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Der doppelte Adler DAN ABNETT Deutsche Erstausgabe Auf der Welt Enothis stehen die finsteren Mächte des Chaos kurz davor, die letzten Verteidigungslinien der imperialen Armee zu überrollen. Um den verzweifelten Bodentruppen eine Atempause und die Möglichkeit zur Neuorganisation ihrer Streitkräfte zu gewähren, werden verschiedene Luftwaffenregimenter aus anderen Regionen der Galaxis zur Hilfe gerufen. Darunter befindet sich auch ein Phantiner Kommando unter der Leitung von Geschwaderführer Bree Jagdea. Sie und ihre Piloten kämpfen erbittert und mit allen Mitteln darum, die Kontrolle über das Gebiet zu erlangen. Wird es ihnen gelingen, die Stellung zu halten, bis Verstärkung eintrifft? »Starke Männer haben das Land erobert, Kühne Männer haben das All erobert, Zwischen Land und All liegt der Himmel. Und den erobern nur die Tapfersten.« aus der Rede zur Eröffnung der Aviator-Schola Hessenville, Phantine »Ich gebe Ihnen das Kommando über die Luft. Es liegt an Ihnen, was Sie daraus machen.« Kriegsmeister Macaroth Depesche an Admiral Ornoff, 773.M41 »Wir hatten Flugzeuge. Wir sind mit ihnen geflogen. Sie hatten Flugzeuge. Sie sind mit ihnen geflogen. Es wurde geschossen. Wichtig war eigentlich nur, wer am Ende immer noch geflogen ist.«
Major August Kaminsky (73 Abschüsse), sechs Wochen vor seinem Tod im Jahre 812.M41 »Ich habe die Absicht, das hier lebend zu überstehen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.« Geschwaderführer Bree Jagdea in Ouranberg
ZIEL ENTDECKT THEDA Imperiumsjahr 773.M41 Tag 252 – Tag 260 TAG 252 Über dem Makanitgebirge, 06:32 Im seitlichen Anbranden des Morgengrauens leuchteten die Gipfel rosa wie das Zerrbild einer mit Fondant überzogenen Geburtstagstorte. Harte Schatten füllten die Höhlungen aus wie Tinte. Schwaden weißer Wolken reihten sich in der eisigen Luft dreitausend Meter unter ihnen auf. Jagd Führer war nur ein kreuzförmiger Fleck in der hellen Luft voraus. Er schwenkte zehn Grad nach Nordwesten. Darrow bewegte den Knüppel und folgte mit einer Rolle. Der Horizont schwang herauf, und die Welt drehte sich im Kreis. Langsam, ganz langsam. Er hörte das Klopfen und ignorierte es. Wenigstens funktionierte der Neigungsmesser noch. Nachdem dessen Anzeige wieder ausgerichtet war, schnippte Darrow noch einmal vor das Messinginstrument der Treibstoffanzeige. Der Zeiger stand immer noch auf voll, was nicht stimmen konnte. Sie waren seit achtundvierzig Minuten in der Luft. Er zog einen Handschuh aus und klopfte noch einmal mit den nackten Fingern dagegen. Er hatte das sichere Gefühl, dass der gefütterte Fäustling seine Schläge gedämpft hatte. Die Anzeige blieb auf voll. Er sah, wie verschrumpelt und blau die Haut seiner Hand war, und zog rasch den Handschuh wieder an. In seinem isolierten Fluganzug war es mollig warm, aber das Kabinen-Thermometer zeigte minus acht Grad an. Bis auf das Hintergrundrauschen des Triebwerksstrahls war kein Geräusch zu hören. Darrow schaute sich um, da er seine Beobachtung des Luftraums fortsetzte. Nur Himmel. Nebensonnen flammten in seinem Visier auf. Jagd Drei querab von ihm, eine Silhouette mit einem Kondensstreifen im Schlepptau.
Der Höhenmesser zeigte sechstausend Meter an. Im Kom gurgelte es. »Jagd Führer an Jagd-Staffel. Noch ein Schwenk nach Westen, dann geht es nach Hause. Bleibt in Formation.« Sie flogen noch eine träge Rolle. Auf der Backbordseite hob sich die Landschaft. Darrow sah spröde Lichtblitze tief unter sich. Artilleriefeuer in den Gebirgspässen. Er hörte wieder das Klopfen. Es klang, als hocke jemand hinter seinem gepanzerten Sitz und schlage mit einem Hammer auf die Verstrebungen ein. Impulsdüsen gaben immer ein gurgelndes Blähgeräusch von sich, aber dieses kam ihm nicht richtig vor. Er schaltete sein Kom ein. »Jagd Führer, hier spricht Jagd Vier. Ich …« Es gab einen jähen, lauten Knall. Sein Kom jaulte wie ein abgestochenes Schwein. Die Welt stellte sich auf den Kopf. »Ach, du lieber Gott-Imperator! Ach, du Scheiße! GottImperator!«, brüllte eine Stimme. Darrow ging auf, dass es seine eigene war. Fliehkräfte wirkten auf ihn ein. Sein K4T Wolfswelpe des Commonwealth trudelte abwärts. Licht und Dunkel, Himmel und Land, immer im Kreis herum. Darrow schluckte die Übelkeit hinunter und zog verzweifelt am Ruder. Im Kom herrschte ein Chaos aus hektischem Geschnatter. »Jagd Vier! Jagd Vier!« Darrow bekam seinen Vogel irgendwie wieder unter Kontrolle und stabilisierte ihn. Er hatte mindestens tausend Meter Höhe verloren. Er richtete die Maschine aus und sah sich in der vergeblichen Hoffnung um, etwas Freundliches zu sehen. Dann schrie er unwillkürlich auf, als etwas an seiner Nase vorbeifiel. Es war ein Wolfswelpe, dem eine Tragfläche in einer Kaskade aus zerfetzten Streben und Panzerplatten abgerissen worden war. Aus dem Impulstriebwerk loderten Flammen. Die Maschine raste in die Tiefe wie ein Komet und zog auf dem Weg zum Boden einen Schweif aus dunklem Rauch hinter sich her. Sie wurde zu einem Fleck. Einem kleinen Fleck. Einem winzigen Lichtfunken. Darrow spürte, wie sich seine Eingeweide verkrampften und die Säure in seinem Magen brodelte. Furcht erfüllte die kleine Kanzel wie ein Gestank. Etwas anderes raste an ihm vorbei.
Kaum zu erkennen, so schnell. Da und auch schon wieder verschwunden. Ein Eindruck von umgebogenen Tragflächen. »Jagd Vier! Ausweichen! Ausweichen und Haken schlagen! Du hast einen hinter dir!« Darrow riss am Steuerknüppel, und die Welt drehte sich wieder. Er stellte die Nase an und gab Vollschub. Der Wolfswelpe bockte widerspenstig, und das Klopfen setzte wieder ein. Thron der Erde. Er hatte geglaubt, sein Vogel habe eine Fehlfunktion, aber dem war nicht so. Sie waren überfallen worden. Darrow beugte sich so weit vor, wie es sein Gurtgeschirr zuließ, und spähte aus der Kanzel. Die Aluminoidhaut der rechten Tragfläche war durchlöchert und zerrissen. Er war beschossen worden. Er gab mehr Schub, um Geschwindigkeit aufzunehmen, und schraubte sich dann in einer lang gezogenen Linkskurve steil in die Höhe. Der frühmorgendliche Himmel war voller Rauch: lange Streifen aus grauem Dampf und kleinen schwärzen Flecken, die wie schmutzige Baumwolle aussahen. Die Jagd-Staffel hatte ihre Formation aufgelöst und war über den ganzen Himmel verstreut. Darrow konnte nicht einmal die Fledermäuse sehen. Nein, das stimmte nicht. Er machte eine aus, die sich hinter Jagd Fünf klemmte, während ihre Geschützmündungen Leuchtspurgeschosse spien. Er rollte darauf zu und klappte das Teleskop seiner Zielerfassung in Stellung, bevor er den Daumen auf den Knopf oben auf dem Steuerknüppel legte, der die vier Kanonen in der Nase seiner Maschine aktivierte. Die Fledermaus hüpfte wild über das gläserne Fadenkreuz, der Zielerfassungsoptik. Sie wollte einfach nicht zur Ruhe kommen. Darrow fluchte und richtete ein Stoßgebet an den GottImperator der Menschheit, seine Tragflächen zu heben und ihm Zielsicherheit zu geben. Er nahm winzige Korrekturen mit dem Steuerknüppel vor, doch je mehr er es versuchte, desto mehr schwankte die Fledermaus in seinem Fadenkreuz von einer Seite auf die andere. Voraus gab es einen rauchigen Blitz, und plötzlich raste Darrows Wolfswelpe durch einen horizontalen Hagelschauer aus schwarzem Regen. Nicht Regen. Öl. Dann Trümmer. Brocken aus funkelndem Metall, verbogene Maschinenteile, Aluminoidfetzen. Darrow schrie
überrascht auf, als das Öl seine Sicht nach vorn beeinträchtigte. Er hörte das Prasseln, als die Trümmer die Nase und die Vorderseiten der Tragflächen trafen. Die Fledermaus hatte Jagd Fünf abgeschossen, und Darrow flog durch die Trümmer. Jedes größere Wrackteil würde ihn durchlöchern und so sicher umbringen wie Kanonenbeschuss. Und wenn auch nur ein Zahnrad in den Ansaugstutzen seines Impulstriebwerks geriet … Darrow riss am Steuerknüppel und hob die Nase. Das Licht stellte sich wieder ein, als er die Rauchwolke verließ, und der Luftstrom blies das Öl von seinem Kanzeldach. Es zog sich in bebenden Linien nach hinten, langsam und klebrig wie Blut. Praktisch sofort musste er heftig nach backbord rollen, um nicht frontal mit einem anderen Wolfswelpen zusammenzustoßen. Er hörte einen erstickten Aufschrei im Kom. Der kleine dunkelgrüne Abfangjäger füllte für einen Sekundenbruchteil sein Gesichtsfeld aus und war dann über seine Schulter verschwunden. Seine abrupte Rolle war zu heftig gewesen. Er stand einen Moment Kopf und hatte Mühe, die Maschine wieder auszurichten, während sich über ihm die Berge ausbreiteten. Wieder dieses Klopfen. Dieses verdammte Klopfen. Er verlor jetzt rapide an Geschwindigkeit, und die alten Impulstriebwerke der K4Ts hatten die unangenehme Angewohnheit abzusaufen, wenn der Luftstrom zu abrupt abgelöst wurde. Er richtete die Maschine behutsam aus und gab so viel Schub, wie er eben noch wagte. Zwei Flugzeuge rasten so schnell vorbei, dass ihm nicht einmal die Zeit blieb, den Typ zu bestimmen, dann huschten drei weitere rechtwinklig an seinem Bug vorbei, alles Wolfswelpen. Einer zog eine lange blaue Rauchfahne hinter sich her. »Jagd Führer! Jagd Führer!«, rief Darrow. Zwei der Welpen waren bereits aus seinem Blickfeld gestiegen. Die Sonne blendete ihn. Der dritte, der verwundete Vogel, verlor langsam an Höhe und beschrieb mit seinem Rauch den Himmel. Da sah er die Fledermaus ganz deutlich. In zwei Uhr, fünfhundert Meter entfernt und im Anflug auf den Welpen, den sie höchstwahrscheinlich bereits angeschossen hatte. Zum ersten Mal in den vier Wochen seines aktiven Fliegerdienstes konnte Darrow einen ausgiebigen Blick auf den schwer fassbaren Feind werfen. Die Fledermaus ähnelte dem Kopf eines verlängerten, scharfen Axtkopfes, und die Pilotenkanzel saß weit hinten über dem Trieb-
werk an der Stelle, wo sich die gebogenen Tragflächen trafen. Ein Abfangjäger des Typs Höllenklinge, die Creme der Luftstreitkräfte des Erzfeinds. In den Bereitschaftsraum-Besprechungen hatten sie erfahren, dass diese Todesmaschinen entweder blutrot oder mattschwarz waren, aber diese war perlweiß wie Eis, wie Alabaster. Die Kanzel war schwarz getönt und sah aus wie eine dunkle Augenhöhle in einem polierten Schädel. Darrow hatte damit gerechnet, Furcht zu empfinden, doch stattdessen spürte er nur den Kitzel eines Adrenalinstoßes. Er beugte sich vor, duckte sich in der gepanzerten Kanzel des Wolfswelpen, erhöhte den Schub und näherte sich der Fledermaus, aus deren Fünf-Uhr-Richtung. Sie schien ihn nicht bemerkt zu haben und setzte sich gemächlich hinter den verwundeten Welpen. Er legte einen Kippschalter um. Die Geschütze meldeten Bereitschaft. Bei dreihundert Metern kalkulierte Darrow rasch seinen Anflugwinkel und schätzte, dass er sein Feuer fünf Grad vor den feindlichen Jäger legen musste. Gott-Imperator, er hatte ihn … Er drückte auf den Feuerknopf. Der Wolfswelpe erbebte leicht, als die Kanonen das Feuer eröffneten. Er sah Mündungsflammen unter der Wölbung der Nase hervorzucken. Er hörte und spürte das Stoßen der Verschlussblöcke. Die Fledermaus war nicht mehr da. Er flog eine lang gezogene Kurve mit ungefähr zweihundertsiebzig km/h. Der Kampf hatte nur einen Augenblick gedauert. Hatte er die Fledermaus abgeschossen? Er streckte sich in der durchsichtigen Blase seiner Kanzel wie ein Tier, das aus seinem Bau spähte, und reckte den Hals. Müsste er nicht Rauch sehen, wenn er sie getroffen hätte? Der einzige Rauch, den er sehen konnte, lag etwa tausend Mater höher am blassblauen Himmel, wo immer noch der Hauptteil der Luftschlacht tobte. Er wendete. Die erste Regel im Luftkampf: Gib ein paar Schüsse ab und löse dich vom Feind. Bleib nie bei einem Ziel, und kehr niemals um. Das macht dich zum Ziel. Aber er musste es trotzdem wissen. Er musste. Er kippte die rechte Tragfläche an und suchte zwischen den Gipfeln unter sich nach Flammenspuren. Nichts.
Darrow richtete seine Maschine wieder aus. Und da war sie. Direkt neben ihm. Er schrie vor Überraschung auf. Die Fledermaus war weniger als eine Flügelbreite entfernt und flog parallel zu ihm. Ihr polierter weißer Rumpf wies keinen Kratzer auf. Sie spielte mit ihm. Panik stieg in Pilotkadett Enric Darrow auf. Er wusste, dass sein tapferer kleiner Welpe der Höllenklinge sowohl in punkto Geschwindigkeit als auch in punkto Steigfähigkeit unterlegen war. Er nahm Schub weg und öffnete die Bremsklappen in der Hoffnung, durch das jähe Manöver werde ihn die große Maschine überholen. Einen Moment lang war sie verschwunden. Dann war sie wieder da, auf seiner anderen Seite, da sie sein Bremsmanöver kopiert hatte. Darrow fluchte. Die Abfangjäger vom Typ Höllenklinge waren Vektorschubmaschinen. Er war der Fledermaus so nah, dass er die Mündungen der Reaktionsdüsen am Bauch unter den klingenförmigen Tragflächen sehen konnte. Sie konnten mit ihrer Schubvektorsteuerung jede konventionelle Düse austanzen. Sie machte die Maschine insgesamt wendiger und gestattete sogar ein Beinahe-Schweben auf der Stelle. Darrow weigerte sich zu akzeptieren, dass er hoffnungslos unterlegen war, weigerte sich zuzugestehen, dass er sterben würde. Er riss am Steuerknüppel und ging in den steilsten Sturzflug, den er je gewagt hatte. Noch etwas steiler, und dem Wolfswelpen würden die Tragflächen abgerissen. Die Welt raste ihm entgegen und füllte sein Blickfeld aus. Er hörte das Kreischen seines Impulstriebwerks. Er sah, wie ihm die Pracht der Berge entgegenkam. Seiner Berge. Seiner Welt. Der Welt, der er sich angeschlossen hatte, um sie zu retten. Das perlweiße Feindflugzeug klemmte sich mühelos hinter ihn und folgte ihm nach unten. Theda, LWS Nord, 07:02 Manchmal – zum Beispiel bei so einem perfekten Sonnenaufgang wie diesem – hatte August Kaminsky seinen Spaß an einem kleinen privaten Spiel. Das Spiel hieß »So tun, als gäbe es keinen Krieg«.
In mancherlei Hinsicht war es einfach. Es war ruhig, und der Nachtfrost wich einer stillen Kälte, da die Sonne über der Stadt aufging. Von seinem Platz konnte er eine weite Bucht dunstig im Morgennebel und das Meer dahinter sehen, das blaugrau glitzerte. Die eigentliche Stadt Theda – eine Mischung aus bleichen Betonsilos, niedrigeren Habitatblöcken und Masten – lag ruhig und friedlich und auf eine drollige, antiquierte Art auf der ausgedehnten Landzunge, wie sie es bereits seit neunundzwanzig Jahrhunderten tat. Seevögel kreisten am Himmel, was ihm den Anblick ein wenig verleidete, denn er neidete ihnen ihre Flügel und ihre Freiheit, dennoch war es bei diesen Gelegenheiten einfach, das Spiel zu spielen. Theda war nicht Kaminskys Geburtsstadt (er war vor zweiundvierzig Jahren dreitausend Kilometer weiter nördlich in der großen Makropole Enothopolis auf der anderen Seite des Zophonischen Meeres auf stille, unkomplizierte Weise zur Welt gebracht worden), aber er hatte sie – einseitig – adoptiert. Theda war kleiner als die Große Makropole, schöner, eine Küstenstadt, welche die Mechanismen des Meeres verstand und mit ihrer Universität und den vielen Scholae ein berühmter Hort des Wissens und der Lehre war. Die Stadt war auch älter als die Große Makropole. Das Altstadtviertel war bereits dreihundert Jahre alt gewesen, als die ersten Technokraten ihre Adamantiumverankerungen in die Ursbond-Halbinsel getrieben hatten, um Enothopolis zu errichten. Theda, das gute alte Theda, war eine der ersten Städte von Enothis. Kaminsky hatte Theda einerseits wegen dessen berühmter Vergangenheit akzeptiert, aber in erster Linie, weil er dort seit sechs Jahren stationiert war. Mittlerweile kannte er die Stadt gut: ihre Ess-Stuben, die Küstenpavillons und Kais, die Büchereien und Museen. Er sehnte sich danach, in sie zurückzukehren, wenn er seine Kanzel schloss und die Mechaniker fortwinkte. Und er war auch immer zurückgekehrt. Sogar beim letzten Mal. »Sie da! Fahrer!« Die Stimme drang in seine Gedanken. Er richtete sich in dem abgenutzten Ledersitz des Transporters auf und schaute nach draußen. Senior Pincheon, der Dienstleiter des Munitorums, kam über den harten Fahrbahnbelag zu ihm. Die drei Adjutanten in seinem Schlepptau wackelten hin und her wie grüne Flügelmän-
ner. Pincheons lange Gewänder flatterten hinter ihm, und seine Stiefel wirbelten Staub von dem trockenen Boden auf. Seine Stimme war schrill und klang wie die Rufe der Seevögel. Kaminsky mochte Pincheon nicht besonders. Sein Spiel war jetzt ruiniert. Der Ruf des Seniors hatte ihn den Blick senken lassen, sodass er den Boden und den Flugplatz sah. Und niemand konnte mehr so tun, als herrsche kein Krieg, wenn man das sah. Kaminsky öffnete die Tür des Führerhauses, stieg aus und schritt dem Senior entgegen. Er war seit fünf Uhr auf und wartete auf seine Marschbefehle, während er Kaffein aus einer Thermoskanne trank und dünnes Oblatenbrot aß. »Herr Senior«, sagte er mit einem zackigen Gruß. Er hätte nicht grüßen müssen. Der ölige Mann bekleidete keinen militärischen Rang, aber alte Gewohnheiten waren, wie Kaminsky selbst, nicht totzukriegen. Pincheon hielt eine Datentafel in den Händen. Er betrachtete Kaminsky von oben bis unten und dann den verdeckten Transporter hinter ihm. »Fahrer Kaminsky, A? Fahrzeug 167?« »Wie Sie sehr wohl wissen, Senior«, sagte Kaminsky. Pincheon machte einen Haken in eines der Kästchen auf seiner Datentafel. »Aufgetankt und fahrtüchtig?« Kaminsky nickte. »Seit 05:00 Uhr. Ich habe Wertmarken für sechzig Liter Klasse-Zwo bekommen und am Depot getankt, bevor ich meinen Dienst angetreten habe.« Pincheon hakte ein weiteres Kästchen ab. »Haben Sie die Quittung?« Kaminsky holte das Stückchen Papier aus der Tasche, strich es glatt und gab es dem Senior. Pincheon betrachtete es. »Sechzig komma null null drei Liter, Fahrer?« Kaminsky zuckte die Achseln. »Die Füllpistolen arbeiten nicht exakt, Senior. Ich habe bei sechzig aufgehört, aber die letzten Tropfen …« »Sie sollten darauf achten, genauer zu arbeiten«, sagte Pincheon kategorisch. Einer seiner Adjutanten nickte. »Haben Sie schon mal ein Fahrzeug mit der Anlage im Depot betankt, Senior?«, fragte Kaminsky leichthin. »Natürlich nicht!«
»Nun, wenn Sie das hätten, wüssten Sie, wie schwierig es ist, die exakte Menge einzufüllen.« »Geben Sie mir nicht die Schuld für Ihre Ungenauigkeiten, Fahrer!«, fauchte Pincheon. »Wesentliche Rohstoffe wie Treibstoff müssen auf den Milliliter genau verwaltet und rationiert werden! Das ist die Aufgabe des Heiligen Munitorums! Es herrscht Krieg, ist Ihnen das nicht klar?« »Das ist mir zu Ohren gekommen …« Senior Pincheon ignorierte ihn und wandte sich an den nickenden Adjutanten. »Was kosten null komma null null drei Liter Klasse-Zwo?« Der Adjutant rechnete es rasch auf seiner Taschendatentafel nach. »Abgerundet zehn und einen halben Kredite, Senior.« »Runden Sie auf. Und ziehen Sie Fahrer Kaminsky, A, den Betrag von seinem nächsten Sold ab.« »So verzeichnet, Senior.« Pincheon wandte sich wieder an Kaminsky. »Transportfahrt. Personen. Abzuholen binnen dreißig Minuten am Hotel Imperial in …« »Ich weiß, wo das ist.« »Gut. Bringen Sie sie zum Verteiler im Luftwaffenstützpunkt Süd. Haben Sie verstanden? Schön. Dann unterschreiben Sie hier.« Während er unterschrieb und seine steifen Finger mit dem Griffel rangen, fragte Kaminsky: »Sind das Flieger? Endlich FlottenFlieger?« Pincheon plusterte sich auf. »Das zu sagen, steht mir nicht zu. Es herrscht Krieg.« »Glauben Sie, ich wüsste das nicht, Senior?«, fragte Kaminsky. Als er die Tafel und den Griffel wieder an sich nahm, schaute Pincheon Kaminsky ins Gesicht und stellte zum ersten Mal Blickkontakt her. Was er sah, ließ ihn schaudern. »Machen Sie weiter, Fahrer«, sagte er und eilte davon. Kaminsky stieg in seinen ramponierten Transporter und ließ den Motor an. Blauer Qualm hustete und röchelte aus den senkrechten Auspuffrohren. Er löste die Bremse, ließ den zehnrädrigen Laster die sanfte Neigung herabrollen und fuhr dann auf die Ringstraße und am Kettenzaun entlang. Das Spiel war jetzt mit Sicherheit ruiniert. Kein So-tun-als-ob mehr. Er sah Tanklaster, die mit sirupartigen schwarzen Prome-
theumrückständen verschmiert waren, gepanzerte Hangars, Reparaturschuppen, die vom Lärm der Servowerkzeuge widerhallten, Spulen mit Zündkabeln auf Transportkarren und leere elektrische Munitionszüge, die auf Seitenstreifen aus raschelndem Saftgras abgestellt waren. Und Start- und Landebahnen. Rissiger Beton, der im Licht des frühen Morgens wie schuppenflechtige Haut aussah, auf denen achtmotorige Bomber auf ihren befestigten Abstellplätzen schmollten, die Propeller wie Säbelklingen drohend erhoben, hakenflüglige Sturzkampfbomber vom Typ Würger unter Planen, während Mechaniker und Rüstmeister an ihnen arbeiteten. Dahinter und dem Meer zugewandt lagen die langen Startrampen der Wolfswelpen aufgereiht wie eine entblößte Wirbelsäule und funkelten skelettartig in der aufgehenden Sonne. Fünf Wolfswelpen kauerten aufgebockt an der Spitze der Rampen. Flaschengrün und mit grauer Unterseite, waren sie winzige Ein-Mann-Flugzeuge mit Stummelflügeln und kurzen Schwänzen, einem Düsentriebwerk auf dem Rücken und Geschützen in der Nase. Sie sahen unförmig und bleiern aus. Doch Kaminsky wusste, wie es war, sie zu fliegen. Er wusste, wie sie von den Katapultrampen schossen, während die Impulstriebwerke blubberten und knallten und sie auf Startgeschwindigkeit beschleunigten. Er kannte den markerschütternden Ruck, wenn sie über das Rampenende schossen und sich pulsierend ins Blau hoben. Den kalten Geruch der Pilotenkanzel. Den Gestank nach Gummi und Stahl, Prometheum, Salpeter, Fyzelen. Das Gefühl, in der Luft zu sein, lebendig … Gott-Imperator, wie er es vermisste. Am Tor, neben den mit Mauerwerk verkleideten Pfosten und den massiven Schutzzäunen, fuhr er an den Straßenrand, um einen Munitionskonvoi einrollen zu lassen. Er warf einen Blick in den Rückspiegel und sah einen Moment sich selbst. Mehr als alles andere, sogar mehr als der Flugplatz voller Kampfflugzeuge, erinnerte August Kaminsky sein eigener Anblick daran, dass sein Lieblingsspiel nur ein So-tun-als-ob war. Es herrschte, unentrinnbar, Krieg. Altstadt Theda, 07:09
Er konnte nicht schlafen. In erster Linie wegen der Vorfreude, wegen der Aussicht darauf, einen neuen Krieg zu überleben, aber seine innere Uhr zeigte immer noch Schiffszeit an, und für ihn war später Nachmittag. Der Chronometer auf seinem Nachttisch zeigte kurz vor sechs an, als er aufgab und sich von seinem Bett erhob. Es war kalt und noch nicht hell. In den angrenzenden Räumen schliefen die anderen Männer von G für Greta noch. Er hörte Schnarchen, vor allem das vulkanische Grollen von Bombenschütze Judd. Das Munitorum hatte ihnen Quartiere in einer ehemals hübschen Pension am Kazergatkanal zugewiesen, und sie waren spät am vergangenen Nachmittag angerückt und hatten ihre Seesäcke unbeachtet im Flur gelassen, um sich ihre Zimmer zu sichern. Die jüngeren Männer hatten Schnapsflaschen geöffnet und sich darangemacht, sich zu betrinken, um den Zeitunterschied besser wegschlafen zu können. Er selbst hatte ein oder zwei Gläser getrunken, aber die billige Flucht übte kaum einen Reiz auf ihn aus. Er und die anderen Offiziere hatten sich die besten Räume gesichert. Er hatte dem enttäuschten Orsone befehlen müssen, für ihn Platz zu machen. »Suchen Sie sich irgendwas anderes«, hatte er zu dem jungen Heck-Kanonier gesagt. Aber das Zimmer war nicht gerade eine fette Beute. Der Teppich war schon lange verschwunden, und der Putz bröckelte. In Pech getauchte Laken waren anstelle von Vorhängen vor die Fenster genagelt. Die Decke war mit Stockflecken übersät, die wie offene Wunden aussahen. Es roch nach Ermattung und verblichener Pracht. Das taten Jahre des Krieges einem Ort an. Dasselbe machten sie schließlich mit den Menschen. Die alte Frau, welche die Pension führte, hatte ihm gesagt, dass es erst nach acht Uhr heißes Wasser geben würde, und er war nicht so viele Parsecs weit geflogen, um einen neuen Feldzug damit zu beginnen, sich unter eine pisswarme Dusche zu stellen. Er zog sich in dem Dämmerlicht an – Stiefel, Hose, Vliesweste – und machte Anstalten, sich die Fliegerjacke überzuwerfen. Doch da waren seine Finger auf die in das dicke Futter eingenähten Insignien gestoßen, die Hauptmannsstreifen, das GeschwaderAbzeichen und den Namenszug, auf dem »Viltry, Oskar« stand. Er hatte sie beiseite gelegt und sich stattdessen für eine anonymere braune Lederjacke entschieden.
Auf der Treppe war es dunkel. In der Etage darüber schlief die Besatzung von Hallo Höllenfeuer und wiederum darüber diejenigen der Thron des Terrors und Witwenmacher. Im Erdgeschoss waren die Männer von F wie Fangschuss und Holt Sie Alle Zurück untergebracht. Die anderen sechs Besatzungen des XXL Geschwaders »Halo-Staffel«, Imperiale (Phantiner) Luftwaffe, hatten sich in einer anderen Pension ein Stück weiter die Straße entlang einquartiert. Viltry schaltete eine Lichtkugel ein. Das Licht war spärlich, reichte aber, um ihm den Weg die knarrende Stiege hinunterzuweisen. In der Halle waren uralte Bücher auf dem Sims des verzierten, aber abblätternden Kamins gestapelt, doch jene, die er in der Hoffnung auf ein, zwei Stunden der Ablenkung anfasste, zerfielen zu Staub. Er ging hinaus auf die Straße. Es war kühl und still, abgesehen vom Gurgeln des Kanals. Ein Lieferwagen rumpelte auf der anderen Kanalseite vorbei, dessen Scheinwerfer den Verdunkelungsvorschriften entsprechend verhüllt waren. Er ging ein paar Schritte und nahm die in regelmäßigen Abständen stehenden Stümpfe zur Kenntnis, wo eiserne Laternenpfähle vom Rand der Allee entfernt worden waren, um das Material für den Krieg nutzbar zu machen. Er versuchte sich die Gegend in Friedenszeiten vorzustellen. Elegante Laternen mit Glashauben, surrende Elektroboote auf dem großen Kanal, wohlhabende Imperiumsbürger, die ihren Geschäften nachgingen, die hier und da stehen blieben, um sich zu begrüßen und zu unterhalten, und in Terrassen-Tavernen saßen, die längst geschlossen worden waren. Es würde auch Studenten gegeben haben. In den Einsatz-Unterlagen stand, dass Theda eine Stadt der Scholae war. In Wahrheit, ging ihm auf, wusste er kaum etwas über Enothis. Kaum etwas, abgesehen von drei Dingen: Es war eine alte, stolze Imperiumswelt, sie war für diese Zone der Sabbatwelten strategisch wichtig und er und viele tausend andere Flieger wie er waren kurzfristig von anderen Welten hierher verlegt worden, um sie vor der Vernichtung zu bewahren. Plötzlich bemerkte er Passanten – andere Fußgänger im ersten Tageslicht, die in dunkle Kleidung gehüllt waren und alle in dieselbe Richtung eilten. Er hörte eine Kapellenglocke sieben Uhr läuten und zum Gottesdienst rufen. Viltry folgte ihnen und überquerte in einigem Abstand zu ihnen eine Brücke über den Kanal.
Als er schließlich die Ministorum-Kapelle am anderen Ufer erreichte, hatte die Morgenandacht bereits begonnen. Er blieb einen Moment draußen stehen und lauschte den Chorgesängen. Über ihm zeigte die Basrelief-Fassade im kalten grauen Licht die Gestalt des Gott-Imperators, wie er auf die gesamte Menschheit schaute. Viltry schämte sich. Er neigte den Kopf. Als er vor acht Jahren geschworen hatte, sein Leben als Krieger in Diensten des GottImperators zu opfern, war ihm nicht klar gewesen, wie verdammt schwer das sein würde. Natürlich hatte er immer ein Flieger sein wollen. Phantines ungewöhnliche Topographie züchtete diesen Instinkt in all seinen Söhnen und Töchtern. Aber der Preis war hoch gewesen. Zwei Jahre zuvor, im Zuge des letzten Angriffs zur Befreiung seiner Heimatwelt aus den giftigen Klauen des Erzfeindes, war er im Kampf an der Seite der Streitkräfte des Imperialen Kreuzzugs von Kriegsmeister Macaroth zweimal beinahe gestorben. Einmal als Treibgut über der Brühe, dann als Gefangener des elenden Kriegsfürsten Sagittar Slaith in Ouranberg. In den seitdem vergangenen zwei Jahren war es Viltry nicht gelungen, die Vorstellung abzuschütteln, er müsse eigentlich längst tot sein. Er lebe auf geborgter Zeit. Sein Lehrer in der Schola hatte ihm das Konzept des Schicksalsrades eingetrichtert. Er hatte gesagt, es drehe sich in der rechten Hand des Imperators. Es drehe sich für den Ausgleich, für die Symmetrie. Was gegeben werde, würde wieder genommen, was geliehen werde, würde zurückgezahlt. Ein gerettetes Leben sei nur ein verschontes Leben. Seines war zweimal gerettet worden. Es würde eine Abrechnung geben. Und hier war er nun, auf einer anderen Welt, mit der Pflicht betraut, darum zu kämpfen, sie zu retten. Die Abrechnung würde hier stattfinden, davon war er überzeugt. Das Schicksalsrad würde sich drehen. Er war zweimal verschont worden, sodass er lange genug gelebt hatte, um die Rettung seiner Heimatwelt zu erleben. Jetzt kämpfte er darum, die Heimatwelt eines anderen Mannes zu retten. Und dabei würden ganz sicher die Konten ausgeglichen. Die Besatzung von G für Greta hatte dieses Verhängnis in jeder seiner Handlungen erkannt, davon war er überzeugt. Sie wussten, dass sie in einem zum Tode verurteilten Vogel flogen. Zum Tode verurteilt durch ihn, verflucht durch ihn. Er hatte eine Be-
satzung über der Brühe verloren, und er hätte mit ihr sterben müssen. Jetzt würde das Schicksalsrad eine weitere Besatzung mit ihm in den Tod reißen, während er versuchte, die Konten auszugleichen. Er hatte um eine Versetzung gebeten, was abgelehnt worden war, dann um einen Posten in der Etappe, was ebenfalls abgelehnt worden war. »Sie sind ein verdammt erstklassiger FliegerOffizier, Viltry«, hatte Ornoff zu ihm gesagt. »Lösen Sie sich von diesem fatalistischen Unsinn. Wir brauchen jeden Schweinehund mit Flugzeit und Kampferfahrung, den wir kriegen können. Enothis wird hart wie Stahlnägel. Unsere Bodentruppen sind vor Seks Legionen auf dem Rückzug. Alles läuft auf einen blutigen Luftkrieg hinaus, denken Sie an meine Worte. Gesuch abgelehnt. Ihr Flottentransporter verlässt morgen um 06:00 Uhr die Umlaufbahn.« Viltry betrachtete das geschnitzte Bildnis des Gott-Imperators mit seinen in der träge aufgehenden Sonne harten Schatten. Es sah missbilligend aus, als schaue er finster auf diese furchtsame Seele herab, in vollem Bewusstsein der Feigheit in Viltrys Herzen. »Es tut mir leid«, sagte er laut. Eine Frau in einem langen schwarzen Mantel, die zu spät zur Andacht kam, drehte sich zu ihm um. Er zuckte verlegen die Achseln und hielt ihr die Kapellentür auf. Licht und ein triumphaler, dem Goldenen Thron der Erde gewidmeter Chor brachen über sie beide herein. Sie eilte hinein. Er folgte ihr und schloss die massive Tür hinter sich. Über dem Makanitgebirge, 07:11 Dieser war gut. Wagemutig. Jung, sehr wahrscheinlich, erpicht darauf zu leben. Waren sie das nicht alle? Der Sturzflug war wunderbar, tollkühn. Flugkrieger Khrel Kas Obarkon, Führer der fünften Rotte, die dem Anarchen gehörte, und ihm, der Sek war, verschworen, kam zu dem Schluss, dass er gerne mehr von der Art dieses Jungen in seiner Rotte sehen würde, wenn die Entscheidungsschlacht kam. Der Junge flog, wie sie sagten, nach den Krallen. Was für ein Sturzflug. Obarkon hatte nicht gewusst, dass die winzigen Impulstriebwerke des Feindes dazu in der Lage waren. Ihn zu töten, kam ihm fast wie Verschwendung vor.
In seine Antigrav-Rüstung gehüllt, während Autopumpen und Kardio-Zentrifugen seinen Blutkreislauf in Gang hielten, ließ Obarkon seine Höllenklinge noch steiler in die Tiefe rasen. Er schnitt mit achtzig Prozent der Schallgeschwindigkeit durch die Luft wie ein Messer. Die Pilotenkanzel war dunkel, abgesehen von den blinkenden Lichtern der Instrumente, die von den schwarzen Lacklederhandschuhen um seine Hände reflektiert wurden. Der Wolfswelpe war ein leuchtend oranger Punkt auf seiner Ortungsanzeige. Wie überlebte er das? Durch Geschick des Piloten oder Glück? Der Junge hatte wenig vom Ersteren und manchmal Unmengen vom Letzteren. Der Sturzflug beanspruchte das Feindflugzeug bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit und darüber hinaus. Nur ein Grad steiler, und die Belastung würde die Flügel am Rumpf abreißen oder den induktiven Motor sprengen. Hinter dem mattschwarzen Glasvisier seines Vollhelms lächelte Obarkon. Sein Gesicht, selten zu sehen, war ein graues Gewebe aus Faser-Verstärkungen. Seine Augen waren künstlich und über Rückenmarksstöpsel direkt mit den Zielvorrichtungen seines Flugzeugs verbunden. Bei dreihundert Metern fing der Junge den Wolfswelpen mit fauchendem, stotterndem Triebwerk ab und legte die Maschine in eine lang gezogene Kurve, um den zerklüfteten Berggipfeln auszuweichen. Noch eine Überraschung. Noch eine bewundernswerte Zurschaustellung von Geschick. Oder Glück. Obarkon neigte den Steuerknüppel und fing mit Hilfe seiner reaktiven Schubdüsen den Sturzflug in einer nicht ballistischen Flugkurve ab, wie um den angestrengten Bemühungen des kleineren Flugzeugs Hohn zu sprechen. Er hatte es jetzt seit zwei Minuten im Fadenkreuz. Seine Zielerfassung summte immer wieder. Achtung … Ziel erfasst. Ziel erfasst. Ziel erfasst. Warum hatte er es noch nicht abgeschossen? Ich will sehen, was du draufhast, dachte Obarkon. Der Wolfswelpe wich einem Berggipfel aus, sodass das Kreuz seines Schattens über den sonnenbeschienenen Schnee huschte,
dann kippten die Flügel abrupt zur Seite, um die nächste Zacke zu umfliegen. Obarkon hielt seine Höllenklinge in der Verfolgung beinahe im Geradeausflug und raste durch die Luft wie eine wärmesuchende Rakete. Er hatte den Wolfswelpen immer noch im Fadenkreuz. Plötzlich, hinter dem nächsten Gipfel, verschwand er. Obarkon runzelte die Stirn und schwenkte in der Annahme herum, der Junge habe sich schließlich doch noch verschätzt und sei gegen eine Felswand geflogen. Zum ersten Mal seit knapp drei Minuten summte die Zielerfassung Ziel verloren … Ziel verloren … Ziel verloren … Nein, nicht tot. Da war er. Der kleine Wicht. Er hatte den Wolfswelpen irgendwie mit einer Rolle um einen Felsvorsprung gewunden und war dann tiefer und mit Vollschub umgekehrt. Obarkon nahm die glänzenden schwarzen Hände vom Knüppel und klatschte. Wirklich ausgezeichnet. Ein Warnton erklang, und Obarkon schaltete ihn mit einem Fluch aus. Er war jetzt auf Reserve und hatte beinahe die kritische Treibstoffmenge erreicht. Das bedeutete, ihm blieben nicht mehr als zwei Minuten, bis er nach Hause umkehren musste. Wenn er länger wartete, würde er es nicht mehr bis zur RottenTrägerbasis Natrab zurückschaffen. »Das Spiel ist jetzt vorbei«, zischte er durch spröde Lippen. Er ließ die Höllenklinge vorwärtsschießen, und sie gehorchte seinen Befehlen flüssig und sicher wie ein Hai. »Ziel wiederfinden«, befahl er der Zielerfassung. Er hatte bereits fünf Abschüsse erzielt, wieder ein erstklassiger Tag, aber mit diesem Jungen würden es nette, runde sechs sein. Er hatte zu lange gezaudert und herumgespielt. Die Zielerfassung suchte und summte. Der Wolfswelpe hielt sich tief und rollte nach rechts und links, um die zerklüfteten Furchen der Gipfellinie zwischen sich und seinem Verfolger zu halten. Kein Ziel … Kein Ziel … Kein Ziel … Obarkon fluchte im Namen seines übelsten Gottes. Der kleine Bastard entkam ihm. Bei der Haut seiner Zähne. Bei den Krallen. Er war zu gnädig gewesen. Jetzt machte sich der Feind über ihn lustig.
Er bekam eine teilweise Erfassung und verlor sie dann wieder, als der flüchtige Wolfswelpe gefährlich um eine Felszacke schrammte. Beide passierten sie so nah, dass ihr Vorbeiflug Schnee aufwirbelte. Wieder eine Teilerfassung. Obarkon schoss. Blendende Leuchtspurgeschosse lösten sich von seiner Maschine und durchschnitten die kalte Bergluft. Daneben. Noch eine Kurve, noch eine Teilerfassung, noch ein vergeblicher Feuerstoß. Obarkon gab mehr Schub und manövrierte mit seinen reaktiven Düsen, bis er auf der Acht-Uhr-Position des Wolfswelpen war. Er flog mit allem, was er hatte, und gab Vollschub. Obarkon bekam endlich das ersehnte Signal. Ziel erfasst. Ziel erfasst. Ziel erfasst. »Gute Nacht«, murmelte er, da ihn das Spiel jetzt langweilte. Fest verdrahtete Daumen legten sich auf die Abzugswippe. Leuchtspurgeschosse rasten vor ihm durch die Luft. Obarkon spürte eine leichte Vibration, und eine Anzeige verriet ihm, dass eine seiner Tragflächen durchlöchert worden war. Ein zweiter Wolfswelpe stürzte sich von hinten aus der Sonne auf ihn, die Nase grell von Mündungsblitzen erleuchtet. Ein einziger Blick verriet dem erfahrenen Rottenführer, dass dieser zweite Welpe von einem Idioten geflogen wurde, der weit weniger fähig war als der beherzte Junge, den er gejagt hatte. Er kam zu flach herein und wackelte verzweifelt hin und her. Er hatte keine richtige Zielerfassung. Trotzdem war er hinter ihm und schoss aus allen Rohren. Das Warnsignal ertönte wieder, ungehalten. Er hatte die kritische Treibstoffmarke erreicht. Er war hier fertig. Genug. Obarkon schwenkte die Reaktorauslasse und raste fast vertikal in die Höhe. Der zweite Wolfswelpe flog unter ihm hindurch, ob seines jähen Absetzmanövers verblüfft. Obarkon kletterte ins Sonnenlicht und gewann Höhe und Tempo. Er wandte seine geliebte Höllenklinge nach Süden. Dieser brodelnde Luftkrieg hatte gerade erst begonnen. Es würde ein nächstes Mal geben. Und einen nächsten Abschuss.
Hotel Imperial, Theda, 07:23 Kaminsky kam gut durch die nördlichen Sektoren und traf weit innerhalb des Zeitrahmens am Hotel Imperial ein, den Senior Pincheon ihm dafür zugestanden hatte. Die einzige kurze Verzögerung war eine Schlange von Marktbudenbesitzern gewesen, die auf den Kongressplatz zur wöchentlichen Volksversammlung wollten. Dieser Tage, so kam es Kaminsky vor, blieb die Altstadt bis nach acht Uhr im Bett, als habe sie Angst davor, welches Grauen sich in den dunklen Nachtstunden herumtreiben mochte. Er rollte unter den schmiedeeisernen Rahmen der Hotelmarkise und fragte sich im Stillen, wie lange es noch dauern würde, bis man sie entfernen würde, um das Metall für den Krieg nutzbar zu machen. Niemand war zu sehen, bis auf einen uralten Portier, der auf einem Klappstuhl zwischen einem halben Dutzend deaktivierten Kofferträger-Servitoren döste, sowie einer Gruppe von Hotelangestellten, die vor dem Personaleingang ein Stück weiter in der Seite des Gebäudes standen und Lho-Stäbchen rauchten. Kaminsky wollte gerade aussteigen, als Glas und poliertes Holz der Eingangstüren des Hotels im Sonnenlicht des frühen Morgens aufblitzten und eine Gruppe dunkler Gestalten zielstrebig auf ihn zukam. Es waren Flieger, das konnte er sofort ihren wiegenden Schritten entnehmen, aber keine Einheimischen. Und sie trugen auch nicht die schwarzgrauen Flugrüstungen von Flotten-Fliegern. Es war mindestens ein Dutzend, alle mit gefütterten bräunlichgrauen Fluganzügen und braunen Lederjacken bekleidet, die Seesäcke locker auf der Schulter. Sie waren ungewöhnlich groß und wohlproportioniert, schlank und durch die Bank schwarzhaarig, wo der durchschnittliche Enothier stämmig und blond war. Und nicht alle waren Männer. Mindestens drei von ihnen – darunter auch, wie es schien, die Gestalt, die sie zu dem Transporter führte – waren Frauen. Kaminsky stieg aus, ging zur Rückseite des Lasters und ließ die Ladeklappe herunter. Er nickte dem ersten Neuankömmling zu, wobei er einen Blick auf die Insignien auf dem Jackenärmel zu werfen versuchte, aber der junge Mann beachtete ihn nicht weiter, sondern hievte nur seinen Seesack auf die Ladefläche und kletterte dann hinterher.
Nur die Frau ließ sich etwas mehr Zeit. Sie hatte kalte, forschende Augen und ein schmales Kinn, das beständig vorgereckt zu sein schien. Ihr schwarzes Haar war unschmeichelhaft kurz geschnitten. »Transport nach Theda, Luftwaffenstützpunkt Süd?«, fragte sie Kaminsky. Sie sprach mit einem Fremdwelt-Akzent, der in seinen Ohren ziemlich merkwürdig und nasal klang. »Ja, Mamzel. Zur Verteilerstation.« »Das heißt ›Geschwaderführer‹«, korrigierte sie, indem sie sich geschmeidig auf die Ladefläche des Transporters zog. »Weitermachen.« Kaminsky wartete, bis der letzte der Flieger aufgestiegen war, und schloss dann die Klappe. Er humpelte zum Führerhaus zurück, stieg ein und ließ den Motor an. Phantine. Das stand auf dem silbernen Schulterabzeichen der Frau. XX. Phantine, auf eine Schriftrolle vor einem doppelköpfigen Adler geprägt, der Blitze in den Krallen hielt. Kaminsky hatte seit seiner Kindheit eifrig Luftfahrtgeschichte studiert, und wenngleich er schon von einer Welt namens Phantine gehört hatte, wusste er nicht, warum eine Fliegerstaffel diesen Namen tragen sollte. Er fuhr sie durch den Bezirk Vilberg und bog dann nach Süden in Richtung Basis ab. Auf der Scholastaestraße flogen zwei Zyklone der Commonwealth in ungefähr fünfhundert Metern Höhe über sie hinweg und bogen dann nach Nordwesten ab. Kaminsky schaute zu ihnen hoch und beobachtete ihren Vorbeiflug. Im Rückspiegel sah er die Flieger auf der Ladefläche dasselbe tun. Altstadt Theda, 07:35 Die Andacht war zu Ende, und die Gläubigen verließen die Kapelle, wobei die meisten noch am Weiheschrein stehen blieben, um Kerzen anzuzünden. Kerzen für die Gefallenen oder jene, die bald fallen würden. Wie jeden Morgen zündete Beqa Meyer drei an: eine für Gart, eine für ihren Bruder Eido und eine für irgendjemanden, der es vielleicht nötig hatte. Sie war müde. Die Nachtschicht in der Manufaktur hatte sie wirklich erschöpft. Es war ein Kampf gewesen, bei der Lesung des
Hierarchen wach zu bleiben. Wäre ihr wärmer gewesen, wäre sie mit Sicherheit eingedöst. Aber ihr Mantel war zu dünn: ein Sommermantel aus zweiter Hand, nicht einmal gefüttert. Vielleicht konnte sie sich nächsten Monat von ihrem Lohn und dem Ersparten eine Thermojacke oder etwas Besseres aus dem Armenhaus des Munitorums kaufen. Als sie sich vom Kerzenschrein abwandte, stieß sie gegen jemanden, der wartete, bis die Reihe an ihm war, eine Kerze anzuzünden. Es war der Mann, den sie an der Eingangstür auf dem Weg zur Andacht gesehen hatte. Groß, dunkelhaarig, ein Fremdweltler. Sein Gesicht war traurig. Er war wie ein Soldat gekleidet, und ihm haftete jener Geruch nach Maschinenöl und Fyzelen an. »Verzeihung, Mamzel«, sagte er sofort. Sie nickte. »Schon gut«, wahrte aber Distanz, als sie vorbeiging. Er hatte Selbstgespräche geführt, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Ein Fremder, vielleicht mit einer Kriegsneurose. Das war die Sorte Ärger, die ihr gerade noch gefehlt hatte. Tatsächlich fehlte ihr nur eines, und zwar Ruhe. Sie konnte um ein Viertel vor der vollen Stunde zu Hause sein, und damit würden ihr noch drei Stunden Schlaf bleiben, bevor sie wieder aufstehen und sich für ihre Tagarbeit am Pier ankleiden musste. Wenn die beim Läuten der Abendglocke beendet war, würde sie eine Stunde für ein Nickerchen haben, bevor die Nachtschicht in der Manufaktur begann. Sie eilte durch die Tür nach draußen auf eine kalte Straße, wo jetzt heller Tag war, und schlug müde den Weg zu ihrem Hab ein. Über der Thedanischen Halbinsel, 07:37 »Jagd Zwo, Sie ziehen eine ölige Rauchfahne hinter sich her.« Die besorgte Stimme des Staffelführers kam über Kom. Jagd Zwo antwortete nicht sofort. Darrow richtete sich in seinem Sitz auf und schaute sich im Morgenlicht um. Die mit Gras und Gestrüpp bewachsene Halbinsel huschte vorbei, zweitausend Meter unter ihm, eine ausgedehnte Fläche voller Grau, stumpfem Weiß und grünen Sprenkeln. Etwas tiefer auf vier Uhr waren Jagd Acht und Jagd Elf, während Jagd Führer rechts von ihm ebenso hoch flog wie Darrow. Jagd Zwo und Jagd Sechzehn hielten sich auf Darrows Backbordseite und tiefer.
Sechs Flugzeuge. Sechs Flugzeuge waren alles, was nach der Schlacht noch von der Staffel übrig war. Alle anderen hatten sie in brennenden Scheiterhaufen auf den schneebedeckten Gipfeln des Makanitgebirges zurückgelassen. Und es hätten auch nur fünf sein können. Darrow wusste, dass ihn die weiße Höllenklinge abgeschossen hätte, wäre Jagd Führer nicht in dem verzweifelten Versuch, die wenigen verbliebenen Maschinen zu sammeln, im letzten Moment mit blitzenden Geschützen dazwischengefahren und hätte sie verjagt. Major Heckel – Jagd Führer – fragte Darrow immer wieder, ob er in Ordnung sei, während sie die Überreste der Staffel formierten. Heckel klang außergewöhnlich besorgt, als habe er das Gefühl, Darrow könnte sich bei der hektischen Jagd zu Tode geängstigt haben. Doch es waren vermutlich Schock und der Druck der Verantwortung. So viele Kadetten tot. Einer der schwärzesten Tage des Geschwaders. Und davon hatte es in den letzten Monaten so viele gegeben. Darrow fragte sich, wie Offiziere wie der Major damit zurechtkamen. Andererseits war Heckel nur drei Jahre älter als Darrow und hatte seinen Rang der beschleunigten Beförderung infolge ernsthafter Verluste zu verdanken. »Jagd Zwo. Antworten Sie.« Trotz der Verzerrung im Kom war der Unterton in Heckels Stimme so klar wie der Tag. »Jagd Führer, ich komme zurecht.« Das tat er nicht. Darrow hatte einen guten Blick auf Jagd Zwo. Er zog nicht nur eine stete Fahne aus schmutzigem Qualm hinter sich her, er verlor auch Höhe und Geschwindigkeit. Was war es? Kühlflüssigkeit? Schmorende Kabel. Irgendeine andere tödliche Eventualität, an die Darrow noch keinen Gedanken verschwendet hatte? Wie lange hatten sie noch? Seiner eigenen Karte und Kompassanzeige nach waren sie noch sechsundvierzig Minuten vom Luftwaffenstützpunkt Nord in Theda entfernt, mehr, wenn Jagd Zwo noch langsamer wurde. Darrows Treibstoffanzeige stand immer noch auf voll, doch Heckels Berechnungen zufolge konnte keiner von ihnen noch für mehr als fünfzig Minuten Sprit in den Tanks haben. Vor allem nicht Darrow angesichts seiner ausgedehnten Luftakrobatik. »Jagd-Staffel …«, kam Heckels Stimme über Kom. Er hielt inne, als versuche er sich hektisch über etwas klar zu werden. »Jagd-
Staffel, wir fliegen nach Theda Süd. Das müsste die Flugzeit um fünfzehn, vielleicht sogar zwanzig Minuten verkürzen. Bestätigen und hinter mir einreihen.« Darrow bestätigte und hörte auch die Bestätigung der anderen. Es war eine gute Entscheidung. Das Luftwaffen-Oberkommando würde lieber sechs Wolfswelpen am falschen Luftwaffenstützpunkt zurückbekommen als gar keine. Darrow wechselte die Frequenz und hörte sich Heckels Geplänkel mit der Einsatzleitung an, bis die Umleitung genehmigt wurde. Dann hörte er wieder das Klopfen. Er wollte es gerade melden, als Jagd Acht über Kom rief: »Jagd Zwo! Seht euch Jagd Zwo an!« Darrow reckte den Hals. Die angeschlagene Welpe sackte in sanftem Bogen nach unten und aus der Formation. Die Rauchfahne war jetzt dicker und dunkler. Die Maschine wirkte schwerer und träger, als wirke die Schwerkraft auf sie stärker ein als auf die anderen. »Jagd Zwo! Melden!«, hörte Darrow Jagd Führer rufen. »Jagd Zwo! Melden!« Ein leises Knistern. »… glaube, ich kann sie halten …« »Jagd Zwo! Springen Sie ab, um Throns willen, Edry! Kadett Edry … Verlassen Sie jetzt Ihr Flugzeug, bevor Sie zu viel Höhe verlieren!« Nichts. Der Wolfswelpe war nur noch ein Punkt am Ende einer Rauchfahne mittlerweile weit hinter und unter ihnen. »Edry! Kadett Edry!« Los, Edry. Spring ab. Darrow mühte sich, etwas zu sehen. Angesichts ihrer Treibstoffnot konnte keiner von ihnen das Risiko einer Umkehr eingehen. Los, Edry. Mach schon! Zeig uns deinen Fallschirm! Zeig uns deinen Schirm, Edry, bevor … Ein kleiner Blitz, weit weg auf der grau-grünen Landschaftsdecke. Ein kleiner Blitz aus Feuer und kein Fallschirm. Theda, LWS Süd, 07:40 Als der Transporter die Schnellstraße verließ und auf die Zufahrtsstraße zum Stützpunkt bog, befand er sich in einem Konvoi mit drei anderen. Sie hielten am Westtor, wo sie der Reihe nach von müde aussehenden Posten der Planetaren Streitkräfte kon-
trolliert wurden, und rumpelten dann über einen steilen Fahrweg in die Senke des Stützpunkts. Geschwaderführer Bree Jagdea erhob sich von der harten Bank des holpernden Transporters und sah sich um. Der Luftwaffenstützpunkt Süd von Theda bedeckte über zwanzig Quadratkilometer Tiefland südwestlich der eigentlichen Stadt. Sie konnte die Küste riechen, die ein paar Kilometer weiter nördlich lag, und die Seeluft hatte einen leichten Morgennebel auf den Stützpunkt gelegt, den die Sonne soeben auflöste. Ausgedehnte Verteidigungsanlagen umringten das Gelände. Gräben, Schutzzäune und Pfostenreihen, gepanzerte Nester für Hydra-Batterien, Bunkerstellungen für erhöhte Raketenabschusszylinder. Rings um das Gelände zog sich eine asphaltierte Straße, auf der es zu dieser Stunde von Militärlastern und Waffentransportern wimmelte, die in beiden Richtungen unterwegs waren, sowie ein kleinerer Innenring aus Luftabwehrbatterien. Am Südende des Stützpunkts standen die großen Hangargebäude, im Norden erhoben sich der Kontrollturm der Einsatzleitung und die kahlen Masten und Kräne der Kom-, Auspex- und ModarSysteme. Ein Gitter aus einander überkreuzenden Start- und Landebahnen überzog einen Großteil der Innenfläche. Die größten von ihnen eigneten sich auch für die schweren Kolbenmotor-Bomber, welche die Einheimischen flogen. Jagdea sah ein paar von ihnen, die weiter entfernt abgestellt waren. Magogs, groß, alt und hässlich. Die hatten sie daheim auf Phantine in der letzten Offensive eingesetzt, als sie nur darauf bedacht gewesen waren, alles in die Luft zu bekommen, was fliegen und kämpfen konnte. Hier waren sie das Rückgrat der Bomberflotte. Kein Wunder, dass Enothis so stark gelitten hatte. Doch die meisten einheimischen Maschinen waren abtransportiert worden, um Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen. Jagdea und ihre Staffel waren in der Nacht zuvor bei Dunkelheit angekommen. Dies war ihr erster richtiger Blick auf den Stützpunkt. Er würde reichen, er musste reichen. Arbeitsmannschaften des Munitorums waren bereits mit Umrüstungen beschäftigt. Arbeiter zogen mehr Silos für die eintreffenden Maschinen hoch und planierten eine der alten Landebahnen, um Platz für zusätzliche Hangars zu schaffen. Die Flugzeuge der Neuankömmlinge, bereits über siebzig, waren dunkle Formen un-
ter Tarnnetzen in den bombensicheren Bunkern im Osten. Der gesamte innere Stützpunkt war ein Gewirr hektischer Aktivität: tuckernde Generatoren, scheppernde Bagger, nacktbrüstige Bauarbeiter mit Presslufthämmern, wachsende Abraumhalden. Jagdea warf einen Blick auf den Chronometer, der um die dicke Manschette ihres Fluganzugs geschnallt war. Sie waren genau pünktlich. Ihr Transporter hatte die asphaltierte Straße verlassen und holperte jetzt zum nächsten der großen Flugzeughangars. »Fertig machen, Umbra-Staffel«, befahl sie. Die elf Flieger unter ihrem Kommando hoben ihre Ausrüstung auf, als der Transporter anhielt. Jagdea sprang von der Ladefläche und holte tief Luft. »Da wären wir«, murmelte sie Milan Blansher zu, ihrer Nummer zwei. Blansher war ein grauhaariger Veteran über vierzig und mit seinen zweiundzwanzig Abschüssen der Beste in der Umbra-Staffel. Er sagte wenig, doch sie hätte ihm bedenkenlos jederzeit ihr Leben anvertraut. Für einen Phantiner hatte er ungewöhnlich blasse, distanzierte Augen, und er trug einen buschigen grauen Schurrbart, teils, um sich einen Anflug großväterlichen Dienstalters zu verleihen, aber in erster Linie, um das weiße Narbengewebe zu verbergen, wo ein Stück von einer Patronenhülse sein Gesicht vom rechten Nasenloch über beide Lippen bis zur Kinnspitze gespalten hatte. »Da wären wir in der Tat«, murmelte er und schwang sich seinen Seesack auf die Schulter. Die anderen stiegen ebenfalls aus. Van Tull, Espere, Larice Asche, die sich die Haare zu einem ordnungswidrigen Dutt hochgesteckt hatte, Del Ruth, Clovin, der junge Marquall, Waldon, der ständig eine tonlose Melodie pfiff, Zemmic, der mit seinen Glücksbringern jonglierte, Cordiale, Ranfre. Beinahe alle bückten sich zum abergläubischen Ritual der Bodenberührung. Vander Marquall tat es nicht. Er starrte über das Gelände und beobachtete drei Maschinen der Luftwaffe des Enothischen Commonwealth, die für einen Start vorbereitet wurden. Es handelte sich um starke zweimotorige Deltaflügler, ein unter dem Namen Zyklon bekannter Typ von Abfangjäger. Sie wurden von außen mit Zündspulen gestartet, die auf Karren montiert waren, und die gewaltigen Kolbenmotoren husteten und erwachten zum Leben, um blaue Abgaswolken zu speien, als sich die schweren Propeller zu drehen anfingen, bis sie zu einem schemenhaften Kreis ver-
schwammen. Sie schaukelten ungeduldig hinter ihren Startblöcken, während das Bodenpersonal die Karren beiseiterollte. Marquall konnte sehen, wie die Zwei-Mann-Besatzungen in den gläsernen Kanzeln über der Nase die letzten Kontrollen vor dem Start vornahmen. Zwar waren die meisten Maschinen des Commonwealth zurückgezogen worden, um Platz für die Fremdweltler zu machen, aber eine Staffel Zyklone war auf dem Posten geblieben, um über dem Stützpunkt zu patrouillieren, während die Imperialen eingegliedert wurden. »Kommen Sie, Marquall?«, fragte Jagdea. Er wandte sich um und nickte. »Ja, Geschwaderführer.« Marquall war der jüngste Flieger in der Umbra-Staffel und vier Jahre jünger als der Nächstältere. Gleichzeitig war er auch der Einzige ohne Kampferfahrung. Alle anderen waren im Zuge der Befreiung Phantines Kampfeinsätze geflogen. Gegen Ende der Feindseligkeiten hatte Marquall noch seine beschleunigte Grundausbildung in Hessenville absolviert. Er war eifrig und Jagdeas Auffassung nach einigermaßen begabt, aber sein wirklicher Wert würde sich erst im Einsatz offenbaren. Er hatte das klassische dunkle gute Aussehen eines Mannes von Phantine und zeigte strahlend weiße Zähne bei seinem Grinsen, das die Leute entweder gewinnend charmant oder unangenehm frech fanden. Die Umbra-Staffel marschierte über den Asphalt zum Hangar, von einer weiteren Staffel Flieger gefolgt, die aus einem zweiten Transporter gestiegen war. Jagdea warf einen Blick zurück auf ihren eigenen Transporter. Der Munitorum-Fahrer im Führerhaus nickte ihr kurz zu. Sie konnte deutlich erkennen, dass eine Gesichtshälfte von Brandnarben entstellt war, als sei seine Haut mit weichen rosa Blüten gepflastert worden. Sie gingen in den riesigen Flugzeughangar, in dem es kalt und feucht war und nach Prometheum roch. Der Hangar war bis auf einen einsamen Würger geräumt, der in einer Ecke unter Planen stand. Aus Flakbrettern und leeren Munitionskisten war an der Westwand ein Podium errichtet worden, auf dem ein Kartenständer und ein hololithisches Anzeigegerät warteten. Im Hangar wartete bereits eine Gruppe von über zwanzig Fliegern. Sie standen nah beim Podium und hatten ihre Seesäcke neben sich auf den Boden gelegt. Wie die Männer vom zweiten Transporter handelte es sich um Flotten-Flieger in grauen Flugan-
zügen und schwarzen Jacken. Einige hatten augmetische Augen. Sie begrüßten ihre Kollegen vom zweiten Transporter, aber beide Gruppen bedachten die Phantiner lediglich mit zweifelnden Blicken, als diese hereinkamen, und hielten sich von ihnen fern. Jagdea betrachtete sie beiläufig, als die Umbra-Staffel ihre Seesäcke auf dem Boden deponierte und einen Kreis bildete. Die Flotten-Flieger schauten immer wieder in ihre Richtung. Jagdea wusste, dass das Korps der Phantiner ungewöhnlich war, und das unterschied sie von den üblichen Imperiumsfliegern. Zweifellos würde das zu Rivalitäten und einer Hackordnung führen, aber damit fand sie sich ab. Sie sahen zäh aus, stämmig und robust, und hatten blasse Haut und stoppelkurzes Haar. Die meisten Fluganzüge waren mit Panzerplatten oder Kettenhemden verstärkt, und die schweren Lederjacken waren vielfach pelzbesetzt. Viele hatten hässliche Gesichtsnarben. Einige trugen Ordensbänder und Ehrenschärpen. »Das Dreiundsechzigste Imperiale Kampfgeschwader«, flüsterte Blansher ihr verstohlen ins Ohr. »Die Sonnenhunde, wie sie sich selbst gern nennen. Ich glaube, der große Kerl mit den Rangabzeichen eines Geschwaderführers ist Leksander Godel. Vierzig Abschüsse bei der letzten Zählung.« »Ja, ich habe von ihm gehört«, antwortete sie leichthin. »Der andere Haufen sind die 409. Raptoren, glaube ich«, fuhr Blansher fort, »und in dem Fall wäre der bescheidene Bursche da drüben Gruppenführer Ortho Blaguer.« »Derjenige welche?« »Genau der. Einhundertundzehn Abschüsse. Sehen Sie, er schaut zu uns rüber.« »Dann schauen wir einfach woandershin«, sagte Jagdea und wandte sich ab. »Orbis in sechs Uhr!«, rief Pilotenoffizier Zemmic plötzlich laut, sodass seine Stimme durch den Hangar hallte. Aus einem soeben vorgefahrenen Transporter stiegen ein weiteres Dutzend phantiner Flieger und marschierten in den Hangar. Jagdea empfand beim Anblick der vertrauten Gesichter augenblicklich Erleichterung. Die Orbis-Staffel, Kameraden und Freunde. An ihrer Spitze spazierte ihr Anführer Wilhelm Hayyes. Die beiden Gruppen vereinigten sich und begrüßten einander. »Nett von euch, euch zu uns zu gesellen«, grinste Jagdea, während sie Hayyes die Hand schüttelte.
»Nett von euch, auf uns zu warten«, erwiderte Hayyes. »Ich nehme an, dass immer noch ein paar Fledermäuse herumfliegen, die wir jagen können.« Plötzlich kehrte Stille ein. Eine letzte Gruppe von Fliegern, allesamt zur Flotte gehörig, hatte soeben den Hangar betreten, ein spätes Erscheinen, das Jagdea kalkuliert theatralisch vorkam. Es waren nur acht. Ihre gepanzerten Fluganzüge waren mattschwarz, die Wildlederjacken wolkenweiß. Sie trugen weder Insignien noch Rangabzeichen, lediglich silberne Imperiumsadler am Kragen. »Heilige Scheiße!«, hörte Jagdea Del Ruth flüstern. »Die Apostel!« Die Apostel, in der Tat. Eine gefeierte Staffel von Assen, die Elite. Jagdea fragte sich, wer Quint war, das Ass der Asse, und wer Gettering. Der große Bursche, war das Seekan oder Harlsson? Wer war Suhr? Ihr blieb keine Zeit, Blansher zu fragen. Von einem Dutzend Adjutanten und Taktik-Offizieren begleitet, kam eine imposante Gestalt in der Uniform eines Flottenadmirals herein und betrat das Podium. Es war Ornoff persönlich. Alle Augen richteten sich auf ihn. »Flieger«, begann er mit leiser, aber tragender Stimme. »Gestern Abend um 18:00 Uhr habe ich mich mit Marschall Humel im Kriegsministerium in Enothopolis getroffen. Der Marschall hat, wie Sie vermutlich wissen, in den letzten neun Monaten hier auf Enothis im Namen von Kriegsmeister Macaroth und dem GottImperator den Krieg geführt.« »Der Imperator beschützt!«, sagte einer der Apostel zackig, und alle wiederholten eifrig die Worte. Ornoff nickte beifällig. »Ich hoffe, das tut er, Hauptmann Gettering. In der Zwischenzeit müssen wir genügen. Ich habe Marschall Humel die mir vom Kriegsmeister übersandten offiziellen Befehle präsentiert, und um genau 18:30 Uhr hat der Marschall in aller Form das Kommando über den Kriegsschauplatz Enothis an mich abgetreten.« Im Hangar brach spontaner Applaus aus. »Einstweilen ist der Landkrieg auf Enothis beendet. Jetzt beginnt der Luftkrieg.«
Theda, LWS Süd, 07:46 Major Frans Scalter warf einen Blick auf seinen Kopiloten neben sich in der beengten Kanzel des dröhnenden Zyklon, bekam einen erhobenen Daumen gezeigt und wandte sich dann ab, um das Bodenpersonal fortzuwinken. Er korrigierte den Sitz seiner Maske. »Einsatzleitung, Einsatzleitung. Hier spricht Sucher Eins. Staffel ist bereit zum Start. Warte auf Starterlaubnis.« Scalter hatte die Hand auf der Feststellbremse für das Fahrgestell. »Sucher Eins, Einsatzleitung. Starterlaubnis erteilt. Startbahn ist frei. Fliegt los, und möge der Imperator euch beschützen.« »Danke, Einsatzleitung. Sucher-Staffel, mir nach.« Scalter löste die Bremse und gab vorsichtig Gas. Bockend kroch das zweimotorige Flugzeug vom Hangar zur Hauptstartbahn. Die beiden Flügelmänner folgten. Das vereinte Tosen der sechs Motoren hallte über das Feld. Scalter rollte in Startposition und nahm noch eine letzte Korrektur der Trimm vor. Neben ihm öffnete Artone die Kühler und machte das Treibstoffgemisch ein wenig fetter, um ihnen einen kernigen Start zu ermöglichen. »Sucher-Staffel …«, begann Scalter. Artone hob plötzlich eine Hand. »Was denn?« »Eine rote Flagge!«, sagte Artone drängend und zeigte über das Feld. »Thron! Was ist jetzt?«, knurrte Scalter. »Einsatzleitung, hier Sucher Eins. Wir haben eine rote Flagge. Bitte bestätigen Sie unsere Freigabe.« Es gab eine Pause. Dann knisterte es im Kom. »Keine Freigabe, Sucher-Staffel, keine Freigabe. Brechen Sie den Start ab und räumen Sie das Feld. Rollen Sie zu den Bunkern fünfzehn bis siebzehn und warten Sie dort. Wiederhole – keine Freigabe, brechen Sie den Start ab und räumen Sie das Feld.« »Was ist denn los?«, wollte Scalter wissen. »Verwundete Vögel«, kam die Antwort aus dem Kom. »Verwundete Vögel im Anflug.« Zwanzig Kilometer vor Theda, LWS Süd, 07:46
Sie konnten das Feld im dunstigen Morgenlicht sehen. Die Linien der Leitlichter flammten auf. Das Klopfen hinter Darrow war jetzt ein ständiges Begleitgeräusch. Major Heckel fragte den Treibstoffstand von jedem Welpen ab. Alle hatten erbärmlich wenig. Darrow konnte nur »voll« melden, da seine Anzeige keinen anderen Wert lieferte. Jagd Sechzehn rauchte seit zehn Minuten, und sein Pilot hatte rapide sinkenden hydraulischen Druck gemeldet. Jagd Sechzehn hatte in der Schlacht über den Bergen mindestens zwei Rumpftreffer abbekommen. »Jagd-Staffel, hier Jagd Führer. Sechzehn und Vier haben Lande-Priorität. Sie gehen zuerst, und wir folgen, sobald sie unten sind. Bestätigen.« Darrow spannte die Schultern gegen das Geschirr. Heckel wollte Sechzehn herunterholen, bevor die Maschine den Geist aufgab, und er wollte Darrow ebenso rasch herunterholen, weil er wahrscheinlich mit einem leeren Tank flog. »Nach dir, Jagd Sechzehn«, sendete Darrow über Kom, während er dem anderen Wolfswelpen gestattete, sich vor ihn zu setzen. Der Rauch aus der Maschine wechselte zwischen durchsichtig und weiß wie Lochstreifenpapier. Das Klopfen wurde noch beharrlicher. Darrow setzte zum Landeanflug an. Theda, LWS Süd, 07:47 »Ihre Staffeln«, sagte Ornoff zu ihnen, »sind die ersten fünf, die hier entlang der Südküste stationiert wurden. In den nächsten zweiundsiebzig Stunden werden insgesamt achtundfünfzig Staffeln der Imperiumsflotte … und ihrer Partner …«, fügte er mit einem Nicken zu den Phantinern hinzu, »auf Stützpunkten entlang der gesamten Küstenregion stationiert. Zweiundvierzig Jägerstaffeln, sechzehn Bomberstaffeln. Zu sagen, dass Sie hier die hiesigen Geschwader des Commonwealth unterstützen werden, wäre eine Falschaussage. Sie werden die Frontlinie in der Luft bilden. Die tapferen Streitkräfte des Commonwealth, die, wie ich Sie erinnern möchte, bereits seit Monaten auf diesem Schauplatz kämpfen, werden eine unterstützende Rolle übernehmen. Wenn der Gott-Imperator will, wird ihnen das kostbare Zeit für Repara-
turen, Integration heuer Mannschaften und dringend nötige Erholung verschaffen.« Er drehte sich zu der Karte hinter ihm um. »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass Sie sich mit der Topographie, den KomFrequenzen und den Standorten unserer Luftwaffenstützpunkte vertraut machen sollten. Verschlüsselungscodes werden täglich gewechselt. Der Erzfeind hört mit.« Ornoff hielt inne und strich mit der geöffneten Hand nachdenklich über die Karte. »Die Lage hier ist ernst. Marschall Humels Landstreitkräften wäre es mit fähiger Unterstützung der Armeen des Commonwealth beinahe gelungen, den Erzfeind von dieser Welt zu vertreiben. Doch in den letzten zwei Monaten hat sich das Blatt auf katastrophale Art gewendet. Der Erzfeind, dessen letzte Oberflächenbastion sich in der Gegend der DreieinigkeitMakropolen im Süden befindet – hier –, hat sich in großer Zahl reorganisiert, und zwar als Teil der Gegenoffensive, die im letzten Jahr in der gesamten Khan-Gruppe begonnen hat. Die Landstreitkräfte des Marschalls befinden sich nun auf dem Rückzug nach Norden durch die Innere Wüste … das ist dieses Gebiet hier. Ein Teil hat bereits das Makanitgebirge erreicht und quält sich über die dortigen Pässe. Unsere Aufgabe – Ihre Aufgabe – besteht darin, dabei zu helfen, dass so viele wie möglich die Sicherheit der Zophonischen Küste erreichen. Wir müssen den Rückzug der Kolonnen der Panzer und Infanterie aus der Luft decken. Das bedeutet, dass wir dem Feind den Luftraum verwehren und ihre Landstreitkräfte mit Luftangriffen eindecken müssen. Enothis kann nur gerettet werden, wenn es eine ausreichende Menge der alliierten Landstreitkräfte intakt zur Küste schafft. Dort können sie sich neu ausrüsten und formieren und dem Angriff des Erzfeindes Widerstand entgegensetzen.« Ornoff schaute sie alle an. »Gehen Sie davon aus, dass rund um die Uhr Einsätze geflogen werden. Ein gründlicher strategischer Plan wird in Kraft treten, sobald alle Staffeln auf ihrem Posten sind. An dieser Stelle könnten Ihre Staffeln zu anderen Stützpunkten verlegt werden. In der Zwischenzeit werden Sie improvisierte Einsätze nach dem Dafürhalten der Einsatzleitung fliegen, bis wir unsere volle Stärke erreicht haben.« Ornoff hob eine Hand und winkte einen der Stabsoffiziere zu sich, die mit ihm den Hangar betreten hatten, einen älteren Mann im Fluganzug eines Fliegeroffiziers des Commonwealth. »Ich habe
Kommodore Parrwood hier eingeladen, Sie über Besonderheiten des Klimas und des Geländes zu informieren. Gibt es noch Fragen, bevor er damit beginnt?« Godel, der Staffelführer der Sonnenhunde, hob eine Hand. »Womit können wir hier rechnen, Admiral?« »Mit einer feindlichen Überlegenheit«, erwiderte Ornoff schneidig. »Jäger vom Typ Höllenklinge und Heuschrecke, dazu Kampfbomber vom Typ Peiniger und Höllenklaue. Der Erzfeind fliegt eine große Anzahl vor Ort produzierter Maschinen. Außerdem gibt es Berichte über schwere Bomber eines noch nicht bestimmten Typs. Viele ihrer Flugzeuge lassen eine größere Reichweite als üblich erahnen, was auf Massenträger in der Wüste hindeutet.« »Wann kommen wir in ihre Reichweite?«, fragte einer der Apostel. »Wenn Sie sie nicht aufhalten, Major Suhr, werden die Staffeln des Feindes beim gegenwärtigen Tempo ihres Vormarschs binnen eines Monats nah genug sein, um Angriffe auf diese Küstenbasen fliegen zu können. Das ist eine Eventualität, die ich nicht erleben möchte.« »Und die werden Sie auch nicht erleben, Admiral«, sagte Suhr, »weil wir sie aufhalten werden.« Es gab allgemeines beifälliges Gemurmel. »Und nun, wenn Kommodore Parrwood so nett ist, können wir …« Ornoff wurde vom Jaulen einer Sirene unterbrochen. Einen Moment später fielen weitere ein. Ein tiefes ominöses Heulen hallte durch den Stützpunkt. Die Flieger wechselten Blicke. Ornoff sah seine Adjutanten an und eilte vom Podium und zu den Hangartüren. Alle folgten ihm. Draußen im hellen Sonnenlicht versammelten sie sich auf dem Beton und starrten in den glasklaren Himmel. Leitlichter brannten entlang der Hauptlandebahn, und Rettungsfahrzeuge rollten aus ihren Schuppen am Nordrand des Stützpunkts. »Jemand ist in Schwierigkeiten«, murmelte Blansher. »Da!«, rief einer der Flottenpiloten und zeigte nach vorn. Tief am Südhimmel waren winzige Punkte zu erkennen. Jagdea hörte das entfernte blubbernde Tuckern von Impulstriebwerken. »Die sind ziemlich tief«, sagte Asche. Einige der Punkte hingen etwas zurück, aber zwei kamen gerade herein. Sie konnten Sonnenlicht auf ihren Kanzeldächern blitzen sehen. Das führende
Flugzeug, ein kleiner dunkelgrüner Einsitzer, zog eine Rauchfahne hinter sich her. »Nicht gut«, sagte Jagdea, die angestrengt zum Horizont spähte. Neben ihr sagte Marquall: »Was denn?« »Wenn er landet, hoffen wir, dass das Fahrgestell ausfährt.« Über Theda, LWS Süd, 07:51 Der Rauch, der aus Jagd Sechzehn quoll, wurde dicker und bildete fettige, schwere Wolken, als ihre Geschwindigkeit sank. Darrow musste seine Flughöhe korrigieren, um nicht blind durch den Qualm zu fliegen. Jagd Sechzehn flog sehr tief, was Darrow zwang, in größerer Höhe zu fliegen, als ihm für den Landeanflug lieb war. Ein leichter Seitenwind wehte. Er spürte, wie sein Heck schlingerte, und trimmte, um auszugleichen. Seiner Geschwindigkeitsanzeige zufolge würde die Maschine ins Trudeln geraten, wenn er noch mehr verzögerte. »Beeil dich, Jagd Sechzehn!«, fluchte er. »Mach voran, Phryse! Bring den Vogel runter!« »Halt dein Wasser …«, knisterte es im Kom. »Ich glaube … glaube, mein verdammtes Fahrgestell klemmt.« »Lösen Sie’s, Phryse!«, hörte Darrow Jagd Führer über Kom drängen. »Ich versuch’s ja … das Scheißding sitzt fest … der Hebel klemmt. Verbogen, glaube ich …« Ein Summer ertönte in Darrows Kanzel. Sein Treibstoff war verbraucht … obwohl die verdammte Anzeige immer noch auf voll stand. »Ich muss jetzt runter!«, rief er. »Schon gut, schon gut! Geht klar, Enric. Ich hab’s jetzt. Der Hebel ist unten. Fahrgestell ausgefahren.« Theda, LWS Süd, 07:51 Während der Motorenlärm der Zyklone herunterfuhr, öffnete Scalter die Halterung des Kanzelfensters, schob den Kopf nach draußen und suchte den Himmel ab.
»Einsatzleitung!«, rief er, doch dann ging ihm auf, dass er mit seiner Kopfbewegung das Mikrofonkabel aus dem Kom gezogen hatte. »Verdammt!«, rief er, zog den Kopf wieder ein und stieß ihn sich am Fensterrahmen. »Verdammt!« Er tastete nach dem Kabelende. »Ich hab’s!«, rief Artone und rammte den Stöpsel wieder in die Buchse. »Einsatzleitung! Hissen Sie eine Flagge! Geben Sie Zeichen! Der Welpe kommt mit eingezogenem Fahrgestell runter!« »Räumen Sie die Frequenz, Sucher.« Scalter löste den Verschluss seines Harnischs, öffnete das Seitenluk und sprang nach draußen auf den Boden. Artone war ihm dicht auf den Fersen. Die Besatzungen der anderen Zyklone in den Bunkern neben ihnen waren ebenfalls ausgestiegen. Scalter lief die Böschung zum eigentlichen Landefeld empor und winkte dabei mit den Armen. Rote Leuchtkugeln explodierten über dem Landefeld. Der qualmende Wolfswelpe, der eine Tragfläche hängen ließ, war jetzt sehr tief. Das Geräusch seines Impulstriebwerks war ein lang gezogenes explosives Blubbern. Das Fahrgestell war immer noch eingezogen. »Hochziehen! Hochziehen!«, brüllte Scalter. Er fiel aufs Gesicht, als Artone ihn ansprang und kurz vor der Landebahn zu Fall brachte. Der Wolfswelpe kam herein, raste über sie hinweg und an ihnen vorbei. Das Heck der Maschine senkte sich, um auf einem Fahrgestell zu landen, das nicht da war. Die Unterseite der Schwanzflosse setzte zuerst auf. Ein kreischendes Schleifgeräusch ertönte. Metallsplitter und Dreck wurden durch die Reibungshitze aufgewirbelt. Das Heck prallte ab, kam abrupt hoch und drückte die Nase nach unten auf die Landebahn. Der Abfangjäger wurde förmlich auseinander gerissen, und Aluminoid platzte von seinem Rumpf ab. Die linke Tragfläche faltete sich zusammen und flog davon. Das Impulstriebwerk, das Flammen hustete, wurde aus den Halterungen gerissen, zerschmetterte die ohnehin schon eingebeulte Pilotenkanzel und explodierte, als es sich gänzlich löste. Flüssiges Feuer wallte über die Landebahn. Hoch in sechs Uhr starrte Darrow ungläubig nach unten. Er hatte soeben sein eigenes Fahrgestell ausgefahren, und der zusätzli-
che Luftwiderstand hatte seine Geschwindigkeit weiter gesenkt. Es gab keine Landebahn mehr, sondern nur noch einen See aus Feuer und eine Masse ineinander verkeilter Wrackteile. »Abbrechen, Jagd Vier!« Darrow gab Notschub und änderte die Trimm für maximalen Auftrieb. Sein Welpe erbebte und wehrte sich, da er jetzt flugmüde war. Er riss am Steuerknüppel. Mit kreischendem Triebwerk überflog Jagd Vier die Trümmer um wenige Meter und raste durch den sich ausbreitenden Feuerball der Explosion. Darrows Kanzel wurde schwarz von Ruß. Überall war Rauch. Als er wieder daraus auftauchte, sah er lose Flammen über seine Tragflächen züngeln. »Erbitte alternative Landebahn!«, rief er. »Landebahn ist frei …«, tönte es aus dem Kom. Er gewann etwas an Höhe und legte die Maschine in eine so enge Kurve, wie er es eben noch wagte. Er würde nicht abstürzen. Nicht jetzt. Nicht jetzt. Der Steuerknüppel war wie Blei. Unter ihm tauchte die Landebahn auf, und er sank rasch, aber zielgenau. Fast geschafft. Rote Lichter blinkten überall an seinen Instrumenten. Er spürte einen Ruck. Das Triebwerk war erloschen. Kein Treibstoff mehr oder nicht mehr genug Geschwindigkeit, er wusste nicht, was. Hatte auch keine Zeit dafür. Kümmerte sich nicht darum. Der Wolfswelpe fiel aus der Luft auf den löchrigen Asphalt. Das Fahrgestell überlebte den ersten harten Aufprall, aber nicht mehr den zweiten. Es löste sich in einem Wirrwarr aus Metallstreben und zerfetztem Gummi auf. Die Maschine setzte ein drittes Mal auf, diesmal auf dem Bauch, und sandte einen Funkenregen in die Luft. Rumpfverkleidung wurde abgerissen. Beim Rutschen drehte sich die verbeulte Nase langsam nach rechts, wobei eine Tragfläche wie Papier zusammengefaltet wurde. Darrow schlug die Arme vors Gesicht und schrie auf, während er herumgeschleudert wurde wie eine Perle in einer Blechdose. Sie kamen aus allen Richtungen angelaufen, aus den Silos und Wartungsschuppen und aus dem Haupthangar. Rettungsfahrzeuge mit jaulenden Sirenen wirbelten Staub und Steine auf, als sie über die Seitenstreifen rasten. Jagdea und Blansher waren unter den ersten Fliegern, die das Wrack erreichten. »Zurück! Machen Sie Platz!«, schrie sie der Fahrer eines Rettungswagens an.
»Dann holt ihn auch raus!«, rief Jagdea zurück und rannte an der Barriere der ausgestreckten Arme des Mannes vorbei. Das Kanzeldach des schrottreifen Wolfswelpen wurde nach hinten geschoben, und der Pilot zog sich nach draußen. Sein Flugzeug lag beinahe auf der Seite, halb auf einer abgebrochenen Tragfläche aufgespießt und von Trümmern umringt. Er schwankte auf sie zu und schüttelte benommen den Kopf, während die Rettungsmannschaften mit Feuerlöschern zum Wrack liefen. Das Gesicht des jungen Mannes war schwarz von Ruß und Öl. Als er seine Atemmaske absetzte, erwies sich seine untere Gesichtshälfte als rosa und sauber. Er blinzelte Jagdea und Blansher an. »Scheiße«, sagte er. »Gute Landung«, sagte Blansher und bot ihm einen Arm zum Aufstützen an. Der zitternde Pilot machte dankbar davon Gebrauch. »Gute … Landung …?«, hustete er. Blansher lächelte. »Sie haben sie doch überstanden, oder?« TAG 253 Innere Wüste, 10:10 Parduas Zorn war erledigt. Sein Motor lief seit hundert Kilometern unrund und heiser, und die Temperaturanzeige bewegte sich seit zwanzig im roten Bereich. Dem Fahrer war es gerade noch gelungen, ihn von der Hauptstraße zu bringen, bevor der Motor seinen Todesseufzer röchelte, und jetzt war der ehrwürdige Kampfpanzer des Typs Eroberer wie als Reaktion darauf zusammengesunken. Der feine trockene Sand gab unter seinen zweiundsechzig Tonnen nach, und er legte sich langsam auf die Seite, nachdem er backbord bereits bis zu den Achsen eingesunken war. LeGuin ging einmal darum herum und spürte die Hitze im Gesicht, die sein Metall abstrahlte. Werkzeuge klirrten, und einer der Regimentstechniker tauchte in der hinteren Luke auf, das Gesicht von der Anstrengung rot und glänzend. »Und?«, fragte LeGuin.
»Das Kühlmittel ist ausgelaufen, und der Hauptzylinderblock ist geschmolzen. Zu hohe Belastung über zu lange Zeit. Und überall ist Sand.« LeGuin nickte. »Schlachten Sie alles aus, was transportabel und verzehrbar ist. Munition, Batterien, Kom, die kleinen Geschütze, etwaiges Wasser oder Treibstoff in den Reservetanks. Räumen Sie ihn aus, und verladen Sie alles auf Transporter. Und beeilen Sie sich, Soldat.« »Zu Befehl, Herr Hauptmann.« LeGuin wandte sich an Leutnant Klodas, den Kommandant des Zorn. Fahrer, Lader und Kanoniere standen nicht weit entfernt in einer verwahrlosten Gruppe, die Mützen in der Hand wie Trauernde bei einer Bestattung. LeGuin sah, dass sich Klodas alle Mühe gab, nicht in Tränen auszubrechen. »Keine Verschwendung von Wasser, bitte, Klodas«, sagte er. »Wir haben noch einen verdammt langen Weg vor uns.« Klodas schniefte und nickte. LeGuin war nicht wohl dabei, so hart zu dem jungen Offizier zu sein. Einen Panzer zu verlieren, war, das wusste LeGuin, als verliere man den besten Freund, Geschwister, Eltern und den treuen Hund. Gleichzeitig. Der durchschnittliche Panzerfahrer lebte in seiner Maschine, kämpfte darin, tötete aus ihr und wurde von ihr gerettet. Er besaß sie, er vertraute ihr, und er kannte ihre Marotten. Sie tot am Rande einer Wüstenstraße zurückzulassen, erschien … kriminell. Abgesehen davon – auch als Exemplar für Militärtechnologie war so ein Panzer unbezahlbar. Nur ganz wenige der ursprünglichen Einheiten waren noch im aktiven Dienst. Die großen Waffenschmieden stellten moderne Kopien her, so schnell sie konnten, aber die Kunst geriet in Vergessenheit, viele technische Geheimnisse gingen verloren oder waren nie aufgezeichnet worden. LeGuin wusste mit bitterer Gewissheit, dass mittlerweile keine Waffenschmiede mehr in der Lage war, die spezielle L/D-Kanone für einen Jagdpanzer herzustellen. Parduas Zorn war einer der ältesten Leman Russ des 8. und seit dreiundzwanzig Jahrhunderten mit penibler Gründlichkeit gewartet und repariert worden. Selbst in seinem gegenwärtigen jämmerlichen Zustand – festgefahren, ausgebrannt und vertrocknet – hatte er es noch verdient, geborgen und abgeschleppt zu werden, um ihn vollständig ausschlachten oder gar reparieren zu können.
Doch das würde nicht geschehen. Dafür fehlte ihnen die Zeit, die Mittel und – wenn sie noch viel länger herumstanden – auch das lebende Personal. LeGuin schaute zurück auf die Straße. Im grellen Schein der glühend heißen Sonne wand sich eine Kolonne von Menschen und Maschinen durch das Sandpapier-Gelände und einen Schleier aus Sand und Hitzeflimmern auf ihn zu. Alle zehn Sekunden rumpelte ein Panzer oder Transporter vorbei und wirbelte Dreck auf. LeGuins Augen waren beständig zusammengekniffen. Die Kolonne des Rückzugs erstreckte sich hinter ihm, so weit sein Auge reichte, und es war nur eine von hundert oder noch mehr, die sich verzweifelt durch die verbrannte Erde und die wallenden Dünen der nordwestlichen Sief wanden. Das war das Schicksal von Marschall Humels großer »Land-Armada«, die beinahe die Tore der Dreieinigkeit-Makropolen erreicht und Enothis gesäubert hatte, bevor er durch die unglaubliche Wildheit der gestärkten Truppen des Erzfeindes zurückgeworfen worden war. Das erbärmliche Wrack von Parduas Zorn schien Hauptmann LeGuin ein angemessenes Symbol für diesen katastrophalen Rückzug zu sein: eine große, stolze Bestie aus einem anderen Zeitalter, vom Feind und vom Klima erlegt, die nun im verzehrenden Sand verrottete, wo nur zukünftige Archäologen ihre ausgetrockneten Knochen je wieder ausgraben würden. LeGuin schaute nach Norden und beobachtete die Staubspur der Vehikel, die bereits vorbeigefahren waren. Männer trotteten neben kriechenden Maschinen, ebenso durstig nach Wasser wie die Maschinen nach Öl. Manche hockten auf Stoßstangen, Kotflügeln und Panzerung. Alle paar Kilometer musste etwas repariert, ausgegraben oder von den Atlas-Mannschaften aus dem weichen Sand gezogen werden. Zorn war nicht der erste Panzer, der am Wegrand zurückgelassen wurde. Der elende Rückweg von den Dreieinigkeit-Makropolen war mit den Kadavern von Maschinen gepflastert, die unterwegs verreckt waren. Verreckt oder getötet. Der Erzfeind ließ sie nicht unbehelligt fliehen. Klodas hatte ein Halbkettenfahrzeug angehalten, einen Waffentransporter, und seine Besatzung bildete eine Menschenkette, um alles Verwertbare aus dem Eroberer umzuladen. »Halten Sie sich nicht zu lange damit auf«, sagte LeGuin zu ihm.
Er ging zu seinem eigenen Panzer zurück und wischte sich mit der Hand über die Stirn, die danach schwarz von Schweiß und Dreck war. Er schaute zum erbarmungslosen Himmel empor. Woher würde der nächste Angriff kommen? Von dort oben? Oder, wie die Kom-Meldungen vom Ende der Kolonne nahe legten, schnappten nun auch die Landeinheiten des Feindes nach ihren Hacken? Todeslinie wartete auf seinen Kommandanten. Beim Einsteigen tätschelte er seine Flanke, obwohl ihm das von der Sonne aufgeheizte Metall die Hand verbrannte. Todeslinie war ein Kampfpanzer vom Typ Exterminator, seine Plattform entsprach derjenigen des schwereren Eroberers. Die beiden Autokanonen im Turm konnten mit ihrer hohen Feuergeschwindigkeit erstaunliche Verwüstungen anrichten. Der Panzer war staubrot lackiert, obwohl an vielen Stellen das nackte Metall durchschimmerte. Sein Name war auf die Umrandung des Geschützturms gepinselt, das Regiment – das 8. Pardus Panzer – über den Radkästen neben dem Doppeladler des Imperiumswappens eingestanzt. LeGuin stieg über die Trommeln mit Reservemunition, die mit Netzen auf der rückwärtigen Haube befestigt waren, und schwang sich in den Turm. Matredes, sein Kanonier, erwartete ihn in der oberen Luke. »Fahren wir weiter?« »Ja.« Matredes rief Emdeen, dem Fahrer, etwas nach unten, und der V12-Motor heulte auf. Sie ruckten mit scheppernden Ketten vorwärts und reihten sich wieder in die Kolonne ein. Todeslinie gehörte LeGuin noch nicht lange, und obwohl er sich alle Mühe gegeben hatte, Bande zu ihm herzustellen, waren sie noch nicht fest geknüpft. Den größten Teil seiner Laufbahn hatte LeGuin in einem Zerstörer gesessen und den Jagdpanzer Grauer Rächer kommandiert. Gemeinsam hatten sie es auf vierunddreißig Abschüsse gebracht, bis Rächer auf der Schreinwelt Hagia vor drei Jahren Feindfeuer zum Opfer gefallen war. LeGuin wäre womöglich glücklich mit seinem Gefährt verbrannt, aber die selbstlose Aktion eines Infanterie-Spähers namens Mkoll hatte ihm das Leben gerettet, ein Mann, vor dem LeGuin so viel Hochachtung hatte, dass er ihm nicht böse war. Bei seiner Rückkehr ins Regimentshauptquartier hatten sie LeGuin diese Blechbüchse zugeteilt. Natürlich hatte er wieder einen
Zerstörer haben wollen, denn auf diesem Feld lagen seine Fertigkeiten und der Schwerpunkt seiner Ausbildung, aber es hatte keiner zur Verfügung gestanden. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn einer von diesem alten Schlag versetzt oder anderweitig zugeordnet wurde, handelte es sich normalerweise um einen generalüberholten Rumpf mit lausiger Charakteristik, einem neuen Motor und unnützen Spielzeugkanonen anstelle der kostbaren, speziellen L/D-Kanone. Also hatte LeGuin seine Enttäuschung verborgen und fuhr jetzt einen Kampfpanzer als Teil von Humels gescheitertem Feldzug. Todeslinie rumpelte vorwärts. Unter den gegenwärtigen Umständen kam ihm die Erinnerung an seine Enttäuschung lächerlich bedeutungslos vor und ließ ihn lächeln. Also hatte er nicht den Panzer bekommen, den er wollte. Schande. Wäre das doch nur das Schlimmste gewesen, womit er sich jetzt herumschlagen musste. In diesem Moment zählte nur, wer oder was sie zuerst erwischen würde: die Wüste oder der Feind. Trotz der Filter und Versiegelung des Innenraums war der Exterminator ein Glutofen. LeGuin wagte nicht, die Luftaustauscher einzuschalten, aus Angst, noch mehr Treibstoff zu verbrauchen. Matredes studierte die Karten im Licht einer roten Deckenleuchte und sagte etwas. LeGuin hatte bereits die Kopfhörer aufgesetzt und wechselte auf das Interkom. »Wie bitte?« »Noch vierzig Kilometer, dann müssten wir zerklüfteteres Gelände erreichen … offenen Karst. Da beginnt dann der Graben.« LeGuin nickte. Der Graben und die Berge dahinter stellten die zweite und dritte der großen Barrieren dar, welche die Kolonnen würden überwinden müssen, um sicheres Gebiet zu erreichen. Die Wüste war nur der Anfang. Aber sie gaben ihm auch etwas Hoffnung. Sie waren greifbare Markierungen, die er abhaken konnte. LeGuin öffnete die Luke und richtete sich auf, dann nahm er das Elektroskop, das Matredes ihm reichte. Todeslinie fuhr im vorderen Viertel der zurückweichenden Kolonne. Unbestätigten Gerüchten zufolge hatten einige Imperiumselemente bereits die Pässe des Makanitgebirges erreicht und befanden sich damit an der Türschwelle zur Sicherheit. Anderen Gerüchten zufolge hatten sie
schnelle Angriffseinheiten des Feindes erreicht und nahmen sie unter Beschuss, um sie aufzuhalten. Er schaute durch das Gerät nach vorne, während er das Ruckeln der Maschine auszugleichen versuchte. Jeder Blick wurde durch Hitzeflimmern und Staubwirbel beeinträchtigt. Aber jetzt schien sich etwas weit voraus zu befinden. Eine dünne blau-weiße Linie. Berge oder ein Tagtraum? Über Kom kam etwas, das er nicht ganz mitbekam. Einen Augenblick später brauchte er keine Wiederholung mehr. Flackernde Schatten schossen über ihn hinweg nach Norden, und er hörte das Rauschen von Nachbrennern über dem Panzerlärm. Zwei dunkelrote Gestalten am hellen Morgenhimmel, schnell wie Pfeile, rasten tief über die Kolonne nach vorne. Er sah Blitze und Sandfontänen und hörte dann das hallende dumpfe Krachen explodierender Munition. Einen Kilometer entfernt fing etwas Feuer und verschmutzte den Himmel mit einer dicken Fahne aus öligem, schwarzem Rauch. »Alarm! Alarm!«, rief er ins Kom. Die Geschütztürme von Todeslinie waren bereits auf maximale Höhe eingestellt, aber es hatte keinen Sinn, auf diese Entfernung Munition zu verschwenden. In der Ferne sah er abgehackte Blitze von Leuchtspurgeschossen aus den Hydra-Batterien in der vordersten Linie. Zwei weitere Fledermäuse flogen vorbei und benutzten die lange Staubwolke, die der Konvoi aufwirbelte, als Richtschnur, um das Ziel anzupeilen. Matredes drehte den Turm, doch LeGuin schüttelte den Kopf. Ein Truppentransporter drei Fahrzeuge vor ihnen hüpfte in einer gleißend hellen Flammeneruption in die Höhe und verspritzte brennende Trümmer in alle Richtungen. Sie hatten das Verhängnis nicht einmal kommen sehen. Die Fahrzeuge voraus wichen aus. Der getroffene Transporter war nur noch ein Gewirr aus brennendem, verbogenem Metall. Verbrannte Leichen, manche von ihnen durch die Gewalt der Explosion entkleidet, lagen überall im Sand. Ein anderer Truppentransporter wich dem Wrack aus und fuhr sich im weichen Sand fest. Er schaukelte heftig, während die Räder durchdrehten und sich mit laut heulendem, überdrehendem Motor immer tiefer in den Sand wühlten. Die Infanteristen auf der Ladefläche sprangen mit Spaten und Ketten nach draußen. »Anhalten! Holen Sie das Kabel!«, rief LeGuin Matredes zu, der sofort mit Mergson, einem der Kanoniere, ausstieg.
»Festmachen! Beeilung!«, rief LeGuin Matredes zu, und der Kanonier holte die Kabeltrommel aus den Steuerbord-Tragekörben. Sie mussten sich beeilen. Die feindlichen Kampfflugzeuge warfen ihre Bomben prinzipiell auf die Spitze der Kolonne, um sie aufzuhalten. Dann machten sie sich einen Spaß daraus, umzukehren und die stehende Kolonne auf dem Rückweg nach Hause mit den Bordgeschützen unter Beschuss zu nehmen. »Macht schon!« Boden-Luft-Feuer aus der Kolonne voraus. Leuchtspurgeschosse, Panzerkanonen, Handwaffen. Irgendein Idiot versuchte es mit einer Rakete aus einem Schulterwerfer. Sie raste in die Höhe, sinnlos wie eine weiße Leuchtkugel bei Tageslicht. Wo waren sie? Wo in drei Teufels Namen waren … Wumm! Eines raste direkt über sie hinweg, und die Druckwelle ließ den Panzer auf seinen Federstäben erbeben. Als es an ihnen vorbei war, zog es bereits wieder hoch. Fünfhundert Meter voraus war die Straße von seinem Geschützfeuer in Fyzelendampf gehüllt. Neue Brände waren ausgebrochen. Etwas Großes – höchstwahrscheinlich das Magazin eines Panzers – explodierte mit trockenem Knall. »Vorwärts, Matredes!«, blaffte LeGuin. Die meisten Soldaten hatten sich flach auf den Boden geworfen, als die Fledermaus vorbeigeflogen war, aber LeGuins Männer hatten derweil das Kabel um die Kuhfänger des Transporters geschlungen. »Sachte! Sagen Sie ihm, mehr Gefühl!«, rief LeGuin Matredes zu, indem er auf den Fahrer des Transporters zeigte, einem Angehörigen des Munitorums, der immer noch das Gaspedal in dem Bemühen durchtrat, sich zu befreien. »Emdeen?«, sendete LeGuin seinem Fahrer über Kom. »Ganz sachte zurück und nicht rucken, sonst reißen Sie ihm das Heck ab.« »Verstanden, Hauptmann«, sendete Emdeen zurück. »Fünfzehn Glieder, sage ich nur.« Fünfzehn Glieder. LeGuin lachte trotz der Situation. Ein Panzerfahrer von Pardus konnte sich für jedes aktive Dienstjahr ein kleines stilisiertes Kettenglied an den Uniformkragen nähen. Emdeen erinnerte seinen Hauptmann daran, dass er ein Fünfzehn-JahresVeteran war und man ihm nicht zu sagen brauchte, wie man einen zehnrädrigen Truppentransporter aus einem Sandloch zog.
LeGuin hatte selbst dreizehn Glieder. Sein Gelächter verstummte, als er die nächste Fledermaus sah. Tief, frontal, rot wie eine offene Wunde. Mit blitzenden Geschützluken raste sie heran. Peiniger-Klasse, nahm LeGuin an. Vielleicht eine Höllenklaue. Es war ihm egal. Er kannte sich mit Panzern aus. Flugzeuge sahen für ihn alle gleich aus. Es hätte ebenso gut ein fliegender Kobold sein können, es war dennoch erpicht auf Mord. Das Geschützfeuer der Fledermaus beharkte die Piste und schleuderte mannshohe Sandfontänen mit der raschen Präzision einer industriellen Bandpresse in die Höhe. Ein STeGPanzerspähwagen in der staubigen Livree der enothischen Planetaren Streitkräfte platzte wie eine Eierschale und fiel auf die Seite. Die Feuerstöße atomisierten die Vorderseite eines Wassertankwagens. Dann erreichten sie die Einschläge. Ein halbes Dutzend Soldaten aus dem gestrandeten Transporter wurden niedergemäht, ihre Leichen beiseite- oder in die Luft geschleudert oder zerfetzt. Die Luft war mit aufgewirbeltem Staub und Dreck durchsetzt. LeGuin verlor Matredes aus den Augen, sah Mergson aber ganz deutlich, als dieser getroffen wurde. Alles unterhalb von Mergsons Hüften löste sich in einem Blitz aus Flammen und Fasern auf. »Nein!«, schrie LeGuin, während er sich in den Turm zurückfallen ließ, um Deckung zu suchen, da drei Geschosse von der Panzerung Todeslinie abprallten. Die Fledermaus war bereits vorbei, doch beim Hinunterlassen hatte LeGuin eine zweite direkt dahinter gesehen. Tobend ergriff er das Joch der Zwillingsgeschütze im Hauptturm, legte den Hebel des Autoladers um und fing an zu schießen. Der Turm bebte. Er konnte nicht das Geringste durch die prismatische Zielvorrichtung sehen und ganz gewiss kein Ziel. Munitionsverschwendung? Lass mich zuerst verfehlen, folgerte LeGuin, und mich dann darüber nachdenken. Über dem Makanitgebirge, 12:01 Die Flugzeit näherte sich einer Stunde. Zwanzigtausend Meter klare Luft bis nach unten zu den schneebedeckten Bergen, drei Zehntel Bewölkung. Sicht klar bis über vierzig.
In seiner Flugrüstung atmete Viltry das Luftgemisch durch seine Maske, während er aus der überschatteten Kanzel seines Marodeur in das helle Reich des Himmels starrte. Voraus und etwas höher schwebte Hallo Höllenfeuer und zog lange, gerade reinweiße Kondensstreifen hinter sich her. Das Sonnenlicht glitzerte und funkelte auf dem polierten Silber der Außenhautlegierung. Abgesehen vom Hintergrunddröhnen von G für Gretas vier Strahltriebwerken war es auf eine beinahe losgelöste Art still. Dem Auspex zufolge war im Umkreis von hundert Kilometern nichts außer ihrer aus sechs Flugzeugen bestehenden Formation in der Luft. Viltry schaltete seinen Interkom ein. »Geh Früh, Meldung.« Das war G für Gretas anderer Spitzname. Geh Früh Greta. Orsone hatte ihn geprägt, und er war haften geblieben. »Bombenschütze, aye.« »Nase, aye.« »Heck, klar.« »Turm, aye.« Lacombe, Viltrys Navigator, wandte sich ihm zu und zeigte ihm einen Kreis, den er mit Daumen und Zeigefinger seiner behandschuhten Rechten bildete. »Wie weit?«, fragte Viltry den Navigator. »Wir erreichen gleich die nächste Wegmarke, Herr Hauptmann. In den nächsten fünf Minuten schwenken wir auf zehn Grad Ost.« »Wie heißt das gleich?« »Irax-Pass. Ich glaube, er ist nach der einheimischen Spezies eines in den Bergen beheimateten Pflanzenfressers benannt, die …« »Danke, Lacombe. Zuerst der Krieg, dann die Geschichte.« »Herr Hauptmann.« Viltry wechselte die Frequenz. »Halo-Staffel, hier Halo Führer. Kursänderung zehn Grad Ost auf mein Zeichen … drei, zwei, eins … Kursänderung.« Der Winkel der Sonne neigte sich. Die taktischen Bomber schwenkten herum. G für Greta, Hallo Höllenfeuer, Thron des Terrors, Mutter der Zerstörung, Holt Sie Alle Zurück und Ihr Seid Tot. Mit Ausnahme massiver Unternehmen brachte Halo nur selten alle zwölf ihrer Vögel bei einem Einsatz in die Luft. Sechs war normal, und diese sechs waren durch das Ziehen von Strohhalmen ermittelt worden. Witwenmacher war zwar gezogen, dann
aber wegen eines Triebwerkproblems aussortiert worden. Mutter der Zerstörung hatte ihren Platz eingenommen. Mutter war Halo Zwo, Kyrklans Vogel. Als Viltrys Stellvertreter leitete Wassimir Kyrklan gewöhnlich die Einsätze der anderen Hälfte der Staffel, wenn Viltrys Hälfte in der Überholung war. Es war ungewöhnlich, dass sie gemeinsam flogen. »Sinkflug bei fünftausend«, sagte Lacombe. »An alle, Sinkflug bei fünftausend.« Der Triebwerkslärm veränderte sich, als sie Höhe verloren. Die vereisten Berggipfel schienen schrecklich nah zu sein. »Lacombe?« Die scharfen Augen des Navigators wechselten zwischen dem Gelände abtastenden Auspex und dem Blick aus der Kanzel. »Halte nach Wegmarke Ausschau. Die Yacobsspitze. In den Instruktionen heißt es, dass sie direkt an der Pass-Einmündung steht.« Noch eine zähe Minute. »Was ist, Lacombe?« »Da ist sie. Zwölf Kilometer, abnehmend. Wir müssen noch zweitausend tiefer gehen. In den Instruktionen wird vor Windschüben gewarnt, sobald wir im Pass sind.« Viltry nickte und bewegte den Steuerknüppel. »Halo-Staffel, Halo-Staffel. Wegmarkierung in zwölf Kilometern, abnehmend. Abwärts bei drei, und achtet auf Seitenwinde.« »Halo Zwo, verstanden.« »Folgen Ihrem Beispiel, Halo Führer.« Ein Foto-Aufklärer des 1267. Flotten (Späh) war diesen Weg im Morgengrauen abgeflogen und hatte eine Gruppe imperialer Panzer und Artillerie auf halbem Weg den Pass hinauf entdeckt, der schwere Einheiten des Erzfeindes auf den Fersen waren. Anscheinend hatte ein einheimisches Geschwader die Gegend erst am Tag zuvor erkundet, kurz bevor es vom feindlichen Jagdschutz angegriffen worden war. »Halo-Staffel, auf Feindmaschinen achten«, sendete Viltry. Er schaltete auf Interkom. »Bordschützen? Waffen scharf machen. Haltet die Augen offen, als hinge euer Leben davon ab. Denn das tut es. Judd?« Ein Knistern. »Herr Hauptmann?« »Küssen Sie die Kinder von mir, Bombenschütze.« Knistern. »Ich richte ihnen aus, dass Sie gute Nacht gesagt haben.«
Im Bombenschacht unter Viltry machte Judd behutsam die Bombenladung scharf und peilte versuchsweise durch die Zielvorrichtung. Die zerklüftete Felsnadel der Yacobsspitze erhob sich vor ihnen, ein schneebedeckter Felszapfen. Viltry konnte jetzt die Einmündung des Passes sehen. Sein Herz schlug schneller. Es würde ziemlich eng werden. »Halo-Staffel, Halo-Staffel. Erreichen Wegmarke.« Er versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Nach Passieren der Wegmarke herumschwenken und in Reihenfolge abwärts. Der Imperator beschützt.« Alle Flugzeuge wiederholten den Katechismus. »Drei … zwo … eins …« Die sechs Marodeure, jetzt in einer Linie hintereinander aufgereiht, legten sich in eine Kurve um die Felsnadel und folgten Geh Früh abwärts in die Passröhre. Die angekündigten Seitenwinde rüttelten sie brutal durch. Dann waren die Schluchtwände für ein paar Augenblicke auf beiden Seiten so nah, dass die Piloten damit rechneten, Reibungsfunken an den Spitzen ihrer Tragflächen zu sehen. Doch die Schlucht verbreiterte sich. Der Pass führte abwärts. Schneedecke, ein Gratweg, ein Schacht aus schwarzem Fels mit gekräuselten Eisplatten. Er verbreiterte sich auf über fünfhundert Meter. Viltry gab etwas mehr Schub und brachte Geh Früh auf Schwindel erregende fünfzig Meter herunter. Am Steuerknüppel von Mutter der Zerstörung direkt hinter Geh Früh grinste Kyrklan. Fünfzig Meter in einem Marodeur mit 400 km/h, von Granitwänden umgeben. Nur Oskar Viltry hatte den Mumm, so zu führen. Kyrklan flog Marodeure ein Jahr weniger als Viltry und war jetzt seit sechs Jahren dessen Stellvertreter in der Halo-Staffel. Er liebte den Mann und würde ihm überallhin folgen. Wassimir Kyrklans Ansicht nach konnte niemand einen vierstrahligen Vogel so gut fliegen wie Viltry. Es war eine Sache des Bauches und der Nerven. Als sei er dafür geboren. Als Viltry 771 über der Brühe als verschollen, wahrscheinlich gefallen, gemeldet worden war, hatte Kyrklan nicht nur um seinen Freund getrauert, sondern ihm hatten auch die nachfolgenden Generationen phantiner Piloten Leid getan. Sie würden Viltry niemals fliegen sehen, es nie lernen und es nie begreifen. Die Tatsache, dass Kyrklan Staffelführer geworden war, hatte ihn nicht trösten können. Er hatte die Staffel beim
Angriff auf Ouranberg führen müssen. Viltry hätte seine Sache besser gemacht als er. Jetzt war der Hauptmann wieder da, und alles würde sich eins a entwickeln. Kyrklan schob sich die herabbaumelnde Maske vors Gesicht. »Mach langsamer, Osk, hm?«, lachte er ins Kom. »Wiederholen, Halo Zwo?« »Nichts, Halo Führer. Gehen wir’s an.« In der bebenden Kanzel von Halo Führer schauderte Viltry. In seinen Panzerhandschuhen waren die Knöchel weiß. Das ist er. Das ist der Einsatz. Das verdammte Schicksalsrad. Das ist die Abrechnung. Der Tod. Jetzt gleich. Jetzt gleich … »Ziel gesichtet!«, meldete Judd. Sie hatten soeben eine Formation imperialer Panzer überflogen, über zweihundert Fahrzeuge, die auf dem steilen Pass durch ein Schelf eingeengt wurden. Weiter vor ihnen schossen mobile Batterien und schwere Kanonen. Viltrys Hände zitterten am Steuerknüppel. »Ich kann nicht …«, begann er. »Hauptmann?«, fragte Lacombe, indem er sich zu ihm umwandte. Heiliger Thron! Tu’s einfach. Tu’s ganz einfach! Viltry schüttelte sich und schrie in sein Mikro: »Vordere Geschütze Feuer frei! Jetzt! Judd!« Naxol an den Bugwaffen eröffnete das Feuer und hüllte die Nase des Flugzeugs in das Licht der Mündungsblitze, als er die feindlichen Stellungen beharkte. »Bomben abgeworfen!«, meldete Judd. Geh Früh stieg plötzlich, als Bauch und Tragflächen Gewicht verloren. Ein Flammengekräusel unter ihnen. Dann ließ Mutter der Zerstörung ihre Ladung folgen, dann Hallo Höllenfeuer. Sie entfesselten einen Feuersturm. Die anderen folgten rasch hintereinander. Mittlerweile legte sich G für Greta bereits in eine enge Kurve und verließ den Pass mit der kristallinen Gebirgslandschaft unter sich. Obwohl von den extremen Beharrungskräften in ihre Gurte gepresst, jubelte die Besatzung. Fünf Kilometer über den Berggipfeln ging Viltry in den Geradeausflug über und sank einen Moment schwer atmend über den Instrumenten zusammen. »Wir haben sie gegrillt! Wir haben die Schweine gegrillt und …« Die schrille Stimme gehörte Gaize, dem Turmkanonier.
»Klappe halten. Haltet die Klappe!«, brüllte Viltry. »Haltet um Throns willen die Klappe! Macht sofort die Augen auf und beobachtet den Luftraum, sonst schaffen wir es nicht nach Hause! Habt ihr verstanden? Sonst schaffen wir es nicht nach Hause!« Theda, LWS Süd, 12:12 Der Himmel war leer, aber Pilotoffizier Vander Marquall sah nicht ihn an, sondern seinen Vogel. Der I-XXI Donnerkeil ruhte auf seinen Kufen im Schutzbunker auf der Ostseite des Flugplatzes Theda Süd. Er war eine massige Bestie, vierzehn Tonnen totes Gewicht ohne Treibstoff mit einer stumpfen Gruppe von Kanonen anstelle einer Nase und einem Rumpf, der in nach vorn gezogenen Tragflächen rings um die Schubdüsen der zwei Mantelstromtriebwerke überging. Die Kanzel befand sich in der Mitte und verlieh dem Keil ein zurückgelehntes, zwielichtiges Aussehen. Er war mattgrau lackiert und trug die Insignien des XX. Phantine auf Heck und Nase. Die offenen Triebwerksdüsen funkelten kupfern. Racklae, Marqualls Chefmechaniker, schaute unter einem der Gehäuse für die Geschütze zu ihm auf. »Die ist so gut wie neu, versprochen«, sagte er. Marquall grinste. Racklaes Männer stellten gerade die kunstvolle Lackierung der Nase fertig: den stilisierten Adler Phantines, der den zackigen Blitz in den Klauen hielt, und darunter der Name »Doppeladler« in Hochkommata. Marquall registrierte, dass jemand hinter ihm aufgetaucht war. Er drehte sich um und versteifte sich vor Überraschung. Es war Hauptmann Guis Gettering von den Aposteln, dessen weiße, wildlederne Fliegerjacke in der Mittagssonne beinahe strahlte. »Herr Hauptmann, ich …«, begann Marquall. Gettering streifte gelassen einen seiner Kettenhandschuhe ab und schlug Marquall damit so fest ins Gesicht, dass der junge Mann auf ein Knie fiel. Benommen, verblüfft, das Gesicht durch die Kettenglieder zerkratzt, schaute Marquall auf. Guis Gettering schritt zurück zu seinem Bunker.
»Was …«, keuchte Marquall, während er sich gestützt von seinen Mechanikern wieder erhob. »Was sollte das denn?« Theda, LWS Nord, 12:26 Als Darrow schließlich wieder auf seinem Stützpunkt war, kam er ihm verlassen vor. Er blieb ein paar Minuten auf dem sonnenbeschienenen Appellhof stehen und schaute über das Hauptlandefeld. Ein Kilometer entfernt, am Westrand des Geländes, konnte er Reihen großer Maschinen unter Netzen ausmachen. Imperiumsvögel, Marodeure. Darrow konnte gerade noch das Bodenpersonal ausmachen, das an den schweren Kampfbombern arbeitete. Im Norden nahmen Arbeitstrupps des Munitorums sechs der zwölf Startrampen auseinander, die von den Wolfswelpen benutzt wurden. Aktivität, aber sämtlich weit weg. Der Komplex der Einsatzzentrale und die Kasernen neben ihm kamen ihm verlassen und leer vor. Er erklomm die Haupttreppe und betrat die kühle Düsternis des Hauptkorridors. Darrow trug einen geborgten alten Overall. Seine Kleidung war bei der Bruchlandung ruiniert worden. Es war ihm gelungen, seine Fliegerstiefel und die schwere lederne Fliegerjacke zu retten, obwohl ein Ärmel ziemlich zerrissen war. Er hatte die Sanitäter daran gehindert, sie wegzuwerfen. Sie hatten darauf bestanden, ihn über Nacht zur Beobachtung im Lazarett von Theda Süd zu behalten, obwohl allen klar war, dass er abgesehen von ein paar Kratzern und Schrammen wohlauf war. Am Morgen war er gezwungen gewesen, voller Ungeduld zu warten, um Formulare auszufüllen und Vorfallberichte zu schreiben. Erst dann war er gesundgeschrieben und in den ersten verfügbaren Transporter nach Norden verfrachtet worden. Er wollte nur rasch wieder zurück in die normale Routine und den vergangenen Tag, jenen schrecklichen Tag, hinter sich lassen. Niemand schien ihm das erlauben zu wollen. Die Formulare, die medizinischen Untersuchungen, die Vorfallberichte. Sogar der Fahrer des Transporters, der ihn von Theda Süd zurückgebracht hatte, war ihm wie ein kranker Witz vorgekommen. Das Gesicht des Mannes war eine Schweinerei aus rosa Narbengewebe gewesen.
Die Eingangshalle war leer. Niemand lief über den polierten Holzfußboden. Er ging an den Gedenktafeln für die Gefallenen mit ihren vergoldeten Buchstaben vorbei, die an den vertäfelten Wänden hingen, eine für jedes Geschwader des Commonwealth, auch für sein eigenes, das 34. Allgemeine Abfanggeschwader, unter dem brütenden Hololithen des verstorbenen LuftwaffenKommodores Tenthis Belks. Es war eine altehrwürdige Sitte für alle Piloten, im Vorbeigehen vor dem Porträt des alten Mannes zu salutieren. Darrow war heute nicht nach solchem Firlefanz zumute. Im Büro der Tagesschicht war niemand, auch nicht hinter dem Schreibtisch für die Kompanie- und Bereichsleitung. Darrow ging weiter zum Bereitschaftsraum, aber auch dort war niemand. Es roch nach zu lange warm gehaltenem Kaffein und abgestandenem Rauch. Auf einem der kleinen Tische lag ein rundes Königsmordbrett mit einem unvollendeten Spiel. Darrow ging wieder in den Flur und zur Stützpunktkapelle. An der Wand neben der Doppeltür hing eine Tafel, auf die die Namen der Toten und Vermissten vor der Morgenandacht geschrieben wurden. Er blieb dort einen Moment stehen und starrte auf die Reihe der Namen. Die toten Kadetten der Jagd-Staffel. Was für eine verdammt lange Liste. Bis auf fünf Namen war es ein Anwesenheitsappell der gesamten Staffel. Er öffnete die Türen und schaute in die Kapelle. Darin war es still und sehr dunkel bis auf das Tageslicht, das in bunten Strahlen durch die Spitzbogenfenster am anderen Ende fiel. Es roch nach Holzwachs und Fußbodenpolitur und außerdem nach verwelkten Blumen. Jemand saß ganz vorne am Ende der ersten Bankreihe. Darrow konnte nicht erkennen, wer es war, und wollte nicht stören. Als er wieder in den Flur trat, nahm Darrow zum ersten Mal die gedruckten Bekanntmachungen an den Schwarzen Brettern vor dem Tagesbüro auf. Er las sie. Major Heckel kam aus der Kapelle und ging zu ihm. »Darrow?« »Was … was soll das?«, murmelte Darrow. Heckel konnte den Anflug von Verärgerung im Tonfall des Pilotkadetten hören. »Dann sind Sie gerade erst eingetroffen?«, fragte er. »Man hat Sie entlassen? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Was hat das zu bedeuten?«, schnauzte Darrow, indem er auf die Bekanntmachungen zeigte. Heckels Gesicht war verkniffen und blass, und er schien vor Darrows Verbitterung zaghaft zurückzuschrecken. »So haben sich die Dinge nun mal entwickelt, Darrow.« »Hat Eads das unterschrieben?« »Es war seine Entscheidung, er …« »Ist er da?« »Ja. Ja, das ist er.« »Ich will ihn sprechen.« Heckel biss sich auf die Unterlippe und nickte dann. »Kommen Sie mit.« Der Major ging voran, die Vordertreppe empor zur Haupteinsatzzentrale. Ihre Stiefel hallten auf dem harten Holz. Heckel schien ein Bedürfnis nach zwanglosem Geplauder zu haben. »Alle sind auf Urlaub«, sagte er beinahe fröhlich. »Seit heute Morgen. Alle … Na ja, die Sache gestern. Hat praktisch alle umgehauen. Und da wir ohnehin in die Überholung und abrücken sollten, um Platz für die Imperialen zu machen, tja, da schien es das Beste zu sein, also hat Kommodore Eads Passierscheine ausgestellt und …« Darrow hörte gar nicht richtig zu. Die Tür zur Haupteinsatzzentrale stand offen, und er sah unvertrautes Personal in der Uniform der Imperiumsflotte, das ihn anstarrte, als er vorbeiging. Sie erreichten das Vorzimmer des Kommodore, und Heckel schickte Darrow hinein. Ihm fiel auf, wie stark die gestikulierende Hand des Majors zitterte. Richtig zitterte. Das Vorzimmer war leer. Die Schreibtische waren geräumt worden, und mit dem Adlerwappen abgestempelte Umzugskisten stapelten sich in der Mitte des Raums auf dem abgenutzten Fußboden. Heckel klopfte leicht an die Innentür. Ein Grunzen antwortete ihm. Sie traten ein. In dem Zimmer war es stockdunkel. »Kommodore …«, begann Heckel. »Was? Oh, Verzeihung.« Es klickte, und die stählernen Schutzjalousien vor den Fenstern öffneten sich und ließen das Tageslicht ein. »Das vergesse ich manchmal«, sagte Eads. Das einfallende Tageslicht enthüllte Luftwaffen-Kommodore Gelwyn Eads hinter seinem Messingschreibtisch in dem Erker un-
ter dem Hauptfenster. Die Wände des Büros waren mit Hololithen bedeckt – offizielle Aufnahmen von Geschwadergruppen, einzelne Piloten-Porträts, Bilder von Wolfswelpen und Zyklonen, fröhliche Schnappschüsse von Stützpunkt-Festivitäten und GalaVeranstaltungen, ein Bild von Eads mit dem alten Belks. Eine zerfledderte Flagge des Commonwealth hing an einem Ehrenplatz über dem Kamin. Eads sortierte Datentafeln und Karten in Ablagekästen ein, die rings um seinen Schreibtisch standen. Er war ein kleiner, drahtiger Mann über sechzig, dessen graue Haare so kurz geschnitten waren, dass es so aussah, als sei sein Kopf mit Metallspänen bedeckt. Er trug eine Brille mit kleinen, runden, dunklen Gläsern. »Stellen Sie sich vor«, sagte er. »Das sind Sie, Heckel, habe ich recht?« Eads war seit neunzehn Jahren blind. Er hatte eine augmetische Operation abgelehnt. Hinter seinem linken Ohr befand sich eine Dermalbuchse, die es ihm gestattete, sich in Operationssysteme einzustöpseln und taktische Anzeigen bei Einsätzen zu »sehen«, aber das war der einzige Ausgleich für seine Behinderung. Er war gerade eingestöpselt, was ihm gestattete, die Datentafeln unter Benutzung des Code-Lesers auf dem Schreibtisch zu identifizieren und einzusortieren. »Ich bin es, Kommodore. Und Pilotkadett Darrow.« Beide Männer salutierten mit besonderer Förmlichkeit. Vor langer Zeit war Eads zu dem Schluss gekommen, dass die Männer sich wahrscheinlich nicht mehr die Mühe machten, ordentlich zu grüßen, weil er nichts mehr sehen konnte, und hatte sich angewöhnt, zu jedem Besucher zu sagen: »Nennen Sie das einen Gruß?« Infolgedessen grüßten ihn alle mit mehr Sorgfalt und Korrektheit, als sie die normalsichtigen Offiziere grüßten. »Nennen Sie das einen Gruß?«, fragte Eads und lächelte. »Stehen Sie bequem. Hallo, Darrow. Haben Sie sich erholt?« »Ja, Kommodore.« »Freut mich zu hören. Ich soll zusammenpacken und verschwinden. Die Flotte. Ich sollte wohl dankbar für ihre Ankunft sein, aber es geht mir gegen den Strich.« Eads erhob sich, stöpselte sich aus dem Code-Leser aus und trat um den Schreibtisch. Er benutzte einen Sensorstock, auf dessen Knauf das enothische Wappen in abgenutztem Silber prangte und der in seiner Hand zitterte, wenn er einem Hindernis zu nah
kam. In seinem eigenen Büro brauchte er ihn kaum, da er sich darin bestens auskannte. Eads ging zum Kamin und berührte das Ende der alten Flagge. Dann zeigte er auf einige der gerahmten Hololithen. »Kompanie-Dinner, Winter 751. Wesner sieht auf dem Bild besonders angepisst aus, nicht wahr? Seine Krawatte sitzt furchtbar schief. Das da … das ist Jahun Nockwist, der mit seinen Mechanikern neben seinem Magog steht. Und der alte Schmierige Barwel und seine Mannschaft, möge der Imperator sie segnen. Da, das ist Kolibri, mein erster Welpe. Üble alte Dame. Hat mich ‘42 über dem Ezrameer nach einem Brennschluss abgeworfen. Ich nehme an, sie ist immer noch irgendwo da unten, vielleicht Teil irgendeines Riffs.« Er wandte sich ihnen zu. »Habe ich recht?« »Ja, Kommodore«, sagte Heckel. »Bei allen.« Eads nickte. »Ich weiß es nur, weil ich mich erinnere, wo ich sie aufgehängt habe.« Er nahm eines der Bilder von der Wand, wog es in der Hand und trug es dann zum Schreibtisch. Es verschwand in einem der Kästen. »Ich glaube nicht, dass ich sie in meinem neuen Büro aufhänge, wo immer das sein wird. Hat kaum einen Sinn. Ich werde sie nicht sehen können. Ich meine, ich kann mich noch erinnern, wie sie aussehen. Da könnte ich ebenso gut leere Rahmen an die Wand nageln. Trotzdem sollte ich sie mitnehmen.« Eads schwieg einen Moment, tief in Gedanken versunken. Dann richtete er seine dunklen Augengläser wieder auf sie. »Ich nehme an, es geht um die Versetzung, Darrow.« »Ja, Kommodore. Ich bin, gelinde gesagt, enttäuscht …« »Davon bin ich überzeugt, Kadett. Ich wäre es mit Sicherheit. Aber ich werde meine Meinung nicht ändern. Nach den gestrigen Verlusten haben wir kaum noch genug flugtüchtige K4Ts, um auch nur zwanzig Piloten des 34. in der Luft zu halten, und das auch nur, wenn die Piloten sich Welpen teilen. Wir verringern den Mannschaftsbestand des Geschwaders, wir müssen. Sobald wir auf unserem neuen Stützpunkt sind, müssen wir den Kader zurechtstutzen. Einige Piloten werden aktiv bleiben … im Wesentlichen die Staffeln Vektor und Beute. Andere müssen einstweilen zurückstehen. Erfahrene Piloten haben Vorrang, Darrow, tut mir leid. Die Jagd-Staffel war eine Kadetten-Gruppe. Und – verzeihen Sie mir, wenn ich es so unverblümt ausdrücke, Heckel – von Jagd sind kaum noch welche übrig. Darrow, Sie werden zum Boden-
dienst abkommandiert und wahrscheinlich zum Stützpunkt Zophos oder nach Enothopolis zur Reserve verlegt. So muss es einfach gemacht werden.« »Ja, Kommodore.« Darrow knirschte fast mit den Zähnen. »Die Reserve ist nicht so schlimm, Darrow«, fügte Eads hinzu. »Man wird Sie ganz schön auf Trab halten, lohnenswerte Arbeit. Und wenn es gut läuft, könnten Sie noch vor Ende des Jahres wieder fliegen.« Darrow nickte. »Darrow?« »Ja, Kommodore. Ich … Ja. Ich hatte genickt, Kommodore.« »Nicken funktioniert bei mir nicht, Flieger.« »Verzeihung, Kommodore.« Eads kehrte hinter seinen Schreibtisch zurück und setzte sich wieder. »Ich sage Ihnen was«, sagte er. »Reden Sie es sich einfach von der Seele, Darrow.« »Kommodore?« »Reden Sie frei von der Leber weg. Bringen wir’s hinter uns.« Darrow warf einen Blick auf Heckel. Das Gesicht des Majors sah noch blasser aus als zuvor, und seine Hände zitterten. Aber er bedeutete Darrow mit einem Achselzucken sein Einverständnis. Darrow räusperte sich. »Ich weiß, dass ich erst seit vier Wochen Einsätze fliege. Ich bin ein Kadett. Mit allem, was dazugehört. Und gestern war ein … ein …« Er sah Heckel an. Der runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Jedenfalls glaube ich, dass ich fliegen kann, Kommodore. Ich meine, ich kann gut fliegen. Ich hatte kaum die Gelegenheit dazu, und ich hasse Selbstbeweihräucherung. Aber gestern, da hatte ich wirklich das Gefühl, ich … Da war diese Fledermaus und …« »Ja, Darrow?« Darrow kam sich schon bei dem Versuch, es auszusprechen, albern vor. »Es spielt keine Rolle, Kommodore.« Eads beugte sich vor und nahm eine Datentafel aus dem Stapel zu seiner Linken. Er legte sie vor sich. »Ihre Bescheidenheit gereicht Ihnen zur Ehre, Kadett. Ich habe hier Heckels Bericht. Er ist … Wie soll ich es beschreiben? Begeistert, nicht wahr, Major?« »Es ist nur ein Bericht, Kommodore«, sagte Heckel. »Sie haben sich mit dieser Fledermaus angelegt und sich die Stiefel abgeflogen. Nach Instinkt, brillant. Der Major lobt Sie in
den höchsten Tönen. Du meine Güte, hätte ich Sie so fliegen sehen, wie er es beschreibt, würde ich eine Auszeichnung vorschlagen.« »Das haben Sie gesagt?«, murmelte Darrow. Heckel starrte auf den Boden. »Ich habe nur berichtet, was ich gesehen habe, Kadett.« »Also, gut gemacht«, sagte Eads. Darrow blinzelte. »Kommodore … wenn ich solches Lob verdient habe … wenn ich gezeigt habe, wozu ich fähig bin … warum werde ich dann zur Reserve geschickt?« »Meine Entscheidung, Darrow. Geben Sie bloß Heckel nicht die Schuld dafür. Seine Empfehlung lautete, Sie in die Beute-Staffel zu versetzen. Aber da wäre diese winzige Kleinigkeit …« »Kommodore?« »Es war Ihr erster Kampf. Ihr erster Luftkampf. Sie haben sich gut geschlagen, aber so sind erste Kämpfe nun mal. Neulinge sterben gewöhnlich in solchen Situationen. Die Überlebenden sehen immer besser aus als der Durchschnitt. Und fast immer ist das auf Glück zurückzuführen. Sie haben sich in einem Einsatz prächtig geschlagen Darrow, aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, Sie zur Reserve zu schicken.« »Kommodore?« »Glück, Kadett. Ich glaube, gestern haben Sie das Glück eines ganzen Lebens aufgebraucht. In einem einzigen Luftkampf. Wenn ich Sie im aktiven Dienst lasse, sterben Sie in Ihrem nächsten Einsatz.« Darrow wusste nicht, was er sagen sollte. Er blinzelte. Sein Mund war trocken. »Sind wir jetzt fertig?«, fragte Eads. »Kommodore«, sagten beide und verließen das Büro. Heckel holte Darrow auf der Treppe ein. »Es tut mir leid!«, sagte er. Darrow sah ihn an. »Gott-Imperator, es braucht Ihnen nicht Leid zu tun, Herr Major«, sagte er. »Sie hätten keinen solchen Bericht schreiben müssen.« »Ich habe nur geschrieben, was ich gesehen habe, Darrow. Ihre Fliegerei gestern war fanta …«
»Sie haben mir das Leben gerettet, Herr Major. Als Sie mir zu Hilfe gekommen sind. Er hatte mich. Sie haben mir das Leben gerettet.« Heckel zögerte, als sie ins Sonnenlicht des Treppenhauses traten. »Ich habe getan, was ich konnte«, sagte er. »Sie haben mir das Leben gerettet. Er hatte mich«, wiederholte Darrow. »Aber …« »Vielen Dank«, sagte Darrow. Darrow ging weiter die Treppe hinunter und dann durch den Flur an der Kapelle vorbei. Erst da sah er den Schmierfleck. An der Tafel, der Gedenktafel für die Toten. Die Namen der Jagd-Staffel. Am Ende der Liste war ein Name mit Kreide geschrieben und dann wieder weggewischt worden. Sein eigener. Theda, LWS Süd, 13:01 Der Kettenhandschuh fiel wie ein Bleigewicht auf die Tischplatte. »Den habe ich mir ausgeliehen«, sagte Bree Jagdea. »Wollen Sie mir den Vorfall erklären, oder soll ich Ihnen damit ins Gesicht schlagen?« Staffelführer Etz Seekan betrachtete den Handschuh einen Moment lang. Seine manikürten Finger schlugen einen zarten Trommelwirbel auf der Tischplatte. »Lassen Sie mich überlegen …«, sagte er leise. Er war ein schöner Mann, perfekt gebaut, mit funkelnden blauen Augen und einem fesselnden Grinsen. Sein dunkles Haar war erstklassig frisiert und eingeölt, und seine ganze Art war ärgerlich entspannt und charmant. Er sah Jagdea an. »Ein Teil von mir würde gerne sehen, wie Sie mir – was war es noch? – damit ins Gesicht schlagen. Nur um Ornoff zu erleben, wenn die Klageschriften eingereicht werden. Aber ich glaube, das würde uns nicht weiterbringen. Warum nehmen Sie nicht Platz?« Er deutete auf einen Stuhl mit Armlehnen vor dem Schreibtisch. »Ich ziehe es vor zu stehen«, erwiderte Jagdea schnippisch. Seekan zuckte die Achseln. »Um diese Zeit trinke ich immer gern einen kleinen Joiliq. Kann ich Sie für einen interessieren?« »Ich ziehe es vor zu … nein, das können Sie nicht!«
Seekan zuckte die Achseln und erhob sich. Er ging zur Anrichte und goss sich eine sehr kleine Menge Schnaps in ein hohes Glas. »Ich habe von Ihnen gehört«, sagte er. Jagdea versteifte sich. Was sollte das jetzt wieder heißen? Ein Teil von ihr wollte herausplatzen mit: Ich habe auch von Ihnen gehört, von Ihnen allen … von den Aposteln. Den besten Fliegern in der westlichen Flotte. Von Quint, dem Ass der Asse, Gettering, Suhr … und immer von Seekan. Staffelführer Seekan, Meister der Apostel. Niemals eine überragende Zahl von Abschüssen, aber berühmt wegen seiner Führerschaft und Taktik. Geliebt von seinen Männern. Seekan, der Imperiumsheld. Stattdessen biss sie sich auf die Lippe. »Von mir?«, sagte sie. »Nicht speziell von Ihnen«, sagte Seekan. Er dachte eine Sekunde darüber nach und runzelte dann die Stirn. »Thron, ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich meinte die Phantiner. Das einzige gegründete Regiment der Imperialen Garde, das aus Fliegern besteht. Wegen der Natur Ihrer Heimatwelt, stimmt das nicht?« »Ja.« Seekan nickte. Er hob sein Glas und schwenkte den Schnaps darin. »Alle anderen Geschwader stehen unter dem Kommando der Imperiumsflotte, nur Ihres nicht. Das macht uns zu Verbündeten anstatt zu Verwandten.« »Vermutlich.« Seekan lächelte. »Und Sie schätzen weibliche Piloten ebenso sehr wie männliche. Frauen gibt es nur wenige in der Flotte. Das ist ein seltenes …« »Vergnügen?«, fragte Jagdea. »›Ereignis‹ wollte ich eigentlich sagen, ›Ereignis‹.« »Es gibt kein bewohnbares Land auf Phantine«, sagte Jagdea. »Alle lernen zu fliegen, Männer und Frauen. Man sagt, unsere Fähigkeiten seien intuitiv und außergewöhnlich.« »Dasselbe hat man über die Apostel gesagt.« »Sie haben keinen Grund, Ihre eigenen Tugenden zu preisen. Der Ruf der Apostel ist eindeutig genug.« »Vielen Dank.« »Also … würden Sie bitte erklären, warum Ihr Mann meinen Pilot mit so einem Handschuh geschlagen hat?« »Weil er wütend war.«
»Wütend? Wütend?« »Wollen Sie sich ganz bestimmt nicht setzen, Geschwaderführer?« »Beantworten Sie die verdammte Frage!« »Hauptmann Guis Gettering … Zweiundsechzig Abschüsse. Sein Vogel wird Doppeladler genannt. Er hat sich beleidigt gefühlt, weil Ihr Mann den Namen für seine eigene Maschine kopiert hat.« »Das ist alles?« »Was kann ich sonst noch sagen?« Seekan zuckte die Achseln. »Mein Pilot wird seine Maschine umbenennen. Er wollte niemanden beleidigen. Ich schlage vor, dass sich Ihr Hauptmann Gettering im Gegenzug schriftlich und in aller Form bei Pilotoffizier Marquall entschuldigt. Dann kann die Angelegenheit auch ohne höhere Einmischung erledigt werden.« »Es wäre mir ein Vergnügen«, sagte Seekan. Jagdea wandte sich ab und ging zur Tür. »Geschwaderführer?«, rief Seekan. Sie blieb in der Tür stehen und schaute zurück. »Gutes Fliegen«, sagte er. Über dem Lidatal, 15:16 Es war kein verheißungsvoller Beginn für ihren ersten offiziellen Einsatz. Ein strahlender, viel versprechender Tag hatte sich zugezogen, während sie damit beschäftigt gewesen waren, ihre Maschinen in die Luft zu bekommen. In zehntausend Metern, bei lausigen acht Zehnteln Bewölkung und einem noch lausigeren Seitenwind, flogen sie durch das weite Tal des Flusses Lida zu den Bergen. Jagdeas normalerweise schnurrender Donnerkeil, Seriennummer Null-Zwo, flog unruhig und schwerfällig. Zu lange im Bauch eines Flottentransporters, nahm Jagdea an. Die hingebungsvollen Wartungsmannschaften hatten ihr Bestes getan, die Systeme in optimalem Zustand zu halten, aber für regelmäßige Flugzeit gab es keinen Ersatz. Abgesehen vom Flug zum Luftwaffenstützpunkt Theda Süd waren die Donnerkeile der Umbra-Staffel dreieinhalb Monate nicht in der Luft gewesen. Andererseits lag es vielleicht auch an ihr, überlegte sie. Nicht nur Null-Zwo war dreieinhalb Monate nicht in der Luft gewesen. Jagdea kam sich unbeholfen und unfähig vor. Sogar den Start
hatte sie schlampig ausgeführt. Natürlich gab es Simulatoren auf den Transportern und reguläre Sitzungen daran, um auf Draht zu bleiben, aber das war nicht dasselbe, wie es auch nicht dasselbe war, jeden Morgen einmal die Triebwerke jedes Vogels auf dem Flugdeck drehen zu lassen. Gutes Fliegen. Seekans vermutlich ehrlich gemeinte Bemerkung kam ihr jetzt wie ein Unglücksbringer vor. Sie flogen in Einsatzgruppen von vier Maschinen. Bei ihr waren Van Tull, Espere und Marquall. Blansher war mit der zweiten Gruppe ungefähr vierzig Kilometer hinter ihnen, und Asche flog mit der dritten eine ausgedehnte Patrouille über dem Litorale. Im Wesentlichen hatte sich die Umbra-Staffel in drei unabhängige Abfang-Einheiten gespalten. Das war die optimale Größe für Routine-Jagden und Gelegenheitsarbeiten. Wenn mehr als drei oder vier Donnerkeile versuchten, sich dasselbe Stück Himmel zu teilen, wurde es rasch zu eng. Andererseits war dies keine Jagd. Es war ein Funktionstest. Ein kleiner Flug, um sich den Wind durch die Haare sausen zu lassen und Piloten und Maschinen an die hiesigen Verhältnisse zu gewöhnen. Die Umbra-Staffel war eigentlich immer Blitzstrahle geflogen, aber nach der Befreiung Phantines waren sie zu den schwereren Donnerkeilen gewechselt und hatten sie im Luftkrieg auf Urdesh Minor lieben gelernt. Manchmal vermisste Jagdea die lebhafte Leistungskraft des III-IX Blitzstrahl, die berauschende Steig- und Sturzfähigkeit und die Eleganz seiner blitzschnellen Kehren und Kurven. Die Donnerkeile waren fast eineinhalbmal so schwer, und bei niedriger Geschwindigkeit wirkten sie vor allem im Steigflug, als hätten sie kaum die Kraft, ihren massiv gepanzerten Rumpf zu heben. Doch sie waren massiv und robust und konnten Beschuss verkraften, der einen Blitzstrahl wie eine Motte in den Tod trudeln lassen würde. Sie hatten außerdem längere Beine und das Maul voller Geschütze. Wenn der Blitzstrahl eine verspielte im Hinterhalt lauernde Katze war, dann war der Donnerkeil ein ausgewachsenes Carnodon. Blansher hatte einmal gesagt, ein Pilot fliege den Blitzstrahl aus Freude am Fliegen und einen Donnerkeil aus Freude am Töten. Das kam Jagdea sehr treffend vor. Sie schwärmte für ihren Donnerkeil. Er war muskulös, unbezwingbar und ansprechend.
Außer an Tagen wie heute. Das Backbord trieb werk lief einfach nicht sauber. Sie hatte nichts auf der Anzeige, aber sie konnte es spüren, irgendwas im Rhythmus des Triebwerkstons. Sie prüfte den Treibstoff stand. Ungefähr ein Drittel verbraucht, und sie hatten sich gegen Reservetanks entschieden. Sie schaltete das Kom ein. »Umbra Vier-Eins Führer an Vier-Eins Staffel. Lasst mal hören.« »Umbra Drei, alles eins a.« Natürlich war es das. Bei Van Tull war immer alles eins a. »Umbra Fünf, ich komme zurecht, sobald mir wieder eingefallen ist, was die Kontrollen machen.« »Verstanden, Fünf. Ich kenne das Gefühl«, erwiderte Jagdea. »Umbra Acht. Alles klar hier.« Marquall klang immer noch unglücklich. Die dumme Geschichte mit Gettering hatte ihn umgehauen, das Letzte, was ein Neuling an seinem ersten Tag in der Luft wollte. Er hatte versucht, die Sache ins Lächerliche zu ziehen, und gesagt, sein Vogel heiße jetzt Der Schmier, weil Racklae keine Zeit mehr gehabt hatte, mehr zu tun, als sein Nasenkunstwerk mit Grundierung zu übermalen. Aber Jagdea wusste, dass er angeschlagen war. »Frischen wir die Manöver auf, Staffel«, sagte sie. »Acht, Sie übernehmen die Spitze, Fünf und Drei wechseln die Position. Ich mache den Hänger.« Alle bestätigten. Ein kleiner Manövertest, um sie auf Vordermann zu bringen, befand Jagdea, und Marquall technisch gesehen in die Führungsposition zu hieven, tat vielleicht seinem Selbstvertrauen gut. »Auf mein Kommando … drei, zwei, eins … ausführen.« Vierergruppen flogen in Formationen, bei der eine Maschine die Spitze übernahm und von zwei weiteren beiderseits und nach hinten versetzt flankiert wurde. Die vierte, der »Hänger«, flankierte einen der beiden Flügelmänner auf dieselbe Weise, sodass ein asymmetrisches V gebildet wurde. Es war eine hervorragende Gruppenformation, da jeder Pilot Deckung von seinen Kameraden bekam und der Hänger in der Lage war, je nach Erfordernis von einer Seite auf die andere zu wechseln. Gegenwärtig flog Jagdea an der Spitze, Van Tull links und Espere rechts von ihr. Marquall war der Hänger auf Esperes Fünf-Uhr-Position. Auf ihr Kommando wechselten sie die Positionen. Jagdea nahm Schub weg und ließ sich aus der Spitzenposition des V zurückfal-
len. Van Tull rollte hoch nach rechts, Espere tief nach links, bis die beiden Flügelmänner die Positionen getauscht hatten. Marquall ließ sich durchsacken und schoss dann unter dem V durch an die Spitze, bevor er wieder auf normale Fluggeschwindigkeit drosselte und langsam wieder hochzog. Dann passten die beiden Flügelmänner ihre Geschwindigkeit an und reihten sich präzise hinter ihm auf fünf und sieben Uhr ein. Jagdea gab wieder eine Idee mehr Schub und endete hinter Espere auf fünf Uhr. Wie aus dem Lehrbuch. Das Erste, was an diesem Tag wirklich richtig geklappt hatte. »Gute Arbeit, Staffel. Ziemlich glatt. Fliegen wir noch fünf Minuten.« Die Wolkendecke unter ihnen wurde dünner. Sie hatten jetzt vielleicht noch sechs Zehntel Bewölkung, und unter ihnen tauchten dunkle Flecken des fruchtbaren Lidatals auf, ein entfernter Flickenteppich aus Feldern, Bewässerungsnetzen und hydroponischen Anlagen. »Staffelführer?« Das war Van Tull. »Schießen Sie los, Drei.« »Prüfen Sie Ihren Auspex. Ich habe acht oder neun Kontakte unter uns in zwölf Kilometer, südlich und abnehmend.« Und natürlich zeigte Jagdeas Ortungsgerät sieben Echos, die unterhalb von dreitausend Metern nach Nordosten flogen. Nicht acht oder neun, aber das konnte auch daran liegen, dass infolge der Bedingungen zurückkehrende Signale verschluckt wurden. »Umbra Vier-Eins Führer an Einsatzleitung. Kommen, Einsatzleitung.« »Sind auf Empfang, Umbra Vier-Eins Führer.« Jagdea streckte ihre behandschuhte Linke aus und sendete ein Auspex-Bild. »Vier-Eins Führer. Ist da irgendwas im Gange?« »Reichlich, Vier-Eins Führer, aber da nicht.« »Verstanden, Einsatzleitung. Wir sehen uns die Sache mal an.« Jagdea reicherte ihr Luftgemisch mit etwas mehr Sauerstoff an. »Führer an Staffel. Ich sehe mal nach.« Derartige Aufklärungsabstecher waren Aufgabe des Hängers. »Wartet hier und schwenkt drei Strich nach Süden.« Es war keine Zeit, die Formation noch einmal zu mischen, was bedeutete, dass Marquall an der Spitze bleiben würde. Eine gute Idee? Nicht einmal Zeit, sich deswegen
Sorgen zu machen. »Umbra Acht, Sie haben die Spitze. Halten Sie sich zum Eingreifen bereit, falls ich Sie brauche.« »Verstanden, Führer. Geht klar.« Endlich. Ein Hauch von Erregung in der Stimme des Jungen. Gut. Er konnte das vertragen. Außerdem war Van Tull noch da, solide und zuverlässig. Und Espere war ein vollendeter Flügelmann. Jagdea gab den Nachbrennern einen sanften Tritt und rollte weg. Sie spürte die herrliche Kraft des Andrucks, als sie sich auf den Kopf legte und nach links abtauchte. Der lange Sinkflug verlieh ihr Kraft, und sie flog knappe zweitausend km/h, als sie sich den Zielen näherte. Genug Schwung, um durchzustarten, wenn es eigene Flugzeuge waren. Genug Durchschlagskraft, um zum Angriff überzugehen, falls nicht. Fünf Kilometer und abnehmend. Vier. Der Himmel war plötzlich sehr klar, weniger als vier Zehntel Bewölkung. Der große grüne Graben des Lidatals erstreckte sich unter ihr, und zum ersten Mal konnte sie die dunstige Linie des Makanitgebirges sehen. Drei Kilometer. Da waren sie. Immer noch unter ihr, aber beunruhigend rasch näher kommend, weil sie ihr entgegenflogen und sich ihre und Jagdeas Geschwindigkeiten addierten. Neun Maschinen. Im Pulk anstatt in Formation. Bei zwei Kilometern identifizierte sie den Typ. Zyklone. Eine Staffel Zyklone der enothischen Planetaren Streitkräfte. Die deltaflügeligen Zweimotorer waren grau-weiß-scheckig lackiert und flogen stramm nach Süden, wahrscheinlich mit allem, was sie hatten. Was in aller Welt machten sie hier? Waren sie … auf der Flucht? Ein Instinkt ließ Jagdea die roten Sicherheitsabdeckungen ihrer Hauptgeschütze umlegen. »Zyklon-Staffel, Zyklon-Staffel, hier spricht Umbra Vier-Eins Führer …«, sprach sie in ihre Kom-Maske. Doch sie unterbrach sich. Einer der Zyklone am Ende des Pulks erbebte und explodierte. Der kurze Feuerball war treibstoffreich und sandte weiße Rauchfahnen in den klaren Himmel. Die brennenden Trümmer stürzten den Feldern am Boden entgegen.
Etwas Rotes und Hakenförmiges jagte so schnell daran vorbei, dass es schon wieder außer Reichweite gestiegen war, bevor Jagdea aufging, was es war. »Fledermäuse! Fledermäuse! Fledermäuse!«, rief sie ins Kom. Hafen von Theda, 15:20 Sie hatten feiern wollen. Natürlich hatten sie. Der erste Einsatz auf dem neuen Kriegsschauplatz, und noch dazu ein gelungener. Doch Viltry war nicht nach Feiern zumute gewesen. Sie nur nach Hause zu bringen, war schon schwierig genug gewesen. Die letzte halbe Stunde, mit wenig Treibstoff, leerem Bauch und ohne Munition. So exponiert, so verwundbar. Die Einsatzleitung bestand darauf, dass nichts in der feindlichen Luftwaffe das Litorale erreichen könne, aber Viltry hatte auf der letzten Etappe so stark geschwitzt, dass er Flüssigkeit aus seinen Flughandschuhen wringen konnte, nachdem er sie abgestreift hatte. Der Stützpunkt war näher gekommen, Theda Nord. Noch im Anflug auf die Leitlichter hatte er das unbestimmte Gefühl gehabt, dass aus dem Nichts etwas herabstoßen und sie alle töten würde. Der Flugplatz. Der Außenkreis. Überall blaue Flaggen. Schub auf Minimum reduzieren, sodass Gretas massige Gestalt kurz vor dem Abschmieren war. Dann über das Kreuz und den Marodeur ausbalancieren, als er die Vektorschubdüsen schwenkte und vom horizontalen auf den vertikalen Flug wechselte. Ein, zwei leichte Korrekturen, ein langsames Absinken, dann das Aufsetzen. Intakt, am Leben. Der Rest der Staffel landete neben ihnen. Judd und die Jungs hatten bereits eine Taverne in der Nähe des Quartiers vorgemerkt. Sie stiegen aus, laut und von sich eingenommen, und verstreuten Flugausrüstung auf der Landebahn, während sie jubelten und sich abklatschten. »Ich komme später zu euch«, sagte Viltry zu ihnen. »Papierkram.« Er hatte die längste Dusche in der Geschichte des Imperiums der Menschheit genommen und dabei in der stinkenden Betonkabine hinter dem Bereitschaftsraum stumm und nackt unter dem lauwarmen Wasserstrahl gestanden, um dann eine ReserveUniform anzuziehen, die aus seinem Seesack mitzubringen er die
Geistesgegenwart besessen hatte. Er zog seine braune Lederjacke an. Seine Hände zitterten immer noch. Die Mannschaft war schon weg. Viltry fand einen Transporter, der in die Stadtmitte fahren musste, um eine Flottenbesatzung abzuholen, und fuhr mit. Der Fahrer setzte ihn an einer Ecke ab, wo die alte Tempelstraße auf den Fischmarkt stieß. Niemand war unterwegs. Viltry ging nach Norden, weg von den verdunkelten Straßen der Stadt zur Küste. Er konnte das Meer riechen. Er hatte eigentlich keine Ahnung, wo sein Quartier war. Irgendjemand würde es wissen, wenn er so weit war. Die Kais kamen völlig überraschend. Er bog um eine nasskalte Straßenecke und befand sich plötzlich auf einem hellen, windigen freien Platz. Vor sich, hinter einem Eisengeländer, einem verstärkten Uferdamm und einem schmalen Streifen grauen Strandes war das Meer. Niemand war zu sehen, nur ein Lastwagen, der vorbeirumpelte. Er überquerte die breite Straße und erreichte das Geländer. Das Meer faszinierte ihn. Auf Phantine gab es keine Meere, jedenfalls keine flüssigen. Die Sonne sank in den trägen, tiefen Teil des Nachmittags, und der Himmel war gelb. Das endlose Wasser kam ihm träge und langsam vor, wie es in schwerfälligem Rhythmus gegen das verkrustete Ufer brandete. Nah am Ufer bildete es schaumige Wellen, aber weiter draußen bildete es eine wellenförmige Weite wie Waffenmetall, die sich bis zum vagen Horizont erstreckte. Es erinnerte ihn an die Brühe. Drei lange Kais, deren schmiedeeiserne Verzierungen weiß gestrichen waren, erstreckten sich vom Platz über das Wasser. Wenngleich verblichen und heruntergekommen, erkannte Viltry doch, dass sie früher einmal Vergnügungspaläste gewesen waren. Es gab mit Jalousien versperrte Arkaden und Tanzhallen mit abblätternden Plakaten, die für wöchentliche Tanzwettbewerbe und Freizeitveranstaltungen warben. Er war sehr angetan von der Vorstellung, auf eine Brücke aus Eisen und Holz zu treten, die nirgendwohin führte, während unter ihm das Wasser des Meeres schwappte. Er ging eine Weile am Strand entlang, bis er den Eingangsbogen des nächsten Kais erreichte. Eine Tafel lehnte vor dem schmiedeeisernen Tor. »Erfrischungspalast. Tischbedienung, Meerblick«, stand darauf. Das gefiel ihm. Es würde reichen.
Wachsam ging er unter dem eisernen Bogen durch und weiter über den Kai. Das Geräusch des Meeres war jetzt viel lauter. Er konnte die Wellen durch die Ritzen zwischen den Bodendielen sehen. Der Anblick machte ihn schwindlig und aufgeregt, und es half, den Kern der Furcht zu überdecken, den er im Herzen mit sich herumtrug. Das Café lag am Ende des Kais. Alles andere hatte geschlossen und war baufällig. Als er näher kam, konnte er Kaffein und Zuckerwatte riechen. Viltry war noch nie so weit von trockenem Land entfernt gewesen. Er war noch nie über einen Ozean gewandert. Das Café war groß, vielleicht Zeugnis für ehemals große Zeiten, als der Hafen von Theda voller Vergnügungssuchenden gewesen war, die auf der Suche nach Erfrischungen und Meerblick hergekommen waren. Tische bildeten Ringe in dem großen Kreis aus Gitterfenstern. Einige waren besetzt: alte Männer und Frauen in murmelnden Gruppen, ein paar Commonwealth-Soldaten, die müde und blass aussahen. Aus der Küche erklang Musik. Ein netter thracischer Walzer. Viltry setzte sich an einen Fenstertisch und beobachtete noch etwas das Meer. »Was darf es sein?« Er blickte auf. Das Mädchen in dem blaugestreiften Kleid mit Schürze war aus dem Nichts aufgetaucht. Er nahm hastig die Speisekarte zur Hand. »Äh … ein Kännchen Kaffein.« »Etwas zu essen?« Er studierte immer noch die Karte. Kaum etwas ergab einen Sinn. »Ein Schnittchen mit geräuchertem Schi …« »Kein Schinken«, sagte das Mädchen. »Tut mir leid. Auch kein Geflügel.« »Ich bin hungrig«, ging Viltry auf. »Der Lorix ist gut. Mit Brot.« »Dann nehme ich den.« Sie verschwand. Er schaute wieder aufs Meer. Grau, bewegt, immens. Er hatte auch schon solche Himmel gesehen. Das Wetter schlug um. Das Mädchen kehrte mit einem Tablett zurück. Sie lud das Kännchen Kaffein ab, Tasse und Zuckerdose sowie einen Teller mit Brot und einer Speise. Er goss sich den Kaffein ein, als sie
ging, und begutachtete dann das Essen. Es roch schmackhaft, durchaus lecker, aber er wusste nicht, was es war. Oder wie man es aß. Er kostete, fand es aber für seinen Geschmack zu salzig und fleischig. Er schluckte dennoch, ließ den Rest aber übrig. Das Brot war gut, und er aß es stattdessen. »An der Sechzehn sitzt ein komischer Kerl«, verkündete Letrice. »Ein Fremdweltler, würde ich sagen.« Beqa sah hin und hörte auf, den Tresen abzuwischen. »Ich kümmere mich um ihn. Du hast jetzt ohnehin Feierabend, oder?« »Ich habe eine Verabredung«, grinste Letrice. »Mit einem schicken Flieger von den Planetaren Streitkräften. Er heißt Edry. Sieht richtig gut aus.« »Viel Spaß. Tu nichts, was ich nicht auch tun würde.« »Nein danke. Da bliebe nicht mehr viel für mich übrig«, kicherte Letrice, während sie ihre Schürze abnahm. Beqa räumte ein paar Tische ab und ging dann zu dem Fenstertisch. Er war es. Der Fremdweltler mit dem traurigen Gesicht, den sie am Tag zuvor im Templum gesehen hatte. Der Selbstgespräche geführt hatte. Sie hoffte, dass er jetzt vernünftig war. Ihre Schicht näherte sich dem Ende, und damit blieb ihr etwas über eine Stunde Zeit für ein Nickerchen vor der Nachtschicht. »Alles in Ordnung, mein Herr?«, fragte sie. »Ja, sicher. Bestens.« Er blickte nicht auf. Thron, aber seine Miene war wirklich kläglich. »Der Lorix? Nicht Ihr Geschmack?«, fragte sie, während sie das nicht verzehrte Gericht auf ihr Tablett räumte. Er schaute auf und sagte dann: »Bitte? Nein, ich bin sicher, er war ausgezeichnet. Es war Fisch, nicht wahr?« »Ein Schalentier.« Er nickte. »Ich fürchte, ich … ich habe noch niemals Fisch gegessen. Oder ein Schalentier, was immer das ist. Es schmeckt etwas … komisch.« »Sie haben noch nie Fisch gegessen?« »Ich … ich meine, meine Welt … Keine Meere, wissen Sie …« »Ach so. Also sind Sie hungrig?« »Nein, ich habe das Brot gegessen. Ich bin satt.« »Dann ist es ja gut«, sagte sie und räumte den Tisch ab.
Er saß immer noch da und starrte auf das Meer, als ihre Schicht endete und Pollya für die Nachtschicht kam. Die Sonne war untergegangen. Das Meer war so dunkel wie Öl. Er hatte noch eine Tasse Kaffein bestellt und trank ihn langsam, während er auf die wogenden Wellen starrte, wie sie ans Ufer brandeten. Über dem Lidatal, 15:29 Mit feuernden Geschützen fuhr Jagdea zwischen sie, und ihr Donnerkeil zitterte vor Kraft. Sechs Fledermäuse, sämtlich Heuschrecken, die leichtesten und behändesten der Vektorflugzeuge des Erzfeindes, alle rot oder malvenfarben lackiert, saßen dem Rudel Zyklone im Nacken und setzten ihnen zu. Sie waren überall. Zu ihrer Linken sah sie einen weiteren Zyklon explodieren und einen anderen nach links wegkippen und eine dunkle Rauchfahne hinter sich herziehen, da die Maschine in weitem Bogen dem Boden entgegenstürzte. Zwei Heuschrecken glitten unter sie, aber sie hatte die dritte im Fadenkreuz, die abgebremst hatte, um einen weiteren Zyklon aufs Korn zu nehmen. Jagdea drückte auf den Feuerknopf. Null-Zwo ruckte, als die Zwillingslaserkanone in der Nase feuerte. Strahlende Lichtdolche zuckten aus ihrer Maschine und rasten auf die Fledermaus zu. Getroffen, rollte sie herum und taumelte dann seitwärts, um weißen Rauch zu erzeugen, während sie wegkippte und fiel. »Das war die Erste«, knurrte Jagdea in ihre Maske. »Vier-Eins Führer an Staffel, habe Kampf aufgenommen, wiederhole, habe Kampf aufgenommen.« Sie hörte mit halbem Ohr eine Antwort von Marquall, deren Bedeutung sich ihr jedoch entzog, da sie wieder auf den Kopf rollte und sich in eine so enge Kurve legte, dass der Andruck ihre Ohren knacken ließ, um einer anfliegenden Heuschrecke auszuweichen. Sie erhaschte kaum mehr als einen flüchtigen Blick auf sie. Die blinkenden Blitze der Geschützmündungen, verschwommene malvenfarbene Tragflächen. Als sie die Nase wieder hochnahm, mit so viel Schub wie eben möglich, sah sie zwei Zyklone vorbeihuschen, denen eine Heu-
schrecke im Nacken saß. Alle drei waren weniger als eine Sekunde in ihrem Blickfeld. Kein Flugzeug der Umbra-Staffel war bei diesem Einsatz mit Raketenwaffen bestückt, also keine Lenkraketen. Jagdea musste sich ausschließlich auf die starr angebrachten Bordgeschütze verlassen. Sie riss die Nase herum und das Ruder nach rechts und legte die schwere Maschine in eine Kurve. Der Horizont kippte hin und her. Ein Zyklon flog unter ihr durch, der sporadisch braunen Qualm spie. Die Heuschrecke war bereits außer Sicht, aber da war bereits die nächste, rot wie Blut, die auf die angeschossene enothische Maschine losging. Sie ließ einen weiteren steilen Sturzflug folgen. Die Triebwerke kreischten, und der Andruck presste ihr die Maske ins Gesicht und ließ sie schwarze Flecken sehen. Sie hatte die Heuschrecke einen Moment im Visier. Dann glitt sie mit ihren Reaktordüsen seitwärts, ein nicht-ballistisches Manöver zur Seite, aber ihr Instinkt hatte sie auf das Manöver vorbereitet und ließ sie kompensieren. Es war eine reine Bauchsache, dass sie es richtig machte: Die Heuschrecke war so geflogen, wie sie es auch getan hätte. Jagdea gab Laserschüsse auf sie ab und traf etwas, weil ihr plötzlich schwarzer Rauch und Tragflächenfetzen entgegenflogen. Die Heuschrecke verschwand, dann machte Jagdea sie wieder aus, als sie eine Rolle flog. Die Heuschrecke war nach Osten abgebogen. Würde sie abstürzen oder floh sie? Sie konnte sich nicht vergewissern. Die alte, vorrangige Regel: Bleib nicht hinter einem Ziel. Sie legte sich wieder in eine Kurve und ging in einen kurzen Steigflug, der sie zwischen zwei flüchtende Zyklone durchfliegen ließ. Ihr Auspex fing an zu blöken. Jemand hatte sie in der Zielerfassung. Sie rollte und reckte den Hals rückwärts über die linke Schulter, dann über die rechte. Wo war sie? Laserschüsse zuckten an ihrer Backbordseite vorbei, und ihre Maschine bockte. Plötzlich war ihre linke Tragfläche mit schwarzen Brandmalen übersät. Sie rollte wieder und flog eine Kurve. Die Zielerfassung hielt noch. Mehr Schüsse zuckten rechts an ihr vorbei. Sie kippte die Tragflächen an, nahm Schub weg und öffnete die Reaktordüsen, sodass sie beinahe über End wendete. Die Heuschrecke schoss an ihr vorbei. Sie sah die knochenweißen Abschussmarkierungen unter der Kanzelumrandung.
Dreitausend Meter über ihr begann Marquall seinen Sturzflug, indem er auf die Backbordtragfläche abkippte und dabei durch die Wolkendecke auf die unter ihm kreisenden Maschinen schaute. Van Tull und Espere folgten ihm. »Runter und drauf«, wies Marquall an. Gott-Imperator, aber er hatte sein ganzes Leben darauf gewartet, das ernsthaft zu sagen. »Auf dein Zeichen, Acht«, erwiderte Van Tull gelassen. »Sag nur wann«, fügte Espere hinzu. »Abwärts in drei … zwei … eins … runter!« Die drei Donnerkeile stürzten in die Tiefe und nahmen dabei Geschwindigkeit auf. Abfang-Sturzflug. Marquall konnte Jagdea und zwei der Fledermäuse sehen. Die anderen Maschinen waren einheimische Flugzeuge mit Propellerantrieb. Er näherte sich ihnen so schnell … Die Geschütze! Thron der Erde, in seiner Aufregung hätte er fast vergessen, die Geschütze freizuschalten. Er legte die Schutzabdeckung um. Da war eine Fledermaus, die sich nach links unter seiner Tragfläche durch wegschlich. Sicher hatten sie die drei Donnerkeile auf sie herabstürzen sehen? Wen störte es? Er hatte ein Ziel erfasst und drückte ab. Seine Maschine erbebte bei der Entladung. Marquall fluchte laut. Er hatte eigentlich mit der Autokanone feuern wollen, aber der Wählschalter stand auf Laser. Er hatte beinahe seine halbe Batteriekapazität mit einer Salve verschossen und nicht einmal etwas getroffen. Obwohl … Da drüben, ein Zyklon. Der abschmierte und dabei auseinanderfiel und Feuer spie. Marquall blinzelte, während ihm unter seiner Maske der Schweiß ausbrach. Scheiße, nein! Sag bitte, dass ich das nicht war! Bitte! »Acht! Hast du eine Fehlfunktion? Marquall?«, explodierte Van Tulls Stimme aus den Lautsprechern. Marquall wurde aus einer Trance gerissen. Er hatte den Zyklon nur ein oder zwei Sekunden angestarrt, aber das war mehr als genug. Sein Sturzflug hatte ihn durch die Kampfebene getragen. Er hatte sich erbärmlich verschätzt. »Alles klar, alles klar!«, brüllte er und riss instinktiv am Steuerknüppel. Ein Anfänger-Fehler. Er ging viel zu hart aus dem Sturzflug heraus und verlor das aufgenommene Tempo, da seine Ma-
schine sich mühte, wieder an Höhe zu gewinnen. Seine Fluggeschwindigkeit sank auf ein Kriechen. »Du dämlicher Idiot!«, rief er laut. »Acht? Wiederholen?« »Alles klar bei mir!«, schnauzte er, indem er sich in eine weite Kurve legte, um wieder etwas mehr Geschwindigkeit aufzunehmen. Praktisch sofort flog vor ihm eine Heuschrecke vorbei. Er fuhr zusammen, feuerte hektisch und verfehlte. Schillernde Laserstrahlen zuckten vor ihm ins Leere. Ein Ton erklang. Die Waffenbatterien waren verbraucht. Er hatte es gerade wieder getan. Er hatte nicht umgewählt, und jetzt waren seine Primärwaffen leer geschossen und nutzlos. Alle dreißig Schüsse in zwei erfolglosen Salven verbraucht. Jagdea hatte hochgeschaut, als sich ihre drei Flügelmänner in den Kampf stürzten. Van Tulls Maschine raste an zwei Uhr über sie hinweg und beharkte eine hereindrehende Heuschrecke. Die Fledermaus explodierte in einem Feuerball, und Van Tulls Donnerkeil rollte durch das Feuer, während der Sog der Maschine Flammen und Trümmer in einer kuriosen Kette hinter sich ausspie. Espere flog ein Bilderbuchmanöver, aber sein auserwähltes Ziel schwenkte im letzten Moment weg und setzte sich zur Seite ab. Espere richtete die Maschine sauber aus, täuschte rechts an und rollte dann nach links, um eine andere Fledermaus zu verfolgen. Jagdea wusste nicht recht, was mit Marquall los war. Der Junge war herangeprescht, als habe er Feuer im Hintern, und hatte dann eine lächerliche Menge an Laserenergie verpulvert. Anfänger-Nerven? Vielleicht. Vielleicht erklärte das auch, warum er zu tief geflogen und dann all sein Tempo im schlechtesten Abfangmanöver verbraucht hatte, das sie außerhalb der Flugschule je gesehen hatte. Sie wollte abbrechen und ihm Deckung geben, aber die Heuschrecke war wieder hinter ihr und bekam sie immer wieder kurz in die Zielerfassung, während sie wilde Zickzackmanöver flog. »Vier-Eins Führer an Umbra Fünf.« »Kommen, Führer!« »Espere. Geben Sie dem Jungen Deckung, um Throns willen!« »Bin schon dabei!«
Espere legte sich in eine Kurve und raste zu Umbra Acht, der sich hin und her wälzte und zaghafte Ausweichmanöver flog. »Acht, hier ist fünf. Alles in Ordnung?« »Ja, alles in … ja.« »Acht, hast du eine Waffen-Fehlfunktion?« »Negativ, Fünf.« »Du hast gerade den Himmel mit deiner kompletten Batterie durchlöchert.« »Negativ, negativ, alles klar bei mir.« Espere schüttelte den Kopf. Er war selbst angespannt. Sehr angespannt, und das lag nicht nur an dem Luftkampf. Als einziger Pilot der Umbra-Staffel war Pers Espere mit der Umstellung auf die Donnerkeile nicht gut zurechtgekommen. Er vermisste seinen alten Blitzstrahl mehr, als er erklären konnte. Die anderen saßen im Bereitschaftsraum, lobten ihre Donnerkeile und redeten von ihnen, als seien sie Geliebte oder Ehepartner. Espere empfand ganz einfach nicht so. Seine Maschine, Seriennummer NeunNeun, passte nicht zu ihm. Es war eine alte Maschine, ein Veteranenvogel, der von den Mechanikertrupps liebevoll gewartet wurde. Espere wusste nicht, ob es ganz allgemein die Donnerkeile waren, die etwas gegen ihn hatten, oder nur Neun-Neun. Er kämpfte beständig mit ihr und musste sie ständig zwingen zu tun, was er wollte. Mittlerweile war es so weit gekommen, dass er die Aussicht auf jeden Einsatz hasste. In einem Imperium, wo fleißig gewartete Kriegsmaschinen oft zehn-, zwölf-, fünfzehnmal älter als ihre Piloten oder Fahrer waren, gab es reichlich Geschichten über spezielle Flugzeuge oder Panzer, die verhext waren. Verfluchte Maschinen, die ihren Benutzern Schwierigkeiten bereiteten, bis sie selbst zerstört wurden. Seriennummer Neun-Neun hatte eine lange, uneinheitliche Geschichte. Sechs Piloten tot oder an den Kontrollen verstümmelt, zwei schlechte Landungen, drei größere Überholungen. Espere hatte einmal Hemmen, seinen Chefmechaniker, gefragt, ob Neun-Neun verhext sei. Hemmen hatte gelacht, nicht wirklich beruhigend, und verneint. Am folgenden Morgen hatte es einen Unfall beim Auftanken gegeben. Ein noch unerfahrener Mechaniker war so schlimm verbrannt worden, dass er die Haut seiner Hände auf Neun-Neuns Rumpf gelassen hatte. Er versuchte nicht daran zu denken, obwohl er vier Abschüsse in seinem alten Blitzstrahl und noch keinen in dieser Maschine
erzielt hatte. Bei der Rückkehr waren beständig Einschusslöcher zu flicken. Espere setzte sich neben Marqualls Maschine. Espere war ein erfahrener Flügelmann. Er wusste, wie man Deckung flog und einem Pilotenkameraden den Rücken freihielt. Deswegen hatte Jagdea ihm diese Aufgabe übertragen, und die würde er auch erfüllen. Aber er war angespannt. Marquall beunruhigte ihn mit seinen Possen. Plötzlich sah er, dass eine Kontrollleuchte ein Absinken des Öldrucks anzeigte. Was war nun los? Hatte er einen Treffer abbekommen, von dem er nichts wusste? Bleib bei der Sache, Vers. Bleib bei der Sache. Der Junge brauchte alle Hilfe, die er ihm geben konnte. »Kehrt Marsch, Acht. Mal sehen, ob wir hier nicht doch noch was ausrichten können.« Er schaute auf die Maschine neben sich und sah Marqualls rot behelmten Kopf eifrig nicken, während sein Daumen hochkam. Sonnenlicht glitzerte auf seiner Kanzel. Sonnenlicht glitzerte auch noch auf etwas anderem. »Ausbrechen! Ausbrechen! Ausbrechen!«, rief Espere. Die beiden Donnerkeile scherten abrupt auseinander, als ein malvenfarbenes Flugzeug vorbeischoss. Esperes Schadensmelder fing an zu piepen. »Acht? Wo bist du?«, keuchte Espere, der mit dem Steuerknüppel rang, da er versuchte, das Flugzeug wieder auszurichten. »Ich kann sie nicht sehen! Ich kann sie nicht sehen!« Espere sah Marquall durchaus. Der Junge war rechts über ihm und ging in einen wirklich üblen Steigflug über. Espere gab Schub und kletterte. »Nicht so eng, Acht! Du schmierst ab, wenn du so enge Kurven fliegst!« Stille. Das horrende Gewicht des hohen Andrucks hinderte den Jungen daran zu antworten. Nicht ohnmächtig werden … nicht ohnmächtig werden …, flehte Espere. Scheiße! Da war die Fledermaus wieder und stürzte sich von Osten mit flammenden Kanonen auf ihn. Marqualls Keil erbebte, als er getroffen wurde, aber der Einschlag schien die Maschine auszurichten. Oder ihn aufzuwecken. Espere schaltete die Nachbrenner zu und wendete in einer engen Linkskurve mit Rolle, um dann mit sanfter Kurskorrektur mit dem Bug der Heuschrecke zu folgen, als sie an ihm vorbeiraste.
Er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, dass der Kleine auf seinem Jungfernflug getötet wurde. Espere eröffnete das Feuer. Autokanonen. Ein sauberer Feuerstoß in einem guten Winkel. Die Heuschrecke erbebte, als sie seitlich getroffen wurde, und brach dann nach links aus. Aus dem Nichts kam noch eine Fledermaus angeschossen. Espere legte sich wieder in eine enge Kurve, um Marqualls Vogel mit seiner eigenen Maschine abzuschirmen, da er die Nase in Richtung des Angreifers senkte: Marquall sah ungefähr eine Sekunde zu spät, was vorging. Esperes Flugzeug erbebte heftig. Stücke der Panzerung wurden abgesprengt, ein Teil des Ruders, ein Teil von einer Triebwerksdüse. Die Kanzel splitterte, blieb aber auf der Maschine. Die Heuschrecke raste wie ein Komet mit weit über 500 km/h unter ihnen beiden durch. »Umbra Fünf! Umbra Fünf! Alles in Ordnung?« Umbra Fünf wackelte und sonderte grauen Rauch ab. »Umbra Fünf?« »Alles in Ordnung«, antwortete Esperes Stimme. »Alles in Ordnung.« Espere war getroffen worden, dessen war sich Jagdea ziemlich sicher. Während sie mit der Heuschrecke im Nacken einen wilden Zickzackkurs steuerte, sah sie, wie Espere rauchend abdrehte. Wo war er jetzt? Unmöglich zu erkennen. Sie kippte die Flügel an, und die Welt drehte sich. Die Fledermaus saß ihr immer noch im Nacken. Sie legte sich in eine enge Kurve. Plötzlich jaulte die Kollisionsüberwachung im Auspex. Eine Zyklon des Commonwealth kreuzte ihre Flugbahn. Jagdea rammte den Steuerknüppel nach vorn, um ihm auszuweichen, und glitt unter dem Deltaflügler durch. Ihre Triebwerke heulten, als der Donnerkeil in den Sturzflug überging. Der Boden raste ihr entgegen, die verschnörkelte Linie des Lida, die quadratischen Felder entlang des Ufers und die hydroponischen Anlagen. Es würde sehr schwierig sein, diesen Sturzflug noch abzufangen. Wieder jaulte die Warnung vor gegnerischer Zielerfassung. Also gut, noch schwieriger. Die Fledermaus saß ihr weiterhin im Nacken und folgte ihr nach unten.
Beim Abfangen des Sturzflugs musste sie das Drei- bis Vierfache ihres Gewichts aushalten. Das war möglich, wenn der Pilot dafür gerüstet war. Sie spannte Rumpf und Beine an, die empfohlene Haltung dafür, und riss am Steuerknüppel. Und da war der Andruck. Peng! Sie wog bereits tausend Kilo und spürte, wie Herz und Lunge auf ihr Zwerchfell drückten. Flecken vor den Augen. Der Anfang des Tunnelblicks. Ihre Haltung half ihr dabei, das Blut im Kopf zu behalten, sodass sie nicht ohnmächtig wurde. Bei fünfzig Metern hatte sie die Maschine abgefangen, so tief über den Bewässerungskanälen, dass ihr Flugzeug eine Bugwelle aus Gischt erzeugte. Sie sah Wasserbüffel, die über ein Feld flüchteten. Schwenk nach rechts, um dem Turm einer Pumpenstation auszuweichen, dann wieder nach links. Der Sog ihres Vorbeiflugs riss die Plastekabdeckung von einem Wasserrübenfeld. Die Fledermaus war immer noch auf sechs Uhr. Und hatte sie in der Zielerfassung. Ping! Ping! Ping! Sie öffnete die Bremsklappen, und ihr Sicherheitsgeschirr riss sie in den Sitz zurück. Die Fledermaus raste über sie hinweg, legte sich sofort in eine Kurve und zog verzweifelt hoch. Sie kompensierte das Manöver und beharkte die Heuschrecke mit drei Salven aus ihren Laserkanonen. Die Heuschrecke schwenkte nach backbord, scheinbar unbeschädigt, um dann plötzlich kopfüber abwärts zu rasen und sich mit solcher Wucht mitten in ein hydroponisches Floß zu bohren, dass die Flutwelle des Einschlags über die Grenzen der Felder hinausbrandete. Jagdea schwenkte nach Süden und zog langsam hoch, während sich aus dem Ackerland hinter ihr eine Rauchsäule in den Himmel schraubte. »Führer, sind Sie noch bei uns?«, sendete Van Tull. »Eins a«, erwiderte sie. »Umbra Fünf, alles in Ordnung?« »Bestens«, erwiderte Espere. Die restlichen Heuschrecken waren geflohen. Jagdea ließ VierEins wenden, um die restlichen Zyklone nach Hause zu eskortieren. Sie hatte zwei Feindmaschinen abgeschossen, eine dritte möglicherweise, und ihre Abschüsse damit insgesamt auf neunzehn erhöht. Van Tull konnte einen Abschuss für sich verbuchen und war damit bei elf angelangt. Gar nicht so schlecht.
Theda, LWS Süd, 16:59 Die Einsatzleitung ließ blaue Flaggen schwenken und die Leitlichter einschalten. Der Tag wich langsam aus dem Himmel, was die Wolkendecke so malvenfarben färbte wie die Lackierung der Heuschrecken. Asches Gruppe war schon lange wieder zu Hause, und Blansher war fünfzehn Minuten vor ihnen gelandet. Als Jagdea herunterkam, sah sie die anmutigen elfenbeinfarbenen Maschinen der Apostel aufgebockt dastehen, auf deren Nasen die geweihartigen Antennen für Nachtkämpfe sprossen. Alle anderen Staffeln der Flotte waren irgendwo in der Luft. Ein geschäftiger Tag. »Achtung, Einsatzleitung«, sagte sie bei der Landung. »Entgegen der Unterweisung geht die Reichweite des Erzfeindes über das Makanitgebirge hinaus.« Sie hatte diese Nachricht bereits viermal gesendet und kaum eine Bestätigung erhalten. Die Fledermäuse waren bereits über die Berge hinaus. Sie hatten viel weniger Zeit, als Ornoff vermutet hatte. »Einsatzleitung. Bitte bestätigen Sie mein Signal.« »Bestätigt, Umbra Führer. Es wurde bereits zum taktischen Oberkommando weitergeleitet.« In der zunehmenden Dunkelheit verließ sie die grell erleuchtete Landebahn und setzte ihren Keil mit gedrehten. Düsen und kaum merklichem Ruck auf seinen Standplatz auf. Das Bodenpersonal kam angelaufen. Marquall landete und zitterte dabei in einer Mischung aus Furcht und Entzücken. Er hatte überlebt, aber Gott-Imperator, er hatte seinen Einsatz versaut. Er würde sich einiges anhören müssen, das war ihm klar. Van Tulls Vogel tauchte über ihm auf und sank dann auf vertikal gestellten rauchenden Düsen perfekt herab. Espere hatte bereits aufgesetzt. Marquall ignorierte Racklae und die Mechaniker, sprang aus seinem Keil und lief zu Esperes Maschine. Er wurde immer langsamer, je näher er kam. Die Flanke sah übel aus, die Panzerung war verbeult und stellenweise abgeplatzt. Ruder und Tragflächenkante waren mit großen, schwarz versengten Löchern übersät. Ein Mechaniker lief zu dem Vogel, doch Marquall – schob ihn beiseite, sprang auf die Tragfläche und zerrte das gesplitterte Kanzeldach selbst nach hinten.
»Espere? Espere, alles in Ordnung mit dir?« Pers Espere sah ihn an. Die Kanzel-Panzerung war zersplittert. Jedes Instrument war gesprungen. Esperes linker Arm war zerfetzt, der rechte ein geschmolzener Klumpen, durch die Hitze der Laserstrahlen mit dem Steuerknüppel verschmolzen. Seine linke Gesichtshälfte war ein Nadelkissen aus Kanzelsplittern. »Alles bestens«, sagte Espere. TAG 254 Theda, LWS Süd, 04:10 Kaminskys Dienst begann erst wieder um sechs, aber die Vögel störten seinen Schlaf. Er hatte gelernt, bei gleichmäßigem Motorenlärm zu schlafen, bei dem Krawall, der nun seit neun Monaten jede Nacht herrschte. Was seinen Schlaf jetzt störte, waren die neuen Geräusche, welche die Maschinen der Flotte mitgebracht hatten: das schrille Heulen und ohrenbetäubende Tosen der kommenden und gehenden Vektorschubmaschinen. Er war nicht an diese Geräusche gewöhnt, und sein schlafendes Ich hatte noch nicht gelernt, sie auszublenden. Und, Thron, waren sie nicht aktiv? Kaminsky hatte mindestens drei Einsätze seit Anbruch der Nacht gezählt, und außerdem hatte auch noch gegen Mitternacht ein Höllenlärm geherrscht, der mit Sicherheit auf das Eintreffen einer neuen Staffel zurückzuführen war. Die Situation spitzte sich langsam zu. Kaminsky hatte Gerüchte gehört – vom Freund eines Freundes im Fahrzeugpark, der einen Kerl kannte, der mit einem Flottenmechaniker geredet hatte –, Gerüchte, dass bereits ein paar Luftkämpfe diesseits des Gebirges stattgefunden hatten. Am Tag zuvor war etwas über dem Lidatal abgegangen. Jemand anders sagte, sie hätten Fledermäuse über der Halbinsel gesichtet. Das war vermutlich Schwachsinn. Kaminsky hoffte es, denn wenn es stimmte, war das Ende tatsächlich nah. Aber das mit dem Lidatal war möglich. Und schlimm genug. Die Fledermäuse kamen langsam in Reichweite. Vielleicht konnten sie jetzt nicht einmal mehr die vielgerühmten Staffeln der Imperiumsflotte aufhalten.
Immerhin versuchten sie es. Kaminsky verließ seine Koje im Schlafsaal des Munitorums und ging durch den spärlich erleuchteten und brandgeschützten Flur zum Sektionsposten. Die fünf Burschen, die angeblich Bereitschaft hatten, schliefen auf ihren Stühlen. Der Düsenlärm hatte sie nicht geweckt. Sie waren allesamt waschechte Munitorumsfahrer und nahmen die subtilen Veränderungen im Lärm über dem Stützpunkt nicht zur Kenntnis. Kaminsky bediente sich von dem Kaffein in der Kanne auf der Warmhalteplatte und ging dann nach draußen zum Wagenpark. Es war kalt und die Nacht noch pechschwarz. Mehrere TechPriester arbeiteten an einigen Transportern und erleuchteten eine Ecke des Werkhofs mit dem unsteten Schein ihrer Schweißgeräte und Räucherpfännchen. Während er seinen Kaffein trank, schlenderte Kaminsky die Rampe empor, bis er den Stützpunkt überblicken konnte. Leitlichter waren soeben eingeschaltet worden und erleuchteten die Nacht mit ihrem grünen Schein. Darin konnte er im Westen eine Reihe Donnerkeile unter Gitterzelten sehen. Seine Vermutung war richtig gewesen. Am Tag zuvor waren sie noch nicht da gewesen. Eine neu eingetroffene Staffel. Weitere Verstärkungen. Von Süden fegte ein Tosen über ihn hinweg, und als er sich umdrehte, sah er eine weitere Staffel kommen, die von einem Einsatz zurückkehrte. Ebenfalls Donnerkeile. Ihm gefiel das Aussehen dieser massigen Bestien, und er fragte sich, wie sie sich wohl flogen. Die zwölf Maschinen kamen niedrig herein und bremsten ihre Vorwärtsbewegung ab, bis sie auf der Stelle schwebten, als sie ihre Vektorschubdüsen umstellten, und langsam auf die ihnen zugewiesenen Landefelder sanken. Das laute vereinte Heulen ihrer Triebwerke ließ sein Zwerchfell erbeben. »Guten Morgen, Jungs!«, rief er ihnen zu. »Viele Abschüsse?« Er prostete den entfernten Flugzeugen mit seiner Tasse zu. Er hatte das ganze Drum und Dran noch so deutlich vor Augen: den Heimflug mit leeren Geschützen auf dem letzten Tropfen Treibstoff, das berauschende Gefühl des lebend überstandenen Luftkampfes noch in den Eingeweiden. Als sich das Heulen der mächtigen Triebwerke langsam legte, drehte Kaminsky sich um, da er plötzlich Stimmen im Hof hörte. Er ging den Weg zurück und sah Senior Pincheon im Gespräch mit einem Flotten-Flieger.
Pincheon wirkte nervös, was nie gut für alle anderen war. Der Senior bemerkte Kaminsky und rief ihn an. »Ich brauche einen Fahrer!« »Bereit und willens, Senior«, erwiderte Kaminsky. Seine Schicht hatte zwar noch nicht begonnen, aber er wusste, dass er jetzt nicht mehr würde schlafen können. Eine kleine Ablenkung kam ihm da gerade recht. Außerdem wollte er vermeiden, dass Pincheon in den Sektionsposten platzte und die Mitglieder der Bereitschaft schlafend antraf. Die armen Schweine würden Strafschichten bis zum Jüngsten Tag abreißen müssen. Der natürlich nur noch ein paar Tage entfernt sein mochte … »Ich übernehme das«, sagte er. »Gut. Eine Transportfahrt. Beförderung in die Altstadt und zurück. Füllen Sie das aus.« Kaminsky nahm die dargereichte Datentafel und gab seine Arbeitsnummer und die anderen Einzelheiten ein. Er schrieb so rasch und ordentlich, wie seine Hand ihm gestattete. »Ich muss in eine Bar namens Hydra«, sagte der FlottenFlieger. »Kennen Sie die?« Kaminsky blickte beim Klang der Stimme auf und sah zu seiner Überraschung, dass der hochgewachsene Flieger weiblich war. Es war die Frau, deren Haufen er zwei Tage zuvor gefahren hatte. »Ja, Mamzel … Verzeihung, Geschwaderführer. Die kenne ich.« »Gut«, sagte sie. Sie nickte Pincheon dankend zu und ging mit Kaminsky zu dessen Transporter. »Wollen Sie im Führerhaus mitfahren?«, fragte er. »Danke. Ja.« Er öffnete ihr die Tür des Führerhauses, und sie stieg ein. Dann ging er zur Fahrerseite, schwang sich hinter das Steuer und ließ den Motor an. Mit hell strahlenden Scheinwerfern verließen sie den Stützpunkt und fuhren über die leere Schnellstraße in die Stadt. Sie sagte nichts, sondern starrte nur auf die abgeschirmten Lichter des Stützpunkts, die vorbeihuschten und dann hinter ihnen zurückblieben. Es war ein komisches Gefühl, Gesellschaft im Führerhaus zu haben. Normalerweise fuhr er Gruppen herum, die hinten auf der Ladefläche saßen. Das Führerhaus war sein privater Bereich. Plötzlich war ihm das Durcheinander gebrauchter Einwegbecher im Fußraum peinlich, ebenso wie die Tatsache, dass jemand se-
hen konnte, wie er seine Handprothese um die Lenkradspeiche schließen musste. Aber es wäre unhöflich gewesen, von ihr zu verlangen, sich hinten auf die Ladefläche zu begeben. Schließlich räusperte er sich unbehaglich und sagte: »Die Hydra-Bar, sagten Sie?« »Ja. In der Voldneystraße.« »Ja.« Erkannte sie ihn wieder? Ein Teil von ihm nahm an, nein. Nur einer von vielen Munitorums-Leuten. Der Rest von ihm war empört. Mit einem Gesicht wie seinem? Der Gedanke ließ ihn lächeln. Plötzliche Eitelkeit in Bezug auf dein Aussehen, August? »Ist irgendwas, Fahrer?«, fragte sie. »Nein, Geschwaderführer«, sagte er. »Ich soll vor der HydraBar auf Sie warten, ist das richtig?« »Ja. Es dürfte nicht länger als fünf Minuten dauern.« »Dann gehen Sie nicht aus, um etwas zu begießen?« »Nein. Warum?« »Ach, Sie wissen schon. Ein Flieger, der von einem Einsatz zurückkommt und sich abreagieren muss. Die Hydra-Bar ist beliebt bei Piloten.« »Das habe ich auch gehört.« Worum geht es denn dann?, wollte er fragen. Aber er verkniff es sich im letzten Moment. Das stand ihm nicht zu. Er gehörte nicht mehr zu ihnen, und mit Unverschämtheiten würde er nicht durchkommen. Er gehörte jetzt zum Munitorum. Als spüre sie seine Neugier, sagte sie plötzlich: »Ich suche einen NZDE.« »Ah«, sagte er. Er lächelte, als er verstand. Er fühlte sich geschmeichelt, dass sie sich überhaupt auf ein Gespräch einließ. Sie sagte nichts mehr, bis sie vor der Hydra-Bar vorfuhren. »Warten Sie hier«, wies sie ihn an und sprang aus dem Führerhaus. Fünf Minuten verstrichen. Zehn. Ein Trio betrunkener Soldaten des Commonwealth taumelte aus der Bar wie ein sechsbeiniges Untier und torkelte singend davon. Es war dunkel. Nur die Lichter seines Transporters, das Neonschild der Bar und ein paar zu der schmalen Straße schauende Fenster spendeten Licht.
Er sah sie wieder herauskommen, allein. Sie schaute verärgert rechts und links die Straße entlang. Sie trat neben die Fahrerseite des Transporters, und er kurbelte das Fenster herunter. »Nicht da?« »Nein. Kennen Sie sonst noch einen Laden, der infrage kommt?« »Einige. Steigen Sie ein.« Er fuhr über den Gillehalplatz und nahm, weil niemand in der Nähe war, eine Abkürzung, indem er gegen die Fahrtrichtung durch eine Einbahnstraße zu den steil abfallenden Straßen von Zagerhanz fuhr. Die Gänge krachten, als er auf dem Steilstück herunterschaltete. »Wohin fahren wir?«, fragte sie. »Hier gibt es noch ein paar Läden. Das Schlaflied und das Mittwinter. Die haben oft die ganze Nacht geöffnet.« Sie nickte. »Wie lange ist er schon verschwunden?« »Seit gestern Abend, 22:00 Uhr.« »Und Sie wollen es nicht offiziell machen?« »Nein, ich … Nein.« »Wie heißen Sie?«, fragte er. »Jagdea«, sagte sie widerstrebend. Er wartete auf sie vor dem Schlaflied und dem Mittwinter, aber aus beiden kam sie alleine zurück. »Noch eine letzte Idee. Es gibt da einen Laden am Großen Kanal.« Er fuhr den Laster gekonnt durch die schmalen Straßen der Altstadt zurück. Mittlerweile lag ein winziger Anflug von Morgengrauen in der Luft. Als sie an dem Laden ankamen, stellte er den Motor ab und stieg mit ihr aus. »Sie können im Wagen bleiben, Fahrer.« Kaminsky schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht, Geschwaderführer Jagdea. Ich muss Sie begleiten.« »Warum?« »Das Zara ist eine uralte Kaschemme. Keine Bar. Frauen sind nur in Begleitung männlicher Kunden zugelassen.« Sie starrte ihn an. »Es stimmt«, sagte er. »Vielleicht … vielleicht ist Ihr NZDE deswegen hierhergekommen.«
Gemeinsam gingen sie zu einer Tür in eisernen Angeln, zu der drei kleine Stufen von der Straße herabführten. Kaminsky klopfte, und die Tür öffnete sich. Der Türsteher war ein massiger Ingeburger, dessen Augen in tiefen, fleischigen Höhlen lagen. Er betrachtete sie von oben bis unten und winkte sie dann durch. Die Kaschemme war fast leer. Einige Stühle waren bereits hochgeklappt. Ein halbes Dutzend Commonwealth-Flieger, alle männlich, spielten an einem Ecktisch Karten. Eine gähnende Kellnerin brachte ihnen gerade eine neue Flasche Joiliq. Zwei Flieger der Flotte saßen in einer Nische und redeten gedämpft, aber angeregt über irgendetwas. Ein paar andere Gäste saßen für sich allein oder spielten mit ihrem letzten Wechselgeld an Glücksautomaten. »Ist er da?«, flüsterte Kaminsky. »Das ist er. An der Bar.« An der Bar saß ein Junge. Von der gut aussehenden Sorte, ging Kaminsky auf. Er schob den Gedanken beiseite. Jeder von den Kerlen in der Kaschemme war gut aussehend verglichen mit ihm. Trotzdem, dieser Junge war besonders attraktiv. Dunkelhaarig, hellhäutig, hochgewachsen … eine nicht zu übersehende Verwandtschaft mit den Genen, denen auch der umwerfend aussehende Geschwaderführer Jagdea seine Existenz verdankte. Der Junge war sehr betrunken. Ein müder Barmann spülte ein Glas und beobachtete mit entsetzter Faszination, wie der Junge seinen Mund mit einem Schnapsglas zu finden versuchte. Er verfehlte und leerte den restlichen Inhalt auf sein Hemd, um das Glas dann wieder auf den Marmortresen zu stellen. Er stieß es mit dem Zeigefinger an. »Nochein.« Der Barmann schüttelte den Kopf. »Ach, um Throns will … willen. Nochein, mehr will’ch gar nich.« »Nein«, sagte der Barmann. »Zeit, nach Hause zu gehen, Vander«, sagte Jagdea. Der Junge sah sie an, blinzelte und schüttelte den Kopf. »Doch, Vander. Kommen Sie jetzt mit, dann können wir die Angelegenheit vergessen.« »Nein. Nein. Nein-nein. Ich bin erledigt.« »Sie sind betrunken, aber Sie sind nicht erledigt. Kommen Sie. Ich habe einen Wagen.«
Der Junge – Vander – fixierte sie mit plötzlich sondierendem Blick. »Espere!«, fauchte er. »Ist im Lazarett. Sie flicken ihn zusammen.« »Espere. Er wird … wird nie wieder fliegen.« »Nein, das wird er nicht. Aber nicht Ihretwegen.« »Das verdankter mir.« »Nein, tut er nicht.« »Doooch! Doch. Er verdankt’s mir. Er verdankt’s mir. Ich bin schuld. Ich bin’s. Ich. Ich hab’s versaut.« »Vielleicht haben Sie das Vander. Vielleicht nicht. Niemand gibt Ihnen die Schuld für das, was mit Pers passiert ist.« »Hab auch ‘n Zkl … Zyko … Zyklon abgeschossen.« »Was?« Der Junge machte achselzuckend einige Gesten. »HabnZyklonabgeschossen. Abgeschossen. Zyklon abgeschossen. Hab das verdammte Ding in Stücke geballert wie …« »Nein, Vander. Wir sind die Aufnahmen der Geschützkamera durchgegangen. Der Zyklon wurde von einer Fledermaus abgeschossen. Nicht von Ihnen.« »Ja?« »Ja. Nicht von Ihnen.« »Hmm. Dasissdochwas.« »Ja, das ist es. Und jetzt kommen Sie, Pilot. Stehen Sie auf. Wir gehen jetzt.« Vander schüttelte den Kopf. »Espere …«, murmelte er. Jagdea ging einen Schritt auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Das reicht jetzt, Marquall. Schluss mit dem Selbstmitleid. Kommen Sie mit dem Arsch hoch und folgen Sie mir.« »Geh’n Sie weg!« »Marquall, ich habe für Sie den Kopf hingehalten. Den ganzen. Ich bin Sie suchen gegangen, anstatt Ihre Abwesenheit zu melden. Bis jetzt ist noch nichts offiziell.« Sie drehte sich zu Kaminsky um. »Es ist doch noch nicht offiziell, oder?« Kaminsky zuckte die Achseln. »Sicher nicht.« Sie schüttelte Marquall. »Sehen Sie, was ich für Sie tue? Es ist nicht offiziell. Ich habe Sie nicht dem Kommissariat gemeldet. Ich könnte mein Kommando verlieren, weil ich Sie so davonkommen lasse. NZDE. Nicht zum Dienst erschienen. Sie sind vier Stunden überfällig. Die Kommissare würden Sie dafür erschießen. Mich
übrigens auch. Bringen Sie mich nicht in Rage, Marquall. Wagen Sie es ja nicht, den Phantinern einen Ruf für Ungehorsam und versaute Einsätze einzuhandeln. Wir sind jetzt bei der verdammten Flotte! Hoch mit Ihnen, Marquall! Machen Sie mir keine Schande! Ich brauche Sie!« Er sah sie an und blinzelte, um sich auf sie konzentrieren zu können. »Sie brauchen mich nicht.« »Ich habe gestern einen Pilot verloren. Ich will verdammt sein, wenn ich zwei verliere!« Sie zog an seinem Arm, und er wehrte sich. Kaminsky zuckte zusammen, als der Junge von seinem Hocker fiel. Er riss Geschwaderführer Jagdea mit sich zu Boden, und ein Glas zerbrach. »Das reicht!«, rief der Barmann. Der Schläger aus Ingeburg kam herbei. »Schon gut«, sagte Kaminsky und hob eine Hand. Er half Jagdea auf und schob sie beiseite. Dann beugte er sich über den Jungen. »Du nennst dich Flieger?«, sagte er. »Was?«, gurgelte Marquall. »Was machen Sie da?«, begann Jagdea. »Keine Sorge«, sagte Kaminsky zu ihr. »Lassen Sie mich mit dem Jungen reden. Ich will keinen Ärger.« Er wandte sich wieder dem Jungen zu. »Du bist ein Pilot? Du darfst fliegen? Ich sag dir was … du bist ein Stück Scheiße.« »Was?« »Ein. Stück. Scheiße. Du widerst mich an. Deine Mamzel hier riskiert den Hals, um deinen Arsch zu retten, und das machst du daraus? Kannst du fliegen? Kannst du fliegen?« »J-ja …« »Kannst du fliegen?« »Ja!« »Warum tust du’s dann nicht?« »Ich … ich weiß nicht …« Kaminsky griff unter seine Jacke und zog seine Dienstautomatik. Er warf sie dem Jungen auf den Bauch. Das fallende Gewicht ließ ihn nach Luft schnappen. »Benutz einfach die.« »Was?« »Benutz sie. Am besten jetzt gleich.«
»Was?« »Benutz die verdammte Kanone, du jämmerliche Platzverschwendung. Jag dir eine Kugel in deinen dämlichen Schädel. Das geht schneller, als sich totzusaufen. Tu uns allen einen Gefallen.« Marquall starrte auf die Kanone auf seinem Bauch, als sei sie eine giftige Spinne. »Worauf wartest du noch? Hm? Du darfst fliegen, du Arschloch! Du darfst fliegen! Warum solltest du davor weglaufen? Ich bin auch mal geflogen! Aber ich bin halb verbrannt! Siehst du das? Mein Gesicht? Meine Hand? Sie sagen, ich kann nie wieder fliegen! Ich bin nicht flugtauglich! Ich würde alles geben, um du zu sein! Alles! Also nimm die verdammte Kanone und sorg dafür, dass ich dich nicht mehr um dein dämliches kleines Leben beneide!« »Scheiße …«, sagte Marquall. »So was kannst du doch nicht einfach zu mir sagen …« »Nein, kann er nicht«, sagte Jagdea, die neben ihm kniete. »Aber anscheinend hat er es gerade getan. Gehen wir jetzt also nach Hause oder soll ich dich bei ihm lassen?« »Nach Hause«, stimmte Marquall zu und schloss die Augen. Jagdea warf Kaminsky dessen Dienstpistole zu. Er fing sie auf. »Die gehört Ihnen, glaube ich.« Dann hievte sie sich Marquall auf die Schulter und trug ihn aus der Kaschemme. Sie saß mit ihm hinten auf der Ladefläche des Transporters, als Kaminsky nach draußen kam. Er sah sie an. »Fahren Sie, bitte«, sagte sie mit fester Stimme. Kaminsky stieg ins Führerhaus. Wieder allein, ließ er den Motor an. Südlich des Makanitgebirges, 08:30 Dreißigtausend Meter, keine Wolke am Himmel, nur vierundzwanzig silberne Giganten, die weiße Kondensstreifen durch das Blau zogen. Viltry fühlte sich auf diesem frühen Flug, dem zweiten Einsatz der Halo-Staffel in diesem Krieg, sehr viel wohler. Er fragte sich, ob es an der Anzahl lag: Halo flog in einer Formation mit Marodeuren des 2212. Flottengeschwaders, und fünftausend Meter über ihnen flog eine Staffel Donnerkeile Geleitschutz.
Oder vielleicht lag es auch an der beruhigenden Wirkung eines langen Nachmittags, den er damit verbracht hatte, aufs Meer zu starren. Woran auch immer, er war entspannter. Greta fühlte sich gut an und reagierte flink. Das Sonnenlicht erfüllte die Kanzel mit einem goldenen Glanz, und die Welt schien beinahe stumm zu sein. In dieser Höhe war der Triebwerkslärm nur ein gedämpftes Dröhnen. Die lautesten Geräusche waren das Zischen des Luftgemisches und das Pumpen seiner Maske. Er stellte sich vor, dass es tief unter dem Meer genauso still und losgelöst sein musste. Lacombe reichte ihm eine laminierte Karte. Er warf noch einen Blick auf die Aufklärerdaten. Gegen 17:00 Uhr des vergangenen Tages war (dank der Aktion einer phantiner Staffel, merkte er gedanklich stolz an – Jagdeas Haufen, der Gott-Imperator segne sie) bestätigt worden, dass der Feind mit seinen Jägern mittlerweile auch den Luftraum jenseits des Gebirges erreichte. Das bedeutete mit einiger Sicherheit, dass er vorgezogene Luftwaffenbasen in der Inneren Wüste errichtet hatte, vielleicht sogar mobile Landträger, und zwar sehr viel weiter nördlich, als die Führung bislang geschätzt hatte. Luftaufklärer hatten einige mögliche Wärmequellen über Nacht ausgemacht, und nun war ihre Formation – Rufzeichen Hochschweif – mit neun anderen, ähnlichen in der Luft und flog einen Bombeneinsatz. Wenn der Feind Luftwaffenbasen in der nördlichen Wüste hatte, mussten sie zerstört werden, sonst würde die ganze Schau vorbei sein, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Hochschweif hatte auf ihrem Flug bereits ein halbes Dutzend mögliche Ziele ausgemacht, aber alle hatten sich als Ansammlungen imperialer Bodentruppen erwiesen, die sich nach Norden quälten. In dieser großen Höhe genoss Viltry ein Ehrfurcht gebietendes Panorama der Wüste, heikel und ausgedehnt. Es war zerklüftetes Gelände, das abgenutztem Sandpapier ähnelte. Im Westen, viele hundert Kilometer entfernt, konnte er den Rand des Grabens erkennen, einer riesigen Schlucht aus vernarbtem Land, die uralte Geologie durch den Kontinent gezogen hatte, und zwar vermutlich zu der Zeit, als sie das Makanitgebirge gebildet hatte, um darüber hinwegzuschauen. Das Fliegen in dieser Region war angeblich schwierig, vor allem in geringeren Höhen. Die Narbentäler
sorgten für böige und unberechenbare Seitenwinde und Luftströmungen. Den Einsatzanweisungen zufolge waren sie jetzt fünfzig Kilometer vor einem der wahrscheinlichsten Zielbereiche, einem Dünenmeer namens Sandschüssel mit einer hohen Reflexion von Hitze und Magnetwellen. Ein Marodeur der Flotte – Hochschweif Eins – flog etwa zwanzig Kilometer vor ihnen. Ohne Bombenladung, um schnell und wendig zu bleiben, und dafür mit verstärktem Auspex, war Hochschweif Eins ihr Pfadfinder. Viltry wartete geduldig auf das Signal. Er hatte ein gutes Gefühl, was dieses Ziel betraf. Dann sah er die Fledermäuse. Es war das Seltsamste überhaupt. Es war so, als habe sie niemand sonst gesehen. Kein Alarm war gegeben worden, kein Warnsignal. Es waren neun rote Klingen, die von Osten über die Backbordflanke der Formation zustachen. »Feindflugzeuge! Feindflugzeuge! Neun Uhr und im Anflug!«, rief Viltry. Er hörte den Hauptturm über und hinter sich surren, als die Servos ihn drehten. Das Kom explodierte plötzlich von Stimmengewirr. Greta erbebte sanft, als Gaize oben im Turm das Feuer mit der schweren Zwillings-Boltkanone eröffnete. Viltry sah Leuchtspurgeschosse in den Himmel zucken und nach links abfallen. Die Fledermäuse – Höllenklingen – rasten mit blitzenden Geschützmündungen durch den Bauch der Formation. Wo zum Teufel war ihr Begleitschutz? »Kom-Disziplin! Kom-Disziplin!«, rief Viltry, um das aufgeregte Geschrei seiner Besatzung zu unterbinden. »Verlasst euch auf eure Augen und spart Munition. Wir fliegen in Formation, also kein wildes Geballer. Wählt euch ein Ziel aus, und folgt ihm dann.« Hochschweif flog in einander überlappender Karo-Formation. Im Prinzip bedeutete dies, dass jede Maschine den Schutz ihrer Nachbarn genoss und jedes Karo den Schutz eines oder mehrerer benachbarter Karos sowie den der Jagdstaffel über ihnen. So formiert und mit derart schweren Turmgeschützen bestückt, bildeten die Marodeure praktisch eine fliegende Festung, die technisch gesehen uneinnehmbar hätte sein sollen. Doch die Höllenklingen waren einmal unter ihnen durchgeflogen, und zwei Maschinen meldeten, dass sie Treffer bekommen
hatten. Der führende Flotten-Marodeur namens Heiliges Terra hatte den Befehl über die Formation. Viltry hörte den Kommandanten der Terra, der Egsor hieß, Befehle rufen, die Flugformation beizubehalten. Viltry beobachtete seine Steuerbordseite. Die Fledermäuse waren dort verschwunden, und die Logik besagte, dass sie dort auch wieder auftauchen würden. Er fuhr in seinem Geschirr zusammen, als zwei Donnerkeile an seiner Steuerbordtragfläche vorbei und nach Westen rasten. Greta schaukelte in ihrem Sog. »Wo wart ihr, Begleitschutz?«, sendete er über Kom. »Kein Gequatsche!«, hörte er Egsor fauchen. »Sechs! Sechs! Sechs Uhr!« Das war Orsone hinten im Heck, und sein Gebrüll wurde von den Heckschützen aller anderen Maschinen aufgenommen. Die Fledermäuse hatten einen weiten Bogen geschlagen und machten ihren zweiten Anflug von hinten. »Heckschütze eröffnet das Feuer!«, rief Orsone über Kom, und Viltry spürte das Beben, als das Heckgeschütz seine Munition ausspie. Einen Moment später war der obere Turm nach hinten gedreht worden und fiel in das Feuer ein. Die schweren Entladungen der beiden Waffen stellten kleine, aber seltsame Dinge mit Greta an, die Viltry gekonnt ausglich. Dann rasten die Fledermäuse an ihnen vorbei. Die Heckgeschütze stellten das Feuer ein, nachdem die Ziele ihren Schussbereich verlassen hatten, aber der obere Turm drehte sich und feuerte weiter hinter ihnen her. Als die flammenden Heckenden der Höllenklingen an ihnen vorbei waren und sich von ihnen entfernten, beteiligte sich auch der Bugturm an der Schießerei. »Aufhören! Feuer einstellen!«, rief Viltry. Die Fledermäuse waren jetzt drei Kilometer entfernt und verließen die wirksame Reichweite ihrer Bordwaffen. Er konnte trotzdem noch ihre Triebwerksflammen ausmachen und sah, dass sie zu einem Fächer ausschwärmten. Verdammt, dachte Viltry. Jetzt machen sie einzelne Anflüge. Im Kom war Gekreisch zu hören. Viltry schaute sich verzweifelt um und sah einen der Flotten-Marodeure im benachbarten Karo aus der Formation fallen. Es sah so aus, als könnten die Triebwerke sein Gewicht nicht mehr in der Luft halten. Eine Wolke aus schwarzem Rauch quoll aus einem Triebwerk, dann loderten Flammen über die gesamte Breite der Backbord-Tragfläche. Die Fledermäuse hatten bei ihrem zweiten Vorbeiflug getroffen.
Der brennende Marodeur ging in einen steileren Sturzflug über. »Abspringen! Abspringen!«, hörte er Egsor der weit entfernten Besatzung zurufen. Der abstürzende Marodeur erbebte plötzlich und explodierte. Seine Bombenladung erzeugte eine riesige Feuerwolke am klaren Himmel und verschleuderte Trümmer in weitem Umkreis. Der Hauptteil der Nase, der wie ein Komet brannte, raste steil abwärts der Wüste entgegen. »Da kommen sie!«, rief Naxol. Wenigstens hatte der Bugschütze so viel Verstand gehabt, weiter nach den Fledermäusen Ausschau zu halten, anstatt das Abschmieren des Marodeurs zu beobachten. Drei Höllenklingen kamen in einem Frontalangriff. Ihre Waffen knatterten und leuchteten strahlend. Naxol und Gaize eröffneten das Feuer auf die nächste, als sie in Reichweite kam. Naxols dicke Laserstrahlen durchlöcherten die Luft hinter ihr, doch Gaize hatte genau den richtigen Vorhalt einkalkuliert. Die Fledermaus flog praktisch in seinen Boltgeschosshagel. Sie brach in einem Regen aus Metallsplitter und Flammen auseinander. Ihre Tragflächen trennten sich ab und segelten wie abgebrochenes Flachglas davon, und die sich überschlagende Steuerbord-Tragfläche verfehlte das Heck der Greta auf ihrem Weg nach unten nur ganz knapp. Viltry sog scharf die Luft ein ob des Beinahe-Treffers. »Gut geschossen, Gaize«, sendete er über Kom. Holt Sie Alle Zurück und eine der Flottenmaschinen hatten ebenfalls gute Treffer erzielt. Eine Höllenklinge schmierte unkontrolliert ab und fiel aus dem Himmel, und eine andere drehte zittrig ab und schleppte sich rauchend westwärts. Doch es war noch nicht vorbei. Noch ein Flotten-Marodeur war getroffen worden und aus der Formation gefallen, da er nicht mehr mitkam. Und F wie Fangschuss hatte einen Schaden an einer Triebswerksdüse erlitten. Die Fledermäuse kamen wieder, und der Auspex zeigte, dass eine zweite Welle hinzugekommen war. Im Westen sah Viltry einen Blitz aufflammen, als ein Donnerkeil explodierte. Seine Hände zitterten wieder. Das Schicksalsrad. Das Schicksalsrad. Dessen Drehung immer näher kam.
Theda, LWS Nord, 12:01 Lärmend und schwatzend fluteten die Personalströme des Commonwealth aus der Station zu den wartenden Transportern. Alle trugen Seesäcke oder schleppten gruppenweise Kisten. Sie scherzten und witzelten in der Sonne und zogen sich gegenseitig auf. Es war eine Maske, eine Fassade. Gespielte Tapferkeit. Darrow wusste das. In wenigen Stunden würden diese Männer zu Posten in der Etappe entlang der Küste, vielleicht sogar jenseits des Meeres, unterwegs sein. Freundschaften würden auseinandergehen, da Kameraden getrennt wurden. Auf dem Vorplatz warteten Hunderte schweigende Flottenangehörige rings um die Transporter, die sie gerade herangekarrt hatten, bereit einzuziehen und den Laden zu übernehmen, sobald die Männer des Commonwealth verschwunden waren. Darrow warf einen Blick auf sie. Einige rauchten, andere badeten in der Sonne und streckten sich auf dem Asphalt aus. Viele starrten mit flachem, unfreundlichem Blick herüber. Wenn ihr alles richtig gemacht hättet, wisst ihr … wirklich anständig für eure Welt gekämpft hättet … müssten wir jetzt nicht hier sein. Und darum lachten und scherzten Darrows Kameraden. Sie wollten nicht die Imperialen ansehen müssen, die dahockten und warteten wie Geier über einer Leiche. Darrow war danach, seinen eigenen Seesack fallen zu lassen und zurückzustarren. Hochmütige Arschlöcher! Glaubt ihr, wir haben das gewollt? Glaubt ihr, wir wären dankbar, weil ihr jetzt da seid? Ihr könnt uns mal. Wir haben für Enothis gekämpft, wir haben geblutet, wir sind gestorben. Dank uns gibt es diese Welt noch und kann um sie gekämpft werden. Wir haben die Schwerarbeit geleistet, und jetzt kommt ihr, um den Ruhm zu ergattern. Und der Imperator helfe mir, aber den solltet ihr tatsächlich besser ergattern. Ihr solltet besser siegen oder … oder … »Darrow! Darrow!« Er drehte sich um. Major Heckel war auf der Treppe der Station erschienen und winkte ihm zu. Er ging durch die Masse der Leute zurück zu ihm. »Meinen Glückwunsch, Herr Major«, sagte er. »Was?«
»Ich habe gesehen, dass Sie zur Beute-Staffel überstellt worden sind.« Ein Muskel unter Heckels linkem Augen zuckte leicht. »Ja. Ach, ja. Ich hatte Glück. Sie müssen uns alte Hasen in Bewegung halten, nehme ich an.« Heckel lackte kurz und schrill, ein falsches Geräusch. Sein Auge zuckte wieder. »Sie wollten mich sprechen, Herr Major?« »Ach, ja«, sagte Heckel. Er griff in die Tasche seiner Fliegerjacke und zückte einen Umschlag. Er war versiegelt. Darrows Name war aufgedruckt. Darrow fiel auf, wie stark Heckels Hand zitterte, als er ihm den Umschlag reichte. »Das ist für Sie.« Er riss ihn auf. »Eads hat ihn schicken lassen. Ich glaube, Sie haben ihm Leid getan. Es ist kein aktiver Dienst als solcher, aber er sagt, er hofft, dass es reicht.« »Er … er versetzt mich zur Einsatzleitung. Mit sofortiger Wirkung.« Darrow grinste. Heckel hatte recht, es war kein aktiver Dienst, bedeutete aber, dass er in Theda bleiben und daran teilhaben würde. »Danke«, sagte er. »Ich bin nur der Bote«, sagte Heckel achselzuckend. »Sie haben ganz sicher ein gutes Wort für mich eingelegt.« Heckel zuckte noch einmal die Achseln, aber diesmal grinste er dabei. Dann wurde seine Miene wieder ernst. »Ganz unter uns, Darrow. Der Feind hat seine Luftreichweite gestern auf das Lidatal ausgedehnt. Die Sache kommt jetzt ins Rollen. Die Flotte hat entschieden, dass sie einheimische Experten braucht, die mit der Topografie vertraut sind, um sie zu führen, also haben sie Eads gebeten, bei der Einsatzleitung zu beraten. Er hat zu mir gesagt, er würde ein paar fähige Helfer brauchen. Ich habe Sie und noch ein paar andere vorgeschlagen, die zur Reserve versetzt worden sind.« »Vielen Dank, Herr Major. Ich weiß das wirklich zu schätzen.« Heckel nickte. »Leisten Sie einfach gute Arbeit, Darrow.« Darrow stellte seinen Seesack ab und salutierte vor seinem ehemaligen Staffelführer. »Darrow«, sagte Heckel. Sein Gesicht hatte einen sonderbaren, wehmütigen Ausdruck. »Darrow, glauben Sie, sie wissen, dass es mir Leid tut?«
»Wer, Herr Major?« »Die Kadetten. Die Jagd-Staffel. Der Imperator helfe uns, aber so viele von ihnen sind tot.« »Sie haben getan, was Sie konnten, Herr Major.« Heckel stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wissen Sie was, Darrow? Genau das befürchte ich.« Heckel hob seinen Seesack auf, klopfte Darrow auf die Schulter und eilte zu den wartenden Transportern. Theda, LWS Süd, 15:34 »Sie ist verhext, oder?«, sagte Milan Blansher. »Wer denn?«, fragte Hemmen, der Chefmechaniker. Im Schatten des großen Hangars arbeitete seine Gruppe an der Überholung von Esperes Donnerkeil. Das Knattern von Elektroschlüsseln lag in der Luft. »Die da«, sagte Jagdea und zeigte auf die verwundete Maschine. »Seriennummer Neun-Neun?« Hemmen schüttelte den Kopf. »Dazu kann ich nichts sagen, Mamzel Geschwaderführer. « Jagdea schüttelte den Kopf und führte Blansher aus dem Schuppen. Das Feld war frei, abgesehen von den Vögeln der Umbra-Staffel und einem Rudel Abfangjäger des Commonwealth, die langsam zur Startbahn rollten. »Espere?«, fragte Blansher. »Vergessen Sie’s. Er wird noch Monate außer Gefecht sein. Und selbst mit Prothesen ist er ein Wrack.« »Also sind wir ein Mann zu wenig.« »Ja. Ich habe bei der Flottenreserve angefragt, aber da hat man mir gesagt, dass alle verfügbaren Piloten im Einsatz sind. Wenn nicht irgendwo ein Vogel abstürzt und der Pilot gerettet wird, oder sonst wie ein Vogel den Geist aufgibt. Gott-Imperator, Mil, diese Front ist beängstigend dünn besetzt. Jeder Mann und jedes Flugzeug ist im Einsatz. Ich glaube, das hier könnte das große Ding sein.« »Was meinen Sie damit?« »Die Entscheidung. Der Erzfeind hat den Kreuzzug in der Falle. Die Front ist zu groß. Er greift hier an und auf Herodor. Das sind die letzten Neuigkeiten. Wenn einer dieser Planeten fällt, wird die Kreuzzugslinie enthauptet. Schnipp und gute Nacht. Gute Nacht,
Kriegsmeister Macaroth. Gute Nacht für uns und gute Nacht für den Kreuzzug. Wenn unsere Linie hier bricht, fallen sie über uns her wie ein Leichensack.« »Dann fliegen wir uns wohl besser die Eier ab«, sagte Blansher. Sie lächelte. »Sie vielleicht.« »Wie geht es Marquall?« Sie zuckte die Achseln. »Versucht immer noch, sich im Duschblock die Fußsohlen durch den Mund zu würgen. Ich habe überlegt, ihm ein paar Entgiftungstabletten zuzustecken, aber dann hatte ich einen schlimmen Anfall von … Ach, was soll’s. Mit einem heftigen Kater hilft der Imperator uns dabei, dass wir uns an unsere Fehler erinnern.« »Er gibt sich die Schuld für Espere?« »Ja, das tut er.« »Hat er Grund dazu?«, fragte Blansher. Jagdea zuckte die Achseln. Ihre Antwort ging im Motorengedröhn des startenden Geschwaders von Propellerflugzeugen unter. »Was sagten Sie?«, fragte Blansher. »Marquall hat’s versaut. Er ist wie ein Anfänger geflogen und hat jeden Fehler gemacht, den er machen konnte. Espere hat ihn gedeckt. Also, ja … er hat Grund dazu. Aber er ist auch ein anständiger Pilot, das weiß ich. Wir brauchen ihn, und wir brauchen ihn so, wie er war, mit Selbstvertrauen und der Bereitschaft, aus seinen Fehlern zu lernen.« »Ich weiß immer noch nicht, wie Sie ihn reingeschmuggelt haben«, sagte Blansher. »Das spielt keine Rolle. Ich hatte Hilfe. Nicht die Sorte Hilfe, die ich wollte, aber … Nun ja, es hat funktioniert.« Blansher zuckte die Achseln. »Ich erzähle es Ihnen eines Tages«, lächelte Jagdea. »Ich habe einen Einsatz um 18:30 Uhr, glaube ich«, sagte Blansher. »Und Larice startet um 21:40 Uhr mit einer Vierergruppe. Ich warte, bis Marquall wieder compos mentis ist.« »Gutes Fliegen«, sagte er und machte sich auf, nach seiner Maschine zu sehen. Ich wünschte, die Leute würden aufhören, das zu sagen, dachte Jagdea.
Palast-Kai, 15:50 Die Nacht war früh hereingebrochen, und eine fahle Dunkelheit lag über dem Meer. Es sah aus, als braue sich ein Unwetter zusammen. Das Nachmittagsgeschäft war die ganze Woche schlecht gewesen, und nun, da sich eine düstere Wolke im Westen ausbreitete, war es ganz eingeschlafen. Beqa schickte Letrice nach Hause und schloss früh. Zur Abwechslung würde sie mal ein paar zusätzliche Stunden Schlaf bekommen. Sie schloss gerade die Cafétür ab, als der Mann auftauchte. Ein steifer Wind wehte vom Meer herein, der an ihrem Mantel zupfte und sie durchblies, daher hatte sie ihn nicht kommen hören. »Oh!«, rief sie und fuhr zusammen. Es war der Pilot mit dem traurigen Gesicht, der keine Schalentiere mochte. Er war in eine dicke Lederjacke gehüllt. »Haben Sie geschlossen?«, fragte er. »Äh, ja«, sagte sie und strich sich vom Wind zerzaustes Haar aus den Augen. »Tut mir leid. Wir hatten den ganzen Nachmittag keine Kundschaft. Ich nehme an, den Leuten gefällt das Wetter nicht.« Er schaute zum Himmel, als habe er das Wetter noch gar nicht zur Kenntnis genommen. Die ersten Regentropfen fielen. »Ich verstehe«, sagte er. »Wenigstens habe ich einen anständigen Spaziergang gemacht. Guten Tag, Mamzel.« »Warten Sie«, rief sie ihm hinterher. Beqa schüttelte den Kopf über sich selbst. Sie hatte ein viel zu weiches Herz. »Sie sind hungrig, nicht wahr?« »Etwas«, gab er zu. Sie schloss die Tür wieder auf. »Kommen Sie rein. Ich mache Ihnen etwas.« »Aber Sie haben geschlossen.« »Ich kann wieder öffnen.« Sie setzte ihn an den Tisch, den er sich am Tag zuvor ausgesucht hatte, dann ging sie zum Tresen, schaltete den Durchlauferhitzer für das Wasser ein und begutachtete dann die Speisekammer. Viltry nahm zur Kenntnis, dass sie die Karte im Fenster nicht umgedreht hatte. Für andere war das Café immer noch geschlossen. »Das ist sehr nett von Ihnen«, rief er. »Kein Problem. Sie mögen keinen Fisch, nicht wahr?«
»Das weiß ich eigentlich nicht.« »Sie haben Glück. Heute haben wir etwas gepökelten Schinken.« Das Unwetter kam und verdunkelte den Himmel wie zur Abenddämmerung. Beqa machte die Öllampen an. Regen prasselte auf die Fenster und Oberlichter und rann in Strömen daran herunter, sodass sie zu schmelzen schienen. Der ganze Kai ächzte leise, als das Meer sich darunter rührte. Sie war noch nie zuvor bei einem Unwetter hier draußen am Kai-Ende gewesen. Es war ein etwas beängstigendes Gefühl, und sie wünschte sich beinahe, sie wäre einfach hart geblieben und nach Hause gegangen. Das Café fühlte sich exponiert und verletzlich an, allein inmitten der turbulenten Elemente. Es war so, als fahre man mit einem zerbrechlichen Schiff durch einen Strudel. Ihn schien es nicht im Geringsten zu stören. Als sie ihm Essen und Trinken brachte, setzte sie sich zu ihm. »Sind Sie ein Flieger?« »Ja.« Er aß einen Bissen. »Das schmeckt wirklich gut. Ich glaube, mir war gar nicht klar, wie hungrig ich bin.« »Imperiumsflotte?«, fragte sie. Er schüttelte den Kopf und wischte sich mit einer Serviette die Lippen ab. »So ähnlich. Das Imperiale Phantiner Luftwaffenkorps. Ich heiße Viltry. Oskar Viltry.« »Beqa Mayer.« Er streckte die Hand aus und schüttelte ihre höflich. »Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft, Mamzel. Und für diesen Akt der Freundlichkeit einem Fremden auf Ihrer Welt gegenüber.« »Wenn ich bedenke, dass Sie hergekommen sind, um im Kampf für meine Welt Ihr Leben aufs Spiel zu setzen, ist ein Teller mit Brot und Schinken das wenigste, was ich für Sie tun kann.« Er hörte plötzlich auf zu essen und runzelte die Stirn. »Ich … ich kenne sie irgendwoher, nicht wahr?« »Ich war gestern hier.« »Nein, von irgendwo anders.« »Wie haben uns vorgestern früh im Templum getroffen. Sie haben mir die Tür aufgehalten.« »Ja, das ist es.« Eine besonders heftige Windbö ließ die Fenster erbeben und schleuderte den Regen mit vermehrter Wucht vor die Glasscheiben.
»Ich nehme an, dieses Café hier kann einem Sturm widerstehen?«, fragte Viltry. »Ich glaube, es gehört schon eine Menge dazu, den Palast einzureißen«, erwiderte sie. Es dauerte eine Stunde, bis sich das Unwetter so weit gelegt hatte, dass sie einen raschen Spurt zur Stadt riskieren wollten. Sie schenkte Kaffein nach und unterhielt sich müßig und ohne echten Sinn und Zweck, als lasse sie einfach die Gespräche heraus, die die Einsamkeit in ihr eingedämmt hatte. Viltry reichte es, einfach zuzuhören. Sein Tag war schrecklich gewesen: der wilde Luftkampf, die Panik und die Furcht. Die Fledermäuse hatten sie so lange beschäftigt, dass sie schließlich gezwungen gewesen waren, die Bombenlast abzuwerfen und sich auf den langen, exponierten Heimflug zu machen. Kein Ziel zerstört. Nicht einmal ein Ziel gesehen. Nur einen Teil der Sandschüssel, den die Hitze zu Glas geschmolzen hatte. Halo hatte niemanden verloren, aber fünf Maschinen waren beschädigt und ein paar Besatzungsmitglieder verwundet worden. F wie Fangschuss war nach Hause gekrochen. Ein Teil ihrer Bombenlast hatte sich verklemmt, und Viltry hatte befürchtet, selbst wenn sie es nach Hause schaffte, könnte dieser Teil bei der Landung hochgehen und die Maschine auslöschen. Aber sie hatten es geschafft. Drei aus Egsors Staffel und zwei Donnerkeile aus dem Begleitschutz jedoch nicht. Manche Flieger bauten den Druck eines Kampfeinsatzes durch Trinken oder hedonistische Eskapaden ab, andere durch die Schilderung der Vorkommnisse im Bereitschaftsraum und jedem, der zuhörte. Das war noch nie Viltrys Art gewesen. Dieser Tage befürchtete er, wenn er einmal zu reden anfing, würde er nicht mehr aufhören können. Aber dem Gerede der Frau zuzuhören, beruhigte ihn. Es war wie ein Mittel gegen die Anspannung des Kampfes. Es gab ihm einen Hauch von Perspektive, erinnerte ihn daran, dass das Universum aus mehr bestand als nur ihm selbst, auf einen Andrucksessel geschnallt und auf die Drehung des Schicksalsrades wartend. Ihr Leben war ganz offensichtlich schwer. Sie war gezwungen, zwei Schichten zu arbeiten: tagsüber hier und nachts in der Munitionsfabrik. Sie machte sich Sorgen wegen der Auswirkungen des Krieges. Frische Nahrungsmittel wurden immer seltener. Was,
wenn das Café gezwungen war zu schließen? Sie hatte einen Bruder namens Eido, der im Heer diente. Sie hatte seit über drei Monaten nichts mehr von ihm gehört, seit den Kämpfen vor den Toren der Dreieinigkeit-Makropolen. Er würde bald nach Hause kommen, davon war sie überzeugt. Sie zündete jeden Tag eine Kerze für ihn an. »Ich zünde drei an: eine für Gart, eine für Eido und eine für alle, die es nötig haben.« Viltry lächelte. »Ich werde daran denken. Verzeihen Sie, aber wer ist Gart?« »Mein Ehemann, Geschwaderführer Viltry. Er war Pilotoffizier in den Planetaren Streitkräften des Commonwealth. Er ist im vorletzten Winter über der Wüste abgestürzt.« »Das tut mir leid, Mamzel. Wird er als vermisst geführt?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir einreden, dass mein Bruder noch lebt, weil ich keinen gegenteiligen Beweis habe. Aber Gart ist tot.« Das Commonwealth hatte ihr eine Kriegswitwenrente bezahlt, aber die Zahlung eingestellt, als der Krieg die jüngste katastrophale Wendung genommen hatte. Daher die beiden Schichten. Der Schlafmangel. Viltry sah, dass es nicht mehr so stark regnete. Der Himmel hatte sich wieder etwas aufgehellt. Sie würde zu spät zu ihrer Schicht kommen, wenn sie die Aufheiterung nicht ausnutzten. Sie sperrte die Cafétüren ab, und dann eilten sie über den nassen Gehsteig zur Stadt, wo die Straßenlaternen eingeschaltet wurden. TAG 255 Theda, LWS Süd, 08:00 »Ich melde mich wie befohlen zur Stelle«, sagte Darrow zu dem Flottengardisten unter dem Adamantium-Säulengang. Der Gardist warf einen Blick auf Darrows Briefumschlag und nickte ihn durch. Von draußen hätte man die Einsatzzentrale für eine MinistorumKapelle im protzigen Frühen Schnörkelstil halten können. Doch die vielen aufragenden Zinnen und Kreuzblumen waren in Kupfer
und leitfähiges Material gehüllte Detektor-Masten, die Strebebögen beherbergten pneumatische Druckwellendämpfer, und wo sonst Buntglasfenster geleuchtet hätten, prangten dicke Jalousien aus Panzerstahl. Die Einsatzzentrale beherrschte das Nordende des Stützpunkts und war auf drei Seiten von Metallwäldern aus Kom-Masten, Auspex-Türmen und Modar-Anlagen umgeben, wo der Boden festgebacken war und es beständig nach Ozon und Elektromagnetismus roch. Drinnen führte ein luftiges, gewölbtes Atrium, das von Leuchtstreifen hinter Gittern erhellt wurde, zu den verschiedenen Kontrollbereichen. Männer und Frauen in den dunklen Uniformen der Flotte und des Departmento Tacticus eilten hin und her. KomDurchsagen kündigten Schichtwechsel an. Darrow folgte den emaillierten Wandschildern und gelangte zu einer Treppe mit regem Verkehr, die abwärts führte. Der Hauptteil der Einsatzzentrale befand sich in Betonbunkern tief unter der Erde. Weiter unten war es kühl, und die Luft war feucht und wiederaufbereitet. Ein Schauder überlief ihn, und er wünschte, er hätte seine Fliegerjacke trotz der hastigen Flickschusterei am Ärmel getragen. Er passierte eine Reihe von Feuerschutztüren und erreichte noch einen Kontrollpunkt, wo er unter den Blicken dreier stämmiger Gardisten in einer Schlange warten musste, während ein Servitor des Munitorums seine Papiere durchsah, biometrische Tests vornahm und ihm einen Dienstausweis gab. Zu Darrows Überraschung erwartete Eads ihn an der Hauptschleuse. »Melde mich zum Dienst, Kommodore«, sagte Darrow und grüßte. »Nennen Sie das einen Gruß?«, sagte Eads. »Willkommen in der Einsatzzentrale, Darrow. Bleiben Sie heute in meiner Nähe, bis Sie sich besser auskennen. Haben Sie keine Angst, Fragen zu stellen, es gibt viel zu erfahren. Wenn Sie die Klappe halten sollen, sage ich Ihnen das schon.« »Jawohl, Kommodore.« Eads drehte sich um und ertastete sich mit seinem Sensorstock den Weg zurück in die Kammer. Darrow begleitete ihn. »Rechnen Sie damit, mit ›Junior‹ angeredet zu werden, Darrow. Sogar von mir. Hier unten sind Sie kein Pilotkadett. Hier unten sind Sie ein Junior-Hilfsfluglotse.«
Darrow wollte eine Frage stellen, doch Eads streckte die Hand aus und drückte seinen Arm. Sie hatten soeben die Kammer betreten, und Stille war eingetreten. Darrow sah sich um. Die Einsatzzentrale war eine riesige Rundhalle, drei Etagen hoch. Es gab zwei Ränge mit Konsolen an der Wand, deren oberer über einen eisernen Laufsteg erreichbar war. Diese Konsolen waren von Flottenangehörigen besetzt, von denen einige Servitoren und direkt in die Schnittstellen-Buchsen der Anzeigen eingestöpselt waren. Über ihnen war ein Observationsdeck, wo sich höhere Offiziere versammelten, um die Vorgänge zu betrachten. Im Zentrum der Kammer befand sich die primäre hololithische Anzeige, die eine flackernde taktische Animation aus einer breiten, messingumrandeten Basiseinheit sechs Meter hoch projizierte. Darum stand ein Ring aus halb durchsichtigen Glasschirmen, auf dem die zurückkehrenden Modarsignale dargestellt wurden. Vor jedem Schirm stand ein streng aussehender Mitarbeiter mit einem Griffel in der einen und einem Radierer in der anderen Hand bereit. Darum herum zog sich ein weiterer Ring aus primären Kontrollkonsolen, massive Chiffriergeräte, die aus dem Boden sprossen wie Monolithen. Jede war holzvertäfelt und hatte mit Messing eingefasste Instrumente sowie einen eigenen Bildschirm mit hololithischer Anzeigemöglichkeit. Alle anwesenden Personen standen oder saßen stumm und mit leicht geneigtem Kopf da. Ein in seinen blauen Gewändern mit der schwarzen Halskrause imposant aussehender Flottenkaplan sprach ein Segensritual über der Station aus. Während er dies tat, eine Hand auf der Brust, die andere auf dem Rücken, eilten Tech-Priester in dem Raum umher, salbten die Stationen und boten allen, die persönlicher Segnung bedurften, heiliges Wasser aus goldenen Ampullen an. Darrow nahm zur Kenntnis, dass die meisten es empfingen, auch die hochrangigen Stabsoffiziere. »Möge dieser Tag gewinnbringend und erfolgreich sein«, sagte der Kaplan. »Möge die Willensstärke und die klare Sicht des hochheiligen Gott-Imperators der Menschheit Ihr Werk an diesem Tage durchdringen. Möge seine Herrlichkeit ewig währen und sein Licht der Erleuchtung uns allen in der Dunkelheit scheinen. Für den Goldenen Thron, ewig während und in seinem Namen, möge sein Wille geschehen.«
Der Kaplan beschrieb das Zeichen des Adlers vor der Brust, und alle folgten seinem Beispiel. Der Deck-Offizier erhob sich, nickte dem Kaplan zu und verkündete: »Die Tagschicht beginnt, 255,773.M41.« Sofort wurden Aktivitäten aufgenommen. Plötzliches Stimmengewirr und ungedämpfte Kom-Frequenzen. Flinke Hände huschten über Metalltasten. Eads bedeutete Darrow mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen. Als Fluglotse war Eads’ Platz an einer der primären Kontrollkonsolen. Darrow half ihm auf den hochlehnigen Sessel und verstaute den Sensorstock da, wo Eads ihn leicht finden konnte. »Den Hauptkortikalstöpsel und die Verbindung zum Tech-Leser, bitte«, sagte Eads, als er Platz genommen hatte. Darrow sah sich um und nahm die beiden Kabel von einem Aufhänger an der Konsolenseite. Er gab sie Eads. Eads las die identifizierenden Stempel auf den Stöpseln mit den Fingerspitzen und schob dann den Kortikalstöpsel in die Dermalbuchse hinter seinem linken Ohr. Das andere Kabel, an dem zerknautschte, beschriftete Pergamentlaschen hingen, wanderte in die zweite Dermalbuchse unter dem Haaransatz an der Schädelbasis. Eads zuckte beim Einstöpseln ein wenig zusammen. Die Konsole erwachte sofort zum Leben. Die hololithische Anzeige erhellte sich und fing an zu rotieren. Der Bildschirm wurde aktiv und zeigte ein abrollendes Datenmenü. Darrow wusste, dass Eads das nun alles selbst sah, vor seinem geistigen Auge. Eads ging nun die Einzelheiten durch. Darrow schaute sich wieder um. Jeder Fluglotse hatte wenigstens einen Junior-Gehilfen zur Unterstützung. Alle anderen Lotsen konnten sehen, obwohl einer klobige künstliche Augen hatte, aber viele unterstützten ihre Wahrnehmung durch Kortikalverbindungen. »Kom-Mikrofon, bitte«, sagte Eads. Darrow löste das ebenfalls aus der Halterung, rollte das Kabel aus und half Eads, es sich so um das Ohr zu legen, dass der Hörknopf im Ohr saß und das kleine Stabmikro neben seinen Lippen hing. »Hier spricht Eads, 7513«, sagte Eads leise. »Ich bin jetzt auf Station.« Kom-Gemurmel antwortete ihm. Seine Finger glitten über die mechanische Tastatur. Die Daten auf dem Schirm änder-
ten sich. Das Kortikalkabel simulierte eine Version der Konsole in Eads’ Kopf, also konnte er sie bedienen. »Wetterdiagramm, bitte«, sagte Eads zur Verbindung. Ein aufgequollenes 3-D-Bild erblühte auf dem Hololithen. »Taktische Karte … und Einsätze in dem Quadranten.« Mehr Veränderungen, mehr Überlappungen. Harte gelbe Linien, die Flugwege zeigten, rot gepunktete Linien der Missionssequenzen, blinkende grüne Runen, welche die Maschinen selbst darstellten. »Da ist noch ein Kopfhörer, wenn Sie zuhören wollen«, sagte Eads. Darrow nutzte die Gelegenheit. Was er hörte, als das Gerät an Ort und Stelle saß, war ein Durcheinander aus menschlichen und maschinellen Stimmen, digitalen Transmissionen, Binärcodes und atmosphärischen Störungen, die hinter den Stimmen rauschten und tosten. »Damit können Sie wählen«, zeigte Eads auf einen Schalter. »Zuerst wird Ihnen alles überwältigend vorkommen, aber Sie werden die Differenzierungen und Feinabstimmungen rasch lernen. In den nächsten zwei Stunden leiten wir den Einsatz von zwei Jagdstaffeln: Umbra-Staffel Vier-Eins und Vier-Zwo. Auf dem Schirm sind die Einsatzparameter.« Plötzlich nervös, las Darrow die Einzelheiten und versuchte, nichts zu übersehen. Zwei Abfang-Staffeln, jeweils vier Maschinen. Flugroute über die Halbinsel und zu den Quellflüssen des Lida, um Jagd auf Eindringlinge zu machen. Startzeit 08:15 Uhr. Er schaute auf das Messingchronometer, das über der Konsole angebracht war. 08:14. Theda, LWS Süd, 08:15 »Sitzen die Gurte richtig?«, rief Racklae, der vor dem ständig lauter werdenden Triebswerksgeheul kaum noch zu verstehen war. Marquall nickte. Racklae zeigte ihm mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis und befahl dem Bodenpersonal dann den Rückzug. Sie sprangen hinunter, nachdem die letzten Schläuche gelöst und verstaut worden waren, und rollten den Anlasser-Karren zurück. Ein Mechaniker trug die gelbe Einsteigleiter weg. Der neben der Kanzel kauernde Racklae tippte sich auf Mund und Ohren.
Marquall nickte wieder. Er schaltete das Kom ein. »Test, Test«, sagte er. »Umbra Acht, Umbra Acht, bin ich laut?« »Umbra Acht, hier Führer. Sie sind laut und deutlich. Alles in Ordnung, Marquall?« »Ja, Geschwaderführer. Alle Lichter grün, wiederhole, grün. Bereit zum Start.« »Bereitschaft, Acht.« Marquall beschrieb das Zeichen des Adlers und sah dann Racklae an. Er zeigte ihm einen hochgereckten Daumen. Der Chefmechaniker grinste, salutierte vor ihm und schloss das Kanzeldach. Sofort änderte sich das Geräusch. Das Heulen der Düsen wurde matter, aber Marquall saß plötzlich in einem Resonanzkasten voller Ultraschall-Vibrationen. Marquall prüfte die Kanzel-Verriegelung und machte dann eine Bewegung, die einer Kniebeuge ähnelte. Racklae sah es, nickte, sprang dann ab und lief hinter die Schutzmauer des Landeplatzes. »Umbra Acht. Kanzel geschlossen und bereit.« »Verstanden, Acht.« »Umbra Zehn, bereit.« »Umbra Sieben, klar.« »Bereitschaft«, wiederholte Jagdea. »Vier-Zwo startet vor uns.« Im Kom war ein Durcheinander von Stimmen zu hören, dann ertönte ein heulendes Tosen, das trotz des geschlossenen Kanzeldachs und des aufgesetzten Helms noch laut war. Von Plätzen in der Nähe erhoben sich vier Donnerkeile senkrecht in die Luft. Unter jedem gab es einen hitzeflimmernden Wirbel aus Vektorschub. Blansher, Asche, Cordiale und Ranfre. Umbra-Zwo, Vier, Elf und Zwölf. Unter Blanshers gekonnter Führung stiegen sie in die Höhe und bewegten sich vorwärts, als ihre Vektordüsen sanft herumschwenkten. In ordentlicher Formation nahmen sie langsam Geschwindigkeit auf. Als sie sich über den Stützpunkt entfernten, flammten die primären Schubdüsen heiß und gelb auf, während Vollschub durch sie raste. Sie wurden rasch kleiner, da sie mit starker Beschleunigung höher stiegen. »Einsatzleitung, hier spricht Vier-Eins Führer«, hörte Marquall Jagdea sagen. »Erbitte Starterlaubnis.« »Vier-Eins Führer, hier Einsatzleitung. Sie haben die Freigabe für einen sofortigen Start. Gute Jagd.«
»Vier-Eins, hier Führer. Auf geht’s.« Marquall gab Schub und spürte seine Maschine erbeben, als sei sie plötzlich erzürnt. Maximalschub. Er spürte das sanfte Beben, als Der Schmier abhob. Obwohl sie reichlich Treibstoff verbrauchten, zog Marquall Vektorstarts vor. Er hasste Rampenstarts und den Keulenschlag des Katapultstarts. Er war dankbar, dass in Theda noch keine Rampen errichtet worden waren. Er schaute sich um und kompensierte das Wackeln seines steigenden Keils. Zu seiner Linken stieg Umbra Zehn. Marquall hörte Zemmic beinahe an seinem Rosenkranz aus Glücksbringern herumspielen, während sein Vogel stieg. Zu seiner Rechten hob Jagdea ab und wiederum rechts neben ihr Clovin. Vierzig Meter hoch und immer noch perfekt über dem Startplatz. »Wartet noch«, ertönte Jagdeas Stimme. Blansher bevorzugte das langsame, gemächliche Umschalten vom Vertikalstart auf den Vorwärtsflug, aber Jagdea stand auf den Hammerstart. Das Bodenpersonal wusste das. Die Mechaniker waren bereits in den Bunkern verschwunden. »Wartet …« Fünfzig Meter. »Mir nach, Triebwerke schwenken, Vollschub«, befahl Jagdea. Ihre Maschine röhrte vorwärts und überquerte den Stützpunkt in fünfzig Metern Höhe, als die Düsen brutal auf Geradeausflug gekippt wurden. Clovin raste ihr hinterher, dann Zemmic. Marquall umklammerte den Steuerknüppel und jagte ihnen nach. Der Boden schoss unter ihnen weg wie eine rasant beschleunigte Bildfolge. Die Beschleunigung presste Marquall in seinen Sitz. Bei Vollschub hatten sie die Einöde hinter dem Stützpunkt überquert und bereits annähernd sechshundert km/h erreicht, als sie sich formierten und in den Steigflug übergingen. »Vier-Eins, Führer, wir haben den Stützpunkt verlassen. Steigen jetzt auf fünftausend. Kurs südwest, zehn-acht-vier.« »Zehn-acht-vier, verstanden, Führer«, erwiderte die Einsatzleitung. »Netter Start. Vielleicht könnten Sie sich später bei unseren Trommelfellen entschuldigen.« »Verstanden, Einsatzleitung. Schnell hoch, schnell weg. So machen wir es da, wo ich herkomme.« »Verstanden. Was machen Sie sonst noch, da, wo Sie herkommen?« »Wir schießen Fledermäuse ab.«
»Verstanden, Führer. Gut zu wissen. Gehen Sie auf Höhe neuntausend und schwenken Sie auf südwest elf-acht-fünf.« »Elf-acht-fünf. Verstanden. Vier-Eins, bestätigen.« »Vier-Eins, Sieben. Auf Ihr Kommando.« »Vier-Eins, Zehn. Hinter Ihnen her nach backbord. Netter Tag dafür.« »Klar wie eine Glocke, Zemmic. Zählen Sie Ihre Glücksbringer.« Marquall korrigierte den Sitz seiner Maske. »Vier-Eins, Acht. Bin dabei.« »Bleiben Sie nah dran, Marquall. Das wird ein Kinderspiel.« Das würde es. Er wusste es. Er würde dafür sorgen, dass es eines würde. Er hatte seinen Jungfernflug versaut. Er konnte immer noch Pers Espere mit Blut überall in seiner Kanzel sitzen sehen. Das Bild verfolgte ihn in seinen Träumen und auch im Wachzustand. Doch Jagdea hatte ihn nicht aufgegeben. Er konnte es schaffen. Er war ein Phantiner. Er würde es kein zweites Mal versauen. Rotten-Trägerbasis Natrab, Innere Wüste, 08:16 Stachelige Glieder glitzerten im grellen Licht, als die SklavenServitoren ihn in seiner brünierten Sänfte auf das Vordeck der Basis trugen. Seine perlweiße Maschine ruhte unter ihm auf dem Startschlitten, und das Licht der Wüste funkelte auf ihren krassen Umrisslinien. Die Servitoren ächzten eine Litanei der Vorsehung und des Blutdursts. Luftkrieger Khrel Kas Obarkon lächelte. Die Sänfte hielt inne. Obarkon löste die schweren goldenen Rohre, die seinen Körper mit der Lebenserhaltung der Sänfte verbanden, setzte seinen Helm auf und schloss ihn. Er schlug die Seidendecke zurück und trat auf das sonnenbeschienene Deck. Hochgewachsen, hager und von Hals bis Fuß in eine funkelnde schwarze Antigravrüstung gehüllt, hob er seine spinnenartigen Arme, und die Sklaven fielen auf die Knie. Die Sonne stand immer noch tief am Himmel, und die Plattform unter seinen Füßen erbebte leicht, als der massive Landträger weiter über die Dünen rollte. Obarkon winkte mit skelettdürrer Hand, und einer der Servitoren kam mit seinem Sprechkegel angerannt. Es handelte sich um
eine mit Gravuren und Verzierungen geschmückte Glocke aus solidem Gold auf einem Bronzeständer. Obarkon ergriff das baumelnde Kabel und stöpselte es in seine Kehlkopfbuchse ein. »Fünfte Rotte!«, donnerte seine digital verzerrte Stimme über die oberen und unteren Startdecks. »Ihr, die ihr zum Anarchen gehört und ihm, der Sek ist, verschworen seid! Hört mich an!« Überall auf den polierten Decks des Trägers hatten die Luftkrieger der fünften Rotte neben ihren Maschinen Haltung angenommen. Ihre Sänftenträger zogen sich in die Schutzhöhlungen zurück. »Der Anarch gebietet uns, also gehorchen wir! Wer wird Blut in der Luft finden?« »Wir!«, heulten die Luftkrieger zur Erwiderung. »Wer wird den Abschuss machen?« »Wir!« Die Decks erbebten. »Wer wird die Erde mit dem Leben des Feindes beflecken?« »Wir!« »Zu euren Maschinen, gebietet euer Führer!« Mit wüstem Jubel eilten die Luftkrieger zu ihren wartenden Maschinen. Obarkon stöpselte das Kabel aus und ging ohne Lebenserhaltung zu seiner Höllenklinge. Er bestand darauf, obwohl er ohne volles Lebenserhaltungssystem keine zehn Minuten überleben konnte. Es war eine Zurschaustellung persönlicher Stärke, die von der Mannschaft bewundert wurde. Servitoren hoben ihn in die Kanzel, und automatische Systeme verbanden ihn. Er atmete wieder leichter, als die Systeme der Höllenklinge die Erhaltung seines Lebens übernommen hatten. Die Rückenmarksstöpsel rasteten ein. Die Systeme erwachten zum Leben und fütterten seine Hirnrinde mit Daten über Treibstoffmengen, Bombenlast und Energie. Seine Augen sahen jetzt durch die Geschütze. Das Kanzeldach schloss sich und sperrte ihn in Dunkelheit. Anzeigen flammten in seinem Kopf auf. »Klar!«, befahl er. Ein Heulen setzte ein, steigerte sich, explodierte. »Start!«, gebot er. Die Ionenkatapulte sprangen an und entluden sich. Die perlweiße Höllenklinge wurde vom Deck des Trägers in den Himmel geschleudert. Nur seine Antigravrüstung verhinderte, dass Obarkon in seinem Sitz zerquetscht wurde. Hinter ihm wurden zwanzig
weitere Maschinen wie Pfeile von einem Bogen in die Wüstenluft abgeschossen, manche rot, manche malve, manche silbern, manche schwarz. Sie formierten sich um ihn, während er nach Westen flog, dem Gebirge entgegen. Obarkon schaltete auf seine rückwärtige Bildübertragung um und beobachtete, wie die Trägerbasis hinter ihm zurückfiel. Ihre Ausmaße entzückten ihn immer wieder von Neuem. Ein Leviathan, einen ganzen Kilometer lang, der vor Geschützmündungen nur so starrte und auf hundert Drehgestellen mit fünf Meter durchmessenden Rädern durch die Wüste rollte. Solcherart war die Macht des Anarchen, ihm verschworen, der er der Hohe Archon war, der gesegnete Gaur. »Rotte«, sprach er ins Kom. »Lasst uns töten.« Palast-Kai, 09:12 »Sie sind früh dran«, sagte Beqa. Viltry zuckte die Achseln. »Der Einsatz wurde abgeblasen. Reparaturen, wissen Sie? Vielleicht heute Nachmittag.« »Frühstück?« »Bitte.« »Ich habe Eier. Sie essen doch Eier, oder?« »Keine Fischeier.« »Nein, keine Fischeier.« »Dann ja.« »Nehmen Sie Platz«, sagte sie. Viltry ging zu seinem bevorzugten Tisch. Das Café war ziemlich voll. Alte Leute, die frühstücken, und Gruppen von ManufakturArbeitern, die nach ihrer Nachtschicht noch etwas Warmes zu sich nehmen wollten. Draußen war der Himmel frei und blass, da ein starker Wind die Wolken vom Himmel verjagt hatte. Das Meer war dunkel und bewegt, und die Wellen hatten weiße Schaumkämme. Ein guter Tag zum Fliegen. »Kennst du den?«, fragte Letrice zweifelnd. »Wen?« »Den komischen Kerl. Den Flieger.« »Ja«, sagte Beqa, während sie mit der Pfanne hantierte. »Der ist in Ordnung.«
Über der Lida, 10:01 Die Nachricht von der Einsatzleitung kam vielleicht zwanzig Minuten, bevor Jagdea umgekehrt wäre und den Einsatz für beendet erklärt hatte. Entsatzstaffel wird angegriffen, dringende Unterstützung erbeten. Der Karte zufolge tobte der Luftkampf keine fünfzehn Kilometer südlich von ihnen. Jagdea befahl augenblicklich Vollschub und raste mit ihrer Staffel durch das Tal. Sie rief Blanshers Gruppe und forderte seine Unterstützung an. Seine Einheit war vierzig Kilometer weiter nördlich im Patrouilleneinsatz. Marquall schluckte und versuchte wachsam zu bleiben. Sie flogen in viertausend Metern Höhe und beschleunigten auf zweitausendeinhundert, zweitausendzweihundert Kilometer. Die Welt rauschte nur so vorbei. Sie flogen über eine verstreute Ansammlung landwirtschaftlicher Einrichtungen, dann über eine kleine Stadt und über eine lange Reihe verfallener Chemiefabriken hinweg. Das Flussbecken war nach vielen Jahren der Produktion leuchtend rosa und kastanienfarben verfärbt. Vor ihnen stieg eine dichte schwarze Rauchwolke in den Himmel. Sein Mund war trocken. »Waffen scharf machen«, funkte Jagdea. Marquall aktivierte mit behänden Fingern seine Waffen und stellte die Verbindung zur Zielerfassung her. »Primärwaffen wählen.« Diesmal keine Fehler. Waffen waren scharf und auf Laser geschaltet. Die Entsatzstaffel hatte aus sechs Superschweren Flottentransportern vom Typ Onero und einem Jagdschutz von sechs Blitzstrahlen bestanden, die den auf dem Rückzug befindlichen Truppen in der Wüste dringend benötigten Treibstoff bringen sollten. Die sechsmotorigen Transporter waren randvoll mit Prometheumgel und Motorenöl und daher äußerst schwerfällig. Leichte Ziele. Vier-Eins erreichte etwas, das aussah wie ein Schlachtfest. Ein Transporter war bereits abgestürzt und hatte über einen Quadratkilometer fruchtbares Flusstal in einen Feuersturm gehüllt. Die Rauchwolke hatten sie schwarz und fett bei ihrem Anflug gesehen. Bei einem anderen Transporter brannte ein Motor, und er verlor an Höhe. Mindestens drei Blitzstrahlen waren bereits abgeschossen worden.
Nicht weniger als fünfzehn schwarze und rote Fledermäuse wirbelten durch die Konvoi-Formation und wichen den Strömen der Leuchtspurgeschosse aus den Geschütztürmen der Transporter aus. Höllenklingen. Noch bevor sie in Reichweite waren, sah Marquall eine pechschwarze Klinge hereinrollen und Laserstrahlen in die silberne Flanke des hintersten Onero stanzen. Der Transporter explodierte mitten in der Luft. Grell, wie eine plötzlich aufflammende Sonne, ein gewaltiger Ring aus weißen Flammen, so heiß und heftig, dass kein einziges Trümmerstück die Hitze überlebte. Der grelle Schein ließ ihn zusammenzucken und blendete ihn für einen Moment. Im Kom summte es. Jagdeas Stimme war hart und schroff. Vier Worte. »Aufteilen. Schießt sie ab.« Zemmic rollte nach links weg, Clovin nach rechts. Marquall blieb auf Jagdeas Sieben-Uhr-Position, bis sie sich ins Getümmel stürzten, und schwenkte dann nach links weg. Der Himmel war voller tanzender Maschinen und Kondensstreifen, Abgasen und Qualen. Zu viele Objekte, die man verfolgen konnte. Er musste das eigentliche Ziel im Auge behalten. Sich auf die Fledermäuse konzentrieren. Nicht einmal auf alle Fledermäuse, die er sehen konnte. Nur auf diejenigen, die er sich mit seiner augenblicklichen Geschwindigkeit und Flugrichtung realistischerweise vornehmen konnte. Zwei waren an backbord und flogen in die andere Richtung. Sinnlos, sie überhaupt in Erwägung zu ziehen. Eine andere, grellrot, stieg steil nach oben. Die konnte er nicht erwischen. Da, auf zehn Uhr … nein. Ein Blitzstrahl, auf deren Aluminoidhaut die Sonne funkelte, als sie wegschwenkte. Flieg im Zickzack, bleib in Bewegung, winde dich hin und her, tanz weiter. Flieg länger als fünf Sekunden geradeaus, und du kannst dir ebenso gut eine Zielscheibe auf die Arschbacken malen. Hexan, sein betagter Fluglehrer in der Schola. Sein Mantra, seine Worte. Marquall konnte den alten Schweinehund im Geiste hören, wie er es sagte. Eine Fledermaus. Er rollte auf sie zu. Nicht gut. Sie schwenkte in die andere Richtung weg. Verdammt. Noch eine … aber der hing Clovin bereits im Nacken. Die Nase von Umbra Sieben leuchtete in einer Entladung auf. Ein Treffer? Zu spät, um es noch zu sehen, denn Marquall war bereits vorbei und darüber weg und legte sich in die nächste Kurve, die ihn unter einen der Transpor-
ter brachte. Die Geschütztürme des verdammten Dings eröffneten das Feuer auf ihn und jagten sein Heck mit gelben Leuchtspurgeschossen. »Freund! Freund! Freund!«, rief er in sein Kom, obwohl er wusste, dass es ihnen vermutlich egal war. Mittlerweile grenzenlos verängstigt feuerten die Kanoniere in den Bombern auf alles, was sich am Himmel bewegte. Er legte sich in die nächste Kurve, und eine rote Fledermaus flog ihm vor die Nase. Ohne nachzudenken, senkte er den Daumen und spürte Der Schmier erbeben, als die Geschütze feuerten. Hatte er getroffen? Die Wahrscheinlichkeit war gering. Es war ihm egal. Da war schon die nächste. Er war jetzt im Spiel. Jagdea konnte Marquall nicht sehen. Sie konnte sich jetzt keine Gedanken um ihn machen. Dies war nicht der richtige Ort, um Kindermädchen zu spielen. Sie waren in der Unterzahl und hatten es mit Maschinen zu tun, die genauso schnell und schwergewichtig waren wie ihre Donnerkeile. Mit ihrem anfänglichen Sturzangriff mit abschließendem Schwenk hatte sie sich sauber hinter eine Fledermaus gesetzt, sie aber wieder verloren, weil sie ihre Maschine noch nicht wieder ausgerichtet hatte und die Fledermaus aus ihrem Schussfeld geflogen war, bevor sie hatte schießen können. Sie rollte nach backbord und sah eine scharlachrote Klinge unter ihr durchrasen. Sie saß hinter einem der Blitzstrahlen und klebte an dessen Sechs. Die Flottenmaschine tat, was sie konnte, aber die Klinge ließ sich nicht abschütteln. Jagdea musste beinahe eine Schleife fliegen, um in Position zu kommen. Der Schusswinkel war schlecht, also sparte sie ihre Munition und schwenkte herum, bis sie direkt hinter der Klinge war. Sie musste sie gesehen haben, weil sie sofort ausbrach. Doch ihre Instinkte waren so ausgeprägt wie eh und je. Jagdea war ein Naturtalent, was Vorausahnungen betraf. Eine simple Frage der Logik, so sah sie es. Sie riet regelmäßig, was ein Feind tat, indem sie sich vorstellte, was sie an seiner Stelle tun würde. Blansher hatte einmal gesagt, wenn es so eine simple Sache sei, warum könne es dann niemand sonst in der Staffel so gut? Als die Klinge abdrehte, tat sie es in genau demselben Winkel. Zwei Feuerstöße. Vier Laserstrahlen. Alle vier trafen die Triebwerksdüsen der Klinge, die in einer funkelnden Trümmerwolke explodierte.
Kleine Wrackteile prasselten gegen ihren oberen Rumpf, als sie durch den Flammenkegel flog. Sofort ertönte der Warnton einer feindlichen Zielerfassung. Von einer Fledermaus über ihr. Leuchtspurgeschosse segelten vorbei, rosa und grell. Sie rollte mit einer Spur Seitenschub von den Vektoren und ließ die Fledermaus vorbeisegeln. Noch eine. Nein, zwei. Eine rot, eine malvenfarben, die auf den Transporter mit dem brennenden Motor herabstürzten. Der gewaltige Onero war ziemlich durchlöchert und leckte Ströme aus Treibstoffmischung in die Luft. »Nein, das werdet ihr nicht tun …«, zischte sie. Sie legte sich in eine extrem enge Kurve und grunzte in ihrer speziellen GriffHaltung, als der Andruck durchkam. Der Winkel war schlecht, aber sie feuerte dennoch. Eine lang gezogene Salve aus den Laserkanonen. Die rote Klinge verlor einen Teil ihrer rechten Tragfläche, geriet ins Trudeln und schmierte ab. Die malvenfarbene Klinge brach ihren Anflug ab und drehte am Rande der Belastungsgrenze von Pilot und Maschine schräg nach unten weg. Und explodierte. Eine längere Salve schlitzte sie förmlich auf, dann zerfetzten zwei kürzere, was noch von ihr übrig war, zu Metallstaub. Milan Blanshers Donnerkeil raste unter ihr durch. Vier-Zwo hatte in den Kampf eingegriffen. Theda, Luftwaffenstützpunkt Süd, 10:07 Eine kuriose Stille hatte sich auf den Rundsaal der Einsatzzentrale gelegt. Eads war der einzige Fluglotse, der Vögel in einem Luftkampf hatte. Die anderen Lotsen blieben zwar wachsam, schauten aber beständig in seine Richtung. Darrow hatte das Gefühl, im Rampenlicht zu stehen. Der Deck-Offizier war zu ihnen gekommen und stand neben Eads. »Status?« »Vier-Eins und Vier-Zwo sind im Gefecht. Sechzehn bestätigte Feinde. Vier Feinde werden als abgeschossen angezeigt.« Im Raum erhob sich Gemurmel. »Status der Entsatzstaffel?«, fragte der Deck-Offizier. Er hieß Banzie, ein kleiner, heiterer Mann in einer Uniform in Imperiumslila mit hohem Kragen.
»Zwei Tanker verloren. Einer angeschlagen. Drei Maschinen des Jagdschutzes abgeschossen.« Eads’ Stimme klang zerbrechlich und weit weg. Er schaute nach vorn ins Leere, während die Daten durch seinen Verstand wirbelten. Seine Hände krochen über die Anzeigen der Konsolen und korrigierten und überschrieben. Der weibliche Offizier am Modarschirm vor Eads’ Station nahm mit dem Griffel beständig Veränderungen auf dem Glas vor. Darrow ging auf, warum die Temperatur in der Zentrale so niedrig gehalten wurde: um den Leuten keine Möglichkeit zu geben, einzudösen oder abzuschlaffen. Damit Schläfrigkeit nicht das Urteilsvermögen beeinträchtigen konnte. »Einschätzung?«, fragte Banzie Eads. »Es wird eng. Ist irgendwas in Reichweite?«, erwiderte Eads. »Fordern Sie Unterstützung an!«, rief Banzie in den Raum. »Schnell. Umgehend!« »Ich habe das 44. Geschwader, sechs Maschinen, vierzehn Minuten entfernt«, rief ein Fluglotse an einer Konsole nicht weit entfernt. »Nein, Deck. Zu weit weg«, murmelte Eads. »Das 101. Vier Maschinen, die gerade über dem nördlichen Makanitgebirge auf dem Rückflug sind. Drei Minuten«, rief ein anderer durch die Kammer. »Treibstoff?«, fragte Banzie. »Sie sind seit zweihundert Minuten in der Luft und waren bereits in ein Gefecht verwickelt. Wenn wir sie zu Hilfe holen, stecken vielleicht noch fünf Minuten Gefechtszeit in ihnen.« »Sonst noch jemand?«, drängte Banzie. Nichts war näher als vierzehn Minuten. »Fluglotse?«, fragte Banzie. »Gerade hat es noch einen Blitzstrahl erwischt«, sagte Eads. »Und … das kann ich noch nicht bestätigen, aber wir könnten außerdem ein Mitglied von Umbra verloren haben. Erbitte Anweisung zur Unterstützung.« Banzie nickte und schaute auf. Seine Stimme hob sich zu Kasernenhof-Lautstärke. »Weisen Sie Unterstützung an! Lotsen Sie sie hin, bitte.« Darrow beobachtete den Fluglotsen auf der anderen Seite der Kammer, als dieser in hektische Aktivität ausbrach. »101, 101, hier spricht die Einsatzleitung. Sie haben Gefechtsanweisung. Bitte Empfang der Kursanweisung bestätigen.«
Ein Durcheinander aus Kom-Lärm antwortete. Der ModarOffizier vor dem Fluglotsen huschte gekonnt mit dem Griffel über die reaktive Glasanzeige. Dann hörte Darrow den Fluglotsen sagen: »Verstanden, Apostel. Ich bin sicher, sie werden froh sein, euch zu sehen.« Die Apostel! Heiliger Thron! Darrows Puls beschleunigte sich. Er warf einen Blick auf Eads, von dessen Stirn Schweißperlen tropften. »Bestätigung«, sagte er. »Wir haben ein Mitglied von Umbra verloren.« Über der Lida, 10:08 »Wo ist Clovin? Wo ist Clovin?«, rief Jagdea ins Kom. Sie hatte soeben ein Flugzeug abstürzen und einen Feuerball in den hydroponischen Anlagen unter ihnen erzeugen sehen. Es hatte wie ein Donnerkeil ausgesehen. »Ich kann ihn nicht sehen«, erwiderte Asche. »Nichts«, rief Ranfre. »Thron, was für eine Feier ist das hier?«, kreischte Cordiale. Jagdea sah ihn, unter sich und weiter links, wie er mit einer Fledermaus im Genick wilde Haken schlug. Der Luftraum war voller Leuchtspurgeschosse und Laserstrahlen. Ihre eigenen Laser waren verbraucht. Sie schaltete auf die Autokanonen um und stürzte sich hinab. Etwas Gegabeltes und Weißes jagte quer an ihrem Bug vorbei und raste hinter Zemmics Maschine her. »Habt ihr den gesehen?« Das war Blansher. »Wiederholen«, sendete Jagdea. »Die perlweiße Fledermaus. Das ist das Schwein, das Clovin auf dem Gewissen hat.« Blanshers Donnerkeil setzte sich kurz hinter sie und rollte dann weg. Asche flog unter ihr durch, gefolgt von Marquall. »Umbra Vier-Eins, hier Einsatzleitung. Unterstützung ist schon unterwegs. Weniger als drei Minuten.« »Verstanden«, keuchte Jagdea. Der Andruck, dem sie ausgesetzt war, presste ihre Lunge zusammen. Sie sah, wie Zemmic rollte, dann abschwenkte und seinen Angreifer endgültig abhängte. Aus seinem Steuerbordtriebwerk quoll Rauch.
»Umbra Zehn, Umbra Zehn, hier Staffelführer. Gefecht abbrechen und Abmarsch nach Hause.« »Ich kann den Vogel halten …« »Interessiert mich nicht, Zehn. Sofort abbrechen und nach Hause fliegen.« »Verstanden, Führer.« Sie sah die weiße Fledermaus, die durch die Ausläufer einer Wolkenbank flog. Blansher saß ihr im Nacken, Asche ebenfalls. So gut wie tot, entschied Jagdea. Sie wurde ohnehin anderswo gebraucht. Der brennende Onero hatte schließlich aufgegeben. Seine vom Feuer beschädigte Tragfläche riss ab, und der Transporter stürzte wie ein Meteor in das Flusstal. Noch ein greller Feuerball. Noch eine riesige Fläche Ackerland verwüstet. Jagdea sah, wie die Druckwelle Bäume entwurzelte, Silos demolierte und Plastekteile zerfetzter hydroponischer Flöße in die Luft schleuderte. Eine schwarze Höllenklinge rollte an ihren Geschützmündungen vorbei und schoss dabei auf Ranfres Maschine. Sie öffnete die Bremsklappen und fiel mit der Nase voran, von ihrem Sicherheitsgeschirr gehalten, förmlich darauf hinunter, während sie ihre Geschütze abfeuerte. Die Fledermaus schlug einen Haken und drehte ab, während sich Ranfre von ihr löste. Jagdea folgte der Fledermaus und bekam sie anständig in die Zielerfassung. »Peng«, sagte sie. Die Fledermaus verschwand und ließ einen feurigen Regen zurück. Blansher blinzelte erstaunt. Er hatte Clovins perlweißen Mörder mit klarem Signal deutlich in der Zielerfassung gehabt. Und dann war er einfach verschwunden. Er legte sich sofort in eine enge Kurve, da er mit einem Trick rechnete. Doch von der Fledermaus war nichts zu sehen. »Umbra-Vier, Umbra-Vier … Warst du das?« »Negativ, Umbra-Zwo«, erwiderte Larice Asche. »Verdammt, Mil, er hat dich ausgebremst. Er ist direkt unter dir!« Blansher flog eine halbe Rolle und ging dann herunter. Asche war bei ihm und schoss auf die gnadenlose weiße Höllenklinge, die jedes Manöver der Nummer zwei der Umbra-Staffel mitflog.
Das war nicht richtig. Das war verrückt. Blansher und Asche waren Jagdeas zwei beste Piloten, beide Asse. Wie konnte dieser Feind sie beide austanzen? Asche rollte steil abwärts und bekam die weiße Fledermaus in ihre Zielerfassung, musste dann aber den Daumen zurücknehmen, als ihr Blanshers Donnerkeil in die Quere kam. Das Dreckschwein spielte mit ihnen. Spielte sie gegeneinander aus. Die Klinge fegte nach links und durchlöcherte dann Blanshers Tragfläche mit einem Hagel aus Leuchtspurgeschossen. Asche erzielte einen Treffer, der einen dunklen Fleck auf der rechten Tragfläche der Fledermaus hinterließ. Dann rollte sie und schoss erneut. Blanshers Backbordtriebwerk explodierte. Rauchend fiel er aus dem Kampf heraus. Die Klinge schien zu erwägen, ihm zu folgen, drehte dann jedoch ab. Asche folgte ihm mit einem Grinsen unter ihrer Atemmaske. Und … sie war verschwunden. Sie drehte den Kopf und suchte sie. Ein Laserstrahl fegte durch ihre Tragfläche. Jetzt war die Fledermaus hinter ihr. Warnton Zielerfassung. Vier cremefarbene Donnerkeile kamen mit feuernden Geschützen von Süden angerast. Einer rollte perfekt, kam unter ihr herein und gab Salven auf die perlweiße Höllenklinge ab. Sie fiel zur Seite weg und zog dann unglaublich steil hoch, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren. Der weiße Donnerkeil raste an ihr vorbei. Einer der Apostel. Er wackelte mit den Flügeln. »Vielen Dank«, sendete Asche über Kom. So selbstsicher. So zuversichtlich. Die vier Apostel fegten durch den Luftkampf und räumten auf wie Rausschmeißer in einer Tavernenschlägerei. Seekan erzielte einen Abschuss, sein Flügelmann Suhr einen weiteren. Der legendäre Quint, das Ass der Asse, hatte Larices Haut gerettet. Die Feindflugzeuge brachen ab und begannen mit dem Rückzug aus dem Gefecht. Dann sah Asche, wie die perlweiße Höllenklinge sich hinter Marquall klemmte, der einen der flüchtenden Feinde verfolgte und dabei aus allen Geschützen feuerte. »Umbra Acht! Ausbrechen! Ausbrechen!«, rief sie.
Sie legte sich in eine Kurve. Jagdeas Maschine raste schießend an ihr vorbei. Die perlweiße Klinge klebte direkt an Marqualls Sechs. Warnton Zielerfassung. Er konnte die Fledermaus nicht abschütteln. Marquall stieß einen frustrierten Schrei aus. Und in seiner Verzweiflung tat Vander Marquall das Einzige, was ihm noch einfiel. Er zündete den Raketenantrieb seines Donnerkeils. Der war eigentlich nur zur Starthilfe da. Niemand benutzte ihn im normalen Flug. Das war gegen die Lehrbuch-Anweisungen. Zünde deine Rakete, und du verlierst die Kontrolle. Er zündete sie trotzdem. Himmel und Land verschwammen. Einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Irgendwie hielt er die Maschine in der Luft. Die perlweiße Höllenklinge drehte irritiert ab, als ihr Ziel davonraste. »Der gehört dir, Harlsson«, ertönte Seekans Stimme ruhig und beherrscht im Kom. »Bin dabei, Führer«, erwiderte Harlsson. Major Velmed Harlsson. Siebenundneunzig Abschüsse. Jagdea beobachtete seine vollendete Vorstellung mit bescheidener Anerkennung. Ein perfekter Schwenk. Nicht zu viel Schub. Vollkommen gesammelt. Er stürzte sich gekonnt und mit flammenden Geschützen auf das Ziel. Doch irgendwie gelang es der Fledermaus, sich unter ihm wegzuwinden und hinter ihn zu klemmen. Sie hörte Harlssons Stimme. Nur ein Anflug von Verwirrung in seinem gelassenen Tonfall. »Er hat mich in der Zielerfassung. Ich …«, begann Harlsson. »Seekan, wo …« Die Geschütze der Fledermaus sprengten ihm das Heck weg. Harlsson versuchte, seine bockende und trudelnde Maschine zu kontrollieren. Der riesige silberne Rumpf eines der Transporter füllte plötzlich sein Blickfeld aus. Der verstümmelte Donnerkeil raste mit fünfhundert km/h in die Seite des Onero. Die feurige Explosion erleuchtete das Tal.
Theda, LWS Süd, 10:18 »Apostel abgeschossen!«, rief der Fluglotse auf der anderen Seite der Kammer. Das Personal ringsumher stieß einen kollektiven Seufzer aus. Darrow schaute Eads an. Eads seufzte ebenfalls. »Der Feind hat das Gefecht abgebrochen. Die Fledermäuse ziehen sich zurück.« Banzie nickte. Sporadisch wurde Beifall geklatscht. Eads wandte sich an Darrow. »Eine weiße Fledermaus. Perlweiß. Klingelt da etwas bei Ihnen?« »Das hört sich nach derjenigen welchen an, Kommodore«, nickte Darrow. »Ein Teufel von einem Piloten. Ein echter Teufel. Notieren Sie alles über Ihre Begegnung mit ihm, woran Sie sich noch erinnern können. Ich werde Kopien des Berichts anfertigen und verteilen lassen. Die Staffeln müssen über ihn Bescheid wissen. Also, jede Einzelheit, bitte, Junior.« »Zu Befehl, Kommodore.« TAG 256 Theda, Altstadt, 00:10 Die Adresse, die sie bekommen hatte, gehörte zu einem Kaufmannshaus auf der Gehnstalstraße und war eines in einer ganzen Reihe älterer Anwesen. Einige waren wegen des Krieges vernagelt, aber angrenzende billige Habitatsilos zeigten, dass die Gegend schon seit einiger Zeit auf dem absteigenden Ast war. Jagdea hielt den Stabswagen an, den sie sich ausgeborgt hatte, stellte den Motor ab und stieg aus. Lichter fielen grell durch die Ritzen am Rande der Jalousien vor den Fenstern des Hauses, das sie suchte. Sie strich sich nervös die Uniform zurecht und eilte die Vordertreppe empor. War das Gesang, was sie hörte? Sie fand einen eisernen Klingelzug und riss daran. Irgendwo weit entfernt in dem Haus läuteten Glocken. Nach einem Augenblick wurde die Tür geöffnet. Der Flur dahinter war spärlich beleuchtet. Sie sah sich einem hochklassigen
Dienstboten-Servitor gegenüber, dessen silberner Leib mit verschnörkelten Gravuren verziert war. »Oh«, sagte sie überrascht. »Ich wollte eigentlich zu … ist das hier Gehnstalstraße 133?« »Ja, Geschwaderführer«, erwiderte der Servitor, der mit der digitalisierten sanften, manierlichen Stimme eines älteren Mannes sprach. Er hatte ihren Rang erkannt. »Ich suche das Quartier der Apostel. Des 101.« »Bitte treten Sie ein«, sagte der Servitor. Es war eindeutig Gesang, was sie im Hintergrund hörte. Eine Aufnahme von Frans Talfers Gaudete Terra, die von Männerstimmen mitgesungen wurde. »Folgen Sie mir«, sagte der Servitor. »Dürfte ich nach Ihrem Namen fragen, Geschwaderführer?« »Jagdea«, erwiderte sie. Die zierlichen Silberhände des Servitors öffneten geschmeidig eine holzvertäfelte Doppeltür, durch die heller Lichtschein und die volle Kraft der Musik fiel. »Geschwaderführer Jagdea«, verkündete er. Der Gesang brach ab, doch die Musik spielte weiter. Sie kam mit leichtem Zischen aus dem Lauttrichter des Abspielgeräts, das auf einem Nebentisch stand. Seekan erhob sich von einem Armsessel, um sie zu begrüßen. »Guten Abend, Geschwaderführer.« In dem Raum saßen auch die anderen sechs Apostel. Alle, auch Seekan, trugen volle Gala-Uniform, schwer mit Orden behangen. Sie hielten Gläser in den Händen und tranken offenbar schon eine ganze Weile. Gesichter waren gerötet, Jacken aufgeknöpft. Seekan sah so frisch aus wie Nachtfrost. »Verzeihung«, sagte Jagdea. »Ich störe.« »Überhaupt nicht«, sagte Seekan. »Domo, etwas zu trinken für den Geschwaderführer.« Der Servitor ging sofort zu einem lackierten Getränketischchen. »Ist das die Anführerin der phantiner Staffeln?«, fragte einer der Apostel. Er war ein großer Mann, dessen Augen von zu vielen Amasecs gerötet und zusammengekniffen waren. »Das ist sie in der Tat, Ludo. Geschwaderführer Jagdea, darf ich Ihnen Major Ludo Ramia vorstellen.« »Mamzel«, nickte ihr der große Mann zu. »Major Ziner Krone, Major Jeric Suhr.«
Suhr war ein magerer Mann mit scharfen Zügen. Er nickte schroff. Krone war von edlerer Statur, vielleicht ein Glavianer, der glänzenden schwarzen Haut nach zu urteilen. Seine linke Wange war ziemlich vernarbt. Er nickte ebenfalls, dann machte er sich daran, die Musiktafel zu wechseln. »Hauptmann Guis Gettering.« Gettering hatte Hängebacken und kurze sandweiße Haare und wirkte streitlustig. Er stand am Herd und hielt einen Kristallschwenker in der Hand. »Mamzel Geschwaderführer«, grunzte er. »Und Major Dario Quint.« Quint. Das Ass der Asse. Er ruhte auf einem ramponierten Korbsessel in einer Ecke und wirkte mehr wie ein Beobachter denn wie ein Teilnehmer. Er war überraschend klein, gut proportioniert und kompakt, sein ovales Gesicht jungenhaft, wenngleich seine Haare zinkgrau waren. Seine Hände waren vor der Brust gefaltet. Er starrte sie direkt an und hielt ihrem Blick stand, obwohl er keinen Ton von sich gab. Der Servitor reichte Jagdea eine Flöte mit Joiliq, und sie nahm das Glas, obwohl sie das Getränk gar nicht wollte. »Ich …«, begann sie und räusperte sich. »Ich dachte, es wäre angemessen, dass ich persönlich vorbeikomme und Ihnen die Anerkennung meines Geschwaders für Ihre Hilfe ausspreche. Vor allem angesichts des hohen Preises.« »Sie haben auch eine Maschine verloren, nicht wahr?«, fragte Ramia. »Ja, das habe ich. Aber der Verlust eines Apostels …« Ramia schnaubte. »Harlsson war ein widerlicher Scheißer. Seine Flugkünste waren keinen Furz wert.« Jagdea war mehr als verblüfft. »Ich … wie bitte?« »Ein verabscheuenswerter Mann«, stimmte Suhr zu. »Schauen Sie nicht so verdammt schockiert drein, Mamzel. Harlsson bestand nur aus Glück und Gespür. Kein Gramm Geschick in seinem ganzen Körper. Es ist ein Wunder, dass er sich überhaupt so lange gehalten hat.« Jagdea runzelte die Stirn. Sie stellte ihr Glas ab, unberührt, und sagte: »Ich wollte meiner Anerkennung und meinem Mitgefühl Ausdruck verleihen. Das habe ich jetzt getan, also gehe ich wohl besser wieder.« »Er hat diesem schnöseligen Jungen den Hals gerettet, oder nicht?«, fragte Gettering plötzlich.
Jagdea hielt inne und drehte sich wieder um. »Wie bitte?« »Harlsson. Ist abgeschossen worden, als er diesem Jungen von Ihnen die Klinge vom Hals geschafft hat, Mamzel. Stimmt das nicht? Diesem Jungen, der es für eine kluge Idee hielt, seinen Vogel Doppeladler zu nennen.« »Diese Angelegenheit ist erledigt, Hauptmann, obwohl ich glaube, dass Pilotoffizier Marquall immer noch auf Ihr Entschuldigungsschreiben wartet. Und, nein, es stimmt nicht. Marqual hatte die Klinge bereits abgeschüttelt.« »Hatte er?«, sagte Gettering. »Er hat seinen Raketenantrieb gezündet«, sagte Suhr. »Hat er?«, lachte Gettering. Ramia gluckste ebenfalls. »Also haben Sie den Jungen verloren.« »Nein«, sagte Jagdea. »Marquall hat die Herrschaft über die Maschine behalten.« Getterings Miene ließ vermuten, dass er drauf und dran war, sie der Lüge zu bezichtigen. Stattdessen schüttelte er nur den Kopf und sah weg. Die Musik fing wieder an zu spielen. Krone hatte Nuncius’ Salve Beatus aufgelegt, laut und kreischend. Jagdea verließ den Raum. »Geschwaderführer!« Seekan holte sie im Flur ein. Hinter ihm wurde der trunkene Gesang fortgesetzt. »Sie müssen meinen Männern verzeihen, Geschwaderführer Jagdea. Sie gehen mit dem Verlust auf ihre Art um.« »Indem sie eine flegelhafte Feier veranstalten und den Toten diffamieren?« »So in etwa«, sagte Seekan. »Sentimentalität hat keinen hohen Stellenwert in den Seelen dieser Männer, Jagdea. Sie sind vom Tod durchdrungen. Immun gegen seine Berührung.« »Aber eindeutig nicht unsterblich«, schnauzte sie. »Nein. Das habe ich nicht gemeint. Ihre Einheit jetzt. Ich kann mir vorstellen, es herrscht Traurigkeit. Gedrückte Stimmung. Man trauert wegen des Verlustes eines Freundes.« Jagdea nickte. Genauso war die Stimmung im Quartier bei ihrem Aufbruch gewesen. Ein paar hatten auf Clovins Schatten ein Glas gehoben, aber ansonsten herrschte eine allgemeine betäubende Schwermut.
»Daran kann ich mich noch gut erinnern«, sagte Seekan. »In den Anfängen. Aber wir Apostel sind kriegsmüde. Als ich sagte, wir sind immun gegen die Berührung des Todes, meinte ich damit, dass wir seinen Stachel nicht mehr spüren. Kein Gefühl des Kummers, des Verlusts, des Bedauerns oder der Traurigkeit. Nur eines der Unvermeidlichkeit. Wenn ein Apostel stirbt, ziehen wir unser Gala-Weiß an, heften uns den lächerlichen Haufen Orden an die Brust und betrinken uns fürchterlich. Wir toben, wir singen, wir trinken noch mehr. Wir tun es, um dem Schicksal, Fortuna oder wer sonst da draußen im Dunkeln lauert, zu verkünden, dass es uns egal ist.« Sie hatte keine Antwort darauf. Seine Stimme senkte sich ein wenig. »Wir sind Missgeburten, Jagdea. Wissen Sie, warum wir Apostel sind? Nicht, weil wir besonders gute Piloten sind. Ganz und gar nicht. Wir sind Apostel, weil wir unnatürliches Glück hatten. Wir hätten schon vor langer Zeit sterben müssen, aber es gab ein Versehen, und unsere Seelen wurden eben noch nicht geholt. Also fliegen und töten wir weiter. Und irgendwann wird das Versehen korrigiert. Heute war Harlsson an der Reihe.« »Das ist eine sehr freudlose Sichtweise«, sagte Jagdea. »War Harlsson wirklich so unbeliebt?« »Wer weiß? Wahrscheinlich nicht. Er war ein anständiger Pilot. Aber wir sind alle nicht befreundet, müssen Sie wissen. Das hätte keinen Sinn. Wenn man schließlich ein Apostel wird, sind Freunde eine Schwachstelle, die sich keiner von uns leisten will.« »Sie tun mir leid«, sagte Jagdea. Seekan zuckte die Achseln. »Wir brauchen auch kein Mitleid.« Er hielt inne. »Wissen Sie, was ich morgen früh tun muss?« »Nein.« »Mein Fahrer fährt mich die Küste entlang zum Luftwaffenstützpunkt Madenta. Dort ist ein Pilot beim 567. stationiert. Er heißt Saul Cirksen. Zweiundsiebzig Abschüsse, überragende Historie. Ich werde ihn einladen, Harlssons Platz einzunehmen.« »Wird er annehmen?«, fragte sie. »Wenn man eingeladen wird, ein Apostel zu werden, Jagdea, ist einem nicht gestattet, abzulehnen.« Sie öffnete die Haustür. Die Nachtluft war kalt und roch nach Regen. In dem Salon hinter ihnen schwoll der lärmende Gesang zu einem herzhaften Refrain an.
»Vielen Dank für Ihre Mühe, Geschwaderführer«, sagte Seekan. »Sie bleibt nicht so unbeachtet, wie Sie vielleicht glauben.« Jagdea deutete einen kurzen, knappen Salut an. »Gutes Fliegen«, sagte sie. Küstenstraße, 05:50 Zuerst glaubte er, es sei ein Sommergewitter, dessen Blitze er im langsam hereinbrechenden Morgengrauen am Himmel sehe. Es dauerte ein wenig, bis ihm klar wurde, dass es keines war. Er hielt seinen schweren Transporter an und sprang mit seinem Fernglas in der Hand aus dem Führerhaus auf den Asphalt der Straße. Die anderen sieben Laster in der Kolonne hinter ihm hielten ebenfalls an. Bei dem Konvoi handelte es sich um einen nächtlichen Munitionstransport für den Luftwaffenstützpunkt Fetona, der bereits Verspätung hatte. Ein paar Fahrer hupten und ließen den Motor aufheulen. Schließlich stiegen sie ebenfalls aus. Sie fanden Kaminsky auf der anderen Seite der Schnellstraße, wo die Böschung neben einem ausgetrockneten Bachbett abfiel. Dieses Gebiet der Halbinsel war unfruchtbar. Gräser, Faserkraut und kleine Salzsäulen wuchsen auf dem zerklüfteten Boden. Nicht einmal im kalten Dämmerlicht des frühen Morgens gab es etwas, das den Blick zum fernen Lidatal beeinträchtigte. Kaminsky schaute durch sein Fernglas. »Was ist denn los?«, fragte Velligan. »Kaminsky, wo liegt das Problem?«, sagte Anderchek hinter ihm. »Seht ihr das?«, fragte Kaminsky. »Dieses Leuchten? Das ist Feuerschein. Die Städte entlang der Lida werden bombardiert.« Theda, LWS Süd, 06:17 Etwas Großes war im Gange. Darrow hatte schlecht geschlafen und war sich der umfassenden Startaktivitäten in den frühen Morgenstunden bewusst gewesen. Er hatte noch bis spät in die Nacht an dem Bericht gearbeitet, den anzufertigen Eads ihm aufgetragen hatte, und eineinhalb Stunden vor Beginn seiner nächsten Schicht in der Einsatzzentrale machte er sich auf, Heckel zu suchen, um die Anmerkungen des Majors zu ihrer Begegnung mit der weißen Fledermaus einzuholen.
Eine Abgaswolke hing in der unbewegten Luft über dem Stützpunkt. Die Mehrheit der Maschinen befand sich im Einsatz. Darrow redete mit einem Commonwealth-Mechaniker, den er kannte, und der Mann erzählte ihm, nördlich des Gebirges hätten die Bombenangriffe begonnen. Städte am Fluss seien getroffen worden, landwirtschaftliche Zentren und Fabriken. Jemand schätzte, die Flugzeuge seien bis Ezraville gekommen. Jeder, dem er begegnete, schaute verkniffen und besorgt drein. Jeder dachte dasselbe. Dies war der Anfang vom Ende. Sogar die Reserve-Einheiten des Commonwealth wie die BeuteStaffel waren in Bereitschaft. Mürrisch und in voller Flugrüstung hockten sie in den Bereitschaftsräumen und warteten auf den Einsatzbefehl. Wolfswelpen wurden zu ihren Rampen gefahren, Zyklone aus den Lagerschuppen gerollt und von Tankwagen und Munitionslastern angefahren. »Heckel?« Niemand hatte ihn gesehen, und niemand war in der Stimmung für ein längeres Gespräch. Den Aushängen zufolge hätte Heckel unter den Bereitschaftspiloten sein müssen. Darrow beschaffte sich seine Zimmernummer und ging zu dem geschützten Habitatsblock am Westende des Bereitschaftsareals. Im Licht der schmutzigen Flurlampen fand er die richtige Tür und klopfte. »Herr Major? Major Heckel? Sind Sie da, Herr Major?« Er klopfte wieder. »Major Heckel? Ich bin’s, Darrow. Haben Sie eine Minute Zeit?« Er wollte sich schon abwenden, aber eine böse Vorahnung ließ ihn die Türklinke ausprobieren. Die Tür war nicht abgeschlossen. Das Feldbett in dem kleinen Raum war ungemacht. Auf dem Schreibtisch war ein Durcheinander aus Papieren und Habseligkeiten ausgebreitet, und auf dem Offiziers-Schrankkoffer lagen Kleidungsstücke. Ein Klappstuhl lag mitten im Raum auf der Seite. Major Heckel hatte sich mit einem Sicherheitsgurt an einem Dachbalken erhängt. »O Gott-Imperator!«, rief Darrow. Er lief ins Zimmer, packte die Beine des Majors und mühte sich, sie anzuheben, um den Strang um den Hals zu lockern. »Hilfe! Ich brauche Hilfe!«, rief er. Er bekam den Körper nicht aus der Schlinge. Heckel war wie ein Bleigewicht.
Darrow stieß einen frustrierten Schrei aus. Er ließ los, suchte und fand Heckels Kampfmesser in dem Kleiderhaufen auf dem Koffer, richtete den Stuhl auf, stieg darauf und säbelte an dem Sicherheitsgurt herum. Er stammte aus dem Geschirr eines Kampfflugzeugs und bot hartnäckigen Widerstand, da er reißfest sein sollte. Darrow brüllte noch einmal und schnitt sich mit dem Messer in den Finger, als er das dicke Material zu unbeherrscht bearbeitete. »Wagen Sie ja nicht zu sterben! Wagen Sie’s ja nicht!«, blaffte er. »Wie konnten Sie nur, Heckel! Wie konnten Sie!« Darrow nahm vage zur Kenntnis, dass zwei Flieger hereinkamen, die sein Gebrüll angelockt hatte. Er hörte ihre entsetzten Rufe. Sie packten Heckels Beine und hoben ihn an. »Schneid ihn ab! Schneid ihn ab!«, rief einer. »Ich versuch’s ja … ich …« Der Gurt teilte sich. Heckel fiel schwer in die Arme der anderen Männer und stieß Darrow vom Stuhl und auf dessen Koje. Sie streiften ihm die Schlinge ab und machten Wiederbelebungsversuche. Darrow stand auf und ließ das Messer fallen. Er wusste, dass sie ihre Zeit verschwendeten. Die Totenflecken am Hals, die Blässe der Wangen, die blauen Lippen. »Du armer Hund«, seufzte Darrow. »Du armer, dämlicher Hund.« Infolge der energischen Wiederbelebungsversuche eines der Männer war ein Umschlag aus der Brusttasche von Heckels Fliegerjacke gefallen. Darrow hob ihn auf. Der Umschlag war unbeschriftet, als sei Heckel niemand eingefallen, an den er ihn hätte adressieren können. Darin befand sich ein Blatt Papier mit einem einzigen handschriftlichen Satz: Möge der Gott-Imperator mir verzeihen, aber ich kann nicht mehr so weitermachen. TAG 257 Theda, Altstadt 07:31 Die Messe war vorbei. An diesem Morgen waren sehr viel mehr Gläubige gekommen als sonst, drei mal so viele wie sonst bei der Morgenandacht. Beqa hatte in einer langen Schlange warten
müssen, um ihre Kerzen anzuzünden. Alle hatten Angst. Man konnte die Angst beinahe riechen. Natürlich hatten sie schon seit Monaten Angst, aber sie hatten sich daran gewöhnt und ihr Leben weitergeführt. Doch in den letzten zwei Nächten hatte sich die Angst verstärkt. Vom Westen der Stadt konnte man die Brände in Ezraville wüten sehen. Tausende waren bei den Bombardierungen der Städte im Lidatal ums Leben gekommen, und die Angriffe gingen weiter. Wie lange noch, bis die Bomben auch auf Theda fielen? Wie lange noch, bis die gesamte Küste in Flammen stand? Wie lange noch? Wie viel Zeit blieb Enothis noch? Die einzige gute Nachricht war in der Predigt des Hierarchen gekommen. Mittlerweile war offiziell bestätigt worden, dass die ersten Elemente der sich zurückziehenden Land-Armada das Gebirge verlassen hatten und unterwegs zur Küste waren. Soldaten kehrten heim. Sie zündete ihre drei Opferkerzen an. Eine für Gart, eine für Eido, eine für alle, die … Nein, eine für Viltry. Über der Inneren Wüste, 09:07 »Wenn ich mich gerade von den Dreieinigkeit-Makropolen zurückgezogen hätte und den ganzen Weg zurück durch die Wüste marschiert wäre, von diesen Bergen ganz zu schweigen, glaube ich nicht, dass ich danach noch viel Lust zu kämpfen hätte.« »Da haben Sie nicht ganz unrecht, Judd«, sagte Viltry über Interkom zu seinem Bombenschützen. Die Halo-Staffel hatte soeben ein Schelf Wüsten-Hochland überflogen, durch das eine zehn Kilometer lange Kolonne aus Imperiumspanzern und Waffentransportern zog. »Ich meine«, fuhr Judd fort, »wir wollen doch den Erzfeind aufhalten, bis die Bodentruppen zu Hause sind und sich neu formieren können. Neu formieren? Das ist ein schlechter Witz. Die werden zu nicht mehr viel gut sein.« »Vielleicht«, sagte Viltry leichthin. »Erledigen wir einfach weiter unsere Arbeit und hoffen, dass der Schein trügt.« Greta führte eine Staffel von sechs Marodeuren. Sie flogen niedrig, dicht über dem Wüstenboden, und versuchten unter den Modar- und Auspex-Kegeln etwaiger in der Wüste verborgener Landträger zu bleiben. In der Zwischenzeit flogen Aufklärungs-
Blitzstrahlen irgendwo an der Grenze ihrer maximalen Flughöhe und suchten die Träger. Halo konnte jeden Augenblick der Einsatz befohlen werden. Die Wüste bildete eine unheimliche, fast graue Landschaft unter ihnen. Die Schatten der niedrig fliegenden Maschinen flackerten und tanzten über die Dünen und die Plateaus aus Fels und Geröll dazwischen. Viltry fühlte sich bemerkenswert gefasst. Er fragte sich, ob Beqa Mayer vielleicht etwas mit seiner verbesserten Verfassung zu tun haben mochte. »Kontakt!«, sagte Lacombe plötzlich. Viltry versteifte sich ein wenig. »Acht Echos, Höhe siebentausend, Flugrichtung null-siebenfünf.« Viltry schaute durch das Sichtgerät. Feindliche Maschinen, eindeutig, unterwegs nach Südwesten, zwölf oder mehr Kilometer entfernt. Kein Patrouillenflug. Ihr Kurs war zu gradlinig, zu zielstrebig. »Lacombe – erkundigen Sie sich bei der Einsatzleitung, ob sie den Kurs dieser Fledermäuse für uns zurückverfolgen können.« Über das Tosen der Triebwerke hörte Viltry seinen Navigator in das Hauptkom sprechen. Dann schaltete er sich wieder ins Interkom ein. »Sie haben sie seit fünfzehn Minuten auf dem Modar, als sie über das Makanitgebirge nach Süden geflogen sind.« »Die fliegen nach Hause«, sagte Viltry. »Sie fliegen nach Hause, und sie haben es eilig, weil ihnen der Sprit ausgeht. Halo-Staffel, Halo-Staffel, hier Führer. Höhe beibehalten, aber auf mein Zeichen auf Kurs null-sieben-fünf schwenken.« Die sechs beladenen Maschinen änderten ihren Kurs, blieben aber dicht über dem Sand. Greta flog an der Spitze, dann kamen Hallo Höllenfeuer, Witwenmacher, Thron von Terra, Ihr Seid Tot und Fräulein Abenteuer. Viltry befahl allen Vögeln, die Bordwaffen und Bombenladungen scharf zu machen und die Augen offen zu halten. Auch wenn sie die Fledermäuse nicht im Auge behalten konnten, mussten sie in Ortungsreichweite der Geräte bleiben. Weil die sie direkt zu einem Träger führen würden.
Über Ezraville, 09:18 »Angriff!«, tönte Jagdea und rollte Null-Zwo mit Ranfre, Waldon und Del Ruth im Nacken in einen steilen Sturzflug. Viertausend Meter unter ihnen, teilweise durch eine dünne Wolkendecke verborgen, war der Luftraum voller Flugzeuge, die wie Fische in einem Tropenmeer hin und her jagten. Weitere neuntausend Meter unter der gewaltigen Luftschlacht lag die große Stadt Ezraville, eine Collage aus Schwarz- und Grautönen neben dem spiegelweißen Areal des Flussdeltas. Hinter Jagdeas Rudel führte Larice Asche die zweite Hälfte von Umbra ins Gefecht: Cordiale, Van Tull und Marquall. Nur zwei Drittel des Geschwaders waren flugtüchtig. Clovin war tot, Espere kampfunfähig, wahrscheinlich für immer, und Blansher und Zemmic saßen am Boden fest, da ihre Maschinen repariert wurden. Der Sturzflug war heftig. Die negative Beschleunigung drückte sie in die Sitze und verzerrte ihre Gesichter zu Grimassen. Jagdea hatte schwarze Flecken vor den Augen, aber sie versuchte konzentriert zu bleiben und schlau aus dem Getümmel zu werden, dem sie sich näherten. Sie waren gerufen worden, um eine riesige Welle von feindlichen Bombern abzufangen, die zur Küste unterwegs waren. Fast zweihundert Maschinen, hauptsächlich Höllenklauen und Peiniger, dazu Jagdschutz. Schlechtes Wetter hatte den Auspex gestört, sodass die Angreifer bereits im Anflug auf Ezraville waren, als die Warnung schließlich einging. Mittlerweile warfen sie ihre Ladungen auf die Stadt ab. Andere Geschwader kämpften bereits. Die 2665. Donnerkeile, die 44. und 138. Blitzstrahlen sowie ein Geschwader der neusten Zyklone des Commonwealth. Mit Umbra waren damit ungefähr sechzig Imperiumsmaschinen im Einsatz. Weitere waren unterwegs. Noch mehr, die Mehrzahl, kämpfte gegen zwei gleichermaßen massive Bomberwellen über der Lida. Die feindlichen Bomber, hakenförmig, bunt und bedrohlich, waren zu langen V-Formationen auseinandergezogen wie Zugvögel auf Wanderschaft und behielten diese bei, während sie ihre Bomben abwarfen. Die Imperialen flogen durch diese Reihen und versuchten sie abzuschießen – während sie sich gleichzeitig der Begleitschutz fliegenden Angriffe gefährlicher Heuschrecken erwehrten.
Sobald sie ihre Bomben abgeworfen hatten, drehten die großen Peiniger in der Regel ab und flogen nach Hause, aber die Höllenklauen, extrem starke Kampfbomber, blieben an Ort und Stelle. Von der Last ihrer Bombenladungen befreit, stürzten sie sich auf die Stadt und flogen Angriffe mit Raketen und Kanonen, oder blieben im Kampfgebiet, um für den Rest der Welle zusätzlichen Jagdschutz zu fliegen. Es wimmelte von Flugzeugen, Geschossen und Rauchwolken. Teile der Stadt unter ihnen standen in Flammen. Jagdea spürte den Hass in ihrem Herzen auflodern. Ihr Sturzflug endete direkt hinter einer Klaue. Sie richtete die Nase aus, bis sie die feindliche Maschine mitten in ihrem Fadenkreuz hatte, und drückte ab. Die Klaue explodierte mitten in der Luft. Jagdea war bereits mit Mach eins daran vorbei, wendete unter der Bomberformation und raste von unten auf einen Peiniger zu. Ihr Zwillingslaser feuerte, und die Maschine erbebte, als sich ihr Bauch öffnete, als werde ein Fisch ausgenommen. Trümmer, Maschinenteile und Schmiermittel ergossen sich daraus nach unten. Der Peiniger zog eine weiße Rauchfahne hinter sich her, als er sich langsam auf die Seite legte und abkippte. Er war tot, doch sie blieb noch einen Moment bei ihm, wechselte auf die Kanonen und beharkte ihn von einem Ende zum anderen. Der Peiniger ging in Flammen auf und explodierte. Brennende Trümmer regneten auf die umnachtete Stadt herab, aber es war besser für sie, wenn der Bomber in der Luft explodierte, als mit seiner gesamten Bombenlast auf einen Habitatsblock zu stürzen. Ranfre und Waldon waren beide dicht hinter ihr und zerstörten Peiniger mit gut austarierten Manövern, um dann auf der Jagd nach neuen Zielen abzuschwenken. Weniger als dreißig Sekunden später hatte sich Waldon hinter eine Klaue geklemmt, die gerade dabei war, ihre Bomben abzuwerfen, und zerfetzte deren Kanzel mit Geschützfeuer. Als die rote Maschine abschmierte und kurz darauf auseinanderbrach, jubelte Waldon laut. Er hatte soeben den vierten und fünften bestätigten Abschuss in seiner Laufbahn erzielt. Er war jetzt ein Ass. Del Ruth, die letzte der vier, schoss an ihrem auserwählten Ziel vorbei, das sie im letzten Moment hatte heranstürzen sehen und dem sie mit einer verzweifelten Rolle ausgewichen war. Doch sie richtete die Maschine sofort aus und suchte sich eine Heuschrecke
als neues Ziel aus, die eines der Flugzeuge des Commonwealth jagte. Die Zielerfassung bestätigte mit einem Signalton, sie drückte ab, und als die Heuschrecke erbebte, jagte sie noch eine Salve hinein und blies sie in Stücke. Asches Maschinen kamen Augenblicke später und gingen noch zielstrebiger zu Werke, falls das überhaupt möglich war. Asche erwischte eine Klaue sauber in der Flanke. Van Tull schoss auf einen Peiniger, beschädigte ihn, flog eine Schleife und vollendete den Abschuss. Cordiale verfehlte eine Klaue und musste dann feststellen, dass er eine Klaue und eine Heuschrecke im Nacken hatte. Er versuchte wegzuschwenken, stieß dabei aber fast mit einem frontal entgegenkommenden Blitzstrahl zusammen. Er riss am Steuerknüppel, um auszuweichen, und geriet beinahe ins Trudeln. Der Blitzstrahl kippte die Flügel an, und die Spitze seiner linken Tragfläche streifte die Klaue hinter Cordiale. Der Blitzstrahl verlor seine Stabilität, kreiselte, korrigierte, und wurde dann von zwei anderen Heuschrecken in Stücke gesprengt. Mit einer Fahne herabfallender Trümmer im Schlepptau flog die gestreifte Klaue einen weiten Bogen direkt in Asches Fadenkreuz. Sie ließ wenig Gnade walten. Cordiale schwang herum und klemmte sich hinter einen Peiniger. Er hatte seine Ladung abgeworfen und machte sich gerade auf den Heimweg. Aber er war trotzdem ein brauchbares Ziel. Wenn er hier abgeschossen wurde, konnte er nicht mit einer weiteren Bombenladung wiederkommen. Marquall, der als Letzter hereinkam, war sicher, einen Abschuss vor sich zu haben. Er gab zwei Feuerstöße ab, aber die Höllenklaue war noch intakt, als er abwärts an ihr vorbeiraste. Er zog hoch und ging wieder in den Steigflug, um etwas Geschwindigkeit zu verlieren, damit die Kontrollen durch die hohe Geschwindigkeit nicht ganz so steif waren. Blitzartig erkannte er, dass er zwischen zwei Peinigern hochgekommen war, die gerade ihre Bomben wie Eier abwarfen. Er verwünschte sein Pech. Er hatte die Gelegenheit verpasst, auf zwei leichte Ziele loszugehen, und das nur, weil er es mit der Korrektur so eilig gehabt hatte. Marquall war fast ohnmächtig vor Wut. Das Verlangen, einen Abschuss zu erzielen und damit sein Konto zu eröffnen, brodelte in ihm. Schlimm genug, dass er der Jüngste war, der Unerfahrenste, schlimm genug, dass Pers Espere verstümmelt worden war, als er Kindermädchen für ihn gespielt hatte. Marquall hatte
noch keinen Abschuss für sich verbucht. Nun, da sein Selbstvertrauen nach jenem katastrophalen Jungfernflug langsam zurückkehrte, war er entschlossen, seinen Wert im Kampf zu beweisen. Es wimmelte von Feindmaschinen! Da würde er doch wohl eine davon treffen können. »Umbra Acht! Umbra Acht! Sofort nach links ausbrechen!« Das war Van Tulls Stimme. Marquall dachte nicht einmal darüber nach. Er schwenkte das Ruder, riss am Steuerknüppel und flog eine halbe Rolle, während er nach links auswich. Eine flammengelbe Höllenklaue rauschte über ihn hinweg und an ihm vorbei. »Danke, Drei«, sendete er, als er sich wieder aufrichtete und höher kletterte. »Alles klar, Acht?«, sendete Van Tull. »Eins a«, erwiderte Marquall. Sie spielten immer noch Kindermädchen für ihn. Das wurmte ihn. Andererseits wäre er ohne Van Tulls Warnung jetzt wahrscheinlich tot. Er wendete. Praktisch sofort sah er einen Zyklon, der vor einer Klaue floh. Das Propellerflugzeug des Commonwealth zog eine Rauchfahne hinter sich her. Marquall fragte sich, warum die Einsatzleitung die Zyklone und Wolfswelpen in der Luft ließ. Es war Selbstmord, solche Maschinen gegen die Vektorschub-Jäger des Erzfeindes zu fliegen. Er gab Schub, flog eine weite Kurve, gab einen verschwendeten, aber befriedigenden Feuerstoß auf einen Peiniger ab, als er über dessen Rücken wegflog, und klemmte sich hinter die Klaue. Dieses Mal … Der Backbordmotor war tot, und dasselbe galt für Artone. Frans Scalter rang mit dem bleiernen Steuerknüppel des Zyklon und rief seinen Kopiloten und langjährigen Freund flehentlich an. Kugeln waren durch die Kanzel der Maschine gefegt und hatten die gläserne Nase zerschmettert und Artone dabei entzweigerissen. Wind heulte durch die geborstene Glasblase. Überall war Blut, und die Instrumente waren mit klebrigen Fetzen menschlichen Gewebes bedeckt. »Ich bring dich nach Hause! Ich bring dich nach Hause!«, jammerte Scalter, während er sich gegen die Szenerie ringsumher sperrte und stattdessen eine wunderbare Zukunft ausmalte, in
der er den beschädigten Zyklon nach unten brachte und das Personal herbeieilte, Artone wieder zusammenflickte und lebendig machte. Scalter wusste, dass er weiter ausweichen musste. Die Höllenklaue war jetzt direkt hinter ihm. »Sucher Eins! Sucher Eins! Brauche Hilfe! Bitte …« Die Geschütze der Klaue legten los. Wie eine Katze, die mit einer Maus spielte, ließ das Schwein nicht von dem Zyklon ab. Sie schwang mit ihrer geballten Kraft hin und her und glich jeden hektischen Schwenk und jeden Haken aus, den der Commonwealth-Pilot versuchte. Die Klaue hatte Blut gewittert. Sie wollte den Abschuss. Sie war gierig. Sie blieb hinter ihrem Ziel. Der erste und älteste Fehler. Marquall kam an ihre Fünf und kalkulierte den Vorhalt mit fast gemächlicher Heiterkeit. Dann feuerte er mit den Kanonen und hörte das Krachen der Verschlüsse und das Rattern der Autolader, die Munition aus den surrenden Trommeln zuführten. Irgendwie hatte Marquall erwartet, dass die feindliche Maschine explodieren oder Feuer fangen oder sonst etwas Spektakuläres tun würde. Sie erbebte nur. Ein Teil einer Tragfläche verformte sich wie Folie, und aus einem Triebwerk quoll brauner Rauch. Dann fiel sie einfach aus der Luft. Aller Auftrieb ging in einem schockierenden Augenblick verloren, und sie kippte weg und überschlug sich dabei wie ein von einem bockigen Kind weggeworfenes Spielzeug. Sie trudelte unter ihm davon und wurde immer kleiner. Thron, er hatte sie erwischt. Er hatte sie abgeschossen. »S-Sucher Eins, Sucher Eins«, stammelte er, nachdem er aus einer kurzen Starre erwacht war. »Hier Umbra Acht. Du hast den Rücken frei, Freund. Bring deine Maschine nach Hause und heil runter.« »Umbra Acht, hier Sucher Eins. Verstanden.« Nicht einmal ein Dankeschön? Marquall kümmerte das nicht weiter. Er spürte ein Feuer im Bauch, eine Glut der Aufregung
und Zufriedenheit. Er war nicht mehr der Junge, der ein Kindermädchen brauchte. Etwas schleuderte ihn in seinen Sitz wie ein Tritt ins Gesicht. Der Schmier stellte sich auf den Kopf, während jeder Alarm heulte. Voller Entsetzen und Verwirrung zog Marquall am Steuerknüppel, aber er war schlaff und tot. Er sah Flammen auf seiner Backbordseite, und Metallplatten blätterten ab wie Fischschuppen. Feuer leckte in die Kanzel. »Nein!«, schrie er. »Oh, nein, nein, nein!« Er fummelte an seinem Geschirr herum und versuchte an den Hebel für den Schleudersitz zu gelangen. Nur halb wahrgenommene Stimmen dröhnten aus dem Kom. Gewaltige negative Beschleunigung. Ihm wurde bereits schwarz vor Augen. Er konnte die Hand nicht mehr heben, geschweige denn den Hebel erreichen. Voraus raste ihm wie ein rasch kreiselndes kaleidoskopisches Bild die Stadt entgegen. Über der Inneren Wüste, 09:22 Sie flogen über die Spitze einer Düne hinweg, und da war er. Seine Größe raubte ihnen den Atem. Judd stieß einen besonders anschaulichen Fluch aus. Ein Massenträger. Er war beinahe einen Kilometer lang, eine riesige Platte aus brünierten Decks und erhöhten Rampen, die in der Wüstensonne bronzen leuchtete. Riesige Radgestelle rollten den Träger durch den Sand. Man hatte Viltry gesagt, der Feind nenne diese Ungetüme Trägerbasen, als seien sie Nester für die mörderischen Fledermäuse. Er war Ausdruck eines mechanischen Genius’, ein Gigant unter Maschinen. Nichts konnte etwas so Großes zerstören. Nichts konnte … Er fing sich wieder. Sie würden es versuchen müssen. Das war die Aufgabe, die der Gott-Imperator ihnen zugeteilt hatte. »Kein Zögern, Halo«, rief er. »Wir greifen an. In Reihe und abwerfen, dann wenden und Bordwaffen für den zweiten Überflug. Der Imperator beschützt.« Er sah, wie die Klauen, denen sie gefolgt waren, in die geriffelten Fangrinnen auf dem obersten Deck einschwenkten. Sie sahen vergleichsweise winzig aus, wie kleine bunte Flecken.
Der Träger hatte die im Tiefflug anfliegenden Marodeure bemerkt. Hunderte Luftabwehrbatterien drehten sich wie die Schwänze aufgeregter Skorpione, und dann war die Luft erfüllt von detonierenden Luftabwehrgranaten und Leuchtspurgeschossen. Ein Hagelsturm aus Feuer schlug ihnen entgegen. »Auf Kurs bleiben, auf Kurs bleiben …«, befahl Viltry. Eine Sirene jaulte. Zwischen dem Hagel der Flak erspähte er die Rauchfahnen von Raketen, die von dem Träger starteten. Wortlos betätigte er den Auslöser für die Düppel, und Wolken aus funkelndem, verzerrendem Material wurden von Gretas Werfern ausgespien. Dann auch Hitze erzeugende Leuchtkugeln. Knapp daneben liegende Explosionen ließen den Rumpf erbeben. Der Luftraum zwischen den anfliegenden Bombern und dem riesigen Träger war erfüllt von Explosionsblitzen und schwarzem und weißem Rauch. Eine Rakete traf Fräulein Abenteuer und schoss sie ab. Das zerfetzte Wrack und Teile des Rumpfes prallten mit wenig unter Mach eins auf den Wüstenboden, trieben sich überschlagend tiefe Furchen in den Sand und spien dabei Flammen wie Feuerwerk. »Nase und Dach. Feuer frei«, sagte Viltry. Die Geschütztürme fingen an zu schießen und ließen die Geschosse über den Steuerbordbereich des Trägers wandern. Viltry, der sich nach Kräften konzentrierte, sah Fledermäuse, die aus tiefer gelegenen Abschusskanälen zu starten versuchten. Naxol hatte sie ebenfalls gesehen. Eine Heuschrecke löste sich von ihrem Ionenkatapult und platzte wie eine Leuchtkugel. Zehn Sekunden. Fünf. Flakschaden an der linken Tragfläche. Einfach ignorieren, halt sie auf Kurs. Zwei Sekunden. Eine. Bomben los. Halo flog über den riesigen Träger. Jeder einzelne Bombenschütze hatte seine Ladung perfekt gesetzt. Gigantische Explosionen erleuchteten das Deck, durchlöcherten die gepanzerten Rampen, rissen Flakstellungen aus den Halterungen, brachten Hebebühnen und Kräne zum Einsturz. Jemand – Viltry vermutete Witwenmacher – hatte seine Ladung auf den Kommandoturm abgeworfen, der sich über den obersten Deckabschnitt erhob. Ein gewaltiger Feuerball breitete sich aus und brachte den Turm in einer Lawine aus gezackten Trümmerbrocken zum Einsturz. Vier Marodeure ließen den brennenden Träger hinter sich. Thron von Terra war nach dem Bombenabwurf von Flak getroffen wor-
den. Auf seinem rückwärtigen Bildschirm sah Viltry, wie sie sich auf den Rücken legte und in den Sand stürzte. Die vier verbliebenen Maschinen wendeten in Formation und begannen ihren zweiten Anflug. Monumentale Rauchwolken stiegen von dem angeschlagenen Träger auf. Sie feuerten jetzt Raketen ab, und auch die Bordgeschütze schossen wieder. Die unter den Tragflächen befestigten Raketen rasten los und entfernten sich auf spiraligen Rauchfahnen. Das ihnen entgegenschlagende Flakfeuer war nicht mehr annähernd so stark wie bei ihrem ersten Anflug. Die Raketen explodierten und sprengten Feuer und Trümmerstücke in den Wüstenhimmel, während die Marodeure über den Träger hinwegflogen. Sie zogen hoch und entfernten sich. Etwas Urtümliches und Katastrophales geschah mit dem Träger. Wahrscheinlich hatte eine der Raketen ein Magazin oder den Antrieb getroffen. Der Träger erbebte, schüttelte sich und ging in einem blendend weißen Blitz in Flammen auf. Die Druckwelle fegte Halo fast aus der Luft. Sie rasten weiter, stabilisierten ihren Flug. Eine riesige Rauchwolke in Form eines Waldpilzes erhob sich hinter ihnen in den Himmel. Theda, LWS Süd, 09:30 In der Rundhalle der Einsatzzentrale herrschten hektische Aktivität und beständiges Gemurmel von Gesprächen. Die Fluglotsen überwachten vier große Luftschlachten und neun AbfangEinsätze. »Darrow?« Darrow starrte zum Kuppeldach empor, wo Sonnenlicht durch die Buntglasumrandung fiel. »Darrow? Junior?« Eads klang gereizt. Darrow fuhr zusammen. »Kommodore, es tut mir leid. Ich war nicht bei der Sache. Unentschuldbar. Was sagten Sie, Kommodore?« Eads wandte dem jungen Mann das Gesicht zu. Seine blicklose Miene drückte Mitgefühl aus. Eads hielt ihm ein Stück Ausdruckfolie hin. »Ich dachte, Sie würden das gerne verkünden, Sohn«,
sagte er. »Beweis dafür, dass in diesem Leben nicht nur schlechte Dinge passieren.« »Kommodore?« »Sie haben mir die Sache mit Heckel erzählt, Sohn. Es tut mir leid, dass Sie ihn gefunden haben. Denken Sie jetzt an etwas anderes. Verkünden Sie das.« Darrow schaute auf den Ausdruck und lächelte. Er blickte hoch und räusperte sich. Er hatte schon erlebt, wie Junior-Fluglotsen stolze Verlautbarungen wie diese von sich gegeben hatten. Jetzt war er an der Reihe. Und sie schlug alle anderen. »Achtung, Achtung. Halo-Staffel bestätigt die Zerstörung eines Massenträgers in der nördlichen Wüste. Das ist bestätigt. Feindlicher Träger zerstört.« Darrows Lächeln wurde breiter, als Jubel und Applaus in der Zentrale aufbrandeten. Der erste Träger war gefunden und zerstört worden. Sogar Banzie klatschte und grinste. Eads sagte etwas. Darrow beugte sich vor, um ihn über den Lärm der Beifallskundgebungen verstehen zu können. »Wie bitte, Kommodore?« »Ich sagte«, flüsterte Eads, »dass wir es doch schaffen könnten. Wir könnten diesen Krieg gegen alle Wahrscheinlichkeit vielleicht doch gewinnen.« Palast-Kai, 14:02 Es war ein grauer, flauer Nachmittag, und niemand war da. Kaum eine Überraschung, da der Rauch von Ezraville schon seit Tagesanbruch über das Meer hereintrieb. Die Cafétür öffnete sich. Beqa sah von den Tafeln auf, die sie hinter dem Tresen las, und sah Viltry in der Tür stehen. Dreißig leere Tische standen zwischen ihnen. Im Hintergrund dudelte leise ein thracischer Walzer. Er lächelte und nahm seine Mütze ab. »Hallo. Sie sehen zufrieden mit sich aus«, sagte sie, indem sie sich erhob. Er ging zwischen den leeren Tischen durch zu ihr und streifte dabei einen Rucksack ab. »Heute war ein großer Erfolg. Ein richtig großer. Meine Besatzungen sind unterwegs und feiern. Ausgelassen. Heute Abend trinken sie die Fässer Thedas leer. Und wehe allen leichten Mädchen …«
»Haben Sie getrunken?«, fragte Beqa. »Äh, vielleicht ein wenig. Im Bereitschaftsraum. Ich bitte um Verzeihung.« »Warum sind Sie hier, Viltry? Für mich klingt das so, als würden Sie Feiern verpassen und Feste und …« Viltry öffnete den Rucksack. Er holte zwei in Papier eingewickelte Vere-Schenkel heraus, einen Beutel mit süßen Kartoffelknollen, Bündel mit frischem Gemüse, Dessert-Törtchen und eine Flasche Sjira-Rotwein. Beqas Augen weiteten sich. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie hatte so etwas noch nie gesehen, nicht einmal vor der Rationierung. »Die habe ich bekommen. Eine Art Belohnung. Ornoff hat der Einheit einen Geschenkkorb geschickt. Die Männer haben sich offensichtlich mit den meisten Getränken aus dem Staub gemacht. Aber ich habe den Rest behalten. Ich dachte, Sie wüssten sicher, was man damit anfängt. Ich meine, essenstechnisch. Als Köchin.« Er sah sie an. Seine Augen waren weit geöffnet und blickten aufrichtig. Er fügte hinzu: »Und ich wüsste niemanden, mit dem ich es lieber teilen würde.« »Wirklich?« »Ja. Ist das in Ordnung?« »Ja«, sagte sie. »Ich glaube, das ist es.« TAG 258 Ezraville, LWS, 11:31 »Danke!«, rief Jagdea und sprang vom Transporter. Sie marschierte durch den Schlamm zu der Hütte und duckte sich durch die Tür. Hinter ihr starteten Imperiumsmaschinen in den rauchverhangenen Himmel. Er saß auf einem Ölfass und starrte auf seine Stiefel. »Alles in Ordnung?«, fragte sie. Er schaute auf, sah, dass sie es war, und erhob sich mit raschem Gruß. »Ich schätze schon«, sagte Marquall. »Pech gehabt, da oben. Aber ein guter Abschuss, habe ich gehört.«
»Und dann hat es mich erwischt. Eine Klaue, glaube ich. War direkt hinter mir. Ich hab sie nicht gesehen. Es tut mir leid, Geschwaderführer.« »Das braucht es nicht. Sie sind abgesprungen. Sie haben es lebend überstanden. Das ist alles, was für mich zählt.« »Kann ich wieder fliegen?«, fragte er. »Ja«, sagte sie. »Äh … wenn Sie wollen.« »Wie meinen Sie das?« »Der einzige verfügbare Vogel ist Neun-Neun. Sie wird repariert. Die wollen Sie vielleicht nicht.« »Neun-Neun?«, fragte Marquall. »Ja.« Marquall lachte trocken. Er wusste nicht recht, was schlimmer war – die Tatsache, dass es Esperes alter Vogel war, oder dass heftig gemunkelt wurde, er sei schlimm verhext. Dann, nach einem Augenblick des Nachdenkens ging ihm auf, dass das Schlimmste von allem die Aussicht war, nicht mehr zu fliegen. »Ich nehme Neun-Neun«, sagte er. »Vielleicht heben sich mein Fluch und ihrer gegenseitig auf.« Theda, LWS Süd, 16:10 Sie hatten sie von der Küstenschnellstraße gesehen, und der Anblick hatte sie beide mit Hoffnung erfüllt. Staffeln von Flottenmaschinen, die in Reihenformation über das Meer zu den Stützpunkten von Theda flogen. Verstärkungen, die aus dem Nordteil des Commonwealth kamen. Jagdea und Marquall waren hinten auf dem schaukelnden Transporter aufgestanden und hatten auf die Maschinen gezeigt und sich unterhalten. Donnerkeil-Staffeln, die nach Theda Nord flogen. Zwei Staffeln Geier-Kampfhubschrauber glitten nach Süden der Halbinsel entgegen. Der Nachmittagshimmel war klar und blau, und trotz des rußigen Himmels hinter ihnen über Ezraville und dem entfernten Heulen der Luftschutzsirenen waren sie beinahe in Jubelstimmung. Die Stimmung in der Basis war aufgeregt, als der Transporter sie absetzte. Nervöse Vor-FlugAktivitäten im Umbra-Bereich, während Dutzende Transporter und Frachter hin und her fuhren.
Mit Marquall an ihrer Seite trabte Jagdea über den Beton und wich dabei den riesigen Staplern aus, die Frachtkapseln in wartende Transporter verluden. Blansher und Asche standen bei einigen der Chefmechaniker. »Willkommen daheim, Schlächter«, sagte Asche neckisch zu Marquall. Er errötete ein wenig. »Schön, dich in einem Stück zu sehen, mein Junge«, sagte Blansher. »Was soll das Theater, Mil?«, fragte Jagdea. »Versetzungsbefehl«, erwiderte Blansher, indem er eine Datentafel aus der Jacke zog. Sie überflog die Tafel. »Ab 18:00 Uhr heute Abend wird Umbra zu einem vorgezogenen Flugplatz im Süden verlegt«, sagte Blansher. »Ich glaube, sie wollen hier Platz für die Neuankömmlinge schaffen. Wir fliegen kurzfristige Abfang-Einsätze von einem Ort namens Gocelsee.« Jagdea sah sich Gocelsee auf der Karte an. Es war ein anfälliger Ort, durchaus in Reichweite der feindlichen Luftwaffe. Aber er gestattete ihnen auch, schnell auf alles zu reagieren, was aus der Inneren Wüste nach Norden oder Osten flog, lange bevor sie die Halbinsel und Städte wie Theda erreichten. »Das Oberkommando sagt, dass weite Teile unserer Bodentruppen den Ostteil des Makanitgebirges hinter sich gelassen haben und auf dem Heimweg sind«, sagte Blansher. »Ich glaube, die Idee dahinter ist, dass wir die auch schützen sollen.« »Doch nicht nur wir, oder?«, sagte Marquall. »Nein«, sagte Jagdea, während sie die Tafel begutachtete. »Das 409. begleitet uns, und ein Blitzstrahl-Geschwader ist bereits vor Ort.« »Die Transporter mit unseren Mannschaften starten bereits«, fügte Asche hinzu. »Wir fliegen leicht und schnell.« »Dann sehen wir besser zu, dass wir wegkommen«, sagte Jagdea. Marquall marschierte über den Betonboden und schaute NeunNeun ins Auge. Die Mechaniker hatten ganze Arbeit beim Zusammenflicken geleistet. Ein paar kleine Schönheitsfehler in Panzerung und Lack. Eigentlich deutete nichts mehr darauf hin, was sie tatsächlich abbekommen hatte.
»Du gehörst jetzt mir«, sagte er leise. »Ich behandle dich richtig, wenn du mich genauso behandelst.« Der Donnerkeil stand finster und grimmig da und gab keine Antwort. TAG 259 Über dem Graben, 13:43 Die Suche nach einem weiteren Massenträger, den sie bombardieren konnten, würde warten müssen. Viltry führte seine Staffel nach Westen und flog mit ihr tief über die Schluchten und Abgründe des großen Grabens hinweg. Zum ersten Mal spürte er das berüchtigte Zittern und Reißen der Winde über dem Graben, die Greta den Auftrieb zu rauben versuchten. Zwei Kilometer voraus tobte ein gewaltiger Sturm aus Feuer und Rauch in der Wüste. Ein Teil der zerschlagenen Land-Armada, eine sieben, acht Kilometer lange Kolonne aus Männern und Maschinen, hatte sich gerade auf einem der breiteren Pässe des Grabens befunden, als der Hinterhalt über ihn hereingebrochen war. Höllenklauen waren in Dreiergruppen auf sie herabgestürzt und hatten die Kolonne über ihre gesamte Länge mit Bomben, Raketen und Bordgeschützen eingedeckt. Dutzende von Panzern und gepanzerten Transportern brannten, und stellenweise tat dies auch der Sand, wo sich brennende Trümmer und Treibstoff ausgebreitet hatten. Winzige Punkte, individuelle Gestalten, rannten in die Deckung der zerklüfteten Felsen an den Seiten des Tals. Das Tal war vertikal mit Streifen von Rauchfahnen und horizontal mit Streifen von Leuchtspurgeschossen und Abgasen von Düsentriebwerken durchzogen. Die angreifenden Maschinen erzeugten durch den Sog ihres Vorbeiflugs kuriose Strudel und Strömungen in den Rauchwolken. Am Südende des Tals tauchten Staffeln feindlicher Schleichpanzer auf, grellgelb und giftig aussehend, und überholten die hintersten Abteilungen der kriechenden Imperiumskolonne. In diesem Kampfabschnitt wütete großkalibriges Laserfeuer.
Viltrys Marodeure waren nicht dafür geschaffen, Luftangriffe wie diese zu unterbinden, aber er hoffte, ihre Anwesenheit würde den Feind zumindest davon abhalten, weiter unablässig Angriffe zu fliegen. Lacombe hatte Jäger-Unterstützung angefordert, und Donnerkeile waren anscheinend noch acht Minuten entfernt. »Weiter im Tiefflug«, befahl Viltry. »Verjagt sie von der Kolonne und hindert sie an den Angriffen auf sie. Wenn ihr es bis zum Südende schafft, ohne abdrehen zu müssen, deckt die feindlichen Schleichpanzer ein.« »Verstanden, Führer.« »Wir sind dabei.« Viltry ging mit gutem Beispiel voran, schwang Greta am vorderen Ende der Kolonne herum und flog den angreifenden Feindflugzeugen genau entgegen. Er hielt sich so niedrig, wie er eben noch wagte, flog durch dichte Rauchfahnen und spürte, wie die verdammten Windböen am Rumpf seiner Maschine rissen und zerrten. Kaum war er über der Kolonne, als er auch schon drei Klauen im Anflug sah. Von den Bodentruppen flog ihnen ein Hagel aus Boltgeschossen entgegen. »Bringt sie dazu, ihre Meinung zu ändern!«, fauchte er, während er mit dem steifen, ruckenden Steuerknüppel rang. Dach und Nase eröffneten das Feuer. Die Bahnen der Leuchtspurgeschosse rasten dem Marodeur voraus und den heranjagenden Feindmaschinen entgegen. Vielleicht beschädigt und mit Sicherheit überrascht, schwenkten die Klauen radikal nach rechts und links weg, brachen ihren Angriff ab und lösten sich von der Kolonne. Gaize folgte einer der abdrehenden Klauen mit dem Geschütz und beharkte sie weiter. Viltry blieb auf seinem Kurs. Sie hatten jetzt fast das Südende des Passes erreicht. Die Tore der Spalte näherten sich rasch. Ein Sonnenstrahl fiel auf gelbes Metall: Schleichpanzer. Die spinnenartigen Kriegsmaschinen deckten die Nachhut der imperialen Kolonne mit Laserstrahlen ein. »Judd!« »Fertig!« Viltry flog weiter und wartete auf den jähen Ruck erhöhten Auftriebs beim Abwurf der Bombenlast, doch was kam, war weitaus heftiger als das. Ein jäher, markerschütternder Seitwärtsruck, verursacht durch die besonders heftigen Seitenwinde im Mün-
dungsbereich des Passes. Greta stolperte. Viltry fing sie ab und hielt sie in der Luft. Die Bomben waren weg. Er hörte Judd fluchen. Die Seitenwinde hatten ihm den Abwurf verdorben. Gretas gewaltige Bombenlast war neben das Ziel gefallen und auf den oberen Talhängen explodiert. Viltry nahm die Nase hoch, stieg und wendete in einem weiten Kreis. Hinter und unter ihm flogen vier seiner fünf Flügelmänner in Reihe, um den Pass zu schützen. Ihr Seid Tot hatte ihren Flug abgebrochen und setzte sich von drei Klauen verfolgt und gejagt über die Talspitzen ab. Er hörte, wie Orsone im Heck das Feuer eröffnete. Hinter ihnen war noch eine Fledermaus. Feuer strich an ihnen vorbei wie sprühende Funken. Viltry tauchte ab und schwenkte gegen die Sonne, sodass langsam ein Schatten durch die Kanzel wanderte. »Abgeschüttelt!«, sendete Orsone. Und wieder hinunter ins Tal, in den Rauch und gegen die heftigen Windböen, die ebenso ein Feind waren wie die grell lackierten Fledermäuse. Viltry riss die Maschine hart zur Seite, als zwei Klauen an ihm vorbei in die andere Richtung jagten, nur verschwommene Farbkleckse. Was hielt die verdammten Donnerkeile auf? G für Greta erbebte. Sirenen heulten. Sie flogen in ein Gewitter aus Boden-Luft-Laserfeuer. Diesmal waren die Schleichpanzer auf sie vorbereitet. »Wir erhalten Treffer!«, schrie Lacombe. Furchtbare Geräusche: reißendes Metall, berstendes Plastek, der Alarm eines aussetzenden Triebwerks. Greta bockte heftig, während der Wind an ihr zerrte. Die Kontrollen waren wie Eisen. Etwas explodierte im Abteil unter ihm. Viltry hörte Judd kreischen. Ein erwachsener Mann, massig wie ein Bär, kreischte wie ein Kind. »Wir schmieren ab!«, schrie Lacombe. Vibrationen erschütterten sie wie Spielzeug. Viltrys klappernde Zähne bissen in seine Zungenspitze. Er kämpfte, um die Maschine in der Luft zu halten. Die Triebwerke erzeugten ein furchtbares, kränkliches Geräusch. Er sah die Einmündung, die gelben Maschinen, das Laserfeuer, das ihnen entgegenschlug. Tragflächen durchbohrt. Heckschaden.
Naxol schrie etwas aus dem Bugturm, das im allgemeinen Lärm unverständlich blieb. Viltry feuerte die Raketen unter den Tragflächen ab und sah sie auf weißen Rauchfahnen davonrasen. Schleichpanzer wurden auseinandergerissen und in die Luft geschleudert, abgerissene Maschinengliedmaßen flogen in alle Richtungen. Das Kanzeldach barst, und Wind durchsetzt mit Glassplittern krachte ihm ins Gesicht. Sie flogen durch die Tore des Passes. Die Triebwerke heulten, aus zwei von ihnen stieg schwarzer Rauch auf. Komm hoch, hoch jetzt, hoch … Vom Gegenwind im Gesicht gepeitscht, sah Viltry sich um. Viele Instrumente waren geborsten oder ausgebrannt. Lacombe hing in seinen Gurten. Eine Seite seines Kopfes und die Sitzlehne dahinter waren verschwunden. Das Schicksalsrad. Die Instrumente sagten ihm gar nichts. Doch Viltry flog lange genug Marodeure, um das Gefühl und die Geräusche eines sterbenden Vogels zu erkennen. »Aussteigen! Aussteigen!«, befahl er, obwohl er wusste, dass sie schon viel zu tief waren. Das zerklüftete beige Ödland unter ihnen kam rasch näher. Sandteppiche, felsige Auswüchse, Salzbecken. So riesig, so schnell, dass kein Himmel mehr übrig zu sein schien. Viltry schloss die Augen. TAG 260 Theda, Altstadt, 00:05 Der Templum war praktisch leer. Ein paar Lampen brannten entlang des Mittelschiffs. Die Hauptlichtquelle war der Stand mit flackernden Opferkerzen. »Brauchen Sie etwas?«, fragte der Hierarch freundlich. Beqa saß am Ende einer Bankreihe. Sie schaute zu ihm auf. »Ich warte nur«, sagte sie. »Es ist spät.« »Ich weiß. Ich weiß, dass es spät ist. Kann ich hierbleiben?«
»Natürlich, Tochter«, sagte er. »So lange Sie wollen. Ich bin im Reliquienschrein, falls Sie meine Dienste benötigen.« Als er gegangen war, blieb sie noch ein paar Minuten sitzen. Spät. Es war sehr spät. Sie hatte über das Ende ihrer Schicht hinaus auf ihn gewartet und dann noch eine Stunde im verblassenden Tageslicht am Hafen. Sie wusste, sie hätte dem Fabrikleiter eine Nachricht senden müssen. Man würde ihr die versäumte Schicht vom Lohn abziehen. Sie hatte erwogen, zum Flugplatz zu gehen, dann aber erkannt, dass sie nicht wusste, zu welchem. Außerdem fuhren die Bahnen so spät am Abend nicht mehr so weit, und sie hatte nicht das Geld, um sich ein Fahrzeug zu mieten. Und sie würden außerdem keine Zivilisten einlassen. Sie erhob sich und ging zum Stand mit den Opferkerzen. Drei kleine Münzen in den Becher, drei frische Kerzen aus dem Kasten. Sie steckte sie neben die paar Dutzend bereits brennender Kerzen in einen Halter und nahm eine der dünnen Anzündekerzen. Eine für Gart, eine für Eido. Eine für … Irgendwo öffnete sich eine Haupttür und knallte wieder zu. Eine kalte Windbö fegte herein. Alle kleinen Kerzenflammen wurden ausgeblasen.
DIE LETZTE OASE GOCELSEE Imperiumsjahr 773.M41 Tag 261 – Tag 264 TAG 261 VAB Gocelsee, 05:32 »Aufstehen! Wach endlich auf, verdammt!«, flüsterte es drängend.
Vander Marquall blinzelte und wälzte sich herum. Van Tull beugte sich in der violetten Düsternis des Zelts über ihn und rüttelte ihn an der Schulter. »Was? Was denn?« »Fliegeralarm!«, zischte der ältere Pilot. Er tippte auf das Aluminoid-Armband an seinem Handgelenk. »Hat dein Alarmband dich nicht geweckt?« Marquall gähnte und schüttelte den Kopf. Er warf einen Blick auf seinen eigenen Metallstreifen, der untätig war. Auf Van Tulls leuchtete eine rote Rune. »Ich glaube, mein’s ist kaputt«, entschied Marquall. Van Tull musterte Marquall finster, dann packte er ihn fest am Handgelenk und nahm ihm das Armband ab. Er studierte es einen Moment, dann warf er es dem Jungen wieder zu. »Du musst dir ein neues aus dem Magazin holen. Nicht jetzt, später. Mach jetzt.« Van Tull öffnete die Klappen des Habizelts und ließ Licht und warme Luft ein. Er war bereits angezogen. Marquall zog seine Hose an und sah sich nach seinen Stiefeln um. »Beeil dich!«, rief Van Tull. Marquall schlüpfte in seine Stiefel, aber er hatte keine Zeit mehr, sie zuzuschnüren. Er eilte hinter Van Tull her nach draußen. Das Habizelt, das sie sich teilten, war eine von fast hundertfünfzig tarnfarbenen Schutzkuppeln, die sich am Boden unter den tropfenden Gütigerholzbäumen drängten. Trotz der frühen Stunde war es bereits schwül. Grelles Sonnenlicht fiel durch das Blätterdach und die Schutznetze, die wie ein Dach zwischen den Baumstämmen über den Habizelten gespannt waren. Die beiden rannten durch den scheckigen Schatten, wobei sie darauf achteten, auf den Flakbrettplanken zu bleiben, wo der Weg über Marschlöcher und versumpfte Teiche führte. Skops umschwirrten sie wie Kom-Geknister. Unterwegs sah Marquall dunkle Formen aus den im Dämmerlicht liegenden Gehölzen ragen, dunkle Formen, die absichtlich verhüllt waren. Weitere Ünterschlupfe, getarnte Vorratsdepots, Hydra-Flakbatterien, deren Besatzungen stumm und aufmerksam warteten, die verhüllten Formen von Kampfflugzeugen unter schimmernden Netzen. Sie erreichten den Bunker und eilten hinein. Drinnen kauerten die Piloten von Umbra und ein Trupp Mechaniker.
»Verschlafen?«, fragte Jagdea. »Meine Schuld, Geschwaderführer«, sagte Van Tull. »Tatsächlich?« »Marqualls Armband ist defekt, und ich habe ihn zu spät geweckt.« »Ich glaube, dann ist es eher Marqualls Schuld, oder nicht?«, sagte Jagdea, während sie den halb angezogenen Jungen mit seinen unverschnürten Stiefeln verdrossen anstarrte. »Verzeihung, Mamzel.« »Ruhe jetzt«, sagte Jagdea. Menschliche Stille hüllte sie ein. Außerhalb des Schutzbunkers erbebte der Wald unter Vogelgezwitscher und sonderbaren Tierlauten. Marquall hatte bereits entschieden, dass er diesen Ort nicht mochte. Heiß, nass und nach verfaultem Obst stinkend. Seine Haut juckte. Er hatte Insekten so groß wie Finger über die Wände seines Habizelts krabbeln sehen, und in der Nacht wurden die nach oben hin abgedeckten Lampen des Lagers von Scharen seidenflügeliger Käfer umschwärmt. Die Vögel verstummten. Marquall hörte das tiefe Surren einer Hydra-Plattform in der Nähe, als die Geschützläufe langsam geschwenkt wurden. Dann leiser Düsenlärm, der über sie hinwegfegte. Mit dem unverkennbaren trillernden Unterton feindlicher Vektorschubmaschinen. Einen Moment später war er verklungen. Ein gedämpftes Kom-Signal. »Verstanden«, sagte Blansher, indem er seinen Kopfhörer absetzte. »Alles klar«, meldete er. Erleichtert wurden Gespräche aufgenommen und Aktivitäten fortgesetzt. Die Insassen des Bunkers verließen ihren Unterschlupf. Die Runen auf ihren Armbändern leuchteten jetzt grün. »Beginnen Sie bitte mit dem Tagesdienst«, verkündete Jagdea. »Besprechung um 06:30 Uhr, aber beeilen Sie sich mit dem Frühstück und der Morgentoilette. Wir können jederzeit einen Einsatzbefehl bekommen. Marquall?« »Ja, Geschwaderführer?« »Gehen Sie sofort zum Magazin und holen Sie sich ein neues Alarmband. Bevor Sie das Magazin verlassen, drücken Sie den Testschalter und vergewissern sich, dass es funktioniert. Wenn nicht, holen Sie sich ein anderes. Haben Sie verstanden?« »Das habe ich, Geschwaderführer.« »Komisch, ich dachte, Sie hätten es schon gestern Abend verstanden, als ich es Ihnen zum ersten Mal gesagt habe.«
»Ich war nachlässig, Geschwaderführer. Es wird nicht wieder vorkommen.« »Weitermachen«, sagte sie. Er drehte sich um. »Warten Sie!« Er seufzte und drehte sich wieder um. Sie runzelte die Stirn. »Kommen Sie näher. Her zu mir. Drehen Sie sich um.« Sie begutachtete die Haut auf seinen Schultern, wo das Unterhemd sie nicht bedeckte, dann hob sie den Saum und betrachtete seinen Rücken. »Haben Sie ein Hautproblem, von dem ich wissen sollte?«, fragte sie. »Nein, Mamzel.« »Dann sind es Skopstiche. Es heißt, dass manche besonders stark betroffen sind. Haben Sie süßes Blut, Marquall?« »Keine Ahnung, Mamzel.« »Die Skops scheinen es zu glauben. Suchen Sie den BasisMedikus auf, wenn Sie einmal dabei sind.« »Ja, Mamzel.« Marquall schnürte sich die Stiefel, wie es sich gehörte, und marschierte dann durch die Basis. Nun, da das Risiko der Entdeckung vorbei war, sah es hier schon mehr nach einer aktiven Luftwaffenbasis aus. Personen eilten über die Laufstege, und Mechanikertrupps deckten getarnte Maschinen ab und nahmen die Arbeit an ihnen wieder auf. Der Geruch nach Prometheum verdrängte die Ausdünstung des Sumpfs beinahe. Die vorgezogene Angriffsbasis, ein improvisiertes Lager, war in den Gütigerholzwäldern am Südufer des Gocelsees verborgen. Der eigentliche See, riesig und fast tausend Kilometer in WestOst-Richtung messend, wurde von Flüssen gespeist, die ihren Ursprung im Makanitgebirge hatten, der wiederum die Saroja speiste, einen Fluss, der weiter östlich ins Meer floss. Dieses große System aus Flüssen und Seen, um das ein ausgedehntes Gebiet aus Regenwald wuchs, bildete eine Grenze zwischen der Inneren Wüste im Süden und der gemäßigteren Halbinsel im Norden. Einen verhüllenden Grüngürtel, in dem sie sich verstecken und alles angreifen konnten, das vorbeiflog. Der See selbst, so breit, dass man das gegenüberliegende Ufer nur als verschwommenen Fleck wahrnahm, war zwischen den dünner werdenden Uferbäumen zu sehen, eine weite Fläche aus
sonnenbeschienenem Grün. Das gesamte Gebiet war sumpfig und wimmelte von Insekten. Stinkender schwarzer Schlamm und Löcher mit abgestandenem Wasser durchsetzten die verstreuten Gehölze. Jenseits des Sees im Osten konnte Markall die trägen Flanken des Makanitgebirges staubgelb in der aufgehenden Sonne ausmachen. Pionier-Einheiten der Flotte und Arbeitsmannschaften des Munitorums hatten hier am Gocelsee überraschend viel gebaut. Vorgefertigte Habitatsmodule, Abwehrbatterien, Bunker und getarnte Hangars schmiegten sich zwischen Bäume und unter undurchsichtige Schimmernetze. Modarschüsseln und Kom-Masten regten diskret über das Blätterdach oder waren als Kabelantennen direkt an den Bäumen befestigt. Lichtungen waren geschlagen worden, Dutzende, und jede war mit schwergewichtigen vulkanisierten Matten ausgelegt: dickes graues Material, das ausgerollt wurde und vorübergehende Standplätze ausbildete. Auf jedem dieser Standplätze kauerte ein Kampfflugzeug: die zehn Donnerkeile der Umbra-Staffel, die zwölf des 409. Flottengeschwaders, der »Raptoren«, und die acht Blitzstrahlen des 786. Aufklärer, »Fernrohr«. Wenn sie nicht zum Start oder zur Landung enthüllt wurden, waren die Mattenlichtungen aus der Luft dank der Tarnnetze nicht zu sehen. Größere Transporter für Mannschaftsverlegungen, Basenversorgung sowie Treibstoff- und Munitionslieferungen landeten auf dem breiten, schlammigen Seeufer, da sie nicht länger als ein paar Minuten vor Ort bleiben mussten. Ein großes Mattendeck hätte sich nicht vor Blicken aus der Luft verbergen lassen. Stapler, die durch den Schlamm schritten, erledigten sämtliche schweren Transportarbeiten der Basis. Die VAB war mit einem anständigen Ring aus Abwehrgeschützen des Typs Tarantel umgeben, die den Wald ringsumher abdeckten. Hinzu kamen zwei Dutzend Flakbatterien des Typs Hydra und Mantikor. Mit den Soldaten der Planetaren Streitkräfte, welche die Geschütze bemannten, den dreißig Piloten, dem Bodenpersonal und den Fluglotsen hatte die Basis eine Besatzung von über zweihundert Personen. »He, Schlächter. Wohin gehst du?« Marquall drehte sich um und sah Larice Asche hinter ihm über die Flakbretter traben. »Zum Magazin«, sagte er.
Privat hatte er großen Respekt vor Staffelleutnant Larice Asche. Sie wirkte so verdammt hart. Jagdea war auch eine Veteranin mit vielen Abschüssen, aber die respektierte er hauptsächlich, weil sie das Kommando hatte. Asche, bereits ein Ass vor dem Ende der Befreiung Phantines, war die einzig Wahre und wurde von allen wegen ihres Ausnahmetalents geachtet. Und jung war sie auch noch. Blansher hatte auch schon viele Abschüsse erzielt, aber er war schon ein alter Bursche. Larice war nicht viel älter als Marquall selbst. Sie war hager und knabenhaft mit knochigen Wangen und einem boshaften, breiten Grinsen. Am vergangenen Nachmittag hatte sie sich vor ihrem Abtransport nach Gocel ihre berühmten blonden Haare auf Fingerlänge stutzen lassen. »Dschungelläuse«, hatte sie verkündet und hinzugefügt, »die will ich nicht.« »Der Medikus hat seine Station neben dem Magazin, oder?«, fragte sie ihn. »Ich glaube, ja.« »Dann komme ich mit. So viel zu Vorsichtsmaßnahmen.« »Was?« Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre brutal gestutzten Haare. »Für die hier.« »Inwiefern?« Sie zog die Jacke aus und zeigte ihm die zahlreichen Stiche auf ihren nackten Unterarmen. »Skops«, sagte er. »Hat man mir gesagt.« »Bei mir auch«, sagte er, während er mit einem Arm aus seiner Fliegerjacke glitt und ihr seine Schulter zeigte. »Ätzend«, sagte sie. Die Munitorum-Station war ein Ring aus Fertigschuppen im blauen Schatten eines riesigen Palmwedelbaums. Sie traten in die klimatisierte Kühle. Der diensttuende Magazinverwalter, dessen Gesicht eine Ansammlung uralter augmetischer Vorrichtungen war, sah von seinem Cogitator auf. »Ich brauche ein neues Alarmband«, sagte Marquall. »Ich glaube, Pilotoffizier, Sie meinen, Sie brauchen ein neues Alarmband, bitte, Senior.« »Äh …was?« »Ich bin Senior Lirek. Sie werden mich höflich anreden.«
Marquall warf einen Blick auf sein Chronometer. »Es herrscht Krieg«, sagte er. Asche kicherte. »In der Tat. Und ist die Höflichkeit ausgestorben? Wo wäre die Flotte ohne die ständigen Bemühungen des Munitorums? « »Ich habe keine Ahnung«, sagte Marquall. »Aha! Tatsächlich nicht«, sagte Lirek, indem er sich erhob und seine klobige Optik manuell justierte. »Sie erwarten von uns, dass wir für Sie Gewehr bei Fuß stehen, und wollen dies und wollen das, aber …« »Wissen Sie, wer das ist?«, zischte Larice dem alten Mann zu. »Äh … nein.« »Larice …«, begann Marquall nervös. »Das ist nur Marquall«, fuhr Asche fort, die Augen in vorgetäuschter Ehrfurcht geweitet. »Schlächter Marquall. Das ist derjenige, welcher … Sie wissen schon …« »Nein«, murmelte Lirek. »Ich glaube nicht …« »Der den Abschuss erzielt hat!«, sagte Asche. »Den Abschuss?« »Den Abschuss. Den Abschuss. Um Throns willen, und Sie reden von Respekt …« »Nein, äh, ja«, stammelte der Munitorum-Senior plötzlich. »Ich vergesse mich. Ihre Vorrichtung, Pilotoffizier?« »Sie funktioniert nicht«, sagte Marquall, indem er ihm das Armband reichte. »Tatsächlich nicht. Ein schreckliches Versehen. Warten Sie einen Moment, wenn Sie die Güte hätten.« Lirek kam mit einem neuen Alarmband zurück. »Hier, Pilotoffizier. Ich habe es geprüft. Im Falle eines Alarms leuchtet es auf und alarmiert oder weckt Sie durch einen sanften, unschädlichen elektrischen Impuls.« Marquall quittierte den Empfang. »Ich danke Ihnen«, sagte er. »Ich lebe, um zu dienen, Pilotoffizier«, sagte Lirek, indem er seinen Schildkrötenkopf neigte. Draußen fing Asche an zu lachen. »Warum hast du das gemacht?« »Ich hab dir dein Armband besorgt, oder nicht?«, fragte sie. »Ja. Aber du hast gelogen.« »Hattest du einen Abschuss oder nicht?« »Ja …«
»Dann habe ich nicht gelogen. Was weiß er schon?« »Du bist schlecht, Larice Asche.« »So sagt man.« Neben dem Magazin kauerte ein längliches Fertighab unter den Schimmernetzen. Ein hochgewachsener Mann mittleren Alters, gut gebaut und maskulin, saß auf den Eingangsstufen. Die Arme waren auf den Knien verschränkt, und sein Kopf ruhte auf den Armen. Seine Haare waren mit etwas verklebt, das wie getrockneter Lehm aussah, und bildeten Dreadlocks. Er trug das blaue Seidengewand eines Ayatani, also eines Mitglieds der Priesterschaft der Beati. »Vater«, sagte Marquall. »Ist der Medikus drinnen?« »Er ist draußen«, antwortete der Priester. »Vielleicht können wir ihm eine Nachricht hinterlassen?«, schlug Marquall Asche vor. »Nein, ich brauche sofort irgendwas. Diese Stiche bringen mich um.« Sie gingen in die Sanitätsstation. Alle Oberflächen bestanden aus poliertem Stahl und geschrubbtem Plastek. Die zirkulierende Luft roch nach Minze. Asche begann mit der Durchsuchung der Medikamentenschränke. »Was machen Sie da?« Der Ayatani stand hinter ihnen in der Tür. »Mich selbst bedienen«, sagte Asche. »Ich sagte Ihnen doch, der Medikus wäre draußen.« »Ja, das sagten Sie.« »Jetzt ist er wieder drinnen.« Sie sahen beide den hochgewachsenen Priester an. Er hob eine Hand und schüttelte den Ärmel zurück, sodass eine Identitätsmanschette der Flotte sichtbar wurde. Divisio Medicae. »Ich bin Ayatani Kautas … Außerdem bin ich zufällig der diensthabende Medikus in dieser VAB. Nehmen Sie Ihre dreckigen Hände aus meinen Medikamentenschränken.« Asche sprang zurück und stieß dabei einen Stapel Pakete um, die auf den Gitterboden fielen. »Was haben Sie für ein Problem?«, schnauzte der Priester. »Äh, Skopstiche«, sagte Marquall, während er Anstalten machte, sich umzudrehen, um dem Medikus seine Blasen zu zeigen.
Kautas schritt an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Er nahm zwei Tuben mit Salbe und warf sie Marquall zu. Der Junge fing sie mit Mühe. »Zweimal pro Tag!«, fauchte er. »Und kommen Sie erst zurück, wenn Sie Fäule im Schritt haben.« »Danke, Vater …«, begann Marquall. »Verpisst euch, ihr Plünderer!« »Was sollte das denn?«, sagte Asche, als sie sich entfernten. »Das weiß ich auch nicht so genau«, sagte Marquall. »Ach, wen interessiert’s?« Asche lächelte ihn an. »Also, Schlächter, was hast du jetzt …« Beide schraken zusammen, als ihre Armbänder losgingen, ihnen einen leichten Schlag versetzten und dazu die rote Rune aufleuchtete. »Scheiße!«, rief Marquall. »Wer ist dran? Bist du dran?« »Nein«, sagte Asche und zog ihn zum nächsten Unterstand. Jagdea saß bereits in ihrem Donnerkeil, als der Schlag ihren Arm traf. Auf den Mattendecks östlich und westlich von ihr standen Blansher und Cordiale neben ihren eigenen Maschinen. Ihr Chefmechaniker schloss ihre Kanzel und grüßte sie mit dem Zeichen des Adlers. Sie saß in ihrer Maschine, auf einer hydraulischen Schnellstartrampe, sodass ihre Nase in einem Fünfundsiebziggradwinkel in den Himmel zeigte. Die Basis hatte drei davon, und alle waren bereit, um im Alarmfall sofort reagieren zu können. Über sich sah sie lediglich Sonnenlicht, das durch die Schimmernetze fiel. Ihr Daumen klappte die rote Abdeckung um und legte sich dann auf den Startknopf für das Raketentriebwerk. Sie wartete, während ihr der Schweiß über das Gesicht und auf die Maske lief. Stille. Hitze. Das entfernte Rühren des Waldes. »Umbra Führer …«, begann der Kom. Über der Nase ihres Vogels wurden die Schimmernetze plötzlich zurückgezogen, und Tageslicht fiel herein. Sie kannte den Befehl schon, bevor er erteilt wurde. »… Sie haben Starterlaubnis.«
Ihr Daumen drückte zu. Mit einem furchtbaren Ruck und einem Tosen ließ sie die Welt hinter sich. Der Graben, 06:50 »Alles wird gut. Alles wird gut. Vertrauen Sie mir.« »Was hat das für einen Sinn, Herr Hauptmann?«, fragte Matredes. »Ich glaube, er wird sterben.« »Nein«, sagte LeGuin. »Ich glaube, er hat einfach nur Durst. Geben Sie ihm etwas Wasser.« Matredes und Emdeen sahen ihn unglücklich an. »Wir haben nur noch einen Wiederaufbereiter«, sagte Emdeen. »Ich weiß«, sagte LeGuin. »Ich finde, wir hätten ihn einfach da lassen sollen, wo wir ihn gefunden haben«, sagte Matredes. »Wir lassen niemanden zurück«, sagte LeGuin. »Verdammt«, seufzte Emdeen und trat vor, um Wasser aus seiner Feldflasche auf die gesprungenen Lippen des daliegenden Mannes zu träufeln. »Greta«, ächzte er. »Greta …« »Wer ist wohl Greta?«, fragte sich Matredes. »Sein Mädchen?«, schlug Emdeen vor. »Wie heißt er?«, fragte LeGuin. Emdeen griff dem Mann in die verbrannte Fliegerjacke und zog einen Satz klirrender Imperialer Hundemarken hervor. »Viltry«, sagte er. Über den Wäldern, 07:00 Das Walddach war wie ein riesiger grüner Teppich, den man über Kisten und Möbel ausgerollt hatte, und der nun eine weiche, wellige Masse bildete. Die drei Donnerkeile hielten sich so tief wie möglich und folgten den Konturen der Baummasse in dem Versuch, sich unterhalb aller Sensorkegel zu halten. Ihr Vorbeiflug wühlte das Blätterdach auf wie ein wütendes Meer, und Scharen von Vögeln und anderen fliegenden Kreaturen schwangen sich regelmäßig in die Luft wie Salven farbenprächtiger Schrapnelle. Blansher und Cordiale hielten sich dicht hinter Jagdeas führendem Vogel.
»Umbra«, sendete Jagdea über Kom. »Kursänderung auf nullsechs-zwo West. Kontakte in neunzehn Kilometern auf sechstausend. Auf meinen Befehl für Steigflug warten.« »Verstanden, Führer.« Jagdea hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, und das lag nicht am entschieden veränderten Gelände. Sie waren schon ein paar Minuten geflogen, bis ihr aufging, dass es ihr eigener Donnerkeil war, die Teile der Nase und der Tragflächen, die sie aus der Kanzel sehen konnte. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass sie grün waren. Das Bodenpersonal in der VAB hatte sie limonengrün gespritzt, um die Tarnung zu unterstützen. Sie war so daran gewöhnt, dass sie von etwas Grauem umgeben war. Oben im wolkenlosen Himmel sah sie etwas blitzen, ein Sonnenstrahl auf Metall. Eine Sekunde später sah sie winzige Punkte und Spuren weißer Kondensstreifen. »Umbra Zwo, Führer. Ich sehe Kondensstreifen auf drei Uhr.« »Erkannt, Zwo. Die Schweine sind unterwegs zu uns. Waffen aktivieren, und macht euch bereit, wie die Hölle zu klettern.« Fünf Punkte. Nein, sechs. Klein. Vielleicht Klingen. »Hochziehen auf mein Zeichen. Drei, zwo, eins, hochziehen!« Die drei Piloten gaben Vollschub und zogen die Nase der schweren Donnerkeile hoch in den klaren Himmel und weg von der Decke des Waldes. Jagdea konnte die Feindmaschinen jetzt deutlich erkennen. Sechs Heuschrecken in normaler Flugformation. Umbra stieg so steil, wie ihre Düsentriebwerke es gestatteten, und die Piloten wurden fest in ihre Sitze gepresst. Die Fledermäuse schienen sie noch nicht bemerkt zu haben, aber das würde sich rasch ändern. Jagdea umschloss den Steuerknüppel fester und legte vorsichtig den Daumen auf den Feuerknopf. Kontakt in zehn Sekunden, neun, acht … Plötzlich aufgeschreckt wie die Vögel, die ihre Düsentriebwerke aus den Baumwipfeln gescheucht hatten, sprengten die Heuschrecken auseinander. Doch Umbra war bereits in Schlagdistanz. »Aufteilen und angreifen«, wies Jagdea an. Sie flog direkt ins Herz des sich teilenden Rudels und suchte sich eine Heuschrecke als Ziel, die in einem grellen Ocker lackiert und zusätzlich golden gestreift war. Sie schwenkte bereits weg, aber Jagdea griff in einem günstigen Winkel an und hatte genug
Zeit zu reagieren. Sie kippte die Flügel ein wenig an und ließ die Heuschrecke direkt in ihre Zielerfassung fliegen. Feuer. Die Laserstrahlen lösten sich elektrisch blau von ihrer Nase. Sie gab drei Paar Schüsse ab, und das zweite Paar traf die Heuschrecke voll. Rumpfteile lösten sich in einer Rauchwolke, und die Maschine kippte auf den Rücken. Feuer loderte aus ihrem Unterbauch, und sie ging in einen langen Sturzflug in den Regenwald über. Jagdea sah einen Blitz unterhalb des dichten Blätterdachs, und dann wallten Rauch und Dampf zwischen den Bäumen hervor in den Himmel. Blanshers auserwähltes Ziel, eine hellblaue Maschine mit widerlichen gelben Insignien, wich seinen ersten Schüssen aus und führte ein ausgezeichnetes Tauchmanöver unter Blanshers Flugbahn durch aus, dem zu folgen Umbra Zwo nicht hoffen konnte. Blansher schwang herum und machte Jagd auf eine kupferfarbene Heuschrecke, die nach Süden floh. Er klemmte sich hinter sie, aber die Heuschrecke setzte sich rasch ab. Die kleinen Feindmaschinen hatten eine unglaubliche Beschleunigung und Steigfähigkeit. Blansher fluchte, brach ab und rollte zurück ins Getümmel. Cordiale hatte sich hinter eine rote Fledermaus gehängt, die ihn abzuschütteln versuchte, indem sie auf den Wald herabstürzte. Cordiale nahm die Einladung an und verfolgte den roten Fleck in den grünen Busen des Waldes. Die Heuschrecke fing den Sturzflug dicht über den Baumwipfeln ab und flog anschließend wilde Zickzackmanöver. Cordiale musste seine Maschine ständig auf eine Flügelspitze stellen, um am Ball zu bleiben. Er gab einen Schuss ab, verfehlte, korrigierte und schoss noch einmal. Wieder daneben. »Wendiges kleines Arschloch …«, murmelte Cordiale, während ihn die Zentrifugalkräfte der ständigen Schwenks hin und her rissen. Über ihm jagte Jagdea ihren zweiten Skalp. Sie war auf eine gelbe Heuschrecke fixiert, die nach Westen ausbrach, rollte aber abrupt aus, als sie das schrille Jaulen des Zielerfassungsalarms hörte. Die blaue Heuschrecke, die Blansher bei seinem ersten Anflug abgehängt hatte, saß ihr im Nacken. Sie schoss zweimal, leuchtende Streifen aus Boltgeschossen, aber sie wich jedes Mal aus und schüttelte sie schließlich ab, indem sie die Bremsklappen öffnete und unter Einsatz ihrer Schubvektorsteuerung beinahe
zum Stillstand kam. Die blaue Heuschrecke raste unter ihrer rechten Tragfläche durch, erkannte, dass ihr Gegner die Rollen vertauscht hatte, und brach nach rechts oben aus. Jagdea schraubte sich hinter ihr her. Die gelbe Heuschrecke hatte beschlossen, doch nicht zu fliehen, und eine enge Vektorkehre hoch über ihr ausgeführt, um dann wie ein Pfeil herabzuschießen und sich ein Ziel zu suchen. Bei Jagdea hatte sie die Gelegenheit verpasst, also ging sie auf Cordiale los, der immer noch dicht über den Baumwipfeln die rote Heuschrecke jagte. Sie hatte Blansher nicht einmal gesehen. Umbra Zwo stürzte sich von über und hinter ihr auf sie und feuerte mit den Autokanonen. Die Heuschrecke erbebte schmerzhaft, da sich ihr Rumpf unter der Belastung der zahlreichen Einschläge verformte, und öffnete dann wie eine Blume grelle Blütenblätter aus brennenden, expandierenden Gasen. Etwa im gleichen Augenblick, nur tausend Meter höher, gelang Jagdea von allen unbeobachtet ein perfekter Ziegler, und sie stürzte sich auf die blaue Heuschrecke, während diese es mit einer letzten Rolle nach links versuchte. Ihre Schüsse trafen die Nase und trennten dann ein Stück Tragfläche ab. Als die Heuschrecke zu taumeln begann, gab sie einen dritten Feuerstoß ab, der die Heuschrecke direkt unter der Kanzelhaube auf der Backbordseite traf. Die gesamte Kanzel explodierte. Eine Schleudersitz-Vorrichtung musste noch ausgelöst worden sein, weil sie ein brennendes Etwas aus der schwer beschädigten Heuschrecke fliegen und dann wie einen Meteor abstürzen sah. Leer, halb zerstört und mit bereits verbranntem Piloten, faltete sich die Heuschrecke zusammen und regnete als hunderttausend brennende Fetzen auf den Regenwald nieder. Zwei der restlichen Heuschrecken waren mit Vollschub nach Süden geflohen. Das letzte noch vorhandene Ziel war die rote, die Cordiale über den Bäumen verfolgte. »Brauchst du Hilfe?«, sendete Blansher, indem er bereits zu Cordiale herunterrollte. »Negativ, Zwo. Negativ. Ich habe ihn. Ist ein wendiges kleines Arschloch.« Der mit annähernd vierhundert km/h dicht über das Blätterdach jagende Cordiale jubelte, als die Zielerfassung endlich grünes Licht gab. Er eröffnete das Feuer.
Genau in diesem Augenblick scheuchte die Druckwelle seines Ziels eine Schar rosa Vögel aus den Bäumen auf. Cordiale flog mitten hinein. Sie trafen sein Flugzeug wie Kanonenkugeln. Metallplatten brachen. Die Kanzel splitterte. Ein Triebwerk kreischte, als gefiederte Geschosse die Ansaugöffnungen verstopften und die surrenden Turbinen verbogen. Ein blutiger Nebel breitete sich aus. »Scheiße!«, hörten sie Cordiale brüllen. Jagdea und Blansher rasten bereits hinter ihm her. Sie erlebten beide das seltsame rosa Aufleuchten organischer Trümmer, als seine Maschine durch die Schar mähte. Cordiale hatte die rote Heuschrecke getroffen, die prompt mit hoher Geschwindigkeit in die Bäume gerast war. Doch keinen von ihnen interessierte das jetzt noch. »Cordiale!«, rief Jagdea. Umbra Elf gab Schub, ein Triebwerk fiel aus, versuchte zu korrigieren, taumelte und traf die Bäume. »Cordiale! Cordiale!«, hörte Blansher Jagdeas Rufe im Kom. Plötzlich, fast unbegreiflich, tauchte Umbra Elf wieder aus dem zerfetzten und hin und her peitschenden Grün auf wie ein fliegender Fisch aus einem Ozeanbrecher. Cordiale hatte es gegen alle Wahrscheinlichkeit geschafft, die Nase oben zu halten, und war durch die oberen Blattschichten der grünen Masse gefegt, ohne einen größeren Ast oder gar Stamm zu treffen. Er gewann Höhe, während eine Fahne aus braunem Rauch aus seinem linken Triebwerk strömte, die rasch weiß wurde. »Umbra Elf?« »Ich bin noch da, Führer. Die verdammten Vögel.« Neunzehn Minuten später landeten sie wieder auf der VAB. Blansher und Jagdea hatten Cordiales ramponierten, hinkenden Donnerkeil nach Hause geleitet. Die Tarnnetze wurden zurückgezogen, sodass die Mattendecks wie Sockel in der grünen Wildnis sichtbar wurden. Die drei Donnerkeile schalteten auf vertikalen Schub und sanken behutsam auf ihre Decks. Während ihre Turbinen heruntergefahren wurden, schlossen sich die Schimmernetze wieder über ihnen.
Sobald ihr Einweiser Jagdea das Handzeichen gab, dass alles in Ordnung war, stöpselte Jagdea ihr Kom aus, stieg aus der Maschine und sprang auf die vulkanisierte Matte. Sie warf ihren Helm dem nächsten Mechaniker zu und rannte von ihrem Deck über die Laufbretter unter den Bäumen. Sie erreichte Cordiales Matte zugleich mit Blansher. Umbra Elf, von dem Dampf und wogende Rauchwolken aufstiegen, sah übel aus. Die Kanzel war gesplittert, die Nasenpanzerung verbeult. Ein Trupp Mechaniker sprühte Feuerlöschschaum auf das eine verklebte, brennende Triebwerk. Der vordere Teil des Donnerkeil war eine Masse aus klebrigem schwarzen Blut und zerrupften Federn. Cordiale stieg gerade aus. Er zitterte. Ein Vogelkadaver war mit solcher Wucht durch die Kanzel geflogen, dass er sein Helmvisier zerschmettert und ihm ein blaues Auge verpasst hatte. Er setzte den Helm ab, ließ ihn fallen und wischte sich das sirupartige Blut vom Gesicht. Dann blinzelte er die sich nähernden Jagdea und Blansher an. »Geistige Notiz«, sagte er, indem er vor Jagdea den Zeigefinger hin und her schwenkte. »Vögel sind so weit wie möglich zu vermeiden.« »Das werde ich mir merken«, lächelte sie. Cordiale streckte eine Hand zur Nase seiner Maschine aus und zog eine rosa Feder aus der klebrigen Masse, die darauf pappte. Er hielt sie in die Höhe. »Will jemand eine Glücksfeder?« VAB Gocelsee, 16:42 Die Skops brachten ihn um. Er hatte sich verpflichtet, gegen den Erzfeind der Menschheit zu kämpfen, nicht gegen mikroskopisch kleine Fliegen. Wohin er auch ging, umgaben sie ihn, unsichtbar, und erfüllten seine Ohren mit einem Zischen wie von einem Kom auf Empfang. Sein Rücken war wund. Er hatte sich alle Mühe gegeben, nicht zu kratzen, aber … Marquall wanderte zum Seeufer, da er sich fragte, ob die dreckigen Biester ihn wohl draußen im Freien in Ruhe lassen würden. Es schien nicht zu helfen. Das Seeufer war schlammig und tief gelegen. Hinter ihm erhob sich der dichte Regenwald wie ein verrottender Vorhang. Die
Sonne versank langsam und verlieh dem Himmel eine Färbung so rosa wie Cordiales verdammte Glücksfedern. Der See war riesig. Marquall ging plötzlich auf, dass er noch nie zuvor einen See gesehen hatte. Stehendes Wasser, das war eine Neuheit. Es war so, als schaue man durch die Bullaugen einer phantinen Makropole auf die Brühe, wenn man davon absah, dass der See so eben war. So umfassend. Der riesige grüne Spiegel hatte im Sonnenuntergang nicht die Farbe geändert, aber den Ton. Er war jetzt trübe, schwer, unbewegt. Insekten tanzten über seine Oberflächenspannung. Marquall fragte sich, ob er gehen und nach seinem Vogel sehen sollte, aber als er Neun-Neun zuletzt gesehen hatte, waren zwei Stapler der Flotte mit Farbtanks und Sprühpistolen anstelle der normalen Hebegabeln halb damit fertig gewesen, ihn grün zu lackieren. Marquall kniete sich ans Ufer und tauchte die Arme ins Wasser. Es war warm. Er schöpfte etwas mit den Händen, um sich das Gesicht zu waschen. »Lassen Sie das, Sie Kretin.« Marquall schaute über die Schulter. Der Ayatani saß in seinem blauen Gewand auf einem Felsen hinter ihm. Wie hieß er gleich? Kautas, oder nicht? »Warum denn?«, fragte Marquall. »Völlig ohne Grund. Machen Sie einfach weiter.« Marquall ließ das Wasser durch die Finger rieseln und erhob sich, während er sich die Hände an den Hosenbeinen trocken rieb. »Na los. Sagen Sie’s mir.« »Baroxyin Biroxas«, sagte der Priester. »Und das ist?« »Ein mikroskopisch kleiner Wasserwurm. Der See wimmelt von ihnen. Wenn sie in den Blutstrom gelangen, zum Beispiel durch Mund, Nase oder Tränendrüsen, setzen sie sich im Hirnstamm fest, vermehren sich ungeheuerlich, bringen Blutgefäße zum Platzen, verstopfen Nervenbahnen und verursachen schließlich solche Symptome wie die Unfähigkeit, seinen eigenen Namen zu behalten, die Unfähigkeit zu reden, die Unfähigkeit, die Darmbewegungen zu kontrollieren, und schließlich die Unfähigkeit zu leben.« »In Ordnung«, sagte Marquall. »Nur damit Sie’s wissen.« »Ich habe versucht, die … die Skops abzuwaschen.«
»Seeschlamm.« »Wie bitte?« Kautas strich sich mit den Fingern durch seine verfilzten Locken. »Benutzen Sie Seeschlamm. In den Haaren. Das verscheucht die Skops ziemlich schnell.« »In Ordnung.« Marquall hielt inne. »Hören Sie, was ich sagen wollte … es tut mir echt leid.« »Was denn?«, fragte der Ayatani. »Dass wir einfach so in ihre Krankenstube gegangen sind. Das war anmaßend.« Kautas zuckte die Achseln. »Na, jedenfalls tut es mir leid.« »Als würde mich das auch nur einen Scheißdreck interessieren«, sagte der Priester und entfernte sich. VAB Gocelsee, 17:20 Bree Jagdea stellte gerade Berichte in ihrem Habizelt zusammen, als der Meldegänger zu ihr kam. »Eine Nachricht, Mamzel«, sagte er, indem er ihr einen Meldezettel hinhielt. »Geschwaderführer«, korrigierte sie, während sie ihm den Zettel abnahm. Sie entfaltete ihn und las. »Etwas Interessantes?«, fragte Blansher, der aus seinem eigenen Zelt zu ihr kam. Die Nachricht lautete: An Jagdea, Geschwaderführer, XX. Phantine Ich war der Ansicht, ich sollte Sie davon in Kenntnis setzen, dass Hauptmann Guis Gettering von den Aposteln am heutigen Tag ungefähr gegen 13:00 Uhr abgeschossen wurde und nicht mehr zurückkehren wird. Ich halte es für angemessen, wenn Ihrem Jungen nun gestattet wird, seinen Vogel jetzt so zu nennen, wie es ihm gefällt. Hochachtungsvoll, Seekan, Geschwaderführer »Gott-Imperator«, seufzte Jagdea. »Wieder einer weniger.«
VAB Gocelsee, 21:12 »Wie sieht das aus?«, fragte Racklae. Er nahm die letzten Schablonen weg und kippte die nächste Arbeitslampe an, sodass Marquall sein Werk sehen konnte. Motten umkreisten emsig das blaue Licht der Lampe. »Das ist schön. Das ist toll«, sagte Marquall. Auf Seriennummer Neun-Neuns grüner Flanke prangte jetzt das phantiner Adlerwappen und der Name »Doppeladler«. »In Ordnung so?« »Ja. Gott-Imperators Segen dafür. Das ist genau richtig.« »Und dafür gibt es nichts aufs Maul?«, grinste Racklae, indem er sich die Hände an einem Putzlappen abwischte. »Nach allem, was ich gehört habe, nein«, sagte Marquall. Er tätschelte die Flanke seiner Maschine. »Morgen ist der erste Flug«, sagte er. Natürlich hatte er Neun-Neun schon geflogen, als er sie zur VAB Gocelsee gebracht hatte. Marquall meinte den ersten Kampfeinsatz. »Wir machen sie fertig für die Rampe, sobald wir alles noch einmal durchgesehen haben.« Marquall nickte dem Mechaniker zu. »Danke«, sagte er, indem er das Landefeld rückwärts verließ, sodass er noch einen letzten Blick auf seinen Vogel werfen konnte. Er war unter den schweren Tarnnetzen in einen kleinen Kokon aus Licht gehüllt. Überall ringsumher war die Nacht über den Wald hereingebrochen: eine volle, tiefe Dunkelheit, die von den schwachen Lichtpunkten des Lagers nur wenig erhellt wurde. »Sieht gut aus, Schlächter.« Marquall sah sich um. Larice Asche stand zwischen den Bäumen am Rande des Mattenfeldes. »Ja, nicht?«, grinste Marquall. Sie ging zu ihm und zog eine Flasche Amasec aus der Kartentasche ihrer Fliegerhose. »Du solltest sie besser taufen, das bringt Glück.« Sie trank einen ordentlichen Schluck und gab ihm die Flasche. Marquall trank ebenfalls. »Auf Doppeladler«, sagte Asche. Ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit, und ihre Stimme hatte einen schwelgerischen Unterton. »Die Dinge entwickeln sich ziemlich gut für dich, was, Schlächter? Ein Ausweichmanöver mit der berüchtigten Hilfe des
Raketentriebwerks, dein erster bestätigter Abschuss, ein persönlicher Vogel … Du kommst langsam ins Spiel. Du hast die Ausstrahlung, Marquall. Die Aura, die besagt, dass du es weit bringen wirst.« »Schon möglich«, lächelte er etwas nervös. Er trank noch einen Schluck und gab ihr die Flasche zurück. »Vielleicht ändert sich mein Glück endlich.« »Oh, ich weiß, dass es so ist«, sagte sie, trat auf ihn zu und presste ihren Mund auf seinen. Ihre Begeisterung überrumpelte ihn vollkommen. Racklae sprang von Neun-Neuns Tragfläche und suchte in den Werkzeugkästen nach einem Wirbel Nummer drei. »He, Chef«, sagte einer seiner Männer. Racklae schaute auf, nickte, folgte dem Blick des Mannes und sah zwei umschlungene Gestalten im Schatten des Weges. Er lachte schnaubend. »Und der Junge war so sicher, dass er nichts aufs Maul bekommen würde …« TAG 262 Makanitgebirge, 06:47 Der Sonnenaufgang überzog die obersten Felsklippen über ihnen mit einem rötlichen Schein, und lange Schatten fielen auf den Staub. Es war kalt und unheimlich still. »Was für ein Tag ist heute?«, fragte Viltry. »Zwei-zweiundsechzig«, erwiderte LeGuin. »Ich habe … drei Tage verloren.« »Ich glaube, Sie haben einen ziemlichen Schlag an den Kopf bekommen. Wir haben sie so gut zusammengeflickt, wie es uns möglich war.« »Sie haben mich gefunden?« LeGuin lehnte sich gegen die Ketten von Todeslinie und trank einen Schluck aus der Wasserflasche. »Wir haben Ihren Vogel gefunden. Die Elemente meiner Kolonne hatten reichlich Ärger vorausgesehen. Eine Spalte. Einen Hinterhalt. Als wir dort anka-
men, war schon alles vorbei. Eine ziemliche Schweinerei. Wir sind auf Ihr Flugzeug gestoßen, das südlich der Spalte auf dem Bauch in der Wüste lag. Sie haben vielleicht fünfzig Meter entfernt im Sand gelegen.« »Ich kann mich nicht erinnern, abgesprungen zu sein.« »Vielleicht herausgeschleudert? « »Und der Rest meiner Besatzung …?« LeGuin zuckte die Achseln. »Tut mir leid. Ich nehme an, dass sie es nicht geschafft haben. Ihre Maschine war ausgebrannt. Wir haben einen Blick hineingeworfen und ein paar Leichen gesehen. Ich glaube nicht, dass uns entgangen wäre, wenn noch jemand gelebt hätte.« Viltry nickte. »Tut mir leid.« »Nicht Ihre Schuld.« »Ihre auch nicht, kann ich mir vorstellen.« Du hast ja keine Ahnung, dachte Viltry. »Wie heißen Sie?«, fragte er. »LeGuin, Hauptmann Robart, 8. Pardus Panzer.« »Oskar Viltry, 21. Geschwader, Phantiner Luftwaffe.« »Wir sehen nicht viele von Ihrem Kaliber hier in dieser Gegend«, scherzte LeGuin. »Sind Sie auf dem Heimweg?« »O ja. Wir sind Teil von Humels großer Land-Armada. Wir haben vor den Toren der Dreieinigkeit-Makropolen gestanden, und jetzt marschieren wir heim.« »Wie war es?« »Vor den Makropolen? Eine Schweinerei. Eine blutige Schweinerei. Wir dachten, wir würden einfach reinspazieren und den Laden in einer Woche einnehmen. Sie hatten andere Vorstellungen. Und schwere Verstärkungen aus dem Raum. Sie haben die ersten Wellen abgeschlachtet. Auf den Terrassenfeldern, den kommerziellen Schnellstraßen und in den Dampffabriken. Der Himmel war schwarz. Überall Feuer. So etwas haben Sie noch nie gesehen.« LeGuin wischte sich ein Sandkörnchen von der Wange. »Also haben wir uns zurückfallen lassen, und daraus wurde dann ein Rückzug. Durch die Wüste, beständig gejagt. Ich sage Ihnen eins. Welche Hölle wir vor den Toren der Makropolen gefunden haben, sie war nichts gegen die Hölle, durch die wir uns seitdem quälen. Hitze. Wasserknappheit, Spritknappheit, Munitionsknappheit, Pro-
viantknappheit. Pannen. Krankheiten. Männer, die an unbehandelten Wunden sterben. Mörderisches Gelände. Ständige Angriffe. Es gab Zeiten, da habe ich gedacht, wir würden es niemals schaffen.« »Es ist immer noch ein weiter Weg«, sagte Viltry. »Ich weiß, aber jetzt sind wir in den Bergen. Noch zwei Tage, so der Imperator will, dann erreichen wir die Ebene auf der Nordseite.« »Einige Elemente haben es bereits geschafft«, sagte Viltry. »Bevor ich … bevor ich das letzte Mal geflogen bin, gab es Neuigkeiten. Kolonnen, die das Lidatal und die Halbinsel erreicht hatten. Ich glaube, einige könnten auch nach Westen durchgebrochen sein.« »Das ist gut«, sagte LeGuin. »Das ist gut zu hören. Thron der Erde, wir sind noch nicht fertig.« »Werden Sie noch einmal zurückkehren?«, fragte Viltry. »Wie meinen Sie das?« »Die Lufteinsätze, an denen ich teilgenommen habe. Erhebliche Luftstreitkräfte, hauptsächlich Flotteneinheiten, die hergebracht wurden, um den Feind zu beschäftigen und aufzuhalten. Um Ihren Männern die Zeit zur Heimkehr zu verschaffen. Aber wir können sie nicht ewig aufhalten. Ich meine, das ist der Punkt. Wir halten sie lediglich mit allen Mitteln hin. Aber hier gibt es immer noch einen Krieg zu gewinnen.« »Dann werden wir ihn wohl gewinnen müssen, nicht wahr?«, sagte LeGuin. Er stand auf. »Kommen Sie. Der Tag bricht an. Wir sollten aufbrechen. Schon eine gehörige Strecke zurücklegen, bevor es richtig heiß wird.« Er weckte seine Besatzung, die tief und fest im Schatten des Panzers schlief. Nur in der Kühle der Nacht war es möglich, Erholung zu finden. Er schickte die Männer los, die anderen Besatzungen zu wecken. Überall auf dem schmalen Pass waren Panzer und Transporter abgestellt. Motoren sprangen an. Stimmen wurden laut. Ein weiterer Tag im großen Rückzug hatte begonnen. VAB Gocelsee, 08:43 In voller Fliegermontur trafen Van Tull, Del Ruth und Marquall zur Einsatzbesprechung ein, die Jagdea an einem Klapptisch vor
ihrem Habizelt abhielt. Es war ein frischer, strahlender Tag mit einer vom See hereinwehenden Brise und kräftigen Sonnenstrahlen, die durch die Schimmernetze fielen und alles mit einem Schachbrettmuster aus Licht und Schatten überzogen. Blansher kam vorbei und brachte eine Kanne Kaffein aus der Kantine mit. Aus irgendeinem Grund tauchte auch Larice Asche auf, mit Fliegerhose und Unterhemd bekleidet. Sie versprühte gute Laune, aber Jagdea dachte nicht weiter über ihre Anwesenheit nach. Sie wartete mit dem Beginn bis 08:45 Uhr. Auf die Sekunde pünktlich hörten sie das Getöse von drei gleichzeitigen Katapultstarts. Die Raptoren flogen an diesem Morgen den ersten Einsatz und jagten ins Blau des Himmels empor. »Für heute sind überlappende Patrouillenflüge vorgesehen«, begann Jagdea. »Drei Raptoren, drei von uns und so weiter, den ganzen Tag durch, jederzeit sechs Maschinen in der Luft. Das bedeutet, dass Sie alle vor Sonnenuntergang wahrscheinlich noch einmal in die Luft müssen. Es wird ziemlich ermüdend, also achten Sie darauf, dass Sie sich regenerieren. Das Gesamtbild sieht folgendermaßen aus: Der Feind fliegt immer noch massierte Angriffe auf die Küste. Die Nachrichten von der Halbinsel sind schlecht. Gestern haben sie zum ersten Mal Theda bombardiert. Aber wenn keine Bomberstaffel durch unseren Einsatzbereich fliegt, ist das im Augenblick nicht unsere Sorge. Große Teile der sich zurückziehenden Landarmee haben die Berge jetzt hinter sich. In den nächsten paar Tagen wird eine Massenevakuierung anlaufen, um sie zur Nordküste zu schaffen. Aufklärungsflüge zeigen, dass einige der Kolonnen hier entlangkommen, weil sie die Absicht haben, die Saroja westlich des Gocelsees zu überqueren. Sie werden gejagt.« »Zu Land oder aus der Luft?«, fragte Van Tull. »Beides. Das Einsatzprofil hat drei Schwerpunkte. Wenn Sie eine Kolonne von uns entdecken, machen Sie sie zum Epizentrum Ihrer Patrouillen. Bleiben Sie bei ihr und geben Sie ihr Schutz, solange der Treibstoff reicht. Wenn Sie Feinde sehen, greifen Sie sie an und vernichten Sie sie. Zu diesem Zweck werden Sie mit Raketen bestückt. Ergreifen Sie jede Gelegenheit, dem Feind zu schaden, Umbra. Fliegen Sie los, prüfen Sie, was zu tun ist, und erledigen Sie die Sache.« »Und wenn wir einen feindlichen Träger entdecken?«, fragte Del Ruth.
»Benutzen Sie Ihren Verstand. Ermitteln Sie seine Position und verschwinden Sie. Dann rufen wir die Marodeure. Im Übrigen gilt: Wenn sie auf eine Bomberformation stoßen oder die Überlegenheit des Feindes größer ist als zwei zu eins, nehmen Sie Ihr Kom und rufen um Hilfe. Ich erwarte Heldentaten, keine Dummheiten.« Sie hielt inne. »Fragen? Keine? Gut, dann wären wir so weit.« Jagdea und Blansher folgten den drei Piloten zu ihren Vögeln. Jagdea sah, wie Larice Asche an Marquall hing und mit ihm lachte. Am Rand von Neun-Neuns Landematte gab Asche Marquall einen leidenschaftlichen Kuss. »Sieht aus, als hätte Larice ihren nächsten Abschuss erzielt«, sagte Blansher. »Marquall? Das ist eine Überraschung.« »Eigentlich nicht. Sein erster bestätigter Abschuss und ein paar Kunststückchen. Er ist gerade ziemlich heiß. Darauf ist sie schon immer geflogen.« »Ist sie auch mal auf dich geflogen, Mil?«, fragte Jagdea. »Ein echter Herr ist immer diskret«, erwiderte Blansher. »Ach, was ist denn los, Mil? Etwas genervt, dass du ihr nie ins Auge gefallen bist? Woran hat’s gelegen, zu großer Altersunterschied?« Er schenkte ihr ein tolerantes Lächeln. »Wenn du es unbedingt wissen willst, bei mir hat sie’s vor achtzehn Monaten versucht. Im Urdesh-Feldzug. An dem Nachmittag, als ich die drei Klauen abgeschossen habe.« »Was ist passiert?« »Sie hatte mich im Visier, grünes Licht, Warnton und alles. Aber ich bin ausgewichen, ausgerollt und sicher heimgekehrt.« »Ist sie nicht dein Typ?« »Sie ist absolut bezaubernd. Aber ihre Motivation begeistert mich nicht.« Eine Sirene ertönte. Marquall war startbereit. Sie zogen sich hinter die Schutzwände zurück. Racklae schloss die Kanzel und bedachte Marquall mit einem Grinsen. Unter Helm und Maske erwiderte der die Geste mit einem Nicken. Er stellte sein Luftgemisch ein und lehnte sich zurück. Thron, wie er Rampenstarts hasste. Er spürte, wie ihm in seinem Anzug der Schweiß ausbrach. Er beobachtete, wie die Zeit bis zum Start auf der Anzeige heruntergezählt wurde. Systeme
an. Hypergol-Ventile geöffnet. Im Kom die Stimmen der Einsatzleitung. Raketentriebwerk startklar. Der Summer. Fünf Sekunden. Die Schimmernetze öffneten sich und enthüllten den strahlend blauen Himmel. Drei Sekunden. Daumen auf dem Feuerknopf. Zwei. Mit einem markerschütternden Tosen schoss Del Ruth in die Luft, dann Van Tull. Dann … Marquall sah sich bestürzt um. Er hatte auf den Knopf gedrückt. Er war ganz sicher. Er drückte noch einmal. Nichts. Er fluchte. »Umbra Acht, Status?« »Fehlfunktion!«, antwortete er. »Neustart …« Wieder nichts. Plötzlich leuchteten rote Runen auf seiner Instrumententafel auf. Ein Warnton erklang. »Scheiße!«, fauchte Marquall. »Wiederholen? Status?« »Fehlfunktion des Raketentriebwerks!« »Verstanden, Umbra Acht. Notfallmaßnahmen befolgen. Treibstoffmischung stabilisieren und Neutralisierungsdüsen aktivieren.« »Verstanden, Einsatzleitung.« Er legte mehrere Schalter um, sicherte seine Waffensysteme, versiegelte seine Tanks und ließ einen chemischen Zusatz in die Raketentanks einlaufen, sodass sich die explosive Mischung für das Raketentriebwerk nicht zufällig oder verspätet entzünden konnte. Es würde Stunden dauern, die Tanks auszuwaschen und neu zu füllen. »Umbra Acht gesichert«, sendete er. Erst jetzt kamen die Mechaniker hervor und eilten zum Flugzeug. Wartungsluken wurden geöffnet und Kabel herangebracht, um Treibstoff abzuleiten. Ein Stapler und ein Trupp Waffenmeister kamen, um die Raketen unter den Tragflächen abzunehmen und in gehärteten Caissons zu verstauen. Eine Leiter fuhr an der Maschine hoch. Marquall schob das Kanzeldach zurück. »Danke für gar nichts, Neun-Neun«, zischte er, als er sich nach draußen stemmte. Als Marquall auf der Matte stand, war Racklae bereits neben ihm. »Es tut mir so leid, Pilotoffizier, wirklich leid. Wir dachten, sie ist eins a. Kein Anzeichen für irgendein Problem.«
»Flüche tauchen nicht auf den Diagnoseschirmen auf, oder?«, sagte Marquall verbittert. Es war nicht zu übersehen, dass Racklae am liebsten im Boden versunken wäre. Für seine Mechaniker galt das jedoch nicht. Viele versuchten ein Lachen zu unterdrücken. Nicht weit entfernt machten sich Mechaniker des 409. und anderes Personal der Basis gar nicht erst die Mühe, ihre Belustigung zu verbergen. Mit brennendem Gesicht hörte Marquall spöttisches Gelächter. Offenbar war nichts lustiger als ein großspuriger junger Pilot bei seinem ersten Kampfeinsatz in einem neuen und kühn dekorierten Vogel, dessen Stolz zertrümmert wurde. Er war eine Lachnummer. Er verließ die Landematte. »Pech, Marquall«, sagte Jagdea. »Wir bringen Sie heute Nachmittag in die Luft.« »Ja, Mamzel«, sagte er schnippisch im Vorbeigehen. Er ging zu Asche, die sich die Farce anschaute. Es gab immer noch Gelächter. Marquall breitete die Hände aus und zuckte die Achseln. »Was soll ich sagen? Wie schlimm ist es? Vielleicht können wir doch noch gemeinsam frühstücken.« Larice Asche starrte ihn verächtlich an. »Ein andermal, Schlächter«, sagte sie, wandte sich ab und ging ins Lager. Über dem Regenwald, 09:02 Nachdem Jagdea sich so schnell fertig gemacht hatte wie bei einem Notalarm, startete sie ihren wartenden Keil von der Matte und zog zu Del Ruth und Van Tull hoch, die den Anweisungen der Einsatzleitung entsprechend auf sie gewartet hatten. »Drei, Sechs? Umbra Führer. Entschuldigt die Verzögerung. Marqualls Raketentriebwerk hat nicht gezündet, und er ist draußen. Also müsst ihr mit mir vorliebnehmen.« »Kein Problem, Führer«, sendete Van Tull. »Immer ein Vergnügen, Mamzel«, antwortete Del Ruth. »Also fangen wir mit dem Spiel an«, sagte Jagdea. Null-Zwo fühlte sich großartig an, locker und geschmeidig trotz der unerwarteten Hektik. »Gehen wir auf viertausend, normale Reisegeschwindigkeit, Kurs eins-eins-neun.«
»Klar, Führer.« »Verstanden.« »Umbra Drei, übernehmen Sie die Spitze.« »Eins a, Führer«, sendete Van Tull zurück. Sie bildeten ein schlichtes V, während sie steil in die Höhe schossen, Van Tull an der Spitze, Jagdea links hinter ihm auf der Acht. Die Luft war klar und die Sicht großzügig, aber es war doch noch so kalt, dass von den Flügelspitzen und Triebwerksauslässen Dampf aufstieg. Im Auspex war nur der Himmel zu sehen sowie die drei Raptoren sechzig Kilometer weiter im Osten. Jagdea fühlte sich unbehaglich. Sie hatte nicht damit gerechnet, so schnell zu fliegen, nicht vor dem Mittag, jedenfalls nicht nach dem ursprünglichen Plan. Sie hatte gut gefrühstückt und verdaute noch. Der Druck stellte unangenehme Dinge mit ihren Eingeweiden an. Sie veränderte die Zusammensetzung des Luftgemisches und fühlte sich ein wenig besser. Sie flogen eine Stunde und schlugen dabei einen weiten Bogen nach Osten, bis der Regenwald langsam ausdünnte und sie sich über dem Gestrüpp der Sierra zwischen Wüste und Regenwald befanden. Die Sicht war enorm. Wegen des grellen Tageslichts schwebten Nebensonnen über der Kanzellinse. Offenes, raues Land glitt unter ihnen vorbei, mit Felsen, Disteln und Kaktusbäumen übersät. »Ich habe ein hartes metallisches Echo, Punkt zwo nach Westen, vier Kilometer«, sendete Van Tull. »Es ist kalt.« »Sehen wir nach«, erwiderte Jagdea. Sie legten sich in eine nicht zu enge Kurve, aber der Andruck reichte für einen Krampfanfall in ihrem Magen. »Alles in Ordnung, Eins?«, rief Del Ruth. »Eins a«, erwiderte Jagdea. »Etwas zu spät geschwenkt, deshalb frage ich.« »Zu viel gefrühstückt«, sagte Jagdea. Sie erreichten den Kontakt und flogen niedrig darüber hinweg. Auf dem unregelmäßigen Kamm eines Dünenmeerbeckens lagen zwei Imperiumspanzer und vier Truppentransporter still und reglos. Kein Anzeichen von Schaden. Einige Luken waren geöffnet. Im Auspex waren keine Wärmequellen zu erkennen. Keine Motoren, kein Leben. »Sie sind tot«, sendete Van Tull. »Machen wir noch einen Überflug«, sagte Jagdea.
Sie schwenkten nach Westen und flogen noch einmal über die Fahrzeuge, tiefer und fast ohne Schub, sodass sie beinahe heranglitten. Ein längerer Blick. Jagdea sah, dass der windgepeitschte Sand die Maschinen bereits zuzudecken begann. Sie sah etwas, das eine Leiche sein mochte, eine Erhebung im Staub neben einem der Transporter. Dafür war nicht der Feind verantwortlich, oder vielmehr war er nicht direkt dafür verantwortlich. Dies war nicht das Ergebnis eines Luftangriffs oder Überfalls. Dies war ein Schicksal, das von der erbarmungslosen Wüste herbeigeführt worden war. Was war ihnen ausgegangen? Treibstoff? Wasser? Beides war gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Jagdea nahm an, dass ihnen zuerst der Sprit ausgegangen war. Da waren die Fahrzeuge dann einfach ausgerollt und mit leerem Tank stehen geblieben. Dann Hitze und Durst. Hatte einer von ihnen versucht zu laufen? Jetzt würde man ihre Leichen nie mehr finden. Wie erbärmlich. Wie sinnlos. Hatten sie gewusst, wie kurz davor sie gewesen waren? Noch sechzig Kilometer, und sie hätten den Waldrand erreicht. Sie hoffte, sie hatten es nicht gewusst. Der Tod war eine Sache. Aber wenn dann das Wissen hinzukam, dass die Erlösung nah, aber gerade außer Reichweite war … Das Kom knisterte und riss sie aus ihren Gedanken. »Umbra, Umbra. Hilfeersuchen von Raptor-Staffel, dringend!« »Koordinaten, bitte«, erwiderte Jagdea. Die Daten huschten über ihren Hauptschirm. »Empfangen, Einsatzleitung. Wir sind unterwegs, neun Minuten.« Sie schwenkten ab, zogen hoch und beschleunigten. »Vollschub«, sagte Jagdea. VAB Gocelsee, 09:31 »Immer noch Probleme mit den Bissen?« Marquall, der am Seeufer saß, schaute hoch. Es war der Priester, Kautas. Der böige Wind zupfte an seiner blauen Kleidung. »Ich hatte den Eindruck, dass Sie das kaum interessiert«, erwiderte Marquall. Der Ayatani zuckte die Achseln. »Ich habe nie um das hier gebeten. Tatsächlich weiß ich nicht einmal, worum ich eigentlich gebeten habe. Jedenfalls nicht um das hier. Aber es ist mein Los. Die regelmäßigen Depeschen meiner Kirche erinnern mich daran,
dass ich eine Aufgabe zu erfüllen habe. Eine Berufung. Also stellen Sie mich auf die Probe.« »Sie machen heute Morgen einen sehr fröhlichen Eindruck.« Kautas setzte sich neben Marquall. »Eine Illusion, das versichere ich Ihnen. Ich bin noch dasselbe unausstehliche Arschloch wie gestern.« Kautas zog eine Metallflasche aus der Tasche seines Gewandes und trank einen Schluck. Marquall roch Schnaps. Der Priester bot ihm keinen an. »Aha«, sagte Marquall. »Aha was?« »Nichts.« »Für mich hat sich das so angehört, als hätten Sie eine große Offenbarung gehabt, Fliegerbubi.« »Ich heiße Vander Marquall. Und, nein, es war keine Offenbarung. Mir ist nur gerade klar geworden, warum Sie besserer Laune waren.« »Wirklich?« »Wirklich.« »Dann klären Sie mich auf, Vander Marken.« »Marquall. Wenn Sie beim Frühstück zu trinken anfangen, Vater, ist es kein Wunder, wenn Sie um neun Uhr fröhlich sind.« Kautas gluckste und trank noch einen Schluck. »Wer sagt, ich hätte beim Frühstück zu trinken angefangen? Das ist das Verhalten eines hoffnungslosen Trunkenbolds. Junger Mann, ich habe schon vor vielen Jahren mit dem Trinken angefangen.« Marquall schüttelte den Kopf. »Mit Verlaub, was machen Sie hier?« »Ich habe Sie hier gesehen, alleine am Strand, und Sie sahen unglücklich aus, also dachte ich, ich komme zu Ihnen und teile Ihre Trübsal. Ich habe einen Hunger nach Melancholie.« »Ich meinte hier. Auf Enothis. Am Gocelsee.« Kautas grub einen Kiesel aus dem Uferschlamm aus und warf ihn in den See. Er hatte einen guten Wurfarm. Er flog weit und kräuselte beim Eintauchen das ölig grüne Wasser. »Warum ist der Stein dort gelandet?«, fragte Kautas. »Sie haben ihn hingeworfen.« »Ja, aber …« Er brach ab. »Nein, Sie haben recht. Ich habe ihn hingeworfen. Es ist noch zu verdammt früh für schlaue philosophische Analogien. Oder schon zu spät. Wie auch immer. Ich bin
hier, weil ich hier innegehalten habe. Es ist eine Angelegenheit, die ich dem Gott-Imperator vorzutragen gedenke, wenn mir als Teil der wunderbaren Heerscharen der Beati endlich eine himmlische Audienz vor dem Goldenen Thron gewährt wird.« »Viel Glück.« »Glück hat nichts damit zu tun. Es geht nur um den Glauben.« »Davon scheinen Sie nicht viel zu haben, Vater. Sie wirken sehr … verbittert.« »Tue ich das? Wie schlimm ist das denn? Ich soll diesem Posten spirituellen Rückhalt geben. Und medizinische Hilfe. Tatsächlich glaube ich, dass man mich wegen Letzterer hierhergeschickt hat. Ich war zuerst Medikus, bevor ich Ayatani geworden bin.« Marquall sah ihn an. »Lassen Sie sich von mir sagen, dass Sie in keiner der beiden Funktionen was taugen.« »Tja, nun …«, seufzte Kautas. »Sie mich auch.« Sie saßen eine ganze Weile schweigend da. Skops umzischten sie. Schließlich räusperte sich Kautas und sagte: »Also los. Stellen Sie meinen Wert auf die Probe. Warum haben Sie so schlechte Laune?« Marquall lächelte verdrossen. »Wegen eines Flugzeugs. Und einer Frau.« »Mit Flugzeugen kenne ich mich nicht aus«, sagte Kautas. »Lärmende Dinger. Da kann ich Ihnen nicht helfen. Frauen sind schon eher mein Gebiet. Verschmäht? Unerwidert? Unzulänglich?« »Schon gut, schon gut … das Erste. Verschmäht. Letzte Nacht hat sie sich noch an mich geschmiegt wie ein Leichensack. Heute Morgen …« »Tja, Sie müssen lernen, darüber hinwegzukommen …« »Ich war noch nicht fertig.« »Nun ja. Äh. Trotzdem, Sie müssen einfach darüber hinwegkommen.« »Darüber hinwegkommen?« Kautas nickte weise. »Vater, Sie sind wirklich schlecht in diesen Dingen.« »Bin ich das? Scheiße.« Es gab eine lange Pause. Kautas trank noch einen Schluck. »Also gut«, sagte Marquall. »Sie sind dran. Warum sind Sie so fertig?«
Kautas kratzte sich am Kopf und seufzte dann. Schließlich sagte er: »Weil ich da sein wollte. Ganz einfach da. Bei ihrer Rückkehr. Und das kann ich nicht, weil ich hier festsitze.« »Wen meinen Sie?«, fragte Marquall. »Die Beati, Vander Marquall. Die Beati.« Über der Wüste, 09:32 Sie kamen tief und schnell und mit glühenden Triebwerken herein. Jagdea sah zu ihrer Freude, dass sie ihre geschätzte Flugzeit um beinahe eine Minute unterboten hatten. Die Raptor-Staffel hatte eine Kolonne in der offenen Wüste entdeckt, die sich auf dem Rückzug befand, und über sie gewacht, als ein Angriff erfolgt war. Schleichpanzer und schwerere Kettenpanzer, mit vollen Magazinen und Tanks, waren über die angeschlagene Kolonne der Imperialen hergefallen. Die Raptoren hatten ihre Raketen bereits abgefeuert und damit beachtlichen Schaden angerichtet. Die Dünen waren mit brennenden Panzerwracks übersät. »Schön, euch zu sehen, Umbra«, sendete Raptor Eins. »Wir könnten hier noch ein paar Höllenstreiche brauchen.« »Verstanden, Führer. Sind schon unterwegs«, erwiderte Jagdea. Die Raptoren, die mit ihren Bordgeschützen getan hatten, was sie konnten, zogen sich in größere Höhen zurück und überließen Umbra den Luftraum. Die Raptoren waren schlichte schwarze Maschinen. Sie hatten sich geweigert, sie nach ihrem Eintreffen in der VAB umspritzen zu lassen. Anscheinend hatte es etwas mit ihrem Stolz zu tun. Unter ihnen rollte die feindliche Panzergruppe durch die Wüste, holperte über Dünen und gab mit den Hauptgeschützen Schuss um Schuss auf die fliehenden und sich zerstreuenden Imperialen ab. Jagdea sah eine Chimäre explodieren und eine Hydra-Plattform in Flammen aufgehen. Die Luft war mit Rauch und Qualm durchsetzt: weiße Rauchfahnen, Pulverdampf von den Entladungen der Geschütze, von Wracks aufwallende Wolken aus schwarzem Brandrauch. Von den feindlichen Luftabwehrgeschützen schlug ihnen sporadisches Leuchtspurfeuer entgegen. »Geben wir’s ihnen«, sagte Jagdea.
Van Tull machte den Anfang und raste durch das Mosaik aus Rauch und Dampf. Leuchtspurgeschosse schlugen ihm entgegen, blieben aber zu kurz. Er feuerte seine Raketenladung ab und zog im gleichen Moment steil hoch. Ein Flammenblitz zuckte über den Wüstenboden. Zwei feindliche Panzer lösten sich in ihre Atome auf, als ihre Magazine hochgingen. Del Ruth war direkt hinter ihm und rauschte heran. Sie flog unruhig und wich den Leuchtspurlinien der Flak aus. Ihre Raketen schossen davon und beschädigten einen Panzer, da sie seine Ketten zerfetzten. Anstatt hochzuziehen, blieb sie tief und eröffnete das Feuer mit ihren Autokanonen, die einen Truppentransporter zerstörten. Dann zog sie seitlich weg, während sie ins Kom jubelte. Jagdea rollte abwärts und machte ihre Raketen scharf. Ihr war übel, doch sie hielt ihren Magen mit eiserner Willenskraft unter Kontrolle. Ein Panzer … zu nah. Noch einer, wie auf dem Präsentierteller. Sie nahm ihn ins Visier und feuerte. Auf weißen Rauchstrahlen jagten ihre Raketen davon. Sie zog bereits hoch und von den Zielen weg, als der Panzer explodierte. Sie kam aus einer langen Kurve. Und flog direkt in die Fledermäuse hinein. VAB Gocelsee, 09:33 Kautas schnaufte nachdenklich. »Wissen Sie, was gerade auf Herodor passiert?«, fragte er. »Herodor? Wo ist das?« »In der Khan-Gruppe, ungefähr neun Wochen von hier.« Marquall zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Mehr Kämpfe?« Kautas seufzte. »Das ist etwas, das mir bei der – entschuldigen Sie, wenn ich das so sage – gemeinen kämpfenden Truppe öfter auffällt. Sie scheint kaum eine Vorstellung vom großen Zusammenhang zu haben. Vom großen Plan der Dinge. Sie scheint sich damit zu begnügen, das den Taktikern und dem Adel und der Priesterschaft zu überlassen.«
»Die gemeine kämpfende Truppe muss sich normalerweise mit genügend anderen Dingen herumschlagen, die ihre unmittelbare und vollständige Aufmerksamkeit erfordern«, sagte Marquall. Kautas lächelte. »Ein berechtigter Einwand.« »Besteht die wahre Berufung des Imperiumssoldaten nicht darin, zu dienen und zu kämpfen? Und nicht zu fragen?«, fragte Marquall. »Ja. Aber ein wenig Neugier ist nie verkehrt. Warum kämpfen Sie?« »Um Enothis aus den Klauen des Erzfeindes zu befreien.« »Natürlich. Und ansonsten?« »Um … um dem großen Kreuzzug zu helfen und die Sabbatwelten zu befreien?« »Also ist der größere Zusammenhang …?« »Um den Krieg zu gewinnen.« Kautas trank einen Schluck aus seiner Flasche. Diesmal bot er sie Marquall an. Der Phantiner schüttelte den Kopf. »Warum sind die Sabbatwelten wichtig?«, fragte der Ayatani. »Nun ja, strategisch …« »Nein, Marquall. Worin liegt ihre Bedeutung?« »Vor mehreren tausend Jahren hat die Heilige Sabbat diese Welten des Chaos im Namen des Gott-Imperators vom Erzfeind gesäubert. Wir holen zurück, was sie für uns erkämpft hat.« »Genau. Diese Welten sind die Welten der Heiligen Sabbat. Sie sind gesegnet, weil sie auf ihnen war. Als Ayatani gilt meine erste Verpflichtung dem Gott-Imperator, aber ich bin insbesondere ein Priester der Heiligen Sabbat, der Beati. Uns Ayatanis gibt es in zwei Sorten. Die einen wohnen in den Tempeln und Schreinfesten, und die anderen sind wie ich ›Imhava‹ … Wanderpriester, die geschworen haben, ihrem Weg von Stern zu Stern zu folgen und ihre Lehren zu verbreiten.« »Verstanden«, sagte Marquall. »Dieser Kreuzzug dauert nun schon fast zwanzig Jahre. Wenn meine Informationen stimmen, ist Kriegsmeister Macaroth weiter vorgeprescht und ein großes Risiko eingegangen, indem er einen Angriff auf das Herz der Kernsysteme des Erzfeindes geführt hat. Aber seine Flanken sind entblößt, und der Feind ist auf diese Schwächen losgegangen in der Hoffnung, die vorstoßenden Kreuzzugstruppen abzuschneiden, sodass Macaroth allein und anfällig wäre. Wir sind diese Flanken, Marquall. Enothis, die Khan-
Gruppe. Die Kämpfe hier werden über Sieg oder Niederlage des gesamten Kreuzzugs entscheiden. Wenn wir hier verlieren, spielt es keine Rolle, ob Macaroth an der Front gewinnt. Alles wäre umsonst. Der Feind weiß das. Aber Gerüchten zufolge hat der Feind jetzt sogar noch einen größeren Anreiz. Es heißt, auf Herodor wäre die Beati wiedergeboren.« Marquall blinzelte. »Ist das … möglich?« Kautas spitzte die Lippen. »Das stellt sogar den Glauben eines Imhava-Ayatani auf die Probe, aber es scheint wahr zu sein. Im Augenblick ist Herodor wie Enothis schweren Angriffen seitens der Heere des Chaos ausgesetzt. Wenn eine dieser Welten fällt, wird die Flanke aufgerissen und der Kreuzzug ist zum Untergang verurteilt. Wenn Herodor fällt und die Beati dabei stirbt, wird das Imperium einen noch größeren Verlust erleiden.« »Und Sie wünschten, Sie wären dort?«, fragte Marquall. »Ja, in der Tat. Und wie sehr ich es wünsche. Tief im Herzen sehnt sich jeder Ayatani danach, auf Herodor zu sein, an Sabbats Seite. Aber es ist mein Pech, mein Los im Leben, hier zu sein, festgenagelt durch Verpflichtungen und die Wirren eines anderen Krieges und nicht in der Lage, die letzte Pilgerreise zu ihr anzutreten.« Eine Brise kam auf und wehte über den See. Die Palmwedel der Bäume am Ufer schwankten und zischten. »Daneben wirken meine eigenen Probleme unbedeutend«, sagte Marquall. »Vielleicht sind Sie als priesterlicher Ratgeber doch besser, als ich dachte.« Kautas schüttelte den Kopf. »Ich bin gut für zwei Dinge, Vander Marquall. Trinken und verbittert sein. Ich vergeude jeden erbärmlichen Tag damit, auf das Ende zu warten.« »Auf welches Ende?« »Auf das Ende dieses Krieges. Das Ende dieser Welt. Auf mein eigenes Ende. Was auch immer zuerst kommt, damit ich frei bin und bei der Beati sein kann.« Marquall stand auf. »Denken Sie nicht so. Das riecht zu sehr nach Pessimismus. Wir können immer noch gewinnen, sagen Sie sich das. Hier und auf Herodor. Der Kreuzzug kann immer noch triumphieren. Die Beati kann immer noch leben. Schon die mürrischen Gedanken eines Mannes können dem Feind Kraft geben. Außerdem«, fügte er hinzu, »ist Ihnen noch nie in den Sinn gekommen, dass die Beati gewollt haben muss, dass Sie hier sind?«
Kautas gab keine Antwort. Marquall zuckte die Achseln und machte sich auf den Rückweg zur Basis. »Marquall?« Er drehte sich um und schaute zurück. Der Priester hatte sich erhoben. »Was denn, Vater?« »Das lässt vermuten, dass sie auch gewollt hat, dass Sie hier sind.« Über der Wüste, 09:35 Der Himmel war dunkel von Fledermäusen. Buchstäblich und beängstigend dunkel. Eine massierte Bomber-Formation, vielleicht fünfhundert Maschinen, flog wie eine langsame, schwere Gewitterwolke in ungefähr zehntausend Metern Höhe vorbei. Zwei weitere große Schwärme, ebenso groß, folgten in zehn Kilometern Abstand. Die meisten flogen ganz einfach weiter zu ihren Zielgebieten im Litorale, ohne sich um das kleine Gefecht am Rande der Wüste zu kümmern. Aber ein Rudel Bomber, zwanzig oder mehr, hatten sich gelöst, um die sich zurückziehende Kolonne anzugreifen, und mehrere Dutzend Begleitjäger kamen mit ihnen. Jagdea hörte Del Ruth und einen der Raptor-Piloten hektisch Warnungen über Kom senden. »Massenangriff! Über fünfhundert Maschinen, aus der Wüste, schwenken ab nach Nordosten, Höhe zehntausend.« Jagdea war zu beschäftigt mit dem Absorbieren des Andrucks, da sie sich mühte, den heranrasenden Jägern auszuweichen. Größtenteils Höllenklingen, aber auch andere Maschinen mit langen v-förmigen, nach hinten abgeknickten Tragflächen, sodass sie wie langhalsige Vögel aussahen. Der Andruck machte ihr schwer zu schaffen und verursachte ihr Magenkrämpfe. Jagdea rollte gerade rechtzeitig aus, um den Befehl der Einsatzleitung zu hören, die den Imperiumsflugzeugen den Rückzug befahl. »Hier Umbra Führer«, sendete sie. »Negativ. Ich wiederhole, negativ. Schicken Sie alles zur Unterstützung rauf, was fliegen kann, sonst ist diese Kolonne tot.«
Wie die Dinge lagen, hatten sie und die anderen Umbra-Vögel für weniger als zwanzig Minuten Treibstoff über dem Ziel, bevor sie sich auf den Heimweg machen mussten. Den Raptoren blieben vermutlich weniger als zehn. Die feindlichen Kampfbomber, allesamt Höllenklauen mit grellen Lackierungen, stürzten sich bereits auf die belagerten imperialen Bodentruppen und deckten sie mit einem Teppich explodierender Bomben ein. Panzer, Waffenplattformen, Transporter, Lastwagen und Männer, alle verbrannten. Hektisches Hydrafeuer zuckte in den Himmel. Sie sah ein schwarzes Kreuz – einen der Raptoren – unter ihr durchrasen und eine der herabstoßenden Klauen aufs Korn nehmen. Er verfehlte, flog aber weiter und beharkte die feindlichen Panzer. Von Del Ruth und Van Tull war nichts zu sehen, aber sie konnte ihre dringlichen Rufe hören. Beide waren noch im Spiel und mittlerweile auch im Gefecht. Jagdea flog eine Korkenzieherrolle und klemmte sich hinter eine Klaue, die gerade mit ihrem Zielanflug begonnen hatte. Ihr erster Feuerstoß mit dem Zwillingslaser verfehlte das Ziel, aber er reichte, um die Klaue zu verscheuchen, die abrupt und steil abdrehte und sich dabei mit ihrer noch nicht abgeworfenen Bombenlast mühte. Sie rollte zurück, passte ihr Tempo an, schoss erneut und traf das Heck. Die ganze Maschine löste sich in einer trockenen, feuerlosen Explosion von Metallteilen und Rumpfabschnitten sowie einer Rauchwolke auf. Große Trümmerstücke flogen jaulend in ihre Richtung, zu schnell, um eine Kollision zu vermeiden. Sie hörte, wie ihre Panzerung getroffen wurde. Etwas Wirbelndes und Schwarzes prallte von ihrer Kanzel ab und hinterließ ein Netz aus Sprüngen im Panzerglas. Etwas anderes traf eine Tragfläche und beschädigte ein Höhenleitwerk, was sie zu harten Korrekturen mit Trimm und Ruder zwang. Und noch etwas – ein großes Triebwerksteil, nahm sie an – raste heran und prallte hart von NullZwos Nase ab. Dieser Zusammenstoß hätte sie beinahe vom Himmel gefegt. Jagdea hielt die Maschine in der Luft und auf Kurs. Als sie sich in ihrem Sitz ein wenig aufrichtete, konnte sie die verbeulten Panzerplatten an ihrer Nase sehen. Mehrere Schadenswarntöne summten.
Ein Blick auf ihre Anzeige verriet ihr, dass die Laserkanonen nicht mehr aktiv waren. Entweder hatte die Kollision die Läufe verbogen oder die Verbindung zur Batterie zerstört. Sie schaltete den Alarm aus und wechselte dann auf die Autokanonen, die einzigen Waffen, die ihr noch blieben. Ein Raptor flog in dem Chaos über sie hinweg und zog steil hoch. Drei Klingen saßen ihm im Nacken, die unablässig auf ihn feuerten, dann kam Van Tull, der die Verfolger verfolgte. Jagdea schwenkte herum und schaltete die Nachbrenner zu, sodass sie schnell und auf Van Tulls Vier kletterte. Sie schloss rechtzeitig zu ihm auf, um ihn treffen zu sehen. Umbra Dreis Laser leuchteten grell auf, und die führende Klinge explodierte heftig wie ein jäh aufloderndes, schmutziges, rauchiges Prometheumfeuer. Van Tull musste ein heftiges Ausweichmanöver fliegen, um dem abstürzenden brennenden Klumpen auszuweichen, der in die Umarmung der Schwerkraft trudelte. Jagdea blieb dran, obwohl ihr nach den extremen AndruckBelastungen ziemlich übel war. Sie feuerte Salven mit ihren Autokanonen ab, konnte den Raptor aber nicht mehr retten. Von hinten getroffen, wackelte das Heck, dann erbebte die ganze Maschine. Teile flatterten davon, und schwarzer Rauch quoll aus ihr. Der Raptor schmierte ab, steil nach unten, in Flammen gehüllt. Sie sah einen Absprung. Einen Fallschirm in der Luft. Die verbliebenen Klingen waren sofort nach dem Abschuss ausgebrochen, in erster Linie, nahm sie an, um sie abzuschütteln. Sie ließen sich herabfallen, in weitem Bogen und rollten dann aus. Sie flog eine saubere halbe Kehre und jagte hinter einer der Klingen her. Sie war rot. Sie erhaschte einen Blick auf die Nasenbemalung, die eine Schlachtszene darstellte. Die Klinge flog im Zickzack und versuchte ihr auszuweichen, während sie dem brennenden Wüstenboden entgegenraste. Sie ließ sie durch ihr Visier gleiten, von links nach rechts, und rollte dann herum, sodass die Klinge von rechts nach links wieder zurückglitt. Ziel erfasst. Ihr Daumen fuhr hinunter. Sie spürte das Beben und Knattern der Autokanonen und sah die Leuchtspurgeschosse. Die Klinge, anscheinend unbeschädigt, fing ihren Sturzflug ab, dann faltete sie sich plötzlich zusammen, fing an zu rauchen und fiel aus der Luft.
Jagdea rollte seitlich weg. Sie sah jetzt den Fallschirm, den Raptor-Piloten, durch den wallenden Rauch fliegen. Er explodierte. Er platzte auseinander, wie Dampf, wie zerfetztes Fleisch. Sein Fallschirm zerriss und wurde schlaff. Eine der Feindmaschinen unbekannten Typs jagte mit immer noch feuernden Flankengeschützen vorbei. Wut überkam sie. Sie legte ihre Maschine in eine enge Kurve, um der langhalsigen Mordmaschine zu folgen, aber der Andruck war zu stark. Sie bekam gerade noch die Maske herunter, bevor sie ihr Frühstück von sich gab, das ihr der Andruck aus dem Leib quetschte. »Gott-Imperator … Gott-Imperator …«, keuchte sie heiser. Ihr wurde schwarz vor Augen, obwohl sie wieder geradeaus flog. Schwindel erfasste sie. Sie übergab sich noch einmal, dann streifte sie die Maske wieder über und atmete gierig das Luftgemisch ein. Sie hatte einen widerlich sauren Geschmack im Mund. Sie wusste bereits, dass sie zu lange geradeaus geflogen war, noch bevor der Alarm ertönte, der ihr verriet, dass sie sich in der Zielerfassung einer Feindmaschine befand. Irgendwas hing ihr im Nacken. Sie versuchte sich wegzudrehen, aber ihre Arme waren schwach, ihr Körper fiebrig. Sie spürte mehrere solide Einschläge. Sie holte tief Luft, riss sich mit aller Gewalt zusammen und kippte die Maschine nach links weg, um durch ein Quintett von Höllenklauen zu rasen, die sich im Anflug auf die Kolonne befanden. Ihr blieb nicht einmal mehr die Zeit, auf sie zu schießen. Ihr Angreifer war augenscheinlich gut. Er blieb bei ihr und bekam sie mit Unterbrechungen immer wieder in seine Zielerfassung. Sie reckte den Hals und sah sich angestrengt nach ihrem Verfolger um. Wo war er? Wo war er? Da. Direkt auf ihrer Sechs, wie aus dem Lehrbuch. Eine andere dieser langhalsigen neuen Maschinen. Sie erhaschte einen Blick darauf. Genug, um zu erkennen, dass diese Maschinen, was sie auch waren, keine Schubvektorsteuerung hatten. Sie waren schnell, sie waren wendig, aber sie waren auch konventionell.
Jagdea stieg, gab Seitenschub und machte unter Einsatz der Bremsklappen einen Satz rückwärts, was die Fledermaus zwang, unter ihr durchzufliegen. Dann stieß sie auf sie herab und demonstrierte, wie ein Abschuss wirklich funktionierte. Die Fledermaus ging hoch wie ein Leuchtfeuer. Jagdea schwenkte seitwärts, um Flakbeschuss auszuweichen. Über Kom sendeten die beiden verbliebenen Raptoren, sie seien fertig, da ihr Treibstofflimit erreicht sei. Sie zogen sich zurück. »Drei? Sechs? Seid ihr noch bei mir?«, rief Jagdea. »Positiv, Führer«, erwiderte Van Tull. Eine Pause. »Bestätigt, Führer«, sendete Del Ruth. Ihre Stimme klang spröde. »Bin etwas beschäftigt …« Als Jagdea herumschwenkte, machte sie Del Ruth etwa einen Kilometer weiter westlich und tausend Meter höher aus. Sie kämpfte gegen zwei Klingen, die sich beständig über ihr hielten und so ihre Versuche vereitelten, sie abzuschütteln. Del Ruths Donnerkeil zog eine weiße Rauchfahne hinter sich her. Jagdea gab Vollschub und ging direkt auf die Fledermäuse los, sodass diese ausweichen mussten. Sie wendete, flog eine halbe Rolle und sah die Todeszone über sich nach oben gleiten. »Ich habe sie«, sendete sie. »Gefecht abbrechen und fliehen, Aggie.« »Zu Befehl, Mamzel«, erwiderte Agguila Del Ruth über Kom. »Tut mir leid.« »Komm gut nach Hause«, befahl Jagdea. Sie rollte zurück. Nach dem Abgang der Raptoren und Del Ruths waren nur noch sie selbst und Van Tull in der Luft. Abgesehen von der Schar der Fledermäuse. Noch drei Minuten bis zur kritischen Treibstoffschwelle. Jagdea sah eine Klinge und schwenkte darauf zu, sah dann aber noch zwei oder drei hinter der ersten Klinge, Sie rollte und drehte sich weg und bekam eine so ins Visier, dass der Vorhalt stimmte. Doch als sie abdrückte, passierte nichts. Die enge Kurve belastete ihre Maschine mit neuneinhalb G, was zu viel für die elektrischen Autolader war, um ihre Kanonen noch mit Munition füttern zu können.
Im Nachhinein war Jagdea froh, dass sie bereits ihr Frühstück verloren hatte. Bei neuneinhalb G wäre sie ansonsten erstickt und einen unschönen und idiotischen Tod gestorben. Sie kam aus ihrer extremen engen Kurve, schwenkte auf eine Klinge ein und beharkte sie mit ihren Kanonen. »Zeit, dass ihr verschwindet«, sagte eine Stimme im Kom. Es war Blansher. Er schoss gerade mit Asche, Waldon, Zemmic und Ranfre im Schlepptau heran. »Schön, euch zu sehen«, rief sie. »Das siehst du vielleicht anders, wenn wir nach Hause kommen«, sagte Blansher, während er sich durch eine lockere Formation von Höllenklauen den Weg freischoss. »Wir hauen euch nämlich nur raus. Du, Van Tull und Del Ruth … brecht sofort ab.« »Del Ruth ist schon weg. Wir müssen der Kolonne Deckung geben.« »Werd vernünftig, Bree. Hast du gesehen, wie viele Fledermäuse in der Luft sind? Außerdem ist nicht mehr viel von der Kolonne übrig.« Jagdea schaute nach unten. Auf dem Wüstenboden waren schrecklich viele Flammen und Wracks zu sehen, aber nur wenige imperiale Fahrzeuge, die sich noch bewegten. Trotz aller Bemühungen der Jagdflugzeuge hatten die Höllenklauen bereits den größten Teil der Kolonne ins Jenseits gebombt. »Können wir verschwinden?«, rief Blansher. »Ja. In Ordnung. Umbra, abbrechen und Rückzug.« Die sieben phantinen Donnerkeile lösten sich aus dem Luftkampf und rasten ostwärts. Hinter ihnen stand die Wüste in Flammen. VAE Gocelsee, 12:02 Jetzt verstand Bree Jagdea die volle Bedeutung von Milan Blanshers Bemerkung. Geduscht stand sie im Bereitschaftsraum des größten Fertigbauwerks der Basis und lauschte dem Summen der Kühleinheiten. Sie sah sich dem Kommandant der Basis, Marcinon, sowie Geschwaderführer Ortho Blaguer gegenüber, dem Anführer der Raptoren. Blaguer, ein Mann Mitte fünfzig mit verkniffenem Gesicht und hohen Wangenknochen, war in der Basis der höchstrangige Luftwaffenkommandeur und damit Jagdeas
Vorgesetzter. Seine Fliegerrüstung war ebenso schwarz wie die Flugzeuge seiner Staffel. »Sie hatten Rückzugsbefehl«, sagte Marcinon. Sie hatte ihn von Anfang an nicht leiden können. Schrille Stimme, schlaksige Statur und ein Adamsapfel, der größer wirkte als seine Nase. Augmetische Prothesen auf der linken Seite. »Den hatte ich, Kommodore. Aber ich habe die Lage anders eingeschätzt, was einem Staffelführer auch zukommt. Es galt, Leben zu retten.« »Und zu verlieren«, sagte Blaguer. Jagdea konnte auch ihn nicht leiden. Ölig, geschniegelt, unnahbar, entsprach er dem schlimmsten Klischee der Flottenflieger. »In der Tat, Geschwaderführer«, sagte sie. »Die Einsatzleitung hatte entschieden, dass dieser Kampf den Sieg nicht wert war, und sie abberufen«, sagte Marcinon. »Aber fünf Ihrer Piloten … Augenblick … Milan Blansher, Larice Asche, Katry Waldon, Orlonz Zemmic und Goran Ranfre … haben sich dem Befehl der Einsatzleitung widersetzt. Sie sind gestartet und haben den Feind angeflogen und gekämpft.« »Um mich und Van Tull herauszuhauen«, sagte Jagdea. »Weil Sie sie dazu angestiftet haben. Das reicht mir nicht, Jagdea. Ich habe die Absicht, gegen Sie alle Disziplinarstrafen zu verhängen, vor allem gegen Sie, Geschwaderführer. Thron, wenn wir nicht so dringend Piloten bräuchten, würde ich Sie alle vom aktiven Dienst suspendieren.« Marcinons Gesicht hatte sich gerötet. Eine Ader war in seiner Stirn hervorgetreten. »Tatsächlich glaube ich nicht, dass Sie das können«, sagte eine Stimme. Jagdea drehte sich um. Ein Ayatani-Priester hatte den Raum betreten. In seiner Begleitung waren Blansher und Marquall. »Kautas?«, höhnte Blaguer. »Gehen Sie, Vater, hier gibt es keinen Schnaps.« Ayatani Kautas grinste den Führer der Raptoren an. »Keine Sorge, Boss. Ich habe schon genug intus, um in Form zu sein. Ich habe mich etwas mit Herrn Blansher hier unterhalten. Netter Kerl. Stellvertretender Führer der Umbra-Staffel, sagt mir Herr Marquall. Das hier ist übrigens Marquall. Ein beherzter Bursche. Er hat mich mit Herrn Blansher bekannt gemacht.«
Marcinon ordnete seine Papiere und Datentafeln. »Sie sind betrunken, Vater. Gehen Sie.« »Betrunken? Ja. Genau … tja, wer hätte das gedacht?« Kautas grinste dreckig. »Sie können keine Disziplinarstrafen gegen die Umbra-Staffel verhängen. Tatsächlich können Sie sie überhaupt nicht herumkommandieren. Und wissen Sie auch, warum?« »Nur zu, klären Sie mich bitte auf«, sagte Marcinon müde. »Sie gehören der Flotte an. Der Imperiumsflotte. Jeder von Ihnen. Sie haben null Autorität über die Phantiner.« »Das ist doch lächerlich«, begann Blaguer, indem er sich erhob. »Mund halten, Haaröl«, schnauzte Kautas. Jagdea musste sich ein Grinsen verbeißen. »Setzen Sie sich wieder. Sie sind Angehöriger der Imperiumsflotte.« »Ja, Vater«, sagte Marcinon, offenbar mit einigem Unbehagen. »Richtig. Der Flotte. Also haben Sie nicht die geringste Autorität über Angehörige der Imperialen Garde.« »Keine«, sagte Marcinon zähneknirschend, da ihm plötzlich aufging, worauf das hinauslief. »Dann halten Sie auch den Mund«, sagte Kautas. »Die phantinen Flieger gehören zur Imperialen Garde. Sie sind eine Ausnahme. Eine Besonderheit. Ihre Welt ist – wie soll ich es ausdrücken – praktisch nur Himmel. Wenn sie also Garde-Regimenter auf die Beine stellen, sind es meistens Luftstreitkräfte. Sie gehören nicht zur Flotte. Weder jetzt noch irgendwann. Sie fallen nicht in Ihre Zuständigkeit.« »Vielen Dank, dass Sie uns erleuchtet haben, Vater«, sagte Marcinon. »Geschwaderführer Jagdea?« »Meiner Ansicht nach ist alles gesagt worden, Kommodore«, erwiderte sie. »Das XX. Phantiner gehört der Imperialen Garde an. Wir stehen hier auf dieser Welt und sind mehr als bereit und gewillt, in einem kooperativen Zusammenschluss neben den hervorragenden Fliegern der Flotte zu kämpfen. Ich akzeptiere Ihre Zurechtweisung und entschuldige mich in aller Form. Aber bitte belehren Sie mich nicht mehr. Das würde einen Graben aufreißen, meine Herren, und sehr wahrscheinlich die Offiziere des Marschalls und des Kommissariats einbeziehen. Unser Leben ist zu ausgefüllt und pressiert zu sehr für derart verheerende Komplikationen.« Sie salutierte und beschrieb eine Kehrtwendung.
TAG 263 Makanitgebirge, 13:33 Am vergangenen Tag hatte das Schicksal – oder das Wohlwollen des Gott-Imperators der Menschheit – ihnen einen Tag freien Weges über die kalten, gewundenen Gebirgspässe gewährt. Keine Andeutung von Krieg hatte sich gezeigt, kein Auspex-Kontakt, nicht einmal das entfernte Gemurmel eines Kampfflugzeugs am Himmel. Nachdem sie ihre Feldflaschen und Kanister mit kaltem, brackigem Wasser aus Gebirgsbächen aufgefüllt hatten, waren sie weitergefahren, von einem Gefühl jäher Erwartung und Hoffnung erfüllt. Bei Anbruch der Nacht, als LeGuin zuvor noch einen Halt befohlen hatte, um die niedrigen Temperaturen zum Schlafen auszunutzen, waren sie weiter durch Schluchten und Felseinschnitte gefahren und geröllübersäte Hänge emporgerattert. Irgendwann nach Mitternacht hatte die Kolonne den Kamm des Gebirges an einer Stelle namens Ragnars Schlucht passiert und die Abfahrt in die weiten Gebirgsausläufer des Nordens in Angriff genommen. Viltry fuhr mit Todeslinie. Man hatte ihm den Platz eines ein paar Tage zuvor auf der Straße getöteten Kanoniers angeboten. Niemand erwartete von ihm, dass er irgendwelche Pflichten übernahm. Er war schlicht Passagier. LeGuin löste irgendwann den müden Emdeen am Steuer ab, um diesem eine Pause zu gönnen. Emdeen kletterte auf den Kommandantensessel im Turm und schlief sofort ein. Auf seinem nackten Metallsitz weiter unten hatte Viltry weitaus mehr Schwierigkeiten einzuschlafen. Der Panzer veranstaltete einen Höllenlärm, und seine Bewegungen waren sehr viel heftiger als die eines Flugzeugs, sogar bei starken Turbulenzen. Es waren Vibrationen und Erschütterungen, die ganz anders waren als die flüssigen Abweichungen des Fliegens. Lockeres Geröll wurde von den Ketten aufgewirbelt und prallte gegen den schweren Rumpf und den Kettenschutz. Trotz der nächtlichen Kühle draußen war es heiß, und die feuchte Luft stank nach Rauch, Öl und ungewaschenen Leibern. Außerdem gab es nichts zu sehen. Die Nacht war mondlos, die Dunkelheit erdrückend. Die Einheiten der Kolonne fuhren mit abgeschirmten Lampen. Im Panzer selbst brannte lediglich die
rote Innenbeleuchtung. Hinzu kam der Lichtschein der Anzeigen unter dem dicken Glas der Armaturen. Als LeGuin verkündete, sie hätten endlich den Kamm des Makanitgebirges passiert, musste Viltry ihm einfach glauben. Der Morgen kam, grau und schwer. Emdeen übernahm wieder die Fahrerposition, und LeGuin und Viltry saßen mit geöffneten Luken im Turm. Die Luft, kühl, feucht und von den Abgasen der langen Fahrzeugkolonne erfüllt, war nach dem stickigen Panzerinneren zumindest erfrischend. Es gab immer noch nicht viel zu sehen. Der Weg wand sich durch nackte graue Bergausläufer und eine geröllübersäte Landschaft, in der es keine natürlichen Gewächse zu geben schien. Nebel füllte das anschließende Tal aus und versperrte die Aussicht. Hinter ihnen waren die Gipfel des Makanitgebirges Türme aus Schatten vor einem bleichen, ausgehungerten Himmel. Die Sonne ging auf, doch der Nebel wollte sich nicht verziehen, und sie fuhren weiter in ein Gebiet mit Dunstschwaden und schlechter Sicht. Sie passierten drei imperiale Truppentransporter, sämtlich verlassen, Zeugnis einer bereits vor ihnen auf diesem Weg geflohenen Kolonne, und holten gegen zehn Uhr deren Nachhut ein. Sie war doppelt so groß wie LeGuins Kolonne und bewegte sich sehr viel langsamer. Sie passten sich ihrem Tempo an. LeGuin fuhr mit seinem Panzer an die Spitze seines Abschnitts der Formation und stellte Kom-Kontakt zu den Führern der zweiten Kolonne her. Nach allem, was Viltry von dem Wortwechsel mitbekam, standen ihre neuen Begleiter unter derselben Art improvisierter Befehlshierarchie wie LeGuins Einheit. Die eigentlichen Befehlsketten innerhalb der Panzer- und Infanterie-Streitkräfte waren längst nicht mehr vorhanden. Anscheinend gaben jetzt die Panzerkommandanten – wegen der Tatsache, dass sie nun die Beschützer der vielen tausend in Transporter gepferchten Infanteristen waren – notwendigerweise den Ton an. LeGuin schien besonders erfreut darüber, dass mehrere Panzer aus seinem eigenen Regiment in der anderen Kolonne mitfuhren. Er führte eine beißende, scherzhafte Unterhaltung mit einem Hauptmann namens Woll. »Schön, seine Stimme zu hören«, sagte LeGuin zu Viltry, als er das Sprechgerät des Koms wieder zurückgelegt hatte. »Ich hatte
Gerüchte gehört, Altes Strontium wäre vor den Toren der Dreieinigkeit-Makropolen zerstört worden. Das alte Schlitzohr.« Viltry verstand LeGuins Freude. Er wäre ebenfalls froh gewesen, wenn er von alten Freunden gehört hätte, die er für tot hielt. Nicht, dass es dazu kommen würde. Der Nebel dünnte aus, aber der Tag wurde nicht heller. Sie hatten spärliches Waldgebiet erreicht und den Rand von etwas, das wie eine metallene Straße aussah: das Lidatal, das bis zur Küste führte. Andere hatten diesen Weg vor ihnen genommen. Am Straßenrand standen noch mehr verlassene Fahrzeuge, von denen viele ausgeschlachtet worden waren. Sie passierten eine Reihe landwirtschaftlicher Betriebe und Agrar-Komplexe, die von ihren Bewohnern wahrscheinlich schon vor Wochen verlassen worden waren. Vieh war keines mehr vorhanden, Scheunen und Speicher waren leer, die Habitate geplündert oder ausgebrannt. Die Viehställe und die großen metallenen Rundhallen der Geflügelfarmen waren baufällig und verlassen. In einigen Feldern konnten sie Reihen frischer Gräber ausmachen. Die Straße näherte sich dem Fluss und folgte seinem Lauf. An seinen Ufern gab es noch mehr Gehöfte, Weiler und Verladestationen, schließlich ein ganzes Dorf, allesamt verlassen und zerstört. Gegen Mittag stießen sie auf eine Kolonne ausgebrannter, explodierter Fahrzeugwracks auf einem mehrere Kilometer langen Straßenabschnitt, der große Löcher und Krater aufwies. Der Kampf hatte vor mindestens drei Tagen stattgefunden. Panzer mit Räumschaufeln und die wenigen verbliebenen AtlasZugmaschinen mussten einige der Wracks beiseiteräumen, um die Durchfahrt zu ermöglichen. Für Viltry wies die Szene alle Anzeichen eines Luftangriffs auf. Danach wurden Schäden immer häufiger. Die Reste anderer Elemente von Kolonnen verstopften auch weiterhin ramponierte Straßenabschnitte. Schwarze Leichname lagen offen in den Straßengräben. Mehr Leichen trieben aufgequollen und mit dem Gesicht nach unten in den Teichen der zerstörten hydroponischen Systeme am Straßenrand. Die nächsten drei Gemeinden waren alle zerbombt worden, statt lediglich ausgeplündert und verlassen.
Welch eine unheimliche, erbärmliche Landschaft. Viele tausend Hektar Felder waren durch unkontrolliertes Abwerfen von Brandbomben schwarz verkohlt. Höfe, Dörfer, ganze Gemeinden waren eingeebnet worden. Es gab Waldabschnitte, wo nur noch geborstene Stämme aus verbrannter, eingeäscherter Erde ragten. Die Landschaft war kilometerweit von Kratern durchsetzt, viele davon mit Regenwasser gefüllt. Aus zerstörten hydroponischen Systemen liefen Ströme algenreicher Brühe aus zerstörten Gräben über die Straße. Die Kolonne zog weiter, während unter ihr zischend Wasser verdampfte. Noch mehr Nebel befleckte den Himmel. Es waren Rauchreste, die noch aus den Tagen der Bombardierungen stammten, sowie Aschestaub, der von den Ketten und Rädern aufgewirbelt wurde. Über die gesamte Breite des waidwunden Tals identifizierten ihre Ferngläser andere zerbombte Gemeinden, in den grauen Dampf der Feuerstürme gehüllt, die tagelang unkontrolliert gewütet hatten. Um 13:33 Uhr wurde Alarm gegeben. Zehn Kilometer weiter nördlich wurden die Unterseiten der Wolken durch grelle Blitze erleuchtet, und sie hörten das Krachen von Munition. Ein paar Minuten später wurde eine Formation feindlicher Kampfflugzeuge gesichtet, die in mittlerer Höhe nach Süden flog. Die Maschinen, die ihre Bomben bereits abgeworfen hatten, beachteten die Kolonne nicht, aber es gab keinen Zweifel, dass sie gesichtet worden waren. Sie würden den Kontakt ganz sicher melden. Die Imperiumskolonne hatte um kurz nach 14:00 Uhr mit der Überquerung einer wunderbarerweise nicht zerstörten Brücke über einen Nebenfluss der Lida begonnen, als ein zweiter Alarm gegeben wurde. Es hatte angefangen zu regnen, und dem Auspex waren keine klaren Ortungsbilder zu entlocken. Verwirrung und Panik machten sich in der Kolonne rings um sie breit. LeGuin machte seine Waffenbatterien scharf und klemmte sich dann hinter das Kom. »Wiederholen, bitte. Auspex-Auswertung. Bestätigen Sie die Ortung von Feindflugzeugen?« Nur hektisches Schnattern. »Machen Sie schon!«, fauchte LeGuin in das Kom. »Hier spricht Todeslinie. Ich brauche eine Auswertung! Wird’s bald!« Viltry öffnete die obere Luke und reckte den Kopf in den bewölkten Himmel. Er witterte die kalte, feuchte Luft und lauschte.
Von überallher kam das Geräusch aufgeregter Stimmen, dazu das Dröhnen von Fahrzeugmotoren, der Lärm sich drehender Geschütztürme, das Prasseln von Regentropfen auf Panzerplatten. Und da, hinter alledem verborgen, das Trällern von Vektorschub-Triebwerken. Viltry warf einen ängstlichen Blick hinunter zu LeGuin. »Was?«, fragte LeGuin, indem er sich erhob. »Hören Sie das?« »Wo? Warten Sie … ja. Das kommt von vorne.« »Nein«, sagte Viltry. »Das ist ein Echo-Effekt des Tals. Es kommt von hinten.« Sofort fuhr LeGuin den Geschützturm herum, sodass er nach hinten wies. »Runter von der Brücke!«, rief er Emdeen zu. »Bewegung!«, rief Viltry den Transportern vor und hinter ihnen aus der Luke zu. »Beeilung! Macht den Weg frei! Bringt die Laster ins Rollen!« Über zwei Drittel der Kolonne musste die alte Brücke immer noch überqueren. Viltry hörte eine Veränderung im Trällern der VektorschubTriebwerke. »Da kommen sie!«, brüllte er. Jemand weiter hinten in der Kolonne hatte mittlerweile endlich ein klares Ortungsbild. Am Ende der langen Kolonne feuerten Waffen in den Himmel, dann eröffneten auch die weiter vorn stehenden Einheiten das Feuer. Panzergeschütze, die in den Himmel wiesen, sowie die Hydra-Plattformen, die noch Munition hatten. Handfeuerwaffen schossen ebenfalls, Männer, die hinten auf der Ladefläche ihrer Transporter standen und mit ihren Lasergewehren in den Himmel zielten. Viele andere Gardisten, die unbewaffnet oder zu verängstigt für eine derart kühne Geste des Trotzes waren, sprangen von ihren Transportern und rannten in die Deckung der Bäume oder ins Schilf des Nebenflusses. Das Feuer war intensiv. Die Kolonne erfüllte den verregneten Himmel mit einem Hagelsturm aus weißglühenden Strahlen und Leuchtspurgeschossen. Von den Feindflugzeugen war immer noch keine Spur zu sehen. »Sie verschwenden die meiste Munition …«, sagte Viltry, während er zur Kenntnis nahm, dass zumindest LeGuin noch nicht zu schießen begonnen hatte. LeGuin wollte etwas sagen.
Irgendwas raste über sie hinweg, nordwärts, tief und sehr schnell. Der Düsenlärm ließ sie erbeben und ihre Ohren knacken. Eine flüchtige Andeutung von etwas Malvenfarbenem oder Dunkelrotem. Kaum eine Sekunde später ertönte ein mattes, hohles Krachen. Gut dreihundert Meter hinter ihnen wallte ein sich in sich kräuselnder großer Feuerball auf einem Hals aus Rauch und Funken in die Höhe. Viltry sah die zweite Fledermaus, eine Höllenklaue. Sie hatte ihre Bombenlast gerade über dem Ende der Kolonne abgeworfen und eindeutig etwas Wesentliches getroffen … einen Panzer oder vielleicht einen Munitionstransporter. Ein Vorhang aus grellen, beinahe neonweißen Flammen schoss weit hinter ihnen in die Luft. Kleine schwarze Flecken, bei denen es sich, wie Viltry erkannte, sehr wahrscheinlich um große Trümmerstücke explodierender Fahrzeuge handelte, flogen seitwärts aus dem Flammenblitz. Die Klaue hielt sich tief und wechselte auf die Bordkanonen, um die Kolonne zu beharken. Ihr Triebwerkslärm war entsetzlich. In eine ihm äußerst zerbrechlich vorkommende Röhre aus Metall gekauert, erlebte Viltry zum ersten Mal die psychologische Wirkung eines Luftangriffs aus erster Hand. Er erstarrte buchstäblich, und sein Körper weigerte sich zu reagieren. Seine Zähne klapperten. Nein, seine Zähne klapperten, weil LeGuin das Feuer mit den Hauptgeschützen eröffnet hatte, der Zwillings-Boltkanone, die ihre Feuerkraft dem Hagel der Luftabwehrgeschütze hinzufügte. Der ganze Turm erbebte und drehte sich dann, als er dem Ziel folgte. Viltry klammerte sich am Lukenrand fest und starrte auf die anfliegende Klaue. Ein Strom grüner Leuchtspurgeschosse aus einer Hydra traf sie fast. Sie kippte beinahe anmutig die Tragflächen an und ließ sich nicht von ihrem Überflug abbringen. Ihre Kanonen feuerten. Eine schnelle Abfolge von Lichtblitzen umspielte die ummantelten Waffenmündungen. Peitschende, erschütternde Einschläge folgten dem Straßenverlauf. Ein achträdriger Transporter erbebte heftig, als arbeiteten auf seiner Ladefläche Männer mit Pressluftbohrern. Die Abdeckplane der Ladefläche wurde zerfetzt, die Fenster wurden herausgesprengt, und die Reifen platzten. Nähte in der Karosserie klafften und husteten Staub und Rauch. Ein zweiter Transporter gleichen Typs davor ruckte
heftig und fing Feuer. Viltry sah Männer, die wie Fackeln brannten, aus dem Führerhaus taumeln. Noch immer in Bewegung, verließ der Laster die Straße, holperte die Uferböschung hinunter und kippte im Schilfbett auf die Seite. Eine Dampfwolke schoss zischend in die Höhe, als Flusswasser auf das Feuer traf. Die Klaue rauschte über sie hinweg. Viltry zuckte zusammen, als eines ihrer Geschosse von der Bugpanzerung Linies abprallte. LeGuin verfolgte sie mit seinen Schüssen, verfehlte aber. »Nicht genug Vorhalt!«, rief Viltry. »Was?« »Vorhalt! Sie antizipieren sie nicht richtig!« »Können Sie’s besser?«, fragte LeGuin. »Ich kann es versuchen«, erwiderte Viltry. LeGuin beorderte Matredes nach unten, um einen klemmenden Autolader zu reparieren. Er selbst wechselte auf den Platz des Kommandanten und gestattete Viltry, den Sitz des Kanoniers einzunehmen. »Vergessen Sie nicht, dass das hier eigentlich kein Flakfahrzeug ist«, warnte LeGuin. »Ich weiß«, sagte Viltry. »Ich meine, wir können die Kanonen nicht so steil anstellen wie eine Hydra und haben auch nicht ihre Zielvorrichtungen. Ich versuche nur, Sperrfeuer zu legen.« »Ich weiß«, wiederholte Viltry. Er sah sich im Turm um und machte sich mit den Kontrollen vertraut. »Wie kann ich den Turm drehen?« »Damit«, sagte LeGuin und zeigte auf einen Kupplungshebel. »Sie wissen, was Sie tun?« »Nun ja, es gibt Unterschiede zum Turm eines Marodeurs, aber keine großen.« Viltry lehnte sich zurück, machte sich mit dem Ziel-Periskop vertraut und schwenkte die Kanone probehalber herum. »Sie haben das übrigens ziemlich gut gemacht«, sagte Viltry. »Aber es hat etwas mit Antizipation zu tun. Sie sind nicht an fliegende Ziele gewöhnt. Sie glauben, dass Sie sich wie Pfeile oder Geschosse bewegen, aber Vektorschubmaschinen fliegen anders. Sie können auf ziemlich abrupte und ungewöhnliche Art nach oben oder zur Seite ausweichen.« Emdeen hatte sie mittlerweile von der Brücke gefahren. Teile der hinteren Kolonne brannten heftig.
»Es kommen noch mehr«, rief LeGuin mit einer Hand am Kopfhörer. Die Hydra-Batterien auf der Straße fingen wieder an zu feuern. Viltry mühte sich, etwas durch das Periskop zu erkennen. »Sie wollen die Brücke sprengen. Sie wollen, dass diese Kolonne hier aufgehalten wird.« Viltry schwenkte den Turm und fing an zu schießen. GottImperator, es ging langsam und unbeholfen, und er schoss beinahe blind. Die Klaue flog über sie hinweg, unbeschädigt. Viltry ging langsam auf, warum LeGuin sich so schwer getan hatte. Todeslinie war für den Kampf gegen Truppen konzipiert und nicht als Luftabwehrgeschütz. Er schwang den Turm schnell zurück und erfasste rasch eine zweite Klaue im Anflug. Viltry benutzte die aus brennenden Wracks am Straßenrand aufsteigenden Rauchwolken als Maßstab und schoss dann auf den Luftraum über der Brücke, und zwar auf die Stelle, wo die Klaue seiner Ansicht nach hochziehen würde. Im steilsten Anstellwinkel hämmerte die Zwillingskanone von Todeslinie Boltgeschosse in den Himmel, ein Strom, der wie ein Pferdeschweif herumwischte, als Viltry den Turm drehte und nicht auf die Klaue zielte, sondern dorthin, wo sie sein würde, wenn die Geschosse angekommen wären. Beinahe, beinahe … Die Höllenklaue, blau-knochenweiß gestreift, versuchte im letzten Moment noch einen Seitwärtsschwenk, aber ihre Geschwindigkeit war zu hoch für eine augenblickliche Kurskorrektur. Sie flog direkt durch Linies Kanonade. Der Rumpf der Maschine wurde durchlöchert, und Fragmente lösten sich und flogen davon. Der Panzer erbebte, als sie über ihn wegraste. Die Klaue pflügte auf einer Flügelspitze über den Fluss, überschlug sich und traf das gegenüberliegende Ufer. Eine raue Explosion folgte. Matredes, Emdeen und die anderen Besatzungsmitglieder fingen an zu jubeln. LeGuin schlug Viltry auf die Schultern. »Das war hauptsächlich Glück«, sagte Viltry. »Da kommt noch eine!«, rief der Lader mit Blick auf eine Auspex-Anzeige. Viltry schwang die Kanone wieder herum. Sie kam viel tiefer herein. Er würde keinen annähernd so guten Vorhalt bei dieser Maschine haben. Er schoss trotzdem und schwenkte den Turm dabei hin und her, um den Wirkungskegel zu vergrößern, ein alter Heckschützentrick.
Kein einziges Geschoss traf, aber seine Schusslinie schränkte die Angriffsflugbahn der Klaue ein, die prompt ins Abwehrfeuer einer Hydra flog. Kaum hatten die vier langläufigen Autokanonen der Hydra die Feindmaschine gefunden, als das automatische Zielsystem übernahm und die Kanonen direkt auf das Ziel richtete. Der Hydra gelang es, über einen Schwenkwinkel von hundertfünf Grad hinweg schwere Treffer zu landen. Die Klaue zog hoch und explodierte einen Moment später in einem gezackten gelben Blitz, aus dem Trümmerstücke auf Fluss und Straße regneten. Danach kamen eine ganze Weile keine Angreifer mehr durch das Tal geflogen. LeGuin schüttelte Viltry die Hand. Viltry atmete schwer, und sein Puls raste. Zum ersten Mal seit G für Gretas Bruchlandung hatte er wieder das Gefühl, dass sein Leben einen Sinn hatte. Einen Wert. Er hatte dabei geholfen, die Brücke intakt zu halten. Das Gefühl schmeckte ein wenig nach dem Selbstvertrauen, das er auf Enothis langsam zurückgewonnen hatte. Nach der Sicherheit eines Lebenssinns, den Beqa Mayers Gesellschaft ihm ganz allmählich wieder vermittelt hatte. Der Absturz hatte dieses Selbstvertrauen natürlich wieder zerstört. Doch nun fühlte er sich seltsam im Reinen mit sich. Der Krieg forderte Menschenleben. Sie starben. Maschinen stürzten ab. Führer wie Viltry empfanden Schuldbewusstsein und Reue. So würde es immer sein, denn in der Galaxis der Menschheit gab es nur Krieg. Für einen winzigen, aber wertvollen Moment, als er im Turm des Panzers saß und von Jubel und Gebrüll von Männern umringt war, die er kaum kannte, begriff Viltry, dass er die Bürde des Schuldbewusstseins und der Reue ewig mit sich herumschleppen würde, wenn er nicht den Versuch unternahm zu leben. Zu leben, die Feinde der Menschheit zu bekämpfen und zurückzukehren, um die Frau zu suchen, die einem Fremden mit Freundlichkeit und Güte begegnet war. Die Kolonne setzte sich wieder in Bewegung. Der Regen wurde stärker, und sie schlossen die Luken. Das Tal vor ihnen war eine aschfarbene, seelenlose Gegend, und sie hatten noch eine ziemliche Strecke vor sich, bis sie die Städte erreichen würden, weit entfernt und da, wo der Himmel sich bereits mit schwarzem Brandqualm überzog.
VAB Gocelsee, 19:12 Im Zeitraum von ungefähr dreißig Stunden hatten ihre Armbänder achtzehnmal Alarm gegeben. Mit erschütternder Regelmäßigkeit wurden sie aus Übungen, Einsatzbesprechungen, Schlaf, Mahlzeiten und Bereitschaft gerissen und rannten in die Bunker, da Feindformationen ihren Luftraum durchquerten. Jede Warteperiode in der Düsternis der Schutzräume strapazierte die ohnehin angespannten Nerven noch weiter. Es gab eine Schlägerei zwischen zwei Flottenmechanikern und einigen Soldaten der Planetaren Streitkräfte und einen handfesten Krach zwischen Ranfre und einem der Raptor-Piloten, der nur dank der besonnenen Einmischung Milan Blanshers beigelegt werden konnte. Der schlimmste Streit ereignete sich zwischen Jagdea und Blaguer. Die VAB war in der ganzen Zeit nur drei schnelle Einsätze geflogen und hatte sich ansonsten beim ersten Anzeichen eines Alarms unter ihren Tarnnetzen verkrochen. »Wozu sind wir eigentlich nütze?«, hörte man sie schreien. Blaguers Argument, das von Marcinon und dem Anführer der Blitzstrahl-Staffel gestützt wurde, bestand darin, dass die VAB Gocelsee als Abfangeinheit zu schwach sei und sich ihre Ziele daher aussuchen müsse. Sieben Alarme waren durch Massenformationen von Bombern ausgelöst worden, drei- oder vierhundert Maschinen stark, die nach Norden zur Küste unterwegs waren. Gocels drei Staffeln könnten derartige Formationen kaum ankratzen, und Starts würden den sorgfältig geheim gehaltenen Standort der Basis verraten. Es bestehe kein Zweifel daran, dass eine Massenformation eine Bomberstaffel aussenden werde, um die Basis der Angreifer auszulöschen, wenn diese entdeckt würde. »Es ist besser, wir halten uns bedeckt, wahren volle Tarndisziplin und reagieren nur auf Ziele, mit denen wir es auch aufnehmen können«, sagte Blaguer zu ihr. »Aber in ein oder zwei Tagen werden so viele Fledermäuse in der Luft sein, dass wir gar nicht mehr fliegen. Wir sollen Feindmaschinen abfangen, also lassen Sie uns verdammt noch mal auch irgendwas abfangen.« »Sie reden davon, diesen Konflikt auf eine mutwillige und selbstmörderische Art weiterzuführen.« »Ich rede davon«, fauchte Jagdea, »diesen Krieg auszufechten, anstatt ihn auszusitzen.«
Spät am Nachmittag wurde der vierte Einsatz des Tages genehmigt. Die Einsatzzentrale für den Küstenbereich hatte dringend das Sammeln von Daten von den VABs entlang der Saroja verlangt. Es war unbedingt erforderlich, einen Überblick über die Disposition der auf dem Rückzug befindlichen Elemente der LandArmada zu bekommen, damit das Munitorum die Massenevakuierung der Landtruppen effizienter gestalten konnte, ein Unternehmen, das in Ezraville und Theda bereits angelaufen war. Die Zentrale hoffte außerdem, einen oder sogar mehrere der feindlichen Landträger ausfindig zu machen. Angesichts des Umfangs, den die Bombenangriffe mittlerweile hatten, ging man davon aus, dass derzeit mehrere Massenträger im Nordteil der Wüste im Einsatz waren, und die Zentrale war eindeutig darauf bedacht, ihren Marodeuren ein Ziel zu geben, um die Intensität des Bombenkriegs abzumildern. Es hieß, keine einzige Stadt entlang der Küste und auf der Halbinsel sei noch unversehrt. Neben den Massenevakuierungen von Truppen und Panzern, die entlang der Küste stattfanden, hatte außerdem ein gewaltiger ziviler Exodus begonnen. Der Möglichkeiten einer Überquerung des Meeres sowie der Hilfe des Munitorums weitestgehend beraubt, flohen die Bewohner der Halbinsel in riesigen, aufs Geratewohl zusammengestellten Karawanen westwärts in Richtung Ingeburg und in den Nordteil des Commonwealth. Berichte über die öffentliche Panik und das allgemeine Chaos sickerten durch. Mehrere Zivilkolonnen waren angegriffen worden. Die Verluste waren so bestürzend, dass Jagdea es nicht über sich brachte, vor den Piloten und Mechanikern Umbras zu wiederholen, was sie gelesen hatte. Drei Blitzstrahlen sollten als Aufklärer eine weite Schleife, drei Donnerkeile Begleitschutz fliegen. Laut Bereitschaftsplan waren die Raptoren an der Reihe. Blaguer war persönlich für den Einsatz eingeteilt, aber er empfand ganz eindeutig Unbehagen bei dem Gedanken, was Jagdea in seiner Abwesenheit von der VAB vielleicht versuchen würde. Blaguer schlug vor, wenn sie so scharf darauf sei, in die Luft zu kommen, könnten die Phantiner den Einsatz übernehmen. Jagdea durchschaute den Plan und wusste, dass Umbra mehr damit gedient sein würde, wenn sie blieb. Sie lehnte mit dem Hinweis auf die Schäden ab, die ihr Donnerkeil bei ihrem letzten Einsatz erlitten habe. In Wahrheit war er von ihren ergebenen
Mechanikern längst repariert worden, aber sie wussten, was sie Blaguer zu sagen hatten, falls er fragte, und hatten absichtlich Null-Zwos Haube entfernt, um eine Pantomime hektischer Reparaturarbeiten aufzuführen. Jagdea schickte Asche an ihrer Stelle mit Waldon und Zemmic. Marquall konnte seine Enttäuschung kaum verbergen. NeunNeun war repariert und einsatzbereit. Sein Einsatz war überfällig, und er hätte anstelle von Zemmic oder Waldon fliegen müssen. Nachdem die sechs Maschinen gestartet und die Schimmernetze wieder an Ort und Stelle waren, machte sich Jagdea auf die Suche nach ihm. Marquall war in seinem Habizelt und spielte Königsmord mit Van Tull. »Haben Sie einen Moment Zeit?«, fragte sie. »Ich muss noch einiges erledigen, Mamzel«, sagte Van Tull und verschwand. »Ziehen Sie Ihren Fluganzug an«, sagte sie zu Marquall. »Sie sind ab sofort in Bereitschaft.« Marquall nickte, aber seine Miene war düster. »Ich hätte schon den letzten Einsatz fliegen müssen. Das wissen Sie.« »Das hängt davon ab, was Sie mit ›müssen‹ meinen, Vander«, sagte sie. »Sie und Larice sind im Moment nicht die besten Freunde. Dafür zu sorgen, dass Sie einander nicht über den Weg laufen, ist wahrscheinlich eine gute Idee.« Marquall errötete, aber in erster Linie vor Zorn. »Sie …«, begann er. »Ich weiß nicht, was ich getan habe.« »Sie kennen Larice noch nicht lange, Vander. Nicht so wie ich. Ich weiß, wie sie ist. Einer der besten Piloten, mit denen zu fliegen ich je die Ehre hatte. Aber auch … eigensinnig, stolz. Voller Ehrgeiz und Drang, sich ständig zu beweisen. Es ist ihr Temperament. Am besten zu fliegen, die meisten Abschüsse zu haben … und dabei gesehen zu werden, wie sie sich mit den heißesten ihrer männlichen Kameraden einlässt. Sie hatten etwas, das ihr gefallen hat. Einen Ruf, der gerade entsteht. Und dann der Fehlstart.« »Ich war eine Lachnummer.« »Für ungefähr zehn Minuten. Seitdem habe ich nichts mehr davon gehört. Aber Larice … Tja, es war ein Schlag für ihren Stolz. Sie hatte so eine Schau daraus gemacht, Sie als den nächsten großen Knaller auszusuchen, und plötzlich waren Sie Gegenstand allgemeinen Spotts. Sie ärgern sich vielleicht einmal tüchtig und
haken es dann mit einem Achselzucken ab, aber Larice kommt dabei ihr Stolz in die Quere. Sie hatte das Gefühl, teilweise wäre auch auf ihre Kosten gelacht worden, und vielleicht hatte sie sogar recht damit.« »Also schneidet sie mich einfach? Beachtet mich nicht mehr? Lässt mich genauso schnell wieder fallen, wie sie sich an mich rangeschmissen hat?« »Ich fürchte, das ist nun mal ihre Art«, sagte Jagdea. »Toll«, sagte Marquall. »Larice ist stark … als Pilot. Als Person ist sie ungewöhnlich zerbrechlich. Ich weiß, das ist leicht gesagt, Vander, aber stören Sie sich einfach nicht daran. Wir müssen einen Krieg führen. Noch einen Einsatz fliegen oder zwei. Ich bin sicher, Sie werden schnell da weitermachen, wo Sie aufgehört haben, und Ihre vielversprechende Entwicklung fortsetzen. Es würde mich gar nicht überraschen, wenn sie sich dann plötzlich wieder für Sie interessiert.« Marquall schnaubte. »Natürlich, gebranntes Kind …«, lächelte Jagdea. Um 19:00 Uhr, als der Abend über dem See hereinbrach, war die Aufklärerstaffel und ihr Begleitschutz überfällig. Der letzte Kom-Kontakt lag vierzig Minuten zurück und war Routine gewesen. Nichts im Kom. Nichts im Auspex oder Modar. Die Piloten Umbras versammelten sich, marschierten auf und ab und unterhielten sich nervös. Unter dem klaustrophischen Dach der Schimmernetze lud sich die Stimmung auf. »Ich will eine Staffel hochbringen. Patrouille. Um die überfälligen Flugzeuge zu suchen«, sagte Jagdea zu Kommodore Marcinon. »Abgelehnt«, sagte Marcinon. »Jedenfalls einstweilen. Lassen wir uns nicht nervös machen. Sie haben noch für eine Stunde Sprit im Tank.« »Das hängt davon ab, wie sie geflogen sind«, sagte Jagdea. »Ein ernsthafter Luftkampf, und Sie können die Zeit halbieren. Ich wiederhole mein Ersuchen.« Sie standen in der Einsatzzentrale. Ventilatoren surrten an der Decke, und im Schein der durch Gitter geschützten Lichtkugeln saßen Taktikoffiziere der Flotte vor flackernden, leeren Anzeigen. »Irgendwas Neues?«, rief Marcinon.
»Aktivität in den Quadranten vier und neun-zwo, Kommodore«, meldete der Einsatzleiter. »Feindliche Bewegungen, aber weit weg. Nichts von unserer Staffel.« »Sie können nicht alle abgeschossen worden sein«, murmelte Oberlitz, der Führer des Blitzstrahl-Geschwaders, des 786. indem er die Befürchtung in Worte kleidete, die alle insgeheim hegten. Oberlitz war ein kleiner, stämmiger Mann mit dünnen Lippen, die er sich als nervöse Angewohnheit ständig leckte. Wie Jagdea fürchtete er nun um seine Flieger. Damit hatte sie eine Art Verbündeten gegen Marcinon und den Führer der Raptoren. »Ich wiederhole mein Ersuchen in aller Form«, sagte Jagdea. »Lassen Sie mich jetzt Maschinen hochbringen, bevor sich die Situation ändert und wir gezwungen sind, die Netze zu versiegeln und den Kopf unten zu halten.« Marcinon sah Blaguer an. Blaguer nickte. »Ihrem Ersuchen wird stattgegeben«, sagte Marcinon. Jagdea rannte aus der Zentrale. Die Piloten hatten sich draußen versammelt. »Blansher! Marquall! Wir steigen auf! Es geht los!« Ihre Maschinen waren bereits auf der Rampe. Bis die drei Piloten in ihren Anzügen steckten und alles überprüft hatten, waren die Mechaniker mit den Startvorbereitungen fertig. Jagdea, Blansher und Marquall liefen zu den Mattendecks, und das Personal sperrte sie in ihren Kanzeln ein. »Rückmeldung«, sendete Jagdea. »Hier Zwo. Eins a.« »Acht. Startklar.« Marquall spürte, wie sein Puls schneller schlug. Er streckte die Hand aus und strich über den Rand der Hauptinstrumententafel. »Jetzt aber, hast du verstanden, NeunNeun?«, flüsterte er. »Diesmal keine Spielchen. Keine Flüche. Nur Vander Marquall und Doppeladler.« Die Zentrale erteilte Startfreigabe. Die Netze wurden zurückgezogen. Der Summer. Fünf Sekunden. Die letzten Mechaniker rannten hinter die Schutzwände. Marquall legte den Daumen auf den Startknopf des Raketentriebwerks. »Start frei, Umbra-Staffel«, verkündete der Kom. Marquall drückte auf den Knopf, und der Andruck der Beschleunigung presste ihn in seinen Sitz.
Über dem Regenwald, 19:30 Sie schwangen sich in die Dämmerung, und ihre Triebwerke waren die hellsten Objekte in der Luft. Der Himmel war violett mit drei Zehnteln Bewölkung im Westen. Unter ihnen lag der beinahe schwarze Wald. »Höhe neuntausend, Patrouillengeschwindigkeit«, rief Jagdea. »Die Richtung ist vier-vier-zwo.« »Verstanden, Führer«, sagte Blansher. »Empfangen«, antwortete Marquall. In den ersten dreißig Sekunden des Flugs hatte er die Instrumente beobachtet und darauf gewartet, dass ein Fehlfunktionslämpchen aufleuchten würde. Nichts. Sogar die Triebwerke klangen einwandfrei. Im Osten, vor dem dunkelsten Teil des Himmels, waren Sterne aufgegangen. Die Sicht war so gut, dass Marquall entfernte Blitze unter den Wolken im Nordwesten erkennen konnte, Hunderte von Kilometer entfernt, ein Effekt wie Wetterleuchten, in dem er die Auswirkungen eines Flächenbombardements erkannte. Sie flogen fünfzehn Minuten nach Süden und schwenkten dann langsam nach Westen ab. Nach weiteren zwanzig Minuten hörte Marquall Blanshers Ruf. »Kontakt. Stark, näher kommend, zwanzig Kilometer.« Er schickte das Signal zu den anderen Maschinen, und ihre Auspex-Systeme werteten die Daten aus. »Sie sind unter uns, viertausend. Zwei Gruppen«, sagte Jagdea. »Bleibt auf dieser Höhe und haltet darauf zu. Einsatzleitung, könnt ihr das sehen?« »Positiv, Umbra Führer, aber auch nicht mehr Einzelheiten als Sie.« »Wir sind gleich da. Waffen scharf machen. Staffel, dicht zusammenbleiben.« Wieder eine Pause. Nur das gewaltige Tosen der Triebwerke und das Zischen der Luftmischung. Marquall starrte auf die Schwärze des Waldes hinab. Die Kontakte hätten langsam optisch erkennbar sein müssen, aber es war alles zu schwarz. Schwaden von Nachtwolken bildeten sich in fünftausend Metern Höhe wie Banner aus Rauch. »Ich habe Transponder-Signale«, rief Blansher. »Saubere. Waldon und mindestens eine der Blitzstrahlen.«
»Umbra Neun, Umbra Neun, hier Umbra Führer, höher und im Anflug. Hören Sie mich?« Ein statisches Knistern störte die Frequenz, dann hörten sie Waldons Stimme. Trotz der Verzerrung klang ein Unterton von Furcht durch. Furcht oder Schmerzen. »Umbra Führer, Umbra Führer, hier Neun. Bitte wiederholen.« »Wir sind unterwegs zu euch, Neun. Wie ist die Lage?« »Unterstützung, Unterstützung!«, mischte sich eine andere Stimme ein und übertönte Waldon. »Identifizieren Sie sich, Sprecher«, rief Jagdea. »Hier spricht Fernrohr Vier, Umbra. Erbitten umgehend Unterstützung.« Eine der Blitzstrahlen. Der Pilot klang verstört. »Lagebericht, bitte«, wiederholte Jagdea. Sowohl der Blitzstrahl-Pilot als auch Waldon versuchten zugleich zu antworten, was zu einer Signal-Überlagerung führte. Marquall lugte immer noch nach unten. Er sah ein Glitzern, das schwache Leuchten eines Triebwerksauslasses. Dann, vor der Schwärze, mehrere winzige Lichtstreifen, vorhanden und wieder verschwunden. »Führer, hier Acht. Die Lage ist, dass sie angegriffen werden. Ich sehe Geschützfeuer, wiederhole, ich sehe Geschützfeuer.« »Runter und angreifen!«, rief Jagdea. Die drei Donnerkeile stürzten steil herab. Als sie näher kamen, löste sich das Durcheinander im Auspex in klare Signale auf. Unter ihnen waren vier Maschinen. Waldon, der einen Blitzstrahl deckte, und zwei nicht identifizierte Maschinen, die ihnen folgten. Waldon flog Zickzack mit seiner Maschine. Sie kamen herein. Der Himmel erhellte sich im Licht der Leuchtspurgeschosse. Marquall sah den Blitzstrahl. Er war ziemlich ramponiert und zog lange Fahnen heißen Rauchs hinter sich her, die dem Auspex die Arbeit erschwert hatten. Waldon klebte auf seiner Sechs. Ungefähr siebenhundertfünfzig Meter dahinter folgten zwei Heuschrecken, die aus allen Rohren feuerten. Waldons Vogel wurde mehrfach getroffen. Metall schälte sich in einem Splitterregen ab, auf dem sich das letzte Tageslicht brach. Marquall konnte nicht glauben, was er sah. Waldon versuchte seine besser gepanzerte Maschine tatsächlich so einzusetzen,
dass sie den angeschossenen Aufklärer abschirmte. Er hatte noch nie etwas so Selbstloses und … Espere. Espere hatte dasselbe für Marquall getan. »Waldon?«, rief Jagdea. »Munition verbraucht, Führer. Verliere Hydraulikdruck.« Munition verbraucht. Sie mussten eine ziemliche Schlacht hinter sich haben. Blansher und Jagdea waren vorn und rasten den Heuschrecken in den Weg, die beide sofort abbrachen. Blansher hatte es gut vorausgesehen und stieg einer der hochziehenden Heuschrecken hinterher. Ungewöhnlicherweise verschätzte sich Jagdea, und die andere Fledermaus raste unter ihr durch. Es war knapp, aber Marquall gelang eine enge Kurve, die ihn in Schussposition brachte. Er feuerte. Die Gabel der beiden Laserstrahlen leuchtete unglaublich hell in der Dunkelheit. Die Heuschrecke wich aus und zog hoch. Marquall folgte ihr. Er konzentrierte sich darauf, aber nicht so, dass er Jagdeas Ruf überhört hätte. »Weitere Kontakte. Kommen näher, ultraschnell.« Marquall versuchte, die Augen überall zu haben. Wo waren die neuen? In welchem Winkel kamen sie? Die Heuschrecke versuchte, ihn mit einer Kerze abzuschütteln, aber Marquall konnte ihr dank seiner Schubvektorsteuerung folgen. Er stellte Neun-Neun steil in die Höhe, ließ das Heck seitlich weggleiten und verwandelte das Trudeln in eine Kehre. Die Heuschrecke ging wieder auf Waldon und die Lightning los. Ein hellerer Blitz zuckte über den Himmel, und für einen Moment ließen die elektromagnetischen Interferenzen seine Instrumente verrückt spielen. »Fledermaus abgeschossen«, rief Blansher. Er hatte die andere Heuschrecke vom Himmel geholt. »Acht?«, rief Jagdea. »Ich bin dran!« Marquall flog eine Korkenzieherrolle und raste der Heuschrecke hinterher, die er vor dem schwarzen Schleier des Waldes nur auf dem Auspex und am Widerschein ihrer Triebwerke erkennen konnte. Er klemmte sich dahinter, gab Vollschub und sah das Triebwerksleuchten durch sein Visier gleiten. Er korrigierte, und der Signalton der Zielerfassung gab ihm grünes Licht.
Er schoss. Er traf etwas, weil plötzlich Splitter durch die Luft flogen. Wo war die Heuschrecke? »Sie zieht hoch! Sie zieht hoch!«, hörte er Waldon rufen. Marquall blickte hoch und sah die Heuschrecke beinahe vertikal in den violetten Himmel rasen, die plötzlich als scharfe Silhouette vor dem matten Licht zu erkennen war. Sie zog eine Rauchfahne hinter sich her. Zumindest hatte er sie getroffen und vertrieben. Das Kom knisterte. »Umbra Führer, Umbra Führer, sind Sie das?« »Positiv. Larice?« »Positiv. Wir sind zu euch unterwegs, aber seid gewarnt: Fledermäuse, Fledermäuse, Fledermäuse.« Marquall hörte Jagdea fluchen. Er zog herum und sah, dass der Himmel über und südlich von ihnen voller Flecken und Lichtfunken war. Larice und Zemmic flohen mit mehr als zehn Maschinen im Nacken nach Hause. »Acht und Zwo, zu mir!«, rief Jagdea. »Vier, wir kommen euch zu Hilfe. Könnt ihr kämpfen?« »Negativ, Führer. Zemmic und ich haben null Muni, wiederhole, null Muni.« »Verstanden. Fliegt nach Hause. Wir übernehmen das.« Marquall sah zwei Lichter auf seiner Backbordseite aufflammen, als Blansher und Jagdea die Nachbrenner einschalteten und der heranschießenden Formation entgegenrasten. Er gab ebenfalls Schub und rauschte ihnen hinterher. Zemmic und Asche jagten mit Höchstgeschwindigkeit unter ihm durch und ließen NeunNeun leicht erbeben. Die drei Donnerkeile rasten den führenden Maschinen der Heuschreckenstaffel entgegen. Plötzlich war der Luftraum zwischen ihnen von blendenden Bahnen aus Leuchtspurgeschossen erfüllt. Als die Fledermäuse schossen, sah es so aus, als sei ein ganz neues Sternbild aufgegangen. Marquall spürte das Beben von Beinahe-Treffern und dann ein kurzes Klatschen, als etwas seine Backbordtragfläche streifte. Er drückte auf den Feuerknopf und rollte dann hart zur Seite, wobei er instinktiv die Andruckhaltung einnahm, da viereinhalb G auf ihn einwirkten.
Auf der Steuerbordseite explodierte ein Stern, und Marquall war so lange geblendet, dass er fast mit einer entgegenkommenden Heuschrecke zusammengestoßen wäre. Dem kurzen Jubel im Kom nach zu urteilen, hatte Blansher augenscheinlich wieder zugeschlagen. Die Fledermäuse waren in die Höhe ausgewichen. Marquall machte Neun-Neun Dampf und legte sie in eine Aufwärtskurve. Sein Auspex zeigte nur eine wirre Masse grüner Punkte. Er konnte nichts erkennen. Etwas raste in einer weiteren, aber steileren Kurve an ihm vorbei. Er schätzte, dass es Jagdea war. Eine Heuschrecke rauschte mit knatternden Geschützen unter ihm durch. Er rollte herum und sah Blansher tief über den Wald rasen und zwei Fledermäuse jagen. Zwei weitere saßen ihm selbst im Nacken. Marquall senkte die Nase und jagte den Verfolgern hinterher. »Acht! Ausbrechen, ausbrechen, ausbrechen!« Das war Jagdea. Marquall hatte das Jaulen des Zielerfassungsalarms bereits gehört. Er zog nach links, rollte dann sofort wieder zurück und öffnete die Bremsklappen. Der Alarm verstummte. Etwas raste über ihn weg und schwenkte ab. Mehr Schub und steigen. Die Fledermäuse, die Blansher jagte, hatten sich geteilt, und er war allein und hatte Heuschrecken im Nacken, die auf ihn schossen. »Ausbrechen, Zwo!«, rief Marquall. »Ausbrechen!« »Sie sind zu nah! Sitzen mir zu dicht im Nacken!« Die Nase in die Höhe gereckt, erbebte Blanshers Maschine und gierte, als Laserstrahlen ihre Heckflosse trafen. In seiner Verzweiflung führte Blansher ein VektorschubBremsmanöver aus, aber nach oben, anstatt nach unten, sodass die beiden Fledermäuse unter ihm durchrasten. Mittlerweile klebte Marquall an ihnen und schoss ebenfalls unter Blansher durch. Blansher hatte zu stark gebremst und versuchte jetzt, Tempo zu gewinnen, bevor er ins Trudeln geriet. Eine Fledermaus verschwand so plötzlich, dass Marquall nicht sagen konnte, ob sie nach oben oder unten ausgewichen war. Er leerte seine Batterie auf die andere, wechselte dann auf die Autokanonen und gab eine weitere Salve ab. Die Heuschrecke ging plötzlich in Flammen auf, die sich rapide zu einem spiralförmigen Feuerball explodierenden Treibstoffs
ausweiteten. Das Ende der Heuschrecke war so heftig, dass Marquall hart ausweichen musste, um nicht in die Explosion zu fliegen. Er hatte seinen zweiten Abschuss erzielt. Jagdea düste heran, klemmte sich hinter eine Heuschrecke und holte sie aus der Luft, als sie unter sie zu kommen versuchte. Sie schlug um, zitterte wie ein Herbstblatt und fing Feuer. Zwei weitere rasten an ihr vorbei, doch Blansher war hinter ihnen und schoss wie ein Wilder. Eine explodierte und verwandelte sich in eine Funkenwolke, die weitersegelte, langsamer wurde und dann fiel. Die andere brach nach Süden aus. Etwas klemmte sich so schnell hinter Jagdea, dass sie vom Warnton der Zielerfassung völlig überrascht wurde. Sie kassierte drei Treffer, die das Heck ihres Donnerkeils in die Höhe rissen und eine Menge Alarmrunen auf ihrer Instrumententafel aufleuchten ließen. Sie rang mit dem Steuerknüppel, der durch das hohe Tempo ihres Sturzflugs steif war, und riss das Ruder nach links, sodass der Andruck gewaltig anstieg. Sie grunzte vor Anstrengung, als sie die Nase endlich wieder hochbrachte. Und da war eine Heuschrecke, die sich eine Idee zu träge in eine Kurve legte, wie ein Geschenk vom Gott-Imperator persönlich. Sie hatte ohnehin bereits auf die Autokanonen umgestellt. Sie schoss, ein längerer Feuerstoß, und genoss die Art, wie das Beben Null-Zwos stabilen Flug beeinträchtigte. Tödlich getroffen, sackte die Nase der Heuschrecke herunter, und sie stürzte steil nach unten. Ein langer, stetiger Feuerschweif kennzeichnete die Bahn ihres Falls. Zwischen den Bäumen unter ihnen blitzte es grell auf. »Sie fliehen!«, sendete Blansher. Sie flog eine weite Kurve und betrachtete ihr Auspex. »Bestätigt, Zwo.« Die verbliebenen Fledermäuse flohen tatsächlich in lockerer Formation nach Süden. »Verfolgen?«, fragte Marquall. Offenbar war das Blut des Jungen in Wallung geraten. »Negativ, Acht. Wir fliegen nach Hause.«
Sie flogen durch die Nacht, jeder Pilot für sich allein und in Dunkelheit gehüllt. Neun Kilometer vor der VAB Gocelsee stand ein größerer Abschnitt des Waldes in Flammen. In der Dunkelheit waren die Netze zurückgezogen und die Leuchtmarkierungen eingeschaltet. Umbra Eins, Zwo und Acht folgten ihrem Schein nach unten und setzten perfekt auf den Matten auf. VAB Gocelsee, 21:02 Racklae zog Marquall aus seiner Maschine. Die Mechaniker kamen angelaufen, um die notwendigen Wartungs- und Reparaturarbeiten vorzunehmen. Dampf hüllte die Decks ein. Die Schimmernetze schlossen sich bereits, und die Basis versank wieder in der Düsternis der Verdunkelung. Marquall streifte seinen Helm ab. Die Nachtluft roch gut. Insekten lärmten in den Dickichten und unter den dunklen Bäumen. »Alles in Ordnung, Pilot?«, fragte Racklae. »Wurde auch Zeit, dass was passiert«, sagte Marquall. Racklae grinste. Für einen einzigen Abschuss gab es noch keine Markierungen. Aber sobald es mehr als einer war … »Wie viele sollen es sein, Pilotoffizier?«, fragte Racklae. »Wir bleiben bescheiden. Ich habe wieder eine erwischt, Racks.« »Nummer zwei!«, rief Racklae, und das Bodenpersonal sprang plötzlich wild herum und jubelte. Mehrere Mechaniker kamen angelaufen, um Marquall die Hand zu schütteln. »Im Wald hat es gebrannt«, sagte Marquall, der versuchte, sich trotz des Gebrülls verständlich zu machen. »Darüber weiß ich nichts«, sagte Racklae. »Sie gehen besser in den Bereitschaftsraum.« Marquall nickte und tätschelte Neun-Neuns Flanke. »Passen Sie auf sie auf, Racks«, sagte er. »Mach ich, Pilotoffizier«, sagte der Chefmechaniker. Das Personal ließ ihn hochleben, als er das Mattendeck verließ. Unter der Last seiner Fliegerrüstung schlich Marquall zwischen den Bäumen durch zur Einsatzzentrale.
Dort herrschte Aufruhr. Immer noch in Flugausrüstung, waren Larice Asche und Zemmic dabei, Del Ruth, Cordiale, Ranfre und Van Tull einige Luftkämpfe zu schildern. Basispersonal und einige Raptor-Piloten hatten sich um sie geschart und hörten zu. Marquall sah Blansher im Schatten der Markise vor der Zentrale stehen und mit jemandem reden. Er ging hin. Die Rufe und das Gelächter aus den Reihen der Piloten waren laut und lebhaft. Es war Kautas, der bei Blansher stand. Beide Männer rauchten ein Lho-Stäbchen. Marquall sah, wie blass und abgespannt Blansher war. Der ältere Mann lächelte, als er Marquall sah. »Hier drüben, Vander«, rief er. Blansher schüttelte Marquall die Hand. »Danke«, sagte er. »Wofür?« »Ich glaube, der Doppelangriff von hinten hätte mich erwischt, wenn du sie nicht vertrieben hättest.« »Blödsinn. Aus der Klemme hast du dich selbst befreit.« Blansher zuckte die Achseln. »Übrigens, gut gemacht. Zwei, richtig?« »Ich wollte, es wäre so«, sagte Marquall. »Eine, sauber und eindeutig. Die andere habe ich zwar getroffen, aber sie ist oben geblieben.« Kautas griff mit der linken Hand in seine Gewandtasche, zückte ein silbernes Stäbchenetui, öffnete es und bot es Marquall an. »Nein danke, Vater«, sagte Marquall. »So ein sauber lebender Junge«, sagte Kautas zu Blansher, als er das Stäbchenetui wieder verstaute. In der anderen Hand hielt der Priester eine Flasche Amasec. »Wie wär’s dann damit?« Marquall nahm die Flasche und trank einen Fingerbreit, der zuerst in seinem Mund brannte, dann im Hals und schließlich im Magen. Er gab Blansher die Flasche. »Auf deine drei Abschüsse. Wie viele sind es jetzt?« Blansher trank. »Das vergesse ich immer, Vander.« Er gab dem Priester die Flasche zurück. »Wissen wir schon, was passiert ist?«, fragte Marquall. »Nicht vollständig. Gehört habe ich, dass die Staffel am Rande der Wüste auf ernste Probleme gestoßen ist. Die Blitzstrahlen haben irgendwas Bedeutsames aufgeschnappt, und dann waren plötzlich überall Feindjäger und haben sich auf sie gestürzt. Über vierzig Maschinen. Nach allem, was Asche erzählt hat, muss es
ein unglaublicher Kampf gewesen sein. Einer der Blitzstrahlen ist praktisch sofort abgeschossen worden. Dann hat der zweite einen Gegner abgeschossen und ist gleich darauf selbst erwischt worden. Inzwischen hatten sich unsere drei auch ins Getümmel gestürzt. Waldon hat zwei abgeschossen, dann ist ihm die Munition ausgegangen, und er ist abgehauen und hat Kindermädchen für den dritten Blitzstrahl gespielt, der schwer angeschlagen und auf dem Heimweg war. Asche und Zemmic sind geblieben und haben gekämpft, bis sie keine Munition mehr hatten, um Waldon und dem Blitzstrahl die Zeit zu verschaffen, sich abzusetzen. Wir warten noch auf die Bestätigung der Bildaufzeichner in den Geschützen, aber angeblich hat Zemmic vier erwischt und unsere liebe Larice neun.« »Neun?« »Das hat sie gesagt«, nickte Blansher. Blansher hatte drei Abschüsse und Jagdea zwei. Für einen Einsatz erstaunliche Resultate. Zemmic allein stellte sie in den Schatten. Aber neun. Neun. Daneben wirkte Marqualls einer armselig. »Neun?«, wiederholte Marquall noch einmal. »Es scheint so«, sagte Blansher. »Das ist ‘ne ganz Schlaue«, sagte Kautas. »Das muss ein Rekord sein«, murmelte Marquall. »Ich habe noch nichts gehört, das sich damit messen könnte«, stimmte Blansher zu. Die Flasche kam zu Marquall zurück. Er wischte kurz über den Hals und trank einen Schluck. Nicht weit entfernt klatschten die Piloten und jubelten Asche zu, als sie den Höhepunkt ihrer ausführlichen Schilderung erreichte. Sie kippte einen Schnaps, dann beugte sie sich vor und gab Zemmic einen herzhaften Kuss. Es gab Gelächter und Gejohle. Zemmic. Saubere vier. Der neue Stern am Himmel. Der Neue mit der Aura. Marquall wandte sich ab. »Wer hat zu dem Feuer gehört, das ich gesehen habe?«, fragte er. Blansher schaute zu Boden. »Waldon«, sagte er. Waldon hatte den angeschlagenen Blitzstrahl den ganzen Weg nach Hause geleitet. Kurz vor der VAB hatte sein beschädigter Keil den Geist aufgegeben und war mit der Nase voran in den
Regenwald gestürzt. Kein Fallschirm, hatte der Pilot des Blitzstrahls gemeldet, der sicher gelandet war. Kein Fallschirm. Jemand trat hinter Marquall unter die Markise, und Blansher versteifte sich. Marquall drehte sich um. Es war Jagdea. Ihr Gesicht war noch ölverschmiert. »Kommt rein«, sagte sie. Die drei gingen zu ihr. »Was ist mit den anderen?«, fragte Blansher. »Wir lassen sie in Ruhe«, sagte Jagdea. »Sie haben Spaß. Den will ich ihnen nicht verderben.« Sie betraten die Einsatzzentrale. Blansher und der Priester drückten ihre Stäbchen vorher aus. Blaguer war da und beugte sich mit Oberlitz angespannt über eine Anzeige. Die Taktikoffiziere saßen auf ihren Plätzen. Kommodore Marcinon saß hinter einem Schreibtisch und begutachtete Bildtafeln auf einer Unterlage mit Rückbeleuchtung. »Abschüsse bestätigt«, sagte Jagdea. »Zwei für mich, drei für Mil, einen für Sie, Vander. Gute Arbeit.« »Danke, Mamzel.« »Zemmic hat seine vier. Aus den Bildern geht hervor, dass Asche sogar zehn erwischt hat.« Kautas pfiff durch die Zähne. »Beispiellos«, sagte Jagdea. »Obwohl nach den Bildern zu urteilen der Himmel so voller Fledermäuse war, dass es schwierig gewesen wäre, nichts zu treffen.« »Warum so grimmig?«, fragte Blansher sie. »Wir haben die Daten studiert, die vom letzten Blitzstrahl dann doch noch nach Hause gebracht worden sind.« Jagdea ging zu dem beleuchteten Tisch und schickte Bilder in den Projektor. Hololithische Formen bildeten sich in der Luft. »Was ist das?«, sagte Kautas. »Ich kann nichts …« »Das sind Panzer, Vater«, sagte Jagdea. »Aus großer Höhe betrachtet. Hauptsächlich Schleichpanzer, aber auch Kampfpanzer, Truppentransporter und ein paar Superschwere.« »Das sieht aus wie ein paar Flecken«, sagte Kautas. Marquall versteifte sich. Er konnte Luftbilder besser lesen als der Priester. »Heiliger Thron …«, seufzte er.
»Die Zählung hat neuntausend Einheiten ergeben«, sagte Jagdea. »Die aus der Wüste kommen. Auf diesen Vergrößerungen ist die Staubwolke wegretuschiert. Sehen Sie das? Identifiziert als die Sigillen des Blutpakts.« »Sie kommen nach Norden«, flüsterte Blansher. »Zweifellos«, sagte Marcinon, der zu ihnen kam. »Der Erzfeind glaubt eindeutig, dass er den Luftkrieg gewonnen und die Halbinsel dem Erdboden gleichgemacht hat. Jetzt rücken die Bodentruppen des Chaos nach. Ich habe die Küste benachrichtigt. Die Evakuierung wird beschleunigt. Ich … ich bezweifle irgendwie, dass sie rechtzeitig abgeschlossen werden kann.« »Was ist mit uns?«, fragte Marquall. »Mit uns, mein Junge?« »Kommodore, wir liegen direkt auf ihrem Weg. Die Landtruppen des Feindes müssen bereits in den Wäldern sein.« »Ja. Der Auspex zeichnet sie etwa sechzig Kilometer weiter südlich und im schnellen Vormarsch. Das Oberkommando hat unseren sofortigen Rückzug angeordnet. Unseren und auch den aller anderen VABs in der Waldregion. Die Transporter kommen morgen früh um 08:00 Uhr.« Jagdea schaute Marquall an und sah dessen Trauer. »Zeit zum Rückzug«, sagte sie. »So etwas kommt vor.« TAG 264 VAB Gocelsee, 06:30 Die Transporter waren noch eineinhalb Stunden entfernt. Marquall beobachtete, wie der Morgen langsam graute. In der ganzen langen, feucht-warmen Nacht hatte das Personal schwer gearbeitet, Ausrüstung und Ersatzteile verpackt, Habseligkeiten verstaut, Habizelts abgebrochen und zusammengelegt und sekundäre Ortungssysteme deaktiviert. Die Fertigbauten würden dableiben müssen und die Matten und Rampen wahrscheinlich auch. Der Abwehrring mit Sicherheit. Die Piloten würden die Flugzeuge herausfliegen, die Transporter den Rest mitnehmen. Marquall hatte die frühen Morgenstunden damit verbracht, Pakete herumzuschleppen und dafür zu sorgen, dass seine Mechaniker voran machten. Racklae hatte darauf bestanden, für Neun-
Neun das volle Programm der Flugvorbereitungen und Überprüfungen zu fahren, bevor sie gingen, und Marquall ganz offen gesagt, dass zwei Mechaniker auf Station bleiben würden, bis er sicher in der Luft war. Alles war voller hastender Leiber unter den Lampen, hinzu kamen die massigen Gestalten der Stapler. Alle waren aktiv und wach. Nein, nicht alle. Mehrere Mitglieder der Umbra-Staffel hatten sich auf Larice Asches Feier zu lange amüsiert und zu viel getrunken und mussten von Jagdea und Blansher erst auf Vordermann gebracht werden. Asche und Zemmic waren verschwunden. Ihre Zeltkameraden, Del Ruth und Cordiale, sammelten ihre Ausrüstung ein. Marquall meldete sich freiwillig, Waldons Sachen zusammenzupacken, aber Jagdea sagte, das werde sie selbst übernehmen. Die Sonne ging gerade auf. Es lag Regen in der Luft, der auf das Blätterdach und die Schimmernetze prasselte. Es war kalt. Müde und erledigt setzte sich Marquall neben einen Baumstamm und wischte sich den Regen vom Gesicht. Er musste in den Bereitschaftsraum, um sich anzuziehen, und dann zu seinem Vogel, um rechtzeitig wegzukommen. Schatten eilten an ihm vorbei und den Weg entlang. Mechaniker, die Kisten trugen. Eine Stapler-Einheit. Er fuhr zusammen, als er ein seltsames Knistern hörte. Es dauerte einige Sekunden und klang so eigenartig und laut, dass er zunächst gar nicht zur Kenntnis nahm, dass sein Armband Alarm gab. Panik breitete sich in der Basis aus. Marquall ging auf, dass der knisternde Lärm das Geräusch der automatischen Tarantel-Geschütze des Verteidigungsringes war, die in den Wald feuerten. Etwas hatte sie ausgelöst. »Ach, du Scheiße!«, entfuhr es ihm, und er sprang auf. Seine Sachen lagen neben ihm, und er griff in den Rucksack und riss seine Dienstpistole und einen Gurt mit Batterie-Magazinen heraus. In den Bäumen vor ihm blitzte es grell, als etwas explodierte. Marquall roch Fyzelen und brennendes Öl. Schüsse knatterten. Der Feind war eingetroffen, viel früher als erwartet. Laserstrahlen zuckten durch die Luft und zerfetzten Schimmernetze und Blätter. Das Knistern der Taranteln verstärkte sich.
»Lebendiger Thron!«, sagte Marquall. Mittlerweile jaulten Sirenen. Mit erhobener Pistole lief er zu einem der Wartungsschuppen und tauchte hinein. Draußen heizte Laserfeuer aus großkalibrigen Waffen die Luft auf. Die Flakbretter bebten. Marquall lief durch den Schuppen und fiel über etwas. »Was ist denn los, verdammt …?«, murmelte eine Stimme. Marquall schaute nach unten. Asche und Zemmic, beide nackt, lagen zusammengerollt und zur Hälfte von einem Feuerschutzvorhang zugedeckt da. »Marquall?« Larice verengte ihre geröteten Augen, verschlafen und verärgert. »Du hast besser einen verdammt guten Grund …« Ein Schuppen in der Nähe explodierte mit lautem Getöse und ließ Trümmer regnen. »Scheiße!«, fluchte Larice Asche, während sie aufsprang und ihre Fliegerhose überstreifte. Sie trat Zemmic. »Steh auf! Werd wach!«, schrie sie ihn an. Zemmic richtete sich blinzelnd auf. Asche hatte jetzt ihr Unterhemd angezogen. Sie wandte sich an Marquall. »Wie ist die Lage?«, fragte sie. »Sie haben uns gefunden«, erwiderte Marquall. Er kauerte im anderen Eingang und schaute mit der Waffe im Anschlag nach draußen. »Ich glaube, sie …« Er verstummte rasch. Drei Gestalten in roter Rüstung rannten zur Seite des Schuppens. Ohne nachzudenken, lehnte Marquall sich nach draußen und schoss der ersten durch den Kopf. Sie fiel schwer zu Boden. Zitternd ging Marquall auf, dass die Gestalt eine Maske aus schwarzem Metall trug. Ein Krieger des Blutpakts. Blutpakt. Schüsse zischten in seine Richtung und bohrten Löcher in die Seite des Schuppens. Mit noch offenen Stiefeln gesellte Asche sich zu ihm an die Tür und schoss mit ihrer eigenen Dienstpistole in den Wald. »Wo ist Zemmic?«, fragte Marquall. »Abgehauen? Wen interessiert das?«, erwiderte Asche. Sie schoss weiter. Leuchtend gelb stakste ein Schleichpanzer auf die äußere Lichtung der verborgenen Basis. Seine tief angebrachten Laserkanonen spien schwere Salven.
Ein Abschnitt des Wartungsblocks explodierte und wirbelte Splitter und Trümmerstücke in die Luft. Ein Gütigerholzbaum barst und kippte um. Weggerissene Schimmernetze ließen fahle Abschnitte des morgendlichen Himmels erkennen. Der feuernde Schleichpanzer fällte noch mehr Bäume, und deren Einsturz durchtrennte eine Reihe von Stromkabeln, aus deren Enden weiße Lichtfunken sprühten. Die Blutpaktkrieger griffen sie an. Marquall und Asche eröffneten aus ihrer anständigen Deckung heraus das Feuer auf die anstürmenden Gestalten und töteten sie beide. Es bedurfte einer überraschenden Anzahl von Schüssen, um die feindlichen Stoßtruppen zu Fall zu bringen. Ihre Magazine waren erschöpft. Asche übergab sich geräuschvoll. »Nicht so leicht, Mann gegen Mann, was?«, fragte Marquall, während er das würgende Mädchen aufrecht hielt. »Das kommt vom Saufen, du Idiot«, röchelte sie speiend. Laserstrahlen zuckten an ihnen vorbei. Der Schleichpanzer hatte eines der Mattendecks erreicht. Ein Soldat des Commonwealth mit einem Raketenwerfer erledigte ihn. Die Explosion sprengte einen Abschnitt des Blätterdachs weg und ließ Rauch über dem Wald aufsteigen. Für eine Weile kehrte wieder Stille ein. Es war der Angriff einer Vorhut gewesen. Marquall betete, dass bis zum Ende der Evakuierung keine Feindsoldaten mehr eintreffen würden. Kurz vor acht hörten sie den Lärm der Flottentransporter, die über den See geflogen kamen. Die riesigen Maschinen landeten im Uferschlamm und öffneten ihre klaffenden Mäuler, um Personal, Mechaniker und Stapler aufzunehmen. Kiste um Kiste voller Maschinen und Material wurde an Bord gebracht. Zu diesem Zeitpunkt erreichte die durch den Bodenkampf alarmierte feindliche Luftwaffe die Basis. Die imperialen Kampfflugzeuge starteten gerade. Klingen stießen herab und warfen Bomben. Einer der Transporter am Seeufer ging in einer Flammenwand hoch. Blansher startete. Ebenso Van Tull und Del Ruth, dann Cordiale. Ortho Blaguers aufsteigender Donnerkeil kollidierte mit einer Klinge, die im Tiefflug hereinkam, um die Basis mit den Bordgeschützen zu beharken. Die Explosion erleuchtete den Himmel. Zwei der fliehenden Blitzstrahlen, eine davon diejenige von Oberlitz, wurden im Steig-
flug abgeschossen. Oberlitz stürzte in den See, der andere Blitzstrahl in die Bäume am anderen Ufer. Asche hob ab. Dann zwei der Raptoren. Ein Blitzstrahl. Ein Raptor startete und wurde in Stücke geschossen. Zemmic kam sauber hoch. Ranfre. Dann Jagdea, deren Keil zweimal von vorbeistreichendem Feuer getroffen wurde. Marquall rannte zu Neun-Neun. Der Himmel stand in Flammen. Er fand Racklae und die Nummer zwei des Chefmechanikers, die beide auf ihn gewartet hatten. »Los! Verschwindet jetzt!«, brüllte Marquall. »Nicht bevor Sie sicher in der Luft sind!«, sagte Racklae. »Ihr Transporter startet gleich, Mann!«, schrie Marquall. Laserstrahlen zuckten zwischen den Bäumen durch. Racklaes Nummer zwei fiel, der Kopf zu einem unförmigen Klumpen zerschmolzen. »Racklae, los jetzt! Sofort, um Throns willen!« Marquall schoss mit seiner Pistole in den Wald. »Kabel sind gelöst. Sie können starten!«, bellte Racklae. »Gehen Sie, Racklae! Los! Los!«, brüllte Marquall. »Geben Sie mir das, um Throns willen«, rief Kautas, der plötzlich aus dem Nichts erschien und Marquall die Pistole aus der Hand riss. »Laufen Sie, Racklae«, sagte Kautas. Racklae drehte sich um und rannte zum Seeufer. Kugeln und Laserstrahlen zuckten durch die Luft. Kautas eröffnete das Feuer mit Marqualls Pistole. »Und Sie, Vander Marquall«, sagte er. »Vater …« »Schließ das verdammte Kanzeldach, mein Junge.« Marquall ließ das Dach einrasten. Er zündete die Triebwerke, gab Schub und stieg durch die Reste der zerfetzten Schimmernetze in die raucherfüllte Luft. Ihm gelang noch ein letzter hektischer Blick nach unten. Zwischen den Bäumen und Flammen sah Marquall eine Gestalt mit weit ausgebreiteten Armen, als spreche sie einen Segen. Ayatani Kautas, dessen Gewänder in den durch Neun-Neuns Start verursachten Luftverwirbelungen flatterten, drehte sich um und rannte den rot gerüsteten Soldaten entgegen, die überall in die Basis stürmten.
Als Marquall ihn das letzte Mal sah, war Kautas eine entfernte Gestalt, die auf die Knie sank. Grelle Laserstrahlen zuckten in alle Richtungen. Kautas hielt Marqualls Pistole weit vor sich und schoss ununterbrochen.
SCHICKSALSRAD THEDA Imperiumsjahr 773.M41 Tag 264 – Tag 266
TAG 264 Theda, LWS Süd, 08:30 Selbst für jemanden, der mit den arkanen Sigillen der Flottensymbole nicht vertraut war, wäre offensichtlich gewesen, dass ein gewaltiger Kampf über der Halbinsel im Gange war. Neun der Fluglotsen waren mittlerweile daran beteiligt, Eads eingeschlossen. Darrow stand daneben und beobachtete die Vorgänge mit steigender Besorgnis. So ging es ununterbrochen, Tag und Nacht. Sie kamen zu ihrer Schicht und übernahmen die Zügel einer tobenden Schlacht von einem total erschöpften Lotsen. Müde und ausgebrannt übergaben sie an ihre Nachfolger, wenn sie abgelöst wurden. Die feindlichen Angriffe – Massen-Bomberangriffe, Überfälle, GelegenheitsAbfangunternehmen – kamen ohne Unterlass. Gegenwärtig gab es vier Schwerpunkte in der Rundhalle der Zentrale. Zwei Fluglotsen auf der anderen Seite kümmerten sich um das Abfangen einer Bomberwelle über Ezraville. Ein anderer überwachte ein Jägergefecht über dem Lidatal. Ein vierter hatte die Kontrolle über eine Formation von Marodeuren, die nach Süden unterwegs war. Die neun in Darrows Hälfte der Zentrale handhabten die Riesenschlacht mit annähernd vierhundertfünfzig Feindbombern, hundert Begleitjägern und vierzehn ImperiumsGeschwadern. Das Stimmengewirr war konstant. Berichte, Analysen, Korrekturen, Kom-Sprüche und Aktualisierungen wanderten hin und her. Vor ihren Schirmen kritzelten die für die Aufstellung verantwortlichen Offiziere auf grässlich komplizierten taktischen Karten herum und fügten beständig Dinge hinzu, löschten, beschrifteten neu, veränderten Anordnungen. Die Fluglotsen waren in ihre eigenen Welten versunken, da sie versuchten, der Gesamtlage gerecht zu werden. Die meisten waren in ihre Cogitatoren versunken, doch Eads saß da wie ein Orchester-Dirigent, den Blick seiner blinden Augen direkt nach vorn gerichtet, während seine Hände über die Anzeige huschten. Darrow wusste, dass der Kommodore hundemüde war. Sein Gesicht war blass, und er hatte nicht richtig gegessen und geschlafen.
»Vierundvierzig, abbrechen. Neun-Eins, auf zehn steigen, Richtung fünf-acht-fünf. Randfeuer, gehen Sie auf elf-zwo. Wiederholen, Beute Führer. Sie brechen ab. Schalten Sie um auf Kanal vier. Verstanden, Kontakte westlich von Ihnen in neun Kilometer. Messing-Staffel, korrigieren und sinken auf zweitausend. Feindflugzeuge unter Ihnen, sind nach Osten geschwenkt, drei Kilometer. Sechzehn Kontakte, Sie müssten Sichtkontakt haben. Bestätigt, Lanze, Sie werden als im Angriff geführt.« Die Sirenen fingen an zu heulen, und der Deck-Offizier schaltete sie sofort aus. Luftalarm wurde regelmäßig gegeben, aber niemand aus der Zentrale suchte je einen Bunker auf. Dafür stand zu viel auf dem Spiel. Zweimal hatte Darrow die große Halle beben gespürt, als Bomben auf Theda gefallen waren. In seiner Zeit mit Eads hatte Darrow eine Menge gelernt. Nachdem er sich die Grundlagen angeeignet hatte, war es ihm gelungen, mehr zu tun, als nur herumzustehen und einfache Aufgaben zu erfüllen. Sie hatten ein gutes Arbeitsschema entwickelt. Eads erwartete mittlerweile von Darrow, dass er auf die zweitrangigen Dinge achtete und sie an ihn weitergab, sobald sie erstrangig wurden. Die Anzeigen auf Darrows Sub-Konsole waren lebendig geworden, aber er würde seinen Chef nicht einfach unterbrechen. Darrow hatte sich angewöhnt, Eads an der linken Schulter zu berühren, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. »Legen Sie los«, sagte Eads. »Ortung, Lotse. Südosten, zweihundert Kilometer, abnehmend. Vierzig Maschinen. Der Modar identifiziert sie anhand ihrer Wärmeabstrahlung als Heuschrecken.« »Richtung?« »Vier-eins-sechs.« Eads’ Hände wanderten. »Das fällt in Abfangraum zwölf. Geben Sie es an Scalter weiter.« »Sofort, Lotse.« Darrow notierte die Einzelheiten sorgfältig auf einer Datentafel, setzte seinen Kopfhörer ab und eilte über den geschäftigen Laufgang hinter den Stationen der Lotsen zur dritten neben Eads. Major Frans Scalter war Führer der Sucher-Staffel bis zu dem Augenblick gewesen, als sie in einer Luftschlacht über Ezraville am Morgen des 257. dezimiert worden war. Scalter hatte seinen Kopiloten verloren, und sein Vogel war so stark beschädigt wor-
den, dass keine Hoffnung auf Reparatur bestanden hatte. Es war ein Wunder, dass Scalter überhaupt noch nach Hause gekommen war. Seine Hände und Wangen waren immer noch vom Schorf abheilender Schnitte bedeckt. Er war ein erfahrener Flieger und Eads’ Ansicht nach ein besonnener, nüchterner Pilotoffizier. Ohne eine verfügbare Maschine oder Einheit, zu der er hätte versetzt werden können, war Scalter zur Einsatzzentrale geholt worden, um angesichts des zunehmenden Drucks auszuhelfen. Die Zentrale war rund um die Uhr voll besetzt, und Schicht reihte sich an Schicht. Die Zentrale brauchte alle klar denkenden und erfahrenen Leute, die irgendwie verfügbar waren, um an den Stationen zu arbeiten. Scalter war gut als Fluglotse. Seine erfolgreiche Laufbahn stand ihm gut zu Gesicht. Wie alle Flieger des Commonwealth, die in den operativen Bereich gewechselt waren – Darrow eingeschlossen –, betrachtete auch er es als Degradierung. Aber es war eine lebenswichtige Arbeit, und er nahm sie ernst. »Auf Höhe fünftausend gehen, Plünderer«, sagte Scalter gereizt, als Darrow zu ihm kam. »Auf achtzehn Nord schwenken. Ich wiederhole, Nord, wenn Sie nach Westen fliegen, sind Sie über ihnen und tot. Tun Sie, was ich sage.« »Lotse?« Scalter hob eine Hand, ohne sich umzudrehen. »Mir ist völlig egal, was Sie sehen, Plünderer. Ich sehe mehr. Fünftausend, achtzehn Nord. Unter Ihnen ist eine Schar Fledermäuse, nicht in Sichtweite, die Sie massakriert, wenn Sie nach Westen fliegen. Verstanden? Danke. Lampenschein, weitermachen. Frei auf acht Kilometer. Feindflugzeuge West sechzehn.« Scalter drehte sich zu Darrow um. »Junior?« Darrow hielt ihm die Datentafel hin. »Das fliegt in Ihren Abfangbereich. Eads will Sie informieren.« »Richten Sie ihm meinen Dank aus«, sagte Scalter. Darrow sah, dass die Hände des Mannes zitterten, als er die Datentafel entgegennahm. Er musste an Heckel denken. Ob er etwas sagen sollte? »War sonst noch etwas, Junior?«, fragte Scalter. Wie alle anderen auch sah Scalter unsagbar müde aus. Darrow wusste, warum. Es war nicht nur die Dauerbelastung. Alle aus dem aktiven Dienst abgezogenen Piloten des Commonwealth hatten Zeit in den Simulatoren zugebracht, wenn sie eigentlich hätten schlafen sollen, um ihre Fähigkeiten zu verbessern. Darrow hatte das ganz gewiss
getan, und er hatte Scalter mehrfach in einer der Anlagen gesehen. Die Flotte hatte neue Übungsprogramme mitgebracht, Simulationsroutinen für Donnerkeile und Marodeure. Sie waren alle scharf darauf gewesen, sie auszuprobieren. Zu erleben, was ihnen entging. »Nichts, Lotse.« »Warten Sie, Darrow«, sagte Scalter. »Wo Sie einmal hier sind.« Er drehte sich wieder zu seiner Station um, raunzte ein paar Befehle ins Kom und kritzelte dann etwas auf eine Datentafel. »Eads wird das brauchen. Ich wollte es von meinem Junior bringen lassen, aber ich will verdammt sein, wenn ich weiß, wo er ist.« Darrow nahm die Datentafel. »Danke, Lotse.« Das Zittern in der Hand. Die ersten Symptome eines Anfalls der Selbstzerstörung? Oder nur Erschöpfung? »Das ist alles«, sagte Scalter. Darrow wandte sich ab. Als er ging, hörte er Scalter blaffen: »Plünderer, das ist nicht, wiederhole, nicht achtzehn Nord! Korrigieren, Sie verdammter Schwachkopf!« Darrow flitzte durch die Flut der dahineilenden Junioren, Adjutanten und Flottenstabsoffiziere zurück. Er erreichte Eads. »Schwenken Sie um null komma drei fünf, Orbis. Steigen Sie, um Throns willen.« Eine Pause. Darrow wartete. »Orbis-Staffel, Orbis-Staffel«, sagte Eads. »Sie liegen auf Kollisionskurs mit Ganymed Sieben-Sieben. Korrigieren und schwenken. Ja, ich habe Feindmaschinen bestätigt, in achttausend. Orientieren Sie sich an meiner Leuchtmarke, schwenken Sie und steigen Sie bei null komma drei fünf. Feindflugzeuge auf Acht.« Darrow legte Eads eine Hand auf den Arm. »Harfe-Staffel, zehn weiter nach Norden. Feinde jetzt auf Zwo, abnehmend. Ja, Darrow?« »Etwas von Scalter, Kommodore.« »Lesen Sie vor, Junior.« »Im Anflug, unregelmäßige Formation, sechstausend variabel, Richtung Nordost vier-zwo. Einheiten von der VAB Gocelsee. Sie treffen in dreißig Minuten ein und fordern Landeanweisungen an.« »Wie viele?« »Geschätzte zwanzig Jäger, gemischt, plus Transporter, schwer.«
»Darum müssen Sie sich kümmern, Darrow. Ich habe hier eine größere Schlacht. Schicken Sie die Transporter zu uns, Priorität. Finden Sie heraus, in welchem Zustand die Jäger sind. Wenn noch welche kampftauglich sind, könnten wir sie brauchen. Erkundigen Sie sich nach Treibstoff und Munition.« »Zu Befehl, Lotse.« Darrow setzte seinen Kopfhörer auf und änderte die Frequenz. Eads war bereits wieder bei seinen Formationen. Darrow versuchte, seine Nerven zu beruhigen. »Formation Gocel, Formation Gocel, hier Theda Einsatzleitung. Können Sie mich hören?« Ein Knistern. »Einsatzleitung, hier Umbra Führer, wir hören Sie klar und deutlich.« »Schildern Sie Ihre Situation, Umbra Führer.« »Wir sind ziemlich in Eile, Einsatzleitung. Feindlicher Überfall. Umbra hat neun, wiederhole, neun Maschinen, 409. Raptoren haben noch acht, wiederhole, acht. 786. Fernrohr drei, wiederhole, drei Blitzstrahlen. Wir haben fünf Transporter, schwer, denen wir Begleitschutz geben. Feindflugzeuge sind hinter uns, möglicherweise auf der Verfolgung.« »Zeit bis Theda, Umbra Führer?« »Sechsundzwanzig Minuten.« »Transporter haben Landeerlaubnis auf Luftwaffenstützpunkt Süd, Priorität. Sind noch Maschinen von Ihnen einsatzfähig?« »Umbra und Raptoren sind bereit, Einsatzleitung. Wir sind voll aufgetankt und mit voller Munition gestartet. Fernrohr war nur halb betankt, also würde ich von ihnen abraten.« »Wir könnten Sie brauchen, Umbra Führer. Gefecht in Richtung neun-zwo West.« »Verstanden.« Darrow holte tief Luft. Er traf jetzt Lotsen-Entscheidungen. »Formation Gocel, die Blitzstrahlen begleiten die Transporter nach Hause. Alle anderen Elemente Kurs neun-zwo West und steigen.« »Bestätigt. Wird gemacht.« Über dem Litorale, 08:34 Vier Zehntel Bewölkung und Seitenwind aus Süd. Eine blasse Decke aus Himmel mit grauen Streifen.
Jagdea schwenkte mit den beiden Staffeln nach Westen und beobachtete dann, wie die gewaltigen Transporter mit ihrer Eskorte von Blitzstrahlen nach Norden weiterflogen und in den Wolken verschwanden. »Raptor-Staffel, hier Umbra Führer. Blaguer ist tot, möge er in Frieden ruhen. Die Einsatzleitung hat uns gerade neue Befehle gegeben, wie Sie gewiss gehört haben. Ich führe diese Staffeln jetzt, also rücken Sie alle zusammen und benehmen Sie sich. Wir können uns später am Boden streiten. Irgendwelche Einwände?« »Umbra Führer, hier Raptor Zwo. Führen Sie uns gut, dann folgen wir Ihnen in die Hölle und zurück.« Jagdea lächelte. Sie war Blaguers Stellvertreter während ihres kurzen Aufenthalts in der Basis Gocelsee ein paar Mal begegnet. Er hieß Rapmund, der anständige Typ, breitgesichtig, ruhig, professionell. Seine ruhige, selbstbewusste Antwort freute sie. »Vier Karos, ich fliege Spitze«, befahl sie. »Schön langsam, kein unnötiges Schneiden. Wir haben hier draußen schon genug Feinde, auch ohne uns gegenseitig umzubringen.« Mit einer kurzen Schubverstärkung flog sie nach vorne und beobachtete dann auf ihrem rückwärtigen Bildschirm, wie die anderen Maschinen in Formation flogen. Vier Karo-Formen, jede mit vier Keilen. Sie fanden ihre Positionen mit außerordentlicher Einfachheit. Raptoren und Umbra vermischten sich. Endlich Zusammenarbeit. Keine Effekthascherei, keine Hackordnung. Nur Luftkämpfer, die sich ohne Streit zum Wohl der Gemeinschaft vereinten. »Führer an Geschwader, Kompliment an alle. So erobert das Imperium seine Feinde.« Jagdeas Donnerkeil flog den vier Karos voraus, direkt vor der zweiten Formation, und schuf eine asymmetrische Struktur. Karo Zwo war hinter ihr, Karo Eins auf ihrer Vier, Karo Drei auf ihrer Sieben und Karo Vier auf Karo Drei Sieben. Sie flog an der Spitze. Sie ließ sich von den Raptor-Piloten Nummer und Position nennen und notierte sich die Einzelheiten auf der Datentafel, die an ihrem Oberschenkel befestigt war. Dann wechselte sie den Kanal. »Einsatzleitung, hier Umbra Führer. Elemente von Umbra und Raptor wurden unter meiner Führung zu einem Geschwader vereint. Haben Sie uns?«
»Auf dem Modar, Umbra. Gut und klar. Richtung um drei Strich korrigieren und auf Höhe achttausend steigen. Gefecht in vier Kilometern und abnehmend.« »Verstanden.« Sie flog weiter durch eine Wolkenbank, die wie eine Nebelschwade wallte, und kam dann daraus hervor. Das Gefecht lag vor ihnen. Gefecht. Was für ein inadäquates Wort. Die Stimme der Einsatzleitung klang jungenhaft, fast kindlich. Dies war Krieg. Hunderte Maschinen wirbelten und tanzten am Himmel durch neunzig Kubikkilometer Luftraum. Überall waren Flugzeuge … ein paar Einzelgänger, manche in Formation, andere in engen, komplexen Kampfmustern. Die meisten von ihnen waren Feinde, soweit Jagdea sehen konnte. Eine Menge Bomber, eine große Zahl greller Abfangjäger und Kampfmaschinen. Zwischen ihnen tummelten sich die Imperiumsvögel und mühten sich. Die Luft war voller Geschosse und Rauch. Sie konnte mindestens sechs Maschinen erkennen, die brennend abstürzten. Der Boden. Durch die Wolken konnte sie die Weite des Litorales sehen und die Außenbezirke von Theda. Hunderte feuriger Punkte erleuchteten sie. Das war das Ziel der Bomber. »Umbra hat Sichtkontakt«, sendete sie. »Gut, Umbra.« Die Einsatzleitung hatte plötzlich eine andere, ältere Stimme »Hoch auf Ihrer Elf, eine Menge Feinde. Können Sie angreifen?« Jagdea lugte hoch in den Himmel und verglich, was sie sah, mit den Auspex-Daten. »Ich sehe sie, Einsatzleitung.« Eine Staffel Klingen, über zwanzig, die Anstalten machten, sich auf die kämpfenden Maschinen der Flotte tausend Meter tiefer zu stürzen. »Hier Umbra, wir greifen an.« »Der Imperator beschützt«, sagte die ältere Stimme der Einsatzleitung. »Ziele anpeilen und auf sie«, befahl Jagdea. »Vollschub. Macht die Schweine fertig!« Umbras Formation stieg und beschleunigte und raste frontal auf die Klingen-Staffel zu. Einige schossen bereits. Die überraschten Klingen erwiderten das Feuer und drehten ab.
»Jetzt geht’s los …«, murmelte Jagdea. Blitze zuckten. Bunte Streifen aus Leuchtspurgeschossen. Rauchwolken. Zwei Klingen sackten aus der Formation, zogen Rauchfahnen hinter sich her, schmierten ab. Eine dritte explodierte in einem Flammennebel. Einer der Raptoren, Vier, verlor seine linke Tragfläche und kippte weg wie ein fallendes Gewicht. Cordiale wurde getroffen. Ein großes Stück von seiner Flosse wurde abgesprengt, dann Abschnitte der Seitenpanzerung. Schüsse hatten seine Tragfläche durchbohrt. Sein Keil sackte durch, aber zu Jagdeas Erleichterung fing er sich wieder und konnte die Maschine mit der wenigen ihm noch verbliebenen Trimm gerade halten. Jagdea klemmte sich hinter eine nach unten ziehende Klinge und stürzte ihr hinterher. »Umbra Elf«, rief sie. »Sind Sie stabil?« »Nur eine Fleischwunde, Mamzel«, erwiderte Cordiale, als wolle er sich die Zeit vertreiben. Der Schaden an seinem Vogel war alles Mögliche, aber ganz sicher mehr als eine Fleischwunde. »Wenden und tiefer gehen«, befahl Jagdea. »Theda Einsatzleitung, Theda Einsatzleitung, wir haben einen angeschossenen Vogel, der zu Ihnen unterwegs ist.« »Verstanden, Führer. Die Bahnen sind offen.« Jagdea schaute nach links. Zwei Klingen waren herabgestürzt und nahmen Kurs auf Cordiale. »Cordiale! Ausbrechen!« »Ausbrechen? Ich kann mich kaum in der Luft halten!«, erwiderte Cordiale. Jagdea gab Vollschub. »Blansher? Übernehmen Sie. Ich folge Elf nach unten. Umbra-Staffel. Zwo hat jetzt das Kommando.« »Verstanden, Jagdea«, sendete Blansher. Jagdea brachte Null-Zwo rasch herunter. Cordiales Keil zog mittlerweile eine Rauchfahne hinter sich her. Sie bekam für eine der Klingen den Signalton für grünes Licht von der Zielerfassung und streifte sie mit den Autokanonen. Die Klinge brach aus und floh. Die andere blieb auf Kurs, offenbar entschlossen, Cordiales beschädigtem Flugzeug den Rest zu geben.
Jagdea legte Null-Zwo in eine scharfe Kurve und korrigierte. Die Klinge glitt durch ihr Visier. Sie kalkulierte vierzig Grad Vorhalt und feuerte. Die Klinge hustete schwarzen Rauch, reckte die Nase in die Höhe, wie um zu fliehen, und explodierte dann in einem Hagel brennender Fetzen. Irgendetwas, so hart wie eine Abrissbirne, traf die linke Seite von Jagdeas Kanzel. Ein Teil des Kanzeldachs wurde zerschmettert, die Instrumente fielen aus, verbeulte Panzerplatten rissen ein und fetzten über ihren linken Arm. Sie schrie vor Schmerzen. Die Klinge flog an ihr vorbei und wendete für einen zweiten Angriff. Zitternd versuchte sie, ihren Keil auszurichten. »Theda Einsatzleitung«, keuchte sie. »Zwo, wiederhole zwo Krüppel im Anflug.« Das Feld lag vor ihr. Sie sah die Stadt, die Feuerstürme, den ramponierten Luftwaffenstützpunkt. Wind pfiff und heulte durch die gespaltene Kabine. Rauch quoll unter der Instrumententafel hervor. Jagdea sah nichts mehr durch die linken Bullaugen der Kanzel, weil sie mit Blut verschmiert waren … ihrem Blut. Sie schaute nach unten. Sie konnte zerrissene Flugrüstung sehen, Blut, Fleisch. Eine Spur von weißem Knochen. Ihr linkes Triebwerk erlosch. Sie fiel schneller, während sie immer wieder in einen Schockzustand und dann wieder heraus driftete. Sie hörte ein merkwürdiges Geräusch und erkannte schließlich, dass es der Warnton der Zielerfassung war. Sie war von einem Feindflugzeug erfasst worden. Die Klinge stürzte sich auf sie, und ihre Geschütze eröffneten das Feuer, dann explodierte sie wie eine Tretmine unter einem Fahrzeug und verstreute Trümmer von sich in einem weiten Kreis. »Komm sicher nach unten, Bree«, rief Blansher, als er an ihr vorbeiraste. »Im Namen des Gott-Imperators, komm sicher nach unten.« Die mit Kratern übersäte Landebahn kam ihr entgegen. Jagdea kämpfte mit der Schubdüse und versuchte zu korrigieren. Im letzten Moment erinnerte sie sich dunkel an ihr Fahrgestell und
fuhr es aus. Cordiale war bereits unten, sein rauchender Vogel von Personal umringt. Jagdea verlor das Bewusstsein. Dann kam sie ruckartig wieder zu sich, als sie von dem Aufprall erschüttert wurde, und riss am Steuerknüppel. Null-Zwo rutschte zwanzig Meter auf ihren Krallen und kam zur Ruhe. Cordiale erreichte sie als Erster. Er sprengte die Haube mit dem Notschalter ab und griff hinein, um die kreischenden Turbinen auszuschalten, bevor der Keil wieder abhob. Jagdea sah ihn an. Ihr Helmvisier war mit Blutstropfen bespritzt. Sie wollte sie wegwischen, verschmierte sie aber lediglich. Mit der rechten Hand nahm sie den Helm ab und warf ihn nach draußen. »Das wird schon wieder«, sagte Cordiale. Das war das Letzte, was sie hörte. Die Halbinsel 11:21 Die Straßen waren verstopft, so weit das Auge reichte. LeGuin stand auf Linies Turm und schaute. Es war ein betrüblicher Anblick. Viele tausend Fahrzeuge, die meisten zum Militär gehörig, eine einzige Schlange durch die Stadt und weiter bis zu den Schnellstraßen nach Norden. Viele Fahrzeuge hatten den Motor ausgeschaltet, um Sprit zu sparen, aber die Luft war dennoch mit Abgasen gesättigt. Männer liefen umher, und LeGuin hörte mehr als einen Zornesausbruch. »Sehen Sie irgendwas?«, fragte Viltry. Er saß auf der Kante einer der oberen Luken. »Nichts, was sich bewegt.« Die Stadt hieß Nivelle, ein Marktflecken im breiten Lidatal gut sechzig Kilometer südlich von Ezraville. Wie so viele andere Ortschaften, durch die sie gekommen waren, hatte auch sie Bombenschäden erlitten und schien keine Zivilisten mehr zu beherbergen. Nachdem die Kolonne einmal die einigermaßen harten Straßen des Lidatals erreicht hatte, waren sie trotz der Krater und der ständigen Gefahr von Luftangriffen gut vorangekommen. Sie waren unterwegs auf Versorgungseinheiten gestoßen, die ihnen dringend benötigten Proviant, medizinische Hilfsgüter und Treib-
stoff brachten. Es war ein Gefühl gewesen, als rollten sie nach Wochen der Entbehrungen und des Kampfes endlich wieder zurück in die Zivilisation. Aber der Krieg hatte sie irgendwie überholt. Das Litorale und die Halbinsel hatten Schläge bekommen. Von Nivelle aus betrachtet, bildete der Himmel über Ezraville eine riesige Gewitterwolke aus schwarzem Rauch. Flugzeuge flogen ständig über sie hinweg, oft zu hoch, um sie zu identifizieren. Sie hatten Tribünenplätze für mehrere große Luftschlachten über dem Tal gehabt, Flecken, die Spiralen, Schrauben und Kreise flogen und kompliziert aussehende Kondensstreifen sowie Funken und Blitze zurückließen. Maschinen, die brannten wie Meteore beim Atmosphäreneintritt, waren aus dem Himmel auf entfernte Wiesen und Weiden gestürzt. Hubschrauber des Munitorums flogen in Dachhöhe beständig über ihnen hin und her. Viele von ihnen brachten die schwerer Verwundeten zur Behandlung in die Krankenhäuser an der Küste. Die Direktiven des Munitorums hatte den Kolonnen die Fahrt nach Ezraville befohlen, wo Massenbarken und VSFPs warteten, um sie zu den Küsten im Norden zu evakuieren. Zumindest war das der Plan. Tatsächlich waren die Straßen zunehmend verstopfter, da die Kolonne andere einholte, aber auch mit solchen aus anderen Richtungen zusammentraf. Und der Massen-Exodus war keineswegs ausschließlich militärischer Natur. Sie waren an langen Prozessionen ziviler Flüchtlinge vorbeigefahren, Familien mit Kindern, die neben der Straße marschierten und die wesentlichen Bestandteile ihres Lebens auf Schubkarren vor sich herschoben. Matredes gesellte sich zu ihnen. LeGuin hatte ihn damit beauftragt, nach Senioren des Munitorums Ausschau zu halten. »Es gibt auch gute Nachrichten«, sagte Matredes, nachdem er hochgeklettert war. »Wir stecken hier fest, weil die Evakuierung praktisch überrollt wird.« »Und das ist eine gute Nachricht?«, sagte LeGuin. »Der Senior, mit dem ich gesprochen habe, war dieser Ansicht, ja. Dreißig Prozent mehr von uns haben es nach Hause geschafft, als sie erwartet haben. Sie haben sich bemüht, noch mehr VSFPs von der Nordküste zu organisieren, um das auszugleichen. Marschall Humel hat nicht ganz so viele von uns umgebracht, wie sie befürchtet hatten.«
»Das sieht einem Marschall aber nicht ähnlich, seine Arbeit so lasch zu tun«, spöttelte LeGuin. Viltry grinste, aber er wusste, dass es auf lange Sicht tatsächlich gute Nachrichten waren. Wenn es mehr Landstreitkräfte nach Hause schafften, konnte für die nächste Phase des Krieges ein stärkeres Heer formiert werden. Das ließ seine Bemühungen und die Anstrengungen aller anderen Piloten in einem viel besseren Licht erscheinen. »Das andere Problem scheinen die Leute zu sein«, sagte Matredes. »Die Zivilisten verlassen Ezraville in Scharen, und aus dem Litorale strömen die Flüchtlinge herein. Der Zustrom der Flüchtlinge hat ganze Schnellstraßen verstopft.« »Also stecken wir hier fest?« »Das Munitorum empfiehlt allen Einheiten mit ausreichend Treibstoff, die noch halbwegs fahrtüchtig sind, nach Osten auszuweichen. In mehreren Küstenstädten östlich von Ezraville werden ebenfalls Evakuierungszentren eingerichtet, um den Druck von Ezraville zu nehmen. Das würde bedeuten, querfeldein in diese Richtung …« Matredes zeigte in die Ferne. »Da sollten wir dann auf anständige Straßen stoßen.« Er zog einen Fetzen Papier aus der Tasche. »Ich habe mir die Namen notiert: Fetona, St. Chryze, Langersville. Ich kann sie auf der Karte suchen.« LeGuin zuckte die Achseln. »Wir haben Sprit und vernünftige Straßen. Was meinen wir?« »Besser, als hier rumzusitzen«, wagte Matredes sich vor. »Was sind schon ein paar Kilometer mehr?«, sagte Emdeen. »Osten ist mir nur recht«, sagte Viltry. »Dann lasst es uns tun«, sagte LeGuin. Sie brauchten noch eine Stunde, um die Nachricht zu verbreiten und ungefähr vierzig Fahrzeuge zu rekrutieren, die sie begleiten würden. LeGuin vergewisserte sich, dass alle in gutem Zustand waren. Er wollte keine Nachzügler. Die Beschädigten und die Langsamen konnten bei der Hauptflut des Verkehrs bleiben. Nachdem er Nummern und Einzelheiten per Kom dem Munitorum durchgegeben und die Freigabe erhalten hatte, dauerte es weitere zwei Stunden, aus der Reihe zu manövrieren. Es war harte Arbeit, wie eine festgefahrene Partie Königsmord, da kein Platz zum Zurücksetzen oder Wenden war. Streitereien flackerten auf. LeGuin und Viltry mussten abspringen und eine Schlägerei zwischen der Besatzung eines Halbkettenfahrzeugs des Gerzon-
Regiments und den Männern einer Leichten Chimäre des 44. schlichten, die es unabsichtlich gerammt hatte. Schließlich fand der Kommandant eines Pardus-Eroberers, Der Stoff der Legenden, einen Platz zum Wenden in der Einfahrt einer Dosenfabrik und milderte den Druck, indem er mit seiner Räumschaufel eine neue Ausfahrt schuf. Er walzte eine Reihe von Steinlatrinen und Höfen hinter einer Hab-Terrasse platt und rollte dann unter dem lautstarken Jubel der Zuschauer durch einen verwüsteten Obstgarten und eingezäunte Gemüsebeete. Fahrzeuge scherten aus und folgten ihm. Todeslinie war das sechste Fahrzeug, das freikam. Sie schepperten über die Ruinen der Gemüsebeete und weiter auf Weideland, wo sie anhielten und warteten, bis sich die anderen zu ihnen gesellt hatten. Neun Pardus-Panzer, Elf vom Schweren Gerzon, sechs von der 2. Kettenkompanie Balchinor, drei Hydra-Plattformen und sechzehn Truppentransporter und Halbkettenfahrzeuge, die mit Gardisten beladen waren. Nach allgemeiner Übereinkunft hatte LeGuin das Kommando. Dies lag zum einen daran, dass es seine Idee gewesen war, aber eine Rolle spielte auch der Ruf, den sich Linie durch den Abschuss der Fledermaus am vergangenen Nachmittag erworben hatte. LeGuin gab den Befehl, und sie rollten los und wühlten Matsch auf, als sie die Weide überquerten und schließlich unbebautes Land erreichten. Es war eine holprige Fahrt. Viltry saß im Turm und klammerte sich fest. Aber sie fuhren endlich wieder. Theda, LWS Süd, 14:02 »Übergabe«, sagte Eads. »Danke, Lotse«, sagte seine Ablösung. »Habe übernommen.« Als der neue Lotse seinen Platz eingenommen hatte, half Darrow Eads dabei, dessen augmetische Verbindungen auszustöpseln, zu säubern und zu verstauen. Ihnen beiden war schwindlig vor Erschöpfung, und sie waren vollkommen erledigt. Die Anforderungen, die ihre Arbeit an sie stellte, waren im Laufe ihrer Schicht kein bisschen geringer geworden. »Viel Glück«, sagte Eads zu dem neuen Lotsen, aber der Mann war bereits viel zu beschäftigt damit, sich mit dem Pandämonium
in seinem Abfangbereich vertraut zu machen, um noch antworten zu können. Darrow wartete, während Eads leise mit dem Deck-Offizier redete, und geleitete ihn dann aus dem Chaos der Rundhalle nach draußen. Eads hatte seinen Stock, aber er hielt sich an Darrows Arm fest und gestattete dem jüngeren Mann, ihn zu führen. Er war erschöpft. Sie gingen nach oben ins Atrium. »Ich kann Sie auch den ganzen Weg in Ihr Quartier bringen, Kommodore«, sagte Darrow. »Kein Grund, Enric. Ein kleiner Spaziergang, ein wenig Abgeschiedenheit, das könnte mir gut tun. Sie sollten ins Bett gehen. Der Deck-Offizier hat gesagt, dass wir um Mitternacht wieder gebraucht werden.« »Ja, Kommodore.« »Darrow?« »Ja, Kommodore?« »Das ist inoffiziell, verstehen Sie?« »Ja, Lotse.« »Wenn Sie in Ihr Quartier kommen, packen Sie Ihre Sachen. Packen Sie sie jetzt, und zwar so, dass Sie schnell und leicht reisen können.« Darrow runzelte die Stirn. »Warum, Kommodore?« »Banzie geht davon aus, dass wir alle abgezogen werden. Es ist noch nicht offiziell, aber er ist sicher, dass die Flotte in diese Richtung denkt. Noch vier oder fünf Tage, dann ist Theda als Luftwaffenstützpunkt unbrauchbar.« »Gott-Imperator …«, hauchte Darrow. »Sie sind auf der Siegerstraße, mein Sohn. Wie hart wir auch kämpfen, dieser Himmel gehört praktisch ihnen. Die Flotte wird ihre Geschwader abziehen, allgemeine Evakuierung. Und sie zu sichereren Stützpunkten verlegen.« »Wohin, Kommodore?« »Vielleicht nach Zophos, vielleicht auf die Mittwinterinseln. Vielleicht nach St. Hagen. Tacticus wägt anscheinend gerade ab.« Darrow fühlte sich leer. Er schaute weg. Das hallende Atrium war abgesehen von anderem Zentralen-Personal leer, das ebenfalls seine Schicht beendet hatte. »Werden wir …«, begann er. »Werden wir diesen Krieg verlieren?«, fragte er.
»Nein«, sagte Eads. »Mit einem Rückzug kommt man nur schwer zurecht, aber Sie werden ein besserer Kämpfer, Enric, wenn Sie erkennen, dass ein Rückzug manchmal die einzige Möglichkeit ist zu gewinnen. Thron, wenn Rückzug gleichbedeutend mit Niederlage wäre, hätten wir auch schon in dem Augenblick in die Berge laufen können, als die Land-Armada vor den Toren der Dreieinigkeit-Makropolen zurückgeschlagen worden ist.« »Kommodore.« »Ich weiß, es tut weh, Darrow. Es verwundet den Stolz eines Mannes. Aber Sie müssen das Gesamtbild sehen.« In Eads’ Tonfall lag keine Ironie. »Rückzug, Neuformierung, Kräfte sammeln und alles noch mal versuchen. Das tun wir. Deswegen haben wir so schwer gekämpft, um die Landtruppen zu retten. Damit sie kehrtmachen und wieder kämpfen können, mit neuer Kraft. Lesen Sie ein paar Geschichtstafeln, Darrow. Kriege sind schon so gewonnen worden. Und viele andere wurden von Männern verloren, die zu stolz waren, die Vernunft eines taktischen Rückzugs anzuerkennen.« Darrow nickte. »Darrow?« »Ich habe genickt, Kommodore. Ich bitte um Verzeihung.« »Schlafen Sie sich aus. Ich sehe Sie um Mitternacht.« Darrow salutierte. Eads ging mit wippendem Stock über den Marmorboden. »Nennen Sie das einen Gruß?«, sagte er über die Schulter gewandt. Darrow ging nach draußen. Die Luft war trübe und stank nach Fyzelen. Ein paar Leute von der letzten Schicht lungerten noch im Säulengang herum, rauchten und unterhielten sich oder hatten es sich in schmerzhafter Erleichterung einfach nur auf den feuchten Stufen bequem gemacht. Er sah Scalter in der Nähe, der ein Lho-Stäbchen rauchte. Sogar aus dieser Entfernung konnte er erkennen, wie sehr Scalters Hände zitterten. Er hatte sich gerade entschlossen, zu ihm zu gehen und ihn darauf anzusprechen, als ihm etwas auffiel. Er zog seine eigenen Hände aus der Tasche und betrachtete sie. Sie zitterten ebenfalls. »Brauchen Sie irgendwas?«, fragte Scalter, als er ihn bemerkte. »Nein, es geht mir gut.«
»Stimmt irgendwas nicht mit Ihren Händen?« »Nein.« Darrow gesellte sich zu ihm. »Ist nur der Tatterich.« »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Den haben wir alle. Anspannung und Erschöpfung.« »Ja, sicher.« Scalter bot Darrow sein Päckchen mit Lho-Stäbchen an. »Nein danke.« »Gehen Sie noch zu den Simulatoren?«, fragte Scalter. »Da habe ich Sie schon gesehen.« »Vielleicht. Und Sie?« Scalter deutete mit einem Kopfnicken auf den Flugplatz vor ihnen. »Was meinen Sie?«, fragte er. Darrow betrachtete den Luftwaffenstützpunkt. Teile des Flugfelds waren mit Kratern und platt gewalzten Schutthaufen übersät. Am Ostzaun waren die Wracks von zerbombten und abgestürzten Flugzeugen aufgestapelt worden, um ganz einfach Platz nutzbar zu machen. Rauch von kürzlichen Treffern kräuselte sich in die Höhe. Flottenmaschinen landeten in Scharen, manche qualmend. Bodenpersonal lief auf das Feld. Auf den Startdecks wärmten sich die Apostel auf, während sich Munitionstransporter entfernten. Darrow hörte das brutale, summende Pulsieren der Anlasser für die Triebwerke. Jenseits des Stützpunkts erhoben sich die Wolkenkratzer von Theda in zerknitterter Erhabenheit. Rauchsäulen schraubten sich aus der Stadt hoch und verdunkelten den Himmel. Brände wüteten. In der Stadtsilhouette gab es Lücken, wo vertraute Gebäude zerstört worden waren. Alarmsirenen jaulten. »Ich glaube, ich gehe doch zu den Simulatoren«, sagte Darrow. TAG 265 Westbezirk Theda, 10:02 Der Zustrom von Verwundeten hatte die Krankenhäuser Thedas bis zum Platzen gefüllt. Jagdea war quer durch die Stadt zu einer Habitatsklinik im Westbezirk gefahren worden, einem viergeschossigen Haufen verfallener Ziegelsteine, der im Laufe der Jahre als Sanatorium, Zuflucht und Schola für schwer erziehbare Jugendliche genutzt worden war. Das Gebäude selbst war in ei-
nem schlechten Zustand. Es stank nach Desinfektionsmitteln und Schimmel. Blansher fand sie am Ende einer langen, grimmigen Galerie. Sie starrte aus dem Fenster auf eine Straße, wo lange Schlangen von Zivilisten im Regen auf Reisegenehmigungen warteten. Sie sah blass und dünn aus. Ihr linker Arm lag in einer schweren Schlinge. Blansher sah, dass sie unter ihrem Bademantel immer noch die Hose ihres Fluganzugs trug. »Hallo, Mil«, sagte sie. »Bree. Was macht der Arm?« »Wird schon. Noch ein oder zwei Tage, schätzen sie.« »Wir vermissen dich. Das ganze Geschwader lässt grüßen.« »Du hast sie im Griff, hoffe ich?« »Sie würden nicht wagen, sich mit mir anzulegen.« Sie grinste. »Willst du dich setzen?«, sagte sie, indem sie sich aus ihrem Krankenrollstuhl erhob. »Danke, ich komme zurecht.« »Komm, setz dich, Mil. Du siehst zum Umfallen müde aus. Ich habe den ganzen Tag gesessen.« Achselzuckend setzte er sich auf den alten Rollstuhl. Er lehnte sich zurück und machte die Ellbogen breit. »Also … was kann man aus diesen Dingern an Geschwindigkeit rausholen?«, fragte er. Sie lehnte sich neben dem Fenster an die Wand und zeigte mit dem gesunden Arm auf den langen Flur mit dem Linoleumboden. »Probier’s aus. Kein Nachbrenner-Effekt, aber wenn du richtig Schwung holst, kannst du kurz vor der Arzneimittelausgabe abheben.« Mit den Händen drehte er die großen Räder des Stuhls versuchsweise vor und zurück. »Wie war’s denn?«, fragte sie. »Wir waren einmal oben. Hässliches Getümmel über St. Chryze. Aggie hatte einen Abschuss und ich auch.« »Alle gesund?« »Zemmic hat eine Kugel durch die Seitenscheibe bekommen, die ihm die Kette mit seinen Glücksbringern zerfetzt hat, also ist seine Stimmung ziemlich am Boden. Aber sonst, ja. Alle gesund.« »Cordiale?« »Zusammengeflickt und bereit für den nächsten Einsatz.« »Was macht meine Null-Zwo?«
»Hat ziemlich was abbekommen, Bree. Aber sie wird’s überleben. Sie arbeiten jetzt an ihr, aber sie wird per Träger verschifft …« Blansher unterbrach sich. »Verdammt«, sagte er. »Ich wollte es dir doch schonend beibringen.« »Verschifft?«, fragte Jagdea. »Seit wann?« »Seit heute Morgen 06:00 Uhr. Flotten-Direktive. Anscheinend hat Ornoff entschieden, dass es an der Zeit ist, die Küste aufzugeben.« »Wohin?« »Für uns geht es zum LWS Lucerna auf den Mittwinterinseln. Das unterliegt natürlich der Geheimhaltung.« »Natürlich.« »Die Massen-Evakuierung macht jetzt gute Fortschritte. Theda ist fast leer, die Bevölkerung geflohen. Wir ziehen uns langsam zurück. Auf den Inseln sind unsere Stützpunkte für eine Weile außerhalb der Einsatzreichweite des Feindes, und von dort können wir die Evakuierungsflotten schützen. Beim lebendigen Thron, Bree, aber so viele Massenbarken hast du noch nie gesehen!« »Ich mag Inseln«, sagte Jagdea nachdenklich. »Sie erinnern mich an zu Hause.« »Wir fliegen die Keile um 09:00 Uhr am 268. raus, also in drei Tagen, wenn es die Situation erlaubt. Dein Vogel wird heute Nachmittag auf eine der Frachtbarken verladen.« »Lasst mich bloß nicht hier zurück!«, sagte Jagdea. »Natürlich nicht, Bree. Ich sorge dafür, dass dich ein Transporter abholt, vielleicht gegen 08:30 Uhr an dem Morgen. Die Flotte fliegt das Personal mit Valkyrien und Oneros aus. Am Mittag bist du wieder bei uns.« »Das hoffe ich doch«, warnte Jagdea. »Ich will nicht hier in diesem Loch sterben.« »Ach, vertrau mir einfach«, sagte Blansher. Er rollte immer noch in dem Stuhl hin und her und spielte damit wie ein Kind. »Wann habe ich dich je im Stich gelassen?« »Noch nie«, erwiderte sie. »Siehst du?« »Was ist mit Espere?«, fragte sie. »Ist schon unterwegs nach Norden, Kranken-Evakuierung. Ich habe es überprüft. Er ist gerade in einer Pflege-Einheit in Enothopolis.«
Blansher erhob sich aus dem Stuhl und drehte ihn um, sodass sie sich wieder setzen konnte. »Ich muss jetzt los«, sagte er. »Wir müssen um 11:00 Uhr in die Luft, und mein Fahrer wartet.« »Gutes Fliegen«, sagte sie. »Pass auf dich auf.« Blansher hielt kurz inne. »Schau, schau, das sieht ganz so aus, als hättest du noch einen Besucher.« Jagdea drehte sich um. Geschwaderführer Seekan, der in seiner weißen Wildlederjacke prächtig aussah, kam durch den Flur. »Freunde in hohen Positionen«, sagte Blansher. Er ging und salutierte Seekan dabei im Vorbeigehen. Seekan erwiderte den Gruß respektvoll und ging dann weiter zu Jagdea, die noch vor dem fleckigen, betagten Fenster stand. Sie blieb stehen. »Geschwaderführer.« »Gleichfalls. Wie geht es Ihnen?« »Ich lebe noch. Ich hätte nicht erwartet, Sie hier zu sehen.« Seekan zuckte die Achseln. »Nehmen Sie doch Platz«, deutete Jagdea mit einem Kopfnicken auf den Rollstuhl. »Danke, ich komme zurecht. Ich … ich bin aus zwei Gründen hier.« »Tatsächlich?« »Der erste ist eine Sache der Höflichkeit. Von einem Staffelführer zum anderen. Major Ludo Ramia von den Aposteln ist letzte Nacht im Kampf gefallen.« »Das tut mir leid zu hören.« Seekan räusperte sich verlegen. »Ich habe die Absicht, seinen Platz Staffelleutnant Larice Asche anzubieten. Ihre Leistungen, vor allem in den letzten Tagen, sind bemerkenswert. Zehn Abschüsse in einem Einsatz.« »Ja, es waren zehn.« »Ich wollte Sie um Erlaubnis bitten, Geschwaderführer.« »Um Erlaubnis?« »Bevor ich sie frage.« Jagdea humpelte zu ihrem Rollstuhl und setzte sich hinein. Sie fühlte sich benommen, verletzt, als sei ihr etwas Kostbares gestohlen worden. »Larice ist einer meiner …« Sie hielt inne und korrigierte sich. »Larice Asche ist mein bester Pilot. Ich werde sie vermissen. Aber ich weiß, wie das ist. Wenn die Apostel fragen, lehnt man nicht
ab. Ich bin geschmeichelt, dass Sie damit überhaupt zu mir kommen. Larice wird überglücklich sein. Es ist eine Ehre. Natürlich wird sie annehmen. Der erste phantiner Flieger, der es zu den Aposteln schafft.« »Und der erste weibliche …«, sagte Seekan. »Diese Unterscheidung machen wir auf Phantine nicht.« »Die Flotte ist ziemlich altmodisch, Mamzel«, lächelte er. »Also habe ich Ihre Erlaubnis?« Jagdea schüttelte den Kopf und grinste. »Das ist so, als würden Sie bei mir um ihre Hand anhalten.« »In gewisser Weise tue ich das auch. Bis der Tod uns scheidet.« Jagdea sah ihn an. »Machen Sie einen Helden aus ihr. Eine Legende. Mehr will sie nicht, Seekan. Mehr will ich auch nicht für sie.« »Das werde ich«, sagte er. »Danke.« »Und der zweite Grund?«, fragte sie. »Pardon?« »Sie haben gesagt, Sie sind aus zwei Gründen gekommen. Sie haben mir meinen besten Piloten geraubt, da wage ich mir nicht auszumalen, was der zweite Grund sein mag.« »Ich wollte mich lediglich nach Ihrer Gesundheit erkundigen. Ich war besorgt, als ich die Nachricht hörte.« »Ich dachte, den Aposteln wären Verwundungen und Tod gleichgültig?« »Wir sind nur einander gleichgültig«, sagte er. Er schaute sich kurz um. »Ich muss wieder los. Möge der Imperator Sie beschützen, Geschwaderführer.« Sie nickte. Erst als er aus dem langen Flur verschwunden war, bemerkte sie die langstielige Blume mit den imperiumsvioletten Blüten, die er auf dem Fensterbrett zurückgelassen hatte. Langersville, 15:16 Von den Hügeln des Küstenvorlandes sah es so aus, als lösten sich Teile der Küstenlinie und trieben hinaus auf das Meer. LeGuins Kolonne hatte die Landzunge erreicht und kroch jetzt als kleiner Teil der wimmelnden Truppen zum Seehafen, die evakuiert werden wollten.
Bedrohliche Wolken zogen über sie hinweg, und eine frische Meeresbrise wehte ihnen entgegen. Staffeln von Valkyrien starteten von Feldern auf niedrigen Hängen und flogen aufs Meer. Viltry sah Oneros, die sich startbereit machten. Am Kai legten VSFPs, Pontonschiffe und Massenbarken träge vom Ufer ab. Die Massenbarken waren riesige Frachtschiffe mit rauchenden Schornsteinen, deren Bäuche mit Panzern und Transportern beladen waren. Wenn eine im tieferen Wasser angelangt war, wurde die nächste, leicht und unbeladen, zum Kai geschleppt. Die VSFPs – Vertikalschub-Floßplattformen – waren kolossal. Jede war ein gepanzertes Rechteck mit einer Fläche von fünf Hektar, die durch monumentale Vektortriebwerke an den Ecken und Rändern über Wasser gehalten wurde. Wenn sie zu den Kais glitten und ihre Metallrampen ausfuhren, rollten ganze Panzerstaffeln auf sie. Der Lärm ihrer Triebwerke erfüllte die Bucht. Einweiser dirigierten die an Bord fahrenden Panzer zu ihren Standplätzen. Auf einem Floß war Platz für ein ganzes Regiment. Wie Ungeheuer summend, rauschten die beladenen VSFPs aufs offene Meer. »Da ist unsere Fähre«, sagte LeGuin. Viltry nickte. »Theda. Was meinen Sie, wie weit das ist?« LeGuin zog seine Kartentafel zu Rate. »Ungefähr dreihundert Kilometer nach Osten. Warum?« »Dann wird es Zeit, dass ich mich auf den Weg mache«, sagte Viltry. LeGuin runzelte die Stirn. »Wir werden dich vermissen, Osk.« »Ich euch auch. Das war schon ein Erlebnis.« Viltry schüttelte LeGuin die Hand. Als Viltry aus dem Panzer stieg, umarmte Matredes ihn, und Emdeen schlug ihm auf die Schulter. »Viel Glück!«, rief Viltry, als Todeslinie anrollte. »Gleichfalls!«, rief LeGuin zurück. »Der Imperator beschützt!« LeGuin sagte etwas, aber es ging im Motorengedröhn unter. Viltry blieb noch eine Weile auf dem Hügel stehen, während die langsame Kolonne an ihm vorbeifuhr, bis LeGuins Panzer nicht mehr zu sehen war.
Dann lief er über die grasbewachsene Böschung zur Küstenstraße und versuchte, einen der Munitorums-Transporter anzuhalten, die nach Osten fuhren. Theda, LWS Süd, 16:10 Sobald seine Kufen auf dem Landedeck aufsetzten, schaltete Marquall die Turbinen aus und übergab die vierzehn Tonnen von Neun-Neun »Doppeladler« wieder dem Boden. Er blieb einen Moment bei geschlossenem Kanzeldach sitzen, den Kopf angelehnt und die Augen geschlossen. Sie hatten gerade den dritten Einsatz des Tages beendet, ein improvisierter Angriff auf eine BomberFormation. Kurze, erbitterte Kämpfe waren gefolgt. Marquall wäre zweimal beinahe abgeschossen worden, beide Male von Jägern, die er gar nicht gesehen hatte. Racklae klopfte ans Fenster, und Marquall öffnete die Augen. Der Mechaniker mimte das Öffnen der Haube, und Marquall nickte und setzte Atemmaske und Brille ab. Das Kanzeldach hob sich, und kühle, verräucherte Luft wehte Marquall ins Gesicht. Das Tosen und Jaulen des Feldes wurde ebenfalls eingelassen. »Alles in Ordnung, Pilotoffizier?«, fragte Racklae. »Eins a«, erwiderte Marquall, während Racklae ihm half, die Kabel an seiner Flugrüstung auszustöpseln. »Sie muss schnell gewartet werden. Wir könnten vor dem Abend noch mal starten.« »Verstanden, Pilotoffizier.« »Ich glaube, die linke Laserkanone muss gereinigt oder repariert werden. Das Schussbild war ziemlich komisch.« »Ich kümmere mich darum.« »Wie sieht’s mit Raketen aus?« Racklae schüttelte den Kopf. »Ganz unter uns, Pilotoffizier, die Munition wird langsam knapp. Leuchtspur geht noch, aber alles für die Tragflächen bekommen die Marodeure.« Marquall überließ die Mechaniker ihrer Arbeit und verließ das Landedeck. In der Tür zum Deck nebenan stand Van Tull und zog sich gerade Jacke und Handschuhe aus. »Das war nicht schlecht, gerade«, sagte Marquall. »Ich hab gesehen, wie du den Peiniger erledigt hast.« »Danke«, sagte Van Tull. »Ich dachte erst, das Schwein würde mir entwischen. Und, selbst Glück gehabt?«
Marquall schüttelte den Kopf. »Ich dachte, ich hätte dich hinter einer Klinge gesehen.« »Ja, aber ich konnte nicht dranbleiben und hab sie verloren.« »Es gibt immer ein nächstes Mal«, sagte Van Tull. Zemmic gesellte sich zu ihnen. Seine Glücksbringer klirrten an einer neuen Kette. »Was ist da denn los?«, fragte er, indem er in eine Richtung zeigte. Ein großer Stabswagen näherte sich und hielt. Der Fahrer, ein Flottenkadett, stieg aus, ging herum zur anderen Seite, öffnete die hintere Tür und salutierte. Eine Gestalt stieg aus. »Das ist der Anführer der Apostel, oder nicht?«, fragte Van Tull. »Seekan«, sagte Marquall. »Was will der denn hier?«, sagte Zemmic. Sie beobachteten, wie Seekan zu Deck drei ging. Asche stieg gerade aus ihrem Keil. Sie salutierte vor Seekan, der den Salut erwiderte. Seekan sprach sie an und gab ihr etwas. Eine Datentafel, wie es aussah. Sogar auf diese Entfernung konnten sie Asches seltsamen, verblüfften Gesichtsausdruck erkennen. »Was ist da los?«, sagte Zemmic. Seekan und Asche salutierten wieder, dann schüttelte Seekan ihr die Hand und kehrte zu seinem Wagen zurück. Während der Wagen das Flugplatzgelände verließ, blieb Asche, wo sie war, und studierte die Tafel. Marquall, Zemmic und Van Tull trabten zu ihr. Blansher war aufgetaucht, und Ranfre, Cordiale und Del Ruth waren ebenfalls unterwegs. »Larice?«, sagte Zemmic. Sie sah auf. In ihren Augen stand ein wirklich eigenartiger Ausdruck. »Hallo, Zem.« »Was war los? Was wollte Seekan?« »Mich«, sagte sie. »Was?« Sie schaute alle einen Moment lang an. »Ihr werdet es nicht glauben …«, begann sie. TAG 266 Hafengegend von Theda, 06:02
Viltry hatte aus dem Führerhaus eines Flottentransporters seinen ersten Blick auf Theda geworfen, nachts. Seit dem Morgen des 259. als er mit G für Greta zu ihrem letzten Flug gestartet war, hatte er die Stadt nicht mehr gesehen. Die Dinge hatten sich verändert. In der Dunkelheit und aus vielen Kilometern Entfernung war die Stadt selbst wegen der Verdunkelungsvorschriften unsichtbar, aber ihre Silhouette wurde vor dem Himmel durch den rötlichen Schein der in ihrem Herzen wütenden Feuerstürme definiert. »Heiliger Thron …«, hauchte er. »Ich hab doch gesagt, dass es schlimm ist«, sagte der Fahrer. Viltry hatte die Küstenstrecke genommen, nachts, und war dabei von einer ganzen Reihe Transporterfahrern mitgenommen worden. Entlang der gesamten Küste herrschte reichlich Aktivität, denn die Evakuierung verlief hektisch. Transitflotten des Munitorums strömten aus Theda und den umliegenden Städten, mit Material und Personal für die Evakuierungshäfen beladen, um dann leer zu den Depots für die nächste Fuhre zurückzukehren. Der riesige Nachthimmel war ein Mahlstrom aus Leuchtspurgeschossen, Flak-Salven und brennenden Kometenschweifen. In Madenta, wo er versucht hatte, in dem Verkehrschaos der Innenstadt eine Mitfahrgelegenheit zu finden, war Viltry dreihundert Meter von einer einschlagenden Bombe entfernt gewesen, die einen Templum, neun Habs und einen Maschinenpark zerstört hatte. Wohin er auch ging, er konnte das Dröhnen der Triebswerke des Erzfeindes am Himmel hören. Der zehnrädrige Laster fuhr im Morgengrauen in die Außenbezirke von Theda ein und hielt an mehreren Kontrollpunkten des Munitorums und des Kommissariats. Die Straßen waren abgesehen von anderen Militärfahrzeugen verlassen. Das langsam heller werdende Licht, fahl und dünn, zeigte ihnen eine staubige, verräucherte Welt. Sie passierten Reihe um Reihe ausgebombter Straßenzüge, Feuerwehrmannschaften, die mit Großbränden kämpften, und Habitatsschlote im Griff wirbelnder Infernos. Einige Straßen waren gesperrt. Krankenwagen rasten mit jaulenden Sirenen hin und her.
Kurz nach halb sechs erreichten sie das Altstadtgebiet. Wie alles andere auch hatte es stark gelitten. Das nagende Gefühl der Unruhe in Viltrys Brust wurde immer stärker. »Ich muss zu den Werften am Danzerplatz«, sagte der Fahrer. »Nützt Ihnen das irgendwas?« »Nein. Äh, setzen Sie mich doch einfach hier ab.« Der Fahrer hielt an einer Straßenecke. »Danke«, sagte Viltry beim Aussteigen. »Keine Ursache. Viel Glück bei der Suche nach Ihrer Einheit. Schießen Sie ein paar von den Schweinen für mich ab.« »Ich werd’s versuchen.« Der Fahrer nickte und fuhr weiter. Viltry setzte seinen Weg zu Fuß fort. In der Manschette seiner ramponierten Fliegerjacke war immer noch der Notkompass eingenäht, also folgte er der Nadel nach Norden. Er brauchte ungefähr dreißig Minuten, um durch die Ruinen der Altstadt zum Hafen zu gelangen. Hier war die Luft frischer und kühler, trotz des erstickenden Rauchs, der die gesamte Stadt einhüllte. Er hörte das sonderbare, doch vertraute Geräusch heranrollender Brecher und das Prasseln von Kieseln. Er roch das Meer. Wie ironisch, dass ein Geruch, der so neu für ihn war und so fremdartig angesichts seiner Herkunft, jetzt so sinnträchtig sein sollte. Er wanderte eine Weile die breite Uferstraße entlang und versuchte sich zu orientieren. Er war sicher, dass er den Kai hätte sehen müssen. Schließlich, fast durch Zufall, ging ihm auf, dass er neben dem vertrauten Torbogen stand. Da war die Schiefertafel, die vor dem Eisentor lehnte. »Erfrischungspalast. Tischbedienung, Meerblick.« Hinter dem Torbogen war nichts, nur ein verbogenes Gewirr aus schwarzem Eisen und verkohltem Holz, das in die heranwogenden Wellen ragte. Die Kais waren verschwunden, zerstört, alle drei. Ich glaube, es gehört schon eine Menge dazu, den Palast anzureißen, hatte Beqa Mayer gesagt. Oskar Viltry spürte, wie seine Beine taub und schwach wurden. Er stützte sich auf das gusseiserne Geländer und schloss die müden Augen. Altstadt von Theda, 06:30
Es hatte einen Plan gegeben. Einen Ausflug zur Hydra-Bar auf der Voldneystraße, die gesamte Umbra-Staffel mit ihren Mechanikern, um Asche zu verabschieden. Blansher hatte eine Nachricht geschickt, Kisten mit Joiliq bestellt und die Hauptbar für eine private Feier reservieren lassen. Doch dann hatten sie um 20:00 Uhr noch einen Einsatzbefehl erhalten und waren in die Nacht gestartet, in das Chaos aus Feuer und Dunkelheit. Bis sie zurückgekehrt, nach der abschließenden Einsatzbesprechung freigestellt worden waren und sich geduscht und umgezogen hatten, war Larice Asche bereits unterwegs, um ihren Meldetermin nicht zu verpassen. Sie hatte eine Nachricht hinterlassen. Gutes Fliegen, Umbra. Wir sehen uns irgendwo da oben. Larice Das Quartier kam ihnen leer vor. Eine düstere Stimmung breitete sich aus, die irgendwie noch schlimmer war, als hätten sie einen Kameraden im Gefecht verloren. »Wir gehen trotzdem«, sagte Blansher. Sie waren um vier Uhr morgens in der Hydra-Bar angekommen, als die Belegschaft eigentlich schon gehofft hatte, schließen zu können, und gaben sich alle Mühe, Feierstimmung aufkommen zu lassen. Aber es war wie eine Totenwache. Blansher sagte ein paar Worte über Asche, und es waren auch keine schlechten Worte, aber von Jagdea hätten sie besser geklungen. Die Umbra-Piloten saßen griesgrämig herum. Die Mechaniker, die immer für kostenlose Getränke zu haben waren, wurden betrunken und laut, blieben aber unter sich. Van Tull und Cordiale gingen nach einer Stunde. Zemmic, der von Larice Asche ebenso rasch fallen gelassen worden war wie Marquall, trank sich einen brutalen Rausch an, bis ihm fürchterlich schlecht wurde. Ranfre hatte Erbarmen mit ihm, fand einen Fahrer mit einem Lastwagen und brachte ihn zum Stützpunkt zurück. Somit blieben noch Marquall, Del Ruth und Blansher. »So hatte ich es mir eigentlich nicht vorgestellt«, sagte Blansher.
Die drei saßen an einem Tisch und spielten mit Schnapsgläsern. Auf der anderen Seite der Bar spielten Racklae und die Mechaniker Trinkspiele und brüllten vor Lachen und guter Laune. Die rotäugige Belegschaft der Bar saß hinter dem Tresen und konnte es kaum erwarten, dass sie endlich nach Hause gingen. »Wir könnten zu ihnen gehen«, schlug Del Ruth vor, indem sie den Kopf in die Richtung der Mechaniker neigte. »Und ihnen den Spaß verderben?«, sagte Blansher. »Piloten brauchen Mechaniker, und Mechaniker brauchen Piloten – zwischen ihnen existiert ein Band, das Liebe gleichkommt. Aber gesellschaftlich? Nein. Andere Welten. Andere Schichten. Wenn wir da rübergehen und versuchen, uns ihnen anzuschließen, sind wir so willkommen wie ein Hundehaufen in einem Fußbad.« Agguila Del Ruth trank gerade, musste schallend lachen und hustete dann so heftig, dass Marquall ihr auf den Rücken klopfen musste. Es war der lustigste Augenblick der ganzen Nacht. »Thron bewahre«, seufzte Blansher, »aber das ist wirklich so ganz anders, als ich es geplant hatte.« »Die Geschichte meines Lebens«, murmelte Marquall und goss noch eine Runde Joiliq für sie ein. »Was wird das jetzt?«, sagte Del Ruth. »Auch noch Selbstquälerei?« Marquall zuckte die Achseln. »Wusstet ihr, dass ich in Hessenville der Beste in meiner Klasse war?« »Waren wir das nicht alle?«, sagte Del Ruth mit hochgezogenen Augenbrauen zu Blansher gewandt. »Nein, ich nicht«, sagte Blansher traurig und griff nach seinem Glas. »Ich war … unten. Der Pilotkadett, der zum wahrscheinlichsten Absturzkandidaten gewählt wurde. Ich habe jede Übung geschmissen. Und nicht nur geschmissen, wohlgemerkt. Mit Pauken und Trompeten geschmissen. Eines Tages hat mein Lehrer mich auf die Seite genommen und ist mit mir auf ein Observationsdeck mit Blick auf die Brühe gegangen. Er hat darauf gezeigt und gesagt: ›Milan, das ist deine Heimatwelt. Reichlich Himmel, sehr wenig Land. Wenn du nicht fliegen kannst, mein Junge, was meinst du wohl, was du stattdessen tun wirst? Für den Imperator schwimmen?‹« Del Ruth verschluckte sich wieder an ihrem Schnaps und fing an zu husten. »Du Arschloch!«, keuchte sie, während sie sich den
Mund mit einer Serviette abtupfte. »Das war jetzt das zweite Mal.« Blansher lächelte. »Ich war der Beste in meiner Klasse«, sagte Marquall. »Beschleunigtes Programm, direkt am Ende des Befreiungskrieges. Ich meine, ich war gut. Ich hab mich danach gesehnt, Kampfeinsätze zu fliegen. Fledermäuse abzuschießen. Aber jetzt, wo ich dabei bin, wo ich kämpfe … da verbock ich’s einfach. Ich treffe nichts. Mein Vogel lässt mich im Stich. Leute werden meinetwegen verwundet.« »Das ist eine Möglichkeit, es zu sehen«, sagte Blansher. »Es gibt noch eine andere?« »Für den Anfang wären da schon mal zwei saubere Abschüsse. Außerdem hast du mir das Leben in der Luft gerettet, und ich kann nicht für andere sprechen. Du hast den Absprung aus einer abgeschossenen Maschine überlebt … das schaffen nicht viele. Und da war dieser heldenhafte Einsatz des Raketentriebwerks, um dir einen Verfolger vom Hals zu schaffen, der dich schon auf der Abschussliste hatte. Allein dieser letzte Punkt ist einer für die Archive, Vander. Ich weiß von keinem, der das auch nur versucht hat, geschweige denn überlebt. Seekan hätte zu dir kommen müssen, nicht zu Larice.« Marquall brachte ein Lächeln zustande. »Danke«, sagte er. »Das ist mein Ernst.« »Du bist ein erstklassiger Mann auf deinem Posten. Genau das, was Jagdea erwartet. Du sagst die richtigen Sachen, um die Moral zu stärken.« »Vielleicht«, sagte Blansher. »Ich glaube einfach, dass alles auch eine gute Seite hat. Man muss sie nur erkennen. Sag selbst, ist das Glas hier halb voll oder halb leer?« »Das sind Schnapsgläser«, sagte Del Ruth kategorisch, während sie ihr eigenes anstarrte. »Die sind entweder voll oder leer. Wenn’s irgendwas anderes ist, hat sich jemand keine richtige Mühe gegeben.« »Darauf trinke ich«, sagte Blansher und griff nach der Flasche. Die drei verließen die Hydra-Bar um zwanzig nach sechs, als es bereits hell wurde. Die Mechaniker zechten immer noch. Blansher führte sie zum nächsten Munitorum-Depot, buchte drei Transpor-
ter mit Fahrer aus dem Fahrzeugpark und kehrte dann zur Bar zurück, um die widerstrebenden Mechaniker abzuholen. Sie fuhren auf die Schnellstraße, die ansonsten verlassen aussah. Die Straße war voller Abfall und zurückgelassener Habseligkeiten. Ein paar verreckte Fahrzeuge standen auf dem Randstreifen. Marquall fuhr hinten auf einem der Transporter mit Racklae und einer Gruppe Mechaniker. »Habt ihr das gehört?«, sagte er plötzlich. Racklae drehte sich um, legte den Kopf schief und versuchte, noch etwas anderes zu hören als den Motorenlärm des Transporters. »Düsentriebwerke. Eine Menge.« »Wieder ein Bombenangriff?«, fragte einer der Männer. »Hört sich nicht wie Bomber an«, sagte Racklae. »Schwerer …« »Ach, du Scheiße … seht mal!«, rief Marquall und zeigte auf den Südhimmel. Riesige Landungsboote mit Mehrfach-Triebwerken glitten über die Vororte im Osten. Viele tausend kleine Punkte lösten sich aus ihnen wie vom Wind verwehte Pollen. Sturmtruppen mit Sprungtornistern. In den Tiefen der vom Krieg zerrissenen Stadt hinter ihnen steigerte sich das Jaulen der Sirenen zu einem Heulen. Die Massen-Invasion hatte begonnen. Theda, LWS Süd, 06:39 Die Blitze der Explosionen kamen so schnell, dass das frühe Tageslicht stroboskopartig flackerte. Ein beständiges knirschendes Zischen von der andauernden Bombardierung lag in der Luft. Wie konnte der Himmel so viele Flugzeuge beherbergen? Darrow lief zur Einsatzzentrale. Bomben fielen auf die Innenstadt, und mehrere Peiniger flogen nach Abwurf ihrer Bombenlast weiter über den Stützpunkt hinweg, um über dem Meer zu wenden. Die Abwehrbatterien des Stützpunkts schleuderten alles in den Himmel, was sie hatten. Leuchtspurgeschosse tanzten in der Luft, und die Flak verwandelte den Himmel in eine brodelnde Masse aus von Flammen erleuchtetem Rauch. Jäger starteten bereits, entweder um zu kämpfen oder um zu fliehen. Darrow hörte sich steigerndes Triebwerksgeheul von mehreren Oneros und anderen Massentransportern. Gestalten rannten hin und her.
»Räumen wir?«, brüllte Darrow einem Flottenoffizier zu. »Alles, sofort!«, rief der Mann zurück, ohne innezuhalten. »Wir evakuieren!« Darrow schaute nach links und sah die Apostel starten. Sie waren für einen Einsatz im Morgengrauen vorgesehen, und jetzt hoben sie ab und rasten steil aufwärts und in nordöstlicher Richtung in den Aufruhr am Himmel. Durch ihre cremefarbene Lackierung sahen sie am feuerbeschienenen Himmel wie Eisklingen aus. Ein Überschallknall krachte wie der Mündungsknall eines Artilleriegeschützes. Eine Höllenklaue raste im Tiefflug über den Stützpunkt hinweg und ließ eine Reihe heftiger Explosionen in ihrem Kielwasser zurück. Zwei Marodeure explodierten auf ihren Decks. Darrow war einer von vielen, die sich beim Überflug der Klaue flach auf den Boden warfen. Der Wind war voller Rauch und Ascheflocken. Das heftige metallische Hämmern einer Hydra in der Nähe übertönte beinahe das Hintergrundgetöse der Explosionen und Triebwerke. Darrow sprang auf und lief wieder los. Noch ein Flugzeug raste vorbei, und er sah, wie rennendes Personal keine zwanzig Meter von ihm entfernt von Geschützfeuer in die Luft geschleudert wurde. Dann gab es ein gewaltiges, vibrierendes Tosen und eine kribbelnde Hitzewelle, als ein beladener Onero abhob und träge Fahrt aufnahm. In Darrows linkem Auge war Blut. Er hatte einen Kratzer in der linken Augenbraue, wahrscheinlich von einem Schrapnell, und Blut verschleierte sein Blickfeld. Er lief immer weiter. Noch ein großer Transporter startete und wirbelte dabei Staub und Dreck auf. Darrow sah Leichen auf dem Boden liegen. Zwei Flottenflieger und drei Mann Bodenpersonal. Das Geschützfeuer, dem sie zum Opfer gefallen waren, hatte den Boden zerfurcht, ihnen die meiste Kleidung vom Leib gefetzt und ihre Körper unmöglich verrenkte Haltungen einnehmen lassen. Darrow schaute weg. Sie waren ein nur schwer erträglicher Anblick. Leute rannten immer noch in alle Richtungen vorbei. Einige waren verwundet und bekamen Hilfe von anderen. Zwei Piloten schwankten vorbei, die einen Mechaniker aufrecht zwischen sich transportierten. Der Mechaniker gab ein seltsames Schluchzen von sich. Sein Gesicht war …
Wieder wandte Darrow den Blick ab. Auf den Standplätzen traf der letzte überfliegende feindliche Bomber einen Tankwagen, und eine riesige gelbe Flammenwand loderte in die Höhe. Auf den nördlichsten Startfeldern wärmten sich Valkyrien auf, deren Heckluken noch geöffnet waren. Personal strömte aus den Gebäuden der Basis zu ihnen. Mehr Flugzeuge starteten, hauptsächlich Donnerkeile. Einer von ihnen wurde von einer wärmesuchenden Rakete getroffen, als er gerade abhob, fing schlagartig Feuer und stürzte bäuchlings in eine Verladebucht, wo mindestens zwanzig Männer vom Bodenpersonal getötet wurden. Darrow zuckte zusammen, als ihn die Hitze der Explosionen traf. Dann sah er Eads. Der Kommodore tastete sich mit seinem Stock zum Eingang der Einsatzzentrale voran. Männer der Flotte liefen an ihm vorbei. Eine Heuschrecke im Tiefflug stanzte eine Reihe von Löchern in die Seite des Gebäudes, sodass Ziegelstaub und Splitter von Ziegeln und Jalousien durch die Luft wirbelten. Darrow legte sich schützend die Arme vors Gesicht und lief zu Eads. »Kommodore!« »Sind Sie das, Darrow?« »Ja, Kommodore. Kommen Sie. Ich bringe Sie zum Evakuierungstransporter.« »Ich müsste in die Zentrale. Dieser Angriff muss richtig …« »Das hat keinen Sinn, Kommodore!«, brüllte Darrow, um den Explosionslärm der fallenden Bomben zu übertönen. »Es ist vorbei! Hier ist alles vorbei! Der Feind ist hier, direkt vor den Toren! Wir ziehen uns jetzt zurück!« Vierzig Meter entfernt explodierte ein Haufen Munition und tötete ein Dutzend Menschen. Die Druckwelle schleuderte Eads und Darrow zu Boden. Darrow rappelte sich auf und mühte sich, Eads aufzuhelfen. »Ich brauche Hilfe!«, rief er den vorbeilaufenden Gestalten zu. Die meisten beachteten ihn gar nicht. Einer rannte vorbei, hielt dann inne und kam zurück. Es war Scalter. Er half Darrow, Eads aufzuheben, und dann eilten sie gemeinsam weiter. Scalter brüllte ihm irgendwas über den Blutpakt zu. »Was?«, rief Darrow.
»Es heißt, der Blutpakt springt in den Vororten ab. Jedenfalls mit Bodentruppen.« »Der Gott-Imperator beschütze uns alle«, sagte Eads. »Verzeihung«, sagte Scalter. »Aber im Moment kommt es mir eher so vor, als hätte er uns vergessen.« Westbezirk Theda, 06:40 Die Sirenen weckten Jagdea. Ihr Zimmer in der Hab-Klinik war kalt und feucht. Das Fenster klapperte. Sie lag einen Moment still und lauschte. Abgesehen vom Heulen der Sirenen draußen herrschte in dem alten Gebäude ein allgemeines Murmeln der Unruhe. Ihr Fenster klapperte wieder. Nein, es war mehr als ein Klappern. Das Glas in dem alten Holzrahmen vibrierte. Sie stand auf und ging nachsehen. Wechselhafter Luftdruck ließ das Glas pulsieren. Jagdea sah die grellen Blitze der Explosionen eines ausgedehnten Flächenbombardements, die den Himmel jenseits der unmittelbaren Stadtsilhouette erleuchteten. Viele hundert Rauchwolken stiegen langsam in den düsteren Morgenhimmel. Im Klinikhof unter ihr flohen Mitglieder des Personals und Patienten in Scharen. Jagdea lief zu ihrem Bett, kniete nieder und holte ihre Kleider und Habseligkeiten aus dem Nachtschränkchen Sie fand ihre Stiefel, ihre Fliegerjacke … In diesem Augenblick landete eine Sprengbombe auf einem Haus gegenüber und ebnete es augenblicklich ein. Die gesamte Klinik erbebte, als ruhe ihr Fundament auf Bettfedern. Das Fenster von Jagdeas Zimmer explodierte förmlich in der Druckwelle, und ein Scherbenregen fegte durch das Zimmer. Sie schrie unwillkürlich auf, als sie von der Erschütterung durchgeschüttelt wurde, aber ihr Bett hatte sie vor der zerstörerischen Wucht der Splitter geschützt. Vom Schock wie gelähmt, blieb sie einen Moment auf dem Boden kauern. Sie konnte Rauch, Fyzelen und Verbranntes riechen. Sie hörte das Bersten von Schutt und Trümmern, das Tosen der Flammen und das Geschrei von draußen. Jagdea verfluchte die Schlinge und die Schmerzen im Arm, als sie die Hose ihres Fliegeranzugs überstreifte und dann die Stiefel
anzog. Sie hatte ein Unterhemd an, also schob sie den gesunden Arm durch einen Jackenärmel und legte die Jacke nur über den in der Schlinge. Dann ging sie nach draußen auf den Flur. Rauch quoll durch die gesplitterten Scheiben auf der Hofseite in das Gebäude. Sie lief in die andere Richtung. In der Eingangshalle passierte sie mehrere Patienten und Angehörige des Klinik-Personals, die von umherfliegenden Glassplittern verletzt worden waren. Die meisten lebten noch und riefen um Hilfe, da sie selbst hilflos waren. Sie konnte nichts tun. Alle unverletzten Krankenhausmitarbeiter rannten einfach nur zu den Ausgängen. Jagdea fand die Treppe und verließ das Krankenhaus dann auf der der Explosion abgewandten Seite. Draußen fand sie sich in einer Seitenstraße wieder. Ein paar Leute liefen an ihr vorbei. Ein Blick in die Höhe zeigte ihr Ketten feindlicher Bomber, die über den Himmel krochen. Sie lief durch die Seitenstraße und blieb dann an der Ecke stehen, wo sie auf die Hauptstraße stieß. Mehrere Geschäfte brannten, und die Straße war voller Trümmer und Schutt. Leute rannten vorbei, manche weinten und heulten in blinder Panik. Ein Laster fuhr vorbei, dann ein Wagen. Sie versuchte sie anzuhalten, aber sie ignorierten sie. Tatsächlich hätte der Wagen sie beinahe überfahren, so entschlossen war der Fahrer, nicht anzuhalten. Jagdea stieß einen frustrierten Schrei aus. Sie hatte die Orientierung verloren und wusste nicht einmal, in welcher Richtung ihre Basis lag. Mit Sicherheit wusste sie nur, dass sie zu Fuß außer Reichweite war. Aber sie schien keine große Wahl zu haben. Theda, LWS Süd, 06:59 Darrow und Scalter schafften Eads zu den Startfeldern im Norden. Einige der Valkyrien hatten bereits abgehoben, voll beladen, wahrscheinlich überladen. Eine war vor dem Start getroffen worden und brannte heftig auf dem Startfeld. Hektisches Personal umschwärmte Rampen und Nebenluken der anderen. Die Bordschützen an den Luken versuchten das Einsteigen zu organisieren, aber die Panik war so groß, dass Kämpfe ausbrachen.
Darrow schaute sich um. Er verspürte selbst einen Knoten der Panik in den Eingeweiden. »Um Throns willen«, sagte er im vollen Bewusstsein des Zitterns in seiner Stimme, an dem er nichts ändern konnte. »Es wird nicht genug Platz geben.« »Wir versuchen es da«, sagte Scalter, der seine Nerven entschlossen im Zaum hielt. Am äußersten Nordrand des Feldes, praktisch direkt am Zaun des Stützpunkts, standen drei uralte Großraumtransporter und wärmten die Triebwerke auf. Die Maschinen standen ziemlich weit von ihnen entfernt, aber es hatte den Anschein, als wollten die meisten der zu evakuierenden einen Platz in einer der schnelleren und besser gepanzerten Valkyrien. Das Trio machte sich auf den Weg über die Landefelder zu den Transportern. Andere Personen, die nicht an Bord der Valkyrien gelangen konnten oder nicht bereit waren, sich auf die dort ausbrechenden Kämpfe einzulassen, lösten sich von den streitenden Gruppen rings um die Valkyrien und rannten in dieselbe Richtung. Immer noch in Bewegung, sah Darrow sich rasch um, als hinter ihm Schüsse ertönten. Jemand war durchgedreht, hatte eine Handwaffe gezogen und versuchte sich den Weg in eine Valkyrie freizuschießen. Als Reaktion darauf schlug die Besatzung die Luken zu, und der Transporter hob ab und versprengte die Menge, die versucht hatte, an Bord zu gelangen. Ihrer Fluchtmöglichkeit beraubt, wandte sich die Meute gegen den Mann, der geschossen hatte. Die Valkyrie flog über sie hinweg und kam dann zu Darrows Erstaunen zurück, um direkt vor ihnen zu landen. Die Bordschützen öffneten die Rampe wieder und winkten ihnen zu. Die Besatzung der Maschine hatte sich ganz offenbar nicht mit dem Gedanken anfreunden können, Theda halb leer zu verlassen, wenn sie noch mehr Leben retten konnten. Darrow und Scalter rannten mit Eads die Rampe im Heck empor und den Bordschützen entgegen. »Rein mit euch! Sucht euch einen Platz und etwas zum Festhalten!« In der Kabine war es dunkel, ein heißer Metallkasten. Während sie Eads auf einen Klappsitz verfrachteten, holte die Besatzung an der Rampe noch mehr Nachzügler an Bord. Ein Summton erklang. Die Rampe schloss sich wieder, und der Motorenlärm steigerte sich zu einem Kreischen.
Mit einem Ruck hoben sie ab, die Nase nach unten gerichtet, und schraubten sich in die Höhe, während sie beschleunigten. Theda, LWS Süd, 07:02 Bevor die Laster anhielten, waren die letzten drei Umbra-Piloten bereits abgesprungen und rannten zu ihren Flugdecks. Die Mechaniker folgten ihnen. »Ich brauche nur fünf Mann!«, überschrie Racklae den Lärm des Bombardements. »Die anderen … bringt euch in Sicherheit. Da drüben sind Evakuierungstransporter!« Racklae machte kehrt und lief mit den fünf Männern weiter, die sich freiwillig gemeldet hatten. Die anderen rannten zu den letzten beiden Oneros, die unweit der Haupthangars beladen wurden. Die Lastwagenfahrer rannten mit ihnen. Der ganze Stützpunkt schien in Flammen zu stehen. Überall waren Leichen und Granatlöcher, umgestürzte Fahrzeuge und verbeulte Munitionskarren. Einige Decks brannten, auf manchen auch die Wracks von Flugzeugen, die den Start nicht mehr geschafft hatten. Zwei Blitzstrahlen starteten und rasten nach Norden davon. Marquall rechnete damit, Doppeladler zerstört vorzufinden. Doch der Donnerkeil war ebenso intakt wie Blanchers Vogel. Del Ruths war jedoch von Geschützen getroffen worden. Triebwerke und Kanzel waren nur noch verbogene Metallfetzen. Alle anderen Umbra-Maschinen waren weg. Cordiale, Ranfre, Zemmic und Van Tull mussten es nach draußen geschafft haben. Zumindest in die Luft. Drei Klingen jagten mit heulenden Triebwerken im Tiefflug über sie hinweg. Im Westteil des Stützpunkts ließen Peiniger Bomben auf die Werkstätten herabregnen. Racklae schickte seine Männer los, um Marqualls Flugzeug startklar zu machen, und weitere zwei, um dasselbe für Blanshers Vogel zu tun. »Nur das Nötigste, dann bringt sie in die Luft und rennt zu den Transportern!«, mahnte er. Mit Del Ruth und dem letzten Mechaniker rannte Racklae zur nächsten Reihe der Decks. Das Donnerkeil-Geschwader in diesem Bereich, die 76. Feuerdrachen, waren bereits weg, aber sie hatten zwei ihrer senfgelben Keile zurückgelassen. Leichen auf dem Boden in der Nähe ließen wenig Zweifel daran, dass die beiden Pilo-
ten zusammen mit Angehörigen ihres Bodenpersonals auf dem Weg zu ihren Maschinen niedergemäht worden waren. Einer der beiden Donnerkeile wies Schäden an Heck und Höhenruder auf, aber der andere schien in Ordnung zu sein. Racklae machte sich an die Arbeit, um Del Ruth in die Luft zu bekommen. Marquall schwang sich in seine eigene Kanzel und schaltete mit einer Hand die primären Systeme ein, während seine andere mit dem Gurtgeschirr rang. Einer der Mechaniker rollte den Karren mit dem Anlasser heran, während der andere Treibstoff- und Datenleitungen entfernte und dann auf den Tragflächenansatz sprang, um Marquall dessen Helm zu reichen. Der Anlasser sprang an und orgelte, und eine Sekunde später drehten sich Neun-Neuns gewaltige Turbinen. Marquall lehnte sich nach draußen. »Macht den Anlasser los und verschwindet!«, rief er den Mechanikern über den zunehmenden Triebswerkslärm hinweg zu. »Lauft einfach!« Sie tauchten hinter die Schutzwand. Marquall schloss das Kanzeldach, setzte seine Maske auf und ging noch einmal die wichtigsten Funktionen durch. Druck, Kühlmittel, Treibstoff, Elektronik, Luftmischung, Munition. Alles grün. Die Mechaniker tauchten wieder auf und zeigten ihm erhobene Daumen. Er antwortete mit einem Kreis aus Daumen und Zeigefinger, und die beiden Männer wandten sich ab und liefen los. Marquall sah sie noch einmal, als sie den Asphalt überquerten und zu den schweren Transportern rannten. Mit senkrechten Schubdüsen gab Marquall vorsichtig Schub und ließ Doppeladler behutsam abheben. »Zwo, hier Acht. Bin in der Luft.« »Verstanden, Acht. Verschwinde einfach.« Unter den gegenwärtigen Umständen brauchte sich kein Pilot Sorgen wegen mangelndem Auftrieb zu machen. Noch immer tief, schwang er die Nase herum und schaltete die Nachbrenner ein, nachdem er die Triebwerke herumgeschwenkt hatte. Marqualls Donnerkeil raste in Dachhöhe über den brennenden Stützpunkt weg und nahm Geschwindigkeit auf. Er sah Fledermäuse hinter sich, ignorierte sie aber. Keine ZielerfassungsWarnungen. Er legte sich in eine lang gezogene Kurve nach Norden und passierte dreißig Sekunden später die Küstenbefestigungen und den
langen weißen Saum des Strandes. Er hatte jetzt das Meer unter sich. »Zwo? Hier Acht. Alles klar?« »Bestätigt, Acht. Bin auf deiner Fünf. Warte nicht auf mich, sondern gib Vollschub nach Osten.« Tausend Meter tiefer beobachtete Blansher, wie Marqualls Donnerkeil nach Osten jagte. Er wartete, dann kehrte er in einer entschlossenen Kurve zu dem Stützpunkt zurück, den er soeben verlassen hatte. »Vier? Wo bist du? Aggie, kommst du hoch?« Aus dieser Höhe war das ganze Ausmaß der Zerstörung endlich offensichtlich. Blansher konnte den zerstörten Flugplatz durch die Decke aus schwarzem Rauch und jäh aufflackernden weißen und gelben Flammen nur halb sehen. Dahinter war Theda in eine riesige Rauchwolke gehüllt. Im Süden wimmelte es von Formationen feindlicher Flugzeuge, Punkte, die das Sonnenlicht einfingen und vor den dunklen Wolken glitzerten. »Aggie? Wo bist du?« Er flog noch einmal über den Stützpunkt. Tief unter sich sah er zwei fette Oneros aus dem wallenden Rauch herauspflügen und in einer engen Kurve nach Osten abschwenken. Dann startete ein kleineres Transportflugzeug, aber es schien Probleme zu haben. Sein Blut gefror, als er zwei Heuschrecken diagonal darüber hinwegrasen und es in einen Feuerball verwandeln sah. »Zwo? Zwo, kannst du mich hören? Hier ist Vier.« »Nur zu, ich höre dich.« »Ich komme jetzt hoch.« Blansher wendete noch einmal und sah das winzige Kreuz von Del Ruths gelbem Donnerkeil, als dieser aus dem Qualm schoss. Er gewann schnell an Höhe. Instinktiv rollte Blansher seine Maschine nach unten, um sich hinter sie zu setzen, während sie stieg. Eine Höllenklaue, die gerade ihre Bombenlast auf das Hauptgebäude des Stützpunkts abgeworfen hatte, kam aus dem Rauchvorhang und sah das Aufflammen der Nachbrenner vor sich. Sofort klemmte sie sich hinter den aufsteigenden Donnerkeil und nahm den Schwung ihres Hochziehens nach erfolgtem Bombenabwurf mit in einen Angriff.
Sie war fünfhundert Meter tiefer als Blansher und etwa genauso weit entfernt. Blansher gab Schub, sodass er in seinen Sitz gepresst wurde, und schoss nach unten, während er seine Zielerfassung einschaltete. Er wählte die Autokanonen. Er wollte nicht riskieren, mit Laserstrahlen Del Ruth zu treffen, falls er die Klaue verfehlte. Alle Donnerkeile hatten ihr ganz eigenes Temperament und flogen sich anders. Del Ruth machte sich noch mit dem individuellen Charakter ihrer neuen Maschine vertraut und flog daher ein wenig instabil. Das rettete ihr das Leben. Die ersten Salven der Klaue, die aus Blanshers Position wie die Funken einer angeschlagenen Zunderbüchse aussahen, gingen daneben. Blansher stieß herab, korrigierte mit leichtem Seitenschub und bekam das grüne Licht von der Zielerfassung, auf das er gehofft hatte. Sein Daumen drückte zu. Ein Rauchkegel spritzte aus der Nase seines Vogels, als die Autokanonen feuerten. Ein jäher Regen aus Trümmerstücken platzte von der Höllenklaue ab. Blansher hielt seine Schüsse auf die Mitte gerichtet. Feuer loderte aus der feindlichen Maschine, dann brach sie in zwei große, beinahe mittig geteilte Trümmerstücke auseinander, die sofort aus der Luft fielen. »Du hast den Rücken frei, Vier. Setz dich ab«, sendete er. »Du hättest meinetwegen nicht zurückkommen dürfen, Mil«, kam ihre Antwort. »Du müsstest längst weg sein.« Stimmt nicht, dachte er. Stimmt ganz und gar nicht. Als amtierender Staffelführer war es seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass allen seinen Piloten die Flucht gelang, auch wenn er dadurch das eigene Leben gefährdete. Und die eigentliche Tragödie bestand darin, dass die UmbraStaffel einen Piloten zurückgelassen hatte und keiner von ihnen daran etwas ändern konnte. Westbezirk Theda, 07:26 Jagdea lief eine Straße zwischen Hab-Silos entlang und schrie jedes Fahrzeug an, das vorbeirumpelte. Keines hielt an. Auf den
Straßen waren Leute, und es herrschte eine widerliche Atmosphäre, die mit dem Wort »Panik« nicht mehr angemessen zu beschreiben war. Alle paar Sekunden blitzte oder donnerte es im Osten, und mehrmals erbebte der Boden. Einer besonders heftigen Explosion im Süden folgte ein Stromausfall, der jedoch nur aus dem Verstummen der Luftschutzsirenen hervorging. In der anschließenden seltsamen Stille war nur noch das entfernte Krachen, das Pfeifen und Explodieren von Granatmunition und das Dröhnen von Flugzeugtriebwerken zu hören. Ein- oder zweimal glaubte Jagdea das entfernte Knattern von Handfeuerwaffen zu hören. Sie tat es als Produkt ihrer Einbildung ab. Ihre Wunde pochte; Sie hatte keine Medikamente mitgenommen und sich ein halbes Dutzend Mal versehentlich die Schlinge abgestreift, als sie beim Überflug von Bombern in Deckung gespurtet war. Erschöpfung überkam sie sehr plötzlich. Erschöpfung und ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Sie setzte sich auf einen Randstein und spürte, wie ihr Tränen über die Wange liefen. Wie schwach war das denn? Wie verdammt schwach war das? Ein Lastwagen fuhr vorbei. Sie schaute nicht einmal hoch. Bremsen quietschten. Jagdea hob den Kopf. Ein mit Kisten beladener MunitorumTransporter hatte zwanzig Meter weiter angehalten, und der Fahrer stieg aus. Jagdea erhob sich. Sie kannte den Mann, es war der Fahrer mit dem Brandnarbengesicht. Wie hieß er noch? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Sie fragte sich, ob er ihr seinen Namen genannt hatte. Sie fragte sich, ob sie sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, danach zu fragen. »Geschwaderführer Jagdea? Sind Sie das?« Sie nickte. Er eilte zu ihr. »Ich habe ihre Fliegerjacke gesehen. GottImperator, ist alles in Ordnung mit Ihnen?« »Nein«, sagte sie. »Brauchen Sie eine Mitfahrgelegenheit?« »Natürlich brauche ich eine.« Er half ihr zum Führerhaus und stützte sie beim Einsteigen. Dann lief er zur Fahrerseite und klemmte sich hinter das Steuer. »Was machen Sie hier?«, fragte er, als er den Laster wieder in Bewegung setzte.
»Ich war in einer Hab-Klinik. Ich wurde im Einsatz verwundet. Ich habe gehört, wie der Angriff kam, und … bin losmarschiert.« »Was? Zum Stützpunkt Süd?« Sie fuhr sich über das Gesicht. »Ich wusste gar nicht richtig, in welche Richtung ich gehen sollte. Ich habe nur … versucht zu meiner Einheit zu kommen.« »Natürlich. Nicht schon wieder einen NZDE«, sagte er. Sie zögerte. »Ich habe Ihnen nie für Ihre Hilfe in dieser Nacht gedankt.« »Welche Hilfe? Ich hatte gar kein Recht, so mit dem Jungen zu reden. Sie hatten allen Grund, wütend auf mich zu sein. Abgesehen davon, was habe ich schon getan? Ich habe Sie etwas durch die Gegend gefahren. Zu mehr bin ich dieser Tage nicht mehr nütze. Das Munitorum gibt mir Anweisungen, und ich führe sie aus und fahre herum.« »Selbst jetzt noch? Mitten in alledem?« »Selbst jetzt noch. Ich bin ein Diener des Throns, Geschwaderführer. Ich tue, was man mir sagt. Mein Senior hat mich zum Administorum von Kozkoh geschickt, und zwar mit dem Befehl, einen Schwung Munitorum-Akten zu holen, von denen irgendwo irgendjemand nicht will, dass sie in feindliche Hände fallen.« Jagdea schüttelte den Kopf. »Akten? Nicht Menschen? In diesem Laster könnten Sie ein paar Dutzend Menschen in Sicherheit bringen.« »Der Gedanke ist mir auch gekommen, Geschwaderführer. Das Munitorum hat seltsame Prioritäten, vor allem in solchen Zeiten.« Sie drehte den Kopf und sah ihn an. Er konzentrierte sich auf die Straße voraus. Ihr kam der Gedanke, dass er wahrscheinlich ein gut aussehender Mann gewesen war, bis die Hälfte seines Gesichts geschmolzen war. »Ich weiß nicht mal, wie Sie heißen«, sagte sie. »Kaminsky«, erwiderte er. »August Kaminsky, Munitorum, Transit-Abteilung, Fahrzeug 167.« »Davor haben Sie zur Luftwaffe gehört?« »Ich war Kampfpilot bei der Luftwaffe des Commonwealth. Wolfswelpen und so. Sechzehn Jahre. Aber das ist längst Vergangenheit.« »Hören Sie, Kaminsky«, begann sie. »Können Sie mich zum Flugplatz bringen? Ich weiß, Sie haben Ihre Befehle, aber ich muss wirklich wieder zu meiner Einheit.«
Er zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Wirklich, ich weiß es nicht. Von hier aus ist es ein langer Weg, vor allem unter den gegebenen Umständen.« »Dann muss ich zumindest aus der Stadt raus. Ist irgendwo ein Evakuierungszentrum in der Nähe?« »Man hat mir auf getragen, mich in einem zu melden, und zwar in Mandora am Nordufer. Dahin sollen diese verdammten Akten geliefert werden, und da müsste es auch Massenbarken geben, vielleicht sogar Hubschrauber. Reicht das?« »Ja, das reicht. Ich muss nur hier weg. Hier weg, wieder zu meiner Einheit und meiner Maschine und dann wieder neu ins Spiel.« Er lächelte. »Was?«, fragte sie. »Das denke ich schon seit Monaten«, sagte er. Sie fuhren eine Viertelstunde weiter, ohne sich zu unterhalten. Kaminsky fuhr schnell, beinahe tollkühn durch die aufgerissenen Straßen. Jagdea zuckte mehrfach zusammen, als er durch Rauchwolken auf der Straße raste, ohne zu wissen, was sich darin oder dahinter verbarg. Zweimal musste Kaminsky eine Vollbremsung machen, um Trümmern und Schutthaufen auszuweichen. »Theda ist erledigt«, sagte er schließlich. »Ja, ich fürchte, das ist wohl so.« »Ich nehme an, das sind die letzten Tage.« »Es besteht immer noch Hoffnung«, sagte sie. Er lachte, während er hart am Steuer arbeitete. »Das glaube ich nicht. Jetzt nicht mehr.« »Würde sich einer meiner Piloten so äußern, würde ich ihn vors Kriegsgericht bringen. Es gibt immer Hoffnung. Solange wir atmen, gibt es durch die Gnade des Imperators immer noch Hoffnung.« »Dann schätze ich mich glücklich, kein Pilot Ihrer Staffel zu sein, Mamzel. Enothis ist meine Heimatwelt, und ich habe alles gegeben, was ich hatte, um sie zu beschützen. Es kommt immer die Zeit, da man pragmatisch sein muss.« »Ich habe auch für meine Heimatwelt gekämpft. Jetzt bin ich hier und kämpfe für Ihre. Also erzählen Sie mir nichts von Mühen. Erzählen Sie mir nichts von Beiträgen. Und Pragmatismus ist manchmal nur ein anderes Wort für Schwäche.« »Tja, Sie mich auch, Mamzel …«
»Kaminsky! Passen Sie auf!« Sie hatten soeben eine weitere Rauchschwade durchquert. Auf dem jäh sichtbar werdenden Straßenabschnitt vor ihnen wandte sich ihnen eine Gruppe von Gestalten in dunkelroter Uniform zu. Jagdea sah eiserne Gesichtsmasken, Rundhelme, Lasergewehre. »Blutpakt!«, entfuhr es ihr. »Drehen Sie um! Drehen Sie um!« Kaminsky kurbelte bereits am Lenkrad. Er fluchte laut und gab sich alle Mühe, das Schleudern des Lasters in den Griff zu bekommen. Der Laster kam herum und ließ dabei viel Gummi von seinen dicken Reifen auf dem Asphalt. Er kam kurz vor den Soldaten des Erzfeindes und mit dem Heck zu ihnen zum Stillstand. Und soff ab. »Kaminsky! Kaminsky!«, rief Jagdea. »Hören Sie auf, mich anzuschreien!«, rief er zurück und drückte auf den Anlasser. Die Blutpakt-Soldaten schossen auf sie und rannten vorwärts. Laserstrahlen fuhren in die Seite des Lasters, und ein Schuss streifte das Türfenster. »Kaminsky! Um Throns willen!« »Würden Sie wohl endlich den Mund halten?« Ein Laserschuss zuckte vor ihrer Nase durch das Führerhaus und zerschmetterte Kaminskys Seitenfenster. Der Motor des Lasters sprang wieder an. Der Transporter ruckte so heftig vorwärts, dass Jagdea in den Sitz geschleudert wurde. Ihr linker Arm schlug gegen den Türpfosten, und sie schrie vor Schmerzen. Kaminsky trat das Gaspedal durch und riss das Steuer nach links. Der große Laster rammte das ausgebrannte Wrack eines Personenwagens von der Seite und fegte es aus dem Weg. Dann waren die Blutpakt-Soldaten hinter ihnen, und sie schossen mit sechzig durch eine Seitenstraße. »Sind Sie getroffen worden?«, fragte er. »Nein.« »Sie haben geschrien.« »Ich bin nicht getroffen worden.« »Es tut mir leid, dass ich Sie angebrüllt habe.« »Das macht nichts.« »Sieht so aus, als kämen wir auf dem Weg nicht weiter«, sagte Kaminsky.
Altstadt von Theda, 07:43 Überall entlang des Kanals hatten die jüngsten Bombardierungen die alten Gebäude und Häuser eingeebnet, sogar die alte Kazergatbrücke. Doch der Templum war wunderbarerweise unbeschädigt. Im Rauch und Ziegelstaub hustend, eilte Viltry am Kanalufer entlang zur Kirchentür. Dort blieb er stehen und schaute zum Abbild des GottImperators hoch. »Erinnerst du dich noch an mich?«, fragte er. Viltry öffnete die Tür. Es war nahezu bestürzend ruhig darin. Die Luft war klar, obwohl er den Gestank der Brandbomben noch immer in der Nase hatte. Der Templum war leer. Die Bankreihen, die Alabastersäulen, der schwache Geruch nach Kampfer und Weihrauch. Er schritt durch den Mittelgang, und seine Stiefel hallten auf dem Mosaikboden. Heilige und Dämonen strichen unter seinen Absätzen vorbei. Die Ministorum-Priester waren längst geflohen. Er blieb vor dem Schrein mit den Opferkerzen stehen. Drei Kerzen brannten dort. Nur drei. »Gott-Imperator …«, seufzte er. »Oskar?« Oskar Viltry drehte sich langsam um. Sie hatte am Ende einer Bankreihe gesessen, hinter einer Säule verborgen. Er hatte sie nicht gesehen. Sie zitterte in ihrem dünnen Mantel. Er machte einen Schritt auf sie zu und hätte fast gelacht vor sonderbarem Entzücken. »Was machst du hier?«, flüsterte er. »Wohin hätte ich sonst gehen sollen?«, sagte Beqa Mayer. »Wo sonst hättest du mich suchen können?« Nördliches Theda, 08:12 Sie verließen die sterbende Stadt und erreichten etwas höher gelegenes Gelände an der Küste, wo die Habs seltener wurden und weiter auseinanderstanden. Jagdea konnte das Meer hinter der Landzunge sehen. »Kaminsky? Wohin fahren wir?«, fragte sie.
»Nicht zum Stützpunkt, das ist klar. Auch nicht zum Evakuierungszentrum. Die Schweine haben alles abgeriegelt. Ich folge einer Eingebung.« »Was für einer Eingebung?« »Der Art Eingebung, die einen wirklich enttäuscht, wenn sie sich als falsch erweist.« »Kaminsky?« »Ich glaube, es kommt immer ein Punkt«, sagte Kaminsky, »wenn Pragmatismus und die Vorstellung, dass es immer noch eine Hoffnung gibt, ein und dasselbe sind.« Sie fuhren unter einer Straßenbrücke durch und dann zwischen Reihen von Fischverwertungsanlagen einen steilen Hügel hinunter. Kaminsky bog plötzlich nach rechts ab und fuhr den Lastwagen über eine Zufahrt auf einen Hof hinter den Fabriken. Vor ihnen stand eine Reihe von Schuppen aus Flakbrettern direkt an den Klippen des Ufers. Die Schuppen waren grün gestrichen. Der nächste hatte ein großes Rolltor in der Seite. Es war verschlossen und verriegelt. »Steigen Sie aus, Geschwaderführer«, sagte er. Sie sah ihn an. »Das ist mein Ernst. Steigen Sie aus.« Jagdea stieg aus dem Führerhaus und schlug die Tür hinter sich zu. Kaminsky setzte zurück und fuhr den Laster dann gegen das Rolltor. Jagdea zuckte beim Anprall zusammen. Unter Verlust der vorderen Stoßstange setzte der Laster wieder zurück und wiederholte den Vorgang. »Um Throns willen, Kaminsky!«, rief Jagdea. Ein dritter Rammversuch, und das Rolltor riss an den Seiten ab und wurde teilweise aus dem Flakbrettrahmen gesprengt. Kaminsky stieg aus dem verbeulten Laster. »Kommen Sie«, sagte er. Jagdea eilte zu ihm, und sie duckten sich unter das verbeulte Metall des Rolltors durch. Sie fand sich in einer feuchten, hallenden Kammer wieder. Es roch nach verfaulten Holzplanken und Salzwasser. »Was in aller Welt ist das hier?«, fragte sie. »Seien Sie still und folgen Sie mir«, sagte er.
Sie schlichen durch die Düsternis, Kaminsky voran. Jagdea sah Mechaniker-Wagen, kompakte Tanker und Regale voller Werkzeug. Der Geruch nach Prometheumgel lag in der Luft. Kaminsky öffnete eine weitere Luke, und Tageslicht fiel hindurch. »Hier entlang«, sagte er. Sie folgte ihm durch die Luke auf einen metallenen Laufsteg. Sie hatten einen tiefen Hangar aus Flakbrettern betreten. Die Einmündung der Bucht war offen, und der Boden reichte bis zum Klippenrand. Fahles Licht fiel durch die Öffnung. Jagdea hörte die Brecher weit entfernt und tief unter ihnen. Direkt unter ihnen im Schatten standen zwei Zyklone auf Dampfkatapultrampen. »Küstenverteidigung«, sagte Kaminsky, während er die metallene Sprossenleiter vor ihr hinunterkletterte. »Sie waren seit Monaten nicht mehr im Einsatz, aber ich hatte gehofft, dass sie zumindest noch da sein würden.« »Du lieber Gott-Imperator«, sagte Jagdea, während sie ihm nach unten folgte. Kaminsky lief zur nächsten Maschine, öffnete die Kanzeltür und beugte sich hinein. »Die Elektrik ist da, aber wir brauchen Treibstoff. Und einen Anlasserkarren.« Jagdea tauchte hinter ihm auf. »Und was dann? Fliegen wir mit einer der Maschinen raus?« Er sah sie an. »Genau.« »Wir können nicht …«, begann Jagdea. »Natürlich können wir. Sie finden sich schon zurecht. Schlicht und einfach, mehr ist ein Zyklon nicht.« Kaminsky lief an der Maschine entlang und öffnete die Tankverschlüsse. Er schnappte sich einen Tankschlauch von einem Tanker in der Nähe und schloss ihn wegen seiner Handprothese mit einigen Problemen an. »Die kann ich nicht fliegen«, sagte Jagdea. Kaminsky setzte den Pumpenmotor des Tankers in Gang. Der Schlauch wackelte hin und her und spannte sich, als die verdichtete Flüssigkeit durchfloss. »Ich weiß, dass Sie keine Erfahrung mit Propellermaschinen haben, aber der Zyklon ist wirklich leicht zu fliegen, das verspreche ich Ihnen«, sagte er und eilte zu den Kontrollen für die Startrampen hinten im Hangar. Kaminsky legte ein paar Schalter um und wurde mit dem Anspringen eines Generators belohnt. Dann zog
er an einem Hebel, der die Dampfmaschinen des Startkatapults in Gang setzte, um Dampfdruck aufzubauen. »Nein, Kaminsky«, sagte Jagdea. Sie hielt den Arm in der Schlinge hoch. »Auch für so ein Flugzeug braucht man zwei Hände. Schub und Knüppel. Wissen Sie noch, Flieger? Auch mit dem besten Willen im Kosmos kann ich sie nicht fliegen.« Kaminsky hielt inne. »Wohl nicht«, räumte er ein. Er wirkte ernüchtert. »Aber Sie könnten«, sagte sie. »Ich? Ich bin als nicht flugtauglich eingestuft.« »Im Moment, so tief in der Scheiße, glaube ich kaum, dass das noch von Bedeutung ist. Seien wir pragmatisch, ja? Ich bin ein Geschwaderführer und erkläre Sie hiermit für flugtauglich. Ich habe die Befugnis.« »Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte er unsicher. »Alles«, versprach sie. »Behalten Sie die Treibstoffanzeige im Auge.« Jagdea schaute in die Kanzel. Die Anzeige hatte sich kaum bewegt. »Das geht langsam«, rief sie. »Wie lange?« »Vielleicht fünfzehn Minuten. Die Pumpen sind nicht sonderlich leistungsfähig.« Jagdea tat, was alle Piloten seit den Anfängen der Luftfahrt getan haben. Sie beugte sich vor und schnippte mit den Fingern ihrer gesunden Hand gegen das Glas des Instruments. Und wie bei allen Piloten seit Beginn der Luftfahrt machte es keinen Unterschied. Der Dampfdruck stieg. Gemeinsam lösten Jagdea und Kaminsky die Stützkabel und Haltetaue, mit denen der Zyklon gesichert war. »Können Sie einen Kanzeltest machen?«, fragte Kaminsky. »Sie kennen sich besser mit den Armaturen aus.« »Ja, aber ich muss etwas anderes tun.« »Was?« »Die Akten. Ich sollte sie wohl verbrennen. Nicht einfach nur hier lassen.« »Das mache ich«, sagte Jagdea. »Kümmern Sie sich um die Vorbereitungen.« »Sind Sie sicher?« »Ja. Wie lange haben wir noch?«
Kaminsky schaute auf sein Chronometer und dann auf die Treibstoffanzeige. »Zehn Minuten.« »Ich schaffe es in fünf«, versprach sie und lief zur Treppe. Kaminsky schaute nach den Kontrollen für das Startkatapult. Sie hatten den vollen Druck erreicht. Er sperrte sie und betätigte den Hebel, der die Kontrolle für das Katapult ins Flugzeug legte. Dann ging er zum Tanker. Die Pumpe schien zu stocken. »Komm schon!« Es war keine Zeit, eine andere zu suchen und darauf umzuschalten. Er stieg in die winzige Kanzel. Er hatte ein paar hundert Stunden in Zyklonen hinter sich. Alles wirkte seltsam vertraut. Er prüfte die Elektrik, den Glykolstand und die Hebel für die Motorkühlung. Dann sah er nach der Trimm und lehnte sich aus der Kanzel, um nach hinten zu schauen, während er das Ruder betätigte und sah, wie Höhen- und Seitenruder draußen gehorsam reagierten. »Mach schon, Jagdea«, zischte er. Er schaute auf die Treibstoffanzeige. Der Stand war immer noch sehr niedrig. »Und mach schon, Pumpe«, fügte er hinzu. Im oberen Teil des Schuppens versuchte Jagdea, sich zurechtzufinden. Sie füllte einen großen Kanister mit flüssigem Prometheum aus einem der Tankwägelchen, was mit einer Hand schwierig war. Nur unter dem eingedrückten Rolltor fiel ein wenig Licht durch. Mit dem schweren Kanister in der rechten Hand duckte sie sich unter das Tor nach draußen. Ein paar Papiere aus der Ladung des Lasters flatterten frei im Wind. Jagdea stellte den Kanister mit der schwappenden Flüssigkeit auf die Ladeklappe und hievte sich dann hinterher. Sie goss das Prometheum auf die Kisten mit den Akten. Es war eine ziemliche Plackerei. Sie kam sich albern und schwach vor, da sie den Kanister andauernd abstellen musste, um Atem zu schöpfen. Sie hörte ein seltsames Scheppern. Sie setzte ihre Arbeit fort und tränkte alle Kisten. Dann sprang sie ab und unterdrückte einen Aufschrei, als der Ruck der Landung durch ihren verwundeten Arm zuckte. Sie ging zum Führerhaus und goss den Rest des Kanisterinhalts hinein. Wieder das Geräusch. Weniger ein Scheppern als vielmehr ein Hämmern. Wie von stählernen Kolben.
Sie warf einen Blick auf ihr Chronometer. Sie war bereits fünf Minuten draußen. Dann war da noch die Frage des Anzündens. Jagdea verfluchte sich dafür, die Angelegenheit nicht richtig durchdacht zu haben. Sie eilte wieder in den Schuppen und suchte in der Düsternis. Werkzeugkisten fielen um. Schubladen wurden durchsucht. Es musste doch etwas da sein. Irgendwas. Nichts. Keuchend trat sie zurück. An der Flakbrettwand hing eine Leuchtpistole an einem Haken in einem Glaskasten. Sie hob einen Zehn-Millimeter-Schraubenschlüssel und schlug den Kasten an der Wand ein. Die Leuchtpistole war glatt und alt und hatte zu rosten angefangen. Sie klappte den Lauf herunter und suchte nach einer Patrone. Wieder dieses Geräusch. Schepper, schepper. Lauter. Sie legte die Leuchtpatrone ein, schloss die Waffe, ging wieder nach draußen, zielte damit auf Kaminskys Laster und … Zögerte. Jagdea trat mehrere lange Schritte zurück und zielte wieder. Sie schoss. Die Leuchtkugel raste los, weißglühend, traf die Seite des Transporters und prallte als Querschläger ab und hoch in die Luft, um dort Bänder aus grün leuchtendem Feuer abzusondern. »Scheiße!«, rief sie und lief zurück in die Schuppen, um eine andere Patrone zu suchen. Das Scheppern wurde viel lauter. Sie fand noch eine Patrone und schob sich obendrein noch eine zur Reserve in den Gürtel. Sie lud die Pistole und lief wieder nach draußen. Der Lichtschein der ersten Leuchtkugel verblasste langsam. Sie hob die Pistole wieder. Rechts von ihr in der Einfahrt zum Hof tauchte ein Schleichpanzer auf. Er war grellrot lackiert. Auf seinen langen Metallgliedern galoppierte er die Zufahrt entlang, um der Leuchtkugel auf den Grund zu gehen. Schepper schepper schepper machten die Füße.
Dem Schleichpanzer folgten Trupps von Soldaten des Blutpakts mit erhobenen Waffen. Jagdea schoss mit der Leuchtpistole. Die Leuchtkugel traf die Aktenkisten, und einen Moment später war das ganze Fahrzeug in lodernde Flammen gehüllt. Die Druckwelle der heißen Luft warf sie um. Der Schleichpanzer näherte sich mit staksigen Schritten und eröffnete das Feuer mit seinen schweren Laserbatterien auf die Schuppen. Jagdea erhob sich und rannte zu dem eingedrückten Rolltor. Drinnen lief sie weiter, stieß gegen einen Munitionskarren und prellte sich den Oberschenkel. Sie stieß einen Schrei aus und nahm den Kopf herunter, als die heftigen Schüsse des Schleichpanzers die Flakbrettwand hinter ihr durchbohrten und Löcher hineinbrannten, die Tageslicht einließen. Fasern und Ascheflocken wirbelten durch die Luft. Sie flitzte durch die Luke, über den Laufsteg und die Leiter hinunter. »Wir müssen weg! Sofort!«, rief sie. »Wir sind noch nicht vollgetankt!«, rief Kaminsky aus der offenen Kanzel zurück. »Pech!«, erwiderte sie. Sie rannte zum Tankwagen, schaltete die Pumpe aus und mühte sich dann, den Schlauch aus dem Einfüllstutzen zu ziehen. »Starten Sie einfach!«, rief sie. »Ich habe den Anlasser noch nicht angeschlossen …«, rief Kaminsky zurück. »Keine Zeit! Tun Sie’s einfach!« Kaminsky drückte auf die Starterknöpfe. Der Backbordmotor röhrte, drehte los und erwachte zu tosendem Leben, während blauer Qualm aus dem Auspuff geblasen wurde. Der Steuerbordmotor drehte einmal und verstummte dann wieder. Jagdea stieg in die Kanzel. »Machen Sie schon!«, drängte sie. Sie konnte das Zischen von Laserstrahlen über ihnen hören. »Ich versuch’s ja!«, überbrüllte Kaminsky das Brummen des einen laufenden Motors. Er schaltete den rechten Motor wieder aus, nahm Gas weg und öffnete die Starterklappe.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Jagdea. Sie schloss die Tür und schnallte sich an. Kaminsky startete den rechten Motor noch einmal. Trockenes Husten. Noch einmal. Wieder ein Husten. Noch einmal. Diesmal sprang er an. Der Propeller erwachte zum Leben und drehte sich. Beide spürten, wie das Flugzeug vibrierte. »Alles klar, wir können«, sagte Jagdea. Auf den Pilotensitz schien Kaminsky zu erstarren. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Jagdea. »Es … ist schon eine Weile her. Ich hätte nie gedacht, dass ich noch mal …« »Kaminsky, würden Sie wohl die Klappe halten? Wir haben jetzt keine Zeit für diese Gefühlsduseleien.« »Sicher. Natürlich.« Jagdea legte ein paar Schalter um. »Katapult hat Druck und ist bereit.« »Propeller auf Schub«, sagte er. »Also … ab dafür«, erwiderte sie mit einem Lächeln. Der Hangar war mittlerweile von dichten Abgaswolken der Motoren erfüllt. »Jagdea?« »Was?« »Helfen Sie mir. Helfen Sie mir, meine Hand um den Knüppel zu schließen.« »Natürlich. Verzeihung.« Sie beugte sich zu ihm und schloss seine Handprothese um den Steuerknüppel. Seine andere Hand war mit den beiden Gashebeln beschäftigt. »Jetzt müssen Sie den Schalter für den Katapultstart umlegen«, sagte er. »In Ordnung. Sind Sie bereit?« »Nein. Also tun Sie’s einfach«, sagte August Kaminsky. Jagdea legte den Schalter um. Das Dampfkatapult zündete und schleuderte den Zyklon mit markerschütternder Wucht aus dem Hangar in die Luft. Einen Moment schien die Maschine zu fallen, aber Kaminsky stabilisierte sie, gab Gas und ging mit dem Deltaflügler über der Küste in einen schnellen Steigflug über. Jagdea spürte das stete Schnurren der Propeller und lächelte. »Was ist das für ein Gefühl, Kaminsky?«, fragte sie. Er grinste. »Wie eine Heimkehr. Haben Sie meinen Laster abgefackelt?«
»Wie versprochen.« Sie stiegen, legten sich in eine Kurve und wandten sich nach Osten. »Sauber«, sagte Jagdea. »Alte Gewohnheiten wird man nicht so leicht los«, sagte Kaminsky. Er grinste immer noch. Sie waren auf ungefähr tausend Meter gestiegen, als das antiquierte Detektor-System des Zyklon einen Warnton von sich gab. »Jemand hat uns im Visier!«, rief Jagdea. »Wo? Ich kann nichts sehen?« »Ich weiß es nicht! Was sagt der Auspex?« »Dieser Vogel hat keinen Auspex.« »Oh, das ist toll!« Jagdea verrenkte sich den Hals, um einen Rundumblick aus der Kanzel der Zyklon zu werfen. »Heuschrecke! Elf Uhr!«, rief sie. Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine knallrote Fledermaus, die mit blitzenden Geschützen auf sie herabstürzte, dann legte Kaminsky den Zyklon in eine selbstmörderisch enge Kurve. »Kaminsky! Kaminsky!« »Werden Sie endlich die Klappe halten? Werden Sie überhaupt je die Klappe halten?« Das Meer rauschte ihnen entgegen. Kaminsky gab plötzlich Gas und rollte den Zyklon herum. »Geschütze«, stammelte er. »Äh!« Andruck legte sich auf sie. »Was?« »Geschütze, verdammt, Jagdea. Ich kann nicht auf den Feuerknopf drücken! Ich habe keinen Daumen! Das müssen Sie machen.« Sie kämpfte sich heran, alles Blut in den Füßen, da sie sich gegen die Zentrifugalkräfte wehrte, die im Zyklon aktiv waren. Sie schloss die Faust um seine tote künstliche Hand. »Sagen Sie mir, wann!« »Warten Sie noch!« Er jagte die Zyklon in einem Korkenzieher in die Höhe und ließ ihn dann brutal durchsacken, als die Heuschrecke unter ihnen durchraste. »Wie haben Sie das gemacht?«, rief sie. »Sie haben gerade eine Vektorschubmaschine ausgetanzt!« »Halten Sie die Klappe und schießen Sie«, erwiderte Kaminsky. »Schießen! Einfach schießen! Schießen Sie endlich!«
Er jagte den Zyklon durch eine harte Rolle, und Jagdea hörte den jähen, lieblichen Signalton der Zielerfassung für grünes Licht. Sie krampfte die Finger um seine Hand. Um seine Plastekhand. Flammenblitze zuckten aus den Geschützmündungen des Zyklon. Die Heuschrecke legte sich in eine Kurve und zog steil hoch. Dann ging sie in Flammen auf und flog auseinander. »Heilige Hölle!«, jubelte Jagdea. »Erwischt«, zischte Kaminsky. »Ja, das haben Sie«, sagte Jagdea, als Kaminsky den Zyklon wieder nach Osten wandte. »Ja, das haben Sie verdammt noch mal.«
WEHRET DEM FEIND DIE MITTWINTERINSELN Imperiumsjahr 773.M41 Tag 267 –Tag 269 TAG 267 LS Lucerna, 12:30 Marquall döste in seinem Fluganzug, als die Sirenen in den tiefen, in den Fels gehauenen Korridoren und vergrabenen Decks der Basis zu jaulen anfingen. Er sprang auf, schnappte sich seinen Helm und lief aus dem Bereitschaftsraum und durch den schmalen Niedergang zum Deck der Hangarbucht. Zemmic und Ranfre waren dicht hinter ihm, und Van Tull folgte ihnen, wenn auch langsamer. Van Tulls Zuleitung für das Luftgemisch war bei ihrer Flucht aus Theda getroffen und beschädigt worden, was zu einem Mischfehler geführt hatte, bei dem Kohlendioxid unentdeckt in seinen Vorrat eingesickert war. Bei seiner Ankunft über Lucerna hatte er bereits an Sauerstoffmangel gelitten und es gerade noch nach unten geschafft. Marquall blieb stehen und ließ Zemmic und Ranfre vorbei. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er Van Tull.
»Eins a«, sagte der ältere Pilot. Er war über das Schlimmste hinweg, jedenfalls behauptete er das. Aber er litt unter blutenden Nebenhöhlen und Zahnfleisch und tupfte beständig mit einem gefalteten Taschentuch an Mund und Nase herum wie ein Schwindsüchtiger. »Sicher?« »Es geht mir besser, sobald ich oben bin«, sagte Van Tull kategorisch. Sie eilten über den nackten Steinboden auf den starren Deckbelag. Der gesamte Luftstützpunkt war in den Fels der Insel gehauen worden. Der Umbra zugewiesene Hangar drei war eine gigantische rechteckige Höhle, deren Boden und Wände mit schweren Geräten geglättet worden waren. Beide Enden der Höhle, der Norden und der Süden, waren offen. Die Donnerkeile der Umbra-Staffel warteten in drei nach Süden ausgerichteten Reihen. Mechanikertrupps entfernten die letzten Kabel und Treibstoffschläuche, und surrende Aufzugsplattformen brachten die leeren Munitionswagen nach unten in tiefere Ebenen. Cordiale und Del Ruth waren bereits bei ihren Maschinen, Blansher rannte über das Deck und las dabei einen Ausdruck. »Begleitschutz, Evakuierungs-Eskorte!«, rief er. »Umgehender Start, Richtung sechs-neun-zwo, nicht höher als zwotausend.« Es gab einen Chor der Bestätigungen, und die Piloten stiegen in ihre Kanzeln. Der Chefmechaniker jedes Trupps vergewisserte sich, dass sein Pilot sicher an Bord war, schloss das Kanzeldach und bedeutete dann dem für den Anlasser zuständigen Techniker, die Triebwerke zu starten, während er von der Tragfläche sprang. Jeder Anlasser-Karren feuerte, und die Turbinen der Donnerkeile fingen an, sich zu drehen. Augenblicke später war es in dem beengten Raum so laut, dass das Sirenengeheul übertönt wurde. Deckpersonal mit Schutzbrillen und Ohrenstöpseln bezogen Stellung vor der Formation und dirigierten die Maschinen mit Leuchtpaddeln. Sie bekamen Starterlaubnis. In der vorderen Reihe waren Blansher und Ranfre. Dann kamen Marquall, Cordiale und Del Ruth. Die dritte Reihe bildeten Van Tull und Zemmic. Die Staffel hob senkrecht und fast gleichzeitig ab. Der Deck-Leiter schwang seine beiden Leuchtpaddel zusammen und wieder auseinander, dann ließ er sich auf ein Knie sinken und nahm den Kopf herunter, als die vordere Reihe über ihn hinwegraste, rasch gefolgt von der zweiten und dritten.
Sie verließen den Hangar durch einen rechteckigen Schlitz in der steilen Klippenwand und schossen ins Freie. Das Meer lag zweihundert Meter unter ihnen. Die sieben Maschinen schwenkten sofort herum und gingen auf den befohlenen Kurs. Der Himmel war grünlichblau mit zwei Zehnteln länglichen, wuscheligen Wolken. Das Meer war von einem volleren, intensiveren Grün. Die Insel Lucerna blieb hinter ihnen zurück, ein Plateau aus zerklüftetem rosa Granit, das aus dem Wasser ragte. Marquall konnte die Luftabwehrgeschütze in den Klippen und auf den Felsvorsprüngen sehen. Zwei weitere Staffeln Donnerkeile folgten Umbra aus anderen Hangareinmündungen. Tief unter sich konnte er Massen von Schiffen und Barken ausmachen, die seit zwölf Stunden an den Kais der Insel eintrafen und festmachten. Sie stiegen beständig höher. Marquall stellte sorgfältig seine Luftmischung ein. Er beobachtete die Formation ringsumher und hielt den Blick auf die Auspex-Echos der anderen DonnerkeilStaffeln gerichtet, die unter und hinter ihnen flogen. Aus dieser Höhe konnte er die gesamten Mittwinterinseln überblicken, ein Archipel aus rosa Atollen, der beinahe siebenhunderttausend Quadratkilometer Ozean am Ostende des Zophonischen Meers ausfüllte. Die Mehrheit der aus Theda geflohenen Flugzeuge, Transporter und Barken war zu den größeren dieser Inseln unterwegs, zu solchen wie Lucerna, wo es Luftstützpunkte und Häfen gab. Das mit Inseln gespickte Meer unter ihm war voll von Schiffen auf dem Weg nach Osten zu den sicheren Häfen der Inselkette. Der Auspex zeigte außerdem eine Menge Kontakte in der Luft an. Einige imperiale Maschinen kamen immer noch vom Festland herein, aber der Rest gehörte zu Staffeln der Flotte, die von ihren neuen Stützpunkten auf den Inseln gestartet waren, um die Schiffskonvois zu bewachen oder Eindringlinge des Feindes zu jagen. Marquall konnte die Anzeichen eines größeren Luftgefechts ausmachen, das ungefähr zwölf Kilometer südlich von ihnen stattfand, und eines weiteren, verdichteteren neunzehn Kilometer weiter im Südwesten. Im Osten wurde eine Bomber-Formation abgefangen. Außerdem fand auch dort eine weitere Luftschlacht in geringerer Höhe zwischen den Inseln statt. Rein optisch war die Linie des Südhorizonts ein schmutziger schwarzer Gürtel, der einen krassen Gegensatz zum sauberen Himmel und dem funkelnden Meer bildete. Das war der Rauch,
der Qualm des Todes und der Zerstörung, der auf einer Länge von mehreren hundert Kilometern über der Küste von Theda thronte. Das schmutzige Mal des Erzfeinds, das er seinem neu eroberten Territorium eingebrannt hatte. Blansher mahnte sie zur Konzentration. Sie näherten sich dem angepeilten Ziel. Ein Konvoi von siebenunddreißig Massenbarken und VSFPs aus St. Chryze, der zu einem der Kanäle zwischen den Inseln unterwegs war, wurde von Feindflugzeugen angegriffen. »In den Einsatzinformationen war von über sechzig Fledermäusen die Rede«, sendete Blansher. »Habe Sichtkontakt mit dem Konvoi«, meldete Ranfre. »Verstanden.« Die riesigen Schiffe waren jetzt durch die Wolken klar und deutlich zu erkennen. Manche verschmutzten die Luft mit Abgasfahnen aus ihren Turbinen, doch von anderen stiegen dicke Kegel aus schwarzem und weißem Rauch auf. »Auspex-Kontakt«, meldete Del Ruth. »Zwei Gruppen von Feinden. Eine hoch in sechstausend, die kreist, die andere tief und im Überflug über dem Konvoi.« Marquall schaute auf seinen eigenen Auspex-Schirm und bekam ein ähnliches Ergebnis. Zahlreiche Kontakte umschwärmten die Schiffe wie Fliegen eine Wunde. Er konnte sie jetzt sogar sehen, kleine dahinflitzende Punkte vor dem Meer, die in der Sonne glitzerten. »Umbra Führer an andere Staffeln. Die Kontakte in sechstausend könnten eine zweite Angriffswelle sein, die auf ihren Einsatz wartet, aber auch Jagdschutz. Schlage vor, Umbra und Säbel kümmern sich um die Angreifer. Kobalt bleibt in der Höhe und passt auf die zweite Welle auf.« Die Aufteilung machte Sinn. Der Säbel-Staffel, Teil des 333. Flotten-Geschwaders, fehlten vier Maschinen, sodass sie ebenso unter Sollstärke war wie Umbra. Kobalt, ebenfalls Teil des 333. zählte zwölf Maschinen. »Umbra, hier Kobalt Führer. Bestätigt.« »Umbra Führer, Säbel ist einverstanden.« »Dann runter und drauf auf sie«, befahl Blansher. Die beiden Staffeln flogen abwärts und rollten dabei von der Spitze der Formation in förmlicher Kaskade nach hinten. Marquall versuchte ruhig weiterzuatmen, als der Sturzflug begann. Er
schaltete die Zielerfassung und das Geschützvisier ein. Geschütze scharf, Laser gewählt. Das glitzernde Wasser kam rasch näher. Er sah die großen schwarzen Formen der Schiffe des Konvois mit ihrem weißen Kielwasser und die dünnen Schaumkronen rings um sie, wo etwas im Meer explodierte. Und da waren auch die Fledermäuse, die horizontal quer über die Schiffe hinwegrauschten und sie mit Raketen und Geschützen angriffen. Es waren Höllenklauen, allesamt in giftigen Rot-, Schwarz- und Korallenrosa-Tönen lackiert. Die Donnerkeile fegten in die Meute der Klauen. Eine Sekunde lang sausten Flugzeuge und Geschossbahnen rings um Marquall in alle Richtungen. Er nahm den Steuerknüppel ein wenig zurück und richtete Neun-Neun aus. Eine Klaue raste auf dem Weg zu einer der Barken an ihm vorbei, und Marquall klemmte sich hinter sie. Sie fing an zu schießen und erzeugte eine brodelnde Spur von Einschlägen im Wasser, die sich dem Rumpf der Barke näherten, und Marquall eröffnete ebenfalls das Feuer. Er traf nicht, aber die Klaue zog nach rechts weg und versuchte seinem Feuerkegel zu entkommen. Marquall schaffte keine gleichermaßen enge Kurve, schoss über die Barke weg und flog kurz durch die Rauchwolke, die sie absonderte. Er drehte die Nase seines Jägers und sah die Klaue steil hochziehen, also tat er dasselbe. Zwei Donnerkeile, beide im Blau des 333. lackiert, schossen in der Verfolgung zweier Klauen an ihm vorbei. Dann kam eine rote Klaue angerauscht, und Marquall musste hart seitwärts rollen, um ihr auszuweichen. Ein Strom greller Leuchtspurgeschosse, der sich wand und kräuselte wie eine Fahne im Wind, zuckte an seiner rechten Flügelspitze vorbei. Marquall rollte wieder und sah eine schwarze Klaue unter sich durchflitzen. Er drehte die Maschine auf den Kopf und stürzte ihr hinterher, wobei er sie wieder aufrichtete. Die Klaue versuchte es mit einer engen Kurve, aber er blieb dran und achtete auf die Düsen der Klaue, um den verräterischen Schwenk nicht zu verpassen, der einem kurzen Seitenschub vorausgehen würde. Die Klaue rollte erst nach links, dann nach rechts, konnte ihn damit aber nicht abschütteln. Die Zielerfassung summte grün, doch bevor er schießen konnte, rasten zwei Maschinen so schnell in entgegengesetzter Richtung an ihm
vorbei, dass er keine Zeit hatte, sie zu identifizieren, während ihr Düsenstrom seine Maschine erbeben ließ und vom Ziel abbrachte. Mehr Schub. Die Klaue versuchte es mit ein wenig Seitenschub, doch Marquall blieb dran. Zum zweiten Mal grünes Licht von der Zielerfassung. Er schoss. Er traf die Klaue. Verbogene Metallfetzen wurden abgesprengt. Aber es reichte nicht für einen Abschuss. Die Klaue zog hoch und fand in ihrer Verzweiflung zusätzliche Geschwindigkeit. »Nein, heute nicht …«, sagte Marquall. Plötzlich leuchtete es in der Luft rings um ihn auf. Ein Hagel aus Laserstrahlen. »Umbra-Staffel! Ausbrechen! Die Schweine sind über uns!« Das war Blanshers Stimme. Marquall zog hoch und ging aus dem Lasersturm irgendwie unbeschadet hervor. »Umbra-Staffel, Umbra-Staffel! Fledermäuse auf elf Uhr. Steil hochziehen, mit allem, was ihr habt!« Marquall blickte sich verzweifelt um und sah zwanzig oder mehr Höllenklingen auf das Gefecht zustürzen. Entweder hatte Kobalt völlig versagt und sie durchgelassen, oder es handelte sich um Neuankömmlinge. Marquall zog rasch hoch, und der Andruck nahm zu. Er konnte nicht einmal mehr die schwarze Klaue sehen und verwünschte sein Pech. Er war so nah dran gewesen. Er sah Zemmic an sich vorbeistürzen, die Nase ein Blitzgewitter feuernder Geschütze. Die Klaue, die er aufs Korn genommen hatte, geriet ins Trudeln und verlor dann etwas – wahrscheinlich Kühlmittel – in einem Schwall von Flüssigkeit. Sie stürzte wie ein Stein ins Meer. Marquall flog eine Schleife und sah zwei grüne Klingen in weitem Bogen über eine andere Barke ziehen. Er wusste, wenn er abdrehte, würden sie sich hinter ihn klemmen, also flog er in einem Frontalangriff direkt auf sie zu. Ihre Näherungsgeschwindigkeit war alarmierend. Marquall schoss und sah, dass im Gegenzug auch Schüsse in seine Richtung zuckten. Die Klingen rasten vorbei. Er hatte keine Ahnung, ob er etwas getroffen hatte. Im Westen von ihm war ein blauer Donnerkeil mit einem brennenden Triebwerk, der in lang gezogener träger Kurve niederging. Auf dem Wasser bildete sich für kurze Zeit eine weiße Blüte, als die Maschine aufschlug.
Ein Blick nach rechts. Del Ruth und Ranfre, in akrobatischem Wirbel mit drei Klingen verwickelt. Die Maschinen versuchten einander durch das beständige Fliegen enger Kurven auszumanövrieren und auf die Sechs des Feindes zu gelangen. Ranfre schoss, und sein auserwähltes Ziel gab so stark Seitenschub, um aus dem Feuerkegel zu gelangen, dass es seinen Flügelmann rammte. Die kollidierenden Maschinen explodierten in der Luft. Del Ruth und Ranfre sprengten auseinander und rasten weiter. Die verbliebene Fledermaus brach in die andere Richtung aus. Marquall war sofort hinter ihr. Er schwenkte auf ihre Sieben ein und gab einen Feuerstoß ab, dann noch einen zweiten. Die Fledermaus sackte durch. Einen Moment glaubte Marquall, er hätte getroffen, aber die Fledermaus hatte lediglich hart verzögert, um hinter ihn zu gelangen. Neun-Neun erbebte und bockte, als sie getroffen wurde. Marquall zog heftig zur Seite weg. Die Fledermaus raste an ihm vorbei und war einen Moment später verschwunden. »Umbra Acht. Alles in Ordnung?« Marquall prüfte die Instrumente. Keine einzige kritische Warnlampe leuchtete. »Hier Acht. Alles in Ordnung.« »Acht, hier Führer. Du verlierst Flüssigkeit. Ich glaube, es ist die Hydraulik. Abbrechen und nach Hause fliegen, verstanden?« Marquall sank das Herz. »Verstanden, Führer. Ich breche ab.« Als Marquall mit dem Landeanflug auf Lucerna begann, konnte er im Flugverhalten von Doppeladler feststellen, wie beschädigt er war. Er folgte dem Transponder-Signal durch den Nordeingang und setzte eine gute Landung in Hangar drei hin. Racklae holte ihn raus. Der Kopf des Chefmechanikers war verbunden. Der Transporter, mit dem er Theda verlassen hatte, war angegriffen worden, und ein Splitter hatte ihn erwischt. Sie inspizierten den Schaden an Neun-Neun. »Größtenteils oberflächlich«, sagte Racklae, »aber die Hydraulik hat einen Treffer abbekommen.« »Die Instrumente haben nichts angezeigt.« »Manchmal zeigen sie auch nichts an. Aber ich prüfe die kritischen Anzeigen durch. Hatten Sie übrigens Glück?« »Nein«, sagte Marquall. Ihm fehlte der Mut zuzugeben, dass er bei zweien ganz nah dran gewesen und doch beide verloren hatte. »Ich bin immer noch dabei, den Fluch abzuschütteln.«
Lucerna, Verwaltung, 06:30 »Einfach ausgedrückt«, sagte der Munitorum-Senior. »Sie sind tot.« »Tja, ich widerspreche ja nicht gerne, aber …«, begann Viltry. »Keine Sorge«, sagte der Senior. »Ich gebe Ihre Daten einfach noch einmal ein. Würden Sie bitte noch einmal prüfen, ob diese Angaben korrekt sind?« Viltry überflog die Datentafel und reichte sie zurück. »Das stimmt alles.« Der Senior gab die Daten noch einmal in den großen, messingbeschlagenen Cogitator ein, der den Raum beherrschte. Berobte Angestellte kamen und gingen, sammelten Datentafeln ein oder deponierten Schriften in den alphabetisch gekennzeichneten Ablagefächern an der Wand. Viltry drehte sich zu dem Mann um, der hinter ihm in der Tür wartete, und zuckte entschuldigend die Achseln. Er war an der Spitze einer langen, langsam vorrückenden Schlange, die sich durch den gesamten Korridor des MunitorumKomplexes und weiter die Treppe hinunter erstreckte. Viltry hatte zwei Stunden angestanden. Die schmutzfleckigen Fenster der Kammer schauten auf eine der riesigen Dock-Anlagen Lucernas. Die Szenerie wurde künstlich durch frostige blaue Lichtkugeln beleuchtet, weil sich die Anlage in einer riesigen Meereshöhle befand und durch den Überhang der Inselklippen geschützt war. Von draußen drang das Summen von Industrie herein. Winden klirrten, Männer riefen. Die Kais wurden von den Evakuierungsbarken gesäumt, die viele hundert Menschen, Maschinen und Kisten mit Ausrüstungen ablieferten. »Dasselbe noch einmal«, sagte der Senior. »Viltry, Oskar. Wird geführt als am 260. im Kampf gefallen, und zwar zusammen mit dem Rest seiner Besatzung. Ich fürchte, so weit es die Akten betrifft, existieren Sie nicht.« »Und doch«, sagte Viltry. »Richtig«, sagte der Senior. »Das kommt recht häufig vor, muss ich leider sagen. Krieg ist einer kompetenten Aktenverwaltung nicht gerade zuträglich. Und der Rückzug von der Halbinsel, tja … sagen wir einfach, dass beachtliche Teile des Datenarchivs fehlen oder ungenau sind. Sie sind nicht mit einer Einheit eingeflogen, oder?«
Viltry seufzte. Er hatte all das schon dreimal durchgekaut: einmal mit dem Hafenmeister, noch einmal mit einem Junior unten im Nebengebäude, der so etwas wie eine logistische Vorsortierung des Zustroms der Flüchtlinge vornahm, und schließlich bereits einmal mit diesem Senior. »Ich hatte über eine Woche keinen Kontakt mehr zu meiner Einsatzleitung, seit meine Maschine in der Wüste abgestürzt ist. Ich bin mit einer der Rückzugskolonnen zurückgekehrt und habe Theda erreicht. Ich habe es gerade noch auf eine Barke geschafft, die verfügbar war. Alles war ein ziemliches Durcheinander. Ich reise mit einer Frau.« »Ihre Gemahlin?« »Nein …« »Verlobte?« »Nein, Senior …« »Aber es gibt eine Zusammengehörigkeit?« Viltry zuckte die Achseln. »Ja, wir haben die Stadt zusammen verlassen. Sie musste auch irgendwie raus. Der Blutpakt war überall. Ich konnte sie nicht zurücklassen. Ich hätte sie nicht zurückgelassen.« »Wo ist sie jetzt?« »Sie ist zur Zivilverwaltung gegangen. Ich musste hierher. Zur militärischen Verwaltung. Ich hoffe, sie bekommt einen Platz in einem Flüchtlingsheim.« »Ich bin sicher, es geht ihr gut.« Viltry räusperte sich. »Senior, ich will einfach nur wieder zu meinem Geschwader. Ich weiß nicht einmal, wo es stationiert ist.« »Tja, nicht hier auf Lucerna, fürchte ich. Tatsächlich kann ich Ihnen nicht sagen, wo das XX. Phantine ist. Noch mehr Lücken in den Akten.« »Können Sie nicht einfach … Ihre Daten korrigieren?«, fragte Viltry. »Das ist nicht so einfach, muss ich leider sagen. Wenn die Akten einmal sagen, dass Sie tot sind, ist mir nicht gestattet, das zu bestreiten. Ich kann Sie lediglich als ungeklärt registrieren.« »Was heißt das?« »Das heißt, dass ich viele tausend Neuankömmlinge so schnell wie möglich zu verwalten, weiterzuleiten und zu überstellen habe und mir nicht leisten kann, mehrere Stunden mit der Korrektur
Ihres Eintrags zu vergeuden.« Der Senior nahm einen Griffel und füllte ein Dokument aus, das er ein paar Mal stempelte. »Das ist ein provisorisches Meldedokument. Es erkennt Ihre Anwesenheit hier im Stützpunkt offiziell an und berechtigt Sie zum Empfang von Unterkunft, Verpflegung und so weiter.« Viltry warf einen Blick darauf. »Da steht nicht mal mein Name drauf. Oder meine Dienstnummer.« »Natürlich nicht. Wenn ich Sie mit Ihrem Namen oder Ihrer Dienstnummer anmelde, wird das System Sie ablehnen. Das ist eine neue Nummer, frisch ausgegeben, also kann das System Sie akzeptieren. Kommen Sie in ein paar Tagen wieder. Wenn der Druck nachgelassen hat, verspreche ich Ihnen, mich mit aller gebotenen Dringlichkeit um Ihren Fall zu kümmern. Mehr kann ich im Moment nicht für Sie tun.« »Nun gut«, sagte Viltry. Mit dem Dokument in der Hand verließ er den Raum. »Der Nächste!«, rief der Senior, und der Nächste in der Schlange eilte vorwärts. Viltry schlenderte den geschäftigen in den Felsen gehauenen Korridor entlang. Das Schicksal hatte ihn doch noch erwischt. Oskar Viltry war tot, und er war nur ein anonymer Niemand mit einer Nummer. LS Lucerna, 19:17 Blansher betrat das Hangardeck. Die Piloten Umbras warteten in voller Ausrüstung in einer Gruppe bei den geparkten Maschinen, wo die Mechaniker hart arbeiteten und Schäden an Marqualls, Del Ruths und Zemmics Kisten reparierten. Es war ein heftiger Luftkampf gewesen, der nach Marqualls Rückzug noch weitere fünfzehn Minuten angedauert hatte. Zemmic hatte eine Maschine abgeschossen, Van Tull ebenfalls eine und Blansher zwei. Obwohl sie mit ihrer requirierten und umlackierten Maschine der Feuerdrachen Probleme hatte und sich beklagte, sie könne sich an das verdammte Ding einfach nicht gewöhnen, hatte Aggie Del Ruth ebenfalls einen Abschuss erzielt. Die Donnerkeile hatten die Fledermäuse schließlich gegen 13:30 Uhr vom Konvoi vertrieben. Blansher hob die Hand. »Etwas Ruhe, bitte, Herr Racklae?« Racklae kam der Aufforderung nach, und die Geräusche der Nietgeräte und Elektroschrauber verstummten.
»Was ist los, Führer?«, fragte Zemmic. »Überraschungseinsatz?« Blansher lächelte. Sehr leise sagte er: »Offizier anwesend.« Bree Jagdea trat aus dem Bereitschaftstunnel und schritt auf sie zu. Sie hatte eine Dusche und eine medizinische Überprüfung hinter sich und außerdem eine frische Uniform erhalten, aber die Fliegerjacke war noch ihr altes, ramponiertes Original. Für einen Moment herrschte Ungläubigkeit. Dann fingen die Piloten und Mechaniker an zu jubeln und zu klatschen. Del Ruth lief ihr entgegen und umarmte sie. Van Tull schüttelte ihr ausgiebig die Hand. Die anderen scharten sich alle um sie. »Weitermachen, Umbra«, sagte sie. Der Lärm ließ ein wenig nach. »Ich freue mich auch, euch wiederzusehen, Staffel«, lächelte sie. »Wir haben gebetet, dass Sie es auf ein Evakuierungsfahrzeug schaffen«, sagte Del Ruth. »So war es eigentlich nicht«, erwiderte Jagdea. »Wie, in Terras Namen, sind Sie dann hergekommen, Geschwaderführer?«, fragte Ranfre. »Ihr würdet mir nicht glauben, wenn ich es Euch erzählte. Schon gut, schon gut! Beruhigt euch! Ich erzähle es ja. Später. Jetzt will ich erst mal …« Sie hielt inne und wandte sich an Blansher. »Bitte um Verzeihung, Umbra Führer«, sagte sie. »Ich habe mich vergessen.« Er grinste. »Fürs Protokoll: Sehr amtierender Staffelführer Blansher übergibt Bree Jagdea um 19:18 Uhr das Kommando.« »Ich nehme das Kommando an«, sagte sie. »Und ebenfalls fürs Protokoll möchte ich Ihre Führung in meiner Abwesenheit ausdrücklich loben und Piloten und Bodenpersonal für ihre Arbeit ein Riesenkompliment machen. Sie dürfen sich selbst laut applaudieren.« Und das taten sie. »Also gut«, fuhr sie fort, als sich der Lärm gelegt hatte. »Ich will, dass die Staffel in einer Stunde startbereit ist. Gefechtspatrouille. Ist das machbar, Racklae?« »Ja, Mamzel.« »Ausgezeichnet. Wir steigen auf, bleiben zwei Stunden oben und landen dann wieder. Falls es keine außerplanmäßigen Einsätze gibt, soll sich jeder über Nacht ausruhen und schlafen. Keine
Kartenspiele, keine Saufereien. Wir sind morgen wieder sehr früh an der Reihe. Ich habe eine Unterhaltung mit dem Stützpunktkommandanten, Vize-Luftmarschall Dreyco, geführt, und er hat mich über die Lage informiert. Dies ist der Stand der Dinge, und Sie werden mir meine Unverblümtheit verzeihen. Die Streitkräfte des Erzfeinds haben den Südteil des Litorales gestürmt. Die Taktik-Abteilung sagt, sie halten die Küste von Theda bis Ezraville. Trotz unserer Bemühungen, die Luftüberlegenheit in diesem Gebiet zu wahren, haben sie uns ins Meer zurückgedrängt.« Jagdea schaute der Reihe nach in ihre Gesichter. Alle wirkten grimmig und verbissen. »Wir hätten unmöglich die Stärke ihrer Luftwaffe und die Effektivität vorhersehen können, mit der sie ihre Massenträger vorgeschoben haben, um ihre Reichweite zu vergrößern. Und wir hatten auch der Art, wie ihr Bombenkrieg den Sprungtruppen des Blutpakts den Weg bereitet hat, nichts entgegenzusetzen. Sie haben uns ausgespielt, so einfach ist das.« Sie zog ihre Fliegerjacke aus und hängte sie an der Gabel eines Staplers auf. Es war feuchtwarm in der Höhle. Sie trug den Arm nicht mehr in der Schlinge, obwohl er noch verbunden war. »Aber Sie müssen eines begreifen«, fuhr sie fort. »Unsere Bemühungen – und das Leben unserer gefallenen Kameraden in dieser Einheit und in der Flotte insgesamt – waren nicht verschwendet. Wir haben sie aufgehalten. Machen wir uns nichts vor, wir konnten nicht darauf hoffen, jemals mehr zu schaffen, als sie aufzuhalten. Wir haben den Landstreitkräften die Zeit verschafft, sich abzusetzen. In diesem Augenblick sind Evakuierungskonvois auf dem Zophonischen Meer unterwegs nach Norden zu den Hauptinseln und sogar zur Nordküste. In anderen Meldungen heißt es, bedeutende Elemente von Panzer und Infanterie würden den Festus auf dem Landweg zu den Festungsmakropolen von Ingeburg überqueren. Wir haben einem erheblichen Teil der imperialen Landarmee ermöglicht, sich aus dem Kampfgebiet abzusetzen. Jetzt können sich all diese Einheiten neu formieren und einen Gegenangriff vorbereiten. Verstärkungen aus der KhanGruppe sind unterwegs. Ihr Eintreffen wird in acht Tagen erwartet. Das Imperium ist auf dem Rückzug, aber Enothis ist noch lange nicht verloren. Es gibt immer Hoffnung«, fügte sie hinzu. »Da kommt noch ein ›Aber‹, richtig?«, sagte Cordiale.
Jagdea nickte. »Natürlich, Pilot. Wer hat je behauptet, das Leben eines imperialen Kampffliegers wäre leicht?« »Der Anwerber der Luftwaffe damals in der Schola«, sagte Ranfre und erntete damit einen Lacher. »Der Feind hat uns ins Meer getrieben«, sagte Jagdea. »Aber das Meer ist unsere Geheimwaffe. Wir haben die Inseln. Die Geschwader der Flotte formieren sich neu hier auf Lucerna, auf Onstadt, auf dem Viper-Atoll, auf Langstrand und auf Salzhafen und außerdem auf den Makropolinseln Zophos und Limbus. Langstreckengeschwader wurden an der Nordküste auf drei Dutzend Flugplätzen stationiert, auch in Tamuda und Enothopolis selbst.« Jagdea ging zum nächsten Donnerkeil und legte die Hand auf seine Flanke wie ein alter Krieger, der sein Streitross tätschelte. »Um seine letzte Offensive zu starten, muss der Erzfeind über das Zophonische Meer oder darum herumkommen. Das kann er nur mit einer Luftoffensive schaffen. In den nächsten Tagen werden feindliche Maschinen mit Macht aus dem südlichen Litorale anfliegen, in der Absicht, die Rückzugs-Konvois zu versenken und die Nordküste anzugreifen. Wenn sich ein derartiger Luftangriff frei entfalten kann, wird er alle enothischen Hoffnungen zerschlagen. Der Nordteil des Commonwealth wäre in diesem Fall angeschlagen und sehr wacklig auf den Beinen, wenn dann die Invasion kommt.« Sie sah ihre Piloten ernst an. »Alle verfügbaren FlottenGeschwader haben von Admiral Ornoff den Auftrag bekommen, diesen Luftangriff abzuwehren. Ich wiederhole, wir haben den Befehl, dem Erzfeind die Luftüberlegenheit über dem Meer zu verwehren. Wenn wir seine Geschwader zurückhalten können, versperren wir dem scharfen Ende der Invasion den Weg und können seine Streitkräfte an der Südküste halten.« »Und wenn nicht?«, sagte Zemmic. »Dann haben wir versagt. Und Enothis wird fallen. Noch mehr dumme Fragen?« Die Besprechung war zu Ende, und alle machten sich wieder an die Arbeit. Blansher ging zu Jagdea. »Ein ehrgeiziger Befehl. Glaubst du, wir können es schaffen?«
»Wir können schaffen, was wir schaffen können, Mil«, erwiderte sie. »Danach liegt es am allmächtigen Gott-Imperator und am Lauf des Schicksals.« »Aber realistisch?« Blansher hatte die Angewohnheit, sich das Narbengewebe zwischen Kinn und Unterlippe zu reiben, wenn ihm nicht ganz wohl war. Das tat er jetzt. »Realistisch? Wie wäre es damit: Sie haben zwei Wochen gebraucht, um uns aus dem Süden zu vertreiben. Was glaubst du, wie lange der Rest unserer zerschlagenen, verstreuten und unterbesetzten Geschwader das Meer halten kann?« »Thron!«, sagte er. »Aber …« Jagdea fiel ihm ins Wort. »Oder versuch’s mal damit: Das Meer ist ein echter Puffer, der den Feind sehr viel stärker aufhalten wird als die Wüste oder die Halbinsel. Wir sind die besten Piloten des Imperiums … ich meine nicht nur die Phantiner, auch die Jungs von der Flotte. Wir gehen noch eine Woche an unsere Grenzen und halten die Schweine auf, und vielleicht haben wir dann bessere Aussichten. Sobald ihre Truppen die Nordküste erreichen, ist es vorbei, aber zuerst müssen sie an uns vorbei. Reguläre Gefechtspatrouillen. Abfang-Einsätze. In die Luft und auf sie. Wir könnten sie aufhalten. Es sei denn …« »Es sei denn was, Bree?« »Es sei denn, sie schicken alles, was sie haben, auf einmal.« Blansher seufzte. »Das Szenario will ich mir lieber nicht ausmalen.« Plötzlich huschte ein seltsamer Ausdruck über Jagdeas Gesicht. Sie drehte sich um. »Mir fällt gerade auf: Was in aller Welt soll ich fliegen?« »Wir finden schon etwas für dich«, versprach Blansher. Er ging mit ihr zu einem der Lastenaufzüge und fuhr mit ihr nach unten in die Lagerhalle unter Hangar drei. Auch hier waren Mechanikertrupps bei der Arbeit. Im Schein der Lichtkugeln stoben dicke, grelle Funken von Schweißbrennern, Spritzpistolen surrten und klackten. Die Wartungsbuchten unten in der Lagerhalle waren kreisförmig um die zentrale Aufzugsplattform angelegt, die Flugzeuge auf das Hauptdeck beförderte. Null-Zwo stand in einer der Wartungsbuchten. »Die ist mit einem der Schwertransporter gekommen«, sagte Blansher. »Die Techs sagen, sie ist wieder flugtüchtig.«
»Großer Thron!«, rief Jagdea. »Ich hätte nie gedacht, sie noch einmal wiederzusehen. Ich hatte mich schon damit abgefunden, eine Reservemaschine aus dem Depot fliegen zu müssen.« »Gelobt seien der Gott-Imperator und die Gewissenhaftigkeit seines Munitorums. Trotz der angespannten Lage haben sie am Ende noch reichlich Ausrüstung aus Theda gerettet.« »Wo wir gerade von Reservemaschinen reden«, sagte Jagdea, indem sie die Stimme hob, um sich trotz des Lärms verständlich zu machen, »was sind das für welche?« Neben Null-Zwo standen noch vier weitere Donnerkeile in Wartungsbuchten. »Ach, die dürften gar nicht hier sein. Die Transporter haben eine Menge nicht zugeordneter Maschinen mitgebracht. Ersatzmaschinen oder auch solche von Einheiten, die nicht mehr existieren. Sie haben uns vier davon gegeben, weil Umbra als Geschwader mit zwölf Maschinen geführt wird. Ich habe dem Munitorum erklärt, wir hätten nur acht Piloten, aber der Mann hat sich nur Sorgen gemacht, ich könnte seine Buchführung durcheinanderbringen.« Jagdea umrundete die Maschinen. Eine war ein ehemaliger Vogel der Raptoren und trug eine zerkratzte schwarze Livree. Die nächste stammte von einer Einheit, die ein helles Ocker mit Blendmustern zu bevorzugen schien. Die anderen beiden funkelten in nacktem, metallischem Silber, erst kürzlich ausgelieferte Ersatzmaschinen, die erst noch einer Einheit zugewiesen werden mussten. »Jedenfalls arbeitet das Depot daran«, sagte Blansher. »Ich will nicht, dass sie vergeudet werden. Und ich bin sicher, wir sind nicht das einzige Geschwader, das Maschinen bekommen hat, für die es keine Verwendung hat. Sie werden in den nächsten Tagen zu Einheiten transportiert, die sie gebrauchen können.« »Nein«, sagte Jagdea entschieden. »Was?«, fragte Blansher. Sie sah ihn an. »Mil, das Imperium muss jetzt alles in die Luft bekommen, was fliegt, nicht in den nächsten paar Tagen. Wir haben Flugzeuge ohne Piloten. Gut für uns! Ich wette, in den Evakuierungsbarken waren Dutzende anständiger Piloten ohne Maschinen. Finden wir sie! Setzen wir die Maschinen jetzt ein!« »Tja, ich nehme an …«
»Das nennt man Pragmatismus«, sagte sie. »Setz das Munitorum davon in Kenntnis, dass diese Maschinen bei Umbra bleiben. Mach den Transfer rückgängig.« »Bist du sicher?« »Ja, ich bin sicher.« Sie drehte sich um und rief: »Hemmen?« Der Mechaniker kam zu ihr gelaufen. »Mamzel?« »Machen Sie diese Maschinen flugtüchtig und verpassen Sie ihnen eine Umbra-Lackierung.« »Ja, Mamzel. Umgehend.« »Ich habe die Absicht«, sagte sie zu Blansher, »Umbra so schnell wie möglich wieder auf volle Stärke zu bringen. Ich werde uns ein paar bereitwillige Freiwillige suchen.« LS Lucerna, 23:12 Die Ventilatoren bliesen immer noch dicke Abgaswolken aus dem Hangar. Jagdea setzte den Helm ab und stieg aus Null-Zwo. Sie warf einen Blick auf die drei Einschusslöcher in der Heckpanzerung. »Reparieren Sie das bitte«, sagte sie zu ihrem Chefmechaniker. »Auftanken und neu bewaffnen.« »Zu Befehl, Geschwaderführer.« Sie marschierte durch den Bereitschaftstunnel und betrat den Bereitschaftsraum, wo sie Helm, Maske und Handschuhe auf das Sofa warf. Der Mann, der seit einiger Zeit auf einem der Armsessel saß, erhob sich rasch. »Rühren«, sagte sie. »Und danke, dass Sie gekommen sind. Sie müssen mir meine Laune verzeihen. Eine Patrouille hat zu einem ausgewachsenen Luftkampf geführt. Aber immerhin haben wir zwei abgeschossen und selbst keine verloren.« Sie ging zur Anrichte und schenkte sich einen Amasec ein. »Ich habe meinen Leuten gesagt, dass sie heute Nacht nichts trinken sollen, also seien Sie bitte so gut und behalten das hier für sich.« Der Mann nickte. »Geschwaderführer, ich habe mich gefragt, warum Sie mich herbestellt haben?«, sagte August Kaminsky. Jagdea öffnete eine Schublade in einem Aktenschrank und holte eine fette Akte und einige Datentafeln heraus. »Ein bisschen Herumfahren, Herr Kaminsky. Dazu seien Sie dieser Tage gerade noch nütze, haben Sie zu mir gesagt. Ein bisschen Herumfahren für das Munitorum.« »Ja, Geschwaderführer.«
»Tja, ich möchte, dass Sie ein bisschen für mich herumfahren. Unten steht ein I-XXI Donnerkeil, und ich möchte, dass Sie Ihren Namen unter die Kanzel stempeln lassen.« Kaminsky starrte sie an. In seinen Augen funkelte etwas, das wie Ärger aussah. Die Haut seiner unbeeinträchtigten Wange wurde fast so rot wie die Masse der Brandnarben auf der anderen Seite. »Ist das ein Scherz, Geschwaderführer? Wenn es einer ist, halte ich ihn für ziemlich geschmacklos. Ich kann keine Donnerkeile fliegen. Ich kann überhaupt nicht mehr fliegen. Ende der Diskussion.« »Da bin ich anderer Ansicht. Ich war mit Ihnen in dem Zyklon. Das war Instinkt, Kaminsky. Reiner Instinkt. Ich habe nie einen besseren gesehen.« »Aber, Geschwaderführer …« »Ich biete Ihnen einen Platz in meinem Geschwader an, Herr Kaminsky. Oder sollte ich sagen, ›Major‹ Kaminsky? Ich habe mir Ihre Akte angesehen. Sechzehn Jahre im Dienst, zuletzt im Rang eines Geschwaderführers, insgesamt siebzehn bestätigte Abschüsse. Das ist Ihre Gelegenheit, wieder ins Spiel zu kommen. Für Ihre Welt zu fliegen und zu kämpfen. Wollen Sie das ausschlagen?« Kaminsky hob seine steife Plastekhand. »Geschwaderführer, ich wurde deswegen als fluguntauglich eingestuft, nicht weil ich kampfmüde gewesen wäre. Das Commonwealth verfügt einfach nicht über die augmetischen Hilfsmittel, um Piloten wie mich wieder flugtauglich zu machen. Mit dieser Hand kann ich nicht Steuerknüppel, Ruder und Geschütze bedienen. Scheiße, Sie wissen das, Jagdea.« Jagdea nickte. »Ja, das ist ein Problem. Die Flotte könnte Sie mit einem anständigen augmetischen Implantat versorgen, aber wir haben nicht viel Zeit. Ganz sicher nicht genug Zeit, um Sie einer augmetischen Operation zu unterziehen. Also habe ich mit meinen Mechanikern geredet. Ein erfinderischer Haufen, diese Mechaniker. Einer hat vorgeschlagen, die Kontrollen für die Geschütze auf den Gashebel zu legen, aber wir waren alle der Ansicht, dass sie da stören würden. Dann hatte Herr Racklae eine Idee. Er wird die Waffensysteme mit einem Stimmenaktivator koppeln. Das wird etwas gewöhnungsbedürftig sein, das ist mir schon klar, aber Sie haben ohnehin einiges an Eingewöhnungsar-
beit vor sich. Unter dem Strich, Kaminsky, können Sie Ihre Geschütze mit Ihrer Stimme bedienen. Ihre Behinderung muss Sie nicht vom aktiven Dienst ausschließen.« Kaminsky starrte sie weiterhin an. »Ich …«, begann er. »Überlegen Sie es sich, Major. Wenn Sie passen wollen, habe ich andere Kandidaten, die ich in Erwägung ziehen kann. Aber Sie waren meine erste Wahl.« Es klopfte an die Tür. »Ja?« Marquall schaute hinein. »Geschwaderführer? Haben Sie einen Moment Zeit?« »Ich komme sofort«, sagte sie. Sie wandte sich noch einmal an Kaminsky. »Nehmen Sie sich etwas zu trinken, wenn Sie mögen. Ich bin gleich wieder da.« Sie ließ Kaminsky im Bereitschaftsraum zurück und ging nach draußen. Marquall lugte stirnrunzelnd durch die Tür. »Was will der denn hier, Geschwaderführer?«, flüsterte er zweifelnd. »Er muss sich etwas lange und gründlich überlegen, Marquall. Was gibt es denn?« »Jemand ist gerade im Hangar aufgetaucht. Er sagt, er kennt Sie.« »Hallo, Jagdea«, sagte Viltry. »Der Imperator beschützt! Viltry?« Sie eilte zu ihm und schüttelte ihm die Hand. Er sah verboten aus. Unrasiert, die Kleidung dreckig und zerrissen, und er hatte eine Menge Gewicht verloren. »Viltry, Sie sind für tot erklärt worden«, sagte sie. »Das sagt man mir ständig. Das Munitorum weigerte sich zu glauben, dass ich existiere.« »Aber Ihre Maschine ist tatsächlich abgestürzt?« »Ja.« »Ihre Besatzung?« Viltry schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid.« »Als ich schließlich wieder in Theda ankam, waren alle im Aufbruch. Ich bin auf eine Barke gesprungen und hier gelandet.« »Wo ist der Rest der Halo-Staffel?«
Viltry zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung. Ich habe in der Schlange vor der Essensausgabe mit einem Flottenmechaniker gesprochen, und der hat mir gesagt, hier wäre eine phantiner Einheit stationiert, also bin ich hingegangen, um mich selbst davon zu überzeugen. Ich kann nicht so tun, als wäre ich nicht enttäuscht, dass Sie nicht Halo sind, aber es ist trotzdem schön, ein vertrautes Gesicht zu sehen.« »Was wollen Sie jetzt machen?«, fragte Jagdea. »Das weiß ich noch nicht so genau«, gestand er. »Selbst wenn ich herausfinde, wo Halo stationiert ist, sehe ich keine großen Aussichten, wieder zu ihr zu stoßen. Solange das Munitorum meine Existenz nicht anerkennt, komme ich auch für eine Verlegung zu meiner Einheit nicht infrage. Ich … sitze fest.« »Nicht unbedingt«, sagte Jagdea. »Wollen Sie fliegen?« »Ja, nun, sicher, wenn ich kann.« »Sie sind gesund. Sie sind doch auch schon Donnerkeile geflogen, oder?« »Ja. Bree, was schwebt Ihnen vor?« TAG 268 LS Lucerna, 07:30 Ein klarer Tag über der Wüste. Gutes, helles Licht. Leichter Seitenwind. Er gab mehr Schub, und das wuchtige, brutale Imperiumsflugzeug stieg mühelos. Was für eine Ironie, dachte Kaminsky. Genauso waren die Bedingungen gewesen an dem Tag, als er … Als er das letzte Mal geflogen war. »Fliegen Sie in Richtung vier-eins-sechs«, sagte das Kom. »Verstanden, Führer«, erwiderte Kaminsky. »Und behalten Sie den Auspex im Auge. Mit dem Drehknopf oben rechts über der Bildanzeige können Sie den Maßstab verändern, wenn Sie bei verwaschenen Echos eine bessere Auflösung brauchen.« »Verstanden, danke.« Kaminsky bewegte behutsam den Steuerknüppel und korrigierte mit dem Ruder. Gutes Ansprechverhalten. Der Donnerkeil hielt alles, was er sich von ihm versprochen hatte.
»Kontakte! Zehn Uhr!«, dröhnte es plötzlich aus dem Kom. Kaminsky schaute sich um und sah den Blitz im Auspex. Kein Sichtkontakt … Doch, da waren sie. Ein Glitzern von Sonnenlicht auf Metall, hart und hoch oben. Er stieg wieder. Die Fledermaus schoss herab und kam dann scharf aus ihrem Sturzflug. Er hatte gedacht, er hätte das Abfangmanöver gut geplant, aber die Fledermaus war unter ihm durchgeschlüpft. »Ausbrechen! Ausbrechen, oder er erwischt Sie!« »Ich versuch’s ja!«, erwiderte Kaminsky. Er flog eine harte Rolle nach links. Die Fledermaus war jetzt direkt hinter ihm. Wie hatte sie das geschafft? »Ausbrechen! Ausbrechen!« Warnton. Der Gegner hatte ihn in der Zielerfassung. »Heiliger Thron!«, fluchte er und versuchte es mit einem letzten Ausweichmanöver. Die Fledermaus fing an zu schießen. Kaminskys Donnerkeil explodierte. Der Knüppel wurde schlaff, und der Himmel verschwand. Blansher schob die Haube zurück. »Pech«, sagte er. »Ich war dumm«, sagte Kaminsky. »Es war ein Anfängerfehler.« »Sie müssen sich noch an den Vogel gewöhnen. Sie denken noch zu viel über die Kontrollen nach und wie sie funktionieren. Das ist natürlich. Wenn sie erst einmal so vertraut sind, dass Sie nicht mehr darüber nachzudenken brauchen, kriegen Sie den Kopf frei für andere Dinge.« Kaminsky nickte. »Außerdem«, sagte Blansher, »weiß ich, dass Sie noch nicht viel Erfahrung mit Vektorschubmaschinen haben. Mit der Schubvektorsteuerung können wir in der Luft alle möglichen Tricks abziehen. Die Fledermaus hat sie gerade erwischt, weil sie mit Hilfe eines Düsenschwenks unter ihnen durchgeglitten ist. Und wenn Sie dasselbe getan hätten, wären Sie wahrscheinlich ausgewichen.« »Ich weiß«, sagte Kaminsky. »Aber es ist schwierig, die Vorwärtsbewegung außer Acht zu lassen. Zur Seite schwenken, anhalten … solche Sachen kommen einem einfach nicht natürlich vor.«
»Es braucht gar nicht so dramatisch zu sein. Schon kleine Düsenschwenks bringen eine Spur nicht ballistisches Verhalten in Ihr Flugverhalten.« Blansher warf einen Blick auf sein Chronometer. »Sie waren jetzt zwei Stunden im Simulator. Wir können eine Pause machen, wenn Sie wollen. Eine Runde frühstücken.« »Wie oft bin ich in den zwei Stunden gestorben?«, fragte Kaminsky. »Sechsmal«, grinste Blansher. »Versuchen wir’s noch mal.« LS Lucerna, 07:43 »Kommodore? Kommodore Eads?« Jagdea rannte, um den Mann einzuholen. Sie überquerten einen stark frequentierten Laufsteg tief im Herzen des Stützpunkts. Ständig erfolgten Lautsprecherdurchsagen, und Personal drängte und eilte vorbei. »Kommodore Eads?«, wiederholte Jagdea. Der Mann drehte sich um und neigte den Kopf. »Wer ruft meinen Namen?« Man hatte ihr gesagt, dass er blind war. Suchen Sie einen blinden Offizier, hatten mehrere Leute gemeint. »Ich bitte um Verzeihung, Kommodore. Ich bin Geschwaderführer Jagdea, XX. Phantine.« »Sind Sie das? Und was wollen Sie von mir?« »Ich hatte gehofft, mich mit Ihnen unterhalten zu können, Kommodore. Einen Rat zu bekommen.« »In welcher Sache?« »Piloten. Ich suche Piloten, um die Verluste in meiner Staffel zu ersetzen.« »Dann sollten Sie doch wohl mit der Flottenreserve reden«, sagte er. »Da habe ich angefangen. Die Flottenreserve hat niemanden, der flugtauglich wäre. Die Handvoll fähiger Piloten, die mit der Evakuierung gekommen sind, wurden bereits Geschwadern der Flotte zugeteilt. Also habe ich das Munitorum um Listen mit flugtauglichen Piloten des Commonwealth hier auf Lucerna gebeten.« Eads gluckste. »Das können Sie nicht machen. Die Flotte nimmt keine Piloten von den Planetaren Streitkräften.«
»Weil die Flotte sich für einen Elitezweig hält und bewusst nur aus ihren eigenen Reihen auswählt, ich weiß. Das hat der Munitorum-Offizier mir auch gesagt«, sagte Jagdea. »Die Sache ist aber die: Das XX. Phantine gehört nicht zur Flotte, sondern zur Imperialen Garde. Eine Anomalie, aber eine, die mir den Handlungsspielraum gibt, aus den Planetaren Streitkräften zu rekrutieren, wenn ich das will.« Eads schüttelte belustigt den Kopf. »Der Flotte wird das nicht gefallen.« »Die Flotte muss sich damit abfinden. Der Präzedenzfall wurde bereits geschaffen, und zwar dank eines Priesters, der … Hören Sie, ich will Sie nicht mit der Geschichte langweilen. Der Witz ist, dass ich die Liste der Commonwealth-Piloten habe.« Jagdea klopfte auf einen dicken Aktenordner unter ihrem Arm. »Man hat mir gesagt, wegen besonderer Empfehlungen sollte ich mich an Sie wenden.« »Können wir uns im Gehen unterhalten?«, fragte Eads. »Meine Schicht in der Einsatzzentrale beginnt um acht.« »Natürlich.« Sie verließen den Laufsteg und schritten durch einen gleichermaßen geschäftigen, in den Fels gehauenen Korridor. Jagdea fiel auf, wie sogar die Leute, die es am eiligsten zu haben schienen, hochachtungsvoll beiseitetraten, um Eads passieren zu lassen. »Sie kennen die Männer. Sie hatten das Kommando in ThedaNord.« »Vor dem Eintreffen der Flotte. Ich fürchte, ich kann Ihre Listen nicht lesen. Ich habe meinen Code-Leser in der Hektik der Evakuierung zurückgelassen. Ohne ihn bin ich verloren.« »Ich könnte Ihnen die Liste vorlesen, Kommodore.« »Wie ich schon sagte, meine Schicht beginnt um acht. Vielleicht später, Geschwaderführer.« »Mit Verlaub, Kommodore, die Zeit ist sehr knapp. Fällt Ihnen niemand aus dem Stegreif ein?« Die Hauptschleuse der Einsatzzentrale Lucerna lag vor ihnen. »Doch, es gibt einen. Ein guter Pilot. Ich weiß, dass er hier ist, weil er mit mir gekommen ist. Und ich weiß auch, dass er Zeit im Simulator verbracht hat, um sich auf Ihre Maschinen einzustellen.« »Das ist ein guter Anfang.«
»Er heißt Scalter. Frans Scalter. Ich kann ihn nur wärmstens empfehlen. Er arbeitet auch in der Zentrale, aber nicht in dieser Schicht. Jemand könnte ihn für Sie ausfindig machen.« »Ich danke Ihnen, Kommodore. Kann ich später zu Ihnen kommen? Und mit Ihnen die Listen durchgehen?« »Selbstverständlich.« Sie hatten die Schleuse erreicht. Jagdea konnte das hektische Durcheinander in der Zentrale jenseits der Schleuse hören. Junioren eilten mit Datentafeln und Meldezetteln hin und her. Ein junger Mann stand neben der Schleuse. Er schien auf Eads zu warten. Er kam Jagdea irgendwie bekannt vor. »Guten Morgen, Lotse«, sagte er zu Kommodore Eads. »Nennen Sie das einen Gruß?«, erwiderte Eads. »Sind Sie bereit, Darrow?« »Ja, Kommodore.« »Dann erwarte ich Sie später, Geschwaderführer«, sagte Eads zu Jagdea und ließ sich dann von seinem Junior in das Tohuwabohu der Einsatzzentrale führen. LS Lucerna, 08:30 Sie standen auf einer Aussichtsplattform hoch über den Inselklippen. Es war ein schöner, klarer Morgen, obwohl der Wind stark war und an ihren Haaren zerrte. Hundert Meter unter ihnen krachte das Meer gegen den Fuß der rosa Klippen. »Beinahe romantisch«, sagte Beqa. »Das Meer und die Inseln. Meine Familie war mit mir hier auf den Inseln in Urlaub, als ich klein war. Mit mir und Eido. Wir waren auf Salzhafen. Da gibt es Strände. Eido hat die Insel geliebt. Das war natürlich vor dem Krieg. Als die Leute noch Urlaub gemacht haben.« »Eines Tages machen wir zwei Urlaub. Das verspreche ich.« Sie lächelte Viltry an. »Mach keine Versprechungen, die du nicht halten kannst.« »Nein, wirklich. Ich meine es ernst, ich muss nur den Feind besiegen, dann können wir so viel Urlaub machen, wie wir wollen.« Sie schüttelte belustigt den Kopf. »Sie haben also eine Arbeit für dich gefunden, sagst du?«, fragte Viltry. »Bei der Munitionsaufbereitung. Der Senior, der mich vermittelt hat, war wohl ziemlich beeindruckt von meinen Fähigkeiten. Die
vielen langen Nachtschichten in der Manufaktur waren nicht umsonst.« »Das ist gut.« »Ich fange heute Nachmittag an.« »Du hast noch gar nichts zu meinem Aussehen gesagt«, sagte Viltry. »Ich versuche nicht daran zu denken. Es ist schwierig, weil du in diesem neuen Fliegeranzug ziemlich hübsch bist, und dann auch noch rasiert und gekämmt. Du hast dein Geschwader gefunden, nicht?« »Nein«, sagte Viltry. »Aber ich habe hier eine phantine Einheit gefunden, die einen Piloten brauchte. Kampfflieger, ist das zu glauben? Das erfordert einiges Umlernen. Die Einheit gehört zum XX. Phantine. Die Umbra-Staffel.« Er zeigte ihr die Insignien und Abzeichen an seiner neuen Fliegerjacke. »Sehr hübsch«, sagte sie und schaute weg und aufs Meer. »Ich muss fliegen, Beq. Das ist nun mal mein Job. Sie brauchen jetzt jeden Pilot, den sie kriegen können. Ich würde den Thron verraten, wenn ich es nicht täte.« »Ich weiß.« »Und wenn der Krieg hier vorbei ist, kann ich vielleicht den Dienst quittieren und hier bei dir bleiben.« Beqa Mayer lächelte. »Der Krieg ist nie vorbei, Oskar. Wenn er hier zu Ende ist, wird ein guter Pilot wie du woanders gebraucht. Sie werden dich nicht gehen lassen. Du bist wertvoll. Sie werden dich fliegen lassen, bis der Feind dich schließlich erwischt. Vergiss nicht, was ich dir über Versprechen gesagt habe, die du nicht einhalten kannst.« »Es tut mir leid«, murmelte er. »Ist schon gut. Wirklich. Wir hatten Zeit für uns. Es war kurz, aber sehr schön. Ich dachte schon einmal, ich hätte dich verloren, und der Imperator hat dich zurückkommen lassen. Das könnte ich nicht noch mal durchmachen. Du fliegst. Ich werde stolz auf dich sein. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.« Der Wind hatte wieder aufgefrischt. Sie zitterte. »Dieser dämliche alte Mantel von dir«, schnauzte er. Er bückte sich zu seinem Seesack hinunter und holte seine zerrissene Fliegerjacke der Halo-Staffel heraus. »Nimm die hier. Die ist etwas ramponiert und eingerissen, fürchte ich, aber wenigstens vliesgefüttert.«
Er legte sie ihr über die Schultern und zog sie dann an sich. »Danke«, sagte sie, während sie sich an ihn schmiegte. Sie lehnte den Kopf an seine Brust. »Du hast recht«, sagte er, während er die Aussicht genoss. »Es ist beinahe romantisch.« Es donnerte, als sei das Ende der Welt gekommen, und acht Donnerkeile rasten aus dem Hangar in der Klippe unter ihnen hoch in die Luft. Das kehlige Tosen der Nachbrenner ließ ihre Trommelfelle erbeben. Während die Flugzeuge hoch in den Himmel jagten, mussten beide lachen. »Bis so etwas passiert«, sagte Viltry. Sie küsste ihn auf die Wange. »Zur Hölle mit ihnen. Wir sind selbst Romanze genug. Geh und flieg, Oskar. Ich habe den Imperator gebeten, dich zu beschützen.« Über den Mittwinterinseln, 14:10 Die Umbra-Staffel war kaum in der Luft, als sie auch schon den Luftkampf sichtete. Im Westen war der blassgrüne Himmel voller greller Blitze und mit Rauchschwaden bedeckt. Und es war nicht das einzige Gefecht. Geschwader von Onstadt trugen eine größere Schlacht im Osten aus, und alles, was das Viper-Atoll aufzubieten hatte, war ebenfalls in der Luft, um eine Tausend-BomberFormation abzufangen, die über das Ezrameer in Richtung Limbus flog. »Umbra, auf viertausend steigen«, befahl Jagdea. Sie hatte vier Maschinen bei sich. Marquall, Van Tull, Cordiale und Viltry. Viltrys erster Flug. Sie hatte seine Anspannung gespürt, als er zu seinem Vogel gerannt war. Die Umbra-Staffel war an diesem Tag bereits zweimal in der Luft gewesen. Ein voller Patrouilleneinsatz um 09:00 Uhr, der zwei Stunden gedauert hatte und in dessen Verlauf sie eine Bomber-Formation von neunzig Maschinen mit Unterstützung von drei Blitzstrahl-Geschwadern vom Luftwaffenstützpunkt Tamuda zurückgeschlagen hatten. Drei Abschüsse – Ranfre, Del Ruth und Jagdea. Dann waren Del Ruth, Ranfre und Zemmic mit Blansher als Führer kurz vor Mittag aufgestiegen und hatten sich ein kurzes, aber heftiges Duell mit dem Jagdschutz einer Formation Höllenklauen geliefert. Zemmic und Blansher hatten Abschüsse er-
zielt, aber sie waren dankbar gewesen, als das 56. ihnen zu Hilfe gekommen war, um die Formation aufzulösen. Alle vier ließen jetzt ihre Maschinen überholen, und Blansher verbrachte seine Zeit mit der Ausbildung Kaminskys. Blansher war geduldig, schien jedoch seine Zweifel hinsichtlich Kaminskys Talent zu haben. »Er versteht langsam die Grundzüge des Donnerkeils, aber er kann sich einfach nicht entspannen«, hatte Blansher zu ihr gesagt. »Vielleicht ist er nicht die beste Wahl.« »Bleib dran«, hatte Jagdea ihm befohlen. Sie konnten die Feindflugzeuge jetzt sehen. Sechzig Peiniger, die mit Bomben beladen über das Meer in Richtung Nordteil des Commonwealth flogen. Das 51. hatte die Formation bereits gestellt. »Irgendeine Spur von Jagdschutz?«, sendete Jagdea. »Nichts zu sehen«, erwiderte Cordiale. »Aber man macht sich so seine Gedanken.« »Dann machen Sie weiter«, sagte sie. Außerdem war auch nichts von der versprochenen Unterstützung für sie von Langstrand zu sehen. Jagdea schaltete ihr Kom ein. »Lucerna Einsatzleitung, hier Umbra Führer. Bitte bestätigen Sie, dass die anderen Einheiten in der Luft sind.« Ein summendes Knistern. »Einsatzleitung, Umbra Führer, die Staffeln Kodiak und Orbis sind als gestartet gemeldet. Sie befinden sich siebzig Kilometer östlich von ihnen und nähern sich tief. Zwanzig, wiederhole, zwanzig Maschinen.« »Danke, Einsatzleitung. Wir haben Sichtkontakt mit dem Feind. Gehen zum Angriff über.« Jagdea war beruhigt zu hören, dass die phantine Staffel, die von ihrem Freund Wilhelm Hayyes geführt wurde, zu ihnen unterwegs war. Sie schaltete ihre Zielerfassung ein und machte die Laserkanonen scharf. »Geschütze scharf machen, Umbra. Kommen.« »Umbra Acht, verstanden.« Das war Marquall. »Umbra Drei, Eins a.« Und Van Tull. »Umbra Elf, alles klar.« Cordiale. Eine Pause. »Umbra Vier? Kommen«, sendete Jagdea. »Umbra Vier? Haben Sie verstanden? Viltry? Verdammt noch mal, Viltry!«
»Verstanden, Führer. Hier Umbra Vier. Verzeihung, ich habe gerade versucht, meine Zielerfassung einzuschalten, und scheine stattdessen den Entnebler und die Kanzelbeleuchtung erwischt zu haben.« »Viltry?« »Nur ein Scherz, Führer. Geschütze scharf. Auf Ihr Zeichen.« Jagdea lächelte. »Einsatzleitung, Umbra geht zum Angriff über. Umbra-Staffel … macht sie fertig!« Viltry war längst nicht so selbstsicher, wie er klang. Während er behutsam mit dem Steuerknüppel arbeitete und Jagdeas flachem Sturzflug folgte, sah er die ungeschlachten Rudel der Peiniger, die vor ihm den Himmel ausfüllten. Die langsamen mittelschweren Bomber schossen bereits mit ihren Turmgeschützen und begrüßten sie mit heftigem Gegenfeuer. Viltry hatte schon früher Donnerkeile geflogen, aber nach so vielen Einsätzen mit Marodeuren war es trotzdem ein eigenartiges Gefühl. Es lag nicht an den Unterschieden in der Instrumentierung oder in der Anordnung der Instrumente, auch nicht an der erheblich größeren Wendigkeit. Es lag daran, dass er wieder alleine war. Ein Mann, eine Maschine. Keine ausgebildete Besatzung auf anderen Stationen. So fokussiert. So konzentriert. Alles lag nur an ihm. Viltry beschloss, Freude daran zu haben. Verglichen mit G für Greta war der Donnerkeil jedenfalls wie ein winziger, ultraschneller Pfeil. Sie fuhren zwischen die feindlichen Linien. Er wurde daran erinnert, dass auch die Kampftaktiken nun vollkommen anders waren. Normalerweise hätte er ein schweres Flugzeug in Formation geflogen und die Abfangjäger abgewehrt. Nicht andersherum. Jagdea und Van Tull jagten feuernd über die Formation weg. Viltry folgte ihnen und sah Marquall und Cordiale den Weg unter ihnen durch nehmen. Sofort fielen drei Maschinen aus der Reihe und zogen dabei dicke Rauchfahnen hinter sich her. Eine kippte plötzlich nach unten weg. Umbra wendete für den zweiten Überflug. »Das kann ich besser«, sagte Viltry zu sich selbst. Cordiale kam als Erster aus der Wende und setzte den Angriff fort. Seine Laserkanonen blitzten weiß. Einer der Peiniger schwankte einen Moment in der Luft, dann explodierte er in einem gewaltigen Feuerball, als seine Bombenlast hochging.
Brennende Trümmer regneten herab. Die Peiniger in unmittelbarer Nachbarschaft wurden von der Druckwelle abgedrängt. Zwei kollidierten, und die beiden Maschinen brachen auseinander. Viltry sah Metalltrümmer und Leiber fallen. Er hatte ein anständiges Ziel. Der nächste Peiniger jagte ihm Ströme von Leuchtspurgeschossen entgegen, aber das Feuer war zu tief angesetzt. Er lächelte, als die Zielerfassung ihm mit einem musikalischen Ton grünes Licht gab, und feuerte. Der Donnerkeil erbebte und vibrierte, als die Kanonen schossen. Bree hatte ihn gewarnt, dass das passieren würde. Er korrigierte und zog hoch. »Umbra Vier, hier Führer. Schöner Abschuss.« »Den habe ich nicht mal gesehen«, sagte er. »Habe ich ihn erwischt?« »Ja, Vier.« Er rollte zurück, hocherfreut über die behände Vorstellung des Donnerkeils, und nahm sich den nächsten Peiniger vor. Seine Türme versuchten ihn festzunageln. Er wusste aus bitterer Erfahrung, wie sich ein Jäger an einen in gerader Linie fliegenden Bomber von unten anpirschen konnte. Es war alles nur eine Frage der richtigen Beurteilung des feindlichen Feuerbereichs. Es gab immer eine Schwachstelle. Er fand sie. Viltry schoss, und blendende Strahlen aus Laserenergie zuckten aus seiner Nase. Der Bauch des Peinigers platzte auf, und dann tauchte er plötzlich weg, in Flammen, und ließ eine Fahne schmutzig braunen Rauchs hinter sich in der Luft zurück. »Nummer zwei«, sendete er. »Ich glaube, ich arbeite mich langsam ein, Bree.« Marquall legte Neun-Neun in eine enge Kurve, innerlich aufgebracht. Er hatte seine Ziele auf beiden Anflügen verfehlt. Und dieser Mann, Viltry, war einfach vorbeigekommen und hatte im Zeitraum von zwei Minuten die Leistung von Marqualls gesamter Laufbahn erbracht. Dieses Arschloch! Das war unerträglich. Dieser Emporkömmling nannte Jagdea sogar beim Vornamen. Für wen hielt der sich eigentlich?
Neun-Neun erbebte, als Boltgeschosse seine Flanke küssten. Marquall kippte weg. Ein Teil der Formation jagte unter ihm vorbei, und er stürzte zurück auf die führenden beiden. Er war zu hoch. Die Heckgeschütze beharkten ihn unerbittlich, sprengten Risse in sein Kanzeldach und fegten einen Teil seiner Haube weg. Er ließ sich aus der Schusslinie sacken. Woher wusste Viltry, wie er anfliegen musste? Er stieg wieder, vom Geschützfeuer des feindlichen Rudels verfolgt. Er flitzte herein und nahm einen Bomber aufs Korn, aber bevor er abdrücken konnte, explodierte das Ding in einer gigantischen Rauchwolke. Van Tull hatte ihn erledigt. »Jetzt reicht’s aber!«, rief Marquall. »Langsam hab ich die Schnauze voll!« Das 51. hatte sich mit leeren Tanks zurückgezogen. Jetzt kamen die Staffeln Kodiak und Orbis und griffen in den Kampf ein. Kodiak, eine Staffel des 789. Flotten-Geschwaders, flog dunkelgrüne Keile. Orbis war im Phantine-Grau mit blauer Trimm lackiert. »Hallo Orbis, hallo Orbis«, sendete Jagdea. »Schön, euch zu sehen.« »Umbra Führer, hier Hayyes. Sind noch welche übrig?« »Reichlich. Ihr habt die freie Auswahl, Orbis Führer.« Hayyes jagte in einer weiten Kurve heran und beharkte einen Peiniger, der sofort in Flammen aufging und abschmierte. Zwei seiner Flügelmänner trafen ebenfalls, und die Kodiak-Staffel holte weitere drei Bomber vom Himmel. »Alle Geschwader! Nach links ausbrechen! Sofort!«, sendete Kodiak Führer. »Jäger im Anflug!« Höllenklingen stießen aus der hohen Wolkendecke herab und jagten mit Vollschub heran. Sie feuerten aus allen Rohren. »Auseinanderziehen!«, befahl Jagdea. Viltry spürte, wie seine Maschine bockte, als Schüsse vorbeizischten. Er zog steil hoch. Marquall tauchte ab. Die feindlichen Jäger rasten durch ihre sich auflösende Formation. Einer der Kodiak-Jäger brach unter Beschuss auseinander. Ein zweiter stürzte in weitem Bogen dem Meer entgegen.
Die Klingen waren rot und schwarz bis auf ihren Anführer, der perlweiß war. LS Lucerna, 14:30 »Wechseln.« »Und noch einmal, bitte.« »Wechseln.« »In Ordnung«, rief Racklae. »Jetzt geben Sie den Befehl ›Feuer‹.« »Feuer!«, sagte Kaminsky. »Noch einmal?« »Feuer!« Racklae erhob sich, prüfte seine Tech-Tafel und wandte sich an Kaminsky, der in der Kanzel saß. »Also, das System kennt jetzt Ihre Stimme. Die Befehle sind gespeichert.« Racklae beugte sich über die Kanzel und zeigte auf einen Messingschalter am Armaturenbrett neben dem Schubhebel. »Damit machen Sie die Geschütze scharf. Sie brauchen nur den Schalter umzulegen. Danach steuern Sie alles mit Ihrer Stimme. Sie sagen ›Feuer‹, dann gibt das System einen Feuerstoß mit der aktuell gewählten Waffe ab. Die Voreinstellung ist Laser. Sie sagen ›Wechseln‹, dann schaltet es zu den Autokanonen um oder zurück. Ist das klar?« »Ja danke«, nickte Kaminsky. »Und wenn ich Dauerfeuer geben will?« »Sagen Sie einfach weiter ›Feuer‹, Herr Major.« Kaminsky stemmte sich aus der Kanzel. »Ich danke Ihnen, Herr Racklae. Sie haben sehr gute Arbeit geleistet.« Der Mechaniker schien nicht ganz bei der Sache zu sein. »Was ist los?«, fragte Kaminsky. Racklae sprang von der Tragfläche. »Die Jungs überwachen das Kom, Herr Major. Es hört sich so an, als wäre Umbra in Schwierigkeiten.« Kaminsky folgte dem Mechaniker zu der Gruppe, die sich um das Kom-Gerät versammelt hatte. Blansher drehte am Frequenzwähler. Ranfre, Zemmic und Del Ruth hockten zwischen den Techs. Kaminsky glaubte zumindest, dass sie es waren. Er hatte die Namen der anderen Piloten gerade erst erfahren.
»Was ist los?«, fragte er Zemmic. Der junge Mann spielte mit einer Kette mit Glücksbringern. »Jag hat eine Peiniger-Formation angegriffen«, sagte Zemmic. »Und jetzt kommen Fledermäuse. Schlimme Fledermäuse. Der Schlächter ist dabei.« »Der Schlächter?«, fragte Kaminsky. »Der perlweiße Schweinehund«, sagte Zemmic. Über den Mittwinterinseln, 14:33 Viltry riss seinen Keil herum. Das Jäger-Rudel kam über sie. Er versuchte wegzuschwenken. Jagdea und einer der Orbis-Vögel rasten kreuzweise und schießend unter ihm durch. Er sah, wie ein Kodiak von einer roten Fledermaus getroffen wurde und explodierte. Er bekam das kurze Fing einer Zielerfassungswarnung und rollte. Eine schwarze Klinge versuchte, ihn aufs Korn zu nehmen. Viltry zog nach unten und in die Formation der Peiniger, wobei er das ihm entgegenschlagende Feuer ihrer Geschütztürme ignorierte. Die Klinge wurde langsamer, offenbar nicht gewillt, das Risiko einzugehen, einen der Bomber zu treffen, den sie beschützen sollte. Mit seiner Strategie zufrieden, gab Viltry Vollschub und zog innerhalb der Formation wieder hoch, diesmal mit feuernden Geschützen. Das Feuer beeinträchtigte seine Steigfähigkeit, aber das war es wert. Während er diagonal von unten einem Peiniger entgegenraste, traf er ihn zwei- oder dreimal. Aus seinen Triebwerken quoll blauer Rauch. Oberhalb des getroffenen Bombers konnte Viltry die schwarze Fledermaus nicht mehr sehen. Aber da war die perlweiße Klinge, der Anführer des feindlichen Rudels. Vielleicht fünfhundert Meter rechts von Viltry schwenkte er herum. Er flog wesentlich schneller als Viltry und stieß herab. Ein anderer Donnerkeil, Orbis Sechs, raste im Steigflug an der Fledermaus vorbei. »Orbis Sechs, aufpassen!«, rief Viltry. Die perlweiße Klinge führte eine perfekte Korrektur per Düsenschwenk aus, ein wendiges, gleichzeitiges Steigen und Schwenken, und schoss auf Orbis Sechs.
Getroffen faltete sich der Donnerkeil zusammen und verspritzte brennenden Treibstoff. Die führende Klinge zog bereits wieder hoch und suchte das nächste Ziel. Viltry machte Anstalten, ihr zu folgen, stellte aber plötzlich fest, dass er alle Hände voll mit Ausweichen zu tun hatte, als die schwarze Fledermaus wiederauftauchte. Jagdea und Cordiale zogen gemeinsam herum und jagten eine rote Fledermaus zur Formation zurück. Der zuvor saubere, strahlende Himmel war jetzt voller Kondensstreifen, Rauchwolken und Rückständen der Geschützentladungen. Trotzdem konnte sie die weiße Fledermaus sehen. Die rote Klinge, der sie folgten, setzte sich von ihnen ab. Sie gab die Jagd danach auf und schwenkte auf der neuerlichen Suche nach der weißen Fledermaus im Chaos des Luftkampfs seitlich weg. Eine schwarze Klinge flog frontal auf sie zu, und sie wechselten Schüsse. Sie warf einen Blick auf die Treibstoffanzeige. Niedrig. Die Anforderungen des Gefechts hatten die Tanks wirklich geleert. »Umbra-Staffel, Treibstoff-Situation?« Cordiale antwortete, dann Viltry und schließlich Marquall. Alle waren wie sie buchstäblich am Ende. »Führer an Staffel, Gefecht abbrechen und ab nach Hause.« »Umbra Vier, verstanden.« »Umbra Elf, zu Befehl, Mamzel.« »Marquall? Umbra Acht? Kommen.« Marquall hatte gerade ebenfalls das weiße Feindflugzeug ausgemacht und sofort wiedererkannt. Eindeutig die Fledermaus, die ihn bei seinem zweiten Einsatz fast erwischt hätte, die Fledermaus, die den Apostel abgeschossen hatte. »Umbra Acht!« »Augenblick, Führer.« Er schwenkte in Richtung der Fledermaus, musste aber sofort wieder abdrehen, weil er unabsichtlich in die Geschützreichweite zweier Peiniger geflogen war. Marquall gab Schub, nahm die Nase herunter und raste unter der Bomberkette durch, um eine vergebliche Salve auf die mittlerweile wieder aufsteigende weiße Klinge abzugeben. Noch eine Fledermaus eröffnete das Feuer auf
ihn, als sie über seine Zwei kreuzte, und Marquall schwenkte wieder herum und konnte dann gerade noch einem Peiniger ausweichen, der mit brennenden Triebwerken abschmierte. »Umbra Acht! Sofort abbrechen!« Jagdea klang böse. Marquall hörte einen beharrlichen Warnton. Die Treibstoffgrenze war erreicht. »Verstanden, Führer. Ich komme.« Er warf noch einen Blick zurück und sah zu seiner Bestürzung, dass die weiße Klinge sich hinter Orbis Führer geklemmt hatte. »Orbis Führer! Ausbrechen! Sofort ausbrechen!«, brüllte Marquall. Orbis Führer schwenkte nach rechts. Geschützfeuer aus der weißen Fledermaus riss seinen Donnerkeil in Stücke. Die Trümmer flogen noch beinahe einen halben Kilometer weit auf einem Flammenspeer. Marquall zog hoch und aus dem Gefecht heraus, dann jagte er den anderen drei Umbra-Vögeln hinterher. »Habt ihr das gesehen?«, sendete er. »Habt ihr das gesehen? Die verdammte weiße Klinge! Das Schwein hat Orbis Führer erwischt!« »Ich hab’s gesehen«, erwiderte Jagdea. Sie spürte nichts außer Taubheit und Erschöpfung infolge der extremen körperlichen Belastung des Luftkampfes. Sie wusste, dass sich die Trauer später einstellen würde. Hayyes war schon seit der Flugschule ein Freund. Im Moment konnte sie nur an eins denken. Im Chaos der Endphase des Kampfes war ihr endlich wieder eingefallen, woher sie Eads’ Junior kannte. LS Lucerna, 15:10 Der Düsenlärm verklang. Als Jagdea und ihre Flügelmänner ausstiegen, applaudierten die Mechanikertrupps und die anderen Piloten. Jagdea wusste, dass das ihre Verbeugung vor einem höllischen Kampf war, vor einem Haufen guter Abschüsse und vor der Tatsache, dass sie alle vier lebend zurückgekehrt waren. Sie zeigten außerdem ihre Unterstützung für Viltry bei dessen erfolgreichem Debüt. Aber es kam ihr dennoch falsch vor. Nicht nur wegen Hayyes. Wie viele imperiale Flugzeuge hatte sie allein in diesem einen Ge-
fecht abstürzen sehen? Männer starben in einem irrsinnigen Tempo. »Gute Arbeit«, sagte sie zu Cordiale, der sich auf das Deck gesetzt hatte, um die Stiefel zu öffnen und sich die Füße zu massieren, den Blutkreislauf wieder in Gang zu bringen. Wenn ein Pilot im Laufe eines Einsatzes oft hohem Andruck ausgesetzt war, schliefen ihm schon mal ein paar Gliedmaßen ein oder noch Schlimmeres. »Danke, Geschwaderführer«, sagte er. Viltry setzte seinen Helm ab. Er sah blass und erschüttert aus, hatte aber ein Grinsen im Gesicht. »Hat es Ihnen Spaß gemacht?«, fragte sie. »Natürlich nicht.« »Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht, Viltry. Als würden Sie schon seit Jahren Donnerkeile fliegen.« Er glättete sein verschwitztes Haar. »Ich muss zugeben, dass es Spaß gemacht hat, in etwas so Wendigem zu fliegen. Man vergisst leicht, wie schwer die Marodeure sind.« Marquall stieg gerade aus Neun-Neun. »Gut geflogen, Marquall«, sagte sie. »Sie haben den Kopf behalten.« Sie senkte die Stimme, sodass nur er sie noch verstehen konnte. »Missachten Sie nie wieder eine direkte Anweisung, Pilot. Ich habe den Abbruch befohlen, weil es Zeit war zu gehen. Wenn das passiert, gehorchen Sie ohne Wenn und Aber. Haben wir uns verstanden?« Er schaute zu Boden. »Ja, Geschwaderführer.« Sie ging. »Auftanken und nachladen, bitte!«, rief sie den Mechanikern zu, obwohl sie wusste, dass die bereits dabei waren. Ein hochgewachsener Mann in der Uniform des Commonwealth wartete mit Blansher auf sie. »Major Frans Scalter«, stellte Blansher ihn vor. Jagdea schüttelte Scalter die Hand und betrachtete ihn von oben bis unten. Scalter wirkte ein wenig benommen. »Ich nehme an, Sie haben Major Scalter bereits erklärt, worum es grundsätzlich geht, Mil?« »Ich habe mir die Freiheit genommen, Ihnen die Überraschung zu verderben, Geschwaderführer.« Jagdea wandte sich an Scalter. »Nun, Major? Hätten Sie Interesse an einem Platz in meiner Staffel? Kommodore Eads hat Sie persönlich empfohlen.«
Scalter öffnete den Mund, fand aber nicht sofort Worte. Er nickte und sagte dann: »Es wäre mir eine Ehre, Geschwaderführer Jagdea. Ich habe mich nach einer Gelegenheit gesehnt, noch einmal für meine Heimatwelt zu fliegen.« »Dann sind wir uns einig. Gut. Ihr Rufname ist Umbra Sieben. Mil, wenn Sie mit Kaminsky beschäftigt sind, suchen Sie jemanden wie Del Ruth oder Cordiale, um Major Scalter einzuweisen, auszurüsten und im Simulator zu betreuen.« »Zu Befehl, Mamzel«, sagte Blansher. »Haben Sie noch etwas vor?« »Es dauert nicht lange«, sagte Jagdea. Marquall stand eine Weile neben seinem Vogel, während er sich Jacke und Handschuhe auszog, da er sich nicht unter die anderen mischen wollte. »Alles in Ordnung, Pilotoffizier?«, fragte Racklae. »Bestens«, erwiderte er. Er würde seinem Mechaniker kaum verraten, dass er immer noch unter der Kopfwäsche litt, die Jagdea ihm verpasst hatte. Zumindest hatte sie den Anstand gehabt, es nicht vor den anderen zu tun. Er wanderte durch den Hangar, durch die Gruppen arbeitender Mechaniker und um einen Stapler, der gerade Munitionstrommeln abstellte, und blieb dann stehen, um einen elektrischen Tankwagen passieren zu lassen. Kaminsky saß auf einem Treibstoffkanister neben seinem Donnerkeil und studierte eingehend eine Datentafel mit Spezifikationen und Verfahrensvorschriften. »Hallo«, sagte Marquall. Das schockierend vernarbte Gesicht neigte sich ihm zu. »Hallo. Marquall, richtig?« »Ja. Also … hat sich Ihr Wunsch erfüllt?« »Ich bitte um Verzeihung?«, erwiderte Kaminsky. »In dieser Nacht im Zara. Da haben Sie gesagt, Sie würden alles geben, um so zu sein wie ich. Um wieder zu fliegen.« »Ah, ja, das habe ich gesagt, nicht wahr?« Marquall nickte. »Ich weiß nicht mehr, ob bevor oder nachdem Sie mich ein Arschloch genannt haben und eine Platzverschwendung, und mir nahelegten, mich zu erschießen, um aus diesem Sektor einen besseren Ort zu machen.«
»Verdammt«, sagte Kaminsky. Er legte die Tafel behutsam nieder, stand aber immer noch nicht auf. »Ich hatte irgendwie gehofft, Sie hätten das vergessen. Ja, mein Wunsch hat sich erfüllt, Marquall. Und was ist mit Ihnen? Sind Sie in letzter Zeit von irgendwelchen Barhockern gefallen?« Marquall lief rot an. »Nein«, sagte er. Kaminsky nahm die Tafel auf und fing wieder an zu lesen. »Dann sieht es so aus, als hätten sich die Dinge für uns beide ganz gut entwickelt«, sagte er. LS Lucerna, 16:01 Eads hatte sein Quartier in den unteren Ebenen des Stützpunkts. Durch den Evakuierungszustrom war die Unterbringung ein Problem. Hier unten rochen die in den Felsen gehauenen Gänge feucht, und die Beleuchtung war schlecht. Einige der Räume, die sie sah, waren Lagerhallen, und sie war sicher, dass die Quartiere, die sie passiert hatte, bis vor Kurzem ebenfalls noch Lagerhallen gewesen waren. Sie fand Eads’ Quartier und klopfte an die Metalltür. Nach einem Moment wurde geöffnet, und Darrow lugte hinaus. »Geschwaderführer Jagdea?« »Ich wollte Eads besuchen.« »Ja, Mamzel. Er erwartet sie.« Darrow öffnete die Tür und ließ sie ein. Der Raum war klein und kahl. Schutt war in eine Ecke gefegt worden. Es gab einen Klapptisch und zwei Stühle, ein ungemachtes Feldbett und eine Flasche Amasec mit einem schmutzigen Glas. Das einzige Zugeständnis an die Bequemlichkeit war ein alter, schäbiger Armsessel. Eads saß darauf und schien zu schlafen. »Ich kann wiederkommen«, flüsterte Jagdea. »Ich bin wach, Jagdea. Ich schalte nur gerade ab. Es war eine lange, anstrengende Schicht.« Darrow räumte einen Stapel Datentafeln und Papierakten vom Tisch ab. »Ich war gerade bei den Schichtprotokollen«, sagte er zu Jagdea. »Ich will nicht weiter stören.« »Nein, bleiben Sie«, sagte sie. Er hielt inne und legte den Papierkram wieder auf den Tisch.
»Verzeihen Sie die Tristheit«, sagte Eads. »Man hat mir gesagt, dass es trist ist. Ich kann es nicht ändern. Ich habe aus Theda nur die Kleider gerettet, die ich am Leib trug. Setzen Sie sich und lassen Sie uns zum Geschäft kommen.« Jagdea setzte sich und legte den Ordner auf den Tisch, den sie bei sich hatte. »Heute habe ich die weiße Fledermaus gesehen«, sagte sie. »Tatsächlich?«, sagte Eads. »Dann fliegt dieser Teufel also immer noch da draußen herum?« »Das hat mich an das Merkblatt erinnert, das zur Zeit des Zwischenfalls über dem Lidatal die Runde gemacht hat. An dieses Merkblatt«, sagte sie, indem sie auf den Ordner tippte. »Es enthält die Schilderung eines Gefechts mit der Fledermaus. Sehr nützlich, sehr lehrreich. Pflichtlektüre für die Flotten-Geschwader. Das haben Sie geschrieben, nicht wahr, Darrow?« »Das habe ich, Geschwaderführer«, erwiderte der junge Mann. »Das Merkblatt enthielt auch den Bericht Ihres kommandierenden Offiziers. Ich habe seinen Namen vergessen.« »Major Heckel«, sagte Darrow. »Major Heckel. Er beschreibt diese sehr außergewöhnliche fliegerische Leistung nicht ganz so bescheiden wie Sie in Ihrem Teil.« »Heckel hat nicht übertrieben«, sagte Eads leise. »Er sagte, es wäre eine der besten Darbietungen einer Naturbegabung gewesen, die er je gesehen hätte.« »So scheint es«, sagte Jagdea. »Er hat ein erfahrenes FliegerAss ausmanövriert, der wahrscheinlich Rottenführer und ein Pilot auf der Höhe seines Könnens ist. Und zwar in einer in jeder Beziehung unterlegenen Maschine, der es an Geschwindigkeit, Leistung und Schubvektorsteuerung der feindlichen Fledermaus fehlte. Was mich verwirrt, ist Folgendes, Kommodore Eads: Als ich zu Ihnen kam und um Ihre Empfehlungen bat, haben Sie diesen jungen Piloten ausgespart, der täglich unter Ihnen dient.« Eads blieb stumm. »Kommodore?«, sagte Darrow leise. »Dürfte ich fragen … Empfehlungen wofür?« »Meinem Geschwader fehlt ein Frontpilot, Darrow.« »Sie … Sie würden mich in Erwägung ziehen?«, sagte er verblüfft.
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie Simulatorzeit für die Donnerkeile hinter sich haben«, sagte Jagdea. »Das habe ich«, sagte Darrow. »Sechzig Stunden. Wer hat es Ihnen gesagt?« »Major Scalter. Wo stehen wir nun also?« Eads beugte sich vor, die Hände auf den Knien. »Enric ist nicht der, den Sie suchen, Geschwaderführer«, sagte er. »Warum nicht?«, fragte Darrow in scharfem Tonfall. »Verzeihung, Kommodore«, fügte er hinzu, indem er seinen Tonfall korrigierte. »Warum nicht, Kommodore?« Eads richtete seine Antwort an Jagdea. »Er ist gerade mal ein Kadett, Jagdea! Seine Kampferfahrung ist minimal. Sicher, er hat Talent. Aber dieser Luftkampf? Das war Glück. Er hatte in der Tat sehr viel Glück. Wenn Sie ihn jetzt ins Gefecht schicken, wird er sterben. Er ist noch nicht so weit. Meine Empfehlung wäre blanker Mord.« Darrow erhob sich. »Ich bin anderer Ansicht, Kommodore.« »Es ist nicht Ihre Entscheidung, Enric«, sagte Eads. »Nicht?«, fragte Jagdea. »Wie soll ich jemals so weit sein, wenn ich keine Erfahrung sammle?«, sagte Darrow. »Jetzt ist nicht die Zeit dafür«, sagte Eads. »Oh, ich glaube, die Zeit könnte nicht besser sein«, sagte Jagdea. »Enothis braucht alle seine Piloten für diesen Krieg, Kommodore Eads. Wenn Männer wie Darrow es nicht versuchen, dann gibt es vielleicht keine Zukunft mehr für andere Gelegenheiten.« »Ich werde mein Gewissen nicht mit seinem Blut belasten«, sagte Eads mit Nachdruck. »Ich werde ihn nicht empfehlen.« Jagdea sah Darrow an. »Ich glaube, es ist Sache jedes Geschwaderführers zu entscheiden, ob er eine Empfehlung für einen Mann braucht, bevor er ihn in seine Staffel aufnimmt. Ihr Einwand wurde zur Kenntnis genommen, Kommodore, und Ihre Loyalität bei dem Versuch, ihn zu beschützen, ist bewundernswert. Kadett Darrow, ich biete Ihnen diesen Platz an. Wollen Sie ihn haben?« »Ja, Geschwaderführer. Mit Freuden.« Darrow wandte sich an Eads. »Es tut mir leid, Kommodore.« Jagdea erhob sich und nahm ihren Ordner. »Sie müssen sich umgehend zum Dienst melden, Darrow. Sie können mich sofort begleiten.«
Sie gingen zur Tür. Im Eingang machte Darrow kehrt und salutierte zackig. »Nennen Sie das einen Gruß?«, sagte Eads. »Jawohl, Kommodore.« Eads erhob sich steif und erwiderte den Gruß. »Das ist ein Gruß«, sagte er und setzte sich wieder. »Viel Glück, mein Sohn. Belehren Sie mich eines Besseren.« Darrow folgte Jagdea durch den Korridor zu einer der Haupttreppen. Sie gingen Seite an Seite die Steinstufen empor. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte sie ihn. »Ja, Mamzel. Ich mag den Kommodore sehr. Es ist traurig, ihn so aufgebracht zu sehen.« »Sie wissen, dass er nur versucht hat, Sie zu schützen, nicht wahr?«, sagte Jagdea. »Ja, aber ich glaube, dahinter steckt noch etwas mehr«, sagte Darrow. »In diesen letzten Wochen hat er alles verloren. Sein Kommando, viele seiner Männer und seine Freunde, dann den Stützpunkt selbst und mit ihm alle seine Habseligkeiten. Ich glaube, meine Gesellschaft war das Letzte, woran er sich klammern konnte.« »Das hier ist Krieg«, sagte Jagdea. »Und Kriege erfordern Opfer.« TAG 269 LS Lucerna, 06:30 »Hier entlang, meine Herren«, rief Jagdea, während sie zur Mitte von Hangar drei schritt. Die vier Piloten folgten ihr in voller Flugrüstung, den Helm in der Hand. Viltry, Kaminsky, Scalter und Darrow. Letzterer sah besonders nervös aus. »Nur die Ruhe«, flüsterte Scalter. Jagdea blieb neben den Reihen der abgestellten Flugzeuge stehen. »Wir haben keine Zeit für eine richtige Einführung. Anscheinend herrscht Krieg oder irgendwas.« Die Männer lachten.
»Dies ist ein Orientierungsflug, ein Test, damit Sie sich mit den Realitäten vertraut machen können, bevor Sie tatsächlich einen Kampfeinsatz fliegen. Wenn ich sage ›Sie‹, dann meine ich die Herren Darrow, Scalter und Kaminsky. Herr Viltry ist bereits einen Kampfeinsatz geflogen. Aber ich denke mir, je mehr Flugzeit er in einem Donnerkeil bekommt, umso besser. Zemmic und ich fliegen Begleitung. Folgen Sie meinem Beispiel. Irgendwelche Fragen?« »Geschwaderführer?«, sagte Scalter. »Was hat es mit den rosa Federn auf sich, die Sie alle tragen?« »Das sind Glücksfedern!«, rief Cordiale. Die restlichen UmbraPiloten warteten bei ihren Vögeln. Er trat vor, schob eine Hand in die Tasche seiner Fliegerhose und zückte ein paar, die er den Neulingen gab. Sie befestigten sie zweifelnd am Revers ihrer Jacke. »Genau«, sagte Jagdea. »Glücksfedern. Damit wären die wichtigen Sachen geklärt. Dann wollen wir mal einsteigen.« »Pfeifen wir aus dem letzten Loch oder was?«, flüsterte Marquall Ranfre zu. »Zwei Hoffnungslose aus dem Commonwealth, einer davon praktisch noch ein Kind, ein giftiger Krüppel und ein Marodeur-Pilot, der durch die Mangel gedreht wurde. Ich meine, er hat diesen Ausdruck in den Augen.« »Viltry hat seine Sache gestern verdammt gut gemacht«, sagte Ranfre. »Trotzdem«, sagte Marquall. Viltrys Ergebnis des vergangenen Tages ärgerte ihn immer noch. Anlasser fingen an zu knistern und starteten die Triebwerke der sechs Vögel. Scalter richtete sich in seiner Kanzel ein und fuhr mit einem Grinsen im Gesicht die Kanten entlang. Kaminsky ließ sich von seinem Mechaniker anschnallen, dann schloss er mit seiner gesunden Hand die Prothese um den Steuerknüppel. »Alles in Ordnung?«, fragte Racklae. »Nur die üblichen Nerven.« Racklae beugte sich in die Kanzel, schnallte Kaminsky das Sprechgerät für die Stimmaktivierung um den Hals und stöpselte das zugehörige Kabel dann auf der linken Seite in die Armaturentafel ein. »Bequem so?«
Kaminsky setzte seine Maske auf und nickte. Racklae schloss das Kanzeldach. Darrows Herz schlug schnell. Er leckte sich immer wieder die Lippen. Nichts war so, wie er es sich vorgestellt hatte. Das Gewicht der Ausrüstung an seinem Körper, das Geräusch der Düsentriebwerke, der Geruch der Kanzel, als er sich darin niederließ. Einer der Mechaniker fasste sich an die Ohren, und Darrow nickte, schaltete den Kom ein und testete ihn. »Hier Umbra Führer, lassen Sie mich wissen, wenn Sie bereit sind.« »Führer, hier Zehn, bereit.« »Danke, Zemmic. Das hatte ich ohnehin angenommen.« »Führer, hier Umbra Vier. Ich bin so weit«, sendete Viltry. »Umbra Fünf, Führer«, rief Kaminsky. »Bereit zum Start.« »Umbra Sieben, klar, Führer«, sagte Scalter. »Hier Umbra Neun, Umbra Führer«, sagte Darrow. »Systeme klar. Ich bin bereit.« Die Deck-Offiziere winkten sie ab und duckten sich. »Staffel, grünes Licht für Start«, sendete Jagdea. Der Triebwerkslärm der Donnerkeile steigerte sich rasant, als sie sich in die Luft erhoben. »In den Vorwärtsflug übergehen«, wies Jagdea an. Die Staffel rauschte aus der Hangaröffnung und steil nach oben in den Himmel, wobei die Maschinen das Fahrgestell einzogen. Jagdea flog mit ihnen über die Atolle, und sie übten eine Weile Formationsflug und grundlegende Manöver. Dann nahm sie sie ein wenig härter ran. Steiler Steigflug, Rollen und Sturzflug. »Behaltet eure Umgebung im Auge, Staffel«, sendete Jagdea. »Gewöhnt euch an, regelmäßig auf den Auspex und nach draußen zu schauen. Und macht euch auch damit vertraut, was ihr nicht aus der Kanzel sehen könnt. Lernt, das auszugleichen und wie ihr euer Flugzeug anwinkeln müsst, um einen besseren Ausblick zu bekommen.« Nach neunzig Minuten wählte sie ein kleines unbewohntes Atoll am Rande der Inselkette aus. »Positioniert euch in Reihe, Staffel«, sagte sie. »Ich will, dass jeder von euch seine Waffen testet. Um ein Gefühl dafür zu be-
kommen, wie das Geschützfeuer das Flugverhalten beeinflusst. Zemmic und Viltry können diese Übung auslassen.« Scalter flog als Erster. Er ging in einen lang gezogenen Sturzflug über und beharkte den Felsen zuerst mit den Lasern und dann mit den Autokanonen. »Gut gezielt«, sagte Jagdea. »Thron, das schüttelt die Maschine wirklich durch«, stellte Scalter fest, als er wieder hochzog und abdrehte. »Umbra Neun, jetzt Sie.« »Verstanden, Führer«, antwortete Darrow. Er schaltete seine Zielvorrichtung ein und machte mit raschen, sicheren Bewegungen die Waffen scharf. Dann schob er den Steuerknüppel nach vorn und stürzte auf die Insel hinunter. Wasser und Klippen huschten unter ihm vorbei. Er visierte die Inselklippen an, flog auf Schussreichweite heran und schoss dann mit dem Laser. Die Strahlen eilten ihm voraus, und er sah die Einschläge. Er wechselte auf die Kanonen und gab einen Feuerstoß ab, dann zog er seinen Vogel hoch. »Ausgezeichnet, Neun. Etwas hoch mit dem Laser, aber die Kanonen waren gut. Vielleicht sollten Sie das Visier ein paar Strich tiefer kalibrieren.« »Verstanden, Führer.« »Umbra Fünf? Sie sind dran.« Kaminsky bestätigte und begann seinen Anflug auf das ZielAtoll. Mit der linken Hand machte er die Waffensysteme scharf und legte den Schalter für die Stimmaktivierung um, dann legte er die Hand wieder auf den Schubhebel. Er hatte sein Ziel im Visier. »Feuer!«, sagte er. Die Laserkanonen schossen. »Wechseln! Feuer! Feuer!« Jetzt schossen die Autokanonen und ließen die Maschine vibrieren. Kaminsky rollte vom Ziel weg, zog hoch und sicherte sein Waffensystem wieder. »Racklaes kleines Spielzeug scheint zu funktionieren«, sagte er. »Sehr schön«, sendete Jagdea. Sie ließ alle drei den Vorgang noch ein paar Mal wiederholen, dann stieg sie mit der gesamten Staffel auf fünftausend. »Wir fliegen in weitem Bogen in Richtung drei-drei-zwo und schwenken dann nach Hause«, sendete sie.
Sie waren zehn Minuten geflogen, und Jagdea wollte gerade den Befehl zum Umschwenken geben, als Zemmic rief. »Auspex-Kontakt«, meldete er. »Ich halte ihn unter Beobachtung«, sagte Jagdea. Nach weiteren zehn Sekunden konnten sie das Blitzen und den Rauch eines Luftkampfs zehn oder fünfzehn Kilometer im Nordwesten über dem Meer ausmachen. »Einsatzleitung, Einsatzleitung«, rief Jagdea. »Hier Umbra Übung. Was gibt es in unserer Nähe?« »Umbra Führer, Masseneinsatz gegen Bomber-Formation. Mutmaßlicher Jagdschutz. Rate zum Heimflug und zur Räumung des Gebiets.« »Bestätigt, Einsatzleitung«, sagte Jagdea. »Umbra-Staffel, was Sie sehen können, hat heute nichts mit uns zu tun. Wir fliegen nach Hause. Schwenk in Richtung …« »Ausbrechen! Ausbrechen!«, rief Viltry dazwischen. Jagdea und Zemmic schlugen sofort einen Haken, Viltry und Kaminsky schwenkten in die andere Richtung. Scalter und Darrow wurden überrascht, schwenkten aber in dem Augenblick ein, als sie sahen, wie die Formation auseinandersprengte. Jagdea kam gerade rechtzeitig herum, um drei Klingen sauber, durch die geteilte Formation rasen zu sehen. Zweifellos Jagdschutz, der sie geortet hatte und auf sie losging. Sie ging zum Angriff über. »Zemmic, zu mir. Geschütze scharf machen. Die Übrigen orientieren sich am Kom-Feuer Lucerna und folgen ihm sofort nach Hause!« Jagdea und Zemmic jagten den Fledermäusen hinterher, die jedoch bereits abdrehten. Sie beobachtete hektisch den Auspex und sah eine der Klingen durch die leichte Wolkendecke herabstoßen. Sie stürzte ihr nach. Sie fiel auf unter tausend Meter und zog dann wieder steil hoch. Jagdea sah Schüsse an ihrer Tragfläche vorbeizucken und erkannte, dass sie noch eine andere Fledermaus im Nacken hatte. »Ich bin dran!«, sendete Zemmic. Umbra Zehn rollte hinter die zweite Fledermaus und gab drei Salven mit der Autokanone ab. Die Klinge fing Feuer und ging in einen steilen Steigflug über, der dreitausend Meter über ihnen in einem rasch expandierenden Feuerball endete. Jagdea jagte die andere Fledermaus, als sie Scalter im Kom hörte.
»Er ist gerade über uns weggeflogen! Ausbrechen! Ausbrechen!« Die dritte Fledermaus musste den Neulingen gefolgt sein. Die vier Donnerkeile hatten sich getrennt, und jetzt konnte Darrow die Fledermaus überhaupt nicht mehr sehen. Das einzige Flugzeug in Sicht war Viltrys, dreihundert Meter rechts und etwas unter ihm. Darrow hatte eine Gänsehaut. Eads hatte recht. Er war noch nicht so weit, und jetzt würde es ihn gleich bei seinem ersten Start erwischen. Er sah einen Blitz und schaute nach links. Scalters Vogel stieg und versuchte zu entkommen. Die Klinge saß ihm im Nacken und schoss. »Ausbrechen! Ausbrechen!«, hörte er Viltry rufen. Kaminskys Donnerkeil raste mit feuernden Geschützen aus den Wolken heran. Seine Schüsse verfehlten das Ziel, aber sie reichten, um die Fledermaus abzulenken und Scalter zu gestatten, sich abzusetzen und wegzutauchen. Die Fledermaus flog über Kaminsky weg und drehte dann mit Hilfe ihrer Schubvektorsteuerung. Sekunden später hatte Kaminsky die Fledermaus an seiner Sechs. Zwei Schüsse trafen Kaminskys Tragfläche. »Verdammt!«, fluchte er, als er sich die Enttäuschung auf Blanshers Gesicht ausmalte. Instinktiv, da er plötzlich das Gespür hatte, arbeitete er nun ebenfalls mit der Schubvektorsteuerung und sah zu seiner Freude, dass die Fledermaus über ihn hinwegraste und sich in eine Kurve legte. Darrow sah es. Er hatte bereits seine Zielvorrichtung eingeschaltet und die Waffen scharf gemacht. Die Fledermaus versuchte sich abzusetzen, nachdem die vier Piloten ihr den Spaß verdorben hatten. Darrow gab Vollschub und raste ihr hinterher. Er ließ das Visier über die Fledermaus rollen … Ziel erfasst. Er schoss. Die Fledermaus explodierte. Einfach so. In einem heftigen Orkan aus Flammen und umherfliegenden Trümmern.
Jagdea sah, wie eine Explosion in der Luft die Wolken von unten erleuchtete, und schrie vor Wut. Sie ließ die Fledermaus, die sie jagte, ziehen, und raste dem Blitz entgegen. »Staffel? Staffel? Was war das?«, sendete sie. »Hallo, Führer«, hörte sie Viltry antworten. »Das war Darrows erster Abschuss.« LS Lucerna, 10:20 Sie hatten alle ein ziemliches Aufhebens darum gemacht, was Darrow hatte erröten lassen. Das hieß, alle außer dem jungen Piloten namens Marquall, der einfach nur aussah, als sei ihm schlecht oder irgendwas. Darrow blieb eine ganze Weile neben seinem Donnerkeil im Hangar stehen und starrte ihn einfach nur an. Er konnte es schaffen. Ab morgen würde er für Enothis und den Imperator fliegen und töten. Er war sicher, dass er nach ein, zwei Tagen das richtige Gefühl dafür entwickeln würde. Rotten-Trägerbasis Natrab, Theda, 19:10 Die Imperiumsstadt brannte. Vom Deck des riesigen Trägers, der nun eine Landzunge oberhalb des Meers belegte, einen Ort, wo sich zuvor ein feindlicher Luftstützpunkt befunden hatte, starrte Luftkrieger Khrel Kas Obarkon auf das Werk der Streitkräfte des Anarchen. Der Himmel war schwarz, und die Flammen, die aus den brennenden Habs loderten, waren grell und rot. Ihre Reflexionen legten auch einen bernsteinfarbenen Schein auf das Meer. Am Himmel flogen die Rotten der Kriegsmaschinen vorbei, die im Feuerschein funkelten. Er lauschte dem kernigen Schnurren ihrer Triebwerke und lächelte. Jedenfalls, soweit es ihm sein gewebtes Gesicht gestattete. Seine Sänfte wartete. Die Sklaven erniedrigten sich, als er einstieg, und trugen ihn dann weiter auf das Deck des riesigen Trägers. Die anderen Rottenführer und Luftkrieger hatten sich zu Hunderten versammelt. Die Bronzehörner erschollen, und die Kesselpauken schlugen. Obarkon schlug die Seidenvorhänge seiner
Sänfte zurück und begrüßte die nächsten seiner Kameraden. Sacolther, dessen Rüstung wie Alabaster ziseliert war. Coruz Shang, in Chrom gekleidet, die Finger in goldene Klauen gehüllt. Nazarike Komesh, Rotten-Ass und ungerührt hinter seinem grünen Visier. Die Trommeln und Hörner verstummten, und es war nur noch das erwartungsvolle Murmeln der Kompanie zu hören. Im Zentrum der gigantischen Halle erwachte der riesige hololithische Projektor zum Leben und warf ein durchscheinendes blaues Bild zehn Meter hoch in die Luft. Die Luftkrieger heulten in ihrer Verehrung, und ihre augmetischen Stimmen ließen die mit Runen beschrifteten Wände des Hangars erbeben. Das Bild zeigte ein Gesicht. Obarkon fand das Gesicht wunderschön, obwohl es ihn auch entsetzte. Er wusste, dass es augenblicklich auch auf allen anderen Massenträgern und in sämtlichen Kommandobasen des eroberten Südlands zu sehen war. Hunderttausende Krieger, Rottenführer, Blutpakt-Offiziere und Todespriester sahen und verehrten es. Doch wie gewöhnlich hatte Obarkon das Gefühl, dass es ihn und nur ihn direkt ansah. Das Gesicht von Anakwaner Sek, Magister Kriegsfürst, großer und Ehrfurcht gebietender Anarch, verschworener Unterführer des mächtigen Urlock Gaur persönlich, ergriff das Wort. »Morgen«, donnerte er. »Der Tag aller Tage. Wer wird Blut in der Luft finden?« »Wir!«, heulten sie einstimmig. »Bereitet euch vor! Und lasst den Feind in Flammen abstürzen!«
GUTES FLIEGEN DIE SCHLACHT ÜBER DEM ZOPHONISCHEN MEER Imperiumsjahr 773.M41 Tag 270
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LS Lucerna, 05:01 »Jagdea? Jagdea?« Sie erwachte mit schwerem Kopf und langsam und hatte für einen flüchtigen Moment vergessen, wo sie war. Dann fiel es ihr wieder ein, und das Wissen lag ihr wie ein Bleigewicht im Magen. »Jagdea?« Blansher stand vor ihr. Der Bereitschaftsraum lag im Halbdunkel. Jagdea hatte mit dem größten Teil ihrer Ausrüstung auf dem Sofa gedöst. Aggie Del Ruth schlief auf dem Armsessel. »Lass mir einen Moment Zeit, Mil«, sagte Jagdea, während sie sich aufrichtete und die Füße auf den Boden stellte. »Ich glaube, das kann ich nicht«, sagte er. Sie folgte ihm ins Besprechungszimmer. Viltry stand mit verschränkten Armen da. Der große verglaste Auspex, der die Daten vom Hauptsystem in der Einsatzzentrale übertrug, erleuchtete den Raum mit seinem pulsierenden grünen Licht. Auf dem Schirm war nichts außer einem halben Dutzend Echos, die das System als Imperiumspatrouillen identifiziert hatte. »Es ist seit drei Stunden ruhig«, sagte Viltry. »Vollkommen ruhig.« »Sie beobachten den Auspex seit drei Stunden?«, gähnte Jagdea. »Ich konnte nicht schlafen«, sagte Viltry. »Ich glaube, es ist eine Frau«, lächelte Blansher. Viltry lachte, aber aus irgendeinem Grund glaubte Jagdea, Blansher könne den Nagel auf den Kopf getroffen haben. »Sie haben mich geweckt, damit ich mir nichts ansehe?«, sagte sie. »Wann war es schon mal so ruhig?«, fragte Viltry. »Sie kommen schnell und in Massen, seitdem wir auf dieser Welt sind. Und auch davor. Fragen Sie Kaminsky.« »Und?«, sagte sie achselzuckend. »Sie wollten mal eine Nacht freihaben. So viel Mord und Zerstörung kann einen ganz schon fertigmachen.« »Bree …«, sagte Blansher mit einem Anflug von Missbilligung. »Ich bitte um Verzeihung. Extreme Erschöpfung macht mich gedankenlos. Sie glauben, dass etwas bevorsteht?«
»Ja«, sagte Viltry. »Ich auch«, sagte Blansher. »Ich habe mich in der Zentrale umgehört. Sie sind nervös. Sie wissen, dass es komisch ist. Auf jedem Stützpunkt im Zophonischen Meer herrscht höchste Alarmbereitschaft.« »Wecken Sie die Mannschaften, und sorgen Sie dafür, dass sie sich einsatzbereit machen«, sagte sie. Viltry nickte und eilte davon. »Du hast mal etwas gesagt«, bemerkte Blansher. »Was?« »Dass wir sie abwehren könnten, ihnen den Weg über das Meer verwehren könnten, es sei denn, sie würden alles auf einmal schicken.« »Ich muss aufhören, so viel zu reden«, sagte Jagdea. »Warum wären sie sonst alle am Boden, Bree? Alle? Bis auf die letzte Maschine? Warum sollten sie das tun, außer um ihre gesamte Luftwaffe aufzutanken und zu bewaffnen?« Ein Summer ertönte, und Jagdea fuhr zusammen. Es war der Interkom. Blansher nahm den Anruf entgegen. »Hangar drei, Umbra. Jawohl. Ich verstehe. Betrachten Sie uns als in Bereitschaft.« Er legte auf. »Wir sind in allerhöchste Alarmbereitschaft versetzt worden. Der Langstreckenauspex hat einen erheblichen Anstieg der Lufttemperatur über der Südküste registriert.« »Und das bedeutet?« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht sind gerade unglaublich viele Triebwerke zugleich gestartet worden.« Die Hangarlichter schalteten sich fein. Mechaniker beeilten sich, letzte Arbeiten an den Maschinen vorzunehmen. Durch die Hangaröffnung fiel kaum mehr als eine vage Andeutung von Morgengrauen. Marquall konnte das kalte Meer und die Luft riechen. Er rang mit seinen Nerven. Alle waren angespannt. Manche, weil sie zu wissen schienen, was sie erwartete. Andere, weil sie es eben nicht wussten. »Wie geht’s, Vander?«, sagte Van Tull, als er zu ihm kam. Er aß Trockenproviant. Wie kann der Mann unter einem derartigen Druck essen?, fragte sich Marquall. »Eins a«, erwiderte er.
Van Tull lächelte. Sein Zahnfleisch war blutig. Er litt immer noch unter dem Sauerstoffmangel. Thron helfe mir, dachte Marquall, von allen Arten zu sterben, von allen Arten, die ich mir vorgestellt und von denen ich Albträume bekommen habe, wäre das nicht die schlimmste? Durch die Luftmischung vergiftet. Tot, ohne es überhaupt zu bemerken. Van Tull deutete mit einem Kopfnicken auf Darrow, der einen Rundgang um seinen Donnerkeil machte. »Der Junge hat sich gestern gut geschlagen, nicht? Prima Debüt.« »Ja«, sagte Marquall. Er überlegte noch, ob er zur Latrine laufen und sich übergeben musste oder nicht. »Der kommt zurecht. Alle werden zurechtkommen.« »Da tönst du jetzt aber in ein anderes Horn«, sagte Ranfre, der sich zu ihnen gesellte. Marquall zuckte die Achseln. »Ich hoffe nur das Beste, glaube ich. Ich hoffe, sie werden zurechtkommen – denn wenn nicht, sind wir alle erledigt.« Viltry knöpfte seine Fliegerjacke zu und zog die Handschuhe zurecht. Er sah Jagdea kommen. »Irgendwas Neues?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Hören Sie, Bree«, begann er. »Ich würde Ihnen gerne etwas …« »Was?« Er lächelte. »Nein, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Ich rede später mit Ihnen.« Jagdea nickte. Sie ging durch die Reihen der wartenden Piloten. Zemmic saß auf einem Klappstuhl und zählte seine Kette mit Glücksbringern ab, einen nach dem anderen, immer wieder. Cordiale und Del Ruth spielten Stein-Schere-Papier, um sich abzulenken. »Alles klar, ihr zwei?«, fragte Jagdea. »Ja, Mamzel«, sagte Aggie Del Ruth. Sie hatte so ein anziehendes Lächeln. Aus Männersicht wohl keine hübsche Frau, dachte Jagdea. Zu strenge Gesichtszüge und zu schwere Kiefer. Sie entsprach mehr dem, was Jagdeas Vater gern »ansehnlich« genannt hatte. »Cordiale?«
Cordiale grinste und tätschelte sein Revers. »Ich habe meine Glücksfeder, Geschwaderführer.« Scalter unterhielt sich mit Blansher und stellte ihm eine technische Frage über Treibstoffpumpen. Er machte einen durchaus ruhigen Eindruck. Ziemlich ausgeglichen, der Mann, dachte Jagdea. Kaminsky stand für sich allein und starrte aus der Hangaröffnung in den sich langsam aufhellenden Himmel. »Sind Sie bereit?«, fragte sie, als sie sich neben ihn stellte. »Ich glaube schon«, sagte er. »Tun Sie einfach Ihr Bestes«, sagte sie. »Ich habe lange auf eine Gelegenheit gewartet, genau das zu tun, Mamzel«, erwiderte Kaminsky. Er hielt ihr die linke Hand hin. »Ich habe Ihnen noch gar nicht richtig für diese Gelegenheit gedankt.« Sie schüttelte die Hand. Es war ein komisches Gefühl, es mit links zu tun, aber sie wusste, dass er dazu nicht seine gefühllose Prothese benutzen wollte. »Ich habe Ihnen nie dafür gedankt, dass Sie mich aus Theda geflogen haben«, sagte sie. »Sollen wir sagen, wir sind quitt?« Er lächelte. »Was glauben Sie?«, fragte sie. »Alle haben Angst«, sagte Kaminsky. »Das glaube ich. Es ist wohl nur natürlich. Offen gesagt kann ich es kaum abwarten.« Das brauchte er auch nicht. Die Sirenen heulten los. Über den Mittwinterinseln, 05:39 Die Umbra-Staffel startete und stieg in Formation und mit eingeschalteten Nachbrennern. Auch alle anderen Hangars auf Lucerna spien ihre Staffeln aus. Zweiundsiebzig Donnerkeile erhoben sich von dem Inselplateau, das im zunehmenden Tageslicht rosa glänzte. In der Einsatzzentrale herrschte ein beständiges Stimmengewirr. Im gesamten Archipel starteten die Luftbasen ihre Jäger. Geschwader kamen von Limbus, Zophos und den großen Inseln wie auch von der Nordküste und den Flugplätzen in Ingeburg. Von Trägern auf dem Litorale und der Halbinsel hatte sich ein breites, solides Auspex-Echo manifestiert. Jagdea hatte in der Tat das Schicksal herausgefordert.
Es schien, als schicke der Erzfeind alles gegen sie, was er hatte. »Auf acht steigen, Umbra. Formation halten. Geschwindigkeit zweieinhalb.« Sie bestätigten. Sie hatten vier Zehntel Bewölkung, und es wehte ein starker Südwind, der dem Feind zusätzlich Geschwindigkeit gab. »Alles in Ordnung bei allen?«, rief sie. »Führer, hier Acht. Ich habe eine Triebwerkswarnung.« »Können Sie Näheres sagen, Marquall?« In seiner Kanzel spielte Marquall mit dem Schubhebel. Sein linkes Triebwerk hatte immer wieder Aussetzer und ließ Doppeladler erbeben. »Ich versuch’s, Führer.« Das Triebwerk stotterte und setzte dann völlig aus. Neun-Neun fiel aus der Reihe. »Umbra Acht, Statusmeldung.« »Brennschluss Backbord-Triebwerk«, sagte Marquall. Er drückte einmal auf den Startknopf. Zweimal. Nichts. »Führer, Triebwerk ist und bleibt aus.« »Wenden Sie, Acht. Fliegen Sie nach Hause und lassen Sie das reparieren. Mit einem Triebwerk nützen Sie uns nichts.« »Verstanden«, sagte er und tauchte weg. »Staffel, aufrücken«, sagte sie. Sie hatten bereits eine Maschine verloren und noch keinen einzigen Schuss abgegeben. Der Auspex zeigte eine Masse von Kontakten in fünfzig Kilometern Entfernung. Sie fummelte an der Auflösung herum. So gewaltig konnte es nicht sein. Aber es war so gewaltig. Der Auspex meldete einander überlappende Bomber-Formationen, fünfhundert Einheiten in jeder. »Heiliger Thron der Erde«, murmelte sie. »Umbra-Staffel, hier Führer. Massenziele in fünfzig Kilometern. Auf zehntausend steigen und dann auf sie. Es sind genug Ziele für alle da.« »Verstanden, Führer«, sendete Blansher, und die Flugzeuge gingen in den Steigflug. Darrow regulierte seine Luftmischung und blieb an Van Tulls Acht. Er spürte den Puls in seinen Handgelenken vor dem engen Verschluss seiner Handschuhe. Er schaltete die Geschütze ein und wieder aus, um sich zu vergewissern, dass er eine grüne Rune bekam.
Im Kom wurde es lebhaft. Über die Einsatzleitung bekamen sie erste Kontaktmeldungen. Über St. Hagen, dem Ezrameer und dem Festus-Delta waren Staffeln der Flotte auf riesige Bomberwellen des Erzfeindes und ihren Jagdschutz gestoßen. Monumentale Luftschlachten tobten bereits über dem Zophonischen Meer. »Fünf Kilometer, abnehmend«, rief Jagdea. »Ruhe bewahren und nach Jägern Ausschau halten.« Auspex und Optik nach schien der Himmel weiter oben frei zu sein, aber es gab eine Menge Echos von weiter unten. Konnten wirklich so viele Maschinen in der Luft sein, fragte sich Darrow, oder war sein Auspex fehlerhaft? »Umbra-Staffel, Geschütze scharf machen, Zielvorrichtungen ein, Ziele unter uns in viertausend. Runter und drauf auf sie.« Die Donnerkeile rollten nach unten weg und gingen in den Angriffssturzflug. Die Nase nach unten gerichtet, erreichte Darrow maximale Geschwindigkeit und sah die Wolkenschwaden vorbeihuschen. Unter ihnen die Bomber. Sein Auspex hatte nicht gelogen. Es wimmelte von Bomber-Formationen. »Angreifen!«, sendete Jagdea. Der Himmel hellte sich auf. Ströme von Leuchtspurgeschossen schlugen ihnen aus den Feindformationen entgegen. Darow spürte, wie sein Vogel vom Donnern und Krachen naher Explosionen erschüttert wurde. Der Sturzflug war extrem. Such dir einen aus, dachte er, such dir einen aus, du verdammter Schwachkopf, sonst bist du gleich vorbei. Feuerbälle von Explosionen leuchteten unter ihm auf. Zwei oder drei der Bomber in Sichtweite waren hochgegangen. Er suchte sich einen aus, ein riesiges Ding, grellrot, mit vier Tragflächen und acht Vektortriebwerken. Er hatte keine Ahnung, was für ein Bombertyp das war. Der Bomber war mindestens so groß wie ein Onero. Seine Boltkanonen beharkten ihn, und er spürte einen soliden Treffer in einer Tragfläche. Er stürzte senkrecht darauf zu und eröffnete das Feuer. Seine Laserkanonen flackerten. Die Rückenplatte der gewaltigen Maschine barst und platzte auseinander. Darrow ging auf, dass er so steil und so schnell stürzte, dass er auf den Bomber prallen würde. Er versuchte hochzuziehen. Durch die Geschwindigkeit war sein Steuerknüppel wie festgefroren. Er schoss wieder und wieder. Treffer, Treffer, Treffer …
Der gewaltige Bomber explodierte. In einem fetten, heißen Flammenzylinder, aus dem kleine weiße Rauchfahnen barsten und tröpfelten. Darrow jagte durch die Flammen und unter die Formation. Wäre der Bomber nicht explodiert, wäre er ganz sicher mit ihm kollidiert. Er kämpfte jetzt darum, die Nase hochzubekommen. Es war eine gewaltige Anstrengung. Er nahm die Sitzhaltung ein, die Jagdea ihm gezeigt hatte, aber der Andruck ließ ihn trotzdem beinahe ohnmächtig werden. Sein Vogel stieg wieder, und der Steuerknüppel war wieder lockerer. Er sah Scalters Maschine vorbeirasen, der bereits den nächsten der gewaltigen Superbomber aufs Korn genommen hatte. Scalters Feuerstöße schickten ihn steil nach unten ins Meer. Darrow kletterte. Der Schweiß lief ihm ins Gesicht und bewirkte, dass die Maske juckte. Er blinkte sich die Schweißtropfen aus den Augen. Seine Zielerfassung gab grünes Licht, als der nächste Superschwere Bomber sein Visier ausfüllte. Grelle blaue Boltgeschosse der Geschütztürme im Bauch rasten ihm entgegen. Mit seiner Schubvektorsteuerung glitt er aufwärts, korrigierte nach rechts und gab vier Feuerstöße mit dem Laser auf den Bomber ab. Er verlor eine Tragfläche. Der Schaden bewirkte, dass sich das riesige Flugzeug herumwälzte und dann ganz plötzlich auf den Rücken legte. Es stand in Flammen, als es ins Wasser fiel. Jagdea schoss einen Peiniger auf dem Weg nach unten ab und einen weiteren auf dem Rückweg nach oben. Als die Laserbatterien erschöpft waren, wechselte sie auf ihre Autokanonen und nahm sich den nächsten schweren Bomber vor. Sie schickte ihm ein paar Salven entgegen, aber seine Türme zwangen sie zum Ausweichen. Links von ihr sah sie Zemmic einen Bomber abschießen. Dann raste Del Ruth vorbei und hinter einem Peiniger her, der angeschlagen war und sich aus der Formation gelöst hatte. Jagdea rollte unter dem schweren Bomber durch. Viltry hatte ihr von dem toten Winkel erzählt, von der Stelle, die kein Geschützturm erreichen konnte. Zwei Geschosse durchschlugen ihre Heckpanzerung, bevor sie sicher war, dass sie die Stelle gefunden hatte. Sie jagte dem Bomber ein paar Salven aus ihrer Autokanone in den Bauch.
Der Bomber kippte nach links weg, fiel qualmend aus der Reihe und explodierte lange, bevor er das Meer erreichte. Mit Blansher zur Linken stieß Kaminsky auf einen Peiniger herab und ließ ihn in sein Visier gleiten. Es war lange her, seit ihm zuletzt alles so richtig vor gekommen war. »Feuer!«, sagte er. »Feuer! Feuer!« Die Laserkanonen schossen. Der Peiniger zerbrach wie eine Eierschale und fiel in einem Durcheinander von Trümmern. »Einer für Sie, Kaminsky«, sendete Blansher. Ja, dachte er. Einer für mich. Viltry folgte Ranfre und Cordiale durch das Chaos aus Schüssen und wallendem Rauch abwärts. Er rollte nach rechts und bekam eine Klaue in die Zielerfassung, die hochzuziehen versuchte. Bevor er schießen konnte, sah er Feuerstreifen, die ihm von unten entgegenrasten. Er rollte und schaute nach unten. Der Luftraum unter ihm war voller Fledermäuse, die ihnen aus allen Rohren feuernd von unten entgegenrasten. Die Bomber hatten doch Jagdschutz. Aber tief und nicht hoch. »Fledermäuse! Fledermäuse! Fledermäuse!«, rief er. »Sechs Uhr und vertikal aufsteigend!« LS Lucerna, 06:01 Auf einem Triebwerk kam Marquall in Hangar drei herein und setzte auf. Er machte seine Sache schlecht, beulte die Deckplatten ein und rutschte ein Stück, sodass seine Landekrallen tiefe Furchen rissen. Die Mechaniker kamen zu Neun-Neun gelaufen. Marquall stieg aus und warf angewidert seinen Helm weg. »Pilotoffizier?«, fragte Racklae. »Geschützschäden?« »Nein! Nein, es ist das verdammte Backbordtriebwerk! Es hat den Geist aufgegeben!« Wütend trat Marquall seinen Helm über das Deck. »Wir sind schon dabei, Pilotoffizier«, sagte Racklae und lief zur offenen Kanzel.
»Reparieren Sie sie einfach! Reparieren Sie sie! Reparieren Sie sie, verdammt!«, schrie Marquall sie an. Racklae hielt inne und drehte sich würdevoll um. »Wir versuchen es, Pilotoffizier«, sagte er. Marquall sah die Miene seines Chefmechanikers. Er hob entschuldigend die Hände. »Es tut mir leid«, sagte er. »Es tut mir wirklich leid, Racklae. Es ist nur so, dass ich jetzt da draußen sein müsste. Im Kampf. Es ist dieser verdammte Fluch. Der Fluch von Neun-Neun! Der kommt mir andauernd in die Quere und …« »Es gibt keinen Fluch«, sagte Racklae in scharfem Tonfall. »Warum halten Sie nicht einfach die Klappe, mein Junge? Immer schieben Sie Ihre Fehlschläge auf irgendwas. Auf Ihre Pilotenkameraden … die Piloten, die bessere Ergebnisse erzielen als Sie … auf Ihr verhextes Flugzeug. Auf alles Mögliche, nur nicht auf Sie. Wachen Sie auf. Fassen Sie sich an die eigene Nase und fangen Sie endlich an, irgendwas dagegen zu tun, sonst schwöre ich beim Thron, dass ich Ihnen selbst eins mit dem Schraubenschlüssel überziehe.« Marquall stotterte etwas und wich einen Schritt zurück. Racklae wandte sich ab. »Also, Leute!«, brüllte er. »Macht diesen verdammten Vogel hier sofort flugtüchtig!« Über den Mittwinterinseln, 06:15 Die Klingen und Heuschrecken rasten zwischen sie und versuchten sie von den monströsen Bomber-Formationen abzudrängen. Kaminsky entschied, sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Er legte sich in eine Kurve und raste den Jägern frontal entgegen. »Umbra Fünf, wo wollen Sie hin?«, rief Blansher über Kom. Kaminsky sagte nichts außer: »Feuer. Feuer. Feuer. Feuer.« Blansher folgte ihm durch die von feurigen Streifen durchzogene Luft nach unten, er sah eine Klinge vibrieren und rauchend abkippen. Er sah eine Heuschrecke im Steigflug explodieren. Kaminsky pflügte mit entschlossener, zielstrebiger Wut durch sie hindurch. Blansher setzte sich links neben Kaminsky, schoss auf eine kletternde Heuschrecke und schwenkte dann seitlich weg, als er eine rote Klinge hinter sie einschwenken sah. Die Klinge wollte sich Kaminsky vornehmen. Blansher erledigte sie mit den letzten drei Schüssen seiner Laserkanone.
Er wechselte auf die Autokanonen und raste weiter nach unten. Kaminsky hatte sich hinter eine Heuschrecke geklemmt und beharkte sie mit dem Laser. Cordiale und Del Ruth rauschten vorbei und feuerten auf drei Heuschrecken, die in steilem Sturzflug abgedreht hatten. Er sah eine Klinge vorbeifliegen, gab Seitenschub, um Vorhalt zu bekommen, und beharkte die Klinge der Länge nach mit seinen Autokanonen. Kaminsky beendete seinen langen Sturzflug hinter einer Heuschrecke. »Feuer.« Nichts. Seine Laserbatterien waren erschöpft. »Wechseln. Feuer. Feuer.« Die Autokanonen feuerten auf leeren Himmel. Kaminsky riss seinen Donnerkeil herum und sah einen Bomber direkt vor sich. »Feuer. Feuer. Feuer.« Der Bomber neigte sich und legte sich in eine Kurve. Nachdem mehrere Triebwerke erloschen waren, wollte er wieder zurück nach Hause fliegen. »Feuer. Feuer«, sagte Kaminsky. Der beschädigte Bomber schmierte ab, plötzlich in eine Wolke seines eigenen brennenden Treibstoffs gehüllt. Fledermäuse feuerten von unten an Kaminsky vorbei. Er rollte herum, um sie zu begrüßen. Zwei Donnerkeil-Staffeln und eine Formation Blitzstrahlen hatten sich mittlerweile in ihre Luftschlacht eingeschaltet. Jagdea hatte einen Rudertreffer abbekommen, und Null-Zwo ließ sich nicht mehr so gut steuern, aber sie wich dennoch dem Bombardement aus, mit dem drei Heuschrecken sie eindeckten, schwenkte scharf nach rechts weg und sprengte den nächsten Peiniger in Stücke. Ihr Treibstoff ging langsam zur Neige. Dem Rest von Umbra würde es ebenso gehen, wenn sie ihre Arbeit einigermaßen richtig gemacht hatten. »Umbra-Staffel, fertig machen zum Heimflug. Auftanken und Munition fassen. Bestätigen.« Von Del Ruth, Cordiale und Zemmic kamen sofortige Rückmeldungen. Dann folgten Darrow, Scalter und Van Tull. Viltrys Bestätigung kam einen Moment später. »Umbra Zwo?«, rief sie.
»Ich hab’s gehört, ich ziehe mich raus«, erwiderte Blansher. »Umbra Fünf? Kaminsky?« »Verstanden, Führer. Treibstoff niedrig. Breche ab.« »Umbra Zwölf? Umbra Zwölf? Ranfre? Kommen!« Sie sah sich um und hielt am vollen Himmel nach Ranfre Ausschau. Tief unter ihnen und von Jagdea unbemerkt stürzte ein Donnerkeil ab. Ranfres Vogel war durch den Feuersturm der Bomber-Formation gerast. Jedes Boltgeschoss der Geschütztürme hatte ihn verfehlt, bis auf das eine, das das Kanzeldach zerschmettert und Ranfres Schädel gesprengt hatte. Sein Donnerkeil schmierte führerlos ab und stürzte ins Meer. LS Lucerna, 08:13 Die Staffel flog durch den Südeingang des Hangars. Del Ruths Maschine rauchte, und Jagdeas Ruder flatterte wie eine Wetterfahne. »Reparieren, auftanken und frische Munition!«, rief Jagdea den Mechanikertrupps zu. Stapler und Tanker rasten bereits zu den in Rauch gehüllten Maschinen. »Wo ist Marquall?«, rief Jagdea Racklae über dem Lärm zu. »Er war hier, Mamzel! Wir haben ihn zusammengeflickt! Er ist wieder gestartet!« Prometheum spritzte aus einem Schlauch, der nicht richtig auf dem Einfüllstutzen von Cordiales Maschine saß. Racklae lief zu dem Problem und verwünschte dabei seine Mechaniker. Jagdea schaute durch die Hangaröffnung zum Himmel. Marquall war alleine da draußen. Über den Mittwinterinseln, 08:45 Der Himmel war durch die Schlacht grell erleuchtet. Marquall holte tief Luft. Es war erstaunlich. Er hatte noch nie so viele Flugmaschinen im Kampf gesehen. Er tauchte mit Neun-Neun ab und landete in einem Rudel Heuschrecken, dreißig Maschinen stark. Es war ihm egal. Mühelos
rollte er zwischen sie und schoss, kaum dass seine Zielerfassung ihm grünes Licht gab. Einer der kleinen Jäger des Erzfeinds bockte und flog dann in einem blendenden Feuerball auseinander. »Drei!«, jubelte Marquall bei sich. »Drei! Verdammte drei!« Das Rudel Heuschrecken sprengte auseinander und schwenkte herum. Plötzlich stürzten sich alle auf ihn. Er fing sich drei Löcher in der linken Tragfläche ein, zwei in der rechten und vier im Heck. Keuchend zog Marquall steil hoch, um sich abzusetzen. Die Heuschrecken blieben an ihm dran. Er sah einen Blitz. Ein vorbeihuschendes Glitzern. Acht Donnerkeile, cremefarben lackiert, jagten an ihm vorbei in den Schwarm Heuschrecken. Die Apostel. Thron der Erde, die Apostel! »Larice?«, flüsterte er. Heiliges Terra, die Apostel setzten den Heuschrecken wirklich gewaltig zu. Perfekte Formation, perfektes Manövrieren. Sie rasten durch das Rudel und schossen die meisten beim ersten Durchflug ab. So schnell. Marquall hatte fast das Gefühl zu stehen, obwohl sein Tachometer ihm verriet, dass er über achthundert km/h drauf hatte. »Larice? Larice Asche?«, rief er. »Wer ist da?«, schnauzte eine harte Stimme. »Umbra Acht«, sagte er. »Marquall? Bei den Zähnen des Imperators, das ist nicht der rechte Zeitpunkt für Wiedersehensfeiern. Schaff deinen Arsch hier weg!« »Verstanden, Larice. Ich verschwinde.« »Sieh zu, dass du wegkommst. Und nenn mich nicht so. Ich bin Apostel Fünf.« Über den Mittwinterinseln, 09:18 Blansher führte die ersten vier Keile in die Schlacht, die fertig waren: Van Tull, Cordiale, Scalter und Zemmic. Die anderen würden unter Jagdea folgen, sobald ihr Ruder fertig war.
Blansher flog nach Südwesten, in Richtung Theda. Eine andere Staffel mit acht Donnerkeilen, die gerade auf Lucerna wieder startklar gemacht worden war, hob ab und begleitete sie. Vor ihnen sah es so aus, als habe sich eine große Gewitterwolke über den Horizont gelegt. Über dem Meer lag eine riesige braune Wand aus Rauch, die sich so weit erstreckte, wie Blanshers Auge reichte. Die Wolke war voller Funken, und in ihr blinkten Lichter wie Blitze. Als sie näher kamen, löste sich die Wand in Einzelheiten auf. Was er gesehen hatte, waren die Verzerrungen, die von tausend Abgas- und Kondensstreifen sowie Triebwerksbränden hervorgerufen wurden und ein so dichtes Gitter am Himmel bildeten, dass es aus der Ferne wie eine solide Wand aussah. Sie passierten mehrere Imperiumsmaschinen, die nach Hause schlichen. Blansher rief immer wieder Marquall. Im Kom herrschte immer noch ein Durcheinander aus vielen hundert einander überlagernden Sendungen. Der Einsatzzentrale zufolge gab es nicht nur den massiven Zusammenstoß, mit dem sie es hier zu tun hatten, sondern auch eine riesige Luftschlacht über dem Ezrameer und eine weitere an der Ostküste bei Ingeburg. In anderen Berichten hieß es, die Bomber-Formationen hätten die Linie der Mittwinterinseln passiert und gingen nun gegen Zophos und sogar gegen die Nordküste vor. Jede verfügbare Imperiumsmaschine flog mittlerweile mindestens ihren zweiten Einsatz des Tages. Kontakte näherten sich. Ein großes Rudel Höllenklauen auf dem Weg nach Norden. »Umbra-Staffel«, befahl er. »Angreifen!« Über den Mittwinterinseln, 09:50 Die Mechaniker hatten eine Ewigkeit gebraucht, um Jagdeas Ruder zu reparieren. Hemmen hatte sie gewarnt, dass es immer noch keine solide Reparatur sei. Sie stürzte mit Höchstgeschwindigkeit herab, von Del Ruth, Kaminsky, Viltry und Darrow gefolgt. Sie brauchten mittlerweile keine Kursanweisungen mehr von der Einsatzleitung. Der Himmel über dem Archipel war mit Maschinen überladen, wohin sie auch blickte. Sie stießen auf ein Quartett von Marodeuren, allesamt beschädigt, die von einer Formation aus neun blauen Heuschrecken ge-
jagt wurden. Die Fledermäuse flogen mit sehr viel Geschick und Formationsdisziplin, als würden sie alle neun von einem einzigen Verstand kontrolliert. Jagdea rollte ihre Donnerkeile hinein. Einer der Marodeure wurde schließlich überwältigt und schmierte zu den Atollen ab. Es war schwierig, sich auf die unmittelbaren Luftkämpfe zu konzentrieren. Die einzelnen Gefechte überlappten einander an den Rändern, und so kam es immer wieder zu Überschneidungen. Umbra duellierte sich mit den blauen Heuschrecken, als plötzlich sieben Blitzstrahlen in ihre Gefechtszone rasten, die sich mit drei Paar Höllenklingen beharkten. Jagdea musste sich plötzlich mit einem der Klingenpaare auseinandersetzen, das von den Blitzstrahlen, die es verfolgt hatte, auf sie wechselte. Jede Ähnlichkeit mit einer strategischen Formation in der UmbraStaffel verschwand. Darrow flog eine enge Kurve über einem der kränkelnden Marodeure und klemmte sich hinter eine gelbe Höllenklinge, die entweder verwirrt war oder einen Defekt an der Schubvektorsteuerung hatte. Er rechnete mit einem Ausweichmanöver nach links und zielte entsprechend, doch das Ausweichmanöver kam nicht. Infolgedessen ging Darrows erste Salve daneben. Er zog ein wenig nach rechts und ließ die Klinge langsam in sein Visier gleiten, dann schoss er noch einmal und erledigte die Maschine auf Anhieb. Kaminsky und Viltry waren in den östlichen Teil des Gefechts abgedrängt und von den durch ihre Mitte fliegenden Klingen von den anderen getrennt worden. Sie sahen sich plötzlich von allen neun blauen Heuschrecken bedrängt. Sie wendeten und schossen, und die blauen Fledermäuse tänzelten weg wie ein Schwarm Fische, von einem einzigen Impuls getrieben. Sie schwenkten herum und setzten beinahe in einer Reihe zu einem neuen Anflug an. Kaminsky brach brutal zur Seite weg, und Viltry führte einen vektorunterstützten harten Seitenschwenk aus, sodass er die Heuschrecken jetzt fast frontal vor sich hatte. Er bekam die führende Maschine vorübergehend in die Zielerfassung und schoss mit seinen Autokanonen, wobei er den Daumen auf dem Feuerknopf ließ, sodass sein Feuer weiterwanderte. Die erste Heuschrecke explodierte, und weil sie in enger Formation und in einer Reihe flogen, erfasste Viltrys Dauerfeuer auch noch die zweite Heuschrecke, die ebenfalls auseinanderflog.
Dann musste Viltry abrupt abkippen, um den anderen auszuweichen. Etwas huschte über sein Kanzeldach, und er sah Kaminsky mit einer Korkenzieherrolle mitten zwischen die Heuschrecken rasen und sie zwingen, zum ersten Mal von ihrer starren Formation abzurücken. Kaminsky traf eine, beschädigte eine zweite und klemmte sich an die Sechs der dritten. Die blaue Heuschrecke war so sehr darauf bedacht, den Donnerkeil hinter sich abzuschütteln, dass sie blind in Viltrys Schussfeld flog und er sie mit der Laserkanone erwischte. Kaminsky und Viltry schossen aneinander vorbei. Dergestalt halbiert, trat das Rudel Heuschrecken den Rückzug an. Über den Mittwinterinseln, 10:10 Blanshers Gruppe verließ ihr Gefecht und genoss eine kurze Phase der Ruhe und Erholung, bevor sie in den Sog einer größeren, über ihnen tobenden Schlacht gerieten. Sie wurden tiefer gezwungen, dann noch tiefer. Brennende Triebwerksteile, Tragflächentrümmer und Schwanzflossen regneten von über ihnen zerstörten Flugzeugen auf sie herab. Ein sehr großes Trümmerstück prallte von Scalters Nase ab, zerstörte seine Laserbatterie und riss die Abdeckung von seinem rechten Düsentriebwerk. Er stieß einen alarmierten Schrei aus und rang mit den Kontrollen, um die Maschine ruhig zu halten. Ein Blick nach vorne zeigte ihm knisternde Energie, die aus den gerissenen Kabeln in der verbeulten Nase sprang. Er deaktivierte die Laserbatterie und wechselte auf die Autokanonen. »Umbra Sieben! Aufpassen!«, rief Blansher. Scalter hatte sich so sehr auf seinen Schaden konzentriert, dass er zu lange geradeaus geflogen war. Eine malvenfarbene Höllenklaue stieß aus der wogenden Rauchwolke über ihnen herab und fing an zu schießen. Scalter zuckte zusammen, als die Schüsse vorbeirasten. Er schien erstarrt zu sein. Blansher war zu sehr mit zwei Höllenklingen beschäftigt, um ihm helfen zu können. Cordiale kam aus dem Norden und feuerte aus allen Rohren. Die Klaue bekam ein, zwei Treffer in die Heckpanzerung und vergaß Scalter. Sie ließ sich zum Meer durchsacken und raste davon. Cordiale stürzte ihr hinterher.
Sie rasten in weniger als zehn Metern Höhe über das Wasser und wirbelten dabei Gischt auf. Die Klaue flog im Zickzack, um Atolle und Klippen herum. Offenbar war sie entschlossen, nicht zu steigen und sich dadurch zum Ziel zu machen. Cordiale blieb hinter ihr und folgte jeder ihrer Manöver um kleine Inselchen und Klippen. Sie legten sich in eine enge Kurve um eine steile hohe Klippe, die ihren Triebwerkslärm auf eine merkwürdige Art zurückwarf, und mussten sofort zwei Massenbarken ausweichen, die in der Bucht vor Anker lagen. Cordiale verfehlte die Kom-Masten der großen Transporter nur um Zentimeter. Die Klaue fegte von den Hydra-Batterien verfolgt im Tiefflug am Strand entlang und folgte mit einer weiteren Rechtskurve der Küstenlinie des Atolls. Cordiale folgte ihr und stellte sein Flugzeug dabei auf die rechte Tragfläche. Er lachte, als er sah, dass ihr Vorbeiflug Seevögel von den Felsen aufgescheucht hatte, die sich voller Panik erhoben und wegflogen. Die Klaue warf sich nach backbord und fegte über ein paar niedrige, halb untergetauchte Inselchen hinweg. Cordiale folgte ihr, hörte den Signalton der Zielerfassung und schoss. Die Klaue ruckte und raste mit der Nase voran in die Felsen, um mit gewaltiger Wucht zu explodieren. Cordiale jagte daran vorbei und warf einen hämischen Blick zurück auf den Feuerball. Sein siebenhundert km/h schnelles Flugzeug scheuchte noch eine Schar Seevögel auf, die panisch aus den tieferen Felsen hervorbrachen. Jeder wog ein Kilo oder mehr, und sie zerfetzten seine Nase und die Frontpanzerung wie Vorschlaghämmer. Zwei löschten sein rechtes Triebwerk, und einer durchschlug die Kanzel, zerschmetterte das Visier und traf ihn mitten im Gesicht. Der Aufprall hämmerte ihm die Brille in den Schädel und brach ihm sofort das Genick. Umbra Elf traf die äußere Linie der Felsen und löste sich in einen Hagelsturm aus Panzerplatten, Kabeln und Maschinenteilen auf. Über den Mittwinterinseln, 10:45 Als Jagdeas Staffel in weitem Bogen nach Hause flog, stießen sie auf ein Geschwader von Peinigern, das sich von der größeren Schlacht abgesetzt hatte und das Ezrameer ansteuerte. Sie jagten die Bomber, bis ihr Treibstoff endgültig verbraucht war.
Kurz vor Lucerna sichteten sie Marquall. »Umbra Acht«, sendete Jagdea. »Wo bei Terra waren Sie?« »Ich bin nicht sicher, Führer«, antwortete Marquall. »Aber wo auch immer, es waren schrecklich viele Flugzeuge da.« LS Lucerna, 11:30 »Machen Sie sie so schnell wie möglich wieder einsatzbereit!«, sagte Jagdea, als sie von der Maschine sprang. Ihre Gruppe hatte Marquall mit nach Hause gebracht. Laut Einsatzzentrale war Blanshers Element fünf Minuten entfernt. »Zu Befehl, Mamzel!«, erwiderte Racklae. Von Kaminskys Maschine stieg Rauch auf, und Racklae brüllte einem Mann zu, er solle das Feuer löschen. Dann wandte er sich wieder an Jagdea und zeigte auf die Rollwagen mit Munition an der Seite des Hangars, die darauf warteten, entladen zu werden. »Wir haben nur einen Teil unserer letzten Anforderung erhalten, Geschwaderführer«, sagte er. »Ich habe im Stützpunktarsenal angerufen, und man hat mir gesagt, dass wir die Magazine leeren. Bisher haben sie heute schon so viel bereitgestellt wie sonst in einer Woche.« »Sie werden wohl härter arbeiten müssen«, sagte Jagdea. »Daran liegt es nicht, Mamzel. Die Magazine leeren sich tatsächlich. Sie müssen Munitionsvorräte angreifen, die mit den Barken gekommen sind und noch nicht ausgeladen wurden. Das hält alles ziemlich auf.« »Ich gehe und lege ein gutes Wort ein«, sagte Jagdea, die bereits unterwegs zum Besprechungsraum war. Im Gehen drehte sie sich noch einmal um und rief: »Piloten! Sorgen Sie alle, ich wiederhole alle dafür, dass Sie ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen! Vielleicht auch eine Kleinigkeit zu essen, wenn Sie es bei sich behalten können, aber nicht zu viel. Flüssigkeit ist unbedingt erforderlich.« Marquall stieg aus und nahm eine Wasserflasche, die einer seiner Mechaniker ihm anbot. Er spie den ersten Mund voll aus, um den Gummigeschmack loszuwerden, den seine Maske hinterlassen hatte. »Geht es besser?«, fragte Racklae. Marquall nickte. »Hören Sie, ich wollte mich entschuldigen für …«
Racklae schüttelte den Kopf. »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, Pilotoffizier.« »Ich habe meinen dritten erwischt«, sagte Marquall. Der Chefmechaniker grinste und schlug ihm auf die Schulter. »Sehen Sie? Was für ein Fluch?« Im Besprechungsraum klemmte sich Jagdea an den Interkom und sprach mit den Rüstmeistern. Sie musste sich dieselbe Geschichte anhören, die Racklae ihr bereits erzählt hatte. »Werfen Sie einfach einen Blick zum Himmel und sehen Sie, ob Ihnen das weiterhilft«, sagte sie und legte auf. Während des Gesprächs hatte Jagdea den Hauptauspex beobachtet. Er sah eher nach der Darstellung eines Tropengewitters als nach einem Luftangriff aus. Viltry kam herein, legte seinen Helm ab und schaute ebenfalls auf den Bildschirm. »Die Einsatzleitung sagt, sie brechen ab«, sagte Viltry. »Die Einsatzleitung kann mich am Arsch lecken. Die waren nicht oben.« »Nein.« Viltry zeigte auf den Südabschnitt der Anzeige. »Ich sehe schon, was sie meinen. Insgesamt. Das war eine riesige Welle, die sie uns im Morgengrauen vorgesetzt haben. Der Himmel mag voller Maschinen und Gefechte sein, aber viele der beteiligten Feindmaschinen kehren nach Hause um, weil sie keinen Treibstoff mehr haben, oder kehren von ihren Zielen zurück, wenn sie es bis dahin geschafft haben. Das gilt für diesen ganzen Bereich hier, sehen Sie?« Er tippte auf eine Gegend östlich von Zophos. »Das sind alles mittelschwere Bomber auf dem Weg nach Süden. Die eigentliche Welle ist zerbrochen.« »Die erste Welle«, sagte Jagdea. »Ein Massenangriff wie dieser bedeutet alles oder nichts. Sie werden wiederkommen, sobald sie aufgetankt und neu bewaffnet sind.« Viltry nickte. »Natürlich. Ich habe das Gefühl, sie werden das durchziehen, bis sie uns zerquetscht haben. Der Erzfeind ist vieles. Subtil steht nicht auf der Liste.« »Sehr wahr«, sagte Jagdea. »Wir steigen auf, sobald wir können. Jagen Nachzügler und stehlen uns ein paar Abschüsse, bevor die zweite Welle kommt.«
»Ich sehe mal nach, ob Racklae ein paar Raketen auftreiben kann«, sagte Viltry. »Da werden Sie kein Glück haben«, lachte Jagdea. »Aber mit Raketen könnten wir einen Massenträger suchen und aufs Korn nehmen. Mir ist völlig egal, wie viele Vögel sie haben. Ohne Träger können sie sie nicht auftanken und bewaffnen.« »Ja«, sagte Jagdea. Sie schaute auf die Log-Tafel, die von den Mechanikern geführt wurde. Startzeiten, Ruhezeiten, Schaden, erledigte Arbeiten. Ranfres Zeile war ominöserweise leer. »Ranfre?«, sagte Viltry, der sich denken konnte, was sie dachte. Sie nickte. »Ist seit ungefähr sechs Uhr dreißig nicht mehr gesehen worden. Selbst bei sparsamstem Flugbetrieb kann er jetzt nicht mehr in der Luft sein.« »Vielleicht ist er auf einem anderen Stützpunkt gelandet«, sagte Viltry. »Oder … abgesprungen … oder …« Sie war Viltry dankbar, dass er es zumindest versuchte. Sie nahm einen Griffel und schrieb »Vermisst« neben Ranfres Namen. »Darüber habe ich in den letzten paar Tagen oft nachgedacht«, sagte Viltry leise. »Sie wissen schon … über den Tod, meine ich.« »Sie und auch sonst jeder«, sagte Jagdea. Er schüttelte den Kopf. »Nein, ganz speziell. Soweit es das Imperium angeht, ist Oskar Viltry tot. Ich bin nur ein … ein Stück Papier, eine provisorische Nummer, die auf ihre endgültige Zuordnung wartet.« »Und?« »Würden Sie mir etwas versprechen, Bree?« »Ja«, sagte sie sofort. »Sie haben noch nicht gehört, was es ist. Ich bin hier, an Ihrer Seite, und stolz, zu Umbra zu gehören. Und so wird es bis zum Ende bleiben.« »Ich weiß«, sagte sie. Wenige Männer waren so loyal und engagiert wie Oskar Viltry. »Aber wenn das alles vorbei ist … wenn wir diesen Kampf gewinnen. Ich meine nicht heute. Ich meine, egal, wie lange es dauert … werden Sie vergessen, dass Sie mich je gesehen haben?« »Wovon reden Sie?« Sie lachte. Dann sah sie in seinen Augen, dass es ihm ernst war. Viltry holte den provisorischen Meldezettel aus der Tasche, der er vom Munitorum bekommen hatte, und strich ihn glatt. »Ver-
gessen Sie, dass Oskar Viltry je aus der Wüste zurückgekehrt und mit Ihnen geflogen ist. Geben Sie diese provisorische Nummer als vermisst an. Lassen Sie mich hier auf Enothis untertauchen, wenn die Kämpfe vorbei sind.« Sie blinzelte. »Wollen Sie das, Viltry?« »Ja. Und nicht nur ich. Da ist noch jemand …« Er hielt inne. »Nach dem Krieg muss hier einiges wiederaufgebaut werden.« Sie dachte einen Moment darüber nach, dann nahm sie den Zettel. »Ich verspreche es«, sagte sie. Während die Mechaniker fieberhaft arbeiteten, saß Darrow stumm im Hangar, den Rücken an die Wand gelehnt. Seine Hände zitterten nicht mehr. Sie waren vollkommen ruhig. Was jetzt noch zitterte, war in ihm, ein tiefer Kern, der erschüttert und durchgeschüttelt, gequetscht und hin und her geschleudert und verbogen worden war. An einem Morgen. Von den Kämpfen des Tages stand ihm kein einziges klares Bild vor Augen. Alles war ein einziges verschwommenes Schemen. Ein Geruch nach Treibstoff und Fyzelen. Ein Donnern. In der Nähe hörte er einige Mechaniker jubeln, als sie einen dritten Streifen an Marqualls Maschine klebten. Marquall hatte etwas Triumphierendes an sich. Obwohl er Marquall erst kurze Zeit kannte, konnte Darrow klar erkennen, dass Marquall sich verzweifelt nach Ruhm sehnte. Darrow dachte kurz nach und erkannte zu seiner Schande, dass er sich nicht mehr genau erinnern konnte, wie viele Flugzeuge er abgeschossen hatte. Er versuchte sie sich alle vorzustellen. Den einen Jäger am Tag zuvor, dann die Bomber … Ihm ging auf, dass er bei fünf angekommen war. Er war ein Ass. Darrow beschloss, es Marquall nicht zu sagen. Summer ertönten. Blanshers Gruppe kam endlich herein und jagte durch den Nordeingang. Darrow sprang auf. Er sah sofort, wie beschädigt die Nase von Scalters Maschine war. Scalter selbst schien unversehrt zu sein, obwohl benommen. Jagdea kam angelaufen, um den Schaden zu begutachten. »Die Lasersysteme sind vollkommen erledigt«, sagte der Chefmechaniker. »Es wird Stunden dauern, ein neues System einzubauen. Die Verkleidung können wir schnell ersetzen, aber wenn
der Vogel wieder fliegen soll, muss er mit den Autokanonen auskommen.« »Dann muss er das wohl«, sagte Jagdea. Sie drehte sich um, als Blansher, Van Tull und Zemmic von ihren Maschinen zu ihnen kamen. Sie erstarrte. In ihrer Sorge um Scalter und seinen Vogel hatte sie das Offensichtliche übersehen. »Wo ist Cordiale?«, fragte sie. Milan Blansher schüttelte den Kopf. Über dem Ezrameer, 13:16 Die zweite Welle rollte eine Stunde nach dem Mittag an. Obwohl es ein strahlender Tag war, hatte die Verschmutzung durch die Kämpfe des Vormittags den Himmel mit einer eigenartigen gelblichen Lichtundurchlässigkeit überzogen. Vulkanische Rauchsäulen erhoben sich aus Theda, Ezraville und Limbus und waren über viele hundert Kilometer Entfernung sichtbar. Umbra war bereits im Einsatz. Auch alle anderen Staffeln Lucernas, des Viper-Atolls und der anderen Stützpunkte auf den Mittwinterinseln. Die Techmagier hatten die Flugzeuge gesegnet und sie in die Luft geschickt. Umbra stieg auf fünfzehntausend und bildete zwei Gruppen. Jagdea flog mit Viltry, Darrow, Del Ruth und Marquall, und Blansher führte Scalter, Kaminsky, Zemmic und Van Tull. Wieder zeigte der Auspex die ominöse Welle der Luftstreitmacht des Feindes, die nach Norden rollte. Jagdea hatte einen Fluglotsen schätzen hören, auf dem Höhepunkt der Aktivitäten des Vormittags seien die imperialen Maschinen elf zu eins unterlegen gewesen. Sie fragte sich, wie der Vergleich der Abschussraten aussah. Reserven waren hinzugefügt worden. Einheiten des Commonwealth wurden nach der Überraschung des Morgens mobilisiert und stellten ihre Maschinen – hauptsächlich solche mit Impulstriebwerken und Propellermaschinen – auf Flugplätzen an der Nordküste als letztes Bollwerk bereit. Diese alten Flugzeuge waren den Vektorschubmaschinen des Erzfeinds hoffnungslos unterlegen, wusste Jagdea. Der Witz war, wenn die feindliche Welle die Nordküste in nennenswerter Zahl erreichte, spielte ohnehin nichts mehr eine Rolle.
An diesem Morgen hatten die Geschwader der Flotte dem Großteil der feindlichen Welle trotz schrecklicher eigener Verluste den Weg über das Meer verwehrt. Die Nordküste war bombardiert worden, aber längst nicht mit der angedrohten Wucht. Jetzt ging es in die zweite Runde. Die Taktik hatte sich verändert. Jetzt eilten Speerspitzen von Jäger-Staffeln den Bomber-Formationen voraus, um die Abfangstaffeln der Flotte in Kämpfe zu verwickeln und sie daran zu hindern, die Bomber anzugreifen. Jagdea sah Kondensstreifen. Die Fledermäuse rasten mit Vollschub der imperialen Linie entgegen. Im Osten und Westen blitzte es auf. Die ersten Kontakte waren hergestellt worden. Der Kom-Verkehr erfuhr eine frenetische Steigerung. Umbras Ortungsgeräte zeigten eine annähernd dreißig Maschinen starke Jägergruppe, die in zwölftausend Metern Höhe anflog. »Sie kommen verdammt schnell«, murmelte Zemmic. »Bremsen wir sie etwas«, sagte Jagdea. Umbra stürzte sich auf die paarweise fliegenden Rudel, und die Maschinen eröffneten das Feuer, sobald die Fledermäuse in Reichweite kamen. Es handelte sich um ein Geschwader Heuschrecken, manche kastanienfarben, manche gelb, manche golden, und sie zogen hoch in Umbras Angriff. Viltry schoss die erste direkt von vorn ab, aber Jagdea fing sich zwei ein, die sich hinter sie setzten und sich nicht abschütteln ließen. Darrow und Del Ruth peilten dasselbe Ziel an und fetzten es mit ihren Laserkanonen in Stücke. Marquall vermied es beim ersten Anflug, sich das Heck wegschießen zu lassen, und zog dann steil hoch, um Jagdea zu helfen. Die beiden kastanienfarbenen Heuschrecken bekamen sie trotz ihrer abrupten Zickzack-Manöver immer wieder kurz in die Zielerfassung. Noch abrupter, und sie riskierte abzuschmieren. »Ich kann sie nicht abschütteln!«, knurrte Jagdea unter der Last des beständig hohen Andrucks. »Umbra Führer! Bremsklappen öffnen und durchsacken lassen!«, rief Marquall, der herangesaust kam. Ihr Gesichtsfeld verengte sich zu einem grauen Tunnel, als Jagdea die Bremsklappen öffnete und mit gewaltigem Ruck unter den noch drehenden Heuschrecken wegtauchte. Sofort fing sie die Maschine mittels Vektorschub ab. Marquall raste feuernd über sie
hinweg, und die Heuschrecken beeilten sich, ihm auszuweichen. Eine zog hoch und außer Sicht, aber die andere stürzte nach unten, und Marquall setzte ihr nach. Die Piloten in Blanshers Hälfte der Staffel schafften alle innerhalb der ersten zwanzig Sekunden einen Abschuss, obwohl Van Tull seinerseits getroffen wurde und Schaden an einer Tragfläche erlitt. »Alles in Ordnung, Drei?«, rief Blansher. »Eins a«, kam die erwartete Antwort. Blansher hörte Kaminsky ganz deutlich über Kom. »Feuer. Feuer. Feuer. Wechseln. Feuer.« Als Blansher hochzog, um Geschwindigkeit aufzuzehren, schaute er über sich und sah Kaminskys Flugzeug mit feuernden Autokanonen in einen Angriff rollen und seinen zweiten Abschuss des Einsatzes machen. Die verbliebenen Fledermäuse traten den Rückzug an. Marquall kehrte mit leeren Händen von seiner Jagd zurück. Umbra formierte sich neu und sichtete augenblicklich das vordere Ende der Bomber-Formation unter und südlich von ihnen. Sie machten auch weiteren Jagdschutz aus. Und begannen trotzdem mit dem Angriff. Über dem Ezrameer, 14:02 Die Batterien der Massen-Formation eröffneten das Feuer, als die Jäger zwischen sie fuhren. Im harten gelben Licht sahen die Bomber aus wie Kupferstiche. Vier Donnerkeil-Geschwader griffen nun diese gigantische Formation an, und zwei weitere duellierten sich mit den Klingen des Jagdschutzes. Viltry münzte seine Bomber-Erfahrung in zwei schnelle Abschüsse um, und Jagdea folgte seinem Beispiel und beschädigte einen schweren Bomber, den Del Ruth in ihrem Kielwasser erledigte. Darrow fand einen Peiniger und schoss ihm einen Teil seiner Triebwerke weg. Er hing noch eine Sekunde in der Luft und kippte dann weg, als sei er ohnmächtig geworden. Del Ruth flog eine Kehre und stürzte sich dann auf einen Superschweren Bomber, der dunkelrot wie Aas lackiert war. Ketten flatterten hinter der riesigen Maschine her, und Del Ruth konnte erkennen, dass sie mit menschlichen Schädeln behangen waren. Sie raste heran und wartete nicht einmal das Signal der Zielerfas-
sung ab, bevor sie schoss. Es wäre schwierig gewesen, den Bomber zu verfehlen. Sie jagte acht Laserstrahlen in die aufgequollene Flanke und sah im Abdrehen die Aluminoidhaut reißen und bersten, als der Bomber durch Treibstoffexplosionen von innen zerfetzt wurde. Doch die Geschütztürme des riesigen Bombers schossen noch ein paar Augenblicke weiter, während er im Feuer starb, und Del Ruth spürte ihren Vogel erbeben, als etwas mit gewaltiger Kraft die Unterseite ihrer Nase traf. Die Aufprallwucht riss ihr den Steuerknüppel aus der Hand und die Nase zwanzig Grad in die Höhe. Sie gewann die Herrschaft über die Maschine zurück. »Sechs, alles in Ordnung?« »Ja, Führer«, antwortete Del Ruth. Sie prüfte ihre Instrumente und sah zwei Warnlampen leuchten, die Schäden an den Autoladern auf der rechten Seite anzeigten. »Ich habe einen Treffer abbekommen, aber nichts Kritisches.« Kaminsky und Zemmic hatten bei ihrem ersten Anflug beide einen Bomber erledigt, aber Blansher, Scalter und Van Tull wurden vom Jagdschutz abgefangen, bevor sie Schaden anrichten konnten. Van Tull musste fast eine vollständige Acht fliegen, bis er eine violette Klinge abschütteln konnte, und bekam praktisch sofort eine andere ins Visier, schwarz-weiß kariert, die Scalter im Nacken saß. Als die karierte Klinge explodierte, rollte Scalter auf einen schweren Bomber zu und beharkte ihn von dessen Sieben. Die violette Klinge, die Van Tull abgeschüttelt hatte, tauchte wieder auf, als sie in steilem Sturzflug herabstieß und das Feuer auf Scalters Maschine eröffnete. Boltgeschosse trafen das rechte Triebwerk, dazu Rumpf und Schwanz, und fegten einen Teil des Ruders weg. Die Einschläge zerstörten Scalters Auspex und sein Kühlsystem und ließen die Seiten seines Kanzeldachs blind werden. »Umbra Sieben! Umbra Sieben!«, brüllte Van Tull. Der benommene Scalter hörte die Stimme und sah sich um. Blauer Rauch wallte durch seine Kanzel. Er starrte auf die zerschmetterten Instrumente. Die wenigen noch funktionierenden Instrumententafeln zeigten ihm eine Masse von Warnlichtern. Überhitzt, Leck, Druckverlust, Triebwerksschaden … »Scalter, hören Sie mich?«
Scalter schaute nach unten und schluchzte einmal. Mindestens eins der Geschosse hatte seinen Unterleib durchbohrt. Er konnte nicht glauben, dass die blutige Schweinerei irgendwas mit ihm zu tun haben sollte. Er spürte seine Beine nicht mehr. Er spürte eigentlich überhaupt nichts mehr. »Scalter!« »Eins a …«, flüsterte er. »Ein paar leichte Schäden.« »Sieben, wenn Sie nicht mehr flugtüchtig sind, springen Sie ab, um Throns willen!« Mit großer Mühe berührte Scalter den Steuerknüppel. Er war tot, schlaff, alle Kontrolle dahin. Das Wrack seiner Maschine flog einfach geradeaus. Er schaute wieder an sich hinunter. Er konnte nicht abspringen. Und es hätte auch keinen Sinn. Er schaute wieder hoch. Der schwere Bomber, den er aufs Korn genommen hatte, war immer noch vor ihm und hielt weiter seinen Kurs. Scalter legte die Hand auf den Schubhebel. »Für Enothis und den Imperator«, murmelte er und gab Vollschub. Umbra Sieben beschleunigte in gerader Linie und rammte den schweren Bomber in der linken Flanke. Eine riesige Feuerkugel hüllte beide Maschinen ein. »Sieben hat’s erwischt! Scalter hat’s erwischt!«, hörte Marquall Van Tull rufen. Der Andruck hinderte ihn an einer Antwort. Er flog eine mörderische Schleife mit einer malvenfarbenen Klinge im Nacken und spürte, wie Treffer von seiner Panzerung abglitten. Er riss Neun-Neun in eine enge Kurve – ein markerschütterndes Schaudern – und schaffte es, die Klinge zu zwingen, unter ihm durchzufliegen. Jetzt war er hinter ihr. Sie würde jeden Augenblick ausbrechen, das war ihm klar. Aber in welche Richtung? Welche Richtung würdet ihr nehmen?, hatte Jagdea ihnen immer gesagt. Marquall entschied sich für rechts, und die Klinge tat im gleichen Moment genau dasselbe. Signalton Zielerfassung. Marquall schrie, als er schoss. Er wusste, dass es ein Abschuss war, noch bevor Doppeladler überhaupt zu schießen begonnen hatte. Die malvenfarbene Klinge erbebte und trudelte dann abwärts wie ein Blatt im Wind.
Marquall hoffte, dass irgendjemand das gesehen hatte. Er hoffte wirklich, jemand … »Umbra Sechs! Umbra Sechs! Status?«, brüllte Jagdea über Kom. Del Ruth hatte im Augenblick keinen offensichtlichen Feindkontakt, aber ihr Donnerkeil sah aus, als bekäme er Treffer in die Nase. Ihre Maschine wurde von einem explosionsartigen Knistern durchgeschüttelt, und Panzerung wurde abgesprengt. »Ich weiß nicht …«, begann sie. Es war der Treffer, den sie ein paar Minuten zuvor in die Nase erhalten und der die Autolader beschädigt hatte. Überhitzungsschaden oder eine im Mechanismus eingeklemmte Patrone, die verspätet explodiert war, hatte die Munitionstrommeln hochgehen lassen. Die Explosionen waren ihre eigenen Patronen, die in ihren Hülsen explodierten. Voller Entsetzen sah Jagdea, wie die Wucht der Explosionen beide Triebwerke ausblies und die nächste Serie den Kühler zerfetzte. Tödlich verwundet stürzte der Donnerkeil ab. »Aggie! Zieh hoch! Zieh hoch!«, rief Jagdea. »Ich kann nicht! Negativ! Der Knüppel ist tot!«, schrie Del Ruth zurück. »Spring ab, Aggie! Um Throns willen, spring ab!« Die Maschine stürzte steil ab. Jagdea sah etwas aufblitzen und dann eine zweite Form neben der Maschine in der Luft. Tief unter ihr öffnete sich ein Fallschirm, ein winziger Punkt vor dem bleiernen Meer. LS Lucerna, 15:20 Beim Auftanken und Aufnehmen neuer Munition wurde kaum gesprochen. Erschöpfung und Nervenbelastung machten sie fertig, aber die Verluste machten alles noch viel schlimmer. Ihnen blutete das Herz ebenso, wie ihnen die Gelenke schmerzten. Bei den meisten Piloten gab es ernstere Probleme mit der Blutzirkulation und dem Gleichgewichtssinn. Allein das Herumlaufen im Hangar war schwierig. Kurz vor 16:00 Uhr, als sie fast wieder startklar waren, meldete die Zentrale, die zweite Welle sei kurz vor Zophos aufgehalten worden. Nach vier Stunden ununterbrochener Kämpfe und damit verbundener Verzögerungen seien die Formationen des Erzfeinds umgekehrt.
Falls eine dritte Welle beabsichtigt war, würde sie innerhalb der nächsten fünf Stunden kommen. »Aller guten Dinge sind drei«, sagte Zemmic. »Für wen?«, fragte Kaminsky. Über den Mittwinterinseln, 18:23 Sie kamen früh zurück. Als seien sie hungrig, als spürten sie irgendwie, dass ihr Gegner in den Seilen hing. Oder als seien sie verzweifelt. Das versuchte Jagdea sich einzureden. Die dritte Welle erschien über der Küste in der frühen und unnatürlichen Dämmerung und war scheinbar ebenso gewaltig wie die anderen zuvor. Wie war es möglich, dass sie so viele von den Schweinen abgeschossen hatten und ihre Reihen nicht spärlicher zu werden schienen? Die verbliebenen acht Maschinen der Umbra-Staffel stiegen mit vier weiteren Donnerkeil-Geschwadern auf neuntausend und kreisten über dem Archipel, während sich die feindlichen Formationen näherten. Die anderen Basen hatten ihre Staffeln ebenfalls gestartet. Die Linie war gezogen. Die Kämpfe begannen um 18:45 Uhr. Eine weitere neue Taktik wurde sofort offensichtlich. Frustriert ob des standhaften Widerstands der Flotte, ließ der Erzfeind die vordersten Elemente seiner Bomberwellen tief anfliegen, um die Inseln in der Hoffnung zu bombardieren, die dort verborgenen Basen zu zerstören. Der Gesamtstoßrichtung nach zu urteilen, sollte dieser Teil der Welle die Straße von Jabez überqueren und Tamuda aufs Korn nehmen, sobald die Inseln zerstört wären. Die grellen Feuerbälle heftiger Detonationen erleuchteten den südlichen Teil der Inselkette. Die Imperiumsflugzeuge stürzten sich auf die Bomber und holten sie aus der Luft, noch während sie ihre Bombenlast abwarfen. »Ich sehe keine Jäger«, rief Marquall. »Es werden welche da sein«, sagte Blansher. Darrow erzielte seinen achten Abschuss des Tages, dann gab er Schub, um sich Viltry bei einem Angriff auf einen Superschweren Bomber anzuschließen. Die Leuchtspurgeschosse zuckten wie eine grelle Springflut durch die schale Luft. Jagdea flog eine enge Kurve. Sie konnte in dem Chaos weder Zemmic noch Van Tull sehen, hörte sie aber im Kom. Blansher
und Kaminsky griffen ein Trio von Peinigern an. Sie wollte sich gerade eine Höllenklaue vornehmen, als sie den Jagdschutz heranrasen sah. »Fledermäuse! Über zwanzig! Zwei Uhr!«, rief Jagdea. Es waren Klingen. Schwarz-rot, ein paar hellrot. Eine perlweiß. Der Schlächter und sein Zirkus kamen angerast. Zwei seiner Flügelmänner griffen an und zerstörten zwei Donnerkeile der Flotte aus dem 96. die nicht annähernd schnell genug reagierten. »Umbra! Teilen! Teilen!«, befahl Jagdea und gab Schub, um sich den perlweißen Anführer vorzunehmen. Seine Ausweichrolle erwischte sie auf dem falschen Fuß, aber sie flog eine enge Kurve und versuchte sich hinter ihn zu klemmen. Er spielte nicht mit, setzte sich mit einem seitlichen Impuls seiner Vektorschubsteuerung nach links ab und zog unter ihr hoch. Sie rollte ihrerseits und tauchte nach rechts von ihm weg, aber er riss scharf nach links herum. Einen Moment fragte sie sich, ob sie ihn tatsächlich so verängstigt hatte, dass er das Weite suchte, doch dann sah sie zu ihrer Bestürzung, dass er sie einfach nur vor die Geschützläufe seiner beiden hellroten Flügelmänner gelockt hatte. Null-Zwo erbebte, als sich Laserstrahlen durch ihre Tragflächen bohrten. Jagdea riss den Knüppel herum und versuchte unter den Klingen durchzubeschleunigen, aber sie waren ebenso agil wie ihr Herr und Meister und klemmten sich hinter sie. »Thron der Erde!«, fluchte Jagdea, während sie darum kämpfte, sich von ihnen abzusetzen. Viel zu schnell für diese Flugzeugdichte, hätte sie fast eine Höllenklaue gerammt und büßte dann viel zu viel Geschwindigkeit ein, da sie gezwungen war, unter ihr wegzutauchen. Ein Feuerstoß streifte ihre Schwanzflosse. Zwei weitere zerfetzten ihre Sensoren, und ihr Auspex-Schirm flackerte und erlosch. Sie arbeitete mit dem Seitenschub, legte sich stur in eine Kurve und zog dann steil zwischen zwei Peinigern hoch, die sie mit ihren Geschütztürmen beharkten. Viltry sah ihre Notlage. Er zog von dem Superschweren Bomber weg, den er soeben schwer beschädigt hatte, zündete seine Nachbrenner und jagte durch die Bomber-Formation in den dichteren Qualm. »Jagdea! Nach links!«, rief er. Sie tat es, aber die hellroten Fledermäuse ließen nicht locker. Viltry schoss auf sie und klemmte
sich dahinter. Er bekam sie nicht in die Zielerfassung. Er würde sie nicht mehr rechtzeitig erwischen. Blansher und Kaminsky ließen von den Bombern ab und stürzten ebenfalls hinter Jagdea her. Kaminsky sah die perlweiße Fledermaus zuerst. Sie schien aus dem Dunst des Fyzelenrauchs zu gleiten wie ein Gespenst, während ihre Geschützmündungen blitzten. Umbra Zwo erbebte heftig, als klaffende Wunden in ihr Heck geschlagen wurden. »Blansher!«, rief Kaminsky. Blansher versuchte die Klinge mit Vektorschub abzuschütteln, wie er es Kaminsky beigebracht hatte. Aber seine Vektordüsen waren beschädigt. Die weiße Fledermaus schoss wieder, einen Strom von Leuchtspurgeschossen, und Blanshers gesamtes Heck verschwand in einem Flammengezüngel. Die Schüsse hatten die Tanks des Raketentriebwerks durchschlagen, und das Hypergel hatte sich entzündet. Der gewaltige Flammenschweif brannte grünlich-weiß in seiner intensiven Hitze. Blansher stürzte ab. Kaminsky ignorierte den weißen Schlächter und stürzte Umbra Zwo hinterher. Blanshers Maschine brannte jetzt von der Nase bis zur Schwanzflosse. »Spring ab! Spring ab, Milan, spring ab!« »… kann nicht! Ich … kann nicht … Kanzeldach klemmt!« »Blansher!« Der Donnerkeil hatte keine Ähnlichkeit mehr mit einem Flugzeug. Er fiel wie ein Komet. Ein Meteor. Ein keilförmiger Feuerball, der fast zu hell war, um ihn anschauen zu können. Doch Kaminsky, der mit ihm herabstürzte, konnte nicht wegsehen. Er kannte sich mit Feuer aus. Er kannte den Schrecken eines brennenden Flugzeugs nur allzu gut. Blansher fing an zu schreien. Das Feuer hatte jetzt die Kanzel erreicht. Die Stimme im Kom hatte nichts Menschliches mehr. Kaminsky war seltsam erleichtert, als das Inferno ins Meer stürzte. Obarkon beobachtete mit Interesse, wie der Flügelmann des Imperialen den absonderlichen Entschluss fasste, seinem bren-
nenden Anführer nach unten zu folgen. Wie seltsam. Als könne er noch irgendetwas tun. Das machte den Flügelmann zu einem außergewöhnlich leichten Ziel. Obarkon stürzte ihm hinterher und spürte, wie die AntigravRüstung um seinen Körper spannte, während die KardioZentrifugen pochten. Er blinzelte, um das Visier zu fokussieren, und legte das orange Fadenkreuz auf das Heck des Flügelmannes. Achtung … Ziel erfasst. Nur noch ein wenig. Ein Warnton erklang. Obarkon schaute auf und hob instinktiv die Nase, sodass er sein Ziel sofort verlor. Schüsse rasten an ihm vorbei. »Jemand will unbedingt sterben«, murmelte er. Darrow raste heran und schoss, sobald er in Reichweite war. Die weiße Fledermaus zog hoch und legte sich in eine enge Kurve. Darrow zog nach und verfolgte sie. Diese Begegnung würde anders verlaufen als die letzte. Er würde nicht hektisch fliehen, denn diesmal saß er nicht in einer hoffnungslos unterlegenen Maschine. Er war jetzt ein Donnerkeil-Pilot. Die verdammte weiße Fledermaus, die fast die gesamte Jagd-Staffel – und in gewisser Weise auch Heckel – abgeschlachtet hatte, würde diesmal der Flüchtende sein. Eine Rolle mit Vektor-Unterstützung und ein Schubstoß brachten Darrow trotz der erstklassigen Außenrollen des Feindes immer näher. Darrow bekam zwei kurze Zielerfassungen, verlor sie aber zu rasch wieder. Er wartete auf die dritte. Interessant, dachte Obarkon, dessen Puls dabei seinen Rhythmus nicht im Geringsten veränderte. Der ist nicht schlecht. Er fliegt nach den Krallen. Wäre es allgemein ruhiger zugegangen, hätte er das Spiel mit diesem Kind genossen. Aber dies war der Tag der Tage, und es lag immer noch viel Arbeit vor ihnen. Dieses Duell war vorbei. Die weiße Fledermaus sank auf eine Höhe unter fünfzig Meter und raste mit einer Geschwindigkeit durch Buchten und Einschnit-
te, von der Darrow niemals geglaubt hätte, ihr folgen zu können. Jede Biegung barg die Gefahr, gegen eine steile Klippe zu rasen oder einen Felsvorsprung zu streifen. Er blieb so lange hinter der Fledermaus, wie er konnte, und war dann gezwungen, vor einem ausladenden Atoll hochzuziehen, dem er anders nicht mehr hätte ausweichen können. Die weiße Fledermaus ließ ihn über sich hinwegrasen und zog dann schießend hinterher. Darrow wich aus, aber die Fledermaus ließ sich nicht abschütteln. Dann peitschten Schüsse von einem zweiten Donnerkeil heran. Es war Marquall. Viltry legte alle Geschwindigkeit in eine letzte Kehre und schoss wieder. Zu guter Letzt störte er die hellroten Fledermäuse so sehr, dass sie von Jagdea abließen. Eine kehrte um und ging auf ihn los. »Weiter!«, befahl Jagdea. Viltry gehorchte. Er beachtete den Angreifer nicht, der eine Schleife flog, sondern folgte dem zweiten und setzte sich hinter ihn. Jagdea schlug einen brutalen Haken und wendete ebenfalls, um sich Viltrys Angreifers anzunehmen. Viltry eröffnete das Feuer, und die hellrote Fledermaus flog auseinander. Einen Moment später erwischte Jagdea die andere mit einem Frontalangriff und holte sie vom Himmel. Marqualls verpatzter Angriff gab Darrow Zeit und Gelegenheit, sich von der weißen Fledermaus abzusetzen, die sofort wendete, um sich Umbra Acht vorzunehmen. »Ich habe ihn!«, rief Marquall. »Ich muss eine Rechnung begleichen!« Ich auch, dachte Darrow. Und ich wäre auch nicht so sicher, dass du ihn hast. Marquall schoss wieder, aber die Klinge rollte und glitt unter dem Feuerkegel durch. Marquall legte sich in eine Kurve, genau richtig, aber die weiße Fledermaus hatte bereits in ihrer Schleife Seitenschub gegeben und fiel förmlich auf Marquall. Ihre Geschützmündungen blitzten.
Darrow sah entsetzt, wie die Leuchtspurgeschosse in Marqualls Flugzeug fegten. Marquall riss am Knüppel. Er sah, wie ein Triebwerk abriss, und spürte den Rumpf erbeben, als sich rings um ihn Kugeln hineinbohrten. Zwei Schüsse verbeulten die Kanister, die seine Luftmischung enthielten, und durchbohrten den Kühler. Zwei weitere durchschlugen den Mechanismus von seinem Schleudersitz, zerfetzten den zusammengefalteten Fallschirm und sprengten Splitter vom Sitzrahmen. Ein Metallstück fuhr in Marqualls linke Wade, ein zweites fegte jaulend unter dem Sitz hervor und durchbohrte den Muskel in seinem linken Oberschenkel. Er schrie vor Schmerzen, und sein Vogel sackte hart durch, aber er riss am Steuerknüppel und bekam die Nase wieder hoch. An der Innenseite seiner Kanzel klebte eine Spur von Blutflecken. Darrow legte sich in eine Kurve. Derart verwundet, war Marquall wie eine Tontaube in der Luft. Darrow gab Schub und raste quer vor der perlweißen Fledermaus her in der Absicht, sie von ihrem Ziel abzulenken. Die Klinge folgte ihm tatsächlich. Der angeschossene Feind konnte nicht mehr fliehen. Obarkon war klar, dass er sich zuerst um den fähigeren Feind kümmern musste. Vor allem jetzt, wo das Kind einen sehr grundlegenden Fehler begangen und sich praktisch vor die Geschütze des Rottenführers gesetzt hatte. Die automatische Zielvorrichtung fokussierte neu. Das orange Fadenkreuz schwebte herein. Darrow raste im Tiefflug durch die Atolle. Er machte sich um Marqualls willen zur Zielscheibe. Um das nackte Leben zu fliehen, schien nicht der beste Weg zu sein, gegen den Feind zu kämpfen. Aber er erinnerte sich daran, was Eads gesagt hatte. Mit einem Rückzug kommt man nur schwer zurecht, aber Sie werden ein besserer Kämpfer, Enric, wenn Sie erkennen, dass ein Rückzug manchmal die einzige Möglichkeit ist zu gewinnen. »Komm schon! Genau! Komm!«, brüllte Darrow. »Du hast mich beim letzten Mal nicht erwischt, und du schaffst es auch diesmal nicht!« Darrow raste durch Buchten und zwischen zerklüftete Felsen durch und wirbelte dabei Gischt auf. Er flog ausschließlich nach Gefühl und Instinkt. Er hatte keine Ahnung, wie er einigen der
Hindernisse auswich. Ihm blieb keine Zeit zum Nachdenken. Die perlweiße Fledermaus saß ihm im Nacken. Sie schoss zweimal, dreimal, verfehlte Umbra Neun aber und sprengte lediglich Gesteinsbrocken von den Inselklippen. Nach den Krallen, in der Tat. Welch ein Geschick. Es erinnerte Obarkon an eine Verfolgungsjagd, die er einmal über dem Makanitgebirge genossen hatte. Mit einem anderen jungen Welpen mit Prometheum in den Adern. Aber das Spiel musste enden. Achtung … Ziel erfasst. »Gute Nacht«, sagte Obarkon, als seine Daumen die Abzugswippen betätigten. Darrow hörte den Warnton der Zielerfassung. »Umbra Acht, um Throns willen! Wie lange muss ich ihn noch beschäftigen?« Die perlweiße Fledermaus schoss. Zwei Schüsse trafen Darrows Schwanzflosse. Vander Marquall fegte mit über neunhundert km/h frontal über die flachen Gipfel eines Atolls. Er flog direkt über Darrows Maschine hinweg und gab mit seinen Autokanonen Dauerfeuer auf die weiße Fledermaus direkt vor sich. Er brauchte keinen Vorhalt für den heftigen Beschuss. Obarkons Maschine flog direkt hinein, ohne die geringste Zeit zum Ausweichen. Eine Millisekunde verformte sich die perlweiße Klinge. Ihr vielfach durchlöcherter Rumpf barst. Belastungsbrüche ließen Panzerung abblättern wie Fetzen abgestorbener Haut. Die Geschosse zerfetzten den Piloten. Dann explodierten Triebwerk und Waffenbatterien in einem gewaltigen Blitz. Marquall raste durch die Flammenwand und kam auf der anderen Seite wieder heraus. Fetzen perlweißer Panzerung flatterten durch die Luft und regneten auf die Lagune herab. »Ich glaube«, sagte Vander Marquall, »das macht mich zu einem Ass.« Über den Mittwinterinseln, 19:30
Darrow kletterte zurück in die tobende Luftschlacht. »Ich dachte, wir hätten Sie verloren, Neun«, sendete Jagdea. »Verstanden, Führer, ich bin in Ordnung. Marquall wurde getroffen. Ich habe ihm gesagt, er soll nach Hause fliegen.« »Verstanden.« »Umbra, Führer, er hat die Fledermaus erwischt. Er hat die weiße Fledermaus abgeschossen. Sie ist explodiert, also ein eindeutiger Abschuss.« Jagdea rollte Null-Zwo durch den Strom der Leuchtspurgeschosse. Von allen Nachrichten, die sie an diesem Tag gehört hatte, war diese als Einzige ein Lächeln wert. Der Himmel war voller Flugzeuge und Geschosse wie in einer großen Szene der Verdammnis auf einem Tempelfries. Mit Viltry links über ihr stürzte sie sich in das Pandämonium und machte sich daran, Blansher zu rächen. LS Lucerna, 21:00 Es war jetzt beinahe dunkel und seltsam ruhig. Die dritte Welle war vor einer halben Stunde zum Stillstand gekommen und zurückgeflutet, und irgendein Instinkt verriet Bree Jagdea, dass es keine vierte Welle geben würde. Nicht heute. Die Mechaniker mussten sie fast aus ihrem ramponierten Donnerkeil tragen. Zemmic und Van Tull waren soeben gelandet. Van Tull hatte Nasenbluten und ein Drittel von einer Tragfläche verloren. Viltry und Kaminsky saßen vollkommen entkräftet mit dem Rücken zur Hangarwand. Sie hockte sich zu ihnen. Sie wollte etwas sagen, aber da gab es nichts, und sie hatte ohnehin keine Kraft mehr, um zu sprechen. Darrow landete als Letzter. Er hatte fünfzehn Feinde abgeschossen. Ein dreifaches Ass. Er stieg aus seinem Flugzeug, ließ den Helm aus den zitternden Fingern gleiten und beschrieb das Zeichen des gesegneten Adlers. Den heiligen Doppeladler. »Geschwaderführer?«, rief er. »Geschwaderführer Jagdea?« Sie erhob sich. »Was ist denn los, Darrow?« »Wo ist Marquall?«, fragte er. Über der Straße, 21:01
Immer noch im Geradeausflug überquerte Neun-Neun Doppeladler die Straße von Jabez in sechstausend Metern Höhe, während der Treibstoff in den Tanks abnahm. Vor ihm lag der weite Ozean. Vander Marquall saß auf seinem Pilotensitz, den Kopf leicht nach vorn gebeugt. Das Kom knisterte. »Umbra Acht? Umbra Acht? Hier Lucerna Einsatzleitung? Bitte kommen.« Marquall antwortete nicht. Das beschädigte System für die Luftgemisch-Aufbereitung hatte seine Kanzel bereits eine halbe Stunde zuvor mit Kohlendioxid gefüllt. Das Flugzeug flog weiter, bis zum letzten Augenblick seinem Wesen treu, hinaus auf den Ozean und in die Falten der Nacht.
EPILOG Keine vierte Welle kam. Weder an diesem noch an sonst einem Tag. Obwohl der Luftkrieg auf Enothis noch drei weitere Wochen andauerte, waren die Verluste, die der Erzfeind am 270. erlitten hatte, so groß, dass ihn die Bereitschaft verlassen zu haben schien, sich noch einmal auf ein solches Unterfangen einzulassen. Die Schlacht über dem Zophonischen Meer, wie sie in den historischen Texten nunmehr genannt wird, war nicht die letzte Schlacht des Krieges auf Enothis, aber die entscheidende. In den darauf folgenden Wochen begann Marschall Humels Gegenoffensive, und mit den Verstärkungen aus der Khan-Gruppe drängte die Imperiale Garde zurück in den Süden und gegen einen demoralisierten Feind. Schließlich fielen die Dreieinigkeit-Makropolen nach Monaten grausamster Kämpfe am 62. des Jahres 774.M41. Mittlerweile war der Magister Sek des Erzfeindes von Enothis geflohen. In den Aufzeichnungen ist vermerkt, dass die erste Einheit, welche die Tore der Dreieinigkeit-Makropolen durchbrach, ein Panzerregiment unter dem Befehl eines gewissen Hauptmanns Robart LeGuin war. Während der Schlacht über dem Zophonischen Meer verlor die Imperiale Luftwaffe neunhundertachtundvierzig Maschinen im
Gegensatz zu den bestätigten siebentausendachthundertvierzig des Erzfeindes. Von den beteiligten Geschwadern der Flotte wurde die höchste Abschussrate pro Einzelpilot von den 101. Aposteln erzielt, aber drei andere Jagdgeschwader, darunter auch das XX. Phantine, übertrafen die Gesamtzahl der von den Aposteln erzielten Abschüsse. In den Aufzeichnungen ist vermerkt, dass Hauptmann Oskar Viltry, Marodeur-Pilot, am 260. Tag des Imperiumsjahres 773.M41 im Einsatz über der Wüste abgeschossen und getötet wurde.