Matthias Rüb
Der atlantische Graben
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Matthias Rüb
Der atlantische Graben
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Ausweitung der Kampfzone? Zwischen Europa und den USA stehen die Zeichen auf Sturm. Die Diagnose einer Entfremdung. ISBN: 3-551-05321-2 Verlag: Paul Zsolnay Erscheinungsjahr: 2004
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Buch Es wird nicht mehr, wie es einmal war: Amerika und Europa gehen in Zukunft auf getrennten Wegen. Der Streit um den Krieg im Irak hat diesen Entfremdungsprozeß nicht verursacht, sondern allenfalls beschleunigt. Während sich das amerikanische Volk in großer Mehrheit hinter seinen Präsidenten scharte, waren die Völker und viele Regierungen Europas geeint in der Ablehnung des Krieges – und zwar über die alten Grenzen der Weltanschauungen hinweg. Was bedeutet dieser Bruch, der umso erstaunlicher ist angesichts des gerade erst mit vereinten Kräften errungenen Sieges im Kalten Krieg sowie der gemeinsamen Bedrohung durch den internationalen Terrorismus? Matthias Rüb, politischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Washington, zeichnet in seinem neuen Buch zum einen die unterschiedliche Auslegung des vergangenen »Zeitalters der Extreme« auf beiden Seiten des Atlantiks nach. Und zum anderen beschreibt er anhand der jeweiligen Einstellung zu Nation und Religion, zu Wirtschaft, Militärmacht und Weltherrschaft zwei völlig verschiedene Lebens- und. Wahrnehmungswelten. Europa und Amerika, so Rüb, fechten zwar keinen »Kampf der Zivilisationen« aus, aber sie befinden sich in einem Wettbewerb der Visionen, dessen Ausgang völlig ungewiß ist.
Autor Matthias Rüb, geboren 1961 in Zavelstein bei Calw. Ab 1989 Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, von 1994 bis 2002 deren Korrespondent für Mittel- und Südosteuropa, seither für Nordamerika.
Inhalt Vorwort ................................................................................ 5 Anlaß einer Entfremdung Der Streit um den Irak-Krieg ............................................. 27 Die Sache unserer Nation Amerikas »Krieg gegen den Terrorismus« ....................... 52 Der Wille zur großen Strategie George W. Bushs »messianischer Militarismus« .............. 81 Wo Gottes Wort gilt Auf den Schwingen der Freiheit und der Religion............. 99 Wer dazu gehört Auf 1000 Wegen zum amerikanischen Traum................. 117 In der Wildnis der Millionäre Coole Wirtschaft, heiße Politik ........................................ 165 Nachwort .......................................................................... 176 Ausgewählte Literatur ...................................................... 179
Vorwort
E
pochen enden nicht von heute auf morgen. Vielmehr ist es, als sammle die Geschichte über Jahre und Jahrzehnte hinweg Argumente, um sich zuerst selbst Klarheit zu verschaffen und um hernach der Historiographie Material für eine übersichtliche Darstellung des Geschichtsverlaufes zur Verfügung zu stellen. Vielleicht wird man einmal auf die Jahre zwischen 1989 und 2001 als eine solche Gärzeit des Fakten- und Argumentesammelns zurückschauen. Es sind zwei Daten, die den Beginn und das Ende dieses Interregnums markieren: der 9. November 1989 und der 11. September 2001. An diesen Schlüsseltagen werden weltberühmte Bauwerke von Menschenhand zu Fall gebracht: die Mauer in Berlin sowie das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington. So symbolträchtig die Bauwerke selber sind, so vielsagend ist die von den Abbrucharbeitern angewandte Technik. An der Berliner Mauer machen sich Abertausende zu schaffen, nicht ganz mit bloßen Händen, aber doch nur mit den vorindustriellen Gerätschaften Hammer und – nein, nicht Sichel, sondern Brecheisen. Es ist die friedliche Masse, die sich fast wie im Lied der Friedensbewegung aus den achtziger Jahren vom Wasser, das stärker ist als Stein, am Mauerbeton zu schaffen macht und diesen durch hartnäckige Anstrengung gewissermaßen zum Schmelzen bringt: »Wir wollen wie das Wasser sein / das weiche Wasser höhlt den Stein!« In New York und Washington dagegen sind es zu Mordinstrumenten umfunktionierte Passagierflugzeuge, die bevorzugten Verkehrsmittel des postindustriellen Zeitalters, mit welchen 19 Männer ihr Zerstörungswerk vollbringen und fast 3000 Menschen mit sich in den Tod reißen. Sie zeigen, was im Zeitalter der Weiterverbreitung von Hochtechnologie ein paar zu allem – 5
und zumal zum Sterben – entschlossene Fanatiker anrichten können. Das produktive Zerstörungswerk der Massen in Berlin schrumpft im Vergleich zum destruktiven Furor von jeweils einer Handvoll Luftpiraten in vollgetankten Passagierflugzeugen jedoch zusammen – so wie es auch die Produktivität handwerklichen Arbeitens aus den nostalgisch verklärten vorindustriellen Zeiten nicht mit dem Output technologisch gesteuerter Prozesse der postindustriellen Ära der Globalisierung aufnehmen kann. Der Fall der Berliner Mauer wurde zum Emblem, was friedliche Massen gegen Systeme vermögen, die im buchstäblichen wie im wörtlichen Sinne in die historische Wirklichkeit einbetoniert waren. Die friedlichen Revolutionen in der DDR, in Bulgarien, Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, der Umsturz in Rumänien – halb Putsch, halb Massenbewegung – sowie der verspätete Abschied der Steinzeitkommunisten in Albanien ebneten schließlich den Weg zum Zerfall der Sowjetunion 1991. Eine europäische Unordnung, die für die Ewigkeit geschaffen schien, kam nach etwas mehr als einem halben Jahrhundert zu einem für viele überraschend frühen und unblutigen Ende. Nicht nur war der atomare Holocaust im drohenden Krieg der Supermächte ausgeblieben, der nuklear hochgerüstete Block im Osten zerfiel zudem fast lautlos, anstatt in einem tosenden Zusammenbruch Millionen Menschen unter sich zu begraben. Das europäische Jahrhundert der beiden Weltkriege, des Gulags und der Schoah kam eben nicht in einer letzten konvulsivischen Zuckung zu einem katastrophalen Ende. Vielmehr löste sich kurz vor der Jahrhundertwende die destruktive Verkrampfung, und es schien endlich das Zeitalter einer friedlichen Entwicklung und des Konsenses durch Diskurs auf dem »alten« Kontinent heraufzuziehen. Vom »Ende der Geschichte« war die Rede, und wer etwas auf sich hielt, wußte um die allerjüngsten Publikationen zum Anbruch des postmodernen oder posthistorischen Zeitalters. Mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zur Nato und zur Europäi6
schen Union in den Schüben von 1999 und 2004 fand Europa wieder zu sich selbst, legte seine unter Kriegsschutt begrabenen Fundamente einer friedlichen Ordnung wieder frei und schritt scheinbar unbeirrt der Einheit in Vielheit und Freiheit entgegen. Der Fall der Berliner Mauer leitete ein Hochamt Europas ein, das nur durch die häßlichen Zerfallskriege im ehemaligen Jugoslawien vorübergehend entheiligt wurde. Es ist kein Zufall, daß es in Bosnien-Hercegovina, in Kroatien und im Kosovo jeweils einer indirekten oder direkten militärischen Intervention der Vereinigten Staaten und der amerikanisch geführten Nato bedurfte, um diesen Rückfall in die »alteuropäische« Praxis des Völkermords und der Massenvertreibung zu kurieren. Man war geradezu betrunken von dem Erfolg, am Ausgang eines blutigen Jahrhunderts einen historischen Durchbruch zum Besseren einmal nicht mit Blut und Tränen erkauft und letztlich um den Preis eines militärischen Eingreifens Amerikas erreicht zu haben. Sondern man vertraute ganz allein der friedlichen Riesenkraft der Völker des zusammenwachsenden Europa. Man wollte und konnte gar nicht einsehen, daß auch künftig in erster Linie Macht und Gewalt und nicht Konsens und Kompromiß die Richtung des Geschichtsverlaufs bestimmen würden. Ein Diktator wie Slobodan Milosevic wußte um diese romantisierende Schwäche, und er wußte sie ebenso auszunutzen wie die wiederaufgebrochenen Rivalitäten zwischen den europäischen Großmächten Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland. »Dies ist die Stunde Europas«, rief der damalige luxemburgische Außenminister Jacques Poos, als er an der Spitze einer Troika der damaligen Europäischen Gemeinschaft am 29. Juni 1991 in Belgrad eintraf, um den Völkern des faktisch schon am serbischen Herrschaftswillen zerfallenen Jugoslawien die Vorzüge des Zusammenlebens gegenüber der Kleinstaaterei zu erklären. Doch der blutige Zerfall Jugoslawiens war bekanntlich die Stunde Europas nicht. Es war vielmehr die Schande Europas, abermals Massenmord aus ethnisch motiviertem Haß zugelassen 7
zu haben – nicht vor der eigenen Haustür, wie es die Metapher sagte, sondern buchstäblich im Nachbarzimmer des gemeinsamen Hauses Europa. Doch der Fleck blieb nicht haften. Vielerorts wusch man ihn sogleich mit der Geschichtslegende fort, Titos sozialistisches Wunderland der »Brüderlichkeit und Einheit« – ein Europa der vielen Völker und Religionen im kleinen – sei nicht an inneren Widersprüchen und im besonderen an Milosevic’ Gewaltpolitik der »ethnischen Säuberung« zerbrochen, sondern an der unheilvollen Einmischung von außen, namentlich Deutschlands und der Vereinigten Staaten. Auch der Vatikan wurde hin und wieder zu den üblichen Verdächtigen gezählt. Jedenfalls verschandelte der jugoslawische Schönheitsfehler den Rückblick auf das »neueuropäische« Jahrzehnt vom Fall der Mauer bis zur Millenniumswende nicht nachhaltig. Wenn Europa im zerfallenden Jugoslawien auch seine Stunde verpaßt haben mochte, die Möglichkeiten des Jahrzehnts ergriff es am Schopf. Beflügelt von dem Erfolg, einmal nicht im ewigen Beißkrampf der Großmächte des Kontinents zu verharren, sondern auf eine wahrhafte europäische Einigung zuzuschreiten, wurde das Nahen des ewigen Friedens besungen. Etwa von dem französischen Publizisten Emanuel Todd in dessen vielleicht etwas voreiligem »Nachruf« auf die Weltmacht USA: »Im Herzen Europas zeigt vor allem das Beispiel der deutschfranzösischen Freundschaft, daß aus einem langwierigen Kriegszustand etwas werden kann, das sehr nahe an den ewigen Frieden herankommt.« Dem Krieg im ganzen abzuschwören und dem Frieden allein schon dadurch näher zu kommen, daß man sich immerzu seines Friedenswillens versicherte, war das Credo Europas an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Derweil wuchs auf der anderen Seite des Atlantiks ein Hegemon heran, der trotz des Wegfalls des großen Widersachers aus den Zeiten des Kalten Krieges gerade nicht auf das militärische Maß Rußlands als dem größten und stärksten Nachfolgestaat der 8
untergegangenen Sowjetunion zusammenschrumpfen wollte, sondern immerzu noch größer und stärker wurde. Statt sich auf die baldige Ankunft des in Europa fast schon angebrochenen ewigen Friedens auf dem ganzen Erdball mittels moderater oder gar drastischer Kürzungen der Militärausgaben vorzubereiten, rüstete die einzig verbliebene Weltmacht immer weiter auf. Die Streitkräfte wurden mobiler und schneller, die Transportkapazitäten für Einsätze in aller Welt verbessert, die jüngsten Errungenschaften der technologischen Entwicklung sogleich in neuen Waffensystemen angewandt – oder es waren umgekehrt die High-Tech-Waffen selbst, die den technologischen Fortschritt später auch im zivilen Bereich vorantrieben. Seit Jahren ist der Verteidigungshaushalt der Vereinigten Staaten so groß wie jener der folgenden sieben Länder der internationalen Rüstungsrangliste – China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Japan und Rußland – zusammengenommen. Von den weltweiten Rüstungsausgaben entfällt heute fast die Hälfte auf die Vereinigten Staaten. Der Abstand wird in den kommenden Jahren noch größer werden, denn Amerika gibt allein für die Erforschung und Entwicklung neuer Waffentechnologie fünfmal soviel aus wie die Staaten Europas. Diese Art von Landesverteidigung ist unübersehbar auf den globalen Zugriff ausgerichtet. Etwa eine halbe Million amerikanischer Soldaten sind ständig in Übersee stationiert. Das Pentagon unterhält 725 Stützpunkte und Militärbasen in aller Welt. Für das im Oktober beginnende Haushaltsjahr 2004/2005 ist ein Verteidigungsbudget von 416 Milliarden Dollar veranschlagt. Dabei sind die laufenden Kosten für die Besatzung und Befriedung des Iraks sowie der fortdauernden Militäroperation in Afghanistan in Höhe von etwa 60 Milliarden Dollar jährlich noch nicht mitgerechnet, weil diese jeweils in Nachtragshaushalten bewilligt werden. Nimmt man die Kosten für die Einsätze im Irak und in Afghanistan hinzu, geben die Vereinigten Staaten jeden Tag mehr als 1,23 Milliarden Dollar für Rüstung aus. Das 9
ist fast so viel wie das jährliche Budget der Vereinten Nationen, das seit einigen Jahren bei 1,25 Milliarden Dollar stagniert. Amerika also ist an der Schwelle zum 21. Jahrhundert ins Riesenhafte gewachsen, während Europa nach den Worten des ehemaligen Nato-Generalsekretärs George Robertson zum »militärischen Pygmäen« geschrumpft ist. Anderthalb Jahrzehnte nach dem »annus mirabilis« 1989 verfügt die Siegermacht der beiden Weltkriege und des Kalten Krieges über so viel »hard power« wie vielleicht kein Imperium zuvor in der Geschichte. Und doch blicken die meisten amerikanischen Politikwissenschaftler und Zeitgeschichtler auf das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts als auf ein verlorenes zurück. Joseph Nye, linksliberaler Politologe aus Harvard, dessen Unterscheidung von Amerikas militärisch-wirtschaftlicher »hard power« und sozio-kultureller »soft power« inzwischen kanonisch geworden ist, spricht davon, daß »wir nachlässig geworden sind in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts«. Und der gemäßigt konservative Historiker der amerikanischen Außenpolitik, Walter Russell Mead, schreibt schlichtweg: »Die zwölf Jahre zwischen dem Fall der Mauer 1989 und den Angriffen vom September 2001 waren verlorene Jahre in der amerikanischen Außenpolitik.« Was hat Amerika in jenem Jahrzehnt, welches die Europäer als eines der segensreichsten in ihrer jüngeren Geschichte in Erinnerung behalten werden, aus Nachlässigkeit versäumt? Warum war diese Zeit gar verloren? Die Antwort lautet: Die Vereinigten Staaten haben den sich anbahnenden Epochenbruch, die einsetzende Beschleunigung des historischen Prozesses verschlafen, weil sich Amerika in jenen Jahren zuviel mit Europa beschäftigt hat. »Drei Regierungen von zwei Parteien haben sich selbst mit der schönen Illusion von der Gesundheit des amerikanischen Systems eingelullt, während sich draußen auf See gewaltige Herausforderungen für dieses System zusammenbrauten«, schreibt Mead und fährt fort: »Es war ein partei10
übergreifendes Zeitalter des Narzißmus und des Hochmuts.« Man sei dem Aberglauben erlegen, »die Geschichte sei zu Ende und die Vereinigten Staaten hätten gewonnen«. Über die »unipolare Welt« sinnierte seinerzeit der konservative Publizist Charles Krauthammer, und die damalige Außenministerin Madeleine Albright pflegte von den Vereinigten Staaten als der »unverzichtbaren Nation« zu sprechen. In beiden Beschreibungen, so Mead, komme die selbstbetrügerische Überzeugung zum Ausdruck, Amerika »kontrolliere das internationale System und sehe sich keinem ernsthaften oder mächtigen Herausforderer ausgesetzt«. Der Blick auf Europa schien diese Annahme zu bestätigen. Der neokonservative Publizist Robert Kagan schreibt in seinem fulminanten Essay »Of Paradise and Power – America and Europe in the New World Order«, viele Europäer hätten »das Ende des Kalten Krieges zum Anlaß für einen Urlaub von der Strategie« genommen. Die durchschnittlichen Rüstungsausgaben der Mitgliedstaaten der Europäischen Union fielen unter zwei Prozent des Wirtschaftsprodukts, während die USA jährlich gut vier Prozent ihrer noch um einiges größeren Wirtschaftskraft für Waffen und Rüstung ausgaben. Der Abstand zur militärischen Kapazität der Vereinigten Staaten wuchs. Obwohl sich Amerika nicht der Illusion vieler Europäer hingab, militärische Macht würde im 21. Jahrhundert immer weniger gebraucht, ließen sich die Vereinigten Staaten von der geostrategischen »Urlaubsstimmung« der Europäer anstecken. Der Blick blieb auch zwischen 1989 und 2001 auf jene Weltgegend konzentriert, die im ausklingenden Jahrhundert, ja Millennium stets im Zentrum der weltgeschichtlichen Entwicklung zu stehen glaubte – und auch meistenteils stand: Europa. Aus dem kühlen Kopf und dem heißen Herzen Europas waren die Jahrtausendideen von Freiheit und Demokratie, aber auch die Jahrhundertideologien von Faschismus und Kommunismus in den Geisteshimmel gestiegen und noch im hintersten Winkel 11
Asiens oder Lateinamerikas niedergegangen. Das 20. Jahrhundert schließlich war mit den beiden Weltkriegen und den unzähligen Stellvertreterkriegen des Kalten Krieges von Mittelund Südamerika bis nach Indochina sogar das »europäischste« unter vielen europäischen Jahrhunderten: Herrschsüchtig wie je und gewalttätig wie nie bestimmten die alternden Großmächte des Kontinents noch einmal – ein letztes Mal? – über Wohl und Wehe des Erdballs. Es schien also nur folgerichtig, daß sich die einzig verbliebene Supermacht auch im ausgehenden 20. Jahrhundert weiter auf Europa konzentrierte. Zwar erforderte der erste Golfkrieg 1991 zur Befreiung Kuwaits die größte Bewegung amerikanischer Truppen seit dem Vietnam-Krieg. Doch die irakischen Besatzer flohen nach den Luftangriffen der Koalitionstruppen, ohne nennenswerten Widerstand zu leisten, nach Norden und wurden auf ihrem panischen Rückzug in der irakischen Wüste von der amerikanischen und britischen Luftwaffe pulverisiert. Zwar mußten auch für die begrenzten Interventionen im sogenannten Hinterhof Mittelamerika und in Afrika einige Ressourcen freigesetzt werden. Doch die Einsätze in Panama zum Sturz des Diktators Manuel Noriega 1989 und in Haiti 1994 zur Wiedereinsetzung des gewählten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide sowie schließlich in Somalia waren begrenzt. Nach dem Abschuß eines Blackhawk-Hubschraubers in Mogadischu im Oktober 1993 und dem Tod von 18 amerikanischen Soldaten wurde die Sinnhaftigkeit solcher »humanitären Interventionen« in Weltgegenden ohne Bedeutung für die nationalen Sicherheitsinteressen Amerikas bald wieder grundsätzlich in Frage gestellt. Das politische und militärische Engagement in Europa dagegen war für die Vereinigten Staaten auch zum Ende des 20. Jahrhunderts eine geostrategische Selbstverständlichkeit, obwohl konservative Isolationisten auch diese Interventionen unter Präsident Bill Clinton zur Verteidigung der Menschenrechte in Europa kritisierten. Jedenfalls blieb der Hauptschauplatz des 12
Kalten Krieges auch in den ersten Jahren nach dessen Ende im Zentrum des amerikanischen Weltradars. Kriege zur Beendigung von Völkermord und »ethnischer Säuberung« in BosnienHercegovina 1995 und um das Kosovo 1999 wurden geführt; der letztere übrigens ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates, aber dennoch mit aktiver Beteiligung Deutschlands – ein Anathema für den deutschen Kanzler und seinen Außenminister vier Jahre später beim Streit um einen amerikanisch geführten Einmarsch im Irak. Ohne den Einsatz der amerikanischen Streitkräfte, vor allem der Luftwaffe, hätten weder im November 1995 der unter maßgeblicher Vermittlung des amerikanischen Balkan-Beauftragten Richard Holbrooke verhandelte Friedensvertrag von Dayton zur Beendigung des Krieges in Bosnien-Hercegovina erreicht werden können, noch auch wäre mit dem Abkommen von Kumanovo im Juni 1999 die Vertreibungspolitik Belgrads im Kosovo gegen die albanische Bevölkerungsmehrheit angehalten und rückgängig gemacht worden. Schließlich hätten ethnische und soziale Konflikte in Mazedonien und in Albanien ohne den fortgesetzten diplomatischen Einsatz der Vereinigten Staaten – gemeinsam mit der Europäischen Union übrigens – leicht außer Kontrolle geraten können. Auch die Reform und die Osterweiterung der Nato verlangten erhebliche Anstrengungen Washingtons, ebenso wie der Einsatz für eine künftige Mitgliedschaft der Türkei in der sich vergrößernden Europäischen Union; bisher zeichnet sich in der EU freilich keine Mehrheit ab für den historischen Schritt, ein muslimisch geprägtes Land in geostrategischer Schlüssellage aufzunehmen. Schließlich mußte ertastet werden, ob sich Rußland aus seinem einstigen Einflußgebiet in Mittel- und Osteuropa auch wirklich zurückziehen und die Osterweiterung der Nato trotz allerlei Säbelrasselns zulassen würde. Und es hieß zu ergründen, ob die Präsidenten Boris Jelzin und Wladimir Putin die in sie gesetzten Hoffnungen auf eine Demokratisierung der Gesellschaft, eine Öffnung der Wirtschaft und eine neue strategische Partnerschaft Rußlands 13
mit dem Westen erfüllen würden. Dies alles waren große Aufgaben und Herausforderungen für die vollständige Befriedung Europas. Doch sie lenkten, wie sich am 11. September 2001 herausstellen sollte, Aufmerksamkeit und Energie vom Ort der entscheidenden Konfrontation für die kommenden Jahre und Jahrzehnte ab: dem Nahen Osten und der Welt des Islam. In dieser Sicht war das Jahrzehnt zwischen 1989 und 2001 tatsächlich ein verlorenes für die amerikanische Außenpolitik: Am europäischen Ufer gab es für Amerika zwar genug zu tun, doch draußen auf See türmten sich dunkle Gewitterwolken auf, ohne daß jemand dieser Gefahr die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Weder konnten die Anschläge selbst verhindert werden, noch auch wurden genügend Ressourcen bereitgestellt, um den in der arabischmuslimischen Welt grassierenden Haß und Neid auf Amerika zu bekämpfen. Das Budget der United States Information Agency (USIA), der maßgeblichen Regierungsbehörde für öffentliche Diplomatie und weltweite Information über die USA, wurde zwischen 1989 und 1999 um zehn Prozent gekürzt. In Indonesien, dem bevölkerungsreichsten muslimischen Land der Welt, wurden die Mittel der USIA-Mission gar auf die Hälfte zusammengestrichen. Der Friedensprozeß im Nahen Osten, von Präsident Bill Clinton zu einer seiner wichtigsten außenpolitischen Missionen erkoren, schien kurz vor dem Durchbruch – und fiel dann doch wieder in palästinensische Intifada und israelische Militärschläge zurück. In geostrategischer Perspektive waren die Jahre zwischen 1989 und 2001 auch für die Europäer verlorene. Der Abstand zu den Vereinigten Staaten wuchs – militärisch, strategisch, politisch. Weder war die in einem permanenten Selbstfindungsprozeß gefangene Europäische Union in der Lage, ihre politische Macht auf eine andere Weltgegend, über die Grenzen des eigenen Zuständigkeitsbereiches hinaus zu projizieren, noch vermochte sie, militärische Macht zur Verteidigung ihrer zivilisatorischen 14
Prinzipien wenigstens in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft einzusetzen und den Balkan zu befrieden. In Belgrad aber war man noch nicht zu der Überzeugung gelangt, daß man Interessenkonflikte am besten nach Art von Brüsseler Verhandlungen über Milchquoten beilegt, anstatt sich mit Gewalt einfach zu nehmen, worauf man ein Anrecht zu haben glaubt. Es gehört zur Hybris des eurozentrischen Geschichtsbildes, gleich vom Ende der Geschichte zu reden, nur weil eine wichtige Demarkationslinie konkurrierender Gesellschaftsmodelle, die Europa entzweit hatte, entmint werden konnte: als ob der Geschichtsverlauf im ganzen suspendiert würde, wenn Europa einmal eine Verschnaufpause einlegt beim Produzieren von Konflikten mit tendenziell globalen Folgen. Die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik war nicht immun gegen diese vor allem in Europa grassierende Hybris vom glücklichen Ende der Geschichte. Wie lebendig der Geschichtsprozeß entgegen verfrühten Grabreden auch an der Schwelle zum 21. Jahrhunderts war, sollte sich am Eckdatum 11. September 2001 zeigen. Die Terroranschläge von New York und Washington beschleunigten eine Entwicklung, die sich schon seit dem Fall der Berliner Mauer abgezeichnet hatte: Europa trat in den Hintergrund, der Nahe Osten und Schurkenstaaten in aller Welt traten in den Vordergrund. Aus den zwei geostrategischen Hauptsäulen der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – die in Europa konzentrierte Auseinandersetzung mit dem kommunistischen System und die Sicherung der Energieversorgung im Nahen Osten – erwuchs die eine große Frage nach den Möglichkeiten der Befriedung, Reform und Entwicklung der arabisch-islamischen Welt und des Kampfes gegen den vor allem aus dieser Region erwachsenden internationalen Terrorismus. Mit dem 11. September 2001 kamen das europäische Zeitalter der amerikanischen Außenpolitik und die Epoche des fraglosen Bündnisses mit Westeuropa zu einem dramatischen Ende. Zwar erklärten 15
die europäischen Partner in der atlantischen Allianz nach den Terroranschlägen von New York und Washington erstmals in der Geschichte der Nato nach Artikel 5 des Nato-Vertrages den Bündnisfall: Der Angriff auf Amerika galt als Angriff auf alle. Doch kurz nach dem Kulminationspunkt der transatlantischen Solidarität, vielleicht am eindrucksvollsten zum Ausdruck gebracht in der Titelzeile »Nous sommes tous américains« (Wir sind alle Amerikaner) eines Kommentars der Pariser Tageszeitung Le Monde vom 13. September 2001, stürzte die Nato in die tiefste Krise ihrer Geschichte. Es dauerte nicht lange, da wurde der informelle Schlachtruf »Nous sommes tous antiaméricans« (Wir sind alle Antiamerikaner) zum Urschrei der europäischen Identität. Es ist schwer zu sagen, ob und wann die Allianz und die atlantische Wertegemeinschaft diese Krise überwinden wird. Gerade einmal bis zum Fall des radikal-islamischen TalibanRegimes in Afghanistan im Oktober 2001 hatte die transatlantische Waffen- und Geistesbrüderschaft gehalten, auch wenn die Vereinigten Staaten auf manche von den europäischen Mitgliedstaaten angebotene militärische Unterstützung verzichteten, um bei Planung und Ausführung der Angriffe nicht auf Alliierte Rücksicht nehmen oder auf diese warten zu müssen. Die Vorbereitungen Washingtons auf die notfalls gewaltsame Abrüstung des Regimes in Bagdad sollte die Partner eines halben Jahrhunderts vollends entzweien. Der Streit um den IrakKrieg hat die Nato, eines der erfolgreichsten Militärbündnisse der Geschichte, in eine Sinn- und Daseinskrise gestürzt. Vom singulären Ereignis der Erklärung des Bündnisfalles bis zur Kollision des europäischen Duos Deutschland und Frankreich mit der einstigen Schutzmacht USA waren es nicht einmal anderthalb Jahre. Hätte es nicht schon lange vor dem 11. September 2001 tiefgreifende strukturelle Konflikte zwischen den Vereinigten Staaten und ihren europäischen Partnern gegeben, der Abstieg vom Gipfel der Solidarität in die 16
Niederungen des Zwists um Prinzipien und Einfluß wäre niemals so rasch erfolgt. Es ist oft behauptet worden, seit dem 11. September 2001 sei die Welt eine andere geworden. Gewiß ist, daß dieser Angriff auf amerikanischem Boden mit den massivsten Verlusten an Menschenleben seit den Tagen des Bürgerkrieges von 1861 bis 1865 die Vereinigten Staaten verändert hat – ob zum Guten oder Schlechten, ob Amerika nun die entschlossene Miene des Verteidigers der Menschheitsprinzipien Demokratie und Freiheit oder die aggressive Fratze des imperialistischen Weltherrschers zeigt, ist Gegenstand leidenschaftlicher Debatten. Amerika versteht nicht, daß Europa die neue Jahrhundertbedrohung durch den internationalen Terrorismus nicht versteht, und Europa versteht nicht, was Amerika unter der neuen Bedrohung durch den internationalen Terrorismus eigentlich versteht. Der naheliegendste Grund für die wachsende Entfremdung zwischen den Partnern ist naturgemäß die fehlende Klammer der gemeinsamen Bedrohung durch den Kommunismus. Die Sowjetunion war der Klebstoff, der Amerika und Westeuropa in der Nato zusammengehalten und sie gewissermaßen jeden Tag an die gemeinsamen Grundsätze und Werte erinnert hat. Nach dem Wegfall der äußeren Klammer brach die Bindung nicht sogleich, sondern hielt, mehr schlecht als recht, immerhin während der neunziger Jahre. Die Erkenntnis aber, daß Europa die Schutzmacht Amerika nicht mehr braucht und daß es Amerika mit einem zunehmend renitenten Schützling zu tun hat, setzte sich auf beiden Seiten des Atlantiks durch. Aus Europa müssen die USA vorerst keine nennenswerte Bedrohung der eigenen nationalen Sicherheitsinteressen gewärtigen. Sie können andererseits aber auf künftigen Schauplätzen des Krieges gegen den internationalen Terrorismus auf kaum mehr als symbolische Hilfe vom »alten Kontinent« rechnen. Europa ist weniger bedeutend geworden, wenn auch bei weitem noch nicht unbedeutend. Dank des Erfolges der Nato- und EU-Integration 17
sind keine gefährlichen Konflikte zu erwarten, die ein besonderes amerikanisches Engagement erfordern würden. Die Nato ist in gewisser Weise das Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden: Mit dem Niederringen der Sowjetunion ist ihre historische Mission erfüllt – und eine klar umrissene neue ist vorerst nicht in Sicht. Europa reagierte mit einer gleichsam narzißtischen Gekränktheit auf den Umstand, als politischer und wirtschaftlicher Spieler von der Weltliga in eine von mehreren Regionalligen relegiert worden zu sein. Europäische Mächte hatten, im guten wie im bösen, während mehr als zwei Jahrtausenden die globale Entwicklung geprägt. Und kaum war die historisch beispiellose Leistung der Überwindung ihrer blutigen Rivalitäten vollbracht, fanden sie sich am weltgeschichtlichen Katzentisch. Amerika bestimmt den Lauf der Welt, nicht Europa. Amerika entscheidet, welche Weltgegend von derzeit herausragender geostrategischer Bedeutung für die westliche und die Welt insgesamt ist, nicht Europa. Amerika kann in entfernten Weltgegenden notfalls mit Waffen die Werte von Freiheit und Demokratie sowie die wirtschaftlichen Interessen der größten Industrienationen verteidigen, nicht Europa. Die einstige Kolonie Amerika dirigiert ihre seit der Unabhängigkeit hauptsächlich über den Atlantik nach Europa gerichtete Aufmerksamkeit um und wendet sich dem Pazifik zu, den aufstrebenden Riesenreichen China und Indien sowie vor allem dem Brennpunkt Naher Osten. Der Epochenbruch, der sich zwischen 9.11. und 11.9. vollzogen hat, wird nicht zu einem »Kampf der Zivilisationen« zwischen Europa und Amerika führen, wohl aber zu einem Wettbewerb der Missionen und Visionen. Daß Amerikaner wie Europäer gleichermaßen den Prinzipien von Demokratie, Freiheit, Gleichberechtigung und Marktwirtschaft verpflichtet sind, ändert nichts an der Tatsache, daß die Lebens- und Wahrnehmungswelten beiderseits des atlantischen Grabens sich markant unterscheiden. Vielleicht sind sie sogar so weit voneinander ent18
fernt, daß ihnen schon die Kommunikation schwerfällt: Mehr als ein Dialog der Gehörlosen findet bisher kaum statt. Zwar sind seit Jahren hüben wie drüben wohlmeinende Reparaturteams von Politikern, Professoren und Publizisten unterwegs, um die Schäden am atlantischen Bündnis zu beheben. Doch der Wunsch, es möge wieder so werden, wie es einmal war, behindert die Erkenntnis, wie es derzeit ist. Wie es werden und was kommen wird, ist schwer vorauszusagen, weil der historische Prozeß offen ist und sich nicht wie das Ergebnis einer naturwissenschaftlichen Versuchsreihe vorausberechnen läßt. Dieses Buch versucht eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Befindlichkeiten der voneinander entfremdeten Partner des Kalten Krieges. Wie sehen Amerikaner und Europäer auf sich selbst? Wie sehen sie auf die Verbündeten auf der anderen Seite des Atlantiks? Was fürchten sie, und wofür sind sie bereit zu kämpfen? Welche Aufgabe glauben sie namens der eigenen und der Menschheitsgeschichte im 21. Jahrhundert erfüllen zu müssen? Woran glauben sie? Glauben sie überhaupt an etwas, gar an Gott? Wie blicken sie auf ihr Gemeinwesen, auf ihre Nation? Wollen und werden sie wachsen, an Einwohnern und an Einkommen? Wie versuchen sie ihren Wohlstand zu wahren und zu mehren in einer globalisierten Weltwirtschaft? Natürlich ist es eine grobe Vereinfachung und Übertreibung, von »Amerika« und »Europa« zu sprechen und sie als politischökonomisch-kulturelle Entitäten einander gegenüberzustellen. Die USA sind so vielfältig und dezentralisiert, daß es immer wieder ein Wunder ist, zu welchen kollektiven Kraftakten und patriotischen Einheitsmanifestationen diese »Quatschbude« der ewigen Individualisten in der Lage ist. Die zusammenwachsende und erweiterte EU ihrerseits ist so disparat, daß man Polen und Portugal, Estland und Griechenland nur unter einen Hut mit extrabreiter Krempe bringen kann. Jedes Argument und jedes Vorurteil, das in Europa über Amerika erdacht wird, gehört in der öffentlichen Debatte in den USA längst zum Inventar. Jeder 19
Versuch, die EU mit ihren 25 Mitgliedern als politisches Subjekt mit einer konsistenten außenpolitischen Strategie zu beschreiben, scheitert an der schieren Vielfältigkeit und Disparität der Union. Schließlich ist es eine knifflige Frage, welcher Seite des Atlantiks man Großbritannien zuschlagen soll: dem angelsächsischen Abkömmling in der Neuen Welt oder den kontinentaleuropäischen Verwandten in der Alten? Und dennoch oder vielleicht gerade deshalb geht aus dem Tableau mit den groben Pinselstrichen mehr hervor als aus der mikroskopisch genauen Darstellung. Jede Beschreibung des atlantischen Zwists muß mit dem IrakKrieg beginnen. Er ist die Sollbruchstelle, an dem instabile oder »unnatürliche« Bündnisse zerfallen. Im ersten Kapitel werden die grassierenden antiamerikanischen Ressentiments in Europa beschrieben, die sich als Anti-Bushismus tarnen: Gegen Amerika und die Amerikaner haben wir ja nichts, aber der Einmarsch der »Bush-Krieger« – so ein längst kanonischer Titel des Spiegel vom Februar 2002 – im Irak ist eine völkerrechtswidrige, von vornherein zum Scheitern verurteilte Aggression, für welche die USA noch teuer bezahlen werden. Die Gegnerschaft zum Irak-Krieg wurde von der Mehrheit der Bevölkerung in fast allen Staaten Europas getragen – auch und gerade jenen, deren Regierungen sich der »Koalition der Willigen« angeschlossen hatten. Der britische Dramatiker Harold Pinter rief bei einer Antikriegsdemonstration am 15. Februar 2003 im Londoner Hyde Park: »Die Vereinigten Staaten sind ein außer Kontrolle geratenes Monster. Wenn wir ihnen nicht mit absoluter Entschlossenheit entgegentreten, wird die amerikanische Barbarei die Welt zerstören. Das Land wird von einer Bande krimineller Irrsinniger regiert, und Tony Blair ist ihr gedungener christlicher Raubmörder. Der geplante Angriff gegen den Irak ist ein Akt des vorsätzlichen Massenmordes.« Die Voraussagen selbsternannter Nahost-Fachleute über die voraussichtlichen katastrophalen Folgen einer Invasion im Irak für die Menschen 20
im Zweistromland sowie für die gesamte Region werden dem tatsächlichen Kriegsverlauf gegenübergestellt. Hinter den völkerrechtlich verbrämten Argumenten gegen den Irak-Krieg werden die Stereotype eines von zivilisatorischem Hochmut geprägten Antiamerikanismus aufgezeigt, der von einer höheren Erkenntnisstufe auf ein primitives, kultur- und geschichtsloses amerikanisches Volk herabblickt. Und mit wachsendem zeitlichem Abstand vom 11. September 2001 fallen die Schamschleier des Mitgefühls mit den Opfern und geben die wüstesten Verschwörungstheorien über die »wirklichen Hintermänner« der Anschläge von New York und Washington frei: Die üblichen Verdächtigen sind der amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA, das Weiße Haus selbst oder »die Juden«. Jedes zusammengelogene Buch erreicht in Deutschland, Frankreich und anderswo rasch Bestsellerauflagen, wenn es nur den Hunger auf Amerika-Haß stillt. Daß die USA mindestens eine Mitschuld an den Anschlägen vom 11. September 2001 tragen, ist so etwas wie der »acquis communitaire« des paneuropäischen Antiamerikanismus. Das zweite Kapitel nimmt die amerikanische Perspektive auf den Krieg im Irak und den Krieg gegen den internationalen Terrorismus in den Blick. Denn zum Unverständnis der meisten Europäer sind die meisten Amerikaner – vor allem Anhänger der Republikaner, aber auch viele Demokraten – gemeinsam mit ihrem Präsidenten der Überzeugung, daß der Krieg im Irak ein integraler Bestandteil des Krieges gegen den internationalen Terrorismus ist. Und dies, obwohl im Irak die vermuteten Massenvernichtungswaffen nicht gefunden wurden und obwohl es nur dünne Hinweise auf eine Zusammenarbeit des gestürzten irakischen Diktators Saddam Hussein mit dem Terrornetzwerk Al Qaida gibt. Am Beispiel der Nationalen Sicherheitsstrategie des Weißen Hauses vom September 2002, in welcher die BushDoktrin von der vorbeugenden Selbstverteidigung gegen drohende Gefahren und der von keinem anderen Land auch nur 21
annähernd erreichten militärischen Stärke der USA erstmals durchbuchstabiert und in den Zusammenhang einer amerikanischen Großstrategie für das 21. Jahrhundert gestellt wird, werden die missionarisch-visionären Grundzüge der gegenwärtigen Außen- und Sicherheitspolitik der USA dargestellt. Daß dieser »Messias-Komplex« nicht neu ist, belegt im dritten Kapitel eine kursorische Darstellung der Geschichte amerikanischer Außenpolitik, die seit je nicht nur expansiv und erfolgreich, sondern ideologisch imprägniert war. Auch die Skepsis gegenüber internationalen Vertragswerken und Organisationen ist nicht neu, selbst wenn diese – wie die UNO, die Weltbank oder der Internationale Währungsfonds – ihre Existenz wesentlich einem amerikanischen Impuls verdanken. Wer aber seine militärische Macht zum eigenen Nutzen und zum Frommen der gesamten Menschheit eingesetzt zu haben glaubt, der wird sich angesichts neuer Herausforderungen und ungekannter Gefahren im 21. Jahrhundert nicht schwächer machen, sondern stärker. Wer auf das 20. Jahrhundert nicht als Katastrophenjahrhundert zurückblickt, sondern als Reihe von zunächst widerwillig geführten und sodann triumphal gewonnenen Kriegen, der wird eher zum Einsatz militarischer Gewalt neigen als die Schar gebrannter Kinder in Europa. Wer im Krieg einen Katalysator des Fortschritts, der Demokratie und der Freiheit sieht, wird nicht über Nacht zum Abrüstungsfanatiker. Anders als Europa glaubt Amerika, wie im vierten Kapitel zu zeigen sein wird: nämlich an Gott und an sich selbst. Fast zwei Drittel der Amerikaner sagen bei Umfragen, daß für sie Religion eine wichtige Rolle im täglichen Leben spielt; ebenso viele äußern die Ansicht, daß es den Teufel gibt. Dazu paßt ein Präsident, dessen Lieblingsphilosoph Jesus Christus ist und der jeden Arbeitstag im Weißen Haus mit einer Andacht beginnt. Aber auch Bushs Amtsvorgänger Bill Clinton betet nach eigener Auskunft täglich, und Jimmy Carter war gleich selber Prediger. 22
Der Drang zur Religion in »God’s Own Country« nimmt zu und nicht ab – und zwar bei allen Konfessionen und Kongregationen. In Europa greift dagegen die Entzauberung weiter um sich – im Westen wie im Osten. Selbst im sozial konservativen Frankreich spielen Religion und Glaube nur bei gut zehn Prozent eine wesentliche Rolle, im katholischen Mutterland Italien nur bei 25 Prozent. Für die ersten Siedler in Amerika und ihre Nachfahren bedeutete die ersehnte Freiheit nicht Freiheit von der Religion, sondern Freiheit zur Religion. Zugleich verkörpern die Hunderten unabhängiger und selbstorganisierter Religionsgemeinschaften und Denominationen das demokratische Prinzip sowie den Gedanken der Emanzipation und der Staatsferne. Dagegen laufen den Amtskirchen in Europa die Kirchensteuerzahler und Obulusgeber davon. Trotz der erstaunlichen Integrationsfähigkeit, der ethnischen, sozialen und religiösen Vielfalt Amerikas ist der »nationale Kitt« in den USA stabiler und auch belastungsfähiger als in den meisten Staaten Europas. 80 Prozent der Amerikaner sind stolz, Amerikaner zu sein – selbst und gerade dann, wenn sie es gerade erst geworden sind. In Deutschland bekennen sich gerade einmal 20 Prozent zum Stolz aufs Deutschsein, und die gelten der Mehrheit – historisch nachvollziehbar – zudem als anrüchig. Selbst in der »grande nation« Frankreich sind kaum 40 Prozent stolz darauf, Franzosen zu sein. Was aber bedeutet die fortgesetzte Beschränkung nationaler Souveränität im Prozeß der europäischen Einigung für die ohnedies verunsicherten Nationen in Europa? Und was tritt an die Stelle des nationalen Patriotismus, wenn es noch keine europäische Identität, geschweige denn einen europäischen Patriotismus gibt? In der sonderbaren Nation USA scheint dagegen der Zusammenhalt zu wachsen, obwohl kein Land auf der Welt so viele Immigranten aufnimmt und integriert wie die USA. Sonderbar aus europäischer Sicht muß auch erscheinen, daß die Abschaffung der Todesstrafe in Amerika nicht als zivilisa23
torische Errungenschaft verstanden wird. Dagegen gehört die Abkehr von der Todesstrafe zu den Eintrittsvoraussetzungen zum Europarat und erst recht zur EU. In einer an den offeneren Umgang mit Konflikten gewohnten Gesellschaft, wo es – pro Einwohner gerechnet – so viele Rechtsanwälte wie nirgendwo sonst auf der Welt gibt, ist der Gedanke der Sühne, also der »gesellschaftlichen Rache« für begangenes Unrecht, wichtiger als die Idee der Resozialisierung, also der »Aussöhnung« des Straftäters mit der Gesellschaft. Im fünften Kapitel werden abermals unterschiedliche Antworten an den gegenüberliegenden Ufern des Atlantiks auf die strukturell gleichen Probleme der postindustriellen Volkswirtschaften des Westens gezeigt. Wenn das Prinzip der Marktwirtschaft Wachstum ist, steht Europa eine düstere Epoche der Stagnation bevor, während die amerikanische Volkswirtschaft, seit gut zwei Jahrzehnten Lokomotive der Weltwirtschaft und unersättlicher Konsument, weiter expandieren wird. Die USA stehen heute mit durchschnittlich 2,1 Geburten pro »statistischer Frau« nicht nur an der Spitze der Industrienationen und haben somit Wachstumspotential aus dem bestehenden »Bevölkerungspool« von heute etwa 292 Millionen Einwohnern. Durch massive Einwanderung wird nach Einschätzung von Demographen die Bevölkerung der Vereinigten Staaten bis 2050 auf 350 bis 400 Millionen wachsen. Bis zur Mitte des Jahrhunderts wird Amerika eine im Durchschnitt wesentlich jüngere, ethnisch vielfältigere und damit wohl in vieler Hinsicht vitalere Bevölkerung haben als alle anderen hochentwickelten Industriestaaten. Schon gar als die EU, selbst nach einer weiteren Erweiterungswelle, denn sowohl in West- wie in Osteuropa sind die Geburtenraten rückläufig. Bis 2020, so wollen es die Modellrechnungen der Demographen, wird die Gesamtbevölkerung der EU auch im Falle moderater Einwanderung bestenfalls stagnieren, danach sogar zurückgehen. Damit einher geht eine zunehmende Vergreisung Europas. Bis 24
zur Jahrhundertmitte bleibt das Durchschnittsalter der Bevölkerung in den USA etwa konstant bei etwa 3 6 Jahren, während es in Europa von jetzt 3 8 auf 53 Jahre steigen dürfte – und das verbunden mit dem erfreulichen Umstand steigender Lebenserwartung. Welche wirtschaftlichen und sozialpolitischen Folgen das hier wie dort haben wird, ist noch kaum abzusehen. Die europäischen Wohlfahrtsstaaten stoßen schon jetzt an die Grenze ihrer Finanzierbarkeit. Das auf dem Prinzip des Individualismus und der Eigenverantwortung basierende schlankere Sozial- und Wirtschaftssystem der Vereinigten Staaten scheint für den Strukturwandel einer zunehmend globalisierten Weltwirtschaft besser gewappnet. Sollten die von Demographen und Ökonomen vorausgesagten Entwicklungen eintreten, stehen Europa dagegen die größten Probleme noch ins Haus. In der expandierenden Wirtschaft Amerikas werden bis 2050 schätzungsweise 54 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen. Es ist, als schaffe sich die hochentwickelte Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft Amerika ihr Entwicklungsland im Inneren als Konsumentenund Arbeitnehmerreservoir gleich mit. Auch bei der Ressource Raum steht Amerika im Vergleich zum engen Europa besser da. Der ökonomische Ausblick im sechsten Kapitel ist weder schwarz noch ungetrübt. Gewiß, die wirtschaftlichen Verflechtungen der USA und der EU sind heute so eng, daß die Geschäftswelt schon aus gesundem ökonomischem Interesse die politischen Verwerfungen teilweise abfedern kann. Der politische Streit zwischen Deutschland, Frankreich und den USA um den Irak-Krieg hat die Wirtschaftsbeziehungen nur gestreift. Die Aufrufe zum Boykott von französischem Rotwein und Käse sind am guten Appetit der Amerikaner gescheitert, und kein Mensch spricht heute mehr von »Freedom Fries« statt »French Fries«. Ohne die Autokäufer in den USA stünde es um Mercedes, BMW, Porsche und auch VW heute schlechter. Ob es nach dem Ende des Irak-Streits eine »Rückkehr zur 25
Normalität« geben wird, ist schon deshalb fraglich, weil der Normalzustand der engen geostrategischen Partnerschaft zwischen Amerika und Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts womöglich der Ausnahmefall war. Die USA und die Länder der EU machen sich mit jeweils unterschiedlichen sicherheitspolitischen und geostrategischen Paradigmen auf den Weg ins 21. Jahrhundert. Amerika ist willens und bereit, voranzugehen. »Ich weiß genau, wohin ich dieses Land führen will«, pflegt Präsident Bush zu sagen. Die Mehrzahl der Europäer will ihm gewiß nicht folgen.
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Anlaß einer Entfremdung Der Streit um den Irak-Krieg
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ie Urteile wurden eins, zwei, drei gefällt. Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe von der SPD, wußte es. Kommentatoren, Publizisten, sogenannte Nahost-Experten wußten es. Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland und in anderen europäischen Staaten wußte es: Der amerikanisch geführte Krieg im Irak war gescheitert. Es waren im Mai 2004 gerade einmal 13 Monate seit dem Fall der Bronzestatue Saddam Husseins auf dem Bagdader Firdos-Platz und damit seit dem faktischen Ende des Saddam-Regimes vergangen, da stand das historische Urteil vielerorts schon fest. Drei Gründe waren es, welche die amerikanische Regierung vor dem Beginn des Krieges am 19. März 2003 für den Einmarsch im Irak vorgebracht hatte: die Existenz von Massenvernichtungswaffen, die Unterstützung des internationalen Terrorismus durch das Regime von Saddam Hussein und dessen mörderische Diktatur. Doch die vermuteten Massenvernichtungswaffen, gar in großen Mengen, waren auch ein Jahr, nachdem Präsident Bush auf dem Flugzeugträger »USS Abraham Lincoln« in einer pompösen Zeremonie das Ende der Kampfhandlungen verkündet hatte, noch nicht aufgetaucht. Und sie würden auch künftig nicht mehr auftauchen, prophezeite David Kay, der Leiter der amerikanischen Waffeninspekteure im Irak, nach Monaten erfolgloser und frustrierender Suche nach den vermuteten Waffen. Immer wahrscheinlicher wurde es, daß die noch nach dem ersten Irak-Krieg von 1991 durch die UNWaffeninspekteure nachgewiesenen riesigen Vorräte an biologischen und chemischen Waffen sowie die Bauteile für Raketen mit einer größeren als der erlaubten Reichweite 27
tatsächlich vernichtet worden waren oder jedenfalls nicht mehr existierten. Die Mehrzahl der internationalen Waffenexperten kam zu der Überzeugung, daß Saddam Hussein nicht einmal selbst davon wußte, weil seine Wissenschaftler und Waffenbauer ihn über den desolaten Zustand des irakischen Massenvernichtungswaffenprogramms täuschten – entweder um weiter das reichlich fließende Geld für ihre Luftnummern zu erhalten oder aus Angst vor dem Zorn des sich schutzlos fühlenden Diktators. Daß Saddam Hussein das für die Anschläge vom 11. September 2001 verantwortliche Terrornetzwerk Al Qaida direkt unterstütze habe, wie Vizepräsident Dick Cheney trotz äußerst dünner Indizienlage vor dem Beginn des Krieges immer wieder gesagt hatte, behauptete nach dem Fall Bagdads am 9. April 2003 selbst Präsident George W. Bush nicht mehr. Dafür schien sich das vor der Irak-Invasion vorgebrachte Argument zu bewahrheiten, es sei im Krieg gegen den internationalen Terrorismus besser, den Kampf zum Gegner zu tragen, anstatt diesen auf eigenem Territorium zu führen. Denn tatsächlich entwickelte sich der Irak nach dem Ende der Diktatur von Saddam Husseins Baath-Partei zum Anziehungspunkt für Terroristen aus der ganzen Region. Dieser Umstand beweise, daß der Einmarsch im Irak im Widerspruch zur amerikanischen Kriegsbegründung die Welt zu einem gefährlicheren Ort und eben nicht sicherer gemacht habe, sagten die Kriegsgegner in Europa und anderswo. Das Gewaltpotential und der Haß auf alles Westliche und auf Amerika als dessen stärkste Kraft seien zuvor schon vorhanden gewesen, argumentierte dagegen die Regierung in Washington, und nicht umsonst hätten die radikalislamischen Terroristen gerade deshalb im Irak die jüngste Hauptfront in ihrem globalen Krieg gegen Demokratie, Freiheit und Menschenrechte eröffnet. Am häufigsten hatte Präsident Bush im Jahr zwei nach der Eroberung des Iraks zunächst jenes Argument für die Invasion 28
vorgebracht, wonach der gestürzte Diktator nun nicht mehr die Massengräber des Zweistromlandes mit den Leichen von politischen Gegnern, von Schiiten und Kurden, von Alten, Frauen und Kindern füllen könne. Doch nach der Aufdeckung des Folter- und Mißhandlungsskandals im irakischen Gefängnis Abu Ghraib westlich von Bagdad im Mai 2004 nahm auch diese dritte Begründungsbastion schweren Schaden. Das Argument, man habe 25 Millionen Iraker vom Joch einer schlimmen Gewaltherrschaft befreit, schmolz angesichts der Fotografien von gefolterten, gedemütigten, verängstigten irakischen Gefangenen und von deren grinsenden Peinigern in amerikanischen Uniformen dahin. Daß in vielen Medien der arabischen Welt – nicht zuletzt im Irak – die neuen Herrschaftsverhältnisse sogleich mit den alten unter Saddam Hussein gleichgesetzt wurden, war ein Ritual des grassierenden Selbstmitleids und des antiamerikanischen Reflexes: Man suche die Ursachen für alle Mißstände nie bei sich selbst, sondern immer bei anderen, und im Zweifel ist sowieso Amerika an allem schuld. Die Kehrseite dieses arabischen Selbstmitleids ist der amerikanische Selbsthaß, den es ebenfalls gibt. Dessen zahlreiche publizistische Zeugnisse werden in Europa und anderswo auf der Welt gerne zur Befeuerung antiamerikanischer Ressentiments genutzt. Es wäre aber vermessen zu erwarten, daß eine solche Haltung in den Vereinigten Staaten rasch mehrheitsfähig würde, denn von Selbstzweifeln schien die kollektive Psyche dieses Gemeinwesens noch nicht zernagt – auch nach dem schändlichen Folterskandal von Abu Ghraib nicht, und erst recht nicht nach den am 11. Mai 2004 aufgetauchten Videoaufnahmen von der Enthauptung des Amerikaners Nick Berg durch vermummte Gestalten, die beim Morden vor laufender Kamera »Allah ist groß!« riefen. Die Ermordung von Nick Berg folgte dem Muster der Entführung und Enthauptung des Journalisten Daniel Pearl in Pakistan vom Januar/Februar 2002. In beiden Fällen waren 29
muslimische Fundamentalisten die Mörder, in beiden Fällen waren die Opfer amerikanische Juden, in beiden Fällen wurde den Entführten der Kopf mit einem Messer abgetrennt und als »Trophäe« in die Videokamera gehalten. Die Begründung des Krieges mit menschenrechtlichen Argumenten war wegen der Folterpraktiken in Abu Ghraib und anderen amerikanischen Militärgefängnissen schwer beschädigt worden. Dafür gewann das Argument von der Invasion im Irak als integralem Bestandteil des Krieges gegen den Terrorismus mit der Ermordung Nick Bergs wieder an Gewicht: Radikal-islamische Terroristen hatten den Irak als Hauptfront und Ort einer wichtigen Schlacht in ihrem globalen Kampf gegen die Vereinigten Staaten und deren Verbündete erkannt. Trotz der katastrophalen Planungsfehler vor dem Beginn des Einmarsches und ungeachtet des ständigen Zanks zwischen Pentagon und State Department um Kriegführung und Befriedung im Irak schien der historische Prozeß im Irak und in der gesamten Region ein gutes Jahr nach Kriegsbeginn noch offen. Eine graduelle Stabilisierung – wie auf dem Balkan nach den militärischen Interventionen in Bosnien-Hercegovina und im Kosovo – schien ebenso möglich wie die Ausbreitung zunehmend chaotischer Verhältnisse. Zu den offensichtlichen Fehlkalkulationen gehörte zuerst die vom Pentagon vertretene Annahme, die Bevölkerung des Iraks werde die Besatzungstruppen mit offenen Armen empfangen. Dem folgte das Versäumnis, nach dem Sturz Saddams die öffentliche Ordnung zu gewährleisten. Die Auflösung der kompletten irakischen Armee, deren Soldaten und Offiziere noch vor Kriegsbeginn auf abgeworfenen Flugblättern zur Aufgabe des Kampfes aufgerufen worden waren, schuf ein gefährliches Reservoir bewaffneter Unzufriedener, das später durch die Rekrutierung vieler der gleichen Soldaten und Offiziere erst wieder mühsam geleert werden mußte. Eine gewisse Schadenfreude über die für ihre Arroganz im Irak bitter bestraften 30
Amerikaner war denn auch aus zahlreichen Kommentaren herauszuhören. Die Beteuerungen der maßgeblichen europäischen Kriegsgegner wie Jacques Chirac und Gerhard Schröder, die zivilisierte Welt habe trotz des Streits um den Krieg nun ein gemeinsames Interesse an der Befriedung des Zweistromlandes, kamen über das Stadium des Lippenbekenntnisses vorerst nicht hinaus. »Wir haben es euch ja gleich gesagt!«, lautete der unhörbare Refrain bei der Aufzählung der Schwierigkeiten der Besatzungstruppen im Irak. Dabei geriet die Irrtumsliste der europäischen Kassandras vor dem Krieg schnell in Vergessenheit. Wie hinter den übertrieben optimistischen Prognosen des Pentagons über den Kriegsverlauf der besserwisserische Hochmut neokonservativer Ideologen in der amerikanischen Regierung durchschien, so gaben die schrillen Warnungen vor Hunderttausenden von Toten, von Millionen Flüchtlingen und einem veritablen Armageddon im Nahen Osten den Blick auf eine antiamerikanische Grundstimmung frei. Das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel, Zentralorgan für die Vorhersage globaler und nationaler Untergänge, wußte von »Zehntausenden, vielleicht Hunderttausenden toten Irakern«. Der deutsche Umweltminister Jürgen Trittin konnte noch präzisere Angaben machen: »Bis 200000 Opfer von militärischen Aktionen, 200000 weitere Menschen, die an den mittelbaren Folgen des Krieges sterben«, dazu ein »massiver Anstieg der Infektionskrankheiten.« Außenminister Joschka Fischer, der sich wie Trittin in dieser Frage für einmal nicht nur mit seiner Partei, sondern – ausweislich aller Umfragen – auch mit dem deutschen Volke eins wußte, sah »verheerende Folgen« voraus: »Der ganze Nahe Osten könnte in Flammen stehen.« Der Journalist Peter Scholl-Latour, der auf allen Kanälen den universalen Krieg der Religionen verkündete, legte folgendes Zeugnis ab: »Bagdad wird zerstört werden.« Scholl-Latour, der trotz seiner notorischen Fehleinschätzungen von Konflikten vom Balkan bis zum Nahen Osten und 31
ungeachtet seiner latent rassistischen Sicht auf die arabischmuslimische Welt ein im Fernsehen immer gern gesehener Gast ist, ließ seinem Antiamerikanismus mit der düsteren Prophezeiung freien Lauf, wonach Washington selbst vor dem Einsatz einer Atombombe im Irak nicht zurückschrecken würde. Wer das Urheberrecht auf die populären Metaphern vom »mesopotamischen Stalingrad« und vom »städtischen Vietnam« für die irakische Hauptstadt für sich beanspruchen darf, ist unklar. Dafür weiß man, daß es das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) war, das vor »bis zu drei Millionen Flüchtlingen« warnte. Die sozialdemokratische Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul redete den »BushKriegern« ins Gewissen, sie würden die »Schuld für das Leid und den Tod von Hunderttausenden von Menschen auf sich« laden. Der einstige Politiker der konservativen CDU und jetzige Manager des Burda-Verlages, Jürgen Todenhöfer, prophezeite, ein »Angriffskrieg gegen das irakische Brudervolk‹ wäre genau jener Funke, der das Pulverfaß Naher Osten zur Explosion bringen könnte«. In einem Gespräch mit der Berliner Zeitung vom 17. April 2003, also gut eine Woche nach dem Sturz der Bronzestatue Saddam Husseins in Bagdad, sagte schließlich der stellvertretende Fraktionschef der Partei der Grünen im Deutschen Bundestag, Christian Ströbele, folgendes Szenario voraus: »Ich fürchte, daß wir im nächsten Monat oder in einem Jahr den nächsten Krieg haben.« Das Archiv der falschen Voraussagen ist randvoll gefüllt, und man könnte seltenweise daraus schöpfen. Die Gegnerschaft zum amerikanisch-britischen Irak-Krieg verband in Europa Junge und Alte, Linke und Rechte – von Spanien und Italien über Deutschland und Holland bis nach Irland und Großbritannien. Doch im Nahen Osten brannte es trotz der amerikanischen Besetzung des Iraks im Frühsommer 2004 vorerst nirgendwo, schon gar nicht lichterloh. Zu einer humanitären Katastrophe war es ebensowenig gekommen wie zum millionenfachen 32
Flüchtlingselend. Es gab auch keine Massendemonstrationen und erst recht keinen Massenaufstand in der arabischmuslimischen Welt gegen die fortdauernde amerikanische Besetzung des Iraks. Die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) kam im Juni 2003, gut einen Monat nachdem Präsident Bush das Ende der »wesentlichen Kampfhandlungen« im Irak erklärt hatte, nach Recherchen ihrer Reporter in 60 der 124 größten irakischen Krankenhäuser zu dem Ergebnis, daß mindestens 3240 Iraker bei Kämpfen getötet worden waren. Die Gesamtzahl der zivilen Todesopfer konnte jedoch von AP ebensowenig vollständig ermittelt werden wie die Zahl der gefallenen irakischen Soldaten. Denn die Regierung in Bagdad teilte während des Vormarsches der amerikanischen Truppen auf die irakische Hauptstadt zwischen dem 20. März und dem 9. April nicht mit, wie viele Soldaten bei den Kämpfen getötet oder verwundet worden waren. Verläßliche Angaben über die Zahl der Kriegsopfer wird es vielleicht nie geben. Die britischamerikanische Organisation »Iraq Body Count« geht von mindestens 5000 getöteten Zivilisten aus. Die unabhängige amerikanische Forschungseinrichtung »Project on Defence Alternatives« schätzt in einer Erhebung vom Oktober 2003 die Gesamtzahl der während der Kämpfe getöteten Iraker auf 11000 bis 15000, wobei der Anteil der unbewaffneten Zivilisten bei etwa einem Drittel liege. Das sind viele Tote, zu viele. Aber die unabhängigen Schätzungen widerlegen dennoch – ebenso wie das Ausbleiben des vorhergesagten Flächen- oder gar Weltenbrandes und der angekündigten Flüchtlingskatastrophe – die alarmistischen Fehleinschätzungen aus der Zeit vor Kriegsbeginn. Und man muß die Zahl ins Verhältnis zu den Opfern der Gewaltherrschaft Saddam Husseins setzen, weil es außer der für menschliches Leid zwar prinzipiell unangemessenen Quantifizierung keine Meßinstrumente zur Ermittlung der Schwere von Verbrechen 33
gibt. Denn Massengräber existieren im Irak, nach Schätzungen von internationalen Menschenrechtsorganisationen, bis zu 270 mit zusammen 300000 oder sogar mehr Opfern. Sie stammen aus den Zeiten der Diktatur Saddam Husseins und sind eben nicht Resultat des Einmarsches der amerikanischen und britischen Truppen. Über die Entdeckung der »killing fields« im Irak kurz nach dem Sturz Saddam Husseins am 9. April wurde in den Vereinigten Staaten in allen maßgeblichen Medien ausführlich berichtet. Die Zeugnisse und Beweise des Völkermordes an der schiitischen Mehrheit und der kurdischen Minderheit nahmen in der amerikanischen Debatte über die Berechtigung des Einmarsches im Irak einen prominenten Ort ein. Zu den schlimmsten Massakern kam es unmittelbar nach dem Ende des ersten Golfkrieges im März 1991, als die Schiiten im Süden und die Kurden im Norden des Landes die Schwächung des Bagdader Regimes nach der Vertreibung der irakischen Armee aus Kuwait zum Anlaß für einen Aufstand nahmen. Der Aufstand, angefeuert von den Vereinigten Staaten und anderen Ländern der internationalen Militärkoalition zur Befreiung Kuwaits, wurde von den Republikanischen Garden blutig niedergeschlagen. Denn die Mächte des Westens waren außer zu aufmunternden Worten damals zu keiner nennenswerten Unterstützung des Aufstandes gegen Saddam Hussein bereit. Im Massengrab von Mahawil bei Hilla, knapp 100 Kilometer südlich von Bagdad im Mittelirak gelegen, dürften die sterblichen Überreste von bis zu 15000 ermordeten Schiiten verscharrt sein. Als Mitte Mai 2003 die »Ausgrabungen« begannen, als Hinterbliebene der Opfer in sengender Hitze und bei stechendem Verwesungsgeruch mit bloßen Händen, mit Schraubenziehern oder Küchenmessern den Boden eines weiten Brachfeldes lockerten, kamen Tausende Skelette zu Tage. Um die Unterarm- und Unterschenkelknochen der Toten waren Knebelstricke, vor die Augenhöhlen vieler Schädel waren Tücher gebunden. Zwischen halbverrotteten Kleidungsstücken 34
fand man Ausweispapiere, Zigarettenschachteln und Plastiksandalen. Anders als in den Vereinigten Staaten nahm man die Enthüllung der physischen Beweise dieser Verbrechen in Europa sonderbar ungerührt zur Kenntnis. Der Name der Stadt Srebrenica in Bosnien, wo serbische Truppen im Juli 1995 mehr als 7000 muslimische Männer und Jungen ermordeten, steht für das schlimmste Massaker in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In Mahawil wurden mutmaßlich doppelt so viele Opfer wie in den ostbosnischen Bergen um Srebrenica verscharrt. Und es gibt im Irak viele Massengräber wie jenes im Mahawil. Daß der Name dieses mittelirakischen Städtchens im Tal des Euphrats in den meisten Ländern Europas kein Schaudern verursacht und nach einer kurzen Konjunktur in der Nachrichtenwelt auch weithin vergessen ist, grenzt schon an Verdrängung. Aus der Sicht der meisten Europäer ist es ein bleibender, ja wachsender Skandal für die amerikanische Regierung, daß die behaupteten Massenvernichtungswaffen im Irak nicht gefunden wurden. Jeder Hinweis, wonach die neokonservativen Ideologen hinter Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney nur nach Vorwänden für den schon unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 beschlossenen Einmarsch im Irak gesucht und deshalb die Geheimdienstberichte über das irakische Massenvernichtungswaffenprogramm »frisiert« hätten, wurde von der europäischen Öffentlichkeit gierig aufgenommen. Dabei vertrat selbst der Chef der UN-Waffeninspekteure, der schwedische Diplomat Hans Blix, in seinen Berichten an den UN-Sicherheitsrat über den Fortgang der im November 2002 wiederaufgenommenen Inspektionen eine sehr differenzierte Position. Er schloß nicht aus, daß es die verbotenen Waffen und Kampfstoffe im Irak geben könnte, er wies auf die Diskrepanzen hin zwischen den Behauptungen des Regimes in Bagdad, alle verbotenen Waffenprogramme 35
eingestellt sowie Munition und Kampfstoffe vernichtet zu haben, und den Ergebnissen der Inspektionen seines Teams: Es sprächen zwar viele Indizien dafür, daß die verbotenen Waffen nicht mehr vorhanden seien, es gebe aber keine Beweise – wie etwa Aufzeichnungen oder filmische und fotografische Dokumente. Die Nichtexistenz der Waffen konnte jedenfalls ebensowenig zweifelsfrei bewiesen werden wie die Existenz der Waffen. Deshalb drängte Blix darauf, den Inspektoren mehr Zeit zu gewähren, und er konzedierte, daß seine Teams vor allem wegen des massiven militärischen Aufmarsches amerikanischer Soldaten am Golf ihre Kontrollen im Irak so effizient hatten ausführen können wie kaum je in den Jahren nach dem ersten Golfkrieg. Dagegen argumentierte Washington, nach zwölf Jahren Hinhaltetaktik und Katz-und-Maus-Spiel mit der Staatengemeinschaft, nach 17 Resolutionen des UN-Sicherheitsrates sei es nun an der Zeit, die angedrohte Gewalt auch anzuwenden, sollte Bagdad nicht eindeutig beweisen können oder wollen, daß die verbotenen Waffen nicht mehr existierten. Wäre es den Veto-Staaten sowie den temporären Mitgliedern im UN-Sicherheitsrat, die sich gegen eine amerikanische Invasion ausgesprochen hatten, wirklich darum gegangen, einen Krieg zu verhindern und der irakischen Zivilbevölkerung weiteres Leiden zu ersparen, wäre ein völkerrechtlicher Befreiungsschlag von historischer Bedeutung möglich gewesen, der zugleich die längst überfällige Reform der Strukturen der UN hätte einleiten können. Daß die Vereinigten Staaten und – in deren Schlepptau – die überschaubare Koalition der Willigen zum Krieg gegen den Irak bereit waren und hinter die Forderung nach einem Regimewechsel in Bagdad nicht mehr zurückgehen würden, war spätestens im September 2002 beim Auftritt von Präsident Bush vor der UN-Generalversammlung klar. Die Botschaft des Mannes, der über das mächtigste Militärpotential der Geschichte gebot, war eindeutig: Wir werden handeln, gerne mit Zustimmung des UN-Sicherheitsrates, aber wenn es sein 36
muß auch ohne. Es war dies das wenig diplomatische Angebot – nicht händeringend um Zustimmung bittend, sondern faustschwingend fordernd –, die UN und zumal den UN-Sicherheitsrat zu einem Instrument der Staatengemeinschaft zu machen, welches die gegenwärtigen Machtverhältnisse reflektiert. Zu den geostrategischen Grundwahrheiten aber gehört heute, daß ein Krieg der Vereinigten Staaten gegen Groß- und Mittelmächte wie China, Rußland, Indien, Pakistan oder gar gegen die maßgeblichen europäischen Staaten so gut wie ausgeschlossen ist. Gegen Staaten jedoch, welche Präsident Bush in seiner Rede zur Lage der Nation vom Januar 2002 auf der »Achse des Bösen« eingezeichnet hatte, sowie gegen andere »Schurkenstaaten«, die der Unterstützung des internationalen Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen verdächtigt werden, können die Vereinigten Staaten ihren Willen mit militärischen Mitteln durchsetzen – wo auch immer auf der Welt. Dies war der Kern der Rede von der unipolaren Welt oder vom Hegemon Amerika. Anfang der neunziger Jahre gab es hin und wieder noch allergische Reaktionen, wenn festgestellt wurde, daß die Vereinigten Staaten dank ihrer militärischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Macht unangefochten die Position des Stärksten einnehmen. Heute wird dieser Befund kaum mehr angezweifelt, was freilich nicht bedeutet, daß sich alle ehemaligen und gegenwärtigen, tatsächlichen oder vermeintlichen Aspiranten auf die Rolle des Herausforderers damit abgefunden hätten. Eine internationale Organisation kann nur dann wirksam sein, wenn sie die bestehenden Machtverhältnisse annähernd widerspiegelt. Selbst im Zeitalter wachsender Vernetzung und der zunehmenden Bedeutung regionaler Zusammenschlüsse sowie internationaler Organisationen und Vertragswerke verfolgen Nationen in erster Linie ihre eigenen Interessen. Es gibt keine gemeinsame Außenpolitik der EU, der Nato oder gar der Orga37
nisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Statt dessen gibt es eine jeweils nationale Außenpolitik jedes einzelnen Bündnisstaates, die zu Zeiten mit der Außenpolitik eines Nachbarn oder Partners kollidieren kann. Der graduelle Verzicht auf nationale Selbstbestimmung in der Außen- und Sicherheitspolitik mag zur Stärkung regionaler und internationaler Organisationen führen, doch von einer Auflösung des Nationalstaates als der bestimmenden Organisationsstruktur globaler Interaktion, gar von einer »Weltinnenpolitik« kann zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch lange nicht die Rede sein. Die Erwartung, starke Staaten sollten sich zur Aufgabe ihrer Selbstbestimmung bereitfinden, wenn dies schon schwachen schwerfällt, obwohl diese für den partiellen Souveränitätsverzicht etwa durch Schutzgarantien reichlich entschädigt werden, zeugt von der Verkennung oder Verdrängung des nach wie vor bestimmenden Movens der internationalen Politik: Macht. Man mag beklagen, daß die Vereinigten Staaten wenig geneigt sind, sich internationalen Beschränkungen zu unterwerfen. Durch die Klage, durch das verbale, politische und diplomatische Aufbegehren dagegen wird aber das Faktum nicht außer Kraft gesetzt. Eine internationale Organisation, die von kleinen Mächten dazu genutzt werden soll, mittels ihrer gebündelten Kraft die Übermacht des Starken zu brechen, wird zusätzlich geschwächt, wenn dies nicht gelingt. Das gleiche gilt für die kleineren Mächte selbst: Auch sie werden geschwächt, wenn sie selbst mit vereinten Kräften der Groß- oder Supermacht ihren Willen nicht aufzwingen können. Dies ist die Zwischenbilanz des Streits im UN-Sicherheitsrat zwischen den Vereinigten Staaten sowie Großbritannien auf der einen und Rußland, China sowie Frankreich auf der anderen Seite – um nur die ständigen Ratsmitglieder zu nennen. Gleichviel, mit welchen Kosten die Befriedung des Iraks für die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten verbunden sein wird, 38
Amerika ist aus dem Armdrücken und Fingerhakeln im UNSicherheitsrat als Gewinner hervorgegangen. Denn Washington hat gegen den erbitterten Widerstand Pekings, Moskaus und vor allem von Paris seinen Willen durchgesetzt und seine Truppen in den Irak einmarschieren lassen. Nach dem Sturz Saddam Husseins hieß es allenthalben, man weine dem Diktator keine Träne nach. Selbst die Kriegsgegner China, Deutschland, Frankreich und Rußland zeigten sich zufrieden, daß das irakische Volk nicht mehr unter dem Joch des Diktators leben müsse. Wenn das amerikanische Kriegsziel des Regimewechsels in Bagdad und der Beendigung eines der blutigsten Regime der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im nachhinein begrüßt wurde, so stellt sich die Frage, warum sich die Mächte im Sicherheitsrat und die Staatengemeinschaft als ganzes nicht hinter das starke Amerika scharten und etwa in einer gemeinsamen Resolution des Sicherheitsrates den Rücktritt Saddam Husseins, womöglich dessen Gang ins Exil sowie den Einmarsch einer multinationalen Stabilisierungstruppe unter Führung der Vereinigten Staaten in den Irak forderten. Dieses Szenario ist nur auf den ersten Blick utopisch, denn mit der Feststellung des Sicherheitsrates in dessen Resolution 1441 vom 8. November 2002, wonach sich Saddam Hussein abermals und wiederholt eines »schwerwiegenden Verstoßes« ( »material breach« ) gegen Forderungen vorheriger Ratsresolutionen schuldig gemacht habe, war schon der Stab des Völkerrechts über dem irakischen Diktator gebrochen. Die Resolution 1441 nimmt ausdrücklich Bezug auf die Resolution 687 vom 3. April 1991, die Waffenstillstandsresolution nach der Befreiung Kuwaits im ersten Golfkrieg. Diese unterwirft den Irak der Verpflichtung zur umfassenden Vernichtung und Abrüstung von Massenvernichtungswaffen und von Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von mehr als 150 Kilometer. Zudem wird der Irak aufgefordert, »jegliche Unterstützung des internationalen Terrorismus« einzustellen. 39
Mit der Feststellung eines »schwerwiegenden Verstoßes« gegen Auflagen des UN-Sicherheitsrates waren die Grundlagen des Waffenstillstands von 1991 faktisch hinfällig. Die Wiederentsendung von UN-Waffeninspekteuren wurde als Mission der allerletzten Chance betrachtet. Ihre Zwischenberichte von Dezember 2002 bis März 2003 gaben keine abschließende Beurteilung über die vermuteten Massenvernichtungswaffen im Irak. Zwar konzedierte Blix, daß seine Waffensucher allenfalls Bauteile und Spuren für verbotene Waffen und Munition gefunden hatten, aber er listete auch zahlreiche Versäumnisse der irakischen Führung auf – etwa Antworten auf die Fragen, wo die vor Jahren nachgewiesenen 5000 Liter Flüssigkeit mit dem Milzbranderreger Anthrax geblieben seien. Er prangerte zudem an, daß seine Waffeninspekteure Tausende Dokumente über ein Projekt zur Herstellung hochangereicherten Urans im Privathaus eines Mitarbeiters gefunden hatten, und sah darin einen deutlichen Hinweis, daß die Führung in Bagdad systematisch »sensible« Akten in Privathäusern und -wohnungen statt in den dafür zuständigen Einrichtungen lagern ließ. Im ganzen beklagte Blix, daß es »nicht genug ist, Türen zu öffnen«, wenn dies gefordert werde. Inspektionen seien »kein Hasch-mich-Spiel«, sondern ein »Prozeß der Überprüfung zum Zwecke der Vertrauensbildung«. Der Irak arbeite mit den Waffeninspekteuren allenfalls prozedural zusammen, nicht jedoch substantiell. Die amerikanische und die britische Regierung vertraten nach Blix’ letztem Bericht vom 14. Februar 2003 an den Rat die Auffassung, daß das Regime in Bagdad abermals die Auflagen des Sicherheitsrates ignoriert habe. Der Text der Resolution 1441 war so verfaßt, daß es eines formalen weiteren Beschlusses zur Legitimierung von Gewalt nicht mehr bedurfte. Sollte der Irak abermals falsche oder unvollständige Angaben machen und bei der Durchsetzung der Bestimmungen der Resolution nicht uneingeschränkt mit den Inspekteuren zusammenarbeiten, so stelle dies eine weitere »erhebliche Verletzung der Ver40
pflichtungen des Iraks« dar. Ein solche werde »ernsthafte Konsequenzen« nach sich ziehen. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien waren der Überzeugung, daß der Irak diese seine letzte Chance nicht genutzt habe. Mit seinem denkwürdigen Auftritt vor dem Sicherheitsrat am 5. Februar 2003 versuchte der amerikanische Außenminister Colin Powell den Beweis anzutreten, daß der Irak nach wie vor über chemische und biologische Waffen verfüge, sein verbotenes Nuklearwaffenprogramm vorantreibe, Raketen mit einer größeren als der erlaubten Reichweite entwickle und schließlich Abu Musab al Zarqawi, einem engen Mitarbeiter und Vertrauten Usama bin Ladins und anderer Al-Qaida-Führungsfiguren, Unterschlupf, medizinische Betreuung und sonstige Unterstützung gewährt habe. Im Mai 2004 gab Powell zu, daß nicht alle Angaben, die er im Februar 2003 vor dem Rat und vor den Augen der Weltöffentlichkeit präsentiert hatte, so präzise waren, wie er es sich gewünscht hatte. Er habe sich seinerzeit auf Informationen des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA und anderer Nachrichtendienste gestützt, und erst später, nach der Invasion im Irak, habe sich herausgestellt, daß die Annahmen über Massenvernichtungswaffen offenbar falsch waren. Diesen Irrtümern waren auch andere westliche Geheimdienste erlegen, und selbst der Chef der UN-Waffeninspekteure, Hans Blix, hegte bis zuletzt tiefe Zweifel an der Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit der Angaben Bagdads. In seinem im Frühjahr 2004 erschienenen Buch »Disarming Iraq« (der Titel der deutschen Übersetzung lautet »Mission Irak« ) schrieb Blix, daß ihm Anfang 2003 »sein Gefühl sagte, daß der Irak noch immer verbotene Waffenprogramme verfolgte und über verbotene Waffen verfügte«. Blix zitiert sogar zustimmend eine Sentenz des von ihm sonst wenig geschätzten amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld. Der pflegte die erfolglose Suche der UN-Inspekteure nach den Massenvernichtungswaffen mit den Worten zu kommentieren: »Die Abwesenheit von 41
Beweisen ist noch kein Beweis für die Abwesenheit.« Die anderen drei ständigen, vetoberechtigten Mitglieder des Rates – China, Frankreich und Rußland – waren von Powells Darstellung nicht überzeugt. Auch nach dem letzten Bericht von Blix an den Rat vom 17. Februar 2003 wollten sie den Inspekteuren mehr Zeit geben. Blix selbst wollte sich nicht festlegen, wieviel Zeit die von ihm geleitete UNMOVIC-Mission noch brauchen würde, um die Suche nach biologischen und chemischen Waffen im Irak abzuschließen; er sprach nur im ungefähren von »Monaten – nicht Wochen und auch nicht Jahren«. Der Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Mohamed El Baradei, dessen Team ein mögliches Nuklearwaffenprogramm des Iraks aufdecken sollte, veranschlagte für die Suche weitere sechs Monate. Großbritannien, Spanien und die Vereinigten Staaten waren des seit zwölf Jahren praktizierten Katz-und-Maus-Spiels von Saddam Hussein müde und verlangten, jetzt keine Zeit mehr zu verschwenden. Am 24. Februar brachten sie den Text eines Resolutionsentwurfs ein, in dem festgestellt wurde, »daß es der Irak versäumt hat, die in der Resolution 1441 angebotene letzte Möglichkeit zu nutzen«. Am 5. März 2003, nach allerlei diplomatischen Bemühungen und hitzigen Verhandlungen in New York, verkündeten Paris und Moskau dagegen ihre Entscheidung, einer weiteren Resolution auf keinen Fall zuzustimmen. Tags darauf ließ auch Peking wissen, dem Text einer Resolution mit der unzweideutigen Autorisierung zur Gewaltanwendung gegen das Regime in Bagdad unter keinen Umständen zustimmen zu wollen. Die Entschlossenheit der Vereinigten Staaten, an der Spitze einer »Koalition der Willigen« einen Regimewechsel in Bagdad mit militärischen Mitteln herbeizuführen, zog die vehemente Gegnerschaft Chinas, Frankreichs, Rußlands und auch Deutschlands nach sich. Die Folgen sind bekannt: Amerika begann die Invasion im Irak ohne die Zustimmung des UNSicherheitsrates, dessen Glaubwürdigkeit als einendes Gremium 42
der maßgeblichen Mächte sowie als ausschließliches Organ zur Legitimierung von Gewaltanwendung damit faktisch zerstört wurde. Ein Ausweg aus dem Patt wäre möglich gewesen. Am 22. September 1999 hatte UN-Generalsekretär Kofi Annan in einer Grundsatzrede vor der Vollversammlung der UN gesagt, daß »Staaten, die zu kriminellem Verhalten neigen, darum wissen, daß Außengrenzen nicht mehr die absolute Verteidigung sind«. Wenn diese Staaten wüßten, »daß der Sicherheitsrat handeln wird, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu beenden, dann werden sie nicht mehr in der Erwartung territorialer Straflosigkeit einen solchen Weg beschreiten«. Im Falle Saddam Husseins lagen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die dieser hinter dem Schutzwall staatlicher Souveränität begangen hatte, vor aller Augen: militärische Aggression gegen den Nachbarn Iran und der Einsatz von chemischen Waffen gegen iranische Soldaten; wiederholte Massaker an der kurdischen und schiitischen Zivilbevölkerung mit geschätzten 300000 Toten; der Einsatz von Giftgas gegen die Ortschaft Halabdscha im kurdisch geprägten Norden des Iraks vom 15. März 1988 mit mehr als 5000 Toten; der Überfall auf Kuwait 1991 und die Verschleppung und spätere Ermordung von Kriegsgefangenen aus dem Emirat. All diese Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind nicht verjährt, und Saddam Hussein wird sich vor einem irakischen Tribunal dafür verantworten müssen. Wäre es den Gegnern eines Krieges im Irak wirklich um die irakische Zivilbevölkerung gegangen, hätten sie gemeinsam mit der zum Regimewechsel in Bagdad entschlossenen Supermacht Amerika auf einen von der Staatengemeinschaft und vom UNSicherheitsrat erzwungenen Rücktritt Saddam Husseins sowie eventuell auf ein Einrücken einer amerikanisch geführten internationalen Stabilisierungstruppe hinwirken können. Es wäre dies ein mächtiges Signal der Staatengemeinschaft an alle 43
Despoten und Völkermörder gewesen, die sich bis heute hinter den Mauern ihrer staatlichen Souveränität sicher fühlen. Es wäre dies zudem ein Zeichen gewesen, daß der UN-Sicherheitsrat, dessen Besetzung nicht die gegenwärtigen Machtverhältnisse, sondern die Lage nach dem Zweiten Weltkrieg widerspiegelt, nach Jahrzehnten der faktischen Blockade zu neuem Leben erwacht ist. Doch es ging beim Streit um die Abrüstung des Iraks und um einen Regimewechsel in Bagdad nicht in erster Linie um den Irak, sondern um die Kräfteverhältnisse auf der Welt und im Sicherheitsrat. Der frühere französische Außenminister Hubert Védrine bekannte schon 1998 offen, daß »wir keine unipolare politische Welt akzeptieren können und deshalb für eine multipolare Welt kämpfen«. Der frühere außenpolitische Berater des französischen Präsidenten Chirac, Pierre Lellouche, beschrieb die Ziele des Staatschefs folgendermaßen: »Wir wollen eine multipolare Welt, in welcher Europa das Gegengewicht zur politischen und militärischen Stärke Amerikas ist.« In den Worten Chiracs selbst klingt diese geopolitische Grundeinsicht wie folgt: »Jede Gemeinschaft mit nur einer dominierenden Macht ist immer eine gefährliche, denn sie ruft heftige Reaktionen hervor.« Im Juli 2001 unterzeichneten Rußland und China einen Kooperationsvertrag, in dem sie sich ebenfalls auf die Schaffung einer »multipolaren Welt« einigten. Auch der deutsche Außenminister Joschka Fischer beschrieb in seiner europapolitischen Grundsatzrede vom 12. Mai 2000 an der Berliner Humboldt-Universität den »Kern des Europagedankens nach 1945« als »die Absage an das Prinzip … des Hegemonialstrebens einzelner Staaten«. Dies bezog sich zwar in erster Linie auf das Verhältnis der europäischen Staaten zueinander, läßt sich aber auch, wie sich beim Streit um den Irak-Krieg zeigte, auf das Verhältnis zur Hegemonialmacht jenseits des Atlantiks übertragen. Schließlich stimmte sogar der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, einst ein überzeugter 44
»Atlantiker«, in den allgemeinen Tenor ein und stellte fest, »daß Frankreich und Deutschland das gemeinsame Interesse teilen, sich nicht der Hegemonie unseres mächtigen Verbündeten Amerika zu unterwerfen«. Der bittere Streit um den Irak war also nicht die Ursache, sondern nur der Anlaß für die vielerorts beklagte Entfremdung zwischen den transatlantischen Partnern. Schon wenige Wochen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 war die spontane Sympathie Europas für das Opfer Amerika verflogen. Denn Amerika wollte nicht Opfer bleiben, sondern entrang dem internationalen Terrornetzwerk Al Qaida von Usama bin Ladin sogleich das Gesetz des Handelns. Auch schon vor dem Krieg in Afghanistan hatte es aus Europa die üblichen Warnungen gegeben: vor dem Leid der Bevölkerung, vor dem Zusammenbomben eines ohnedies gezeichneten Landes, vor Zehntausenden Toten. Auch in Afghanistan blieben die beschworenen Szenarien aus. Ungeachtet der in Europa weitverbreiteten Untergangsbescheide für den Irak ist es für eine zeitgeschichtliche Zwischenbilanz der amerikanisch-britischen Invasion im Zweistromland noch zu früh. Ob die Demokratisierung und Öffnung des Iraks, durch den gewaltsamen Sturz des Diktators Saddam Hussein ermöglicht und in Gang gesetzt, tatsächlich die von der amerikanischen Regierung erwünschte katalysatorische Wirkung zur Demokratisierung der gesamten arabischen Welt entfalten wird, kann niemand mit Bestimmtheit voraussagen. Aber man kann es auch nicht von vornherein ausschließen. Zwar ist das Kernproblem des Nahen Ostens, der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, auf der »road map« zum Frieden einer Lösung noch nicht nähergekommen. Das Umfeld gerät jedoch offenbar in Bewegung: Ägypten und Iran nähern sich einander an; Syrien verhandelt mit der Türkei über jahrzehntealte Grenzstreitigkeiten; und auch Israel könnte sich einem Dialog mit Syrien öffnen. Dabei kann man sich des Eindrucks nicht 45
erwehren, als hätten es viele Kassandras auf dem Alten Kontinent gerne gesehen, wenn ihre düsteren Prophezeiungen für den Irak eingetreten wären. Wie schmatzend vor Blutdurst waren die prospektiven Todeszahlen präsentiert worden. Weil es zum Glück für die Iraker nicht zum Äußersten gekommen war, mußten sich die eher enttäuschten als erleichterten Propheten mit Meldungen über abgeschossene amerikanische Hubschrauber und »erfolgreiche« Bombenanschläge begnügen. Die Genugtuung darüber, daß der zum Hegemon aufgestiegene Emporkömmling aus der Neuen Welt, der im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege gewonnen hatte und den Kalten Krieg dazu, wieder einmal zu scheitern schien, war nicht zu überhören: Zwerge kichern, wenn der Riese strauchelt. Der Streit um die Kriege in Afghanistan und im Irak offenbarte deutlich die fundamentalen Widersprüche zwischen der kontinentaleuropäischen und der amerikanischen Perspektive auf das 21. Jahrhundert sowie bei der Beurteilung der größten Gefahren des neuen Zeitalters. Aus dem Fall der Mauer, der friedlichen Implosion eines diktatorischen Regimes und der schrittweisen Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten in die EU extrapolierten die Kontinentaleuropäer die Überzeugung, daß nicht Macht den historischen Prozeß vorantreibt, sondern die durch Verhandlungen erreichte Einigung auf Kompromisse und Regeln. Aus der »Arbeitsteilung« des Kalten Krieges – die USA sind für die Abschreckung des kommunistischen Blocks zuständig, während die Europäer und vor allem die Deutschen Entspannungspolitik betreiben – erwächst das Bild vom allzeit kriegsbereiten Amerika und das Gegenbild vom friedliebenden Europa. Für den EU-Außenkommissar Chris Patten ist die europäische Integration der Beweis, »daß Kompromiß und Versöhnung möglich sind nach Generationen von Vorurteilen, Kriegen und Leiden«. Die Terroranschläge von New York und Washington haben die Vereinigten Staaten dagegen in der Überzeugung bestärkt, 46
daß die Welt des 21. Jahrhunderts Konflikte birgt, die nicht durch Kompromisse gelöst, sondern nur durch überlegene Macht überwunden werden können: die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus etwa und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Um wie in den Zeiten des Kalten Krieges »Frieden durch Stärke« zu sichern, bedarf es in der anbrechenden Epoche der asymmetrischen Bedrohungen einer anderen Verteidigungsdoktrin als des überkommenen Prinzips der Abschreckung aus den Zeiten der Blockkonfrontation. Diese Doktrin ist jene der vorbeugenden Selbstverteidigung. Amerika anerkennt die europäische Prämisse nicht, wonach der gleichsam posthistorische Zustand des permanenten Verhandelns und Kompromisseschließens an den Brüsseler Tischen nunmehr der geschichtliche Regelfall sei. Vielmehr bleibt aus amerikanischer Perspektive weiterhin Macht das Antriebsmittel des Geschichtsprozesses. Und deshalb ist Amerika stark und will noch stärker werden – aus Eigeninteresse und um die universalen Werte von Freiheit und Demokratie zu hüten und in aller Welt zu verbreiten. Dafür dankbar zu sein gehörte bis zum Ende des Kalten Krieges in Europa zur politischen Etikette. Während dieser Zeit wurde die Konkurrenz zwischen den atlantischen Partnern aber nicht überwunden, sondern gleichsam nur kaltgestellt. Das offene Ringen zwischen den alten europäischen Großmächten und der aufstrebenden neuen Weltmacht um Territorien, Kolonien und Einflußsphären seit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von 1776 bis zum frühen 20. Jahrhundert ist der historische Vorläufer eines verborgenen, aber weitverbreiteten Antiamerikanismus in Europa. Dieser entfaltete nach dem Niedergang der »Balancemacht« Sowjetunion sein ganzes Arsenal in sich oft widersprüchlicher Vorwürfe. So heißt es etwa, das imperialistisch-hegemoniale Amerika mische sich in aller Welt ein und stifte damit Unheil. Doch wenn eine Krise wie jene zwischen den Atommächten Indien 47
und Pakistan außer Kontrolle zu geraten droht; wenn die Europäer mit den Balkan-Kriegen im gemeinsamen Haus Europa nicht fertig werden; wenn Israelis und Palästinenser sich ineinander verkrallt haben; wenn in Nord-Irland endlich Frieden werden soll, dann erschallt der Ruf nach Amerika als Vermittler und Ordnungsmacht. Bald werden die Vereinigten Staaten ihrer unilateralistischen Außen- und Sicherheitspolitik wegen gescholten, bald zeiht man sie einer isolationistischen Politik, wenn sie ihre Soldaten so rasch wie möglich wieder nach Hause bringen wollen. Weiterhin wird den Vereinigten Staaten vorgeworfen, sie wollten mit visionärem und missionarischem Eifer die ganze Welt nach ihrem eigenen Bild gestalten. Doch diesen Anspruch hat auch die »Grande Nation« Frankreich stets erhoben und sich davon bis heute nicht verabschiedet. Wozu es gar führt, wenn »am deutschen Wesen die Welt genesen« soll, haben die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezeigt. Dagegen sind die Vereinigten Staaten bisher nicht der totalitären Versuchung erlegen und haben nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Japan erfolgreich die Demokratie eingepflanzt. In Amerika herrsche Wildwest-Kapitalismus, und nach dessen rüden Gesetzen solle die Weltwirtschaft zur verschärften Ausbeutung der Armen dieser Welt gestaltet werden, schallt es von den Globalisierungsgegnern. Doch wenn die stärkste Volkswirtschaft der Welt ihre Rolle als Wachstumsmotor und Dauerkonsument einmal nicht wie gewohnt ausfüllt, ächzt sogleich die Wirtschaft in aller Welt und wartet auf Impulse aus Amerika. Die Nationale Sicherheitsstrategie und die »Bush-Doktrin« der vorbeugenden Selbstverteidigung werden als völkerrechtswidriger Fahrplan zum Dauerkrieg und als Bedrohung für den Weltfrieden gebrandmarkt. Dabei wird im Grundsatzpapier vom September 2001 die Anwendung von Gewalt nur als letztes Mittel und nach Ausschöpfung aller politischen Instrumente angedroht. Zwar bezeichnet inzwischen auch die EU in ihrer Sicherheits48
strategie vom Juni 2003 die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen als »die mit Abstand größte Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit der Völker«. Doch überzeugende Antworten, wie dieser Gefahr zu begegnen sei, hat sie nicht. Hinzu kommt schließlich der in Europa grassierende Zivilisationshochmut gegenüber dem angeblich primitiven, kultur- und geschichtslosen Amerika mit seinen schlecht ernährten, übergewichtigen und fernsehsüchtigen Menschen. Abgeschottet gegen die jederzeit und überall leicht verfügbaren Informationen über das in Wahrheit höchst vitale, innovative, debattierfreudige und vielfältige Gemeinwesen der Vereinigten Staaten, waltet der Reflex, zuerst und zumeist Amerika für alle erdenklichen Mißstände auf der Welt zu tadeln. Trotz der Beschwörung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik waren die Mitgliedstaaten der EU bis zum Beginn des Irak-Krieges am 19. März 2003 von der Überwindung ihrer nationalen Interessen weiter entfernt und der Konkurrenz der Nationen tiefer verhaftet, als sie es wahrhaben wollten. Das zeigte die schwierige und langwierige Verfassungsdebatte in der EU. Und das zeigte auch der Umstand, daß der bisher machtvollste Ausdruck einer noch kaum ausgeprägten gemeinsamen europäischen Identität die in der ganzen EU verbreitete Ablehnung der amerikanischen Invasion im Irak war – und zwar über politische Gräben und über Generationsgrenzen hinweg. Umfragen des Washingtoner »Pew Research Center for the People and the Press« in den wesentlichen Staaten Europas haben einen stetigen Rückgang einer allgemein positiven Einstellung zu den USA ergeben. Von Mitte 2002 bis März 2004 ging in Deutschland der Anteil jener, die eine positive Einstellung zu Amerika hatten, von 61 auf 38 Prozent zurück. In Frankreich äußerten sich nur noch 37 Prozent im Vergleich zu 63 Prozent positiv über die USA, und sogar in Großbritannien war ein Rückgang von 75 auf 58 Prozent zu verzeichnen. Die gleiche Tendenz war in fast allen anderen Staaten der »alten« 49
EU wie auch bei den am 1. Mai 2004 neu in die EU aufgenommenen Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa zu beobachten. Die Ablehnung des Krieges im Irak lag im März 2003 in Spanien und Italien bei jeweils 81 Prozent, in Polen bei 73 und in Großbritannien bei 51 Prozent. In Deutschland waren zu diesem Zeitpunkt 69 Prozent gegen den Krieg und in Frankreich 75. Ein gutes Jahr später, im Mai 2004, lag die Ablehnungsrate in allen europäischen Staaten noch höher: in Deutschland bei 86, in Frankreich bei 88 Prozent und auch in jenen europäischen Staaten, deren Regierungen sich der »Koalition der Willigen« angeschlossen hatten, zwischen 75 und mehr als 80 Prozent. Im gleichen Zeitraum wuchs dagegen die Zustimmung zu einer eigenständigen europäischen Politik in Deutschland von 51 auf 63 Prozent, in Frankreich von 60 auf 75 Prozent und in Großbritannien von 47 auf 56 Prozent. Daß ausgerechnet Amerika ex negativo dieses bemerkenswerte Einigungswerk vollbracht hat, müßte die Rage in Europa nur noch mehr steigern: Nicht einmal die geistig-moralische Einigung des Kontinents in einer grundlegenden politischen Frage ist ohne Amerika möglich. Der damalige deutsche Bundespräsident Johannes Rau stellte in seiner »Berliner Rede« vom 19. Mai 2003 zu Recht fest, daß die gemeinsame Haltung gegen Amerika so etwas wie ein Grundpfeiler einer europäischen Identität werden könnte: »Die Menschen in Europa waren sich in ihrer Haltung gegen einen Krieg im Irak so einig wie vielleicht noch nie zuvor in einer zentralen weltpolitischen Frage«, sagte Rau. »Es waren die europäischen Regierungen, nicht die Völker, die unterschiedliche, ja gegensätzliche Auffassungen in dieser Frage hatten. Der frühere französische Finanzminister Dominique Strauss-Kahn sieht in dieser gemeinsamen Haltung der Völker Europas den Grundstein einer europäischen Nation. Das ist ein großes Wort, aber ich glaube, daß er da ein richtiges Gespür hat.« Der britische Historiker und Publizist Timothy Garton Ash forderte in einem Beitrag für die New York Times 50
vom 30. Mai 2003 Europa zur Beantwortung einer »unbequemen Frage« auf: »Will es Partner oder Rivale der USA sein?« Ein Jahr später scheint die Frage klar und deutlich beantwortet: Die Gegnerschaft zu Amerika ist der negative Gründungsmythos der europäischen Nation.
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Die Sache unserer Nation Amerikas »Krieg gegen den Terrorismus«
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er Kranke kam morgens um sieben ins Heilig-KreuzHospital zu Silver Spring im amerikanischen Bundesstaat Maryland. Er klagte über schweren Durchfall, Gliederschmerzen, Hustenanfälle und fühlte sich schwach. Der Mann wurde einem Arzt vorgeführt, der ihm sonderbare Fragen stellte: Zum Beispiel, ob er kürzlich mit der Metro gefahren sei. »Natürlich«, sagte der Kranke, der keinen Zusammenhang zwischen seinem elenden Zustand und einer Metrofahrt herzustellen vermochte, »so komme ich jeden Tag von der Arbeit nach Hause.« Die Antwort beunruhigte den behandelnden Arzt offenbar mehr als die Diagnose, die er sogleich nach der ersten Untersuchung des Patienten gestellt hatte: Der Mann litt an Lungenpest. Er war nicht der erste Kranke, der sich mit diesen Symptomen in der Notaufnahme eingefunden hatte – nicht nur im Heilig-Kreuz-Hospital von Silver Spring, sondern auch in anderen Krankenhäusern des Landkreises Montgomery nördlich von Washington. Nachdem die Zahl der Erkrankten allein in diesem Hospital auf fast 70 angestiegen war, richteten Ärzte und Pflegepersonal eine improvisierte Quarantänestation ein. Zusätzliche Schutzmasken und Handschuhe wurden von umliegenden Krankenhäusern angefordert – aber von diesen nicht geliefert, weil man dort mit den gleichen Problemen zu kämpfen hatte. Die Kranken wurden mit Antibiotika behandelt, auch Ärzte und Pfleger erhielten prophylaktisch die einschlägigen Medikamente. Doch bei vielen Kranken kam die Arznei zu spät: Sie starben noch in der Nacht. Die Ereignisse überschlugen sich. Zwei Tage nachdem sich die ersten Kranken in den Notaufnahmen eingefunden hatten, 52
wurde der Notstand über den Landkreis verhängt. Ein Krisenstab wurde eingerichtet. Aus dem Nationalen Arzneimittelvorrat wurden massenhaft Medikamente an die fünf betroffenen Krankenhäuser verteilt. Die Epidemie griff um sich. Drei Tage nach den ersten Diagnosen waren schon 200 Tote zu beklagen. Die Behörden vermuteten, daß die plötzliche Pestepidemie Folge eines terroristischen Angriffs war. Die Bakterien mußten in der Metrostation Bethesda sowie an anderen Haltestellen entlang der von Washington in die nördlichen Vororte führenden Linien ausgesetzt worden sein. 50000 Menschen waren auf dem Weg von der Arbeit nach Hause direkt kontaminiert worden, weitere 350000 Menschen wurden sekundär von diesen angesteckt. Nachdem die Zahl der Toten auf mehr als 2000 gestiegen war – wurde das Ende der Übung verkündet. Die Simulation eines mit Bakterien verübten terroristischen Angriffs und seiner Folgen fand, gleichsam im Zeitraffer, an einem einzigen Tag Anfang September 2002 statt. Sozusagen als Anerkennungsurkunde wurde den Beteiligten am Abend die Nachricht überbracht, die Polizei habe sechs Tatverdächtige festgenommen. Zuletzt nahmen mehr als 500 Mitarbeiter von Krankenhäusern, der Polizei und zahlreicher Behörden an der Übung teil. Anfangs waren nur wenige eingeweiht gewesen, denn es sollte die Fähigkeit der Hospitäler und der Verwaltung zu einer angemessenen und raschen Reaktion auf einen solchen Angriff erprobt werden. Daß bei der Simulation der sich rasch ausbreitenden Epidemie »nur gut 2000 Menschen starben«, wurde von den Behörden nach Abschluß der Katastrophenschutzübung als Erfolg gewertet. »Wir sind besser als vor einem Jahr«, zog Georges Benjamin, Gesundheitsminister des Bundesstaates Maryland, Bilanz: »Aber wir müssen unsere Fähigkeiten, auf einen solchen Angriff zu reagieren, noch weiter verbessern. Wir bewegen uns in diese Richtung, nur müssen wir viel schneller vorankommen.« Für Ärzte und Pfleger sei es besonders schwierig, die unspezifischen Symptome wie Fieber, Schüttel53
frost, Kopf- und Gliederschmerzen, die etwa für eine Grippe oder eine schwere Erkältung typisch seien, einem Angriff mit Milzbrandsporen, Pestbakterien oder Pockenviren zuzuordnen, sagte Benjamin. Denn alle diese zur Massenvernichtungswaffe umfunktionierten Krankheiten kündigen sich mit diesen Symptomen an. Besondere Sorge bereitet der amerikanischen Regierung ein möglicher bioterroristischer Anschlag mit Pockenviren. Deshalb erließ Präsident Bush Mitte Dezember 2002 einen Erlaß zur Schutzimpfung von 500000 Soldaten, die für den Einsatz bei einer möglichen Invasion im Irak vorbereitet werden sollten. Zudem ordnete er die Impfung von einer weiteren halben Million Menschen im Gesundheitswesen an – Ärzte, Krankenpfleger, Klinikangestellte. Seit Anfang 2004 kann sich theoretisch die gesamte Bevölkerung der Vereinigten Staaten – mittlerweile mehr als 292 Millionen Menschen – auf eigenen Wunsch gegen Pocken impfen lassen. Klinische Versuche mit den vorhandenen Impfstoffen verliefen aber wenig ermutigend. Weit mehr Impflinge als von den Ärzten erwartet litten unter schweren Nebenwirkungen. Offenbar müssen Statistiken aus Zeiten, als in vielen westlichen Ländern Reihenschutzimpfungen gegen Pocken noch üblich waren, revidiert werden. Damals kamen auf eine Million Impfungen etwa 900 Fälle von schweren Nebenwirkungen oder Abwehrreaktionen, von denen 15 lebensbedrohlich waren; statistisch starben unter einer Million Geimpfter ein bis zwei Menschen an Komplikationen nach der Schutzimpfung. Seit mehr als drei Jahrzehnten gibt es in den Vereinigten Staaten und in Europa keine Reihenschutzimpfungen mehr gegen Pocken. Das in den sechziger und siebziger Jahren von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verfolgte weltweite Impfprogramm gegen die Pocken (Variola) hatte im Dezember 1979 zu einem der größten Erfolge in der Geschichte globaler Gesundheitspolitik geführt: der Ausrottung der Pockenkrankheit. In einer beispiellosen gemeinsamen Anstrengung über die 54
damaligen Blockgrenzen zwischen Ost und West sowie über den Wohlstandsgraben zwischen Nord und Süd hinweg hatte die WHO überall auf der Welt Pockenepidemien durch die Isolierung und Impfung der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten aggressiv bekämpft. In den meisten entwickelten Ländern wurde die gesamte Bevölkerung vorsorglich gegen Pocken geimpft. Eine letzte Pockenepidemie größeren Ausmaßes gab es 1975 in Bangladesch. Danach traten nur noch vereinzelt Fälle auf, die von der WHO dank der weltweiten Meldepflicht rasch bekämpft werden konnten. 1976 forderte die WHO alle Laboratorien auf, ihre von den zurückliegenden Epidemien herrührenden Stämme des Variola-Virus entweder zu zerstören oder der WHO zu übergeben. Seinerzeit gab es weltweit in mindestens 75 Labors Pockenviren. Nach und nach schickten die Labors ihre eingefrorenen Virenstämme an die WHO oder zerstörten sie – oder teilten mit, sie hätten sie zerstört. Seit der offiziellen Deklaration zur Ausrottung der Pockenkrankheit Ende 1979 dürfen VariolaViren gemäß einem weltweit bindenden Vertrag nur noch in je einem Labor in den Vereinigten Staaten und in Rußland aufbewahrt werden. Gefrorene Variola-Erreger bewahren offenbar mehr als ein halbes Jahrhundert lang ihre Virulenz. Wird der »Dämon im Eisschrank« – so der Titel eines im Jahr 2002 erschienenen Buches des Wissenschaftsjournalisten Richard Preston über die Pockenkrankheit – aufgetaut, entfaltet er sogleich wieder sein furchtbares Potential. Die Krankheit ist extrem ansteckend, wird über die Atemluft oder durch einen Luftzug übertragen, und jeder dritte, der sich mit den Variola-Viren infiziert, geht qualvoll zugrunde. In der Geschichte der Menschheit waren die Pocken mit Hunderten von Millionen Opfern die verheerendste Seuche – schlimmer als Pest- oder Choleraepidemien. Die meisten Virologen sind der Ansicht, das Variola-Virus sei der für die Menschheit gefährlichste Krankheitserreger. Bis zur Entdeckung der Pockenschutzimpfung war das einzige 55
Mittel zur Bekämpfung der Krankheit die weiträumige Isolierung der befallenen Gebiete, und dann wartete man, bis die Epidemie sich ausgetobt hatte. Bis heute ist keine Behandlung der Pockenkrankheit im fortgeschrittenen Stadium bekannt: Entweder der Kranke stirbt, oder er überlebt – von Pockennarben entstellt. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, was ein Angriff mit Pockenviren auf ein Ballungszentrum wie Washington anrichten würde. Noch ehe beim ersten Patienten mit den unspezifischen Symptomen die heute fast völlig unbekannte Krankheit richtig diagnostiziert wäre, hätten sich Abertausende angesteckt und das Virus buchstäblich in alle Welt getragen – in Einkaufszentren und Behörden, in die Metro und in den Bus, auf Bahnhöfe und Flughäfen. Die durchschnittliche Inkubationszeit beträgt elf bis 14 Tage, der Multiplikationsfaktor – die Zahl der von einem Erkrankten zusätzlich Infizierten – liegt zwischen drei und 20. Richard Preston rechnet vor, daß es seit der Entdeckung des Aids-Virus HIV immerhin 20 Jahre gedauert habe, bis die Zahl der an Aids Erkrankten auf heute weltweit etwa 50 Millionen angewachsen sei. Beim Ausbruch einer Pockenseuche könnte dieser Krankenstand in zehn bis 20 Wochen erreicht sein. Gewiß, unter Wissenschaftlern ist umstritten, ob es im Falle der Freisetzung von Variola-Viren zu einem solchen Katastrophenszenario kommen muß. Doch wer kann sicher sein? In den Vereinigten Staaten sind etwa 100 Millionen jüngere Menschen und Kinder nicht gegen Pocken geimpft, und bei den Älteren, die in ihrer Kindheit geimpft wurden, dürfte die »Erinnerung« des Immunsystems an den Kontakt mit dem abgeschwächten Virus längst verflogen sein. Niemand weiß, wie lange der Schutz der aktiven Immunisierung im Kindesalter tatsächlich anhält. Die meisten Fachleute sind jedoch gegen die Wiedereinführung der Reihenschutzimpfung gegen Pocken, weil allein in Amerika selbst bei Anwendung eines defensiven statistischen 56
Modells dabei mit 300 bis 600 Toten aufgrund von Nebenwirkungen gerechnet werden müßte. Stattdessen schlagen sie die Bereitstellung des Impfstoffes für die ganze Bevölkerung vor, damit im Krankheitsfall sofort mit Massenimpfungen begonnen werden kann. Nach Auskunft der Behörden verfügen die Vereinigten Staaten über die erforderliche Menge an Impfstoff. Die israelische Regierung hat schon vor einiger Zeit mit der Impfung von Soldaten und Mitarbeitern im Gesundheitswesen gegen Pockenviren begonnen. Alles nur Hysterie, womöglich Panikmache zu Propagandazwecken? Vielleicht kommt es auf Erden tatsächlich nie wieder zu einer Pockenepidemie. Vielleicht aber doch. Ein ehemaliger leitender Mitarbeiter des sowjetischen Biowaffenprogramms, der sich 1992 in die Vereinigten Staaten absetzte, bezifferte seinerzeit die Produktionskapazität der einstigen Sowjetunion allein für waffenfähige Pockenerreger auf bis zu 200 Tonnen jährlich. Eine Menge, die ausgereicht hätte, die gesamte Menschheit mehrfach auszulöschen. Sind tatsächlich alle Vorräte an waffenfähigen Variola-Viren in der Sowjetunion und anderswo Ende der siebziger Jahre vernichtet oder der WHO übergeben worden? Und werden heute wirklich nur noch in Rußland und in Amerika Variola-Stämme zu Forschungszwecken aufbewahrt und zu Experimenten verwendet, um etwa neue Impfstoffe zu entwickeln? Die Glaubwürdigkeit des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA ist seit dem Krieg im Irak stark ramponiert, weil die vermuteten Massenvernichtungswaffen nicht gefunden wurden. Aber möglicherweise ist nicht alles falsch, was die Agenten, Ermittler und Wissenschaftler der CIA herausgefunden haben wollen – zum Beispiel, daß es Pockenviren heute eben nicht nur in den beiden zu deren Lagerung befugten Labors in Rußland und in den Vereinigten Staaten gibt, sondern auch anderswo in der Welt. Hysterie? Bewußt gestreute Propaganda? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Szenenwechsel. Im Mai 2004 verabschiedet der Senat in 57
Washington einstimmig, mit 99 zu null Stimmen, ein Gesetz, das zuvor schon vom Repräsentantenhaus mit einer ähnlich klaren Mehrheit – 421 zu zwei Stimmen – angenommen worden ist. Für das »Project BioShield« wird die stattliche Summe von 5,6 Milliarden Dollar freigegeben, verteilt auf zehn Jahre. Als eine Art Anstoßfinanzierung für das laufende Jahr 2004 werden allein 885 Millionen Dollar bereitgestellt. Mit »Project BioShield« werden staatliche Forschungs- und Schutzprogramme gefördert, und es werden Abnahmegarantien an die Industrie gegeben, damit auch diese ihre Forschung und Entwicklung vorantreibt. »Project BioShield« soll die Rettungskräfte in die Lage versetzen, im Fall eines terroristischen Anschlags mit biologischen, chemischen oder atomaren Waffen auf die Vereinigten Staaten angemessen auf die katastrophalen Auswirkungen eines solchen Anschlages zu reagieren. Mit den Steuermitteln sollen Fortbildungs- und Spezialisierungskurse für Ärzte und Pfleger sowie die Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten zum Schutz vor und zur Behandlung von Ebola, Pest, Pocken und Milzbrand finanziert werden. Auch die Erforschung und Herstellung von Medikamenten zur Behandlung akuter Strahlenkrankheit nach der Freisetzung starker radioaktiver Strahlung im Fall eines Anschlags mit atomaren Waffen oder mit einer »schmutzigen« Bombe – einem konventionellen, aber atomar kontaminierten Sprengsatz – wird durch »Project BioShield« ermöglicht. Schließlich werden mit dem Paket die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die Gesundheitsämter im Falle eines solchen Angriffs die Ausgabe von Medikamenten an die Rettungskräfte und die Bevölkerung genehmigen können, selbst wenn die neuen Mittel den langwierigen Test- und Genehmigungsprozeß der Behörde für die Zulassung von Arzneimitteln noch nicht vollständig durchlaufen haben. Präsident George W. Bush hatte in seiner Rede zur Lage der Nation vom 28. Januar 2003 vor beiden Häusern des Kongresses die Gesetzesinitiative zum Kampf gegen die Folgen 58
von Bioterrorismus mit folgenden Worten vorgestellt: »Wir müssen davon ausgehen, daß unsere Feinde diese Krankheiten als Waffen einsetzen, und wir müssen handeln, bevor diese Gefahr über uns ist.« Es gab Beifall von beiden Parteien. Dieser Konsens hat sich im Gesetzgebungsverfahren im Kongreß fortgesetzt. Einer der wichtigsten Autoren des Gesetzestextes war der republikanische Senator Judd Gregg aus dem Bundesstaat New Hampshire. Der Vorsitzende des Senatsausschusses für Gesundheit, Bildung, Arbeit und Renten sagte bei der Debatte über das Gesetzespaket im Senat: »Wir müssen die Bedrohung in einem größeren Zusammenhang sehen, und leider ist dieser Zusammenhang sehr ernst.« Da es keine kommerzielle Nachfrage für Medikamente gegen Pocken oder die Strahlenkrankheit gebe, »mußten wir eine Struktur errichten, um auch dem Privatsektor auf diesem Feld eine Chance zu geben«. Konkret bedeutet das, der Staat muß die Abnahme von riesigen Mengen an Impfstoffen und Arzneimitteln garantieren, die vielleicht nie benötigt werden. Alles nur Hysterie, womöglich Panikmache zu Propagandazwecken? Wieder so eine irrationale Maßnahme eines wegen der Anschläge vom 11. September 2001 wirr gewordenen Landes? Milliarden Dollar für Medikamente, die noch nicht ausreichend erprobt sind und womöglich jahrzehntelang nutzlos in Lagern herumliegen? Noch so eine Übertreibung wie die ungerechtfertigte Aushöhlung des Prinzips universaler Bürgerund Menschenrechte, die ja gerade für alle zu gelten haben, den mutmaßlichen »feindlichen Kämpfern« und angeblichen Spitzenterroristen im Gefangenenlager im amerikanischen Marinestützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba vom Pentagon und vom Weißen Haus aber so lange verweigert wurden, bis es sogar den neun Richtern am Obersten Gericht in Washington zu bunt wurde und sie im Juni 2004 den knapp 600 Gefangenen aus mehr als 40 Ländern das Recht zusprachen, gegen das unbefristete Wegschließen ohne Anklageerhebung vor 59
amerikanischen Bundesgerichten Rechtsmittel einzulegen? Milliardenschwere Forschungsprogramme zur Entwicklung von Impfungen gegen Milzbrand, nur weil die Hintermänner der mysteriösen Briefanschläge mit Anthraxsporen vom Oktober 2001 auf eine Zeitung in Florida, das NBC-Studio in New York und die Büros zweier Senatoren in Washington, bei denen elf Menschen infiziert wurden und fünf starben, einfach nicht gefunden werden konnten? Hysterie? Bewußt gestreute Propaganda? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wie immer man den ganzen Strauß von Maßnahmen der Regierung und von gesellschaftlichen Veränderungen in Amerika nach dem 11. September 2001 sehen mag; was immer man von den Ermittlungsergebnissen des unabhängigen Untersuchungsausschusses zum 11. September und den lückenhaften Erkenntnissen des FBI zu den Anthraxanschlägen vom Oktober 2001 halten mag – man unterschätze nicht den breiten Konsens in der amerikanischen Gesellschaft und Politik, der sich seit dem denkwürdigen Herbst 2001 bei der Betrachtung der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus breitgemacht hat. »Wenn Terroristen Zugang zum Milzbranderreger Anthrax, zu Pockenoder Ebolaviren, zu Botulinumtoxin oder zu Pesterregern bekommen, werden sie das einsetzen. Und sie werden es an Stellen einsetzen, wo Menschen zu ihren alltäglichen Verrichtungen zusammenkommen«, prophezeite der republikanische Senator Gregg bei der Aussprache über den Gesetzestext im Senat. Es widersprach ihm nicht nur niemand von den oppositionellen Demokraten; einer der entschiedensten Kritiker von Präsident George W. Bush und dessen Regierung, der demokratische Senator Edward Kennedy aus Massachusetts, hatte sich sogar an der Ausarbeitung des Gesetzestextes beteiligt. »BioShield ist ein maßgeblicher Schritt, um den Mitarbeitern im Gesundheitswesen die nötige Unterstützung zu gewähren, damit sie auf Angriffe mit biologischen, chemischen oder nuklearen Waffen angemessen reagieren können«, sagte Kennedy im Senat. 60
Es mag auch in europäischen Ländern und anderswo auf der Welt Katastrophenschutzübungen und staatlich geförderte Projekte zum Schutz gegen die Auswirkungen von atomaren, biologischen und chemischen Waffen geben, doch ein so umfangreich ausgestattetes Gesetz wie in den USA gibt es nirgendwo sonst. Daß sich Amerika seit dem 11. September 2001 im Krieg gegen den Terrorismus befindet, ist keine bloß regierungsamtliche Rhetorik, der keine gesellschaftliche Wirklichkeit entspricht. Vielmehr stehen die Bevölkerung und besonders die politische Klasse fast geschlossen hinter der Führung des Landes und des Präsidenten in diesem Krieg – so wie es in der amerikanischen Geschichte faktisch immer der Fall war zu Kriegszeiten. Ob die Invasion im Irak gerechtfertigt war oder nicht; ob die Beseitigung des Regimes in Bagdad ein integraler Bestandteil des Krieges gegen den Terrorismus war oder nicht; ob Amerika seit dem Sturz Saddam Husseins sicherer geworden ist oder ob der Einmarsch im Irak den Terrorismus im Gegenteil erst angefacht und damit die Position Amerikas sogar geschwächt hat – darüber gibt es in den USA zwischen den politischen Lagern so heftigen Streit wie anderswo auch. Daß sich das Land im Krieg befindet und nicht einen Kampf mit polizeilichen Mitteln wie etwa gegen organisierte internationale Drogenschmuggler auszufechten hat, das ist weithin Konsens. Bushs Rede bei der Trauerfeier vom 14. September 2001 in der National Cathedral von Washington gehört zu den frühen Grundtexten über den Krieg Amerikas und der gesamten freien Welt gegen den internationalen Terrorismus. Sie enthält, in wenige Absätze komprimiert, schon das vollständige Gedankengebäude zur Beschreibung und Begründung des Krieges gegen den Terrorismus. »Nur drei Tage nach diesen Ereignissen hat Amerika noch nicht die Distanz der Geschichte«, sagte Bush. »Doch unsere Verantwortung vor der Geschichte ist schon jetzt klar: auf diese Angriffe zu antworten und die Welt vom Bösen zu befreien. Man hat einen Krieg gegen uns begonnen – mit 61
Tarnung, Täuschung und Mord. Diese Nation ist friedlich, aber sie ist grimmig entschlossen, wenn man sie zum Äußersten reizt. Dieser Konflikt wurde nach den Bedingungen und den Zeitvorgaben anderer begonnen. Er wird auf eine Weise und zu einer Stunde enden, wie es unserem Willen entspricht.« Es folgt in der sorgsam komponierten Ansprache der Trauer nur noch eine Stelle, in welcher der Präsident nicht als oberster Trostgeber in der Stunde der Erschütterung, sondern als Oberbefehlshaber und entschlossener Führer eines Landes spricht, das vor großen Herausforderungen steht: »Amerika ist eine von der Fügung begünstigte Nation, und es gibt so vieles, wofür wir dankbar sein können. Aber auch uns bleibt Leiden nicht erspart. In jeder Generation hat die Welt Feinde der menschlichen Freiheit hervorgebracht. Sie haben Amerika angegriffen, weil wir Heimstatt und Verteidiger der Freiheit sind. Und die Verpflichtung unserer Väter ist jetzt die Aufgabe unserer Zeit.« In drei weiteren, umfassenderen Texten werden die schon in der National Cathedral vorgestellten Grundzüge der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik zu Zeiten des Krieges gegen den Terrorismus präzisiert. Es sind die Rede vor den Absolventen der traditionsreichen Militärakademie in West Point im Bundesstaat New York vom 1. Juni 2002, die Nationale Sicherheitsstrategie vom September 2002 und schließlich die Rede zur Lage der Nation vom 28. Januar 2003 vor beiden Häusern des Kongresses. Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen, denn der beim Trauergottesdienst in der National Cathedral angeschlagene Orgelton vom hinterhältigen Angriff der Feinde und von der Aufgabe für mindestens eine Generation im Krieg gegen den Terrorismus erklingt seither fast in jeder außen- und sicherheitspolitischen Grundsatzrede des Präsidenten. Vor den Jahrgangsabsolventen der renommierten Militärakademie West Point sagte Bush: »Der Ruf der Geschichte gilt auch Ihrer Generation. In Ihrem letzten Ausbildungsjahr wurde Amerika von einem skrupellosen 62
und gerissenen Feind angegriffen. Sie legen Ihren Abschluß an dieser Akademie in Kriegszeiten ab, um Ihren Platz in den machtvollen und ruhmreichen amerikanischen Streitkräften einzunehmen. Unser Krieg gegen den Terrorismus hat erst begonnen, doch er hat in Afghanistan gut begonnen … Dieser Krieg wird viele Wendungen nehmen, die wir nicht voraussagen können. Doch eines weiß ich mit Bestimmtheit: Wo immer wir diesen Krieg führen, wird die amerikanische Flagge nicht nur für unsere Macht wehen, sondern für die Freiheit. Die Sache unserer Nation war immer größer als die Verteidigung unserer Nation. Wir kämpfen, wie wir immer kämpfen: für einen gerechten Frieden – einen Frieden, der die Freiheit des Menschen fördert. Wir werden den Frieden gegen die Bedrohungen durch Terroristen und Tyrannen verteidigen. Und wir werden die Herrschaft des Friedens erweitern, indem wir freie und offene Gesellschaften auf jedem Kontinent fördern. Diesen gerechten Frieden zu schaffen, ist Amerikas Gelegenheit, und es ist Amerikas Pflicht … Amerika hat kein Imperium zu vergrößern und keine Utopie zu errichten. Wir wünschen für andere nur, was wir für uns selbst wünschen – Freiheit von Gewalt, den Lohn der Freiheit und die Hoffnung auf ein besseres Leben. Indem wir den Frieden verteidigen, sehen wir uns einer bisher unbekannten Gefahr gegenüber. Feinde der Vergangenheit benötigten große Armeen und große industrielle Fähigkeiten, um das amerikanische Volk und unsere Nation zu gefährden. Die Angriffe vom 11. September haben nur weniger hunderttausend Dollar in der Hand weniger Dutzend böser und hinterhältiger Männer bedurft. All das Chaos und das Leiden, das sie verursacht haben, hat viel weniger gekostet als ein einziger Panzer. Die Gefahr ist nicht vorüber. Diese Regierung und das amerikanische Volk sind auf der Hut, wir sind gewappnet, weil wir wissen, daß die Terroristen noch mehr Geld und mehr Männer und mehr Pläne haben. Die größte Bedrohung für die Freiheit liegt an der gefährlichen 63
Schnittstelle von Radikalismus und Technologie. Wenn die Verbreitung von chemischen, biologischen und nuklearen Waffen mit der Fähigkeit zum Bau ballistischer Raketen zusammenkommt, dann sind sogar schwache Staaten und kleine Gruppen in der Lage, mit katastrophaler Gewalt große Nationen anzugreifen. Unsere Feinde haben genau diese Absicht erklärt und wurden dabei ertappt, als sie versuchten, sich diese furchtbaren Waffen zu beschaffen. Sie streben nach der Fähigkeit, uns zu erpressen oder uns Schaden zuzufügen oder unseren Freunden Schaden zuzufügen – und wir werden sie mit aller Macht bekämpfen. Die meiste Zeit im vergangenen Jahrhundert beruhte die Verteidigung Amerikas auf der Doktrin des Kalten Krieges von Abschreckung und Eindämmung. In einigen Fällen finden diese Strategien noch immer Anwendung. Aber neue Gefahren erfordern neues Denken. Abschreckung – die Drohung mit massiver Vergeltung gegen Nationen – ist wirkungslos gegen Terrornetze, die im verborgenen operieren und weder Nationen noch Bürger zu verteidigen haben. Eindämmung verfängt nicht, wenn mit Massenvernichtungswaffen gerüstete unberechenbare Diktatoren diese Waffen mit Raketen einsetzen können oder sie im geheimen an verbündete Terroristen weitergeben. Wir können Amerika und unsere Freunde nicht verteidigen, indem wir das Beste hoffen. Wir können unseren Glauben nicht in das Wort von Tyrannen legen, die feierlich Verträge zur Nichtverbreitung (von Massenvernichtungswaffen) unterzeichnen, um diese sodann systematisch zu brechen. Wenn wir warten, bis die Bedrohung sich vollständig konkretisiert hat, werden wir zu lange gewartet haben … Der Krieg gegen den Terror wird nicht in der Defensive gewonnen. Wir müssen den Kampf zum Gegner tragen, dessen Pläne durchkreuzen und uns den schlimmsten Bedrohungen entgegenstellen, ehe sie zutage treten. In der Welt, in die wir jetzt eintreten, ist der einzige Weg zur Sicherheit der Weg des Handelns. Und diese Nation wird handeln.« 64
Die Rede von West Point kann als gereifte Vorstufe der Doktrin von der vorbeugenden Selbstverteidigung (preemption) verstanden werden, die das Weiße Haus in der Nationalen Sicherheitsstrategie vom September 2002 und in der Rede zur Lage der Nation von Ende Januar 2003 vollends kanonisierte. Die grundlegenden Überzeugungen und Argumente werden von den Redenschreibern des Präsidenten in immer neuen rhetorischen Figuren und Formulierungen variiert. Dabei versteht es Bushs Chefredenschreiber Michael Gerson, den Geschmack des Präsidenten offenbar kongenial zu treffen. »Nach fünf Jahren habe ich ein ziemlich gutes Gespür«, sagt Gerson, »dem ich über die Jahre immer näher und näher gekommen bin.« Die von Bush bevorzugte Rhetorik pflegt Gerson als »Mischung aus Einfachheit und Erbaulichkeit« zu beschreiben, und seine Aufgabe sieht er vor allem darin, komplexe Zusammenhänge in deren überschaubare Teile zu zerlegen. »Er mag wirklich gelungene Formulierungen«, sagt Gerson über Bush, »er hat ein Gespür für emotionale Sprache und versucht einen gewissen Grad an Direktheit und Einfachheit zu erreichen. Er schätzt emotionale Ernsthaftigkeit.« Es ist dieser »Sound« von griffigen, formelhaften Sätzen voll starker, klarer Überzeugungen, der vielen in Europa – und auch im Nahen Osten – als zugleich arrogant und simpel in den Ohren klingt. Zwar stimmen auch in Amerika selbst beileibe nicht alle mit der Politik des Präsidenten überein: Die Spaltung in zwei etwa gleich große politische Lager dürfte die amerikanische Gesellschaft und Wählerschaft auf absehbare Zeit prägen. Und entgegen seinem Anspruch, als Einiger und nicht als Spalter in Washington zu wirken, hat Bush die Polarisierung der politischen Landschaft noch weiter vorangetrieben – zumal mit der umstrittenen Entscheidung zum Einmarsch im Irak. Daß der 43. Präsident der Vereinigten Staaten starke und klare Überzeugungen hat und sich einer eingängigen Sprache befleißigt, unterscheidet ihn aber weniger von den meisten seiner 65
Amtsvorgänger im Weißen Haus als von den Regierungschefs der verbündeten Staaten in Europa – mit Ausnahme vielleicht des britischen Premierministers Tony Blair. Denn daß amerikanische Präsidenten, die gleichsam im Nebenberuf auch Führer der freien Welt sind, große Visionen für die amerikanische Nation, den Fortgang der Menschheitsentwicklung und die Weltgeschichte entwerfen, gehört in den USA zur ideologischen Grundausstattung der gewählten politischen Führung. Der Horizont ist gerade nicht der Tellerrand der nationalen Interessen, obwohl deren Verteidigung die vornehmste Aufgabe jedes amerikanischen Präsidenten bleibt. Anders als in den Nationalstaaten Europas, wo sich der Blick über die Staatsgrenzen hinaus seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Europäische Gemeinschaft und später auf die Europäische Union sowie auf die Schaffung eines geeinten Kontinents richtet, ist die Transzendenzleistung in Amerika radikaler: Von den Fenstern des Weißen Hauses aus schweift der Blick über die ganze Welt – und bleibt nicht beim Nachbarhaus oder in Brüssel hängen. Was aber den nationalen Interessen Amerikas frommt, kommt am Ende – dank der auserwählten Sonderstellung Amerikas, über die noch zu reden sein wird – auch der Welt zugute. Sowohl in der Rhetorik wie in der Substanz ist der Blick auf den internationalen Terrorismus in den USA von jenem in Europa markant unterschieden. In Europa dürfte eine Mehrheit der Menschen wie auch der politisch Verantwortlichen die Ansicht des amerikanischen Schriftstellers Norman Mailer teilen, wonach es ein »erträgliches Maß an Terrorismus« gebe, mit dem moderne Gesellschaften leben könnten und müßten. Mailer argumentiert, daß es besser sei, sich in der Angst vor letztlich unvermeidlichen, aber in ihrer Wirkung begrenzten Anschlägen einzurichten, statt das Problem des Terrorismus global lösen zu wollen – eben mit riskanten und international umstrittenen militärischen Mitteln gegen Schurkenstaaten und andere Sponsoren 66
des Terrorismus. Bushs Nationale Sicherheitsstrategie vom September 2002 sowie seine Rede zur Lage der Nation vom 28. Januar 2003 knapp zwei Monate vor dem Beginn der Invasion im Irak gehalten, weisen diese Ansicht energisch zurück. »Unser Krieg gegen den Terrorismus stellt unseren Willen auf eine Probe, und dabei bedeutet Beharrlichkeit Macht«, sagte Bush vor beiden Kammern des Kongresses. »In den Ruinen zweier Bürotürme, im Westflügel des Pentagon und auf einem Feld in Pennsylvania hat diese Nation ein Versprechen abgelegt. Dieses Versprechen erneuern wir heute abend: Wie lange dieser Kampf auch dauern mag und welche Schwierigkeiten damit verbunden sein mögen, wir werden nicht zulassen, daß Gewalt die Geschicke der Menschheit bestimmt – freie Menschen bestimmen den Lauf der Geschichte.« Im weiteren bekräftigt Bush abermals, daß die größte Bedrohung im Krieg gegen den Terror von »geächteten Regimen ausgeht, die den Besitz und die Herstellung von nuklearen, chemischen oder biologischen Waffen anstreben. Diese Regime könnten solche Waffen für Erpressung, Terror und Massenmord einsetzen. Sie könnten diese Waffen auch an terroristische Verbündete weitergeben oder verkaufen, und diese würden sie ohne jedes Zögern einsetzen.« Dieser neuen Bedrohung stehe Amerika mit seiner »altbekannten Verpflichtung« gegenüber: »Während des gesamten 20. Jahrhunderts haben kleine Gruppierungen große Nationen unter ihre Kontrolle gebracht, haben Armeen und Waffenarsenale aufgestellt und schickten sich an, die Schwachen zu beherrschen und die Welt einzuschüchtern. In keinem Fall kannten ihr grausamer Machtwille und ihre Mordlust Grenzen. Doch in jedem Fall wurden der Machtwille von Nationalsozialismus, Militarismus und Kommunismus durch den Willen freier Völker, durch die Stärke großer Allianzen und durch die Hoffnung der gesamten Menschheit besiegt. Heute, in diesem Jahrhundert, hat sich die Ideologie 67
von Macht und Beherrschung wieder erhoben, und sie strebt nach dem Zugang zu den ultimativen Waffen des Terrors. Und abermals stehen allein diese Nation sowie all unsere Freunde zwischen einer Welt im Frieden und einer Welt im Chaos und im Zustand ständiger Angst. Und abermals sind wir aufgerufen, die Sicherheit unseres Volkes und die Hoffnungen der ganzen Menschheit zu verteidigen. Und wir sind bereit, diese Verantwortung zu übernehmen.« Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle »Beifall«, und wer die Rede von der Zuschauertribüne im Repräsentantenhaus miterlebt hat, erinnert sich lebhaft an den Applaus und die stehenden Ovationen, von welchen die Rede des Präsidenten immer wieder unterbrochen wurde. Es sind nicht nur die Abgeordneten und Senatoren der Republikanischen Partei, die ihrem Präsidenten Beifall zollen, es sind auch die Kongreßmitglieder der Opposition, die das politische Ritual offenbar gerne befolgen, dem Präsidenten und Oberbefehlshaber klatschend die Reverenz zu erweisen. Der »hohe Ton« zumal in politischen Grundsatzreden, den Präsidenten von Thomas Jefferson und Abraham Lincoln über Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt bis zu John F. Kennedy und Ronald Reagan so treffsicher anzuschlagen vermochten, fand immer auch in den Herzen der Mitglieder des Kongresses und der Bevölkerung Widerhall. Ebenso wie eine trotzig-selbstbewußte Beteuerung, derer sich George W. Bush zum Abschluß seiner Einlassungen zum Kampf gegen den Terrorismus in der Rede zur Lage der Nation von Januar 2003 befleißigte: »Alle freien Nationen haben ein Interesse daran, jähen und katastrophalen Angriffen vorzubeugen. Wir bitten Sie, sich uns anzuschließen, und viele tun dies auch. Dennoch wird der Weg, den diese Nation einschlägt, nicht von den Entscheidungen anderer bestimmt. Was immer getan werden muß, wann immer gehandelt werden muß – ich werde die Freiheit und die Sicherheit des amerikanischen Volkes verteidigen.« 68
Die dritte und zugleich maßgebliche und ausführlichste Variation des Themas »Amerika in der Epoche des Krieges gegen den Terrorismus« bietet die Nationale Sicherheitsstrategie vom September 2002. Mit dem Papier kommen der Präsident und sein Nationaler Sicherheitsrat im Weißen Haus der 1950 unter Harry Truman eingeführten informellen, seit 1986 gesetzlich vorgeschriebenen Gepflogenheit nach, den Kongreß und die Öffentlichkeit alle zwei Jahre über die Grundzüge der Strategie zur Nationalen Sicherheit zu informieren. In der letzten, noch von Präsident Bill Clinton unterzeichneten, Nationalen Sicherheitsstrategie vom Dezember 2000 hatte es in der Einleitung noch zuversichtlich geheißen, daß »wir an der Schwelle zum neuen Millennium in der glücklichen Lage sind, Bürger eines Staates mit beispiellosem Wohlstand ohne tiefe innere Spaltungen zu sein, der sich keinen alles überragenden Bedrohungen von außen ausgesetzt sieht und über die mächtigsten Streitkräfte der Weltgeschichte zur Verteidigung unserer Interessen in aller Welt verfügt«. Der Ton dieser »Strategie des Engagements« in einem globalen Zeitalter ist im ganzen zuversichtlich, auch ein wenig lau; alarmierende Entwicklungen sind nicht in Sicht. Ganz anders schon die Einleitung zum ersten Strategiepapier unter Präsident George W. Bush. Die historische Perspektive wird mit der Feststellung eröffnet, daß »die großen Kämpfe des 20. Jahrhunderts zwischen Freiheit und Totalitarismus mit einem deutlichen Sieg für die Kräfte der Freiheit« geendet haben. Damit habe sich »ein einziges nachhaltiges Modell für nationalen Erfolg« durchgesetzt, das »auf den Prinzipien von Freiheit, Demokratie und freiem Unternehmertum« fuße. Diesem Modell wird universale Gültigkeit zugesprochen: »Menschen auf der ganzen Welt wollen frei ihre Meinung sagen; sie wollen ihre Regierung wählen können; ihren Glauben leben; ihren Kindern – Jungen wie Mädchen – eine Schulbildung ermöglichen; Eigentum besitzen; und die Früchte ihrer Arbeit genießen. Diese Werte der Freiheit sind richtig und wahr für 69
jeden Menschen, in jeder Gesellschaft, und die Pflicht, diese Werte gegen ihre Feinde zu verteidigen, ist der gemeinsame Auftrag aller freiheitsliebenden Menschen überall auf der Welt und zu allen Zeiten.« Weil aber die Vereinigten Staaten sich »gegenwärtig beispielloser militärischer Stärke und eines großen wirtschaftlichen und politischen Einflusses« erfreuen, kommt ihnen die Rolle eines Fackelträgers zu. Freiheit ist eine »nicht verhandelbare Forderung menschlicher Würde, das Geburtsrecht jedes Menschen in jeder Zivilisation«. Sie wurde aber im Lauf der Geschichte immer wieder von Krieg und Terror bedroht; vom Kampf großer Mächte und von bösen Bestrebungen von Tyrannen herausgefordert; schließlich von Armut und Krankheit auf die Probe gestellt. Heute aber halte die Menschheit »die Möglichkeit in ihren Händen, den Triumph der Freiheit über all diese Feinde voranzubringen. Die Vereinigten Staaten begrüßen es, die Verantwortung als Führungkraft in dieser großen Mission zu übernehmen.« Obwohl dem »Krieg gegen den Terrorismus von globalem Zugriff«, der sich zudem Massenvernichtungswaffen zu beschaffen sucht, nur eines von insgesamt neun Kapiteln gewidmet ist, hat dieser Passus die Rezeption der Nationalen Sicherheitsstrategie vor allem in Europa geprägt. Die Bekräftigung, daß Interessenkonflikte zwischen Großmächten wie Rußland, China und den USA künftig in der Form friedlichen Wettbewerbs statt in Kriegen ausgetragen werden dürfen; daß die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstandenen internationalen Institutionen wie die UN reformiert und den heutigen Verhältnissen angepaßt statt abgeschafft werden sollen; daß die Ausbreitung von Marktwirtschaft und Freihandel bevorzugte Instrumente zur Beförderung von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit sind; daß Amerika keine Vormachtstellung, sondern ein »Gleichgewicht der Kräfte zugunsten der Freiheit« anstrebt – diese wesentlichen Säulen der amerikanischen Sicherheits70
strategie am Anfang des 21. Jahrhunderts wurden kaum wahrgenommen. Stattdessen wurde reflexartig auf die »Bush-Doktrin« der Präemption reagiert – wie etwa im Oktober 2002 vom Chefredakteur der Monatszeitschrift Le Monde Diplomatique, Ignacio Ramonet, der umstandslos eine Parallele zu den »Präventivkriegen« von »Hitler-Deutschland 1941 gegen die Sowjetunion und Japan 1942 gegen die USA« zog. Und im Nachrichtenmagazin Der Spiegel vom 7. Oktober 2002 fühlte man sich an die Breschnew-Doktrin erinnert. Auch der in den oben dargestellten Texten beschriebene »Krieg gegen den Terrorismus« erscheint bei genauem Hinsehen weniger einseitig als gemeinhin wahrgenommen. Der Einsatz militärischer Gewalt wird ausdrücklich nur als eines von vielen Mitteln der Wahl dargestellt: »Der Kampf gegen den globalen Terrorismus ist anders als jeder andere Krieg in unserer Geschichte. Er wird über lange Zeit und an vielen Fronten gegen einen besonders schwer faßbaren Feind geführt werden.« Ein Erfolg werde sich nur dank einer ausdauernden, standfesten und systematischen Anwendung sämtlicher Instrumente der nationalen Macht einstellen – diplomatischer, wirtschaftlicher, finanzieller, nachrichtendienstlicher, polizeilicher und militärischer. »Wir werden den Krieg der Ideen gewinnen«, heißt es, »und wir werden die ihm zugrundeliegenden Bedingungen bekämpfen, die Verzweiflung und die destruktiven Visionen eines politischem Wandels, welche die Menschen dazu bringt, Terrorismus gutzuheißen statt ihn zurückzuweisen.« Ein direkter Vergleich der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA mit dem vom Hohen Vertreter der EU für Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik, Javier Solana, verfaßten Entwurf einer Europäischen Sicherheitsstrategie vom 20. Juni 2003 macht deutlich, daß Amerikaner und Europäer zwar zur gleichen Zeit, aber in verschiedenen Epochen leben. In der Nationalen Sicherheitsstrategie kommt die Formulierung »Krieg gegen den 71
Terrorismus« mehr als ein Dutzend Mal vor und von der Freiheit sowie von deren Verteidigung und Verbreitung über den Erdkreis ist gleich an 85 Stellen die Rede. In einer dialektischen Wendung wächst aus der Gefahr das Rettende auch: Der aufgezwungene Krieg gegen den Terrorismus wird, dank der entschlossenen und ausdauernden Führung Amerikas, mit dem Triumph der Freiheit enden. Im Solana-Papier wird die Formulierung »Krieg« gegen den Terrorismus sorgsam vermieden, denn mit solch martialischer Sprechweise will man sich in Europa nicht gemein machen. Stattdessen ist von einer »strategischen Bedrohung« durch den internationalen Terrorismus die Rede, die Menschenleben gefährde, hohe Kosten verursache und die Offenheit und Toleranz der Gesellschaft bedrohe. Man muß den Autoren des Solana-Papiers zugute halten, daß sie ihren Entwurf einer Europäischen Sicherheitsstrategie neun Monate vor den Anschlägen von Madrid verfaßt haben und daher noch erleichtert sein durften, daß geplante »größere Anschläge in unserem Hoheitsgebiet … glücklicherweise vereitelt werden« konnten. Dennoch waltet in der Beschreibung des internationalen Terrorismus und der davon für Europa ausgehenden Gefahr so etwas wie der kategorische Konjunktiv. »Die neuen terroristischen Bewegungen«, heißt es etwa, »scheinen gewillt zu sein, unbegrenzte Gewalt anzuwenden und eine sehr große Zahl von Menschen zu töten. Anders als bei den traditionellen Terrororganisationen ist es für sie daher reizvoll, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu gelangen.« Während Amerika sich längst im Indikativ in einem globalen Krieg gegen den internationalen Terrorismus weiß, der nach unterschiedlichen Schätzungen zwei bis drei Jahrzehnte dauern wird, wägt Europa noch ab, ob internationale Terroristen zum Massenmord gewillt zu sein scheinen und ob sie am Ende doch dem Reiz von Massenvernichtungswaffen erliegen könnten. Während Amerika sich längst auf den Weg gemacht hat, um die »Feinde der Zivili72
sation« mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen, harrt Europa noch aus, um die Ernsthaftigkeit der Bedrohung zu ermessen und mögliche Maßnahmen zu bedenken. Natürlich ist der Streit darüber, wessen Sicht auf die Dinge denn nun die richtige sei, müßig und unwichtig, denn eine verläßliche Antwort kann erst die Zukunft geben. Die unterschiedlichen Perspektiven sind dagegen schon heute von höchster Bedeutung, weil sie auch das Bild prägen, welches die transatlantischen Partner jeweils voneinander entwerfen. Die Wahrnehmung des Phänomens des radikal-islamischen, totalitären Terrorismus hat auch mit den jeweils eigenen Erfahrungen mit politischem Terrorismus zu tun. Viele europäische Staaten sind mit dem politischen Terrorismus seit Jahrzehnten vertraut. Sie kennen ihn als linksradikalen Terrorismus der »Roten Brigaden« in Italien und der »Roten Armee Fraktion« in Deutschland oder als ethnisch-separatistischen der baskischen »ETA« in Spanien. In keinem Fall war der Zugriff des europäischen Terrorismus global, auch wenn er, wie im Falle des linksradikalen, einer universalistischen Ideologie folgte. In seinem Aktionsradius blieb der europäische Terrorismus auf die weitere Umgebung seiner Herkunftsländer beschränkt, Akteure und Publikum wirkten im gleichen »Heimspiel«. Die Anschläge vom 11. September 2001 wurden von Ausländern fern ihrer Heimat vor einem globalen Publikum verübt, und sie richteten sich gegen Amerika als das Symbol einer Lebens- und Weltordnung, als das Leuchtfeuer der freiheitlichen Demokratie – beziehungsweise als großen Satan, der auf dem Weg zur Wiedererrichtung eines Kalifats und bei der Befreiung verlorener muslimischer Gebiete um das Mittelmeer als erster getroffen werden muß. Auch die Anschläge gegen amerikanische Einrichtungen in den Jahren zuvor – von Beirut und New York über Kenia und Tansania bis zu Saudi-Arabien und dem Jemen – entsprachen diesem globalen Muster. »Wir kennen den Terrorismus und haben seine Folgen am eigenen Leib erfahren«, schallt es über 73
den Atlantik, und jeder hat andere Erfahrungen und Ausblicke im Sinn. Weil die USA so stark und groß sind, wie sie sind, stehen sie notgedrungen an der vordersten Front dieser Auseinandersetzung, denn sie können sich nicht kleiner machen, als sie sind. Für die im Vergleich deutlich schwächeren Europäer bietet sich dagegen die Taktik an, sich hinter dem Riesen zu verstecken, in der Hoffnung, von den terroristisehen Schlägen verschont zu bleiben – was in den USA als gefährlicher Versuch, einen Separatfrieden mit dem Terrorismus zu schließen, gebrandmarkt wird. Das Angebot eines »Waffenstillstands« des Terrornetzes Al Qaida und seiner Gliedorganisationen an europäische Staaten, sollten diese ihre Truppen aus Afghanistan und dem Irak abziehen, ist deutlich auf eine Spaltung des Westens gerichtet. Und diese Taktik ist vielversprechend. Eine Leserbefragung der europäischen Ausgabe des Magazins Time von Anfang 2003, auf die fast 270000 Leser antworteten, ergab einen schockierend hohen Anteil von mehr als 83 Prozent, die in den USA die größte Bedrohung für den Weltfrieden sahen – weit vor Nordkorea mit knapp acht und Irak mit neun Prozent. Umfragen von Meinungsforschungsinstituten seit dem Einmarsch im Irak kamen zu ähnlichen, wenn auch nicht ganz so drastischen Ergebnissen: Immer mehr Europäer sehen die USA als potentielle oder gar manifeste Bedrohung der internationalen Sicherheit und sorgen sich eher vor einem entfesselten Amerika als zum Beispiel vor den auf Präsident Bushs »Achse des Bösen« übriggebliebenen Staaten Iran und Nordkorea. Die Überzeugung, daß mit dem Heraufziehen des radikalislamischen Terrorismus und mit dem Fanal des 11. September 2001 eine neue Epoche angebrochen sei, ist in Europa alles andere als mehrheitsfähig – ebensowenig wie die Rede vom »Krieg gegen den Terrorismus«. Wie auch? Europa ist bis auf weiteres vollauf damit beschäftigt, die Folgen der vergangenen Epoche des Kalten Krieges zu überwinden, die Herkulesleistung 74
der Integration neuer Mitglieder in die EU und zugleich die Vertiefung der Union zu erreichen. Da soll die Welt unter Führung Amerikas längst schon wieder zu neuen Ufern unterwegs sein und gar einen neuen Krieg begonnen haben? Eliot Cohen, Professor für Strategische Studien an der Washingtoner Johns Hopkins Universität, prägte die Formel vom »Vierten Weltkrieg«, wobei der Kalte Krieg in dieser Zählung als Dritter Weltkrieg firmiert. In europäischen Ohren muß diese Bezeichnung fremd und zynisch klingen – eingedenk der Erinnerungen an die Katastrophen, welche Weltkriege über Europa zu bringen pflegen. Aus amerikanischer Perspektive ist die Formel aber durchaus plausibel und deshalb fast schon kanonisch geworden. Der von Präsident Bill Clinton ernannte frühere CIA-Direktor James Woolsey, der den amerikanischen Auslandsgeheimdienst von 1993 bis 1995 leitete, hat sie immer wieder benutzt und damit bekannt gemacht. Die Erinnerungen Amerikas an den Ersten und den Zweiten Weltkrieg sind heroische, keine überwiegend tragischen wie in den meisten Staaten Europas, weil der hohe Einsatz an Menschenleben und materiellen Ressourcen schließlich mit dem Sieg und der weiteren Stärkung der Macht der USA belohnt wurde. Der begriffliche Anschluß an den Kalten Krieg – den »Dritten Weltkrieg« – ist noch treffender, weil auch dieser über viele Jahre, ja Jahrzehnte unter Einsatz der unterschiedlichsten Mittel amerikanischer Macht ausgefochten wurde und wiederum mit einem triumphalen Sieg endete: dem Ende der Sowjetunion, des Kommunismus und der Teilung Europas. Mit der Rede vom Vierten Weltkrieg werden die historischen Erfolge der scheinbar unaufhaltsam wachsenden Welt- und Supermacht Amerika aus dem 20. Jahrhundert evoziert und auf die erste große Herausforderung der Hypermacht im 21. Jahrhundert projiziert: Man kann nicht erwarten, daß ein Sieger vor einem neuen Kampf seine Taktik umkrempelt, wenn sie ihm bis dahin so vorzügliche Dienste geleistet hat. 75
Doch darin steckt das Potential für einen neuen Zwist mit Europa. Dort vermag man den behaupteten Beginn einer neuen Epoche nicht zu erkennen, rät aber dringend zur Abkehr vom außenpolitischen Instrument unilateraler Gewaltanwendung und stellt öfters auch – vor allem in Paris – den Führungsanspruch der USA rundweg in Frage. Trotz aller Bekundungen, nach dem raschen Fall Saddam Husseins den Streit über den Irak-Krieg beiseitezulegen, das Zweistrom-Land in einer gemeinsamen Anstrengung zu befrieden, das beschädigte atlantische Bündnis zu reparieren sowie ramponierte Institutionen wie die Nato und die UN wieder zu stärken, ließen diese europäischen Bemühungen in der Mitte des amerikanischen Wahljahres 2004 deutlich nach. Eine Niederlage George W. Bushs gegen seinen Herausforderer John Kerry bei den Wahlen im November rückte nach wenig schmeichelhaften Umfrageergebnissen für den Präsidenten in den Bereich des Möglichen, und so machte sich vielerorts in Europa der Gedanke breit, man könne Bush vollends »aussitzen«. Politik würde man hinterher mit dem »pflegeleichteren« John Kerry machen. Für Hoffnungen auf einen signifikanten Politikwechsel besteht aber wenig Anlaß. Im Wahlprogramm der Demokraten vom Juli 2004 nehmen der »Krieg gegen den Terrorismus« und der Schutz der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten notfalls durch unilaterales Handeln mehr als die Hälfte des Raumes ein. Als die drei wichtigsten außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen werden genannt: »Den globalen Krieg gegen den Terror zu gewinnen, die Verbreitung von nuklearen, biologischen und chemischen Waffen zu verhindern sowie Demokratie und Freiheit in aller Welt zu fördern, beginnend mit einem stabilen und friedlichen Irak.« In der Plattform, die sich als Bekenntnis zum »Glauben an die Größe Amerikas« versteht, wird zwar das »überstürzte« Vorgehen im Irak kritisiert, weil die Regierung Bush »übereilt« zu Gewalt gegriffen habe, ohne alle diplomatischen Mittel auszuschöpfen; in einer ausführlichen 76
Auseinandersetzung mit der Nationalen Sicherheitsstrategie der Regierung vom September 2002 wird zudem deren Konzept der »präemptiven Selbstverteidigung« vorsichtig kritisiert. Aber am Prinzip eines notfalls unilateralen Militäreinsatzes halten auch die Demokraten fest: »Wir werden niemals auf grünes Licht aus dem Ausland warten, wenn unsere Sicherheit bedroht ist, aber wir müssen uns der Unterstützung jener versichern, die wir zum Sieg brauchen.« Ganz ähnlich klingt es im Strategiepapier einer Gruppe von Politikwissenschaftlern und ehemaligen Mitarbeitern der Regierung unter Präsident Bill Clinton vom Oktober 2003 mit dem Titel »Progressiver Internationalismus – Eine Demokratische Nationale Sicherheitsstrategie«. Auch in diesem Papier, einer Blaupause für die amerikanische Außenpolitik im Falle eines Wahlsieges von John Kerry, ist wie selbstverständlich immer wieder vom »Krieg gegen den Terrorismus« die Rede. Der »progressive Internationalismus« will sich als dritter Weg, als »vitales Zentrum zwischen der neo-imperialen Rechten und der anti-interventionistischen Linken« verstanden wissen. Die ersteren werden kritisiert, weil sie glaubten, daß »unsere Macht uns immer ins Recht setzt«. An die letzteren gerichtet, heißt es, Multilateralismus sei »kein Selbstzweck«, und nicht alles, was Amerika tue, sei schon deswegen falsch, weil Amerika stark sei. Denn wer den Terrorismus bekämpfen und groben Menschenrechtsverletzungen Einhalt gebieten wolle, »müsse mitunter handeln – notfalls auch außerhalb der manchmal ineffektiven Vereinten Nationen«. Betrachtet man die öffentliche Debatte und die jüngere zeitgeschichtliche Literatur in den USA über Lage und Aufgabe Amerikas im Zeitalter des internationalen Terrorismus und der drohenden Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, so stellt man über die Grenze zwischen den politischen Lagern hinweg einen Grundkonsens fest, dem allenfalls die Anhänger der äußersten Linken und extremen Rechten widersprechen: Die 77
Welt ist noch lange kein sicherer Platz, und wenn sich Amerika mit seiner unerreichten und beispiellosen Macht von der Bühne der großen Auseinandersetzungen zurückzöge, würde alles nur noch schlimmer. Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater unter Präsident Jimmy Carter von 1977 bis 1981, spricht angesichts des internationalen Terrorismus, der drohenden Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der ungewissen Entwicklung in der geostrategisch zentralen Region an der Südflanke Eurasiens vom Kaukasus über Zentralasien bis zum Hindukusch von der »globalen Unordnung als der grundlegenden Herausforderung unserer Zeit«. Obwohl Brzezinski die Politik der Regierung Bush als polarisierend und einseitig aufs Militärische fixiert kritisiert, konzediert auch er, daß einzig Amerikas unerreichte und vorerst auch von keinem anderen Staat erreichbare Macht der »letzte Garant für globale Stabilität« ist. Weil die »globale Hegemonie Amerikas« eine »Tatsache des Lebens« sei, würden die USA ihre eigene Existenz gefährden, zögen sie sich plötzlich von der Welt zurück. Auch in der Denkschrift »Renewing the Atlantic Partnership« des renommierten unabhängigen »Council on Foreign Relations« vom Frühjahr 2004 heißt es lapidar: »Die Welt bleibt ein gefährlicher Ort, und die Fähigkeit Amerikas zur Durchsetzung seiner Macht dürfte in den kommenden Jahrzehnten unangefochten bleiben.« Die Arbeitsgruppe des »Council« unter Führung des früheren Außenministers Henry Kissinger sowie der Politikwissenschaftler Charles Kupchan und Lawrence Summers kommt zu dem Ergebnis, daß der Versuch, eine multipolare Sicherheitsarchitektur mit Europa als Gegengewicht zu Amerika aufzubauen, fruchtlos sei. Ihrerseits aber müßten die USA erkennen, daß sie im Alleingang und nur dank ihrer militärischen Stärke nicht erfolgreich sein könnten. Das Geheimnis des Erfolgs liege in der Komplementarität der zur Zeit voneinander entfremdeten atlantischen Partner und nicht in dem Versuch mancher europäischer Mächte, die Politik 78
der USA mit dem Mittel der Konfrontation zu beeinflussen. Der frühere Präsident Bill Clinton beantwortet die oft gestellte Frage, wie lange der von seinem einstigen CIA-Chef Woolsey als »Vierter Weltkrieg« bezeichnete Kampf gegen den internationalen Terrorismus wohl dauern werde, im Epilog seiner im Juni 2004 veröffentlichten monumentalen Memoiren in wünschenswerter Klarheit: »Es wird die große Herausforderung in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts sein.« Damit geht Clinton mit seiner Voraussage sogar über den Konsens hinaus, der sich in den meisten Projektionen bisher herausgeschält hat: Wenn von »Jahrzehnten, nicht Jahren« die Rede ist, wenn von der »Aufgabe für eine Generation« gesprochen wird, dann sind 20 bis 30 Jahre gemeint. Clinton veranschlagt sogar 50 Jahre. Mit ihrer Einschätzung, daß im Krieg gegen den Terrorismus – mit Winston Churchill gesprochen – noch lange nicht der Anfang vom Ende, sondern erst das Ende vom Anfang erreicht sei, gehören David Frum und Richard Perle noch zur Hauptströmung der Auseinandersetzungen mit dem Phänomen des internationalen Terrorismus. Im ganzen aber gehört ihr Buch »An End to Evil«, das sich als »Handbuch für den Sieg im Krieg gegen den Terrorismus« verstanden wissen will, zu den schrilleren Stellungnahmen. Perle, lange Jahre Mitglied des »Defense Policy Board«, eines einflußreichen Beraterstabs im Pentagon, und der frühere Redenschreiber Bushs, David Frum, arbeiten am Washingtoner »American Enterprise Institute«, der wichtigsten Kaderschmiede und Denkfabrik der amerikanischen Neokonservativen. Auch Frum, Erfinder der berühmten Formulierung von der »Achse des Bösen«, und Perle vergleichen den Krieg gegen den Terrorismus mit den entscheidenden ideologischen Kräftemessen des 20. Jahrhunderts: dem Kampf gegen den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg und gegen den Kommunismus im Kalten Krieg. »Für uns ist der Terrorismus das große Böse userer Zeit, und der Krieg gegen dieses Böse ist 79
die große Aufgabe unserer Generation.« Dem radikal-islamischen Terrorismus lägen die gleiche aggressive Ideologie und der gleiche Drang nach Weltherrschaft zugrunde. Solche Feinde »müssen bekämpft werden, nicht ruhiggestellt«, lautet das Rezept: »Schwäche provoziert«, zitieren die Autoren zustimmend eine Sentenz von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Im Zeitalter der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sei angesichts dieser Herausforderung »für Amerikaner kein Mittelweg möglich: Es heißt entweder Sieg oder Holocaust.«
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Der Wille zur großen Strategie George W. Bushs »messianischer Militarismus«
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ieg oder Holocaust – eine schroffe Alternative, die man, ohne einen großen Umweg gehen zu müssen, in das Begriffspaar Erlösung oder Apokalypse übersetzen kann. Die Nähe zur theologischen Terminologie ist kein Zufall, denn religiöse Überzeugungen spielen in der amerikanischen Politik und vor allem in der Vision seines gegenwärtigen Präsidenten von Amerikas Rolle in der Welt eine grundlegende Rolle. Der Verbraucheranwalt und unverdrossene Präsidentschaftskandidat Ralph Nader – in den Jahren 1996 und 2000 war er für die Partei der Grünen angetreten, im November 2004 will er es als Unabhängiger versuchen –, hat die Politik von Präsident George W. Bush einmal als »messianischen Militarismus« bezeichnet. Die Bezeichnung ist in polemischer Absicht gewählt, doch trifft sie den Tatbestand ziemlich präzise, legt man die pejorativen Konnotationen einmal beiseite. Der 43. Präsident der Vereinigten Staaten hat eine klare Vorstellung davon, welche Rolle Amerika bei der Besserung der Zustände auf der Welt zu spielen hat, weil er eine klare Vorstellung von Gottes Plan und Vorsehung hat. »Es gibt Zeiten, da können wir buchstäblich die Welt verändern, indem wir das Reich der Freiheit ausdehnen«, sagte Bush am 30. März 2004 bei einer Veranstaltung vor Kleinunternehmern in Appleton im Bundesstaat Wisconsin. Und dann schloß er eine Formulierung an, die zu seinen am häufigsten und in immer neuen Variationen wiederholten Sentenzen gehört: »Freiheit ist nicht das Geschenk Amerikas an die Welt; Freiheit ist das Geschenk des Allmächtigen an jeden Mann und jede Frau auf dieser Welt.« Am 23. Februar 2004, aus Anlaß des Empfangs der Gouverneure der 50 Bundesstaaten im Weißen 81
Haus, formulierte Bush folgendermaßen: »Meine Außenpolitik ist zum guten Teil von der Tatsache geprägt, daß ich fest daran glaube, daß Freiheit ein Geschenk des Allmächtigen an jede Person ist und daß Amerika die Verantwortung hat, in der Welt eine Führungsrolle zu übernehmen, um Menschen zu helfen, frei zu sein.« Amerika versucht, jedenfalls aus der eigenen Perspektive, auf vielfältige Weise Menschen dabei zu helfen, frei zu sein und den Herrschaftsbereich der Demokratie auf der Welt zu vergrößern: mit politischen, wirtschaftlichen und eben auch militärischen Mitteln. Sollte der Präsident und Oberbefehlshaber zu der Erkenntnis gelangen, es seien alle anderen Mittel ausgeschöpft, wird er den Einsatz militärischer Gewalt befehlen – ohne das Placet irgendeiner internationalen Organisation oder eines militärischen Bündnisses abzuwarten. Allenfalls werden Bündnispartner informiert und konsultiert, aber ein Vetorecht wird niemandem eingeräumt. Die Entschlossenheit, über die nationale Sicherheit und den Einsatz der Streitkräfte allein zu bestimmen, den Schutz des Heimatbodens und der eigenen Interessen mit der Mission der weltweiten Verbreitung der Freiheit zu verbinden, ist nach den Ereignissen vom 11. September 2001 noch gewachsen. Ist Amerika nach dem Schock der Anschläge, den blutigsten Angriffen eines äußeren Feindes auf das amerikanische Festland in der Geschichte der USA, zu sich selbst gekommen oder aus dem Rahmen gefallen – aus jenem Rahmen der bürgerlichen Ideale nämlich, von dem das Land seit den Tagen der Unabhängigkeitserklärung gehalten worden war? Für Jürgen Habermas kann in seiner Aufsatz- und Interviewsammlung »Der gespaltene Westen« die Antwort nur lauten, daß sich Amerika selbst fremd geworden ist, daß »jene moralische Autorität, die die USA in der Rolle eines Anwalts der globalen Menschenrechtspolitik erworben hat, in Scherben liegt«. Habermas erkennt anläßlich eines Aufenthalts im Oktober und November 2002 in Chicago die USA buchstäblich nicht wieder. Die »systematisch betrie82
bene Einschüchterung und Indoktrinierung der Bevölkerung und die Einschränkung des Spektrums zugelassener Meinungen« findet er sehr irritierend: »Das war nicht mehr ›mein‹ Amerika«, schreibt Habermas, jenes Land, das einst geprägt war von den »Idealen des späten 18. Jahrhunderts«. Dieses »Maß an regierungsoffizieller Stimmungsmache und patriotischem Konformismus« hätte er tatsächlich nicht für möglich gehalten. Immer wieder benutzt Habermas den Begriff »moralisch obszön«, wenn er den Einsatz amerikanischer Militärmacht in Afghanistan oder im Irak beschreibt. Zwar läßt er für den Krieg gegen das Taliban-Regime noch völkerrechtliche Gründe gelten, weil es das Regime in Kabul abgelehnt hatte, den mutmaßlichen Anstifter der Attentäter des 11. September 2001 und Kopf des Terrornetzes Al Qaida, Usama bin Ladin, an die USA auszuliefern. Dennoch empfindet Habermas die »Asymmetrie zwischen der geballten Zerstörungskraft der elektronisch gesteuerten Schwärme elegant geschmeidiger Raketen in der Luft und der archaischen Wildheit der mit Kalaschnikows ausgerüsteten Horden bärtiger Kämpfer am Boden« eben als »moralisch obszönen Anblick«. Gleichermaßen »moralisch obszön« ist die »Verbreitung von Schock und Schrecken unter einer unnachsichtig bombardierten, ausgemergelten Bevölkerung« in Bagdad – in einem Krieg, den Habermas in einem gemeinsam mit dem französischen Philosophen Jacques Derrida veröffentlichten Aufsatz als »burschikosen Bruch des Völkerrechts« bezeichnet. Daß ausgerechnet Habermas und Derrida, die sich über Jahre herzlich abgeneigt waren, durch den Irak-Krieg zu einem gemeinsamen Aufsatz gegen die derzeitige amerikanische Außenpolitik veranlaßt wurden, ist ein weiterer Hinweis darauf, daß die Herausbildung einer europäischen Identität durch die geteilte Ablehnung der amerikanischen Politik im Irak und anderswo auf der Welt befördert wird. Die schleichende Gleichschaltung der amerikanischen Gesellschaft und der »moralisch obszöne« Einsatz von Präzisionswaf83
fen, die übrigens im Vergleich zum konventionellen Flächenbombardement gerade weniger Menschenleben fordern und weniger Zerstörung anrichten, sind für Habermas Zeichen des Abfalls der USA von ihren liberalen Prinzipien, von ihrem Bekenntnis zu einer kosmopolitischen Rechtsordnung sowie des Rückfalls in die »imperiale Rolle eines guten Hegemons jeneits des Völkerrechts«. Die Frage ist jedoch, ob es diesen postulierten Bruch einer »guten« multilateralen Tradition und den Rückfall in einen »bösen« unilateralistischen Aktionismus überhaupt gab. Ist es nicht vielmehr so, daß die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik nach dem epochalen Einschnitt des 11. September 2001 recht präzise dem Muster des Denkens und Handelns folgte, das sie seit je ausgezeichnet hat? Wenn das so ist, aus europäischer Perspektive aber ein Bruch festgestellt wird, verhindert diese fundamentale Fehlperzeption zuerst das Verständnis für die historischen Grundlagen amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik und sodann die Aufnahme eines neuen Dialogs zwischen den entfremdeten Partnern. Der Historiker Walter Russell Mead beschreibt in seinem scharfsinnigen Buch »Power, Terror, Peace, and War« das »Amerikanische Projekt«, die große strategische Vision davon, was die USA in der Welt aufbauen und was sie mit der Welt anfangen wollen: »Dieses Projekt – unsere eigene Sicherheit zu schützen und zugleich eine friedliche Weltordnung demokratischer Staaten zu bilden, die durch gemeinsame Werte und gemeinsamen Wohlstand miteinander verbunden sind – hat tiefe Wurzeln in der amerikanischen Geschichte.« Weil aber die Geschichte der USA zugleich auch die Geschichte der ältesten und erfolgreichsten Demokratie ist, ist die Geschichte der amerikanischen Außenpolitik eine Geschichte des langen und ausführlichen gesellschaftlichen Dialogs darüber, wie das »Amerikanische Projekt« am besten verwirklicht werden kann. In seinem Grundlagenwerk über die Geschichte der amerikanischen Außenpolitik, »Special Providence«, beschreibt Mead ihre äußerst 84
komplexe Beschaffenheit und zeigt deren Hauptströmungen auf. Die deutsche Übersetzung des Titels, »Besondere Vorsehung«, spielt auf den Otto von Bismarck zugeschriebenen Satz an: »Irre, Betrunkene und die Vereinigten Staaten stehen unter dem besonderen Schutz der Vorsehung.« Tatsächlich fällt es schwer, nicht an die Vorsehung oder die tatkräftige Mithilfe Gottes zu glauben, wenn aus einer Handvoll Siedlungen an der Atlantikküste Amerikas in etwas mehr als zwei Jahrhunderten das mächtigste Land der Weltgeschichte erwächst. Im Vergleich mit den anderen Großmächten des 19. und des 20. Jahrhunderts – zumal den europäischen wie Frankreich, Großbritannien, Österreich, Rußland und Deutschland – fällt die Bilanz für die USA hervorragend aus. »Mag sein, daß wir Lektionen zu lernen haben«, schreibt Mead, »es ist aber nicht so sicher, daß Europa der Ort ist, an dem wir nach Lehrern suchen müssen.« Der Erfolg der amerikanischen Außenpolitik ist umso erstaunlicher, da es in der ältesten Demokratie von Beginn an keinen Großarchitekten gab – anders als in den europäischen Monarchien, wo ein König oder Kaiser seinen außenpolitischen Visionen folgte oder die Verantwortung für deren Verwirklichung einem Bismarck, Metternich oder Talleyrand übergab. Vielmehr entwickelte sich die Außen- und Sicherheitspolitik im Spannungsbogen zwischen Präsident und Kongreß, zwischen der Zentralregierung und den Gliedstaaten, zwischen politischen und wirtschaftlichen Interessen, zwischen Protektionisten und Verfechtern des Freihandels und so fort. Mead unterscheidet zudem vier Hauptströmungen des amerikanischen außenpolitischen Denkens, die er mit den Namen von vier historischen Gestalten bezeichnet. Die Hamiltonianer – benannt nach Alexander Hamilton (1755 bis 1804), Finanzminister von 1789 bis 1795 unter Präsident George Washington – streben eine enge Bindung zwischen Regierung und Großindustrie an, um die Integration der aufstrebenden Industrie- und Bankenmacht in die 85
Weltwirtschaft voranzutreiben und damit politische Stabilität sowie wirtschaftliche Prosperität zu gewährleisten. Die Wilsonianer – benannt nach Präsident Woodrow Wilson (1856 bis 1924), der während des Ersten Weltkrieges, von 1913 bis 1921, im Amt war – sehen Amerika in der moralischen Verpflichtung, die Ideen und Werte der amerikanischen Demokratie in aller Welt zu verbreiten und der Herrschaft des Rechts in einem internationalen System Geltung zu verschaffen. In scharfem Gegensatz dazu wollen die Jeffersonianer – benannt nach dem dritten Präsidenten, Thomas Jefferson (1742 bis 1826), der von 1801 bis 1809 regierte – die Verwicklungen Amerikas in die internationalen Angelegenheiten auf ein Minimum beschränken und den Schutz der Demokratie daheim in den Vordergrund stellen. Eine starke populistische Strömung der Jacksonianer – benannt nach dem siebenten Präsidenten, Andrew Jackson (1767 bis 1845), der von 1829 bis 1837 im Weißen Haus residierte – sieht die Hauptaufgabe der Regierung in der Gewährleistung der physischen Sicherheit und des wirtschaftlichen Wohlergehens der Bürger; in Händel mit anderen Mächten wollen Jacksonianer nicht hineingezogen werden, doch wenn Amerika angegriffen wird, fordern sie mit Nachdruck den vernichtenden Einsatz der gesamten militärischen Stärke der USA. Diese Strömungen folgen nicht wie Epochen aufeinander, sondern sie stehen nebeneinander – vom Gründungsakt bis zur Gegenwart. Die wilsonianische Sehnsucht, daß das Licht von der neuen »Stadt auf dem Hügel« in alle Welt strahlen und diese in den Stand der demokratischen Erlösung versetzen möge, steht neben der jacksonianischen Unterstützung für die größten einzelnen Gewalttaten in der Menschheitsgeschichte, die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Die hamiltonianische Gründung der internationalen Finanzund Handelsinstitutionen wie der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds (IMF) oder der Welthandelsorganisation (WTO) kontrastiert mit der einwärtsgewandten Haltung der Jeffer86
sonianer, die in der Bewahrung der Errungenschaften der stets gefährdeten amerikanischen Revolution die vornehmste Aufgabe der Außenpolitik sehen. Mead hat für den Umstand, daß eine von so vielen unterschiedlichen Strömungen und dazu noch von so vielen konkurrierenden Akteuren geformte Außenpolitik dennoch (oder gerade deshalb?) sehr erfolgreich war, folgende poetische Formulierung gefunden: »Milliarden von Schmetterlingen schlagen mit ihren Flügeln, um diesen mächtigen Sturm zu erzeugen.« Daß der Sturm so mächtig war und Amerika zu immer mehr Macht, Einfluß und Reichtum blies, ist nach Mead ein Zeichen dafür, daß Demokratien mit all ihren Widersprüchen und Korrekturmechanismen auch in der Außenpolitik effizienter sind als alle anderen Regierungsformen. Ganz gleich, in welche Epochen verschiedene Historiker die Entwicklung der Vereinigten Staaten sowie ihrer Außenpolitik auch immer einteilen mögen, es lassen sich zwei grundlegende Tendenzen feststellen: Ausdehnung und Aufstieg. In der Zeit unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung versuchten die 13 ehemaligen Kolonien, die ihre Existenz als Staat im Werden vor allem dem Zwist der Kolonialmächte England und Frankreich verdankten, ihr nationales Fundament zu konsolidieren. Noch ohne Heer und Kriegsmarine, waren Handel, Export und Landnahme durch Siedler die Grundlagen der Konsolidierung ihrer Position auf der Weltbühne und ihrer Expansion nach Westen und Süden im Innern. Die Eroberung des Westens ging selbstredend einher mit der Vertreibung, Entwurzelung und teilweisen Auslöschung der Ureinwohner – ein Lieblingsthema der Geschichtsschreibung »von unten« über die USA. Die »Vernichtung der Ureinwohner« als »Erbsünde der Supermacht« darzustellen, wie die Autoren der derzeit auf der Welle des Antiamerikanismus in Europa und anderswo ganz oben schwimmenden »Schwarzbücher USA« es zu tun pflegen, ist freilich eine rührende Geschichtslegende auf der Grundlage der romantisierenden Vorstellung vom »edlen Wilden«, der von 87
den gierigen Siedlern vernichtet wird. Den höchsten Blutzoll unter den Indianern forderten die Kriege der europäischen Kolonialmächte England, Frankreich und Spanien, die verfeindete Indianerstämme jeweils als Kanonenfutter mißbrauchten, sowie die von Europa eingeschleppten Krankheiten. Und es war die europäische Kolonialmacht Spanien, die in Mittel- und Südamerika in kurzer Zeit ganze indianische Hochkulturen auslöschte. Alle europäischen Kolonialmächte waren in Amerika, Afrika und Asien am Geschäft des Massakrierens, am Sklavenhandel und am Auslöschen autochthoner Kulturen beteiligt und können mit gutem Recht beanspruchen, daß ihnen der Hauptanteil an dieser »Erbsünde« gebührt. Die Ausdehnung nach Westen und die Aufnahme immer neuer Staaten in die Union entsprach gerade nicht mehr dem Muster der europäischen Kolonialmächte, die ihre Herrschaft durch den Anschluß ganz oder teilweise abhängiger Gebiete zu vergrößern suchten. Vielmehr erfolgte die Expansion der befreiten ehemaligen Kolonie durch die Aufnahme neuer Mitglieder mit gleichen Rechten in die bestehende Union: Die 13 Kernstaaten der Union genossen keine Privilegien gegenüber den Neuankömmlingen. Immer wenn neue Territorien als Staaten zur Union hinzukamen, erhielten sie alle Rechte. Das gleiche galt und gilt bis heute für Einwanderer – nach einer bestimmten Wartezeit als »legale Fremde«. Nachhaltiges Wachstum, um Land und um Leute, ist offenbar nur möglich, wenn die neuen Glieder alsbald die gleichen Rechte erhalten wie die alten. Aus diesen frühen Zeiten der Union rührt die bis heute wirkmächtige Ideologie her, daß Amerika den »Wilden Westen« und später die Welt nicht erobert, sondern den Staaten und Menschen zugerufen hat: »Schließt euch unserem gottgefälligen Experiment der Freiheit an, ihr werdet davon profitieren!« Schließlich und in der Mehrzahl der Fälle profitierten sie tatsächlich von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik des neuen Spielers auf der Weltbühne der Großmächte: zuerst die Staaten, die im 19. 88
Jahrhundert zur Union kamen, später dann, im 20. Jahrhundert, die von Imperialismus, Faschismus und Kommunismus befreiten Länder Europas und Asiens, die in den Einflußbereich der USA gerieten. John Quincy Adams (1767 bis 1848), neben George W. Bush der einzige Präsidentensohn in der amerikanischen Geschichte, der es selbst zum Präsidenten brachte, verfügte zum Zeitpunkt seines Einzugs ins Weiße Haus Anfang 1825 über die umfangreichste und tiefste außenpolitische Erfahrung, auf die je ein amerikanischer Präsident zu Beginn seiner Amtszeit zurückblicken konnte. Adams hatte als Vertreter Amerikas in den Niederlanden, in England und in Rußland gedient, ehe er von James Monroe (1758 bis 1831), seinem Amtsvorgänger im Weißen Haus, zum Außenminister berufen wurde – ein Posten, den er während beider Amtszeiten Monroes von 1817 bis 1825 bekleidete. John Quincy Adams war der Architekt der MonroeDoktrin von 1823, wonach die westliche Hemisphäre von der kanadischen Grenze bis hinunter nach Feuerland das Einflußgebiet der Vereinigten Staaten sei und eine Rekolonialisierung durch Spanien oder eine Ausweitung des Einflusses Rußlands von Alaska aus – das Territorium fiel erst 1867 für 7,2 Millionen Dollar an die USA – an der Pazifik-Küste nach Süden nicht geduldet werde. Auch die Eroberung und der Erwerb Floridas von Spanien 1819 fiel in die Amtszeit Adams’ als Außenminister. Im Juni 1811 schrieb John Quincy Adams in einem Brief an seine Mutter Abigail, daß die Vereinigten Staaten die Wahl hätten, »eine unendliche Menge kleiner unbedeutender Sippen und Stämme zu bleiben, die nach Art und Vorliebe europäischer Herrscher und Unterdrücker in einem unendlichen Krieg um einen Felsen oder einen Fischteich miteinander liegen«, oder aber »eine Nation zu werden, die so groß ist wie der amerikanische Kontinent, die auserwählt ist von Gott und der Natur, zum größten und mächtigsten Volk heranzuwachsen, das je in einem Gemeinwesen vereint lebte«. Adams riet in einem Brief 89
vom November 1819 an Präsident Monroe und sein Kabinett zudem, aus den Ambitionen Amerikas kein Hehl zu machen: »Jeder Versuch unsererseits, der Welt einzureden, wir seien nicht ehrgeizig, wird keine andere Wirkung haben, als die Welt davon zu überzeugen, daß unser Ehrgeiz mit Heuchelei gepaart ist.« Die Ambivalenz von Herrschaft und Partizipation, von Eroberung und Befreiung, ist unauslöschlich in die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik seit den frühen Tagen der Union eingeschrieben – bis zur Invasion im Irak vom März 2003, über die erst die Geschichte urteilen wird, ob sie für die Iraker Eroberung oder Befreiung war. Der Historiker John Lewis Gaddis berichtet in seiner unter dem Titel »Surprise, Security, and the American Experience« veröffentlichten Vorlesungsreihe zur Geschichte der amerikanischen Sicherheitsstrategie von einer Begebenheit aus seiner eigenen Studienzeit. Zum Schluß einer Vorlesung des Geschichtsprofessors Samuel Flagg Bemis über die Zeit des amerikanischmexikanischen Krieges von 1846 bis 1848, an dessen Ende Mexiko die späteren amerikanischen Bundesstaaten Texas, Kalifornien, Colorado, Utah und große Teile von Arizona und New Mexico abtreten mußte, fragte ein unerschrockener Student den berühmten Professor, ob der Krieg gegen Mexiko nicht durch einen Akt der Aggression, nämlich die Annexion von Texas durch die Vereinigten Staaten von 1845, ausgelöst worden sei. »Das war gewiß der Fall«, antwortete Bemis zur Überraschung des Auditoriums, ehe er hinzufügte: »Aber Sie würden es doch nicht zurückgeben wollen, oder?« Es gelte, die »moralische Ambivalenz unserer Geschichte« anzuerkennen, fordert Gaddis, die im übrigen auch die Geschichte der meisten anderen Nationen kennzeichne: Kaum ein Staat sei zu dem geworden, was er heute sei, indem er nur Mittel angewandt habe, die man heute vollständig gutheißen könne. Als wichtige Merkmale der »Großstrategie« amerikanischer Außenpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert bis zum Ersten 90
Weltkrieg nennt Gaddis Unilateralismus, Hegemoniestreben und vorbeugendes Handeln. Als weitere Konstante in der historischen Entwicklung stellt Gaddis fest, daß Amerika auf überraschende Gefahren und Angriffe nicht mit einem Rückzug reagierte, sondern mit der Ausweitung des eigenen Herrschaftsund Verantwortungsgebiets: »Davonzulaufen und uns zu verstecken war kaum je unsere Angewohnheit«, schreibt Gaddis. Auf Gefahren und auf überraschende Angriffe pflegten die USA zu reagieren, »indem sie in die Offensive gehen, indem sie hervortreten und sich der Quelle der Gefahr entgegenstellen, diese zu neutralisieren oder möglichst zu überwältigen versuchen, anstatt vor ihr zu fliehen. Expansion ist der Pfad zur Sicherheit, lautete unsere Maxime.« So betrachtet, gab es in der amerikanischen Außenpolitik nie eine Phase des Isolationismus in dem Sinne, daß sich Amerika von der Welt zurückgezogen und sich vor ihr vollständig verschlossen hätte. Seit der »Westerweiterung« der USA und vor allem seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert war die Verbindung zur Welt für die amerikanische Wirtschaft eine Überlebensfrage: Man brauchte die Konsumenten im Ausland ebenso wie die Lieferanten von dort. Isolation hieß allenfalls den vorübergehenden Ausschluß der Welt, um den Ausdehnungsund Aufstiegsprozeß im Inneren zu konsolidieren. Als Doppelentwicklung von Ausdehnung und Aufstieg läßt sich auch der Prozeß der Vergrößerung des demokratischen Kollektivs beschreiben, das über die Entwicklung des Landes und damit auch über dessen Außen- und Sicherheitspolitik entscheidet. Es war in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeitserklärung eine kleine Kaste von privilegierten weißen Männern, welche die Geschicke des Landes bestimmten, während die Mehrheit der Bevölkerung – Frauen, Schwarze, Indianer, Arme – ausgeschlossen blieb. Es hat zahlreicher Konflikte, Proteste, Unruhen und eines Bürgerkrieges bedurft, der die Union an den Rand der Spaltung brachte, um das demokratische Kollektiv so zu 91
vergrößern, bis die gewählte Regierung als dessen repräsentative Vertreterin und als ausführendes Organ für dessen außen- und sicherheitspolitische Überzeugungen gelten konnte. Wenn es eine »messianische Dimension«, ja einen »nationalen Messias-Komplex« in der amerikanischen »Großstrategie« gibt, wie Mead treffend schreibt, dann deshalb, weil Generationen von Amerikanern der festen Überzeugung waren und sind, daß die amerikanische Gesellschaftsform die bestmögliche ist und die Welt im ganzen besser dastünde, wenn sie amerikanischer würde. Wenn Abraham Lincoln (1809 bis 1865), Amerikas 16. Präsident von 1861 bis zu seiner Ermordung am 14. April 1865, in seiner Jahresbotschaft an den Kongreß vom 1. Dezember 1862 die Vereinigten Staaten als »letzte beste Hoffnung der Erde« bezeichnet, dann fällt er nicht aus dem Rahmen, sondern gibt die Mehrheitsmeinung wieder. Zahlreiche amerikanische Präsidenten haben, wie der Religionshistoriker Joseph Loconte in seinem konzisen Essay »Houses of Worship« zeigt, in Zeiten von Krise und Krieg die Beförderung der Demokratie als Amerikas vornehmste Aufgabe in der Welt verstanden – und zugleich als Mission in Einklang mit dem Willen Gottes. Als Woodrow Wilson am z. April 1917 den Kongreß zu einer Sondersitzung einberief, um eine Kriegserklärung gegen Deutschland und den Eintritt in den Ersten Weltkrieg zu erbitten, schloß er seinen berühmten Aufruf, die »Welt sicher für die Demokratie« zu machen, mit den Worten: »Amerika hat das noble Vorrecht, sein Blut und seine Macht für die Prinzipien einzusetzen, denen es seine Geburt und sein Glück und den Frieden verdankt, den wir so hochschätzen. Mit Gottes Hilfe können wir nicht anders.« Franklin D. Roosevelt, die historische Riesengestalt, die Amerika von 1931 bis 1945 durch die Zeit der großen Depression und des Zweiten Weltkrieges führte, wandte sich am 6. Januar 1942 mit folgenden Worten an den Kongreß: »Wir kämpfen heute für Sicherheit, Fortschritt und Frieden, nicht nur um unserer selbst, sondern um aller Menschen willen, 92
nicht nur für eine Generation, sondern für alle Generationen. Wir kämpfen, um die Erde von einem alten Übel, von alten Krankheiten zu reinigen. Wir kämpfen, gleich unseren Vätern, um die Lehre aufrechtzuerhalten, daß vor Gott alle Menschen gleich sind.« Harry Truman, der Roosevelt nach dessen Tod am 12. April 1945 im Präsidentenamt nachfolgte, schlug nach seiner Wahl für eine weitere Amtsperiode am 20. Januar 1949 den gleichen Ton an wie sein Vorgänger: »Wir glauben, daß alle Menschen das Recht auf die Freiheit des Denkens und des Redens haben. Wir glauben, daß alle Menschen als gleiche geschaffen sind, weil sie nach dem Bilde Gottes geschaffen sind … Unerschütterlich in unserem Glauben werden wir voranschreiten zu einer Welt, in der die Freiheit des Menschen gesichert ist.« Dwight D. Eisenhower, der als in der Schlacht gestählter Weltkriegsgeneral nicht zu Sentimentalitäten neigte, gab am 20. Januar 1953 in der Antrittsrede zu seiner ersten Amtszeit auf den Stufen des Kapitols folgende Predigt und Marschorder für den Kalten Krieg aus: »Die Welt und wir haben mehr als die Hälfte eines Jahrhunderts fortgesetzter Herausforderungen erlebt. Wir spüren mit all unseren Sinnen, daß die Kräfte des Bösen und des Guten, geballt und bewaffnet, einander gegenüberstehen wie kaum je in der Geschichte zuvor … Wie weit sind wir gekommen auf der langen Pilgerreise des Menschen von der Finsternis zum Licht? Sind wir dem Licht nahe – dem Tag der Freiheit und des Friedens für das ganze Menschengeschlecht? Oder senken sich die Schatten einer weiteren Nacht über uns? … An diesem Augenblick in der Geschichte müssen wir, die wir frei sind, unseren Glauben aufs neue bekennen … Dieser Glaube bestimmt unsere ganze Lebensauffassung. Er bekräftigt, jenseits aller Debatte, die Geschenke des Schöpfers, die des Menschen unveräußerliche Rechte sind und alle Menschen vor Ihm gleich machen … Um die Herausforderungen unserer Zeit zu bestehen, hat die Vorsehung unserem Land die 93
Verantwortung auferlegt, die freie Welt zu führen.« Und schließlich John F. Kennedy, der erste katholische Präsident der USA, der während des Wahlkampfes gegen Richard Nixon nicht oft genug hatte sagen können, er sei kein katholischer Kandidat, sondern ein Kandidat, der katholisch sei: Auch er berief sich in seiner Antrittsrede vom 20. Januar 1961 auf den Allmächtigen. »Der Mensch«, sagte Kennedy eingedenk des atomaren Wettrüstens mit der Sowjetunion, halte heute »die Macht in seinen sterblichen Händen, alle Formen der menschlichen Armut abzuschaffen – und alle Formen des menschlichen Lebens.« Und dennoch sei der Glaube, für den die Gründerväter gekämpft hätten, auf dem ganzen Erdball auch heute noch leitend: »Der Glaube, daß die Rechte des Menschen nicht vom Großmut des Staates herrühren, sondern aus der Hand Gottes.« Es ist – oft bis zur Wortwahl – der gleiche Sermon, den demokratische wie republikanische Präsidenten durch die Jahrhunderte vortragen, wenn sie bei Amtseinführungen oder angesichts großer Herausforderungen wie Kriegen, Krisen und Epochenschwellen die göttliche Mission und zugleich die »große Strategie« Amerikas beschwören. Ronald Reagans »Reich des Bösen«, das es niederzuringen gelte – und das mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Sowjetunion 1989/91 denn auch tatsächlich niedergerungen wurde –, ist ebenso Teil dieser Traditionslinie wie George W. Bushs »Achse des Bösen« – die seit dem Sturz Saddam Husseins vom April 2003 nur noch aus den Staaten Iran und Nordkorea besteht. Diese Mission hatte schon einen universalen Zugriff, noch ehe es internationale Organisationen wie den Völkerbund und die UN gab, und deshalb hat diese Mission im Falle eines Interessenkonflikts den Primat vor internationalen Regelwerken. Hinzu kommt, daß das im 20. Jahrhundert entwickelte Völkerrecht Menschen- und damit historisches Stückwerk ist, während hinter Amerikas Mission der ewige Wille Gottes steht. 94
Dieser Wille und diese Mission haben die wundersame Eigenschaft, unveränderlich und überzeitlich zu sein, sich den veränderten historischen Verhältnissen aber besser anzupassen als Institutionen wie etwa der UN-Sicherheitsrat, der die Wirklichkeit und die Machtverhältnisse nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges widerspiegelt und für die Lösung oder auch nur Einengung der Konflikte des 21. Jahrhunderts völlig ungeeignet ist. Jimmy Carter, ein Baptisten-Prediger und – nach eigenem Bekenntnis – wiedergeborener Christ, zitierte bei seiner Antrittsrede vom 20. Januar 1977 folgende Lebensweisheit seiner Gymnasiallehrerin Julia Coleman: »Wir müssen uns veränderten Zeiten anpassen und dennoch an unseren unveränderlichen Prinzipien festhalten.« Und er fügte mit seinen eigenen Worten hinzu: »Die Geburt unserer Nation vor zwei Jahrhunderten war ein Meilenstein in dem langen Streben nach Freiheit, doch der mutige und strahlende Traum, der die Gründer unserer Nation beseelte, wartet noch immer auf seine Verwirklichung. Ich habe heute keinen neuen Traum zu verkünden, sondern vielmehr zu frischem Glauben in den alten Traum aufzurufen.« Das Völkerrecht und zumal die sie verteidigenden Institutionen mögen unzulänglich sein, die gottgewollte Mission Amerikas ist es nicht. Die Europäer extrapolieren aus ihrer historisch vergleichsweise kurzen Erfahrung von gut einem halben Jahrhundert, daß die schrittweise Übergabe nationaler Autorität an eine übergeordnete, transnationale Institution wie die EU Frieden, Freiheit und Wohlstand fördert. Amerika extrapoliert aus der wesentlich längeren Erfahrung von mehr als zwei Jahrhunderten, daß es immer richtig war, dem Ruf der göttlichen Mission zu folgen und notfalls alleine und unter Anwendung von militärischer Gewalt die Fackel der Freiheit in die Welt zu tragen. Starke Mächte sehen die Welt naturgemäß anders als schwache: »Wer einen Hammer hat«, schreibt der Publizist Robert Kagan, »für den nehmen die meisten Probleme die Gestalt von 95
Nägeln an.« Es mögen Demokraten und Republikaner, Hamiltonianer und Wilsonianer, Jeffersonianer und Jacksonianer miteinander um die Richtung der Außenpolitik streiten, die Mission bleibt die gleiche. Es mag ein Präsident wie Woodrow Wilson den Friedensvertrag von Versailles unterzeichnen und den Beitritt Amerikas zum Völkerbund vorantreiben, während der Senat dann jeweils die Ratifikation verweigert. Es kann ein Präsident wie Bill Clinton kurz vor Ende seiner Amtszeit noch das KyotoProtokoll zur Minderung des Ausstoßes der sogenannten Treibhausgase unterschreiben und damit vom Senat mit einer Abstimmung von 95 zu 0 Stimmen gegen die Ratifizierung des Protokolls noch nachträglich gemaßregelt werden. Oder er kann, ebenfalls in letzter Minute, trotz eigenen Vorbehalten das Statut für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag unterfertigen, obwohl niemals Aussicht bestanden hatte, daß der Senat dem Beitritt zustimmen würde – Präsident George W. Bush nullifizierte die Unterzeichnung später sogar. Es mögen Unilateralisten und Multilateralisten, Anhänger des Freihandels und Protektionisten miteinander im Kampf liegen. Die Mission bleibt die gleiche. Die scheinbar unkoordinierten Flügelschläge von Milliarden Schmetterlingen erzeugen den mächtigen Sturm. Die »imperiale Republik« (Raymond Aron) Amerika gleicht einem Floß, das auf den Wildwassern der Weltgeschichte von ungezählten Paddlern in unterschiedlichste Richtungen gelenkt wird und doch, wie von Adam Smiths »unsichtbarer Hand« gezogen, alle Untiefen und Felsen umschifft. Eine solide Mehrheit der Amerikaner ist heute – wie eh und je – der Ansicht, daß die USA dank ihrer Größe und Stärke sowie ihres Vorbildcharakters eine Bewegung anführen sollten, um eine sichere, friedliche, wohlhabende und demokratische Welt zu schaffen. Nach einer repräsentativen Umfrage des German Marshall Fund vom Juni 2003 halten es 77 Prozent der Amerikaner für sehr oder ziemlich wünschenswert, daß die USA eine 96
aktive Rolle in den internationalen Angelegenheiten spielen. Das ist der höchste Wert, seit die Daten im Jahre 1947 zum ersten Mal erhoben wurden. Nur 15 Prozent – ein historischer Tiefstand – sind der Ansicht, das Land solle sich aus den internationalen Angelegenheiten heraushalten. Erstaunliche 80 Prozent der befragten Amerikaner vertraten aber auch die Ansicht, es sei sehr oder ziemlich wünschenswert, wenn die EU eine starke internationale Führungsrolle spiele und dazu etwa ihre militärischen Fähigkeiten verbessere. In Europa waren dagegen nur 45 Prozent der Befragten der Ansicht, eine Führungsrolle der USA sei sehr oder ziemlich wünschenswert. 90 Prozent der 8000 Befragten in Europa glaubten, daß die EU eine durchaus erwünschte Rolle als Weltmacht ausschließlich mit diplomatischen, politischen und wirtschaftlichen, nicht aber mit militärischen Mitteln erreichen könne. 84 Prozent der Amerikaner stimmten der Einschätzung zu, daß gerechte Verhältnisse in einem Land in bestimmten Fällen nur mit kriegerischen Mitteln erzwungen werden könnten, während nur 48 Prozent der Europäer diese Ansicht teilten. Dazu paßt, daß nach einer Gallup-Umfrage in den USA vom Mai 2004 unter allen öffentlichen Institutionen das Militär seit Jahren unangefochten die höchste Wertschätzung genießt. Drei Viertel der Amerikaner haben sehr viel oder ziemlich viel Vertrauen in die Streitkräfte, 64 Prozent in die Polizei, jeweils 53 Prozent in die Banken und Kirchen – und gerade einmal 52 Prozent in das Präsidentenamt. Als George W. Bush im November 2003 zum ersten offiziellen Staatsbesuch eines amerikanischen Präsidenten seit Woodrow Wilson im Jahre 1918 nach London reiste, demonstrierten mehr als 100000 Menschen gegen ihn. Unter anderem wurde eine Statue aus Pappmache in der Gestalt von Bush gestürzt – ganz in der Art, wie ein gutes halbes Jahr zuvor die Bronzestatue Saddam Husseins in Bagdad zu Fall gekommen war. In seiner Rede im Whitehall Palace erinnerte Bush an den 97
Besuch Wilsons, der mit seinen berühmten 14 Punkten für einen Frieden nach dem Ersten Weltkrieg und der Vision vom Ende aller Kriege nach Europa gekommen war. Der Abschluß des Kellogg-Briand-Paktes von 1928, in dem die Signatarmächte dem Mittel des Krieges für immer abschwörten, war die Krönung des idealistischen Vermächtnisses von Wilson. Doch zu jener Zeit, erinnerte Bush in seiner Rede am 19. November 2003, waren Europa und die Welt »München und Auschwitz und dem Blitzkrieg« schon bedrohlich nahe. »Beim Blick zurück erkennen wir, warum. Der Völkerbund, ohne Glaubwürdigkeit und Willen, brach bei der ersten Herausforderung durch einen Diktator zusammen. Freie Nationen wollten das Böse vor aller Augen weder wahrhaben noch ihm entgegentreten. Und so gingen Diktatoren ihren Geschäften nach, nährten Haß und Antisemitismus, brachten unschuldigen Menschen in dieser Stadt und in der ganzen Welt den Tod und füllten das vergangene Jahrhundert mit Gewalt und Völkermord.« Heute lebten die Völker Europas in Frieden und Freiheit, und die friedvolle Einheit Europas sei »eine der großen Errungenschaften des vergangenen halben Jahrhunderts«, sagte George W. Bush. Weil aber »die europäischen Staaten heute ihre Differenzen auf dem Wege von Verhandlungen und Konsens beilegen, gibt es manchmal die Annahme, daß die ganze Welt so funktioniere. Aber wir sollten nicht vergessen, daß außerhalb der Grenzen Europas, in einer Welt, wo Gewalt und Unterdrückung sehr real sind, die Befreiung noch immer ein moralisches Ziel ist, und Freiheit und Sicherheit noch immer Schutzmächte brauchen.« Die stärkste Schutzmacht aber ist ein Land mit einer Mission – und mit einem Militär, diese Mission auch durchzusetzen.
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Wo Gottes Wort gilt Auf den Schwingen der Freiheit und der Religion
I
m Weißen Haus beginnt fast jeder Tag mit einer Bibelstunde. Die Teilnahme ist nicht verpflichtend, aber der Hausherr sieht es gerne, wenn seine engeren und auch die ferneren Mitarbeiter sich morgens das geistige Rüstzeug für einen langen Arbeitstag aus der Heiligen Schrift holen. George W. Bush jedenfalls studiert die Bibel jeden Tag, und er betet regelmäßig. Auch die Sitzungen des Kabinetts im Weißen Haus eröffnet der Präsident mit einem Gebet. Bei seiner Amtseinführung am 20. Januar 2001 wurde Bush gefragt, welchen Rekord er an diesem denkwürdigen Tag aufzustellen gedenke. Hintergrund der Frage war der fulminante Einstand von Bushs Amtsvorgänger Bill Clinton, der acht Jahre zuvor das unerreichte Kunststück fertiggebracht hatte, sich an einem einzigen Abend auf elf verschiedenen Bällen feiern zu lassen. »Ich gehe früher als jeder andere Präsident in der Geschichte zu Bett«, antwortete Bush. Und zog sich, an seinem ersten Tag als Präsident im Weißen Haus, wie üblich gegen halb zehn Uhr abends zurück. Man kann diese Anekdote als Schlüssel zum Selbstverständnis, zur geistigen Ausstattung und zur Amtsführung des George W. Bush lesen. In Amerika ist Bill Clinton vielen als eine Art blitzgescheiter, aber auch ein wenig unseriöser Partylöwe in Erinnerung geblieben, der mit Geschick und Glück eine Epoche von beispiellosem Wirtschaftswachstum und wiedergewonnener Zukunftszuversicht prägen durfte. Doch das ethisch-moralische Urteil über Clinton und seine Mannschaft fällt weithin negativ aus – und das keineswegs nur bei den christlichen Rechten und unter erzkonservativen Hinterwäldlern. Natürlich hat das mit der Lewinsky-Affäre zu tun, aber auch mit den undurchsichtigen 99
Immobiliengeschäften des damaligen Gouverneurs von Arkansas und ganz allgemein mit dem Auf- und vor allem Abtreten der »Clintonians«. Im Mitarbeiterstab Clintons gab es viele sprühende junge Leute, die ihr Selbstbewußtsein und ihre Lebenslust gerne in den Medien manifestiert sahen, die sie selber mit »durchgesickerten« Informationen für die Journalisten angeregt hatten. Es gab zwischen dem Washingtoner Pressekorps, den Korrespondenten der großen Zeitungen, der Fernseh- und Rundfunkstationen und dem Pressestab Clintons eine Art weltanschaulicher Kumpanei: Gemeinsam war man links und liberal. Und dabei rutschten manche Informationen zur Unzeit hinaus, was den Reifungsprozeß politischer Entscheidungen in der Regierung empfindlich störte. Daß das Weiße Haus zwischen Anfang 1993 und Januar 2001 als eine Edelherberge für kostenlose Übernachtungen von Günstlingen, Parteifreunden und vor allem potentiellen Spendern für die Demokraten diente, empörte viele. Aber daß Clinton bei seinem Auszug Dutzende Gegenstände und Möbelstücke, die ihm während seiner Amtszeit geschenkt worden waren, kurzerhand privatisierte, war selbst für Wohlgesinnte zuviel. Wie anders dagegen Bush. Sein Stab ist so diszipliniert wie der Präsident selbst, der jeden Tag eine Stunde Sport treibt, früh zu Bett geht und früh aufsteht. So gut wie nie sickert eine Information von den Amtsräumen im Weißen Haus oder im mächtigen Executive Office vis-à-vis, wo das umfangreiche Präsidialamt untergebracht ist, zum kargen Presseraum im Untergeschoß des Weißen Hauses durch – es sei denn, es soll mit der gezielt gestreuten Information ein bestimmter Effekt erreicht werden. Bush pflegt zudem sein Image als »Mann vom Lande« und aus dem Süden, der jede Gelegenheit nutzt, aus Washington zu fliehen und sich auf seine Ranch im heißen texanischen Crawford zurückzuziehen – statt wie Clinton auf die neuenglische Nobelinsel Martha’s Vineyard vor der Küste von Massachusetts zu fliegen. Das macht Bush in Texas und 100
anderswo im sozial konservativen Süden nur noch populärer, wo er vor allem sein Image pflegt, in der Hauptstadt ein Außenseiter und Vertreter des »echten« Amerika geblieben zu sein. Denn »dort unten« hegt man für »die da oben« in Washington nur wenig Sympathie, und man hält den Satz »Wir sind von der Regierung, und wir sind hier, um Ihnen zu helfen« für einen grotesken Witz. Im Ausland aber und vor allem in Europa bedient das Bild vom arroganten und beschränkten Cowboy, der die Welt dem amerikanischen Herrschaftswillen zu unterwerfen sucht, tiefsitzende antiamerikanische Ressentiments. Tatsächlich gibt es einen arroganten Zug im Wesen Bushs, schließlich entstammt er einer einflußreichen Familie aus Connecticut an der Ostküste, die ihre Sprößlinge in die richtigen Privatschulen und an Universitäten wie Yale und Harvard zu plazieren weiß. Doch entscheidender als diese Prägung, die Bush nach dem Umzug der Familie ins bodenständige Texas immer besser zu verbergen vermochte, ist für Bushs Charakterbildung eine Art Epiphanie-Erlebnis. Denn bis zu seiner Bekehrung, die ins Jahr 1985 fällt, war Bush so etwas wie das schwarze Schaf der Familie, wie er selbst von sich zu sagen pflegte. Er rauchte, hatte ein massives Alkoholproblem (auch wenn er wohl kein Alkoholiker war) und womöglich noch andere Schwierigkeiten. Der Vater, so argwöhnte George W., würde den jüngeren Bruder John Ellis, genannt Jeb, bevorzugen. Als sich die beiden Brüder 1994 um die Gouverneursposten in Florida und Texas bewarben, nahm man in der Familie und auch sonst an, daß Jeb im »Sonnenscheinstaat« gewinnen würde, während dem älteren George W. im »Lone Star State« gegen die überaus populäre demokratische Gouverneurin Ann Richards kaum Chancen eingeräumt wurden. Es kam umgekehrt: Jeb verlor das Rennen um Tallahassee und George W. siegte in Austin. Sechs Jahre später, bei den Präsidentenwahlen 2000, galt der Gouverneur aus Texas abermals als krasser Außenseiter gegen Vizepräsident Al Gore, der von Bill Clinton eine robust wachsende Wirtschaft 101
mit Millionen neuer Arbeitsplätze, steigenden Reallöhnen und sogar einem ausgeglichenen Budget geerbt hatte. Wieder gewann der Außenseiter, wenn auch mit einer halben Million weniger Wählerstimmen als Gore, nach einem denkbar knappen Vorsprung bei den Wahlmännerstimmen und nach einer wochenlangen Hängepartie in Florida. Während des Wahlkampfes hatte der Kandidat von sich gesagt, er sei ein »wiedergeborener Christ« – so wie sich auch Präsident Bill Clinton, ein Mitglied der Baptisten-Kirche, immer wieder als wiedergeborener Christ bekannt hatte. Beide befanden sich damit in der Nachfolge Jimmy Carters, auch er ein wiedergeborener Christ und ein Baptisten-Prediger dazu. »Ich bekenne freimütig die Rolle des Glaubens für mein Leben«, sagte der Kandidat, »mein Glaube bildet die Basis meiner Überzeugungen.« Zwar bekannte er sich »mit aller Überzeugung zur Trennung von Kirche und Staat – aber Freiheit der Religion muß nicht Freiheit von Religion heißen«, sagte er. Deshalb versprach er, daß er im Falle seiner Wahl ins Weiße Haus eine Initiative zur Finanzierung von konfessionellen karitativen und pädagogischen Organisationen mit Steuergeldern anstoßen werde: »Zu lange schon haben konfessionelle Organisationen mit ein paar Groschen Wunder vollbracht. Mit den Schritten, die ich heute vorschlage, werden sie nicht länger allein auf ihren Glauben angewiesen sein.« Der Präsident hielt nach seinem knappen Wahlsieg die Versprechen, die der Kandidat gegeben hatte – nur daß der Name des Kandidaten Al Gore war und der des Präsidenten George W. Bush. Es war Al Gore, der das Innerste seiner religiösen Überzeugungen gar nicht of genug nach außen kehren mochte. Überhaupt verging während des Wahlkampfes 2000 kaum ein Tag, an dem die Kandidaten nicht ihren Glauben bekannt hätten. Bush scheute sich nicht, Jesus als seinen Retter von einem fragwürdigen Lebenswandel zu bezeichnen. Gore 102
wurde nicht müde mitzuteilen, daß er seit je ein gläubiger Baptist sei und regelmäßig mit seiner Frau Tipper den Gottesdienst besuche. Bush zeigte sich durch Christi Weisung von Hoffart gereinigt, und Gore bemühte sich um Distanzierung von den moralisch fragwürdigen Vorfällen im Weißen Haus während der Clinton-Ära. Bush erinnerte daran, daß er konfessionelle Organisationen schon als Gouverneur von Texas mit Geld aus dem öffentlichen Haushalt unterstützt habe. Gore fand die Idee vor allem deshalb so gut, weil sie ursprünglich eigentlich seine gewesen sei. Nachdem so viel von ihm die Rede gewesen sei, könne sich Gott nach diesem Wahlkampf getrost zur Ruhe setzen, bemerkte sarkastisch ein Kommentator. Wählerbefragungen nach den Wahlen vom 7. November 2000 ergaben, daß Bush bei verheirateten Paaren mit Kindern um 15 Prozentpunkte und bei regelmäßigen Kirchgängern um 17 Prozentpunkte vor Gore lag. Gore dagegen erhielt von berufstätigen Frauen 19 Prozent mehr Stimmen als Bush, und bei Wählern, die nach eigenen Angaben nie in die Kirche gingen, lag er sogar 29 Prozent vor Bush. Familie und Glauben spielten also eine große Rolle, mehr noch aber eine Charaktereigenschaft, von der ein Viertel der Wähler sagte, diese sei das entscheidende Kriterium für ihre Entscheidung gewesen: Ehrlichkeit. Vier Fünftel dieser Wähler stimmten für Bush – und damit wohl eher gegen Bill Clinton als gegen Al Gore. Seine religiöse Sozialisation erfuhr George W. Bush als Kind in der Presbyterianischen und in der Episkopal-Kirche, er kam durch seine Frau Laura, eine getaufte Methodistin, aber in immer engeren Kontakt mit der Vereinten Methodistischen Kirche. Anläßlich der Taufe der Zwillingstöchter Barbara und Jenna trat Bush offiziell zur Methodistischen Kirche über. Bush berichtet über seine entscheidende Begegnung mit dem charismatischen Prediger Billy Graham, einem Freund der Familie, folgendes: »Ich mußte ein Wochenende mit dem großen Billy Graham verbringen. Und als Ergebnis unserer Gespräche und 103
seiner Inspiration sah ich in mein Herz und verschrieb mein Leben Jesus Christus.« Es war der Sommer 1985, die ausgedehnte Familie der Bushs verbrachte die Ferien auf dem Familiensitz in Kennebunkport im neuenglischen Bundesstaat Maine. George Herbert Walker Bush war zu diesem Zeitpunkt seit vier Jahren Vizepräsident unter Ronald Reagan. Der älteste Sohn George Walker Bush, zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre alt, hatte seinen Erfolg im Energiegeschäft in Texas zu großen Teilen seinem illustren Namen zu verdanken – und er wußte darum. Die Mitte seines Lebens und das Ziel seiner Laufbahn hatte er jedenfalls noch nicht gefunden. Die Töchter waren vier Jahre alt, die Ehe mit Frau Laura schien glücklich. Alles hätte so weitergehen können, in wachsendem materiellem Wohlstand, als Teil der gesellschaftlichen Elite – dank der Position des Großvaters Prescott Bush, Senator für den Bundesstaat Connecticut von 1952 bis 1963, und natürlich des Vaters im Amt des Vizepräsidenten (und später sogar des Präsidenten). Der Gang mit dem charismatischen Prediger Billy Graham, seit Jahren ein Freund der Familie Bush, an jenem Abend im Sommer 1985 am Strand »Walker’s Point« nahe Kennebunkport gab – nach übereinstimmenden Berichten über jene Tage – dem Leben des George W. Bush eine Wendung. »Sind Sie mit Gott im reinen?«, fragte Graham. »Nein«, antwortete Bush, »aber ich möchte es.« Nach langen Gesprächen, nach Bibelstunden und gemeinsamem Beten kam eine Entwicklung in Gang, über die Bush später schreiben sollte: »Pfarrer Graham pflanzte ein Senfkorn in meine Seele, ein Korn, das übers Jahr wuchs. Ich war seit je ein religiöser Mensch, war regelmäßig zur Kirche gegangen, hatte sogar in der Sonntagsschule unterrichtet und war Ministrant. Doch an jenem Wochenende bekam mein Glauben einen neuen Sinn, Es war der Beginn eines neuen Weges, auf welchem ich mein Herz Jesus Christus verpflichten sollte. Ich fühlte Demut, daß Gott Seinen Sohn für einen Sünder wie mich gegeben hat.« 104
Das von Pfarrer Graham in die Seele von George W. Bush gelegte Senfkorn muß schon unmittelbar nach der Aussaat erkennbar gewesen sein, denn Mutter Barbara sagte einige Tage nach dem denkwürdigen Spaziergang zu jemandem am Telefon: »Ich habe aufregende Nachrichten. George ist zum wiedergeborenen Christen geworden.« Die Folge der »Wiedergeburt« Bushs waren die Abkehr von Alkohol und Tabak sowie die Hinwendung zu einer strengen Arbeits- und Lebensdisziplin, zu der die tägliche Bibellektüre und das Gebet ebenso gehören wie der regelmäßige Dauerlauf und das Stemmen von Gewichten. Und natürlich gehört die innere Überzeugung dazu, fortan selbst im Dienste einer Mission zu stehen und sein Handeln nach der Frage auszurichten: »Was würde Jesus tun?« Während der republikanischen Vorwahlen, bei einer Kandidatendebatte in Des Moines in Iowa, antwortete Bush auf die Frage des Moderators nach seinem Lieblingsphilosophen ohne Zögern: »Christus, weil Er mein Herz verwandelt hat.« In seiner Amtszeit als Gouverneur von Texas von 1994 bis 2000 und in den ersten neun Monaten im Weißen Haus machte sich Bush daran, das politische Programm des »mitfühlenden Konservatismus« zu verwirklichen. Bushs Chefredenschreiber Michael Gerson hat dieses politische Programm und die Balance, die Bush als Politiker der Mitte selbst zu halten versuche, als »moralisch traditionsverpflichtet und sozial einschließend« beschrieben. Hat Bush mit seiner Bildungs- und Sozialpolitik, im Streit um Abtreibungen, um die Homosexuellen-Ehe und um bessere Aufstiegschancen für Angehörige der Minderheiten ohne die üblichen Quotenregelungen der politischen Agenda den rechtskonservativen Christen den Weg geebnet? Ist er mit seiner Wirtschafts-, Steuer- und Umweltpolitik dem Diktat der Großfirmen gefolgt? Oder hat er vielmehr einen gemeinsamen politischen Grund für Republikaner und Demokraten, für Reiche und Arme, für Weiße, Schwarze und Hispanier in der politischen 105
Mitte eröffnet – wo doch sein Kabinett ethnisch so vielfältig ist wie keines seiner Vorgänger? Diese Themen sind Gegenstand einer lebhaften politischen Auseinandersetzung und werden es bleiben. Das Thema seiner Präsidentschaft aber ist es nicht. Diese erfuhr selbstredend durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 ihre Ausrichtung und Bestimmung. In den ersten Tagen nach den Anschlägen waren es Billy Graham und der Pfarrer von Bushs Heimatgemeinde in der texanischen Hauptstadt Austin, Jim Mayfield, die dem Präsidenten neben seinen politischen Beratern mit Rat und Gebet zur Seite standen. Unmittelbar nach den Anschlägen, als Bush in Florida – er hatte dort am Morgen des 11. September 2001 eine Schule besucht – das Präsidentenflugzeug bestieg, sagte er: »Wir sind im Krieg.« Wie man in einer so schwierigen Lage das christliche Gebot der Feindesliebe mit den Erfordernissen an den politischen Führer des mächtigsten Landes der Welt in Einklang bringen kann – dazu erhielt Bush von seinem Freund Marvin Olasky, Vordenker der konservativen Christen, wichtige Ratschläge. Das Gebot Jesu, die »andere Wange hinzuhalten«, gelte für den Christenmenschen Bush persönlich. Der Staatsmann aber habe sich nach dem Lehrsatz aus 1. Mose 9 zu richten, der lautet: »Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht.« Wer sich für den Respekt des menschlichen Lebens einsetze, der müsse Mörder bestrafen, und dies habe die Regierung zu erfüllen, sagte Olasky. Ratschläge wie diese rührten an den Grundton der religiösen und politischen Überzeugung des Präsidenten, der im übrigen auch ein Befürworter der Todesstrafe ist. Mit Blick auf die religiöse Orientierung der betreffenden Politiker ging es bei den dramatischen Präsidentenwahlen vom November 2000 also um die Entscheidung, welcher wiedergeborene Christenmensch Nachfolger des wiedergeborenen Christenmenschen im Weißen Haus werden sollte. Daß es Bush 106
wurde und nicht Gore, hat wesentlich mit den Stimmen der christlichen Rechten – mithin von wiedergeborenen Christen – zu tun. Daß die Kandidaten ihre religiösen Überzeugungen, gar ihre Erweckungserlebnisse wie Monstranzen vor sich her trugen, muß aus europäischer Perspektive entweder bigott oder naiv oder beides erscheinen. Für die viel stärker religiös geprägten potentiellen Wähler in Amerika sind solche Bekenntnisse nicht nur selbstverständlich, sie sind sogar erwünscht. Vieles spricht dafür, daß die Rolle von Glaube und Religion in der heutigen Gesellschaft jenes Merkmal ist, an dem sich die divergenten Entwicklungen in Amerika und Europa am klarsten manifestieren: Amerika glaubt – immer mehr und immer tiefer; Europa glaubt nicht – immer offener und immer umfassender. Eine Umfrage des republikanischen Strategen und Meinungsforschers Brad O’Leary mit dem Meinungsforschungsinstitut Zogby International unter 1200 potentiellen Wählern vom Januar 2004 kam zu dem Ergebnis, daß eine stabile und offenbar wachsende Mehrheit der Amerikaner einen Präsidenten will, der an Gott glaubt und religiös ist – und dies auch zeigt. Fast 60 Prozent der Befragten sagten, es sei wichtig, daß ihr Präsident Gott vertraue und tief religiös sei, sofern er daneben die Wirtschafts- und die Außenpolitik zu lenken verstehe; 30 Prozent wollten lieber einen Präsidenten haben, der nicht religiös und gläubig ist. In den sogenannten »roten Staaten« im Süden, Südwesten und im Mittleren Westen, in denen sich in den vergangenen Jahren die Republikanische Partei als bestimmende politische Kraft durchzusetzen vermochte, lag der Anteil derer, die einen religiösen Präsidenten bevorzugten, sogar bei 67 Prozent, während nur 23 Prozent einen Präsidenten wollten, der nicht religiös ist, aber eine erfolgreiche Wirtschafts- und Außenpolitik verfolgt. In den »blauen Staaten« im Nordosten, am Mittleren Atlantik, an den Großen Seen und an der Westküste, wo eine Mehrheit der Wähler den Demokraten zuneigt und im Jahr 2000 für Al Gore stimmte, bevorzugten 107
immerhin noch 51 Prozent der Befragten eine religiöse Persönlichkeit als Präsident, für 36 Prozent spielte der Glaube des Präsidenten keine Rolle. Eine Umfrage des Pew Forschungszentrums vom Juli 2003 erbrachte zudem das Ergebnis, daß fast doppelt so viele Amerikaner der Ansicht sind, daß Politiker in ihren öffentlichen Äußerungen zu selten auf ihren religiösen Glauben und auf ihre Praxis des Gebets eingehen als zu oft: 41 Prozent wollen ihre Politiker noch häufiger als bisher über Glauben, Religion und Gebet sprechen hören, während 21 Prozent der Überzeugung sind, dies geschehe jetzt schon zu oft. Die New York Times kommt in einer eigenen Umfrage vom Juni 2004 zu dem Ergebnis, daß 42 Prozent der Befragten es gutheißen, wenn Kandidaten für wichtige politische Ämter während des Wahlkampfes über die Rolle ihrer religiösen Überzeugung für ihr Leben sprechen; 53 Prozent waren der Ansicht, dies sollte nicht geschehen. Wichtiger noch als die Zahlen für das Wahljahr 2004 ist aber der Vergleich zu einer ähnlichen Umfrage von 1984: Damals waren nur 22 Prozent der Befragten der Meinung, die Kandidaten sollten die Rolle der Religion für ihr Leben im Wahlkampf ansprechen, während 75 Prozent die gegenteilige Ansicht vertraten. Für diesen allgemeinen Trend zu einem verstärkt religiösen Diskurs in der Politik bietet wiederum der Präsidentschaftswahlkampf von z000 ein anschauliches Beispiel. Von den vier Spitzenkandidaten der beiden Parteien hatte der spätere Vizepräsident Dick Cheney das unauffälligste religiöse Profil, während Al Gores »running mate« für das Amt des Vizepräsidenten, Senator Joseph Lieberman, offen und häufig über seinen jüdischen Glauben sprach; und an Samstagen nahm Lieberman, der einer liberalen Kongregation angehört, nicht an Wahlkampfveranstaltungen teil, weil er Sabbatruhe hielt. Bemerkenswert an dieser Entwicklung ist zweierlei. Anders als in den meisten Staaten Europas hat eine Mehrzahl der Menschen in Amerika gewissermaßen ihren Kinderglauben behalten: 108
Die USA scheinen gegen das religionssoziologische Grundgesetz zu verstoßen, wonach der Prozeß der Modernisierung einer Gesellschaft auch einen Prozeß der Säkularisierung mit sich bringt. Zum zweiten erlebt Amerika seit etwa Anfang der siebziger Jahre, vor allem aber seit den neunziger Jahren eine religiöse Renaissance, eine Revitalisierung des religiösen Lebens; in Europa dagegen ist in fast allen Staaten, zumal in den katholisch geprägten Ländern – allenfalls mit der Ausnahme Irlands und Polens –, eine wachsende Entfremdung zwischen den Kirchen und den in Scharen davonlaufenden ehemaligen Gläubigen zu beobachten. Der Befund ist durch verschiedene empirische Studien belegt, etwa die Langzeituntersuchungen European Values Survey (EVS) und World Values Survey (WVS) aus den Jahren 1981/82, 1990/91, 1995 bis 1997 und 1999 bis 2001. Auch die Umfragen des im Jahre 2002 in 44 Ländern begonnenen Global Attitudes Project des Washingtoner Pew Research Center for the People and the Press sowie das International Study Survey Programme (ISSP), das auf Erhebungen aus den Jahren 1991 und 1998 beruht, stützen die Erkenntnis, daß Amerika unter den wohlhabenden und entwickelten Nationen ein einzigartig vitales religiöses Leben hat. Die Meinungsforscher des Pew Center haben bei ihren Befragungen 2002 ermittelt, daß 59 Prozent der Amerikaner sagen, Religion spiele eine sehr wichtige Rolle in ihrem Leben; im katholischen Italien, wo ja auch der Papst seinen Sitz hat, geben nur 27 Prozent diese Antwort, in Deutschland sind es 21 Prozent und in Frankreich gar nur elf Prozent. In den Staaten Mittelosteuropas fallen die Antworten kaum anders aus: In Polen sagen 36 Prozent, Religion sei sehr wichtig in ihrem Leben, in der Slowakei 29 Prozent und in der Tschechischen Republik elf Prozent. Die Studie des ISSP ermittelt, daß sowohl 1991 wie 1998 in den USA mehr als 85 Prozent der Befragten an den Himmel als den Ort der Erlösung und mehr als 70 Prozent an die Hölle als den Ort der Verdam109
mung glauben – mit steigender Tendenz. Die Referenzwerte für West- und Ost-Deutschland sind etwa 45 und 20 Prozent (Himmel) beziehungsweise rund 30 und zehn Prozent (Hölle). Auch in den anderen europäischen Staaten ist das Bild im wesentlichen das gleiche: Allenfalls in Irland und Polen bezeichnen sich etwa 95 Prozent der Menschen als Gläubige und erreichen damit einen »amerikanischen« Wert, während die Werte sonst in Europa zwischen 25 Prozent (im Osten Deutschlands) und immerhin gut 80 Prozent liegen (Italien, Spanien, Österreich). Auch die Zahlen des EVS schließlich bestätigen die These vom postchristlichen Europa, wo in Ländern wie Frankreich gerade einmal fünf Prozent der Menschen jede Woche zur Kirche gehen; in Italien sind es 15 Prozent, während in Deutschland knapp 30 Prozent angeben, sie würden allenfalls einmal im Monat die Kirche besuchen. In den lutherisch geprägten skandinavischen Staaten liegt der Anteil der Kirchgänger auf französischem Niveau. Die New York Times berichtete im Oktober 2003 von dem Mailänder Kardinal Dionigi Tettamanzi, der bestürzt aus seinen Gemeinden habe erfahren müssen, daß immer weniger Kinder wüßten, wie man sich bekreuzige. Und wenn sie es wüßten, so steht zu vermuten, bedeute ihnen das Zeichen wenig, denn der Trend zum nichtpraktizierenden Katholizismus ist unübersehbar. Wie schwach die katholische Kirche und die protestantischen Kirchen inzwischen in Europa sind, als gesellschaftlich relevante Institutionen und als geistiger Magnet, zeigen ihre kläglichen Versuche und ihr Versagen, einen Gottesbezug im Text der künftigen europäischen Verfassung durchzusetzen. Leere Kirchen, alternde Gläubige, geringer Einfluß auf wichtige ethische Debatten zur Abtreibung, zur Stammzellenforschung, zur Sterbehilfe. Wenn es irgendwo in Europa lebendige, wachsende, spirituell ausstrahlende Gemeinden in Gotteshäusern gibt, dann sind es – Moscheen. Ganz anders Amerika. Wer an Sonntagen vormittags über 110
Land oder durch die Städte fährt, sieht vor jeder Kirche überfüllte Parkplätze (und an Samstagen vor den Synagogen und an Freitagen vor den Moscheen, auch wenn es viel weniger gibt als Kirchen). 22 Prozent der gläubigen Christen geben an, mehr als einmal die Woche zum Gottesdienst zu gehen. Fast drei Viertel sagen, sie besuchten mindestens einmal pro Monat den Gottesdienst. Der katholische Theologe und Religionssoziologe Michael Novak hat errechnet, daß jedes Wochenende mehr Menschen in Amerika in die Kirche gehen, als ein Spiel der immens populären und mit millionenschweren Profi- und Sponsorenverträgen überfrachteten Sportart American Football zu verfolgen – in den Stadien der Profiliga, der Universitätsligen, der Oberstufenligen der Gymnasien und vor allen Fernsehgeräten des Landes zusammengenommen. Das Verkünden und Hören von Gottes Wort ist nicht auf die physische Teilnahme am Gottesdienst beschränkt. Auf den 200 christlichen Fernsehstationen und 1300 christlichen Rundfunksendern kann man rund um die Uhr die Gute Nachricht hören und sehen. Die Wochenzeitung U.S. News & World Report ist in einem im Frühjahr 2004 veröffentlichten Dossier zu dem Ergebnis gekommen, daß es in den USA mehr Kirchen, Synagogen, Moscheen und Tempel pro Einwohner gibt als in jedem anderen Land auf der Welt: Durchschnittlich kommt ein Gotteshaus auf 865 Einwohner. Das »Jahrbuch amerikanischer und kanadischer Kirchen«, die maßgebliche statistische Quelle für alles Christliche in Amerika, erfaßt in der Ausgabe für das Jahr 2003 in den USA insgesamt 216 Kirchen mit 161 Millionen Gemeindegliedern. Eine deutliche Zunahme ihrer Mitglieder verzeichnen Evangelikale Kirchen, Pfingstkirchen und die Mormonen – stark spirituell geprägte Glaubensgemeinschaften –, während die Zahl der Gläubigen bei traditionellen Kirchen wie den Lutheranern, den Methodisten und andere große protestantische Kirchen leicht rückläufig ist. Die größte Kirche in den USA ist nach wie 111
vor die römisch-katholische mit jetzt 66,4 Millionen Mitgliedern, die in erster Linie von der Einwanderung der Millionen Latinos aus Mittel- und Lateinamerika profitiert. Es folgen der Südliche Baptistenverband mit 16,2 Millionen, die Methodisten mit 8,3 Millionen, die Vereinigte Kirche Gottes in Christus mit 5,5 Millionen, die Mormonen mit 5,4 Millionen und die Evangelisch Lutherische Kirche in Amerika mit fünf Millionen. Wieviel die einzelnen Kirchen an Spenden erhalten, ist nicht leicht zu überblicken, weil nicht alle Kirchen ihre Finanzen offenlegen. Von den 63 Kirchen, die über ihre Finanzlage berichten, wurden Spenden der insgesamt knapp 50 Millionen Mitglieder in einer Höhe von 31 Milliarden Dollar gemeldet; das sind durchschnittlich fast 660 Dollar pro Gemeindemitglied und Jahr – 5,6 Prozent mehr als im Vorjahr. Das öffentliche Anrufen Gottes und der Dank an den Allmächtigen – vom Präsidenten über den Basketballspieler bis zum Popstar – ist in Amerika ein herkömmliches Ritual, an dem niemand Anstoß nimmt. Weil die USA als moderner Wohlstandsstaat sich dem allgemeinen Trend der Säkularisierung hartnäckig verweigern, erscheint dieses Ritual in der Sicht vieler längst vollständig entzauberter Europäer als primitiver Atavismus. Es ist aber auch eine vollkommen andere Perspektive möglich. Im Entwurf für die europäische Verfassung, die vom Konvent Mitte 2003 zunächst angenommen worden war, wurde im ersten Absatz der Präambel das Bewußtsein bekräftigt, daß »der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und daß seine Bewohner, die ihn seit Urzeiten in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft«. In der vom Europäischen Rat, also den Staats- und Regierungschefs, am 18. Juni 2004 in Irland angenommenen Fassung ist der erste Absatz etwas verkürzt und lautet nun: »Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die 112
unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen, Demokratie, Gleichheit, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben.« Auch wenn die »Bewohner« Europas in der letzten Fassung nicht mehr ausdrücklich genannt werden, bleibt das menschliche Kollektiv und dessen Erbe der Akteur der historischen Entwicklung und der »Erfinder« der universellen Werte von Menschenrechten, Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Das muß aus amerikanischer Sicht als Hybris gelten, denn in der Unabhängigkeitserklärung als dem Gründungsdokument der Vereinigten Staaten wird ausdrücklich »der Schöpfer« als derjenige genannt, der dem Menschen die unveräußerlichen Rechte wie Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit »stiftet« (endow). Von diesem Widerspruch in der Betrachtung des Ursprungs der demokratischen Entwicklung und des Wegs zur Freiheit rührt die fundamental unterschiedliche Rolle der (christlichen) Religion in Amerika und Europa her. Als die puritanischen Pilgerväter mit ihren Schiffen an der Küste Neuenglands landeten, erhofften sie sich Freiheit der Religion in der Neuen Welt nicht im Sinne von Freiheit von der Religion, sondern von Freiheit für die Religion, nämlich für ihre eigene. In seinem noch auf See an Bord der »Arabella« verfaßten philosophisch-theologischen Tagebuch-Traktat »A Model of Christian Charity« beschwor John Winthrop (1588 bis 1649), der erste Gouverneur des Staates Massachusetts, die gottgefälligen Siedlungen der Kolonisten – und zumal die Stadt Boston – an der Küste Neuenglands als »Stadt auf dem Hügel«, als zweites Jerusalem, von wo das Licht der göttlichen Vorsehung in alle Welt scheinen möge. Die »Augen der Welt« würden auf dieses beispielhafte Gemeinwesen gerichtet sein, und alle Welt werde diesem göttlichen Exempel nacheifern wollen. Dem moralischen Utopismus der Siedler lag ein Verständnis von Religion zugrunde, das bis heute das religiöse Leben Amerikas prägt – so wie die Religionstradition Europas das reli113
giöse Leben Europas von heute prägt. Religion und Freiheit sind in Amerika Zwillingsgeschwister, denn anders als in der Alten Welt gibt es in der Neuen Welt keine Staatskirchen. Nicht umsonst verbietet der Erste Verfassungszusatz dem Kongreß nicht nur, die freie Ausübung der Religion zu untersagen, sondern auch eine Religion (als die des Staates) zu gründen. Alexis de Tocqueville (1805 bis 1859) schrieb in seinem scharfsichtigen und bis heute gültigen Buch »Über die Demokratie in Amerika« von 1835: »Bei uns (in Frankreich) habe ich den Geist der Religion und den Geist der Freiheit immer nur in unterschiedliche Richtung sich bewegen sehen.« In Amerika dagegen seien Religion und Freiheit »aufs engste miteinander verbunden: Sie regieren gemeinsam auf dem gleichen Boden.« Und weiter stellt de Tocqueville fest, abermals sehr aktuell: »Es gibt kein Land auf der Welt, in welchem die christliche Religion einen so großen Einfluß auf die Seelen der Menschen hat wie in Amerika.« Dieser Einfluß aber war ein emanzipatorischer Einfluß, gespeist vom Impuls der aus Europa fortgezogenen Puritaner, Pietisten und anderer »Minderheitenkirchen«, sich niemals mehr etwas vom Staat und seiner Kirche, vor allem der Staats-Kirche vorschreiben zu lassen. Der revolutionäre Furor der bürgerlichen Bewegungen Europas richtete sich gegen die Aristokratie und gegen den mit dieser verbündeten Klerus. Der revolutionäre Furor der bürgerlichen Bewegungen in Amerika wurde von den christlichen »Underdogs« aus Europa gespeist. »Die Führer der Amerikanischen Revolution waren nicht, wie die Führer der Französischen Revolution, säkulare Politiker«, schreibt Michael Novak in seinem Buch »On Two Wings«. »Sie schickten sich nicht an, die Religion auszulöschen.« Im Gegenteil. Der erste Verfassungskongreß begann 1774 mit der Verlesung eines Psalms durch einen Pfarrer der Episkopalkirche. Die Unabhängigkeitserklärung nimmt an vier Stellen auf Gott Bezug – als Schöpfer, Oberster Richter, Gesetzgeber und als Herr über die 114
Vorsehung. Selbst Thomas Jefferson, der am weltlichsten orientierte unter den Unterzeichnern der Unabhängigkeitserklärung, der später den Aufbau einer »Mauer der Trennung zwischen Kirche und Staat« forderte, war der Überzeugung, daß »keine Nation jemals ohne Religion existiert hat oder regiert wurde – noch daß dies einmal der Fall sein wird«. In Amerika sind Demokratie und Religion gemeinsam erstarkt, und die Religion ist bis heute lebendig. In Europa, wo die Demokratie oft genug gegen den Widerstand der (katholischen) Religion erfochten werden mußte, sind immer weniger Menschen gläubig. Das Verhältnis der amerikanischen Gesellschaft zur »Mauer der Trennung« zwischen Kirche und Staat ist ambivalent: Die Mauer steht bis heute stabil, wird aber hier und da angebohrt – vor allem seit dem Beginn der religiösen Renaissance. Das Oberste Gericht als Hüterin der Verfassung hat im Sommer 2004 einerseits entschieden, daß die Formulierung »eine Nation unter Gott« im Fahneneid erhalten bleiben kann, es hat aber auch einen Richter in Alabama dazu gezwungen, einen Steinblock mit dem eingravierten Text der Zehn Gebote aus dem Foyer des Gerichts entfernen zu lassen. Ohnedies hat das Gewebe der amerikanischen Gesellschaft schon viele religiöse Fasern aufgenommen – der Glaube an die Nation und deren Mission ist vom Gottesglauben oft schwer zu unterscheiden. Ein weiterer Grund für die Stärke der Religion in Amerika ist die Herrschaft der Prinzipien der Marktwirtschaft auch in Glaubensdingen. Wie in der Wirtschaft führen Monopole und das Fehlen von Konkurrenz offenbar auch in der Religion zu Stagnation. Unter den Bedingungen eines freien Marktes entwickeln die »religiösen Konsumenten« mehr Interesse für die verschiedenen »Produkte«, die ihnen angeboten werden, als wenn ihnen in einer Monopolwirtschaft immer nur das gleiche vorgesetzt wird. Deshalb kommen und gehen in Amerika Denominationen und Kirchen, während die Amts- und Staatskirchen Europas für die Ewigkeit geschaffen sind – gleichviel ob sie 115
Gläubige haben oder nicht. 16 Prozent der amerikanischen Christen haben ihre Denomination gewechselt – auch in dieser Hinsicht ist der vom Presbyterianer zum Methodisten gewandelte Präsident ein Abbild der Gesellschaft, die ihn gewählt hat. Zum ersten Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001, so wird berichtet, lud Präsident Bush fünf Geistliche – drei christliche, einen jüdischen und einen muslimischen – zu einem Gespräch über Glauben und Religion ins Weiße Haus ein. Schon in der Woche nach den Anschlägen hatte Bush eine Moschee besucht und den Islam als »Religion des Friedens« bezeichnet – es galt unter anderem, das von ihm selbst mit der zweideutigen Ankündigung eines »Kreuzzuges« gegen den Terrorismus verursachte Mißverständnis auszuräumen. »Wissen Sie, ich hatte ein Alkoholproblem. Eigentlich sollte ich jetzt in Texas in einer Bar sitzen und nicht im Oval Office. Es gibt nur einen einzigen Grund dafür, daß ich hier im Oval Office sitze und nicht in einer Bar. Ich habe Gott gefunden. Ich bin hier wegen der Macht des Gebets.« Und dann bat er die Gottesmänner, für ihn zu beten. Denn der mächtige Adler der amerikanischen Demokratie kann nur fliegen, wenn die beiden Schwingen Freiheit und Religion ausgebreitet sind.
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Wer dazu gehört Auf 1000 Wegen zum amerikanischen Traum
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s ist eine besondere Prozession, die zum Pomona Fairplex pilgert. Manche sind wie Mühselige und Beladene, gehen am Stock oder werden gar im Rollstuhl geschoben. Andere streben beschwingt und ausgreifenden Schrittes ihrem Ziel entgegen. Die einen kommen im Sonntagsstaat, tragen einen Blumenstrauß, andere sehen aus wie an jedem gewöhnlichen Tag, wieder andere kommen im Sari oder in der Ausgehuniform der Luftwaffe oder der Marineinfanterie. Einige Frauen haben ihr Haar unter einem Kopftuch verborgen, andere kommen frisch vom Friseur. Die Männer tragen breitkrempige Hüte aus Lateinamerika, allerlei Mützen und Kappen aus dem Orient oder aus Asien. Auch ein buddhistischer Mönch mit kahlgeschorenem Haupt und signalorangem Gewand ist dabei. Sie kommen buchstäblich aus aller Herren Länder, genau genommen aus 130 Staaten. Wenn die Zeremonie in der riesigen Halle 4 auf dem Messe- und Ausstellungsgelände von Pomona, einer Vorstadt im Osten von Los Angeles, beendet ist, werden sie alle nur noch »einer Nation unter Gott« angehören – »unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle«, wie es im Fahneneid heißt, den sie bald gemeinsam leisten werden. Sie werden Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika sein, ausgestattet mit einer Einbürgerungsurkunde, die sie berechtigt, ohne Einschränkung eine Arbeit anzunehmen, einen amerikanischen Paß und die Eintragung ins Wahlregister zu beantragen und schließlich Gemeinde- und Stadträte, Bürgermeister, Schulamtsleiter, Richter, Polizeichefs, Abgeordnete und Senatoren für den Kongreß in Washington und natürlich einen Präsidenten für das Weiße Haus zu wählen. Und sie werden hin und wieder als 117
Schöffen in Geschworenengerichten dienen müssen. Aber so weit ist es jetzt noch nicht. Vorerst gilt es, den Strom derer, die in etwa drei Stunden naturalisierte Amerikaner sein werden, von jenem der Besucher und Familienangehörigen zu trennen. Dazu sind die Mitarbeiter des »US Citizenship and Immigration Service« (USCIS), der zum neuen Heimatschutzministerium gehörenden Einbürgerungs- und Einwanderungsbehörde, mit Megaphonen ausgestattet und tragen, wie Arbeiter beim Straßenbau, orange-weiße Signalwesten. Besucher bitte nach rechts zum Seiteneingang, Einbürgerungsbereite bitte ganz um die Halle herum und wieder zurück zum Haupteingang! Die Prozession verläuft in sehr geregelten Bahnen. Es ist etwa halb acht Uhr morgens. Es wird ein schöner Tag werden. Masseneinbürgerungszeremonien wie diese finden im Distrikt von Los Angeles ungefähr jeden Monat statt, meistens auf dem Messegelände in Pomona, manchmal auch im »Convention Center« weiter drinnen in der Stadt – sofern man in einer urbanen Konglomeration wie Los Angeles überhaupt unterscheiden kann zwischen Innenstadt und Vorort. Heute werden, bei einer Zeremonie um neun Uhr morgens und einer weiteren um halb zwei Uhr nachmittags, zusammen 7130 Frauen und Männer naturalisiert. Solche Veranstaltungen zur Masseneinbürgerung von Ausländern gibt es auch in anderen Staaten mit einem besonders hohen Anteil an Einwanderern – etwa im Bundesstaat New York und in Florida. Aber die Zeremonien im Distrikt Los Angeles im Süden Kaliforniens sind die größten und spektakulärsten im ganzen Land. Im Jahre 1999 verzeichnete Los Angeles mit etwa 300000 Einbürgerungen mehr als ein Drittel der Einbürgerungen in den gesamten Vereinigten Staaten – soviel wie die beiden folgenden Distrikte New York und Miami in Florida zusammen. Die Zahl aller in den Vereinigten Staaten naturalisierten Ausländer belief sich in jenem Jahr auf knapp 840000 – das sind pro Tag durchschnittlich 2300 neue Bürger der Vereinigten Staaten. Das Rekordjahr in der jüngeren 118
Vergangenheit mit 1,04 Millionen Einbürgerungen war 1996, was statistisch pro Tag fast 2900 Einbürgerungen entspricht. Daß die Zahl der vollzogenen Einbürgerungen in den letzten Jahren – vor allem nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 – etwas zurückgegangen ist, hängt nur bedingt mit verschärften Kontrollen der Papiere zusammen. Der Schock der Anschläge von New York und Washington hat nicht zu einer »Tür-zu-Politik« geführt. Hauptgrund für die Schwankungen ist die mancherorts unzureichende personelle Ausstattung der Einbürgerungsbehörden, die stetig einen Berg von Anträgen auf Naturalisierung vor sich her schieben und davon in einem Jahr mehr, in einem anderen Jahr weniger abarbeiten. Amerika ist schon seit den Zeiten vor der Unabhängigkeitserklärung von 1776 Einwanderungsland, und es ist das Einbürgerungsland schlechthin. Allein im vergangenen Jahrhundert wurden mehr als 19,3 Millionen Ausländer eingebürgert. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kam es im Vergleich zu den Dezennien zuvor zu einem sprunghaften Anstieg der Naturalisierungen. Gut 7,4 Millionen Menschen wurden von 1991 bis 2000 eingebürgert. Das ist mehr als eine Verdreifachung gegenüber den achtziger Jahren, die ihrerseits mit knapp 2,4 Millionen Einbürgerungen einen starken Anstieg gegenüber den Jahrzehnten zuvor verzeichnet hatten. Zwischen 1993 und 1999 stellten 6,4 Millionen Einwanderer einen Antrag auf Einbürgerung – das waren mehr als in den davor liegenden 37 Jahren zusammen. In den ersten sieben Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden jeweils zwischen 1,1 Millionen und 1,9 Millionen Einwanderer eingebürgert, wobei es in den zwanziger, den dreißiger und den vierziger Jahren überdurchschnittlich viele Naturalisierungen gab. Immer wenn sich die Europäer in große Kriege stürzten oder große Krisen durchlebten, schnellte die Zahl der Einwanderer und, mit leichter Verzögerung, der Einbürgerungen in Amerika in die Höhe. 119
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre kamen die meisten Einwanderer aus Europa, was zuvorderst der 1965 aufgehobenen Quotenregelung geschuldet ist. Mit der Quote sollte der Zustrom von Immigranten aus Asien und aus Lateinamerika gedrosselt werden, während für die sogenannten »wesensverwandten« weißen Europäer die Tür offenblieb. Mitte der siebziger Jahre brach die große Zeit der Einwanderung und Einbürgerung aus Asien an, vor allem aus China, Vietnam und von den Philippinen, und diese Phase dauerte etwa zwei Jahrzehnte. In jene Zeit fällt auch ein Schub kubanischer Immigration, vor allem nach der vorübergehenden Öffnung des Hafens Mariel westlich von Havanna für auswanderungswillige Kubaner von Mitte April bis Ende Oktober 1980, was mehr als 125000 Kubaner zur Ausreise nach Florida nutzten. Insgesamt sind seit der Machtergreifung Fidel Castros im Jahre 1959 etwa eine Million Kubaner in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Von Mitte der neunziger Jahre an schließlich nahm die Zahl der naturalisierten »Latinos« aus Mittel- und Südamerika deutlich zu, was mit der schrittweisen Gewährung eines gesetzlichen Bleiberechts für die seinerzeit schätzungsweise 2,7 Millionen illegalen Einwanderer nach 1986 zu tun hat. Die Rekordquoten bei den Naturalisierungen Mitte der neunziger Jahre sind das Produkt der allmählichen Legalisierung der illegalen Einwanderer, von welchen die meisten aus Mexiko nach Arizona, Kalifornien, New Mexico und nach Texas gekommen waren. Die Schätzungen, wie viele illegale Einwanderer im Jahre 2004 in den Vereinigten Staaten leben, reichen von 6,5 Millionen bis zu mehr als zehn Millionen, wobei in den meisten Erhebungen von etwa acht Millionen illegalen Einwanderern die Rede ist. Bei diesen handelt es sich überwiegend um ungelernte Arbeiter aus Mexiko sowie aus anderen mittel- und südamerikanischen Staaten. Ihr Beitrag zur amerikanischen Volkswirtschaft wird allgemein als unverzichtbar anerkannt, zumal in der Landwirtschaft, im Dienstleistungssektor 120
sowie in der nahrungsmittelverarbeitenden Industrie. Und auch wenn Präsident George W. Bush Anfang 2004 vorerst nur einen schüchternen Versuch unternahm, den Status der illegalen Einwanderer zu klären, ohne ihnen eine umfassende Amnestie zu gewähren, dürfte es in absehbarer Zeit zu einem weiteren Legalisierungsschub und damit zum nächsten Einbürgerungsboom kommen. Doch auch ohne die früher oder später unumgängliche Massenlegalisierung der illegalen »Latinos« ist die Zahl der Einbürgerungen seit den neunziger Jahren so hoch wie nie zuvor im 20. Jahrhundert. Zwischen 1908 und 1990 überstieg die Zahl der jährlichen Naturalisierungen nur zweimal die Schwelle von 300000 – und zwar in den Kriegsjahren 1943 und 1944. Seit 1991 aber wird dieser Wert Jahr um Jahr übersprungen – mit Ausnahme des Jahres 1992. Und dennoch kann die massenhafte Einbürgerung mit dem Tempo der Einwanderung nicht Schritt halten. In den Jahren 2001 und 2002 kamen jeweils gut 1,06 Millionen Immigranten in die Vereinigten Staaten, während die Zahl der Einbürgerungen bei mehr als 608000 beziehungsweise knapp 574000 lag. Man kann aber nicht sagen, daß die Einwanderungsbehörde USCIS einen immer größeren Berg von Anträgen auf den berühmten Naturalisierungs-Formblättern »N-400« vor sich herschiebt. Im ganzen hält die Einbürgerung mit dem Tempo der Einwanderung Schritt, es gibt kein massenhaftes Warten im Vorhof zwischen Einreise und Staatsangehörigkeit. In Nachholjahren wie 1999 und 2000 lag die Zahl der vollzogenen Einbürgerungen um zusammen 600000 über der Zahl der gestellten Anträge auf Naturalisierung. Wer einmal angekommen ist im bevorzugten Einwanderungsland, kann damit rechnen, in absehbarer Zeit vollends dazuzugehören: nach fünf Jahren im Besitz der »Green Card« genannten Aufenthaltsberechtigung oder schon nach drei Jahren, wenn der Ehepartner Amerikaner ist. Durchschnittlich lebt ein Immigrant etwa acht Jahre in den Vereinigten Staaten, ehe er die Einbürgerung erreicht, und 121
er ist im statistischen Mittel zum Zeitpunkt der Naturalisierung 38 Jahre alt. Nach den historischen Einwanderungs- und Einbürgerungsschüben aus Europa, Asien und schließlich aus Lateinamerika scheint jetzt eine Art gemischter Plateauphase erreicht zu sein: Es kommen viele von allen Enden der Welt nach Amerika. Mexikaner liegen derzeit an der Spitze, aber auch Asiaten wie Vietnamesen, Filipinos und Chinesen kommen weiter in Scharen, nicht zu vergessen Europäer sowie Araber aus dem Nahen Osten und viele Afrikaner. Die Einbürgerung von jährlich Hunderttausenden Einwanderern ist mit einem beträchtlichen logistischen Aufwand verbunden. Dieser ist in den vergangenen Jahren noch gewachsen, weil zusätzlich biometrische Daten wie Fingerabdrücke elektronisch erfaßt und überprüft werden müssen. Wie man die bürokratischen, technischen und organisatorischen Anforderungen effizient erfüllt und den neuen Staatsbürgern zugleich eine möglichst sublime und erinnerungswürdige Eingangszeremonie gewährt, kann man nirgendwo so gut beobachten wie bei den Massennaturalisierungen im Distrikt von Los Angeles. Noch sind die meisten der vielleicht 3500 weißen Plastikstühle leer, aber die hintere Hälfte der langgezogenen Halle 4 füllt sich allmählich. Mitarbeiter des USCIS sitzen hinter numerierten Tischen, vor welchen sich schon Warteschlangen gebildet haben. Überall in der Halle stehen weitere Beamte der Einwanderungsbehörde und helfen gerne weiter, wenn jemand, seinen Einladungsbrief zu der Zeremonie in der Hand, desorientiert in der Halle umherschaut. Zuerst gilt es, das Schreiben des USCIS vorzuzeigen und die Green Card an einen der Beamten hinter dem Tisch mit der entsprechenden Nummer zu übergeben. Die sammeln die begehrten Eintrittskarten zum amerikanischen Traum und vermerken ihr »OK« auf den Schreiben der Behörde. Später werden die Green Cards in der Distriktzentrale als ordnungsgemäß zurückgegeben erfaßt und anschließend vernichtet. Wer seine Green Card erst einmal abgegeben hat, schwebt sozu122
sagen im staatsfreien Raum, aus welchem er wenig später als amerikanischer Staatsbürger auf dem betonierten Hallenboden landen wird. Als nächstes werden die Einwanderer dann an zwei Mitarbeitern der USCIS vorbeigeleitet, die ihnen einen dicken weißen Briefumschlag in die Hand drücken. Und darauf steht: »Eine Botschaft des Präsidenten der Vereinigten Staaten«, Absender: »Weißes Haus«. In diesem Umschlag stecken ein Schreiben von George W. Bush an seine »Lieben amerikanischen Mitbürger«, sodann eine Broschüre mit dem Titel »Willkommen zur Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten« und eine kleine amerikanische Nationalflagge aus Plastik; auf dem Kunststoffstab, an dem die Fahne befestigt ist und mit welchem sie hernach auch kräftig gewedelt werden kann, steht in großen schwarzen Lettern »Made in U.S.A.« – wahrscheinlich zur Zerstreuung des Verdachts, daß vollends alles, was aus Plastik ist, aus China kommt. Die blaue Willkommensbroschüre mit einer stilisierten, im Wind flatternden amerikanischen Flagge auf dem Titelblatt ist gerade einmal 38 Seiten stark, wobei auf den letzten fünf Seiten sogar noch Platz ist für »Erinnerungen an den Anlaß« wie Unterschriften, Glückwunschbotschaften oder einzuklebende Zeitungsausschnitte. In dem Büchlein, ein Vademecum für ein patriotisches Leben als Amerikaner, sind die grundlegenden Texte für die künftigen Staatsbürger abgedruckt. Als erstes der Fahneneid, den in Amerika jedes Schulkind an einer öffentlichen Schule täglich vor Unterrichtsbeginn neu zu leisten hat. Sodann Verhaltensregeln für Zeremonien, bei denen die Nationalflagge aufgezogen wird ( »Männer nehmen ihre Kopfbedeckung ab und halten sie mit ihrer rechten Hand vor ihre linke Schulter, sodaß die Hand auf dem Herzen ruht. Männer ohne Kopfbedeckung und Frauen salutieren vor der Fahne, indem sie die rechte Hand auf das Herz legen« ). Weiters der Text der Nationalhymne »The Star-Spangled Banner« von Francis Scott Key aus dem Jahre 1814. Außerdem das »Glaubensbekenntnis 123
des Amerikaners« von William Tyler Page, dem Schriftführer des Repräsentantenhauses, aus dem Jahre 1917 ( »Ich glaube an die Vereinigten Staaten von Amerika als einer Regierung vom Volk, durch das Volk und für das Volk, deren gerechte Macht Ausfluß der Übereinkunft der Regierten ist« ). Dazu einige Besinnungstexte, meist aus dem 19. Jahrhundert, über die »Pflichten des Bürgers« ( »Es ist meine Pflicht, zu wählen, auf daß meine Regierung wahrhaft den Willen des Volkes vertreten kann« ) sowie über die »Rechte und Privilegien des Bürgers« ( »Ich kann denken, was ich will. Ich kann sagen oder schreiben, was ich will, sofern ich dabei nicht die Rechte anderer berühre«). Natürlich der Treueeid auf Seite sechs, den die große Versammlung bald dem Bezirksrichter Halbsatz für Halbsatz nachsprechen wird. Und schließlich die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 sowie die Verfassung von 1787 einschließlich der einschlägigen Zusätze. Der Kanon der amerikanischen Grundrechte und Glaubenssätze ist zwingend und übersichtlich – zumal im Vergleich zu den Verfassungen der meisten europäischen Staaten und schon gar im Kontrast zur künftigen Verfassung der EU, die mehr als zehnmal so lang und verklausuliert sein wird wie die sieben Artikel der amerikanischen Verfassung und deren 27 Zusätze, die sich als historisch erstaunlich haltbar erwiesen haben. Neben dem Wissen über diese Grundtexte haben die Prüflinge während ihres Einbürgerungsprozesses nachweisen müssen, daß sie mit der englischen Sprache sowie mit Geschichte und Gegenwart ihres künftigen Vaterlandes vertraut sind. Zur Sprachprüfung etwa gehört es, Sätze wie »Alle Menschen wollen frei sein«, »Die amerikanische Flagge hat Streifen und Sterne« oder »Ich möchte Amerikaner sein, damit ich wählen kann« laut und vernehmlich vorlesen und einigermaßen fehlerfrei niederschreiben zu können. Modellsätze aus dem Bereich Alltagsleben lauten etwa: »Sie muß neue Kleider kaufen«, »Die 124
Lehrerin war stolz auf ihre Klasse«, »Sie haben ein sehr sauberes Haus.« Ausgenommen von der Sprachprüfung sind übrigens Einbürgerungswillige, die älter als 65 Jahre sind. Mit dem Begrüßungsumschlag aus dem Weißen Haus unter dem Arm dürfen sich die Fast-Amerikaner endlich setzen. In der ersten Reihe, direkt vor der Bühne mit den amerikanischen Flaggen, nehmen die Soldatinnen und Soldaten der vier Waffengattungen Heer, Marine, Luftwaffe und Marineinfanterie sowie der Küstenwache Platz. Wer sich bei den amerikanischen Streitkräften – einer reinen Berufsarmee – verpflichtet, kann schon nach einem Jahr »ehrenvollen Dienstes« die Einbürgerung beantragen. Zudem müssen Angehörige der Streitkräfte nicht die üblicherweise fällige Bearbeitungsgebühr für das Formular N400 in Höhe von 320 Dollar bezahlen, und sogar die schmucke Mappe aus Kunstleder zur Aufbewahrung der Einbürgerungsurkunde im Wert von zehn Dollar erhalten sie kostenlos. Der abgekürzte Königsweg zur amerikanischen Staatsangehörigkeit über den Militärdienst wird künftig noch besser ausgebaut: Vom 1. Oktober 2004 an sollen ausländische Soldaten im Dienste der amerikanischen Streitkräfte schon bei ihrem Einsatz in Übersee und nicht erst nach ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten naturalisiert werden können. Möglich also, daß ein junger Nigerianer, der mit seiner Einheit der amerikanischen Marineinfanterie im Irak im Einsatz ist, demnächst in Bagdad zum Amerikaner wird. Die Reihen links neben den Stühlen der Soldaten sind mittlerweile mit den Rollstühlen der Behinderten und Alten gefüllt. Daneben haben die Gehörlosen Platz genommen, vor die sich, mit dem Rücken zur Bühne, eine Gebärdendolmetscherin gesetzt hat. Am Rednerpult auf der Bühne steht inzwischen Andy Wiedensoller, der leitende Beamte des USCIS für die Zeremonien an diesem Tag. Auch er ist übrigens ein Einwanderer, auch wenn seine Vorfahren schon vor ein paar Jahrzehnten aus dem Deutschschweizer Grenzgebiet bei Basel nach 125
Amerika ausgewandert sind; abgesehen von ein paar Brocken hat er die Sprache seiner Vorfahren vergessen. Wiedensoller entschuldigt sich, daß er seine Einweisungen nur auf englisch gibt, und bittet, Sprachkundige mögen ihren Nachbarn helfen, sollten diese nicht verstehen, wovon die Rede ist. Der Beamte erklärt den Ablauf der Zeremonie, die in die rechtliche Form einer Sitzung des Bezirksgerichts unter Leitung eines Richters oder einer Richterin gegossen ist. Bevor der Richter die Sitzung von einem Gerichtsdiener eröffnen läßt, werden noch allerlei Formulare an jene verteilt, die nach der Einbürgerung sogleich weitergehen wollen auf ihrem Weg ins allamerikanische Leben. Hier ein Antragsformular für den Reisepaß, dort eines für die Eintragung ins Wahlregister. Politische Parteien dürfen am Ort von Einbürgerungszeremonien selbst keine Werbung für sich machen, weil es sich hier um einen Staatsakt handelt, von dem die Parteien ausgeschlossen bleiben. Dafür sind die Parteien außerhalb einer Art Bannmeile um Halle 4 herum um so aktiver: Dort stehen die Freiwilligen der Demokraten ( »John Kerry For President« ) und Republikaner ( »Join The Bush Team« ), und auch die Libertäre Partei ist vertreten ( »Imagine A Better America« ). Sie haben Tische mit allerlei Informationen aufgebaut, verteilen Broschüren, Flugblätter, Zeitungen. Hier gilt es, Wählerpotential auszuschöpfen oder erst noch zu erschließen: Noch ehe aus den »stimmlosen« Immigranten Amerikaner geworden sind, haben die Parteien das Mitspracherecht der künftigen Mitbürger emphatisch anerkannt und werben um dieses immer größer und stärker werdende politische Potential. Inzwischen ist Halle 4 ziemlich voll. Die Plastikstühle sind alle besetzt, und am Seiteneingang, hinter einem Absperrseil, haben schon die Angehörigen der Fast-Amerikaner Aufstellung genommen. Inzwischen ist auch Bezirksrichter David Carter eingetroffen. Der Mann mit den markanten Backenknochen hat heute offenbar einen besonders guten Tag. Noch während der 126
Beamte Wiedensoller seine letzten Anweisungen und Informationen ins Mikrophon spricht, geht Richter Carter mit seinem schwarzen Talar durch die Gänge zwischen den Sitzreihen. Die 21 Angehörigen der Streitkräfte in der ersten Reihe und die Behinderten und Gebrechlichen in ihren Rollstühlen begrüßt er alle mit Handschlag. »Sie werden meine liebsten Bürger sein!« sagt er hier. »Ich freue mich so sehr, daß Sie amerikanische Bürger werden wollen!« ruft er da. »Durch Menschen wie Sie ist Amerika groß geworden!« versichert er dort. Beifall, Jubel, Fähnchenschwenken. »Ich liebe diese Leute!« sagt Richter Carter, der die Halle wie ein Cheerleader bei einer Sportveranstaltung so richtig in Schwung gebracht hat, ehe er auf die Bühne steigt. Man glaubt diesem Mann. Endlich eröffnet ein Gerichtsdiener mit ein paar einleitenden Worten und einem kräftigen Schlag mit dem hölzernen Hammer auf das Rednerpult die Sitzung des Bezirksgerichts. Eine Vertreterin des Ministeriums für Heimatschutz spricht noch einige Worte der Begrüßung, ehe Richter Carter das Wort ergreift. Jetzt gilt es, sich zu erheben, die rechte Hand zum Schwur zu heben, dem Richter die Halbsätze des Treueids Wort für Wort nachzusprechen oder den Text zur Sicherheit auf Seite sechs der Broschüre mitzulesen. Wie beim Vaterunser in der Kirche erfüllt ein tiefes Gemurmel von knapp 3600 Menschen den Saal, wenn die Menge die Worte des Richters nachspricht: »Ich erkläre hiermit unter Eid, daß ich jede Treue und Verpflichtung gegenüber jedwedem fremden Fürsten, Potentaten, Staat oder jedweder Obrigkeit, welchen ich bisher als Untertan oder Bürger unterworfen war, vorbehaltlos und vollständig ablege und dieser abschwöre; daß ich gegen alle inneren und äußeren Feinde die Verfassung und die Gesetze der Vereinigten Staaten von Amerika schützen und verteidigen werde; daß ich diesen in wahrer Treue und Verpflichtung ergeben sein werde; daß ich Waffen tragen werde zum Schutz der Vereinigten Staaten, wenn dies vom Gesetz erfordert wird; daß ich unbewaff127
neten Dienst in den Streitkräften der Vereinigten Staaten leisten werde, wenn dies vom Gesetz erfordert wird; daß ich unter ziviler Führung Arbeit von nationaler Bedeutung leisten werde, wenn dies vom Gesetz erfordert wird; und daß ich diese Verpflichtungen frei, ohne geistigen Vorbehalt und ohne betrügerische Absicht eingehe: So wahr mir Gott helfe.« Jetzt heißt Richter Carter die neuen amerikanischen Staatsbürger willkommen und bittet sie, Platz zu nehmen. Beifall brandet auf, die Fähnchen werden raschelnd geschwenkt, Gemurmel erfüllt den Saal. Dieses erstirbt sogleich, als Richter Carter zu seiner kurzen Rede anhebt. »Wir errichten die höchsten Häuser«, sagt er, »wir heilen Kranke und bauen glitzernde Autos. Aber unsere größte Ressource und Stärke sind unsere Bürger, das sind Sie. Nehmen Sie Ihr Recht wahr, üben Sie Ihre Religion aus und gehen Sie wählen! Denn die wichtigste Freiheit, die Sie genießen, ist die Teilhabe, die Partizipation.« Alle Amerikaner, auch die im Land geborenen, sollten eigentlich diesen Treueeid leisten, wenn sie volljährig werden, fordert Richter Carter. Und er schließt voller Emphase: »Sie sind unsere Zukunft und unsere Gegenwart. Wir sind stolz auf Sie und Ihre Familien!« Rauschender Beifall, Fähnchenschwenken. Als nächstes ergreift Mary-Esther Johnson, die amtierende Leiterin des USCIS-Büros, das Wort und gratuliert den NeuAmerikanern. Auch sie sagt: »Wir sind alle sehr stolz auf Sie!« und zählt die Spitzenreiter unter den Herkunftsländern dieses Tages auf – nach Art einer Hitparade von Platz fünf bis eins. Von den 7130 Frauen und Männern kommen aus der Volksrepublik China 436, das ist der fünfte Rang – es jubeln und klatschen die Chinesen im Saal. An vierter Stelle mit 446 Einbürgerungen liegt der Iran – Beifall und Fähnchenschwenken nun von den Iranern. Drittstärkste Fraktion mit 607 ist die der 128
ehemaligen Filipinos – noch lauter wird der Jubel. An zweiter Stelle liegen die Vietnamesen mit 765 – abermals wird es lauter, diesmal aus der vietnamesischen Fankurve. Doch zum Kochen bringt erst die Zahl 1489 die Halle: Natürlich sind es wieder einmal die Mexikaner, die mit fast 21 Prozent der an diesem Tag Naturalisierten unangefochten den Spitzenplatz einnehmen, und wahrscheinlich jubeln viele Latinos aus anderen Staaten Mittelund Südamerikas mit. Beim Blick auf die Statistik des amtlichen »Nationalitätenreports« dieser Masseneinbürgerung entdeckt man manche historische Absonderlichkeit: Es sind heute Menschen aus Ländern eingebürgert worden, die es nicht mehr gibt – oder noch nicht. Als ehemalige Staatsangehörige der Sowjetunion werden elf Personen vermerkt, aus der Tschechoslowakei kommen drei Eingebürgerte, während Jugoslawien als Herkunftsland von sieben Neu-Amerikanern zu Buche schlägt; aus Palästina, dem künftigen Nachbarstaat Israels, stammen acht Eingebürgerte, während Israel selbst mit immerhin 38 Naturalisierten vertreten ist. Frau Johnson vergißt nicht zu erwähnen, daß auch der Gouverneur »dieses großen Staates Kalifornien« ein Immigrant und naturalisierter Amerikaner ist: Arnold Schwarzenegger, 1947 als Sohn eines Polizisten in Thal bei Graz geboren, kam im Alter von 21 Jahren nach Amerika. Schwarzenegger erhielt 1983 die amerikanische Staatsbürgerschaft. Zwanzig Jahre später, im Oktober 2003, wurde er als Kandidat der Republikanischen Partei in einer Sonderwahl mit deutlicher Mehrheit zum 38. Gouverneur des traditionell von den Demokraten beherrschten »Goldenen Staates« an der Westküste gewählt. Damit trat Schwarzenegger in die Fußstapfen Ronald Reagans, der ebenfalls von der Traumfabrik in Hollywood zur Politik in der Hauptstadt Sacramento aufgestiegen war. Als Gouverneur Kaliforniens von 1967 bis 1975 legte Reagan die Basis für den Einzug ins Weiße Haus im Januar 1981. Dieser Weg bleibt 129
Schwarzenegger freilich versperrt, denn nach Artikel II der Verfassung kann nur ein gebürtiger Amerikaner Präsident werden – vorerst jedenfalls. Schwarzeneggers wichtigster Konkurrent bei der außerplanmäßigen Gouverneurswahl, die ein Volksbegehren zur Abwahl des beim Volk in Ungnade gefallenen amtierenden demokratischen Gouverneurs Gray Davis ermöglicht hatte, war übrigens Davis’ Stellvertreter Cruz Bustamante von den Demokraten. Bustamante ist ein von mexikanischen Einwanderern abstammender »Latino« der zweiten Generation. So stand schon vor den Wahlen vom 7. Oktober 2003 fest, daß ein Einwanderer oder ein Immigrantenkind Regierungschef des mit etwa 34,5 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten amerikanischen Bundesstaates werden würde. Schwarzenegger hielt nach seinem Wahlsieg an dem stellvertretenden Gouverneur fest, sodaß nun die beiden wichtigsten Regierungsposten in Kalifornien von ehemaligen Ausländern besetzt sind. Das ist etwa so, als würden die Wähler in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland Nordrhein-Westfalen einen eingewanderten Indonesier zum Ministerpräsidenten und einen Sohn türkischer Gastarbeiter zu dessen Stellvertreter wählen. Oder die Wähler in Wien als dem Bundesland Österreichs mit den meisten Einwohnern einen Amerikaner zum Bürgermeister und einen naturalisierten Kroaten zu dessen Vize. »Dieses Land ist ein strahlendes Mosaik«, sagt Mary-Esther Johnson, »das aus der Nähe betrachtet wie eine Sammlung einzigartiger bunter Teilchen erscheint. Doch wenn man einen Schritt zurücktritt und das Gesamtbild betrachtet, dann verschmelzen die einzelnen Kacheln zu einer einzigen, erstaunlichen Szene.« Wer einmal eine Münze oder einen Schein in seinem Geldbeutel genauer betrachtet habe, sei mit der lateinischen Formel »Ex pluribus unum« vertraut – eine an diesem Tag und an diesem Ort besonders treffende Beschreibung: »Es bedeutet, daß aus dem Vielen ein Einziges 130
wird. Als Sie in diese Halle eintraten, waren Sie Bürger von 130 Nationen. Wenn Sie von hier fortgehen, werden Sie ein und dasselbe Land repräsentieren: die Vereinigten Staaten von Amerika. Das bedeutet, daß Sie nun die Freiheit haben, ein vollwertiges und aktives Mitglied der erfolgreichsten Demokratie auf dem Erdenrund zu sein.« Es kommen in der Ansprache der leitenden Beamtin, zu dem Zweck von professionellen Redenschreibern verfaßt und mit grandiosen Zitaten von Abraham Lincoln über Winston Churchill bis Walt Disney gespickt, noch mancherlei Superlative vor – wie überhaupt Amerika das Land des kategorischen Superlativs ist. Der robuste Patriotismus, der in Halle 4 des Messegeländes von Pomona County wie auch bei anderen Anlässen in Amerika immer wieder zelebriert wird, mag für den Geschmack vieler Europäer stark überzuckert sein. Aber es bedarf dieses Kitts einer »säkularen Religion«, um ein politisch, sozial, kulturell, ethnisch und konfessionell so vielfältiges und auch widersprüchliches Gemeinwesen zusammenzuhalten. Der amerikanische Patriotismus und Nationalismus hat deutlich religiöse Züge, vom täglich in den Schulen geleisteten Fahneneid über den Flaggenkult bis zur wiederum kultischen Verehrung der »Ursprungsschriften«. Zu der Einheit in der Vielfalt gehört auch der nichtsäkulare, der religiöse Glaube. Daß bei der Zeremonie zur Masseneinbürgerung in der Treueverpflichtung wie später auch im Fahneneid »Gott« angerufen wird, schränkt diesen nicht auf den Gott der christlichen Mehrheit in Amerika ein. Gewiß sind die Vereinigten Staaten ein christlich geprägtes Gemeinwesen, mit einem Anteil von 84 bis 88 Prozent Christen an der Gesamtbevölkerung – gut zwei Drittel Protestanten, ein knappes Viertel Katholiken. Weil die Freiheit zur Religion und nicht von der Religion aber zum Gründungsvertrag Amerikas gehört, ist die religiöse Toleranz in diesem im Vergleich zu anderen Industrienationen so außergewöhnlich religiösen Land besonders ausgeprägt. Der Gott, von dem im 131
Fahneneid, auf den Geldscheinen und -münzen sowie anderswo die Rede ist, mag zwar nach Ansicht der christlichen Mehrheit der Gott der Christen sein. Aber es kann nach Überzeugung jedes einzelnen Teilchens im Mosaik auch ein anderer sein – ein Gott der Muslime oder der Juden, eine Gottheit der Hindus, der Buddhisten oder anderer Religionen, die an diesem Tage in Halle 4 vertreten sein mögen. Weil das amerikanische Volk sich nicht in erster Linie als Geburtsgemeinschaft versteht, sondern als Kollektiv von Einwanderern, ist die Nationswerdung ein Willensakt, der immer wieder beschworen werden muß. Deshalb allenthalben die vielen Nationalflaggen – an der Garageneinfahrt, an der Tankstelle und vor dem Supermarkt, auf dem T-Shirt und als Krawattenaufdruck, als Aufkleber und als Aufdruck auf allerlei Accessoires. Ausfluß des Bewußtseins von der Einwanderergesellschaft ist auch das »jus solis«, das Recht des Bodens, wonach Amerikaner ist, wer auf amerikanischem Boden geboren wird – gleichviel woher die Eltern kommen, ob sie legal im Lande sind oder nicht, ob sie seit Jahren in Amerika leben oder ob sie Tagesausflügler sind. Wer in Amerika zur Welt kommt, gehört dazu. In den meisten Staaten Europas – Frankreich ist die wichtigste Ausnahme – findet im Staatsbürgerrecht dagegen das »jus sanguinis«, das Recht des Blutes, Anwendung, wonach jeweils vor allem die Abstammung über die Zugehörigkeit zu einer Nation entscheidet und nicht der Ort der Geburt. Mit dem neuen deutschen Staatsbürgerschaftsrecht, das Anfang 2000 in Kraft trat, wird das jus sanguinis aufgeweicht, zugleich werden Elemente des jus solis eingeführt. So erhalten in Deutschland geborene Kinder von Ausländern, die seit acht Jahren in Deutschland leben und arbeiten, jetzt einen deutschen Paß, auch wenn ihre Eltern (noch) keine Deutschen sind. Von 15 Jahren auf acht Jahre wurde auch die Mindestaufenthaltszeit für Einwanderer in Deutschland reduziert, um die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen zu können. Vergleichbare Regelungen 132
gibt es auch in anderen Staaten der EU, in Dänemark, Großbritannien (seit der Reform des Staatsbürgerrechts unter der konservativen Regierung Margaret Thatchers von 1981), den Niederlanden und in Österreich. Selbst in Frankreich, dem Vaterland der Republik, wurde 1993 das jus solis durch das jus sanguinis abgelöst, ehe 1998 eine Rückkehr zum jus solis beschlossen wurde. Und auch die Iren, lange Jahre noch vor den Franzosen die entschiedensten Vertreter des reinen Bodenrechts, stimmten bei einem Verfassungsreferendum am Tag der Europawahl vom 13. Juni 2004 mit etwa vier Fünfteln aller Stimmen für die Abschaffung des in der irischen Verfassung festgeschriebenen jus solis. Damit gilt in den 25 Staaten der Europäischen Union fast flächendeckend das jus sanguinis oder allenfalls ein stark eingeschränktes jus solis. Während in den »blutgeborenen« Nationalstaaten Europas der Zugang zur Staatsangehörigkeit durch eine schmale Pforte der »Volkszugehörigkeit« und einer zudem stark reglementierten Einwanderung führt, steht in den »willensgeborenen« Vereinigten Staaten von Amerika das Tor zur Nationalität weit offen – für die dort Geborenen aus aller Herren Länder sowie für die Immigranten, von denen selbst die Millionen illegalen nach einer gewissen Anstandsfrist mit der Legalisierung ihres Status rechnen können. Das jus sanguinis findet in den Vereinigten Staaten nur dann Anwendung, wenn Kinder von amerikanischen Staatsangehörigen außer Landes geboren werden: Diese sind selbstredend auch dann Amerikaner, wenn sie nicht auf dem amerikanischem Boden geboren werden. Die Streitkräfte der Vereinigten Staaten aber sind das Spiegelbild und das Leuchtfeuer dieser Gesellschaft, und so erfahren die fast vier Dutzend Soldatinnen und Soldaten, die jetzt Amerikaner geworden sind, bei der Einbürgerungszeremonie eine besondere Ehrung. Sie werden einzeln aufgerufen, erheben sich von ihren Stühlen in der ersten Reihe, gehen einige Schritte in Richtung Bühne, wenden sich an ihre Mitbürger, die zu schützen 133
sie sich verpflichtet haben, verschränken die Arme auf dem Rücken. Ihr Name wird verlesen, dazu Waffengattung und Rang sowie ihr Herkunftsland – jeweils etwa ein Viertel stammt aus Mexiko und von den Philippinen, viele Nicaraguaner sind heute dabei, dazu Vietnamesen, Kambodschaner, einige Schwarzafrikaner aus Nigeria und Sierra Leone sowie schließlich ein Japaner, ein Kanadier und ein Russe. Beifall, Fähnchenschwenken. »Ich hoffe, Sie werden stets voll Patriotismus und mit großem Stolz auf diesen Tag zurückblicken«, schließt Mary-Esther Johnson, ehe sie das Wort an Präsident George W. Bush übergibt, der sich mit einer auf Video aufgezeichneten Botschaft an seine »lieben amerikanischen Mitbürger« wendet. Die Videoansprache des Präsidenten ist eine Neuerung, die unter George W. Bush in die Liturgie der Einbürgerungszeremonien aufgenommen wurde, und man kann sicher sein, daß es sich künftig kein Präsident mehr wird nehmen lassen, sich auf diese Weise an seine neuen Mitbürger (und potentiellen Wähler) zu wenden. Die Hallenbeleuchtung wird gelöscht, auf der großen Projektionsleinwand erscheint der Präsident an seinem Schreibtisch im Oval Office, im Hintergrund die amerikanische Fahne. »Ich freue mich, Ihnen zur amerikanischen Staatsbürgerschaft gratulieren zu können. Sie sind jetzt Teil einer großen und gesegneten Nation«, sagt der Präsident. »Unser Land wurde noch nie durch Blut oder Geburt oder Boden geeint. Vielmehr sind wir durch Grundsätze vereint, die uns über unseren Hintergrund und unsere Interessen erheben und uns lehren, was es heißt, ein Bürger zu sein. Jeder Bürger muß diese Ideale aufrechterhalten. Und jeder neue Bürger macht dieses Land, indem er sich zu diesen Idealen bekennt, mehr und nicht weniger amerikanisch.« Es folgt die Aufforderung, der »neuen Nation zu dienen, beginnend mit Ihrem Nachbarn«, denn »was Sie tun, ist so wichtig wie alles, was die Regierung tun kann«. Und er schließt mit den Worten: »Willkommen zur Freude, zur Verantwortung und zur Freiheit 134
der amerikanischen Staatsbürgerschaft. Gott segne Sie, und Gott segne Amerika!« Auf die gesetzten Worte des Präsidenten folgen zwei musikalische Darbietungen: die Nationalhymne, a capella gesungen von der USCIS-Büroangestellten Maria Hernandez unter vollem Einsatz ihres üppigen Resonanzkörpers, und schließlich noch der Gassenhauer »God Bless the USA« des Country-WesternStars Lee Greenwood als Musikvideo. Als ob sie es schon hundertmal geübt hätten, erheben sich die rund 3500 frischgebackenen amerikanischen Bürger von ihren Klappstühlen, legen die rechte Hand aufs Herz und lauschen dem »Star-Spangled Banner«. Einige Taschentücher werden schon jetzt benötigt, doch richtig feucht wird es erst beim Greenwood-Musikvideo. Es zeigt die Ikonen amerikanischer Naturschönheit, vom Grand Canyon über die Niagara-Fälle bis zum Monument Valley, dazu die Freiheitsstatue in New York und die Golden Gate Bridge in San Francisco und schließlich viele lachende Amerikaner jeden Alters und aller Hautfarben und Rassen. »Wenn ich morgen alles verlöre, wofür ich mein Leben lang gearbeitet habe«, singt Greenwood mit seinem hellen Bariton, »und ich müßte wieder von vorne beginnen, allein mit meinen Kindern und meiner Frau, so würde ich dennoch meinem Schicksal danken, daß ich in diesem Land leben kann.« Es folgen noch drei weitere Strophen, in welchen Greenwood die Seen von Minnesota und die Hügel von Tennessee besingt, und den Stolz auf all dies, der in jedem amerikanischen Herzen wohne. Und am Ende tobt die Halle. Vielleicht liegt es an der eingängigen Melodie, vielleicht am treibenden Rhythmus, vielleicht an den suggestiven Bildern des Videos, vielleicht auch einfach nur an der Lautstärke, daß die Begeisterung und das Fähnchenschwenken jetzt ausgelassener sind als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt der Einbürgerungszeremonie. Oder auch daran, daß die Veranstaltung sich langsam dem Ende zuneigt. Der Gerichtsdiener beendet die Sitzung 135
des Distriktsgerichts mit einem weiteren Schlag mit seinem Hämmerchen auf das Rednerpult, Richter Carter winkt zum Abschied noch einmal seinen neuen Landsleuten zu. Der entschlossen inszenierte Turbo-Patriotismus und die allamerikanische Umarmung der Neuankömmlinge mit Präsidentengruß, Fahneneid und Nationalhymne mögen vielleicht nicht bei jedem der soeben Naturalisierten den inneren Resonanzboden zum Schwingen bringen. Aber man glaubt doch eine Art Ergriffenheit in der Halle zu verspüren, der man sich auch als unbeteiligter Beobachter nicht leichtfertig lächelnd entziehen kann. Wenn Tausende fähnchenschwingender Menschen aus allen Ecken und Enden dieser Welt so inbrünstig danach streben, mit allen Rechten und Pflichten ins gelobte Land eingelassen zu werden, und wenn sie, nachdem das Ziel endlich erreicht ist, auch noch aufs herzlichste aufgenommen werden, wie soll man da nicht selber ein merkwürdiges Ziehen im Innern verspüren, auch einmal ein Teil dieses auserwählten Kollektivs zu werden? Von Masseneinbürgerungen wie diesen geht ein klares Signal aus: Amerika will wachsen, und deshalb wächst Amerika. Amerika wächst von innen her, durch einen für Industriestaaten fast einzigartigen Geburtenüberschuß, und von außen durch die beispiellose Einwanderung. Zur Grundausstattung geostrategischen und außenpolitischen Denkens gehört in den Vereinigten Staaten seit je die Erkenntnis, daß man stark und groß sein muß, daß man auch wachsen muß, um seine Sicherheitsinteressen, seinen politischen und wirtschaftlichen Willen in einer komplexen, interdependenten Welt durchzusetzen. Die Kenntnis wesentlicher Tatsachen der demographischen Entwicklung ist so etwas wie die Eintrittskarte zu einer sinnvollen außen-, sicherheits-, und wirtschaftspolitischen Debatte. In Europa, vor allem in Deutschland, wurde die Bedeutung demographischer Prognosen für eine ernsthafte strategische und politische Debatte wie üblich stark verspätet entdeckt. Und als die von der 136
Fachwissenschaft seit langem diskutierten Erkenntnisse und Voraussagen sowie deren Folgen etwa für das Sozialsystem für eine breitere Debatte entdeckt wurden, wurde daraus oft genug eine Art intellektueller Folklore gemacht. Dieser geht es darum, mittels alarmistischer Pauschalierungen wie der Rede von einem globalen »Methusalem-Komplott« ein möglichst lautes Geräusch zu erzeugen, statt mit einer differenzierten Darstellung etwa die unterschiedlichen Entwicklungen in Europa, in den Vereinigten Staaten und in Staaten der muslimisch-arabischen Welt darzustellen. Auf die Frage, welches die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt sind, dürfte kaum jemand um die richtige Antwort verlegen sein: Es sind China und Indien mit 1,29 und 1,06 Milliarden Einwohnern (alle Angaben zu Bevölkerungszahlen Stand Juni 2004). Daß auf dem dritten Rang – noch deutlich vor Indonesien mit 238 Millionen und Brasilien mit 184 Millionen – schon die Vereinigten Staaten mit einer Population von mehr als 290 Millionen Menschen liegen, scheint dagegen weniger evident. Diese Plazierung ist umso überraschender, als unter den neun Ländern mit jeweils mehr als 130 Millionen Einwohnern – auf Brasilien folgen Pakistan (159 Millionen), Rußland (143 Millionen), Bangladesh (141 Millionen) und Nigeria (137 Millionen) – nur die Vereinigten Staaten zur Gruppe der reichen Länder gehören. Projektionen der Bevölkerungsentwicklung bis zum Jahre 2020 sehen voraus, daß sich an den ersten vier Positionen nichts ändern wird – mit deutlichen Wachstumsraten für die vier Erstplazierten, einschließlich der Vereinigten Staaten. Rußland wird dagegen mit einer auf unter 130 Millionen Menschen schrumpfenden Bevölkerung auf den neunten Rang zurückfallen, während Nigeria mit dann 184 Millionen Einwohnern auf dem achten Platz liegen wird. Zudem wird erwartet, daß Pakistan mit dann 228 Millionen Einwohnern Brasilien mit 210 Millionen Einwohnern vom fünften Platz verdrängt haben wird. 137
Bis 2050 wird die Einwohnerzahl der Vereinigten Staaten zwischen 400 und 550 Millionen liegen. Das entspräche ungefähr einer Verdreifachung der Bevölkerung binnen eines Jahrhunderts. Damals, 1950, hatten die Vereinigten Staaten mit 150 Millionen Einwohnern ziemlich genau halb so viele Einwohner wie die Staaten West- und Nordeuropas diesseits des Eisernen Vorhangs mit zusammen etwa 300 Millionen Einwohnern. Zwischen 2030 und 2040, also in etwa einer Generation, dürften die Vereinigten Staaten mehr Einwohner haben als die selbst um die Reformländer Mittel- und Osteuropas erweiterte EU. Die Einwohnerzahl der EU der 15 Mitgliedstaaten lag im Mai 2004, also zum Zeitpunkt der Erweiterung um die zehn Beitrittsstaaten aus Mittel- und Osteuropa, bei 379,5 Millionen; die etwa 74,5 Millionen Einwohner der zehn neuen Mitgliedstaaten hinzugerechnet, kam die erweiterte EU auf 454 Millionen. Bis 2050 dürfte sich die Einwohnerzahl nach Schätzungen amerikanischer Demographen in der alten EU auf etwa 350 Millionen reduziert haben, mit weiterhin fallender Tendenz. Da auch in fast allen neuen Mitgliedstaaten kein nennenswertes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen ist, dürfte es beim negativen Trend in Europa bleiben, der allenfalls durch eine massive Einwanderung gebremst werden kann. Ein Unsicherheitsfaktor in den Berechnungen bleibt daher die Einwanderungspolitik in den Staaten der EU. Sollte es zu einer radikalen Änderung dieser bisher recht restriktiven Politik und damit zu einem deutlichen Anstieg der Immigration kommen – was angesichts der politischen Debatten in Europa wenig wahrscheinlich ist –, könnte der Schrumpfungsprozeß gebremst werden. Die Prognosen der vergangenen Jahre haben aber gezeigt, daß die Bevölkerung in den Vereinigten Staaten rascher als erwartet zunahm, während in den meisten Staaten Europas der Rückgang stärker war als vorausgesagt. 1990 nahm die amerikanische Zensusbehörde in ihrem mittleren Schätzungsszenario ein Bevölkerungswachstum auf 275 Millionen bis zum Jahr 2000 138
an. Die beim Zensus vom April 2000 ermittelte Zahl lag jedoch bei 282 Millionen und damit sogar höher als beim Schätzungsszenario mit der höchsten angenommenen Wachstumsrate. Drei Jahre später, so ergab eine Schätzung von Juni 2004, hatte die Einwohnerzahl der Vereinigten Staaten die Grenze von 290 Millionen überschritten und steuerte weiter auf die 300Millionen-Marke zu. Die Wachstumsrate zwischen April 2000 und Juli 2003 lag bei drei Prozent. Weit überdurchschnittlich um 13 beziehungsweise 12,6 Prozentpunkte wuchs die Zahl der hispanischen und asiatischen Amerikaner. Von den 290,8 Millionen Einwohner der Vereinigten Staaten sind inzwischen 39,9 Millionen hispanische »Latinos«, die Zahl der asiatischen Amerikaner liegt bei 11,9 Millionen. Auch die Zahl der Schwarzen nahm zu, um knapp vier Prozent auf jetzt 37,1 Millionen, während die nichthispanischen Weißen eine Wachstumsrate von einem Prozent verzeichneten und mit 197,3 Millionen noch immer die größte Bevölkerungsgruppe stellen. Etwa um die Jahrhundertmitte dürfte die Zahl der Weißen und aller Minderheiten zusammengenommen gleich groß sein. Besonders hervorgehoben wurde in der Schätzung, daß die zumal dank Einwanderung, aber auch wegen einer höheren Geburtenrate am schnellsten wachsenden Volksgruppen der »Latinos« und der Asiaten in fast allen Bundesstaaten ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung vergrößerten und nicht nur in traditionellen Immigrationsregionen wie Los Angeles oder New York. Das Durchschnittsalter der Weißen lag bei 40 Jahren, bei den asiatischen Amerikanern bei 34 Jahren. Die schwarze Bevölkerung war durchschnittlich 31 Jahre alt, während die »Latinos« mit 27 Jahren im Durchschnitt die jüngsten waren. 34 Prozent der Latinos in den Vereinigten Staaten waren im Juli 2003 jünger als 18 Jahre, während dieser Anteil bei den Weißen bei nur 22 Prozent lag. Dafür wies die weiße Mehrheitsbevölkerung mit 15 Prozent dreimal soviel Personen über 65 Jahre auf als die Latinos. 139
Die wahrscheinlichen gesellschaftlichen Auswirkungen dieser unterschiedlichen demographischen Entwicklungen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten sollen im folgenden anhand dreier Stichworte durchbuchstabiert werden: Amerika wächst, Europa schrumpft; Amerika bleibt relativ jung, Europa altert rapide; Amerika bekräftigt seinen multikulturellen Patriotismus, Europas Identitätskrise verschärft sich. Das robuste Bevölkerungswachstum der Vereinigten Staaten speist sich, wie gesehen, aus zwei Quellen: aus der im Vergleich zu anderen hochentwickelten Staaten hohen Fertilität und aus der ungebremsten, ja beschleunigten Einwanderung. Die hohe Fertilität in Amerika erklärt sich nicht nur dadurch, daß die eingewanderten Latinos gewissermaßen die Sozialstrukturen ihrer Herkunftsländer und damit einen beträchtlichen Geburtenüberschuß nach Amerika importiert haben. Es ist auch seit etwa zehn Jahren unter der weißen Mehrheitsbevölkerung eine Trendwende zu beobachten, die in den alten und den neuen Staaten der EU noch nicht in Sicht ist. Seit Anfang der sechziger Jahre ging in den Vereinigten Staaten die Fertilitätsrate, also die durchschnittliche Kinderzahl pro statistischer Frau, von einem Wert knapp unterhalb der Reproduktionsgrenze von 2,1 kontinuierlich zurück. Die Reproduktionsgrenze bezeichnet die statistische Zahl von Kindern pro Frau, die zum Erhalt einer stabilen Population nicht unterschritten werden darf. Bis Mitte der achtziger Jahre fiel die Fertilitätsrate in Amerika auf einen Wert von 1,8 und lag damit sogar etwas unter dem Durchschnittswert von knapp 2,0 der europäischen Staaten diesseits des Eisernen Vorhangs. Seither aber ist die Zahl der Kinder pro Frau in den Vereinigten Staaten wieder deutlich angestiegen und liegt jetzt bei knapp 2,1. Dagegen sinkt die Fertilität in fast allen Staaten Europas – und zwar sowohl im Westen wie im Osten des Kontinents – weiter stetig. In Frankreich liegt die Rate mit gut 1,8 noch an der Obergrenze des Spektrums, während Italien und Spanien mit einer Fertilitätsrate von jeweils unter 1,3 am 140
Ende der Tabelle liegen. Deutschland befindet sich mit einer Fertilitätsrate von knapp 1,5 im Mittelfeld. Ohne Einwanderung würde die Bevölkerung in der EU seit Jahren schrumpfen. Bei den neuen EU-Mitgliedern in Mittel- und Osteuropa ist das Bild nicht anders. In der Tschechischen Republik bringt eine Frau durchschnittlich weniger als 1,2 Kinder zur Welt, in Slowenien nur knapp darüber; in Ungarn und in der Slowakei sind es jeweils 1,3 und in Polen knapp 1,4. Der Wiederanstieg der Geburtenzahlen in den Vereinigten Staaten ist ein bemerkenswerter Sonderfall, der bisher in keiner anderen hochentwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft zu beobachten ist. Nach einer Art demographischem Grundgesetz geht die Fertilitätsrate in Schüben zurück, wenn in einer armen, unterentwickelten Gesellschaft immer mehr Frauen lesen und schreiben lernen und wenn in einer reichen, entwickelten Gesellschaft immer mehr Frauen ins Berufsleben eintreten, statt an ihrer traditionellen Rolle als Hausfrau und Mutter festzuhalten. Man kann also eine klare Korrelation zwischen dem Stand der gesellschaftlichen Modernisierung sowie der Emanzipation von Frauen und dem Rückgang der Geburtenrate feststellen. Die sinkende Fertilitätsrate in den Vereinigten Staaten von Anfang der sechziger bis Mitte der achtziger Jahre gehorcht diesem Grundgesetz, weil in jener Zeit – um ein Jahrzehnt oder anderthalb früher als in Europa – der Anteil gut ausgebildeter Frauen in der Berufswelt deutlich zunahm. Weil berufstätige Frauen den Kinderwunsch gegenüber der Karriere hintanstellen oder verschieben, sinkt die Zahl der Geburten. Eine Wiederzunahme der Geburtenrate nach einigen Jahren dürfte damit zusammenhängen, daß die verspäteten Kinder sich schließlich in der Statistik niederschlagen und daß nach einer »Trainingsphase« mehr Frauen (und vielleicht auch ihre Männer) Wege finden, Beruf und Familie zu verbinden. Möglicherweise wird es auch in einigen Staaten der EU aus diesen Gründen zu einem leichten Wiederanstieg der Geburten141
raten kommen. Doch ein Anstieg der Fertilitätsrate bis an oder gar über die Reproduktionsgrenze von 2,1 ist so gut wie ausgeschlossen – sieht man vom Sonderfall Frankreich ab, der noch genauer zu erklären sein wird. Obwohl in den Vereinigten Staaten weder die Bestimmungen des Mutterschutzes noch die staatlichen Beihilfen für Kindererziehung mit jenen in den meisten Staaten der EU zu vergleichen sind, werden in Amerika mehr Kinder geboren – auch in den Familien der Mittelklasse, zu deren globaler Kultur die Beschränkung auf zwei Kinder gehört. Die amerikanische Gesellschaft ist – oder gibt sich – dynamischer, sie ist mobiler und hat ein robusteres Wirtschaftswachstum als die meisten europäischen Staaten. Und sie ist von einem Geist des Optimismus, von einer Mentalität des »can do« beseelt, die den meisten europäischen Gesellschaften fremd sind. Vertrauen in die Zukunft, in die persönliche und in jene des Gemeinwesens, dem man sich zugehörig fühlt, führt rascher zu steigenden Geburtenraten, als es allerlei staatliche Gratifikationen in einer an ihrer eigenen Identität und an ihrer Zukunft zweifelnden Gesellschaft erreichen können. Das symbolische Kapital gesunden Nationalstolzes und kollektiven Selbstvertrauens wirft offenbar mehr greifbare Zinsen in Form von Babys ab als nur das Versprechen von Kindergeld und Erziehungsurlaub. Eine Gesellschaft, die beides hätte und sich leisten könnte, wäre bestimmt die vitalste. Auch die zweite wesentliche Wachstumsquelle, die Einwanderung, führt den Vereinigten Staaten relativ mehr Einwohner zu als den Staaten Europas. Allein in den neunziger Jahren strömten mehr als elf Millionen Immigranten in die Vereinigten Staaten, weit mehr als in den achtziger Jahren mit sieben Millionen und in den siebziger Jahren mit sechs Millionen Einwanderern. Zwar verzeichneten die Länder Europas von Mitte der achtziger bis Mitte der neunziger Jahre zusammen und in absoluten Zahlen mehr Einwanderer als Amerika. Doch 142
seither sind die Einwandererzahlen in den Ländern der EU wieder gesunken, meist wegen restriktiverer Einwanderungsgesetze, während der Zustrom nach Amerika ungebremst ist. Insgesamt haben die Staaten der EU seit etwa 1950 deutlich weniger Einwanderer aufgenommen als Amerika, und die meisten Demographen sind der Überzeugung, daß es bei diesem Trend bleiben wird. Daran dürften auch die händeringenden Aufrufe von EUErweiterungskommissar Günter Verheugen nichts ändern, der bei jeder Gelegenheit anprangert, daß »Politiker im allgemeinen nicht den Mut haben zu sagen, daß wir eine geregelte Einwanderung brauchen. Andernfalls werden wir das Niveau unseres Wohlstands nicht halten können.« Doch zur Immigration gehört auch die Integration, das Recht zur Partizipation nicht nur am wirtschaftlichen, sondern auch am politischen Prozeß. Die bestehenden Einwanderer- und Einbürgerungsgesetze in den Staaten der EU halten die Barrieren vor der Immigration und der Naturalisation aber weiter sehr hoch, und jeder Versuch, die Hürden abzubauen, kann einen weitsichtigen Politiker viele Stimmen oder gar die Macht kosten. Mit Warnungen vor einer »Einwandererschwemme«, vor »Überfremdung« und vor dem Verlust ohnedies knapper Arbeitsplätze an Immigranten haben populistische Parteien in vielen europäischen Staaten schon beträchtliche Wahlerfolge errungen. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament vom 13. Juni 2004 waren die europaskeptischen nationalen Populisten auch fast so stark wie jene Europa-Skeptiker, die gar nicht erst zur Wahl gingen. Vieles spricht dafür, daß zu Zeiten wachsenden Unbehagens an der Euro-Bürokratie, welche an der nationalen Souveränität und Identität der einzelnen EU-Mitgliedstaaten nagt, die strukturellen Probleme ungelöst bleiben. So müßten in einem zunehmend vernetzten europäischen Binnenmarkt auf Fragen nach der Regelung der Einwanderung, der Alterssicherung oder der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eigentlich Antworten auf 143
europäischer Ebene gefunden werden. Doch gerade bei so sensiblen Themen wie Einwanderung beharren die nationalen Regierungen ganz besonders auf ihrer eigenen Entscheidungsmacht. Im Bundestag und Bundesrat in Berlin sowie in der öffentlichen Debatte dauerte der Streit um eine gesetzliche Regelung für die Migration nach Deutschland an der Schwelle zum 21. Jahrhundert schier unendlich lange. Nach der aktiven Anwerbung von Gastarbeitern aus Italien, Jugoslawien, Spanien, Portugal, später der Türkei zur hohen Zeit des Wirtschaftswunders Anfang der sechziger Jahre kam es im November 1973 zum sogenannten »Anwerbestopp«, weil keine freien Arbeitsplätze mehr zu füllen waren. Doch die Gastarbeiter kehrten nicht alle sogleich in ihre Heimatländer zurück, sondern holten im Gegenteil noch Angehörige nach. Von 1954 bis 1999 wanderten 30,4 Millionen Ausländer und Deutsche aus den ehemals deutschen Siedlungsgebieten in Mittel- und Osteuropa nach Deutschland ein. 23,5 Millionen Ausländer und Deutsche verließen aber auch die Bundesrepublik. Mehr als drei Viertel der Ausländer, die von 1954 bis 1999 nach Deutschland eingewandert sind, haben Deutschland wieder verlassen. Der seit Mitte der fünfziger Jahre verzeichnete Nettozuwachs liegt dennoch bei knapp neun Millionen Menschen: 6,7 Millionen Ausländer und 2,3 Millionen Deutsche, unter ihnen vor allem die sogenannten Spätaussiedler aus Mittel- und Osteuropa sowie aus der ehemaligen Sowjetunion. Dennoch wurde die empirisch falsche Parole »Deutschland ist kein Einwanderungsland!« immer wieder als politisches Totschlagargument in jeder Debatte über die Regulierung der Einwanderung nach Deutschland hervorgeholt – und manche Wahl wurde damit gewonnen. Die erwähnte Reform des Staatsbürgerschaftsrechts von 2000 und der im Sommer 2004 erreichte Kompromiß über ein neues Zuwanderungsgesetz sind Zeichen, daß in Deutschland die 144
Debatte und die Gesetzgebung über Immigration und Bevölkerungsentwicklung endlich in der Wirklichkeit angekommen sind. Im Jahr des Inkrafttretens des neuen Staatsbürgerschaftsrechts gab es mit 186700 Naturalisierungen so viele Einbürgerungen wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. In den Jahren 2001 bis 2003 ging die Zahl von 178000 über 155000 auf zuletzt 141000 zurück, weil der »Antragsstau« allmählich abgebaut ist. Auch im Streit um die Einwanderung beginnt sich ein Paradigmenwechsel zu vollziehen, nachdem Demographen und Wirtschaftsführer seit langem vor zu wenigen statt zu vielen Einwanderern gewarnt haben. Um mittelfristig genügend Facharbeiter für offene Arbeitsplätze finden zu können, brauche man Immigration, heißt es von den Wirtschaftsverbänden. Und die Migrationsberichte der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung seit 1999 zeigen, daß die Zahl der Zuzüge nach Deutschland seit 1992 stetig gesunken ist. Im Jahre 1998 hat es sogar mehr Fortzüge aus (639000) als Zuzüge nach Deutschland (605000) gegeben. Bis sich die Bestimmungen des neuen deutschen Zuwanderungsgesetzes von 2004, eines komplexen Kompromisses über die Lenkung und Beschränkung der Immigration nach Deutschland, in einem erkennbaren Bevölkerungswachstum niederschlagen, kann es noch Jahre dauern. Wie umstritten der Gegenstand »Einwanderung« nach wie vor ist, zeigt die oft verbissen geführte Debatte um »Multi-Kulti« gegen »Leitkultur«: Wieviel Vielfältigkeit, wieviel Differenz der Sprachen, Kulturen, Religion erträgt die deutsche Gesellschaft oder wieviel Assimilationsleistung und Identitätsverzicht muß von den Einwanderern verlangt werden? Daß in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit und der Sorge vor dem Verlust der nationalen Souveränität und Identität die Debatte über Einwanderung emotional aufgeladen ist, zeigen auch die bisher unbegründeten Ängste vor einer Schwemme billiger und anspruchsloser Arbeitskräfte aus den neuen Beitrittsländern. 145
Bei jeder Erweiterungsrunde der EU, zumal der letzten vom 1. Mai 2004 um die zehn neuen Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa, hat es Angstschübe vor der »Schwemme« von Einwanderern gegeben. Vor allem auf Druck Deutschlands wurde sogar erreicht, daß bei den Verhandlungen mit den Beitrittskandidaten Polen, Tschechische Republik und Ungarn Übergangsfristen gesetzt wurden, während welcher die Bürger der neuen Mitgliedsländer noch nicht die volle Niederlassungsfreiheit und das Recht auf Arbeitssuche in allen EU-Staaten genießen. Als 1989 die Berliner Mauer und der Eiserne Vorhang fielen, gab es vereinzelt Prognosen, daß bis zu 25 Millionen Arbeiter in den Westen des Kontinents strömen würden. Nach Erhebungen der International Organization for Migration (IOM) übersiedelten aber allenfalls etwa 850000 Migranten aus den Staaten Mittel- und Osteuropas nach Westeuropa. Die IOM schätzt, daß jährlich etwa 300000 Arbeiter, vor allem Saisonarbeiter, aus den zehn neuen Mitgliedstaaten in die »alten« EU-Länder kommen werden. Die Mehrzahl dürfte wieder in ihre Heimatländer zurückkehren, die wenigsten werden Haus und Habe aufgeben, um ein neues Leben in der Fremde zu beginnen. In jedem Fall dürften die Auswirkungen auf die »alte« EU mit ihren knapp 380 Millionen Einwohnern gering sein, eine nennenswerte Bevölkerungsverschiebung wird nicht erwartet. Erst allmählich sickert aber die von Wirtschaftsverbänden, etwa dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), und auch von der Expertenkommission der Bundesregierung unter Führung der früheren Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth verbreitete Erkenntnis ins Bewußtsein der Bevölkerung und der politisch Verantwortlichen, daß die Wirtschaft auf Einwanderung angewiesen ist. Mittel- und langfristig könnte der Mangel an Fachkräften zum Haupthindernis der Entwicklung der deutschen Wirtschaft werden, warnt BDI-Präsident Michael Rogowski seit längerem. Und auch die im September 2000 vom 146
Innenministerium eingesetzte Süssmuth-Kommission kam in ihrem im Juli 2001 vorgestellten Bericht zu der schon damals nicht mehr wirklich originellen Einsicht, daß Deutschland de facto seit mehr als vier Jahrzehnten ein Einwanderungsland sei und auch künftig Zuwanderung brauche. Und zwar nach Ansicht von Demographen und Wirtschaftswissenschaftlern, die von der Kommission mit der Erstellung von Gutachten beauftragt worden waren, in einem Umfang von 300000 bis 500000 Menschen jährlich. Als politisch »wünschbar« wurde aber ein Nettozuwachs von jährlich 50000 Zuwanderern ins Auge gefaßt. Daß der »Anwerbestopp« von Ausländern aus der Zeit der Ölkrise von 1973 faktisch noch drei Jahrzehnte später in Kraft war; daß eine Unterschriftenaktion gegen die von der rot-grünen Regierung geplante doppelte Staatsbürgerschaft für Ausländer ein wesentlicher Grund für den überraschenden Sieg des CDUPolitikers Roland Koch bei den Landtagswahlen von 1999 in Hessen war; daß die mit viel Aplomb begonnene »Green-CardAktion« aus dem Jahr 2000 zur Anwerbung von fehlenden Fachkräften in der datenverarbeitenden Industrie ein nur mäßiger Erfolg war, weil die Software-Experten nur für fünf Jahre in Deutschland sollten bleiben dürfen und der Bundesrepublik in der Welt ohnedies der Ruf vorauseilt, für Ausländer ein unwirtliches Land zu sein; daß es Jahre brauchte, bis sich die politischen Parteien auf ein Zuwanderungsgesetz einigen konnten – dies alles sind Zeichen, daß der Paradigmenwechsel in der Bevölkerungs- und Einwanderungspolitik in Deutschland mehr postuliert als vollzogen ist. Weil in den maßgeblichen Staaten der EU die Situation im wesentlichen die gleiche und eine gesamteuropäische Initiative höchst unwahrscheinlich ist, spricht allerdings wenig für eine baldige Trendumkehr beim allgemeinen Schrumpfungsprozeß. Der zweite Vergleichsaspekt, die Alterung der Gesellschaft, ist in Europa und vor allem in Deutschland jüngst zum Modethema 147
geworden – mit all den üblichen Nebenwirkungen schaurigapokalyptischer Feuilletonproduktionen. Umstandslos wird etwa in dem Buch »Das Methusalem-Komplott« der globale »Krieg der Generationen« ausgerufen und sogar das Phänomen des radikal-islamischen Terrorismus als Ausfluß des Konflikts zwischen Alten und Jungen beschrieben: »Die aus SaudiArabien stammenden Gefolgsleute Bin Ladins reden über ihr Land nicht anders, als die Achtundsechziger einst über das ihre redeten.« Wahr ist, daß es nach den Modellrechnungen der meisten Demographen in den Staaten der EU zum Doppeleffekt der Schrumpfung und der Alterung der Bevölkerung kommen wird. Diese Entwicklung wird in den kommenden Jahrzehnten die schon jetzt strapazierten umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme weiter belasten und an den Rand des Zusammenbruchs bringen, wenn sie nicht entschlossen reformiert und umgebaut werden. In Deutschland, wo die Steuern und Lohnnebenkosten mit am höchsten in der ganzen Welt sind, betragen die Ausgaben für die Renten schon heute 33 Prozent aller Ausgaben des Staates und 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts; im Jahre 2040 dürften die Kosten für die Rentenzahlungen so hoch sein wie gut ein Viertel des Wirtschaftsprodukts. Auf der Einnahmenseite kommt wegen der für Investoren schon jetzt prohibitiv hohen Steuern und Lohnnebenkosten eine Erhöhung der Abgaben nicht in Frage, während auf der Ausgabenseite die erforderlichen Kürzungen ebenso schwer durchzusetzen sein dürften. Für Italien und Spanien sind die Prognosen noch düsterer: Von heute 17 und 13 Prozent des Wirtschaftsprodukts werden die Aufwendungen für die Renten bis 2040 auf jeweils mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts steigen. Heute beträgt das Durchschnittsalter der Wähler in Europa 47 Jahre, bis 2013 wird es auf 50 Jahre gestiegen sein. Während junge Leute aus Desinteresse an der Politik weniger oft als der 148
Durchschnitt zu Wahlen gehen, sind ältere Menschen besonders fleißige Wähler. Damit wächst das politische Gewicht der Ruheständler und der rentennahen Altersgruppe überproportional: Sie werden absolut und relativ zur Gesamtbevölkerung mehr, und sie machen von ihrem politischen Entscheidungsrecht intensiver Gebrauch als die junge Generation. Auch in Lobbygruppen und Interessenverbänden wie etwa Gewerkschaften wächst das Gewicht der Alten: Die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder in Italien sind Rentner. Damit sinken die Chancen für den schon jetzt überfälligen Umbau der sozialen Sicherungssysteme, weil jeder Vorschlag einer einschneidenden Reform umgehend mit der Abwahl des betreffenden Politikers bestraft würde. Überliefert ist das Diktum eines Beraters des konservativen britischen Unterhausabgeordneten und Autors eines Buches über demographischen Wandel und Rentenreformen: »Ich kann Ihnen sagen, wie Sie Ihre staatliche Rentenversicherung reformieren. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie Sie danach die Wahlen gewinnen.« Die Rentner in den Ländern Kontinentaleuropas sind viel stärker als jene in den Vereinigten Staaten und in anderen angelsächsischen Ländern wie Großbritannien und Australien von den staatlichen Rentenzahlungen abhängig. In den USA, in Großbritannien und Australien machen die staatlichen Rentenzahlungen heute jeweils etwa zehn Prozent des Wirtschaftsprodukts aus, bis 2040 wird ein Anstieg auf 16 bis 20 Prozent erwartet. In vielen Staaten Europas wird der Abschied vom überkommenen Wohlfahrtsstaat schmerzlich, aber unumgänglich sein. Weil den Menschen in den USA die Mentalität der vom Staat gewährten sozialen Vollversorgung ohnedies fremd ist, wird die Übernahme zusätzlicher Verantwortung für die eigene Altersversorgung weithin nicht als Zumutung empfunden. Zwar werden auch in Amerika die »Babyboomer« genannten geburtenstarken Jahrgänge von 1950 bis 1964 bis etwa 2030 fast alle aus dem aktiven Arbeitsleben ausgeschieden sein und ihre Rente 149
beziehen – ganz ähnlich wie in Europa, wo es jedoch deutlich mehr Frührentner gibt. Die Rentenzahlung aus der umlagefinanzierten staatlichen Social Security liegt in Amerika aber durchschnittlich bei nur etwa 45 Prozent des zuletzt erreichten Arbeitsverdienstes, während ein Angestellter in Österreich im Durchschnitt auf 78 Prozent seines zuletzt erzielten Lohnes kommt. Für den Rest ihrer finanziellen Ansprüche kommen die meisten Amerikaner mit den (nach einem Paragraphen des Steuergesetzbuches benannten) privaten und steuerbegünstigten 401(k)-Rentensparplänen auf. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup unter 18 bis 29 Jahre alten Amerikanern im Herbst 2003 gab ein Viertel der Befragten die Auskunft, sie rechneten nicht damit, irgendwelche Leistungen aus der staatlichen Social Security zu erhalten, wenn sie dermaleinst ins Rentenalter kommen sollten. Doch verglichen mit den meisten staatlichen Rentenversicherungen in Europa steht die Social Security in Amerika auf stabilen Füßen und erwirtschaftet bisher sogar einen Überschuß. Erstens bleiben viele Angestellte und Arbeiter in den Vereinigten Staaten länger im Arbeitsleben als in Europa, beziehen also weniger Leistungen und zahlen mehr und länger Beiträge ein. Zweitens sind, wie gesehen, die Leistungen im Vergleich zum letzten Arbeitslohn deutlich geringer als in Europa. Drittens schließlich erodiert in Amerika die arbeitsfähige Bevölkerung nicht so dramatisch wie in Europa, wo immer weniger BeitragsZahler immer mehr Rentner versorgen müssen. Denn in den USA gleicht – dank Immigration und Bevölkerungszuwachs – der Zustrom junger Arbeiter und Angestellter in die Arbeitswelt den »Drainage-Effekt« am entgegengesetzten Ende der Altersskala bisher weitgehend wieder aus. Die Budgetbehörde des Kongresses in Washington stellte im Juni 2004 eine Studie vor, wonach die bisher üppigen und nach wie vor wachsenden Rücklagen der Social Security bis zum Jahr 2052 ausreichen. 150
Und erst im Jahr 2019 würden die Ausschüttungen an die Rentner die Einzahlungen der aktiven Bevölkerung überschreiten. Dennoch warnte der Präsident der amerikanischen Notenbank, Alan Greenspan, der im Juni 2004 im stolzen Alter von 78 Jahren für eine fünfte Amtsperiode von vier Jahren bestätigt wurde, schon jetzt, 15 Jahre vor dem erwarteten Zeitpunkt der Einnahmen- und Ausgabengleichheit bei der Social Security, vor Finanzierungslücken, wenn erst einmal die Babyboomer in Massen aus dem aktiven Arbeitsleben ausscheiden würden. Schon 1983 wurde die Altersgrenze, ab welcher die vollen Leistungen der Social Security bezahlt werden, von auf 67 Jahre angehoben – zu einer Zeit, als man in Deutschland noch mit Teilzeitarbeitsmodellen und frühzeitigem Ruhestand die Arbeitslosigkeit zu reduzieren versuchte. In Europa sind heute nur noch 40 Prozent der 55 bis 64 Jahre alten Bürger berufstätig; in Amerika sind es 66 Prozent. Obwohl die Ausgangslage für die staatliche Rentenversicherung in den USA im Vergleich zu fast allen Staaten der EU besser ist, scheinen in Amerika das Problembewußtsein und die Bereitschaft zu Reformen stärker ausgeprägt zu sein als in Europa. Das Durchschnittsalter in den USA lag 2003 bei 35,8 Jahren, in der EU bei 38,9 Jahren. Bis zum Jahr 2025 werden die Amerikaner durchschnittlich 36,7 Jahre alt sein, während die Europäer im Durchschnitt schon 46,4 Jahre Lebensjahre zählen werden. Im Jahre 2050 schließlich wird mit Durchschnittswerten für die USA von 42,1 Jahren und für die EU von 47,9 Jahren gerechnet, wobei Italien mit 53,2 Jahren den Spitzenplatz unter den »silbernen Generationen« Europas einnehmen wird. Da in den USA vor allem die Einwanderer aus Lateinamerika sowie deren Nachkommen der zweiten Generation, deren Anteil an der Bevölkerung zugleich zunimmt, den Altersdurchschnitt senken, ist der im Vergleich zu anderen entwickelten Ländern geringere Altersdurchschnitt vor allem den Latinos geschuldet. Mit der 151
Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung in Europa geht, so hat eine Studie der EU-Kommission ergeben, auch eine Verschiebung der relativen Wirtschaftskraft einher. Bis 2050 wird der Anteil der erweiterten EU an der globalen Wirtschaftsleistung nach dieser Erhebung von jetzt 18 auf zehn Prozent zurückgehen. Dagegen wird der Beitrag Amerikas zum globalen Bruttosozialprodukt von jetzt 23 auf 26 Prozent steigen. »Wer wird in einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung investieren?«, fragt der Kölner Sozial- und Gesundheitsökonom Karl Lauterbach, einer der wesentlichen gesundheits- und sozialpolitischen Berater der Regierung. »Deutschland läuft Gefahr, ein Drittel seines natürlichen Wirtschaftswachstums zu verlieren, weil zwischen 1970 und heute in Deutschland zehn Millionen Kinder nicht geboren wurden, die wir in anderen Zeiten hätten erwarten können.« Wie schließlich werden, drittens, die absehbaren demographischen Veränderungen auf die Textur der Gesellschaften in Europa und in Amerika einwirken? Wir haben gesehen, daß unter den niedrigen Fertilitätsraten in der erweiterten EU diejenigen Frankreichs und Irlands mit 1,85 und 1,87 statistischen Kindern pro Frau noch die höchsten sind. Der Sonderfall Irland läßt sich durch die starke religiöse Bindung der Bevölkerung an den katholischen Glauben und an die nach wie vor zentrale Rolle der Familie in der irischen Gesellschaft erklären. Auch beim Sonderfall Frankreich spielen Religion und Familienstruktur eine bedeutende Rolle: Es geht um den islamischen Glauben und die muslimische Familie. Da in Frankreich, dem Mutterland aller säkularen Republiken, bei Volkszählungen und statistischen Erhebungen nicht nach der Religion der Bürger gefragt wird, gibt es keine verläßlichen Angaben über den Anteil von muslimischen Ausländern und Einwanderern an der Gesamtbevölkerung. Schätzungen über den Anteil der meist aus dem nordafrikanischen Maghreb stammenden muslimischen Zuwanderer der ersten und zweiten Generation reichen von fünf bis zehn 152
Millionen der insgesamt 60,4 Millionen Einwohner Frankreichs. Das wäre ein Anteil an der Gesamtbevölkerung zwischen acht und 17 Prozent. Am häufigsten werden Schätzungen von sechs bis sieben Millionen genannt. Die Annahme, daß schon heute zehn Millionen Muslime in Frankreich leben – also ein Sechstel der Bevölkerung –, dürfte zwar ebenso übertrieben sein wie die Angst davor, daß bei Fortsetzung des gegenwärtigen demographischen Trends zwischen 2040 und 2050 die Mehrheit der Einwohner Frankreichs Muslime sein werden. Es spricht aber vieles dafür, daß der Anteil der arabisch-muslimischen Familien am Bevölkerungswachstum Frankreichs größer ist als der der christlichen oder säkularen Franzosen. Die nichtmuslimische Bevölkerung Frankreichs altert und schrumpft ähnlich wie in den Nachbarländern Deutschland, Italien und Spanien – wenn auch nicht so extrem wie bei den beiden romanischen Wachstumsschlußlichtern in der EU. Wie hoch die Fertilitätsrate bei den »weißen« französischen Frauen liegt, ist schwer zu ermitteln, wahrscheinlich liegt sie über der Rate Portugals oder der Schweiz mit jeweils gut 1,4 Kindern. Mehr als die Hälfte der in Frankreich lebenden und aus den ehemaligen französischen Kolonien in Nordafrika stammenden Muslime sind Franzosen, entweder durch Naturalisierung oder dank Geburt auf französischem Boden. Viele arabischstämmige Muslime in den Ballungsräumen Frankreichs leben in Ghettos, haben unzureichenden Zugang zu guter Schulbildung und verdienen, wenn sie denn einen Job haben, deutlich weniger als die »weißen« Franzosen. Die gescheiterte gesellschaftliche Integration der pejorativ »beurres« genannten Maghrebiner ist kein Glanzstück der französischen Sozialgeschichte seit den sechziger Jahren, wie die periodisch auftretenden Unruhen in den »bidonvilles«, den verwahrlosten Trabantenstädten von Lyon, Marseille oder Paris zeigen. Die ideologisierte Verordnung, wonach es nur Bürger, aber keine Mehrheit und keine Minderheiten zu geben habe, hat zu dem paradoxen Umstand geführt, daß es 153
in Frankreich Rassenunruhen, aber keine Minderheiten gibt. In ähnlicher Weise wird der zunehmende Antisemitismus verdrängt, von dem in Frankreich, dem Land Europas mit den meisten Juden, offenbar nur die 600000 Juden selbst etwas spüren. Der Anteil der »maghrébins« an der Bevölkerungsgruppe unter 25 Jahren liegt bei 25 bis 30 Prozent, das ist deutlich mehr als der Anteil an der Gesamtbevölkerung Frankreichs. Da in diesem Bevölkerungssegment die Arbeitslosenrate mehr als 20 Prozent beträgt und damit gut doppelt so hoch ist wie im Landesdurchschnitt, sind Jugendliche maghrebinischer Herkunft besonders häufig von Arbeitslosigkeit betroffen. Was aus dieser sozialen Schieflage und aus der Tatsache erwächst, daß in Frankreich schon jetzt so viele Muslime leben wie in keinem anderen Staat der EU, daß zudem deren Anteil an der Bevölkerung noch weiter wachsen wird, hat schon mancherlei Spekulationen angeregt. Eine muslimische »Übernahme« Frankreichs in einigen Jahrzehnten mag Teil eines xenophoben Horrorszenarios sein. Die Entwicklung in Frankreich ist dennoch beispielhaft für ganz Europa. Der Alterung der europäischen Kerngesellschaften steht ein »Reserveheer« an jungen Menschen in der unmittelbaren und erweiterten Nachbarschaft der EU gegenüber: vom Maghreb über die Türkei bis zum Nahen Osten. Da die Tatsache der Masseneinwanderung in die Staaten der EU inzwischen als politischer Imperativ anerkannt ist, wird die Mehrzahl der legalen wie vor allem der illegalen Immigranten aus der Nachbarschaft kommen. Die meisten Staaten der EU, vor allem die Mittelmeeranrainer Frankreich, Italien und Spanien, werden in den kommenden Jahren muslimischer werden. Die Auseinandersetzung mit dem Islam wird neben der Frage der Beziehung zu Amerika die Debatte um die Identität Europas wesentlich bestimmen. Kommt es durch Zuwanderung und Geburtenüberschuß zu einer muslimischen »Eroberung« Europas, wie sie von radikalislamischen Ideologen tatsächlich anvisiert wird? Wie reagiert 154
die friedliche und integrationsbereite Mehrheit der gemäßigten Muslime in den Staaten der EU auf Anschläge islamistischer Terroristen wie jene vom 11. März 2004 in Madrid? Und wie reagieren die Muslime auf die Reaktion der »weißen« Europäer auf diese Anschläge? Der verbissene Streit in der EU darüber, ob die Türkei ein gleichsam geborener Kandidat für den Beitritt zu einer multikulturellen EU sei oder nur um den Preis des Verlustes der christlich-abendländischen Identität nach Europa eingelassen werden könne, ist nur einer von vielen Hinweisen auf mögliche künftige Konflikte. Die Fertilitätsrate der Türkei liegt mit 1,98 deutlich über dem Durchschnitt der EU, während der Altersdurchschnitt der Bevölkerung mit 27,3 Jahren mit der niedrigste in Europa ist. Und es ist vielleicht kein Zufall, daß mit Albanien ein weiteres muslimisch geprägtes Land mit einer durchschnittlichen Kinderzahl pro Frau von 2,05 und einem Altersdurchschnitt von 28,2 Jahren im europäischen Vergleich mit das höchste Bevölkerungswachstum und den niedrigsten Altersdurchschnitt aufweist. Breitet sich in der »Festung Europa« die Angst davor aus, daß ein in jeder Hinsicht vitaler Islam, gebärfreudig und bindungsstark, das in jeder Hinsicht moribunde Christentum, schrumpfend und orientierungslos, überrennt? Zahlt das arabischmuslimische Morgenland seinen allseits diagnostizierten Modernisierungsrückstand gegenüber dem christlichen Abendland durch schleichende Ein- und Unterwanderung heim, zu der es zur Füllung der demographischen Lücke sogar ausdrücklich eingeladen wird? Braucht Europa einen Prinzen Eugen gegen das muselmanische Immigrantenheer? Topoi wie diese mögen vorerst noch zum Repertoire populistischer Rattenfänger gehören, die es bei manchen Wahlen in vielen Staaten der EU schon zu beträchtlichem Erfolg gebracht haben. Welches Eigenleben entwickeln solche Angstargumente aber, wenn eine schwere Wirtschaftskrise 155
kommt, wenn das Rentensystem wankt und die öffentliche Krankenkasse leer ist? Noch ehe in Italien die Albaner, in Spanien die Nordafrikaner, in Deutschland die Türken, in Frankreich die Maghrebiner, in Großbritannien die Pakistani und in anderen Ländern der EU die jeweiligen nationalen und religiösen Minderheiten sozial und politisch voll integriert sind, sollen die Tore schon wieder für neue Zuwanderer geöffnet werden? Und das, wenn es nach den Demographen ginge, in einem Maß, das selbst in sich ruhende und ihrer Identität gewisse Gesellschaften kaum verkraften könnten. In Deutschland haben die Debatte über die »deutsche Leitkultur« und der jahrelange Zank um das Zuwanderungsgesetz, in Frankreich und anderswo hat der »Kopftuchstreit« um das Verbot dieser Kopfbedeckung für muslimische Schülerinnen und Lehrerinnen an staatlichen Schulen gezeigt, daß es dabei um nichts weniger als die Frage der Identität geht. Wer sind die Europäer in ihren Vaterländern, wenn ihre nationale Identität von der europäischen Integration und der mehrheitlich muslimischen Immigration gleichermaßen angegriffen wird? Keine Spur von solchen Identitätszweifeln im Einwandererland Amerika? Doch, auch in den USA wird selbstredend darüber debattiert, welcher wirtschaftliche Nutzen und welche gesellschaftlichen Kosten mit der Einwanderung und Einbürgerung von Millionen Immigranten verbunden sind. Die historischen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen für eine rasche Integration der Neuankömmlinge in den »American way of life« sind aber besser. Als »Willensgemeinschaft« ist die amerikanische Gesellschaft, wie beschrieben, prinzipiell aufnahmefreudiger. Bis heute wirkt in ihr das Bewußtsein nach, ein Kollektiv von Davon- und Dahergelaufenen zu sein, das es an einem neuen, verheißungsvollen Ort verstanden hat, die Armut und die Not, aber auch die Engstirnigkeit, den Kleingeist und den Hang zur Nabelschau ihrer Herkunftsländer abzustreifen. Die in der Unabhängigkeits156
erklärung von 1776 verbrieften »unveräußerlichen Rechte« auf »Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit« werden auch dem Nachzügler und Spätankömmling eingeräumt, gleichviel woher er kommt. Es gehört zum wesens- und bedeutungsschweren Chic der Europäer, auf den oberflächlichen, konsumversessenen homo americanus herabzuschauen. Diese Herablassung der Europäer den angeblich geldgierigen Amerikanern gegenüber ist so alt wie die Vereinigten Staaten selbst, und sie ist traditionsbildend geworden für die Darstellung Amerikas als Emblem der Entfremdung sowohl bei den Reaktionären wie bei den Progressiven des 19. Jahrhunderts. Bis heute lebt sie fort im Modewort von den »netten, aber oberflächlichen Amerikanern«. Schon Alexis de Tocqueville hat in seinem 1835 erschienenen Buch »Über die Demokratie in Amerika« – freilich nicht in denunziatorischer Absicht – treffend festgestellt: »Ich kenne kein Land, in dem die Liebe zum Geld einen so großen Platz im Herzen der Menschen einnimmt.« Auch die öffentliche Zurschaustellung des Wohlstands sowie dessen neidlose Bewunderung durch jene, die es (noch) nicht so weit gebracht haben, hat Tocqueville vermerkt. Doch wie der Historiker Dan Diner in seinem Buch »Feindbild Amerika« richtig bemerkt, ist der Konsumismus durchaus eine Wohltat, zumal für den Neuankömmling. Das »Streben nach Konsum als Erfüllung materieller Wünsche vieler ist ein durchaus probates Mittel der Integration«, schreibt Diner: »Konsum ist nämlich die materielle Seite der amerikanischen Demokratie, zumal das allerorten verfügbare einheitliche Gut die Vielfalt und Differenz von Herkunft, Kultur und Religion in der Einheit der Konsumenten neutralisiert. Jeder ist als potentieller Konsument willkommen und wird als solcher zuvorkommend behandelt.« Der israelische Soziologe Natan Sznaider spricht in diesem Zusammenhang davon, daß »Konsumismus und Modernismus an der Hüfte miteinander verwachsen sind, weil der Konsumismus ein 157
unverzichtbarer Bestandteil des zivilisierenden Prozesses ist«. Tatsächlich ist es ein wirksames Antidot gegen jede Art von Diskriminierung und ein effizientes Instrument zur Integration, wenn jeder nur deinen Dollar will, egal ob du weiß bist oder schwarz, Asiat oder Latino, alt oder jung, Christ oder Muslim, gläubig oder Atheist. Man schätzt, daß die in den USA lebenden und arbeitenden Mexikaner jährlich 13,3 Milliarden Dollar an ihre Familien und Verwandten nach Mexiko schicken. Damit sind die Überweisungen der vom mexikanischen Präsidenten Vicente Fox als »Helden« gepriesenen Auslandsmexikaner nach den Einnahmen aus dem Ölexport und noch vor den Erlösen aus dem Tourismus die zweitgrößte Devisenquelle des Landes. Illegal in den USA lebende Mexikaner können ohne Ausweispapiere in Amerika kein Bankkonto eröffnen und müssen für ihre Dollartransfers per telegrafischer Geldanweisung, beispielsweise über »Western Union«, horrend hohe Gebühren bezahlen. Bis Mitte 2004 hatten drei Viertel der Mexikaner, die einen Teil ihres in Amerika erwirtschafteten Geldes nach Hause schickten, kein Bankkonto in den USA. Im Frühjahr 2004 begannen die mexikanischen Konsulate in den USA auf Geheiß der Regierung in Mexiko-Stadt, an Mexikaner ohne amerikanische Papiere – vulgo illegale Immigranten – die als »matricula consular« bekannten Lichtbildausweise auszugeben. Diese mexikanischen Ausweise werden von immer mehr amerikanischen Behörden und Unternehmen als Identitätsnachweise anerkannt – auch und gerade von den Banken. Diese sind es vor allem, welche die schleichende Legalisierung der illegalen Immigranten vorantreiben. Nach einem Bericht der Wochenzeitung The Economist vom Juni 2004 hatten bis zu diesem Zeitpunkt fast 120 amerikanische Banken die »matricula consular« als Identitätsnachweis akzeptiert, der zusammen mit einer Steuernummer zum Eröffnen eines Kontos berechtigt. Dabei geht es den Geldinstituten nicht in erster Linie um die Überweisungen nach 158
Mexiko, an denen sie verdienen, sondern um das Gewinnen neuer Kunden, mit denen sie in Zukunft alle möglichen Finanzgeschäfte abzuwickeln hoffen. Der 1938 von der amerikanischen Bundesregierung gegründete Finanzriese »Fannie Mae«, der die Geschäftsbanken und Kreditinstitute mit dem Geld zur Vergabe von Immobilienkrediten auch an einkommensschwache Familien versorgt, wirbt in einem seiner Werbespots fürs Fernsehen und fürs Radio unter dem Motto »Wir bei Fannie Mae sind im American Dream Business« ausdrücklich mit dem Umstand, daß in den kommenden Jahren »Millionen von Immigranten« in die Vereinigten Staaten kommen werden und am »amerikanischen Traum« vom Eigenheim teilhaben wollen. Zur Mission von Fannie Mae gehört es, den Anteil der Eigenheimbesitzer unter den Minderheiten im Land auf 55 Prozent zu erhöhen. Insgesamt betrug der Anteil aller Amerikaner, die im Herbst 2003 in den eigenen vier Wänden lebten, 68,4 Prozent – ein historischer Höchststand. Bemerkenswerterweise machen naturalisierte Amerikaner ihren »amerikanischen Traum« vom Eigenheim rascher wahr als die schon in den USA geborenen Angehörigen der entsprechenden ethnischen Gruppe. Im Jahr 2002 wohnten 51 Prozent der eingebürgerten Schwarzafrikaner im eigenen Haus, verglichen mit 49 Prozent der in Amerika geborenen Schwarzen. Bei den asiatischen Amerikanern war der Unterschied noch größer: 70 Prozent der eingebürgerten asiatischen Amerikaner wohnten in den eigenen vier Wänden, bei den in den USA gebürtigen Asiaten lag der Anteil bei 57 Prozent. Und auch die naturalisierten Latinos liefen mit einem Anteil von 63 Prozent Eigenheimbesitzern ihren schon in Amerika geborenen »Landsleuten« mit 54 Prozent der Rang ab. Nur unter den nichthispanischen Weißen behielten die geborenen Amerikaner mit 75 Prozent Eigenheimbesitz gegenüber 73,7 Prozent bei den eingebürgerten Weißen die Nase vorn. Jedenfalls ist es, als wollten die Neuankömm159
linge mindestens so amerikanisch oder gar »amerikanischer« sein als die eingesessenen Amerikaner, die wohl ihrerseits kurz nach der eigenen Einwanderung und Einbürgerung »amerikanischer« waren als die Eingesessenen. Oder, in die Worte des Präsidenten aus seiner Videobotschaft für die Masseneinbürgerungen im Pomona Fairplex von Los Angeles gefaßt: »Jeder neue Bürger macht dieses Land mehr und nicht weniger amerikanisch.« Das Verdikt des Präsidenten trifft nicht nur auf die Wirtschaft und deren durch Einwanderung beschleunigtes Wachstum zu, sondern auch auf den soziokulturellen und religiösen Hintergrund der Immigranten und der sie aufnehmenden Gesellschaft. Die hispanischen Einwanderer – die wie beschrieben die große Mehrheit der heutigen Immigranten stellen – kommen aus einer Weltgegend, wo niemand etwas vom Staat oder von der Regierung erwartet – außer daß er die Pfründe der Herrschenden und des Beamtenheeres mehrt. Mit dem Willen und der Entschlossenheit, sich selbst zu helfen und es zu etwas zu bringen, stimmen die eingewanderten Latinos fast paßgenau mit der Geisteshaltung ihres neuen Heimatlandes überein, wo man Eigeninitiative, Einsatzbereitschaft und unerschütterliche Zuversicht schätzt und in aller Regel auch honoriert. Zudem sind die eingewanderten Latinos – jedenfalls der ersten Generation – sozial konservativ, und sie sind fast ausnahmslos katholische Christen. Um 1990 war auch noch eine Mehrheit der asiatischen Amerikaner Christen und nicht Hindus oder Buddhisten. Selbst die arabischen Amerikaner waren vor knapp anderthalb Jahrzehnten noch zu zwei Drittel Christen. Das ist heute nicht mehr der Fall, denn die arabische Einwanderung in den neunziger Jahren war, wie in anderen Einwandererländern auch, muslimisch geprägt. Dennoch betrachten sich heute laut verschiedenen Umfragen von 1989 bis 1996 zwischen 84 und 88 Prozent der Amerikaner als Christen. Der Anteil der Juden ist seit den zwanziger Jahren 160
von vier auf heute knapp über zwei Prozent der Bevölkerung zurückgegangen. Hindus und Buddhisten dürften jeweils etwa ein Prozent stellen. Über die vermutete Zahl der Muslime in den USA – die Frage nach der Religionszugehörigkeit darf auf Zensusbögen nicht gestellt werden – gehen die Schätzungen weit auseinander: von 1,6 Millionen bei Forschungsstudien bis sieben Millionen nach Angaben muslimischer Interessenverbände. Der Historiker Samuel Huntington schätzt den Bevölkerungsanteil der Muslime in den USA auf etwa 1,5 Prozent, das entspräche der absoluten Zahl von 4,3 Millionen Muslimen – was als hohe Schätzung gilt. Dennoch hat der Umstand, daß zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten die Mehrzahl der Einwanderer nicht aus Europa kommt, sondern eben aus Lateinamerika, nicht zur Schwächung der gesellschaftlichen Vormachtstellung des Christentums geführt. »Obwohl ein genaues Urteil nicht abgegeben werden kann, scheint die religiöse Zusammensetzung der USA zu Beginn des 21. Jahrhunderts eher noch mehr statt weniger christlich zu sein«, schreibt Huntington in einem Beitrag für das Magazin The American Enterprise von Juli/August 2004. Auch wenn die Zuwanderung von Muslimen nach Amerika zunehmen dürfte, so werde sie doch von der Immigration der katholischen Latinos deutlich in den Schatten gestellt. Die massive Einwanderung von Latinos in die USA droht zwar die Exklusivität der englischen Sprache zu unterminieren, sie betoniert aber die Exklusivität des christlichen Glaubens. Europa wird durch die Zuwanderung muslimischer, Amerika wird christlicher. Die warnenden Stimmen, der massive Zustrom von spanischsprachigen Latinos, vor allem aus Mexiko, werde die Grundlagen der amerikanischen Kultur und des amerikanischen »Glaubensbekenntnisses« untergraben, sind in der Debatte über die neue Quantität und Qualität der Immigration in der Minderheit. Es ist abermals der konservative Historiker Samuel 161
Huntington, der in seinem 2004 erschienenen Buch »Who Are We?« die Ansicht vertritt, daß die Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft, die seit dem 18. Jahrhundert von einer weißen, angelsächsischen, protestantischen Kultur und Lebenshaltung (nach der englischen Bezeichnung »white anglo-saxon protestant« mit dem Akronym »WASP« versehen) geprägt ist, von der beispiellosen Einwanderung der Latinos bedroht werde. Bis zu den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren der Hafen New York und die Immigranten-Insel Ellis Island das klassische Einfallstor, durch welches die Neuankömmlinge nach Amerika kamen und von dort mit Zügen in alle Himmelsrichtungen verfrachtet wurden. Heute kommen die meisten Einwanderer über die längste Landgrenze, die ein Staat der ersten mit einem der dritten Welt teilt, und sie siedeln in jenen Südstaaten der USA, die einst zu Teilen oder ganz zu Mexiko gehört hatten. Huntington sieht die Gefahr der Ghettobildung in spanischsprachigen Enklaven statt die »traditionelle« Assimilation der Einwanderer an die englischsprachige Umwelt. Er sieht aufgrund demographischer Projektionen kommen, daß bis 2040 in ganz Amerika der Fall sein könnte, was 2004 für die Bundesstaaten Kalifornien, New Mexico und Hawaii sowie für den Hauptstadtdistrikt Washington D.C. zutraf: Sie haben eine »minority majority«, das bedeutet, daß die nichthispanischen Weißen weniger sind als die Minderheiten zusammengerechnet. Und je mehr Mexikaner in die amerikanischen Bundesstaaten jenseits der Landesgrenze, wie Kalifornien, Arizona, New Mexico und Texas, einwanderten, desto geringer werde der Ansporn für sie, sich zu assimilieren und die englische Sprache zu lernen. In fast allen Besprechungen des Buches und in der öffentlichen Debatte über seine Thesen wurde die Sorge Huntingtons vor einer »Spaltung der Vereinigten Staaten in zwei Völker, zwei Kulturen und zwei Sprachen« jedoch zurückgewiesen. Francis Fukuyama, Politologe an der Washingtoner Johns 162
Hopkins Universität, argumentierte, daß die »heutigen mexikanischen Immigranten kulturell weniger weit von den Mainstream-Anglos entfernt sind als, sagen wir, süditalienische Einwanderer oder osteuropäische Juden von den MainstreamWASPs zu Beginn des 20. Jahrhunderts«. Die Zahl der Heiraten außerhalb der eigenen ethnischen Gruppe sei bei Latinos der zweiten und dritten Generation heute fast so hoch wie bei EinWanderern aus Europa – von Abschottung könne keine Rede sein. Die heutigen Latinos seien wirtschaftlich und gesellschaftlich erfolgreich, weil sie dem protestantischen Arbeitsethos – der »Religion Amerikas, die seit je eine Religion der Arbeit ist«, wie Huntingron schreibt – ebenso treu gehorchten wie alle Immigrantengenerationen vor ihnen, beruhigt Fukuyama. Wie er sind die meisten konservativen (und auch die linken) Immigrations-Fachleute der Ansicht, daß aus wirtschaftlichen und demographischen Gründen das gegenwärtige Niveau der Einwanderung beibehalten oder eher noch erhöht werden muß. Und fast alle sind überzeugt, daß die heutigen und künftigen Immigrantengenerationen wie die Millionen vor ihnen den gleichen amerikanischen Traum träumen werden – selbst wenn sie vorerst auf spanisch träumen. Deshalb wird es noch viele Masseneinbürgerungszeremonien wie die im Pomona Fairplex bei Los Angeles geben. Dort gilt es jetzt, in einem letzten Amtsakt, den frischgebackenen Amerikanern ihre Einbürgerungsurkunden auszuhändigen. Dazu müssen sich die neuen »lieben Mitbürger« wieder vor jenen Tischen in eine Warteschlange stellen, an welchen sie zuvor ihre Green Card abgegeben hatten. Ein älterer Asiat mit schütterem Haar kann sich gar nicht oft und tief genug verbeugen, als ihm der Beamte die Urkunde aushändigt. Ein junger, aus Sierra Leone in Westafrika stammender Soldat in der Ausgehuniform der Marineinfanterie nimmt das Schriftstück wie den Befehl eines Vorgesetzten entgegen – folgsam und irgendwie ungerührt. Andere lächeln einfach breit und sind augenscheinlich tief 163
zufrieden – 7130 neue amerikanische Staatsbürger mit 7130 oder noch mehr Träumen, aus denen am Ende der eine amerikanische Traum werden soll. Die meisten schauen beim Hinausgehen aus Halle 4 noch auf ihre Einbürgerungsurkunden, vielleicht um zu kontrollieren, ob sich auch kein Schreibfehler eingeschlichen hat. Die meisten, so glaubt man zu erkennen, sind irgendwie beschwingt – als hätten sie von Richter Carter soeben ein Schulzeugnis mit lauter sehr guten Noten bekommen.
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In der Wildnis der Millionäre Coole Wirtschaft, heiße Politik
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uch ein Strukturwandel: In die Fertigungshalle ist, nach einigen Monaten Leerstand, vor kurzem eine evangelische Freikirche mit ihrem Gottesdienstsaal, dem Gemeindezentrum und dem Kindergarten eingezogen. Seither ist der Parkplatz vor dem Flachbau wieder gut gefüllt. Überhaupt atmet das funktionale, fast lieblose Gebäude jetzt einen anderen Geist. Über dem Haupteingang werden die Besucher und Gläubigen mit bunten Lettern willkommen geheißen, in den Fenstern hängen Kindermalereien und allerlei Informationszettel, es ist ein reges Kommen und Gehen. Wir befinden uns in Ashburn, Landkreis Loudoun, Bundesstaat Virginia. Als in Amerika und anderswo auf der Welt Mitte 2000 die Hightech-Blase platzte, die Börsenkurse von Firmen, deren immenser Wert fast ausschließlich aus sagenhaften Wachstumshoffnungen bestanden hatte, in den Keller gingen, wurden auch Ashburn und der Landkreis Loudoun hart getroffen. In Ashburn sind die Firmensitze des führenden amerikanischen Anbieters von Internetzugang und E-Mail, America Online (AOL), sowie des Telekommunikationsriesen WorldCom, der heute wieder MCI heißt. Weder AOL noch WorldCom/MCI gingen zu Bruch, als die Luftblase der überbewerteten Aktienkurse platzte, aber sie gingen in die Knie. Und es traf viele kleine und mittlere Firmen, die im Dunstkreis der Giganten herangewachsen waren und für die man in Ashburn, im kalifornischen Silicon Valley und anderswo jede Menge Flachbauten auf der grünen Wiese errichtet hatte. Noch vier Jahre später stehen manche dieser eilig und im Baukastensystem errichteten Gebäude leer. Hier und da haben sich Transportfirmen niedergelassen und nutzen die nunmehr günstigen Büro165
mieten, um in den Industrieparks Warenlager in verkehrsgünstiger Lage einzurichten. Das Hauptquartier von AOL glitzert wie ein riesiges silbernes Kuchenstück mitten auf einer großen Wiese. Künstlich angelegte Seen, auf denen Graugänse schwimmen, sind in die Parklandschaft hineingesprenkelt. Neue Straßen werden angelegt, daneben Glasfaserkabel in die Erde gesenkt. Auch der Firmensitz von MCI, dem zweitgrößten Anbieter von Ferngesprächsverbindungen in den USA, ist das in Aluminiumund Glasfassaden gegossene Selbstbewußtsein des scheinbar unbegrenzten Wachstumsmarktes der Telekommunikation und der Informationstechnologie. Und doch wurde der eindrucksvolle Firmensitz von MCI fast zu einer Investitionsruine. Fertiggestellt im April 2001, beherbergte das Gebäude seinerzeit die Firma UU-Net, ein auf Internetverbindungen spezialisiertes Unternehmen, das kurz zuvor von WorldCom aufgekauft worden war. WorldCom war seit Mitte der neunziger Jahre einer der Platzhirsche auf dem Telekommunikations- und Internetmarkt mit den sagenhaften Wachstumsraten. Wer in dieser Phase der Expansion ein maßgeblicher Spieler bleiben wollte, kaufte nach Kräften mittlere und kleinere und auch große Firmen auf, um in dem am raschesten wachsenden Wachstumsmarkt mitzuwachsen. Im September 1998 fusionierten WorldCom, mit Sitz in Jackson in Mississippi, und MCI – doch eigentlich kaufte der traditionelle Telefonunternehmer WorldCom den Internet-Pionier MCI für 40 Milliarden Dollar, um sich in dem Markt der Zukunft zu positionieren. Mit dem Kauf wuchsen auch die Erwartungen der Aktionäre an MCI WorldCom, wie der neue Riese nun hieß. Und diese Gewinnerwartungen in einem scheinbar unbegrenzt wachsenden Markt mußten erfüllt werden. Spätestens im September 2000 begannen MCI WorldCom-Chef Bernie Ebbers und sein Finanzchef Scott Sullivan die Zahlen des Unternehmens zu frisieren, nachdem Sullivan seinen Chef Ebbers gewarnt hatte, die 166
Ergebnisse der vergangenen Monate erforderten eine Korrektur der Gewinnerwartungen. Doch die Gewinnerwartungen der Wall Street wollte Ebbers um jeden Preis erfüllt sehen, und so erdachte er, offenbar gemeinsam mit Sullivan, ein gigantisches Versteckspiel. Mietkosten für die Nutzung von Telefonleitungen anderer Firmen wurden kurzerhand als Einnahmen umgebucht, und so stimmten die Bücher bald wieder mit den sonnigen Erwartungen überein. Bis Juni 2002 übertrieb die Firma ihre Einnahmen um – so stellte sich später heraus – stattliche 3,85 Milliarden Dollar. Ende Juli 2002 brach das Lügengebäude schließlich zusammen, und die Firma MCI WorldCom mußte mit einem Schuldenberg von 41 Milliarden Dollar bei Guthaben in Höhe von 107 Milliarden Dollar Konkurs anmelden – die größte Firmenpleite in der Geschichte der USA. Im Laufe der Ermittlungen stellte die Staatsanwaltschaft fest, daß das Ausmaß der Luftbuchungen noch viel größer war als zunächst angenommen: Elf Milliarden Dollar hatten Ebbers und Sullivan falsch gebucht und damit den Zusammenbruch des Telekommunikationsriesen mit mehr als 75000 Angestellten in 65 Ländern provoziert. MCI WorldCom beantragte, wie das in solchen Fällen gigantischer Firmenzusammenbrüche üblich ist, Gläubigerschutz nach Kapitel 11, benannt nach dem betreffenden Abschnitt des seit 1979 gültigen Konkursrechts. Danach müssen die Gläubiger dem zahlungsunfähigen Unternehmen die Verbindlichkeiten für eine Übergangsfrist weiter stunden, während dieses mit neuer Geschäftsführung und unter Aufsicht eines Konkursrichters die Reorganisierung und Sanierung beginnt. So geschah es auch bei MCI WorldCom. Das Unternehmen benannte sich in MCI um, gab den Firmensitz in Jackson, Mississippi, auf und schlug in Ashburn in Virginia sein Hauptquartier auf. Ebbers, der sich von seiner Firma 408 Millionen Dollar geborgt hatte und davon 300 Millionen bis Herbst 2004 noch immer nicht zurückgezahlt hatte, und Sullivan wurden wegen verschwörerischen Betrugs 167
angeklagt; ihnen drohen im Fall einer Verurteilung bis zu 25 Jahre Haft. Im April 2004 endete der Gläubigerschutz für MCI, die Firma wurde nach zweijähriger Unterbrechung wieder als Titel an der New Yorker Technologiebörse Nasdaq zugelassen und will sich künftig auf ihr Kerngeschäft, das Betreiben von Internetverbindungen, konzentrieren. Binnen zweier Jahre gingen mehr als 36000 Arbeitsplätze verloren. Der Aktienkurs fiel von März 2002 bis zum Tag vor Eröffnung des Konkursverfahrens im Juli 2002 von 8,27 Dollar auf neun Cents. Damit wurden nicht nur Milliarden Dollar von institutionellen Investoren »verbrannt«, es lösten sich vor allem die in Aktien des Unternehmens angelegten Rentenversicherungspläne Tausender Angestellter förmlich in Luft auf. Und Ashburn? Auch Ashburn wurde von der Riesenpleite getroffen, wenn auch im neuen Firmensitz von MCI lange nicht so viele Jobs verloren gingen wie im alten Hauptquartier von MCI WorldCom in Jackson. Der Landkreis Loudoun aber, auch er als Standort vieler Unternehmen der Informationstechnologie vom Platzen der Hightech-Blase mitgenommen, steht gut vier Jahre später besser da denn je. Wie das Arbeitsministerium im Juli 2004 mitteilte, lag der Landkreis etwa 20 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Washington mit einem Zuwachs von 5,2 Prozent neuer Jobs – in absoluten Zahlen 5500 zusätzlicher Arbeitsplätze – im Jahre 2003 an der Spitze aller Landkreise im ganzen Land. Binnen eines Jahrzehnts betrug die Zunahme an neuen Arbeitsplätzen in Loudoun County 141 Prozent. Motoren des Wachstums waren Informations- und Kommunikationstechnologie sowie Transport und Logistik, denn zu dem Landkreis gehört auch der internationale Flughafen der Hauptstadt, »Washington Dulles«. Und noch einen Rekord stellten Ashburn und Loudoun County auf. Kein Landkreis in den USA gewann in den vergangenen drei Jahren so viele Einwohner hinzu: Von April 2000 bis Juli 2003 wuchs die Einwohnerzahl des Landkreises von knapp 170000 auf mehr als 221000, das 168
entspricht einem Zuwachs von 30,7 Prozent. Binnen acht Jahren mußte der Landkreis 28 neue Schulen bauen, und für die kommenden sechs Jahre sind weitere 23 Schulen geplant – von der Grund- bis zur Oberschule. Die Stadt Ashburn selbst wuchs von 27000 Einwohnern im Jahre 1999 auf mehr als 48000 im Oktober 2003 Zum Vergleich: 1990 hatten in Ashburn kaum 3400 Menschen gelebt. Zusammenbruch durch Gier und Betrug; Platzen einer durch utopische Erwartungen aufgepumpten Blase; Absturz in die Krise; Massenentlassungen von Zehntausenden in eine fühllose Arbeitslosenwelt ohne dauerhafte staatliche Unterstützung; schwere Verluste für den sprichwörtlichen kleinen Mann, während sich die kriminellen Bosse irgendwie davonschlichen; und dann doch wieder, wie aus heiterem Himmel, ein kräftiges Wachstum, das viele mit fortzieht und die Verheißung vom Aufstieg für (fast) alle am Leben erhält: Der rapide Niedergang von WorldCom, die Wiederauferstehung als MCI und das Rekordwachstum von Ashburn und Loudoun County unmittelbar nach einem Krisenanfall zeigen das sonderbare Wirtschaftsleben der USA idealtypisch. Es gibt keine Massendemonstrationen der durch Gier und Betrug der Bosse um ihren Job und ihre Ersparnisse gebrachten Arbeiter. Die großen Firmen werden durch das Konkursgesetz vor dem vollständigen Fall aus dem Markt geschützt und können nach der Phase des Gläubigerschutzes von vorne beginnen, während die Kleinanleger und schon gar die entlassenen Arbeiter und Angestellten mit leeren Händen dastehen. Doch anstatt gemeinsam die Faust zu ballen und Wiedergutmachung zu fordern, zieht jeder einzelne sogleich weiter, einer Form des Lebens und Arbeitens hinterher, das an neuen Ufern Siedlungen baut, ohne sich damit aufzuhalten, die alten Häuser in den aufgelassenen Dörfern abzureißen. Klagelieder und Haßgesänge darüber, wie unmenschlich, ungerecht, unbarmherzig und irrational der spezifisch amerikanische Cowboy-Kapitalismus sei, füllen ganze Zeitungen, 169
Zeitschriften und Bücher. Wenn die umlagefinanzierten Sozialstaaten in Europa unter der Last der wachsenden Ausschüttungen ächzen und die Prognosen einen immer schwächeren Zufluß von Einzahlungen voraussehen, wird jede Reformdiskussion mit der Formel eröffnet: bloß keine amerikanischen Verhältnisse. Denn darin gilt das Gesetz der Wildnis; es gibt krasseste Einkommensunterschiede; die Mittelklasse trocknet aus und verarmt; das Individuum kommt unter die Räder, wenn es unverschuldet einmal nicht mehr kann; und es geht der ganze Erdball am amerikanischen Raubbau zugrunde. Außerdem stehe, so heißt es häufig, der Zusammenbruch des Kartenhauses des amerikanischen Konsumentenparadieses unter dem horrenden »Zwillingsdefizit« in der Handelsbilanz und im Staatshaushalt bald bevor. Das Ende des amerikanischen Wirtschaftssystems – oder doch von dessen Vorherrschaft – war schon mehrfach vorausgesagt worden, zuletzt in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als Arbeitslosigkeit und Inflationsrate in den USA höher waren als in den meisten Staaten Europas, zum Beispiel fast dreimal so hoch wie im damaligen Musterknabenland Deutschland. Die japanische Volkswirtschaft schien außerdem auf dem besten Weg, die amerikanische als die leistungsstärkste der Welt abzulösen. Diese Szenarien haben sich vorerst als falsch erwiesen. Seit gut zwei Jahrzehnten ist die amerikanische Wirtschaft die unverzichtbare Lokomotive der Weltwirtschaft, der »Konsument der letzten Hoffnung«, der auch dann noch Autos aus Deutschland, Turnschuhe aus Vietnam, Hemden aus Bangladesh, Software aus Indien und Plastikspielzeug aus China kauft, wenn andere Märkte diese Produkte längst nicht mehr verdauen können. Seit etwa einem Vierteljahrhundert weisen die USA, verglichen mit den meisten Staaten Europas, eine markant höhere Wachstumsrate und auch eine niedrigere Arbeitslosigkeit auf. Auf dem Höhepunkt des letzten Booms im April 2000 lag die Arbeitslosenrate in den USA bei 3,8 Prozent, seit dem 170
herben Rückschlag auf dem Markt für Informationstechnologie hat sich die Rate bei etwa sechs Prozent eingependelt. In Deutschland, aber auch in anderen Staaten der EU sind die Arbeitsminister dieser Tage schon zufrieden, wenn die Rate nicht zweistellig wird. Vor allem bei den Langzeitarbeitslosen stehen die USA wesentlich besser da als die Europäer: Wegen der deutlich höheren, in der Regel fast doppelt so hohen Mobilität ziehen die Arbeitslosen in den USA dorthin, wo es einen neuen Job gibt, und warten nicht, bis ein neuer Job in ihre Nähe kommt. Dadurch sind sie im Schnitt kürzer arbeitslos – und beziehen damit weniger Arbeitslosenhilfe, fallen kürzere Zeit aus als Beitragszahler für die staatliche Rentenversicherung (Social Security) und als Steuerzahler. Der Umstand, daß es ein Zugewinn an sozialer Gerechtigkeit ist, wenn relativ wenige Menschen – wie in den USA – dauerhaft ohne Arbeit sind, wird in Europa in der Regel mit dem Einwand quittiert, bei den neu geschaffenen Arbeitsplätzen in den USA handle es sich vor allem um Billigjobs. In Wahrheit wurden aber im stark expandierenden Dienstleistungssektor – und dort entstanden die meisten der Millionen neuer Arbeitsplätze in den USA – eben auch Stellen für hochqualifizierte Fachkräfte geschaffen und nicht nur für Kellner, Erntearbeiter oder Putzkräfte. Besondere Beachtung verdient der Umstand, daß die Arbeitslosenrate in den USA nicht gestiegen ist, obwohl Millionen Einwanderer – vom ungelernten Arbeiter bis zum versierten Experten – in den Arbeitsmarkt integriert wurden. Die These, wonach die endliche Ressource Arbeit für die »Inländer« zusätzlich verknappt werde, wenn zu viele »Ausländer« auf den Arbeitsmarkt drängen, wird durch die Entwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte in den USA widerlegt. Denn mit den Einwanderern kommen auch neue Konsumenten in die USA, und das ist für eine Volkswirtschaft wie die amerikanische, deren Wirtschaftsleistung zu etwa 70 Prozent auf dem privaten Verbrauch beruht, fundamental wichtig. In den meisten 171
Staaten Europas, besonders bei den »Sparweltmeistern« in Deutschland, leidet der private Konsum dann, wenn die Wirtschaft nicht in Schwung kommen will: Anstatt in unsicheren Zeiten Geld auszugeben und private Konsumbedürfnisse zu befriedigen, werden Ersparnisse angehäuft, um für möglicherweise noch schlechtere Zeiten gewappnet zu sein. Das führt zu einer Abwärtsbewegung in Form einer Doppelspirale: Der Wirtschaft fehlt der private Konsum als Stimulus, wodurch das Wachstum mager ausfällt oder ganz ausbleibt, was bei den Verbrauchern wieder den Impuls zum Sparen verstärkt, was wiederum der Wirtschaft Investitionskapital und Liquidität aus dem Konsum entzieht und vor allem die Nachfrage nicht belebt. Oft werden die Statistiken der Weltbank oder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), wonach in den USA das Pro-Kopf-Einkommen und die Produktivität in den letzten Jahren deutlich stärker gestiegen sind als in den meisten Staaten der EU, mit dem Hinweis konterkariert, in Amerika müßten die Menschen dafür wesentlich mehr und länger arbeiten, und im übrigen sei die Verteilung des Wohlstands deutlich ungleicher und damit ungerechter als in den Wohlfahrtsstaaten Europas. Die Einwände sind richtig, aber von einem Absinken der Mittelklasse in Amerika auf breiter Front kann fürs erste nicht die Rede sein. In jedem Vorort einer Metropole, in jedem Ballungsraum sieht man die ethnisch vielfältige Mittelklasse in ihren neuen Häusern wohnen – 68 Prozent der Amerikaner wohnen in den eigenen vier Wänden –, sieht sie neue Autos fahren, mehr Computer kaufen, über mehr Wohnraum verfügen, mehr Angestellte fürs Haus und für den Garten beschäftigen – und, ja, mehr arbeiten als die Europäer. Doch sie scheinen dabei nicht unglücklich zu sein, im Gegenteil. Die USA sind, wie der Soziologe und Politologe Seymour Martin Lipset schreibt, eine Ausnahme unter den entwickelten Nationen auch in der Hinsicht, daß sie so wenig staatliche Mittel wie kaum ein anderes Land zur Unterstützung der Armen fürs 172
Wohnen, für die soziale Fürsorge und für die Gesundheitsversorgung aufwenden – etwa 43 Millionen Amerikaner haben keine Krankenversicherung. Unter den reichen Ländern haben die USA den größten Anteil an Armen und die extremsten Einkommensunterschiede. Auf der anderen Seite ist der Anteil derer, die einen höheren Schul- und Hochschulabschluß erreichen, unter allen Schichten der Bevölkerung gleichmäßiger verteilt als in den meisten anderen hochentwickelten Ländern – trotz der hohen Studiengebühren: Prinzipiell kann in der amerikanischen Meritokratie also jeder aufsteigen. In Amerika sind die Möglichkeiten, die gesellschaftliche Elite zu erreichen, relativ gleichmäßig verteilt – nicht aber die Resultate, die Einkommen. Die Ungleichverteilung der Einkommen wird weithin akzeptiert – mehr als etwa in Europa oder auch in Japan –, weil die Gleichverteilung der Chancen für das Individuum als tendenziell erreicht gilt. Was der französische Demograph Emmanuel Todd in denunziatorischer Absicht als »Vorliebe für Ungleichheit und Ungerechtigkeit« beschreibt, könnte man weniger schäumend als weiteren Ausdruck der Vitalität der individualistischen Emphase bezeichnen. Eine Umfrage des Pew Research Center kam im Jahre 2002 zu dem Ergebnis, daß 65 Prozent der Amerikaner der Überzeugung sind, daß ihr Erfolg von ihnen selbst abhängt oder jedenfalls von Umständen, die sie selbst kontrollieren; in Deutschland und Italien waren nicht einmal halb so viele der Befragten dieser Ansicht. Weil es offenbar zur Grundausstattung der amerikanischen Mentalität gehört, die Fähigkeiten des Individuums höher einzuschätzen, als es nach den tatsächlichen Verhältnissen plausibel ist, müssen Arme als künftige Reiche erscheinen, deren Zeit einfach noch nicht gekommen ist. Dieser grundständige Optimismus ist offenbar nicht so leicht zu erschüttern. Bei einer Umfrage der Unternehmensberatung Ernst & Young von 2002, also noch unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der Börsenkurse der Hochtechnologie-Firmen und der Anschläge 173
vom 11. September 2001, gaben 81 Prozent der Studenten an, sie würden einmal reicher sein als ihre Eltern. Und 59 Prozent waren gar überzeugt, Millionäre zu werden. Die Überzeugung, daß es vom Individuum abhängt und von dessen Einsatzbereitschaft, prägt auch die amerikanische Entwicklungshilfe. Oft werden die USA dafür gescholten, sie seien eine herzlose Gesellschaft, weil sie nicht nur die Armen daheim darben ließen, sondern auch weniger für die Entwicklungshilfe aufwendeten als die europäischen Staaten. Betrachtet man nur die staatliche Entwicklungshilfe und setzt sie ins Verhältnis zur Wirtschaftskraft des Landes, stimmt der Befund. Die Entwicklungshilfe der öffentlichen Hand macht aber nur etwa 17 Prozent aller Transferleistungen der USA in die Entwicklungsländer aus, während 61 Prozent vom privaten Sektor kommen – die Überweisungen der Immigranten aus Lateinamerika an ihre Verwandten daheim mit eingeschlossen. Allein private amerikanische Stiftungen geben jährlich drei Milliarden Dollar an Entwicklungshilfe – das ist in absoluten Zahlen fast doppelt soviel, wie die in der offiziellen Statistik als die großzügigsten Länder geführten skandinavischen Staaten Dänemark, Norwegen und Schweden geben. Weitere 22 Prozent kommen aus anderen Regierungsprogrammen. Im Jahr 2000 betrugen die Transferleistungen aus den USA in die Entwicklungsländer insgesamt 57,7 Milliarden Dollar. Die Verschwörungstheoretiker, die in den USA als der führenden kapitalistischen Macht auch die Rädelsführerin der ungerechten Globalisierung und der fortgesetzten Ausbeutung der Verdammten dieser Erde sehen, werden sich von diesen Zahlen ebensowenig überzeugen lassen wie von der Tatsache, daß Europäer und Amerikaner beim Handel miteinander und beim Streit um einen gerechten Welthandel mit den Schwellen- und den Entwicklungsländern auf der gleichen Seite stehen. Beim gescheiterten Gipfel der Welthandelsorganisation (WTO) in Cancún in Mexiko vom September 2003 war die Delegation der 174
EU ebensowenig bereit, ihre Subventionen von etwa zwei Euro pro Kuh und Tag anzutasten wie die USA die Milliarden Dollar Zuschüsse für die heimische Baumwollindustrie. Doch wenn es darum ging, sich über den Umstand zu empören, daß fast drei Milliarden Menschen mit zwei Dollar am Tag auskommen müssen – mithin weniger bekommen als die EU-Kuh –, richtet sich der heilige Zorn gegen Amerika und nur selten gegen Europa, weil die Länder der EU mehr staatliche Entwicklungshilfe leisten als die USA. Wie überhaupt bei allem politischen Zwist der Handel und der wirtschaftliche Austausch zwischen den transatlantischen Partnern florieren wie noch nie. Daniel S. Hamilton und Joseph P. Quinlan nennen in ihrer Studie »Partners in Prosperity« vom Mai 2004 erstaunliche Zahlen. Pro Jahr betragen der transatlantische Handel sowie die wechselseitigen Investitionen und Verkäufe hüben wie drüben 2,5 Billionen Dollar. Im Jahr 2003 wurden Waren und Dienstleistungen im Wert von 395 Milliarden Dollar über den Atlantik ausgetauscht, während europäische Firmen in den USA 16,5 Milliarden Gewinn erzielten. Das Ausmaß der Verflechtung dieser am meisten »globalisierten« Weltgegenden wird aber erst klar, wenn man den Umsatz von 2,8 Billionen Dollar aus dem Jahr 2001 betrachtet, den amerikanische und europäische Tochterfirmen jeweils auf der anderen Seite des Atlantiks erzielt haben. Der politische Zwist hat den Fluß der Investitionen und den Austausch der Waren und Dienstleistungen über den Atlantik nicht im geringsten beeinträchtigt. Die Wirtschaft rechnet auch dann kühl, wenn der politische Diskurs dauerhaft überhitzt ist.
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Nachwort
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rognosen sind ein schwieriges Geschäft, heißt es, zumal wenn sie sich auf die Zukunft beziehen. Wie also werden sich die amerikanisch-europäischen Beziehungen in den kommenden Jahren entwickeln? Welche Rolle wird die Nato spielen in den unterschiedlichen Sicherheitsstrategien der USA und der Europäer? Wird die Befriedung Afghanistans und des Iraks wirklich zum gemeinsamen Anliegen der voneinander zunehmend entfremdeten transatlantischen Partner oder bleibt es bloß beim Lippenbekenntnis, während in Wahrheit mancher Staatsmann in Europa ein Scheitern der USA gerade im Irak wünscht? Ob der Irak zerfällt, in Anarchie oder Autokratie versinkt oder eben doch zu einer föderalen Demokratie mit einer prosperierenden Marktwirtschaft heranwächst, wird sich vielleicht in einem halben oder einem ganzen Jahrzehnt zeigen. Sollte das Projekt gelingen, hätte Amerika beträchtliches politisches Gewicht in der Region hinzugewonnen – zusätzlich zum militärischen. Sollte es scheitern, stünde für Europa eine Hinterlassenschaft bereit, mit der die EU freilich überfordert wäre. Im »Krieg gegen den Terrorismus« werden Amerikaner und Europäer auf der praktischen Ebene der Verbrechensbekämpfung zwar weiter wie bisher – und künftig wohl noch besser – kooperieren. Aber in der philosophischen Frage, wie ernst die Gefahr einer Kombination von Terrorismus und Massenvernichtungswaffen ist, dürfte man sich nicht so rasch einigen. Sind es amerikanische Hysterie und Apokalypsenspiel, an der Doktrin der präemptiven Selbstverteidigung festzuhalten – vor allem im Lichte der kläglichen Aufklärungsleistung der westlichen Geheimdienste über die angeblichen irakischen Massenvernichtungswaffen? Oder ist die Menschheit tatsächlich 176
in eine neue Epoche eingetreten, in welcher die Auslöschung von Millionen Menschen eine ebenso reale Gefahr ist, wie sie es zu den heißen Phasen des Kalten Krieges war? Die USA werden sich kaum je als ein Land unter vielen verstehen, nicht einmal als primus inter pares. Alles spricht dafür, daß sich der in mehr als zwei Jahrhunderten erfolgreicher Expansion gepflegte messianische Impuls nicht einfach in Luft auflösen wird. Ein Amerika ohne Sendungsbewußtsein, ohne moralischen Rigorismus und ohne überragende Militärmacht wird es vorerst nicht geben. Wer Einfluß haben will in Washington, sollte Umerziehungsversuche unterlassen und weder offen noch im geheimen in Europa einen »Gegenpol« aufzubauen versuchen. Auf die Frage, ob man der demokratischen Hegemonialmacht Amerika vertrauen kann, weil sie eine Demokratie ist, oder ihr mißtrauen muß, weil sie eine Hegemonie ist, muß sich für die erste Version entscheiden, wer in Washington Gehör finden will. Beim Streit um das Recht zum Waffentragen, um die Todesstrafe, den Internationalen Strafgerichtshof, um das Kyoto-Protokoll, um genmanipulierte Nahrungsmittel und auch um die rationale Schönheit des metrischen Systems ist es auf absehbare Zeit das beste, sich darauf zu einigen, daß man sich nicht einig ist. Beim Konflikt um Zölle, Agrar- und Industriesubventionen sind Kompromisse möglich. Die Glaubensinbrunst der Amerikaner mag man in Europa nicht nachvollziehen können, doch ohne sie anzuerkennen und nachzuempfinden, muß auch die »zivile Religion«, der glühende Patriotismus ein Rätsel bleiben. Aus ihm schöpft dieses einzigartige Gemeinwesen seine Kraft und den Willen zu wachsen – im Inneren wie nach außen, mit Menschen und mit Waren. Wie lange aber Amerika sein gewaltiges Zwillingsdefizit im Haushalt und in der Leistungsbilanz durch den Zufluß von täglich 1,5 Milliarden Dollar Direktinvestitionen wird ausgleichen können, wissen vielleicht nicht einmal die Wirtschaftswissenschaftler. In den Stürmen einer globalisierten Wirtschaft 177
scheinen die Amerikaner, an ein höheres Maß an Ungleichheit und Individualismus gewöhnt, die Schmerzen der Transformation dennoch besser ertragen und damit vielleicht deren Früchte früher ernten zu können als die Europäer. Die offizielle Hymne für Amerika schrieb Francis Scott Key, angeregt durch den Angriff der britischen Truppen auf Washington von 1814. In der ersten Strophe des »Star Spangled Banner« ist von Raketen und Bomben und der Flagge, von Freien und Tapferen die Rede: »And the rockets’ red glare, the bombs bursting in air, / Gave proof through the night that our flag was still there. / O say, does that star-spangled banner yet wave / O’er the land of the free and the home of the brave?« Die informelle Hymne Europas schrieb John Lennon 1970, angeregt unter anderem durch einen amerikanischen Krieg in Südostasien. Von Raketen und Bomben und Flaggen ist darin nicht die Rede: »Imagine there’s no countries, / It isn’t hard to do, / Nothing to kill or die for, / No religion too, / Imagine all the people / Living life in peace …«
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