffentlichkeit, doch ist soviel gewiß, daß Demetrius einen starken Eindruck auf König Sigismund macht. Der Herrscher betrachtet Demetrius von nun als seinen Schützling und läßt ihm insgeheim tatkräftige Hilfe angedeihen. So erhält der Fremdling aus der königlichen Schatulle eine Pension von 4000 Gulden und damit gewissermaßen seine amtliche Anerkennung. Dieser sonderbare, plötzlich aus den Steppen Rußlands aufgetauchte Jüngling ist eine Persönlichkeit mit vielfältigen Talenten und weiß genau, wie die Menschen zu behandeln sind und wie er auftreten muß. Nicht nur, daß er in allen höfischen und körperlichen Künsten, im Tanzen, Fechten, Reiten, Kartenspielen wie nur ir13
gendein vornehmer Kavalier zu glänzen versteht, er besitzt auch Wille, Entschlossenheit und Geduld, ist voller Mut und Zuversicht, und inmitten der Unbedeutenden, Vorsichtigen ist er einer, der bei jeder Gelegenheit alles wagt, sich selbst und sein Glück. Und auch dies ist ein Beweis dafür, wie klug er die Menschen einschätzt, daß er im voraus großzügige an seine Gönner verschenkt, was ihm noch nicht gehört, und jedem, der ihm behilflich sein kann, ein Stück von der großen Beute verspricht. So stellt er seinem Förderer Mnisdiek die Gebiete von Nowgorod und Pskow in Aussicht, dazu eine Million Gulden aus dem russischen Staatsschatz; den Kosakenführern, die sich bei ihm einfinden, verheißt er goldene Berge, und an den Papst schreibt er: „Sollte der gütige und große Gott mir den Zugang zum Thron meiner Väter öffnen, so bitte ich Ew. Heiligkeit untertänigst, mir Ihre Unterstützung und Gunst nicht vorzuenthalten. Denn der allmächtige Gott könnte sich sehr wohl meiner bedienen — so unwürdig ich dessen bin —, um seinen göttlichen Ruhm durch den Übertritt der in die Irre gehenden Schafe und die Wiedervereinigung eines so großen Volkes mit der Kirche zu erhöhen." — Und er unterschreibt: „Demetrius Johannes, Sohn des Zaren in Großrußland und Erbe des Moskowitischen Thrones". In dieser Zeit nähert er sich auch Marina, der Tochter des Fürsten Mnischek, die ihm als Braut versprochen ist. Marina, eine echte Polin ihrer Zeit, hochfahrend, vergnügungssüchtig, verschwenderisch und leichtsinnig, behandelt den dem Rang und der Stellung nach hervorragenden Kavalier anfangs durchaus nicht mit besonderer Freundlichkeit. Zwar wird gemunkelt, daß er kein Griesgram sei, man rühmt ihm auch ein feuriges Herz unter einer Hülle von Zurückhaltung und Stolz nach, aber diese ritterlichen Tugenden veranlassen sie noch nicht, ihm entgegenzukommen. Demetrius hingegen beweist in seinen Beziehungen zu ihr, trotz musterhaften Verhaltens, zu jeder Stunde, wie stürmisch und leidenschaftlich seine Liebe ist. Man spürt, seine Beziehung zu ihr ist durchaus nicht nur eine oberflächliche Gemütsregung, sondern eine durch echtes Gefühl und tiefe Leidenschaft gehärtete Liebe mit allen Anzeichen von verschwenderischer Größe und bedingungsloser Hingabe.
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Der Eroberer Als Demetrius beginnt, an den Grenzen Polen-Litauens ein Heer zusammenzuziehen, strömen ihm vor allem die Kosaken zu. Zu den Kosaken zählen damals auch jene Unglückseligen und ihre Nachkommen, die unter dem unmenschlichen Regiment Iwans des Schrecklichen von Haus und Hof vertrieben wurden und am Rande des Reiches, meist in den Steppengebieten des Südostens, Unterschlupf und eine neue Lebensgrundlage suchten. Das Flußgebiet des Don, der Unterlauf der Wolga und der Ural wurden ihre vorzüglichsten Zufluchtsstätten, wo sie sich mit Kirgisen, Baschkiren, Tscherkessen und Tataren vermischten und zu großen Banden zusammenschlössen. Beweglich wie Flugsand, jedem geordneten Staatswesen fremd, neigten sie zu zügellosen Ausschreitungen gegen Reichtum und Regierungsgewalt. Ihre Ausbrüche gegen die unerhörte Unterdrückung und Mißhandlung waren ein Kampf um die primitivsten Menschenrechte. Das Heer des Demetrius ist etwa 4000 Mann stark, eigentlich nur ein winziges Häuflein — wo es sich um die Eroberung Rußlands handelt —, aber vor ihm her zogen seine Agenten von Ort zu Ort und verkündeten, daß der Sohn Iwans endlich heranziehe, um den Thronräuber Boris Godunow, den Mann, der die Bauern ihrer Freizügigkeit beraubt und sie an die Scholle gefesselt hatte, vom Thron zu stoßen. Daß der Prinz gerettet worden war und irgendwo lebte, glaubte man seit drei jähren allgemein, warum sollte man also daran zweifeln, daß er jetzt aus der aufgezwungenen Verbannung ans Licht des Tages getreten war, um mit dem Schwert in der Hand sein väterliches Erbe zu erkämpfen. Die Einnahme der Grenzstadt Morawsk mit einer Garnison von 700 Mann und sieben Kanonen ist der erste Erfolg des kühnen Angreifers, dann fällt Tschernigow, wo nach heftigem Kampf siebenundzwanzig Kanonen und große Mengen Lebensmittel erbeutet werden. Nach diesem, über alle Erwartungen glückhaften Handstreich besetzt Demetrius — allenthalben bereitwillig als Zar umjubelt — weitere Städte auf russischem Gebiet. Schon hier bei seinen ersten noch unbedeutenden Siegen wird erkennbar, daß Demetrius eine ganz andere Vorstellung vom Wert 15
Marina Mnischek, Gemahlin des Zaren Demetiius (nach einem zeitgenössischen Gemälde)
des menschlichen Lebens hat als die barbarischen Zaren und ihre Feldherren und daß ihm neben Kühnheit auch staatsmännische Weitsicht zu eigen ist — erstaunlich für einen Jüngling von kaum zweiundzwanzig Jahren. Er setzt die Kommandanten der eroberten Festungen sofort wieder in Freiheit, statt sie umzubringen, wie es der Brauch der Zeit ist, verzeiht ihnen ihre dem regierenden Zaren bewiesene Treue und läßt durchblicken, daß sie ihm hochwillkommen seien, wenn sie sich mit derselben Zuverlässigkeit seinen Fahnen anschließen würden. Auf diese Weise gewinnt er sich neue Freunde, und sein Name geht heller und klangvoller in die Geschichte ein als die Namen anderer Eroberer, deren Weg von vergossenem Blut gezeichnet ist. Vor Nowgorod-Ssewersk stößt Demetrius zum erstenmal auf einen Widerstand, der sich nicht einfach überrennen läßt. In der Stadt kommandiert Peter Basmanow, ein fähiger und harter Soldat, der die Stadt kurzerhand niederbrennt und die Einwohner zwingt, sich mit der Besatzung in die starke Riegelfcstung an 16
Demetrius, der Widersacher Zar Boris Godunows (zeitgenössisches Porträt)
der Desna zurückzuziehen. Hinter den steinernen Mauern dieses Bollwerks trotzt er dann den stürmenden Scharen des Demetrius und den rasch herbeigeholten Bclagerungsschützen. So ist eine kostbare Spanne Zeit für den Zaren gewonnen; für den Angreifer aber bedeutet der zähe Widerstand unter den gegenwärtigen Umständen einen peinlichen Rückschlag, denn die Hilfsquellen fließen noch schwach. Was aber ist mit dem Zaren Boris Godunow? — Warum hat er nicht energisch beim polnischen König in Krakau interveniert, als es noch Zeit war? Warum nicht die Grenzen besetzen lassen und sein Land gegen Polen abgeriegelt? Und jetzt, da der Feind schon weit im Land steht und der Aufstand im ganzen Reich gefährlich wird — warum schlägt er nicht energisch und ohne Rücksicht drein, um den Brand zu löschen? Wir wissen es nicht. Erst sehr spät beginnt Boris Godunow zu rüsten und gedenkt mit einem Heer von 40 000 Mann, das zum Entsatz des belagerten Nowgorod-Ssewersk heranrückt, Demetrius zu zerschmettern und dem Spuk endgültig ein Ende zu machen. Er glaubt sich seiner 17
Sache absolut sicher, denn seine Streitkräfte sind dem Gegner um dar- Dreifache überlegen. Aber Demetrius denkt gar nicht daran, sich von der Überzahl einschüchtern zu lassen, sondern greift tollkühn an und wirft die schwerfälligen Truppen des Zaren über den Haufen. Die geschlagene Armee Boris Godunows weicht in die dichten Wälder zurück, bezieht ein festes Lager und wartet Verstärkung ab, die ihr bald reichlich zuströmt, so daß schließlich wieder ein Heer von 70 000 Mann auf den Beinen ist. Die Truppen des Demetrius werden in alle Winde zerstreut. Seine Kriegskasse leert sich, die polnischen Herren finden den Feldzug nicht nach ihrem Geschmack und machen sich auf den Heimweg, selbst Fürst Mnischek, der Vater Marinas, rückt mit seinen Hilfsvölkern ab. Zurück bleiben nur 1500 Polen und ein Teil der Kosaken. Aber Demetrius läßt sich seine Enttäuschung nicht anmerken, ist strahlender Laune, erfüllt von unbeugsamem Optimismus. Die Ereignisse geben ihm recht. Der zaristische Feldherr bleibt wie angenagelt in seiner Stellung, während die Zeit vergeht und die Scharen des Demetrius wieder Zulauf bekommen. Wo die zaristischen Heere unbarmherzig rauben, zerstören, totschlagen und in sinnlosem Wüten nur um des Plünderns willen Krieg führen, da weiß Demetrius ihre geplagten Opfer durch seine milde Hand, durch Liebenswürdigkeit und Charme für sich einzunehmen. Deshalb laufen ihm auch die von Haus und Hof vertriebenen Bauern stets wieder in Scharen zu. Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, wenn sie nicht verhungern wollen.
Die Wende Nordöstlich vom Tal der Desna liegt in einer sumpfigen Ebene, mit einem schmalen Damm als einzigem Zugang, das hölzerne Fort Kromy. In dieser Festung ohne Bedeutung hat sich der Kosakenhetman Andreas Korella festgesetzt und hält mit ein paar tausend Mann der ganzen Zaren-Armee stand, die vom Fürsten Schuiski geführt ist. Korella ist ein wahrer Eulenspiegel des Krieges. Mit allerlei Schlichen und Listen täuscht er die schwerfälligen Belagerungstruppen und bringt es schließlich so weit, daß der ganze Krieg nur noch Leerlauf und sinnloser Betrieb ist. Weit ab vom Schuß 18
aber und in verhältnismäßiger Sicherheit organisiert Demetrius unterdessen ein schlagfertiges Heer, das besser gerüstet, disziplinierter und deshalb gefährlicher ist als die Kosakenschwärme, die Überläufer und dürftig bewaffneten Bauern, mit denen er bisher den Feldzug geführt hat. Boris Godunow erkennt die neue Gefahr. Um ihr zu begegnen, enthebt er den Zauderer Schuiski des Oberbefehls und ersetzt ihn durch den jüngeren, fähigen Peter Basmanow, der seit der glorreichen Verteidigung von Nowgorod-Ssewersk in hohem Ansehen bei Hofe steht. Basmanow reist zur Front ab mit einem Heiratsversprechen in der Tasche; des Zaren Toditer, die schöne Xenia soll seine Frau werden, wenn er als Sieger heimkehrt. Es ist weit gekommen mit dem armen Boris Godunow, daß er sein Liebstes und Kostbarstes herzugeben bereit ist, um den Tag hinauszuschieben, da er das Szepter aus der Hand legen muß. Dabei mag er ahnen, daß dieser Tag des Verzichts trotz aller Vorsorge unaufschiebbar näherrückt. Das ganze Land ist gegen ihn: der hohe Adel verachtet ihn als „hinterlistigen Schleicher"; das Volk haßt ihn wegen der unerhörten Grausamkeit, mit der er Familien ruiniert und die Gefängnisse füllt. Ist er nicht ein klägliches Zerrbild des schrecklichen Iwan geworden, bei dem er das Regieren erlernt hat? Auf dem „Roten Platz" in Moskau murmelt man, er sei dem Wahnsinn nahe . . . Unterdessen stehen die mächtigen Fürsten, die selbstherrlichen Stützen der Krone, gleichsam im Vorzimmer und warten ab. Sie sehen gelassen mit an, wie ihr Herr und Meister grausige Untaten begeht, wie sein Glanz verblaßt und der einst strahlende Geist, durch die mäditige Anspannung verbraucht, rasch erschlafft. Der alte Zar weicht vor ihren Augen in den Hintergrund zurück, während nun aus der Kulisse, erst behutsam um sidi spähend, dann kühner, selbstbewußter der neue Zar tritt. Die Fürsten erkennen, daß der hellhäutige, rothaarige energische Unbekannte wahrscheinlich bald die Hauptrolle im Kreml spielen wird, deshalb richten sie schon, während noch die Kanonen auf den Schlachtfeldern dröhnen, ihr Augenmerk erwartungsvoll auf ihn. Der erste Eindruck ist ermutigend; noch nie hat man einen so gutherzigen Regenten in Rußland auftreten sehen. Auch 19
seine Haltung ist tadellos, sein Schritt elastisch, seine Reit- und Fechtkunst vortrefflich. Nur einen Fehler muß die gestrenge hochadelige Zuschauerschaft vermerken: Der junge Mann hält offenbar wenig von den überkommenen adlig-vornehmen Formen. Er verkehrt schlaksig und ungeniert mit hoch und niedrig, und wenn bei feierlichen Anlässen ein gewisses Zeremoniell nicht zu umgehen ist, erträgt er es wie ein lästiges Galakleid. Das alles beobachten die klugen Herren genau. Im stillen sind sb entschlossen, sich dem allmählich veränderten Szenenbild anzupassen. Freilich, mit offenem Aufruhr, mit blanker Gegenwehr kann man dem brutalen, immer mehr tyrannisch gewordenen Zaren nicht entgegentreten. Man muß auf der Hut sein, sich respektvoll verneigen und einspruchslos parieren. Gegen die Anordnungen des entfesselten Herrschcrwillcns gibt es keinen Widerstand, zumindest keinen offenen. — Aber man kann nach außenhin ein gefälliges, liebenswürdiges Gesicht zeigen und insgeheim mit Gleichgesinnten diese ganze verfluchte Sippe der Godunows, den gefährlichen Zaren, die rabiate Zarin, den sechsjährigen Sohn und ihren üblen Anhang zu allen Teufeln wünschen, und heimlich Verbindung mit dem wohlgerüsteten Demetrius aufnehmen. — Und schon sind viele bereit, den ersten Schritt von Boris zu Demetrius zu tun, schon ist das fast Unglaubliche — die widerspruchslose Anerkennung des Demetrius als Sohn Iwans und als rechtmäßiger Zar — so gut wie beschlossenen Sache — da wird das Unglaubliche durch noch viel Unglaublicheres überboten. Gerade im rechten Augenblick für Demetrius und die Fürsten, am 13. April des Jahres 1605, erleidet Boris Godunow während der Audienz des dänischen Gesandten einen Blutsturz. Die rasch herbeigeholten Ärzte sind machtlos, und der Zar verscheidet gegen 3 Uhr nachmittags. Boris ist erst 53 Jahre alt. Man begräbt ihn in der Frzengel-Kathedrale bei seinen Vorgängern.
Einzug in den Kreml Während im Kreml die Zarin-Witwe und ihr Anhang noch emsig diskutieren, ob man diesen oder jenen als Regenten und Stellvertreter für den unmündigen Zarensohn einsetzen solle, hat die Stimme des Volkes längst gesprochen. 20
Am 7. Mai verständigt sich der Oberbefehlshaber Basmanow mit dem immer noch in Fort Kromy eingeschlossenen Kosakenhctman Korella und laßt die Wachen zurückziehen. In der Morgendämmerung stürmen die Kosaken das Lager, überfallen die Anhänger Godunows in ihren Zelten und treiben sie auf den Sammelplätzen zusammen. Zwei Stunden später ist alles entschieden: das Heer leistet Demetrius den Treueid, und der Fürst Iwan Golitzin wird beauftragt, den neuen Herrn Rußlands der Ergebenheit seiner Truppen zu versichern. Demetrius empfängt die Abgesandten des Heeres mit gemessener Würde. Gestern noch eine umstrittene, undeutliche Figur auf dem Schachbrett der Politik, wächst er angesichts der Huldigung mühelos derart in seine Zarenrolle hinein, daß er großmütig den Widerstand, den man ihm so lange entgegengesetzt hat, hinwegwischen kann. Und diese Geste des Verzichtes ist durchaus ernst gemeint und keine Schauspielerei; denn er ist in dieser Stunde, wie von allem Anfang an, ganz und gar von seinem Gottesgnadentum, von der Echtheit seiner Ansprüche, von seiner edlen Abstammung überzeugt, so daß sein Auftreten ganz natürlich ist und es ihm überhaupt nicht in den Sinn kommt, jemand könnte ihn für einen Schwindler halten. Das Heer wird aufgelöst. Demetrius selbst begibt sich über Kromy, wo er den tüchtigen Korella begrüßt und seine Verteidigungsanlagen bewuhdert, von einigen Tausend seiner Getreuen begleitet, nach Tula und schickt am 1. Juni zwei adelige Anhänger in die Hauptstadt voraus, um auf dem „Roten Platz" vor dem zusammengeströmten Volk seine erste öffentliche Erklärung verlesen zu lassen: „Da meine Briefe euch nicht erreicht haben", heißt es in dieser Bekanntmachung, „so verzeihe ich euch alles, was ihr mir angetan habt. Ich bin nicht blutdürstig wie der, der bisher euer Herr war. Jedermann weiß, wie er seine unglücklichen Untertanen, die ich liebe wie meinen Augapfel, behandelt hat und er sie auf die grausamste Weise durch Schwert, Strick und Scheiterhaufen umbrachte oder als Sklaven an die Tataren verkaufte. Sein tyrannisches Verfahren hätte euch beweisen müssen, daß er nicht der Beschützer seines Volkes war und nicht rechtmäßig über euch herrschte. Aber 21
Demetrius Johannes, durch Gottes Gnade Zar und Großfürst ganz Rußlands und Herrscher und König der Moskowitischen Monarchie (Stich von Lukas Kilian) 22
nochmals, es sei euch alles vergeben. Ergreift nur alle Godunows und haltet sie bis zu meiner Ankunft in Moskau gefangen, damit ich sie nach Verdienst bestrafen kann. Vergeht euch aber sonst an niemand, achtet das Eigentum und bleibt im Gehorsam Gottes." Nach Verlesung dieses Dokumentes, so berichtet der Chronist, wirft sich das Volk zu Boden und bricht in den Ruf aus: „Es lebe Demetrius, unser Zar! Großfürst aller Russen!" In den dieser Huldigungsszene folgenden Ausschreitungen geht die ganze Familie Godunow zugrunde. Am 20. Juni hält Demetrius seinen feierlichen Einzug in die Hauptstadt und in den Kreml. Eine riesige Menschenmenge liegt vor ihm auf den Knien, und er selbst mag bis ins Innerste erschüttert gewesen sein; denn welch unerhörter Fügungen hatte es bedurft, um ihn, der sich für den letzten direkten Nachkommen des großen Staatsgründers Rurik hält, auf den Thron und in das Haus seiner Väter zurückzuführen. Für die aber, die noch an ihm zweifeln, schwört Fürst Bjelski, einst der Vormund des kleinen Prinzen, auf das Kreuz, daß der neue Zar in Wahrheit niemand anderer als sein einstiges Mündelkind sei.
Für jedermann zu sprechen Mit sicherer Hand ergreift Demetrius die Zügel. Die Macht berauscht ihn, gewaltige Pläne beschäftigen seinen rastlosen Geist, und in fieberhaftem Tätigkeitsdrang möchte er die ganze Weltgeschichte neu ordnen. Nichts geht ihm schnell genug. In den feierlichen, durch die große Vergangenheit geheiligten Räumen der Fürstenversammlung hat man nie von einem Zaren solche Reden gehört, und kein Herrscher hat je gewagt, den großmächtigen Herren so ungeniert ihre Beschränktheit, Bequemlichkeit und Unfähigkeit vorzuwerfen. Der Zar erscheint bei jeder Sitzung und kanzelt sie ab, nennt sie Freßsäcke, Scharlatane, aufgeblasene Hohlköpfe und ist mit derben Ausdrücken nicht sparsam, um sie dann aber gleich wieder durch eine liebenswürdige Geste zu versöhnen. Auch auf den Exerzierplätzen seiner Truppen ist der Zar täglich zu sehen. Weltweite Eroberungspläne beschäftigen ihn: Er hat im Sinn, alle katholischen Mächte mit dem rechtgläubigen Rußland an der Spitze gegen die Türken und Tataren in Bewegung zu setzen, 23
und dafür braucht er eine wohlgedrillte, nach europäischem Muster einexerzierte Armee. So bricht er kurzerhand mit der veralteten, unbeholfenen Schlachtordnung, läßt aus dem Westen militärische Ausbilder kommen, bedient selbst Geschütze, um ein Beispiel zu geben, feuert an, belohnt, straft heimliche Sabotage seiner Anordnungen und ist bald in seiner unerhörten Betriebsamkeit der Schrecken aller Armeekommandanten und ihrer Unterführer. Um die Bestechlichkeit der Beamten einzuschränken, werden ihre Gehälter erhöht, und an jedem Mittwoch und Samstag stellt sich der Zar auf die „Rote Treppe" im Kreml und ist hier für jedermann zu sprechen; ohne Unterschied des Standes kann sich ihm nähern, wer etwas auf dem Herzen hat oder eine Bittschrift übergeben möchte. Diese großzügige Audienz ist eine unerhörte Neuerung. Die unerhörteste Neuerung aber ist die völlige, bedingungslose Beseitigung des Eisernen Vorhangs. Die bisher dichtverschlossenen Tore nach Westen werden sperrangelweit aufgerissen, für Russen wie für die Bewohner der Westländer. — „Jahrhundertelang", schreibt ein Pole, „war es sogar den Vögeln schwer, in das Moskowitische Reich zu gelangen. Jetzt kann jeder frei passieren, die Russen zu uns und wir zu ihnen. Und diese Gelegenheit benutzen zahlreiche Kaufleute, Wirte, Soldaten und Handwerker, um nach Rußland zu gehen . . ." Das Volk ist begeistert. Welch ein Zar ist aus diesem jungen Mann geworden. Er kümmert sich um seine Bauern, erläßt Gesetze zu ihrem Schutz, hebt alle Beschränkungen, denen der Handel bisher unterworfen war, auf und schiebt die lästigen Quängeleien der Besserwisser und jener, die prophezeien, das Reich werde an dieser Revolutionierung alles Bestehenden zugrunde gehen, achtlos beiseite. In den tristen, schmucklosen Sälen des Kreml gibt es jetzt Kostbarkeiten, eine nie geahnte Pracht und heitere Feste, und bei Empfängen wird streng auf gutes Benehmen geachtet. Niemand darf sich mehr sinnlos betrinken, unflätige Reden führen, maßlos sich vollstopfen, wie es unter den früheren Zaren gang und gäbe war. Demetrius nimmt sich den Hof des französischen Königs zum Vorbild und läßt sich gern und voll Bewunderung erzählen, wie es in Paris zugeht. 24
Das Wappen des russischen Kaiserreiches
Frischer Wind über Rußland Die Zaren hatten bisher darauf geachtet, in der Öffentlichkeit ein solches Maß von starrer Würde zu zeigen, daß ihnen etwas Unnahbares anhaftete. Ihre Bewegungen waren gemessen, kein Untertan durfte sich in ihrer Gegenwart setzen, und wenn sie mit Hilfe zweier Fürsten und eines goldüberzogenen Schemels zu Pferd stiegen, dann schwärmten Hunderte von Leibwächtern, Dienern, Hofbeamten und Adeligen um sie herum, die des Zaren geheiligte Person weit genug von seinem Volke trennten, daß er den unreinen Atem der Menge nicht zu spüren bekomme. Als Demetrius sich ohne Beistand aufs Pferd schwingt, befällt die anwesenden Fürsten, Leib-, und Kammerdiener, Zureiter, Pferdeknechte und Leibgarden panikartiger Schrecken. Aber noch wagen sie keinen Einwand. Wer hätte es auch wagen dürfen und wem wäre es in den Sinn gekommen, den eigenwilligen, von seinen 25
Machtbefugnissen durchdrungenen Herrscher an die Vorschriften des Hofzeremoniells zu erinnern? — Erst als der Zar, der keine Freude an dem lammfrommen Zelter hat, ein feuriges Pferd vorzuführen befiehlt, sich hinaufschwingt und dem ungebärdigen Tier seinen Willen aufzwingt, getraut sich der verantwortliche Würdenträger schüchtern zu bemerken: der erlauchte Zar spiele mit seinem Leben und es sei nicht zu verantworten, die dem Volk teure Person solchen Fährnissen auszusetzen. Aber Dcmctrius lacht ihn aus, schickt das Gefolge weg und reitet, nur von einigen Leibgarden begleitet, in die Stadt. Solche und ähnliche Vorkommnisse ereignen sich nun täglich, und wer hofft, daß es bald wieder anders würde und die Brüskierung altvertrauter Sitten, Gebräuche und Vorschriften sei nur eine vorübergehende Grille des Zaren und eines Tages könne man zu den früheren Gewohnheiten zurückkehren, der täuscht sich. Demetrius duldet keinen Zwang. Er will Mensch sein, frei sein, keine Gliederpuppe, kein Herrscher, der von seinen Hofschranzen beherrscht wird. Er geht zuweilen ganz ohne Begleitung spazieren, durchstreift, während die hohen Herren der Mittagsruhe pflegen, mutterseelenallein •— eine Ungeheuerlichkeit für einen Zaren — die Kaufstände und Werkstätten der Ausländer, läßt sich ihre Erzeugnisse vorlegen und plaudert über Völker und Sitten jenseits der Grenzen — immer auf der Suche nach neuen Anregungen und neuen Ideen. Diese heimlichen Gänge, von denen doch jedermann weiß, sind ein völliger Bruch mit russischen Lebensanschauungen und Bräuchen, denn in Moskau geht kein Edelmann, selbst der geringste nicht, zu Fuß — wie ein zeitgenössischer Chronist berichtet: „Es geht kein Edelmann, so etwas reich ist, zu Fuß bis zum vierten oder fünften Haus, es folgt ihm denn sein Pferd nach . . . Die Herren sitzen meist innerhalb ihrer Häuser und schaffen nimmer oder gar selten etwas." Es ist, als brause ein Sturmwind über ganz Rußland hinweg. Aber der Wechsel von Schwarz auf Weiß, von Trübsinn zur Heiterkeit, die ganze Durchlüftung der dumpfen Atmosphäre geht viel zu rasch vonstatten. Wahrhaftig, Demetrius hätte das einsehen müssen. Allein, er ist zu tief von sich selbst überzeugt, und die 26
langersehnte Macht scheint ihm, da sie endlich erreicht ist, vergeudet, wenn sie sich nicht zu jeder Minute bestätigt. Mahnt ihn jemand, behutsamer zu sein, kann er jähzornig aufbrausen. Solche Warnung begreift er nicht, er hat das Gefühl eines Menschen, dessen lautere Absichten mißverstanden werden und der auf Undank und Unverständnis stößt, wo er nur das Glück der anderen im Auge hat. Er bleibt sorglos und optimistisch. Optimismus ist ja die Uranlage seiner Natur. Selbst als sich die ersten Sturmzeichen bemerkbar machen, als Opposition gegen seine Anordnungen spürbar wird, achtet er der Warnungen nicht, bremst weder die rasende Fahrt noch verliert er für einen Augenblick den Glauben an seine hohe Bestimmung. Er ist zu sehr Kraftnatur, um seinen Tatendrang meistern zu können, auch wohl zu jung zur Mäßigung und Einsicht. Hätte Dcmetrius in der ersten Zeit seiner Regierung eine kluge Frau zur Seite gehabt, sein Leben wäre sicher in ruhigere Bahnen gelenkt worden, und die Geschichte Rußlands hätte schon zu seiner Zeit endgültig jene Wendung genommen, die ihr hundert Jahre später Zar Peter der Große gab. Aber wegen der Ehe mit Marina Mnischek wird noch verhandelt. Marina macht lässige Einwendungen und zögert die Verbindung Monat für Monat weiter hinaus. — So ist niemand da, der ihn zu warnen wagt, der ihm zeigt, wo seine Macht ein Ende hat und wo die Abneigung der Menschen gegen Neues, ihre Trägheit, ihr Mißverständnis stärker sind als er.
Aus dem Tagebuch der Marina Ende des Jahres 1605 kommt es zu der ersten Verschwörung gegen den unvorsichtigen Zaren. — Das Feuer schürt Fürst Wassili Schuiski, Abkömmling einer Seitenlinie des Gründerhauses Rurik. Er hält sich für würdiger, die Krone zu tragen als der hergelaufene Fremdling, der das Russische mit polnischem Akzent spricht, den Staatsschatz in unerhörter Weise vergeudet und täglich neuen Unfug ersinnt. Aber das Komplott wird durch den treuen Peter Basmanow aufgedeckt. Schuiski, durch die erlittene Niederlage gereizt, bleibt auf dem Sprung — ein kühler, gefährlicher Beobachter. 27
Unterdessen sind die Verhandlungen wegen der Ehe des Zaren mit Marina Mnischek zu einem vorläufigen Abschluß gekommen. Die Verlobung findet in Abwesenheit des Zaren mit großem Pomp in Krakau statt. Demetrius läßt sich durch den Ältesten der Fürstenversammlung, Wlasjew, vertreten, der Stockrusse ist und in seiner Wcltfremdheit amüsante Zwischenfälle verursacht. Das vorläufige Brautgeschenk, dessen Überbringer der Privatsekretär des Zaren ist, wird auf 500 000 Gulden beziffert, und Anfang 1606 ist es nach manchem Hin und Her endlich soweit, daß sich die Braut mit ihrem Vater und einem nach Tausenden zählenden Gefolge von Krakau nach Moskau begeben kann. Über den Empfang des Brautvaters Mnischek durch den Zaren berichtet das sogenannte „Tagebuch der Marina" in anschaulicher Weise. Diese zeitgenössische Schilderung gibt ein ausgezeichnetes Bild von den Zuständen und Bräuchen am Hofe des Zaren Demetrius: ,,F.ine Schar von Schützen begleitete Mnischek von seinem Haus zu den großen Galerien des Kreml, wo kostbar gekleidete Würdenträger auf ihn warteten. Von der Galerie aus betraten wir den Palast selbst. Der Zar saß auf dem Thron in einem von Perlen übersäten Gewand und trug auf dem Kopf eine hohe Krone, die mit zahlreichen kostbaren Steinen geschmückt war. In der rechten Hand hielt er das Zepter. Der ganze etwa drei Ellen hohe Thron bestand aus reinem Gold, v und über ihm wölbte sich ein aus vier Schilden kreuzweise zusammengestellter Baldachin, über dessen Kuppel ein Adler von großem Wert angebracht war. Die Säulen des Baldachins ruhten auf zwei liegenden silbernen Löwen von der Größe eines Wolfes; auf zwei goldenen Leuchtern standen Greife. Zum Thron führten drei Stufen hinauf, die mit Goldbrokat bedeckt waren. Zu jeder Seite des Thrones standen zwei Hofbeamte mit Streitäxten an goldenen Schäften. Zur Rechten des Zaren saß der Patriarch von Moskau, vor dem man auf goldener Schüssel ein Kreuz hielt. Niedriger als er saßen die Bischöfe und andere geistliche Personen, hinter ihnen Senatoren und Edelleute, die auch die linke Seite des Saales füllten. Mnischek küßte dem Zaren die Hand und hielt eine Rede, die den Zaren tief zu rühren schien. 28
Nachdem die Zeremonie vorüber war, bat Demetrius Mnischek zu Tisch, während Basmanow die anderen Polen einlud. Der Palast des Zaren ist aus Holz, aber hübsch, ja prächtig, die Türschlösser in ihm sind vergoldet, einige der grünen Öfen haben silberne Gitter. Das ganze Tischgerät war aus Gold, der Speisesaal hatte eine Tapete von blauem, persischem Stoff, die Vorhänge an Fenstern und Türen waren von Brokat, den Thron bedeckte ein schwarzer Stoff, der mit silbernen Sternen besät war. Der Zar aß an einem besonderen Tisch von vergoldetem Silber, über den ein mit Gold verziertes Gedeck gebreitet war. Teller gab man uns nicht, auch Wasser wurde nicht gereicht. Aus einem silbernen Gefäß von Mannshöhe ergoß sich Wasser in drei Schalen, aber niemand wusch sich die Hände. Als wir Platz genommen hatten, brachte man — es war an einem Freitag — das aus verschiedenen Fischen zusammengestellte Essen. Man stellte erst Schüsseln mit einem Fischgericht den Tischen entlang auf und, nachdem man sich bedient hatte, folgten andere. Auf dem Tisch stand kein Brot, bevor wir aber zu essen anfingen, schickte uns der Zar ein großes Stück Weißbrot, aus dem wir uns Teller formten. Die Mahlzeit währte mehrere Stunden. Man reichte auch sehr viele auf verschiedene Weise bereitete, sehr schmackhafte Kuchen. Jeder erhielt eine Schale Wein. Dann stellte man in goldenen Gefäßen eine Menge Met, gesüßtes Bier und andere Getränke auf den Tisch. Man bedient am Tisch des Zaren ohne Verbeugung, ja, die Bedienten nehmen nicht einmal die Mütze ab, sondern neigen nur leicht das Haupt. Nach der Mahlzeit gab es kein Dessert, man brachte nur eine große Schüssel mit Pflaumen, die der Zar als Zeichen seines Wohlwollens eigenhändig unter die Bedienten verteilte."
Auf dem Gipfel Der letzte Akt beginnt mit dem großartigen Schauspiel des Einzugs der Braut in die Hauptstadt. Der Pomp bei dieser Feier übersteigt bei weitem alles, was die russische Welt bis dahin gekannt und erlebt hat. Der Galawagen, in dem die Braut sitzt, ist von oben bis unten vergoldet, sein Inneres mit Perlen bestickt, und auf dem Baldachin sitzt ein kleiner Neger mit einem Affen an einer goldenen Kette. Die dichtgedrängte Zuschauermenge
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staunt. Marina selbst trägt ein perlenübcrsätcs Gewand aus weißer Seide nach französischer Mode. Reiter zu Pferde, zweihundert Hellebardenträger, dazu die polnischen Herren, ausstaffiert als antike Krieger mit Schilden und Köchern, flankieren die Karosse. Dieses und vieles andere ist so glanzvoll, prächtig und verwunderlich anzusehen,, daß die Leute darüber ihre eigene Dürftigkeit vergessen und sich die Kehle heiser schreien vor Begeisterung. Ist es nicht eine schöne Welt, in der es so etwas zu bewundern gibt, in der wenigstens die Fürsten in Glück und Reichtum schwimmen? Nach dem Einzug beginnen die Feste, Maskenbälle, Gelage und Hetzjagden, eine nicht abreißende Kette von phantasievoll ausgestatteten Vergnügungen, und am 18. Mai findet die feierliche Trauung statt, bei der Marina ein Diadem im Wert von einer halben Million Gulden trägt. Der Zar lebt in einem Taumel von Glück. Er ahnt die Gefahr der Gipfelhöhe nicht, wie er nichts davon sieht, was längst jedem Wissenden klargeworden ist, daß sich inmitten der rauschenden Feste der hohe russische Adel in zwei Parteien gespalten hat. Um den ränkevollen, wieder zu hohen Ehren gelangten Schuiski sammeln sich die Fürsten der alten Generation, denen die Reformen des Zaren zuwider sind. Sie fürchten auch, daß der polnische Einfluß auf Demetrius sie bald verdrängen wird und ihre Herrlichkeit mit der Thronerhebung der Zarin zu Ende ist. — Um Marina versammeln sich die jüngeren Herren, Basmanow und seine Freunde, dazu ihre eigenen Landsleute, und zwischen den Parteien schwankt ängstlich, unsicher die Masse der Großkaufleute, Ausländer und Hofbeamten, die noch nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen: zu der neuen, unbequemen, alles revolutionierenden Ordnung oder zu dem alten, von den Vätern her vererbten und gewohnten Schlendrian.
Der Absturz Demetrius bleibt vertrauensselig wie immer und ist ganz von den Vorbereitungen zu neuen Festen in Anspruch genommen, plant große Tierhetzen, eine gewaltige Illumination des Kreml. In seinem Rausch macht er es Schuiski leicht, ihn zu verderben. Alles, was nicht mit Marina in Zusammenhang steht, läßt ihn 30
gleichgültig. Das Reich kann warten; die Regierungsgeschäftc werden vertagt; Beschwerden über das wüste Treiben der Polen, die außer Ra.nd und Band geraten sind, wischt er mit lässiger Geste weg. Als die ihm bedingungslos ergebene Palastwache von Schuiski fortgeschickt wird, damit sie sich — wie er sagt — von dem anstrengenden Dienst der letzten Tage erhole, erhebt er keinen Einspruch. Nicht einmal durch die schriftlichen Warnungen seiner deutschen Leibwache und die unbestimmten Gerüchte einer Verschwörung, die Basmanow zugeweht sind, wird er geweckt. Felsenfest ist er von der Treue und Zuverlässigkeit seiner Russen überzeugt. Drängen sie sich nicht an den Straßen, wenn er vorüberreitet, und jubeln ihm zu, als habe mit ihm eine neue Welt begonnen? Während Dcmetrius für nichts anderes als für Marina Augen und Ohren hat, greift die Verschwörung rasch um sich. Im Morgengrauen des 26. Mai bricht dann der Sturm los, und während von den tausend Glocken der Kirchen und Kapellen das Zeichen zum Aufruhr gegeben wird und die Bevölkerung, erschreckt, aufgestört, ohne zu ahnen, was vor sich geht, zum „Roten Platz" stürmt, erkundigt sich der durch das Geläute jäh aus dem Schlaf gerissene Zar noch sorglos, was es gebe, ob es in der Stadt brenne. Als die diensttuende Dienerschaft im Vorzimmer die Achseln zuckt und sagt, sie wisse von nichts, kehrt er unbekümmert zu Marina zurück. Aber sein Schicksal steht nicht still, auf dem „Roten Platz" schwingt es drohend seine riesigen Flügel. Vor dem führerlos hin und her wogenden Volkshaufen erscheint jetzt hoch zu Roß, in der Rechten den blanken Säbel, Fürst Schuiski mit den adeligen Verschwörern und zweihundert Bewaffneten. Er richtet sich im Sattel auf und ruft mit gewaltiger Stimme: „Die Polen wollen den Zaren erschlagen! Rettet den Zaren! — In den Kreml! Rettet den Zaren! Nieder mit den Polen!" Zugleich mit dem wütenden Ansturm der aufgepeitschten, um das Leben ihres Herrschers bangenden Menschen, mit freigelassenen Verbrechern und bestochenem Pöbel dringen die Verschwörer in den Kreml. Die Tore krachen auf, die Fenster klirren vom Johlen, in den Höfen braust es vom aufgeregten Surren des rastlosen menschlichen Bienenschwarms. 31
Doch die Verschwörung muß vorwärts, muß in flutender Bewegung bleiben, wenn sie nicht versanden soll. Zögern ist für sie Verhängnis. Aber niemand weiß, wo der Zar ist. Im obersten Stock des Palastes herrscht noch betroffene Stille. Da blickt Basmanow aus dem Fenster hinab auf die lärmenden Eindringlinge, und schon sind die Rebellen über ihm. Eine Viertelstunde später ist alles vorüber. Der Palast gestürmt, durchsucht und Demetrius erschlagen, und d^e ordnungslos quirlende Masse stürmt auf den „Roten Platz" zurück. Keiner kann sagen, was eigentlich geschehen ist, warum es zur Revolte kam. Die Menschen sind unruhig, ratlos. Aber dann dröhnt mit einemmal eine Stimme auf, andere fallen ein, und die ersten Huldigungen für den neuen Zaren, für Wassili Schuiski, brausen über den Platz. Bald darauf ist der junge Zar Demetrius bereits völlig vergessen, in Vergessenheit geraten sind auch Marina, Basmanow und die kurze Episode einer aufgeklärten, dem Licht zugewandten Zeit. Rußland versinkt wieder in das Dunkel eines schauerlichen Terrors, von dem sich die Nachwelt angeekelt abwendet. Kein Kreuz, kein Gedenkstein macht die Stätte kenntlich, wo Demetrius begraben ist. Unvollendet geblieben sind die Denkmäler, die Schiller und Hebbel in ihren Schicksalstragödien „Demetrius" dieser weltgeschichtlichen Gestalt zu errichten gedachten.
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IM FALLE EINES FALLES..