Scan by Schlaflos
Buch Anne Dare belagert ihren wahnsinnigen Onkel im Kampf um den Thron von Crothenien, wo Krieg, Cha...
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Scan by Schlaflos
Buch Anne Dare belagert ihren wahnsinnigen Onkel im Kampf um den Thron von Crothenien, wo Krieg, Chaos und Verzweiflung herrschen. Anne Dare weiß, dass sie die Belagerung schnell beenden muss, wenn sie ihren Thron zurückgewinnen will. Und so greift sie auf magische Mittel zurück, die sie und all ihre Freunde das Leben kosten können - und ihre Seelen. Doch der Krieg ist nicht die einzige Bedrohung des Landes: Immer neue Monster erscheinen auf der Bildfläche. Als Winna, die Geliebte des Waldhüters Aspar White, von einem abscheulichen Wesen vergiftet wird, macht er sich auf den Weg, um eine gefürchtete Hexe um Hilfe zu bitten. Währenddessen entdeckt ein in Ungnade gefallener Komponist in den Kerkern unter Eslen eine Musik, die seit tausend Jahren nicht mehr gehört wurde, eine Musik, deren Klänge ihm seine Rache ermöglichen - die aber auch furchtbaren Schrecken auf die Welt zurückrufen könnte ... Autor Greg Keyes lernte schon als Kind die Kultur und Sprache der Navajo-Indianer kennen und entwickelte hierdurch eine große Faszination für Sprachen, Rituale und Mythen. Nach einem Anthropologie-Studium veröffentlichte er unter dem Namen J. Gregory Keyes seinen ersten Fantasy-Roman »Aus Wasser geboren«, mit dem er sofort in die Riege der jungen Erneuerer des Genres aufstieg. Von Greg Keyes lieferbar: DIE VERLORENEN REICHE: I. Der Dornenkönig (24260) 2. Die Rückkehr der Königin (24261) 3. Der Blutritter (24262)
Greg Keyes
Der Blutritter Die verlorenen Reiche 3 Ins Deutsche übertragen von Marie-Luise Bezzenberger blanvalet Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Blood Knight. The Kingdoms of Thorn and Bone« (Book Three) bei Del Rey/The Ballantine Publishing Group, New York. Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-OIOO Das für dieses Buch verwendete Fsc-zertifizierte Papier München Super liefert Mochenwangen. i. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung September 2006 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Copyright © der Originalausgabe 2006 by J. Gregory Keyes Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Published in agreement with the author c/o Baror International, Inc. Armonk, New York, USA Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Schlück/Crabb/Gordon Redaktion: Alexander Groß UH • Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN-10: 3-442-24262-2 ISBN-13: 978-3-442-24262-7 www.blanvalet-verlag.de Für meinen Sohn John Edward Arch Keyes. Willkommen, Archer. Prolog In der Kammer des Waurm Lächelnd hielt Robert Dare Muriele eine rote Rose hin. »Behalte sie«, sagte sie. »Vielleicht riechst du dann besser.«
Robert seufzte und strich über sein schwarzes Bärtchen, das seine von Natur aus feinen Züge schärfer erscheinen ließ. Dann zog er Hand und Blume zurück und ließ sie an seiner Brust ruhen, während er seinen undurchdringlichen Blick auf Muriele richtete. Er sah viel älter aus als die zwanzig Winter, die er auf dieser Welt zugebracht hatte, und einen winzigen Augenblick lang verspürte sie ganz entfernt Mitleid mit diesem Mann, der ihren Gemahl und ihre Töchter ermordet hatte. Mit dem, wozu er geworden war. Was immer das auch war, auf jeden Fall war es nicht menschlicher Natur, und ihr Mitgefühl wurde von einem Aufwallen des Ekels davon geschwemmt. »So reizend wie immer, meine Liebe«, bemerkte Robert ruhig. Sein Blick huschte zur Seite, zu der anderen Frau, die mit ihnen im Zimmer stand, als wäre er eine Katze, die versuchte, zwei Mäuse im Auge zu behalten. »Und wie geht es der entzückenden Lady Berrye heute?« Alis Berrye - Murieles Zofe und Beschützerin - schenkte Robert ein herzliches Lächeln. »Mir geht es sehr gut, Euer Hoheit.« »Ja, das sehe ich.« Robert trat näher und hob die Rechte, um Alis' rotbraune Locken zu streicheln. Das Mädchen zuckte nicht, außer vielleicht ein wenig um die Augen. Tatsächlich hielt sie sehr still. Muriele konnte sich vorstellen, dass sie sich einer zum Zustoßen bereiten Natter gegenüber so verhalten würde. »In der Tat, Eure Wangen haben Farbe«, fuhr Robert fort. »Kein 9 Wunder, dass mein verblichener Bruder so hingerissen von Euch war. So jung - so voller Gesundheit und Lebenskraft, so glatt und straff. Nein, das Alter hat noch nicht einmal begonnen, Euch mit seinem Hauch zu streifen, Alis.« Dieser Köder war für Muriele bestimmt, doch sie hatte nicht vor, danach zu schnappen. Ja, Alis war eine der Geliebten ihres Mannes gewesen - die jüngste, soweit sie wusste -, doch seit seinem Tod hatte sie sich als nützliche und treue Freundin erwiesen. Seltsam, aber so war es. Das Mädchen schlug sittsam die blauen Augen nieder, antwortete jedoch nicht. »Robert«, brach Muriele das Schweigen, »ich bin deine Gefangene und dir daher auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, aber ich hoffe, ich habe deutlich gemacht, dass ich keine Angst vor dir habe. Du bist ein Brudermörder, ein Thronräuber und noch etwas viel Schlimmeres, wofür ich keinen Namen weiß. Es wird dich also nicht überraschen, wenn ich sage, dass ich deine Gesellschaft nicht schätze. Wenn du also bitte mit jedweder Demütigung, die du für mich ersonnen hast, zum Ende kommen könntest, wäre ich dir sehr verbunden.« Roberts Lächeln gefror auf seinem Gesicht. Dann zuckte er die Achseln und ließ die Blume zu Boden fallen. »Die Rose ist auch gar nicht von mir«, erklärte er. »Also gut... Bitte setz dich.« Seine zaghafte Geste deutete auf mehrere Stühle, die um einen schweren Eichentisch standen. Die Möbel ruhten auf geschnitzten Klauen, passend zu dem einem Ungeheuer gewidmeten Raum, einem kleinen, selten genutzten Gemach, verborgen im fensterlosen Inneren des Palasts, das als die Waurm-Kammer bekannt war. Zwei gewaltige Wandbehänge zierten die Mauern; einer zeigte einen Ritter in einem altertümlichen Kettenhemd, der ein unglaublich breites und langes Schwert gegen einen Waurm schwang, dessen Schuppen mit goldenen, silbernen und bronzenen Fäden gearbeitet waren. Der schlangengleiche Leib des Unge10 tüms wand sich entlang der Ränder des Tuchs zur Mitte hin, wo der Ritter stand, und dort erhoben sich tödliche Klauen, und ein mit eisernen, gifttriefenden Zähnen bewehrter Rachen war weit geöffnet. So kunstvoll war der Stoff gewirkt, dass es schien, als würde die riesige Schlange jeden Moment daraus hervorgleiten und auf den Boden kriechen. Der zweite Wandteppich schien weitaus älter zu sein. Seine Farben waren verblasst, und an einigen Stellen sah das Gewebe aus, als wäre es durchgescheuert. Er war von einfacherer, weniger wirklichkeitsgetreuer Machart und stellte einen Mann dar, der neben einem erschlagenen Waurm stand. Das Abbild der Gestalt war so schlicht gehalten, dass sie sich nicht sicher war, ob es der gleiche Ritter sein sollte und ob er eine Rüstung trug oder lediglich ein eigenartiges Wams. Die Waffe, die der Mann in der Hand hielt, war sehr viel kleiner, eher ein Messer als ein Schwert. Eine Hand hatte er zum Mund gehoben. »Du warst schon einmal hier?«, fragte Robert, als sie widerstrebend Platz nahm. »Einmal«, erwiderte sie. »Vor langer Zeit. William hat hier einen Adligen aus Skhadiza empfangen.« »Als ich dieses Gemach entdeckt habe - ich glaube, ich war ungefähr neun -, da habe ich es ganz verstaubt vorgefunden«, sagte er. »Kaum geeignet, um dort zu sitzen - und doch so anheimelnd.« »Ungemein«, bemerkte Muriele trocken und betrachtete einen grotesken Reliquienschrein, der an einer der Wände stand. Er war zum größten Teil aus Holz gefertigt, in der Form eines Mannes mit ausgestreckten Armen. Dieser hielt in jeder Klauenhand einen vergoldeten Menschenschädel. Anstelle eines menschlichen Gesichts hatte er einen Schlangenkopf mit Widderhörnern, und seine Beine waren sehr kurz und endeten in vogelähnlichen Krallen. Sein Bauch bestand aus einer Vitrine, hinter deren Glastüren sie einen schmalen, leicht geschwungenen Elfenbeinkegel ausmachen konnte, ungefähr so lang wie ihr Arm. 11 »Das da war früher nicht hier«, sagte sie. »Nein«, pflichtete Robert ihr bei. »Das habe ich vor ein paar Jahren einem Sefry-Händler abgekauft. Das, meine
Liebe, ist der Zahn eines Waurm.« Er verkündete das wie ein kleiner Junge, der etwas Interessantes gefunden hat und erwartet, mit besonderer Aufmerksamkeit belohnt zu werden. Als er keine bekam, verdrehte er die Augen und läutete eine kleine Glocke. Eine Dienstmagd erschien mit einem Tablett. Sie war jung, mit dunklem Haar und einer einzelnen Pockennarbe im Gesicht. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe zu sehen, und sie presste die Lippen so fest zusammen, dass sie ganz blass waren. Das Mädchen stellte Kelche mit Wein vor sie hin, verschwand und kehrte mit einem Teller voller Süßigkeiten zurück - kandierte Birnen, Butterplätzchen, Branntweinküchlein, süße, in Honig geröstete Käsefladen und Murieles Lieblingsleckerei: Maidenmonde, süße, mit Mandelpaste gefüllte Teigtaschen. »Bitte, bitte«, drängte Robert, trank einen Schluck von seinem Wein und deutete mit großer Geste auf die Köstlichkeiten. Muriele betrachtete ihren Wein einen Moment lang, dann nippte sie daran. Robert hatte zurzeit keinen triftigen Grund, sie zu vergiften, und wenn er jemals einen haben sollte, gab es nichts, was sie dagegen tun konnte. Alles, was sie in ihrem Kerker aß und trank, ging letzten Endes durch seine Hände. Das Getränk war eine Überraschung - es war gar kein Wein, sondern etwas, das nach Honig schmeckte. »So«, sagte Robert und stellte seinen Kelch auf den Tisch. »Lady Berrye, sagt es Euch zu?« »Es ist sehr süß«, meinte die Angesprochene. »Ein Geschenk«, erläuterte Robert. »Es ist ein besonders erlesener Met aus Haurnrohsen - ein Geschenk von Berimund von Hansa.« »Berimund ist in letzter Zeit äußerst großzügig«, bemerkte Muriele. 12 »Und er hält große Stücke auf dich«, fügte Robert hinzu. »Offensichtlich«, erwiderte sie, nicht gewillt, ihren beißenden Spott zu mildern. Robert trank einen weiteren Schluck, dann nahm er den Becher in beide Hände und drehte ihn langsam zwischen den Handflächen. »Ich habe gesehen, wie du die Wandbehänge bewundert hast«, sagte er und schaute tief in seinen Met. »Kennst du den Mann, der dort abgebildet ist?« »Nein.« »Hairugast Waurmslauth, der Erste aus dem Hause Reiksbaurg. Manche haben ihn den blodrauthin genannt, oder den Blutritter, denn es heißt, nachdem er das Ungeheuer getötet hatte, habe er das warme Blut des Waurm getrunken und es mit dem seinen vermischt. So hat er sich dessen Stärke zu Eigen gemacht, wie auch alle seine Nachkommen. Und aus diesem Grunde sind die Reiksbaurgs stark geblieben.« »So stark waren sie aber nicht, als dein Großvater sie aus Crothenien vertrieben hat«, bemerkte Muriele. Robert drohte ihr mahnend mit dem Finger. »Aber sie waren stark, als sie deinen lierischen Vorfahren den Thron entrissen haben.« »Das ist lange her.« Er zuckte mit den Schultern. »Hansa ist jetzt mächtiger als damals. Das Ganze ist ein großer Tanz, Muriele, eine Pavane der Roten Herzogin. Der Herrscher Crotheniens war lierisch, dann war es ein Hanser, jetzt ist er virgenyanischer Herkunft. Doch woher auch immer sein Blut stammt, er ist der Herrscher von Crothenien. Der Thron überdauert.« »Was willst du damit andeuten, Robert?« Er stützte sich auf die Ellbogen und betrachtete sie mit einer so ernsten Miene, dass es fast komisch war. »Wir stehen am Rande des Chaos, Muriele. Ungeheuer aus unseren finstersten Schwarzen Marys treiben ungehindert ihr Unwesen überall im Land und verbreiten Angst und Schrecken in unse13 ren Dörfern. Reiche rüsten zum Krieg, und unser Thron, der schwach erscheint, stellt ein Ziel dar, das nur wenige unbeachtet lassen können. Die Kirche sieht überall Ketzerei und hängt ganze Dorfgemeinschaften auf was mir kaum sinnvoll erscheint, aber immerhin gehört sie zu unseren wenigen Verbündeten.« »Nichtsdestotrotz wirst du Marcomir von Hansa den Thron nicht überlassen«, stellte Muriele zuversichtlich fest. »Ja, das wäre töricht, nicht wahr?«, stimmte er ihr zu. »Aber ich werde das tun, was Könige häufig tun, um ihre Macht zu sichern. Ich werde mich vermählen. Und du dich ebenfalls, teuerste Schwägerin«, fügte er hinzu. »Ich habe mich doch recht eindeutig ausgedrückt«, gab Muriele zurück. »Bring mich um, wenn du willst, aber ich werde dich nicht heiraten.« Er zuckte heftig die Achseln, als versuche er, irgendetwas abzuschütteln. »Nein, in der Tat«, sagte er trocken. »Ich sehe, dass du das nicht tun wirst. Das Messer, das du mir ins Herz gestoßen hast, war ein deutlicher Hinweis, dass du meinem Antrag nicht wohl gewogen bist.« »Wie gut, dass es nicht mehr schlägt, dein Herz.« Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Musst du immer so spitzfindig mit solchen Fragen sein?«, fragte er. »Wer am Leben ist, wer tot ist? Glaubst du, du bist besser dran, nur weil du ein Herz hast, das schlägt? Wie anmaßend von dir. Und - wenn ich es denn sagen muss - wie kleinlich.« »Du bist vollkommen wahnsinnig«, stellte Muriele fest. Robert grinste und öffnete die Augen. »Das ist zumindest eine wohl bekannte Klage. Aber lass mich bitte wieder zum ursprünglichen Thema zurückkehren. Tatsächlich möchte ich dir keinen neuerlichen Antrag machen -
einmal von dir erstochen zu werden genügt mir vollauf. Nein, du wirst Berimund Fram Reiksbaurg ehelichen, den Thronerben von Hansa. Und ich werde seine Schwester Alfswan heiraten. Zusammen werden wir meinen Thron sichern.« 14 Muriele lachte bitter. »Ich glaube nicht, Robert«, sagte sie. »Ich habe Berimunds Ansinnen bereits einmal zurückgewiesen.« »Eigentlich nicht«, entgegnete Robert. »Eigentlich hat dein Sohn Charles den Antrag zurückgewiesen, weil er damals schließlich König war und dieses Privileg allein ihm zustand. Natürlich ist Charles schwachsinnig, und du warst vollständig Herrin seines Handelns ... Aber er ist nicht länger König«, fuhr Robert fort. »Sondern ich. Und als mein Hoheitsrecht habe ich Berimund deine Hand zugesprochen. Die Hochzeit wird in einem Monat stattfinden.« Die Luft schien plötzlich dicker zu sein - beinahe wie Wasser. Muriele kämpfte gegen den Drang an, den Kopf über die Oberfläche zu strecken. Robert konnte das tun. Er würde es tun, und es gab rein gar nichts, was sie dagegen unternehmen konnte. »Das wird niemals geschehen«, brachte sie schließlich heraus und hoffte, dass sie noch immer trotzig klang. »Nun, wir werden sehen«, erwiderte Robert fröhlich. Dann wandte er sich ab. »Lady Berrye, ist irgendetwas?« Muriele folgte Roberts Blick und bemerkte, dass Alis plötzlich blass aussah. Ihre Augen - nein, ihre Pupillen wirkten sehr groß. »Es ist nichts«, wehrte Alis ab. »Ich habe ganz vergessen zu fragen«, sagte Robert und sah wieder Muriele an, »hattest du Gelegenheit, dir Gedanken über die musikalische Darbietung zu machen, die wir letzte Wihnaht über uns ergehen lassen mussten? Dieses Lustspiel, das dein geschätzter Cavaor Ackenzal aufgeführt hat?« Muriele rang sich ein Lächeln ab. »Wie dir das zusetzen muss als das enthüllt zu werden, was du bist, vor dem ganzen Königreich, und nichts dagegen tun zu können. Ich wage zu behaupten, dass Leovigild Ackenzal begnadet ist.« »Ich verstehe«, sagte Robert. »Dann bist du also der Meinung, der Schurke in diesem Stück sollte mich darstellen?« »Du weißt, dass es so war, und jeder, der es gesehen hat, weiß 15 das auch. Ich frage mich, wie Ackenzal das geschafft hat. Bestimmt habt du und der Praifec ihn doch genau beobachten lassen, habt seine Texte begutachtet, seine Noten, habt seine Proben beaufsichtigt - und trotzdem hat er euch als Narren vorgeführt.« »Nun«, erwiderte Robert, »ich glaube, den Praifec hat die Vorstellung sogar noch mehr aufgebracht als mich. Tatsächlich hat er es für notwendig gehalten, Fralet Ackenzal sehr eingehend zu befragen. Wirklich sehr eingehend - und außerdem einige der Schauspieler.« »Das war dumm«, sagte Alis leise und rieb sich die Stirn. »Habt Ihr etwas gesagt, Lady Berrye?« »Ja, Hoheit. Ich habe gesagt, der Praifec war töricht, den Komponisten zu foltern - und Ihr wart dumm, es ihm zu gestatten. Ihr müsst doch wissen, dass Ihr den Beistand der Landwaerde braucht, um diese Stadt gegen Angriffe zu halten. Leovigild Ackenzal war ihr Liebling, besonders nachdem er seine wundervolle Musik aufgeführt hat.« »Hmm«, grübelte Robert. »Lady Berrye, das ist eine höchst besonnene Ansicht. Solch politische Scharfsichtigkeit von jemandem, den ich lange für eine simple Hure gehalten habe.« »Man kann in der Tat ungemein simpel sein«, erwiderte Alis, »und trotzdem Dinge verstehen, die Ihr nicht begreift.« »Nun, das stimmt wohl«, gab Robert zu. »Auf jeden Fall gibt es Mittel und Wege, das Vertrauen der Landwaerde zurückzugewinnen, wenn es nötig sein sollte. Aber mit Hansa und der heiligen Kirche auf meiner Seite glaube ich nicht, dass die Landwaerde ein großes Problem sein werden. Ich brauche sie doch lediglich noch für ungefähr einen Monat ruhig zu halten, nicht wahr?« »Die Kirche?«, fragte Muriele. »Fürwahr. Der Praifec hat an Fratrex Prismo in zTrbina geschrieben, und der Fratrex hat freundlicherweise eingewilligt, ein paar Truppen zu schicken, um uns zu helfen, den Frieden zu bewahren, und das Resacaratum durchzuführen, bis dieser Thron gesichert ist.« 16 »Erst Hansa und jetzt die Kirche. Du würdest unser Land jedem Feind aushändigen, den wir haben, wenn du dir damit Zeit auf dem Thron erkaufen kannst. Du bist wirklich widerlich.« »Mir war nicht klar, dass du die Kirche als unseren Feind betrachtest«, erwiderte Robert sanft. »Praifec Hespero könnte Anstoß daran nehmen. Tatsächlich könnte er es für nötig befinden, dich zu verhören.« Jäh ertönte das Geräusch von zersplitterndem Glas. »Lady Berrye«, bemerkte Robert. »Ihr habt Euren Kelch fallen lassen.« Alis richtete Augen auf ihn, die ins Leere blickten. »Die Heiligen mögen Euch verdammen!«, stieß sie heiser hervor. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Beine schienen zu schwach zu sein, um sie zu tragen. Plötzliches Grauen durchzuckte Muriele wie ein Schwert. Sie streckte die Hand nach Alis aus. »Was hast du ihr
angetan, Robert?« Robert streichelte seinen Bart. »Ich habe sie dir als Zofe zugeteilt, weil ich dachte, es würde dich ärgern. Aber ganz im Gegenteil, ihr beide scheint tatsächlich Freundschaft geschlossen zu haben. Außerdem hat es den Anschein, dass unsere liebe Alis sich durch Verführung Kenntnisse von einer deiner Wachen verschafft hat, und das vielleicht bei mehr als einer Gelegenheit. Ich glaube, ich habe Lady Berrye nicht nur missverstanden, sondern sie auch unterschätzt. Und daher frage ich mich, was sie vielleicht noch alles fertig bringt. Zweifellos hast du ihr von den Geheimgängen erzählt, die dieses Schloss durchziehen, wenn sie nicht bereits davon wusste. Vielleicht hat sie Pläne geschmiedet, dich fortzuschmuggeln.« Er lächelte breit. »Wenn dem so ist, wird sie ihr Komplott nach Eslen-des-Schattens mitnehmen.« Muriele kniete jetzt neben Alis und nahm ihre Hand. Die Haut des Mädchens hatte bereits einen bläulichen Ton angenommen, und ihre Arme hatten angefangen, krampfhaft zu zucken. Ihre Finger waren eiskalt. 17 »Alis!«, keuchte Muriele. »Galgenkraut«, brachte Alis heraus; ihre Stimme war so schwach, dass Muriele sich tief zu ihr hinabbeugen musste. »Wusste ...« Sie erbebte, und schwarzer Speichel drang aus ihrem Mund. Dann murmelte sie ein paar Worte, die Muriele nicht verstand, und Muriele spürte eine leichte Hitze auf der Haut. Die Haare auf ihrem Arm stellten sich auf. »Bewahrt Euch«, flüsterte Alis. »Soinmie. Soinmie, Fienden.« Ihr Atem wurde immer unregelmäßiger, bis er schließlich mehr wie ein Schluckauf klang. Dann, mit einem jähen, lautlosen Schrei, hörte auch das auf. Muriele blickte zu Robert auf; ihr Hass war so mächtig, dass ihr keine Worte einfielen, die ihn nicht hätten klein erscheinen lassen. »Ich glaube, ich lege sie in die Krypta der Dares«, überlegte Robert. »Sollte Williams Seele je den Weg dorthin finden, wird er sich freuen.« Dann erhob er sich. »Die Schneiderinnen kommen morgen, um für dein Hochzeitskleid Maß zu nehmen«, sagte er freundlich. »Es war ein Vergnügen, dich zu besuchen, Muriele. Einen angenehmen Tag noch.« Er ließ sie mit Alis zurück, deren Leib bereits kalt war. Teil 1 Die Wasser unter der Welt Am steinigen Westufer von Roin Ieniesse traf Fren MeqLier auf den heiligen Jeroin den Seefahrer, und im Schiff des heiligen Jeroin fuhren sie, bis sie an einem öden Gestade und einem finsteren Wald anlangten. »Dies ist der Wald jenseits der Welt«, sagte der heilige Jeroin zu ihm. »Habt Acht, auf dass Euer Stiefel nicht auf das Wasser trifft, wenn Ihr aus dem Boot steigt. Berührt Ihr die Wellen auch nur leicht, so werdet Ihr alles vergessen, was Ihr jemals gewusst habt.« aus FRENN REY-EISE: EINE MÄR VOM HEILIGEN FRENN, WIE SIE AUF SKERN BERICHTET WIRD, VON SACRITOR ROGER BISHOP Die Dunkle Lady wies auf den Fluss. » Trinkt davon«, sagte sie zu Alzarez, »und Ihr werdet sein wie die Toten, ohne Erinnerung oder Sünde.« Dann deutete sie auf eine sprudelnde Quelle. »Trinkt dort, und Ihr werdet mehr wissen als jeder Sterbliche.« Alzarez betrachtete beide. »Aber die Quelle speist doch den Fluss«, sagte er. »Natürlich«, antwortete die Dunkle Lady. aus »SA ALZAREZASFILL«, einem herilanzischen Volksmärchen Ne piberos daz'uturo. Trinke das Wasser nicht. vitellianische Grabinschrift 1. Kapitel Verirrt Das wünsch ich mir heiß Einen Mann mit Lippen rot wie Blut Mit Haut schneeweiß Mit Haar blauschwarz Wie die Rabenbrut. Das wünsch ich mir. Anne Dare murmelte die Worte des Liedes; es war eines ihrer Lieblingslieder gewesen, als sie jünger gewesen war. Sie bemerkte, dass ihre Finger zitterten, und einen Augenblick lang fühlte es sich an, als gehörten sie gar nicht zu ihr, sondern seien stattdessen eigentümliche Würmer, die sich an ihre Hände klammerten. Mit Lippen rot wie Blut... Anne hatte schon oft Blut gesehen, reichlich Blut. Aber niemals so, nie von so leuchtender Farbe, so grell im Vergleich zu dem Schnee. Es war, als sähe sie zum ersten Mal die wirkliche Farbe und nicht jene blasse
Fälschung, die sie ihr Leben lang gekannt hatte. Am Rand war es von wässrigem Rosa, aber dicht an der Quelle, wo es stoßweise in das kalte Weiß hinausströmte, war es etwas von vollendeter Schönheit. Mit Haut schneeweiß Mit Haar blauschwarz ... 21 Der Mann hatte Haut, die sich grau verfärbt hatte, und strohgelbes Haar, überhaupt nicht so wie der erträumte Geliebte in dem Lied. Noch während sie zusah, lösten sich seine Finger von dem Dolch, den er in der Hand gehalten hatte, und er ließ die Kümmernisse dieser Welt hinter sich. Seine Augen wurden rund vor Staunen, als sie etwas erblickten, das sie nicht sehen konnte, jenseits der Lande des Schicksals. Dann seufzte er einen letzten, dampfenden Atemstoß in den Schnee. Irgendwo - weit entfernt, wie es schien - hörte sie einen heiseren Schrei und das Geräusch aufeinander klirrenden Stahls, gefolgt von Stille. Sie konnte keinerlei Bewegung durch die dunklen Stämme der Bäume hindurch ausmachen, nur das beständige leichte Schneetreiben. Etwas schnaubte ganz in der Nähe. Benommen drehte sich Anne um und erblickte ein Pferd, einen Apfelschimmel, der sie neugierig betrachtete. Es sah vertraut aus, und sie schnappte nach Luft, als ihr wieder einfiel, wie es auf sie losgestürmt war. Der Schnee verriet, dass es um sie herumgestampft war, aber eine Fährte aus Hufspuren führte von jenseits eines Hügels heran - die Richtung, aus der es gekommen sein musste. Einen Teil der Strecke wurden die Hufspuren von rosafarbenen Sprenkeln begleitet. Außerdem hatte das Pferd auch Blut in der Mähne. Zittrig erhob sie sich und verspürte Schmerzen im Oberschenkel, im Schienbein und an den Rippen. Sie drehte sich, um ihre Umgebung zur Gänze in Augenschein zu nehmen, suchte nach einem Anzeichen dafür, dass irgendjemand in der Nähe war. Doch da waren nur der Tote, das Pferd und Bäume, die von den Winden des Winters bis auf die Rinde entblößt worden waren. Schließlich schaute sie an sich hinunter. Sie trug einen weichen roten Mantel aus Hirschleder, mit schwarzem Hermelin gefüttert, und darunter ein schweres Reitkleid. Sie erinnerte sich, dass sie die Kleider damals in Dunmrogh bekommen hatte. Auch an den Kampf dort erinnerte sie sich, und an den Tod ih22 rer ersten Liebe und des ersten Mannes, der sie verraten hatte, Roderick. Sie schob die Hand unter die Kapuze und fühlte die Locken ihres kupferroten Haars. Es wuchs nach, war jedoch noch immer kurz, von damals, als es in Tero Galle geschoren worden war; das schien ein Menschenalter her zu sein. Also fehlten ihr nur Stunden oder Tage, nicht Wochen, Monate oder Jahre. Trotzdem war ihr die Zeit verloren gegangen, und das machte ihr Angst. Sie erinnerte sich daran, dass sie Dunmrogh verlassen hatte, mit ihrer Zofe Austra, einer Frau namens Winna und achtunddreißig Mann, zu denen auch ihr vitellianischer Freund Cazio und ihr Beschützer Sir Neil MeqVren gehört hatten. Sie hatten gerade eine Schlacht gewonnen, und die meisten waren verwundet, auch Anne selbst. Doch es war keine Zeit gewesen, in Ruhe zu genesen. Ihr Vater war tot und ihre Mutter Gefangene eines Thronräubers. Sie war aufgebrochen, fest entschlossen, ihre Mutter irgendwie zu befreien und den Thron ihres Vaters zurückzuerobern. Sie erinnerte sich, dass sie sich all dessen sehr sicher gewesen war. Was sie nicht wusste, woran sie sich nicht erinnern konnte, war, wo diese Freunde waren und warum sie nicht bei ihnen war. Oder, was das anging, wer der Tote war, der zu ihren Füßen lag. Ihm war die Kehle durchgeschnitten worden, so viel war klar - die Wunde klaffte wie ein zweiter Mund. Aber wie war das passiert? War er Freund oder Feind? Da sie ihn nicht wiedererkannte, nahm sie an, dass er wahrscheinlich Letzteres war. Sie sank gegen einen Baum und schloss die Augen, betrachtete den dunklen Pfuhl in ihrem Kopf, tauchte in ihn ein wie ein Eisvogel. Sie war neben Cazio geritten, und er hatte sich in der Sprache des Königs geübt... »Esno es caldo«, verkündete Cazio und fing eine Schneeflocke mit der Hand auf, die Augen groß vor Verwunderung. 23 »Schnee ist kalt«, verbesserte Anne, dann sah sie seine verzogenen Lippen und begriff, dass er den Satz absichtlich falsch ausgesprochen hatte. Cazio war hoch gewachsen und schlank, mit scharfen, listigen Gesichtszügen und dunklen Augen, und wenn sich sein Mund so verzog wie jetzt, war er ganz Schurke. »Was ist >esno< auf Vitellianisch?«, verlangte sie zu wissen. »Ein Metall von der Farbe Eures Haars«, erwiderte er auf eine Art und Weise, dass sie sich plötzlich fragte, wie seine Lippen wohl schmecken mochten. Nach Honig? Nach Olivenöl? Er hatte sie schon ein paar Mal geküsst, doch sie konnte sich nicht erinnern ... Was für ein törichter Gedanke. »Esno es caldo heißt >Kupfer ist heißfero es caldoEisen ist heißkalt< mein Wort für >heiß< ist, das ist alles.« »Ja, und es ist sogar noch seltsamer, dass Euer Wort für >frei< Geliebte ist«, gab sie spöttisch zurück. »Wenn man bedenkt, dass man nicht gleichzeitig das Zweite haben und das Erste sein kann.« 24 Sobald sie jedoch seinen Gesichtsausdruck sah, wünschte sie sich, sie hätte nichts gesagt. Cazio zog augenblicklich eine interessierte Braue empor. »Jetzt sind wir bei einem Thema, das mir zusagt«, stellte er fest. »Aber, äh ... Geliebte} Ne commrenno. Was ist eine >Geliebte< in der Sprache des Königs?« »Das Gleiche wie eine vitellianische carilo«, antwortete sie widerwillig. »Nein«, sagte Austra. Anne zuckte schuldbewusst zusammen, denn sie hatte beinahe vergessen, dass ihre Zofe neben ihnen ritt. Sie schaute zu der Jüngeren hinüber. »Nein?« Austra schüttelte den Kopf. »Carilo ist das, was ein Vater seine Tochter nennt - ein Schätzchen, ein kleiner Liebling. Das Wort, das du suchst, ist erenterra.« »Ah, ich verstehe«, sagte Cazio. Er beugte sich hinüber, ergriff Austras Hand und küsste sie. »Erenterra. Ja, diese Unterhaltung sagt mir mit jeder Offenbarung mehr zu.« Austra wurde rot, zog ihre Hand zurück und schob goldene Locken zurück unter die schwarze Kapuze ihres Wettermantels. Cazio wandte sich wieder an Anne. »Wenn >Geliebte< also erenterra bedeutet«, meinte er, »dann muss ich Euch widersprechen.« »Vielleicht kann ein Mann Geliebte haben und frei bleiben«, sagte Anne. »Eine Frau kann das nicht.« »Unsinn«, wehrte Cazio ab. »Solange ihr ... äh, Geliebte nicht auch ihr Gemahl ist, kann sie so frei sein, wie es ihr beliebt.« Er lächelte noch breiter. »Außerdem ist nicht jede Knechtschaft unerfreulich.« »Ihr seid schon wieder ins Vitellianische verfallen«, bemerkte Anne, der Cazios Begeisterung für dieses Thema vollständig abging. Es tat ihr Leid, dass sie es angesprochen hatte. »Kommen wir zum Schnee zurück. Erzählt mir mehr darüber - in der Sprache des Königs.« 25 »Neues Ding für mich«, sagte er, wobei seine Stimme augenblicklich von zungenfertiger Beinahe-Musik zu unbeholfener, schwerfälliger Prosa überging, als er die Sprache wechselte. »Nicht geben in Avella. Sehr, äh ... vollwunder.« »Wundervoll«, verbesserte sie, während Austra kicherte. Tatsächlich fand Anne den Schnee überhaupt nicht wundervoll - sie fand ihn lästig. Aber Cazio klang so aufrichtig, und unwillkürlich musste sie lächeln, wenn sie sah, wie er die weißen Flocken angrinste. Er war neunzehn, zwei Jahre älter als sie - doch noch immer mehr Knabe als Mann. Und doch konnte sie hin und wieder den Mann in ihm erkennen, kurz davor, auszubrechen. Trotz der unersprießlichen Wendung des Gesprächs empfand Anne einen Moment lang Zufriedenheit. Sie war in Sicherheit, bei Freunden, und obgleich die Welt verrückt geworden war, wusste sie jetzt wenigstens, wo sie stand. Gut vierzig Mann waren nicht genug, um ihre Mutter zu befreien und Crothenien zurückzuerobern, doch bald würden sie die Ländereien ihrer Tante Elyoner erreichen, die über ein paar Soldaten verfügte, und Anne hoffte, dass ihre Tante wusste, wo sie mehr herbekommen konnte. Danach - nun, sie würde ihre Armee im Laufe ihres Marsches aufbauen. Sie hatte keine Ahnung, was eine Armee benötigte, und manchmal - besonders nachts - hielt dies ihr Herz zu fest gepackt, um zu schlafen. Im Augenblick jedoch hatte sie das Gefühl, dass alles gut werden würde. Plötzlich bewegte sich etwas am Rande ihres Gesichtsfeldes, doch als sie hinschaute, war es nicht da ... Anne lehnte sich gegen den Baum, atmete Reif aus und bemerkte, dass das Licht schwächer wurde. Wo war Cazio? Wo waren alle anderen? Wo war sie? Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie von der Alten Königsstraße nach Norden abgebogen waren und durch den Wald 16 von Chevroche auf Loiyes zugehalten hatten, einen Ort, wohin sie einst mit ihrer Tante Lesbeth einen Ausritt unternommen hatte, vor vielen Jahren. Ihr Leibwächter Neil MeqVren war nur ein paar Schritte entfernt dahingeritten. Austra war zurückgefallen, um sich mit Stephen zu unterhalten, dem jungen Mann aus Virgenya. Der Waldhüter Aspar White war auf Kundschaft vorausgeritten, und die dreißig Reiter, die sich ihr in Dunmrogh angeschlossen hatten, hatten sich schützend um sie geschart. Dann hatte sich Cazios Miene verändert, und er hatte nach seinem Degen gegriffen. Das Licht schien heller zu
werden, ganz gelb. War dies hier noch Chevroche? Waren Stunden vergangen? Tage? Sie wusste es nicht mehr. Sollte sie warten, bis sie gefunden wurde, oder war niemand mehr übrig, der nach ihr suchen würde? Konnte ein Feind sie ihren Bewachern geraubt haben, ohne sie alle zu töten? Mit sinkendem Mut wurde ihr klar, wie unwahrscheinlich das war. Sir Neil würde sicherlich sterben, ehe er zuließ, dass man sie entführte, und das Gleiche galt für Cazio. Noch immer zitternd begriff sie, dass der einzige Anhaltspunkt, den sie in ihrer jetzigen Lage hatte, der Tote war. Widerstrebend trottete sie durch den Schnee zurück dorthin, wo er lag. Im schwindenden Licht blickte sie auf ihn hinunter und suchte nach Einzelheiten, die sie vorher möglicherweise übersehen hatte. Er war kein junger Mann, doch sie konnte auch nicht sagen, wie alt er war - vielleicht vierzig. Er trug Hosen aus dunkelgrauem Wolltuch, im Schritt mit etwas befleckt, das sein eigener Urin sein musste. Seine Halbstiefel waren schlicht, schwarz und fast durchgelaufen. Auch sein Hemd war aus Wolle, darunter jedoch wölbte sich ein stählerner Brustharnisch. Dieser war zerschrammt und verbeult und kürzlich geölt worden. Außer dem Dolch besaß er ein kurzes, breites Schwert in einer geölten Lederscheide. Diese 27 war an einem Gürtel mit dunkel angelaufener Messingschnalle befestigt. Er trug kein sichtbares Zeichen bei sich, das darauf hinwies, mit wem er im Bunde war. Bemüht, sein Gesicht oder seine blutige Kehle nicht anzusehen, schob und tastete sie mit den Händen durch seine Kleidung und suchte nach irgendetwas, das vielleicht dort verborgen war. An seinem rechten Handgelenk bemerkte sie ein seltsames Zeichen, vermutlich in die Haut eingebrannt. Es war schwarz und stellte etwas dar, das eine Mondsichel zu sein schien. Vorsichtig berührte sie das Zeichen, und ein leichter Schwindel schoss durch sie hindurch. Sie schmeckte Salz und roch Eisen, und ihr war, als hätte sie die Hand bis zum Ellbogen in etwas Nasses und Warmes getaucht. Erschrocken begriff sie, dass, wenngleich sein Herz nicht länger schlug, doch noch Lebensgeister in dem Mann waren, auch wenn sie rasch dahinschwanden. Wie lange würde es dauern, bis alles in ihm tot war? Hatte seine Seele ihn schon verlassen? Im Konvent der heiligen Cer hatte man sie nicht allzu viel über die Seele gelehrt, obwohl sie einiges über den Körper gelernt hatte. Sie war mehrmals dabei gewesen, wenn Tote zerstückelt und ausgeweidet worden waren, und hatte auch dabei geholfen, und sie erinnerte sich - oder glaubte es zumindest - an die meisten Organe und ihre wichtigsten Säfte. Die Seele hatte keinen festen Platz, das Organ jedoch, das ihr Sprache verlieh, war jenes, das im Schädel eingeschlossen war. Als sie an den Konvent dachte, fühlte sie sich auf unerklärliche Weise gelassener, ruhiger und unbeteiligter. Versuchsweise streckte sie die Hand aus und berührte die Stirn des Leichnams. Ein Kribbeln kroch ihre Finger hinauf, durchzog ihren Arm und wanderte über ihre Brust. Als es sich ihren Nacken emporzog und ihren Kopf erreichte, fühlte sie sich plötzlich schläfrig. Ihr Körper wurde fern und weich, und sie hörte, wie ein leises Keuchen ihren Lippen entfloh. Die Welt summte mit einer Musik, die sich nicht ganz zu einer Melodie fügen wollte. 28 Ihr Kopf schwankte zurück, sank dann wieder nach vorn, und mit scheinbar großer Mühe zwang sie die Lider auseinander. Alles war anders, doch es war schwer, genau zu sagen, inwiefern - das Licht war seltsam, und alles erschien unwirklich, aber der Schnee und die Bäume blieben, wie sie gewesen waren. Als ihr Blick klarer wurde, sah sie schwarzes Wasser zwischen den Lippen des Toten hervorsprudeln. Es strömte seine Brust hinab und wand sich ein paar Königsellen weit durch den Schnee, bis es auf einen größeren Strom traf. Plötzlich konnte sie weiter sehen, und sie erblickte hundert, tausend, zehntausende schwarzer Rinnsale, die alle zu größeren Wasserläufen und Flüssen verschmolzen und sich schließlich mit einem Gewässer vereinigten, so breit und dunkel wie das Meer. Während sie zusah, strömte das letzte Überbleibsel dieses Mannes davon, und wie Blätter auf einem Fluss zog das Bild eines kleinen Mädchens mit schwarzem Haar vorbei. Der Geruch von Bier ... Der Geschmack von Schinken ... Das Gesicht einer Frau, mehr Dämon als Mensch, Grauen erregend, doch das Grauen selbst war schon fast vergessen ... Dann war er dahin. Die Flüssigkeit aus seinem Mund wurde zu einem dünnen Rieseln und versiegte. Von der lebendigen Welt jedoch flössen die dunklen Wasser immer weiter. In diesem Moment bemerkte Anne, dass etwas sie beobachtete sie spürte seinen Blick durch die Bäume hindurch. Beginnende Furcht regte sich in ihr, und jäh, mehr als alles andere, wollte sie nicht sehen, was es war. Das Bild der Dämonenfrau in den Augen des Sterbenden erwachte zu neuem Leben. Das Gesicht so grauenvoll, dass er nicht fähig gewesen war, es wirklich zu sehen.
War es Mefitis, die Heilige der Toten, die kam, um ihn zu holen? Die auch Anne holen wollte? Oder war es eine estriga, eine der Hexen, von denen die Vitellianer glaubten, dass sie die Seelen der Verdammten verschlangen? Oder etwas jenseits aller Vorstellung? 29 Was immer es auch war, es kam näher. Anne raffte den Mut in ihrem Innersten zusammen und zwang ihren Kopf, sich zu drehen - und schluckte einen Aufschrei hinunter. Es war kein deutliches Bild, lediglich eine Reihe betäubender Eindrücke. Gewaltige Hörner, die aufragten, um am Firmament zu kratzen, ein Leib, der sich zwischen den Bäumen hindurch ausdehnte ... Die schwarzen Wasser von eben hatten sich wie Blutegel an das Wesen geheftet, und obgleich es mit hundert Klauen an ihnen riss, wurde jede Faser, die sich löste, durch eine neue ersetzt, wenn nicht durch zwei. Sie hatte dieses Geschöpf schon einmal gesehen, in einem Feld aus schwarzen Rosen, in einem Wald aus Dornen. Der Dornenkönig. Er hatte kein Gesicht, bloß Träume in Bewegung. Zuerst sah sie nichts, was sie wiedererkannte, ein Brodem aus Farben, dem Geruch und Geschmack und spürbares Gefühl zu Eigen waren. Doch jetzt konnte sie nicht wegschauen, obgleich ihr Entsetzen immer größer wurde. Ihr war, als stächen Millionen giftiger Nadeln in ihr Fleisch. Sie konnte nicht schreien. Und Anne war sich zweier Dinge plötzlich sehr sicher ... Mit einem Ruck erwachte sie und stellte fest, dass ihr Gesicht in die Blutlache auf der Brust des Mannes gepresst war. Sein Leichnam war jetzt sehr kalt, und sie selbst fror ebenfalls. Würgend kam sie auf die Beine und stolperte von dem Toten fort, doch ihre Glieder waren taub. Sie schüttelte den Kopf, vertrieb die letzten Reste der Schwarzen Mary. Undeutlich wusste sie, dass sie das Pferd nehmen und den Hufspuren folgen sollte, die sie hergeführt hatten, zurück zu ihrem Anfang, doch das schien zu viel der Mühe. Außerdem fiel der Schnee jetzt dichter, und bald würden die Spuren zugeschneit sein. Also kauerte sie sich in einen Spalt zwischen den Wurzeln eines 3° riesigen Baums und sammelte - während die Wärme langsam zurückkehrte - Kraft für das, was getan werden musste. 2. Kapitel Die Fährte des Riesen Ein Pfeil prallte von Neil MeqVrens Helm ab, als er sich stapfend einen Weg durch die Schneewehe bahnte; der heisere Kampfschrei seiner Väter gellte durch die Bäume. Sein Schild wehrte einen weiteren tödlich spitzen Schaft ab. Und noch einen. Nur ein paar Königsellen entfernt hielten vier Bogenschützen ihre Stellung hinter den Schilden von sechs Schwertkämpfern. Gemeinsam bildeten die Männer eine kleine Festung, wohl platziert, um Tod auf den einzigen Weg herabregnen zu lassen, dem Neil folgen wollte - die Fährte der Reiter, die Anne fortgeschleppt hatten. Also beschloss er, geradewegs auf sie loszustürmen, so selbstmörderisch das auch sein mochte. Alles andere zögerte das Unvermeidliche lediglich hinaus. Neil sammelte sich im Laufen; er kam sich in seinem schlecht sitzenden Harnisch unbeholfen vor und sehnte sich nach der wunderschönen Herrenstahlrüstung, die Sir Fail ihm einst geschenkt hatte, die Rüstung, die jetzt auf dem Grunde des Hafens von z'Espino ruhte, hunderte von Meilen entfernt. Die Welt erschien in Augenblicken wie diesen behäbig, und ihre Einzelheiten traten auf wundersame Weise hervor. Gänse trompeteten hoch über ihm. Er roch das Harz geborstenen Kiefernholzes. Einer der Schildträger hatte leuchtend grüne Augen hinter dem polierten Nasenschutz seines Helms und einen flaumigen, rötlichen Oberlippenbart. Seine Wangen waren rot vor Kälte. Sein Ge3i sieht war verkniffen, mit einer Entschlossenheit, die Neil schon oft hinter dem Kriegswerkzeug gesehen hatte. An einem anderen Tag würde dieser junge Mann vielleicht mit seinen Freunden "Wein trinken, mit einem Mädchen tanzen, ein Lied singen, das allein in dem winzigen "Weiler bekannt war, in dem er zur Welt gekommen war. An einem anderen Tag. Heute jedoch war er bereit zu sterben, wenn es notwendig sein sollte, und mitzunehmen, wen immer er konnte, um die Fähre des heiligen Jeroin zu begrüßen. Und in den Gesichtern seiner Gefährten stand der gleiche Ausdruck. Neil stolperte, sah, wie ein Bogen sich wölbte und die Spitze eines Pfeils sich senkte, spürte die Linie, die sich durch die Luft zog, direkt auf sein Auge zu. Er wusste, dass sein Schild zu tief herabgesackt war. Dass er ihn niemals rechtzeitig würde heben können. Jäh ließ der Bogenschütze seine Waffe fallen und griff nach dem Pfeil, der plötzlich aus seiner eigenen Stirn ragte. Neil hatte keine Zeit, sich umzuschauen, wer ihm das Leben gerettet hatte. Stattdessen duckte er sich tiefer hinter seinen Schild, durchmaß die letzten paar Ellen und warf sich dann, abermals heulend, gegen den Schildwall, rammte seinen Schildbuckel gegen den des jungen Burschen mit den grünen Augen.
Der Junge tat, was er tun sollte, und wich zurück, damit seine Waffenbrüder heranrücken und Neil in ihrer Reihe einschließen, ihn umstellen konnten. Doch sie wussten nicht, was Neil bei sich trug. Die Todesklinge, die er aus den Stücken eines Mannes aufgehoben hatte, der nicht sterben konnte, zischte durch die Luft und zog einen schwachen Geruch wie von einem Blitz hinter sich her. Sie drang durch den erhobenen Schild, der vor ihm schwebte, durch die Metallkappe und den Schädel darunter, durch ein smaragdgrünes Auge und kam schließlich unter dem Ohr wieder heraus, ehe sie sich drehte, um die Rippen des nächsten Mannes zu durchschlagen. Zusammen mit seiner Schlachtenraserei verspürte Neil eine Art l1 angewiderten Zorn. Es hatte nichts Ritterliches an sich, eine solche Waffe zu benutzen. Gegen eine erdrückende Übermacht zu kämpfen war eine Sache. Den Sieg durch Hexerei davonzutragen war etwas anderes. Doch Pflicht und Ehre ließen sich nicht immer miteinander vereinbaren, das hatte er gelernt. Und in diesem Fall war es die Pflicht, die das Schwert schwang, dem er den Namen Drang gegeben hatte. Jemand umklammerte von hinten seine Knie, und Neil drosch abwärts und nach hinten, nur um einen weiteren gepanzerten Leib in seinem Weg zu finden. Draug drang tief, doch der Knauf eines Breitschwerts schlug hart gegen Neils Helm, und er kippte in den Schnee. Ein anderer Arm schlang sich um den seinen, und er konnte das Schwert nicht länger schwingen. Die Welt leuchtete ganz und gar rot auf, als er sich zur Wehr setzte und auf den Dolch wartete, der unabwendbar einen Weg an seiner Halsberge vorbei oder durch sein Visier finden würde. Plötzlich erinnerte ihn das Ganze seltsam daran, wie er damals in z'Espino in den Wellen versunken war, hinabgezogen von seiner Rüstung, wie sich seine Hilflosigkeit mit Erleichterung gemischt hatte, dass seine Prüfungen endlich vorüber waren. Nur dass es diesmal keine Erleichterung gab. Anne war dort draußen, in Gefahr, und er würde den letzten Span seiner Kraft verbrennen, um zu verhindern, dass sie zu Schaden kam. Zu noch mehr Schaden kam. Wenn sie nicht schon tot war. Also setzte er die einzige Waffe ein, die ihm geblieben war, seinen Kopf, rammte ihn in das nächste keuchende Gesicht und wurde durch das Knorpelknirschen einer brechenden Nase belohnt. Es war der Mann, der seinen linken Arm festhielt, welchen er jetzt mit der ganzen Kraft seiner Kampfeswut hochriss - er versetzte dem Burschen einen Hieb gegen die Kehle, was ihn zurücktaumeln ließ. Dann krachte etwas mit dem Gewicht der ganzen Welt gegen seinen Helm, und schwarzer Schnee fiel aus einem weißen Himmel. 33 Als sein Kopf wieder klar wurde, sah Neil, dass jemand über ihm kniete. Mit einem Knurren stemmte er sich hoch, und der Mann fuhr zurück und plapperte in einer fremden Sprache. Zu seiner Verblüffung stellte Neil fest, dass er die Glieder frei bewegen konnte. Als sich der rote Nebel teilte, begriff er, dass der Mann, der über ihm gekniet hatte, der Vitellianer gewesen war, Cazio. Der Degenkämpfer stand jetzt in respektvollem Abstand und hielt seine eigentümliche leichte Waffe in entspannter Abwehrbereitschaft. »Ruhig, Ritter«, sagte eine Stimme ganz in der Nähe. »Ihr seid jetzt unter Freunden.« Neil richtete sich auf und drehte sich um, um einen Mann in mittleren Jahren zu betrachten, mit sonnengebräuntem Gesicht und kurz geschnittenem dunklem Haar, in dem sich reichlich Silber zeigte. Dann erkannte er Aspar White, den Waldhüter des Königs. Gleich hinter ihm waren der jüngere Stephen Darige und Winna Prentiss mit dem honigfarbenen Haar; beide kauerten wachsam im blutigen Schnee. »Behaltet lieber den Kopf unten«, wies Aspar ihn an. »Da drüben ist noch ein Nest voller Bogenschützen.« Er deutete mit dem Kinn. »Ich dachte, Ihr wärt alle tot«, sagte Neil. »Ja«, brummte Aspar. »Das dachten wir von Euch auch.« »Anne ist wo?«, verlangte Cazio mit seinem schweren vitellianischen Akzent zu wissen. »Habt Ihr es nicht gesehen?«, fragte Neil anklagend. »Ihr seid doch direkt neben ihr geritten.« »Ja.« Cazio konzentrierte sich darauf, die Worte richtig auszusprechen.\ »Austra reitet ein wenig hinten, mit Stephen. Pfeile kommen, ja, und dann, äh, eponiros kommen Weg herauf, mit, äh, langen haso-« »Die Lanzenreiter, ja«, bestätigte Neil. Überall entlang ihrer Flanken waren Bogenschützen aufgetaucht, und dann war ein Keil Berittener die Straße hinunter auf sie zugeprescht. Die Reiterei 34 aus Dunmrogh hatte keine Zeit gehabt, sich zu formieren, hatte sich ihnen jedoch trotzdem in den Weg gestellt. Neil hatte eigenhändig drei der Reiter niedergestreckt, war dabei jedoch immer weiter von Anne fortgedrängt worden. Als er zum Schauplatz des Geschehens zurückgekehrt war, hatte er dort nichts als Tote vorgefunden, und keine Spur von der Thronerbin von Crothenien. »War Zaubertrick«, behauptete Cazio. »Ist gekommen, äh, aurseto, hat mich geschlagen hier ...« Er deutete auf seinen Kopf, der blutverklebt war. »Das Wort kenne ich nicht«, sagte Neil. »Aurseto«, wiederholte Cazio. »Wie, äh, Wasser, Luft -« »Unsichtbar«, unterbrach Stephen und wandte sich an Cazio. »Uno viro aurseto?«
»Ja.« Cazio nickte energisch. »Wie Wolke, Farbe von Schnee, auf epo, gleich -« »Ein Pferd und ein Reiter, die die Farbe des Schnees hatten?«, fragte Neil ungläubig. »Ja«, bestätigte Cazio. »Bewache Anne, ich höre Geräusch hinter mir -« »Und er hat Euch einen Schlag auf den Hinterkopf versetzt.« »Ja.« Cazio machte ein langes Gesicht. »Das glaube ich Euch nicht«, fuhr Neil ihn an. Ganz einverstanden war er mit dem Burschen nie gewesen, seit dieser geholfen hatte, Anne dazu zu überreden, Neil in Vitellio dem sicheren Tod zu überlassen. Es stimmte, Cazio hatte Anne mehrmals das Leben gerettet, doch seine Beweggründe schienen hauptsächlich lüsterner Natur zu sein. Neil wusste genau, dass solche Triebkräfte nicht vertrauenswürdig und heftigsten Veränderungen unterworfen waren. Ein Aufschneider war er außerdem auch noch, und obgleich er als Straßenkämpfer verdienstvoll genug war unglaublich, um genau zu sein -, besaß er nicht das leiseste Gefühl für jedwede Kriegsdisziplin. 35 Darüber hinaus hatte Neil zu seinem Bedauern gelernt, dass nur wenige Menschen auf der Welt das waren, was sie zu sein schienen. Etwas Gefährliches glitzerte in Cazios Augen, und er richtete sich höher auf, dann legte er die Hand auf das Heft seines Degens. Neil holte tief Luft und ließ seinerseits die Rechte zu Draug hinabsinken. »Glaubt ihm ruhig«, knurrte Aspar. »Aspar? Ausgerechnet du?«, fragte Winna. »Werlic. Es waren mindestes drei - was glaubt ihr denn, warum es mir nicht gelungen ist, zurückzukommen und euch vor dem Hinterhalt zu warnen? Sie sind nicht unsichtbar, nicht wirklich, aber es ist so, wie der Junge gesagt hat. Sie sind wie Rauch, und man kann durch sie hindurchsehen. Wenn man weiß, wo man hinschauen muss, merkt man, dass sie da sind, aber wenn nicht, können sie einen ganz schön überrumpeln. Außerdem werden sie wieder sichtbar, wenn man sie tötet, sie und ihre Pferde. Soweit ich es sagen kann - von irgendwelchen Zaubertricks mal abgesehen -, sind sie bloß Menschen.« Stephen furchte die Stirn. »Das erinnert mich an ... ich habe einmal von einem Pfad der Schreine gelesen ...« Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Noch mehr Kirchenmänner«, brummte Aspar. »Das hat uns gerade noch gefehlt.« Cazio war noch immer angespannt, den Blick fest auf Neil gerichtet, die Hand am Griff seiner Waffe. »Meine Entschuldigung«, wandte Neil sich an den Degenkämpfer. »Persnimo. Ich bin erregt und habe voreilige Schlüsse gezogen.« ^r" Cazio entspannte sich ein wenig und nickte. »Waldhüter White«, erkundigte sich Neil, »hinterlassen diese unsichtbaren Männer Spuren?« »Ja.« »Dann lasst uns diese Kerle da drüben töten und unsere Königin suchen.« 36 Die Angreifer hatten mehr als zwei Verteidigergruppen auf ihrem Weg zurückgelassen, das wurde deutlich. Ein paar hundert perechi von dort, wo sie auf den Ritter gestoßen waren, trafen sie auf eine weitere Schar, die allerdings weniger zahlreich war. Sie hielten nicht lange stand, doch Aspar warnte die anderen, dass sie weiter vorn noch mehr Feinde erwarten würden. Cazio musste an ein Ammenmärchen von einem jungen Burschen denken, der sich im Wald verirrt hatte und dort auf ein prachtvolles Anwesen stieß. Dieses erwies sich als der Wohnsitz eines dreiköpfigen Riesen, der den Jungen fing und ihn fressen wollte. Doch stattdessen fasste die Tochter des Riesen Zuneigung zu ihm und half ihm zu entkommen. Sie flohen zusammen, verfolgt vom Vater der Maid, der schneller war und sie bald eingeholt hatte. Doch das Mädchen kannte ihrerseits Zaubertricks. Sie warf einen Kamm hinter sich, und er wurde zu einer Hecke, durch die der Riese hindurchbrechen musste. Dann warf sie einen Weinschlauch zu Boden, der zu einem Fluss wurde ... »Woran denkt Ihr?« Cazio fuhr zusammen und sah, dass der Priester nur ein paar Schritte entfernt war. Stephen sprach Vitellianisch, und obwohl es sich sehr altmodisch anhörte, war es eine Wohltat, reden zu können, ohne so viel denken zu müssen. »An Kämme und Hecken, an Weinschläuche und Flüsse«, antwortete er geheimnisvoll. Stephen grinste. »Dann sind wir also der Riese?« Cazio blinzelte. Er hatte gedacht, er sei geheimnisvoll. »Ihr denkt zu schnell«, bemerkte er trocken. »Ich habe den Pfad der Schreine des heiligen Decmanus beschritten«, erwiderte Stephen. »Ich kann nichts dafür - der Heilige hat mich gesegnet.« Er verstummte und lächelte. »Ich wette, Eure Fassung der Geschichte ist anders als die, die ich kenne. Erschlägt der Bruder des Jungen den Riesen am Ende?« 37 »Nein, er führt den Riesen zu einer Kirche, und der Sacritor tötet ihn, indem er die Glocke dreimal läutet.« »Ach, das ist ja sehr interessant«, sagte Stephen. Und es schien ihm ernst damit zu sein.
»Wenn Ihr unbedingt meint«, entgegnete Cazio. »Jedenfalls, ja, wir machen es gerade umgekehrt. Wir verfolgen den Riesen, und er ist derjenige, der Hindernisse errichtet. Aber ich frage mich, warum? Bisher haben sie versucht, Anne umzubringen. Die Ritter, die uns gejagt haben, haben nie versucht, sie lebendig zu fangen. Aber wenn diese melcheos sie hätten töten wollen, hätten sie das ganz leicht tun können, als sie mich dabei erwischt haben, wie ich geschlafen habe.« Vorsichtig berührte er die Wunde an seinem Kopf. »Wenigstens habt Ihr ihn für eine Sekunde zu Gesicht bekommen«, sagte Stephen. »Ich habe nicht einmal einen Blick auf den erhascht, der Austra weggeschleppt hat. Wirklich, es ist nicht Eure Schuld.« »Natürlich ist es meine Schuld«, betonte Cazio und wischte diesen Freispruch mit einer Geste beiseite. »Ich war bei ihr - und ich werde sie zurückholen. Und wenn sie ihr etwas angetan haben, dann bringe ich jeden Einzelnen von diesen purcapercators um. Aber das beantwortet immer noch nicht meine Frage. Warum haben sie sie nicht einfach ermordet?« »Dafür könnte es jede Menge Gründe geben«, sagte Stephen. »Die Priester in Dunmrogh wollten damals ihr Blut für ein rituelles Opfer -« »Ja, aber nur, weil sie eine Frau von edler Geburt brauchten, und die, die sie hatten, war umgekommen. Außerdem haben wir diesen Umtrieben ein Ende gemacht.« »Vielleicht sind es nicht dieselben Umtriebe. Wir haben den Feind einmal gehindert, aber es gibt noch viele andere verfluchte Schreinpfade in diesem Wald, und ich wäre bereit zu wetten, dass es noch viele Abtrünnige gibt, die versuchen, sie zum Leben zu erwecken. Jeder Pfad der Schreine ist anders, mit seiner eigenen 38 Gabe - oder seinem eigenen Fluch. Vielleicht brauchen sie wieder das Blut einer Prinzessin.« »Die Männer in Dunmrogh waren zum größten Teil Mönche und Ritter aus Hansa. Die, mit denen wir es jetzt zu tun haben, habe ich noch nie gesehen.« Stephen zuckte die Achseln. »Aber wir haben schon früher gegen Feinde wie diese gekämpft, bevor wir Euch getroffen haben. Damals waren auch Mönche dabei und Männer ohne erkennbare Wappen oder Landeszugehörigkeit. Sogar Sefry.« »Dann ist die Kirche also nicht der Feind?« »Wir wissen letzten Endes nicht, wer der Feind ist«, gestand Stephen. »Die hansischen Ritter und die Kirchenbrüder in Dunmrogh hatten dieselben finsteren Ziele wie die Männer, gegen die Aspar, Winna und ich davor gekämpft haben - gar nicht weit von hier sogar. Wir glauben, dass sie alle ihre Befehle von dem Praifec von Crothenien erhalten, Marche Hespero. Aber es könnte durchaus sein, dass er Befehle von jemand ganz anderem befolgt.« »Was wollen die alle?« Stephen lachte bitter. »Soweit wir es sehen können, wollen sie ein sehr altes und mächtiges Unheil zum Leben erwecken.« »Warum?« »Aus Machtgier, nehme ich an. Ich kann es wirklich nicht sagen. Aber diese Männer, die uns jetzt angreifen? Ich weiß nicht, was sie wollen. Ihr habt Recht, sie scheinen anders zu sein. Vielleicht stehen sie im Dienst des Thronräubers.« »Annes Onkel?« Cazio nahm an, dass das der Mann war, den Stephen meinte. Für ihn war das Ganze ein wenig verwirrend. »Genau«, bestätigte Stephen. »Vielleicht hat er noch einen Grund, warum er sie lebend haben möchte.« »Nun, ich hoffe es«, sagte Cazio. »Ihr hegt Gefühle für sie?«, fragte Stephen. »Ich bin ihr Beschützer«, erwiderte Cazio, ein wenig verärgert über die Frage. 39 »Sonst nichts?« »Nein. Nichts.« »Weil es den Anschein hat, als ob -« »Nichts«, betonte Cazio. »Ich habe Freundschaft mit ihr geschlossen, ehe ich wusste, wer sie war. Und außerdem geht Euch das nichts an.« »Nein, wahrscheinlich nicht«, pflichtete Stephen ihm bei. »Hört zu, ich bin sicher, sie und ihre Zofe -« »Austra.« Stephens Augenbraue klomm empor, und er verzog den Mund zu einem irritierenden kleinen Lächeln. »Austra«, wiederholte er. »Wir werden sie finden, Cazio. Seht Ihr den Mann dort vorn?« »Asparo? Den Waldläufer?« »Ja. Er kann jeder Fährte folgen - dafür kann ich persönlich bürgen.« Cazio bemerkte, dass wieder leichte Flocken vom Himmel fielen. »Auch durch das hier?«, wollte er wissen. »Durch alles«, antwortete Stephen. Cazio nickte. »Gut.« Eine Weile ritten sie schweigend dahin. »Wie habt Ihr die Prinzessin eigentlich kennen gelernt?«, erkundigte sich Stephen. Cazio spürte, wie ein Lächeln seine Lippen in die Breite zog. »Ich bin aus Avella, wisst Ihr? Das ist eine Stadt
im Tero Mefio. Mein Vater war ein Edelmann, aber er wurde bei einem Duell getötet und hat mir nicht viel hinterlassen. Nur ein Haus in Avella und z'Acatto.« »Der alte Mann, den wir in Dunmrogh zurückgelassen haben?« »Ja. Mein Fechtmeister.« »Er muss Euch sehr fehlen.« »Er ist ein Trunkenbold, anmaßend und eingebildet - ja, er fehlt mir. Ich wollte, er wäre jetzt hier.« Er schüttelte den Kopf. »Aber Anne ... z'Acatto und ich haben eine Freundin auf dem Lande besucht - die Gräfin Orchaevia -, wegen der guten Landluft. Zufäl40 lig befanden sich ihr Anwesen und ihre Ländereien in der Nähe des Konvents der heiligen Cer. Eines Tages bin ich in diese Richtung gewandert und auf die Prinzessin gestoßen ... äh, im Bade.« Rasch wandte er sich an Stephen. »Ihr müsst verstehen, ich hatte keine Ahnung, wer sie war.« Stephens Blick wurde plötzlich schärfer. »Habt Ihr irgendetwas getan}« »Nichts, ich schwöre es.« Cazios Lächeln wurde breiter, als er sich erinnerte. »Nun ja, vielleicht habe ich ein wenig herumgeschäkert«, gab er zu. »Ich meine, mitten auf dem öden Lande ein fremdartiges Mädchen zu finden, bereits unbekleidet - es kam mir gewiss vor wie ein Zeichen von Lady Erenda.« »Habt Ihr ihren unbekleideten Körper tatsächlich gesehen}« »Äh ... na ja, nur ein wenig davon.« Stephen seufzte schwer und schüttelte den Kopf. »Und dabei hatte ich gerade angefangen, Euch zu mögen, Degenfechter.« »Ich habe es Euch doch gesagt, ich hatte keine Ahnung -« »Ich hätte wahrscheinlich das Gleiche getan. Aber die Tatsache, dass Ihr nicht wusstet, wer sie war, nun ja, das spielt keine Rolle. Cazio, Ihr habt eine Prinzessin von königlichem Geblüt nackt gesehen, eine Prinzessin, die wenn unser Unterfangen Erfolg hat -Königin von Crothenien sein wird. Hat sie es Euch denn nicht gesagt?« »Was gesagt?« »Jeder Mann, der einer Prinzessin von königlichem Blut ansichtig wird - jeder Mann, mit Ausnahme ihres ihr angetrauten Gemahls -, muss die Blendung erleiden, oder den Tod. Dieses Gesetz ist über tausend Jahre alt.« »Was? Ihr scherzt wohl!« Doch Stephen runzelte düster die Stirn. »Mein Freund«, sagte er, »es war mir noch nie so ernst.« »Aber Anne hat nie irgendetwas gesagt.« »Gewiss würde sie das auch nicht tun. Wahrscheinlich glaubt sie, sie kann Milde für Euch erwirken, aber das Gesetz ist sehr ein41 deutig, und selbst als Königin läge diese Angelegenheit nicht in ihren Händen - es würde vom Comven vollstreckt werden.« »Aber das ist doch absurd«, begehrte Cazio auf. »Ich habe nichts gesehen, außer ihren Schultern, und vielleicht habe ich einen winzigen Blick auf ... Ich wusste es nicht!« »Niemand sonst weiß davon«, sagte Stephen. »Wenn Ihr Euch davonstehlen solltet -« »Jetzt seid Ihr sogar noch lächerlicher«, entrüstete sich Cazio und spürte, wie er langsam in Wut geriet. »Ich habe für Anne und Austra viele Male den Tod riskiert. Ich habe geschworen, sie zu beschützen, und kein Ehrenmann würde sich vor einem solchen Versprechen drücken, bloß weil er irgendeine lachhafte Strafe fürchtet. Besonders jetzt, wo sie sich in der Gewalt irgendwelcher -« Er verstummte und betrachtete Stephen eingehend. »Es gibt gar kein solches Gesetz, nicht wahr?«, verlangte er zu wissen. »Oh doch«, antwortete Stephen und beherrschte sich mit sichtlicher Mühe. »Wie ich gesagt habe, es ist tausend Jahre alt. Allerdings ist es seit über fünfhundert Jahren nicht mehr zur Anwendung gekommen. Nein, ich denke, Ihr seid nicht in Gefahr, alter Knabe.« Cazio funkelte Stephen wütend an. »Wenn Ihr kein Priester wärt...« \, »Aber das bin ich doch gar nicht«, gab Stephen zurück. »Ich war Novize und habe den Pfad der Schreine des heiligen Decmanus beschritten. Aber ich hatte eine Art Zwist mit der Kirche.« »Mit der Kirche selbst? Ihr glaubt, die ganze Kirche ist verderbt?« Stephen lachte leise. »Ich weiß es nicht. Allmählich fange ich an, das zu befürchten.« »Aber Ihr habt diesen Praifec erwähnt...« »Hespero. Ja, Aspar, Winna und ich sind von Praifec Hespero ausgeschickt worden, aber nicht für das, was wir schließlich getan haben. Was wir herausgefunden haben, ist, dass die Verkommen42 heit in der Kirche sehr tief reicht - vielleicht bis nach z'Irbina und zum Fratrex Prismo.« »Das ist unmöglich«, erwiderte Cazio. »Wieso unmöglich?«, wollte Stephen wissen. »Die Männer und Frauen der Kirche sind lediglich genau das: Männer und Frauen ebenso leicht durch Macht zu verführen wie jeder andere.« »Aber die Lords und Ladys -« »In der Sprache des Königs nennen wir sie Heilige«, erklärte Stephen.
»Wie immer Ihr sie auch nennt, sie würden einen so schweren Makel auf ihrer Kirche niemals dulden.« Stephen lächelte, und Cazio fand, dass es ein äußerst beunruhigendes Lächeln war. »Es gibt viele Heilige«, erklärte Stephen. »Und sie sind nicht alle makellos.« Plötzlich schien er abgelenkt. »Einen Moment«, murmelte er. »Was ist?« »Ich höre etwas«, sagte Stephen. »Noch mehr Männer vor uns. Und - noch etwas anderes.« »Eure von den Heiligen gesegneten Ohren, wie? Vorhin, als sie uns überfallen haben - wieso habt Ihr das nicht gehört?« Stephen zuckte die Achseln. »Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht hat die Heiligengabe oder der dwemor, was immer es war, das sie unsichtbar gemacht hat, mein Gehör beeinträchtigt, aber - Ihr müsst mich entschuldigen. Ich muss Aspar Bescheid sagen ... und Neil.« »Ja«, stimmte Cazio zu. »Ich halte meinen Degen bereit.« »Ja. Bitte tut das.« Cazio sah zu, wie Stephen sein Pferd Engel zu den anderen nach vorn traben ließ, zog - ein wenig trübselig Caspator aus der Scheide und rieb mit dem Daumen über die tiefe Scharte, die den breiten Teil der Klinge verunzierte; eine Scharte, die von just jenem glitzernden Hexenschwert geschlagen worden war, das Sir Neil jetzt trug. 43 Diese Scharte war Caspators Todeswunde - einen solchen Schaden konnte man nicht beheben, ohne die ganze Klinge neu zu schmieden. Und mit einer neuen Klinge wäre es nicht mehr wirklich Caspator, sondern eine andere Waffe. Doch selbst eine neue Waffe schmieden zu lassen wäre hier in diesen nördlichen Gefilden gar nicht so einfach, wo alle Welt übergroße Metzgermesser dem Rapier vorzog, der Seele der Dessrata. Dessrata war ohne die richtige Waffe nicht möglich, und wo sollte er einen neuen Degen auftreiben, der etwas taugte, ohne nach Vitellio zurückzukehren? Z'Acatto fehlte ihm wirklich. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, er wäre mit seinem alten Fechtmeister nach Vitellio zurückgekehrt. Er war mit großen Hoffnungen auf Abenteuer zu diesem Unterfangen aufgebrochen. So schrecklich es auch gelegentlich gewesen war, er hatte, seit er Vitellio verlassen hatte, mehr Wunder gesehen als zuvor in seinem ganzen Leben. Doch sie waren nur zu viert gewesen - Anne, Austra, z'Acatto und er selbst. Jetzt hatte Anne einen Ritter mit einem magischen Schwert, einen Waldläufer, der auf sechs Meilen Entfernung einen Pfeil durch eine Taube hindurchjagen konnte, und einen Priester, der in jeder Richtung auf zwölf Meilen Entfernung alles hörte. Winna schien über keinerlei geheimnisvolle Fähigkeiten zu verfügen, soweit er sehen konnte, doch es hätte ihn nicht verblüfft, wenn sie plötzlich angefangen hätte, die Tiere herbeizurufen und sie zu beschwören, an ihrer Seite zu kämpfen. Und was war er? Ein Bursche, der zugelassen hatte, dass die Königin und ihre Zofe genau vor seiner Nase entführt wurden. Der nicht einmal die Sprache dieses Königreichs beherrschte und der vollkommen nutzlos sein würde, wenn sein Degen schließlich unvermeidlich zerbrach. Das Sonderbarste war, dass ihm das gar nicht so viel ausmachte. Nun ja, es machte ihm etwas aus, aber nicht so sehr, wie es noch vor einem Jahr der Fall gewesen wäre. Er kam sich unzulänglich vor, doch das an sich war nicht das Problem. Es war nicht sein 44 Stolz, der ihn schmerzte - es war die Tatsache, dass er Anne nicht so dienen konnte, wie er es eigentlich tun sollte. Es war die Tatsache, dass sich Austra in den Händen von jemandem befand, der böse war. Er hatte versucht, sich mit selbstsüchtigen Gedanken abzulenken, um sich nicht mit der wahrhaft die Seele zermalmenden Möglichkeit auseinander setzen zu müssen, dass seine Freundinnen vielleicht bereits tot waren. Weiter vorn sah er, wie Stephen ihm mit einer Hand winkte und einen Finger der anderen auf die Lippen legte. Er trieb sein Pferd an und fragte sich, wie dieser Kampf wohl sein würde. Wie sich herausstellte, waren die Neuigkeiten gemischt. Die Männer, die Stephen gehört hatte, waren Verbündete - vier der Ritter aus Dunmrogh, die sich oben auf dem nächsten Hügel hinter einen Steinhaufen duckten. Sie kauerten dort, weil der übernächste Hügelkamm von ihren Feinden gehalten wurde. »Das war sehr gut geplant«, sagte Neil zu Aspar. »Ein Hauptangriff, um uns abzulenken, verzauberte Reiter, um die Mädchen zu rauben, und eine Reihe von Hinterhalten, um uns am Weiterziehen zu hindern, während sie entkommen. Aber warum nicht alles auf eine einzige Attacke setzen?« Aspar zuckte mit den Schultern. »Vielleicht haben sie von uns gehört und halten uns für stärker, als wir sind. Aber wahrscheinlicher ist, dass Ihr Euch irrt. Könnte sein, dass ihre Pläne nicht so gut gelaufen sind, wie es den Anschein hat. Ich glaube, sie hatten sehr wohl vor, uns alle bei einem einzigen Überfall zu töten, und wenn Ihr es recht bedenkt, waren sie auch ziemlich dicht davor. Wir hatten fast vierzig Mann, als wir Dunmrogh verlassen haben. Jetzt sind noch neun von uns übrig, aber das wissen sie nicht - mit all dem Schnee, und nachdem wir getrennt worden sind, sind sie genauso verwirrt wie wir. Vielleicht sind wir jetzt in der Überzahl. Das da drüben könnten die letzten drei von ihnen sein, dort auf dem Kamm, und vielleicht sind die Mädchen bei ihnen.« 45
»Es sind sechs«, sagte Stephen. »Und ich höre wirklich ein Mädchen, obwohl ich nicht beschwören kann, dass es eins von unseren ist.« »Es muss eins von unseren sein«, erwiderte Neil. »Werlic«, stimmte Aspar zu. »Also brauchen wir bloß loszumarschieren und sie uns zu schnappen.« Sein Blick wanderte gemächlich durch die Bäume, hinunter in das kleine Tal und zum gegenüberliegenden Hügelkamm hinauf. »Aspar ...«, sagte Stephen leise. »Ja?« »Da ist etwas - etwas anderes. Aber ich kann Euch nicht sagen, was es ist.« »Bei den Männern?« Stephen schüttelte den Kopf. »Nein. Es könnte sehr weit weg sein.« »Dann packen wir lieber den ersten Ast, ehe wir nach dem nächsten greifen«, erwiderte Aspar. »Aber wenn Ihr etwas Deutlicheres ausmachen könnt -« »Dann lasse ich es Euch wissen«, versprach Stephen. Neil musterte noch immer das Gelände. »Sie werden reichlich gute Möglichkeiten haben, auf uns zu schießen, ehe wir an sie herankommen«, stellte er fest. »Ja«, pflichtete Aspar ihm bei. »Das wäre ein guter Grund, nicht durch das Tal auf sie loszustürmen.« »Gibt es noch eine andere Möglichkeit?« »Jede Menge anderer Möglichkeiten. Sie haben die höchste Stelle besetzt, aber dieser Kamm da schließt zu unserer Linken an den ihren an.« »Ihr kennt diesen Ort?« Aspar runzelte die Stirn. »Nein. Aber der Bach da unten ist ziemlich klein, seht Ihr? Und ich kann die Quelle riechen. Und wenn Ihr Euch das Licht zwischen den Bäumen anseht - also, da oben ist hoch gelegenes Gelände, vertraut mir. Die Sache ist nur die, wenn wir alle dort entlanggehen, geben sie vielleicht Fersen46 eeld. Wenn sie dem Hügelkamm abwärts folgen, führt er sie zu den Sümpfen am Magierfluss, und wir bekommen sie dort zu fassen. Aber wenn sie nach Norden ziehen, den Kamm hinab, dann gelangen sie aus dem Wald ins Grasland, und dann haben sie die Wahl, entweder den Fluss zu überqueren und auf die Ebene von Mey Ghorn hinauszuziehen oder sich nach Osten zu wenden. So oder so, wir werden sie abermals einholen müssen, wenn wir können. Im Augenblick wissen wir, wo sie sind.« »Aber warum warten sie dort?«, fragte Neil. »Ich nehme an, sie haben sich verirrt«, antwortete Aspar. »Von da, wo sie sich befinden, können sie das offene Gelände nicht erkennen, aber wenn sie hundert Königsellen weit reiten, werden sie es sehen. Dann haben wir Ärger.« »Was schlagt Ihr vor? Dass jemand sich auf dem Hügel außen herumschleicht ?« »Ja.« »Und ich nehme an, dieser Jemand seid Ihr.« Als Antwort zog der Waldhüter plötzlich seine Bogensehne durch und ließ einen Pfeil fliegen. Ein scharfer Aufschrei der Empörung hallte von der anderen Seite der Hügelsenke herüber. »Nein«, sagte Aspar. »Ich werde hier gebraucht, um sie davon zu überzeugen, dass wir immer noch auf diesem Kamm hocken. Ihr und Cazio geht. Wenn Stephen hört, dass Ihr Euch ihnen nähert, laufen wir los, hinunter in die Senke und auf der anderen Seite wieder hinauf. Sorgt nur dafür, dass sie beschäftigt sind.« Neil dachte einen Moment lang darüber nach, dann nickte er. »Das ist einen Versuch wert«, sagte er. »Könnt Ihr leise sein?« »Im Wald? Ich werde meine Rüstung zurücklassen. Aber trotzdem ...« »Ich habe nicht das Gefühl, dass das Waldläufer sind«, erklärte Aspar. »Wir werden versuchen, hier ordentlich Lärm zu machen.« Neil schaute zu Cazio hinüber. »Stephen«, sagte er, »könntet Ihr Cazio erklären, was wir gerade gesagt haben?« 47 Stephen kam seiner Bitte nach, und als er fertig war, grinste der Degenfechter und nickte. Neil entkleidete sich bis auf sein gestepptes Wams, nahm Draug, und kurz darauf umgingen sie den Kamm im Osten, zuckten bei jedem knackenden Zweig zusammen und hofften inständig, dass Aspar in jeder Hinsicht Recht haben möge. Sie hätten sich keine Sorgen zu machen brauchen. Der Kamm machte ein Biegung, genau wie der Waldhüter es vorausgesagt hatte, und bildete unter ihnen eine Art Sackgasse. Der Hügelgrat senkte sich in der Biegung wieder und begann dann, zu jener höher gelegenen Kuppe anzusteigen, wo ihre Feinde warteten. Hin und wieder hörten sie Worte, die zwischen Aspar, Winna und Stephen und den Männern vor ihnen hin und her gebrüllt wurden. Das war eine Erleichterung, weil es ihnen im schwindenden Licht einen weiteren Anhaltspunkt gab. Neil ertappte sich dabei, dass er die Luft anhielt. Verärgert zwang er sich, gleichmäßig zu atmen. Er hatte schon öfter heimliche Angriffe durchgeführt - auf den Stränden und hoch gelegenen Wiesen der Inseln hatte er viele nächtliche Kämpfe ausgefochten, war in Stellung gegangen, um den Gegner zu überrumpeln. Doch auf den Inseln gab es Sand und Felsen, Moos und Heidekraut. Sich mit Aspars leichtfüßiger Lautlosigkeit durch diese
trügerischen Hügel und Wälder zu bewegen lag außerhalb seiner Fähigkeiten. Er blickte zu Cazio hinüber und sah, dass der Vitellianer mit der gleichen übertriebenen Vorsicht auftrat. Das Gebrüll vor ihnen kam jetzt näher. Neil duckte sich tiefer und griff nach seinem Schwert. Aspar drehte sich um, als er Stephen nach Luft schnappen hörte. »Was ist?« »Überall um uns herum«, stieß Stephen hervor. »Aus jeder Richtung.« 48 »Noch mehr von ihnen? Ein Hinterhalt?« »Nein, nein«, sagte Stephen. »Sie sind leiser als vorher, viel leiser, beinahe wie Wind in den Bäumen. Seine Macht wächst, und ihre auch ...« »Slinderlinge«, keuchte Winna. »Slinderlinge«, bestätigte Stephen. »Sceat«, knurrte Aspar. Cazio blieb stehen, als er durch die herbstkahlen Bäume hindurch etwas Buntes aufblitzen sah. Das Unterholz war dicht und dornig, von Blaubeeren, Hurenreben und Kreuzblumenranken durchwuchert. Zu seiner Rechten sah er Neil MeqVren, der ebenfalls innegehalten hatte. Das Gestrüpp war zugleich ein Vorteil und ein Problem; die Bogenschützen unter ihren Feinden würden sich schwer tun, ein Ziel zu finden, bis sie fast auf der Lichtung wären. Andererseits würde es Cazio und den Ritter behindern. Falsch. Urplötzlich stürmte Sir Neil vorwärts und wirbelte seine unheimliche Metzgerklinge vor sich herum wie das Buschmesser eines Gärtners, und das Unterholz widerstand ihr ebenso wenig wie Fleisch oder Panzerstahl. Er folgte Neil auf dem Fuße und wünschte sich, er wüsste ein klein wenig mehr über den Plan. Erregung bebte angespannt in ihm, wie das straffe Tau einer wurfbereiten Bailiste. Sobald Sir Neil auf die Lichtung hinausstürmte, huschte Cazio um ihn herum und trat direkt in die Bahn eines schwarz gefiederten Schafts. Der Pfeil schrammte über seinen Bauch, und Cazio spürte einen heftigen Schmerz. Er konnte nicht sagen, ob er ihm die Eingeweide herausgerissen oder ihn nur angekratzt hatte, und er hatte auch keine Zeit nachzusehen, da ein ungeschlachter Kerl mit einem Breitschwert eilig auf ihn zugeschnauft kam. Cazio streckte Caspator gerade nach vorn; das Rapier war mit Leichtigkeit doppelt so lang wie das Hackwerkzeug, das sein Wi49 dersacher führte. Der Bursche war schlau genug, um das zu begreifen, und er schlug heftig nach der schmalen Klinge, um sie aus seiner Bahn zu schieben. Allerdings war er nicht schlau genug, um seinen Angriff abzubremsen; anscheinend vertraute er darauf, dass sein wilder Hieb nach dem Degen erfolgreich sein würde. Doch mit einer geschickten Bewegung seines Handgelenks wich Cazio der Waffe aus, ohne dabei die vorgestreckte Stellung aufzugeben, sodass ihm der Mann höchst entgegenkommend geradewegs in die Klinge rannte. »Ca dola da -«, setzte Cazio dazu an, seinem Gegner wie gewohnt zu erklären, welche Lektion der Dessrata ihn soeben verwundet hatte. Er brachte den Satz allerdings nicht zu Ende, denn -aufgespießt oder nicht - der klobige Bursche zielte mit einem heftigen Hieb auf Cazios Kopf. Er entging ihm nur, indem er sich duckte, was einen neuerlichen Schmerzblitz über seinen Leib zucken ließ. Die Klinge verfehlte ihn, doch der Schwung des Schlags ließ den Schwertarm des Mannes gegen Cazios Schulter krachen. Cazio ergriff den Arm mit der Linken und hielt ihn fest, während er Caspator drehte und aus der Lunge des Mannes befreite. Einen Moment lang füllten seegrüne Augen Cazios Welt, und schaudernd wurde ihm klar, dass das, was er dort sah, weder Hass noch Zorn war, nicht einmal eine brodelnde Kampfeswut, sondern Entsetzen und Verzweiflung. »Nicht...«, keuchte der Mann. Cazio stieß ihn fort; ihm war übel. Es gab kein »Nicht«. Der Mann war bereits tot, er konnte diese Tatsache nur noch nicht akzeptieren. Was tat er hier? Cazio hatte sich seit seinem zwölften Lebensjahr duelliert, doch er hatte niemals gekämpft, um zu töten. Es war ganz einfach nicht nötig gewesen. Aber jetzt ist es nötig, dachte er grimmig, als er einem kauernden Bogenschützen die Sehne seiner Waffe durchschnitt und ihn damit daran hinderte, ihm ins Gesicht zu schießen. Dann ließ er 50 einen heftigen Tritt folgen, der den Mann unter dem Kinn traf und ihn in ein Bett aus Dornen und Gebüsch beförderte. Gerade drehte er sich um, um sich einem weiteren Angreifer zu stellen, als der Wald barst. Er hatte ein jähes Empfinden von Dunkelheit, nahm den Dunst ungewaschener Leiber und noch von etwas anderem wahr - ein Geruch wie der süße Rauschduft am Rebstock verfaulender Trauben, ein Geruch von schwarzer Erde. Dann schien es, als griffen hundert Glieder nach ihm, umklammerten ihn, und er wurde ins Chaos hinabgezogen. 3. Kapitel Bekanntes und fremdes Land
Annes Pferd schnaubte ängstlich, als sie sich einer weiteren Mauer aus schwarzen Dornen näherten, die sich so dicht zwischen den Bäumen dahinwanden, dass sie allem, was größer als eine Wühlmaus war, den Zutritt verwehrten. »Ruhig«, sagte Anne und klopfte dem Tier auf den Hals. Es zuckte zusammen und scheute vor ihrer Berührung zurück. »Sei brav«, seufzte Anne. »Ich gebe dir auch einen Namen, in Ordnung? Was wäre denn ein guter Name?« Mercenjoy, schien eine kleine Stimme in ihr zu kichern, und einen Moment lang war ihr so schwindlig, dass sie befürchtete, vom Pferd zu fallen. »Nein, nicht Mercenjoy«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihrem Reittier. So hieß das Pferd des Dunklen Ritters in den Phay-Märchen, fiel es ihr wieder ein, und der Name bedeutete »Mordross«. 51 »Du hast einem bösen Menschen gehört«, sagte sie so tröstend wie möglich, »aber du bist kein schlechtes Pferd. Mal sehen, ich glaube, ich nenne dich Prespine, nach der Heiligen des Labyrinths. Sie hat aus ihrem Irrgarten herausgefunden - und jetzt hilfst du mir, aus diesem hier herauszukommen.« Noch während sie das sagte, erinnerte sich Anne an einen Tag, der jetzt lange zurückzuliegen schien, einen Tag, als ihre Sorgen verhältnismäßig einfacher Natur gewesen waren und sie auf der Geburtstagsfeier ihrer Schwester gewesen war. Dort hatte es ein Labyrinth gegeben, aus Blumen und Ranken, doch binnen eines Moments hatte sie sich in einem ganz anderen Irrgarten wiedergefunden, an einem fremdartigen Ort ohne Schatten, und seitdem war nichts mehr einfach gewesen. Anne hatte nicht aufstehen wollen, um das Pferd einzufangen und loszureiten. Sie hatte zusammengekauert zwischen den Wurzeln des Baums sitzen bleiben wollen, bis jemand kam und ihr half oder bis es nicht mehr wichtig war. Doch die Angst hatte sie zum Aufstehen getrieben - die Angst, dass, wenn sie lange an einem Ort blieb, etwas noch Schlimmeres als der Tod sie einholen könnte. Sie schauderte, als der Wind sich drehte und einen Gestank von den schwarzen Ranken herbeitrug, einen Geruch, der sie an Spinnen denken ließ, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, jemals eine Spinne gerochen zu haben. Die seltsamen Gewächse hatten auch etwas Spinnenartiges. Ranken und Blätter glänzten und wirkten giftig. Sie wendete Prespine und folgte den Dornen, hielt jedoch respektvollen Abstand zu ihnen. Weit entfernt zur Linken glaubte sie, eine Zeit lang eine Art Geheul zu vernehmen, doch so schnell, wie es begonnen hatte, war es auch wieder verstummt. Die Sonne zog durch den Mittag und dann weiter auf ihr Nachtquartier im Wald-jenseits-der-Welt zu. Anne dachte bei sich, dass der Ort, wo die Sonne schlief, auch nicht eigentümlicher oder schrecklicher sein konnte als dieser hier. Die Dornenranken schie52 nen sie beinahe zu leiten, sie irgendwo hinzutreiben, wo sie fast sicher nicht hinwollte. Als der Himmel dunkler wurde, begann sie außerdem, etwas hinter sich zu spüren, und sie wusste, dass sie vorhin, bei dem Baum, Recht gehabt hatte. Irgendetwas war wirklich hinter ihr her. Es fing so klein an wie ein Insekt, doch es wuchs, die unzähligen Augen gierig auf ihren Rücken gerichtet. Aber wenn sie sich umdrehte, ganz gleich, wie rasch, war es fort. Sie hatte dieses Spiel als Kind gespielt, so wie es die meisten Kinder tun. Sie und Austra hatten so getan, als wäre der grausige Scaos hinter ihnen her, ein so schreckliches Ungeheuer, dass man es nicht ansehen konnte, ohne zu Stein zu werden. Wenn sie allein war, hatte sie sich vorgestellt, ein Gespenst wandele hinter ihr, manchmal fast am Rande ihres Gesichtsfeldes, doch es war nie da, wenn sie sich umdrehte. Manchmal hatte ihr das Angst gemacht, manchmal hatte sie es genossen; für gewöhnlich war es beides gewesen. Furcht, die man beherrschen konnte, hatte einen gewissen köstlichen Geschmack. Diese Furcht konnte sie nicht beherrschen. Sie schmeckte ganz und gar nicht gut. Und sie verdichtete sich immer mehr. Die unsichtbaren Finger tasteten sich immer näher an ihre Schulter heran, und wenn sie herumfuhr, war dort etwas, wie ein Fleck, den die helle Sonne auf der Innenseite des Augenlids zurücklässt. Die Luft schien um sie herum zu gerinnen, die Bäume sich müde erdwärts zu neigen. Etwas war ihr zurück gefolgt. Aber zurück von woher? Wo war dieser Ort der dunklen Wasser gewesen? Sie war schon früher über die Welt hinausgereist oder zumindest über ihren Teil der Welt hinaus. Meistens war sie an dem Aufenthaltsort der Glaubenden gewesen, der manchmal ein Wald war, manchmal ein enges Tal, manchmal eine Bergwiese. Einmal hatte sie Austra dorthin mitgenommen, um ein paar Rittern zu entkommen, die auf Mord sannen. Der Ort, an den sie mit dem Sterbenden geraten war, war an53 ders. War es das Land der Toten gewesen oder nur dessen Grenzgefilde? Sie erinnerte sich daran, dass es im Land der Toten zwei Flüsse geben sollte - obgleich sie nicht mehr wusste, weshalb -, aber da waren mehr als zwei gewesen; dort waren tausende gewesen. Und der Dornenkönig - er war von diesen Wassern eingeschnürt worden, oder zumindest hatten sie versucht, ihn zu fesseln. Was bedeutete das? Und wer war er?
Er hatte ihr etwas mitgeteilt, nicht mit Worten, doch sein Begehren war nichtsdestotrotz klar gewesen. Woher wusste er überhaupt, wer sie war? Das Gesicht der Dämonenfrau blitzte in ihrer Erinnerung auf, und erneut durchzuckte sie Entsetzen. War es das, was ihr folgte? Ihr fiel wieder ein, dass die Glaubenden ihr gesagt hatten, das Gesetz des Todes sei gebrochen worden, was immer das auch bedeutete. Hatte sie irgendein Verbrechen wider die Heiligen begangen und sich den Tod auf die Fersen gehetzt? Rotgoldene Sonne strömte plötzlich wie ein Wasserfall durch die oberen Äste, und mit schrecklicher Erleichterung wurde ihr bewusst, dass die Dornen ein Ende genommen hatten. Nicht weit vor ihr wurden auch die Bäume lichter und wichen einer ausgedehnten, endlosen Wiese voll vergilbtem Gras. Mit einem aus Angst und Triumph gemischten Aufschrei trieb sie Prespine aufs offene Gelände hinaus und spürte, wie die geisterhafte Gegenwart hinter ihr schwand und wieder in die Dornenschatten zurückschlich, wo sie sich wohl fühlte. Tränen schössen Anne in die Augen, als ihre Kapuze zurückfiel und der Wind durch ihr grob gekürztes Haar fuhr. Die Sonne stand dicht über dem Horizont, ein orangefarbenes Auge, halb von Wolkenlidern bedeckt, die wie dunkle Prellungen einen goldenen Westen verunzierten. Die prachtvollen Farben verblassten in einem abendlichen Himmel von so dunklem Blau, dass sie sich fast vorstellte, es sei Wasser - dass sie hineinschwimmen und sich in seinen Tiefen verstecken könnte und vor der Welt in Sicherheit wäre. 54 Die Wolken hatten sich weitgehend verzogen, es hatte aufgehört zu schneien, und alles schien besser zu sein. Doch Anne ließ Prespine weitergaloppieren, bis der Wald nur noch ein immer dünnerer Strich hinter ihr war. Dann ließ sie sie in Schritt fallen, klopfte der Stute auf den Hals und fühlte den mächtigen Puls, beinahe im Takt mit ihrem eigenen. Es war noch immer kalt - tatsächlich fühlte es sich kälter an als vorhin, als es geschneit hatte. Wo war sie? Anne ließ den Blick über die unvertraute Landschaft gleiten und versuchte, irgendeinen Anhaltspunkt heraufzubeschwören. Sie hatte den Landkarten, die ihre Lehrer ihr gezeigt hatten, als sie jünger gewesen war, nie besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt. Das bereute sie jetzt schon seit etlichen Monaten. Der Sonnenuntergang zeigte natürlich den Westen. Die Ebene senkte sich allmählich vom Wald herab, daher konnte sie ein gutes Stück weit sehen. Im Osten ließ die Abenddämmerung einen Fluss schimmern, auf dessen anderer Seite, weit entfernt, sie die schwarze Linie weiterer Bäume erkennen konnte. Der Fluss beschrieb eine Biegung nach Norden und verschwand am Horizont. Mehr in der Nähe erblickte sie zu ihrer Freude die Spitze von etwas, das ein Glockenturm sein musste. In dieser Richtung schien die Landschaft mit kleinen Hügeln gesprenkelt zu sein - bei denen es sich, wie ihr einen Moment später klar wurde, um Heuhaufen handeln musste. Einen langen Augenblick hielt sie inne und betrachtete die fernen Zeichen menschlicher Anwesenheit; ihre Gefühle bewölkten sich ein wenig. Eine Stadt bedeutete Menschen, und Menschen bedeuteten Essen, Obdach, Wärme, Gesellschaft. Es konnte aber auch Gefahr bedeuten; der Mann, der sie angegriffen hatte - er musste sie angegriffen haben -, war irgendwoher gekommen. Dies war der erste Ort, den sie sah, der eine Erklärung für ihn sein könnte. Und wo waren Austra und die anderen? Hinter ihr, vor ihr - oder tot? 55 Sie atmete tief durch, versuchte, die Spannung in ihren Schultern zu lockern. Sie hatte sich mit Cazio unterhalten, und alles war in Ordnung gewesen. Dann war sie plötzlich allein mit einem sterbenden Mann. Die vernünftigste Schlussfolgerung war, dass er sie irgendwie entführt hatte, aber wieso konnte sie sich nicht daran erinnern, wie es passiert war? Sogar der bloße Versuch, darüber nachzudenken, verursachte jähe Panik, die drohte, alle anderen Gedanken in ihrem Verstand zu vernebeln. Also schob sie das beiseite und richtete ihr Augenmerk auf die Gegenwart. Wenn ihre Freunde noch am Leben waren, suchten sie nach ihr. Wenn nicht, war sie allein. Könnte sie eine Nacht ganz allein auf dieser Ebene überleben? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Das hing davon ab, wie kalt es wurde. Prespines Satteltaschen enthielten ein wenig Brot und getrocknetes Fleisch, mehr jedoch nicht. Sie hatte zugesehen, wie Cazio und z'Acatto Lagerfeuer entzündet hatten, doch sie hatte unter den Habseligkeiten des Toten nichts gesehen, was einer Zunderbüchse ähnelte. Widerstrebend fasste sie einen Entschluss und trieb die Stute auf die Stadt zu. Sie musste zumindest wissen, wo sie sich befand. Hatte sie es bis Loiyes geschafft? Wenn ja, dann müsste das Dorf vor ihr unter der Herrschaft ihrer Tante stehen. Wenn sie nicht in Loiyes war, musste sie dorthin. Dessen war sie sich jetzt sicherer denn je, denn sie hatte es im Gesicht des Dornenkönigs gesehen. Ihr wurde klar, dass sie noch etwas wusste. Zumindest Stephen Darige war am Leben. Sie wusste das, weil der Dornenkönig es wusste. Und es gab etwas, das Stephen tun sollte. Nach kurzer Zeit stieß sie auf eine ausgefahrene Lehmstraße, die breit genug für Fuhrwerke war; tief in die Landschaft eingekerbt, war sie bisher ihrem Blick verborgen gewesen. Von dort aus, wo 56 sie sie erreicht hatte, wand sich die Straße durch bestelltes Land dahin. Sie bemerkte kleine grüne Spitzen, die
aus dem Schnee hervorlugten, woraufhin sie sich fragte, was Bauern wohl im Winter anbauten oder ob das bloß Unkraut war. Die Heuhaufen, die sie von fern gesehen hatte, waren erstaunlich groß. Dürre Vogelscheuchen in zerfetzten Lumpen starrten hohläugig aus Strohköpfen oder schwarzen, verschrumpelten Kürbisschädeln. Der Holzrauch und sein tröstlicher Geruch hüllten die kalte Erde ein, und bald darauf kam sie zu einem kleinen Haus mit weißen Lehmwänden und einem steilen Reetdach. Ein Schuppen, der an einer Seite angebaut war, schien als Stall zu dienen; eine Kuh beobachtete sie mit stumpfer Neugier unter dem Dachrand hervor. Sie konnte einen Mann in schmutzigem Wams und Beinkleidern erkennen, der mit einer hölzernen Gabel Heu von einem Heuboden herunterzerrte. »Verzeiht«, rief sie zögernd. »Könnt Ihr mir sagen, wie der Ort dort vorn heißt?« Der Mann schaute sich nach ihr um, und seine müden Augen weiteten sich ein wenig. »Ah, edeu«, sagte er. »Ist geheißen Sevoyne, Mylady« Anne stutzte angesichts seines Akzents. »Sevoyne?«, fragte sie. »Ist das in Loiyes?« »Edeu, Mylady Loiyes sein hier. Wo soll sie sein sonst mit Verlaubnis?« Anne ließ die Frage unbeachtet. »Und könnt Ihr mir sagen, wo von hier aus gesehen Glenchest liegt?«, forschte sie weiter. »Glenchest?« Seine Stirn legte sich in Falten. »Ist fastlich vier Meilen, ich glaube, entlang die Straße hier größte Stück. Ihr tut Arbeit für Herzogin dort, Lady?« »Dort will ich hin«, erwiderte Anne. »Ich habe mich nur ein wenig verirrt.« »Niemals ich so weit gewesen«, erklärte der Mann. »Aber Leute sagen, ist nicht schwerlich, dort hinzufinden.« 57 »Dann vielen Dank«, sagte Anne. »Habt Dank.« »A'plezee, und gutes Weg, Mylady«, erwiderte der Mann. Als Anne weiterritt, hörte sie eine Frauenstimme hinter sich. Der Mann antwortete, und diesmal benutzte er eine Sprache, die sie nicht kannte. Dies war also Loiyes, im Herzen Crotheniens. Wie kam es dann, dass die Bauern hier nicht zuerst die Sprache des Königs sprachen? Und wie kam es, dass sie das nicht gewusst hatte? Sie war schon oft in Loiyes gewesen, in Glenchest. Die Menschen in der Stadt Glenchest beherrschten die Sprache des Königs sehr gut. Laut diesem Mann war die Stadt weniger als einen Tagesritt von hier entfernt. Sie hatte so viel Zeit damit zugebracht, in fremden Ländern zu reisen. Der Gedanke an eine Heimkehr - daran, einen Ort zu erreichen, wo die Menschen die Mundart sprachen, mit der sie aufgewachsen war - war etwas, wonach sie sich seit Monaten gesehnt hatte. Jetzt war sie hier, bloß um zu entdecken, dass das Land ihrer Geburt ihr fremder war als je zuvor. Als Anne Sevoyne erreichte, verschwanden die allmählich zum Vorschein kommenden Sterne hinter einer neuerlichen Wolkendecke, die von Osten heranzog und Anne wieder die Beklemmungen bescherte, die sie im Wald empfunden hatte. Ihr schweigender Verfolger war abermals nahe, kühner geworden durch die tiefen Schatten. Sie kam am Horz der Stadt vorüber, der einen Stelle, wo alles vollkommen wild wachsen durfte, wenngleich gefangen innerhalb einer uralten Steinmauer. Zum ersten Mal bemerkte Anne diesen Widerspruch, und sie spürte ihn heftig, ein weiterer wohl bekannter Stein in ihrer Welt, der umgedreht wurde, um die kriechenden Wesen zu offenbaren, die darunter schwärten. Der Horz stand für die wilde, ungezähmte Natur. Seine Heili58 gen waren Seifan, Schutzpatron der Pinien, Rieyene, Bewahrerin der Vögel, und Fessa, Mutter der Blumen - die wilden Heiligen. Wie mussten die wilden Heiligen es finden, in Banden zu liegen, wenn ihnen einst die ganze Welt gehört hatte? Sie dachte an den Horz in Tero Galle, wo sie in jene andere Welt eingetreten war. Sie hatte dort ein Gefühl von krankhaftem Zorn verspürt, von hilfloser Enttäuschung, die in Wahnsinn umgeschlagen war. Einen Moment lang schienen die Steinmauern zu einer Hecke aus schwarzen Dornenranken zu werden, und das Bild von der Gestalt mit dem Geweih kehrte zu ihr zurück. Er war wild - und wie alles wirklich Wilde war er Furcht einflößend. Die Dornen versuchten, ihn zu fesseln, oder nicht? So wie die Mauern des Horz die Wildnis einschnürten. Aber wer hatte die Dornen geschickt? Und hatte sie selbst das gedacht, oder hatte er das in ihrem Kopf zurückgelassen? Wie war sie auf diese Verbindung gekommen? Einerseits konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, was mit ihr geschehen war. Andererseits kamen ihre Gedanken zu seltsamen Schlussfolgerungen. Hatte sie vollkommen die Kontrolle über ihren Verstand verloren? War sie verrückt? »Detoi, meyez«, sagte jemand und unterbrach ihren Gedankengang. »Quey veretoi adeyre en se zevie?« Anne versuchte angespannt, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Zu ihrer Überraschung stellte sich das, was ihr lediglich wie ein Schatten erschienen war, als ein Mann mittleren Alters heraus, der eine Livree trug, die sie wiedererkannte - die Sonne, den Speer und den springenden Fisch der Herzöge von Loiyes. »Sprecht Ihr die Sprache des Königs, Sir?«, fragte sie.
»Das tue ich«, antwortete der Mann. »Und ich entschuldige mich für meine Unverfrorenheit. Im Dunkeln konnte ich nicht sehen, dass Ihr eine Lady seid.« Jetzt verstand Anne das Gebaren des Bauern. Ihre Sprache und der Akzent, mit dem sie sie gebrauchte, wiesen sie augenblicklich als Adlige aus Eslen aus - oder zumindest als die Dienerin einer 59 Adligen. Ihre Kleidung, so schmutzig sie auch sein mochte, bestätigte dies. Das konnte gut oder schlecht sein. Nein, nicht gut oder schlecht. Sie war allein, ohne Beschützer. Wahrscheinlich war es schlecht. »Mit wem habe ich die Ehre, Sir?« »Mechoil MeLemved«, antwortete er. »Hauptmann der Wache von Sevoyne. Habt Ihr Euch verirrt, Lady?« »Ich bin unterwegs nach Glenchest.« »Allein? Und in diesen Zeiten?« »Ich hatte Begleiter. Wir wurden getrennt.« »Nun, kommt fort aus der Kälte, Lady. Der coirmthez - verzeiht mir, das Gasthaus - wird ein Zimmer für Euch haben. Vielleicht warten Eure Begleiter bereits auf Euch.« Annes Hoffnungen schwanden noch mehr. Der Hauptmann schien zu wenig überrascht, zu schnell bereit, ihr entgegenzukommen. »Ich sollte Euch warnen, Hauptmann MeLemved«, sagte sie, »dass schon früher versucht wurde, mich zu täuschen und mir etwas anzutun, und dass meine Geduld mit dergleichen äußerst begrenzt ist.« »Ich verstehe nicht, Prinzessin«, erwiderte der Hauptmann. »Was sollte ich Euch denn antun wollen?« Sie spürte, wie ihr Gesicht erstarrte. »Gewiss überhaupt nichts«, gab sie zurück. Sie setzte Prespine mit einem Tritt in Bewegung, schickte sich an, die Stute zu wenden. Dabei entdeckte sie, dass jemand hinter ihr war, und noch während sie dies feststellte, bemerkte sie etwas am Rande ihres Gesichtsfeldes, kurz bevor es ihr hart seitlich gegen den Kopf schlug. Sie keuchte, und im nächsten Moment gruben sich starke Finger in ihre Arme und zerrten sie vom Pferd. Sie wand sich, trat um sich und schrie, doch ihre Schreie wurden rasch von etwas erstickt, das ihr in den Mund geschoben wurde; gleich darauf folgte der Geruch von Korn, als man ihr einen Sack über den Kopf zog. Wut 60 flammte auf, und sie griff nach jenem Ort, wo Krankheit hauste, Krankheit, die sie über andere bringen konnte. Was sie stattdessen fand, war ein so heftiges Grauen, dass sie ihm nur durch einen neuerlichen Rückzug in die Finsternis entkommen konnte. Prustend erwachte sie, ihre Nase brannte, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ein scharfer Branntweingeruch umgab alles, doch das schien eigenartig weit weg zu sein. Ihre Augen öffneten sich, und durch glasigen Schwindel hindurch sah sie, dass sie sich in einem kleinen Zimmer befand, das von mehreren Kerzen erleuchtet war. Jemand zog ihr Haar nach hinten, und obgleich sie das Ziehen an den Haarwurzeln spürte, tat es nicht besonders weh. »Jetzt bist du wach, wie?«, knurrte eine Männerstimme. »Na, dann trink.« Der harte Mund einer Flasche wurde gegen ihre Lippen gepresst, und etwas Nasses strömte in ihren Mund. Sie spuckte es aus, vollkommen verwirrt; sie erkannte dieses Gefühl wieder, erinnerte sich, dass etwas passiert war, wusste jedoch nicht genau, was. Da war eine Frau gewesen, eine grauenhafte Frau, eine Dämonin, und sie war vor ihr geflohen, genau wie schon einmal... »Schlucken«, grollte der Mann. Da begriff Anne, dass sie betrunken war. Sie hatte sich schon mehrmals betrunken, mit Austra. Meistens war es angenehm gewesen, doch ein paar Mal war ihr furchtbar übel geworden. Wie viel hatten sie ihr eingeflößt, während sie geschlafen hatte? Genug. TAX ihrem Entsetzen hätte sie beinahe gekichert. Der Mann hielt ihr die Nase zu und schüttete ihr mehr von dem Zeug in die Kehle. Diesmal schluckte sie; Feuer kroch in ihren Leib, der bereits bis zum Brennen erhitzt war. Sie verspürte jähe Übelkeit, doch das verging rasch. Ihr Kopf pulsierte angenehm, und alles um sie herum schien viel zu schnell zu geschehen. 61 Der Mann trat dorthin, wo sie ihn sehen konnte. Er war nicht sehr alt - vielleicht ein paar Jahre älter als sie. Er hatte lockiges braunes Haar, das an den Spitzen heller war, und haselnussbraune Augen. Nicht gut aussehend, aber auch nicht hässlich. »Siehst du«, sagte er, »du hast keinen Grund, es mir schwer zu machen.« Anne fühlte, wie ihre Augen hervortraten, und plötzlich brannten Tränen darin. »Werdet mich umbringen«, sagte sie lallend. Sie hatte eigentlich etwas viel Komplizierteres sagen wollen, doch es war nicht herausgekommen. »Nein, das werde ich nicht tun.« »Werdet Ihr doch.« Er sah sie einen Moment lang stirnrunzelnd an, ohne zu sprechen. »Warum - warum bin ich betrunken?«, wollte sie wissen. »Damit du nicht versuchst zu fliehen. Ich weiß, dass du eine Hexe bist. Es heißt, Branntwein macht es euch schwerer, eure Künste anzuwenden.«
»Ich bin keine Hexe«, fuhr sie ihn an. Dann, alle Beherrschung war dahin, begann sie zu schreien. »Was wollt Ihr von mir?« »Ich? Gar nichts. Ich warte nur auf die anderen. Wie bist du überhaupt entkommen? Wieso warst du allein?« »Meine Freunde kommen«, behauptete sie. »Glaubt mir. Und wenn sie hier sind, werdet Ihr das bereuen.« »Ich bereue es jetzt schon«, erwiderte der Mann. »Sie haben mich für alle Fälle hier zurückgelassen, aber ich hätte nie gedacht, dass ich mich mit dir herumschlagen muss.« »Also, ich ...« Doch sobald sie den Gedanken angefangen hatte, verlor sie ihn auch schon wieder. Tatsächlich wurde es schwerer, überhaupt zu denken, und ihre Furcht von vorhin, dass sie dabei war, den Verstand zu verlieren, machte sich als eine Art geheimer Scherz erneut bemerkbar. Ihre Lippen fühlten sich riesig und schwammig an, und ihre Zunge war scheinbar so groß wie ihr Kopf. 62 »Ihr habt mir eine Menge zu dr... zu trinken gegeben.« »Ja, das stimmt.« »Wenn ich einschlafe, bringt Ihr mich um.« Sie spürte, wie sich eine Träne in ihrem Augenwinkel sammelte und ihre Wange hinunterrann. »Nein, das ist doch dumm. Ich hätte dich längst umgebracht, oder? Nein, sie wollen dich lebendig.« »Warum?« »Woher soll ich das wissen? Ich arbeite bloß für meine retoiyers. Die anderen -« »Kommen nicht wieder«, sagte Anne. »Was?« »Sie sind alle tot, seht Ihr das nicht ein? Alle Eure Freunde sind tot.« Sie lachte, wusste nicht genau, warum. »Du hast sie gesehen?«, fragte er unruhig. Anne log durch ein Kopfnicken. Es fühlte sich an, als wackle sie mit einem riesigen Kessel auf der Spitze einer dünnen Stange. »Sie hat sie getötet.« »Wer >sie