C.H.GUENTER
Der
Cinderella
Trick
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Nach einer Jagd durch drei Länder ha...
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C.H.GUENTER
Der
Cinderella
Trick
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Nach einer Jagd durch drei Länder hatte der BNDAgent Robert Urban den Mann endlich eingeholt. Er war Deutscher und hieß Eybner. Es war 10.15 Uhr, als Eybner am Amsterdamer Flughafen Schiphol für die Maschine nach Moskau eincheckte. Er nahm sein Handgepäck, eine mittelgroße Rinds ledertasche, auf und begab sich zur Ausreisekon trolle. Robert Urban stand mit einem Kollegen des niederländischen Geheimdienstes und einem Zoll beamten in dessen Büro. „Der Mann im weißen Trenchcoat“, sagte Urban und deutete durch das Fenster. „Der mit dem Hut?“ „Nein, der lange Blonde.“ „Eigentlich dürfen wir nur den Paß kontrollie ren. Wenn der in Ordnung ist und der Betreffende nicht im Fahndungsbuch steht, gibt es keine Hand habe ...“, bemerkte der vom Zoll. „Untersuchen Sie sein Handgepäck“, bat Urban. „Er kann mit ins Ausland nehmen, was er will. Schnaps, Pornos, Gulden, soviel er tragen kann.“ „Er verstößt gegen die Cocom-Liste“, erwähnte Urban. „Dabei handelt es sich um eine Zusammen stellung rüstungsrelevanter Güter, die nicht in den Osten geliefert werden dürfen.“ 3
„Ich weiß, was die Cocom-Liste ist“, erwiderte der Beamte unfreundlich. „Aber in seine Reiseta sche paßt kein Computer. Er hat kleines Gepäck drin, mehr nicht. Das rieche ich.“ „Würden Sie trotzdem noch mal hineinriechen, Inspektor“, bat Urbans Kollege. „Sie werden hier keinen Kriminalfilm erleben, Mijnheeren.« „Aber vielleicht ein blaues Wunder“, äußerte Urban. Als der Mann, der Eybner hieß, an der Reihe war, drückte der Inspektor auf einen Knopf. Vor dem Beamten draußen ging daraufhin eine rote Lampe an. Das Signal bedeutete, daß der Reisende zu durchsuchen war. Eybner wurde zu einem Nebentisch gebeten. Der Beamte Öffnete seine Reisetasche, faßte hinein und stieß auf etwas Hartes in der Größe eines Schuh kartons. „Was ist das?“ „Mein Radio.“ ,,Darf ich das sehen, Mijnheer?“ Eybner holte es heraus. Es glich aufs Haar einem der Radios mit Kassettenspieler, wie man sie überall kaufen konnte. „Geschenk für einen Freund“, erklärte Eybner unaufgefordert. Der Beamte kannte sich nicht sonderlich gut aus. Also wandte er sich an seinen Kollegen. Hinter dem tauchten jetzt drei Männer auf. Kaum hatte Eybner Urban gesehen, ließ er alles stehen, flankte über die Barriere und versuchte zu fliehen. 4
Nach etwa dreißig Metern hatte Urban ihn eingeholt. „Sie können mich hier nicht festhalten“, keuchte Eybner, seine Krawatte richtend. „Warum haben Sie es denn so eilig?“ „Dies ist holländisches Gebiet.“ „Ich dürfte Sie nicht einmal in der Bundesrepu blik festnehmen“, stellte Urban klar. „Aber dafür gibt es Polizisten.“ Urbans niederländischer Kollege trat hinzu. „Stimmt“, bestätigte er. „Es ist ein Mikrowe llen empfänger von Telefunken. Gut getarnt, aber zwei fellos Konterbande.“ Urban schüttelte den Elektronikschmuggler, als würde er dadurch lockerer. „Ein Radio nichts sonst“, beharrte Eybner. „Mit dem man allerdings militärische Satelliten abhören kann“, entgegnete Urban, „und sogar die Flugzeuge der Regierungschefs.“ „Sie sind festgenommen“, entschied der Hollän der, und an Urban gewandt: „Was machen wir mit ihm? In einer halben Stunde habe ich einen Haft befehl.“ „Schlage vor, wir hängen es nicht ganz so hoch“, antwortete Urban. „Vielleicht zieht er eine Aus sage der Untersuchungshaft vor.“ „Ich bleibe dabei“, stellte Eybner sich stur. „Es ist ein Radio, und ich habe nichts auszusagen.“
5
Nach gut einer Verhörstunde schloß Urban seine Seelenmassage ab. „Nur ein Verrückter spielt mit so schlechten Karten noch weiter, Eybner.“ Der Endzwanziger aus Unna in Westfalen, einst Handelsvertreter für Unterhaltungselektronik mit Hang zum Abenteuer, hatte sich von seiner zweiten Schmuggelreise etwas mehr versprochen. Zwar verdiente er gut, pro Flug in den Osten soviel, als würde er einen schweren LKW nach Indien über führen, aber er hatte sich nicht genügend über die Gesetzeslage unterrichtet. „Was wird es kosten?“ wollte er wissen. „Drei Jahre minimum. Sie sind vo rbestraft, Eybner.“ Eybner zog den Kopf ein und begann zu schielen. „Und wie komme ich drum herum?“ Der Holländer hatte noch keinen Haftbefehl erwirkt, Eybner war Deutscher. Man überließ solche Fälle lieber den jeweils zuständigen Hei matbehörden. „Sagen Sie aus, was Sie wissen, was Sie hörten, aufschnappten, sich zusammenreimen“, schlug Urban vor. „Alles ist wichtig. Personen, Namen, Firmen, Büros, Waren, Transportwege und und und.“ „Dann bin ich weg vom Fenster“, jammerte Eybner. „Das sind Sie ohnehin. Aber wenn Sie uns weiterhelfen, dann setze ich Sie hier in mein Auto, bringe Sie in die Bundesrepublik und lasse Sie dort vielleicht sogar laufen“, versprach Urban. Langsam wurde Eybner weich. Er hatte einen 6
Hang zum Abenteuer, aber das bedeutete für ihn Freiheit und nicht Gefängniszelle. Urban brachte den Elektronikschmuggler zu seinem BMW und fuhr mit ihm auf der Autobahn zur deutschen Grenze. In Arnheim hatte er aus Eybner herausgelockt, was der wußte, und besaß jetzt bessere Kenntnisse über die Organisation als der kleine Kurier. Jenseits der Schlagbäume, auf dem Gebiet der Bundesrepublik, bat Urban einen Grenzschützer, ein Auge auf Eybner zu werfen. Dann telefonierte er mit dem Hauptquartier in München Pullach. „Aktuell ist eine Containersendung aus den USA nach Finnland“, meldete er. „Meine Daten sind nicht hundertprozentig. Ich mußte Eybners Anga ben mit unserem eigenen Wissensstand vervoll ständigen. Aber der Container dürfte in Boston bei der Digital-Equipement abgefertigt worden sein.“ „Inhalt?“ wollte Sebastian, der Operationschef, wissen. „Vermutlich VAX Kompatible Multiporter. Das ist ein Ergänzungscomputer, der je zwei zivile VAX kriegsverwendungsfähig macht.« Der Alte verstand nicht allzuviel von moderner Elektronik, einem technischen Gebiet, das er, nahe der Pensionsgrenze, mit einem gewissen Horror, wenn nicht sogar mit Abscheu betrachtete. Also lieferte Urban ihm eine leicht verständliche Erklä rung. „Durch die Geräte, die sich in dem Container befinden, macht man aus zwei stinknormalen Datenverarbeitungsanlagen das zur Zeit leistungs fähigste Feuerleitsystem für Atomraketen.“ 7
Der Brummton zeigte Urban, daß Sebastian es geschnallt hatte, „Und wie läuft die große eiserne Seekiste?“ „Im Zickzack, wie immer“, schätzte Urban. „Erst nach Südamerika, dann weiter nach Kap stadt, von dort über Madrid, vielleicht nach Stock holm, von wo sie zum letzten Sprung hinter den eisernen Vorhang ansetzt. Bei einem Wert des Inhalts von dreißig Millionen Dollar spielen Frachtkosten keine Rolle.“ „Und wie wollen Sie den Container kriegen? Eher finden Sie die Spur eines Fisches im Indi schen Ozean.“ Jetzt verriet Urban ihm den Rest. „Kennwort Nora.“ „Was bedeutet Nora?“ „Das Transportmittel. Ich vermute, daß es sich um ein Transportflugzeug handelt. Genaues wußte auch Eybner nicht. Er schnappte im Zusammen hang mit dem Container nur das eine Wort auf: Nora.“ „Das bedeutet also, daß wir erst Nora suchen müssen.“ „Frachtjets sollen mitunter Namen führen,“ „Ich lasse das sofort in Angriff nehmen“, erklärte der Operationschef. „Was machen wir mit Eybner?“ „Ich habe ihm die Freiheit versprochen.“ „Aber nicht gleich.“ „Nein, erst wenn wir Nora haben“, sagte Urban.
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Alle im Weltluftverkehr zugelassenen Frachtma schinen waren computermäßig erfaßt. Auf die Anfrage Nora warf die elektronische Kartei zwei Daten aus. In Südamerika flog eine fünfunddreißig Jahre alte DC-2 und versorgte peruanische Anden dörfer mit Material für die Silberbergwerke. Außerdem war unter dem Namen Nora eine Boeing 747 der Mexiko-Airlines registriert. Sie bewegte Luftfracht vorwiegend von Westindien nach Nord afrika, beförderte gelegentlich aber auch Waren nach Nahost und in die Sowjetunion. Die Flüge dieses Frachtriesen wurden nun genauestens beobachtet und verfolgt. Eine Woche nach dem Zugriff des BND-Agenten Nr. 18 in Amsterdam verhielt sich der CargoFlieger Nora recht ungewöhnlich. Fast leer, mit wenigen Tonnen Restfracht, flog er von Kairo nach Rom und weiter nach Madrid. Obwohl es erst den Anschein hatte, daß er nur auftanken und nach Mexiko zurückkehren wollte, setzte er zum Sprung nach Stockholm an. Von dort war es ein kurzer Weg nach Leningrad. In Stockholm schlug die Zollbehörde auf Ersu chen der NATO-Geheimdienste zu. Der plombierte Container wurde geöffnet. In der Styroporverpak kung, wie sie für empfindliche elektronische Geräte verwendet wurde, befand sich nicht ein einziger Chip. Dafür tausend Kilo Gummibärchen. Die mit Tarnungen erfahrenen Stockholmer Beamten prüften die Ladung bis zur letzten Tüte. „Nur Gummibärchen“, telefonierte der verant wortliche Schwede nach München. „Gummibär chen durch und durch.“ 9
„Und was ist im Innern der Gummibärchen?“ erkundigte sich Robert Urban. Der Schwede wußte in welche Richtung Geheim dienste zu denken pflegten. Er lachte. „Wir haben sie probegelutscht. Bißchen klebrig, aber fein im Geschmack. Zitrone, Erdbeere, Kirsch, Waldmeister, Orange. Ich kann den ameri kanischen Präsidenten verstehen, das das seine Lieblingslollies sind.“ „Offenbar sind es auch die Lieblingslollies der Genossen im Kreml.“ „Die Ladung kann also weitergehen?“ „Von uns aus“, bedauerte Urban in München. Bevor sie Eybner auf freien Fuß setzten, probier ten sie noch einen anderen Weg. Vielleicht war Nora gar kein Flugzeug, sondern ein Schiff. Wieder arbeiteten die Computer. Es stellte sich heraus, daß ein Frachter namens Nora, der unter Liberianischer Flagge lief, soeben den Panamaka nal passierte. Er kam von Südkorea und hatte Billigautos für Finnland geladen. Allerdings sollte er in Colon noch einen Container an Bord nehmen. Der Bundesnachrichtendienst alarmierte darauf hin den amerikanischen Geheimdienst CIA in Langley /Virginia
Sie kamen zu spät. Als die Polizeifahrzeuge mit Blaulicht und Sire nen am Kai vorfuhren, hatte die Nora bereits die Leinen gelöst. Der Lotse war an Bord. Der Frach ter lief aus. 10
„Wir können ihn noch stoppen lassen“, sagte der panameäsche Zollkommandant zu dem CIAAgenten. Der aber winkte ab. „Das wäre zuviel Aufsehen. Den kriegen wir auch anders.“ Der Frachter hatte einen weiten Weg vor sich. Auf zehntausend Seemeilen konnte eine Menge geschehen. Die Nora war kaum achtzehn Stunden auf See, da fing es schon an. Der Funker meldete dem Kapitän Störung auf allen Geräten. „Was heißt Störung?“ herrschte der Portugiese ihn an. „Bringen Sie Ihren Laden gefälligst in Ordnung.“ „Das versuche ich seit Stunden, Käpten“, ant wortete der Funker verzweifelt. „So was von totalem Blackout hatten wir noch nie. Auf allen Bereichen nur ein krachendes Rauschen.“ Wer immer an Bord des Frachters etwas von Radiotechnik verstand, schaute sich die Sache an und erteilte Ratschläge. Aber der Schaden war nicht zu beheben. Das Schiff blieb ohne Verbin dung zur Umwelt. Keine Wetterberichte kamen mehr durch, nicht einmal auf Seenotfunk war Kontakt herstellbar. Die Männer auf der Nora konnten nicht wissen, daß ihnen - unsichtbar, weil unter dem Horizont bleibend - ein Zerstörer der US-Navy folgte. Mit seinen starken Sendern legte er ein Störfeld über die Frequenzbereiche der Nora. Weil alles nach Schlechtwetter aussah und auch das Radar der Nora nicht arbeitete, fühlte sich der Kapitän des Frachters wie blind. Da er die Verant 11
wortung für Schiff, Mannschaft und Ladung trug, lief er den nächsten Hafen an. Das war Ponce auf Puerto Rico. Die Insel war amerikanisch. Der Nora-Kapitän hoffte, daß dort der Fehler gefunden und der Schaden behoben werden könne. Zwei Ingenieure einer Servicefirma für Schiffs funk kamen an Bord. Sie gingen dem Defekt nach. Einer von ihnen meinte: „So einen Fall hatten wir schon mal.“ „Ihre Funkstation ist in Ordnung, Sir“, erklärte er. „Haben Sie vielleicht irgendwelche elektroni sche Ladung an Bord?“ „Nur Autos aus Korea.“ „Und nichts sonst?“ „In Colon übernahmen wir einen Container.“ „Inhalt?“ Die Frachtpapiere wurden geholt und überprüft. „Videorecorder, CD-Spieler, Stereoanlagen, ein paar tragbare Fernseher.“ Die Ingenieure blickten sich an. „Das muß es sein, Sir. Das Zeug wird in der Fabrik getestet. Dadurch können in den Kondensa toren, in den Chips, Spannungsnester zurückblei ben. Sie strahlen und bewirken so die Störung.“ Der Kapitän zweifelte an dieser These und wandte sich an seinen Ersten Offizier. „Ist das möglich?“ „Bei moderner Elektronik ist alles möglich, Sir“, befürchtete dieser. „Es gibt jede Menge Äther schmutz, Alles strahlt. Sogar Doppelstecker, Venti latoren, Boiler, Toaster und Heizdecken strahlen. Elektroniksysteme können sich gegenseitig irri tieren.“ 12
Der Chief erinnerte sich, daß er ein Auto beses sen hatte, dessen Motor regelmäßig Aussetzer bekam, wenn er sich einer starken Radiostation näherte. Der I. Offizier stimmte ihm zu. „Bei einem Kollegen von mir gingen stets die Scheibenwischer an, wenn er an einem Polizei streifenwagen mit defekter Antenne vorbeifuhr.« „Wir müssen uns den Container ansehen“, for derten die Service-Ingenieure. „Etwa öffnen?“ „Zumindest müssen wir ihn elektromagnetisch durchmessen, Käpten.“ Der Laderaum wurde geöffnet. Sie stiegen hinab, und es fiel ihnen leicht, vorzutäuschen, daß die Störung aus dem Container kam. „Wie kriegt man sie weg?“ fragte der Kapitän, schon in Zeitnot. „Aufmachen. Wir entspannen jedes Gerät ein zeln.“ „Dazu bin ich nicht berechtigt.“ „Dann müssen Sie mit der Funkstörung weiter leben, Kapitän.“ Das war nicht zu verantworten, denn vor der Nora lagen Mittel- und Nordatlantik. Sie meinten, es gäbe vielleicht noch eine Mög lichkeit, den Container zu isolieren, nämlich durch Spezialmatten mit eingelassenem Drahtgeflecht, Schaumstoff und Styropor. Der Kapitän wollte wissen, wie lange das dauern würde. Er hatte schon einen Tag verloren. Die Nora hatte fünftausend Dollar fixe Kosten pro Tag. 13
Die Ingenieure versprachen, es bis morgen früh hinzukriegen. Der Container, in dem sich waffentaugliche Com puter für Rußland befanden, wurde also isoliert. Die Arbeiten wurden von den beiden ServiceIngenieuren, bei denen es sich um CIA-Spezialisten handelte, persönlich erledigt. Zur selben Stunde schaltete der US-Zerstörer seine auf die Nora gerichteten Störsender ab. Die Funkstation des Frachters arbeitete wieder, Am Morgen verließ die Nora den Hafen. Nach sechsunddreißig Stunden zündete in der Containerisolierung eine Brandkapsel. Bei dem Schaumstoff handelte es sich um hoch feueremp findliches Material. Zwar entdeckte man das Feuer, aber es war nicht zu löschen. Der Kapitän ließ den Frachtraum II fluten. Das Feuer brannte selbst unter Wasser weiter und breitete sich auf den Rest der Ladung aus. Die Billiglimousinen aus Korea bestanden zu zwanzig Prozent aus Kunststoff. Dieser Kunststoff, die Reifen und das Restbenzin in den Tanks entwickelten eine Hitze, daß der Stahl glühte und der Frachter aufgegeben werden mußte. Eine zufällig vorbeikommende Fregatte der USNavy nahm die Schiffbrüchigen auf,
2. Beim amerikanischen Geheimdienst CIA gab es eine Abteilung für Embargo-Überwachung. Sie war im Hauptquartier in Langley untergebracht. An diesem Tag hatte man Grund zum Feiern. 14
Kaum war die Meldung der Fregatte Hampshire eingetroffen, eilte der Abteilungsleiter zum Di rektor. „Ein Container voll mit Multiportern für VAX 11-780 liegt auf dem Grund des Karibischen Meers, Sir.“ Der CIA-Chef war hocherfreut. Allerdings lösten Erfolge bei ihm regelmäßig Zweifel aus. „Container sind wasserdicht. Kann man ihn bergen? Ein russisches U-Boot etwa?“ „Das schon, Sir“, antwortete der Mann von der Embargo-Überwachung. „Aber was macht er mit verschmorten Computern? Das Feuer dürfte eine Hitze von mehreren tausend Grad entwickelt haben.“ Jetzt erst war der CIA-Boß wirklich zufrieden. Er nahm den Zwicker ab und steckte sich eine Zigarre an. „Prächtige Arbeit, Pederitzky. Wir haben hier zwar keine Orden zu verteilen, aber an wessen Brust müßten wir sie heften, wenn wir sie hätten?“ „Kolleck hat das im wesentlichen gedeichselt, Sir.“ Der CIA-Chef, ein gedrungener, grauhaariger Mann, blickte verwundert. „Es ehrt Sie, Pederitzky, daß Sie sich nicht selbst damit schmücken.“ „Mir genügt es“, antwortete der Sektionschef nicht ganz unbescheiden, ,3U1 Kolleck an die Sache angesetzt zu haben, Sir.“ ,Ja unser Kolleck. Commander Kolleck, immer wieder Kolleck, unser bestes Pferd im Stall.“ „Robust wie ein belgischer Ackergaul, schnell wie ein Araberhengst, intelligent wie...“ 15
Was Kollecks Intelligenz betraf, scheute Pede ritzky den Vergleich mit Pferden, von denen er wußte, daß es mit ihrer Intelligenz nicht weiter her war als bei Ratten. „Also keine Chips für Moskau“, faßte der CIADirektor es zusammen. „Sie werden es immer und immer wieder versu chen, Sir. Ohne westliche Technologie können sie ihre Rüstung gleich fürs Armeemuseum produ zieren.“ „Ja, die Cocom-Liste tut ihnen weh.“ „Sie zahlen für ein wichtiges Teil, das tausend Dollar kostet, schon den fünfzig- bis hundertfa chen Preis.“ „Sie gehen also computermäßig auf dem Zahn fleisch.“ „Waffen bedeuten Macht, Sir, viele Waffen Übermacht. Ohne Superelektronik keine neuen Waffen, ohne Waffen keine Macht.“ „Wo liegt das Hauptproblem für uns?“ wollte der CIA-Chef wissen. Er schätzte umfassende Informa tionen in einem Satz, sofern dies möglich war. „Die vielen Wege, die den Russen zur Verfügung stehen, machen uns zu schaffen, Sir.“ „Kolleck soll die Augen offenhalten.“ „Das wird immer schwieriger. Heute passen ja schon hundert Megachips in eine Damenhandta sche.“ Der CIA-Chef lehnte sich zurück. Er hatte einen Ledersessel mit Zentralgelenk. Man konnte damit auch schaukeln. „Warum, zum Teufel, sind die Russen so wild auf das Allerneueste. Sie haben mit uns einen Vertrag geschlossen, daß die Hälfte aller SS-20-Raketen 16
verschrottet wird und daß keine neuen Mittelstrek ken- und Interkontinentalraketen mehr gebaut werden.“ Nun war es Pederitzky, der sich ein wenig Spott gestattete. „Meinen Sie diesen INF-Vertrag, Sir?“ „Welchen Vertrag denn sonst.“ „Den unser Präsident in einer Anwandlung von später Männerliebe mit dem Kremlchef abschloß.“ Der CIA-Direktor machte die Augen schmal. Jeder wußte, daß der INF-Vertrag nicht seinen Beifall gefunden hatte, andererseits stand er loyal zum Präsidenten. „Was wollen Sie damit ausdrücken, Pederitzky?“ „Nun, da schließe ich mich der Meinung von Senator Helms an. Er behauptet, der Kreml lüge. Er besitze doppelt so viele SS-20-Raketen, wie offiziell angegeben. Wenn die Hälfte davon ver schrottet wird, bleiben neunhundert Stück übrig, die modernen Typen natürlich.“ „Das ist durch nichts bewiesen.“ „Leider nein, Sir.“ „Nur Gerüchte, von den ewigen Scharfmachern in die Welt gesetzt.“ „Wollen wir es hoffen, Sir.“ Der CIA-Chef fuhr leise fort: „Denn wenn es die Wahrheit wäre, hätten wir uns in eine verdammte Falle begeben.“ „Wir haben ja noch unsere Satelliten, Sir“, erwiderte Pederitzky. „Die werden es schon rich ten. Ihren Kameras entgeht nichts.“ „Halten Sie mich auf dem laufenden.“ „Dann bis morgen, Sir“, sagte der lange, immer etwas gebückt gehende Pederitzky. 17
Die Auswertung der Satellitenfotos oblag dem Pentagon. Das Verteidigungsministerium am rech ten Ufer des Potomac hatte Spezialabteilungen dafür. Einer der hochqualifizierten Techniker ent deckte unter seiner tellergroßen Leuchtlupe etwas, das ihn veranlaßte, die Sache noch einmal zu überprüfen und mit Fotos vom Vortag zu verglei chen. Was er fand, irritierte ihn zunächst, dann machte es ihn nachdenklich und später besorgt. Er besprach sich mit seinen Kollegen am Neben tisch, danach ging er zu dem Abteilungsleiter. „Unsinn“, sagte dieser. „Die Russen bauen ihre SS-20-Stellungen ab. Sie karren die Raketen um die Ecke zum nächsten Schrottplatz und schneiden oder zerlegen sie in Stücke.“ „Ich finde aber die Stücke nicht, Sir“, beharrte der Auswerter. „Zu klein, als daß sie deutlich zu erkennen sind.“ „Sir, die Auflösung unserer Kameras ist so gut, daß ich die Nummernschilder der Sattelschlepper lesen kann.“ Der Abteilungsleiter setzte sich nun selbst an das Sichtgerät „Was für Stellungen sind das?“ „Ostpolen, Westukraine, Basis II bis VI.“ „Wie viele SS-20 haben Sie gezählt?“ „Achtundzwanzig Raketen in sieben Positionen, vierzehn auf festen Abschußrampen, der Rest auf mobilen LKW-Startgestellen.“ „Nicht mehr zu sehen“, bemerkte der Abtei 18
lungsleiter. „Wo sind die Depots, wo man sie verschrottet?“ Ein anderer Film wurde eingelegt und die Koor dinaten eingestellt. „Da liegen doch SS-20. Spitzen, Tanks und Triebwerke.“ „Die liegen schon seit zwei Wochen da, Sir.“ Der im weißen Labormantel blickte auf. „Was wollen Sie damit sagen?“ „Nur soviel, Sir, daß ich den Weg der vierzehn mobilen SS-20 nicht verfolgen kann. Sie sind wie vom Erdboden verschwunden.“ „Das ist unwahrscheinlich. Wir haben klare Abmachungen mit den Russen. Es gibt Verträge. Keine der angemeldeten und registrierten SS-20 darf bewegt werden, es sei denn zur Vernichtung.“ „Genau das meinte ich, Sir.“ Der Laborleiter, um Objektivität bemüht, steckte sich eine Camel an, rauchte aus und faßte zu sammen: »Also, was haben wir, Gentlemen?“ „Von viermal sieben SS-20 fehlen zweimal sieben.“ Der Laborchef riet, die nächsten und die über nächsten Fotos abzuwarten. Um aber keinen Feh ler zu begehen, meldete er die Beobachtung seinem Vorgesetzten. Dieser sprach mit dem General dar über, der nicht an die Ehrlichkeit der Russen glaubte und ein Freund von Senator Helms war. „Das“, sagte der General, „werde ich jetzt der CIA in die Suppe rühren. Und zwar mit Genuß. Ich will Ihnen etwas gestehen. Nie war der Krieg kälter als jetzt. Nie hatte ich vor den Iwans mehr Angst als heute.“ 19
„Es gibt Leute, die behaupten das Gegenteil, Sir.“ „Hier scheiden sich eben die Geister“, erklärte der General, „Es soll Menschen geben, die fallen auf jeden herein, der nett zu ihnen ist.“
Da der Pentagon-General fürchtete, der CIADirektor könnte es für den Ausdruck von Schaden freude halten, wenn er ihm die Raketengeschichte persönlich steckte, schaltete er einen Mann ein, von dem er wußte, daß er beim Geheimdienst gut angeschrieben war. Er informierte Ted Pederitzky. Kaum hatte Pederitzky den Hörer aufgelegt, ersuchte er um einen Termin beim Direktor nach. Er bekam ihn. Im Büro des ersten Mannes der CIA sagte er: „Tut mir leid, Sir, daß ich Sie früher stören muß als vorgesehen. Aber die Sache hat Dringlichkeits stufe.“ „Ist ein neuer Container mit Pornos unterwegs nach Moskau?“ „Das wäre zu korrigieren, Sir.“ „Schießen Sie los. Ich habe wenig Zeit, muß zum Präsidenten.“ Pederitzky drückte es in einem Satz aus: „Die Russen bunkern SS-20-Raketen weg.“ Erst fand der Chef es zum Lachen. Als er Details erfuhr, wurde er grau im Gesicht und nahm eine Tablette zu einem Schluck Wasser. „Gesicherte Fakten?“ „Absolut, Sir.“ „Wie viele Raketen?“ 20
„In drei Tagen vierzehn Stück. Spurlos ver schwunden. Verbaggert.“ „Wo?“ „Ostpolen. Basis drei. Aber die Dinger sind auf Sechsachser montiert. In einer Nacht kommen die weit.“ „Wohin?“ Pederitzky trat an die Weltkarte, die die Schmal wand des Raumes ausfüllte. „Bis zum Dnjepr, Sir.“ „Dort gibt es nur Sümpfe.“ „Bis zu den Karpaten.“ „Nichts als Berge dort.“ „Wir müssen etwas tun, Sir“, drängte Pede ritzky. „Es ist leider nicht mein Fachgebiet, Sir. Das muß die Operativabteilung machen. Aber daß die Russen SS-20 vor unseren Augen verstecken, in einer Nacht vierzehn, macht in zehn Nächten schon hundertvierzig, das fürchte ich, ist ein ganz dicker Hund.“ „Sie sehen zu schwarz.“ „Ich würde verdammt gerne rosa sehen, Sir“, gestand Pederitzky. »Aber man muß das nach prüfen.“ „Wie denn?“ „Das ist zu überlegen. Eine hochgefährliche Aufgabe.“ „Sie ist eigentlich undurchführbar. Unser öst netz ist so gut wie nicht existent.“ Zumindest hatte Pederitzky die Sache los und die Verantwortung auf andere Schultern geladen. Der CIA-Direktor drehte seinen Sessel zum Fen ster hin und sann hinaus über den Wald in den 21
Dunst des späten Nachmittags. Seine Stimme klang rauh. „Was können wir tun?“ „Den Präsidenten warnen, Sir.“ „Der glaubt mir kein Wort.“ „Den Fotos muß er glauben.“ „Er schaut sich keine Fotos an.“ „Wir haben Beweise.“ „Wir hatten leider schon immer zu viele Beweise, Der Präsident vertraute ihnen und wurde meist böse enttäuscht, weil unsere Beweise nichts taugten.“ „Diesmal sind sie echt, Sir. Hundertprozentig.“ Der CIA-Direktor stand auf und knöpfte das Sakko zu. Er wirkte müde und stützte sich gegen die Schreibtischkante. „Unser Präsident und der Mann im Kreml betrachten sich neuerdings als Freunde, als Kum pels.“ „Und Kumpels bescheißen sich nicht, glauben sie.“ „Nach alter Cowboymanier. Da ist nichts zu machen. Sie vertrauen einander. Da kann man keine Feuerchen legen.“ „Politik“, erwähnte Pederitzky, und Vertrauen, das paßt nie zusammen. O heilige Einfalt!“ „Vielleicht“, meinte der CIA-Direktor, „hört mir die First Lady, die Frau des Präsidenten, zu. Sie kann mich zwar ungefähr so gut leiden wie Eliza beth Taylor ihren Richard Burton, als sie anfingen, leere Whiskyflaschen aufeinander zu schmeißen, aber was tut man nicht alles? - Was sind das bloß für verdammte Wege, die man gehen muß, um die Sicherheit dieses Landes aufrecht zu halten.“ 22
Pederitzky begleitete den Direktor bis zum Lift. „Wir planen das schon mal durch, Sir“, gab er ihm als Trost mit auf den Weg ins Weiße Haus.
3. Aus stiller Opposition gegen den Smokingzwang trug Urban zum Rüschchenhemd eine rote Schleife. Trotz des Gewühls beim Staatsempfang im Schloß Schleißheim wurde Urban von einem Mann entdeckt, den er schätzte, obwohl er sein zweit oberster Chef war. Der BND-Vizepräsident, mit einem hochentwickelten Spürsinn ausgestattet, kam mit zwei Champagnergläsern auf Urban zu. „ZumWohle!“
Sie tranken.
Der Vize, in einen Maßabendanzug gekleidet, wie
er in London nicht eleganter zu schneidern war, musterte seinen Agenten und sagte: „Ihr Smoking sitzt besser als meiner. Wo lassen Sie arbeiten?“ Urban beantwortete solche Fragen nie ernsthaft. „In Hongkong. Ein kleiner chinesischer Schnei der kam in mein Hotel, nahm morgens Maß, steckte am Mittag mit Hilfe einer einzigen riesigen Nadel ab, und am Abend hatte ich den Smoking.“ „Fabelhaft! Und was für eine Qualität! „
Der Vize hatte den Stoff am Revers geprüft. Er
hielt eine Menge von erstklassigen Anzügen. „Und der Preis?“ „Neunzig Hongkong-Dollar. Dafür kriegen Sie bei Dietl grade das Einstecktuch.“ 23
Jetzt erst entdeckte der Vize Urbans unkom mentmäßige Fliege. „Rot. Gehören Sie jetzt zur anderen Feldpost nummer?“ „Man sieht die Spritzer von Tomatensoße nicht darauf“, antwortete Urban. Da nahm der Vize ihn kopfschüttelnd beim Arm und führte ihn in eine stille Ecke. „Ich wußte, daß Sie hier sind, Bob.“ „Ich stehe auf der Liste der Besitzer des Bayri schen Verdienstordens“, sagte Urban. „Nicht der Träger, und hatte nichts Besseres vor.“ „Lügen Sie nicht. Sie sind hinter einer bestimm ten Frau her?“ „Stimmt“, sagte Urban. „Hinter welcher?“ Urban legte einen Ausdruck von Diskretion in sein gebräuntes Gesicht mit der geraden Dynami kernase und dem Energiekinn. Dazu lächelte er. Aber sein Lächeln war meistens eingeschaltet. Er litt an einem Lachmuskeldefekt. „Zeigen Sie mir die Dame“, bat der Vize. „Sie sind doch für ihren exzellenten Geschmack be rühmt.“ Urban trank das Glas leer. „Sie ist leider nicht gekommen.“ „Vielleicht wartet sie vor Ihrer Tür.“ „Weshalb ich mich bald empfehle“, sagte Urban. Doch der Vize ließ ihn nicht weg. „Muß mit Ihnen reden.“ „Hier?“ „Beruflich.“ „Warum nicht morgen im Büro?“ „Weil“, deutete der Vize an, „die Sache geheimer 24
ist als alles andere je zuvor und Sie Ihr Büro nicht mehr betreten werden.“ „Wunderbar“, gestand Urban. „Was letzteres betrifft.“ „Freuen Sie sich nicht zu früh“, warnte der Vizepräsident.
Der Präsident verzichtete auf seinen Dienstwagen und fuhr mit Urban in dessen BMW-633-CSiCoupé nach München zurück. „Wissen Sie schon“, fragte der Vize, „daß Sie ausgestiegen sind?“ „Nein, aber ich höre es gern.“ „Gefeuert, entlassen, fristlos.“ „Egal wie. Hauptsache daß.“ „Von heute an wird alles anders sein.“ „Was?“ fragte Urban. „Ihr Leben, der Job, die ethisch moralischen Grundsätze, die Prinzipien.“ Mit einemmal hatte Urban ein merkwürdig luft leeres Gefühl. „Geht es vielleicht eine Idee genauer?“ Der Vize versuchte es. „Es ist eine der mindestens zweitheißesten Sachen, die Sie je zu übernehmen hatten.“ Urban faßte zusammen, was er bis jetzt wußte. „Aussteigen, das Leben total verändern, was noch?“ „Alles, was bis heute war, vergessen“, ergänzte der Vize. ,,Nun, wie fühlen Sie sich?“ Urban wußte es nicht. 25
„Entweder wie zwei Zentimeter klein mit Hut oder drei Meter neunzig groß.“ Der Vize lachte leise. „Die Wahrheit wird wie immer in der Mitte liegen.“ Während sie ziemlich langsam nach München hineinrollten, erfuhr Urban das Wesentliche. Es raubte ihm den Atem. „Und das ist Ihr Ernst?“ „Der unverdünnte, ganz bittere.“ „Abgesprochen mit wem?“ „Mit den höchsten Stellen.“ Urban dachte sofort weiter. „Dann genieße ich, wenn es schiefgeht, auch die Deckung der höchsten Stellen.“ Der Vizepräsident bedauerte. „Nein“, äußerte er so klar wie möglich. „Denn wenn es schiefgeht, weiß keiner etwas davon.“ „Also keine Rückendeckung.“ „Nicht die geringste allermindeste. Sie sind allein auf sich gestellt.“ „Kontakt zu Ihnen, Chef?“ „Nur auf SOS-Welle.“ „Also wenn es um Leben und Tod geht.“ Urban wirkte nicht eben begeistert, und der Vize erfaßte seine Stimmungslage. „Sie sind nicht sehr entzückt.“ „Muß mich wohl erst daran gewöhnen.“ „Aber beeilen Sie sich.“ Sie erreichten den Nordrand der Stadt. Das Kasernengebiet, das Supermarktgebiet, die Gegend, wo die Freudenmädchen mit ihren Wohn mobilen standen. „Warum ich?“ fragte Urban. 26
„Das ist ein Extremjob. Sie sind ein Mann, der nur glühendheiß oder eiskalt, blendendhell oder stockfinster kennt, keine Zwischentöne - not falls“, schränkte der Vize fairerweise ein. „Danke.“ „Das ist der Unterschied zwischen Profis und Experten«, tröstete ihn der zweite Mann im BND. Es sollte wie Anerkennung klingen, aber in Urbans Ohren hörte es sich anders an. „Soll ich Sie zu Hause absetzen?“ fragte er. „Wir müssen noch einiges besprechen.“ „Und Sie möchten vermeiden, daß wir in Ihrer Villa in Grünwald zusammen gesehen werden.“ Der Vize nickte. „Fahren wir zu Ihnen.“ Urban rollte mit fünfzig auf dem Tacho, und keinen Kilometer schneller, die Leopoldstraße ent lang, bog dann, wenige hundert Meter vor dem Siegestor, in die Seitenstraße ab, wo er sein Penthouse hatte. Er stellte das Coupé in die Garage. Mit dem Lift fuhren sie hinauf. Dem Vize schien es beinah körperlich zu schmer zen, daß er seinen besten Mann diesem unmögli chen Auftrag opfern mußte. „Was halten Sie davon, Urban?“ „Das Ganze erinnert mich an das Märchen vom Aschenputtel.“ „Auf englisch Cinderella.“ „Der Cinderella-Trick.“ „Kommen wir zu den Einzelheiten“, schlug der Vizepräsident vor. „Und danach lassen Sie uns eine letzte Flasche Bourbon leeren.“
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4.
Der Zustand, in dem der Kurier in Moskau ankam, war als halbtot zu bezeichnen. Im Krankenwagen fuhren sie ihn vom Flugplatz zur Mosfilmovskaja Nr. 46, wo die Ektograd ihren Sitz hatte. - Wie alle größeren Unternehmen, die sich mit Im- und Export befaßten, war sie in Staatsbesitz, Der verdiente Genosse Ingenieur Manovsky lei tete das Unternehmen und hatte sich nahezu vierzig Jahre seines Lebens großer Erfolge und einer prächtigen Gesundheit erfreut. Jetzt war dem nicht mehr so. Im Krankenwagen versuchte der Arzt, ihm die blutverkrustete Hose vom Körper zu schneiden. Genosse Nikolai Manovsky weigerte sich auf eine Weise, die schon hysterisch zu nennen war. Einer seits hatte er mehrere Schuß- und Stichwunden erlitten, die ziemlich schmerzten und dringend versorgt werden mußten, andererseits weigerte er sich, den Arzt an sich heranzulassen. „Gehen Sie mir bloß nicht an die Wäsche, Doktor“, stöhnte er. „Erst muß ich in mein Büro.“ „Zuerst mal schaffen wir Sie ins Krankenhaus.“ Der junge Mann, der mitfuhr - es handelte sich um Manovskys Sekretär -, hob den Zeigefinger und bewegte ihn nach links und rechts. „Wenn er sagt, ins Büro, dann ins Büro, Doktor.“ Der Arzt widersprach heftig. „Und wenn er abkratzt, trage ich die Verantwor tung.“ Der zweite Begleiter - er saß vorn neben dem Fahrer und trug einen schwarzen Ledermantel wandte sich um. 28
„Nein, ich trage die Verantwortung, Genosse Doktor.“ „Sie and kein Mediziner.“ „Aber das.“ Der Mann neben dem Fahrer zog seinen Ausweis und hielt ihn über die Schulter. Der Arzt kannte den Ausweis. Jedes Kind in Moskau kannte ihn. Er war hellrot, führte links den Stempel mit Hammer und Sichel, rechts das Foto des Trägers, in der Mitte die Kürzel des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Das Ganze war in Plastik eingeschweißt. Dagegen kam der Arzt mit seinen Argumenten nicht an. Der Geheimdienst war die höhere Instanz. Sie entschied über Leben und Tod. Zweifellos war dieser Schwerverletzte eine wich tige Persönlichkeit. „Ist das ein Befehl?“ fragte der Arzt vorsichts halber. „Erst ins Büro.“ „Ich kann nicht einmal die Wunden reinigen und die Blutvergiftung mit Antibiotika stoppen, wenn er die Hose nicht auszieht“, erklärte der Arzt. „Es ist seine Hose und seine Blutvergiftung, Doktor.“ „Zum Teufel, warum bin ich dann hier? Warum nehmen Sie kein Taxi?“ „Der Genosse verfügt ohnehin über einen Dienstwagen.“ „Warum nimmt er dann nicht seinen verdamm ten Dienstwagen?“ „Befehl vom Verteidigungsminister.“ Der Arzt fühlte sich in einem schrecklichen Dilemma. Wie sollte er den Funktionär retten, 29
ohne daß er ihn versorgte. Also flüchtete er sich in eine Floskel. „Nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich protestiere,“ Allmählich hatte auch der Verletzte ein Einse hen. Er war der Unterhaltung gefolgt. Außerdem schienen sich seine Schmerzen zu steigern. „Geben Sie mir eine Spritze, Doktor.“ „Wie denn? Durch die Hose etwa?“ Der Verletzte besprach sich flüsternd mit seinem Sekretär. Dann war er bereit, sich entkleiden zu lassen. Aber jedes einzelne Kleidungsstück, Schuhe, Socken, Hose, Unterwäsche, wurde vor sichtig in einen Plastiksack gelegt. Immerhin konnte der Arzt sich jetzt um die Wunden kümmern. „Unfall?“ fragte er zweifelnd. „Bin zufällig in die Flugbahn einer Kugel und in die Wurfbahn eines Messers geraten.“ „Es waren wohl mehrere Kugeln und mehrere Messer.“ Der Arzt betäubte örtlich, sondierte und holte eine Kugel heraus. Dann stäubte er Penicillinpul ver in die Wunden und legte Verbände an. „So, daß ich gehen kann“, forderte der Genosse Ingenieur. „Erst müssen wir röntgen.“ „Machen Sie es so, daß ich gehen kann, Doktor. Röntgen hat Zeit.“ „Sind Sie ein Ochse oder was?“ staunte der Arzt. Der Ingenieur lächelte. „Ich bin Georgier. Ein Georgier hat etwas mit Indianern gemeinsam. Sie fühlen keinen Schmerz. Inzwischen hatte der Krankenwagen die Innen stadt erreicht und nahm die mittlere Fahrspur, die 30
nur Funktionärsfahrzeugen vorbehalten war. Man kam auf ihr schnell durch den dichten Ver kehr.
Mit Tabletten und Mengen starken Tees hielt Nikolai Manovsky sich solange aufrecht, bis seine Kleidungsstücke bis ins Zwischenfutter und die Wattierung zerlegt waren. Aus allen möglichen Verstecken hatten seine Mitarbeiter zwei Dutzend fingernagelkleine, milli meterdünne Vierecke herausgepult, die spinnen gleich auf einer Vielzahl vergoldeter Arme zu stehen schienen. Auf dem reichlich großen Schreibtisch wirkten die dreiundzwanzig schwarzen Dinger ziemlich vereinsamt. Und wenn man bedachte, welchen Aufwand es gekostet hatte, sie nach Moskau zu bringen, dann konnte man schier verzweifeln. Gegen Mittag schaute der General vorbei. Er äußerte sich dementsprechend. „Ist das Hammelkacke?“ fragte er. „Die neuen G-Megachips, General.“ Der General nahm einen von den Chips und hielt ihn an seinen goldenen Drahtbeinen zwischen Daumen und Zeigefinger vor die Lupe. „Was kostet so ein Ding? Habe ich richtig gehört?“ „Die Preise sind bei den neuesten Modellen exorbitant“, sagte der Ingenieur, der sein Leben eingesetzt hatte, um die Megachips nach Moskau zu bringen. „Erst wenn die Massenproduktion läuft, fallen die Preise.“ 31
„Dachte, bei Siemens in West Germania purzeln sie nur so vom Band.“ „Der Ausschuß ist hoch. Für eins-a-Qualität, wie sie das Militär fordert, bleibt nur ein Pro zent. Die Hunderte von Millionen Dollar, die die Konstruktion - das Desing, wie man drüben sagt - sowie die Errichtung der Produktionslinie gekostet haben, schlagen auf den Preis durch.“ Der General legte den Chip zurück. „Wie viele Bits gehen da drauf?“ „Millionen.“ „Dann kostet jeder Bit fast eine Kopeke.“ „Sie werden bald billiger.“ „Und wann kriegen wir sie?“ Diese Frage konnte ihm bei Ektograd niemand beantworten. „Ich kam gerade noch lebend durch“, erklärte Manovsky. „Seit München waren sie hinter mir her. Ein Katz-und-Maus-Spiel sondergleichen. Den Mann, der die Chips heimlich abzweigte, faßten sie zuerst. Sie klopften ihn weich, beka men einen Tip und bliesen zur Jagd. Beinah schaffte ich es, in Rom in eine jugoslawische Verkehrsmaschine zu steigen, da sah ich, daß zwei NATO-Agenten mit an Bord gingen. Ich mußte umkehren, nahm Schiff, Nachtexpreß und Auto und kam bis Lissabon. Von dort über Lon don und Stockholm endlich hierher. In Stock holm allerdings holten sie mich ein. Sie ballerten wie die Wilden, hatten dann aber eine Auto panne.“ „Autopanne?“ „Bewirkt durch eine Eierhandgranate, die ich 32
aus meinem Wagen warf und die genau zwischen ihren Vorderrädern explodierte.“ „Man wird Ihnen dafür von höchster Stelle eine Belobigung aussprechen, Genosse Ingenieur“, sagte der General. „Wann können Sie reisen? Ich muß Ihnen etwas zeigen.“ „Morgen“, erklärte Manovsky. Der General war ein Antreiber, aber kein Mann, der seine Leute kaputtmachte. „Sagen wir Montag. In drei Tagen sind Sie fit. Wir nehmen meinen Diensthubschrauber. Richten Sie sich für eine Woche ein.“ „Ich halte mich bereit.“ Ungefähr ahnte der Verletzte, um was es ging. Der General würde ihm Sachen zeigen, die in diesem Land nur wenige zu sehen bekamen. Dies, um seine Motivation zu steigern, was aber gar nicht nötig war. Allmählich wurde selbst Nikolai Manovsky wütend, wenn er hochrechnete, welche Unsummen es kostete, Superelektronik aus dem Westen her überzuholen. Bausteine, auf die sie leider angewie sen waren. Die Sperren wurden immer dichter. Allmählich blockierten sie sogar die raffiniertesten Schmuggelpfade.
Der General, zugleich Inspektor des Rüstungswe sens, verfugte über einen modernen ML-MI-17 Hubschrauber. Angetrieben wurde das Gerät von zwei Isotov-Triebwerken, die ihm eine Reisege schwindigkeit von 250 Kilometern in der Stunde 33
ermöglichten. Zusatztanks machten den Hub schrauber langstreckenfähig. Das war auch nötig. Der General besuchte laufend die Waffenschmieden der Sowjetunion. Sie lagen weit über Rußland verstreut, zwischen Wolga und Ural, von Sibirien bis zu den Ostseehäfen. Es gab Wochen, da absolvierte der Diensthub schrauber des Generals fünfzig Flugstunden, was einer Strecke von mehr als 12000 Kilometern entsprach. Deshalb war die vierundzwanzig Personen fas sende Kabine umgestaltet worden. Vorne hatte der General ein Zwölf-Quadratmeter-Büro mit Funk telefon, Fernschreiber und einem Tisch mit Klapp sesseln. Dorthin pflegte er störrische Rüstungsma nager zum Rapport zu bestellen. Hinten war noch Platz für einen Schlafraum, Toilette und die winzige Bordküche. Auf dem Bett des Generals liegend, flog diesmal der Genosse Ingenieur Manovsky von Ektograd mit. Durch das Bulleye konnte er sehen, was der General ihm erklärte. „Gestern waren wir in der Panzerfabrik in Wolgagrad, jetzt liegen die Flugzeugwerke von Sverdlovsk unter uns.“ Der Hubschrauber ging tiefer und näherte sich dem Landekreuz des weiten Fabrikareals. „Was sehen Sie?“ fragte der General. - Gestern hatte er die gleiche Frage gestellt. „Ruhiges Geschäft“, stellte der verletzte Inge nieur fest. „Und warum wohl?“ Immer die gleichen Fragen und die gleichen Antworten. 34
„Wir mußten“, sagte der General, „in der Pan zerproduktion ebenso wie beim Flugzeugbau end lich auf den Einsatz moderner computergesteuerter Werkzeugmaschinen umstellen. Das hat mehr als eine Milliarde Goldrubel gekostet. Jetzt stehen diese Maschinen da, aber sie laufen nicht. Und warum nicht? Weil dieses verdammte CocomGesetz zwar die Lieferung der Maschinen, nicht aber die der dazugehörigen Steuercomputer zuläßt. Was machen wir nun mit den Dingern?“ Der Chef von Ektograd war Ingenieur und in der Lage, produktionstechnisch zu denken. „Eine Katastrophe.“ „Zwar ist es gelungen“, fuhr der General fort, „eine Reihe von Steuercomputern auf abenteuerli chen Wegen hierher zu bringen, aber in den Rechnern fehlt der Hauptchip, genau das Gehirn teil, das die Programme in Ausführungsbefehle umsetzt. Die Produktion unserer neuesten Flug zeuge und Waffen steht praktisch still.“ Sie landeten und fuhren den Ektograd-Geschäfts führer im Rollstuhl durch die Fabrikhallen. Das Werk arbeitete nur zu sechzig Prozent. Ältere Modelle, die ausliefen und noch mit den herkömmlichen Maschinen gebaut wurden, wan derten über die Bänder. Aber bei den supermoder nen MiG-36, der Teilefertigung für die Weltraum raketen, ruhte die Arbeit. „Was für ein Jammer“, hieß es überall. „Wenn endlich Material vorhanden und das neue System ausgereift ist, dann laufen die Maschinen nicht. Wie wollen Sie ohne computergesteuerte Vario pressen Titanbleche in die nötigen sphärischen Formen biegen?« 35
Der General vertröstete die Direktoren und stellte ihnen Manovsky als jenen Mann vor, der dafür sorgen würde, daß die Maschinen bald einsalzfähig sein würden. - Dann flogen sie weiter. In Sibirien sah es eher noch schlimmer aus. Hier wurden Raumstationen gebaut. Deren Keramik schichten ließen sich ohne Spezialmaschinen nicht in der nötigen Feinheit aufbringen. Die optische Industrie brauchte rechnergesteu erte Schleifmaschinen, ebenso die Hersteller von Suchköpfen, von Radar- und Lasersteuerungen. Ganz erheblich beeindruckte Manovsky die Lage bei den Werften. Die Herstellung der lautlosen UBoot-Antriebe war ohne EDV nicht möglich. „Die Mirv-Kreiselkompasse rotieren in Kugella gersystemen, die es nur in den USA gibt“, sagte der General. „Das Omega-Navigationssystem unserer U-Boote benötigt Empfänger von Telefunken. Hunderttausende von Spionagebojen zur Ortung von Fremd-U-Booten liegen herum. Sie können in den Weltmeeren nicht ausgesetzt werden, weil ein Mikroschaltkreis fehlt, der Typ 6400 von Semi tromc/Kafifornien.“ So ging es weiter. Die Reise nahm Manovsky so mit, daß er in Workuta mit einem Kreislaufzusam menbruch ins Hospital eingeliefert werden mußte. Aber er versprach dem General, daß er eine letzte Großoffensive starten würde. „Ich bin erschüttert“ gestand er. „Wir werden uns etwas einfallen lassen. Ich und meine Mitar beiter.“ Der General übergab ihm eine Liste der wichtig sten Geräte, die binnen zwei Monaten zur Verfü 36
gung stehen mußten, oder die Sowjetunion war gezwungen, ihre Rüstung wieder auf das Niveau der Siebziger Jahre zurückzufahren. „Die Amerikaner werden sich freuen.“ „Das lassen wir nicht zu, Genosse General.“ „Und wir müßten bittere Tränen weinen.“ „Nicht bei Frost in Sibirien“, versuchte der Ingenieur zu scherzen. „Es besteht nämlich die Gefahr, daß die Pupillen einfrieren. Und den Gefallen wollen wir dem Gegner nicht erweisen.“ ,,Dafür bin ich auch“, sagte der General. „Ich bin sogar sehr dafür.“
5. Der BND-Agent Nr. 18, Robert Urban, und sein Vizepräsident hatten eine Flasche Bourbon geleert. Nur so konnten Männer versuchen, derart unge wöhnliche Probleme zu bewältigen. Der Bourbon war gut durchgereift, schmeckte leicht malzig und hatte die richtige Temperatur. Sie tranken ihn ohne Eis, wie Leute, die eine Narkose nötig hatten. Peu ä peu hatte Urban alles erfahren. Am Ende hatte der Vize ihn, auf eine Antwort wartend, nur angesehen. Weil Urban sich nicht geäußert hatte, hatte er nachgefaßt. „Sind Sie bereit?“ „Nein“, antwortete Urban. „Sie mögen diese Rolle nicht?“ „So gern wie ein Schauspieler, der immer Herman den Cherusker darstellen wollte, das Angebot, Judas Ischariot zu mimen.“ 37
„Oder liegt es an der Inszenierung?“ „Es liegt am Regisseur.“ ,,Der werden Sie selbst sein.“ „Eben deshalb.“ „Sie können oder wollen nicht aus Ihrer Haut“, erfaßte es der erfahrene Menschenkenner. „Ich bin eine Schlange, der das Häuten schwer fällt.“ Klar zwischen ihnen war, daß es diesmal anders laufen würde, als bei allem, was Urban in den letzten zehn Jahren für den Bundesnachrichten dienst hatte tun müssen. „Ich bin Mitte Dreißig. Und das ist gelogen.“ „Junger Spund.“ „Nehmen Sie einen von den skrupellosen karrie regeilen aus der Nachfolgerriege.“ „Die bringen das nicht, gerade weil sie Nobodys sind. Die wollen nichts riskieren.“ „Und Dynamit, das Schlachtroß, kratzt das nicht.“ „Ein guter Ruf ebensowenig wie ein schlechter.“ Um ihn einzustimmen und schießlich zu überre den, fiel dem Vize schon nichts mehr ein, als alte, abgegriffene Sprüche. Sicher lag es daran, daß sie den Bourbon kubikdezimeterweise in sich hinein schütteten und daß Urban ausgepichter war als der eher feingliedrige Präsident. Urban entkorkte noch eine Flasche und goß sich einen Absacker ein. „Das geht doch in die Hose“, sagte Urban. „Mag sein, daß es erst das tut und anschließend zum Himmel stinkt, aber man muß es versuchen. Oder haben Sie eine bessere Idee?“ Urban hatte keine. 38
„In dieser verdammten Welt“, sagte er, „wo die kältesten Krieger aus Moskau zurückkommen, als hätte man ihnen die Gehirne gewaschen, als hätte man sie zu Spionen umgedreht, und man sich als Insider wirklich fragt, ob die vielleicht spinnen, gibt es wohl keinen anderen Weg, um an die Wahrheit zu kommen.“ „Bis zum Knochen“, ergänzte der Vize und wiederholte die Gretchenfrage: „Sind Sie nicht vielleicht doch bereit. . .?“ „Nein“, erklärte Urban. - Kein Zögern lag in seiner Stimme. Aber einen Tag später stand er mittendrin. Nüchtern geworden, sagte er sich, daß es wohl irgendeiner übernehmen mußte. Und er kannte keinen, dem er das lieber anvertraut hätte als sich selbst Es ist dein Job, dachte er. Also machte er es, wie eine Hausfrau, die die Hosen ihres ungeliebten Mannes bügelte.
Noch in München veränderte Bob Urban sein Aussehen. Auf der Fahrt nach Frankreich, die er in einem gestohlenen Porsche- 911 -Coupé antrat, machte Urban in Nancy halt und besorgte sich in einem Second-hand-Shop Jeans, T-Shirt, Turn schuhe und eine zerschundene Lederjacke. Über einen falschen Paß verfügte er bereits. In der Unterwelt von Paris suchte er nach einer geeigneten Waffe. Er fand einen Winchester Vor derschaftsrepetierer, aus dem sich auch Grob schrot abfeuern ließ. 39
Dermaßen ausgestattet, wartete er auf einen Mann aus den USA, von dessen Ankunft und Mission er erfahren hatte. Der Mann hieß Kolleck, Bill mit Vornamen. Er war CIA-Agent und galt als einer der Besten. Kolleck war in geheimem Auftrag unterwegs. Angeblich befand sich in seinem Handkoffer inter essantes Material. Zum einen fünf Millionen Dollar zur Einspeisung in das europäische CIA-Netz, zum anderen Dokumente, die beweisen sollten, daß ein deutscher BND-Agent seit Jahren gegen die USA operierte. Diese Beweise wollte Kolleck bei der Zentrale der NATO-Geheimdienste in Brüssel zur Vorlage bringen. Das galt es zu verhindern. Am Flughafen de Gaulle, einem der bedeutend sten Landeplätze für jede Art von Unheil, das, aus Amerika kommend, Europa heimsuchte, wartete Urban ab Freitagmorgen. In der Frühmaschine aus Washington war Kol leck nicht. Auch nicht in der Concorde aus New York. Aus den dreihundert Fluggästen des Jumbos der International Airlines konnte Urban ihn eben falls nicht aussortieren. Geduldig wartete er eine Maschine nach der anderen ab. Zwischendurch trank er einen Kaffee, nahm einen Imbiß, las eine Zeitung, schaute sich in den Warteräumen das TV-Programm an - bis die nächste Landung angezeigt wurde. Kolleck, der schlaue Fuchs, hatte einen Umweg gebucht. Er kam mit Mexiko-Airlines. Aber kein Zweifel, das war er. Ein unauffälliger Bursche, gerade einssiebzig groß, stämmig, im Anzug von der Stange. Ein Gesicht, so nichtssagend, daß man 40
sich Sekunden später schon nicht mehr daran erinnerte. Absolut typisch für wirkliche Spitzen leute in diesem Geschäft. Man hielt ihn eher für einen arbeitslosen Eishockeytrainer als für einen Topagenten. - Nur in seinen Augen leuchtete etwas Außergewöhnliches, womit er jeden durch schaute und ihm gleichzeitig seinen Willen auf zwang. Eine Art Röntgen-Laser, getarnt hinter eisgrüner Iris. Urban stand hinter einer Säule, ließ Kolleck vorbei und folgte ihm. Kolleck hatte nur Handgepäck; einen Aktenkof fer, wenig größer und dicker als die gewöhnlichen. In dieser Abmessung durfte man sie gerade noch mit an Bord von Flugzeugen nehmen. Er trug einen grünen Trenchcoat, geschnitten wie die Offiziers regenmäntel der US-Army. Mit seinem eckigen Gang eilte er durch die Gänge, die Rolltreppe hinab und durch die große Ankunftshalle zu einer der Glastüren. Draußen blieb er stehen, orientierte sich und winkte. Nicht einem Taxi, sondern dem Mann, der ihn abholte. Sie schlenderten zu einem Citroen CX, stiegen ein und fuhren in Richtung Stadtringzubringer. Möglich, daß Kolleck vorher noch bei der USBotschaft vorbeischaute. Sein Ziel war sie nicht. Sein Ziel war vielleicht mehr eine ältere Villa an der Seine bei Corbeil. Dort war die für Nordfrank reich zuständige Residentur des amerikaischen Geheimdienstes untergebracht. Ein Natursteinpa lais mit Giebeln und Türmchen in einem ummauer ten Park. Es ähnelte einem Märchenschloß, war aber die scharfkrallige Pranke der CIA in Europa. 41
Urban hatte sich dort schon aufgehalten, als man noch offiziell zusammenarbeitete. Aus dieser Zeit kannte er auch Bill Kolleck. Urban verließ nun ebenfalls die Halle. Draußen wechselte er die Brillen. Er nahm eine mit dunkle ren Gläsern und setzte eine Baseballmütze auf. Wenn Kolleck den Haken über Paris schlug, gewann Urban gut zwei Stunden Vorsprung. Hauptsache, es war noch hell, wenn er zuschlug.
Nachdem der Citroen die Brücke überquert hatte, verließ er die Straße von Corbeil nach Melun. Die schmale Nebenstraße führte erst in eine Pappelal lee, dann am Seineufer entlang durch flachhüge lige Wiesen. Jetzt, um diese Abendstunde, an einem Tag wie heute, war kaum jemand unterwegs. Der CX fuhr ziemlich schnell und hatte noch etwa drei Kilome ter bis zu dem alten Schloß am Rand des Misch waldes. Die nächste Kurve zog sich zu, denn sie folgte einer Flußbiegung. Der Fahrer mußte kurz auf die Bremse. Im zweistufigen Zielfernrohr der Winchester bemerkte Urban deutlich, wie der CX ein wenig über die Vorderräder schob. Das rechte davon hatte er im Fadenkreuz. Er hielt den Atem an. Ruhig zog er den Zeigefinger durch. Der Schuß peitschte trocken hinaus. Am Vorderwagen des Citroen staubte es auf. Der Reifen war durchschlagen worden und sofort ge platzt 42
Der Fahrer konnte die Limousine abfangen. Schleudernd kam sie zum Stehen. Aber schon vorher war die Tür rechts aufgeschwenkt. Kolleck, der kampferprobte Aktivagent, warf sich hinaus, hechtete in den Graben und sprang wieder hoch. Mit ein paar weiten Sätzen brachte er sich hinter einem Grashügel in Deckung. Der Fahrer war ebenfalls ausgestiegen, duckte sich hinter die Tür und schoß das Magazin seiner Dienstwaffe leer. Urban feuerte ihm zwischen die Füße. Daraufhin kroch der Fahrer in den Wagen zurück. - Dann herrschte Stille. Urban machte die Handgranate fertig. Es war eine fünfhundert Gramm schwere mit Vier-Sekun den-Zünder. Sie lag gut in der Hand und war optimal zu werfen. Auf dem Sportplatz hatte er sie schon bis an die Fünfzig-Meter-Grenze bekommen, und das einigermaßen zielgenau. Er entsicherte sie, richtete sich im Gebüsch kurz auf und warf. Während sie flog, sah er, wie sich der Federbügel wegspreizte. Er zählte. Bei drei ver schwand sie hinter dem Hügel, wo Kolleck lag. Dann ein Krachen, als würde ein Hammer auf einen eisernen Topf schlagen, gefolgt von einem schepperndem Womm. Wieder Stille. Der Fahrer des Dienstwagens kam heraus und hob die Anne. Urban verließ, die Winchester im Anschlag, seine Deckung und näherte sich dem Wagen. Hinter dem Grashügel richtete sich jemand stöhnend auf. Urban, der Fahrer und Kolleck bildeten jetzt ein 43
Dreieck mit einer Kantenlänge von etwa zwölf Metern. Kolleck hielt sich den Leib und keuchte wütend. »Mann, Dynamit, du bist doch ...! Haben sie dir eine Gehirnwäsche ...« „Ich habe mein Gehirn selbst gewaschen“, erwi derte Urban. „Bist du wahnsinnig?“ „Ich war es vielleicht die ganzen Jahre. Bleib stehen, Kolleck! Keine Bewegung! „Was willst du von mir?“ Urban hielt den Lauf der Winchester so, daß er ihn nur um wenige Grade zu schwenken brauchte, und er hatte sowohl Kolleck wie den Fahrer im Visier. „Nur den Koffer.“ „Bist du unter die Straßenräuber gegangen, Mann?“ Kolleck wäre nicht Kolleck gewesen, wenn er nicht etwas versucht hätte. Das wußte Urban. In Kollecks Lage hätte er es ebenfalls probiert. „Los, beweg dich!“ sagte Urban. Kolleck ging ein wenig schleppend auf den Citroen zu. Er blutete. „Gib ihm den Koffer!“ schrie er. Urban nahm an, daß der City-case auf dem Rücksitz lag. Der Fahrer stolperte aber herum und öffnete den Kofferraumdeckel, der einen fabelhaften Schutz schild abgab. Urban schoß sofort. „Stehenbleiben!“ rief er. Kolleck, der annahm, Urban sei abgelenkt, ging 44
in Combatstellung und feuerte die Trommel seines 45ers leer. Urban warf sich hin und zählte mit. Dann legte er an, schoß, repetierte nach, schoß wieder und sah, wie Kolleck zusammenzuckte. Kolleck riß die Arme hoch und lief in taumelndem Gang um sein Leben. Offenbar tat er sich mit der Orientierung schwer, denn er rannte zum Ufer, fiel klatschend in die Seine und wurde von der Strömung sofort abge trieben. Urban näherte sich nun dem völlig verdatterten Fahrer. „Kolleck war ein As“, sagte er. „Gegen den bist du nichts. Den Koffer, oder du hast ein Loch in der Stirn.“ Der Fahrer holte den Koffer heraus. „Aufmachen!“ Die Schlösser schnappten. Urban sah den Inhalt. Gebündelte große Dollarnoten und ein dicker Umschlag aus braunem Papier, versiegelt und gestempelt mit dem CIA-Emblem. Ehe der Fahrer den Koffer wieder geschlossen hatte, krachte der Winchesterkolben gegen seinen Schädel. Der Fahrer sackte lautlos in die Knie und glitt an der Tür hinunter. Sein Sakko blieb am Türgriff hängen, was ihm zu einer sitzenden Stel lung verhalf. Aber er war bewußtlos. Urban nahm den Koffer und schaute sich um. Niemand war zu sehen. Es hatte keine Zeugen gegeben. Befriedigt ging er durch den Wald zu dem schwarzen Porsche zurück. Beim Anlassen steckte er sich eine MC an. Eine der letzten. Auch auf seine private Zigaretten 45
marke, die mit dem Goldmundstück, würde er in Zukunft verzichten müssen. Wenn er etwas machte, dann gründlich. Von heute an trank er nur noch Skotch statt des Bourbon, der ihn oft so trefflich getröstet hatte.
Das Hauptquartier des Bundesnachrichtendienstes Deutschland mit Sitz in Pullach vor München gab eine Information an alle Residenten im In- und Ausland. Die Nachricht lief unter streng geheim und dringend. Ob sie nun über Telex hinausging oder brieflich, der Inhalt war immer der gleiche. Die Chefs der Niederlassungen, die über keinen Telexanschluß verfügten und zu denen die Post mehrere Wochen brauchte, falls sie überhaupt ankam, wie etwa in einigen Staaten Zentralafrikas, wurden telefonisch unterrichtet. Der Anrufer aus München pflegte sich dann so knapp wie möglich zu fassen. Seine Kurzinformation lautete: Streng geheim! Streng geheim! Achtung! Der Agent Robert Urban, geführt unter Code 18, steht ab sofort nicht mehr in unseren Diensten. Jeder Kontakt ist zu vermeiden, jede Hilfestellung zu unterlassen. Bei Auftauchen von Nr. 18 Rückblitz über Umstände, Ort und Uhrzeit erbeten. Streng geheim und Ende. Binnen achtundvierzig Stunden war im welt weiten Netz des BND verbreitet, daß Code 18, bekannt auch als Mister Dynamit, nicht mehr dazugehörte. Aber auch andere erfuhren davon. Es war wie 46
immer. Man brauchte eine Nachricht nur mit top secret zu belegen, und schon wußte die Gegenseite Bescheid.
6. In einem Tokioter Ein-Zimmer-Apartment klin gelte nachts das Telefon. Der Anruf kam aus Hamburg. Das Gespräch lief um die halbe Erde und klang doch klar wie aus einer Stereoanlage. „Tanuki, wir brauchen Sie.“ „Ich warte auf Mister Eybner“, sagte der Japa ner, der sofort wußte, um was es ging. „Eybner ist ausgefallen.“ „Schade.“ „Er arbeitet nicht mehr für uns. Sie müssen das übernehmen, Tanuki.“ Der Japaner zierte sich erst ein wenig. Endlich ging es um das Honorar, und dann darum, daß sich jeder Japaner, der mit Ausländern zu tun hatte, mindestens zweimal bitten ließ. Genaugenommen verachteten sie alle, die nicht auf ihren Inseln geboren worden waren. Nachdem er sich endlich herabgelassen hatte, für diesen Deutschen zu arbeiten, fragte Tanuki: „Was im einzelnen habe ich zu tun?“ „Eine reine Kontrollfunktion, Tanuki“ „Wo?“ „Bei Hutichy-Electronics.“ Der Japaner war dort nicht beliebt und gab es auch zu. Doch der Anrufer lachte. „Wir sind doch Millionenkunde bei Hutichy, 47
und Sie sind unser Supervisor, unser Endcon troller.“ „Dann telexen Sie es bitte.“ „Ihre Vollmacht liegt morgen bei Hutichy vor“, versicherte der englischsprechende Anrufer, dem ebenfalls englischsprechenden Japaner. „Was soll ich also im einzelnen tun, Sir?“ „Achten Sie darauf, daß die richtige Ware in die richtigen Container kommt.“ „Es sind also mehrere Container.“ „Zwei.“ „Welche Ware?“ „Eine Fabrikationsanlage für Halbleiterelemente und ein paar Rechnernachbauten des Typs IBM 560 und 570.“ „Wohin gehen die Transportbehälter?“ „Getrennt. Der eine auf dem See-, der andere auf dem Luftweg. Einzelheiten über Telex an Hutichy.“ „Die Sache ist gefährlich“, äußerte der Japaner. „Nicht für Sie.“ „Dennoch verlange ich eine Prämie.“ Sie einigten sich auf zehntausend Dollar extra, sobald die Container Japan verlassen hatten. „Mehr ist nicht drin“, beteuerte der Mann in Hamburg. „Ich weiß. Sie leben nur von Verlusten, Sir.“ „So ist es“, wurde Tanuki bestätigt. Der Japaner legte auf und begab sich wieder auf seine Schlafmatte - bis der Radiowecker piepte.
Zwei Tage später fuhr der Japaner zu den HutichyWerken nach Osaka. Dort, im japanischen SilikonValley, war die Elektronik-Industrie angesiedelt. 48
Der Beauftragte des europäischen Importeurs beaufsichtigte Produktion, Endkontrolle, Verpak kung und Verladung der Ware in die Container. Für jede der einzelnen Phasen gab er erst dann sein Okay, wenn er restlos zufrieden war. Auf Tanuki konnte man sich verlassen. Er war nicht billig, aber gewissenhaft. Unter seiner Aufsicht wurden die Frachtbriefe und die nötigen Transport-, Zoll- und Exportge nehmigungen ausgefüllt. Der Seecontainer wurde an eine Firma in Sidney/Australien adressiert, der Container für den Lufttransport ging nach Süd afrika, Von nun an ließ der Japaner die Container nicht mehr aus den Augen. Er war dabei, als der erste in die Frachtboeing verladen wurde. Tanuki über wachte den Start der 747 und einen Tag später das Ablegen des Containerschiffes vom Pier in Osaka. Erst jetzt fuhr er nach Tokio zurück, rief in Hamburg an und meldete seinen Auftrag als erle digt „Die Anweisung ist unterwegs“, bestätigte man ihm. „Wir danken Ihnen für die Wahrung unserer Interessen.“ Der Japaner Uomi Tanuki wartete noch das Eintreffen seines Honoras ab, dann unterrichtete er seinen zweiten Auftraggeber. Dabei handelte es sich um die japanische Außen stelle des amerikanischen Geheimdienstes CIA. Er gab jede Einzelheit weiter. Inhalt der Container, Nummern und die Adressen, zu denen sie gingen. „Es handelt sich einwandfrei um EDV-Material aus der Cocom-Liste“, erklärte er, „und das end gültige Ziel wird hinter dem Eisernen Vorhang 49
liegen. Zunächst läßt man die Container auf einer Zickzackroute verschwinden.“ Er nannte den Amerikanern die Empfänger der Container. „Natürlich wird man sie von Sidney und von Johannisburg aus sofort weiterleiten.“ „An wen?“ wurde er gefragt. „Ich vermute“, sagte Tanuki, „an folgende Fir men: Electronix Bombay, von dort weiter an Intertradeds Rom. Von dort weiter an Tecomax Helsinki via Semitronic Zürich. Vielleicht laufen sie auch anders, aber der Zielort ist immer ein skandinavischer Hafen, wo ein Schnellfrachter oder ein Flugzeug sie binnen weniger Stunden in die Sowjetunion bringen kann.“ „Diesmal nicht“, versicherte man ihm von Seiten der CIA. „Aber, bitte, Gentlemen“, ersuchte der Japaner sie, „schlagen Sie erst zu, wenn die Ware weit genug gereist ist. Ich würde sonst in Verdacht geraten und für Sie in Zukunft zu nichts mehr nütze sein.“ „Wünschen Sie Ihr Honorar in bar und sofort oder das Doppelte bei Erfolg?“ „Wie immer“, bat der Japaner, „sofort.“ Er begnügte sich lieber mit der Hälfte. Zu oft schon hatten die Amerikaner im letzten Moment Fehler gemacht und danebengehauen. Dieses Risiko wollte er nicht eingehen. Er war kein Pokertyp. Wie richtig Tanuki mit dieser Überlegung gele gen hatte, stellte sich wenige Tage später heraus. Der Seefrachtcontainer Nr. l voll modernster 50
Elektronik kam nie in Sidney an. Er verschwand unterwegs auf irgendeine Weise spurlos. Container Nr. 2 war von Südafrika weiter nach Bombay gegangen. Dort war der Reinfall minde stens ebenso eindrucksvoll. Als die CIA-Agenten nachdem sie den indischen Spediteur bestochen hatten - den Container öffneten, fanden sie ledig lich japanische Plastikpüppchen in den Kartons. Die Geishas zwitscherten Sayonara, wenn man ihnen auf den Bauch drückte.
7. Der General war in Erfolgsstimmung. Doch er behielt sein Pokergesicht bei. Er hütete sich, in Jubel auszubrechen. Na schön, sie hatten zwei Container an den Bluthunden der CIA vorbei bis Moskau gebracht, aber ihr Inhalt war von zweitrangiger Bedeutung. „Wichtig ist“, sagte er zu Manovsky von der Firma Ektograd, „was in den nächsten Wochen kommt. Lebenswichtig.“ „Wir haben neue Transportwege erprobt“, erklärte der Genosse Ingenieur. „Wir haben nach gedacht, wie ich es Ihnen versprach, und es hat funktioniert.“ „Ob die Amis sich noch einmal bluffen lassen?“ „Natürlich verzieren wir die nächste Sendung mit ein paar neuen Zacken.“ „Unter Zacken verstehen Sie Tricks, wie ich annehme.“ „Das meinte ich damit.“ 51
Der General öffnete einen Schnellhefter mit top secret-Streifen. „Der Inhalt der Container hatte einen Wert von zwei Millionen Rubel.“ „Die Transportsicherung kostete noch eine Mil lion extra. Ich würde sagen, es war trotzdem preiswert.“ „Aber“, der General hob den Zeigefinger seiner verstümmelten Hand, „der Inhalt der nächsten Ladung ist hundert Millionen wert.“ „An den Kosten der Transportsicherung ändert sich wenig“, betonte der Genosse Ingenieur. Der General lehnte sich zurück und steckte sich eine Zigarette an. „Und genau das ist es, was mir Sorgen bereitet“, erwiderte er. „Glauben Sie, daß man angesichts des Wertes der nächsten Container nicht mehr tun müßte?' „Sie meinen, was die Transportsicherung be trifft.“ „In diesem Fall spielen Kosten wirklich keine Rolle. Wir müssen das Zeug unbedingt herein kriegen.“ ,,Der neue Weg hat sich bewährt.“ „Einmal ist keinmal“, warnte der General. „Aber oft hat sich ein wenig zuviel als etwas zu wenig erwiesen. Man kann eine Operation durch übertriebene Maßnahmen auch gefährden.“ Der General schien sich seiner Zeit als aktiver Truppenkommandeur zu erinnern. „Klotzen ist besser als kleckern. Alter preußi scher Grundsatz.“ Nikolai Manovsky war Techniker. Wenn Techni ker ein Problem gelöst hatten und die Sache 52
zufriedenstellend funktionierte, dann änderten sie die Konstruktion nicht so schnell. „Ich würde es nicht riskieren“, gestand er, „wenn der neue Weg ausgetreten wäre, wenn wir ihn schon jahrelang benutzen würden, und die CIA uns dahintergekommen wäre. Ja, dann müßte man ihn sofort ändern. Aber nicht jetzt schon. Wir haben auf dieser Route erst angefangen.“ Nur mühsam ließ der General sich überzeugen. „Einverstanden“, sagte er schließlich. „Der ehe Weg, die gleichen Finten. Hoffen wir, daß anderen nur langsam lernen.“ Der Genosse Ingenieur, schon wieder fest auf den Beinen, versprach, den Transport noch sorgfäl tiger als den letzten vorzubereiten. „Der Trick“, sagte er, „wird gewiß noch einmal gelingen. Wir deklarieren die Sendung offen als Elektronik. Wenn sie den Container gefunden haben und ihn öffnen, rieselt ihnen kalifornischer Sand entgegen.“ „Das wird vielleicht sogar klappen“, bemerkte der General, „jetzt, wo sie beim NATO-Geheim dienst ihren besten Mann gefeuert haben.“ „Wen?“ wollte Manovsky wissen. „Einen Burschen mit der Spürnasse eines Trüf felschweins. Er ist international unter dem Kampf namen Mister Dynamit bekannt.“ „Vom BND?“ zeigte sich der Genosse Ingenieur überraschend gut informiert. „Man hört, er habe durchgedreht und sich mit fünf Millionen CIA-Dollars aus dem Staube gemacht. Unter Hinterlassung von Kameradenlei chen. Er wird wohl die Nase voll gehabt haben. Nur gut für uns.“ 53
„Vielleicht“ meinte Manovsky. „Aber wie sagt man bei uns in Georgien so weise: Am Ende ist ein Wodka weniger besser als einer zuviel.“
Die Erfolgsstimmung des Generals im Rüstungsmi nisterium verhielt sich bald darauf wie die Tempe ratur in Nordsibirien. Sie sank tief unter Null. Es gab Schwierigkeiten mit einer Ladung naht loser Stahlrohre aus Italien. Sie waren für die Erdgasleitung aus den sibirischen Feldern be stimmt Aus bestimmten, nur ihm bekannten Gründen interessierte der General sich sehr für diesen Transport. Sein Referent für strategische Güter rief an und machte eine Andeutung, woraufhin der General ihn zum Vortrag bestellte. Der Offizier in Zivil betrat das Büro mit einem Aktenordner unter dem Ann. „Was höre ich da“, fuhr der General ihn an. „Der Transport steht schon wieder. Warum, zum Teufel? In Pinsk warten sie auf die Rohre. Die Gräben sind ausgehoben, die Fundamente beto niert, die teuren Rohrschweißmaschinen, die Kran wagen, die Isoliergeräte, alles steht bereit, aber der Nachschub an Rohren stockt wieder einmal. Im Winter soll die Leitung an den alten Strang angeschlossen werden. Laut Vertrag muß das Gas im Dezember nach Düsseldorf ins Ruhrgebiet gepumpt werden. Woran liegt es?“ Die Rohrleitung war im Grunde Sache des Transportministeriums und die Gaslieferung Ange 54
legenheit des Wirtschaftsministeriums, allein der Güterzug bereitete dem General Sorgen. „Immer dasselbe“, sagte sein Referent. „Die unterschiedlichen Schienenbreiten zwischen West europa und Rußland halten alles auf.“ „Ich bin und war immer dafür, daß wir den Wasserweg nehmen.“ „Nahe der polnischen Grenze bringt der Wasser weg keine Vorteile mehr, Genosse General. Wenn wir die Rohre schiffsladungsweise von der Adria durchs Schwarze Meer die Wolga heraufschaffen, dann müssen wir auf LKWs umladen. So viele Sattelzüge stehen nicht zur Verfügung.“ Der General wußte das alles längst. Ihm ging es aber um die Sicherheit - um die Sicherheit eines einzigen Rohres unter Tausenden. Auf dem Schie nenweg mußte dieses eine Rohr durch zu viele Länder, durch Italien, Österreich, die CSSR und Polen. „Züge lassen sich leichter sabotieren als Schiffe.“ „Der Güterzug fährt unter militärischer Es korte.“ „Woran liegt dann die Verzögerung?“ „Nicht an der Umspurung.“ Der General legte den Schädel weit zurück. Blitzartig wich die Schläue in seinem Bauernge sicht der Angst vor einer Hiobsbotschaft. „Woran dann? Zum Teufel, reden Sie endlich, Mann!“ „An einer Brücke“, antwortete der Referent, „Die Ursache des Einsturzes ist noch nicht ermit telt. Eine Expertengruppe ist hingeflogen.“ „Einsturz? Lachhaft.“ 55
„Es war eine relativ kurze und neue Stahl brücke. Brücken dieses Typs haben nie zuvor Mängel gezeigt. Sie halten praktisch unbegrenzt. Tausende von Güterzügen mit Panzern, die viel schwerer waren, rollten über sie hinweg. Und ausgerechnet gestern ...“ Der General ahnte Schlimmes. „Wie viele Wagen sind abgestürzt?“ „Etwa acht bis zehn Stück.“ „Und wie viele Wagen hatte der Zug?« „Siebzig Tieflader.“ „Dann muß unserer ja nicht unbedingt dabei sein,“ „Rohre halten eine Menge aus“, stimmte der Referent dem General zu und bat um weitere Befehle. „Sie wissen“, erklärte der General, „um was es geht. Sie haben die Wagen und die Rohrnummer. Fliegen Sie sofort hin und wahren Sie unsere Interessen.“ Der Referent wollte schon gehen, da hielt der General ihn zurück. „Nehmen Sie sich Leute vom KGB mit und Sondervollmachten et cetera. Beschlagnahmen Sie vor Ort notfalls Transportraum, aber bringen Sie mir den Inhalt des Rohres heil und unbeschädigt nach Moskau. Es kostete uns unendliche Mühe, diese verdammten Computer bis nach Italien zu schmuggeln und dort in dem Gasrohr zu verstek ken. Ich fürchte, es ist das kostbarste Gasrohr aller Zeiten. So kostbar, als bestünde es aus purem Gold.“ Der Referent beeilte sich, den Auftrag durchzu führen. 56
Voller Ungeduld wartete der General auf seinen Anruf. Er kam erst am nächsten Abend. Die Nachricht lautete: „Die Brücke wurde gesprengt, Genosse Ge neral.“ „Und unser Rohr?“ „Die Sprengung erfolgte zu der Sekunde, als der siebenunddreißigste Tieflader hinter der Lokomo tive über den Fluß rollte.“ „Und unser Rohr?“ „Wir haben es im Fluß gefunden. Er ist sehr seicht um diese Jahreszeit. Aber ...“ „Wollen Sie mich etwa fertigmachen!“ schrie der General in den Hörer. „Offenbar gab es zwei Sprengladungen“, berich tete sein Mann vor Ort. „Eine an der Brücke und eine im Rohr mit Reaktionszünder. Das Rohr wurde durch die Explosion in der Mitte aufge baucht, die Enden sind zerfetzt.“ „Und der Inhalt?“ Der General hatte die Frage kaum gestellt, als er deren Sinnlosigkeit erkannte. „Schrott, General“, lautete die Antwort. „Elek tronikschrott.“ Der General legte auf und wischte sich den Schweiß ab. In dieser Minute wurde ihm klar, daß es so nicht weiterging. Alles mußte anders werden. Sie mußten völlig neue Ideen entwickeln, um an das strate gisch wichtige Material heranzukommen. Und zwar mußten Methoden gefunden werden, die von vornherein die Maßnahmen westlicher Geheim dienste paralysierten. Denn niemand anders als die CIA der Amerikaner, der MI-6 der Briten, der 57
deutsche BND und der italienische Sismi störten den lebenswichtigen Nachschub. Dem General fiel eine Information ein, die er in diesen Tagen vom KGB-Chef erhalten hatte. Man mußte endlich den Teufel mit dem Beelze bub austreiben. - Also rief er in der Dzerzhinsky straße an.
Sie schlief auf ihm und bewegte sich kaum. Ihr nackter, gebräunter Körper war nicht schwer. Zwischen ihren festen Bauernmädchenschenkeln klemmte noch sein Glied. So wie sie sich geliebt hatten. Das war in der Nacht gewesen. Jetzt graute der Magen. Ihr Atem ging gleichmäßig. Sie duftete nach einfacher Seife, nach Milch und Mandeln. Und ein wenig nach Sünde. Urban schaute auf die Rolex. Es war 6.30 Uhr. Bald würde sich die Sonne hinter den Küstenbeigen hervormachen. Er versuchte, sich unter ihr herauszumogeln. Sie umarmte ihn instinktiv. Also wälzte er sie behut sam zur Seite. Mit zufriedenem Brummen lag sie da. Erst auf dem Rücken mit steifen dunklen Kegeln auf den Brüsten. Dann bedeckte sie ihre Scham mit beiden Händen, drehte sich zur Seite und zeigte ihm ihr rundes Hinterteil. Urban beobachtete sie von der Dusche aus und genoß ihren Anblick. Nacktes italienisches Mäd chen in Seitenlage. Ein wahres Kunstwerk. Er zog den Bademantel an, trocknete sich damit 58
ab, ging hinunter und bereitete sich selbst das Frühstück. Eigentlich war Gina für das Haus, die Einkäufe und das Kochen zuständig. Dafür wurde sie bezahlt. Allerdings wurde sie nicht für die Liebe bezahlt, die hatte sie aus freien Stücken geliefert. Und was für eine Ernte war das gewesen. Ein schwer an seinen Früchten tragender Baum. Bereits nach kurzer Zeit hatte der erste Höhepunkt sie durchrast - der Anfang einer ekstatischen Folge. - Klar, daß sie, zu Tode erschöpft, den Schlaf nötig hatte. Urban setzte die Espressomaschine aufs Gas, backte am Toaster zwei Brioches auf und suchte im Kühlschrank nach Marmelade. Die Butter ließ er drin. In Italien war nur Tiroler Butter genießbar, und die gab es weit im Süden nicht. Dann trug er alles mit dem Tablett auf die Terrasse unter die Weinpergola zu dem Tisch mit den alten Korbsesseln. Den Kaffee schäumte er mit Milch auf, gab Zucker hinein und Fragolemarmelade auf die kuspri gen Hörnchen. Er saß da, schaute zwischen den Pinien hindurch hinaus aufs Meer und dachte nach. Sein Nachdenken endete in der Feststellung, daß es ihm gut ging. Diesen Zustand wollte er so lange wie möglich erhalten. Wind kam auf. Gegen die steigende Sonne segel ten ein paar Wolken. Eine vereinzelte Grille betä tigte sich als Vorsänger, dann fiel der ganze Chor ein. Ein Geräusch im Haus ließ Urban herumfahren. Gina lehnte am Türrahmen, die pechschwarzen 59
Locken kaum gebändigt. Sie trug ein weißes Lei nenkleid, eigentlich mehr eine Art Wickelschürze, knielang, mit tiefem Ausschnitt. Sie war barfuß. „Guten Morgen, Robertino“, sagte sie in ihrem singend rauhen Gargano-Italienisch. Als er vor einer Woche angekommen war, um das Haus zu mieten, hatte sie ihn Signore genannt. Dann, gestern abend, Roberto und jetzt Robertino. Das klang intim. Und er hatte nichts dagegen.
Robert Urban, Exagent des BND, ging wie jeden Morgen zum Strand. Unterhalb der Casa zwischen Agaven und Aka zien schlängelte sich ein verwitterter Weg zu der kühlen Schlucht am Meer. Noch in Rufweite hörte er die Italienerin: „Ich bring dir Wein, Robertino.“ Er hob die Hand als Zeichen seines Einverständ nisses. „Und kaltes Huhn und Käse und Salami und Pane.“ „Hat Zeit.“ „In zwei Stunden.“ Er nickte. „Vom Roten?“ „Vom Weißen“, sagte er, obwohl beide Weine gleich mundig waren. Der Rote war vielleicht eine Idee stärker. Der Strand zwischen den Felsen, kaum größer als ein Tennisplatz, war schon warm. Er legte sich in den Sand und genoß das Nichtstun. Genauge nommen war es nur ein Warten. Aber er genoß es. 60
Eigentlich, dachte er, fehlt dir jetzt nichts, außer ein bißchen Glück. Glück in der Form, wie man es beim Roulette brauchte. Als es so warm wurde, daß er es als heiß empfand, schwamm er einen Viertelkilometer hin aus, machte kehrt und mußte kräftig gegen die Strömung arbeiten. Die Gezeiten waren hier kaum meßbar. Aber wenn im Westen durch Gibraltar die Flut ablief, stand hier am Kap der Strom meerwärts. Erschöpft warf er sich in den Sand, die Füße noch in der Dünung. Mit einemmal reizte etwas seine Nase. Es stank nach Benzin, nach Zweitak tergemisch. Über dem Strand hing eine Abgas wolke, wie sie Motorboote hinterließen. Er richtete sich auf und sah das Boot. Es lag mit dem Bug auf dem Trockenen. Im Schatten der Felsen stand ein Mann, angezo gen, als ginge er zu einer Hochzeit. Dunkler Anzug, weißes Hemd, Schlips. Allerdings hatte er Schuhe und Socken ausgezogen und die Hosen hochge krempelt. Dadurch wirkte er ziemlich komisch. Urban erwiderte seinen Gruß, schlenderte zu seinem Handtuch, setzte sich und steckte sich eine Gauloises an. Seitdem er nicht mehr Bob Urban war, rauchte er diese schwarzen, filterlosen Sarg nägel. Und sie schmeckten ihm. Der hagergesichtige mit den engstehenden Augen und der Sattelnase kam auf ihn zu. Er hatte etwas in der Hand. Eine Tüte. In Tüten konnte man auch Tellerminen transportieren. Er faßte in die Tüte, wie um Geschenke zu verteilen. Was er mitbrachte bewies, daß er wußte, wer Urban war. Es handelte sich um eine Flasche von Urbans 61
bevorzugtem Bourbon und eine Kiste mit Havan nas jenen Formats, das er schätzte. „Mister Dynamit?“ sagte er etwas unsicher. „Setzen Sie sich.“ „Bitte fragen Sie mich nicht, wie wir Sie fanden. Es kostete einer der besten Organisationen der Welt, die auf solche Aufgaben spezialisiert ist, eine Woche, bis wir Ihre Spur hatten.“ „Eigentlich lag mir daran, keine zu hinter lassen.“ „Das ist bekanntlich unmöglich.“ „Offenbar.“ Der Mann sprach erstklassiges Englisch. Aber es war wie bei einem Werkstück, das man feinpoliert hatte: Eine sensible Zeigefingerkuppe fand irgendwo einen winzigen Grat. Der kaum merk bare Akzent des Fremden deutete auf eine slawi sche Muttersprache hin. Und irgendwie hatte er ein Moskowitergesicht „Haben wir Ihren Geschmack getroffen?“ „Danke für die Blumen“, sagte Urban, „aber ich vermisse eigentlich nichts.“ „Vielleicht doch.“ „Das alte Leben? - Nein.“ „Das nächste.“ „Im Sinne von Wiedergeburt, meinen Sie. Ich bin mit meinem jetzigen Dasein zufrieden.“ „Ein Mann wie Sie, Oberst?“ Urban lehnte sich zurück, massierte Bauch und Brust. „Wollen Sie mir etwas einreden? Etwa Unzufrie denheit?“ Der andere winkte ab. Es war nur eine zahme Geste. 62
„Stimmt, ich wollte Ihnen etwas aufschwatzen“, gestand er. „Nicht, daß Sie sich langweilen oder etwas vermissen. Ein Mann wie Sie hat alles bis zum Überdruß genossen. Trotzdem will ich Ihnen etwas aufschwatzen.“ Er machte eine kurze Pause. „Nämlich eine Million. - Nicht Dollar. Der Dollar steht zu schlecht.“ „Rubel“, tippte Urban. Er war sicher, daß er ins Schwarze getroffen hatte, wie ein Nagel, der von einem Autoreifen überfahren worden war. „Goldrubel.“ „Dann ist die Organisation, von der Sie sprachen und die Mühe hatte, mich zu finden, der KGB.“ Der Fremde reagierte eine Weile gar nicht. „Wird schon recht heiß.“ „Ich liebe es so“, bemerkte Urban. Der Russe war also Bote, Kurier, Emissär einer sowjetischen Behörde. „In Moskau“, fuhr der Fremde fort, „hält man viel von Ihnen, Oberst Urban. Sie sind der meistge fürchtete, meistgeachtete und bewunderte West agent aller Zeiten.“ Urban verstärkte sein angeborenes Grinsen. „Angeblich geht der Spruch um, Urban sei Deutschlands Rache für den verlorenen Krieg.“ „Das ist Historie, fürchte ich. Man hat Sie gefeuert.“ Urban steckte sich eine neue Gauloises an, rauchte und schien den blauen Schwaden nachzu sinnen. „Es war an der Zeit.“ „Eine Zwangslage, wie man hört.“ „Ja und nein.“ 63
„Es ging um belastende Dokumente und um fünf Millionen Dollar.“ „Es muß sich lohnen“, gestand Urban. „Sie sind gut im Bilde.“ Der Bursche, der schon im Prospekt als KGBAgent zu erkennen war, schlug nun erstaunliche Töne an. „Die Wiener“, sagte er, „haben ein Lied. Gehen wir in den Park zum Tauben vergiften oder so ähnlich.“ „Gehen wir in die Bar, ein bißchen die Welt retten“, scherzte Urban. „Oder vernichten. Was dem einen frommt, scha det dem anderen.“ Er kam auf die Politik zu sprechen, auf die technische Überlegenheit des Westens auf bestimmten Gebieten. Das zwinge den Osten, kon ventionell - mit Panzern und Kanonen - nachzu rösten, denn man könne die US-Weltraumpro gramme nur unterlaufen, indem man die elektroni sche Lücke überbrücke, was durch Cocom aber nicht möglich sei. „Ich kenne das Problem“, erwiderte Urban. „Um so besser.“ Jetzt kam der Emissär zur Sache: „Ausgleich des Wissens erhält den Frieden. Das war schon so, als die Zusammensetzung des Schießpulvers verraten wurde.“ „Und von Klaus Fuchs die Wasserstoffbombe.“ „Herrscht etwa nicht Frieden seitdem?“ „Relativ“, mußte Urban einschränken. „Möchten Sie ihn erhalten, Oberst?“ „Eigentlich möchte ich hier mein Leben ge nießen.“ „Und die Million Goldrubel?“ 64
Urban glaubte zu wissen, was sie von ihm wollten. Der Russe bestätigte nun seine Ahnungen. „Wir haben eine lebensgefährliche Elektronik lücke. Nach Moskau sind zwei Container mit Computern unterwegs. Wenn sie nicht durchkom men, können wir den Laden zumachen. Helfen Sie uns, die Container nach Moskau zu schaffen.“ Urban hob verblüfft die Brauen. „Ausgerechnet ich?“ „Jawohl, Sie, der größte brachliegende Experte. Ich bin berechtigt, Ihnen im Namen des KGB und der Regierung außer der Million in Gold noch folgendes anzubieten: eine lebenslängliche Pension und eine Villa nach Ihrem Geschmack am Schwar zen Meer. Daß wir Ihnen den roten Teppich ausrollen, Sie mit Orden behängen und zum Staatsbürger machen, will ich gar nicht erst er wähnen.“ Urban dachte lange nach. Endlich äußerte er sich. „Wenn schon, also wenn überhaupt, dann ist mir Anonymität lieber.“ „Das haben wir fast erwartet.“ „Sie kennen mich offenbar gut.“ „Nun, einigermaßen. Wie man eben einen Mann kennt, von dem im KGB-Archiv fünftausend Sei ten Geheimakten lagern.“ „Nur fünftausend“ spottete Urban. „Dachte, ich hätte in all den Jahren mehr Aufmerksamkeit verdient.“ Er erfuhr Details. Nicht, wo die Container jetzt standen, aber daß man, ohne zu diskutieren, seine Vorschläge akzeptieren würde. „Soviel Vertrauen?“ wunderte er sich. Der Russe nickte. 65
„Ihre Erfolgsquote ist die höchste in diesem Geschäft. Und Sie haben, wie sagt man doch, sich so gut wie alle Sympathien im NATO-Bereich verwirkt.“ „Verschissen, heißt das auf deutsch.“ Der Russe stand auf und klopfte den Sand bis zum allerletzten Körnchen von der Hose. „Wann höre ich von Ihnen?“ Urban blinzelte gegen die Sonne. „Muß ja nicht gleich sein, oder?“ „Es ist aber nicht ganz ohne Eile.“ „Wo erreiche ich Sie?“ „Ich rufe Sie an.“ Leider hatte das Haus oben Telefon. Urban nickte. Der Russe ging zu seinem Boot. „Wir passen zusammen, finde ich“, sagte er noch. „Finde ich auch.“ Er schob das Boot ins Wasser, stieg ein und startete den Motor. Wenn Urban nicht schon alles erlebt hätte, hätte er es für einen Traum gehalten. - Der KGB versuchte, ihn zu kaufen. Er träumte nicht. Er träumte auch nicht, daß er hier war, denn er hörte Gina kommen. Am Arm trug sie einen Korb. Das wilde Lockenhaar hatte sie mit einem Schal gebändigt. Sie stellte den Korb hin und zog sich aus. Unter dem weißen Kleid hatte sie so wenig an wie in der Nacht. „Was ist, Robertino? Was hast du in den Augen?“ Er faßte ihre Beine und seine Hände glitten höher. „Schon vorbei, cara mia.“ 66
„Du bist zufrieden?“ „Restlos“, log er. Dieses Weib sah nur aus wie eine Statue. Sie war so lebendig und schön, daß man sich fragte, wer Sophia Loren war. „Frühstück im Freien“, sagte Gina.
Sie waren den ganzen Tag geritten. Zwischendurch hatten sie auch gejagt und gefischt. Jetzt saßen sie um das Lagerfeuer wie Cowboys vor hundert Jahren. Ihr Vormann war ein ziemlich hochrangiger Cowboy. Wenn das Wochenende in Kaliforniens freier Natur zu Ende ging, würde er wieder seinen Job abtreten. Er war in Washington beschäftigt, auf der anderen Seite des Kontinents. Dort übte er das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten aus. Jetzt briet er noch Steak am Spieß. Darin war er Meister. Bei dieser Gelegenheit wurde gleichzeitig Weltpolitik gemacht Sie saßen zu fünft um das Feuer. Dem CIADirektor, als nur gelegentlichem Reiter, tat der Hintern weh. Der Senator jedoch saß gut im Sattel. Er kam aus Texas und war meist recht schweig sam. Der General hatte einst bei der US-Kavallerie den Umgang mit Gäulen gelernt, liebte aber Pan zerkampfwagen mehr als Rösser. Selbst ein rosti ger alter Sherman, pflegte er zu sagen, sei mehr wert als ein Araberhengst. Der vierte Gast auf der Ranch des Präsidenten 67
war dessen Sicherheitsberater. Ein Mann, der alles konnte, der bei Geheimgesprächen ebenso omnipo tent war wie beim Klettern in den Anden, beim Segeln, beim Fallschirmspringen oder auf Raids in der Wildnis. Dieser Sicherheitsberater lobte die Steaks des Präsidenten über den grünen Klee, und der Präsi dent sagte: „Versuchen Sie erst mal die Barbecuesoße mei ner Frau. Sie werden staunen,“ Sie hatten sie in einer Literflasche mitgeführt. Der CIA-Direktor fand sie nicht so gut, wie die, die man im Supermarkt bekam, aber zurückhaltend höflich lobte er ihren feinen Geschmack. Nachdem der Präsident über alles mögliche gemeckert hatte, kam er zur Tagespolitik im Allge meinen und zu seinem Vertrag mit den Russen im Besonderen. Er hielt endlose, mit Western-Slang gewürzte Monologe und führte sie solange fort, wie seine Gäste dazu nickten. Er bemerkte nicht, wie der Senator und der CIAChef sich immer wieder Blicke zuwarfen und sich offensichtlich langweilten. Endlich sagte der Senator, als sei das das einzig Bemerkenswerte: „Aber der Kaffee ist wirklich Spitze, Sir.“ Der Präsident, nicht übermäßig sensibel, merkte jetzt etwas und scherzte: „Meine Verträge finden Sie eher schlecht, Se nator.“ Der Senator wollte etwas erwidern, aber der Präsident ließ es nicht zu. „Es ist das erstemal, daß ich den Russen traue.
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Der Generalsekretär und ich verstehen uns in der Tat prächtig.“ „Ja, er ist ein Charmebolzen“, pflichtete der Senator ihm bei. „Männer wie er und ich würden einander nie über den Tisch ziehen.“ „Ohne es vorher anzukündigen“, schränkte der Senator ein. Er war der einzige in der Runde, der eine solche Lippe riskieren durfte, denn der Präsi dent brauchte ihn, während er auf den Präsidenten nicht angewiesen war. „Ich hoffe“, fuhr der Präsident fort, „daß Sie den Vertrag ratifizieren werden, Senator.“ „Ich bin nicht allein“, erklärte Helms. „Aber Sie haben Einfluß auf viele Leute in der Opposition.“ Der Senator äußerte nun etwas, das dem Präsi denten so wenig gefiel, daß er es am liebsten gar nicht gehört hätte. „Und ich könnte meine Freunde im Kapitol noch leichter überzeugen, wenn es nicht diese neuen Erkenntnisse gäbe.“ „Ach, Unsinn“, tat der Präsident es ab. Dabei blickte er hilfesuchend den General an. Da dieser schwieg, war der CIA-Direktor als nächster an der Reihe. Er stand auf und erklärte, daß er Holz sammeln müsse, da das Feuer rasch herunter brenne. Also mußte doch der General Stellung nehmen. „Der Senator“, sagte der General, „stützt sich auf Satellitenfotos,“ „Die kenne ich“, half der Sicherheitsberater dem Präsidenten. „Sie beweisen nichts.“ „Das ist richtig“, antwortete der General. „Sie 69
besagen nur, daß die sowjetischen Truppen SS-20 Raketen abbauen.“ „Aber nicht heimlich.“ „Nur bei Nacht und Nebel, Sir.“ „Aber sie lassen die Raketen nicht heimlich verschwinden.“ „Sie verschwinden zwar nicht heimlich, aber leider auch nicht in Richtung Schrottplatz, Sir.“ „Was“, tat der Präsident erstaunt, „wollen Sie damit ausdrücken, General?“ Nun stand der Senator dem General bei. „Er will sagen, vielmehr wir wollen sagen, daß die Satellitenfotos bestätigen, daß die Russen SS 20-Raketen verschwinden lassen, weil sie doppelt so viele wie angegeben davon haben. Nur den Rest reduzieren sie vor den Augen unserer Zeugen um die Hälfte,“ „Raketen verschwinden lassen“, entgegnete der Präsident entrüstet. „Wie man mir versichert, werden sie nur verlegt. Und außerdem, mein lieber Senator, ist der INF-Vertrag noch gar nicht in Kraft.“ „Für die Russen schon, Sir.“ „Aber wir müssen ihn noch ratifizieren. Sorgen Sie dafür, daß das durchgeht. Dann werden sich die Russen an den Wortlauten der Paragraphen halten.“ Damit hoffte der Präsident, seine Zweifler so abgefertigt zu haben, wie es sich gehörte. Aber die Stimmung war nicht mehr die gleiche wie vor einer Stunde.
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Der Präsident wechselte das Thema auf ein Gebiet, wo man weder indirekt noch direkt auf ihn schie ßen konnte. „Mir kam da eine riesige Sauerei zu Ohren“, begann er. „Ein Geheimnisträger der höchsten Klasse soll zu den Russen übergewechselt sein.“ Der General und der Senator hatten nur davon gehört. Genauer Bescheid mußte der CIA-Direktor wissen, der im Feuer herumstocherte, um ihm Luft zu verschaffen. Er legte Holz nach und merkte, daß der Vorrat schon wieder zu Ende ging. Eine Flasche Bourbon wurde geöffnet. Sie tran ken ihn, wie es Tradition war, aus den Kaffeebe chern. Die waren, wie bei Cowboys üblich, aus Blech. Allerdings innen emailiert. „Ich habe Sie etwas gefragt“, wandte der Präsi dent sich an den CIA-Direktor. Der blickte ihn ruhig an. „Stimmt, Sir.“ „Was stimmt? Daß einer der besten BND-Agen ten, ach was, einer der fähigsten Leute der westli chen Geheimdienste überhaupt, ein Mann, dem ich sogar mehrmals persönlich vertraute, nun für den KGB arbeitet?“ „Heißt es angeblich.“ „Arbeitet er nun für Moskau, ja oder nein?“ „Nur Gerüchte, bis jetzt, Sir.“ Der Präsident ließ nicht mehr locker. Er wußte, hier konnte ihm keiner querschießen. Jeder hatte mindestens entrüstet zu sein. „Daß dieser Urban einen unserer eins-a-Leute erschoß und fünf Millionen Dollar an sich brachte, das ist wohl kein Gerücht, oder?“ 71
Der Präsident badete die Sache genußvoll aus. Er liebte aufregende Stories. „Überfall an der Seine südlich von Paris. Am hellichten Tag. Der Fahrer kannte den deutschen Agenten gar nicht“, wandte der CIA-Chef ein. „Aber er hörte, wie Major Kolleck ihn Mister Dynamit nannte. Davon gibt es wohl nur einen. Oder sollte sich Kolleck geirrt haben?“ „Kolleck gibt uns keine Auskunft mehr“, stimmte der Sicherheitschef seinem Präsidenten zu. „Ist es nicht so“, fuhr der Präsident fort, „daß Kolleck eine Ansammlung von Material nach Brüs sel bringen sollte, das sich, vorsichtig ausgedrückt, mit bestimmten Unfreundlichkeiten dieses Mister Dynamit gegen die USA befaßte? Hatte er mithin keinen Grund, etwas zu unternehmen?“ „Wie“, wandte der Senator ein, „konnte er davon erfahren haben?“ „Er ist ein As“, bemerkte der Direktor. „Schade, daß die Russen schneller waren, ihn zu enga gieren ...“ „Schneller als wer?“ fragte der Präsident. „Schneller als wir etwa? Was wollen Sie mit einer solchen Laus im Pelz? Ihre CIA ist ohnehin ver laust genug. Darf man vielleicht erfahren, welche Schritte unternommen wurden. Das ist doch eine gigantische Schweinerei, daß ein Mann, der soviel weiß, noch auf freiem Fuße ist. Was sagt der BND in München dazu?“ „Man hat diesen Urban gefeuert, Sir.“ „Wenn es wahr ist, war es kaltblütiger, vorsätzli cher Mord“, kommentierte der General. „Mord 72
bleibt auch in der Agentenszene Mord - falls es wahr ist.“ Der Präsident blickte seinen CIA-Direktor und nur ihn an. Der Geheimdienstchef wußte immer mehr, als er sagte. Vielleicht kannte er die Vor gänge in Paris im einzelnen und hatte sich längst ein klares Bild darüber gemacht. „Was können die Russen von Urban schon wol len, Sir.“ „Warum zwingt man den BND nicht, diesen Burschen zu eliminieren. Entlassen allein genügt ja wohl nicht. Zumindest sollte man ihn für Jahre aus dem Verkehr ziehen.“ „Am besten für immer“, stimmte der Sicher heitsberater dem Präsidenten zu. Dem CIA-Chef mißfiel der Zustand des Feuers. ,Jetzt ist es heruntergebrannt.“ Der Präsident ließ sich nicht ablenken. „Ich habe Sie etwas gefragt.“ „Ich muß trockenes Holz suchen, Sir.“ „Wir warten auf Ihre Antwort.“ Der CIA-Direktor verhielt sich, als säße er auf seinen Ohren. Er stand auf, riß vom nächsten Baum einen dürren Ast ab, brach ihn und warf ihn auf die Glut. Aber das war nicht ausreichend. Deshalb ging er weg. Er war für das Feuer verantwortlich. Das war seine Aufgabe in diesem Cowboyverein. Er ging ziemlich weit weg, obgleich die anderen ihm etwas nachriefen. Er ging, weil er fürchtete, bis zu einem Punkt getrieben zu werden, wo er seinen Präsidenten belügen mußte. Und nichts lag ihm ferner als das. Nie hatte er ohne Not gelogen. Eines Tages würde 73
er dem Präsidenten beichten. Aber nicht hier und heute nacht. Der CIA-Direktor blieb solange fort, bis er sicher war, daß die Runde am Lagerfeuer das Thema gewechselt und der Präsident vergessen hatte, daß er ihm noch eine Antwort schuldete.
10. Bonny Wittman war in der Hamburger Szene nicht unbekannt. Wo Bonny hinkam, hieß es: „Hallo, Bonny, raus aus dem Knast?“ Bonny trug das blonde Haar der Mode entspre chend kurz. Bonnys Klamotten stammten aus Bou tiquen und waren vom Besten. Die engen Hirschle derjeans paßten zu der dottergelben Glaceleder jacke, und die Stiefel kamen aus Texas. Bonnys kariertes Holzfällerhemd war immer picobello, frisch gewaschen und gebügelt, Und Bonny hatte Geld. Woher, das wußte niemand genau. Man munkelte, daß es aus Autogeschichten grö ßeren Stils stammte oder vom letzten Jahr, bevor Bonny zum erstenmal in Santa-Fu einsaß. Bonny fuhr einen Käfer, dessen Motor sich anhörte, als hatte Porsche ihn geschwängert. Der VW war tiefer gesetzt und hatte breite Walzen. Durch den TÜV kam er damit nicht, aber Typen wie Bonny kannten Wege, um die technische Überwachung zu umgehen. Eines Tages führte Bonnys VW einfach französische Kennzeichen. Die Polizisten von der Davidswache staunten, aber sie verzichteten darauf, die Zulassung einzusehen. 74
Wozu auch. Bonny hätte ihnen einwandfreie Papiere vorgelegt. Bonny war ungemein clever. Es gab keinen Spielautomaten, der Bonny auf Dauer widerstand, und an den Flippermaschinen holte Bonny immer die höchsten Punktzahlen. Im übrigen war Bonny trinkfest und ziemlich arbeitsscheu. Wenn es Händel gab, fertigte Bonny jeden Geg ner kurz ab. Bonny hatte die asiatischen Nah kampftechniken gut drauf. Nur auf Schlägereien, wo es mit roher Gewalt zuging, ließ Bonny sich nie ein. Deshalb gehörten auch die Skin-Heads von den Motorradbanden zu Bonnys Freunden. Über Bonny hatte schon manch seltene Harley-Davidson ihren Käufer gefunden. Zum Freundschaftspreis selbstverständlich. Zur Stählung des Körpers besuchte Bonny regel mäßig die Bodybuilding-Center in der Nähe der Reeperbahn. Dort walkte Bonny sich regelrecht und fühlte sich hinterher immer ganz schön durch geknetet. An den Wochenenden unternahm Bonny oft Reisen mit unbekanntem Ziel. Wie man hörte, graste Bonny auch die Szene in Kopenhagen, Brüssel und Paris ab. Ob Bonny im Rauschgiftge schäft tätig war, konnte niemand mit Sicherheit sagen. Wenn Bonny dealte, dann gewiß nur im Großen. Bonny selbst war hundertprozentig clean. Bonny lehnte sogar Schmerztabletten gegen Zahn weh ab. Bonny hatte auch ein freches Mundwerk, riß aber nicht nur dumme Sprüche. Wie man mun kelte, hatte Bonny Abitur und sogar studiert. Bonny ging in Filme der anspruchsvollen Katego 75
rie, auch ins Theater und mitunter ins Konzert. Bonny kaufte an den Kiosken Zeitungen und Magazine für das gebildete Publikum und leistete sich hin und wieder eine Mahlzeit in einem der berühmten Freßtempel. Nur vom anderen Geschlecht hielt Bonny offen bar nicht allzuviel. Zumindest konnte der Exagent Robert Urban in den Tagen, in denen er Bonny folgte und beobach tete, nichts dergleichen feststellen.
Auf Bonny Wittman war Urban in der Kriminal kartei gestoßen. Er hatte Beziehungen aktiviert und seine alten Freunde angerufen. Die meisten kannten Urban gut und gaben wenig auf das, was man über seinen Zwist mit dem BND und der NATO hörte. Für sie zählte, ob ein Mann Experte war oder nicht. Urban zählte zum exklusiven Clan der Superexperten. Diese Leute wußten zuviel, um Gesetzbücher ernst zu nehmen, die ihrer Meinung nach zur Bändigung der Massen dienten, nicht der wenigen Auserlesenen. Sie fühlten sich hoch dar überstehend. Über einen solchen Kanal hatte Urban Zugang zur Kartei des Bundeskriminalam tes gefunden und seine Wünsche klar definiert. „Ich suche einen Mitarbeiter, um die zwanzig herum. Bedingung sind Mut, Intelligenz, unauffäl liges Aussehen, Sportlichkeit, alle Führerscheine, guter Autofahrer. Am, besten Techniker mit Fremdsprachenkenntnissen. Möglichst Englisch und Französisch. Ein lockerer Knasttyp, aber kein Totschläger. Mittelschwere Delikte wie Falsch 76
spiel, Zuhälterei, Diebstahl, Betrug würde ich noch akzeptieren.“ „Ziemlich hohes Anforderungsprofil“, hatte sein Mittelsmann gestöhnt. „Er soll ohne Macken sein, aber Macken haben sie alle. Welche Macke darf er haben?“ „Geldgier“, erwähnte Urban. Der Kollege fütterte den Computer. Der erste Ausdruck war eine Katastrophe, eine Liste von Schwerverbrechern. „Wegen Körperverletzung waren sie alle mal dran“, bedauerte der Mann vom BKA. „Was darf es sein, ein Totschläger, ein Messerstecher, ein Mordschütze?“ Urban kannte diese Typen. Totschläger waren meist rabiate jähzornige Burschen. Was er brauchte, war ein cooler Mitarbeiter. „Messerstecher“, sagte er, „sind mutiger und fixer als Revolverhelden.“ „Wem sagst du das.“ Der BKA-Mann nahm die Auswahl vor, indem er in seinen Computer die nötigen Codes für die Qualifikation einspeiste. Es dauerte einige Tage. Urban rief immer wieder an, wurde vertröstet, aber dann lag eine Liste von sieben Personen vor. Wieder ging der Kollege sie mit Urban durch. Am Ende blieben sie bei Bonny Wittman hängen. Der BKA-Mann forderte von den Landeskriminal ämtern weitere Unterlagen über Bonny Wittman an und bekam einiges aus Hamburg. „Polizeispitzel war Bonny übrigens auch schon.“ Doch Urban entschloß sich, zuzugreifen. Wahr 77
scheinlich gab es im Bereich der Bundesrepublik derzeit nichts Besseres als Bonny Wittman. „Eine Einschränkung muß man bei Bonny noch machen“, warnte der Kollege in Wiesbaden. „Ich weiß, was du meinst“, sagte Urban. „Aber damit sollte man fertig werden. Vielleicht ist gerade das ein Vorteil.“ „Na, dann viel Glück und Weidmannsheil“, wünschte der Kollege. „Und noch etwas, Dynamit. Wenn du Hilfe suchst, wende dich nur an wirklich top-zuverlässige Freunde. Gestern lief ein Rund schreiben durch die Abteilungen. Jeder mußte es gegenzeichnen. Es betraf deine Person. Kontakt, Umgang mit dir oder Unterstützung führen zwangsläufig zu einem Disziplinarverfahren. Ich weiß also von nichts.“ „Danke“, sagte Urban. „Wir haben jahrelang nichts voneinander gehört.“ Er fuhr nach Hamburg und begann, Bonny Wittman zu suchen. Als er Bonny gefunden hatte, fing er mit der Observierung an. Im Verlauf einer Woche - Urban hatte zwischendurch an der fran zösischen Atlantikküste zu tun - kam er zu der Überzeugung, daß Bonny geeignet sei. Zweifellos war etwas Besseres als Bonny Witt man vorstellbar, aber Urban hatte nicht ewig Zeit. Deshalb entschied er sich für Bonny.
Sie zockten im Hinterzimmer eines Spielclubs in einer Parallelstraße zur Herbertstraße, wo die Damen noch immer im Schaufenster saßen und auf Freier warteten. 78
Die Runde bestand aus gerissenen Pokerspielern. Doch was sie am Ende alle verlieren ließ, war der Wunsch, alles zu gewinnen. Urban war es egal, was in dieser Nacht drauf ging, ob zehn- oder hunderttausend, er wollte Bonny Wittman fertigmachen. Erst verlor Urban den Gegenwert eines kleinen Mercedes, dann, weil er cool blieb, holte er auf. Er hatte gute Karten und gab acht darauf, daß niemand falsch spielte. Am Ende hatte er neunzehntausend Mark gewonnen, und Bonny Wittman steckte mit vierzigtausend in den Miesen. Gegen Morgen lag soviel im Topf, daß Bonny mit einem Schlag seine Verluste hätte gutmachen kön nen. Urban hatte Full House und Bonny noch mehr. Einen Royal Flush. Fünf Karten gleicher Farbe - As, König, Dame, Bube, zehn. Aber so viele Asse konnte es in diesem Spiel gar nicht geben. Urban entdeckte ein falsches Blatt, hechtete über den Tisch und Bonny an den Kragen. Bonny reagierte sichtlich unbekümmert. „Okay, nimm meine goldene Rolex als Pfand.“ „Danke, hab schon zwei.“ „Dann nimm einen Schuldschein.“ „Doch nicht vo n dir. Mit Schuldscheinen kann ich meine Bude tapezieren.“ Bonny wurde aggressiv. „Was willst du dann, Mann?“ „Nur mein Geld.“ „Soll ich es mir aus der Rippe schneiden?“ „Deine Rippen sind das nicht wert.“ Bonny fuhr hoch. „Was willst du dann, zum Teufel? Soll ich es vielleicht abarbeiten, du schwules Schwein!“ Jetzt 79
ließ Bonny alles heraus: „Denkst du, ich merke nicht, daß du seit 'ner Woche mit tropfender Zunge hinter mir her bist, du geiler Bastard.“ Die anderen Spieler packten zusammen und gingen. Sie wollten keinen Streit, nicht um vier Uhr morgens. Urban nahm noch einen Schluck Whisky und nickte versonnen. „Abgemacht.“ „Was?“ Bonnys blaue Augen wurden hart wie Bergkristall. „Du sagst es. Abarbeiten.“ „Aber nicht im Bett mit 'nem Homo.“ „Okay, dann anders“, schlug Urban vor. „Ich habe einen Job für dich.“ „Einen Fünfzigtausendmarkjob?“ Urban blies Bonny Rauch ins Gesicht. „Vielleicht kommen noch fünfzig Riesen dazu.« „Uninteressant“, tat es Bonny ab. ,,Du bist doch pleite, oder?“ Selbst in Kreisen von Ganoven und Gangstern galten Spielschulden noch als Ehrenschulden. Wer sie nicht binnen vierundzwanzig Stunden bezahlte, und sei es mit dem Messer, dessen Ansehen sank in der Szene auf Zero. „Was für ein Job?“ fragte Bonny nicht mehr ganz so forsch. Urban schaute auf die Uhr. „Muß dich erst mal checken, Bonny, ob du es bringst.“ „Checken? Wie?“ „Wir fahren auf den nächsten Sportplatz. Dann in ein Trainingscenter, anschließend in eine Schwimmhalle.“ 80
„Und dann zum Arzt für 'ne Blutprobe. Du bist echt bescheuert, Mann.“ „Dann wirst du mir zeigen, was du auf einem Vierzigtonner LKW kannst.“ „Ich surfe dich in Grund und Boden“, prahlte Bonny, „segle dir den Wind aus dem Spinnaker, fliege mit jedem Drachen dreimal so weit wie du. Ich werfe dich in zehn Sekunden aufs Kreuz. . . ich...“ „Um so besser“, unterbrach Urban. „Dann zeig, was du draufhast. Aber entscheidend ist, wie schnell du ein Kreuzworträtsel lösen wirst.“
Auf irgendeine Weise fühlte Urban sich von Bonny Wittman angemacht. Schon vom ersten Tag an. Bonnys Bewegungen waren elegant, beinah ero tisch. Bonny schien es ähnlich zu ergehen. Bonny fand an dem zehn Jahre älteren Urban Gefallen und verleugnete es auch nicht. Auf dem Sportplatz des HSV lief Bonny mit Urban zehntausend Meter. Verbissen kämpfte Bonny sich durch die letzten Runden. Die Kugel stieß Bonny nur achtzig Zentimeter kürzer als Urban, und beim Weitsprung war Bonny Urban sogar überlegen. Allerdings hatte Bonny fußbreit übertreten. Beim Hochsprung schafften sie beide knapp zwei Meter. Mit dem Speer kam Bonny besser zurecht. Dafür trumpfte Urban in der Halle an den Geräten auf. Beim siebenten Mal machte Bonny an der Kletterstange schlapp und fluchte. „Wozu das alles, verdammt nochmal?“ „Niemand hat dich gezwungen zu pokern.“ 81
„Wie steht es mit Handgeld?“ Sie fuhren elbabwärts. In Glückstadt mietete Urban ein Segelboot. Bonny hatte vermutlich schon eine Schott in der Hand gehabt, aber Bonnys Wenden und Halsen waren stark verbesserungs würdig. „Deutscher Meister wirst du damit nicht“, bemerkte Urban. „Kommt es darauf an?“ „Wahrscheinlich wirst du während der geplan ten Operation ohne Boot zurechtkommen.“ „Wozu dann der Quatsch?“ „Weil die Möglichkeit, daß du es können mußt, immerhin zu einem Prozent bestehen bleibt.“ „Perfektionist, he?“ spottete Bonny oder ver suchte es zumindest. Aber dann sorgte Urban dafür, daß Bonny über Bord ging und hinterher schwimmen mußte. Gegen den Strom, gut einen Kilometer. Bonny hielt sich tapfer. Am Abend mußte Bonny sich am Lenkrad eines 40-Tonners beweisen und zeigen, wo man mit der Suche anfing, wenn der Motor nicht mehr laufen wollte. Am nächsten Tag mußte Bonny rudern und Radfahren, aber nur von Pinneberg bis Itzehoe und zurück. Gegen Mittag war Bonny fertig wie nach einem Marsch durch die Zentralsahara. Sie gaben die Leihräder zurück und fuhren in Urbans Hotel. „Kommt jetzt die mündliche Prüfung?“ fragte Bonny gereizt. „Erst die schriftliche in Französisch.“ „Alors, mon général, je vous maudire.“ 82
„Die Endung ist falsch. Macht nichts, erst mal duschen, okay?“ Urban ging ins Bad, zog sich aus, trat in die Duschkabine und stellte den Strahl auf scharf und heiß. Durch die Milchglasscheibe sah er, wie Bonny sich ebenfalls der Kleidung entledigte. ,,Darf man reinkommen, Meister?“ Bonny zog die Duschkabinentür auf. Es war jetzt ziemlich eng. Aber für zwei ging es noch. Was man unter dem Anzug nicht gesehen, sondern nur geahnt hatte, zeigte sich hier schonungslos. Bonny Wittman hatte hübsche kleine Brüste und zwischen den Schenkeln lediglich ein blondgeflaumtes Drei eck. - Bonny Wittman war eine Frau. Urban hatte es gewußt. Sein BKA-Kollege hatte ihn gewarnt. Nicht nur davor, sondern noch vor anderen Eigenheiten dieses Mädchens, das als Mann auftrat. Aber jetzt, im Dampf der heißen Dusche, erwies sich, daß Haß in Zuneigung umschlagen konnte. Die Aggressionen, die sich in Bonny gegen Urban aufgestaut hatten, schlugen ins Gegenteil um. Sie umarmte ihn plötzlich, drängte sich mit ihrem harten, knabenhaften Kör per an ihn und verbiß sich an seinem Mund. „Los, machen wir die letzte Übung, Meister.“ „Ich bin sicher, du bestehst sie.“ „Mal sehen, wer der Bessere ist.“ „Vergiß es, Bonny.“ „Wetten, daß ich dich besiege, mindestens sieben zu eins.“ Sie war stark erregt. Er spürte es. Bei ihm fing es auch schon an. Aber auf irgendeine Weise paßte ihm die Entwicklung nicht. Ein Signal im Hinter kopf schlug Alarm. 83
„Ein andermal, Bonny.“ „Feigling, oder magst du mich nicht.“ „Sogar sehr“, gestand Urban. „Aber Geschäft ist Geschäft.“ „Und bumsen ist bumsen, he?“ „Du bist mein Partner.“ „Darauf pfeife ich. Bis jetzt war alles for noth ing, Meister.“ Urban verließ die Kabine, trocknete sich ab und kleidete sich an. Als Bonny aus dem Badezimmer kam, hatte er ein Glas Scotch in der Hand und rauchte eine Gauloise. Auf dem Tisch lagen zehn tausend Mark. „Wo hast du die hergezaubert?“ „Eben frisch fotokopiert“, scherzte Urban. Sie nahm ein Zahnputzglas, goß sich Whisky ein und setzte sich. Das Handtuch klaffte vorne auf. Sie legte die Beine auf den Tisch und präsentierte ihr rosiges, rundes Hinterteil. „Laß uns mal Tacheles reden, Robert“, schlug sie vor. „Bis jetzt war alles pure Menschenschinderei. Hoffe, es bleibt nicht so.“ „Kann noch schlimmer werden, muß aber nicht“, antwortete er. „Um was geht es eigentlich?“ „Um Computer.“ „Klauen, anzapfen, Software kopieren?“ „Schmuggel“, erklärte Urban, „in den Osten.“ Bonny schien Bescheid zu wissen. , „Verstehe, die Cocom-Liste. Embargo des Westens gegen die Ostblockstaaten. Strategische Waffenelektronik und so weiter. Heiße Kiste.“ „Nun, ein Kühlschrank ist es nicht.“
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„Aber man muß verdammt frigide bleiben dabei. Fängst du deshalb nichts mit mir an?“ Urban, der erfahrene Taktiker, machte ihr Hoff nung. „Muß ja nicht immer so bleiben, oder?“ Doch Bonny rollte längst auf einer anderen Schiene. „Mann, da sind doch Millionen im Spiel.“ „Schon möglich.“ „Und du speist mich mit Hunderttausend ab.“ Urban lag daran, daß sie motiviert war. „Auch das kann sich ändern“, deutete er an, stand auf und holte das billige Transistorradio, das er bei einem Trödler in St. Pauli erstanden hatte, und begann, es zu zerlegen. Das ging schnell. Er hatte es geübt. - Als ein Berg Einzelteile auf der Tischplatte lag, sagte er zu Bonny: „Setz das zusammen. Du hast dreißig Minuten Zeit. Bis zu den Abendnachrichten muß das Ding wieder spielen.“ Bonny blickte auf den Haufen Radioteile, dann auf Urban. Dabei massierte sie ihre Finger, jeden einzelnen. „Das ist“, sagte sie, „leicht bis kinderleicht.“
11. Zwei Tage später rief Urban bei Bonny an und sagte, daß sie sich am 16. des Monats in Le Havre treffen wollten. In der Normandie. „Ich weiß, wo Le Havre liegt“, erwiderte sie, 85
noch in jenem verärgerten Ton, mit dem sie sich in Hamburg getrennt hatten. „Treffpunkt ist das Bistro an der Ecke neben der Oper. Ein Platz mit Bäumen.“ „Da pflegen Opernhäuser meistens zu liegen.“ „Um Mittag herum. Aber für alle Fälle warte ich noch mal um siebzehn und um dreiundzwanzig Uhr. Sei pünktlich. Am besten, du fährst einen Tag vorher los.“ „Ich weiß, wie man losfahren muß, um pünktlich zu sein“, entgegnete sie patzig. „Halte dich in Frankreich gefälligst an die Verkehrsregeln. Ich mochte nicht, daß es Ärger gibt.“ „Wer von uns fährt eigentlich wie ein Wahnsin niger. Was mich betrifft, ich weiß, wie man sich im Ausland benimmt.“ „Dann bis dann! „ Urban wollte auflegen. „Wo steckst du jetzt?“ erkundigte Bonny sich. „Noch in Afrika“, log er. „Vergiß die zweite Rate nicht. Zehntausend bar auf die Hand. Ein Schein nach dem anderen.“ Da hatte Urban endgültig aufgelegt. Sie war wütend auf diesen arroganten Typen. Aber eines an ihm war so klar wie manches andere unklar, nämlich daß er Kohle hatte. Wußte der Teufel, woher. Und irgendwann hatte sie ihn schon einmal gesehen. Schon, in diesem Punkt mochte sie sich irren, aber nicht darin, daß der Bursche mehr ausgefres sen hatte, als in eine Keksfabrik ging, und daß er dabei war, ein Riesending zu drehen. Auch hatte sie das Gefühl, aufs Kreuz gelegt zu werden. Nicht 86
im Bett, wie sie es gerne gehabt hätte, sondern anders. Aber dagegen gab es Vorsichtsmaßnahmen. Sie packte ihre Reisetasche mit dem Nötigsten. Aus Erfahrung wußte sie, daß es wenig gab, was man unterwegs nicht kaufen konnte. Vorausgesetzt man durchquerte nicht die Wüste Gobi oder die Antarktis. An der Tankstelle checkte sie noch einmal ihren Käfer durch. Zündung, Keilriemenspannung, Rei fen, die Ölstände. Dann fuhr sie los. In Hamburg war es wie immer windig mit etwas Regen. Zweihundert Kilometer südlich riß der Himmel schon auf, und die Sonne kam durch. Es war ein guter Tag zum Fahren. Weder begannen Schulferien noch ein Wochenende. An solchen Tagen waren fast nur Profis unterwegs. Ein Auto bahnschnitt von 130 ließ sich mühelos halten. Bonny Wittman hatte die Absicht gehabt, nach sechshundert Kilometern im Schwarzwald zu übernachten. Kurzentschlossen fuhr sie aber bis Zürich durch. In einem First-class-Hotel im Zentrum stieg sie ab. Es lag an der Limmat und kostete pro Nacht 380 Franken. Aber Bonny Wittman machte es meistens eine Nummer größer, als ihr zustand. Vom Hotel aus rief sie in Oerlikon an. Einmal vor und einmal nach dem Essen. Aber erst um 23.00 Uhr bekam sie Verbindung.
Ihre Freundin hieß Chichou. Der Name paßte zu ihr. Sie war eine anschmiegsames schwarzes Kätz chen. 87
Sie kannten sich aus dem Knast. Chichou hatte wegen schwerer Körperve rletzung gesessen. Sie hatte einen Mann aus Wien, der unbedingt ihr Zuhälter werden wollte, so mit dem Absatz zwi schen die Beine getreten, daß er mit Hodenbruch nach Österreich abgehauen war. Bonny hatte aus anderen Gründen eingesessen. Offiziell wegen des Verdachts, für eine Autoschie berbande Luxuswagen ausbaldowert zu haben. Den wirklichen Grund kannte nur Bonny allein. Sie hatte als Polizeispitzel gearbeitet und war mal zu dieser, mal zu jener Gefangenen in die Zelle gelegt worden, um sie auszuhorchen. Ihre Freundin Chichou lebte in der Schweiz. Sie hatte einen Schweizer geheiratet. Er arbeitete in der US-Botschaft, verdiente aber nicht übermäßig. Also besserte Chichou die Kasse ein wenig auf, indem sie zweimal in der Woche angeblich in einem Club arbeitete. Dort ging sie für dreihundert Franken, wobei sie hundert abzuführen hatte, mit Freiern ins Bett. Chichou war gerade nach Hause gekommen, als das Telefon klingelte. „Bonny, Darling“, rief Chichou entzückt. „Ich werde wahnsinnig, wenn wir uns nicht sofort sehen.“ „Ich brauche deine Hilfe“, dämpfte Bonny den Freudenausbruch. „Aber nicht in finanzieller Hin sicht.“ „Alles andere ist schon gebont“, versicherte Chichou. Bonny kam sofort zur Sache. „Dein Mann arbeitet doch an der Botschaft.“ „Nur als Fahrer.“ 88
„Aber er kennt Leute dort.“ „Fahrer kennen immer Leute. Fahrer kennen den Botschafter oft besser als ein Legationsrat erster Klasse. Brauchst du ein Visum, Bonny?“ „Nein.“ Zögernd fuhr Bonny fort: „Ich hörte, daß jede Botschaft eine Geheimdienstabteilung hat.“ „CIA meinst du.“ „Genau. Und ich brauche dringend Kontakt mit einem CIA-Beamten.“ Chichou warnte sie. „Das ist heiß, Darling. Sie lassen dich nicht mehr aus den Fängen, wenn sie dich mal haben und dich brauchbar finden.“ „Es ist sehr wichtig“, erklärte Bonny. „Frag nicht, warum. Je weniger du weißt, desto besser.“ Chichou dachte nach und hatte es. „Klar kennt mein Alter diesen Knaben. Kein Problem. Wie stellst du dir den Kontakt vor?“ „Treff in irgendeiner Bar.“ „Du hörst von mir.“ „Ich bin aber nur zwei Tage in Zürich.“ Chichou versprach, zu tun, was sie könne. Ihr Mann habe im Wagen Autotelefon. Sie werde versuchen, ihn gleich anzurufen. Dann wollte sie wissen, wie es bei Bonny denn mit Männern aussehe. „Mittelprächtig“, gestand Bonny. „Du weißt schon, mehr Ärger als Wagalawaia.“ „Bist du für einen Kerl unterwegs?“ Bonny antwortete nicht darauf. „Ist er es denn wert?“ erkundigte sich die ExDeutsche. 89
„Mit Honig bestricken, könnte ich ihn lebendig auffressen“, beschrieb Bonny ihn. „Den Zustand kenne ich“, sagte Chichou. „Er ist schlecht fürs Herz.“
Sie trafen sich in einem Movenpick-Schnellimbiß. Wenn Bonny Wittman angenommen hatte, CIAAgenten würden ihre Gespräche mindestens in der Bar des Hotel Baur au Lac abhalten, dann hatte sie sich geirrt. Du bist unwichtig für sie, dachte Bonny und stellte sich drauf ein. Diesen Leuten kam man am besten Vierkant. Sie nahm ein Foto aus ihrer Tasche. „Vergrößerung“ stellte der Amerikaner fest. „Ziemlich grobkörnig und miserable Belichtung.“ „Ein Schnappschuß vom Fenster meines Apart ments aus.“ Es zeigte einen Mann von etwa einsneunzig, schlank und dennoch breitschultrig, der gerade in einen schwarzen Porsche einstieg. Man sah sein Gesicht zu zwei Dritteln. Das Markante an Urban war deutlich zu erkennen. Die gerade Nase, die Haardolle, das ausgeprägte Kinn. „Kennen Sie den?“ faßte Bonny nach. „Vielleicht.“ „Er nennt sich derzeit Robert Telemark.“ Der Amerikaner gab das Foto zurück. „Und?“ fragte er. „Ist das alles?“ „Sie wissen wer er ist. Ich sah es in Ihren Augen. Sie verengten sich.“ Der Amerikaner rührte seinen Kaffee um. 90
„Na schön, wozu das Versteckspiel. Der Mann ist Exagent, Deckname Mister Dynamit. Er wurde vom BND rausgeschmissen. Hochkant. Er hat einen Raubmord am Hals. Wird gesucht wie die Katze mit Glocke von der Mäusepolizei.“ „Sind Sie interessiert an ihm?“ Der Amerikaner trank und bestellte einen Cognac zu seinem Kaffee. „Nur an dem, was er vorhat. Burschen wie er haben immer etwas am Kochen.“ Der Amerikaner war so sympathisch, daß Bonny Lust verspürte, diesem Wanzengesicht in den Hin tern zu treten. Aber sie lächelte freundlich. „Es geht gegen die Cocom-Liste, Sir.“ „Die ist lang.“ „Computer, Sir.“ Der CIA-Agent winkte ab. „Ein so heikles Geschäft, daß nicht einmal wir es durchschauen und in den Griff kriegen, wie soll da erst...“ „Ich nicht, aber vielleicht dieser Mister Dynamit.“ Der Amerikaner rauchte wie ein Schlot, nicht in die Luft und nicht zur Seite, sondern in Bonnys Gesicht „Zu wenig Fakten, Madam.“ „Ich habe noch mehr.“ „Und was, bitte?“ „Den Rest gegen eine Quittung von mir, auf der ich den Empfang einer bestimmten Dollarsumme bestätige,“ „Ich seid alle ein habgieriges Pack“, bemerkte der Amerikaner abfällig. Dabei blickte er sie an, daß sie das Gefühl hatte, nackt zu sein. Sie wußte aber, wie Agenten sich im 91
allgemeinen benahmen. Waren sie scharf auf eine Sache, heuchelten sie Desinteresse. „Was für Computer?“ fragte der Amerikaner. „Strategisch verwertbare. Doch klar, oder?“ „Von wo nach wohin gehen Sie?“ „Wohin? Nach Moskau, Sie Spaßvogel.“ „Und wie stellen Sie sich unsere Zusammenar beit vor?“ Für Bonny war es eine reine Rechenaufgabe. Von Urban hatte sie noch vierzigtausend zu kriegen. Der Rest wurde gegen die Spielschuld abgerechnet. Wenn die Amerikaner fünfzigtausend zahlten, war sie fein heraus. „Sie erhalten von mir den Tip, wo sie ihn samt der Ware kriegen. Für hunderttausend Dollar.“ Bonny verlangte vorsichtshalber das Doppelte. Der Amerikaner nickte. „Sie hören von mir.“ Er stand auf, ging und überließ Bonny Wittman die Rechnung. Arschloch, dachte sie. Am nächsten Tag, spätnachts, als es schon ziem lich eng wurde und sie Zürich bald verlassen mußte, um pünktlich an der französischen Kanal küste zu sein, rief der Amerikaner endlich an. Aber es war nicht der Mann, mit dem sie gesprochen hatte. Er verband sie weiter zu einer Lady mit einer Stimme wie geschliffener Solinger Stahl. „Miß Wittman?“ fragte sie. „Ich bin es.“ „Sie sprachen mit Major Hoover.“ „Er stellte sich nicht vor.“
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„Nun gut, es ging um die Cocom-Liste, um Computer und um diesen Ex-BND-Agenten.“ „Richtig.“ „Ich darf Ihnen von Major Hoover übermitteln, daß wir nach Überprüfung der Sachlage an dem Projekt nicht interessiert sind.“ „Danke“, sagte Bonny. „Ihr Major Hoover ist ein Idiot.“ Sie knallte den Hörer auf. Sie war wütend. Und das auf vollen Magen, dachte sie. Eine Stunde später fuhr sie los.
12. Bonny Wittman betrat das Bistro an der Ecke neben der Oper von Le Havre vier Minuten nach zwölf Uhr, frisch und so hübsch geputzt wie nur möglich. Sie schaute sich um und sah ihren Partner an der Bar stehen. Er hatte ein Glas mit brauner Flüssig keit vor sich. Es war ein Whiskytumbler, noch zweifingerbreitvoll. „Hallo Bonny“, sagte er so begeistert wie ein altes Walzengramophon. Sie trug zum erstenmal einen Rock. Leder, weiß, dazu ein T-Shirt der Glitzerklasse und eine eben falls weiße Lederjacke, an der Kante blau paspe liett „Hallo, Clyde“, antwortete sie. „Gehen wir Ban ken ausrauben?“ Er hatte sein Permanentgrinsen im Gesicht, das sie ziemlich blöde fand. „Aha, du hast den Film gesehen.“ 93
„Dreimal, schöner Mann. Und wo sind die Blumen?“ Er legte seine Linke flach auf den Tresen. Sie war gewölbt, also befand sich etwas darunter. Sie bestellte Pastis, was nichts anderes war als ein Pernod, ein Getränk, das nach Lakritze schmeckte und einen rasch auf Hundert brachte. Urban machte die Bestellung rückgängig. „Einen Vin blanc für die Dame.“ „Spinnst du?“ fragte sie. „Ich will einen Pastis.“ „Später“, sagte er. „Ich brauche dich nüchtern.“ Er schob die Linke ein Stück weiter zu ihr hin, „Was hab ich da?“ „Ein Klavier.“ Er deckte auf, was darunter lag. Zwei Schlüssel. Ein runder und ein kleiner flacher. „Zündschlüssel“, sagte sie. Es hätte ihn gewundert, wenn sie das nicht erkannt hätte. Sie wußte noch mehr. „Ein alter Boschschlüssel für Diesel. Wie man sie bei uns früher und im Ostblock heute noch ver wendet.“ „Schlaues Kerlchen.“ „Ich bin kein Kerlchen, falls du an Gedächtnis trübung leidest. Was soll's mit dem Stück Eisen da?“ Er trank aus, wartete aber, bis sie ihren Vin blanc leer hatte. Dann faßte er sie um die Schulter, ganz freundschaftlich. Sie gingen hinaus. Es war ein heißer, wolkenloser Tag. Vom Meer her wehte eine laue Brise. „Und jetzt, such!“ sagte er. „Bin ich ein Hund?“ „Such! Zeig was du kannst. Zündschlüssel für 94
einen Diesel System Bosch, im Osten noch in Verwendung. Du bist auf der richtigen Spur, Bonny.“ „Du kannst es nicht lassen, Meister.“ „Das Leben besteht aus Prüfungen.“ Er blieb einen halben Schritt hinter ihr. Sie marschierte erst einmal um den Opernblock. Aber hinten waren die Gassen schmal, „Nein“, entschied sie. „Es ist ein Lastwagen, und der kann hier nicht parken. Oder?“ „Schlecht“, kommentierte Urban. „Eine Schlußfolgerung oder nur eine Behaup tung.“ „Ersteres.“ „Warm oder kalt?“ „Mittel“, befürchtete er. Bonny ging systematisch vor. Sie konzentrierte sich auf die breite Straße in Richtung Hafen. Eine Menge Lkws fuhren nach Westen. Offenbar um Ladung zu bringen oder zu holen. Sie folgte ihnen. Wo die Straße vor der Strandpromenade endete, bog Bonny nach links, als hätte sie einen Kompaß eingebaut. Bald war der Lkw-Parkplatz von wei tem zu sehen. Ungefähr hundert Sattelzüge aus allen europäi schen Ländern standen da und warteten auf die Abfertigung. Schwere Volvos, Renaults, IvecoLaster, Mercedes, MAN und Scania. Die Marken mit Turbolader, Intercooler und Retarder beach tete Bonny kaum. Um so mehr die Autos der DDR-Deutrans und die ungarischen Hungaroca mions. An einem der Fahrerhäuser prüfte sie den fla chen Schlüssel. Er paßte nicht. 95
Ziemlich weit hinten parkte ein Sattelzug mit tschechischem Kennzeichen. Ein schwerer Skoda der Praga-Trans mit aufgesatteltem Dreiachsan hänger. Er machte einen besseren Eindruck als die meist etwas heruntergekommenen Ostblockautos. Es dauerte nur Sekunden. Sie kletterte hinauf und probierte den Schlüssel. „Paßt“, sagte sie. „Der Kandidat hat drei Punkte.“ „Das ist er“, erklärte Urban. „Ladung?“ „Drei Container.“ „Wohin damit?“ „Zunächst nach Genf, dann durch die Schweiz und Österreich.“ „Und wie weiter?“ „Das erfährst du noch.“ „Inhalt der Seekisten?“ „Steht in den Frachtbriefen.“ „Und was ist wirklich in den Containern?“ „Was in den Papieren steht. Japanische Lust elektronik. CD-Spieler, Videoplayer, TV-Geräte, Stereotürme.“ Sie glaubte ihm kein Wort. „Eine Fahrerin mit BRD-Paß auf einem tsche chischen Lastzug, die holen mich doch bei der ersten Kontrolle vom Bock.“ „Papiere findest du in der Schlafkoje. Paß, Einfuhr-, Zollverschlußbestätigung, Wiegekarten. Die Plompen sind original, und in den Tanks sind neunhundert Liter Diesel. Fahr schön rechts.“ „Und wann soll es losgehen?“ „Jetzt“, entschied Urban. Sie schaute sich um. „Wo kann man hier mal Pipi machen?“ 96
„Unterwegs.“ „Und umziehen?“ „In der Schlafkoje.“ „Und du?“ „Ich bin dein Schatten“, sagte er. Er wartete, bis sie den Diesel angeworfen hatte. Sie ließ ihn warmlaufen, bis die schwarze Abgas fahne in helles Grau überging. Im Fahrerhaus studierte sie die Straßenkarte von Frankreich mit der vorgezeichneten Route. „Okay?“ „Okay und ciao!“ Sie setzte die Sonnenbrille auf, rangierte den schweren Camion vorwärts rückwärts aus der Lücke. Dabei beugte sie sich aus dem Fenster. Mit der linken Hand deutete sie einen militärischen Gruß an. Droben an der Ausfahrt verließ sie den Park platz, nahm die 360-Grad-Kurve, und als sie auf den Zubringer zur Autobahn nach Rouen einbog, hörte Urban, wie sie die Gänge hochschaltete.
Robert Urban, alias Telemark, dachte nicht im Traum daran, Bonny zu folgen. Er hatte Wichtige res zu tun. - Hauptsache, sie nahm an, daß er hinter ihr her war. Er fuhr zum Südhafen hinaus. Dort hatte er einen Raum in einem alten Schuppen gemietet. An langen Tischen arbeiteten für ihn sechs Algerier, die keine Fragen stellten. Sie konnten auch wenig falsch machen. Er hatte Tag und Nacht geschuftet, um die Arbeit vorzubereiten. 97
Es ging darum, Sachen auszupacken, umzupak ken und wieder einzupacken. - Wären es Äpfel gewesen, dann hätten sie diese großen Apfelkisten entnommen, der Größe nach sortiert, jeden Apfel poliert in einen hübschen Einzelkarton in Watte gelegt, den Karton verschlossen, verschnürt und als Geschenk fertiggemacht. - Aber es handelte sich nicht um Äpfel. Urban schaute den Männern eine Weile zu, überzeugte sich, daß sie keine gravierenden Fehler machten und wandte sich dann an einen Graukopf, den er für den Intelligentesten hielt und dem er Vorarbeiterlohn bezahlte. „Wie ging es, Lui?“ Lui hatte die Gitanes an der Lippe kleben. Sie war schon auf Fingernagellänge kurzgeraucht und gelb. „Es ging, Monsieur.“ „Ziemlich aufgearbeitet, he?“ „Ja, ziemlich aufgearbeitet, M'sieur.“ Es hatte Urban sofort für diesen Mann einge nommen, daß er kein überflüssiges Wort vergeu dete. Eigentlich beantwortete er jede Frage, indem er sie nur bejahte. „Bis zum Abend seid ihr fertig, Lui.“ „Oui, bis Abend sind wir fertig, M'sieur.“ „War ein guter Job, Lui.“ „War ein guter Job, M'sieur.“ „Brave Leute.“ „Sehr brave Leute, M'sieur.“ Doch nun ließ Lui sich zu einer eigenständigen Bemerkung hinreißen. „Sie sagten was von Prämie, M'sieur.“ „Fünfhundert Francs für jeden.“ „Fünfhundert Francs für jeden. Merci, M'sieur.“ 98
„Und Schnauze halten.“ „Schnauze halten, M'sieur.“ Jetzt wurde er sogar gesprächig: „Bis in Ewigkeit.“ „Nicht nötig. Eine Woche genügt, Lui.“ „Eine Woche genügt, D'accord, M'sieur.“ Urban prüfte, was sich auf dem letzten Tisch stapelte. Sie hatten Hunderte von Paketen ge macht. Gegen 18.00 Uhr ließ er die Hälfte in den Renault Lieferwagen laden, fuhr damit weg, kam nach einer Stunde wieder, übernahm den Rest und fuhr wieder weg. Als er zum letztenmal den Schuppen betrat, räumten sie schon auf. Bald herrschte säuberliche Ordnung. Urban verteilte die Umschläge mit der Prämie. „Bis zum nächstenmal, Leute.“ „Bis zum nächstenmal“, antwortete Lui. „Würde uns freuen, M'sieur.“ „Würde mich auch freuen“, sagte Urban, schon auf Luis Art. Er wußte, daß sie sich nie mehr sehen würden. Die Operation war, was Le Havre betraf, für ihn abgeschlossen.
Bei der ersten Tankstelle, wenn man vom Hafen in Richtung Zubringer fuhr, ließ Urban den Porsche tank bis zum Rand füllen. Die Imbißstube nebenan trug das Zeichen der Fernfahrerkneipen. Man speiste dort ausnahmslos gut, sofern man nicht ein Vier-Sterne-Restaurant als Maßstab setzte. Eher lag zuviel als zuwenig auf dem Teller, und der Wein war stets gepflegt. 99
Er bestellte Schnitzel mit Pommes. Dann telefo nierte er. Als er an den Tisch zurückkam, stand der Teller schon auf der Papierdecke. Das Schnitzel hing über den Rand. Auf den heißen Pommes warf das Fett noch Blasen. Er schaffte nur zwei Drittel, obwohl er einen anstrengenden Tag hinter sich hatte. Es ging auf 20.30 Uhr, als er zahlte und sich auf die Reise machte. Er fuhr über Rouen um Paris herum, immer nach Südosten. Nach 490 Kilometern, etwa bei Dijon, brauchte der Porsche Super und er einen Kaffee. Beide, der Wagen und er, schlürften ihre Portionen durstig Inzwischen war es null Uhr fünfzehn. Keine schlechte Zwischenzeit. Sie würde noch besser werden, denn ab Mitternacht schlief auf französi schen Autobahnen, selbst in der Nähe großer Städte, der Verkehr ein. Siebzig Minuten später war er in Lyon und fädelte sich in das Zubringergewirr in Richtung Genf. - Allmählich begann er zu rechnen. Für die Strecke Le Havre-Genf, etwa achthun dert Kilometer, benötigte ein flottfahrender Sattel zug mit Pause zwölf Stunden. Um 13.00 Uhr war Bonny losgefahren. Er mußte den Praga-Trans also unmittelbar vor sich haben. Urban richtete das Tempo so ein, daß er beim Überholen von Lastzügen jederzeit abbremsen und hinter ihnen bleiben konnte. Aber der schwere Skoda war nicht zu sehen. Die Autobahnschilder zeigten schon Genf und den Grenzübergang an. 100
An der Grenze beim Zoll standen nur ein paar Kühltransporter. Urban rollte durch. Drüben in der Schweiz hielt er im Dunkel zwischen zwei Peitschenlampen, stieg aus, steckte sich eine Gau loises an und schlenderte auf die andere Seite der vierspurigen Straße, wo die Lkw parkten. In der letzten Reihe, also ganz rechts, stand der Skoda mit der Praga-Trans-Beschriftung. Er war abgeschlossen. - Vielleicht lag Bonny in der Koje und schlief. Urban hangelte sich hinauf und wartete, bis das schräge Licht eines vorbeikommenden Fahrzeugs hereinfiel. Der Vorhang war offen, die Schlafkoje leer. Drüben in der Cafeteria sah er Bonny dann sitzen. Sie trank nur Kaffee und redete mit zwei Fernfahrern. Die Männer versuchten, mit ihr her umzumachen. Der eine grapschte ihr an den Busen. Sie schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht, und alle lachten. Sie warf Geld hin, verschwand auf die Toilette, kam heraus und atmete im Freien erst einmal die kühle Morgenluft. Dann faßte sie in die Tasche und hatte etwas in der Faust. Kleingeld. Sie zählte es durch und betrat die nächste Telefonzelle. Dort wählte sie eine ziemlich lange Nummer. Beim erstenmal bekam sie offenbar keine Verbin dung. Erst beim drittenmal kam sie durch. Sie redete ziemlich hektisch und fütterte den Automatenschlitz immer wieder mit Münzen. Urban verstand nicht, was sie sagte, nahm aber an, daß sie englisch sprach. Endlich hängte sie auf. Restgeld klapperte. Sie 101
fischte es heraus, steckte es ein. Dabei wirkte sie nachdenklich. Kein Wort von dem, was sie gesagt hatte, hatte Urban mitbekommen. Nicht einmal mit Lippenle sen war es möglich gewesen. Aber sie hatte eng lisch gesprochen, hatte ein Ferngespräch geführt, und vor allem hatte sie bis in die Schweiz damit gewartet. Über eines bestand für Urban nicht der geringste Zweifel, nämlich daß Bonny Wittman ihn verpfiff.
13. Auf dem Weg ins Verteidigungsministerium nahm der General den Genossen Ingenieur Manovsky mit. „Der Minister“, deutete der General an, „viel mehr seine Experten, möchten wissen, was die Container enthalten.“ Der Chef von Elektrograd, der staatlichen Im portfirma für Elektronik, klopfte auf seinen Hand koffer. „Hier sind die Listen.“ „Außerdem werden die Experten Spezifikatio nen verlangen, damit man jetzt schon die Vertei lung der Ware vornehmen kann.“ Wieder klopfte der Genosse Ingenieur auf seinen eleganten, in Paris gekauften Vuitton-Koffer. „Es ist zwar nur ein Tropfen in den Rachen des Verdurstenden, aber ohne den Inhalt dieser drei Container. . . wie heißt es doch so schön in dem Lied ... stehen alle Räder still.“ „Wenn mein starker Arm es will“, ergänzte Manovsky. 102
„Oder: Wenn dieser kleine Chip es will, stehen alle Rechner still.« Die Sache war zu ernst, als daß Manovsky, sonst gern ein Gefälligkeitslacher, den Scherz quittiert hatte. „Letzter Versuch also“, sagte er. „Wenn es diesmal nicht hinhaut, dann gute Nacht, Ni notschka.“ Der General räkelte sich in den Velourpolstern der ZIL-Limousine. „Dann Happt es nie mehr - während des laufenden Zehnjahresplanes.“ „Was dann?“ „Daran darf ich nicht denken.“ Der General riß wieder einen seiner verzweifelten Witze. „Werde ich auch gar nicht können, denn wer denkt noch ohne Kopf. Ohne Kopf, adieu, ihr Sorgen, habt mich gern bis mögen.“ „Wo“? fragte Manovsky, „and die Container jetzt?“ ,Zur Stunde unterwegs. Sie rollen.“ „Werden sie auch weiterrollen? Im Gegensatz zu Mohammeds Äußerung ist in unserem Falle nicht die Reise, sondern das Ziel wichtig.“ „Wir konnten den hervorragendsten internatio nalen Experten dafür gewinnen. Wenn es dieser Mann nicht schafft. . .“ „Dann?“ „Wie schon gesagt“, antwortete der General, „dann rollen Kopfe, und ohne Kopf keine Sorgen mehr. So hat Enthauptung auch etwas für sich.“ Die Limousine hielt sich auf dem Mittelstreifen der Tschernichevski-Straße und passierte die Ampeln bei Rot. Funktionärsfahrer bauten darauf, 103
daß ihre gepanzerten Dreitonner notfalls einem Bus standhielten. Der schwarze Sechsmeterwagen erreichte den Sverdlov-Platz und fuhr nun in Richtung KalininProspekt. Die Kremlmauern tauchten auf. „Schöner Tag“, beurteilte der Ingenieur die Gesamtwetterlage. „Bei mir“, gestand der General, „richtet sich die Schönheit eines Tages nach der Arbeit, die vor mir liegt. Fürchte, es wi rd ein häßlicher Tag heute.“ Sie begannen, sich abzustimmen. Es würde eine harte Runde werden. Man würde Vorwürfe erhe ben und diese hin und her schieben wie Schachfi guren, bis sie bei einem von ihnen Wirkung zeig ten. Er war dann der Schuldige und flog raus wie der letzte Bauer. Je besser man sich also auf die Diskussion einstellte, desto weniger lief man Gefahr, als Bauernopfer herhalten zu müssen. „Man kann uns nichts vorwerfen“, sagte der General, „aber man wird es versuchen.“ „Sie sind für die Verteilung verantwortlich“, bemerkte der Ingenieur, „und nicht für die Be schaffung.“ „Und Sie sind für den Kauf verantwortlich, Genosse Manovsky, nicht für den Transport.“ „Wer ist dann überhaupt verantwortlich?“ Der General fand die Lösung. „Ab jetzt dieser Mann, den wir für eine Million Goldrubel anheuerten.“ „Und wenn er versagt?“ „Der versagt schon nicht.“ „Wenn aber doch.“ Der General faßte sich an den Magen. Seine
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Magenschleimhaut reagierte schon seit Monaten nervös auf jede Aufregung. „Dann ist derjenige dran, der ihn angeworben hat.“ „Und wer ist das?“ „Die Geheimdienstleute in der Dzerzhinsky straße.“ Manovsky ließ nicht locker. „Wer brachte sie auf die Idee?“ Der General rief zum Fahrer, er solle sich beeilen. Dann steckte er sich eine Zigarette an, rauchte tief ein und wieder aus. „Scheiße! Ich gab dem KGB den Tip“, gestand er kleinlaut. Dann wird der KGB Ihnen den Schwarzen Peter zuschieben, falls es wieder danebengeht, wollte der Ingenieur sagen, aber er behielt es für sich. „Natürlich muß ich mich an Sie halten, Manovsky“ bedauerte der General. „Sie bestanden darauf, daß die Transportwege grundlegend verän dert werden. Oder nicht?“ „Verändert, ja“, wandte Manovsky ein«, aber nicht verschlechtert. Da bin ich wohl falsch ver standen worden.“ „Alles beruht auf Mißverständnissen, sagte der Bär, als er die Wespe aufgefressen hatte und den Geschmack von Honig vermißte.“ Der ZIL passierte das Kremltor, Eigentlich war es die Ausfahrt, aber Funktionärswagen benutzten meist die Ausfahrt als Einfahrt. Seit dem Attentat auf den Generalsekretär, das allerdings streng geheim gehalten worden war, hatte der Staatssi cherheitschef dies angeordnet.
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Neun Punkte der Tagesordnung waren abgehakt. Sie konnten binnen einer halben Stunde ohne Probleme erledigt werden. Die Mitglieder des siebenköpfigen Ausschusses wußten dann inzwischen über die Sache genau soviel wie der General und der Genosse Inge nieur. Nur einer von ihnen hatte noch eine Zu satzfrage. Diese kleinen Zusatzfragen fürchtete der Gene ral ebenso wie der Minister. Sie bargen meist eine Teufelei. „Kann man diesem Ex-BND-Agenten trauen?“ lautete die Anfrage. „So wie uns.“ „Kann man uns trauen?“ „Der Mann hat keine andere Wahl. Er wurde gefeuert und wird gejagt. Er brachte einen CIAAgenten um und fünf Millionen Dollar an sich. Wir fanden ihn. Er muß befürchten, daß auch andere ihn finden werden. CIA-Killer, Interpol. Es gibt zu viele Jäger. Und er wird nicht ewig auf der Flucht sein wollen. Wir boten ihm Ehre, Datscha, ein angenehmes Leben. Hin und wieder wird man seine Erfahrungen anzapfen, aber in der Union ist er sicher.“ „Denkt er.“ „Muß er wohl.“ „Und er spielt nicht falsch?“ „Er hat doch auf allen Geigen der Welt gespielt. Es gibt keine andere mehr als die russi sche. „ Der Minister fragte: „Wie sieht sein Plan im Detail aus?“ 106
„Er schickt einen Lastzug der Praga-Trans mit drei zollplombierten Containern durch Europa.“ ,,Davon wird die QA Wind kriegen.“ „Damit rechnet er wohl.“ „Nur eine falsche Spur also.“ „Eine von mehreren.“ „Und wie bringt er die Ware herüber?“ ,,Das ist sein Geheimnis.“ „Ich traue Geheimnissen nicht“, wandte der Vertreter des KGB-Chefs ein, „die nur im Kopf eines einzelnen aufgehoben and.“ Der General wiederholte, was er schon berichtet hatte. „Er will einen todsicheren Weg gefunden haben. Bringt man ein Klavier nicht komplett in den vierten Stock, so erklärte er mir, dann eben Taste für Taste.“ „Und wo setzte er das Klavier zusammen?“ Nun war es der KGB-Mann, der sich äußerte. „Er schlägt Polen vor.“ „Warum Polen?“ „Zumindest liegt es im Ostblockgebiet. Hat die Ware erst Polen erreicht, ist sie praktisch bei uns.“ „Wo in Polen?“ wollte ein Beamter des Trans portministeriums wissen. „Warschau oder so.“ „Diese verdammten Polen“, fluchte einer der Anwesenden. ,Auf die kann sich doch keiner verlassen.“ „Wenn es soweit ist, wird er uns um Schutz seiner Maßnahmen bitten. Wir gingen darauf ein. Den Ort der Übergabe wird er uns noch benennen. - Natürlich muß das alles auch in Polen streng geheim bleiben. Die Polen sind unsichere Kantoni 107
sten. Da verschwindet hier mal ein Güterzug mit Lebensmitteln, dort ein Lastzug mit strategisch wichtigem Material.“ „Eigentlich“, gestand der Minister, „mißfällt mir dieser Polenplan.“ Der General beruhigte ihn. „Wir haben in Polen unsere stärksten Garni sonen.“ Der Minister tupfte sich den Schweiß von der Stirn. „Sie wissen alle, warum mir Polen nicht sonder lich gefällt. Es gibt äußerst kritische Punkte, etwa in Galizien, die selbst wir so gut wie vergessen sollten. Es besteht ein Ukas, daß nicht einmal im engsten Kreis darüber gesprochen werden darf.“ „Hier geht es um Elektronik und nicht um ...“ Der General sprach nicht weiter. Jeder wußte, woran er dachte. Keiner sprach es aus. So hatte die Runde binnen weniger Minuten, nachdem man sich schon hatte trennen wollen, das heißeste Thema angerissen, das derzeit überhaupt existierte. Aber der Minister bog es ab. „Das gehört nicht hierher“, entschied er. „Wir wollen hoffen, daß es dem Genossen Mister Dyna mit gelingen möge, seine Verfolger zu täuschen. Sobald die Ware durch die Lücke ist, lassen wir den Eisernen Vorhang herunterrasseln. Natürlich hat der Mann meine volle Unterstützung.“ „Unsere auch“, erklärte der Vertreter des KGB. Dies aber auf eine Weise, die die Anwesenden fürchteten. So etwa hatte Josef Stalin getönt, als er zu Berija sagte: Du bist mein bester Freund. - Am nächsten Morgen hatte er ihn erschießen lassen.
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14.
Urban fühlte sich kaputt, als hätte er drei Monate wachgelegen. Er war dem Praga-Trans-Camion durch die Schweiz und am Nachmittag, als der Lastzug längst Zürich und St. Gallen hinter sich gebracht hatte, bis zum Grenzübergang Bregenz gefolgt. Dort reihte Bonny sich in die Schlange der War tenden. Es ging immer nur eine Wagenlänge weiter. Um 16.00 Uhr war der Ostblock-Lastzug endlich abge fertigt. Bonny rollte nun auf Österreichs Straßen. Urban hing hinter ihr. Es gab nichts Einschlä fernderes als mit einem Porsche Tempo neunzig halten zu müssen. Aber irgendwann, das wußte er, würde sich etwas ereignen. Bonny hielt sich genau an die vorgeschriebene Route. Sie nahm die Autobahn über Bludenz nach St. Anton. Urban bewunderte ihre Durchhaltefähigkeit. Sie hatte weniger Schlaf gehabt als er. Grob gerechnet war sie mindestens sechsunddreißig Stunden auf Achse. Und sie fuhr immer noch. Nun, er hatte sie gründlich abgecheckt. Sie war in Topform. Aber bald würde auch sie am Ende ihrer Kräfte sein. Wenn selbst er nur noch mit Pervitin die Augen offen behielt, dann mußte Bonny umgehend zu sammenbrechen . Noch vor dem Arlberg war sie offenbar soweit. Vielleicht war es auch der Nieselregen und die schlechte Sicht in der Dämmerung. Die Wagen 109
fuhren alle schon mit Licht. Die Blendung war jetzt besonders unangenehm. Noch vor dem Arlbergtunnel verlangsamte Bonny das Tempo und fuhr an einem Parkplatz heraus. Der Lastzug wurde bis zum Stillstand abgebremst. Sie ratschte die Handbremse an. Der Überdruck zischte aus den Bremsluftbehältern. Sie reduzierte die Beleuchtung auf Standlicht. Jetzt klettert sie in die Koje, vermutete Urban. Er rollte dicht auf, stellte den Motor ab und stieg aus. Eine Gauloises zwischen den Zähnen ging er am Sattelaufleger entlang, streckte sich, faßte zum Türgriff der Zugmaschine und riß die Tür auf. Bonny saß, nur noch mit T-Shirt und Slip bekleidet, im Schneidersitz auf der Fahrerseite. Sie hatte sich schon zum Schlafen fertig gemacht. Ihre Augen hatten dunkle Schatten und wirkten müde. Aber sie selbst schien hellwach zu sein. „Ah, der Meister taucht aus der Versenkung auf“, rief sie aufgekratzt. Urban schob sich neben sie. Als erstes nahm er die Tachographenscheibe aus dem Fahrtenschrei ber. Auf ihr war genau abzulesen, wie schnell sie gefahren war und wo sie angehalten hatte. Dazu die Uhrzeit. „Zufrieden?“ fragte sie spöttisch. „Eine halbe Portion wie ich gegen vierzig To nnen Eisen. Ganz guter Durchschnitt bis jetzt, oder?“ Er klemmte die Papierscheibe wieder in das Gehäuse und schloß die Klappe. „Du und eine halbe Portion. Wer's glaubt.“ „Ich würde sehr gerne schlafen.“ „Das steht dir zu nach so vielen Kilometern.“ Sie packte das T-Shirt unten am Saum und riß es 110
in einem Zug über den Kopf. Ihr nackter Busen hüpfte heraus. „Dann mach Platz, Meister.“ „Du kassierst den besten Stundenlohn der Welt“, bemerkte Urban. „Warum bist du so unzufrieden?“ Ihr Blick veränderte sich. Sie ließ die Lider ein wenig hängen. Ihre Lippen wölbten sich vor. Sie waren trocken und aufgerissen. Mit der Zunge gab sie ihnen Feuchtigkeit. Dann faßte sie sich vorn an den Schoß, um sich zu kraulen. „Ich brauche täglich mein Bad.“ „Morgen“, sagte er, „kriegst du alles.“ „Morgen“, wiederholte sie. „Nein, nicht morgen. Entweder du liebst mich jetzt, oder ich fahre keinen Kilometer mehr weiter.“ Er schaute sich um. Es gab keine durchgehende Polsterbank. Die zwei Sitze wurden von dem hereinragenden Motor und dem Getriebe getrennt. Und in die Koje paßten vielleicht zwei Liliputaner. „Wie stellst du dir das vor?“ „Heißt das, daß du im Prinzip dafür bist?“ „Etwa draußen im Freien?“ „Oder unter der Plane auf dem Anhänger“, höhnte sie. „Nein, da drin in der Koje. Eine Miefkiste zwar, aber ich mag's eng.“ Er grinste kopfschüttelnd. Sie mochte sein Lachen nicht. Aber er konnte nicht anders. Zugegeben, sie war reizvoll, aber er wollte noch nie von Psychologie gehört haben, wenn Sex der Grund für ihr Handeln war. Non, Monsieur, nie mals gab es nur Sex allein. Sie hatte noch andere Motive. „Zieh dich nackt aus“, verlangte sie. „Ich habe
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es nachgezählt. Enthäutete Sardinen passen zwei mehr in eine Dose als Sardinen mit Haut.“ „Ohne Kopf haben nochmal zwei Platz.“ „Den wirst du bei mir leicht verlieren, Darling.“ „Ohne Schwanz passen sogar noch vier in die Büchse.“ Er öffnete den Gürtel. Bonny hatte jetzt auch keinen Slip mehr an und kletterte vor ihm in die Koje. „Ohne Kopf genügt“, erklärte sie frivol.
Sie hatte übertrieben. Aber sie wußte es wohl nicht besser. Als Frau kannte sie nur sich selbst. Beim Einordnen ihrer Sexqualität wäre untere Mittelklasse übertrieben gewesen. Sie machte hef tige Turnübungen und fauchte wie eine Katze. Aber Sinnlichkeit pur, Leidenschaft, die alle Hemmungen überwand, hatte sie einfach nicht drauf. Nur Theater, dachte Urban. Dann fragte er sich, warum sie dieses Theater spielte. - Ihr Telefongespräch in der Schweiz fiel ihm ein, die Tatsache, daß sie schon immer als Polizeispitzel gearbeitet hatte und daß sie ziemlich geldgierig war. Kein Zweifel, sie lockte ihn in eine Falle, oder er saß schon drin. Endlich gab sie Ruhe. Sie glaubte, genug gelei stet zu haben, um als Bett-As zu gelten. Dabei hatte sie so falsche Karten benutzt wie beim Zocken in Hamburg. Nur noch schlechtere. Bonny lag an der Kojenwand, Urban vorn, eng aneinander und ein wenig verklebt. Er wartete, bis sie schlief. Dann drehte er sich um wie eine 112
Spindel. Wenn er den rechten Arm ausstreckte, konnte er quer durch die Fahrerkabine bis zur Sonnenblende fassen. Dahinter klemmten die Papiere. Er versuchte es. Ungefähr eine Finger länge fehlte noch. Er erwischte sie, ohne daß Bonny es merkte. Im Licht der 24-Volt-Lampe sichtete er die Papiere. Alles vollständig. Der falsche Paß, Tran sitvisum, Fahrzeugzulassung, Frachtbriefe, die Zolldokumente. Nichts fehlte. An den Rand eines DIN-A4-Dokumentes war eine Ziffer gekritzelt, so lang wie eine Telefonnummer nach Australien. Damit konnte er nichts anfangen. Urban steckte die Papiere wieder in das Fach und suchte nach der Karte. Sie steckte links innen in der Türtasche. Behutsam löste er sich von Bonny. Im Schlaf hörte er sie flüstern. „Was ist?“ „Zigaretten.“ „Mir ist kalt.“ „Ich mache das Fenster zu.“ „Ich habe Durst.“ „Ich auch.“ Schon hatte er die Karte. Er faltete sie auf und verfolgte die vorgezeichneten Wege bis zum Arl bergtunnel, dessen Eingang noch zwanzig Kilome ter im Osten lag. Nirgends eine Markierung, ein Kreuz oder ein Strich. Erst als er das Blatt schräg hielt, entdeckte er den Punkt. Er war farblos wie mit der Spitze eines leeren Kugelschreibers ins Papier gedrückt. Der Punkt befand sich vor Imst, nahe der Ausfahrt Schönwies. 113
„Im malerischen Inntal“, murmelte er. „Was hast du gesagt?“ „Nichts.“ „Bleibst du jetzt bei mir an Bord?“ fragte Bonny mit geschlossenen Augen, Halbschlaf vortäu schend. „Klar. Durch den Tunnel fahre ich den Treck.“ „Und dein Porsche?“ Sie dachte schon logisch, war also wacher, als sie zugab. „Den übernimmst du solange.“ „Fein. Lös mich ein paar Stunden ab auf dem Bock.“ „Bis Innsbruck. Okay?“ spielte er mit. „Wann geht es weiter?“ „Gleich.“ „Ich bin müde, so verdammt kaputt.“ „Frischgemacht hat das noch keinen. Nimm Kaffee. Ich habe eine Thermos im Wagen.“ Sie richtete sich auf, strich sich über die blonde Kurzhaarfrisur, gähnte, holte ein Bonbon aus einer Tüte und rieb sich die Augen. „Fertig“, sagte sie. „Klar zum ...“ Der seemännische Ausdruck Klar zum. bedeutete: bereit sein für alles Mögliche. Also war sie auch bereit für ein Ve rhör. „In Schönwies also“, stellte er fest. „In wo?“ fragte sie. „Und was dort?“ „Wartet die Polizei auf mich.“ Sie blinzelte. Es war wie eingeübt. „Was faselst du da?“ „Polizei oder Zoll.“ „He, spinnst du?“ 114
Er zeigte ihr den Punkt auf der Karte und die zwölfstellige Telefonnummer am Frachtbriefrand. Sie war jetzt völlig wach, zog den Slip an und schlüpfte in das T-Shirt, als fände sie darin Schutz vor ihm. Er packte ihr Kinn und fixierte ihre hellen Augen. „Du hast in der Schweiz telefoniert.“ „Man hat schließlich Familie.“ „Du und Familie. So was wie du wird bestenfalls durch Genkreuzung zwischen einer Kanaille und einem Bastard im Labor gezüchtet. Einmal Spitzel, immer Spitzel.“ Sie erblaßte. Nur ein paar hektische Flecken röteten ihre Wangen. Sie fühlte sich in die Enge getrieben und reagierte entsprechend. „Worauf willst du hinaus?“ „Ich weiß fast alles, Bonny.“ „Das ist doch nur die Ausgeburt deiner Fantasie, deines Mißtrauens, deiner schwachsinnigen Kom binationen.“ Er ließ sie los und lehnte sich zurück. „Was zahlen sie dir? Oder tust du es für die Ehre? Aber für welche Ehre, du kleine Nutte.“ Sie fühlte, daß seine Position stärker war und antwortete nicht mehr. „Du hast mich verpfiffen, Bonny. Gehört sich das?“ Sie nickte zornig. „Im Krieg ist alles erlaubt“, zischte sie. „Die Orgie vorhin sollte mir den Rest geben, mir den Rest an Verstand rauben. Aber das war bestenfalls eine Provinzoperette.“ „Du bist ein Hundesohn.“ 115
„Besser als auf einem giftigen Nährboden im Labor gezüchtet.“ Wütend ging sie auf ihn los. Dabei vergaß sie ihre Kenntnisse in Karate und Judo. Sie benutzte die Fingernägel, und weil er ihre Gelenke festhielt, die Zähne. Er ohrfeigte sie. Gebändigt saß sie da und fing zu heulen an. Plötzlich versuchte sie, mit einem Satz zu entkom men. Sie war schon halb aus der Tür, als er hinter ihr herhechtete und sie unter sich hatte. Er zog sie in die Fahrerkabine zurück und band ihre Handgelenke mit dem Gürtel aus ihrer Jeans zusammen. „Das war's dann wohl, Meister.“ „Noch lange nicht, Bonny.“ „Ich steige aus.“ „Erst wenn ich es erlaube.“ „Und wo wird das sein?“ „Wir fahren hin“, entschied er. „Hast du eine Zigarette?“ „Nein“, sagte er.
Urban holte zwei 20-Liter-Kanister voll Super aus dem Porsche, warf sie auf den Hänger und fuhr los. Er blieb nur noch bis zur nächsten Ausfahrt auf der Inntalautobahn. Vor Danöfen verließ er sie und nahm die alte Arlbergstraße. Um diese Stunde saßen die Feriengäste und Touristen meist beim Abendessen, so daß ihre Busse und Personenkraft wagen die schmale Straße nicht mehr verstopften. In der nächsten Ortschaft wurde der Ostzonen sattelzug zum Halten gezwungen. Mit Musikka 116
pelle, Pfarrer und Schützenverein zogen sie zur Ehre einer Heiligen um. Ein Tiroler in Lederhose und Gamsbart am Hut kam herüber und fragte: „Habt ihr euch verfahren?“ Urban nickte. „Wohin?“ „Imst.“ „Über den Paß dürfen Sie mit dem Ungetüm nicht.“ „Wie kommen wir wieder auf die Autobahn?“ „In Klösterle links ab, nein, rechts ab. Links kommen Sie nach zwei Kilometern in einen Stein bruch. Dort ist Schluß.“ Urban bedankte sich und nahm bei Klösterle die ungeteerte Straße, die in den Steinbruch führte. Dort angekommen, hatte der Praga-Trans seinen letzten Kilometer gefahren. Erst holte Urban Bonny heraus, bugsierte sie hinter einen Kalksteinbrocken in Deckung und band ihr die Füße zusammen, damit sie nicht weglaufen konnte. „Was hast du vor?“ fragte sie einigermaßen verwundert. „Was zu tun ist.“ „Und was, du verdammter Idiot, ist zu tun?“ „Was die CIA mit dem Fahrzeug und mit seiner Ladung auch gemacht hätte, ein Feuerchen.“ Er leerte die zwei Kanister Superbenzin über Anhänger und Zugmaschine. Wie immer war er einigermaßen professionell vorbereitet. Ein Streichholz anzünden und ins Benzin werfen ging da nicht. Das war zu gefährlich. Das Benzin verdampfte sofort. Die Explosion wäre gewaltig gewesen. 117
Urban hatte zwei von jenen Notraketen bei sich, wie sie zur Ausrüstung von Bergsteigern gehörten. Fingerlange, fünfmarkstückdicke Papphülsen. Zog man unten an einem Bändel, dann zischten oben die Raketen heraus. Sie stiegen hundertfünfzig Meter hoch und sprühten zu roten Signalsternen auseinander. Wenn man sie waagerecht hielt, war damit jeder Heuhaufen in Brand zu setzen. Erst recht eine benzingetränkte Lkw-Plane. Bonny sah ihn hantieren. „Ist das dein Ernst?“ „Mein vollster. Wenn schon, denn schon.“ „Und ich?“ „Du wirst irgendwann abgeholt. Vielleicht mor gen früh, wenn die Steinbrucharbeiter kommen oder wenn der erste Schnee fällt.“ Er holte die Signalpatronen heraus, visierte in Richtung Lastzug und zog ab. Die Rakete sprühte erst, dann heulte das Notsignal ins Freie. Die heiße Ladung streifte die Lastzugplane. Der Blow haute Urban fast um. Die Hitze des Feuerballs war noch auf fünfzig Meter Entfernung zu spüren. Ein Knallen, Knattern und Fauchen. Es dauerte nicht lange, dann kochten die Dieseltanks über, platzten und schürten das Feuer. - Allerdings wurde es jetzt rußschwarz. Als auch die Reifen brannten und explodierten und Urban sicher war, daß das Feuer auch von den Containern und ihrem Inhalt nichts anderes übrig ließen als geschmolzenes Plastik und ein paar elektronische Innereien, steckte er sich eine Gau loisesan. „Kann ich auch eine haben?“ fragte Bonny. „Wozu“, sagte er. „Rauchen ist ungesund.“ 118
Er ließ sie einfach sitzen und verließ den Stein bruch. Zum Glück war es so dunkel, daß man in der Ortschaft die schwarze Rauchwolke nicht sehen würde. In Klösterle nahm Urban ein Taxi und ließ sich zur Autobahn bringen. Gegen 23.00 Uhr erreichte er zu Fuß den Parkplatz, wo sein Porsche stand. Am Morgen hatte er zwischen sich und den verschmorten Lastzug mehrere hundert Kilometer gebracht. Allerdings war er jetzt so kaputt, als hätte er zehn Monate nicht geschlafen. Tief hinten im Bayerischen Wald nahe der Grenze zur CSSR nahm er in einem Gasthof ein Zimmer. Er fühlte sich überanstrengt. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte er hundertfünfzig Prozent Leistung gebracht. Da die Gefahr bestand, daß er mit Kopfschmerzen aufwachte, was er ganz und gar nicht gebrauchen konnte, nahm er zwei Thomapyrin. Er drückte sie aus der Folie schluckte sie mit Whisky aus der Reiseflasche. Noch mit der Zigarette im Mund schlief er ein.
15. Der nördliche Teil der Karpaten gehörte, soweit deren Gebirgszug auf polnischem Gebiet lag, schon immer zu Galizien. Das Klima dort war rauh. Heiß die Sommer, kalt die Winter, neblig die Herbste. Die Menschen galten, selbst für polnische Verhältnisse, als arm. Krakau war eine der bekannteren Städte. Nur eine 119
Autostunde Östlich davon verlief schon die Grenze zur Sowjetunion. An diesem Mittwoch stand der Leiter des Post amtes I von Krakau ratlos in der Halle, die er mit dem Hauptzollamt teilte. Die Halle quoll über von Paketen. Kaum eines war größer als ein Fernsehapparat, aber sie stapel ten sich schon bis zur Decke. Allerdings war die Halle nur drei Meter hoch. „Wie viele jetzt?“ wandte sich der Postamtsleiter an seinen Mann für grobe Arbeit. „Ziemlich viele.“ „Wieviele?“ „An die vierhundert bis heute.“ „Gewicht?“ „Gut fünf Tonnen. Avisiert sind noch mehr, Genosse Amtschef. Ungefähr ein Bahnwaggon voll.“ Der Amtsleiter las die Absender der Pakete im unteren Stapel. „Sie kommen aus Frankreich.“ „Ja, Le Havre.“ „Geschenkpakete?“ „Weiß nicht“, meinte sein Stellvertreter. „Die Namen der Empfänger klingen russisch.“ Jetzt versuchte der Amtschef - er war kurzsich tig -, die Adressen zu entziffern. „Leih mir deine Brille“, sagte er. Aber sie hatte nicht seine Stärke. Immerhin konnte er die Post leitzahl und den Ort entziffern. „Muß alles erst mal durch den Zoll.“ „Alles?“ „Vorschrift.“ „Aber, Genosse Vorstand“, gab der Inspektor zu 120
bedenken. „Sechshundert Pakete öffnen, durchse hen, wieder zumachen, da sitzen drei Mann eine Woche dran.“ „Vorschrift ist Vorschrift“, tat der Genosse Amtsleiter es ab. „Denkst du, ich lasse mir etwas anhängen?“ Schon im Weggehen begriffen, blieb er noch einmal stehen. „Die Empfänger sind Leute mit russischen Namen, wie mir scheint.“ „Die Postleitzahl gilt für Przemysl.“ Der Amtschef gab seinem Adlatus die Brille zurück. „Du mußt sie gelegentlich putzen“, sagte er. „In Przemysl sitzen die Russen. Zwischen Przemysl und der Grenze oben am Paß liegt doch ihre Garnison.“ „Ja, ein Depot der Vierten Ukrainischen Garde panzerdivision.“ Der Amtschef - er war vor zwanzig Jahren noch ein einfacher Briefträger gewesen, aber das Partei buch hatte ihn zum Amtsvorstand gemacht verfiel in Nachdenken. Das dauerte bei ihm meist etwas länger. „Wahrscheinlich keine Geschenkpakete für die darbende polnische Bevölkerung . . .“, setzte er an. „Ich würde ...“, riet sein Stellvertreter, ohne den Satz zu beenden. „Den Kommandanten der Russen fragen.“ „Oberst Sushikow.“ „Ich weiß, wie er heißt. Habe erst kürzlich mit ihm . . .“ Der Amtschef eilte in sein Büro. Er war Pole und Patriot. Er liebte die Russen nicht. Aber offiziell 121
waren die Russen ihre Brüder. Also hatte er sie zu lieben. Wer mit dem Russen gut konnte, der war immer fein heraus. Er bekam den Kommandeur der Garnison an den Apparat. Der Oberst war unfreundlich. „Wird höchste Zeit, daß Sie sich rühren, Ge nosse.“ Das war kein Lob, eher ein Vorwarf. „Ich habe Ihnen etwas zu melden.“ „Jetzt erst? Typisch polnische Schlamperei.“ „Ich gebe Ihnen einige Namen durch, Oberst Sushikow“, sagte der Postamtschef. „Wenn es sich um Soldaten Ihrer Garnison handelt, dann ver zichte ich auf eine zollamtliche Untersuchung der Pakete.“ „Sie werden sich hüten“, entgegnete der Oberst und hörte bei den Namen kaum hin. „Alles Solda ten in meinem Corps.“ „Na dann.“ „Was, na dann?“ „Wir haben hier einen Berg Pakete liegen und erwarten noch eine Ladung.“ „Ich hole sie ab“, entschied der Russe. „Wie schwer?“ „Fünf Tonnen ungefähr, aber sperrig.“ „Wie viele Lastwagen sind nötig?“ „Zwei, würde ich sagen, wenn die Transportflä che groß genug ist.“ „Warm kommt der Rest?“ „Er ist für heute abend angekündigt.“ Jetzt lenkte der russische Kommandeur ein. „Die Wagen stehen bei Ihnen um siebzehn Uhr im Ladehof. Und noch etwas Pisulzki, Sie sind 122
doch Pisulzki? Also Pisulzki, zu niemand ein Wort. Das alles ist militärische Geheimsache.“ Der Vorstand von Postamt I in Krakau verstand es zwar nicht, aber wenn ein russischer Oberst es behauptete, dann war das wie ein Wort Gottes. Er legte auf und bekreuzigte sich. Diese Pakete, mal größer, mal kleiner, was konnten sie enthalten? Pisulzki war neugierig. Außerdem war es immer wichtig, sich zu informie ren. Am besten, er riß sich eines der Pakete unter dm Nagel. In seinem Büro, das er vorsichtshalber abschloß, Öffnete er es. Er fand darin einen zweiten Karton und in ihm ein Ding, das aussah wie eine Schreib maschine, aber wohl zu diesem modernen Teufels gerät gehörte, das man Computer nannte. Bei der Post in Krakau hatte moderne Elektronik noch keinen Einzug gehalten. Man addierte und subtrahierte noch mit den bewährten polnischen Dorfrechenmaschinen. Das waren Holzrahmen mit steifen Drähten, in denen man bunte Kugeln hin und her, rauf und runter schob. Der Postchef hatte nicht nur keine Verwendung für Computer, son dern einen gewissen Horror davor. Also packte er das Ding wieder ein und brachte es in die Lager halle zurück. Es ging auf Mittag. In wenigen Stunden würde er das Zeug vom Hals haben. Die Prozedura lief zwar halbwegs an den Vorschriften vorbei, aber was tat man nicht alles für die sowjetischen Brüder. Außerdem war Planwirtschaft nur auf diese Weise in Schwung zu halten. Der Postchef kam sich jetzt ungeheuer wichtig vor. 123
Nur zwanzig Minuten zu spät, also ziemlich pünkt lich, rollten die dreiachsigen Geländewagen der Russen-Garnison in den Ladehof des Postamtes l in Krakau. Das Kommando bestand aus acht Mann, einem Unteroffizier und einem Offizier. Der junge Hauptmann ließ sich zum Amtsvorstand bringen, übergab ihm eine schriftliche Order und sagte nun „Vierte Ukrainische Gardepanzerdivision Prze mysl. Wir sollen die Paketladung übernehmen,“ „Wir stellen Ihnen ein paar Leute zum ver laden.“ „Danke, Genosse.“ „Bin froh, wenn die Halle wieder frei ist.“ Die schweren LKW rangierten rückwärts an die Rampe. Soldaten und Postarbeiter bildeten eine Kette. Normale Pakete gingen von Hand zu Hand wie Eimer beim löschen, einer mittelalter lichen Feuersbrunst. Die großen Kartons, von denen einige Kühlschrankformat hatten, wurden mit Sackkarren bewegt. Der Offizier sorgte dafür, daß sie jeweils hinten auf die Ladeprit sche kamen. Als der erste Wagen bis unter die Plane vollge stapelt war und in die Federn ging, kam der zweite an die Reihe. Der Hauptmann stand dabei. Für jedes Paket machte er auf einem Notizblatt einen Strich. Nach einer kurzen Pause - die Soldaten drehten sich ihre Papirossy, der Offizier rauchte eine Aktive aus einem blauen Päckchen - verluden sie weiter. Um 19.00 Uhr waren sie fast fertig. 124
„Jetzt noch die Pakete aus dem Waggon“, sagte der Postamtsleiter. Bald ging nichts mehr auf die Wagen. Die letzte Paketreihe wurde mit einem Transportnetz gesi chert. Der junge Hauptmann zählte zusammen und war nicht zufrieden. „Vier zu wenig“, stellte er fest. Er sprach kaum Polnisch und der Amtsvorstand wenig Russisch. Die Differenz konnte nicht geklärt werden. „Der lange Weg“, meinte der Pole. „Daran liegt es.“ „Das ist keine Entschuldigung.“ „Warum hat man die Pakete nicht in Container verpackt? Sie kommen von Le Havre und gehen allesamt zur vierten Division. Wäre am einfachsten gewesen.“ „Eben nicht“, befürchtete der Hauptmann. Er rauchte und bot auch dem Postchef eine Zigarette an. „Was sind das für welche?“ „Französische.“ „Ich bin sicher“, erklärte der Beamte, „daß die vier Pakete noch kommen. Es gibt immer Vorläufer und Nachläufer. Rufen Sie morgen oder übermor gen an, Genosse Hauptmann.“ „Rufen Sie bei uns an“, sagte der Offizier. Die Bordwände wurden hochgeklappt. Der Hauptmann gab das Zeichen zur Abfahrt und stieg in den ersten Lkw. Die Diesel sprangen an. Die Wagen rollten los. Der Postamtschef war froh, daß er sie loshatte.
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Während der langen Fahrt sprach der Hauptmann kaum ein Wort mit seinen Leuten. Die Kolonne nahm einen Umweg, denn die Straßen über Tarnow und Rzeszow waren bedeu tend besser. Sie hatten auch weniger Steigungen als die kürzere Verbindung durch die Karpaten ausläufer. Die Sonne duckte sich schon hinter die BergeAuf den letzten fünfzig Kilometern brauchten sie Licht. Die Soldaten sangen. Dem Hauptmann war nicht danach zumute. Außerdem verstand er die Texte in ukrainischem Dialekt nicht. Sie überquerten die San, einen vielfach gewundenen Fluß, der aus den Bergen kam. Bald tauchte die galizische Kreisstadt Przemysl auf. Abends, bei Windstille, hing über ihr eine Duft mischung von frischgegerbtem Leder und Säge mehl. Das kam von den vielen Gerbereien und Holzverarbeitern, die sich hier angesiedelt hatten. Die Kolonne rollte durch die Stadt und hielt sich dann nach Südosten. Die Straße wurde jetzt brei ter. Daneben liefen Eisenbahngleise. Straße und Gleis führten zur größten sowjetischen Militärbasis in Galizien. Nicht nur die vierte Gardepanzerdivision lag hier, sondern auch Artillerie, ein Transportge schwader der roten Luftwaffe und riesige Depots. Der ganze Südostraum von Polen, der CSSR bis Rumänien und Bulgarien hinunter wurde von hier aus mit Ersatzteilen, Waffen, Munition und Lebensmitteln versorgt. Auf Basis III gab es auch 126
ein Zentralkrankenhaus und Ausbildungswerk stätten. Die Verkehrsverbindungen zu dieser Basis waren früher schlecht gewesen. Sowjetische Pionierein heiten hatten jahrelang Straßen verbreitert, Brük ken verstärkt und Schienen legen müssen. Aber Basis in bot etwas, was keine andere in Osteuropa aufzuweisen hatte, nämlich atombombensichere Stollen. Vor hundert Jahren war in den Karpaten noch nach Silber gegraben worden. Die Russen hatten die kilometerlangen Stollen, Gänge, Tun nels und Kavernen ausbetoniert. Ganz in der Nähe lag auch ihre Operationsbasis West, ein Befehlszentrum für den Fall eines Krie ges mit der NATO. Derzeit wurde es nicht genutzt. Allerdings trafen jede Nacht, und das schon seit Wochen, Güterzüge aus allen Teilen des Ostblocks hier ein und wurden in den Stollen entladen. Deshalb war die Sicherheitsstufe erhöht worden. Durch den hohen Zaun, der jetzt neben Straße und Gleis herlief, kam angeblich keine Maus. Der Hauptmann betrachtete diesen Zaun nicht gerade mit Wohlgefallen. Er war doppelwandig, innen zwei Meter, außen drei Meter hoch. Oben liefen mehrere Reihen Messerdraht und zwei blanke Drähte. Der eine war stromführend, der andere diente als Sensor. Er registrierte jede Berührung des Zaunes, die stärker war als ein mittlerer Windhauch, und löste Alarm aus. Alle fünfhundert Meter ragte ein Betonturm in die Höhe. Oben verdickte er sich zu einer Platt form. Darauf waren Scheinwerfer und Maschinen gewehre montiert. In fünfzehn Minuten Abstand patrouillierten 127
Jeeps am Zaun entlang. Wie es hieß, hatten bei Tag und Nacht scharfe Bluthunde zwischen den Zäu nen freien Auslauf. - Auf diese Weise war das dreißig Quadratkilometer große Areal hervorra gend gesichert.
Der Fahrer des ersten Lastwagens verringerte sein Tempo. Sie hatten die Vorkontrolle erreicht. Der Unteroffizier zeigte sein Voucher. Die Sperre aus gerolltem Draht schwang motorgetrie ben auf. Am Haupttor ging es genauer zu. Ein Offizier der Wache zählte die Köpfe der Soldaten durch und verglich sie mit der Einsatzor der. Den Hauptmann grüßte er mit steinernem Gesicht Dann mußten noch die Planen hochgezogen werden. Ehe man sie durchließ, tastete man sie noch mit Spezialgeräten ab. Endlich bekamen sie freie Fahrt in die Basis III. Ein Jeep hatte sich vor sie gesetzt. Die Lastwagen folgten ihm etwa einen Kilometer durch die Kaser nenstraßen an Munitionsbunkern, Werkstätten und Lagerhallen vorbei, bis hinaus zum Flugfeld. Dort stand ein Hangartor offen. Im Hangar war nichts außer einem alten Kurierflugzeug. Aber man hatte Scheinwerfer aufgebaut. Ein hoher Offizier, eskortiert von der Stützpunktpolizei, wartete auf die Lieferung. Die Lkw hielten. Der Hauptmann stieg aus. Er trat vor den Oberst, salutierte und schnarrte die kurze Meldung. 128
„Danke“, sagte der Oberst. „Ist alles voll ständig?“ „Bis auf vier Pakete.“ „Transportverlust, he?“ „Die kommen noch.“ „Die können wir hoffentlich verschmerzen“, sagte der Oberst mit merkwürdigem Lächeln. Er flüsterte mit seinem Adjutanten. Dieser wandte sich an die stämmigen Soldaten der Mili tärpolizei. Sie sahen aus wie amerikanische MP. Sie trugen weiße Helme, weißes Koppelzeug, weiße Pfeifenschnüre, aber die kurzen russischen Kno belbecher-Stiefel. Die Militärpolizisten hatten Maschinenpistolen vor dem Bauch. Sie luden die Kalaschnikow durch. Im Marschschritt, wie bei Wachablösung, näherten sie sich dem jungen Hauptmann. Blitzschnell pack ten sie ihn an den Annen und entwaffneten ihn erst einmal. Der Hauptmann verstand die Prozedur nicht. „Sie sind festgenommen, Urban“, erklärte Oberst Sushikow. „Machen Sie Witze, oder was?“ „Festgenommen wegen unerlaubten Betretens des Sicherheitsbereiches.“ „Ich hatte Ihr Permit, Oberst“, entgegnete Urban. „Das muß eine Fälschung sein“, erwiderte der Oberst. „Sie sind außerdem festgenommen wegen unerlaubten Tragens einer Hauptmannsuniform der sowjetischen Streitkräfte.“ „Sie stammt aus Ihrer Kleiderkammer, Oberst Sushikow.“ 129
„Folglich haben Sie sie entwendet, um nicht zu sagen gestohlen.“ Urban versuchte, sich loszureißen, aber die Mili tärpolizisten, vermutlich Angehörige der sowjeti schen Gewichtheber-Olympiamannschaft, hatten Pranken wie Schraubstöcke. Urban protestierte. „Moment mal! Was wird hier gespielt?“ „Es ist Ihr Spiel, Mister Dynamit“, höhnte der Oberst Diese Russen, dachte Urban. Die müssen einen siebten Sinn entwickelt haben. Sie merken nicht nur, wenn man falsche Karten hat, sondern haben auch ihr eigenes Spiel gezinkt. Aber das ließ er sich nicht bieten.
„Kann ich mit Moskau telefonieren?“ forderte er.
„Ich habe soeben mit Moskau telefoniert“,
erklärte der Basiskommandeur. „Mit General Rispatin vom KGB?“ „Von Rispatin kommt die Order.“ „Was für eine Order, bitte?“ „Ihre Festnahme und Abtransport mit dem näch sten Flugzeug.“ Urban schaute sich um und hoffte, daß er sehr verblüfft wirkte. Er wirkte sogar wie in Panik und stieß russische Flüche aus. „Flugzeug wohin?“ „Sibirien“, antwortete der Oberst. „Wohin sonst?“ Er gab den Polizisten einen Wink. Urban bekam Handfesseln, ganz ordinäre Stahlachter, wurde in den Jeep gestoßen und etwa sechshundert Meter weiter zu einem Bunker gefahren. Es war zweifel los der Aufbewahrungsort für Soldaten, die sich 130
schwerster Vergehen gegen die Armee schuldig gemacht hatten. Der Kerkerraum maß etwa drei Meter im Qua drat. Er hatte ein vergittertes, schmales Oberlicht mit Luftklappe, eine tragbare Latrine sowie ein Drahtgestell mit Waschschüssel und Krug und ein sehr merkwürdiges Bett. Das Bett war gemauert. Die Wanne hatten sie mit Stroh aufgeschüttet. Darauf lagen zwei Dek ken. Sie stanken und hatten Löcher. Als Urban die Zelle betrat, ging die Lampe an. Sie verlosch nicht mehr bis zu der Stunde, in der er den Bunker verließ.
16. Ab Mitternacht herrschte auf Basis III Ruhe. Man vernahm nur noch die Schritte der Posten. Ab und zu sprang ein Sprechfunkgerät an, manchmal bellte ein Wachhund. Die Jeeps drehten ihre Run den, und die weißen Finger der Scheinwerfer schwenkten das Gelände ab. Im Hangar bei den zwei Lastwagen voll Elektro nik ging ein Sonderposten. Der Befehl aus Moskau lautete, die kostbare Fracht nicht eine Sekunde aus den Augen zu lassen, bis die Experten des Ministe riums sie überprüft, sortiert und übernommen hatten. Das konnte ein paar Tage dauern. Stur drehte der Posten in dem weiten Hangar seine Runde. Nur rotes licht brannte. Die Notlam pen ermüdeten. Noch zwei Stunden bis zur Ablö sung. 131
Plötzlich vernahm der Soldat ein Rascheln. Ratten, dachte er. Schon zweimal hatte er sich irritieren lassen. Er hatte seine Lampe angeknipst und die Biester wegspringen sehen. Gegen Ratten waren sie hier machtlos, ebenso wie gegen Flöhe. Das Rascheln hörte auf. Der Soldat ging weiter. - Wenig später ein Knacken. Aber auch das kannte er schon. Wieder eine Ratte. - Er drehte seine Runde schon halb im Schlaf. Er dachte an wer weiß was, hauptsächlich an sein Mädchen. Diese zwei Lastwagen waren ihm im Grunde scheißegal. Wie es hieß, stammten die Pakete aus Frankreich und waren voll mit Champagner, Cognac, Gänseleberpastete, Wein, Parfüm und lau ter Luxussachen. - Natürlich nicht für die Muschiks, nur für die Funktionäre in Moskau. Deshalb auch das Affentheater, als ob die Bonzen nicht schon genug hätten. Erst das Rascheln, dann das Knacken, dann ein Geräusch, als schneide sich einer mit der Schere den Bart ab. Das alles kümmerte ihn wenig. Von mir aus, dachte der Soldat. Die Ratten werden wohl auf den Spriegeln schaukeln. Die Tätigkeit eines Mannes, der sich in mühsa mer Arbeit aus einem der kühlschrankgroßen Kar tons befreite, drang nicht bis in seine Träume. Der Mann auf dem Lkw hatte sich Zeit gelassen, hatte jeden Handgriff überlegt. Trotzdem war es nicht möglich, lautlos bis an das Transportnetz zu kriechen, eine Masche zu vergrößern, sich hin durchzuwinden und auf den Beton herabzulassen. Der Mann warf sich flach neben die hintere Doppelachse, wartete und lauschte. 132
Bald war er sicher, daß der Posten jetzt bei der entferntesten Hallenecke war. Sein Schritt hörte sich gedämpft an. Auffedernd lief er hinüber zum Hangarbüro, einem Holzverschlag, und fand die Tür offen. Dort gab es eine Tür nach draußen. Das war ihm lieber so. Notfalls hätte er den Posten niedergeschlagen. Den aber hätten sie um zwei Uhr beim Wachwech sel gefunden, und sein Vorsprung hätte sich dra stisch verringert. Vielleicht soweit, daß die ganze hochkomplizierte Operation gescheitert wäre. Draußen schaute er sich um. Der Mond war verschwunden, aber im wandernden Scheinwerfer licht sah er den Bunker. Auch dort ging ein Posten seine Runde. Aber Außenposten wurden erst in vier Stunden abgelöst. Er schlich näher, duckte sich, wenn alle fünfzehn Sekunden der Scheinwerferstrahl vorbeiwischte, und richtete es so ein, daß er den Rücken des Soldaten vor sich hatte. Bis auf wenige Meter kam er an ihn heran. Dann geriet er mit dem Fuß in ein Erdloch. Er unter drückte den Fluch, aber sein Atem ging stoßartig. Der Soldat fuhr herum, sah ihn und wollte los schreien. Da packte der Mann aus dem Lkw ihn an der Gurgel. Er drückte zu und lockerte den Griff erst, als der Soldat ohne Besinnung war. Rasch verklebte er ihm den Mund und fesselte ihn. Die MPi ließ er ihm, nicht aber die Schlüssel. Damit sperrte er den Bunker auf und innen die Zellen. In der vierten fand er Urban. Keuchend blieb der CIA-Agent Bill Kolleck an der Wand stehen. 133
„Mann, erst die Reise im Karton und jetzt das. Ich bin total fertig.“ „Für einen Toten ist das eine prima Auferste hung“, flüsterte Urban. Kolleck bat um einen Schluck Wasser. Dann schaute er auf die Uhr. „Wie geht es dir, Bob?“ Urban hob seine gefesselten Hände. Kolleck fand am Ring den Schlüssel für die Handschellen. „Laß uns all die Schweinereien, die ich allein begehen mußte, nun gemeinsam beenden“, schlug Urban vor. „Wieviel Zeit bleibt uns?“ „Bis es hell wird, vier Stunden.“ „Wir sollten es hinter uns bringen.“ Kolleck wurde weich in den Beinen und mußte sich setzen. „Hast du eine Idee?“ „Ohne Jeep und Uniform geht nichts. Ich weiß, wo man beides kriegt. Aber wie wir jemals heraus kommen, wenn wir uns umgesehen haben, dafür habe ich kein Rezept. Bedaure.“ „Ich vielleicht schon“, sagte einer der besten Männer, die je für den CIA tätig gewesen waren, „Jedenfalls werden wir ganz schön zaubern müssen.“ „Wie bisher, seit meinem Bad in der Seine.“ Urban half ihm auf. Kolleck brauchte noch eine Minute. Er hatte einen Krampf im Unterschenkel. „Ich habe alles mit angehört“, erzählte der Amerikaner. „Den Schwulst von diesem Schwein von Oberst. Sind doch alle Hundesöhne, diese Russen.“ „Man paßt sich an“, bemerkte Urban. „Mann, wenn sie spitzkriegen, was wirklich los 134
ist, ich meine, wenn die Experten sehen, was für Schrott in den Liebesgabepaketen steckt - Compu ter aus dem letzten Jahrhundert -, dann landest du nicht nur in Sibirien. Dann verfrachten sie dich in einen ihrer berühmten Keller und verpassen dir eine Ledermaske mit einer runden Öffnung hinten für den Genickschußapparat. „Das“, erwiderte Urban, „wollten sie schon immer. Aber daß sie so rasch die Katze aus dem Sack ließen, damit war nicht zu rechnen. Das war töricht von ihnen.“ „Wird also nichts mit der Million Goldrubel.“ „So wenig wie mit den fünf Millionen CIADollars.“ Kolleck hatte den Wadenkrampf wegmassiert. Er hinkte noch ein wenig, aber dann folgte er Urban hinaus in die Nacht.
17. Schon zwei Stunden später wußten sie alles und hatten die Beweise, deretwegen diese hinterlistig ste aller Geheimoperationen unternommen worden war, im Kopf und auf Film. Aber sie hatten auch eine Meute von Jägern hinter sich. Des Teufels Greifkommando war die reinste Engelsschar gegen sie. Schuld daran war ein Stück Draht von zehn Zentimeter Länge. Nach Mitternacht lief noch alles glatt. Urban und Kolleck verließen den Bunker, nahmen dem Wachposten die Maschinenpistole ab und zogen ihn aus. 135
Kolleck streifte über seinen schwarzen Kom mandooverall Hose, Stiefel und Jacke des russi schen Obergefreiten zweiten Ranges. So marschier ten sie in Deckung der Hallen und des Hangars zur Fahrbereitschaft. Bei den Garagen brannte Licht. Tag und Nacht hielt ein Zeugmeister eine Reihe von Alarmfahr zeugen einsatzklar. Sie standen in einer separaten Garage mit geöffneten Toren. Es handelte sich um einen Panzerspähwagen, einen Mannschaftstrans porter, mehrere Jeeps und 1,5tonner. „Zwei Posten“, stellte Kolleck fest. „Einer schläft.“ „Und welches Fahrzeug beliebt uns?“ Urban überlegte und wog ab. Er trug noch immer die Hauptmannsuniform. Aber ohne drei fach gestempelte Papiere nutzte die wenig. „Im Jeep sitzt du wie auf einer Hollywoodschau kel“, befürchtete er. Damit traf Urban präzise Kollecks Gedanken. „Den Achtrader also.“ „Er hat MG und Panzerung, und schön martia lisch wirkt er auch.“ „Okay, dann den Spähwagen. Kannst du ihn fahren?“ Die Bundeswehr hatte sich einen davon besorgt und erprobt. Urban hatte ihn auf dem Truppen übungsplatz Grafenwöhr schon durch die Gegend gejagt „Das wäre das wenigste.“ „Aber?“ „Kein aber“, flüsterte Urban. „Du nimmst den Schläfer im Büro, ich den anderen.“ Sie trennten sich. Es ging fast lautlos. 136
Den Mechaniker Feldwebel erwischte Kollecks Narkose im Traum. Bei dem anderen klapperte nur die Maschinenpistole ein wenig, als er unter Urbans Handkantentreffer zu Boden ging. Sie schleiften beide in eine dunkle Ecke. Urban las das Kennzeichen des Spähwagens ab und fand im Spind den dazugehörigen Zünd schlüssel. Sie kletterten durch die offenen Luken. Urban tastete das Armaturenbrett vor dem Fahrersitz ab, fand den Hauptschalter und ließ an. Der Spähwa gen verfügte über einen relativ leisen Benzinmotor. Sie waren stärker als Diesel und vor allem besser zu dämpfen. Oben im Turm saß Kolleck auf einem breiten Lederriemen. Er klappte das Maschinengewehr auf, zog den Patronengurt ein und lud durch. „Fertig!“ Ohne Licht rollte Urban den Spähwagen aus der Garage in Richtung Flugplatz. Dort hielt er sich seitlich der Startbahn. Immer wieder erfaßte sie einer der Scheinwerfer. Aber die Russen schlugen keinen Alarm. Daß Spähwagen nachts die Startbahn entlangfuhren, gehörte offenbar zur Routine. „Du weißt wohin?“ vernahm Urban den Ameri kaner auf der Bordsprechanlage. „Ich war heute morgen im Büro des Komman deurs.“ ,,Da war die Welt noch in Ordnung, he?“ „Konnte mir den Lageplan von Basis III ein prägen.“ „Und wie gelangen wir in die Tunnels?“ 137
„Gibt zwei Wege. Über die Straße oder über die Bahngleise,“ Urban beschrieb Kolleck den Streckenverlauf. Die Straße führte über eine Brücke, die unmittel bar vor dem ausgehöhlten Berg eine Schlucht überspannte. Diese Brücke wurde auf der Bergseite hydraulisch hochgeklappt wie in der Ritterzeit die Zugbrücken. „Uns bleibt nur der Schienenweg.“ „Keine Sperre auf der Schiene?“ „Weiß ich nicht.“ „Und wie willst du die Karre auf die Gleise bringen?“ „Ein Rad zwischen den Schienen, das andere links davon.“ Kolleck war erfahren genug, um keine weiteren Fragen zu stellen. Falls ein Güterzug den Bahnweg versperrte, würden sie aussteigen und zu Fuß weitermachen. Aber hinein in den Berg mußten sie. Genau auf diesen wie ein Maulwurfhügel ausge höhlten Berg kam es an. Was sich in ihm befand, war eine der brennendsten Fragen, mit denen die NATO sich je befaßt hatte. „Alles deutet auf diesen Berg hin“, sagte Kol leck. „Warum“, fragte Urban, „glaubst du, hätte ich mich sonst auf solchen Wahnsinn eingelassen.“
Am Ende der zwei Kilometer langen Start- und Landebahn mündeten die Eisenbahngleise, gesi chert durch eine doppelte Torschleuse, in das Gelände von Basis III. 138
Urban lenkte den Spähpanzer die Böschung hoch auf die Schienen und schaltete die Lampen ein. Wenig später erfaßten sie ein rot-weißes Sche rengitter. - Die erste Sperre. Urban schaltete zurück und rollte langsam auf das Gitter zu. Unter dem Druck des stählernen Wagenbugs federte es scheppernd. Urban ging noch einen Gang weiter zurück. In dieser Fahrstufe kroch der Achtradpanzer nur noch. Er gab mehr Gas. Der Motor drehte kaum hörbar schneller. Etwas schien den Wagen aufzu halten. Die Räder schliffen im Kies. Dann ein Krachen, ein Ruck. - Das Gitter war links aus der Halterung gefetzt. Der Spähwagen deformierte es unter seinen Rädern. Urban hielt an. Oben stieg Kolleck aus der Luke und lauschte. „Noch still. - Gefällt mir nicht.“ ,Mir schon“, äußerte Urban. „Es gibt keinen lautlosen Alarm. Noch sind sie ahnungslos.“ Er fuhr weiter. Die Schwellen schüttelten sie durch wie Wellblech. Nach etwa 1200 Metern und einer weiten Kurve tauchte die Brücke auf. Sie war aus Stahl mit stählernen Spannbögen. Tief unten in der Schlucht rauschte der Fluß. Sie rollten über die Brücke. Dahinter ging es steil aufwärts. In der Mitte zwischen den Schienen verlief jetzt eine Zahnstange. Die Steigung war so, daß die Rangierlok Zahnräder für den Vortrieb brauchten, um die Züge in den Berg zu bugsieren. Beiderseits der Schienen wucherte Buschwerk, bis Betonwände die Tunneleinfahrt ankündigten. Urban bremste. Wieder lauschte Kolleck. „Noch nichts. Die pennen.“ 139
„Laß sie.“ Urban rollte durch das Tunnelloch in den ausgekernten Berg, jeden Augenblick darauf gefaßt, daß ihre Fahrt gestoppt wurde. Sie passierten die Flügel eines massiv eisernen Tores, die zur Seite geklappt waren, als warte man auf sie. Allmählich erfaßte Urban ein Gefühl von Span nung und Neugierde. Am Ende der weiten Links kurve schimmerte ein rotes Signal. Ein Licht, wie es Züge am Schlußwagen führten. Etwa 300 Meter tief im Berg stand ein Güterzug. Sie berieten sich. Urban stellte das Fahrzeug auf die zweite Lenkung um. Der Spähwagen war rückwärts ebenso zu fahren wie vorwärts. Er hatte auch zwei Fahrersitze, einen vorn, einen hinten. „Licht aus! Da kommt einer.“ Aber nur ein Schatten hatte sie irritiert. Urban stellte den Motor ab. Sie kletterten heraus und schlichen zwischen den Waggons und der grobbehauenen Felswand weiter hinein in den Stollen, Die hinteren Waggons, alles Tieflader, waren bereits entladen. Vorne werkelten sie noch. Im Licht von Halogenstrahlern war eine Mannschaft dabei, röhrenförmige Gegenstände mit schweren Greifern von den Waggons zu heben. In etwa fünf Meter Höhe drehten sie die Dinger um 90 Grad und fuhren sie mit einer elektrischen Laufkatze, die an einer Deckenschiene hing, nach Norden weg. Das Hebezeug hatte die Dimension für Schwerstgüter. Urban nahm an, daß sie damit auch T-72-Panzer entladen konnten. Die Ketten und Stahltrossen hielten mindestens fünfzig Tonnen aus. 140
Die Entladung war mit starken Geräuschen verbunden. Die Hebezeuge klirrten, Ketten rassel ten, Motoren sprangen an und blieben stehen. Die Mannschaft verständigte sich per Handzeichen, durch Zurufe, aber auch über Sprechfunk. Alle trugen Schutzhelme. Manche von ihnen sogar Atemmasken. Da Urban und Kolleck uniformiert waren, fielen sie nicht weiter auf. Rechts führte ein Gang weg. Sie eilten hinein und liefen entlang bis zu einer eisernen Treppe. Ein Soldat im Overall kam links aus dem Lift. Zigarette im Mundwinkel, grüßte er lässig. Der Soldat verschwand, und sie standen vor einer Tür. Sie war aus Stahl wie auf einem Schiff. Sie öffneten das Schott. Der Lärm von Lüfter turbinen schlug auf ihre Ohren und Überdruck auf ihre Trommelfelle. Sie traten auf eine Galerie, die um eine halbkugelartige Höhle von ungewöhnli chen Abmessungen herumführte. Urban schätzte, daß der Kölner Dom darin Platz gefunden hätte. Weiter oben, fast an der Kuppel, gab es noch eine Galerie. Sie bot einen besseren Überblick über das, was sich am Grund der Halle abspielte. Sie stiegen also im Treppenhaus hoch und traten an der letzten Tür wieder auf die Galerie hinaus. Da die Scheinwerferbatterien, die das ganze taghell beleuchteten, jetzt unter ihnen waren, stan den sie wie in einer Deckung. Sie konnten sich also Zeit lassen. „Mann!“ Kolleck fehlten nahezu die Worte. „Das war's dann wohl.“ Den Boden der Halle, groß wie zwei Fußballfel der, füllten säuberlich gestapelte Röhren aus. Röh ren, wie die auf dem Güterzug. Eben fuhr am 141
Laufkran eine neue herein. Sie mochte siebzehn Meter lang und zwei Meter dick sein. Hinten war sie stumpf, denn dort saß eine Art Deckel darauf. Vorne hingegen lief die Röhre spitz zu. „Wir wußten es ja“, keuchte Kolleck. „SS-20-Raketen. Hier bunkern sie die also.“ „Die sie uns verschwiegen.“ „Wie viele schätzt du?“ „So an die sechshundert Stück.“ „Damit kannst du Europa und die umliegenden Ortschaften pulverisieren.“ „Sie haben doppelt so viele, wie sie auflisten.“ „Was sie verschrotten, ist ohnehin der Ausschuß. Hier liegen die neuesten Modelle, denen man die Macken abgewöhnt hat.“ „Wir hatten also recht. Unsere Satellitenauswer tung traf ins Schwarze. Nur will es keiner glauben, daß der Russe uns so bescheißt. Nun haben wir den Beweis.“ „Noch nicht.“ Urban holte die Minox aus der inneren Uniformtasche und knipste den Film durch. „Aber jetzt.“ Sie machten auch einige Aufnahmen mit Kolleck im Profil und seiner Uhr, als Zeit- und Datumsbe stätigung. „Einige Gentlemen in Washington werden stau nen“, sagte der Amerikaner. „Wieder andere wer den triumphieren.“ „Und wir werden sehen, daß wir wegkommen“, riet Urban. „Sonst gibt es in Washington weder das eine noch das andere.“ In einer Stunde wurde es hell, und zwischen hier und den ersten Quadratmetern westlichen Bodens lagen siebenhundert Kilometer. 142
Doch erst mußten sie heraus aus dem Berg. Dann über den Berg. „Was“, fragte Urban, „habt ihr für unsere Flucht organisiert?“ „Wie heißt der Paß da oben?“ „Dukla-Paß“, erinnerte sich Urban. „Da müssen wir hin“, erklärte Kolleck. „Dort warten sie.“ In der Tiefe, ungefähr sechzig Meter unter ihnen, liefen die Arbeiten routinemäßig und ohne Störung weiter. Niemand ahnte von ihrer Anwesenheit. Und noch war keiner hinter ihnen her. Sie verließen die Galerie, wo sich Wärme und Treibstoffdunst gesammelt hatten, und atmeten die frische Luft im Treppenhaus. Kolleck zog die Tür zu. Er hatte das Drahtende zwar gesehen, sich aber nichts dabei gedacht. Erst als die Tür zuschlug und Sekunden später die Sirenen heulten, wußte er, daß er Alarm ausgelöst hatte.
Unter ihnen im Tunnel, im ganzen Berg und an den Zufahrten war jetzt die Hölle los. Dieser Flucht weg schied also aus. Also nahmen sie den Lift, aus dem der Soldat getreten war. Die Kabine war unterwegs, kam aber auf Knopfdruck herauf. Kaum war sie eingerastet, zogen sie die Tür auf. Es handelte sich um einen Lastenaufzug. In den Korb paßte ein Zug Soldaten. Urban drückte den Knopf für aufwärts. Die Lichtleiste blinkte auf die Ziffer sechs. Aber es gab noch weitere neunzehn. 143
Fünfundzwanzig Stockwerke insgesamt. Urban rechnete. „Etage sechs liegt ungefähr auf siebzig Meter. Dann sind fünfundzwanzig Etagen wie hoch?“ „Rund dreihundert Meter.“ „Vom Tunnel bis zum Gipfel.“ Der Lift ließ sich Zeit und rüttelte in den Führungen. Einmal ging das Licht aus und wieder an. Im Siebzehnten hielt der Lift plötzlich. Urban haute auf die Knöpfe. Die Kabine zog wieder an. „Oben erwischen sie uns“, fürchtete Kolleck. „Wir müssen eine Etage vorher heraus.“ Urban drückte auf 24 und hoffte, die Steueran lage würde den Befehl annehmen. Sie tat es. Mit der Pistole im Anschlag rissen die die Tür auf. Eiskalte Luft und das Grau der Morgendäm merung empfing sie. Ein Streifen von rosa Licht glänzte über den Bergketten im Osten. Erst sicherten sie nach allen Seiten. Über ihnen lag nur noch die Gipfelstation, daneben ein Radar dom. Die Antennenspitzen verschwanden im Dunst. In der Tiefe war die Landebahn von Basis u! auszumachen. Nach oben führte eine schmale Betontreppe. „Nichts wie weg“, riet Kolleck Da sah Urban den Jeep. Die Leute hier oben hatten offenbar noch andere Aufgaben, als nur das Wetter zu beobachten. - Sie verständigten sich kurz. Kolleck nahm die Treppe, Urban die Steigeisen seitlich vom Liftschacht, dort, wo er aus dem Granit ragte und oben das Fundament der Bergsta tion bildete. 144
Hand über Hand kletterte Urban so weit, bis er Kolleck auf der anderen Seite auftauchen sah. Die Station war ein achteckiges Gebäude mit acht Fenstern. Oben ragten Antennen in den Him mel und eine Fahne, rot mit Hammer und Sichel. Geduckt schlichen sie weiter. Unbemerkt kamen sie bis zur Stationsmauer. Die Scheiben waren beschlagen, die Tür offen. Urban hörte ein Telefon schrillen. Ein Mann nahm ab und rief mehrmals Da! Da! Er hatte also verstanden. - Gewiß hatten sie ihm den Alarm durchgegeben. Sogleich riß er einen Karabiner aus dem Gewehrständer, setzte seinen Stahlhelm auf und trat ins Freie, Urban sprang ihn von hinten an und brachte ihn mit einem Spezialgriff zum schweigen. Auch Kolleck war zur Stelle. Er trat in den überheizten Raum der Station und studierte die Karte. Vom Gipfel führte ein Weg zum Radardom. Von dort schlängelte er sich zwischen Felsen in südwestlicher Richtung talwärts. „Der Dukla-Paß!“ Kolleck deutete auf einen Punkt. Das Telefon schrillte wieder. Sie hoben nicht ab. Der Schlüssel im Jeep steckte. Der Anlasser drehte wegen der Kälte recht mühsam, aber der Motor sprang an. Sie fuhren los. Der Jeep fiel in Schlaglöcher, sprang über die Bodenwellen auf das Radargebäude zu und an ihm vorbei. Im selben Moment schwang dort die Tür auf. Ein Soldat legte auf sie an und schoß. Er feuerte ein MPi-Magazin hinter ihnen her. Zum Glück schleuderte der Jeep stark, so daß er nur ins Blech traf. 145
Aber eines war klar. Ab sofort waren mindestens hundert Mann hinter ihnen her. Sie fuhren den Jeep, bis der Tank leer war, was im schweren Gelände ziemlich schnell ging. Dann soffen Geländewagenmotoren bis zu dreißig Liter. Die Sonne stand jetzt hoch über den westlichen Karpatenbergen. Der Dukla-Paß war ohne Fern glas auszumachen. „Der Jeep muß weg“, entschied Urban. „Sie werden mit Hubschraubern kommen.“ Sie schütteten zehn Liter aus dem Reservekani ster in den Tank. Als der Dukla-Paß noch etwa drei Kilometer Luftlinie entfernt war, sprangen sie ab. Der Jeep stürzte, sich überschlagend, ein Geröllfeld hinunter in ein trockenes Bachbett. Er kam so auf, daß das Buschwerk am Bachrand ihn tarnte. Zu Fuß flohen sie weiter. Noch war der Dukla-Paß offen. Man hatte ihn bis jetzt nicht gesperrt. Vermutlich deshalb, weil er eine wichtige Verbindungsstraße zur CSSR hin über darstellte. Ständig kamen Lastwagen und Busse durch und mehr Motorräder als Personen wagen. Gegen 10.30 Uhr hatten sie die vorletzte Serpen tine erreicht und lagen etwa fünfzig Meter seitlich der Straße zwischen Kalksteinen in einer Boden welle. „Hast du den Film?“ fragte Kolleck. , Ja, aber keine Zigaretten mehr.“ „Meine Leute werden uns versorgen.“ Urban verstand nicht, woher Kolleck diese Zuversicht nahm. „Was sind das für Leute? Aus eurem Ostnetz?“ 146
„Wir haben kein Netz hier. Das überließen wir immer dem BND.“ ,,Der hat leider auch keines.“ Kolleck erläuterte ihm, was sie organisiert hatten. In der Ukraine fanden gerade die Sommermanö ver statt. Nach den neuesten Abkommen durften daran auch Beobachter der NATO teilnehmen. Die Manöver waren vor vier Tagen zu Ende gegangen. Die amerikanische Militärkommission würde auf der Rückfahrt den Dukla-Paß nehmen. „Ausgerechnet heute?“ „Warum nicht. Es war ausgerechnet gestern, als ich dich aus dem Bunker holte, - Bis jetzt lief alles nach Plan. Warum sollten sie nicht ausgerechnet heute vorbeikommen, wenn es so vereinbart wurde?“ „Weil inzwischen eine andere Situation eingetre ten ist.“ Sie warteten. Allmählich wurde es ungemütlich. Immer mehr Hubschrauber und langsame Aufklä rungsflugzeuge tauchten auf. Unter die Zivilfahr zeuge, die den Paß überquerten, mischte sich Militär und Polizei. „Es geht los“, sagte Kolleck. „Ist schon losgegangen“, flüchtete Urban. „Unsere Leute haben eine gewisse Imunität. Ihre Wagen dürfen nicht kontrolliert werden.“ „Womit fahren sie?“ „Mit Chevrolet-Combis, natogrün.“ Bis Mittag war kein Chevrolet zu sehen, und in den ersten Nachmittagsstunden tauchte auch kei ner auf. Dafür karrten die Russen Soldaten auf den Dukla-Paß und sperrten ihn. Kompanieweise 147
schwärmten sie aus und suchten das Gelände beiderseits des Passes ab. Bald war abzusehen, wann man sie finden würde, wenn sie hier sitzen blieben. „Deine Chevrolets kannst du vergessen“, sagte Urban. Sie wechselten die Stellung. Sie robbten bis zu einem Wäldchen und arbeiteten sich durch eine Steilrinne auf die Grenze der CSSR zu. Schlagartig wurde es ringsum in den Karpaten finster. Ein Gewitter brach los. Es dauerte ziemlich lange. Als es abzog, kam die Dunkelheit. Das rettete sie noch einmal, denn inzwischen wurden sie von mindestens einer Armee gejagt.
Sie marschierten bei Nacht und versteckten sich bei Tag. Drüben in einem Dorf in der CSSR besorgten sie sich Zivilanzüge. Der Altwarenhänd ler verbrannte ihre russischen Uniformen. Urban zahlte mit einer Goldmünze aus seiner Reserve im Gürtel. „Ein Wort, zu wem auch immer, und du brätst in der Hölle“, warnte Urban ihn. „Wie werde ich“, beteuerte der alte Mann und biß auf die Münze, um ihre Echtheit zu prüfen. „Goldbesitz ist hier verboten.“ Sie marschierten die Nächte hindurch bis Barde jov, immer abseits der Straßen. Einmal hielten sie einen Lkw an. Der nahm sie sechzig Kilometer mit. Dann wieder hörten sie eine Lokomotive pfeifen. Sie erklommen den Bahndamm und spran 148
gen auf einen Güterzug. Der fuhr die ganze Nacht hindurch und blieb in Parduwitz stehen. „Noch siebzig Kilometer bis Prag“, schätzte Kolleck Polizisten kamen mit Hunden und riegelten das ganze Bahnhofsgebäude ab. Sie krochen in einen Kasten, in dem man das Salz lagerte, mit dem man im Winter die Weichen auftaute. Hundenasen mochten kein Salz. Die Streifen gingen weiter. So gelang es ihnen, in die Stadt zu kommen. Dort tauchten sie für eine Weile unter. Sie kauften Brot mit den Kronen, die ihnen der Trödler für eine zweite Goldmünze gewechselt hatte, dazu Wurst und Bier. Beim Essen hatte Urban eine Idee. „Was hältst du von einem Taxi nach Prag?“ fragte er Kolleck. „In New York eine Menge, aber muß es denn Prag sein?“ „Ich habe eine Anlaufadresse dort. Wenn wir erst in Prag sind ...“ „Und wenn sie immer noch kontrollieren.“ „Okay, wir haben uns nicht in Luft aufgelöst“, räumte Urban ein, „aber das ist drei Tage und vierhundert Kilometer östlich von hier gewesen. Und der Tscheche ist kein Russe.“ Sie riskierten es. Über den Preis wurden sie schnell einig. Aber der Taxifahrer fragte: „Nur Kronen?“ „Wie war's mit Dollar“, schlug Kolleck vor. Er hatte eine eiserne Reserve im Gürtel. Der Fahrer ließ an und fuhr los. 149
Kolleck gab ihm erst einen Zehner. Eine Menge Devisen, für die ein Tscheche wer weiß was tat. „Den Rest in Prag.“ „Am Wenzelplatz“, ergänzte Urban. „Und noch etwas. Wir haben etwas gegen die Polizei. Wenn Sie uns kriegen, sind wir alle dran. Sie auch, weil Sie uns fahren und Dollar nahmen. Also nochmal zwanzig, wenn wir heil in Prag ankommen.“ „Sie werden zufrieden sein, Gentlemen“, ver sprach der Fahrer in dürftigem Englisch. Er benutzte Nebenstraßen. Sie begegneten auf fallend vielen Polizeifahrzeugen, wurden aber nicht angehalten. In Prag betraten sie ein Cafe. Urban telefonierte ohne Erfolg. Er versuchte es immer wieder. Um 19.00 Uhr gab er auf. ,,Die Station gibt keine Antwort“, bedauerte er. „Funkverkehr eingestellt.“ „Oder sie wurde verlassen.“ „Dann ist sie aufgeflogen.“ „Kann schon sein.“ Leise fluchend, leerte Urban sein Pils. „Wie weit noch bis Bayern?“ „Ich kenne den Weg. Er ist nicht lang, aber er hat es in sich.“ Sie gingen hinaus und mischten sich unter die Menschen in der Stadt wie Fische, die im Wasser keine Spuren hinterlassen. Aber eines stand fest: Inzwischen war der ganze Ostblock hinter ihnen her.
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Agenten wie Bill Kolleck und Robert Urban, die sich mit infamen Tricks Zugang zu den geheimsten Waffenkammern der Russen verschafft hatten, konnte das nicht genug sein. Sie wollten ihre Beweise auch in Sicherheit bringen. Sie schafften es bis in den Böhmerwald, bis Zelezna Ruda, und noch ein Stück. Erst frech mit dem Bus, dann auf dem Fuhrwerk eines Bauern, der seine Felder nahe der Grenze zu bestellen hatte. Ohne daß sie ein Wort darüber verloren, las der Bauer von ihren Gesichtern, was sie vorhatten. ,,Du bist Amerikaner“, sagte er zu Urban. „Nein, er.“ Urban deutete auf Kolleck. „Ist egal. Früher kam man leichter hinüber. Jetzt haben sie dichtgemacht. Aber eine Chance habt ihr.“ „Sie ist uns ein Goldstück wert.“ „Gefüllt mit Schokolade?“ zweifelte der Land mann. Urban nannte eine Münze, die noch immer einen guten Klang hatte. „Mariatheresiataler.“ Die müden Augen des abgearbeiteten Bauern bekamen Glanz, als er das Goldstück in der Hand hielt „Dafür bekomme ich vier Treckerreifen“, sagte er. „Eure Chance sind die Langholzfuhrwerke. Hier geht der ganze Wald kaputt. Sie schlagen die Bäume und verscherbeln sie spottbillig nach Bay ern. Die Bayern holen sie mit ihren Mercedesfuhr werken ab.“ 151
Die Hoffnung, daß es klappen könnte, wuchs in ihnen. Vielleicht wuchs sie zu schnell. Der Bauer nahm sie auf seinem Odelfaß mit zu seinen Feldern. Dort deutete er nach Süden, wo der dunkle Hochwald stand. „Hört ihr was?“ Sie vernahmen das Schlagen von Äxten und das Kreischen von Kettensägen. Der Bauer fuhr den Jauchewagen bis nahe an den Waldrand. Sie sprangen ab. Als der Bauer sich umschaute, waren sie bereits weggetaucht. Wie Indianer näherten sie sich dem Camp der Waldarbeiter. Die einen fällten Bäume und asteten sie ab. Andere entrindeten sie mit der Axt. Es gab Maschinen dafür, aber die CSSR hatte keine Devi sen, und Handarbeit war billig. Ein Feuer rauchte. Die Holzfäller machten Pause und füllten ihre Kochgeschirre aus einem Topf. Kolleck und Urban hielten sich seitlich im Unter holz. Weiter unten im Hohlweg standen die schwe ren Langholzlastwagen. Mit hydraulischen Grei fern luden sie die Stämme auf. „Scheiße!“ Kolleck meinte damit die Soldaten. Sie waren schwer bewaffnet. „Und Hunde auch noch“, flüsterte Urban. Sie beschlossen, die Langholzfuhrwerke unter wegs anzuhalten. Aber die Wagen fuhren unter Bewachung bis zu den Übergängen. Immerhin zeigten die tiefen Spuren den kürzesten Weg. Am Rand einer Lichtung deutete Kolleck auf einen Berg, der sich im Westen abzeichnete. „Der Arber“, sagte Urban. „Schon drüben?“ „Ja, schon jenseits.“ 152
Aber zwischen dem Arber und ihnen verlief die Grenze mit Stacheldraht, Wachtürmen, Patrouillen und Minenfeldern. Je näher sie der Grenze kamen, desto vorsichtiger verhielten sie sich. Jeder knak kende Ast ließ sie erstarren. Der nächste Wachturm stand zweihundert Meter entfernt. Nur ein halber Kilometer trennte sie noch vom Westen. Im Dickicht arbeiteten sie sich noch ein gutes Stück weiter. Aber sie brauchten dazu eine Stunde. Ungeduldig flüsterte Kolleck: „Durchbruch!“ „Kannst du rennen wie ein Hase?“ „Wenn nicht ich, wer dann?“ Sie warteten. Nichts war zu hören. Stille im Wald. Kreischend kreisten ein paar Raben. In der Ferne brummten die Langholzdiesel. Auf Handzeichen rannten sie los. Durch den Wald und in wildem Zickzack um die Stämme. Sie setzten über Gräben, brachen durchs Unterholz. Im Dickicht hatte ein Grenzsoldat gelauert. Er rief sie an. „Halt!“ Sie liefen weiter. „Halt! Stoi!“ Dann schoß er. Seine Maschinenpistole ratterte. Oben vom Wachturm setzte das MG ein. Der Turm im Norden gab Flankenfeuer. - Und dann war das, was sie für eine feuchte Wiese gehalten hatten, ein Sumpf. Sie kamen nur noch langsam voran. Die Kugeln fetzten. Sie warfen sich hin, klatschten tief hinein in die matschige Nässe,, weg von den tödlichen Garben. Feuerpause. Auf und weiter. Hinter jedem Büschel Sumpfgras, sogar in den schwarzen Pfützen suchten sie Schutz. Sie waren über und über verdreckt. Hände, Gesichter, alles. 153
Ein einzelner Schuß fiel. Kolleck schrie auf. Es hatte ihn erwischt. Irgendwo am Oberschenkel. Er sprang auf, brach zusammen. Urban hechtete hin zu ihm, packte ihn, zog ihn hoch, stützte ihn. Auf drei Beinen flohen sie weiter. Kolleck zog eine Blutspur hinter sich her. „Die Schlagader“, keuchte er. „Quatsch.“ „Die sprudelt wie eine Quelle.“ Die Spur war braun und rot. Kolleck biß die Zähne zusammen und schaute nicht mehr hin. Die Soldaten in den Wachtürmen gaben wütend Dauerfeuer. Aber Maschinengewehre streuten auf zweihundert Meter Entfernung schon stark. „Wir sind gleich da“, schätzte Urban. Vielleicht noch hundertfünfzig Meter. - Unter diesen Umständen allerdings eine Marathon strecke.
Daß die Verfolger sich nicht bis in den Sumpf wagten, konnte ihre Rettung sein. Sie stapften, wateten, kämpften sich hindurch. Oft waren es sterbende Bäume, an deren Äste geklammert, sie sich davor bewahrten, zu versinken und Moorlei chen zu werden. Irgendwann fühlte Urban Grund im Morast. Er zog den verletzten Kolleck hinter sich her wie einen Sack. Kolleck stöhnte. Urban preßte ihm den Mund zu. Keine zwanzig Schritte nach links sah er einen tschechischen Grenzposten im Laub der Bäume lauern, die Scorpion-MPi im Anschlag. Sie lagen da und warteten atemlos. 154
Mit verzweifeltem Lächeln ertrug der Amerika ner den Schmerz. Ein Ast krachte. Der Soldat war nicht mehr zu sehen. Urban hörte einen Jeep. Der Jeep hielt und fuhr weiter. Wolken zogen auf. Allmählich wurde es dunkel zwischen den Bäumen. Urban half Kolleck auf. Mühsam erreichten sie den Rand des Waldes. Etwa vierhundert Meter südlich ragte ein Wachturm über die Kronen. Offenbar blendete ein schräger Sonnenstrahl den Beobachter. „Jetzt oder nie“, zischte Urban. Kolleck legte den Arm um Urban. Dadurch entlastete er sein kaputtes Bein. Sie humpelten weiter von Deckung zu Deckung. Wieder hörten sie Schüsse und warfen sich hin. Mit letzter Kraft zog Urban den Amerikaner zu einer verfallenen Hütte. Er drückte die Tür auf. Sie waren drin. Urban spähte durch die Ritzen. Er sah zwei Jeeps. Soldaten stiegen aus, bildeten eine Kette und näherten sich der Hütte. Aber mit einemmal gingen sie langsamer. Auf ein Kommando mit Trillerpfeife blieben sie stehen. Urban glaubte zu wissen warum. „Jetzt haben sie uns“, stöhnte Kolleck. „Sie haben uns nur fast“, antwortete Urban und deutete auf den Boden. Im Dämmerlicht sah auch Kolleck das Rote und das Violette. Das Rote war eine leere Coladose, und das Violette war das Einwickelpapier einer Schweizer Schokolade. ,,Du glaubst, wir sind im Westen?“ 155
„Ich bin sicher.“ „In der CSSR haben sie auch Cola.“ „Mag sein“, erwiderte Urban. „Aber sie haben nicht soviel echte Schweizer Vollmilchnußschoko lade im Überfluß, daß sie eine halbe Tafel davon wegwerfen.“ Urban behielt recht. - Etwa dreißig Meter trenn ten sie von den Verfolgern. Aber die Soldaten zogen sich zurück, und dann fuhren auch die Jeeps weg. „Du hast den Film?“ fragte Kolleck. „Denke schon.“ „Er ist wichtiger als du und ich.“ Kolleck wälzte sich auf die andere Seite. So hatte er weniger Schmerzen. „Das werden wir dir bis in alle Ewigkeit nicht vergessen“, versicherte er. „Die Ewigkeit ist lange“, sagte Urban. „Aber so lange ja auch wieder nicht.“ ENDE
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