Claudia Neu (Hrsg.) Daseinsvorsorge
VS RESEARCH Demografischer Wandel – Hintergründe und Herausforderungen Herausgegeben von Prof. Dr. Gabriele Doblhammer, Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels, Rostock Prof. Dr. James W. Vaupel, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock
Unsere Gesellschaft verändert sich tiefgreifend: Immer mehr Menschen erreichen in Gesundheit ein hohes Lebensalter, immer weniger Kinder kommen zur Welt, neue Partnerschafts- und Familienstrukturen entstehen, Menschen wandern über regionale und nationale Grenzen hinweg. In Zeiten einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung sind neue Entwürfe für Biografien, für das Zusammenleben, für den Arbeitsmarkt, für den Wohlfahrtsstaat aber auch für die Regional- und Stadtplanung gefragt. Mit dieser Schriftenreihe wollen die Herausgeber zur verantwortungsvollen Diskussion um die Hintergründe und Herausforderungen des Demografischen Wandels beitragen und aktuelle Forschungsergebnisse in kompakter, allgemein verständlicher Form darstellen.
Claudia Neu (Hrsg.)
Daseinsvorsorge Eine gesellschaftswissenschaftliche Annäherung
VS RESEARCH
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1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Christina M. Brian / Dr. Tatjana Rollnik-Manke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16627-8
Vorwort Die zukünftige Gewährleistung der Daseinsvorsorge gerät seit der ‚Entdeckung‘ des Demografischen Wandels in eine sehr kontroverse Diskussion. Scheinen doch weniger Menschen auch weniger „Leistungen von allgemeinem Interesse“ zu benötigen. Mit dieser Begründung werden Schulen, Kindergärten, Museen oder Schwimmbäder geschlossen und der öffentliche Personennahverkehr auf ein Minimum zurückgestuft. Gleichzeitig bedarf eine älter werdende Bevölkerung möglicherweise anderer Infrastrukturleistungen als eine Gesellschaft mit vielen Kindern. Insgesamt ist ein Trend zu einer Rückverlagerung von Verantwortlichkeiten und Gestaltungsaufgaben an private Haushalte oder Dienstleister zu beobachten. In unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausgestaltung der Daseinsvorsorge steht die Aufrechterhaltung annähernd gleicher Lebensverhältnisse auf dem Staatsgebiet. Lässt sich ein Paradigmenwechsel in Bezug auf die grundgesetzlich geregelte Herstellung territorialer Gerechtigkeit (Artikel 72 Absatz 2 GG) feststellen (von der Gleichheit zu Gleichwertigkeit), so ist bisher weitgehend unklar, wie gleichwertige Lebensverhältnisse jenseits von einer sozialpolitisch angestrebten Gleichheit aussehen könnten. Offen ist zudem, was als „angemessene“ Daseinsvorsorge in Zeiten voranschreitender Alterung und leerer Kassen für alle Bürger gelten kann und wie sie herzustellen ist. Von besonderer Bedeutung ist dabei auch die Frage, wer zukünftig in welchem Maße für die Bereitstellung (einzelne Bereiche) der Daseinsvorsorge zuständig ist. Die sozialstrukturellen Folgen, die mit der Neukonzeption der staatlichen Daseinsvorsorge einhergehen, bedürfen ebenfalls einer stärkeren Diskussion. Diesen Fragestellungen widmete sich die Tagung „Daseinsvorsorge - Herausforderungen für eine alternde und schrumpfende Bevölkerung“, die vom Rostocker Zentrum im Mai 2007 veranstaltet wurde. Hauptanliegen des Sammelbandes ist es daher, einen umfassenden Überblick zum aktuellen Stand der Diskussion um die Zusammenhänge zwischen Daseinsvorsorge, demografischen Veränderungen und dem Wandel von Staatlichkeit zu bieten. Für die großzügige finanzielle Unterstützung der Tagung sowie dieser Veröffentlichung darf ich mich ganz herzlich bei Frau Prof. Dr. Gabriele Dobelhammer-Reiter bedanken. Frau Dr. Insa Cassens bin ich ebenfalls außerordentlich dankbar, dass sie die Mühen des Lektorates auf sich genommen und die Autorinnen und Autoren so freundlich wie hilfreich unterstützt hat. Darüber hinaus bin ich Frau Marlen Toch für ihre unermüdliche Arbeit am Layout des Bandes sehr verbunden. Claudia Neu 5
Inhalt Daseinsvorsorge - eine Einführung Claudia Neu.......................................................................................................................... 9 I. Neukonzeption der Daseinsvorsorge und ihre sozialstrukturellen Konsequenzen Wandel der Daseinsvorsorge – Von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zur wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Kohäsion Jens Kersten..........................................................................................................................22 Koordination der Anpassung der Daseinsvorsorge an den Demografischen Wandel durch Meta-Regulierung und Netzwerkgovernance Klaus Einig..........................................................................................................................39 Wohlfahrtstaatliche Daseinsvorsorge und soziale Ungleichheit Berthold Vogel .....................................................................................................................67 Daseinsvorsorge und territoriale Ungleichheit Claudia Neu........................................................................................................................80 Auf dem Weg zum Gewährleistungsstaat: Netzvermarktung und Infrastrukturpolitik für die schrumpfende Gesellschaft Weert Canzler, Andreas Knie..............................................................................................97 II Anpassungsstrategien und kommunale Konzepte für eine zukünftige Gestaltung der Daseinsvorsorge Regionale Dimensionen des Alterns und der Umbau der kommunalen Daseinsvorsorge – Entwicklungen am Beispiel ländlicher Räume Stephan Beetz.....................................................................................................................114 Anpassungsstrategien an schrumpfende Versorgungsstrukturen – Beispiele aus Brandenburg und Niedersachsen Karl Martin Born ..............................................................................................................133 Land am Rand? Soziale und wirtschaftliche Infrastrukturentwicklung im ländlichen Raum in Österreich Ingrid Machold, Oliver Tamme ..........................................................................................154 Expansive Umgangsweisen mit dem Demografischen Wandel im bildungspolitischen Bereich – Vorteile und Gefahren am Beispiel des polnischen öffentlichen Bildungssektors Katarzyna Kopycka ..........................................................................................................170 Wenn man gegen den Strom schwimmt und auf Kultur und Weiterbildung setzt Bernadette Jonda ................................................................................................................186 „Wenn jemand fragt, wir würden das machen…“ – Engagementpotenziale junger Senioren in ländlichen Räumen Ostdeutschlands Peter-Georg Albrecht..........................................................................................................206 7
Daseinsvorsorge – eine Einführung Claudia Neu
Das Thema Daseinsvorsorge erfährt seit einigen Jahren eine interessante Neubelebung. War der Begriff der Daseinsvorsorge bisher überwiegend Rechtswissenschaftlern geläufig, so kommen heute sozialwissenschaftliche Veröffentlichungen zu regionalen Entwicklungen kaum noch ohne einen Hinweis auf die Herausforderungen bei der zukünftigen Gestaltung der Daseinsvorsorge aus (exemplarisch Kocks 2005). Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung sowie leere öffentliche Kassen stellen fast alle Städte und Gemeinden vor die Entscheidung, wie die infrastrukturellen Daseinsvorsorgebereiche (beispielsweise Verkehr, Bildung, medizinische Versorgung, Energie) zukünftig gestaltet und finanziert werden können. Das nachfolgende Kapitel führt ein in das Konzept der Daseinsvorsorge und diskutiert seine aktuelle Relevanz für politische Gestaltungsaufgaben und wissenschaftliche Forschungsarbeiten. Darüber hinaus werden die Beiträge der Autorinnen und Autoren des Bandes kurz vorgestellt. 1. Das Konzept der Daseinsvorsorge ‚Daseinsvorsorge’ ist eine deutsche Besonderheit, wenngleich in fast allen Industriestaaten ähnliche Konzepte vorzufinden sind. In den USA und Australien werden öffentlich bereitgestellte Dienstleistungen wie beispielsweise Energie oder Wasserver- und -entsorgung „universal service (obligations)“ genannt, in Großbritannien spricht man vom „public service“ beziehungsweise „services of general economic interest“, während in Frankreich vom „service public“ oder „service d`intérêt géneral“ die Rede ist. Auf der Ebene der Europäischen Union wird der Bezeichnung „Dienstleistungen von allgemeinem (wirtschaftlichen) Interesse“ der Vorzug vor dem Begriff der Daseinsvorsorge gegeben. In Deutschland wurde das Konzept der Daseinsvorsorge seit den späten 1920er bis in die frühen 1970er Jahre maßgeblich durch den deutschen Staats- und Verwaltungsrechtler Ernst Forsthoff geprägt. Forsthoff formulierte allerdings keinen rechtlichen Rahmen für die Ausgestaltung der öffentlichen Dienste, sondern sah in der Daseinsvorsorge stets einen zentralen Legitimationsbaustein staatlicher Herrschaft. Letztlich sind es für Forsthoff die Auswirkungen der Industriegesellschaft auf den 9
modernen Menschen, die Entfremdung von einem natürlichen Lebensumfeld und die Zunahme der Technisierung des Alltages, die die Bürger nach Versorgung und Sicherheit streben lässt.1 Die Verwaltung als Leistungsträger (Forsthoff 1938) garantiert ihrerseits durch die Bereitstellung der Daseinsvorsorgeleistungen die Versorgung und soziale Sicherung der Bürger.2 Diese eher sozialpsychologische Herleitung des Begriffs Daseinsvorsorge bringt es aber mit sich, dass eine trennscharfe Definition von Forsthoff nicht vorgenommen werden konnte (Kersten 2005). So definierte Forsthoff Daseinsvorsorge allgemein als „die Darbietung von Leistungen, auf welche der in die modernen massentümlichen Lebensformen verwiesene Mensch lebensnotwendig angewiesen ist“.3 Zu diesen Leistungen zählen beispielsweise die Versorgung mit Wasser, Gas und Elektrizität sowie Post, Telekommunikation und öffentlicher Verkehr, aber auch Vorsorge im Falle von Krankheit, Alter, Invalidität und Arbeitslosigkeit(Forsthoff 1938: 7, 12, 42ff.). Bis heute existiert für den Begriff der Daseinsvorsorge weder eine Legaldefinition noch ist sein Inhalt abschließend bestimmbar. Im Mittelpunkt der Daseinsvorsorge steht üblicherweise die Versorgung mit Infrastrukturgütern (exemplarisch Knorr 2005). Welche Infrastrukturgüter im Einzelnen dazu gezählt werden, variiert je nach Betrachtung und wohl auch (politischen) Moden (aktuell: Die Diskussion um die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs oder die Breitbandverbindungen).
1 Der Vorsorgegedanke ist bei Forsthoff – in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren stark durch nationalsozialistisches Gedankengut geprägt – stets mit der Diziplinierung der Gesellschaft verbunden. Daseinsvorsorge bietet in ihrer totalitärsten Form somit völlige Entlastung der Bürger von Daseinsrisiken und Totalinklusion in die Gemeinschaft – um den Preis der individuellen Freiheit und Sozialdisziplinierung. Die Grundrechte werden für Forsthoff somit obsolet, sie werden durch die Teilhabe an der Gemeinschaft ersetzt. Bereits Mitte der 1930er Jahre löst sich Forsthoff von der nationalsozialistischen Ideologie und damit von dem Gedanken der totalen Kontrolle und Disziplinierung der Bürger durch die Daseinsvorsorge. Im Kriegsjahr 1941 betont er in seinem Vortrag „Grenzen des Rechts“, dass staatliche Daseinsvorsorge individuellen Bedarfen angepasst sein muss. (Kersten 2005: 553 ff.) 2 Für Forsthoff war die Bereitstellung der Infrastrukturgüter zur Daseinsvorsorge eine zentrale Aufgabe der Verwaltung: „... alles, was von Seiten der Verwaltung geschieht, um die Allgemeinheit oder nach objektiven Merkmalen bestimmte Personenkreise in den Genuss nützlicher Leistungen zu versetzen, ist Daseinsvorsorge“. Bedeutsamer ist aber vermutlich, wie Forsthoff fortführt: „Diese Feststellung ist auch der Umkehrung fähig: alle öffentliche Daseinsvorsorge in diesem Sinne ist öffentliche Verwaltung, gleichgültig in welchen Formen sie ausgeübt wird“. (Forsthoff 1973: 370) Somit ist die Einordnung der Daseinsvorsorge als Element der Leistungsverwaltung klar umrissen. 3 In seinem später veröffentlichten Werk „Lehrbuch des Verwaltungsrechts“ passte Forsthoff sein Verständnis der Daseinsvorsorge der veränderten Zeit an. Er verzichtet nunmehr auf die frühere Einschränkung der Daseinsvorsorge auf lebensnotwendige Leistungen. Unter den Begriff der Daseinsvorsorge fallen jetzt alle nützlichen Leistungen der Verwaltung, unabhängig davon, ob diese Leistungen als lebensnotwendig eingestuft werden oder nicht. Allerdings wird eine Differenzierung in Leistungen, bei denen keine Wahl besteht, ob sie in Anspruch genommen werden oder nicht (z.B. Gas, Wasser, Elektrizität) und in Leistungen, deren Nutzung aus eigenem Antrieb geschieht (z. B. Theater, Volkshochschule), vorgenommen. (Forsthoff 1973, Neu et al. 2007)
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2. Daseinsvorsorge – reloaded Gleichwohl bleibt offen, warum augenblicklich das Interesse an der Daseinsvorsorge so groß ist. Wohlmöglich liegt die Neubelebung des Themas darin begründet, dass das Konzept der Daseinsvorsorge stets aufs engste mit den Vorstellungen von staatlichem Handeln und gesellschaftlicher Ordnung verbunden war. Nun drängen angesichts demografischer Verschiebungen, wirtschaftlicher Schieflage und verschärftem wohlfahrtsstaatlichem Wandel die Themen soziale Sicherung, Exklusion, Verwundbarkeit und neuen Ungleichheiten in die öffentliche und wissenschaftliche Debatte zurück. Wie soll sich zukünftig das Verhältnis von (Wohlfahrts-) Staat und Gesellschaft gestalten? Wie wandeln sich soziale und räumliche Ordnungsmodelle? In diesem Zusammenhang gilt es zu bedenken, welche große Rolle die infrastrukturellen Daseinsvorsorgeleistungen für das Zusammenwachsen und –halten der Nachkriegs- und Wiedervereinigungsgesellschaft Bundesrepublik gespielt haben. Infrastrukturen haben dabei stets mehr als reine Versorgungsfunktionen für die Bürger erfüllt, sie beförderten zugleich die soziale und territoriale Integration der Gesellschaft (van Laak 1999, 2006; Kersten 2006). Die integrierende Wirkung entfalteten die öffentlichen Dienstleistungen vor allem durch ihre flächendeckende Bereitstellung, die allen Bürgern Zugang und Teilhabe an den gesellschaftlichen Entwicklungen ermöglichen sollte. Diesem „geheimen Lehrplan“ der Infrastrukturpolitik (van Laak 2006: 168) folgend, diente die „Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse“ – seit 1994 die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ (Artikel 72 Absatz 2 Grundgesetz) – jahrzehntelang als politischer Leitgedanke, um unterschiedlich entwickelte Räume an ein gleichmäßig hohes Wohlstandsniveau heranzuführen. Der Bayerische Wald, Ostfriesland und die Eifel sind markante Beispiele für ländliche Regionen, die mittels einer Angleichung der Lebensverhältnisse am wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik Deutschland und der steigenden Lebensqualität partizipieren konnten. Auch die Wiedervereinigung Deutschlands war von dem Gedanken beseelt, dass die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse die territoriale Integration des gesamten Staatsgebiets befördern würde. Überall sollten die Landschaften gleich erblühen, in Rostock wie in Augsburg, in der Niederlausitz wie auf der Schwäbischen Alp. Konkret bedeutete dies: An jedem Ort der Republik für eine bestimmte Anzahl von Menschen die gleiche Ausstattung mit Bildungseinrichtungen, Freizeitanlagen, Betten in Krankenhäusern, aber auch mit Arbeits- und Ausbildungsplätzen bereit zu stellen, um den dort Wohnenden auf diese Weise „gleichwertige Lebensverhältnisse“ zu garantieren (Barlösius / Neu 2007). Mit Jens Kersten (2006: 245) kann das besondere bundesrepublikanische Verhältnis von Daseinsvorsorge und räumlicher Ordnung wie folgt zusammengefasst werden: „Politisch betrachtet, ist die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse der unitarische Kern des Selbstverständnisses der Bundesrepublik als Wohlfahrtsstaat. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist gleichsam die räumliche Variante des sozial11
staatlichen Versprechens, jedermann am gesellschaftlichen Versprechen teilhaben zu lassen, der sich nach 1945 so unverhofft in der Bundesrepublik entwickelt hat.“ Nun aber lassen Demografischer Wandel und Strukturkrisen der vergangenen Jahre die erzielten Erfolge des bundesrepublikanischen Nachkriegsdeutschlands und der Wiedervereinigung brüchig werden. Regionale Disparitäten – zwischen Stadt und Land, Ost und West, Nord und Süd, Zentrum und Peripherie – flammen auf und stellen die brennenden Fragen nach sozialer Ungleichheit, Integration und Teilhabe neu. Zugleich lässt sich ein Paradigmenwandel im Umgang mit bedürftigen Regionen erkennen, Hilfsbedürftigkeit legitimiert nun nicht mehr Unterstützung, sondern umgekehrt, im Rückgriff auf demografische Argumente (weniger Menschen brauchen weniger Infrastruktur), werden öffentliche Dienstleistungen gekürzt und eingestellt. Mit dieser Begründung werden Schulen, Kindergärten, Museen oder Schwimmbäder geschlossen und der öffentliche Personennahverkehr auf ein Minimum zurückgestuft. In entlegenen ländlichen Regionen drohen bereits Versorgungsdefizite und ein Verlust an Teilhabechancen am gesellschaftlichen Leben. Doch selten wird nach den sozialstrukturellen Folgen des Um- und Abbaus von Daseinsvorsorgeeinrichtungen gefragt. Welche Bevölkerungsgruppen leiden besonders unter dem zunehmenden Maß an territorialer Ungleichheit (Neu 2006)? Welche Auswirkungen haben die dauerhaften Einschränkungen – beispielsweise bei der medizinischen Versorgung oder im öffentlichen Personennahverkehr – auf die Lebenschancen der Betroffenen? Wann immer die zukünftige Ausgestaltung der Daseinsvorsorge verhandelt wird, berührt dies stets die Frage nach der Aufrechterhaltung annähernd gleicher Lebensverhältnisse auf dem Staatsgebiet. Doch wie könnten gleichwertige Lebensverhältnisse jenseits einer sozialpolitisch angestrebten Gleichheit aussehen? Und was kann in Zeiten voranschreitender Alterung und leerer Kassen als „angemessene“ Daseinsvorsorge für alle Bürger gelten und wie ist sie herzustellen? Wie kann sozialer und territorialer Zusammenhalt gesichert werden, wenn die räumliche Differenzierung zunimmt? Welche sozialstrukturellen Folgen zeitigen die veränderte Ausgestaltung der daseinssichernden Infrastruktur? Der Paradigmenwandel in Bezug auf die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse (gleichwertig ist nicht gleich) muss eingebettet werden in den sich vollziehenden Wandel von (Wohlfahrts-)Staatlichkeit (Leibfried / Zürn 2006, Hurrelmann et al 2008; Schuppert / Zürn 2008, Vogel 2007), der mit der Formel vom ‚sorgenden’ zum ‚gewährleistenden’ Wohlfahrtsstaat umschrieben werden kann. Der Staat sorgt nun nicht mehr primär für die Reduzierung sozialer Ungleichheit, gesicherte berufliche Laufbahnen und den Ausbau öffentlicher Dienste, sondern zieht sich Stück für Stück aus der Leistungserbringung zurück und stellt sicher, dass vormals staatliche Dienstleistungen nun durch andere (private) Anbieter erbracht werden. In Teilbereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge (Telekommunikation, Post, ÖPNV, Kindertageseinrichtungen etc.) hat sich bereits dauerhaft eine veränderte Arbeitsteilung 12
zwischen Staat und privaten Unternehmen etabliert. Am Beispiel der Daseinsvorsorge lassen sich die Fragen nach der zukünftigen Rolle des Staates hervorragend durchdeklinieren: Was soll und kann der Staat zukünftig im Bereich der Daseinsvorsorge (noch) leisten? Wer soll welche Dienste und Infrastrukturangebote zukünftig anbieten? Wo sind die Grenzen privatwirtschaftlicher Leistungserbringung? In welchem Umfang und in welchen Daseinsvorsorgebereichen können sich Bürger aktiv einbringen und ergänzend zu staatlichen oder privatwirtschaftlichen Leistungen wirken? Noch wird in der Wissenschaft gestritten (exemplarisch Schuppert 2002, vgl. Fußnote 1 Kersten 2005), ob der Forsthoff’sche Daseinsvorsorgebegriff noch anschlussfähig ist und welchen weiterführenden Beitrag er heute für die Lösung zukünftiger Herausforderungen leisten kann. Sicher darf eine heutige Verwendung des Daseinsvorsorgebegriffs nicht in der Staatsfixiertheit Forsthoffs stecken bleiben. Doch Forsthoff bietet zugleich verschiedenste Ansatzpunkte, die für eine zukunftsweisende Diskussion fruchtbar gemacht werden können – und in diesem Band auch bereits ihren Niederschlag finden. Dies gilt ebenso für die Frage nach der „Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft“ (Forsthoff 1971, Vogel 2007), wie für die zukünftige Rolle der Bürger bei der Erbringung daseinssichernder Leistungen (Neu et al. 2007). Forsthoff (1958) sah – wenn dies auch bloß ein kurzes Intermezzo bleiben sollte – in seinem Vortrag „Die Daseinsvorsorge und die Kommunen“ aus dem Jahr 1957 erstmalig nicht allein die staatliche Verwaltung als Leistungserbringer in der Pflicht, sondern er begriff die kommunale Selbstverwaltung als einen Platz für demokratische Mitbestimmung und bürgerschaftliche Beteiligung.4 Hier gilt es anzusetzen, um ein neues „Drehbuch“ (Schuppert 2008) für ein Zusammenspiel von Staat, Markt und Bürgern für die Sicherung der Daseinsvorsorge zu schreiben. Darüber hinaus ist noch nicht entschieden, wie soziale Teilhabe und räumliche Integration, die bisher maßgeblich über die flächendeckende Bereitstellung von Infrastrukturen gelenkt worden sind, in einem zunehmend regional differenzierten Staat zu gewährleisten sind. 3. Kurzüberblick über die Beiträge des Bandes Die zuvor angeschnittenen thematischen Eckpunkte Demografischer Wandel, Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, politische Planung und Steuerung, Wandel des Wohlfahrtsstaates, soziale Ungleichheit und bürgerschaftliches Engagement setzen den Rahmen für die vorliegenden Beiträge. Alle Artikel nehmen mehr oder weniger Bezug auf die angespannte demografische und wirtschaftliche Situation in 4 Die kurze Blüte der Bürgerbeteiligung ist jedoch bereits in den 1960 Jahren vorüber. Forsthoff kehrt zu seiner kritischen Haltung gegenüber Bürgerbeteiligung zurück. (Kersten 2005: 559)
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entlegenen ländlichen Räumen, denn dort zeigen sich die Herausforderungen für die zukünftige Gestaltung der Daseinsvorsorge mit besonderer Deutlichkeit. Der Band gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil stehen die Neukonzeption der Daseinsvorsorge und ihre sozialstrukturellen Folgen im Zentrum der Betrachtung. Im zweiten Teil stehen dann regionale Dimensionen des Demografischen Wandels und ihre Auswirkungen auf die (kommunale) Daseinsvorsorge im Vordergrund. Jens Kersten führt im ersten Beitrag des Bandes aus rechtswissenschaftlicher Sicht in die Thematik Daseinsvorsorge ein. Kersten konzentriert sich auf die Frage, wie künftig unter den Bedingungen von Schrumpfung und Wachstum die Daseinsvorsorge gesichert werden kann. Galt bisher das wohlfahrtsstaatlich geprägte Leitbild der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“, so vollzieht sich momentan ein Leitbildwandel in Richtung des europarechtlich inspirierten Leitbildes des „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts“. Am Beispiel der Daseinsvorsorgesektoren Verkehr und Telekommunikation wird gezeigt, wie das Leitbild des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts die Gewährleistung der Daseinsvorsorge in einer schrumpfenden Gesellschaft steuern kann. Im folgenden Beitrag zeigt Klaus Einig am Beispiel der Raumordnung, wie das Dienstleistungsangebot der Daseinsvorsorge bereichsübergreifend koordiniert werden kann. Einig führt in das raumordnerische Politikfeld der Daseinsvorsorge ein und erläutert, welche Koordinationsmodi der Raumordnung zur Regulierung des Angebots von Daseinsvorsorgeeinrichtungen zur Verfügung stehen. Bisher versucht die Raumordnung mithilfe ihres Zentrale-Orte-Konzeptes für die Grundversorgung in der Fläche einen Ordnungsrahmen zu definieren. Allerdings lassen sich in besonders vom Bevölkerungsrückgang betroffenen Räumen Anpassungsprozesse unterausgelasteter Einrichtungen durch die Raumordnung nicht auf hierarchischem Wege koordinieren. In diesen Räumen nutzt die Raumordnung nun ihre moderierenden Kapazitäten und versucht eine Koordination von Anpassungsprozessen durch Initiierung und Management von Netzwerken (Netzwerkgovernance) einzuleiten. Berthold Vogel widmet sich in besonderer Weise dem zentralen Zusammenhang eines auf Daseinsvorsorge hin orientierten Wohlfahrtsstaates und sozialer Ungleichheit. Vogel beschreibt die aktuellen wohlfahrtstaatlichen Entwicklungen als einen Wandel vom sorgenden zum gewährleistenden Wohlfahrtstaat, der neue Steuerungsprinzipien hervorgebracht hat. So sind es nicht mehr ‚Sorge’ und ‚Statuserhalt’, sondern ‚Gewährleistung’ und ‚Ermöglichung’, die staatliches Handeln prägen. Der Wandel der (Industrie-) Arbeitsgesellschaft und der Wohlfahrtstaatlichkeit haben neue soziale Ungleichheiten hervorgebracht, die nunmehr auch den Mittelstand treffen. Abschließend plädiert Vogel für ein kreative Schrumpfungspolitik, die sich dem 14
Wachstumsprinzip des „Immer-Mehr“ verabschiedet und ein „Immer-Weniger“ gestaltet. Im Mittelpunkt des Beitrags von Claudia Neu stehen ebenfalls die Folgen, die der Demografische Wandel, die unbewältigte Strukturkrise und die leeren öffentliche Kassen für die Bewohner entlegener ländlicher Räume haben. Vielfach führt der Abbau der öffentlichen Infrastruktur nicht nur zu Versorgungsdefiziten, sondern damit einhergehend zu einem Verlust an Zugangs- und Teilhabechancen. Neu untersucht zudem, welche Wirkung der Abbau der sozialen und kulturellen Infrastruktur auf das Gemeindeleben und den öffentlichen Raum hat. Der Beitrag endet mit einer Diskussion darüber, unter welchen Bedingungen eine stärkere Bürgerbeteiligung bei der Erbringung daseinssichernder Leistungen zu erwarten ist. Weert Canzler und Andreas Knie verknüpfen am Beispiel des Bereichs ÖPNV die Themenfelder Demografischer Wandel, wohlfahrtsstaatlicher Wandel und zukünftige Infrastrukturpolitik. Die Autoren unterbreiten verschiedene Ansätze zu einer umfassenden Reform der Daseinsvorsorge. Neben einer stärkeren Privatisierung ehemals öffentlicher Dienste sehen sie alternativ eine verstärkt hybride Leistungserbringung, die neue Anbieterkonstellationen zulässt. Gleichzeitig müssen die Infrastrukturen sich variabel der veränderten (sprich: verminderten) Nachfrage anpassen können und Anreize für eine effiziente Ressourcennutzung bieten. Zudem bedarf es einer grundlegenden Änderung staatlicher Förderung für periphere ländliche Räume. Wo die Aufrechterhaltung flächendeckender Daseinsvorsorge aus Kostengründen nicht mehr sinnvoll ist, gilt es über weiterführende Ansätze nachzudenken wie beispielsweise die Einführung individueller Transferleistungen für die Versorgung mit Gütern und Diensten des täglichen Bedarfs, eine stärkere Unterstützung der Eigeninitiative der Bürger bei der Leistungserbringung oder auch die Auslobung einer Umzugsprämie. Die folgenden Beiträge im zweiten Teil des Bandes befassen sich schwerpunktmäßig mit den regionalen Dimensionen des Demografischen Wandels und ihre Auswirkungen auf die (kommunale) Daseinsvorsorge. Einleitend betrachtet Stephan Beetz gesellschaftliches und individuelles Altern, das regional sehr unterschiedlich verläuft. Dabei kann einerseits nicht davon ausgegangen werden, dass ländliche Regionen grundsätzlich ‚älter’ sind, also eine besonders alte Bevölkerung aufweisen, allerdings verzeichnen ländliche Räume andererseits seit Beginn der 1990er Jahre eine überdurchschnittliche Alterung, besonders bei den über 75-jährigen. Individuelles Altern wiederum ist stark von den Lebensbedingungen vor Ort (Ausstattung und Zugangsmöglichkeiten zu Infrastruktur) abhängig. Bietet naturräumliche Qualität ein eindeutiges Plus für viele ländliche Räume, so 15
mindern die besonders in entlegenen Räumen auftauchenden Versorgungsdefizite eben diese Vorteile. Für viele Ältere gestaltet sich das Leben in peripheren ländlichen Räumen zunehmend schwieriger. Denn der Rückzug der stattlichen Infrastrukturausstattung aus der Fläche trifft auf eine hohe Wohnortgebundenheit bei weniger mobilen Senioren. Räumlich differenzierte Alterungsprozesse ebenso wie unterschiedliche infrastrukturelle Ausstattungsniveaus erfordern einen regional angepassten Umbau der Daseinsvorsorge auf staatlicher und mehr noch auf kommunaler Ebene. Dies bedarf jedoch einer Klärung der Verantwortlichkeiten für einzelne Daseinsvorsorgebereiche, einer Diskussion und Entscheidung über Ausgleichsleistungen und Qualitätsstandards, aber vor allem der Sicherung kommunaler Handlungsfähigkeit. Karl Martin Born fragt in seinem Beitrag in einer ost- und einer westdeutschen ländlichen Region nach den Bedingungen für die Gestaltung einer wohnortnahen Grundversorgung besonders im Bereich der Versorgung mit Lebensmitteln. Die Wohnumfeldanalyse erbringt das Ergebnis, dass vor allem für die ostdeutsche Region von Versorgungsdefiziten gesprochen werden kann. Gleichzeitig erweist sich die Problemlösung als äußerst kompliziert, da verändertes Konsum- und Mobilitätsverhalten sowie enge finanzielle Handlungsspielräume der Befragten eine einfache Rückkehr zum „Tante-Emma-Laden“ wenig wahrscheinlich werden lassen. Angesichts einer schnell alternden Bevölkerung wird dennoch zukünftig zu diskutieren sein, wie die Grundversorgung – auch im Bereich der Lebensmittel – zwischen privaten Anbietern im Einzelhandel, nachbarschaftlichen Hilfestellungen und staatlichen Unterstützungen nachhaltig zu organisieren ist. Von der Konzentration im Lebensmitteleinzelhandel sind auch die ländlichen Räume Österreichs nicht verschont geblieben, ebenso sind dort Buslinien abgebaut und viele hundert Poststationen in den vergangenen Jahren geschlossen, Kindergärten, Senioren- und Pflegeeinrichtungen hingegen ausgebaut worden. In den kommenden Jahren bleibt zu beobachten, wie sich die Konzentration der höheren Schulen in zentralen Orten auf die Bildungsbeteiligung von Kindern aus ländlichen Räumen auswirken wird. Ingrid Machhold und Oliver Tamme sehen auch für die ländlichen Räume Österreichs die Notwenigkeit, Infrastrukturen multifunktional zu gestalten und zu nutzen. Praxisgemeinschaften oder „Multi Service Shops“ bieten sich an, um eine bessere Versorgung der Bewohner entlegener Gemeinden mit den Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs oder ärztlicher Versorgung zu verbessern. Die folgenden drei Beiträge widmen sich den Versuchen, dem Demografischen Wandel nicht allein mit Schließungen und Kürzungen von kommunaler Seite her zu begegnen. Katarzyna Kopycka schildert, welche nicht intendierten Nebenfolgen die ‚expansive’ polnische Strategie hatte, dem Rückgang der Schülerzahlen mit einer 16
umfassenden Schulreform (Verlängerung der Schulpflicht, veränderte Schulformen, Einstellung von Lehrern) zu begegnen. So hat ihre Analyse ergeben, dass diese expansive Politik im Bildungsbereich zu einer erheblichen Belastung der polnischen Gemeindehaushalte führt. Die Kommunen laufen dadurch Gefahr, ihre Investitionsfähigkeit einzubüßen. Allerdings führten die erheblichen Erhöhungen der Ausgaben für Bildung in den vergangenen Jahren nicht zu einer Einschränkung der Infrastrukturleistungen für ältere Bewohner. Nicht selten werden als Reaktionen auf die demografische Entwicklung zuallererst Kultur und Weiterbildung Opfer kommunalpolitischer Entscheidungen. Bernadette Jonda beschreibt am Beispiel einer rheinland-pfälzischen Gemeinde, welche Potenziale gerade in den Bereichen Kultur und Weiterbildung stecken und wie gut sie geeignet sind, um auf demografische Veränderungen in den Kommunen sinnvoll reagieren zu können. Der Erhalt oder sogar Ausbau kultureller Infrastruktur ist nicht nur in der Lage, die Integration ausländischer Mitbürger zu befördern, sondern erweist sich als wichtiger Standortfaktor für Neubürger und Touristen. Dass auch bürgerschaftliches Engagement – unter bestimmten Voraussetzungen – eine gewinnbringende Ergänzung zur Daseinsvorsorge darstellen kann, schildert Peter Georg Albrecht in seinem Beitrag. Zunehmend wird das Aktivitätspotential der Senioren im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements entdeckt. Doch in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands trifft der Engagementwille vieler Senioren auf wenig förderliche Strukturen. Durch den Abbau der sozialen und kulturellen Infrastruktur verlieren viele Aktiven den Rückhalt ihres freiwilligen Engagements. So geht die Schulschließung mit dem Verlust der Turnhalle für das Seniorenturnen einher, mit dem „Abzug“ des Pfarrers wird auch der Gemeinderaum nicht mehr benutzt. Eine deutlich ausgeprägtere Anerkennungskultur, hauptamtliche Unterstützung und innovative Lösungen zur Erhaltung der sozialen und kulturellen Infrastruktur sind geeignet, einen entscheidenden Beitrag zu leisten, damit Senioren sich zukünftig mehr ins öffentliche Leben einbringen und ihr Umfeld mitgestalten können. Ziel des Bandes soll es sein, der interessierten Leserschaft einen umfassenden Überblick zum aktuellen Stand der Diskussion um die Zusammenhänge zwischen Daseinsvorsorge, demografischen Veränderungen und Wandel von Staatlichkeit zu bieten. Erstmals werden die – gar nicht so – unterschiedlichen Standpunkte der Rechtswissenschaften, Geographie und Soziologie in einer Veröffentlichung zusammengeführt. Das Buch wendet sich sowohl an WissenschaftlerInnen und StudentInnen der Rechtswissenschaften, Geographie und Soziologie sowie an politische Entscheidungsträger.
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I. Neukonzeption der Daseinsvorsorge und ihre sozialstrukturellen Konsequenzen
Wandel der Daseinsvorsorge – Von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zur wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Kohäsion Jens Kersten
1. Einleitung Der Demografische Wandel in der Bundesrepublik Deutschland wird durch zwei langfristige Entwicklungen bestimmt: Die Geburtenrate sinkt, die Lebenserwartung steigt (BMVBW/BBR 2005:7ff.; Kaufmann 2005:11ff., 38ff.; Birg 2003:42ff.). Seit den 1970er Jahren liegt die Geburtenziffer in Deutschland mit geringen Schwankungen bei durchschnittlich 1,4 Kindern und damit um ein Drittel unterhalb des Bestandserhaltungsniveaus. Im internationalen Vergleich rangiert die Bundesrepublik mit dieser Geburtenrate unter 190 Staaten auf Platz 185. Doch die Bevölkerung der Bundesrepublik geht nicht nur zurück, sondern sie altert zugleich auch: Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt aufgrund der besseren Lebensqualität sowie des medizinischen Fortschritts. Die Brisanz dieser demografischen Entwicklung liegt in der Veränderung der Bevölkerungsstruktur (Kaufmann 2005:15, 41, 234ff.): Setzen sich die gegenwärtigen Trends fort, so wird für das Jahr 2050 prognostiziert, dass der Bevölkerungsanteil der Jugendlichen bei 16,1 Prozent, der 20 bis 60 Jahre alten Erwerbstätigen bei 47,2 Prozent und der über 60 Jahre alten Bürger bei 36,7 Prozent liegt. Der Demografische Wandel verstärkt die bereits bestehenden sozialen und regionalen Gegensätze der Bundesrepublik (Kaufmann 2005:112, 115; Birg 2006:43; Tutt 2007:21ff., 39ff.), die durch Binnenwanderungen von Ost nach West und von Nord nach Süd noch weiter intensiviert werden (BMVBW/BBR 2005:7ff.; Kaufmann 2005:16, 91, 101, 111, 161; Tutt 2007:23f.): Anziehungspunkte sind die wachstumsstarken Metropolregionen. Diese spannen sich geografisch in Form eines „C“ von Hamburg über Bremen, Rhein-Ruhr, Rhein-Main, Rhein-Neckar und Stuttgart bis nach München. In Ostdeutschland werden sie allein durch den Wachstumspunkt Berlin ergänzt. „C mit Punkt“ lautet deshalb die neue wirtschaftsgeografische Formel für die Bundesrepublik. Dieser soziale Strukturwandel hat auch Folgen für die Infrastruktur: Die flächendeckende Daseinsvorsorge in der Bundesrepublik ist gefährdet (BMVBW/BBR 2005:8ff.; MKRO 2006:3). Insbesondere über den ländlichen Gebieten, die in dem 22
stark schrumpfenden Dreieck Düsseldorf, Stralsund, Dresden liegen, schwebt das „Damoklesschwert des Wegbrechens noch vorhandener Angebote“ (BMVBW/ BBR 2005:74) der Verkehrs-, Versorgungs-, Gesundheits-, Kommunikations- und Bildungsinfrastrukturen (Dahrendorf 1995:103ff.): Die Gemeinden und Städte schrumpfen personell, sozial, finanziell, wirtschaftlich und politisch. Sie perforieren städtebaulich. Innenstädte veröden. Kirchen schließen. Industrie stirbt oder wandert ab. Öffentliche Einrichtungen veralten. Medizinische Versorgung ist nicht mehr gesichert. Schulen werden geschlossen. Immobilien verlieren ihren Wert. Kulturlandschaften verwildern. Vom „Implosionsrisiko“ (Beirat für Raumordnung 2004: 13; ebd.:2) ganzer Regionen ist die Rede, von der „Gefahr regionaler Abwärtsspiralen“ (BMVBW/BBR 2005:11; Sinz 2006:605), von „Wüstungen“ (Tutt 2007:34), vom „Regionaldarwinismus“ (Weiß 2005:348). Demgegenüber wird das Niveau der Daseinsvorsorge in den expandierenden Metropolregionen der Bundesrepublik künftig noch weiter ansteigen. Deutschland wächst und schrumpft zugleich (Canzler 2007:524). Wie soll in diesem Nebeneinander von wachsenden und schrumpfenden Räumen die Daseinsvorsorge künftig gesichert werden? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst zu klären, was Daseinsvorsorge heute meint (2.). Auf dieser Grundlage ist sodann dem Wandel des räumlichen Leitbilds für die Daseinsvorsorge nachzugehen, der sich gegenwärtig von dem wohlfahrtsstaatlich geprägten Leitbild der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ zum europarechtlich inspirierten Leitbild des „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts“ vollzieht (3.). Schließlich soll drittens am Beispiel der Daseinsvorsorgesektoren Verkehr und Telekommunikation gezeigt werden, wie das Leitbild des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts die Gewährleistung der Daseinsvorsorge in einer schrumpfenden Gesellschaft steuern kann (4.). 2. Daseinsvorsorge Der Begriff der Daseinsvorsorge hat erst in jüngerer Zeit Eingang in gesetzliche Regelungen gefunden: So weisen § 1 Abs. 1 RegG und Art. 2 Abs. 1 Satz 1 BayÖPNVG den öffentlichen Personennahverkehrs als staatliche Daseinsvorsorge aus. Darüber hinaus hat auch die „kommunale Daseinsvorsorge“ Eingang in die Gemeindeordnungen (vgl. Art. 87 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BayGO) sowie in die BIDGesetzgebung (§ 2 Abs. 2 Satz 3 HessINGEG) gefunden. Und aktuell konturiert das neu gefasste Raumordnungsgesetzes den Begriff einer „nachhaltigen Daseinsvorsorge“ (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 S. 2 und Nr. 3 S. 1 ROG). Doch trotz dieser gesetzlichen Regelungen gibt es keine abschließende Definition des Begriffs der „Daseinsvorsorge“. Im Allgemeinen wird versucht, Daseinsvorsorge beispielhaft zu konturieren (Kersten 2006a:246): medizinische Dienste, Wasser- und Elektrizitätsversor23
gung, Abfallentsorgung, Verkehrs- und kommunikative Infrastruktur. Zum Teil werden auch Bildung und soziale Sicherung hinzugezählt. Diese Kasuistik darf jedoch nicht den Blick auf die Funktion der Daseinsvorsorge als einem ganz zentralen sozialpolitischen Legitimationsbaustein von Herrschaft in der Industriegesellschaft verstellen: Die Bundesrepublik legitimiert sich nicht nur durch die Staatsfundamentalnormen des Art. 20 Abs. 1 GG, also vor allem durch Demokratie sowie durch Rechts- und Sozialstaatlichkeit, sondern insbesondere auch durch die Garantie der Daseinsvorsorge für die Bürger. Für die deutsche Verfassungs- und Verwaltungslehre prägend hat Ernst Forsthoff die Daseinsvorsorge als sozialwissenschaftlich inspirierte Legitimationstheorie von den späten 1920er bis in die frühen 1970er Jahre des letzten Jahrhunderts entfaltet (vgl. der Sache nach bereits Forsthoff 1932:45ff.; begrifflich und programmatisch sodann Forsthoff 1938:1ff.; 1971:75f.; 1973:368ff., 567ff.). Schon der Begriff „Daseinsvorsorge“ zeigt, dass Forsthoff mit ihm einen existentiellen Sachverhalt thematisieren wollte: Forsthoff spricht 1935 – also zu einem Zeitpunkt, zu dem er sich langsam vom Nationalsozialismus zu lösen beginnt – von der „sozialen Empfindlichkeit des modernen Massendaseins“ (Forsthoff 1935:398; vgl. sodann 1938:4f.; schließlich 1971:75f.) des Menschen – und meint damit die Folgen der industriellen Revolution für die Autonomie des Individuums und daran anschließend die soziale und politische Ordnung (Kersten 2005:557ff.; Schütte 2006 :81ff.; Vogel 2007:13ff.; Gegner 2007:455ff.; Bull 2008:2ff.). Doch für Forsthoff sind zeitlebens die Daseinsvorsorge für den Einzelnen und die Sozialdisziplinierung des Einzelnen zwei Seiten der gleichen Medaille, ohne dass dem Individuum bei der Gestaltung der Daseinsvorsorge eine aktive soziale und politische Rolle zukäme. Forsthoff setzt ausschließlich auf den starken Staat als Leistungsträger (eine Ausnahme in Forsthoffs Werk bildet Forsthoff 1958; vgl. hierzu Kersten 2005:558f.). Doch wie Lorenz Jellinghaus jüngst gezeigt hat (Jellinghaus 2006:26ff., 143ff., 159ff., 167ff., 259ff.), verdeckt die Rezeption dieses staatsfixierten Infrastrukturexistentialismus in der Bundesrepublik die sozialliberalen Alternativen, die von der Verwaltungswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden, um den Infrastrukturausbau politisch und rechtlich zu steuern: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts versagt die wohlfahrtstaatliche Medizinalpolizei bei der Bekämpfung der Cholera. Deshalb formulieren ab 1860 – vor dem Hintergrund von Industrialisierung, Urbanisierung und Bevölkerungsexplosion – Naturwissenschaft und Kommunalpolitik gemeinsam in der Hygienebewegung und sodann im Deutschen Verein für öffentliche Gesundheitspflege den infrastrukturellen Paradigmenwechsel: Krankheiten dürfen nicht erst mit polizeilichen Mitteln unterdrückt, sondern müssen bereits durch den gezielten Aufbau von städtischen Infrastrukturen im Keim erstickt werden. Die liberale Verwaltungslehre der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstatiert sehr sensibel, dass sich mit diesem Aufbau der Versorgungs- und Verkehrsstrukturen die Staatsaufgaben exponentiell ausweiten: Nach 24
Robert von Mohl und Rudolf von Gneist sollen die Bürger den Aufbau der kommunalen Verkehrs- und Versorgungsnetze in Vereinen und Kommunen selbst gestalten. Hier schwingt das politische Erbe der gescheiterten Revolution von 1848 mit, das die Kommunalisierung der urbanen Infrastrukturen zunächst prägt, sich dann aber schließlich im Munizipalsozialismus bereits kurz vor dem ersten Weltkrieg verlieren wird. Auch Lorenz von Stein sucht mit seiner Unterscheidung zwischen „arbeitendem Staat“ und „freier Verwaltung“ nach Formen der Bürgerpartizipation für die Entfaltung von Verkehrs- und Versorgungsstrukturen. Und Otto Mayer rezipiert schließlich unter dem Eindruck der Infrastrukturstabilität um 1900 das französische Konzept des service publique in seiner Lehre von der „öffentlichen Anstalt“, die eine staatliche Verantwortung für die Netzstrukturen mit privater Aufgabenerfüllung kombiniert: Der Staat garantiert zwar die lebenswichtigen Infrastrukturen für die Bürger. Deren Betrieb kann jedoch auf Private übertragen werden. Doch Ernst Forsthoff hat die Tragfähigkeit dieser Ansätze – Bürgergesellschaft, Selbstverwaltung und staatliche Gewährleistung – als wirklichkeitsfremd bezeichnet, um sich selbst umso wirksamer zum Theoretiker der Infrastrukturkrisen des 20. Jahrhunderts stilisieren zu können. Darauf wird zurückzukommen sein. 3. Wandel des räumlichen Leitbilds der Daseinsvorsorge Um den demografischen Strukturwandel der technischen und sozialen Infrastrukturen steuern zu können, bedarf es eines Paradigmenwechsels im räumlichen Leitbild der Daseinsvorsorge. Dieser vollzieht sich vom wohlfahrtsstaatlich geprägten Leitbild der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ zum europarechtlich inspirierten Leitbild des „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts“. 3.1 Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse In der Bundesrepublik ist die räumliche Gewährleistung der Daseinsvorsorge bisher der in § 1 Abs. 2 ROG niedergelegten Leitvorstellung einer „großräumig ausgewogenen Ordnung mit gleichwertigen Lebensverhältnissen in den Teilräumen“ gefolgt. Verfassungsrechtlich orientiert sich der Gleichwertigkeitsgrundsatz an Art. 72 Abs. 2 GG (vgl. zur verfassungsrechtlichen Stellung des Gleichwertigkeitsgrundsatzes Korioth 1997:169ff.; Hebeler 2006:301ff.). Politisch betrachtet bildet er – wie gesagt – neben den Staatsfundamentalnormen des Art. 1 und Art. 20 GG einen ganz zentralen Legitimationsbaustein der Bundesrepublik als Wohlfahrtsstaat (Kersten 2006b:245ff.). Nicht zuletzt deshalb wird die Konkretisierung der Leitvorstellung von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse bis heute durch die Planungsphilo25
sophie der späten 1950er bis frühen 1970er Jahre geprägt (Beirat für Raumordnung 2005:1f; Zimmermann 2005:13; Kersten 2006b:245ff.). Diese Planungsphilosophie setzt als Ausdruck des wirtschaftlichen Wachstums der Nachkriegsjahrzehnte auf eine Politik der Konvergenz und damit des Ausgleichs von räumlichen Disparitäten. Der Ausgleich, den die Planungsleitvorstellung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse herbeiführen soll, bezieht sich – ganz dem wohlfahrtsstaatlichen Partizipationsversprechen dieser Jahrzehnte folgend – auf alle Lebensbereiche, also Wohnen, Arbeiten, Verkehr, Kommunikation, Bildung, Freizeit, Einkaufen, Erholung, soziale Leistungen und Kultur (Runkel 2005:39f.). Maßstab für die Bestimmung der durch das Leitbild geforderten Gleichwertigkeit ist der gesellschaftlich akzeptierte Standard, wobei Ausgleich in der bis dato gängigen Interpretation stets als eine Angleichung nach „oben“ – also an ein hohes wohlfahrtsstaatliches Niveau – verstanden wird (BMVBW/BBR 2005:22; Beirat für Raumordnung 2005:1). Diese Planungsphilosophie des wirtschaftlichen Wachstums und der räumlichen Konvergenz ist jedoch im Hinblick auf die Daseinsvorsorge nicht nur faktisch durch den Demografischen Wandel in die Krise geraten. Vielmehr ist ihr auch mit der Änderung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dem 1994 neu gefassten Art. 72 Abs. 2 GG die verfassungsrechtliche Anknüpfung abhanden gekommen. Die Formel von der „Herstellung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG eröffnet nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Bund nur dann konkurrierende Gesetzgebungskompetenzen, „wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet“ (BVerfGE 106, 62-166 [44ff.]). Verfassungsrechtlich wird mit dem durch das Raumordnungsgesetz rezipierten Begriff der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ also nur noch das „Minimum“ als die unterste Schwelle des sozialen Zusammenhalts in der Bundesrepublik beschrieben. Mit dieser Neubestimmung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse deutet das Bundesverfassungsgericht zwar die Richtung an, in der sich auch nach einer neuen Leitvorstellung suchen lässt, um die demografische Herausforderung für die Gestaltung der Daseinsvorsorge anzunehmen: Es geht darum, auf der Grundlage eines Mindeststandards des sozialen Zusammenhalts eine Planungsleitvorstellung für eine räumlich differenzierte Ausgestaltung der Infrastruktur zu entwickeln. Doch die Grenzen der normativen Steuerungskraft der neuen Karlsruher Begriffsbestimmung für die Gestaltung der Daseinsvorsorge in einer schrumpfenden Gesellschaft sind eben auch deutlich: Liegt das Problem der tradierten Bestimmung des Gleichwertigkeitspostulats in der eindimensionalen Orientierung auf ein hohes wohlfahrtsstaatliches Niveau, so liegt das Problem der Karlsruher Neuinterpretation des Gleichwertigkeitsgrundsatzes in der eindimensionalen Orientierung auf ein Minimum der Daseinsvorsorge. Deshalb ist das Gleichwertigkeitspostulat so oder 26
so nicht in der Lage, normativ auf die räumlichen Differenzen zu reflektieren, welche die Gewährleistung der Daseinsvorsorge gegenwärtig und künftig bestimmen. Mit dem „Minimum“ mag sich isoliert die Daseinsvorsorge in schrumpfenden Regionen auf einen Begriff bringen lassen. Doch eine normative Beschreibung des sozialen Zusammenhalts einer gleichzeitig wachsenden und schrumpfenden Bundesrepublik ist mit einem Minimalkonzept nicht möglich. Deshalb kann der Gleichwertigkeitsgrundsatz die Gestaltung der Daseinsvorsorge in der Bundesrepublik nicht mehr konstruktiv steuern (vgl. a.A. aber MKRO 2006:3, 14f; ARL 2006:1f., 6ff.; Blotevogel 2006:464). 3.2 Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt Die Suche nach einem neuen Leitbild für die Gestaltung der Daseinsvorsorge lenkt den Blick auf die europäische Ebene, die politisch wie rechtlich mit einem Höchstmaß an regionalen Divergenzen insbesondere auch im Hinblick auf die Daseinsvorsorge umgehen muss. Dafür entwirft Art. I-3 Abs. 3 des Vertrags über eine Verfassung für Europa (EVV) das Leitbild des „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts“ als ein Ziel der Europäischen Union, das auch nach dem Vertrag von Lissabon seine Bedeutung behalten wird (Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 EUVLissabon). Für die Entwicklung dieses Unionsziels des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts war die Daseinsvorsorge ein ganz entscheidender Schrittmacher (Fischer 2006:178ff.; Kersten 2006b:249ff.). Auf europäischer Ebene wurde das Verhältnis zwischen Daseinsvorsorge und Raumentwicklung in drei Schritten entfaltet: Der erste Entwicklungsschritt findet sich in Art. 16 EGV, der ausdrücklich die Bedeutung der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse – also der Daseinsvorsorge – für die „Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts“ der Gemeinschaft betont und damit den soeben geschilderten historischen Zusammenhang zwischen der netzbezogenen Daseinsvorsorge und der sozialen Integration normativ reflektiert. Der zweite Entwicklungsschritt findet sich in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh). Diese hat den technischen Zusammenhang von Daseinsvorsorge und räumlicher Kohäsion des Art. 16 EGV durch eine auf das Individuum bezogene Perspektive ergänzt: Art. 36 GRCh anerkennt und achtet den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, wie er durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten im Einklang mit dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft geregelt ist, um den sozialen und territorialen Zusammenhalt der Union zu fördern (Streinz 2003a:2631f.; Kallmayer 2007:2670). Damit reflektiert Art. 36 GRCh die Erkennt-
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nis, dass die Bürger für die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit auf den Zugang zu Einrichtungen der netzbezogenen Daseinsvorsorge angewiesen sind. Der dritte und vorerst letzte Entwicklungsschritt findet sich im Europäischen Verfassungsvertrag sowie im Vertrag von Lissabon, die die bisherigen Entwicklungsschritte zusammenführen und weiterentwickeln: Sie entwerfen das Leitbild des „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts“ als Ziel der Union (Art. I-3 Abs. 3 UAbs. 3 EVV, Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 EUV-Lissabon) und ordnen es kompetenziell als Bereich der zwischen Union und Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeit ein (Art. I-14 Abs. 2 lit. b EVV, Art. 4 Abs. 2 lit. c AEUV-Lissabon). Sie rezipieren Art. 36 GRCh in Art. II-96 EVV beziehungsweise Art. 6 Abs. 1 EUV-Lissabon und formulieren so mit der Freiheitsentfaltung der Bürger einen der zentralen materiellen Maßstäbe, soweit die Konkretisierung des Leitbilds die Daseinsvorsorge betrifft. Eine solche für die Daseinsvorsorge relevante Konkretisierung des Leitbilds erfolgt sodann in drei Bereichen: erstens der Regelung der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (Art. III-122 EVV, Art. 14 AEUVLissabon), zweitens der Struktur- und Regionalförderung (Art. III-220ff. EVV, Art. 174 AEUV-Lissabon) sowie drittens den Transeuropäischen Netzen in den Bereichen der Verkehrs-, Telekommunikations- und Energieinfrastruktur (Art. III-246ff. EVV, Art. 174 AEUV-Lissabon). Der Europäische Verfassungsvertrag sowie der Reformvertrag von Lissabon verfolgen in ihrer Konkretisierung des Leitbilds des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts ein raumpolitisches Modell für die netzgebundene Infrastruktur, das für die Gewährleistung der Daseinsvorsorge verallgemeinerbar ist. Dieses Modell lässt sich beispielhaft anhand der raumpolitischen Ziele der Transeuropäischen Netzpolitik erläutern, wie sie Art. III-246 EVV beziehungsweise Art. 170 AEUV-Lissabon im Anschluss an Art. 154 EGV formuliert: Der Auf- und Ausbau Transeuropäischer Netze in den Bereichen der Verkehrs-, Telekommunikations- und Energieinfrastruktur zielt auf die marktwirtschaftlich orientierte Trennung der einzelstaatlichen Netze und damit auf eine „gemeineuropäische“ Netzstruktur (Erdmenger 2003:1176; Schäfer 2003:1618). Sie soll den Unionsbürgern, den Wirtschaftsbeteiligten sowie den regionalen und lokalen Gebietskörperschaften die Vorteile des Raums ohne Binnengrenzen zugute kommen lassen. Dabei ist der Notwendigkeit Rechnung zu tragen, insulare, eingeschlossene und am Rand gelegene Gebiete mit den zentralen Gebieten der Union zu verbinden (Art. III-246 Abs. 2 Satz 2 EVV, Art. 170 AEUV-Lissabon, Art. 154 Abs. 2 Satz 2 EGV). Ziel der Netzpolitik ist es also nicht, die Differenzen zwischen europäischen Zentren und Peripherien im Sinne einer Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse auf hohem wohlfahrtsstaatlichem Niveau einzuebnen. Vielmehr sollen die Zentren und die Peripherien angemessen verbunden werden. Indem Art. III-246 Abs. 1 Satz 1 EVV und Art. 170 Abs. 1 AEUV-Lissabon (Art. 154 Abs. 1 EGV) an erster Stelle die Unionsbürger als Nutznießer der Transeuropäischen Netze hervorhebt (vgl. auch 28
Calliess 2007:1702), rekurriert er zugleich auf die Erkenntnis des Art. II-96 EVV beziehungsweise des Art. 6 Abs. 1 EUV-Lissabon in Verbindung mit Art. 36 GRCh: Auch der in der Peripherie lebende Bürger soll an den „gemeineuropäischen“ Daseinsvorsorgenetzen teilhaben, um sich in seinen Freiheitsrechten im sozialen Leben der Union angemessen entfalten zu können. Dies setzt aber die Annahme eines gemeinsamen, minimalen Grundversorgungsstandards voraus, der die Zentren und die Peripherien verbindet. Denn erst auf dieser Grundlage kann eine weitere Ausdifferenzierung der netzbasierten Daseinsvorsorge in den Zentren erfolgen, ohne dass die Peripherien den Anschluss an die Zentren verlieren. Letzteres würde zu einer wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Desintegration der betroffenen Daseinsvorsorgesektoren und aufgrund deren raumpolitischer Bedeutung auch der Europäischen Union führen. Deshalb lässt sich das Kohäsionskonzept auf die folgende raumpolitische Kernvorstellung bringen: Die Grundversorgung mit Daseinsvorsorgeleistungen in einer räumlich differenzierten Gesellschaft ist die normative Beschreibung der Freiheitsentfaltung des einzelnen Bürgers in der Differenz von Zentren und Peripherien. Eine diesem europäischen Leitbild des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts folgende Raumentwicklung empfiehlt sich auch für die Bundesrepublik, um die Daseinsvorsorge in einer schrumpfenden Gesellschaft differenzierend zu gestalten: Das Leitbild toleriert in unterschiedlichen Teilräumen eine differenzierte Entwicklung der Infrastruktur. Es fordert für diese Ausdifferenzierung der Daseinsvorsorge in diesen Teilräumen aber, dass sie sich funktional ergänzt, das heißt sich in die wirtschaftliche, soziale und territoriale Entwicklung des Gesamtraums integriert. Diese Integration orientiert sich an der Einsicht, dass die Bürger in der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit auf den Zugang zu einer netz- und damit raumgreifenden Daseinsvorsorge angewiesen sind. Deshalb setzt das Leitbild auf den verschiedenen Daseinsvorsorgesektoren eine Grundversorgung voraus, die – ganz im Sinn der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Abs. 2 GG – die untere Grenze des sozialpolitischen Zusammenhalts der Bundesrepublik beschreibt. Bei der Definition dieser Grundversorgung kann aufgrund der räumlichen Differenzierung der Daseinsvorsorge in einer schrumpfenden Gesellschaft nicht schlicht auf Durchschnittswerte gesetzt werden. Demgegenüber ist auf die Differenzen zu reflektieren, die zwischen Zentren und Peripherien bestehen und die es anhand des verfassungsrechtlichen Maßstabs der freien Entfaltung der Persönlichkeit aller Bürger „aufzuheben“ gilt.
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4. Demografische Herausforderungen der Grundversorgung beziehungsweise des Universaldienstes Das Leitbild des „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts“ ist ein Leitbild differenzierter Kohärenz auf der Grundlage eines Minimums an Konvergenz, das im Bereich der Daseinsvorsorge „Grundversorgung“ genannt wird. Die Herausforderung des Leitbilds durch den Demografischen Wandel hängt davon ab, ob auf dem jeweiligen Daseinsvorsorgesektor mehrere Alternativen oder nur eine Möglichkeit besteht, eine Grundversorgung zu sichern. Diese Unterscheidung lässt sich anhand der Daseinsvorsorgesektoren Verkehr einerseits (4.1) und Telekommunikation andererseits (4.2) veranschaulichen. 4.1 Alternativen in der Grundversorgung: Beispiel Verkehr Auf dem Daseinsvorsorgesektor Verkehr besteht eine Vielzahl von Möglichkeiten, ein flächendeckendes Mindestangebot zu sichern. Deshalb hat der Verfassungsgeber die Gewährleistung „einer Art Grundversorgung“ (Lerche 1996:257) im Bereich der Eisenbahnen des Bundes nicht isoliert durch einen flächendeckenden Minimalstandard definiert, sondern als ein Abstimmungsgebot gefasst: Nach Art. 87e Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet der Bund, dass dem Wohl der Allgemeinheit und insbesondere den Verkehrbedürfnissen beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes und der Verkehrsangebote auf dieser Schiene Rechnung getragen wird. Damit verlangt Art. 87e Abs. 4 Satz 1 GG kein flächendeckendes Eisenbahnangebot (Masing 2003:26). Dementsprechend sind die Stilllegung von unwirtschaftlichen Strecken und die Einschränkung von unwirtschaftlichen Streckenkapazitäten nach § 11 AEG grundsätzlich möglich (Art. 87e Abs. 5 Satz 2 GG; ferner Lerche 1996:257), wenn in Folge des Demografischen Wandels die Nachfrage sinkt. Doch dies führt nicht zwangsläufig zu einer „passiven Sanierung“, bei der man die Auswirkungen des Demografischen Wandels in Zukunft schlicht daran erkennt, dass der Zug dort durchfährt, wo er früher gehalten hat. Vielmehr lässt sich die angemessene Eisenbahngrundversorgung über das Abstimmungsgebot des Art. 87e Abs. 4 Satz 1 GG anhand des Leitbilds des „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts“ konkretisieren: Dieses verpflichtet den Staat den in einer schrumpfenden Gesellschaft wirtschaftlich sicherlich angezeigten Rückbau der Eisenbahninfrastruktur mit anderen Verkehrsangeboten – also dem Individualverkehr, dem Öffentlichen Personennahverkehr, dem Bürgerbus, dem Sammeltaxi (BMVBW/BBR 2005:51ff.; Appel 2005:383; Beckmann et. al. 2005:68; Scheiner 2006:151) – so abzustimmen, dass dem Bürger nicht nur der Rückweg von der geschlossenen Bahnstation nach Hause verbleibt, sondern er seine Freiheit genießen kann. 30
Auf dieser verfassungsrechtlichen Grundlage kann anhand des Leitbilds des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts ein Verkehrskonzept entwickelt werden, das nach der Kohäsion von wachsenden und schrumpfenden Regionen in der Bundesrepublik fragt. Im Gegensatz zur Verwirklichung flächendeckender Gleichwertigkeitspostulate liegt dieser Abwägungsmaßstab auch im gemeinsamen Interesse der zunehmend auf weiche Planungsinstrumente setzenden Raumentwicklung in schrumpfenden wie wachsenden Regionen: Die schrumpfenden Regionen werden das Leitbild des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts dazu nutzen, im Rahmen der notwendigen Neuformulierung des Zentrale-Orte-Konzepts (Kersten 2007, 2008) die reduzierten Zentren beziehungsweise Siedlungsschwerpunkte nicht nur mit ihrem jeweiligen Einzugsbereich, sondern auch mit den Metropolregionen verkehrstechnisch so zu verbinden, dass ihre Bürger in das gemeinsame soziale Leben der Bundesrepublik integriert sind. Auch die Metropolregionen haben daran ein Interesse, da diese Vernetzung ihre eigene wirtschaftliche Attraktivität und Lebensqualität steigert. Deshalb liegt es nahe, dass die Metropolregionen – im Gegensatz zum flächendeckenden Gleichwertigkeitspostulat – das Leitbild des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts in ihren regionalen Entwicklungskonzepten ebenfalls berücksichtigen. In die konkrete Bestimmung der Zentralen Orte sind sodann alle im Einzelfall zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel einzubeziehen. Dabei wird der grundsätzliche Vorrang des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) als staatliche Daseinsvorsorge (§ 1 Abs. 1 RegG, Art. 2 Abs. 1 Satz 1 BayÖPNVG) vor dem motorisierten Individualverkehr (Art. 3 Abs. 1 BayÖPNVG) in mehrfacher Hinsicht aufgrund der Pfadabhängigkeit des öffentlichen Verkehrsangebots relativiert: Dies gilt zum einen für die immobile Schieneninfrastruktur, deren Stilllegung beziehungsweise Rückbau in ländlichen Gebieten eine Folge des Demografischen Wandels sein wird (Canzler/Knie 2005:31). Dies gilt zum anderen aber auch für den nicht schienengebundenen öffentlichen Personennahverkehr, der bereits gegenwärtig zu über zwei Dritteln dem Schüler- und Auszubildendenverkehr dient. Er wird deshalb in Folge des Demografischen Wandels weiter abnehmen (Canzler et. al. 2007:22f.; Röhl 2005:336; Holz-Rau/Scheiner 2004:344ff.; Beckmann et. al. 2005:68; Tutt 2007:126ff.; Walla et. al. 2006:245ff.). Dieses Schrumpfen des ÖPNV in ländlichen Gebieten legt den Paradigmenwechsel von einer linien- und fahrkilometerorientierten staatlichen Angebotspolitik (§ 8 Abs. 1 PBefG, § 2 RegG, Art. 1 BayÖPNVG) zu einer nachfrageorientierten öffentlichen Verkehrspolitik nahe. Die Schwierigkeit, hier ein wirtschaftliches und zugleich nachhaltiges Infrastrukturangebot zu etablieren, liegt in der ständigen Zunahme des motorisierten Individualverkehrs (MIV), der in Schrumpfungsregionen künftig noch weiter ansteigen wird. Soweit dieser Trend ungebrochen anhält, wird sich ein soziales und wirtschaftliches Verkehrskonzept auf die staatlich geförderte Durchdringung von kollektiven und individuellen Verkehrsangeboten stützen. Hierfür existieren schon erste gesetzliche Ansatzpunk31
te: Allgemeiner ÖPNV ist auch der Verkehr mit Taxen oder Mietwagen, der den klassischen Personennahverkehr ersetzt, ergänzt oder verdichtet (§ 8 Abs. 2 PBefG, Art. 1 Abs. 3 BayÖPNVG). Die Richtung für die Weiterentwicklung dieser ersten Ansätze zu einer „neuen Mobilitätskultur“ hat der Beirat für Raumordnung sehr anschaulich auf die Begriffe der „Individualisierung des ÖPNV“ und „Kollektivierung des MIV“ gebracht. (Beirat für Raumordnung 2004:17f.; Sinz 2006:611) Ein aktivierender, gewährleistender und nachhaltiger Sozialstaat kann auf der Grundlage der Förderung dieser neuen Mobilitätskultur auch die Zentralen Orte in schrumpfenden Räumen bestimmen und so ganz entsprechend dem Leitbild des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts zur Freiheitsentfaltung seiner Bürger beitragen. In den sich dabei andeutenden Mobilitätskooperationen werden die infrastrukturellen Netzkonturen eines neuen sozialen Zusammenhalts sichtbar, der das Umland mit den Zentralen Orten, die Zentralen Orte untereinander und schließlich die schrumpfenden und wachsenden Regionen miteinander verbindet. 4.2 Alternativlosigkeit in der Grundversorgung: Beispiel Telekommunikation Anders liegen die Dinge bei Daseinsvorsorgesektoren, bei denen die Leistungserbringung alternativlos ist. In diesen Fällen ist wirtschaftlich, sozial und territorial ein in seiner Qualität einheitlich definiertes, flächendeckendes Mindestangebot als Grundlage einer räumlichen Ausdifferenzierung zwischen Zentren und Peripherien, zwischen demografisch verdichteten und demografisch gelichteten Räumen erforderlich. Universaldienste – also die flächendeckende Versorgung mit einem definierten Infrastrukturminimum zu erschwinglichen Preisen (Eifert 1998:175ff.) – wird nur (noch) in wenigen Daseinsvorsorgesektoren gewährleistet. Nach dem Leitbild des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts sind das allein solche Lebensbereiche, in denen ein definiertes Infrastrukturminimum für den Zusammenhalt der Bundesrepublik als Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft wirtschaftlich, sozial und territorial unabdingbar ist: Telekommunikation (Art. 87f Abs. 1 GG, §§ 78ff. TKG), Post (Art. 87f Abs. 1 GG, §§ 11ff. PostG) und Energie (§ 36 EnWG) (Kersten 2006c:947ff.). Doch auch diese flächendeckenden Infrastrukturgewährleistungen sehen sich besonders durch den Demografischen Wandel herausgefordert. Dies lässt sich beispielhaft anhand der Regulierung des Universaldienstes in Art. 87f Abs. 1 GG und den §§ 78ff. TKG zeigen: Nach Art. 87f Abs. 1 GG gewährleistet der Bund im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen. In Umsetzung europäischer Vorgaben – zuletzt der Universaldienstrichtlinie 2002 (vgl. Europäisches Parlament/Rat 2002) – definiert § 78 Abs. 1 TKG die Universaldienste als das kommunikative Minimum, das 32
unsere Gesellschaft als wirtschaftliche, soziale und politische Informationsgesellschaft integriert: Universaldienstleistungen sind – so § 78 Abs. 1 TKG – das Mindestangebot an Diensten für die Öffentlichkeit, für die eine bestimmte Qualität festgelegt ist und zu denen alle Endnutzer unabhängig von ihrem Wohn- oder Geschäftsort zu einem erschwinglichen Preis Zugang haben müssen und deren Erbringung für die Öffentlichkeit als Grundversorgung unabdingbar geworden ist. § 78 Abs. 2 TKG konkretisiert sodann die Universaldienstleistungen. Diese umfassen vor allem ein flächendeckendes Netz von öffentlichen Münz- und Kartentelefonen und den Anschluss jedes Endnutzers an ein öffentliches Telefonnetz und an öffentliche Telefondienste an einem festen Standort. Da dieser Anschluss funktional auch einen Zugang zum Internet umfasst (Art. 4 Abs. 2 Universaldienstrichtlinie; § 3 Nr. 16 TKG; BT-Drs. 15/2316:85.), werden hier die „Nervenbahnen“ (Trute 1998:224; Schoch 1999:233) des nationalen, europäischen und schließlich auch globalen Kommunikationsraums gelegt. Gegenwärtig wird dieser Universaldienst von der Deutschen Telekom erbracht (§ 150 Abs. 9 TKG) und ist insofern zunächst einmal „demografiefest“. Doch eigentlich ist dies nicht das Konzept des Telekommunikationsgesetzes: Die §§ 78ff. TKG gehen davon aus, dass die Universaldienstleistungen durch den Markt gewährleistet werden (Schoch 1999:239 m.w.N.). Nur wenn die Gefahr besteht oder feststeht, dass eine der Universaldienstleistungen nicht mehr durch den Markt gewährleistet wird, greift die Regulierungsbehörde ein, um die „Versorgung unwirtschaftlicher Kunden“ (Schoch 1998:173) zu sichern (BT-Drs. 15/2316:85f. Schoch 1999:239f.): In einem ersten Schritt appelliert die Regulierungsbehörde an die universaldienstpflichtigen Unternehmen, die Universaldienstleistungen ohne Ausgleichsleistungen ausreichend zu erbringen (§ 81 Abs. 1 Satz 2 TKG). Universaldienstpflichtig sind dabei Anbieter, die entweder auf dem sachlich relevanten Markt bundesweit einen Gesamtumsatz von vier Prozent auf sich vereinen oder auf dem räumlich relevanten Markt über beträchtliche Marktmacht verfügen (§ 80 Satz 1 TKG). Da der Appell im Sinne des § 81 Abs. 1 Satz 2 TKG jedoch regelmäßig erfolglos bleiben wird, kann die Regulierungsbehörde in einem zweiten Schritt einen oder mehrere universaldienstpflichtige Anbieter verpflichten, die gefährdeten oder bereits ausgefallenen Universaldienstleistungen zu erbringen (§ 81 Abs. 2 TKG). Allerdings können die universaldienstpflichtigen Unternehmen geltend machen, dass die Erfüllung des Universaldienstes für sie zu unbilligen wirtschaftlichen Belastungen führt und ihnen deshalb ein Ausgleich nach § 82 TKG zusteht. In diesem Fall muss die Regulierungsbehörde in einem dritten Schritt die Universaldienstleistungen zunächst ausschreiben und sodann an den Bewerber vergeben, der für ihre Gewährleistung den geringsten Ausgleich verlangt (§ 81 Abs. 3 TKG). Wird durch das Ausschreibungsverfahren allerdings kein geeigneter Anbieter ermittelt, so verpflichtet die Behörde die im zweiten Verfahrensschritt bestimmten Unternehmen, die Universaldienstleistungen zu erfüllen (§ 81 Abs. 5 TKG). Doch einerlei, ob ein 33
Unternehmen nach einem erfolgreichen oder erfolglosen Ausschreibungsverfahren für die Erbringung des Universaldienstes in Anspruch genommen wird, ihm sind die dadurch entstehenden, wirtschaftlich unzumutbaren Kosten von der Regulierungsbehörde zu ersetzen (§ 82 Abs. 1 und 2 TKG). Gewährt die Regulierungsbehörde einen solchen finanziellen Ausgleich nach § 82 TKG für die Erbringung einer Universaldienstleistung, so muss jedes im Sinne des § 80 TKG universaldienstpflichtige Unternehmen zu diesem Ausgleich eine wettbewerbsneutral erhobene Universaldienstleistungsabgabe beisteuern (§ 83 TKG). Folglich tragen die Kosten für das Versagen des Universaldienstleistungsmarkts nicht der Staat und damit nicht die Steuerzahler, sondern der Markt und somit letztlich die Verbraucher. Selbst bei großflächigem Versagen des Universaldienstleitungsmarkts aufgrund des Sinkens der Nachfrage in Folge des Demografischen Wandels müsste das Regulierungsmodell nicht aufgegeben, wohl aber modifiziert werden. Anregungen hierfür finden sich bereits in der Universaldienstrichtlinie. Drei Punkte seien beispielhaft genannt: Erstens spricht nichts dagegen, drahtlose Technik für die Erbringung von Universaldiensten zu nutzen, wenn dies in Gebieten mit starkem Bevölkerungsrückgang kostengünstiger als eine drahtgebundene Netzstruktur ist (Europäisches Parlament/Rat 2002: Erwägungsgrund 8). Dies würde bedeuten, anhand des Leitbilds des „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts“ die technische Differenz zwischen Zentren und Peripherien in die Definition des Universaldienstes einzustellen. Zweitens lässt sich auch die Kostengestaltung räumlich ausdifferenzieren: Der Preis für Universaldienste muss erschwinglich, er muss aber nicht überall gleich sein (Europäisches Parlament/Rat 2002: Erwägungsgrund 10). Wo die Erbringung des Universaldienstes kostenaufwendiger ist, lässt sich deshalb auch ein höherer erschwinglicher Preis rechtfertigen. Soweit dies für bestimmte Gruppen oder einzelne Bürger in demografisch schrumpfenden Gebieten zu unbilligen Härten führt, kann dies durch eine staatliche finanzielle Unterstützung wieder kompensiert werden (Europäisches Parlament/Rat 2002: Erwägungsgrund 7). Drittens eröffnet Art. 13 Universaldienstrichtlinie ausdrücklich die Möglichkeit, dass die Finanzierung von Universaldienstverpflichtungen im Fall des Marktversagens ganz vom Staat übernommen oder zwischen dem Staat und den universaldienstpflichtigen Unternehmen geteilt wird (Europäisches Parlament/Rat 2002: Erwägungsgrund 21). Je mehr die demografische Entwicklung den Universaldienstmarkt beeinträchtigt, desto näher liegt eine staatliche Teilübernahme der Universaldienstkosten. Denn eine staatliche Teilfinanzierung des Universaldienstes führt in diesem Fall nicht dazu, dass sich die Telekommunikationsunternehmen die Rosinen aus dem privatisierten Telekommunikationsmarkt picken und dem Staat die Finanzierung der unattraktiven Universaldienste überlassen. Vielmehr wäre eine solche staatliche Teilfinanzierung in Zeiten eines sich zuspitzenden Demografischen 34
Wandels Voraussetzung dafür, dass das marktwirtschaftliche Regulierungsmodell überhaupt noch funktionieren könnte. 5. Fazit Der Demografische Wandel fordert die Daseinsvorsorge heraus. Doch es besteht kein Grund zum Kulturpessimismus. Selbst bei der Annahme schlechter demografischer Prognosen ist den Bürgern eine aktive Gestaltung der Probleme der schrumpfenden Gesellschaft in den europäischen, staatlichen und kommunalen Institutionen möglich. Dabei gilt es allerdings Abschied von dem wohlfahrtsstaatlichen Leitbild der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu nehmen und sich stattdessen am wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt der Bundesrepublik zu orientieren, wenn es um die Vernetzung von Verkehrs-, Versorgungs-, Gesundheits-, Kommunikations- und Bildungsinfrastrukturen in einer gleichzeitig schrumpfenden und wachsenden Gesellschaft geht. Dabei zeigt die beispielhafte Analyse der Daseinsvorsorgebereiche Verkehr und Telekommunikation, dass uns mit der Bürgergesellschaft, der Selbstverwaltung und der staatlichen Gewährleistung die Antworten des 19. Jahrhunderts näher als Ernst Forsthoffs Leistungsstaat stehen.
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Koordination der Anpassung der Daseinsvorsorge an den Demografischen Wandel durch Meta-Regulierung und Netzwerkgovernance Klaus Einig
1. Einleitung Daseinsvorsorge umfasst Dienstleistungen, an deren Angebot ein besonderes öffentliches Interesse besteht. Eine moderne Interpretation versteht sie „als flächendeckende Versorgung mit bestimmten, von den politisch Verantwortlichen subjektiv als lebensnotwendig eingestuften Gütern und Dienstleistungen zu allgemein tragbaren (= sozial verträglichen) Preisen“ (Knorr 2005:35). Die Versorgung mit Energie, Wasser, Telekommunikation, öffentlichem Nah- und Fernverkehr, Post, Abfall- und Abwasserentsorgung wird ebenso zur Daseinsvorsorge gerechnet, wie die Grundversorgung mit sozialen Dienstleistungen wie Kulturangebote, Gesundheitsdienste, Kinderbetreuung, Schulausbildung und Altenpflege (Ronellenfitsch 2003; Winkel et al. 2007). Bisher erbringen gemeinwohlorientierte Dienstleistungen vorrangig Staat und Gemeinden. Durch Liberalisierung und Privatisierung einzelner Bereiche der öffentlichen Wirtschaft wird ihre Bereitstellung aber zunehmend in einer Arbeitsteilung zwischen privatem und öffentlichem Sektor organisiert (Hermes 2005). Private übernehmen den kundenorientierten Bereitstellungsprozess, während die Funktionsfähigkeit der Infrastrukturen und die Realisierung gewünschter Versorgungsund Preisstandards weiterhin der Staat garantiert. Diese arbeitsteilige Gemeinwohlverwirklichung gilt als Kernidee des Gewährleistungsstaates (Schuppert 2004:8). Damit wird allerdings nur eine Seite der heutigen Wirklichkeit in den Blick genommen. Vom komplexen Dienstleistungsbündel der Daseinsvorsorge wird der größte Anteil immer noch innerhalb des Staates selbst produziert. Bisherige Arbeiten zum Gewährleistungsstaat haben diesen Umstand vernachlässigt, obwohl das Modell des Gewährleistungsstaates eine öffentliche Produktion von Daseinsvorsorgeleistungen grundsätzlich nicht ausschließt (Schuppert 2001:409). So gilt, dass die öffentliche Hand Dienstleistungen der Daseinsvorsorge immer dann selbst produzieren sollte, wenn sie es „besser kann“ (Reichard 2006). Betrachtet man die Eigenproduktion innerhalb des Staates genauer, so stellt sich auch hier vielfach ein spezifisches Koordinationsproblem durch das Auseinan39
derfallen von Gewährleistungs- und Erfüllungsverantwortung. Innerhalb des Staates wird die Gemeinwohlverwirklichung arbeitsteilig realisiert. Vergleichbar mit dem Verhältnis von öffentlichem Gewährleister und privatem Leistungsproduzent resultieren Gemeinwohlleistungen auch im öffentlichen Sektor aus verteilten, verflochtenen Prozessketten unterschiedlicher Organisationen, die teilweise divergierenden Zielen folgen (Franzius 2005, 53). Koordinationsprobleme können innerhalb eines polyzentrischen Mehrebenensystems weder durch isoliertes Handeln dezentralisierter Organisationseinheiten noch auf hierarchischem Wege durch eine Zentralinstanz bewältigt werden (Einig 2003, 2008; Wald/Jansen 2007). Von der erfolgreichen Koordination des interorganisatorischen Handelns hängt es daher ab, ob öffentliche Leistungen effizient produziert werden (Hood et al. 1999). Am Beispiel der Raumordnung zeigt dieser Beitrag, wie das Dienstleistungsangebot der Daseinsvorsorge bereichsübergreifend koordiniert werden kann. Zuerst wird in das raumordnerische Politikfeld der Daseinsvorsorge eingeführt (Kapitel 2) und anschließend erläutert, welche Koordinationsmodi der Raumordnung zur Regulierung des Angebots von Daseinsvorsorgeeinrichtungen prinzipiell zur Verfügung stehen (Kapitel 3). In der Vergangenheit war öffentliche Daseinsvorsorge in der Raumordnung eher als „passive“ Koordination ein Thema. Mittels ihrer Zentrale-Orte-Konzepte versucht die Raumordnung für die Grundversorgung in der Fläche einen Ordnungsrahmen zu definieren (Kapitel 4). Raumordnung basiert hier auf Meta-Regulierung, das heißt der Regulierung anderer Regulierungsprozesse. Netzwerkgovernance ist ein alternativer Koordinationsmodus. In besonders vom Bevölkerungsrückgang betroffenen Räumen kann der Anpassungsprozess unterausgelasteter Einrichtungen zahlreicher Anbieter durch die Raumordnung nicht auf hierarchischem Wege koordiniert werden. In diesen Situationen nutzt sie ihre moderierenden Kapazitäten und erzielt eine Koordination von Anpassungsprozessen durch Initiierung und Management von Netzwerken (Kapitel 5). Dieser Koordinationsmechanismus wird Netzwerkgovernance genannt. In Netzwerken begegnen sich gleichberechtigte Akteure. Entscheidungen über regionale Versorgungsstandards, zu erhaltende oder zu schließende Einrichtungen sowie alternative Organisationsmodelle sind in Netzwerken deshalb nur dann erfolgreich, wenn sie im Konsens aller erfolgen. Im Rahmen von Ansätzen der Netzwerkgovernance findet die Koordination bereichsübergreifender Anpassungsprozesse durch Ko-Regulierung statt, bei der die beteiligten Akteure eigenständig über Setzung und Vollzug der Versorgungs-ziele entscheiden. 2. Raumordnung und das Politikfeld Daseinsvorsorge Angesichts des langfristig bundesweiten Bevölkerungsrückgangs spielt die Versorgung mit Infrastrukturen der Daseinsvorsorge in der Fläche eine immer wichtigere 40
Rolle. Der Übergang der Bevölkerungsentwicklung auf einen Schrumpfungskurs, von dem langfristig auch die heute noch wachsenden Teilräume erfasst werden, zieht gleichzeitig einen Rückgang zentraler Nachfragergruppen von Leistungen der Daseinsvorsorge (z. B. Schüler- und Erwerbstätige) sowie den Anstieg der Nachfrage nach anderen Angeboten (z. B. in der Altenpflege) nach sich. In fast allen Daseinsvorsorgebereichen werden sich in Folge veränderter Nachfragestrukturen Tragfähigkeits- oder Überlastungsprobleme einstellen, die das heutige Angebotsniveau unter drastischen Anpassungsdruck setzen. Waren beispielsweise Schulschließungen in den 1990er Jahren in Ostdeutschland schon ein brisantes Thema, so ist nun auch Westdeutschland mit dem Rückbau von Schulstandorten konfrontiert. Weniger Schulen bedeuten für viele Kinder längere Schulwege. Zwingt die Finanzkrise der öffentlichen Hand dann auch noch zu einer Überwälzung von Schülerbeförderungskosten auf die Eltern, so jüngst in Schleswig-Holstein geschehen1, zeigt sich das ganze Ausmaß des Folgenspektrums: In Zeiten des Bevölkerungsrückgangs verringert sich das Dienstleistungsangebot nicht nur, der Konsum der Leistungen wird vielfach auch noch teurer (Einig 2006). In anderen Bereichen der Daseinsvorsorge (insbesondere Altenpflege) müssen Angebote ausgebaut werden, obwohl die Finanzkrise im Gesundheitssystem einem nachfragergerechten Leistungsniveau deutliche Grenzen setzt. Zum anderen erklären die Veränderungen im Dienstleistungssektor selbst, insbesondere die Privatisierung bisher öffentlich produzierter Daseinsvorsorgeleistungen, warum der Strukturwandel des Angebotes der Daseinsvorsorge in der Fläche eine erhöhte öffentliche Wahrnehmung erfährt (Danielzyk/Dittmeier 2002). In Folge von Privatisierung und Liberalisierung nimmt der Wettbewerbsdruck zu, sodass nun gewinnorientierte Anbieter ihre Versorgungsleistungen in Räumen mit Nachfrageproblemen überdenken. Können Organisationswandel und betriebswirtschaftliche Innovationen nicht ausreichend Kosten sparen, besteht für private Anbieter ein wirtschaftlicher Anreiz zum Rückzug aus der Flächenversorgung. Generell besteht diese Tendenz in den dünn besiedelten Gebieten. Aber auch Städte sind betroffen, wenn Dienstleistungen nicht mehr betriebswirtschaftlich effizient bereitgestellt werden können, weil die Nachfrager fehlen. In der Tagespresse werden beispielsweise eine Ausdünnung des Filialnetzes der Post, Streckenstilllegungen im Zuge der Bahnprivatisierung oder die unzureichende Versorgung des ländlichen Raumes mit Breitband-Kommunikationsinfrastrukturen diskutiert. Beide Komplexe – der allgemeine Trend des Bevölkerungsrückgangs ebenso wie die Ökonomisierung der Daseinsvorsorge – führen in einem großen Flächenland wie Deutschland dazu, dass die Einlösung des verfassungsrechtlichen Prinzips
1 In Schleswig-Holstein wurde eine politisch umstrittene 30-prozentige Eigenbeteiligung der Eltern an den Schülerbeförderungskosten ihrer Kinder eingeführt und vom Verwaltungsgericht Schleswig-Holsteins für rechtens erklärt (VG Schleswig, Beschluss 17.09.2007, Aktz.: 9 B 67/07).
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der Chancengleichheit seiner Bürgerinnen und Bürger zunehmend von einer territorialen Komponente abhängig ist. „Wenn die Bedingungen der Lebensumwelt zu ungleich werden, wenn Bildungsstätten, Gesundheitseinrichtungen und Arbeitsplätze nicht hinreichend zur Verfügung stehen, dann ist auch die (Chancen-)Gleichheit der Bürger nicht mehr gewährleistet“ (Schön 2006:383). Mit ihrem Beschluss „Sicherung und Weiterentwicklung der öffentlichen Daseinsvorsorge vor dem Hintergrund des demographischen Wandels“ vom 28. April 2005 greift die Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO 2005) diese Problematik auf. Sie fordert von der Raumordnung, sich frühzeitig auf eine generelle Abnahme, Alterung und Internationalisierung der Bevölkerung einzustellen und durch Anpassungen öffentlicher Leistungen innerhalb ihrer Planungsräume ein versorgungsgerechtes und kosteneffektives Angebot öffentlicher Daseinsvorsorge in der Fläche zu realisieren. Diesen Auftrag hat die MKRO mit ihren „Leitbildern und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in Deutschland“ weiter konkretisiert. Als Fortschreibung des Raumordnungspolitischen Orientierungs- und Handlungsrahmens ist diese Richtschnur für die zukünftige Aufgabenerfüllung der Raumordnung am 30. Juni 2006 verabschiedet worden (MKRO 2006). Das Leitbild „Daseinsvorsorge sichern“ – ein von drei Leitbildschwerpunkten – ist Ausdruck eines gemeinsamen Problemverständnisses von Bund und Ländern und richtet sich in erster Linie an die Entscheidungsträger der Raumordnung, soll aber auch Kommunen und privaten Trägern von Daseinsvorsorgeeinrichtungen Orientierungshilfe für künftige Investitionsentscheidungen bieten. Da der Demografische Wandel viele Politikfelder berührt und alle Dienstleistungen der Daseinsvorsorge betroffen sind, ist vorrangig die Koordinationsleistung der Raumordnung gefordert. Nur eine integrierende Gesamtplanung wie die Raumordnung kann gewährleisten, dass die unterschiedlichen Anpassungsmaßnahmen des Daseinsvorsorgeangebotes an die gewandelte Nachfragerstruktur bereichsübergreifend angegangen werden, „statt wie bisher Probleme nur aus der Einzelsicht der jeweiligen Fachpolitik anzugehen“ (Rooks 2006:641). Das Leitbild fordert von der Raumordnungspraxis nicht nur eine intensivierte Zusammenarbeit mit der Fachplanung (MKRO 2006:21), sondern ein generell verstärktes Zusammenwirken „öffentlicher, privater und zivilgesellschaftlicher Akteure sowie eine engere Zusammenarbeit der infrastrukturellen Einrichtungen mit dem Ziel einer Qualitätssicherung“ (ebd.:20). Das Leitbild nimmt die zentrale Herausforderung des Gewährleistungsstaates – die arbeitsteilige Gemeinwohlrealisierung im Zusammenspiel von privatem und öffentlichem Sektor – ernst. Und es bekennt sich zum Gleichwertigkeitsprinzip. Es unterstreicht damit die Bedeutung des Vorhalteprinzips für die Raumordnung. „In allen Teilräumen, vor allem aber in den von den Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs und der Alterung besonders betroffenen Regionen, ist auch künftig eine angemessene Grundversorgung mit Leistungen der Daseinsvorsorge (…) sicherzustellen. (…) Ziel bleibt es, auch vor dem Hintergrund der engeren finanziellen Hand42
lungsspielräume, allen Bevölkerungsgruppen den gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Zugang zu Versorgungsangeboten, zu Leistungen des Bildungswesens, zu kulturellen und sportlichen Angeboten sowie zu sozialen und technischen Infrastrukturen zu gewährleisten“ (MKRO 2006:18). Die rechtliche Seite der raumordnerischen Gewährleistungsverantwortung lässt das Leitbild aber weitgehend offen. 3. Koordinationsformen der Raumordnung Im System der Raumplanung wird die Raumordnung von den drei Planungsebenen der Bundesraumordnung, der Landesplanung und der Regionalplanung gebildet. Sie ist eine übergeordnete, überörtliche und zusammenfassende Planung mit integrierender Perspektive und einem belangübergreifenden Abstimmungs- und Abwägungsauftrag. Vorrangig ist Raumordnung Aufgabe der Länder. Ihre Organisation und die Instrumente werden durch die Landesplanungsgesetze und das Raumordnungsgesetz des Bundes (ROG) geregelt. Die Regionalplanung, als Teil der Landesplanung, zielt auf eine teilräumliche Feinkoordination ab und übernimmt damit eine Mittlerrolle zwischen staatlicher Landesplanung, kommunaler Bauleitplanung und bereichsspezifischen Fachplanungen. Ihr wichtigstes Instrument zur Erfüllung dieser Koordinationsfunktion ist noch immer der Regionalplan. Ergänzend werden in der Raumordnungspraxis flankierende Instrumente eingesetzt. Der gesamte Instrumentenkanon der Raumordnung kann als Regulierungsregime beschrieben werden (May 2007; Einig 2008). Die Vielfalt der Instrumente, Methoden und Verfahren ermöglicht den Trägern der Raumordnung situationsbezogene Wahlentscheidungen. In welchem Steuerungskontext welches Instrument eine geeignete Wahl darstellt, beantwortet die Theorie responsiver Regulierung (Ayres/Braithwaite 1992; Braithwaite 2007:4): Planungsträger müssen vom erwarteten Verhalten ihrer Adressaten ausgehen, um einschätzen zu können, ob ein mehr oder weniger interventionistischer Steuerungseingriff angemessen ist. Responsive Regulierung folgt dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wonach sich Träger der Raumordnung zur Durchsetzung ihrer Steuerungsanliegen nur der Instrumente bedienen dürfen, die diese Ziele gegenüber ihren Adressaten auf schonendem Wege realisieren. Bei der Instrumentenwahl muss aber auch berücksichtigt werden, welche Eskalationsstrategien verbleiben, wenn das Ziel mit dem mildesten Mittel nicht erreicht wird. Raumordnung ist deshalb umso effektiver, je mehr Instrumente mit abgestufter Restriktivität zur Verfügung stehen (Gunningham et al. 1998): „Regulators will be more able to speak softly when they carry big sticks (and cruically, a hierarchy of lesser sanctions). Paradoxically, the bigger and the more various are the sticks, the
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greater the success regulators will achieve by speaking softly” (Ayres/Braithwaite 1992:19). Das raumordnerische Regime der Koordinationsmodi kann in Form einer Pyramide dargestellt werden, deren Stufenabfolge die zunehmende Restriktivität von Interventionen abbildet (Ayres/Braithwaite 1992:38ff.). Eine Pyramide abgestufter Koordinationsmodi versammelt auf ihrer Basis alle jene Instrumente, die ohne Aufwendung von Zwang zum Ziel führen. Im Fall der Koordination des Daseinsvorsorgeangebotes durch die Raumordnung wird die Basis von Informationsinstrumenten gebildet (siehe Abbildung 1). Abbildung 1:
Regulierungspyramide für die Regulierung öffentlicher Daseinsvorsorge durch die Raumordnung
Quelle: eigener Entwurf
Regelmäßige Bestandsaufnahmen der zentralen Einrichtungen der Daseinsvorsorge einer Planungsregion, ergänzt um erreichbarkeitsorientierte Abschätzungen der Versorgungslage in der Fläche, zeigen auf, wo Konflikte mit Versorgungs- und Erreichbarkeitsstandards bestehen. Szenarioansätze und Bevölkerungsprognosen verdeutlichen die Nachfragefolgen zukünftiger Bevölkerungsentwicklung für die 44
Auslastung bestehender Infrastrukturen, decken Kostenbelastungen auf und identifizieren den Anpassungsbedarf (Einig/Siedentopt 2006; Siedentop et al. 2006). Diese Informationsinstrumente führen aber nicht schon zum Handlungserfolg, wenn ihr kommunikativer Erfolg gesichert ist, das heißt die Adressaten die Bedeutung der Information erkannt haben. Es muss auch eine zweite Bedingung erfüllt sein: Die Adressaten müssen jene Anschlusshandlungen durchführen, um die von der Raumordnung gewünschten Wirkungen herbeizuführen (Einig 1998:46). Auf der zweiten Stufe der Regulierungspyramide sind freiwillige Ansätze interorganisatorischer Kooperation angesiedelt. Solch eine Kooperation muss ein kollektives Handlungsproblem lösen (Steinacker 2004:46). Nach der Logik kollektiven Handelns besteht der Kern kollektiver Handlungsprobleme darin, einzelne Organisationen davon abzuhalten, nur ihr eigenes Wohlergehen zu verfolgen, sondern stattdessen ihr Verhalten am Gemeinwohl einer Gruppe auszurichten (Olson 1968; Ostrom 1999:8). Offensichtlich reichen die Existenz gemeinsamer Interessen und die geteilte Einsicht, diese nur durch gemeinsames Handeln realisieren zu können, nicht aus, um ein gemeinschaftlich orientiertes Handeln auch wahrscheinlich zu machen (Jones 2004:450; Willems 1996:128). So bedarf es auch flankierender Koordinationseingriffe, um eine freiwillige Einigung unter Betreibern der Daseinsvorsorge, Fachplanung und Raumordnung wahrscheinlicher werden zu lassen. Mit ihrem Drohpotenzial kann die Raumordnung eine freiwillige Einigung durchaus befördern. Formeln wie „das Schwert in der Scheide“ oder die „Rute im Fenster“ deuten an, wie Verhandlungslösungen durch die Androhung einer hierarchischen Intervention erfolgreicher werden (Einig 2003:493). Ist eine freiwillige Einigung aber eher unwahrscheinlich, bietet die hierarchische Intervention eine Möglichkeit, auch gegen den Willen der Adressaten bestimmte Anpassungsergebnisse durchzusetzen. Dies berührt aber bereits fortgeschrittenere Eskalationsstufen. Bevor es soweit kommt, werden zuerst Ansätze der Ko-Regulierung getestet. Innerhalb eines Netzwerks aus Betreibern, Fachplanung, Kommunen und Raumordnung agieren die Beteiligten auf gleicher Augenhöhe. Das Ziel der KoRegulierung besteht darin, gemeinsam zu verbindlichen Konzepten zu gelangen, ohne Zwangsinstrumente einsetzen zu müssen. Durch Moderation eines regionalen Anpassungskonzepts kann die Raumordnung auf diskursivem Wege kollektive Handlungsstrategien identifizieren (Gutsche et al. 2008). Mittels Abschluss eines raumordnerischen Vertrages oder einer Zielvereinbarung gewinnt eine freiwillige Anpassungsstrategie Verbindlichkeit gegenüber den Netzwerkakteuren. Reichen reine Informationsangebote, freiwillige Arrangements horizontaler Kooperation und komplexe Formen der Ko-Regulierung aber nicht aus, um neben dem kommunikativen auch den instrumentellen Erfolg zu sichern und Angebot und Nachfrage der Daseinsvorsorge in Kongruenz zu bringen, kann die Raumordnung durch Festlegungen in ihren Plänen rechtsverbindliche Normen vorgeben, die durch Adressaten berücksichtigt oder beachtet werden müssen. Auf der ersten Stufe 45
wären hier die Grundsätze der Raumordnung zu nennen. Sie müssen von Adressaten berücksichtigt werden, können allerdings im Rahmen von Abwägungsentscheidungen auch überwunden werden. Führt der Vollzug von Grundsätzen der Raumordnung nicht zum gewünschten Regulierungserfolg, können mit Festlegungen von Zielen der Raumordnung strikte Bindungswirkungen ausgelöst werden, die nicht in der Abwägung zu überwinden sind. Alle öffentlichen Stellen, aber nur in Grenzen Personen des Privatrechts, wären dann zu einer Anpassungshandlung gezwungen. Der Vollzug von Grundsätzen und Zielen der Raumordnung wird in der Regel nicht mehr durch den Träger der Raumordnung geleistet, sondern obliegt in erster Linie Genehmigungsbehörden. Sie sind durch die Raumordnungsklauseln gezwungen, bei ihren Entscheidungen die Einhaltung von Festlegungen der Raumordnung zu überprüfen. Reicht aber auch diese Restriktivität nicht aus, bleibt der Raumordnung als letztes Mittel das Planungsgebot, um Adressaten zu einer Umsetzung der raumordnerischen Ziele zu zwingen. Dieses Zwangsinstrument wurde bisher erst in wenigen Fällen eingesetzt und fungiert somit allenfalls als Drohkulisse. Aufgrund seiner Durchgriffswirkung ist das Plangebot bei den Adressaten der Raumordnung nicht beliebt und kommt im Rahmen der Daseinsvorsorge auch nur sehr eingeschränkt zum Einsatz. 4. Steuerung des Daseinsvorsorgeangebotes durch Zentrale-Orte-Konzepte Durch ein System zentraler Orte soll die Versorgung der Bevölkerung und der Wirtschaft mit privaten Dienstleistungen und Arbeitsplätzen und einem komplexen Bündel öffentlicher Leistungen der Daseinsvorsorge, wie Schulen, Krankenhäuser, Kultureinrichtungen, ÖPNV, Ver- und Entsorgungsinfrastrukturen, zu angemessenen Erreichbarkeitsbedingungen gewährleistet werden (Blotevogel 2002; MKRO 2001). Diese Gewährleistungsverantwortung versucht die Raumordnung durch verbindliche Festlegung in Form von Zielen und Grundsätzen der Raumordnung in ihren Plänen verbindlich zu regeln. Zentralörtliche Statusfestlegungen nimmt insbesondere die Landesplanung vor, während die Regionalplanung in nur wenigen Ländern Festlegungen auf der untersten Ebene des Zentrale-Orte-Systems vornehmen darf. Das angebotene Dienstleistungsbündel ist nicht in jedem zentralen Ort gleich, sondern unterscheidet sich je nach Hierarchiestufe. Bereits in Entschließungen der MKRO aus den Jahren 1968 und 1972 hatten sich die Länder und der Bund auf einen vierstufigen Aufbau Zentraler-Orte-Systeme geeinigt. Diese Grundarchitektur, gebildet aus Ober-, Mittel-, Unter- und Kleinzentren, blieb lange Jahre stabil, wurde mittlerweile aber in fast allen Ländern in Bezug auf die hierarchische Stufung und durch Einführung intermediärer Sonderformen modifiziert.
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Die Festlegung einer Gemeinde als zentraler Ort bestimmt nicht nur die wahrzunehmenden Versorgungsfunktionen für die Bevölkerung dieses Ortes, sondern dimensioniert auch den Versorgungsbereich außerhalb des Gemeindegebiets, den die im Ort konzentrierten Einrichtungen mitversorgen sollen. Oberzentren weisen die weitesten Versorgungsbereiche auf. Sie sollen neben der Grundversorgung vorrangig jene Güter und Dienstleistungen anbieten, die der Befriedigung des spezialisierten, höheren Bedarfs dienen. Demgegenüber sind die Unter- und Kleinzentren allein auf die Deckung alltäglicher Grundversorgung ausgerichtet und weisen daher auch die kleinsten Einzugsräume auf. Alle Versorgungsfunktionen, die unterhalb der oberzentralen Aufgaben angesiedelt sind, aber über eine rein örtliche Grundversorgung hinausgehen, werden von den Mittelzentren erbracht (Deckung des gehobenen Bedarfs). Die Radien der Versorgungsbereiche sind in den einzelnen Ländern unterschiedlich weit abgegrenzt. Dies liegt vor allem an den Besonderheiten der regionalen Siedlungsstruktur; ein sehr ländlich geprägtes Land mit niedriger durchschnittlicher Bevölkerungsdichte hat natürlich weniger zentrale Orte als ein stark verstädterter Raum. Ein anderer Grund ist die Ausweisungspraxis der Landesplanung. In Ländern, die immer wieder zusätzliche zentrale Orte ausgewiesen haben, liegt deren Dichte heute gemessen am Bundesmittel deutlich höher. Die zentrale Ursache für unterschiedlich weite Versorgungsbereiche sind allerdings betriebswirtschaftliche Tragfähigkeitsschwellen und keine planwirtschaftlichen Vorgaben der Raumordnung. Dienstleistungen, die aus ökonomischen Gründen nur in größeren Mengen oder Kapazitäten angeboten werden können („economies of scale“) und daher eine bestimmte Auslastung (Mindestnachfragemenge) erfordern, lassen sich aufgrund bestehender Tragfähigkeitsgrenzen nur an wenigen Standorten in einer Region bereitstellen (Dicken/Lloyd 1999:23ff.). Überlappen sich die Einzugsräume bei benachbarten Einrichtungen, werden deren Einnahmen geschmälert und die Auslastung nimmt ab. In einer Marktwirtschaft sorgt dann der Wettbewerb für Anpassung, mit der Folge, dass hochrangige Dienstleistungen nur an wenigen Standorten und niederrangige Dienste an vielen Standorten angeboten werden. In einer Marktwirtschaft flankieren Zentrale-Orte-Konzepte der Raumordnung diesen räumlichen Selektions- und Verteilungsprozess, indem sie einerseits die Konzentration höherrangiger Dienstleistungen in zentralen Orten fördern und gleichzeitig die flächenhafte Grundversorgung mit niederrangigen Gütern absichern, da hier die Marktdynamik eher konterkarierend wirkt. Welche Leistungen der Daseinsvorsorge auf welcher Hierarchiestufe eines Zentrale-Orte-Systems angeboten werden sollen, regeln Ausstattungskataloge der Landesplanung. Sie bauen auf Entschließungen der MKRO auf, die Ausstattungsmerkmale für alle vier Hierarchiestufen vorgegeben haben. Im Laufe der Zeit haben sich die Kataloge deutlich gewandelt, zusätzliche Leistungen wurden aufgenommen, andere gestrichen und einige Länder haben sich sogar ganz von Ausstattungskatalo47
gen verabschiedet (siehe Tabelle 1). Die Mehrzahl der Landesentwicklungsprogramme nutzt aber weiterhin dieses Instrument. Ausstattungskataloge bestimmen die Anforderungen für eine Mindestausstattung (Hahne/von Rohr 1999:49), unabhängig davon, ob die betreffenden gemeinwohlrelevanten Dienstleistungen privatwirtschaftlich oder durch den öffentlichen Sektor produziert werden. Ausstattungskataloge haben in der Regel einen positivplanerischen Charakter, das heißt, sie benennen die Einrichtungen der Daseinsvorsorge, die in einem zentralen Ort nach Möglichkeit vorgehalten werden sollen.
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Thüringen
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x
Mecklenburg-Vorpommern
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Hessen
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Brandenburg
x
Bayern
Einrichtungen Allgemeine Dienste Bank, Sparkassenfiliale Warenhaus, vielseitige Einkaufsmöglichkeiten Hotel Gesundheit Facharzt Krankenhaus der Grundversorgung Soziales Stationäre Altenpflegeeinrichtung Einrichtung der Jugendhilfe/Sozialberatung Bildung Hauptschule Realschule Zur allgemeinen Hochschulreife führende Schulen (z.B. Gymnasium)
Baden-Württemberg
Ausstattungskataloge für Versorgungseinrichtungen des gehobenen Bedarfs im Ländervergleich
MKRO
Tabelle 1:
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x
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x x
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(x)
x
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x
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x
Mehrzweckhalle/Veranstaltungshalle Museum Weiterbildung Volkshochschule Öffentliche Bibliothek Sport/Freizeit Frei- oder Hallenbad Sportstadion Sporthalle mind. 27 * 45 m Spezialsportanlage (z.B. Tennisplätze) Kino Öffentlicher Verkehr/Verkehr Bahnhof Behörden/Gerichte Polizeistation Kreisverwaltungsbehörde Amtsgericht/Gerichte der unteren Stufe Finanzamt/Behörde der unteren Stufe Arbeitsagentur
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Thüringen
Sachsen
Saarland
x
Schleswig-Holstein
x
Rheinland-Pfalz
x
Mecklenburg-Vorp.
Bayern
x
Hessen
Baden-Württemberg
x
Brandenburg
MKRO Einrichtungen Berufsbildende Schule Förderschule/ Sonderschule Kultur Theater
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x
Quelle: Pütz/Spangenberg 2007:57
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Für das Zentrale-Orte-Konzept stellt die demografische Entwicklung eine besondere Herausforderung dar. In Zukunft wird die Tragfähigkeit von Einrichtungen durch Bevölkerungsrückgang oder Verschiebungen in der Alterszusammensetzung häufiger unterschritten. Das Leitbild „Daseinsvorsorge sichern“ fordert deshalb eine flexiblere Anpassung der Zentrale-Orte-Konzepte an die gewandelten räumlichen Nachfragestrukturen. Öffentliche Ausstattungsstandards und die Funktionszuweisungen für die unterschiedlichen Stufen des zentralörtlichen Systems gilt es zu überprüfen und zu modifizieren. Viele Landesplanungen haben daher bei der Neuaufstellung ihrer Landesentwicklungspläne Reformen ihrer Zentrale-Orte-Systeme durchgeführt. Trotz erforderlicher Straffungsmaßnahmen und neuer Mindeststandards ist das System zentraler Orte aber weiterhin ein „unverzichtbares Instrument zur Gewährleistung einer nachhaltigen, das heißt zukunftsfähigen Raumentwicklung, aktiven regionalen Entwicklungspolitik und flächendeckenden Sicherung der Daseinsvorsorge“ (Rooks 2006:641). Das normative Konzept Zentraler-Orte-Systeme ist Ausdruck eines weitreichenden Regulierungsanspruchs der Raumordnung (Schmitz 2002): Nichts weniger als die Gewährleistung einer raumstrukturell ausdifferenzierten Versorgungslandschaft mit Einrichtungen der öffentlichen Hand wie der Privatwirtschaft, soll der Steuerungseingriff der Raumordnung sichern. Grundsätzlich verfügt die Raumordnung aber über keinen direkten Durchgriff auf die Verortung von Einrichtungen der Daseinsvorsorge, unabhängig davon, ob es sich um private oder öffentliche Träger handelt. Vom Gesetzgeber vorgesehen ist eine indirekte Steuerung durch Beeinflussung sehr unterschiedlicher Fachplanungen (Gawron 2008). Hierin zeigt sich der Meta-Regulierungscharakter zentralörtlicher Statusfestlegungen (Einig 2008). Fast alle Fachplanungsgesetze sehen eine Raumordnungsklausel vor und verpflichten damit die öffentlichen Planungs- und Maßnahmenträger gesetzlich zur Berücksichtigung beziehungsweise Beachtung von Zielen und Grundsätzen der Raumordnung (Wagner 1990). Zu unterscheiden ist zwischen allgemeinen Raumordnungsklauseln des Raumordnungsgesetzes und der Landesplanungsgesetze sowie den speziellen Raumordnungsklauseln in den Fachgesetzen und im Baugesetzbuch (BauGB). Sie normieren verfahrensrechtliche wie materiell-rechtliche Bindungen der jeweiligen Fachplanungen (Durner 2005:84) und erkennen damit den übergeordneten Charakter der Raumordnung an (Domhardt et al. 2007:9). Durch raumordnungsrechtliche Festlegungen soll aber nicht die Fachplanung ersetzt werden, vielmehr wird dieser von der rechtlichen Kompetenzordnung eine starke relative Eigenständigkeit eingeräumt. In der Praxis ergeben sich bei der Kollision überfachlicher Planungskompetenzen der Raumordnung mit fachspezifischen Kompetenzen der Fachplanungen zwar vielfach Konflikte (Durner 2005), grundsätzlich haben aber die Ziele der Raumordnung Vorrang vor der Fachplanung, auch wenn dieser
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Kompetenzbereich – zum Beispiel durch § 5 ROG – wieder relativiert wird (Stüer/Hönig 2003:228). Tabelle 2:
Reformen des Zentrale-Orte-Systems
Land
Zahl der Ebenen
Zahl zentraler Orte
Stärkung der Entwicklungsfunktion
Ausstattungskatalog
Brandenburg
Wegfall der GZ, Straffung auf 2 Ebenen
Insges. Reduzierung aber Erhöhung der MZ
ja
ja
BadenWürttemberg
Beibehalten
Erhöhung
ja
ja
Bayern
Beibehalten
Erhöhung
nein
ja
MecklenburgVorpommern
Straffung auf 3 Ebenen
Geringfügige Reduzierung
ja
abgeschafft
Niedersachsen
Erweiterung der Zwischenebenen
Erhöhung
ja
ja
RheinlandPfalz
Beibehalten
Reduzierung geplant
nein
ja
Saarland
Beibehalten
Überprüfung geplant
ja
ja
Sachsen
Straffung auf 3 Ebenen, bei MZ raumstrukturell differenzierende Festlegungen
Reduzierung
ja
ja
SachsenAnhalt
beibehalten
Überprüfung geplant
ja
nicht vorhanden
Straffung auf 3 Ebenen
Erhöhung
ja
ja
Thüringen
GZ = Grundzentrum, MZ = Mittelzentrum, Quelle: verändert nach Dehne/Kaether 2007:9
Zentralörtliche Statusfestlegungen wirken primär mediatisierend, indem sie Wirkungen im Rahmen von Fachplanungs- und Genehmigungsverfahren auslösen. Adressaten der Raumordnung sind vorrangig andere Planungsträger sowie Genehmigungsbehörden und erst in zweiter Linie die Betreiber von Einrichtungen. Erst die 51
fachbehördlichen Entscheidungen richten sich dann an die eigentlichen Vorhabenträger. Insofern steuert die Raumordnung in erster Linie andere öffentliche Regulierungsstellen. Aus diesem Grunde kann der Koordinationsmechanismus der Raumordnung als Meta-Regulierung bezeichnet werden. Gemeint ist damit die Regulierung anderer Regulierungsprozesse (Einig 2008:25; Jordana/Levi-Faur 2003:6; Parker et al. 2004:6; Morgan 2003:490). Meta-Regulierung ist in der Regel Ausdruck einer Regulierung innerhalb des Staates. „The state is regulating its own regulation as a consequence of policies to apply transparency, efficiency and market competition principles to itself” (Parker 2007). Eine inhaltliche Nähe gibt es gegenüber dem Konzept der Metagovernance. Sie wird definiert als “governance of governance” (Bell/Park 2006; Jessop 2004; Sørensen 2006). In welchen Politikbereichen eine Meta-Regulierung durch die Raumordnung praktiziert wird, verdeutlichen exemplarisch die folgenden Beispiele: Raumordnungsklauseln in den Krankenhausplanungsgesetzen der Länder sehen in der Regel eine Bindung an die zentralörtlichen Statusfestlegungen vor (z. B. § 4 Abs. 1 SächsKHG). So definiert der Krankenhausplan des Freistaates Sachsen: „Ziel der staatlichen Krankenhausplanung ist es, ein bedarfsgerechtes, funktional abgestimmtes Netz einander ergänzender Krankenhäuser zu schaffen, das sich eng am Zentrale-Orte-System der Landesentwicklung orientiert“ (Stand 1.1.2002, 6. Fortschreibung). In Thüringen ist die Orientierung der Krankenhausstandorte am ZentraleOrte-System als Grundsatz im Landesentwicklungsplan bestimmt. In MecklenburgVorpommern werden zentrale Orte als Vorrangstandorte für Einrichtungen des Gesundheitswesens als Ziel der Raumordnung festgelegt. Die Krankenhausgrundversorgung orientiert sich an den zentralörtlichen Hierarchiestufen. Als wohnortnahe Versorgung werden Erreichbarkeitsstandards definiert, zum Beispiel für Krankenhäuser der Grundversorgung (mit mindestens einer chirurgischen und einer internistischen beziehungsweise gynäkologischen Abteilung) in MecklenburgVorpommern maximal 25-30 km oder in NRW und Saarland 15-20 km (Beivers/Spangenberg 2008). Im Bereich der Verkehrsplanung der Länder bestehen ebenfalls unterschiedliche Raumordnungsklauseln, die eine Bindung von Fachplanungen an zentralörtliche Festlegungen garantieren. Beispielsweise richtet das Land Sachsen-Anhalt seine Planung des öffentlichen Verkehrs vollständig an den zentralörtlichen Ausweisungen der Landesplanung aus (Ministerium für Bau und Verkehr 2005). Aber auch die Straßenverkehrsplanung, im Rahmen von Generalverkehrsplänen wie bei Planfeststellungsverfahren, ist an Ziele und Grundsätze der Raumordnung gebunden. Grundsätzlich kann die Raumordnung der Fachplanung aber nicht den Ausbau oder die Erweiterung von verkehrlichen Infrastrukturen an einem bestimmten Standort vorschreiben. Ihr Kompetenzrahmen lässt dies ebenso wenig zu wie Aussagen zu fachlichen Einzelheiten, etwa die Anordnung von Nachtflugverboten,
52
Schallschutzmaßnahmen, Geschwindigkeitsbegrenzungen oder Bedienqualitäten (Domhardt et al. 2007:11). Eine besondere Rolle spielen zentralörtliche Festlegungen der Raumordnung im Rahmen der Schulentwicklungsplanung. Schulstandortfestlegungen sollen sich am Netz der zentralen Orte ausrichten. Grundschulen werden beispielsweise in Thüringen und Sachsen in allen zentralen Orten vorgehalten, während Gymnasien auf Standorte in Mittel- und Oberzentren beschränkt sind. Berufsschulen sind vorrangig in Oberzentren und in Ausnahmefällen auch in Mittelzentren anzubieten. Sachsen ermöglicht dies auch in Ausnahmen in Grundzentren. Länder mit besonderen demografischen Herausforderungen nutzen zentralörtliche Festlegungen zur Durchsetzung von Rückbaumaßnahmen in der Schulentwicklungsplanung. Die Fachplanung kann Standort- und Rückbauentscheidungen, die nicht-zentrale Gemeinden betreffen, durch Berufung auf die Zielstellungen des Zentrale-OrteSystems oft einfacher durchsetzen. Ein Beispiel für die Ausdehnung raumordnungsrechtlicher Bindungswirkungen auf Privatunternehmen ist die Raumordnungsklausel der Postuniversaldienstleistungsrichtlinie (PUDLV) (Ritter et al. 2008). In § 2 Abs. 1 PUDLV werden die „Qualitätsmerkmale der Briefbeförderung“ definiert: In „allen Gemeinden mit mehr als 2.000 Einwohnern muss mindestens eine stationäre Einrichtung vorhanden sein; dies gilt in der Regel auch für Gemeinden, die gemäß landesplanerischen Vorgaben zentralörtliche Funktionen haben.“ Problematisch ist diese Vorschrift, da zentralörtliche Statusfestlegungen nicht nach einem bundesweit einheitlichen Verfahren vorgenommen werden. Da sich die Ausweisungspraxis der Länder erheblich unterscheidet, erhöhen sich die Regulierungskosten für private Postunternehmen dort, wo überproportional viele zentrale Orte ausgewiesen wurden. 5. Angebotsanpassung öffentlicher Daseinsvorsorge durch Netzwerkgovernance Zukünftig kann das in Ausstattungskatalogen definierte Versorgungsniveau zentraler Orte zu vertretbaren Erreichbarkeiten in vielen Teilräumen Deutschlands nicht mehr garantiert werden (Pütz/Spangenberg 2006). Unterschreitet die Bevölkerung in den Versorgungsbereichen betriebswirtschaftliche Tragfähigkeitsgrenzen, werden unterschiedliche Anpassungsmaßnahmen nötig (siehe Tab. 3). In Ostdeutschland war die dominante Reaktion eine Ausdünnung ZentraleOrte-Systeme. Auch die Leitbilder der Raumentwicklung favorisieren diese Anpassungsstrategie. Aus verteilungspolitischer Sicht ist dieser Weg allerdings problematisch, stellt er doch in gewisser Weise einen Bruch mit dem Vorhalteprinzip dar. Bisher hatte die Raumordnung in allen Ländern das Ziel verfolgt, notwendige Versorgungseinrichtungen flächendeckend in zumutbaren Entfernungen bereitzustel53
len, „auch wenn diese (gemessen an landesweiten Durchschnittswerten) weniger ausgelastet sein sollten“ (Goppel 2006:649). In Folge einer Ausdünnungsstrategie wird die Zahl zentraler Orte reduziert, so dass Teile der Bevölkerung weitere Wege zu den verbliebenen Zentren in Kauf nehmen müssen. Tabelle 3:
Anpassungsmaßnahmen der Daseinsvorsorge an den Demografischen Wandel
Anpassungsmaßnahme Schließen von Einrichtungen Erhöhung der Erreichbarkeit Verkleinerung Dezentralisierung Zusammenlegung Temporäre Ansätze Neustrukturierung/ Substituierung Optimierung Koordination Privatisierung
Beispiel Unterausgelastete Grundschule, Kindergärten optimierte ÖPNV-Netze, nachfrageorientierte Taktzeiten reduziertes Busnetz, jahrgangsübergreifender Unterricht mehrere Biokläranlagen statt Großkläranlage, Bürgerämter statt Zentralverwaltung Schulzentralisierung, Kooperation von zwei Schulstandorten mit einer Schulleitung Wochenmärkte, mobile Bibliotheken, Zahnarzt auf Rädern Warenbestellung (Internet) statt Einkauf (Geschäft), Zusammenlegung von Klassen mit neuen pädagogischen Konzepten Erreichbarkeitsorientierte Optimierung von Standortnetzen im Einzelhandel Aufteilung der Versorgungsbereiche unter konkurrierenden Anbietern Verkauf von Stadtwerken
Quelle: eigene Zusammenstellung
Für die Raumordnung in dünn besiedelten Ländern, die besonders vom Bevölkerungsrückgang betroffen sind, ist die Ausdünnung der Versorgungslandschaft bereits heute schon ein Thema (Pütz/Spangenberg 2007). Will sie drastische Verschlechterungen der Angebotssituation und der Erreichbarkeitsverhältnisse verhindern, muss die Raumordnung den Anpassungsprozess von Angeboten der Daseinsvorsorge aktiver koordinieren als dies bisher im Rahmen ihrer Zentrale-Orte-Konzepte möglich war. Von der Regionalplanung wurde diese Herausforderung vor allem dort angegangen, wo eine Förderung durch Modellvorhaben erfolgte. Allerdings unterstützen bisher erst wenige Länder ihre Regionalplanung finanziell bei der Bewältigung des Demografischen Wandels. In Sachsen, Hessen und 54
Hamburg (in Kooperation mit Schleswig-Holstein und Niedersachsen) werden mittlerweile demografie-orientierte Modellvorhaben durchgeführt (Dehne/Kaether 2007:19). Beispielhaft ist die Vorgehensweise von Sachsen. Dort wurden Modellvorhaben zum Demografischen Wandel in den Modellregionen Westerzgebirge und Oberlausitz-Niederschlesien durchgeführt. In einem öffentlichen Dialogprozess sollten umsetzbare Lösungen für neue Angebotsformen gefunden werden, die auch unter extremen Schrumpfungsbedingungen realisierbar sind. Außerdem sollten die Instrumente und Methoden der Regionalplanung überprüft werden. Umfangreiche Erfahrungen mit Modellvorhaben hat die Bundesförderung ermöglicht (BMVBW/ BBR 2005; BMVBS/BBR 2006). Allein mit dem Programm „Modellvorhaben der Raumordnung“ (MORO) haben das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) und das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) den Anpassungsprozess der Daseinsvorsorge an den Demografischen Wandel mittlerweile in 14 Modellregionen unterstützt. Am Beispiel des MORO-Vorhabens „Regionalplanerische Handlungsansätze zur Gewährleistung der öffentlichen Daseinsvorsorge“ lässt sich exemplarisch demonstrieren werden, wie in Netzwerkstrukturen der Erarbeitungsprozess regionaler Anpassungskonzepte für Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge durch die Regionalplanung koordiniert werden kann (BBR 2007a, b; Gutsche et al. 2008). In den drei Modellregionen Havelland-Fläming (Brandenburg), SteinburgDithmarschen (Schleswig-Holstein) und der Mecklenburgischen Seenplatte (Mecklenburg-Vorpommern) wird die bereichsübergreifende Koordination des Anpassungsprozesses sozialer wie technischer Infrastrukturen an den Demografischen Wandel durch Bundesförderung unterstützt. In allen Modellregionen konnten integrierte regionale Anpassungskonzepte für Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge auf kooperativem Wege erarbeitet werden. Die Voraussetzung war ein moderationsorientierter Bearbeitungsprozess. So mussten in allen Regionen umfangreiche Bestandsaufnahmen der Einrichtungen durchgeführt, Akteursnetzwerke aufgebaut, funktionsfähige Arbeitsgruppen initiiert, Prognosen und Versorgungsszenarien berechnet, alternative Anpassungskonzepte entwickelt und Entscheidungsprozesse moderiert werden. Unterstützt wurden diese komplexen Interaktionsprozesse durch eine Begleitforschung, die sowohl methodisch-konzeptionell wie moderationsorientiert der Erarbeitung der integrierten Anpassungskonzepte in allen drei Modellregionen unterstützt hat. Im Verlauf des Modellvorhabens haben sich in allen Regionen komplexe Ansätze regionaler Netzwerkgovernance herausgebildet.
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Abbildung 2:
Modellregionen mit demografischem Inhalt im Programm Modellvorhaben der Raumordnung (MORO)
Quelle: eigene Zusammenstellung
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Anpassungskonzepte werden für den öffentlichen Nahverkehr, die Schulversorgung, die Ausstattung mit Kitas/Kindergärten und die Altenpflege erarbeitet. Für alle ausgewählten Leistungen der Daseinsvorsorge wurde in den Modellregionen der aktuelle Angebotsbestand standortgenau erfasst und Kapazität, Auslastung sowie Kostenparameter erhoben. Für jede Region liegt ein Erreichbarkeitsmodell vor, das die Distanzen zwischen Einrichtungen und Wohnorten erfasst. So kann gezeigt werden, wie sich Änderungen der Standortnetze oder Veränderungen der Bevölkerungsverteilung beziehungsweise ihrer räumlichen Zusammensetzung nach Altersgruppen auf die Versorgungssituation mit Einrichtungen der Daseinsvorsorge sowie die Erreichbarkeitsverhältnisse auswirken. Grundlage für die Abschätzung der zukünftigen Nachfrageentwicklung sind kleinräumige Bevölkerungsprognosen. Berücksichtigt werden vorgeschriebene beziehungsweise empfohlene Ausstattungs- und Versorgungsnormen. So kann in den Szenariorechnungen der Versorgungsgrad der Bevölkerung mit Einrichtungen der Daseinsvorsorge differenziert für die Gegenwart wie die Zukunft ermittelt werden. Es lassen sich Über- und Unterauslastungen von Einrichtungen abschätzen und Erreichbarkeitsprobleme von Einrichtungen aufzeigen. Entscheidend ist die Möglichkeit des Kostenvergleichs alternativer Anpassungsszenarien. Schwerpunkt des Modellvorhabens ist der kooperative Entwurf alternativer Anpassungsstrategien. Die Erarbeitung der regionalen Anpassungskonzepte erfolgte in Zusammenarbeit der zentralen Akteure der Daseinsvorsorge. In jeder Region wurden deshalb für die einzelnen Themenbereiche Arbeitgruppen gebildet, in denen Raumordnung, Fachplanung, Kommunen, Verbände und private Betreiber zusammenarbeiten. Die verschiedenen Angebotsstrategien wurden im Hinblick auf Veränderungen des Versorgungsgrades, der Versorgungsnormen als auch der Kostenentwicklung verglichen. An einem Kostenvergleich von vier Varianten der Schulentwicklung kann dies am Beispiel der Modellregion Mecklenburgische-Seenplatte demonstriert werden. In der folgenden Abbildung nimmt die Anzahl erhaltener Schulstandorte von links nach rechts kontinuierlich ab. Grundsätzlich führt die Schließung von Standorten zu einer Verringerung der Kosten für das Lehrpersonal, die Schulleitung, die Gebäude und sonstiges Personal und Sachkosten des Schulträgers. Für die Schulentwicklungsplanung sind diese Kostenargumente oft ausreichend, um über die Schließung einer Schule zu entscheiden, die nicht mehr normgerecht mit Schülern ausgelastet werden kann. Bezieht man in den Kostenvergleich aber auch andere Kostenarten ein, so ändert sich das Bild schlagartig. Die Kosteneinsparungen entsprechend der Normvorgaben der Schulentwicklung (Mindestschülerzahl) werden in der Modellregion Mecklenburgische Seenplatte größtenteils durch die Mehrkosten aufgezehrt, die durch einen erhöhten Schülertransportbedarf entstehen, da die Kinder der geschlossenen Schulen nun zu weiter entfernten Standorten befördert werden müs-
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sen. Grundsätzlich bedeutet dies, dass die Erhaltung von unterausgelasteten Schulstandorten nicht zwangsläufig teurer sein muss als eine Schließungsstrategie. Grundsätzlich werden neue Finanzierungs- und Organisationsmodelle bei den Anpassungskonzepten berücksichtigt und alternative Mindeststandards der Versorgung (z. B. mit veränderten Einzugsbereichen) getestet. Um einzelne Anpassungsstrategien miteinander vergleichen zu können, kommt neben der Kostenermittlung vor allem der Erreichbarkeitsmodellierung eine zentrale Rolle zu. So lassen sich nicht nur Tragfähigkeiten für abgegrenzte Einzugsbereiche verschiedener Einrichtungen abschätzen, sondern es können auch Veränderungen des Wegeaufwandes bei unterschiedlichen Anpassungsstrategien vergleichend gegenübergestellt werden. Sobald in Netzwerken von der Szenarioentwicklung zur Formulierung der zukünftigen Ziele und konkreten Anpassungsmaßnahmen übergegangen wird, stellt sich automatisch die Frage, wie die angestellten Überlegungen und erarbeiteten Problemlösungen auch verwirklicht werden können. In den Modellregionen mussten daher spezifische Vertragskonzepte und Zielvereinbarungen entworfen werden, die regeln, wie kollektiv verbindliche Entscheidungen überhaupt zutreffen und wer durch diese Konventionen gebunden wird. Zentrales Problem ist somit nicht nur die Suche nach einem Kompromiss. Es müssen auch institutionelle Regelungen entwickelt werden („institutional design“), die absichern, dass sich die beteiligten Akteure später an die vereinbarten Ziele und Maßnahmen halten. Dies können regionale Selbstverpflichtungen in Form eines raumordnerischen Vertrages sein oder Festlegungen im Regionalplan. Die netzwerkorientierte Erarbeitung von Anpassungsstrategien hat in jeder Region andere Resultate erbracht, als im Rahmen einer nicht bereichsübergreifenden, klassisch sektororientierten Herangehensweise zu erwarten gewesen wäre. Letztere ist traditionell für Fachplanungen typisch. Im Unterschied zur imperativen Regulierung, bei der eine staatliche Instanz die Ge- und Verbote des Regelwerks festlegt, die die Regulierungsadressaten zu befolgen haben, basierte der diskursive Erarbeitungsprozess von Anpassungsstrategien auf Ko-Regulierung, das heißt der gemeinsamen Setzung von Regulierungszielen und Instrumenten zu ihrem Vollzug. Ko-Regulierung erfolgt nach herrschender Meinung vorrangig zwischen Staat und privaten Akteuren, meistens im Rahmen von Verhandlungen und Vereinbarungen, in denen die privaten Akteure gleichberechtigt neben dem Staat an der Entscheidungsfindung beteiligt sind. Bisher wird der Begriff nicht im Kontext innerstaatlicher Koordinationsbeziehungen angewendet. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, den Begriff auch auf die kooperative, arbeitsteilige Bearbeitung von Koordinationsaufgaben innerhalb des Staates anzuwenden.
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Abbildung 3:
Kostenvergleich verschiedener Anpassungsszenarien der Schulentwicklung
Quelle: BBR 2007b:9
Wenn Ko-Regulierung in Netzwerkstrukturen eingebettet ist, stellt sie einen Fall von Netzwerkgovernance dar. Allgemein gilt Netzwerkgovernance als eine Koordinationsform, die das Management von Netzwerken betrifft (Agranoff/McGuire 2001:318; 2004; Jones et al. 1997; Klijn/Edelenbos 2007; Triantafillou 2007). Generell wird von der Raumordnung immer häufiger das Management von Netzwerken erwartet (Fürst 1999, 2000, 2005:25, Fürst et al. 2005:73ff.). In der Netzwerkliteratur werden zwei Formen der Netzwerkgovernance unterschieden (Provan/Kenis 2007; Junki 2006): 1) 2)
Netzwerke, die durch eine Organisation koordiniert und gesteuert werden Netzwerke, in denen alle beteiligten Organisationen interagieren, ohne dass eine Organisation zentrale Managementaufgaben für den Gesamtprozess übernimmt.
In den Modellregionen wurde der Ansatz eines zentral koordinierten Netzwerks verwirklicht, bei der sich ein Team aus behördlichen Vertretern der Regionalplanung beziehungsweise der Kreisverwaltung und Mitarbeitern der Begleitforschung für das Management der Zusammenarbeit verantwortlich zeichnen. 59
Da die Regionalplanung kompetenzrechtlich nicht eigenständig verbindliche Entscheidungen über Anpassungsmaßnahmen treffen darf, ist sie auf eine Kooperation all jener Organisationen und Betreiber angewiesen, die mit Planung, Entwicklung und Betrieb unterschiedlicher Einrichtungen der Daseinsvorsorge in einer Region beauftragt sind. In diesem arbeitsteiligen Prozess der Gemeinwohlverwirklichung nimmt die Regionalplanung vorrangig koordinierende Aufgaben wahr. Dies ist symptomatisch für den Gewährleistungsstaat, da der Koordinationsmodus für arbeitsteilige Gemeinwohlbeiträge „nicht länger in einer ausschließlich oder überwiegend hierarchischen Koordination bestehen kann“ (Schuppert 2004:8) und die Interaktion vorrangig in Netzwerken zwischen Organisationen stattfindet (Borgatti/Foster 2003; O´Toole 1997). Dadurch ist die Regionalplanung auf Verhandlung als Steuerungsmittel festgelegt (Einig 2003; Fürst 2000, 2005), ein Umstand, der generell für Ansätze der Netzwerkgovernance zuzutreffen scheint (Agranoff/McGuire 2004; Bogason/Musso 2006; Sørensen/Torfing 2007; Stoker 2006). 6. Schluss Die Raumordnung ist Träger begrenzter Regulierungs- und Koordinationsrechte. Diese Rechte legitimieren sie dazu, in eindeutig definierten Schranken, Planungen und Maßnahmen von öffentlichen Stellen und Personen des Privatrechts miteinander und untereinander abzustimmen. Zwar ist die Reichweite der regionalplanerischen Verfügungsrechte praktisch weitgehend auf die Regulierung öffentlicher Planungsträger beschränkt, grundsätzlich legitimiert der rechtliche Kompetenztitel der Raumordnung aber auch zu einer Koordination von Maßnahmen und Planungen von Personen des Privatrechts. In der Regel wirken die Festlegungen der Raumordnung primär als eine „Planung der Planung“. Will die Raumordnung ihre Spuren in der Versorgungslandschaft von Einrichtungen der Daseinsvorsorge hinterlassen, ist sie auf die mediatisierende Wirkung ihrer Festlegungen angewiesen und muss sich zur Verwirklichung ihrer Ziele der Pläne anderer Organisationen bedienen. Betreiber von Einrichtungen, Verbände und Fachplanungen können nur dann zur Orientierung an Vorgaben der Raumordnung veranlasst werden, wenn die Festlegungen von Zentraler-Orte-Konzepte vorhabenorientierte Fachplanungen binden. Tun sie dies nicht, ist die Raumordnung auf Ansätze der Netzwerkgovernance angewiesen, will sie eine nachhaltige Beeinflussung der Versorgungslandschaft bewirken. Als Netzwerkmanager betritt die Raumordnung eine ungewohnte Arena. Im Rahmen von Modellvorhaben konnte die Regionalplanung in den letzten Jahren ihre Erfahrungen mit der Koordination interorganisatorischer Netzwerke, in der neben öffentlichen Organisationen auch private Akteure eingebunden sind, aber stark ausbauen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist allerdings noch nicht absehbar, ob sich die Regionalplanung auch in anderen Planungsräumen als Netzwerkmanager enga60
gieren wird, um Anpassungsprozesse der Daseinsvorsorge an gewandelte Nachfragestrukturen zu moderieren. Eine Umfrage unter den Trägern der Regionalplanung belegt allerdings, dass die Sicherung der Daseinsvorsorge unter gewandelten demografischen Rahmenbedingungen mittlerweile als wichtiger Politikinhalt der Raumordnung angesehen wird. Knapp 24 Prozent der Befragten gaben an, dass sie sich sehr aktiv mit Fragen der Sicherung und Weiterentwicklung der öffentlichen Daseinsvorsorge beschäftigen. Lediglich neun Prozent der Befragten verfolgen bisher von Seiten der Regionalplanung keine Aktivitäten in diesem Politikfeld (Dehne/Kaether 2007:35).
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Wohlfahrtstaatliche Daseinsvorsorge und soziale Ungleichheit Berthold Vogel
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1 Wenn an dieser Stelle der Terminus „Wohlfahrtsstaat“ gewählt wird, dann mit Bedacht. Denn der Wohlfahrtsstaat repräsentiert ein generalisiertes politisches Ordnungsmodell des Sozialen. Das Konzept des Wohlfahrtsstaates steht in Abgrenzung zum Sozialstaat im engeren Sinne, der auf die soziale Sicherung der Risiken des Erwerbslebens, des Alters und der Gesundheit zielt. Im Zentrum wohlfahrtsstaatlicher Aktivitäten – verstanden als komplexe soziale Arrangements - steht die „Daseinsvorsorge“. Unter Daseinsvorsorge, zweiter definitorischer Hinweis, lassen sich Prozesse politischer Institutionenbildung, technischer Infrastrukturentwicklung und beschäftigungswirksamer Wirtschaftsaktivität zusammenfassen (vgl. insgesamt Vogel 2007).
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Die Leitbegriffe sind hier der „sorgende“ und der „gewährleistende“ Wohlfahrtstaat. Die aktuelle wohlfahrtsstaatliche Entwicklung wird als „stabiler Institutionenwandel“ (Helmut Schelsky) charakterisiert. Der Übergang vom „sorgenden“ zum „gewährleistenden“ Staat ist in dieser Lesart kein radikaler Bruch in den Staatszielbestimmungen, geschweige denn ein Abschied vom Wohlfahrtsstaat. Der wohlfahrtsstaatliche Wandel repräsentiert eher Erschöpfungszustand als Zerfallsprozess. Gleichwohl treten nun neue Steuerungsprinzipien in den Vordergrund des Wohlfahrtsgeschehens. Die Prinzipien der „Sorge“ und des „Statuserhalts“ treten gegenüber den Staatsfunktionen der „Gewährleistung“ und „Ermöglichung“ zurück. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die ungleichheitsverschärfenden Konsequenzen der fiskalischen und normativen Erschöpfung des historischen Erfolgsbündnisses sorgender Staatlichkeit und industriell organisierter Arbeitsgesellschaft. Im abschließenden Abschnitt des Beitrags geht es daher um die Kristallisationen neuer sozialer Ungleichheiten, in deren Mittelpunkt die Verteilung von Wohlstandsverlusten steht. Die soziologische Diskussion um die Konzeption sozialer Verwundbarkeit und prekären Wohlstands spielt für diesen Zusammenhang eine wichtige Rolle. Ein knapper Hinweis auf die künftige Konzeption der Politik der Daseinsvorsorge als Regierungskunst in einer zugleich schrumpfenden und ungleicher werdenden Gesellschaft schließt den Beitrag ab. 1. Wohlfahrtsstaat und gesellschaftliche Ungleichheit Wahrscheinlich tritt in den Gesellschaftswissenschaften und in der Gesellschaftspolitik die Frage nach Funktion und Form der Staatlichkeit immer in den historischen Momenten besonders klar hervor, wenn das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in neuer Weise problematisch wird. Für unseren konkreten Fall heute heißt das: wenn aufgrund veränderter wirtschaftlicher, fiskalischer, demografischer und sozialmoralischer Voraussetzungen die Symbiose von expansiver, intervenierender, sorgender Staatlichkeit auf der einen Seite und korporativer, kollektivierter und verrechtlichter Arbeitsgesellschaft auf der anderen Seite zerbricht. Dieser Bruch zwischen sorgender Staatlichkeit und korporativer Arbeitsgesellschaft vollzieht sich im Grunde seit den 1980er Jahren in allen europäischen Gesellschaften, allerdings wurde er im Falle der Bundesrepublik Deutschland seit 1989 noch einmal durch das staatsinterventionistische Hochamt der Wiedervereinigung zunächst überdeckt und dann in seinen Folgen seit Ende der 1990er Jahre zugespitzt (Ritter 2006). Aber alleine das Erreichen dieses Bruchpunkts – also die allseits beklagten strukturellen Probleme des Wohlfahrtsstaates – reicht noch nicht aus, dass Fragen nach dem Staat als Ordnungsprinzip und Denkkategorie des Sozialen wieder Präsenz gewinnen. Die entscheidende soziologische Frage ist: Für wen und an welchen Orten wird das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in neuer Weise problema68
tisch? Der Eindruck täuscht nicht: Solange die Folgen und Probleme wohlfahrtsstaatlicher Reformen auf die sozialen Randlagen dauerhafter Arbeitslosigkeit, materieller Armut und kultureller Abweichung beschränkt blieben, war die Welt für die Mehrheitsgesellschaft noch in Ordnung. Die allgegenwärtige Hintergründigkeit, das mehr oder weniger geräuschlose Funktionieren des Wohlfahrtsstaates war für die Mehrheit der Gesellschaft unproblematisch und willkommen. Von einem geräuschlosen Funktionieren des Wohlfahrtsstaates kann jedoch keine Rede mehr sein, denn spätestens mit den politischen Konzepten Agenda 2010 oder „Hartz-Reform“ ist das Thema Wohlfahrtsstaatsreform in der Mehrheitsgesellschaft angekommen. Die Folge dieser Reform ist nicht wohlfahrtsstaatlicher Rückzug, sondern im Gegenteil eine anschwellende Flut gesetzgeberischer Eingriffe in Leistungshöhen, Anspruchsvoraussetzungen und Berechnungsregeln in der Arbeitswelt, der Alterssicherung, der Gesundheitsvorsorge oder auch im Bildungswesen. Das Besondere der wohlfahrtsstaatlichen Reformpolitik seit 2002 besteht darin, dass nicht mehr nur die Lebensbedingungen an den Rändern der Gesellschaft unter Druck gesetzt werden, sondern dass diese Ordnungsbemühungen jetzt auch in die soziale Gegenwart und in die Zukunftsentwürfe der Mittelklassen eingreifen. Mit anderen Worten: Wer heute über die Zukunft der Staatlichkeit spricht, der spricht auch über soziale Spannungen und Nervositäten in der arbeitnehmerischen Mitte der Gesellschaft. Die fachgeschulten Beschäftigten in den öffentlichen Diensten und in den technischsozialen Berufen, die industriellen Facharbeiter und die kaufmännischen Angestellten registrieren angesichts des politischen Reformeifers ihren Bedarf an staatlich garantierter Statussicherung und sorgender Verwaltung, respektive Daseinsvorsorge. In der Mitte der Gesellschaft ist zu spüren, dass der erreichte soziale Status, die erworbene berufliche Karriere und die erkämpfte materielle Sekurität eng mit Fragen der Stabilität und Instabilität von daseinsvorsorgender Staatlichkeit und die sozialen Wechselfälle des Lebens absichernder Wohlfahrtspolitik verknüpft sind. Vieles spricht daher dafür, dass die Vehemenz der Auseinandersetzung um die Neuordnung des Wohlfahrtsstaates sehr viel damit zu tun hat, dass die aktuellen Reformversuche in die Interessen aufstiegs- und wachstumsorientierter sozialer Klassen und Milieus eingreifen. Ehemalige Aufsteiger drohen zu aktuellen Absteigern zu werden. Etablierte drohen Privilegien einzubüßen. Statuskämpfe um Anrechte auf Wohlstand und um Verpflichtungen zur Wohlstandssicherung treten in den Vordergrund gesellschaftlicher Konflikte. Die Zeiten einer Zwei-DrittelGesellschaft, die ihre sozialen Verwerfungen und materiellen Deklassierungen auf ein Drittel der Gesellschaft zu konzentrieren vermochte, sind Vergangenheit. Mit den Besorgnissen der Mittelklassen kehren Gestalt und Gestaltung des Wohlfahrtsstaates auf die Bühne gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Konflikte zurück. Doch was genau sind die aktuellen Veränderungen in der Architektur des Wohlfahrtsstaates? Worin besteht der Modellwechsel vom „sorgenden“ zum „gewährleistenden“ Staat? 69
2. Modellwechsel des Wohlfahrtsstaates. Neue Gestaltungsprinzipien im Übergang vom sorgenden zum gewährleistenden Staat Die wohlfahrtsstaatliche Politik prägt Lebenschancen und strukturiert soziale Ungleichheit, indem sie Privilegien zuweist, aber auch entzieht, und indem sie das Gefüge aus sozialen Rechten und Pflichten ordnet. Der Wohlfahrtsstaat konstruiert „soziale Vorzugslagen“ (Max Weber) und damit immer auch soziale Benachteiligungslagen. Die wohlfahrtsstaatliche Politik, und hierzu gehört substantiell auch die Daseinsvorsorge, ist die Arena sozialer Auseinandersetzungen um die Formulierung einer – in den Worten Robert Castels – „Handicapologie“ (Castel 2000). Handicapologie bedeutet: Wer verdient für welchen Tatbestand welche finanzielle und normative Aufmerksamkeit? Wessen Handicaps werden als berechtigt anerkannt? Welche Handicaps erweisen sich als interventionstauglich, als ausgleichsbedürftig oder vielleicht auch als zumutbar? Aus diesem Grund gibt es in wohlfahrtsstaatlich formierten Demokratien zu keinem Zeitpunkt dauerhaft sozialpolitisch Befriedigte und dauerhaft sozialpolitisch enttäuschte Gruppen. Die Enttäuschungs- und Befriedigungsintensität, wie es der Sozialpolitikforscher Elmar Rieger formuliert (Rieger 1998), ist zwischen und innerhalb unterschiedlicher sozialer Klassen stets variabel. So kennt auch der aktuelle Modellwechsel vom sorgenden zum gewährleistenden Staat Gegner und Befürworter, Protagonisten und Aufhalter, aber auch Milieus pragmatischer Gelassenheit, die für die wichtige Stabilität sorgen, ohne die kein sozialer Wandel stattfinden würde. Aber was heißt nun „sorgender Wohlfahrtsstaat“ (de Swaan 1993)? Was charakterisiert dieses staatliche Modell sozialer Ordnung, das die europäischen Nachkriegsgesellschaften in so grundlegender Weise prägte? Die staatliche Sorge und Vorsorge als Ausdrucksformen politischer Planung und rechtlicher Gestaltung zielte auf mehrere Felder des Sozialen. Das Prinzip der Sorge richtete sich auf die Minimierung sozialer Risiken und die Dämpfung sozialer und materieller Ungleichheiten durch staatliche Garantien der Statussicherung, auf die Absicherung beruflicher Karrieren und die Öffnung sozialer Aufstiegsperspektiven durch schulische, betriebliche und universitäre Bildung, auf die klare Trennung von beruflichen und privaten Arbeitswelten und schließlich auf die Organisation und den Ausbau öffentlicher Dienste als Systeme der Daseinsvorsorge. Der „sorgende Staat“ war Unsicherheitsdämpfer und Ungleichheitsmoderator, aber – und das wird häufig übersehen – auch Beschäftigungsmotor und Karriereleiter. Die Geschichte vom „sorgenden Staat“ kann mithin als die Geschichte einer Aufsteigergesellschaft erzählt werden. Der soziale Leittypus dieser Aufsteigergesellschaft war der arbeits- und tarifrechtlich geschützte „Arbeitnehmer“. Der Arbeitnehmer ist Produkt des „institutionalisierten Klassenkampfes“ (Theodor Geiger). Er repräsentiert die bildungshungrigen und aufstiegsorientierten Arbeiter- und Angestelltenmilieus, die in zweifacher Hinsicht vom zügigen Ausbau des wohlfahrts70
staatlichen Hauses profitierten – zum einen vom hohen Maß sozialer Sicherheit und zum anderen von der Perspektive auf neue berufliche Opportunitäten. Der Ausbau des Bildungswesens, des Gesundheitssystems, der Pflegeeinrichtungen, der sozialen und technischen Infrastrukturen, der Wohlfahrtsverbände oder der Sozialversicherungen diente seit den fünfziger Jahren vielen als berufliche und soziale Aufstiegsleiter, deren Eltern noch als Arbeiter in der Fabrik oder als Kleinselbständige im Krämerladen oder in der Landwirtschaft ihren Lebensunterhalt bestritten. Mit der Expansion dieses sorgenden Staates formierte sich eine neue breite Mittelschicht, deren Mentalitäten, Moralvorstellungen und Manieren noch heute das gesellschaftliche Klima prägen. Doch die wirtschaftlichen, demografischen und sozialmoralischen Existenzgrundlagen dieses spezifischen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements schwinden: Die Erwerbsarbeit wird disparater, die Erwerbsbiografien verlieren an Stetigkeit, im sozialen, aber auch im betrieblichen Alltag dominieren vielerorts die individualisierten Einzelkämpfer; überdies fehlt der Nachwuchs und die Sorgeleistungen und Dienste rund um das Alter entwickeln sich zum expansiven Wachstumsmarkt. Alle diese Stichworte machen folgendes deutlich: Wenn heute die Rede auf den Wohlfahrtsstaat kommt, dann wird keine Aufstiegsgeschichte mehr erzählt. Die Gründe hierfür liegen nicht nur in der wirtschaftlichen Globalisierung oder in der Durchsetzung „neoliberaler“ Politikformen. Kann es nicht auch sein, dass der „sorgende“ Staat in gewissem Sinn das Opfer seines eigenen Erfolgs geworden ist? Ist nicht im Zuge seiner Expansion eine industriegesellschaftliche Mittelschicht entstanden, die ihrem politischen Schöpfer in die Hand beißt und ihm nun seine strukturellen und normativen Grundlagen entzieht? Die ihm die Steuern vorenthält? Die ihm den Nachwuchs verweigert? Die seine Beamten und Bediensteten gering schätzt und sich stets in antibürokratischer Attitüde gefällt? Wie auch immer man diese Fragen im Einzelnen beantworten möchte – mit dem Ende des Wohlfahrtsstaates oder mit dem Abschied vom Wohlfahrtsstaat als sozialem Ordnungsmodell und als politischem Gestaltungsprinzip hat das alles noch recht wenig zu tun. Wir befinden uns am Nachmittag sorgender Wohlfahrtsstaatlichkeit, aber keineswegs in den Abendstunden dieses historisch spezifischen gesellschaftspolitischen Arrangements. Doch trotz aller landauf, landab beklagten reformpolitischen Unklarheiten lassen sich die Konturen einer neuen Architektur wohlfahrtsstaatlichen Handelns bereits recht deutlich erkennen. Sichtbar wird das Modell eines „Gewährleistungsstaates“. Dieses Modell veränderter wohlfahrtsstaatlicher Ordnungskonzepte verzichtet auf eine Programmatik universaler Integrationsansprüche. Es bietet keine soziale Statussicherung mehr an und es betrachtet die umfangreiche Dämpfung sozialer Ungleichheit als kontraproduktiv. Die Aufstiegsleitern im gewährleistenden Staat sind recht kurz geraten oder weit mühsamer zu erklimmen. Die Gründe hierfür liegen wesentlich in veränderten politischen Gestaltungsprinzipien der Arbeitwelt. Die politische und rechtliche Förderung und Forderung der Leiharbeit, der 71
Minijobbeschäftigung oder anderer prekärer, das heißt vorläufiger und widerruflicher Beschäftigungsformen, erschwert berufliche und soziale Aufstiegs- und Etablierungsprozesse. Alles in allem wird an diesen Stichworten deutlich, dass der gewährleistende Wohlfahrtsstaat jedenfalls nicht mehr als Fürsorger auftritt. Es sind andere strukturelle und normative Prinzipien, die sein Rollenmodell prägen. Aber wie und wodurch bleibt er Wohlfahrtsstaat? Die Prinzipien staatlicher Gewährleistungsverantwortung und Steuerung lassen sich in den Stichworten „Kostenrechnung“, „Projekt“ und „Vertrag“ bündeln. Die Gewährung von Wohlfahrtsleistungen findet weit stärker als früher über Benchmarkingprozesse und Kostenrechnung statt. Das bekommen die Empfänger, aber auch die Zuteiler staatlicher Leistungen zu spüren. Im öffentlichen Dienst beschäftigt zu sein heißt heute immer öfter, befristete Arbeitsverträge, längere Arbeitszeiten bei gekürzten Bezügen und verringerte Aufstiegschancen in Kauf nehmen zu müssen. Die Organisation des Wohlfahrtsgeschehens erfolgt in wachsendem Maße projektförmig. Damit verringern sich die staatlichen Aktivitäten nicht unbedingt, auch verlieren sie nicht zwangsläufig an Qualität, aber doch an Stetigkeit, Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit. Der Wohlfahrtsstaat wird zum Projekt, ob in der Altenpflege, der Jugendfürsorge oder der Stadtteilpolitik. Die Steuerung der staatlichen und nicht-staatlichen Wohlfahrtspflege kommt zunehmend über Vertrag oder über vertragsgebundene Netzwerkstrukturen zustande. Wir erkennen eine „Kontraktualisierung“ (Vertraglichung) des behördlichen Alltags, etwa wenn im Job-Center die Fall-Manager Eingliederungsverträge mit Arbeitslosen abschließen, sowie eine „Kontraktualisierung“ im Bereich der öffentlichen Infrastrukturen, wenn der gewährleistende Staat beispielsweise im Bereich des Verkehrs- oder des Bildungswesens durch Privatisierungen Aufgaben an Dritte, etwa an private Unternehmen oder Stiftungen, abtritt, ohne jedoch auf hoheitliche Funktionen zu verzichten. Ein Beispiel hierfür ist die neu eingerichtete Bundesnetzagentur, die die privatisierte Stromversorgung oder den Wettbewerb im Bereich der Telekommunikation beaufsichtigt und reguliert. Diese Formen intensivierter politischer Steuerung über Kostenrechnung, Vertrag und Projekt können keineswegs als Einbahnstraße zu immer weniger Staat oder als Ausdruck der prinzipiellen Unmöglichkeit staatlicher Intervention beschrieben werden. Der Wandel der wohlfahrtsstaatlichen Architektur vom sorgenden zum gewährleistenden Staat hat eher den Charakter einer „Institutionenfortbildung“ (Schelsky 1965). Diese Institutionenfortbildung hinterlässt allerdings ungleiche Wirkungen an unterschiedlichen Orten der Gesellschaft. Die Fragen nach dem gesellschaftlichen Strukturgefüge und der Ordnung sozialer Ungleichheit kommen ins Spiel.
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3. Ungleichheitsverschärfungen. Die Verwundbarkeit der sozialen Mitte und die Prekarität ihres Wohlstands An vielen Orten der Gesellschaft sind Ungleichheitsverschärfungen zu beobachten. Insbesondere die Abkehr vom staatlich garantierten Statussicherungsprinzip öffnet die Sozialstruktur (Vester 2005; Schultheis et al. 2005; Vogel 2004). Es kommt neue Bewegung in das Strukturgefüge der Gesellschaft. Wohlstandspositionen sind gefährdet, Erfahrungen sozialer Unsicherheit und der Fragilität beruflicher Positionen machen sich auch in den Milieus fachgeschulter Arbeitnehmer bemerkbar. Auf diese Veränderungen und Entwicklungen nehmen die Begriffe der sozialen Verwundbarkeit (Castel 2000) und des prekären Wohlstands (Hübinger 1996) Bezug. Was hat es mit diesen Begriffen auf sich? Mit dem Begriff der Verwundbarkeit kommt die gefühlte soziale Ungleichheit und Unsicherheit ins Spiel. Menschen in brüchigen sozialen und beruflichen Positionen geraten in den Blick. Eine Zone der Wahrscheinlichkeiten wird sichtbar, in der es um Abstiegs- und Deklassierungsdrohungen geht, auch um Aufstiegs- und Stabilitätshoffnungen, aber eben nicht um Inklusions- oder Exklusionsgewissheiten. Der Begriff des prekären Wohlstands macht auf eine expandierende Einkommenszone aufmerksam, die zwischen Armut und gesicherten Wohlstandspositionen angesiedelt ist. Das Auskommen mit dem Einkommen fällt hier schwer. Der erreichte Lebensstandard und Wohlstand sind in ihrer Stabilität bedroht: Soziale Unsicherheit und materielle Restriktionen drohen die mittelständische Lebenswelt zu untergraben. Der Wandel des Wohlfahrtsstaates löst keinen universalen sozialen Deklassierungsprozess aus, aber er macht bestimmte gesellschaftliche Schichten und Milieus verwundbar und lässt auch dort, wo Wohlstand ist, Zonen der Prekarität entstehen. Der erreichte Lebensstandard und die errungenen beruflichen und sozialen Positionen verlieren an Gewissheit. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang freilich, dass die Rede von der Prekarität des Wohlstands vorhandenen Wohlstand voraussetzt, und nur Menschen, die Statussicherheit kennen, fürchten deren Verwundbarkeit. Mit beiden Begriffen treten die Minusvisionen der Mittelklasse auf die Vorderbühne sozialer Konflikte. Spezifische soziale und berufliche Gefährdungen der „arbeitnehmerischen Mitte“ kommen in den Blick: Alleinverdienerhaushalte, die ihr familiäres Budget in prekärer Balance zu halten versuchen; qualifizierte Fachkräfte, die als Leiharbeitnehmer den Anschluss an die Arbeitswelt halten wollen; Beschäftigte in Klein- und Mittelbetrieben, die durch den Verzicht auf Lohn und betriebliche Sozialleistungen, den eigenen Arbeitsplatz zu stabilisieren versuchen; Existenzen prekärer Selbständigkeit, die sich von Auftrag zu Auftrag hangeln; oder auch Angestellte im öffentlichen Dienst, deren berufliche Aspirationen und Hoffnungen durch die Strukturreformen des„new public management“ enttäuscht werden. Alle diese Konstellationen und Figuren sind nicht in den Randlagen der Gesellschaft zu finden, sondern in deren Zentrum. 73
Der Bericht der Europäischen Kommission „Soziale Prekarität und Integration“ (Paugam et al. 2002) zeigt neue soziale Differenzen. Prekarität ist keineswegs überall. Doch neben der verfestigten Prekarität in der Arbeiterschaft findet sich in der EU-Studie eine signifikante Steigerung sozialer und beruflicher Unsicherheit und Fragilität bei den Dienst leistenden Kerngruppen der Angestellten und Bürokräfte in der privaten Wirtschaft und im öffentlichen Dienst. Die Studie verdeutlicht für den europäischen Raum, dass die Zeit der von dem Ökonomen Paul Krugman beschriebenen „great compression“ vorbei zu sein scheint, also die Zeit der Etablierung und Stabilisierung einer Mittelklassegesellschaft mit relativ gleichmäßiger Einkommensverteilung, egalitären Konsummöglichkeiten und kultureller Standardisierung. Doch kein gesellschaftlicher Wandel, der nur Verlierer und Absteiger kennt. Die stärkere Marktorientierung staatlichen Handelns, der Lobpreis der individuellen Autonomie und des knappen Kalküls, die steigende Nachfrage nach Beratung und Therapie verändern soziale und berufliche Opportunitäten. Es entwickeln sich neue berufliche Gelegenheitsstrukturen und es öffnen sich neue soziale Karrierefelder. Jetzt versuchen im gewährleistenden Staat neue Leitfiguren Karriere auf der gesellschaftlichen Bühne zu machen: der Controller, der Projektentwickler, der Therapeut oder der Case-Manager. Sind die „Projektemacher“ oder die „Vernetzer“ die neuen sozialen Leitfiguren des „gewährleistenden Wohlfahrtsstaates“? Die fachgeschulten Arbeiter und Angestellten in Industrie, Handel und im öffentlichem Dienst – einstmals die stabile Kerngruppe der bundesdeutschen Mittelschichtgesellschaft – fürchten und führen jedenfalls mehr und mehr den Abstiegskampf. 4. Wohlfahrtsmärkte und öffentliche Dienstleistungen. Felder markanten gesellschaftlichen und politischen Wandels Diese neuen sozialstrukturellen Dynamiken der Verwundbarkeit und Prekarität, die sehr eng mit der skizzierten Institutionenfortbildung vom sorgenden zum gewährleistenden Wohlfahrtsstaat verknüpft sind, lassen sich an einigen Feldern besonders gut abbilden. Ein Beispiel hierfür ist die sukzessive Transformation der korporativen Wohlfahrtsverbände in Wohlfahrtsmärkte oder so genannte Sozialkonzerne. Hierbei geht es um beschäftigungspolitisch hoch relevante Bereiche: Immerhin ist beispielsweise der katholische Verband „Caritas“ mit rund 600.000 Beschäftigten der größte private Arbeitgeber Deutschlands. Einen weiteren interessanten Fall repräsentieren die öffentlichen Dienste. Auf bemerkenswert unbemerkte Weise entwickeln sie sich von Orten beruflicher Sicherheit und professioneller Karriere zu Experimentierfeldern des „new public management“ sowie der prekären Beschäftigung. Kurzum, die Produktionsbedingungen der Wohlfahrt und der gemeinwohlorientierten Dienstleistungen unterliegen einem starken Wandel. 74
Kommen wir zunächst auf die Wohlfahrtsverbände zu sprechen. Das Verbandssystem aus Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt und Paritätischem Wohlfahrtsverband löst sich auf in einen marktgesteuerten Sozialsektor mit einer größeren Differenzierung der Leistungsanbieter und mit mehr Wettbewerb anstelle eingespielter Verfahren der Sozialpartnerschaft. Jetzt geht es um das Management öffentlicher und privater Ressourcen, da die staatliche Alimentierung nur noch unter Vorbehalt stattfindet. So tritt in der Wohlfahrtspflege die kurzfristige Kalkulation an die Stelle langfristiger Planung, das Wohlfahrtsgeschehen wird immer stärker über Märkte reguliert und findet immer häufiger projektförmig statt. „Bisher war es Aufgabe der Sozialpolitik, soziale Sicherheit direkt durch öffentliche Einrichtungen herzustellen. Nun verlagert sich die Entscheidung über den Produzenten sozialer Sicherheit zunehmend auf den Bürger. Nun soll der Markt die soziale Dienstleistung als marktgängiges Produkt bereitstellen. Soziale Sicherheit bleibt dabei der politische Zielwert. Der in einer bestimmten Lebenslage hilfebedürftige Bürger kann und muss zwischen Anbietern sozialer Dienstleistungen ebenso wählen wie zwischen Anlagepaketen zur quasi-verpflichtenden privaten Vorsorge im Alter. Er ist damit zunehmend auf Marktprodukte angewiesen und entsprechend abhängig von Marktbewegungen und Marktprozessen, die mit einem nicht geringen Grad an Unsicherheit einhergehen. Die Aufgabe der Sozialpolitik verschiebt sich unter derartigen Bedingungen. Eine neue Funktion besteht darin, zu gewährleisten, dass die Bürger bei ihren Entscheidungen auf den Wohlfahrtsmärkten über hinreichende Absicherungen gegenüber den Unsicherheiten des Marktes verfügen. Sicherheitsproduktion im Umgang mit unsicheren Wohlfahrtsmärkten erscheint daher als sozialpolitische Zukunftsaufgabe“ (Nullmeier 2006:278). Mit dem politischen Aufbau von Wohlfahrtsmärkten verändern sich auf der „Angebotsseite“ die rechtlichen und wirtschaftlichen Beschäftigungsbedingungen sowie die professionellen Tätigkeitsfelder der Wohlfahrtsakteure, das heißt der Mitarbeiter zum Beispiel in Caritas, Diakonie und Arbeiterwohlfahrt. Projektarbeit, Kurzfristigkeit und ökonomische Effizienz prägen die Arbeitswelten der Beschäftigten auf den Wohlfahrtsmärkten. In den Konzeptionen der Wohlfahrtsmarktprotagonisten und in der Programmatik neuer Steuerungstheorien entwickelt sich auf der „Nachfrageseite“ aus dem Sozialstaatsklienten, der sich in die Mühlen der staatlichen Sozialbürokratie und der mit ihr verknüpften Wohlfahrtsorganisationen begeben musste, um Hilfe nachzusuchen, Dienste einzufordern und Sorge zu aktivieren, nun ein Marktkunde beziehungsweise ein Konsument. Dieser Kunde vergleicht im theoretischen Idealfall Preise, holt Angebote ein und trifft rationale Entscheidungen. Der Ausbau von Wohlfahrtsmärkten suggeriert, dass nun nicht mehr Unterwerfung und Fügsamkeit als Verhaltensmuster des Sozialbürgers gefordert sind, sondern Kalkül und Klarsicht. Die Transformation der Wohlfahrtsverbände in marktorientierte Sozialkonzerne ist sicher kein Beispiel für das Verschwinden wohlfahrtsorientierter Steuerung, aber doch für veränderte Ordnungsvorstellungen des Sozialen – mit Blick auf die Wohl75
fahrtserbringer, deren Beschäftigungsbedingungen fragiler und verwundbarer werden, und auf die Wohlfahrtsempfänger, die stärker auf die Bewältigungsfähigkeit von Unsicherheit vertrauen müssen. Eine weitgehend unbemerkte und daher möglicherweise umso wirksamere Vorreiterrolle spielen sowohl im Wandel der Arbeitswelt als auch in den Veränderungen staatlicher Arrangements die Beschäftigungsbereiche der öffentlichen Dienste. Hier hat sich in den letzten Jahren ein umfassender und tief greifender Umbruch vollzogen. Der öffentliche Dienst transformierte sich von einem Ort der Statussicherheit und der wohlgeordneten bürokratischen Routine in ein nervöses und reformfiebriges Experimentierfeld Kosten sparender Einschnitte und organisationspolitischer Zumutungen. Die in diesem Zusammenhang zum Ausdruck kommende und von politischer Seite häufig beklagte Ökonomisierung der sozialen Dienste, Leistungen und Angebote wird hier als ein strategisches Projekt der Politik sichtbar. Die Forcierung veränderter Verwaltungsformen unter dem Stichwort „new public management“ oder die Neuorganisation öffentlicher Aufgabenerfüllung unter dem Stichwort des „public private partnership“ sind nicht alleine Ausdruck einer Verbetriebswirtschaftlichung gesellschaftlichen Denkens und Handelns, sondern auch wirtschaftliche Leitbilder, die auf politische Weise den Druck knapper Haushaltskassen zu regulieren versuchen. Es sind gerade staatliche Agenturen, die intensiv auf die Einführung von Marktprinzipien und auf die kontraktuelle Aufgabendelegation an Private drängen. Diese Prozesse finden sich im Grunde in allen Feldern wohlfahrtsstaatlicher Politik und öffentlicher Daseinsvorsorge. In ihrem Aufsatz „Beschäftigungskrise im öffentlichen Dienst“ hebt Elke Ahlers hervor, dass „flexibilisierte oder auch atypische Beschäftigungsformen im öffentlichen Dienst verbreiteter (sind) als angenommen und in den letzten Jahren deutlich zugenommen (haben)“ (Ahlers 2004:80). Hinzu kommt die erhebliche Personalreduktion in den öffentlichen Diensten in der vergangenen Dekade. Diese Reduktion des Personalbestandes erfolgte in erster Linie durch Einstellungsstopp sowie durch den Verzicht auf Wiederbesetzung vakanter Stellen, aber auch durch Maßnahmen zur Privatisierung und betrieblichen Ausgliederung bestimmter Dienste. So waren Anfang der neunziger Jahre noch 6,7 Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst tätig, heute (2003) sind es aufgrund von Auslagerungen und Privatisierung laut Personalstandsstatistik noch knapp 4,8 Millionen Beschäftigte. Die Beschäftigungssituation und die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst lassen sich insgesamt auf folgende Stichworte bringen: Jahrelanger kontinuierlicher Personalabbau, sukzessive Verlängerung der Arbeitszeiten, wachsende Arbeitsverdichtung und Zeitnot, verdeckte Lohnsenkungen durch Streichung betrieblicher Gratifikationen beziehungsweise durch die Reduzierung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld, sowie die Durchsetzung flexibler und ungeschützter Arbeitsbedingungen. Der öffentliche Dienst ist zum Protagonisten einer unsicheren und brüchigen Arbeitswelt geworden. Am seinem Beispiel lassen sich auch die sozialstrukturellen Konsequenzen dieser Unsicherhei76
ten und Brüchigkeiten nachzeichnen – neue soziale und rechtliche Spaltungslinien werden sichtbar. Diese Spaltungslinien verlaufen nicht mehr zwischen qualifizierten und nicht qualifizierten Arbeitskräften, zwischen einfachem, höherem und gehobenem Dienst – sie verlaufen nun mitten durch die Dienstklassen des Wohlfahrtsstaates. Relativ sicher Beschäftigte, die noch den Bestandsschutz der alten Dienstregeln genießen, stehen nun neben instabilen Beschäftigtengruppen, die auf Zeit, unter Inkaufnahme schlechterer Entlohnung und flexiblerer Arbeitszeiten als öffentlich Bedienstete tätig sind. Die Homogenität und Übersichtlichkeit dieses für die wohlfahrtsstaatliche Verwaltung zentralen Beschäftigungsfeldes zerfällt. Diejenigen, die die neue Prekarität in der Arbeitswelt, in den familiären oder nachbarschaftlichen Beziehungen bearbeiten sollen, sind selbst häufig prekär beschäftigt. Wir haben es mit einer Prekarisierung der Prekaritätsbearbeiter beziehungsweise mit einer Verunsicherung der Sicherheitsgewährer zu tun. Die Privatisierung, die anhaltende Ausgliederung bestimmter Aufgabenbereiche und die neuen Leitlinien der Beschäftigung sorgen für anhaltende Unruhe und Nervosität in den Dienstklassen des gewährleistenden Wohlfahrtsstaates. Empirische Studien zeigen zudem, dass nicht nur weniger Geld, längere Arbeitszeiten und der Wegfall von betrieblichen Gratifikationen zur neuen Arbeitsrealität im öffentlichen Sektor zählen. Beklagt werden zudem mangelnde berufliche Aufstiegsmöglichkeiten. Die Beschäftigung beim „Staat“ hat den beruhigenden Unterton gesicherter Laufbahnen und dauerhafter Gratifikationen verloren. Die Wohlfahrtsmärkte und die neu organisierten öffentlichen Dienste als zentrale Orte der Daseinsvorsorge und des organisierten Gemeinwohls sind zu Triebfedern des arbeitsgesellschaftlichen und wohlfahrtsstaatlichen Wandels geworden. Was nun? 5. Daseinsvorsorge in einem Wohlfahrtsstaat mit Möglichkeitssinn Die Organisation und Bewerkstelligung der Daseinsvorsorge erfordert einen neuen Wohlfahrtsstaat mit Möglichkeitssinn. Was heißt das? Wohlfahrtsstaat mit Möglichkeitssinn heißt, dass mit Blick auf die Strukturen und Qualitäten der Daseinsvorsorge eine Diskussion über das Verhältnis von privatem und öffentlichem Wohlstand erforderlich ist. Diese Diskussion muss sich auf eine investive Infrastrukturpolitik konzentrieren, die nicht den privaten, sondern den öffentlichen Interessen des Gemeinwesens zu Gute kommt; sie muss eine kreative Schrumpfungspolitik lernen, die Wege zeigt, wie eine Gesellschaft, die nicht mehr mit dem Wachstumsprinzip des „Immer-Mehr“ weiterkommt, das „Weniger“ gestaltet, ob in städtebaulicher, arbeitsmarktbezogener oder demografischer Hinsicht (exemplarisch: Neu 2007). Die Diskussion um das Verhältnis von privatem und öffentlichem Wohlstand muss schließlich von einer Steuerpolitik her erfolgen, die den privaten Reichtum weiter Teile der Gesellschaft selbstbewusst in Anspruch nimmt, allerdings unter der Maß77
gabe, die Verwendung von Steuern als Ressourcen gemeinwohlorientierten Staatshandelns transparent zu machen. Die Erhebung von Steuern ist keine staatlich dekretierte Strafmaßnahme, sondern die Ermöglichung eines Teilhabe gewährenden Wohlfahrtsstaats. Wir vergessen oft, dass sich in der Steuerpolitik die Maßstäbe eines Gemeinwesens spiegeln. Was sind der Gesellschaft ihre öffentlichen Güter und Dienste wert? Darf Solidarität und soziale Zuwendung etwas kosten? Die fiskalische Potenz des Staates definiert wesentlich seine Handlungsfähigkeit. Der Sozialleistungsstaat wird auch in seiner gewährleistenden Funktion immer ein Steuerstaat sein, der durch seine Einnahmestrategien notwendigerweise Konflikte provoziert. Wohlfahrtsstaat mit Möglichkeitssinn heißt auch, dass der soziologischen Wohlfahrtsforschung und der empirischen Ungleichheitsanalyse in diesem Konfliktfeld gesellschaftlicher Gestaltung das Privileg und die Aufgabe zukäme, auf das gesellschaftlich Mögliche zu wirken, bevor es zur Wirklichkeit geworden ist. Im Wissen darum, dass wir uns in einer gesellschaftlichen und staatlichen Zwischenzeit aufhalten, in der die Strukturen und die Mentalitäten der Vergangenheit die Gegenwart zwar noch prägen, aber die Zukunft nicht mehr werden gestalten können, ist eine gesellschaftswissenschaftliche Debatte zu führen, die nach den Möglichkeitsbedingungen des Gemeinwohls, der Daseinsvorsorge und des Wohlfahrtsstaates fragt. Diese Debatte muss dabei einen Weg zur Festigung des Sozialen finden, der zwischen wohlfeiler Staatsverachtung und zitadellenhafter Wohlfahrtsverteidigung verläuft.
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Daseinsvorsorge und territoriale Ungleichheit Claudia Neu
Ländliche Räume waren viele Jahre in der Öffentlichkeit – vielleicht mit Ausnahme von Vorabendserien und TV-Spielfilmen – kaum ein Thema. Doch momentan stehen sie auf der Aufmerksamkeitsskala weit oben, lange ist den ländlichen Räumen nicht mehr so viel Interesse von Medien, Wissenschaftlern und politischen Entscheidungsträgern entgegengebracht worden. Berichte über ärztlichen Versorgungsnotstand in Mecklenburg-Vorpommern oder neu entstehende Dorfläden in kleinen Gemeinden häufen sich. Unzählige wissenschaftliche Tagungen zum Thema Zukunft des ländlichen Raumes erfreuen sich reicher Zuhörerschaft. Verantwortlich für diese Aufmerksamkeit am Schicksal des – um genau zu sein - entlegenen ländlichen Raumes ist eine unerfreuliche Melange aus wirtschaftlichem, weniger allerdings agrarwirtschaftlichem, Niedergang und demografischen Veränderungen, die mit Entleerung, Schrumpfung und Alterung einhergehen. In der Folge führen diese Entwicklungen dann zu einer Reduzierung oder Schließung öffentlicher Infrastrukturleistungen wie Schulen, Krankenhäusern oder Jugendeinrichtungen. Viele Jahre wurde sicher verdrängt oder übersehen, dass es sich bei den Veränderungen in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands nicht bloß um eine wirtschaftliche Flaute in Folge der Wiedervereinigung handelte, die sich mit den entsprechenden Millionen an Fördergeldern schon geben würde. Zunehmend wird deutlicher, dass die demografischen Entwicklungen in diesen Räumen lediglich Entwicklungen vorwegnehmen, die zukünftig vielen Regionen in Deutschland bevorstehen könnten. So zeigen sich in diesen Regionen Herausforderungen für eine zukünftige Gesellschaftsgestaltung wie unter einem Brennglas: Welche Zukunft haben schrumpfende und schnell alternde Räume? Welche öffentlichen Leistungen können und müssen von staatlicher Seite aus angeboten werden, um eine Teilhabe der Bevölkerung am gesellschaftlichen Leben zu gewährleisten? Wie kann ein sozialer, kultureller und territorialer Zusammenhalt gesichert werden, wenn sich die einzelnen Teile des Staatsgebietes wirtschaftlich und sozialstrukturell auseinander entwickeln? Welche Rolle soll den Bürgern zukünftig bei der Gestaltung der Daseinsvorsorge zukommen? Im Zentrum des Beitrages stehen die sozialstrukturellen Folgen der neuen (Regional-)Politik für entlegene ländliche Räume und ihre Bewohner. Bevor am Beispiel einer mecklenburgischen Gemeinde die infrastrukturellen Versorgungs80
strukturen beleuchtet werden, gilt es einen Blick auf wirtschaftliche Strukturveränderungen und politische Paradigmenwechsel zu werfen. 1. Peripherisierung von Räumen Lediglich gut ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands lebt in entlegenen oder peripheren ländlichen Räumen (BBR 2005: 19f.)1. Vom Schicksal dieser entlegenen Regionen erfahren die übrigen Bürger vor allem durch die breite Medienberichterstattung, die sich in den immer gleichen Bildern von verlassenen Häusern, an Bushäuschen herumlungernden Jugendlichen und in der Öffentlichkeit biertrinkenden Männern ergeht. Nur selten wird in diesen Berichterstattungen Zeit gefunden, nach strukturellen Veränderungen in Ökonomie und Gesellschaft zu fragen. Die ländliche Gesellschaft Nordostdeutschlands ist nach dem zweiten Weltkrieg bereits zweimal tiefgreifenden Umwälzungen unterworfen worden. Bodenreform, Kollektivierung und die sich anschließende Industrialisierung der Landwirtschaft haben nicht nur die Agrarstruktur, sondern auch die Sozialstruktur ländlicher Räume in der DDR nachhaltig verändert. Einzelbäuerliche Wirtschaften und Gutsbetriebe wurden unter politischem Zwang zu Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) und Volkseigen Gütern (VEG) umgewandelt, selbständige Bauern und Landarbeiter wurden so zu Mitgliedern beziehungsweise lohnabhängigen Mitarbeitern in kollektiv wirtschaftenden Agrar-Unternehmen. Nach der Wiedervereinigung hatten sich die LPGen bis zum 31.12.1991 eine neue Rechtsform zu geben oder waren aufzulösen. Im Zuge dieser Umgestaltung der LPGen zu eingetragenen Genossenschaften, GmbH, Aktiengesellschaften oder einzelbäuerlichen Betrieben wurden die meisten bisherigen Mitarbeiter entlassen. Ein Großteil wurde verrentet, einige fanden in ihren erlernten Berufen neue Anstellungen, doch für etliche ehemalige LPG-Mitarbeiter bedeutete das Aus der LPG auch das Aus der eigenen (erfolgreichen) beruflichen Laufbahn. Arbeitsbeschaffungs- oder Fortbildungsmaßnahmen unterbrachen für viele lediglich die anhaltende Langzeitarbeitslosigkeit. Anders als nach dem zweiten Weltkrieg in Westdeutschland boten der sekundäre und tertiäre Sektor nach der Wende in Ostdeutschland nicht ausreichend neue berufliche Positionen, um die aus der Landwirtschaft ausgeschiedenen Personen auffangen zu können (Neu 2004). Gleichwohl gelang es den meisten landwirt-
1 Als entlegen werden ländliche Räume bezeichnet, wenn sie sich durch dünne Besiedlung und erschwerte Zentrenerreichbarkeit auszeichnen. In Deutschland gelten Gebiete mit unter 50 Einwohnern je km² als sehr dünn besiedelte Räume, mit weniger als 100 Einwohnern je km² als dünn besiedelte Räume. (BBR 2005: 15f.) Die Bewohner des Landkreises Uckermark benötigen im Durchschnitt 60 Minuten, um den nächstgelegenen zentralen Ort zu erreichen, die Bewohner der Altmark gar 67 Minuten und die Ostfriesen immerhin noch 48 Minuten.
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schaftlichen Betrieben in Ostdeutschland in der subventionsgestützten Marktwirtschaft der EU gut Fuß zu fassen und wirtschaftliche Erfolgsgeschichten zu schreiben – ohne jedoch zum Motor für ländliche Entwicklung zu werden. Denn die Entbettung der landwirtschaftlichen Produktion aus regionalen Kreisläufen ist längst vollzogen. So ist die landwirtschaftliche Produktion zwar noch an naturräumliche Standortbedingungen geknüpft, die Subventionsgelder fließen allerdings aus Brüssel, die Ware wird nach China verkauft und in transnationalen Unternehmen verarbeitet. Die wenigsten Landbewohner können noch von diesen globalisierten Entwicklungen profitieren. Gleichzeitig gerieten andere Branchen ins Straucheln. Investoren blieben aus, Fördergelder verpufften und Neugründungen gerieten in die Insolvenz. Hohe Arbeitslosenzahlen zwischen 20 und 25 Prozent sind für die neuen Bundesländer traurige Normalität geworden. Erschwerend kommt hinzu, dass Ballungszentren im Osten und vor allem im Südwesten der Republik Arbeitsplätze bieten und verstärkt junge Arbeitskräfte anziehen. Neben den geringen Geburtenzahlen verschärft der Wegzug der Jüngeren und Hochqualifizierten die ökonomische Misere und lässt die Innovationsfähigkeit ländlicher Räume sinken. Strukturschwache ländliche Regionen geraten folglich in einen Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Alterung, der wiederum leere Staatskassen und einen Abbau an Infrastruktur nach sich zieht und somit die sozioökonomische Abkopplung der peripheren ländlichen Räume von den wirtschaftsstarken Zentren weiter voran treibt (Keim 2006). Dieser dynamische Prozess der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abkopplung, der mit Funktions- und Machtverlusten für die betroffenen Räume einhergeht, lässt sich als Peripherisierung beschreiben. Problematisch ist zudem, dass Zukunftschancen fernab der wirtschaftlichen dominanten Ballungszentren für diese Teilräume nicht in Sicht sind und auch gar nicht mehr für möglich gehalten werden. Nichtsdestotrotz nutzen „Raumpioniere“ (Matthiesen) vereinzelt diese (wirtschaftlichen) Brachen, um künstlerisches und ökonomisches Neuland zu betreten. Doch selbsttragende regionale Entwicklungen sind auch von diesen Akteuren nicht zu erwarten. „Die Chancen für neue, im ‚Schatten’ der Entwicklungen stattfindende Nutzung gehen gegen Null. Hier ist die lose Kopplung zu den prosperierenden Entwicklungen gerissen“, schreibt KarlDieter Keim (2006: 5). Und weiter: „Was in ohnedies dünn besiedelten Ländern wie Skandinavien oder Kanada zur anerkannten Wirtschafts- und Sozialgeschichte gehört, nämlich das weite Teile des Landes nahezu ohne Besiedlung und Nutzung verbleiben, gerät in Gesellschaften wie Deutschland zu einer Provokation (…).“ (ebd.) Vielleicht lässt sich noch einen Schritt weiter gehen: Die ökonomischen Abkopplungen und sozialstrukturellen Verwerfungen könnten zu einer Gefahr für den sozialen und territorialen Zusammenhalt der Gesellschaft werden.
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2. Demografisierung politischer Entscheidungen Die Frage nach dem sozialen und territorialen Zusammenhalt unter den Bedingungen von divergierenden räumlichen Entwicklungen wird aber zumeist vermieden. Vielmehr werden die Bürger darauf eingestimmt, dass die goldenen Zeiten, in denen allen Teilräumen des Landes gleich gute infrastrukturelle Angebote zur Verfügung standen, endgültig vorbei sind. Unter Rückgriff auf demografische Argumente – weniger Menschen brauchen weniger Infrastruktur – wird zudem ein Paradigmenwechsel in Bezug auf den Umgang mit benachteiligten Räumen eingeleitet. So verknüpft der Brandenburger Koalitionsvertrag von Oktober 2004 die zukünftige Regionalentwicklung ausdrücklich mit dem Demografischen Wandel in den Regionen. Da der Demografische Wandel zu „erheblichen Disparitäten zwischen verschiedenen Teilräumen des Landes“ führe, seien die „landes- und regionalplanerischen Grundlagen“ daran anzupassen (Brandenburger Landtag 2004: 31). Auf einer Klausurtagung des SPD-Landesvorstandes erläuterte der Ministerpräsident Mathias Platzeck, welche politische Botschaft sich hinter dem bürokratisch formulierten Satz verbirgt: „Gleichwertig ist nicht gleich. Wir haben zu konstatieren, dass nicht in allen Dörfern gleich gefördert werden kann.“ (Platzeck 2004a). Was „Gleichwertigkeit“ jenseits von Gleichheit meint, ließ er bis auf die lapidare Kommentierung – „längere Wege“ – offen (Platzeck 2004b: 18). Dieses Beispiel zeigt, dass mit Rekurs auf die „schrumpfende Bevölkerung“ Schulen, Kindergärten, öffentlicher Nahverkehr oder vergleichbare Erwerbschancen für nicht mehr herstellbar erklärt werden (Barlösius / Neu 2007). Diese Demografisierung des Gesellschaftlichen – von der Bevölkerungszusammensetzung wird auf die Gesellschaft, ihre wirtschaftliche Zukunft, ihre politischen Möglichkeiten und kulturellen Leistungen geschlossen – verschleiert jedoch, dass nicht der Bevölkerungsaufbau an sich schon, sondern vor allem ökonomische und noch mehr politische Entscheidungen über die Zukunft von Regionen entscheiden. Dass Demografischer Wandel, dünne Besiedlung und Wirtschaftsschwäche nicht automatisch zum Rückzug der Unterstützung führen müssen, belegen Beispiele aus Nachbarländern. In Frankreich wird durchaus eine Dualität in der regionalen Entwicklung anerkannt – die global agierenden Zentren einerseits und der ländliche Raum andererseits. Es ist gesellschaftlicher Konsens, dass die ländlichen Regionen Transferzahlungen erhalten können, so lange die Zentren die volkswirtschaftlichen Gewinne erzielen.. Die Unterstützung der entlegenen Regionen soll vor allem dazu dienen, die kulturellen Besonderheiten der Regionen zu bewahren und regionale Disparitäten nicht zu groß werden zu lassen – im Interesse der gesamten Nation (Davezies / Veltz 2006). Auch die Skandinavischen Länder geben viel Geld aus, um ihre peripheren Regionen an das allgemeine Wohlstandsniveau anzupassen, denn „ganz Schweden soll leben“ (Titel der schwedischen Dorfaktionsbewegung).
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Die veränderte (regional)politische Ausrichtung lässt sich durchaus als Indiz betrachten, dass der für die bundesrepublikanische Gesellschaft so tragende Konsens der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse (Art. 72 Abs. 2 Grundgesetz) zusehends zerbricht. Gleichwertigkeit soll fortan nicht mehr als Angleichung der Lebensverhältnisse verstanden werden. Dabei wurde Jahrzehnte lang die Modernisierung des Ländlichen und der Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen – vor allem in Form von Infrastruktur – eben mit Art. 72 Abs. 2 GG gerechtfertigt. Ländliche Räume wurden folglich in der Bundesrepublik beispielsweise über einen Ausbau der Gymnasien, den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) oder die Telekommunikation an die modernen städtischen Lebensverhältnisse herangeführt. In der Folge glichen sich Stadt und Land in ihren Lebensbedingungen – nicht in ihrer Lebensführung – immer weiter an. Ganz dem Modernisierungsgedanken verpflichtet, sollten auch die neuen Bundesländer nach der Wiedervereinigung alsbald das Niveau der alten Bundesländer erreichen (Barlösius 2006, 2007; Barlösius / Neu 2007). Nachdem zwar ein umfangreicher Ausbau der technischen Infrastruktur in den Jahren seit der Wiedervereinigung stattgefunden hat, eine Angleichung der Lebensverhältnisse der entlegenen ländlichen Räume an städtische Verhältnisse aber in weite Ferne gerückt ist, soll den neuen räumlichen Disparitäten nun mit der Förderung von Zentren und „Leuchttürmen“ begegnet werden. Sie sollen als (ökonomische) Kraftspender für die angrenzenden Regionen dienen. Mag dies für die ländlichen Räume in Agglomerationsnähe gelten, so bleibt das Schicksal der entlegenen ländlichen Räume ungewiss. Bisweilen wird geraten, sie doch einfach aufzugeben. 3. Wandel der Infrastruktur und die Einschätzung der Bürger Waren die 1990er Jahre durchdrungen vom Mantra der „Blühenden Landschaften“, so wird immer deutlicher, dass sich die Angleichung der Lebensverhältnisse, wenn überhaupt, anders als erwartet vollziehen wird. Ein „immer mehr“ und „immer besser“ für alle scheint in die ferne Vergangenheit zu gehören, vielmehr finden sich in Ost und West sehr dispers verlaufende regionale Entwicklungen. Räume mit wachsender und schrumpfender Bevölkerung liegen immer häufiger direkt nebeneinander. Die Eifel beispielsweise grenzt unmittelbar an die Ballungsräume Bonn, Köln und Aachen, dennoch finden wir hier in vielen Gemeinden ähnliche Prozesse wie in ländlichen Räumen Ostdeutschlands. Ärztemangel bedroht die medizinische Versorgung der Landbevölkerung, kleine Lebensmitteleinzelhändler haben längst geschlossen und Kinder legen weite Wege zur Schule zurück. Selten wird jedoch danach gefragt, was dieser Wandel der Infrastrukturausstattung für die Bewohner dieser Regionen bedeutet? Nähern wir uns dieser Frage über ein konkretes Fallbeispiel aus dem ländlichen Mecklenburg-Vorpommern (Neu et. al 2007). Die Gemeinde Galenbeck liegt 84
am östlichsten Zipfel des Landkreises Mecklenburg-Strelitz fernab von Autobahnen oder Bahnverbindungen. Es handelt sich um eine so genannte Großgemeinde, die im Jahr 2003 aus neun Ortsteilen, die bis zu 15 Kilometern weit entfernt voneinander liegen, entstanden ist. Galenbeck weist auch im Vergleich zu anderen ländlichen Räumen in Mecklenburg-Vorpommern mit 16 Einwohnern/km² eine sehr geringe Besiedlungsdichte auf und entspricht ganz dem Typ der schrumpfenden und alternden Gemeinde mit wenig Kindern und Jugendlichen sowie vielen Hochbetagten. Ist die Landschaft auch durchaus reizvoll, so liegt Galenbeck doch zu weit von Mecklenburgs touristischen Anziehungspunkten Ostsee und Mecklenburgischer Schweiz entfernt, um nennenswerte touristische Potentiale zu besitzen. Die Landwirtschaft spielt als Arbeitgeber nach wie vor eine große Rolle, mit Ausnahme eines Seniorenpflegeheimes und wenigen Handwerksbetrieben sind Arbeitsplätze in der rund 1500 Einwohner zählenden Gemeinde Mangelware, so dass die Arbeitslosigkeit seit vielen Jahren um 25 Prozent beträgt. Doch das Erscheinungsbild der Gemeinde ist keineswegs trostlos, denn die Millionen Euro für den Aufbau Ost sind durchaus in Galenbeck angekommen. Neu geteerte und ausgebaute Straßen wie aufwendig restaurierte Fassaden zeugen davon. So sehr die technische Infrastruktur – mit Ausnahme der Breitbandverbindungen – auch verbessert wurde, so wenig blieb von der sozialen und kulturellen Infrastruktur erhalten. Die letzte wohnortnahe Grundschule schloss 2006. Außer an einem Kiosk, der das Nötigste anbietet, besteht keine Gelegenheit, sich mit den Dingen des alltäglichen Bedarfs zu versorgen, geschweige denn Bank- oder Postangelegenheiten zu erledigen. Kein Sportverein, kein Spielplatz oder Jugendclub bietet in der Freizeit Abwechslung. In den neun teilweise aufwendig restaurierten Kirchen wird, wenn überhaupt, nur noch zu hohen Feiertagen Gottesdienst gehalten. Wer über keinen PKW oder hilfsbereite Nachbarn verfügt, hat keine Chance, in die nächstgelegene größere Stadt Neubrandenburg und schon gar nicht in die Kreisstadt Neustrelitz zu gelangen. Der ÖPNV ist fast ganz auf den Schülerverkehr zusammengeschrumpft, in den Ferienzeiten fährt lediglich mittwochs früh ein Bus in die Kleinstadt Friedland und mittags zurück. Noch besucht ein mobiler Arzt zweimal in der Woche die Gemeinde Galenbeck. Doch was, wenn der Arzt altersbedingt seine Praxis schließt? Die Aussichten auf eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger sind denkbar schlecht. Befragt nach der aktuellen Zufriedenheit mit dem Wohnumfeld und der Infrastrukturausstattung schätzen die befragten Galenbecker Bürger2 die Situation durchaus realistisch ein. Da das Untersuchungsgebiet im Hinblick auf die technische Infrastruktur gut erschlossen ist, fielen die Zufriedenheitswerte in diesem Bereich
2 Im September 2006 befragten 21 studentische Teilnehmer des Forschungspraktikums „Engagement an der Peripherie“ der Universität Rostock in kombinierten Haushalts-Personen-Interviews 222 private Haushalte der Gemeinde. Dies entspricht rund 40 Prozent der Galenbecker Haushalte.
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dementsprechend hoch aus (Tabelle 1). Auch der Ausbau der Straßen und die Wasserver- und -entsorgung wurde als sehr zufriedenstellend erlebt. Einzig das Fehlen schneller Internetzugänge im gesamten Gemeindegebiet gab gelegentlich in Gesprächen Anlass zu Klagen. Über die Attraktivität des Wohnumfeldes (naturnahes Wohnen) und des Dorfbildes sowie die unmittelbare Nachbarschaft äußerte sich die Mehrheit der befragten Galenbecker ebenso positiv. Ganz anders fiel dagegen die Beurteilung der sozialen und kulturellen Infrastruktur aus. Mit dem Freizeitangebot in der Gemeinde, der Schulversorgung und dem gastronomischen Angebot zeigten sich die Befragten deutlich unzufrieden. Die höchsten Unzufriedenheitswerte wurden allerdings für die Anbindung an den ÖPNV vergeben. Im Hinblick auf einzelne Teilgruppen der Galenbecker Bevölkerung wurde deutlich, dass die Jüngeren, die Aktiven und die Erwerbstätigen – die Leistungsträger der Gemeinde – ihr Wohnumfeld als weniger zufrieden stellend erlebten und sich zu privaten Dienstleistungen und Freizeitangeboten signifikant unzufriedener äußerten. Tabelle 1:
Zufriedenheit mit Infrastruktur und Wohnumfeld in der Gemeinde Galenbeck
Nachbarschaft Wasserversorgung/-entsorgung Ausbau des Straßennetzes Ärztliche Versorgung (Hausarzt/Notdienst) Attraktivität des Wohnumfeldes Bankfilialen Öffentliche Sicherheit handwerkliche Dienstleistungsangebote Postfilialen Seniorenbetreuung Einkaufsmöglichkeiten Kreis- und Amtsverwaltung Kinderbetreuung (Kindergarten) Gastronomische Angebote Freizeitangebote Schulversorgung Verkehrsanbindung/ÖPNV
sehr/zufrieden 93% 85% 84% 81%
unzufrieden 5% 12% 15% 17%
weiß nicht 3% 3% 1% 2%
79% 75% 74% 74%
19% 17% 19% 17%
2% 8% 8% 10%
70% 56% 54% 53% 41% 40% 33% 31% 26%
24% 14% 45% 36% 18% 47% 57% 32% 58%
6% 30% 1% 10% 40% 13% 10% 37% 16%
Quelle: Eigene Erhebung, n=220.
In direkter Weise korrespondieren die zuvor geäußerten (Un-)Zufriedenheiten mit den für die Zukunft wahrgenommenen Infrastrukturbedarfen (Abbildung 1). Mit großem Abstand wurde von beinahe der Hälfte der Befragten beim ÖPNV der 86
dringlichste Handlungsbedarf gesehen. Gut ein Drittel der befragten Haushalte sah an zweiter und dritter Stelle die Notwendigkeit, mehr Einkaufsmöglichkeiten und Freizeitangebote zu schaffen. Die Sorge um die zukünftige Gesundheitsversorgung spiegelte sich bereits in Platz 4 auf der Dringlichkeitsliste wider. Selbst wenn augenblicklich die ärztliche Versorgung in der Gemeinde noch gesichert ist, so steht den Bürgern die Zukunft ohne Arzt bereits deutlich vor Augen. Auf Grund der zunehmend alternden Bevölkerung in der Gemeinde, wird die aktuell vorhandene seniorengerechte Infrastruktur nicht als ausreichend angesehen. Dass die technische Infrastruktur, wenn auch nicht weiter ausgebaut, so doch kostenintensiv erhalten werden muss, ist vielen Bürgern überaus bewusst. Der Wunsch nach dem Ausbau von Gaststätten und Dorfkneipen besaß für knapp ein Fünftel der Befragten hohe Priorität. Erst an zehnter Stelle sahen die Befragten Handlungsbedarf für weitere Schulangebote und an zwölfter Stelle für ein Mehr an Kinderbetreuungsangeboten. Die demografische Realität ist bereits in Galenbeck angekommen, wo keine Kinder mehr sind, wird auch weniger Handlungsbedarf für sie gesehen. Die Präsenz der Polizei könnte sich für 16 Prozent der Befragten erhöhen. Eine Erweiterung der Post- oder Bankfilialen sowie das Angebot an handwerklichen Dienstleistungen wurde nur von sehr wenigen Befragten (3-6 Prozent) präferiert. Der in den vergangenen Jahren erfolgte Ausbau der technischen Infrastruktur wird von den befragten Galenbecker Bürgern durchaus als (sehr) positiv wahrgenommen. In gleichem Maße wird der Verlust der wohnortnahen sozialen Infrastruktur als Einbuße an Lebensqualität und Gemeinschaft verzeichnet.3 Entsprechend sehen die Bürger in diesen Bereichen auch besonderen politischen Handlungsbedarf. Die Ergebnisse aus Galenbeck liefern einmal mehr Hinweise darauf, dass trotz eines Ausbaus an technischer Infrastruktur die erwarteten Integrationsleistungen (in den Arbeitsmarkt, Anschluss an die wirtschaftliche Entwicklung) nicht mehr zwangsläufig erfolgen müssen. Vielmehr wird deutlich, dass mit dem Abbau sozialer und kultureller Infrastruktur eine Aushöhlung des öffentlichen Lebens vorangetrieben wird. Postämter, Schulen und Polizeistationen sind stets mehr als gebaute Infrastruktur, sie sind soziale Orte, an denen Staatlichkeit repräsentiert wird und Öffentlichkeit stattfindet. Wie wird Staatlichkeit durchgesetzt und erfahren, wenn keine Polizeistation mehr weit und breit ist, wenn Parteien mangels Kandidaten nicht mehr in den Wahlkampf ziehen oder Wahlurnen erst gar nicht mehr aufgestellt werden?
3 Die Bevölkerungsumfrage „Perspektive Deutschland“ weist ebenfalls darauf hin, dass die Lebensqualität in ländlichen Räumen Ostdeutschlands besonders schlecht bewertet wird (BBR 2005: 6).
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Abbildung 1:
Wahrgenommener Bedarf an lokalen Dienstleistungen und Infrastruktur 47%
ÖPNV Einkaufsmöglichkeiten
32%
Freizeitangebote
32% 24%
ärztliche Versorgung 20%
Seniorenbetreuung
20%
Straßenbau
19%
gastronomische Angebote
18%
Schulangebot
16%
öffentliche Sicherheit 12%
Kinderbetreuung 6%
Postfiliale handw. DL
3%
Bankfilialen
3%
0%
5%
10% 15% 20% 25% 30% 35% 40% 45% 50%
Quelle: Eigene Erhebung Frage: Welche der folgenden Bereiche sollten Ihrer Meinung nach in den kommenden Jahren verstärkt angeboten werden? Nennen Sie die drei wichtigsten in absteigender Reihenfolge (1-3)!
4. Aushöhlung des öffentlichen Lebens Begleitet wird der Prozess der Aushöhlung des öffentlichen Lebens in Galenbeck durch den Verlust an kommunalem Gemeinschaftsgefühl und bürgerschaftlichem Engagement. So verwundert es nicht, dass nur rund ein Drittel der Galenbecker Bürger bürgerschaftlich aktiv ist. Im Vergleich dazu beteiligen sich nach Angaben des Freiwilligensurvey 2004 gut Zweidrittel der Bundesbürger ab 14 Jahren am öffentlichen Leben (Gensicke, Picot, Geiss 2006). Nach eigenen Angaben sind es vor allem „fehlende Zeit“, „gesundheitliche Probleme/hohes Alter“ oder aber „mangelnde Motivation“ und „fehlende Angebote“, die eine öffentliche Mitwirkung behindern. Werden die sozialstrukturellen Merkmale der Befragten mit in die Analyse einbezogen, so fällt auf, dass neben den klassischen Größen Erwerbsarbeit und höherer Bildungsabschluss, vor allem das Zusammenleben mit mindestens einer 88
aktiven Person im Haushalt von entscheidender Bedeutung für das eigene Engagement ist. Darüber hinaus hat auch die Wohndauer einen positiven Einfluss auf öffentliche Betätigung. Erst kürzlich Zugezogene sind demnach in Galenbeck weniger oft aktiv. In der Konsequenz bedeutet dies, dass sich vor allem besser ausgebildete, beruflich und sozial gut eingebundene Menschen in Galenbeck aktiv am öffentlichen Leben beteiligen. Alle anderen haben längst den Rückzug ins Private angetreten. Die Galenbecker Gemeinde stellt in dieser Hinsicht keinen Einzelfall dar. Auch das Freiwilligensurvey 2004 gibt Hinweise darauf, dass das bürgerschaftliche Engagement in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands deutlich geringer ausgeprägt ist als im ländlichen Raum Westdeutschlands. Im Westen sind 41 Prozent der Bevölkerung in Orten ländlicher Gebiete mit unter 20.000 Einwohnern freiwillig aktiv, im ländlichen Raum Ostdeutschlands sind es hingegen nur 32 Prozent (Gensicke et al. 2009: 78). Auch weist Loïc Wacquant (2006: 55) in seinen Studien zu USamerikanischen Ghettos darauf hin, dass ein enger Zusammenhang zwischen Peripherisierung und schwindenden Selbstorganisationskräften besteht. Mitgliedschaften in formalen Organisationen (politische Parteien, Bürgerinitiativen oder Sportvereine) werden seltener, gar nicht öffentlich aktiv zu sein hingegen immer häufiger. Auch Gottesdienste werden deutlich weniger besucht oder Kontakte zu Nachbarn gepflegt. Wacquant kommt zu dem Urteil, dass „das Ghetto im Zuge seiner wachsenden ökonomischen Marginalisierung viel von seiner ursprünglichen organisatorischen Stärke eingebüßt hat (u.a. über den fast vollständigen Verlust von ‚Kanzel und Presse’ als kollektive Akteure) und dass seine Bewohner und deren Aktivitäten nicht mehr über einen geschützten und relativ autonomen sozialen Raum verfügen, der früher einmal den Aufbau von Parallelstrukturen zu den Institutionen der sie umgebenden Gesellschaft und die Bereitstellung minimaler Grundressourcen für den sozialen Aufstieg (…) ermöglicht hat“ (ebd.: 42). Peripherisierung geht demnach für die Bewohner dieser Regionen oder Stadtteile auch mit einem Verlust an (hilfreichen) sozialen Kontakten und sozialem Kapital einher. Ohne den Vergleich zu US-amerikanischen Ghettos überstrapazieren zu wollen, lässt sich auch in Galenbeck gut beobachten, wie bürgerschaftliches Engagement unter den Bedingungen von wirtschaftlicher Strukturkrise, fehlendem Nachwuchs und rasant voranschreitender Alterung unter Druck gerät. Fehlen einerseits Junge und Erwerbstätige und anderseits öffentliche Räume wie Schulgebäude, Sportstätten oder Wartehallen - eine „Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute“ (Habermas) -, in der die öffentliche Meinung verhandelt werden kann, so ist die Zivilgesellschaft ernsthaft in Gefahr. Ergibt sich keine Gelegenheit mehr – sei es im Ort, im Haushalt oder im Beruf – auf bürgerschaftlich Engagierte zu treffen, so sinkt die Wahrscheinlichkeit selbst aktiv zu werden.
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5. Daseinsvorsorge – eine Aufgabe für Bürger? Der Wandel des Wohlfahrtsstaates wird augenblicklich breit diskutiert, ohne dass bereits klar ist, wie genau dieser Wandel sich vollziehen wird oder zu bewältigen ist. Die Finanzknappheit der öffentlichen Kassen – auch in Folge des zu lange unbeachteten Demographischen Wandels – forciert einerseits die Privatisierung ehemals staatlicher Bereiche der Daseinsvorsorge wie Post oder Wasserversorgung und – entsorgung, andererseits den Abbau oder die Schließung öffentlicher Infrastruktur in schrumpfenden Räumen. Bietet Privatisierung zumeist die Möglichkeit flexibler und preisgünstiger Angebote für die Konsumenten, so birgt sie zeitgleich die Gefahr des Angebotsrückzugs bei zu wenigen oder nicht ausreichend kaufkräftigen Kunden. Die Diskussion um die Breitbandanschlüsse in ländlichen Räumen zeugt von diesem Dilemma. Die Frage um die zukünftige Gestaltung der Daseinsvorsorge gipfelt in der Überlegung, wie territorialer Zusammenhalt unter den Bedingungen von Wachstum und Schrumpfung gesichert werden kann. Welche Aufgaben hat der Staat zukünftig noch in Eigenregie zu erbringen, welche Aufgaben können an private Anbieter abgegeben werden und wo ist eine Kooperation mit den Bürgern möglich? Am letztgenannten Punkt – Daseinsvorsorge durch bürgerschaftliches Engagement – knüpft noch einmal die Galenbeck-Studie an. Hintergrund der Überlegungen war, dass der Ruf nach dem aktiven Bürger umso lauter wird, je mehr sich der Staat aus der Daseinsvorsorge in entlegenen ländlichen Räumen zurückzieht. Und in der Tat stellt sich die Frage: Wer fährt zukünftig die immobilen Senioren ohne Angehörige in die nächste Kreisstadt? Wer kümmert sich darum, wenn der Mülleimer auf der Straße nicht mehr geleert wird oder kein Winterdienst mehr kommt? Wer kauft in fünfzehn Jahren für die Senioren ein, deren Kinder und Enkelkinder längst nicht mehr in der Region leben und auch der letzte mobile Händler aufgegeben hat? Können und wollen die Bürger diese Aufgaben übernehmen? Wollen sich die Galenbecker Bürger überhaupt für die Belange der Gemeinde einzusetzen, die über das klassische bürgerschaftliche Engagement (mit seinen Schwerpunkten auf Sport, Spiel und Entspannung) hinausgehen? Wenn ja, wo sehen sie ihre (Einsatz-)Möglichkeiten? Angesichts des geringen bürgerschaftlichen Engagements in der Gemeinde ist es fast erstaunlich, dass mehr als zwei Drittel der Befragten sich durchaus vorstellen könnten, sich mehr für die Belange der Gemeinde einzusetzen (Abbildung 2). Besonders die eher zupackenden Tätigkeiten wie Pflege von öffentlichen Plätzen oder das Organisieren von Festen fanden dabei Anklang. Auch Fahrdienste für Senioren anzubieten, war für viele denkbar. Pflege von bedürftigen Nachbarn wird bereits heute vielfach in Galenbeck praktiziert, so dass in diesem Bereich eine hohe Bereitschaft zu verzeichnen war. Die direkte Mitarbeit im Seniorenheim, Kindergarten und in der Schule verlor schon deutlich an Attraktivität. Politisch aktiv zu werden 90
oder die kommunale Verwaltung bei der Antragstellung von Fördermittel zu unterstützen kam nur noch für fünf beziehungsweise drei Prozent der Haushalte in Frage. Beim Aufbau einer privaten Schule mitzuwirken, war sogar für nur zwei Prozent vorstellbar. Abbildung 2:
Engagement für die Gemeinde
Pflege öffl. Plätze
27%
Fahrg. Senioren
23%
Fest veranstalten
23%
Pflege Nachbarn
21%
Freizeitangebot
17%
Baumaßnahmen
14%
Fahrgem. Kinder
14%
Mitarbeit Seniorenheim
12%
Mitarbeit KiGA
12% 6%
Mitarbeit Schule
5%
politisch aktiv 3%
Unterstütz. Verwalt Aufbau priv. Schule
2% 0%
5%
10%
15%
20%
25%
30%
Quelle: Eigene Erhebung
Trotz der beachtlichen Bereitschaft der Bürger sich auch für kommunale Belange einzusetzen, wurde in den Interviews vielfach betont, dass der Einsatz für die Kommune nur fallbezogen betrachtet und eine Institutionalisierung dieser „Arbeiten“ nicht gewünscht wird. Aus diesen Äußerungen lässt sich für die zukünftige Gestaltung der Daseinsvorsorge durchaus schließen, dass das kommunale Engagement der Bürger maximal als Ergänzung zur staatlichen Leistungserbringung „zum Einsatz“ kommen kann, nachhaltige Infrastrukturlösungen lassen sich daraus aber nicht ableiten. Diese Ergebnisse der Galenbeck-Studie offenbaren einen neuralgischen Punkt. Die vielfach angemahnte Ausweitung des bürgerschaftlichen Engagements stößt vor allem aus einem Grund an seine Grenzen: Das gewohnte Grundverständnis vom sorgenden Wohlfahrtsstaat wird an dieser Stelle berührt (Vogel 2007). Denn 91
die verstärkte Inpflichtnahme der Bürger steht häufig im Gegensatz zum bisherigen Verständnis von Daseinsvorsorge, demzufolge Daseinsvorsorge vor allem in der Verantwortlichkeit des Staates liegt und somit den Bürgern keine aktive Rolle bei der Leistungserbringung zukommt (Kersten 2005). Mögen die Bürger den Ruf nach dem ‚aktiven Bürger’ wohl hören, bereitwillig folgen wollen sie ihm vermutlich aber nicht. Einerseits ist es schwer vermittelbar, wieso Bürger nun in Eigenarbeit Leistungen erbringen sollen, für die sie Steuern und Abgaben zahlen (Sanierung von Schulgebäuden, Müllentsorgung an öffentlichen Plätzen). Andererseits gaben die Interviews klare Hinweise darauf, dass viele Bürger sich nicht in der Pflicht sehen, da ihrer Ansicht nach öffentliche Aufgaben wie Gebäudesanierung oder Betreuung von Schülern in der Schule hoheitliche Aufgaben sind. Berthold Vogel (2007) weist darüber hinaus darauf hin, dass der Wandel des Wohlfahrtsstaates vor allem für die Mittelschicht mit Statusunsicherheiten und Abstiegsängsten verbunden ist und dass gerade dort besonderer Bedarf für daseinsvorsorgende und statussichernde staatliche Leistungen reklamiert wird - ein freiwilliger Verzicht auf diese Leistungen also nicht zu erwarten ist. Dies bedeutet aber nun, wenn Bürger in Zukunft nicht bloß als Ausfallbürge für fehlende öffentliche Infrastruktur zum Einsatz kommen sollen, dass es unerlässlich sein wird, den Bürgern einen Gewinn ihrer verstärkten Aktivitäten zum Wohl der Gemeinschaft in Aussicht zu stellen. Es geht also um ein Mehr an finanziellen Spielräumen und Entscheidungskompetenzen für die Bürger. Mitwirkung darf sich nicht allein auf das „Abnicken“ bereits bestehender Planungen beschränken, sondern muss verantwortungsvolle Entscheidungs- und Umsetzungsmöglichkeiten in die Hände der Bürger übergeben. Diese Schritte erfordern aber, dass von staatlicher Seite auch Rechtsformen bereitgestellt werden, die eine aktive Mitwirkung bei der Erbringung bisher überwiegend von öffentlicher Hand bereitgestellter Leistungen ermöglichen (zum Beispiel im ÖPNV, bei der Gesundheitsversorgung) (Kersten 2007: 313). Wird nicht darüber nachgedacht werden, wie ein neues Zusammenspiel zwischen staatlicher Verwaltung, Markt und Zivilgesellschaft zur Aufrechterhaltung der Daseinsvorsorge aussehen sollte, welche Flexibilisierungsmöglichkeiten und wo die Mitwirkungsspielräume für Bürger bestehen, wird die Zukunft der Daseinsvorsorge in peripheren Räumen weiterhin allein durch Schließungen und zunehmende Unterversorgung bestimmt sein. Der das politische Handeln so lange leitende Gedanke, dass Infrastrukturen soziale und territoriale Integrationsleistungen zu erbringen haben (van Laak 1999, van Laak 2006), spielt dann keine Rolle mehr. 6. Territoriale Ungleichheit und Daseinsvorsorge Die wirtschaftlichen und demografischen Veränderungen haben in den vergangenen Jahren zu deutlichen regionalen Disparitäten geführt, in deren Gefolge eine neue 92
soziale Frage nach „der Exklusion von Menschen, Gruppen und Regionen“ (Kersten 2007: 311) aufscheint. Aktuell stellt sich diese Frage mit besonderer Härte in den peripheren ländlichen Räumen Ostdeutschlands, doch längst sind auch ländliche Räume im Westen und ganze Stadtviertel von Peripherisierungsprozessen betroffen. Für die Bewohner dieser peripheren Räume hat sich die unausgesprochene Verheißung des Infrastrukturausbaus – Angleichung und Integration - nur sehr bedingt erfüllt. Zwar ist der Standard zum Beispiel der Verkehrsinfrastruktur auf hohem Niveau, doch unabhängig davon finden wirtschaftliche Entwicklungen anderenorts statt. Auch das Dorfbild hat sich dank großzügiger EU-Förderung wesentlich gebessert und doch gehen die Jungen weg. Zeitgleich werden in Folge sinkender Bevölkerungszahlen, leerer öffentlicher Kassen soziale und kulturelle Infrastruktur abgebaut und ausgedünnt. Die Frage bleibt: Wie ist mit den räumlichen Disparitäten umzugehen und wie die zukünftige Daseinsvorsorge unter den Bedingungen von Wachstum und Schrumpfung zu gestalten? Gerne wird zurzeit auf die Notwendigkeit der Einführung von Mindeststandards hingewiesen (exemplarisch Strubelt 2006). Die Festlegung von Mindeststandards in der Infrastrukturausstattung erlauben zwar einerseits das Festhalten am Gleichwertigkeitsprinzip (für alle Landesteile mindestens gleich wenig), andererseits beantwortet sie aber nicht die Frage nach den Zugangs- und Teilhabechancen der Bewohner abgekoppelter Regionen am gesellschaftlichen Leben. Die wenigen Schilderungen aus der Gemeinde Galenbeck erlauben es, von sozialstrukturellen Folgen zu sprechen, die sich als territoriale Ungleichheit beschreiben lassen (Neu 2006). Denn für viele Bewohner haben sich die Zugangs- und Teilhabemöglichkeiten im Hinblick auf ÖPNV, Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs oder Freizeit- und Kommunikationsmöglichkeiten bereits deutlich eingeschränkt. Und es ist auch nicht so, dass den Bürgern die Lage nicht bewusst wäre, denn der Rückbau der Infrastruktur wird als deutliche Einbuße in die Lebensqualität erfahren. So tritt neben dem Mangel an Arbeitsplätzen ein Mangel an Lebensqualität, der diese peripheren Räume weiter schwächt. Längst haben alle, die anderswo Optionen auf eine bessere Zukunft sehen, diese Regionen verlassen. Die Alten und sozial Benachteiligten finden aber nirgends einen anderen Platz, sie bleiben auf ihren Ort verwiesen. Im Hinblick auf eine zukunftsfähige Gestaltung der Daseinsvorsorge könnte es hilfreich sein, sich von dem Gedanken der Mindeststandards zu lösen und den alten Leitgedanken der sozialen und territorialen Integration über Infrastrukturen neu zu beleben. Also nicht die Frage „wie wenig darf’s denn sein“ ist entscheidend, sondern wie kann Zugang und Teilhabe zu erstrebenswerten Gütern und Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit für annähernd alle Menschen organisiert werden – unabhängig von ihrem Wohnort. Dann ist es nicht zwanghaft notwendig, 93
gleiche Lebensverhältnisse herzustellen, sondern Integration über Teilhabe zu gewährleisten. Die Organisation der Daseinsvorsorge braucht flexible Lösungen, die vor allem an den Bedarfen der Bürger ausgerichtet sind. Wer diese Leistungen zukünftig zu erbringen hat und wie, wird Teil eines (langen und harten) Aushandlungsprozesses sein. Der soziale und territoriale Zusammenhalt der Bundesrepublik könnte auf diese Weise aber gestärkt und gesichert werden.
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Auf dem Weg zum Gewährleistungsstaat: Netzvermarktung und Infrastrukturpolitik für die schrumpfende Gesellschaft Weert Canzler, Andreas Knie
1. Das Problem Infrastrukturpolitik war in Deutschland jahrzehntelang eine Strategie der öffentlichrechtlichen Vorleistung, geplant und realisiert, um wirtschaftliches Wachstum in allen Teilen des Landes zu schaffen, materiellen Wohlstand zu sichern und gleichzeitig durch eine hohe Erreichbarkeit gleichwertige Lebensbedingungen für alle Bundesbürger zu schaffen. Doch knapp 60 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik und mehr als 15 Jahre nach der Wiedervereinigung ist diese Strategie erschöpft. Klimawandel, demografische und wirtschaftsstrukturelle Veränderungen sowie die Verschuldung öffentlicher Haushalte zwingen stärker denn je zum selektiven Einsatz öffentlicher Mittel. Während in einigen Gebieten des Ostens – und künftig auch des Westens – der Bundesrepublik die Bevölkerung drastisch abnimmt, erhöhen sich die Fixkosten für die Aufrechterhaltung der Infrastrukturen. Gleichzeitig sinken die Finanzierungsmöglichkeiten der öffentlichen Haushalte für Ausgleichszahlungen. Im Süden und im Südwesten, im Raum Stuttgart oder in München, aber auch im Raum Hamburg prosperiert hingegen die Ökonomie, die Bevölkerung wächst. Die Kontraste zwischen den Räumen nehmen stark zu, die Ungleichheit steigt und wird zu einer Bewährungsprobe für das föderale System der Bundesrepublik. Der Anspruch auf die Erfüllung gleichwertiger Lebenschancen, der eine Reihe gesetzlich begründeter Planungs- und Finanzierungsgesetze legitimiert, wird nicht weiter aufrechtzuerhalten sein. Damit steht das alte Modell Deutschland auf dem Spiel, mittels Ausbau der Infrastruktur Räume zu erschließen, um auf diese Weise soziale Integrationsleistungen zu garantieren. Eine Revision des deutschen Integrationsmodells ist überfällig. Vor einer Neujustierung der Daseinsvorsorge steht allerdings die Anerkennung dieser für die politische Kultur der Bundesrepublik ungewohnten Realität der ungleichen Entwicklung. Eine solche Ausgangsdiagnose ist jedoch leichter gestellt als die Konsequenzen daraus umgesetzt sind. Wie etwa geht man damit um, dass die neu errichtete Verkehrsinfrastruktur in den ostdeutschen Bundesländern nicht wie geplant zur An97
siedlung von Wirtschaftsunternehmen und zum Bleiben der Bürger führt, sondern umgekehrt von den Menschen als Transitstrecken in die alten Bundesländer genutzt wird? In der Stadt- und Raumplanung werden die Probleme hinsichtlich der Anpassungsleistungen in den Infrastrukturen insbesondere in den Schrumpfungsregionen ausführlich diskutiert. Die akuten Aufgaben beim Stadtumbau Ost stehen dabei im Vordergrund. Einigkeit besteht darin, dass die Kosten für die Nutzer von Infrastrukturen steigen werden. Wachsende Finanzierungslasten für öffentliche Infrastrukturen zwingen vielerorts zum Abbau öffentlicher Dienstleistungen und zur Installierung neuer privater Betreibermodelle. Schnell bleiben Alternativkonzepte für eine zukunftsfähige Infrastrukturpolitik in den Fängen der Mehrebenenpolitik stecken. Die föderale Ordnung der Bundesrepublik Deutschland hat ein fein austariertes Ausgleichs- und Balancemodell der Interessen hervorgebracht, dessen Gesamtergebnis oft suboptimal ist. Hinzu kommen Implementationserfordernisse von EU-Richtlinien, die das gewachsene Regulierungs- und Finanzierungsgefüge zusätzlich unter Stress setzen. Das Beispiel Verkehr: Die Anpassungen in der Verkehrspolitik an die demografisch und wirtschaftssowie regionalstrukturell verstärkten Verschiebungen in der Nachfrage in den verschiedenen Transportmärkten zum einen und an die Gleichzeitigkeit von Schrumpfen und Wachsen zum anderen stehen erst am Anfang. Zunächst ist eine Überprüfung der im Bundesverkehrswegeplan (BVWP) fest geschriebenen Infrastrukturinvestitionen bis 2015 überfällig. Denn der BVWP beruht nach wie vor auf dem generellen Wachstumsparadigma, ihm steht noch bevor, was in den Verkehrswissenschaften als Paradigmenwechsel bereits vollzogen wurde: Anstelle des Ausbaus von Infrastrukturen müssen ihre Restrukturierung und intelligente Bewirtschaftung treten. Zudem gehört die gesamte gesetzliche Basis der bisherigen Verkehrspolitik, vom Personenbeförderungsgesetz (PbfG) über das Allgemeine Eisenbahngesetz (AEG) und das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) bis hin zu den ÖPNV-Gesetzen der Länder, auf den Prüfstand. Ziel der Novellierung der gesetzlichen Grundlagen im Verkehrssektor muss es sein, zum einen Fehlinvestitionen zu vermeiden und zum anderen Produktinnovationen wie beispielsweise flexible Anrufbusangebote oder Gutscheine für Schülermitfahrgelegenheiten zu ermöglichen (Schöller 2005). Im Mittelpunkt der notwendigen Reformen steht die Finanzierung von Infrastrukturen. Dazu gehört im Politikfeld Verkehr der begonnene Abbau steuerlicher Abzugsmöglichkeiten wie die Entfernungspauschale, die das berufliche Pendeln begünstigt. Künftig werden auch die Finanzhilfen des Bundes an die Länder, die seit Mitte der 1990er Jahre das Regionalisierungsgesetz für den Nahverkehr vorsieht, zunehmend schwerer zu begründen sein. Sinken jedoch die Regionalisierungsmittel, müssen entweder die Länder und Kommunen selbst einen höheren Zuschuss für den Öffentlichen Personennahverkehr leisten oder dessen Angebot wird entsprechend den Kürzungen ausgedünnt (Blümel et al. 2007). Die Ziele einer Finanzre98
form im Verkehrssektor lassen sich pointiert so formulieren: Es gilt zum einen Fehlallokationen öffentlicher Mittel bei Investitionen und Betriebszuschüssen sowie durch steuerliche Anreize zu vermeiden. Zum anderen bedarf es der Internalisierung externer Kosten durch den Einstieg in eine Nutzerfinanzierung sowie durch den Abbau innovationshemmender Überregulierungen und Subventionen. Dazu gehören auch neue Regeln für die Bewirtschaftung von Infrastrukturen. 2. Die neuen Disparitäten: Ein Überblick Der Demografische Wandel kann als die zentrale gesellschaftliche und politische Herausforderung für die nächsten Jahrzehnte gesehen werden (Kaufmann 2005). In Deutschland wird die Zahl der Einwohner sinken, das Durchschnittsalter deutlich steigen. Parallel muss mit erheblichen räumlichen Divergenzen gerechnet werden, weil die Unterschiede in der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Regionen immer größer ausfallen. Problematisch ist vor allem die Koinzidenz von demografischen Umbrüchen und wirtschafts- sowie regionalstrukturellen Verwerfungen, wie sie seit Anfang der 1990er Jahre besonders in den östlichen Bundesländern stattfinden. Eine unterdurchschnittliche Erwerbsquote und eine mangelnde ökonomische Dynamik fallen in Ostdeutschland mit einer altersselektiven Abwanderung (ohne kompensatorische Zuwanderung) in den Westen und einer dadurch beschleunigten Alterung der Gesellschaft zusammen. Die Abwanderung in die westlichen Bundesländer hat ihre Hauptursache in den ungünstigen wirtschaftlichen Aussichten für die betroffenen Gegenden. Umgekehrt werden die endogenen Potenziale durch die Wegzüge der gut ausgebildeten und hoch motivierten Arbeitskräfte zusätzlich geschwächt. Zwischen 1990 und 2002 hat sich die Bevölkerung auf dem Territorium der ehemaligen DDR von 18,2 auf 17 Millionen vermindert. Auf der Basis der 11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung prognostiziert das Statistische Bundesamt einen Bevölkerungsrückgang in den neuen Bundesländern zwischen 2006 und 2050 um weitere 31 Prozent. Der Altersquotient, also der Anteil der über 65-Jährigen an 100 Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 65 Jahren, beträgt dann 80,2 Prozent in den neuen und 62,4 Prozent in den alten Bundesländern (Statistisches Bundesamt 2006). Dieser Bevölkerungsschwund schlägt sich nicht zuletzt in einer abnehmenden Nutzung von Infrastrukturen nieder, die neben den Netzindustrien Wasser, Energie, Telekommunikation sowie den „Punktinfrastrukturen“ Schulen, Krankenhäuser und andere soziale Einrichtungen auch den öffentlichen Verkehr betrifft. Neben den Schrumpfungsregionen finden wir in Deutschland gleichzeitig klassische Wachstumszonen. Räumlich befinden sich diese vor allem im Süden des Landes sowie in einigen Ballungsräumen entlang des Rheins, des Mains, in und um Hamburg. Dort wächst die Wirtschaft überdurchschnittlich und die Erwerbsquote 99
ist hoch. Bei weiter zunehmender Bevölkerung durch Zuwanderung aus dem Inund Ausland und somit abgemilderter Alterung kann von einer Unterauslastung der Infrastruktur hier nicht die Rede sein. Die Folgen der sich bereits abzeichnenden demografischen und wirtschaftsstrukturellen Dynamiken in den nächsten Jahrzehnten – als Gleichzeitigkeit von Entleerungs- und Boomprozessen – sind für die Infrastrukturpolitik gravierend. Das Ziel, mit einer proaktiven Infrastrukturversorgung zu einer gleichmäßigen Erschließung der Räume beizutragen, um dem Gedanken der staatlichen Daseinsvorsorge gerecht zu werden, kann kaum noch aufrechterhalten werden. Trotz hoher Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur der neuen Bundesländer bleibt die erwünschte Wirkung ausgleichender ökonomischer Prosperität nicht nur weitgehend aus, sondern die Disparitäten verschärfen sich partiell sogar noch. 3. Demografische und wirtschaftsstrukturelle Tendenzen in Deutschland bis 2020 Die wesentlichen Trends des Demografischen Wandels in den nächsten Jahrzehnten in Deutschland sind die Alterung der Gesellschaft, die Schrumpfung der Bevölkerung, die Binnenwanderung und ihre Auswirkungen sowie die sozialräumlichen Unterschiede der Bevölkerungsentwicklung. Jeder dieser Aspekte birgt für sich bereits erheblichen Anpassungsbedarf. Zusammen genommen führen sie zu einem hohen Reformdruck auf allen politischen Ebenen. Die nicht mehr wesentlich zu beeinflussenden demografischen Verschiebungen bis 2020 werden unter anderem zu einem drastischen Einbruch bei den Schülerzahlen führen, die bereits bundesweit zwischen 1999 und 2004 um 2,9 Prozent zurückgegangen sind. Es wird erwartet, dass im Zeitraum zwischen 2005 und 2020 die Zahl der Schüler um fast 18 Prozent absinken wird (KMK 2007). Der Bundesdurchschnitt verdeckt auch hier die enormen Disparitäten zwischen einzelnen Ländern und Regionen. Große Unterschiede bestehen vor allem zwischen den neuen und den alten Bundesländern. Im besagten Zeitraum zwischen 1999 und 2004 ist die Zahl der Schüler im Osten im Schnitt um mehr als ein Fünftel zurückgegangen, während im Westen eine leichte Zunahme von 2,8 Prozent zu verzeichnen war (ebd.:30). Erst ab 2020 ist eine annähernd gleiche Entwicklung in Ost und West zu erwarten. Die Bevölkerungsentwicklungen über 2020 hinaus werden möglicherweise mit noch weitaus gravierenderen Konsequenzen für beinahe alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche verbunden sein (Kaufmann 2005). Allerdings sind diese Voraussagen naturgemäß viel unsicherer, denn weder sind künftige Geburtenraten noch das Migrationsverhalten über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren seriös vorauszusagen. Die derzeit absehbaren Haupttrends der demografischen Entwick-
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lung in den verschiedenen Dimensionen bis zum Jahr 2020 – und auf weniger stabiler Datenbasis auch darüber hinaus – sind folgende (ausführlicher: Canzler 2007):
Alterung: Wenn die Gesellschaft altert, steigt der Anteil der älteren und betagten Menschen und der Anteil der Jüngeren und der Kinder sinkt. Nicht nur nimmt das Durchschnittsalter der Einwohner in Deutschland zu, der Altersaufbau verschiebt sich zugunsten der Angehörigen älterer Jahrgänge. So sinkt zum Beispiel der Anteil der unter 40-Jährigen, also der beruflichen Anfänger und ein wichtiger Teil der Leistungsträger, von 1999 bis 2020 um 17 Prozent. Gleichzeitig wächst der Anteil der über 60-Jährigen um 24 Prozent. Noch dramatischer nimmt die Zahl der über 75-Jährigen zu: Sie steigt sogar um 50 Prozent (BBR 2004). Außerdem ist davon auszugehen, dass die Lebenserwartung wegen einer insgesamt besseren Ernährung und dank guter medizinischer Versorgung weiter steigen wird. Schon heute ist die am schnellsten wachsende Altersgruppe die der über 80-Jährigen. Gegenüber 2000 wird sich ihr Anteil im Jahr 2020 voraussichtlich verdoppelt haben. Schrumpfung: Im Gegensatz zur Alterung setzt die Schrumpfung der Gesamtbevölkerung in Deutschland später ein. Ab 2010 ist bei einer unterstellten Nettozuwanderung von 100.000 Personen pro Jahr und bei einer etwa konstanten Geburtenrate dann aber mit einem stetigen Bevölkerungsrückgang auf unter 68 Millionen im Jahre 2050 zu rechnen (BBR 2006). Die Schrumpfung tritt nach 2020 beschleunigt auf. Demografen sprechen vom „Echoeffekt“ temporär niedriger Geburtenraten, der im Nachhinein selbst durch ein deutlich höheres Reproduktionsniveau nicht mehr ausgeglichen werden kann (Kaufmann 2005:52ff.). Zuwanderung: Unterstellt wird bei allen demografischen Modellrechnungen eine Nettozuwanderung. Bei den optimistischen Varianten der Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes werden jährliche Migrationsgewinne von 200.000 und ab 2010 sogar von 300.000 Personen angenommen (Statistisches Bundesamt 2006). Angesichts erheblicher Ab- beziehungsweise Rückwanderung würde dies eine Bruttozuwanderung von bis zu einer Million Personen pro Jahr voraussetzen. In den 1980er und 1990er Jahren wurde lediglich zeitweilig eine solche Nettozuwanderung von 200.000 bis 300.000 erreicht, in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre lag die Zahl der Immigranten allerdings nur noch knapp über der Zahl der Emigranten. Der Rückgang der Zahlen deutschstämmiger Aussiedler und die verschlechterten Beschäftigungsmöglichkeiten für neu zugezogene Arbeitskräfte sowie die verschärfte Asylpolitik sind die Hauptgründe für eine seither deutlich sinkende Zuwanderung einerseits und für eine signifikant gestiegene Rück- beziehungsweise Auswanderung anderseits. Künftig wird es voraussichtlich einen verstärkten Wettbewerb zwischen den OECD-Ländern um gut qualifizierte Zuwanderer 101
geben, weil alle früh industrialisierten Länder in ähnlicher Weise vom Demografischen Wandel betroffen sind und mit einem mittelfristigen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften rechnen müssen. Nettozuwanderungsgewinne von deutlich über 100.000 Menschen können daher in den nächsten Jahrzehnten als unwahrscheinlich gelten. Sozialräumliche Verteilung: Überlagert werden die skizzierten demografischen Trends der Alterung, Schrumpfung und Zuwanderung durch eine höchst ungleiche räumliche Verteilung von Bewohnern, von Alten und Jungen sowie von armen und wohlhabenden Haushalten innerhalb der Bundesrepublik Deutschland. Neben dem schon klassischen Nord-Süd-Gefälle aus den 1980ern hat sich seit den 1990er Jahren ein demografischer Ost-WestGegensatz herausgebildet (Ehmer 2004:16 f.)..Massive Geburtenrückgänge und massenhafte Abwanderung fielen zusammen, umgekehrt siedelten sich kaum Menschen aus dem Ausland dort an. Besonders junge Frauen und qualifizierte Erwerbstätige mit Karriereambitionen verließen – und verlassen bis heute – die neuen Bundesländer, um in den Westen der Bundesrepublik oder auch ins Ausland zugehen. „Altersselektive Wanderung“ wird dieses Phänomen in der demografischen Forschung bezeichnet (Mai 2004). Alle Prognosen gehen davon aus, dass sich dieser Trend fortsetzt (BBR 2006). Eine regional unterschiedliche demografische Entwicklung ist aber nicht allein ein Problem der östlichen Bundesländer. Laut dem jüngsten Raumordnungsbericht des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (BBR) hat ein Drittel der deutschen Gemeinden seit Beginn der 1990er Jahre an Einwohnern verloren, darunter auch viele Kommunen im Westen. Dieser Trend hält ebenfalls weiter an: „Die Zahl der Gemeinden mit schrumpfender Bevölkerung steigt laufend. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wächst. Die Diskrepanz in der Dynamik von wachsenden und schrumpfenden Gemeinden wird ebenfalls größer“ (BBR 2005:30).
Ob in den neuen Bundesländern oder im alten industriellen Westen, problematisch ist das Zusammentreffen von demografischen Veränderungen mit wirtschafts- und regionalstrukturellen Krisenerscheinungen. Die Schere zwischen armen und reichen Regionen öffnet sich weiter. Es findet nicht nur kein wirksamer Ausgleich zwischen den sich höchst unterschiedlich entwickelnden Landesteilen mehr statt. Die Divergenz wird durch das ungebrochene Wanderungsverhalten sogar fortlaufend verschärft. So hat sich eine regional höchst unterschiedliche Arbeitslosigkeit verfestigt und auch andere Indikatoren der Standortbeschreibung deuten auf eine fortschreitend auseinander strebende Entwicklung hin.
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4. Herausforderungen für die künftige Infrastrukturpolitik Die Alterung und Schrumpfung einerseits und eine fortschreitende Individualisierung der bundesdeutschen Gesellschaft andererseits hat Konsequenzen auch für die Infrastrukturpolitik. Denn in historischer Perspektive waren Infrastrukturen, und das gilt besonders für die des Verkehrs, ein Wechsel auf eine bessere Zukunft. Nationale Motive für den Infrastrukturausbau vermischten sich Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland mit regionalen und kommunalen Interessen sowie reformpolitischen Ansprüchen. Denn das dynamische Wachstum der frühen Industrialisierung führte zu einer bis dahin nicht gekannten Verstädterung. Wasserver- und -entsorgung, Energie für die Bevölkerung und für die Fabriken, aber auch logistische Erfordernisse und Wohnraum für die zuströmenden Arbeiter und ihre Familien wurden von den Städten und Gemeinden als neue kommunale Aufgaben definiert. Die Mobilisierung und Bereitstellung erheblicher investiver Mittel war dabei auch an eine dirigistische Durchgriffspolitik gebunden. Die neuen Versorgungsnetze waren die Voraussetzung für eine prosperierende Wirtschaft und sie sollten der breiten Bevölkerung zu „bezahlbaren“ Preisen angeboten werden. Zugleich herrschte ein Zwang zum Anschluss an die staatliche Netzplanung. Es ist kein Zufall, dass wichtige Infrastrukturgesetze in den 1930er Jahren zu Beginn des Dritten Reiches erlassen wurden. So atmet auch das Personenbeförderungsgesetz (PbfG) immer noch diesen Geist der Zwangsbewirtschaftung. Bis zum heutigen Tag wird der gewerbliche Transport von Personen nicht dem Markt überlassen, sondern als öffentliche Aufgabe begriffen und entsprechend streng reglementiert. Bewilligungen für den Regelbetrieb im öffentlichen Verkehr sind nach dem PbfG an die allgemeine Betriebs- und Beförderungspflicht geknüpft. Dafür sind die Genehmigungsinhaber wie Lizenznehmer vor Konkurrenz geschützt. Analog waren die Gesetze für die Stromund Wasserversorgung gestaltet. Nur so schien eine ausreichende Auslastung von aufwändigen Netzen gewährleistet zu sein. Und nur so ließ sich eine flächendeckende Verbreitung von Wasser-, Gas- oder Stromnetzen, aber auch von kostspieligen Straßen-, Schifffahrts- und Schienenwegen erreichen. Nun haben sich allerdings die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland wie in allen westlichen Ländern gegenüber der Industrialisierung und der Phase des organisierten Kapitalismus grundlegend geändert. Stürmisches Städtewachstum und Landflucht gehören längst der Vergangenheit an. Eine Grundversorgung mit kollektiven Gütern wie Strom, Wasser, Müllentsorgung und Heizenergie ist gegeben und die Bereitstellung mittlerweile in private oder privatisierte Unternehmen überführt worden. Die dafür benötigten Netzinfrastrukturen sind seit langem flächendeckend vorhanden. Insbesondere das Verkehrsnetz konnte in Deutschland zu einem international beachteten Leistungsstand ausgebaut werden, wobei allerdings mehr und mehr Probleme hinsichtlich der Finanzierung seines Erhalts und seiner Pflege drohen (Kunert et al. 2001). 103
Unter verstärkten Druck geraten die Infrastrukturen und ihre Finanzierung nicht nur, weil sie sich oftmals am Ende ihrer Lebensdauer befinden und damit der Wartungs- und Reparaturaufwand zwangsläufig steigt. Zusätzlich werden sie durch eine sinkende Nachfrage belastet. Eine abnehmende Nutzung von Infrastrukturen ist eines der sichtbaren Merkmale von Schrumpfungsregionen. Das gilt für altindustrielle und ländliche Regionen in den neuen Bundesländern, die nach dem Zusammenbruch der DDR-Ökonomie mit dramatischen Einschnitten bei den Arbeitsplätzen in Industrie und Landwirtschaft fertig werden mussten. Die wirtschaftliche Basis zerbröselte nach dem Beitritt der fünf neuen Länder zur Bundesrepublik innerhalb weniger Jahre. Zeitversetzt zum ökonomischen Niedergang setzte in diesen Regionen eine massive Abwanderung vor allem in die alten Bundesländer ein. Ebenfalls betroffen sind altindustriell geprägte Großstädte in den westlichen Bundesländern, die sich seit vielen Jahren im Strukturwandel befinden, diesen aber nur unvollkommen bewältigt haben. Die nördlichen Ruhrgebietsstädte gehören dazu, aber auch einige mittelgroße Städte mit industrieller Tradition in anderen Bundesländern. Diese Städte und Stadtregionen verlieren schon seit vielen Jahren durch Suburbanisierung Einwohner. Die Abwanderung ist eher schichten- als altersselektiv, die städtische Mittelschicht verschwindet. Vor allem Familien mit Kindern und Gutverdienende ziehen ins Umland, eine beschleunigte Segregation setzt ein und Armuts- und Migrantenviertel entstehen. Dies wiederum veranlasst auch diejenigen, die eigentlich gar nicht weg wollten und sich den Umzug auch nur mit Mühe leisten können, dazu, die zunehmend verelendende Stadt zu verlassen. Ein Ergebnis dieses Teufelskreises einer sozialen Entmischung städtischen Wohnens ist ein massiver Bewohnerverlust. Eine Folge: Die Infrastruktur ist zum Teil überdimensioniert beziehungsweise unterausgelastet und mit hohen Betriebs- und Instandhaltungskosten verbunden, die die angespannten kommunalen Haushalte und über Gebührenanhebungen auch die privaten Haushalte zusätzlich belasten. Es hat sich sowohl in den neuen Bundesländern als auch in den altindustriellen Regionen Westdeutschlands gezeigt, dass das konventionelle Konzept der Strukturpolitik durch Investitionen in die Infrastruktur nicht die erhofften Wirkungen gehabt hat. Vermutlich ist das Scheitern der Strategie der infrastrukturellen Vorleistung dem Umstand zuzuschreiben, dass im verstärkten Standortwettbewerb um Investoren und Unternehmen eine gute Infrastrukturausstattung als selbstverständlich angenommen wird. Gerade im Verkehr ist dies deutlich, weil in Deutschland und in großen Teilen Europas beinahe alle Wirtschaftsstandorte auf gute Anbindungen auf der Straße, auf der Schiene und auch in der Luft verweisen können. Komparative Vorteile aus einer vorzüglichen Verkehrsinfrastruktur zu ziehen, kann kaum gelingen, wenn sie überall gut ist. Im Verkehr kommt im Vergleich zu anderen Netzinfrastrukturen als Besonderheit hinzu, dass der öffentliche Verkehr gegenüber dem motorisierten Individu104
alverkehr dramatisch an Bedeutung verloren hat. Während zum Zeitpunkt des Erlasses des PBfG der private Automobilverkehr erst in Ansätzen zu erkennen war, nimmt mittlerweile der Anteil des motorisierten Individualverkehrs – nicht zuletzt Dank Jahrzehnte langer staatlicher Unterstützung – einen Marktanteil von 85 Prozent ein. In ländlichen Regionen steigt die Bedeutung des Autos noch weiter und erreicht im Schnitt gute 90 Prozent der Verkehrsleistung. In diesen Regionen werden die Angebote des öffentlichen Verkehrs praktisch nur noch von Schülern und Auszubildenden genutzt, deren Anteil in Westdeutschland rund 90 Prozent und in Ostdeutschland mehr als 95 Prozent ausmacht (InnoZ 2007:8). Das Auto bedarf zwar auch eines Straßennetzes und ebenso einer polizeilich überwachten Straßenverkehrsordnung, seine Benutzung liegt jedoch im Belieben jedes einzelnen Privatbesitzers. Es bietet dem Nutzer mehr Handlungsoptionen als jedes noch so gut ausgebaute öffentliche Bus- und Bahnangebot. Vor allem stellt der Pkw für seine Nutzer einen selbst bestimmten Raum dar, er ist routinemäßig zu nutzen und er erleichtert Wegeketten in einer komplexen Alltagsorganisation (Heine et al. 2001; Knie 2007). Das Auto ist das ideale verkehrstechnische Unterpfand einer zu Individualisierung und Flexibilisierung treibenden Gesellschaft (Canzler et al. 1998; Projektgruppe Mobilität 2004). Darin liegt nicht zuletzt der entscheidende Vorteil dieses Transportmittels gegenüber dem öffentlichen Verkehr. Die absehbaren Verschiebungen der Anteile am Verkehrsmarkt zugunsten des Autos bedeuten jedoch nicht, dass nur der öffentliche Verkehr Verlierer des Demografischen Wandels sein wird, wie dies in einer jüngst vom ADAC beauftragten Studie behauptet wird (Ratzenberger 2006). In dieser Studie werden die nachholenden Motorisierungstrends bei den Frauen und bei den Senioren mit einer insgesamt nur moderaten Schrumpfungsperspektive für die Bevölkerung in Deutschland verknüpft: Eine permanent hohe Zuwanderung wird angenommen. Außerdem wird eine Kosten- und Preisentwicklung im motorisierten Verkehr unterstellt, die lediglich im Rahmen der allgemeinen Kostenentwicklung bleibt, während auf der Einkommensseite kontinuierliche Zuwächse eine stabile Nachfrage garantieren. Teilt man diese teilweise naiven Annahmen nicht, ist auch im motorisierten Individualverkehr von einer sinkenden Verkehrsleistung auszugehen. Ein zusätzlicher genereller Bedarf nach Straßen und weiterer Infrastruktur für den Autoverkehr ist nicht zu erwarten. Eine allgemeine Abschwächung der Verkehrsnachfrage und eine – letztlich nicht zuletzt auch demografisch bedingte – bessere Verteilung des Verkehrs über den Tag und sogar über das Jahr sind vielmehr wahrscheinlich. Damit werden die Bewirtschaftung und der Erhalt der bestehenden Straßeninfrastruktur zur zentralen Zukunftsausgabe. Vieles spricht dafür, dass das für den LKW-Verkehr eingeführte elektronische Maut-System mittelfristig auch für den PKW-Verkehr auf den Autobahnen und Bundesstraßen obligatorisch werden wird. Zusätzlich könnte eine City-Maut zumindest für die stark belasteten Ballungsräume Wirklichkeit werden. Die so realisierten Einnahmen können zwar zu einer soliden Finanzierung der Un105
terhaltung der Straßeninfrastruktur beitragen, gleichzeitig werden die – zudem erstmals streckenbezogen sichtbaren – Kostenbelastungen für die PKW-Nutzer mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht geringer, sondern höher. Möglichweise steigen mit dem spürbaren Anstieg der variablen Kosten im motorisierten Individualverkehr die Chancen für neue intermodale Verkehrsdienstleistungen (Canzler et al. 2007). 5. Eine Reformperspektive Doch geht es nicht nur um eine Umsteuerung in der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung an veränderte Rahmenbedingungen einer schrumpfenden Gesellschaft. Im Kern ist mit den Folgen des demografischen und wirtschaftsstrukturellen Wandels das Selbstverständnis der bundesdeutschen Nachkriegsdemokratie tangiert. Dieses Selbstverständnis war auf Konvergenz geeicht: Die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen im ganzen Land war das Ziel. Entsprechend eng war – und ist immer noch – das Regelungsnetz, das über die Bundesrepublik gezogen wurde. Wenn die Unterschiede zwischen Boomregionen hier und Entleerungszonen dort jedoch so groß bleiben, wie sie sind, dann ist es sinnlos, dass für beide Räume die gleiche staatliche Regelungsdichte gilt. Vielmehr muss damit gerechnet werden, dass dort, wo es keine Nachfrage für öffentliche Güter gibt, eine engmaschige Kontrolle potenzieller Anbieter kontraproduktiv ist, da niedrigschwellige Angebote so gar nicht erst entstehen können. Das Konvergenzziel bundesdeutscher Nachkriegspolitik ging Hand in Hand mit einem umfassenden Erschließungsauftrag. Die Bundesebene erschließt die verschiedenen Räume entweder selbst oder finanziert die Erschließung durch Länder oder Kommunen. Die Verhältnismäßigkeit zwischen Stadt und Land, zwischen Nord und Süd sowie Ost und West ist dabei die unsichtbare Richtschnur der Mittelvergabe. Viele Finanzhilfen und Förderprogramme folgen seit Jahrzehnten dieser Philosophie des räumlichen Ausgleichs. Der mit dem Begriff ‚Modell Deutschland’ umschriebene Konsens einer kompensatorischen Erschließungspolitik wird zukünftig jedoch kaum mehr aufrecht zu erhalten sein. Eine Erschließungspolitik kann nur solange Legimitation erwarten, solange wenigstens die Hoffnung besteht, dass eine konvergente Entwicklung innerhalb des Landes möglich ist. Geht die Schere zwischen Boom- und Schrumpfungsregionen jedoch über einen längeren Zeitraum weiter auf statt sich zu schließen, schwindet die Legitimationsbasis. Insofern ist dieser Befund über das Ende der interventionistischen Erschließungspolitik gleichsam eine landesspezifische Ausformung der „Zerfaserung klassischer Staatlichkeit“, wie sie Leibfried und Zürn und der Sonderforschungsbereich „Staatlichkeit im Wandel“ allgemein für die frühen westlichen Nationalstaaten diagnostizieren (Leibfried et al. 2006).
106
Netzinfrastrukturen waren lange bevorzugte Instrumente der Erschließung, der Interventionsstaat hat daher klassischerweise – in seinem „goldenen Zeitalter“ (ebd.:34) – durch Aus- und Umbau von Netzinfrastrukturen aktiv Wirtschafts- und Strukturpolitik betrieben. Der Autobahnausbauplan der großen Koalition und daraufhin auch der sozial-liberalen Koalition Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre (der ‚Leber-Plan’) ist ein Beispiel für eine aktive Infrastrukturpolitik mit dem Ziel der Erschließung automobil schwer zugänglicher Landesteile und der Mobilisierung von Arbeitskräften und Bildungsreserven. Spätestens jedoch die ‚Verkehrsprojekte Deutsche Einheit’ in den 1990er Jahren haben die Krise der Vorleistungsstrategie offenbart, diese Projekte haben große Summen verschlungen. Ihre Effekte waren höchst zwiespältig, in vielen Fällen haben sie lediglich kurzfristige Beschäftigungswirkungen im Bausektor ausgelöst. Für die spezifisch deutsche interventionistische Wohlfahrtsstaatsvariante, die Daseinsvorsorge, hat die Krise aber auch Folgen für die Kommunen. Denn die Kommunen sind die traditionelle Heimstatt der Daseinsvorsorge und der sie erbringenden Unternehmen. Die Privatisierung einst kommunal erbrachter Leistungen der Daseinsvorsorge ist weit fortgeschritten, lediglich Kommunen in prosperierenden Städten und Gemeinden können sich der Privatisierung bisher erfolgreich widersetzen. Eine Neujustierung der Daseinsvorsorge ist nicht nur eine enorme ordnungspolitische und verwaltungsrechtliche Herausforderung. Sie bedarf zugleich einer sozialwissenschaftlichen Unterfütterung. Der Umgang mit Ungleichzeitigkeit und mit mehr Ungleichheit ist für die Bundesrepublik Deutschland erst noch einzuüben. Eine Reihe von Fragen sind keineswegs beantwortet: Wie reagieren die Menschen auf die wachsenden ökonomischen und sozialen Unterschiede? Werden sich die Lebensläufe auch räumlich wieder stärker differenzieren? Entstehen in den ländlichen Gebieten neue, staatsferne soziale Praktiken, die sich deutlich vom Leben in der Stadt unterscheiden? In jedem Fall scheinen zwei wichtige Grundkonstanten der gesellschaftlichen Realität in Deutschland vor einer Revision zu stehen: der ‚Traum vom guten Leben’ sowie das Verständnis über die Rolle des föderalen Staates für die Lebensqualität seiner Bürger (dazu gab es bereits zu Beginn der 1990er Jahre einen breiten Diskurs, siehe: Grimm 1994). In mehrfacher Hinsicht bedarf eine umfassende Reform der Daseinsvorsorge der Fundierung und der Konkretion:
Eine Re-Regulierung: Wenn es um eine effiziente Bewirtschaftung von Infrastrukturnetzen geht, ist dies mit einer stärkeren Marktorientierung in der Herstellung öffentlicher Güter verbunden. Diese ‚Vermarktlichung’ hat verschiedene Ausprägungen: Neben der Privatisierung ehemals öffentlicher Dienste treten verstärkt hybride Formen der Leistungserbringung. Die Ausschreibung öffentlicher Aufträge ist der gängige Weg einer Vermarktlichung, der zudem durch EU-Politik verbindlich vorgegeben ist. Letztlich entscheidet die fachli107
108
che und juristische Kompetenz der Ausschreibenden darüber, ob die gewünschten Leistungen tatsächlich günstiger als zuvor und qualitativ zufriedenstellend erbracht werden. Vielfach treten public private partnerships an die Stelle vormals staatlicher Leistungserbringer. Hier zeigen die Erfahrungen, dass ungleich verteilte Informationen zwischen den Partnern oftmals den Privaten zugute kommen. Innovative Pachtmodelle können künftig eine tragfähige Basis für die Erstellung öffentlicher Güter sein. Pachtmodelle könnten ein tragfähiger Rahmen einer bürokratiearmen Re-Regulierung sein. Denn das Pachtprinzip erlaubt eine weitgehend freie unternehmerische Nutzung von vorhandenen Infrastrukturen, ohne dass kollektive Eigentumstitel erworben werden müssen. Umgekehrt ermöglicht das Pachtprinzip dem Eigentümer Auflagen zu machen und beispielsweise sozial-, umwelt- oder regionalpolitisch gewollte Zusatzleistungen abzuverlangen, was auf der Basis transparenter Kostenkalkulationen zu Pachtzinsabschläge oder auch zu ‚Zuzahlungen’ führen würde. Eine technische Skalierbarkeit: Schrumpfung lehrt zunächst einmal: Infrastrukturen müssen eine Anpassung an eine sich verringernde Nachfrage und seltenere Inanspruchnahme zulassen können. Das ist eine zentrale technische Anforderung an das System und an die Konstruktionsprinzipien von einzelnen Infrastrukturen. Ein modularer Aufbau, Kapazitätsreserven, aber auch das Gebot der (Abwärts-)Kompatibilität sind hilfreich in einer Ausrichtung auf eine hohe Anpassungsfähigkeit von technischen Infrastrukturen. Doch beeinflussen Finanzierungsmodi und Marktregeln ebenfalls das Niveau der Anpassungsfähigkeit. Anreize für Ressourceneffizienz müssen gegeben sein. Eine hohe Regelungsdichte hingegen begünstigt die Beharrungskräfte, die Akteure bleiben gefangen in den technischen und institutionellen Pfadabhängigkeiten reifer Techniken und überkommener Regulierungen. Wenig kohärente Konstellation hingegen, das zeigt die Governanceforschung, erlauben mehr Handlungsspielräume; empirisch bestätigt dürfte sein, „... dass inkohärente Institutionen eine höhere Wandlungsfähigkeit aufweisen als kohärente“ (Lütz 2006:21). Eine subjektbezogene Mindestsicherung: Ein Ergebnis der jüngsten Sozialstaatsdiskussion besteht darin, dass Sozialleistungen auf konkrete Bedürftigkeit hin und nach individuellem Bedarf vergeben werden müssen, um Missbrauch, hohe Streuverluste und die Entstehung einer ‚Sozialtransferkultur’ zu vermeiden. Konsens besteht darin, dass Sozialleistungen ‚Hilfe zur Selbsthilfe’ sein und keine neuen Abhängigkeiten von Bürokratien schaffen sollen. Um dieses Ziel generell in der Versorgung mit öffentlichen Gütern zu erreichen, muss in schrumpfenden Gebieten der staatliche Fördermechanismus grundlegend geändert werden: Dort, wo keine flächenhafte Versorgung mit Strom, Gas, Wasser und auch mit öffentlichen Verkehr zu vertretbaren Kosten mehr möglich ist, darf die staatliche Förderung auch nicht in der Aufrechterhaltung überdimensionierter Infrastrukturen verschwinden. Stattdessen ist es effektiver, Min-
destniveaus in der Versorgung mit öffentlichen Gütern in schrumpfenden Regionen zu bestimmen und den dort lebenden Bürgern bei Bedarf individuell mit Transferleistungen zu helfen, diese Mindestversorgung selbst zu organisieren beziehungsweise genügend Nachfrage für einen Markt aufzubauen. Einige Fragen sind noch zu beantworten: Wie sehen Mindeststandards aus? Wonach orientiert sich die Höhe der Subjektförderung? Wie lassen sich Hilfe zur Selbsthilfe als zivilgesellschaftliches Engagement jenseits von Staat und Markt unterstützen? Ab wann sind Umzugsprämien die angemessene Alternative zur subjektbezogenen Mindestsicherung? Die skizzierte Reformperspektive nimmt Abschied von der Vorstellung, mit Infrastrukturpolitik in eine wirtschaftspolitische Vorleistung zu gehen. Der Anspruch ist wesentlich bescheidener: Staatliche Infrastrukturpolitik gewährleistet lediglich Grundfunktionen, indem er öffentliche Güter nicht selbst herstellt, sondern ihre Produktion reguliert (Schuppert 2000:380ff.). Dann wäre ein großer Schritt vom Versorgungsstaat zum Gewährleistungsstaat getan.
109
Literatur BBR – Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (2004): Herausforderungen des demografischen Wandels für die Raumentwicklung in Deutschland. Bonn. BBR – Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (2005): Raumordnungsbericht 2005. Berichte Band 21, Bonn. BBR – Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (2006): Raumordnungsprognose 2020/2050. Berichte Band 23, Bonn Blümel, Hermann/ Canzler, Weert/ Knie, Andreas/ Ruhrort, Lisa (2007): Zukunftsfähige Mobilitätsangebote für schrumpfende Regionen. InnoZ-Bausteine Nr.2, Berlin Canzler, Weert (2007): Verkehrsinfrastrukturpolitik in der schrumpfenden Gesellschaft, in: Schöller, Oliver/ Canzler, Weert/ Knie, Andreas (Hrsg.): Handbuch Verkehrspolitik. Wiesbaden: VS Verlag: 510-532. Canzler, Weert/ Knie, Andreas (1998): Möglichkeitsräume. Grundrisse einer modernen Mobilitäts- und Verkehrspolitik. Wien/Köln/Weimar: Böhlau. Canzler, Weert/ Hunsicker, Frank/ Karl, Astrid/ Knie, Andreas/ König, Ulrich/ Lange, Günter/ Maertins, Christian/ Ruhrort, Lisa (2007): DB Mobility: Beschreibung und Positionierung eines multimodalen Verkehrsdienstleisters, InnoZ-Bausteine Nr. 2, Berlin. Ehmer, Josef (2004): Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1800-2000. München: Oldenbourg. Grimm, Dieter (Hrsg.) (1994): Staatsaufgaben. Baden-Baden: Nomos. Heine, Hartmut/ Mautz, Rüdiger/ Rosenbaum, Wolf (2001): Mobilität im Alltag. Warum wir nicht vom Auto lassen. Frankfurt a.M.: Campus. InnoZ – Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (2007). Der Verkehrsmarkt 2030, Berlin (noch unveröff. Manuskript). Kaufmann, Franz-Xaver (2005): Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen. Frankfurt a.M.: edition suhrkamp. KMK Kultusministerkonferenz (2007): Vorausberechnung der Schüler- und Absolventenzahlen 2005 bis 2020. Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz Nr. 182, Mai 2007, Bonn. Knie, Andreas (2007): Ergebnisse und Probleme sozialwissenschaftlicher Mobilitäts- und Verkehrsforschung, in: Schöller, Oliver/ Weert Canzler/Andreas Knie (Hrsg.): Handbuch Verkehrspolitik. Wiesbaden: VS Verlag: 43-60. Kunert, Uwe/ Link, Heike (2001): Prognose des Ersatzinvestitionsbedarfs für die Bundesverkehrswege bis zum Jahre 2020. DIW Beiträge zur Strukturforschung. Heft 187, Berlin. Leibfried, Stephan/ Zürn, Michael (Hrsg.) (2006): Transformation des Staates? Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lütz, Susanne (2006): Zwischen Pfadabhängigkeit und Wandel – ‚Governance’ und die Analyse kapitalistischer Institutionenentwicklung. polis Nr. 62/2006 (Arbeitspapier aus der FernUniversität Hagen). Mai, Ralf (2004): Abwanderung aus Ostdeutschland. Frankfurt a.M.: Lang. Projektgruppe Mobilität (2004): Die Mobilitätsmaschine. Versuche zur Umdeutung des Autos. Berlin: editon sigma.
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Ratzenberger, Ralf (2006): Demografischer Wandel und Mobilität, Studie im Auftrag des Allgemeinen Deutschen Automobil-Clubs (ADAC). München. Schuppert, Gunnar Folke (2000): Verwaltungswissenschaft. Verwaltung, Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre. Baden-Baden: Nomos. Simonis, Udo E. (Hrsg.) (1977): Infrastruktur. Theorie und Politik. Neue Wissenschaftliche Bibliothek Wirtschaftswissenschaften. Band 88, Köln: Kiepenheuer und Witsch. Statistisches Bundesamt (2006): Bevölkerung Deutschlands bis 2050. 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden.
111
II. Anpassungsstrategien und kommunale Konzepte für eine zukünftige Gestaltung der Daseinsvorsorge
Regionale Dimensionen des Alterns und der Umbau der kommunalen Daseinsvorsorge – Entwicklungen am Beispiel ländlicher Räume Stephan Beetz
1. Demografische Alterung und gesellschaftliches Altern Hinter dem Begriff ‚Altern’ verbergen sich verschiedenste Aspekte: Zum einen wird darunter ein individueller Prozess des Älterwerdens verstanden. Obwohl es sich auf die Entwicklung einer Person bezieht, ist das individuelle Altern gesellschaftlich definiert und institutionalisiert. Das reicht von der Festlegung der Rentengrenzen und Frühverrentungspraktiken bis zu kulturellen Vorstellungen, was ein alter Mensch tun soll oder auch nicht. Während dies häufig zu Simplifizierungen in der Wahrnehmung des alten Menschen führt, weist die Alternsforschung darauf hin, dass die Verschiedenartigkeit der Menschen mit dem Alter zunimmt. Zum anderen bezieht Altern sich auf einen demografischen Vorgang, der Verschiebungen in der Altersstruktur von Gesellschaften beschreibt. Dieser basiert vor allem auf den beiden bekannten Trends zurückgehender Geburtenzahlen und steigender Lebenserwartung. Wenn in der jüngsten Vergangenheit überwiegend die demografische Seite in den Vordergrund rückte, so sind die Veränderungen des gesellschaftlichen Alterns jedoch nicht weniger bedeutsam. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist, dass die Dynamik und die Folgen der Alterung abhängig von regionalen und lokalen Entwicklungen sind. Die regionalen Unterschiede in der Alterung verlangen nicht nur hinsichtlich ihrer Quantität, sondern auch in ihrer Qualität nach unterschiedlichen Ansätzen beim Umbau der Daseinsvorsorge. Dies resultiert allgemein aus drei Überlegungen: Erstens weist die gesellschaftliche Alterung große regionale Differenzen auf. Obwohl vielerorts und eingehend beschrieben, ist weitgehend unklar geblieben, welche Wirkungen sich nun konkret für die Regionen und Kommunen ergeben. Zweitens trifft das individuelle Altern auf erheblich unterschiedliche regionale und lokale Lebensverhältnisse. Diese bilden ein breites soziales, ökonomisches, kulturelles wie infrastrukturelles Spektrum und sind entsprechend schwierig zu erfassen. Drittens schließlich ist die Daseinsvorsorge in Deutschland auf das Engste mit kommunalen Aktivitäten verknüpft. Auch wenn im Zuge der europäischen Liberalisierung des 114
Public Service hier neue Konstellationen entstehen, ist die Entwicklung der Daseinsvorsorge in Deutschland immer noch von den lokalen Entwicklungen geprägt. Im vorliegenden Beitrag sollen die drei skizzierten Aspekte auf Entwicklungen in ländlichen Räumen bezogen werden.1 Obwohl die Vielfalt ländlicher Räume keine Verallgemeinerungen in der Frage der Daseinsvorsorge zulässt, erweisen sich zumeist zwei Aspekte als relevant: Zum einen handelt es sich definitionsgemäß um dünn besiedelte Flächen mit verhältnismäßig kleinen Siedlungen, woraus sich wiederum bestimmte Anforderungen an Infrastrukturen ableiten lassen. Zum anderen überwiegen polyzentrische und kleinteilige kommunalpolitische Strukturen, auch wenn nicht mehr jedes Dorf seine Daseinsvorsorge selbst regelt. Um die Entwicklungen ländlicher Räume darstellen zu können, wird im Folgenden auf regionalstatistisches Material des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung zurückgegriffen. Hinzu kommen fallweise Untersuchungen in ausgewählten demografisch stark alternden ländlichen Räumen, beispielsweise über Gebietsbeschreibungen oder Altenhilfekonzeptionen. 2. Die regionale Dimension der demografischen Alterung Zwar ist die demografische Alterung als ein Vorgang zu sehen, der die gesamte Gesellschaft betrifft, doch finden sich bedeutsame regionale Unterschiede sowohl in der Altersstruktur der Bevölkerung als auch in deren Alterungsdynamik. Betrachtet man nur die räumliche Ebene der Landkreise, zeigt sich, dass in dem ‚ältesten’ Viertel aller Landkreise mehr als 19,8 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre, während es im ‚jüngsten’ Viertel aller Landkreise weniger als 17,0 Prozent sind. Etwas geringer sieht die Streuung in der Altersgruppe zwischen 50 und 65 Jahren aus. Noch deutlicher sind die Unterschiede bei der Zu- und Abnahme der Zahl der Einwohner über 65 Jahre im Zeitraum zwischen 1995 und 2003: Nahm im am meisten ‚alternden’ Viertel aller deutschen Landkreise die Bevölkerung über 65 Jahre um mehr als 22,5 Prozent zu, so stieg sie im am wenigsten ‚alternden’ Viertel um weniger als 12,8 Prozent an. Dabei handelt es sich teils um kleinräumige, teils um flächenhafte Phänomene. Letzteres betrifft ein mitteldeutsches Gebiet, das vom Saarland und der Eiffel über das Ruhrgebiet, das südliche Niedersachsen und das südliche Harzvorland bis zur Lausitz, dem Erzgebirge und der Frankenwaldregion reicht.
1 Besonderer Dank gilt den Mitgliedern der Akademiengruppe Altern, insbesondere Bernhard Müller, Reinhard F. Hüttl und Klaus J. Beckmann, dazu ausführlich: Beetz u.a.2009)
115
Abbildung 1:
Altersstrukturprofile von ländlichen Räumen in Niedersachsen (unten) und Nordostdeutschland (oben) (Anteile in %, 2005)
2.5
Anteil an Bevölkerung (%)
2
1.5
1
0.5 Uckermark 0 2005
1995
1985
1975
Barnim
Uecker-Randow
1965 1955 Geburtsjahrgang
1945
1935
1925
2.5
Anteil an Bevölkerung (%)
2
1.5
1
0.5 Lüchow 0 2005
1995
Holzminden 1985
1975
Osterrode 1965 1955 Geburtsjahrgang
Quelle: Eigene Darstellung nach Daten der statistischen Landesämter.
116
Cloppenburg 1945
1935
1925
Dabei variieren nicht nur die Anteile der über 65-Jährigen, sondern die gesamten Altersverteilungen entsprechend langfristiger historischer Entwicklungen (Abbildung 1). Die drei ostniedersächsischen Landkreise Lüchow-Dannenberg, Holzminden und Osterode zeigen ein ähnliches Altersprofil, während Cloppenburg deutlich abweicht. Die nordostdeutschen Landkreise Uecker-Randow, Uckermark und Barnim bilden wiederum ein anderes Profil. Die demografische Alterung in ländlichen Räumen wird seit einigen Jahrzehnten eingehend diskutiert. Dabei unterscheiden sich ländliche Räume in ihrer Gesamtheit nicht von der Altersstruktur anderer Raumtypen mit Ausnahme der Altersgruppe zwischen 18 und 25 Jahren. Anders sieht die Situation in sehr dünn besiedelten, zentrenfernen Landkreisen aus, denn dort leben mit 18,6 Prozent überdurchschnittlich viele Menschen über 65 Jahre. Dagegen sind die 50 bis 65-Jährigen und die über 75-Jährigen leicht unterdurchschnittlich vertreten. Nicht nur zentrenferne, sondern auch suburbane ländliche Räume weisen einen höheren Bevölkerungsanteil älterer Menschen über 65 Jahre auf. Doch sind diese Abweichungen verglichen mit der Streuung aller Landkreise gering. Man kann also nicht sagen, dass gerade ländliche Räume eine besonders alte Bevölkerung aufweisen. Auffallend ist jedoch eine überdurchschnittliche Alterung der ländlichen Bevölkerung seit Mitte der 1990er Jahre, die sich nach den Bevölkerungsprognosen auch bis 2020 fortsetzen wird. In ihrer Gesamtheit verzeichneten die ländlichen Räume also eine überdurchschnittliche Zunahme Älterer, besonders bei den über 75-jährigen. Die Gründe für die stärkere Alterung in ländlichen Räumen sind recht unterschiedlich (Mai 2004; Beetz 2005): (a) Insbesondere in strukturschwachen ländlichen Räumen sind seit Beginn der Industrialisierung junge Menschen weggezogen. Heute sind es vor allem die abgewanderten Jugendlichen der 1970er Jahre, die in der Erwerbsbevölkerung fehlen. (b) Die weit über dem Durchschnitt liegenden Geburtenzahlen ländlicher Räume sind seit den 1960er Jahren überproportional zurückgegangen. Nur im Nordwesten und in den südlichen ländlichen Kreisen Deutschlands verlangsamen heute noch höhere Geburtenzahlen und Kinderanteile die Alterung in den ‚jungen’ Landkreisen (z.B. Cloppenburg, Eichsfeld). (c) Zuerst in die agglomerationsnahe, später auch in entferntere ländliche Räume erfolgte seit den 1960er Jahren ein Bevölkerungszuzug in der Familienphase. Die inzwischen einsetzende Alterung dieser frühen Suburbanisierer macht einen bedeutenden Teil des gegenwärtigen Alterungsprozesses aus. (d) Insgesamt verzeichnen ländliche Räume eine überdurchschnittliche Zuwanderung in der Erwerbsaustrittsphase, wobei diese in einigen attraktiven ländlichen Räumen höher ist. Diese Form der Zuwanderung findet sich kaum in sehr strukturschwachen ostdeutschen ländlichen Gebieten. Die suburbanen ländlichen Gebiete in Westdeutschland zeigen mit vier, in Ostdeutschland mit sechs Zuwanderern je 1.000 Einwohner in dieser Altersgruppe die deutlichsten Wanderungsgewinne. Vor allem in den Berlin nahen Gemeinden erhöhten die Suburbanisierer der 1990er Jahre den Anteil Älterer an der Bevölkerung. (e) 117
Zwar weisen die verdichteten Regionen vor allem in Abhängigkeit der höheren Bildungsabschlüsse ihrer Bevölkerung die höchste Lebenserwartung auf, doch stieg diese in den suburbanen und ländlichen Gebieten in den 1990er Jahren besonders an. Diese Entwicklung trifft allerdings für Ostdeutschland nicht zu, hier liegen die suburbanen und ländlichen Gebiete besonders bei den Männern erheblich unter der durchschnittlichen Lebenserwartung (BIB 2007). Tabelle 1:
Indikatoren der regionalen Demografie
Regionalstatistische Indikatoren Fallzahlen Kreise
Deutschland
Ländliche Darunter Darunter Kreise ‚junge’ Kreise ‚alte’ Kreise Ost West (LK) Ost West Ost West 112 327 165 10 26 13 21 Durchschnittswerte Anzahl von Kreisen über dem Durchschnitt der ländlichen Kreise
Anteil über 65-Jähriger an der Bevölkerung 2003 (%)
18,6
17,9
18,3
0
0
13
21
Zunahme des Anteils über 65-Jähriger 1996-2003 (%)
20,5
15,7
20,7
8
15
5
1
Anteil über 75-Jähriger an der Bevölkerung 2003 (%)
7,5
7,8
7,7
0
0
12
21
Wanderungssaldo je 1.000 EW über 65 Jahre 2003
0,5
-0,1
2,0
5
20
2
8
Zusammengefasste Geburtenziffer 2001-03
1,22
1,38
1,4
2
24
0
8
Mittlere Lebenserwartung der Männer 2003
75,2
76,6
75,2
3
25
0
8
Quelle: INKAR 2005, eigene Berechnungen und Darstellung.
Um die Bedingungen ,junger’ und ‚alter’ ländlicher Räume genauer untersuchen zu können, wurden in Tabelle 1 aus der Gesamtheit aller 439 deutschen Stadt- und Landkreise – nach OECD-Definition diejenigen 165 Landkreise mit weniger als 150 Einwohnern je Quadratkilometer als ländliche heraus gefiltert. Innerhalb derer wurden zwei Gruppen mit entgegengesetzter Altersstruktur bestimmt: die 36 ‚jungen’ Landkreise, in denen 14 bis 17 Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre sind, und die 34 ‚alten’, in denen es 20 bis 23 Prozent sind. Die übrigen Landkreise liegen in ihren Werten also zwischen 17 und 20 Prozent. Um die regionalen Bedingungen des Alterns zu untersuchen, wurden diese beiden Gruppen daraufhin ausgezählt, 118
wie viele Landkreise in ausgewählten demografischen sowie im weiteren Text – sozioökonomischen und infrastrukturellen Indikatoren über den Durchschnittswerten der 165 ländlichen Kreise insgesamt liegen. Zum Vergleich wurden jeweils die Durchschnittswerte aller deutschen Stadt- und Landkreise ebenfalls angegeben. Betrachtet man die demografisch ‚alten’ ländlichen Landkreise, so fällt auf, dass sie hinsichtlich der Lebenserwartung und Alterswanderung überwiegend unter dem ländlichen Durchschnitt sind, während viele der ‚jungen’ Landkreise darüber liegen. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass es sich zu einem bedeutenden Teil um traditionelle ländliche Abwanderungsgebiete in geographisch ungünstigen Lagen handelt, gepaart mit niedriger Lebenserwartung und geringer Fertilität (z.B. Landkreis Werra-Meissner-Kreis, Helmstedt, Elbe-Elster). Ein geringerer Teil der ‚alten’ Landkreise ist durch Altersruhesitzgemeinden vor allem in Küsten-, Gebirgs- und Bäderregionen geprägt (z.B. LK Ostholstein, Berchtesgadener Land, Wernigerode). Diese Landkreise zeichnen sich durch hohe Alterszuwanderung, geringe Fertilität und hohe Lebenserwartung aus. Generell sind regionale Altersstrukturen sowohl durch langfristige Trends als auch durch historische Ereignisse und regionale Dynamiken geprägt. Dies zeigt sich in den ausgeprägten Kohortenunterschieden der Altersprofile in Abbildung 1. Im Altersprofil Nordostdeutschlands spiegeln sich sowohl die einzelnen Phasen der Agrar-, Siedlungs-, Gesundheits- und Familienpolitik der DDR als auch Entwicklungen zu Wendezeiten wider. Es gibt auch gegenwärtig ‚alte’ Landkreise, die eine positive regionalökonomische Dynamik erfahren, durch die sich wiederum die demografische Situation verändert (z.B. Landkreis Daun, Uelzen). Auffallend ist, dass die demografische Alterung in vielen ‚jungen’ Landkreisen überdurchschnittlich ausgeprägt ist. Es handelt sich dabei vor allem um alte westdeutsche (z.B. Landkreis Erding) und neue ostdeutsche Suburbanisierungsgemeinden (z.B. Landkreis Bad Doberan, Barnim). Ursachen sind sowohl eine starke Binnenalterung als auch ein hoher Zuzug von Älteren. Ebenfalls von überdurchschnittlicher Alterung sind die ländlich geprägten Siedlungsschwerpunkte der 1950/60er Jahre in der früheren DDR betroffen (z.B. Landkreis Mansfelder Land). Alterung findet dort unter Bedingungen gravierender Abwanderungen und zurückgehender Geburtenzahlen statt. Zu beachten ist außerdem, dass eine kleinräumige Differenzierung nach Gemeinden oder sogar Stadtteilen wesentlich größere Unterschiede als zwischen den Landkreisen hervortreten lässt. Eine solche Betrachtung der Altersstrukturen auf Ebene der Gemeinden beziehungsweise Verbandsgemeinden zeigt zudem unterschiedliche west- und ostdeutsche Muster: Während in Westdeutschland mit Ausnahme der oben angeführten Regionen die altersstrukturellen Unterschiede sehr kleinräumig ausfallen, zeigen sie sich in Ostdeutschland weitaus flächiger. Insgesamt weist der gesamte Osten Deutschlands mit Ausnahme der Berliner Umlandkreise und (noch) einiger Landkreise Mecklenburgs eine überdurchschnittlich ‚alte’ Bevöl119
kerung auf. Die innerhalb der Landkreise auftretenden Differenzen sind auf Präferenzen des Wohnens, des Wohnumfeldes und der Verkehrsverbindungen zurückzuführen: Im Extrem schwanken beispielsweise die Anteile der über 65-jährigen in den Gemeinden des demografisch ‚alten’ Landkreis Ostholstein zwischen 13,5 und 30,9 Prozent. Die ‚jüngeren’ Gemeinden liegen im weiteren Umland von Hamburg, dorthin zogen in den vergangenen Jahren verstärkt junge Familien. Die ‚älteren’ Gemeinden sind Bäderorte an der Ostsee, die sowohl einen starken Zuzug älterer Bewohner als auch den Wegzug Jüngerer erleben. 3. Sozioökonomische Bedingungen des Alterns Obgleich die regionalen Unterschiede der demografischen Alterung sofort ins Auge fallen, erweist sich dennoch eine andere Frage als nicht weniger bedeutsam, nämlich wie sich das individuelle Altern in stark alternden Regionen gestaltet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich nicht nur die Anzahl beziehungsweise der Anteil der Älteren verschiebt, sondern sich das Altsein in ländlichen Räumen verändert. Ein Durchgang durch die ‚alten’ ländlichen Kreise zeigt, dass sie nicht mit strukturschwachen Gebieten gleichzusetzen sind (Tabelle 2). Zudem machen es die Unterschiede zwischen den ländlichen Räumen unmöglich, aus diesem spezifischen Raumtyp konkrete Lebensbedingungen für Ältere abzuleiten. Zwar weisen sowohl in deutschsprachigen (Wiesinger 2005; Chassé 1996) als auch in angelsächsischen (Lowe/ Speakman 2006; Rogers 2002) ländlichen Räumen die Älteren im Durchschnitt einen geringeren Bildungsstand und geringere Einkommen auf, leben häufiger in Armut und zeigen einen schlechteren gesundheitlichen Status. Aber diese Merkmale prägen keineswegs alle Bewohner aller ländlichen Regionen. Die zunehmende Pluralisierung von Lebenslagen lässt uns Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen und Berufsverläufen antreffen, die nicht in der Landwirtschaft oder im Baugewerbe angesiedelt sind. Die Haushalts- und Familiensituation hat sich dahingehend verändert, dass immer weniger ältere Menschen in intergenerationellen Beziehungen leben. Der Wohnkomfort ist in den letzten Jahrzehnten prägnant gestiegen. Doch in nicht wenigen ländlichen Räumen leben gerade Senioren, vor allem in Kleinstädten und Dörfern, unter relativ schlechten Wohnbedingungen, weil eine Modernisierung als unrentabel angesehen wird. Die Altersarmut in traditionell landbewirtschaftenden Familien ist eher rückläufig. Nicht zu vernachlässigen ist aber, dass die insgesamt abnehmende Altersarmut von einer hohen Dunkelziffer begleitet wird und ein Ansteigen in strukturschwachen Regionen anzunehmen ist. Gleichwohl stellen Rentner in vielen ostdeutschen strukturschwachen ländlichen Gebieten eine bedeutende und relativ einkommensstarke Nachfragegruppe dar. Dies ändert sich aber mit der Zunahme von brüchigen Erwerbsbiographien. Der Anteil der Altersrenten, die nach vorangegangener Arbeitslosigkeit oder nach einer 120
Altersteilzeit in Anspruch genommen werden, schwankt regional gegenwärtig zwischen weniger als 10 Prozent (z.B. Oberpfalz, Schwarzwald, Eifel) bis über 30 Prozent (z.B. Landkreis Mansfelder Land). Diese Unterschiede hängen wiederum von vielen Faktoren ab (wie Erwerbsorientierung älterer Frauen, Arbeitsmarktsituation), können aber als Indiz für zukünftige Rentenleistungen angesehen werden. Tabelle 2:
Indikatoren der sozioökonomischen Bedingungen
Regionalstatistische Indikatoren Fallzahlen Kreise
Deutschland
Ländliche Kreise Ost West (LK) 112 327 165 Durchschnittswerte
Gesamtwanderungssaldo je 1.000 EW 2003 -2,2 Einwohnerdichte in EW je km² 2003 156 BIP je Erwerbstätigen in 1.000 EUR 2003 43,7 Beschäftigtenquote nach EW 15-65 Jahre 2003 (%) 44,1 Arbeitslosenquote je Beschäftigte 2004 (%) 19,7 Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss (%) 10,9 Haushaltseinkommen je EW in EUR 2002 1189 Sozialhilfequote
Darunter Darunter ‚alte’ ,junge’ Kreise Kreise Ost West Ost West 10 26 13 21 Anzahl von Kreisen über dem Durchschnitt der ländlichen Kreise
2,7
-0,2
5
25
0
9
264
103
3
21
8
14
58,3
48,1
2
23
0
12
49,
39,4
1
14
5
13
9,2
12,5
9
0
13
4
8,4
9,6
4
5
9
9
1429
1251
2
23
0
18
Quelle: INKAR 2005, eigene Berechnungen und Darstellung.
Zumeist gelten demografisch ‚alte’ oder ‚alternde’ Regionen als problematisch. Als Grund dafür werden Faktoren wie verminderte (soziale) Innovationsfähigkeit, wachsende Stagnation sowie Spannungen zwischen so genannten sozial abhängigen und erwerbstätigen Bevölkerungsgruppen angesehen. Dafür gibt es jedoch keine eindeutigen empirischen Anhaltspunkte. Im Gegenteil, die älteren Generationen nehmen stabilisierende Funktionen in den Gemeinwesen ein und sind eine wichtige Zielgruppe wirtschaftlicher Aktivitäten. Trotzdem lässt sich der Befund nicht von der Hand weisen, dass die meisten der überdurchschnittlich ‚alten’ ländlichen Kreise auch durch Migrationsverluste (zum Teil auch Älterer) sowie niedrigere Qualifikationsniveaus, niedrigeres Bruttoinlandsprodukt, geringere Erwerbsquoten und ein 121
schwächeres Beschäftigungswachstum gekennzeichnet sind (Tabelle 2). Dagegen sind die Effekte beim Haushaltseinkommen, der Arbeitslosenquote, der Besiedlungsdichte und den kommunalen Steuereinnahmen nicht so eindeutig. Eine unterdurchschnittliche Beschäftigung der älteren Erwerbsbevölkerung zwischen 55 und 65 Jahren sowie frühe Invalidisierungen lassen für die Zukunft eine Fortsetzung neuer prekärer Lebenslagen in dem aktuell sicheren Rentenstatus erwarten. Hinsichtlich der regionalökonomischen Bedingungen stehen die Altersruhesitzräume deutlich besser dar. Nicht das Altern an sich ist das Problem, aber einige strukturschwache Landkreise stehen durch die demographische Alterung vor großen Anpassungsproblemen und das Älterwerden findet dort unter weitaus schwierigeren Bedingungen statt. Für die Älteren selbst kann das – sonst durchaus wünschenswerte – Altern vor Ort zu einem Problem werden. Die Älteren sind durch Immobilien, soziale Netzwerke, wirtschaftliche oder bürgerschaftliche Tätigkeitsfelder an ihren Wohnort gebunden, aber diese Absicherungen greifen nur noch ungenügend. Noch ein weiterer Aspekt ist wichtig: Die regionalen Bedingungen können von den Älteren in Abhängigkeit von ihrer sozialen Position und ihren Ressourcen unterschiedlich ausgeglichen werden – oder eben auch nicht. Die Alten mit höheren Bildungsabschlüssen sind eher artikulations-, konflikt- und kundenfähig sowie selbstorganisiert. Demografischer Wandel, Organisation der kommunalen Daseinsvorsorge und sozioökonomischer Status sind deshalb als Bedingungsfaktoren des Alterns jeweils gesondert zu beachten (Lowe/Speakman 2006). Umstritten ist in der Diskussion um die Rahmenbedingungen des Alterns, welche Lebensbedingungen des Alterns ländliche Räume nun tatsächlich bieten können. Betrachtet man die Gesamtheit der wirtschaftlichen, infrastrukturellen, sozialen und naturräumlichen Dimensionen der Lebensqualität, so kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen. Sicherlich weisen viele ländliche Räume die stärksten Vorteile bei naturräumlichen Qualitäten auf, aber auch hier zeigen sich große Unterschiede hinsichtlich der Attraktivität von Klima, Topographie und Landnutzung. Es kann eingeschätzt werden, dass die regionalökonomischen Bedingungen die Qualität des Alterns in vielen ländlichen Räumen einschränkt. Ebenso verweisen Untersuchungen eindeutig auf Versorgungsdefizite von älteren Menschen in ländlichen Gebieten, auf die im Folgenden noch ausführlicher eingegangen wird. Nur der geringere Teil der demografisch ‚alten’ ländlichen Räume ist als Altersruhesitze zu betrachten; überwiegend handelt es sich um dünn besiedelte, agrarisch strukturierte, schrumpfende und strukturschwache Räume. Dies entspricht auch den Entwicklungen in anderen spätindustriellen Staaten (Reeder/Calhoun 2002). So ist die Frage nicht eindeutig zu beantworten, welches der beste Raumtyp zum Altern ist, auch wenn immer wieder die Dienstleistungsmaschine Großstadt, die Überschaubarkeit der Kleinstadt oder das Mehrgenerationendorf für eine solche Interpretation herhalten müssen. Hierfür sind nicht nur die unterschiedlichen Lebenslagen und 122
bedürfnisse älterer Menschen zu berücksichtigen, sondern eben auch, wie die Daseinsvorsorge organisiert werden kann. 4. Umbau der Daseinsvorsorge Der Umbau der kommunalen Daseinsvorsorge umfasst ein sehr breites Spektrum von Einrichtungen und Dienstleistungen, die unter kommunaler, privatwirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Regie organisiert werden, um menschliches Dasein zu sichern sowie Kommunikation und Austausch zu ermöglichen. Die Alterung der Bevölkerung erfordert nicht nur eine Veränderung der wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme, wie häufig zu hören ist, sondern auch der Organisation der Daseinsvorsorge auf kommunaler Ebene. Beide Aspekte hängen nicht nur finanzpolitisch eng miteinander zusammen. Gerade unter dem Eindruck bedeutender regionaler Unterschiede des Alterns würde es Sinn machen, auf dieser Ebene differenzierte Lösungen anzustreben. Voraussetzung dafür sind aber belastbare Akteurskonstellationen. die wiederum danach zu unterscheiden sind, wer der Träger einer Dienstleistung oder Einrichtung ist, in wessen Hand die Finanzierung liegt, wer für Sicherstellung, Planung und Qualität verantwortlich ist. Daraus ergibt sich ein kompliziertes Geflecht von Zuständigkeiten in den einzelnen Daseinsbereichen. Dieses wirkt oft blockierend, weil Organisationsgrad und Durchsetzungsfähigkeit der Akteure mehr über Veränderungen entscheiden als die tatsächlichen regionalen und lokalen Erfordernisse. Darüber hinaus besteht momentan wenig Klarheit in den Kommunen, welche Anforderungen an einen Umbau der Daseinsvorsorge hinsichtlich der zukünftigen Alten bestehen. Die altersgerechte Entwicklung der kommunalen Daseinsvorsorge bildet die Voraussetzung für die Lebens- und Wohnqualität von Gemeinden. Infrastruktur besitzt eine herausragende Rolle für die Erhaltung und Verbesserung der Aktivität und Teilhabe älterer Menschen. Daran knüpfen sich bestimmte Aufgabenbereiche, die sich aus altersspezifischen Bedürfnissen beim Wohnen, bei der Mobilität und in Gesundheit und Pflege ergeben. Im Kerngeschäft der kommunalen Daseinsvorsorge spielte die Zielgruppe der Älteren über lange Jahre eine untergeordnete Rolle, sieht man vom Unterstützungsbedarf für Hochaltrige ab. Dies mag dazu beitragen haben, dass in der kommunalwissenschaftlichen Diskussion um demografische Veränderungen dem Thema Alterung weniger Aufmerksamkeit zuteil wurde: Es dominierte bislang eindeutig die demografische Schrumpfung, weil daraus unmittelbar Anpassungsmaßnahmen abgeleitet werden, um Kostenremanenzen zu reduzieren. Dabei spielte der Rückgang der Anzahl von Kindern und Jugendlichen die herausragende Rolle, weil hier die Effekte für die kommunalen Haushalte besonders gravierend sind und die Bildungspolitik der Länder enge Spielräume setzt. Deshalb konzentrieren sich viele 123
Kommunen auf den Rückbau und den Erhalt von funktionsgerechter Daseinsvorsorge, ohne zielgruppenspezifische Akzente für ältere Bewohner zu setzen. Darin liegt eine große Gefahr, zumal der Umbau der Infrastruktur nicht nur eine quantitative, sondern eine qualitative Herausforderung darstellt (Winkel 2006). Stärker als bisher ist darauf zu achten, dass die Gewährleistung und Entwicklung von Infrastruktur der aktiven Teilhabe und den veränderten Bedarfen älterer Menschen gerecht werden. Das fängt mit den unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Sicherheitsbedürfnissen im öffentlichen Raum an. Es erweist sich als sinnvoll, beim Umbau von Einrichtungen altersspezifische Erfordernisse zu berücksichtigen, aber nicht eine Infrastruktur für Ältere zu entwickeln. Die altengerechte Infrastruktur steht nicht allein, denn häufig sind andere Zielgruppen – wie Familien, Jugendliche oder Behinderte – gleichermaßen betroffen. Die Einschätzung der Daseinsvorsorge für Ältere gründet sich auf drei verschiedenen Aspekten: dem infrastrukturellen, dem sozioökonomischen und dem psychologischen (Johnson et al. 2006). Erstens ist das Angebot selbst entscheidend, wobei eine Reihe von Befunden in die Richtung weist, dass in vielen ländlichen Regionen die Angebotsdichte der Daseinsvorsorge nur unterdurchschnittlich entwickelt ist. Hinzu kommt, dass die erforderliche Spezialisierung und Angebotsbreite fehlt. Zweitens sind es die Zugangswege, die wiederum mit bestimmten Kosten und Ressourcen von Seiten der Nachfrager verbunden sind. Der Rückzug der Infrastruktur aus der Fläche kollidiert mit dem aus der Alternsforschung bekannten stärkeren Wohnumweltbezug Älterer, die auf Grund eingeschränkter Mobilitätsmöglichkeiten stärker auf ihr unmittelbares Wohnumfeld angewiesen sind. Vor allem in der angelsächsischen Literatur wird verstärkt die zunehmende Spaltung zwischen reichen und armen Alten und die unterschiedlichen Zugangswege von alten und neuen Bewohnern diskutiert. Arme Alte fallen zwar in der Öffentlichkeit zwar weniger auf, aber sie beschneiden ihre Aktivitäten. Drittens ist es schließlich das Nachfrageverhalten der Älteren selbst, das die Daseinsvorsorge bestimmt. Aus kulturellen Gepflogenheiten, sozialer Kontrolle, Bescheidenheit oder Schamgefühl werden Dienstleistungen nicht in Anspruch genommen. Die demografische Alterung wird die fiskalischen Strukturen der kommunalen Haushalte deutlich verändern. So wird im Allgemeinen angenommen, dass die Einnahmen bei einem hohen Anteil an älterer Bevölkerung sinken und die Ausgaben für soziale und gesundheitliche Leistungen steigen. Der Rückgang der Steuereinnahmen wird nicht durch die Versteuerung der Renten ausgeglichen. Infolge des altersabhängigen Profils der kommunalen Ausgaben reduzieren sich diese durch den zahlenmäßigen Rückgang von Kindern und Jugendlichen, aber es wachsen die Aufgaben durch die Zunahme von Hochaltrigen, weil der Betreuungsbedarf wieder ansteigt (Seitz 1998, 2005). Die drastische Ausgabensteigerung beim Sozialgeld für Ältere in den letzten Jahren ist vor allem auf statistische Effekte zurückzuführen, die demografischen und sozialstrukturellen Auswirkungen sind erst noch zu erwar124
ten. Schwer abzuschätzen ist, inwieweit sich die kommunalen Sozialausgaben durch eine unzureichende Finanzausstattung der Sozialversicherungen erhöhen werden. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass ländliche Kommunen von einem leicht höheren Lastenindex betroffen sind, weil sie sowohl einen etwas höheren Kinder- als auch Seniorenanteil aufweisen (Maretzke 2001). Aufgrund verschiedener Ausgleichsmechanismen wirkt sich jedoch die so genannte Abhängigenquote auf kommunaler Ebene nicht unmittelbar auf die Haushaltssituation aus. Die demografische Alterung ist nicht der einzige Anlass über die kommunale Daseinsvorsorge nachzudenken. Zwar stehen Kommunen mit einem Wandel in der Einwohnerzahl und -struktur in relativ kurzer Zeit oft vor großen Problemen bei der Finanzierung, aber der Demografische Wandel ist zumeist nicht alleinige Ursache, sondern vielmehr der Katalysator (Seitz 1998). Die Notwendigkeit von langfristigen Veränderungen erfordert neue Planungsprozesse, ist aber auch erschwert durch Unsicherheiten in Bezug auf regionale und lokale Entwicklungen, die von überregionalen Trends abweichen. Demgegenüber gerät die gesamte Daseinsvorsorge unter einen doppelten Druck. Zum einen erfährt sie eine veränderte Nachfrage, zum anderen wird mehr Effizienz verlangt. Dieser resultiert nicht nur aus einer verstärkten Liberalisierung und Privatisierung, sondern auch Ökonomisierung von öffentlichen Dienstleistungen. Die über lange Zeit in der Symbiose von Wohlfahrtsstaat und Kommunalverantwortung sich entwickelnde Daseinsvorsorge stellt einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor dar, der auch für private Unternehmen interessant ist. Es deutet einiges darauf, dass diese Entwicklungen für ländliche Räume mittelfristig eher Probleme mit sich bringen, weil es ihnen schwer fällt, sich auf den Innovations- und Wettbewerbsdruck einzustellen (Thierstein/Abegg 2003; Machold/ Tamme 2005). 5. Daseinsvorsorge für Ältere im ländlichen Raum Es gibt eine gut fundierte, wenn auch überschaubare Literatur, die die Spezifika ländlicher Räume im Hinblick auf das Älterwerden beschreibt (z.B. Schweppes 2005; Fischer et al. 2001; Walter/Altgeld 2000). Dabei ist erkennbar, dass sich die Anforderungen an die Daseinsvorsorge für ältere Menschen auch in ländlichen Räumen verändern. Altern erfolgt unter unterschiedlichen Lebensbedingungen und in pluralisierten Lebensformen. Dies ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Zum einen entwickelte sich das Alter biographisch zu einer Phase des Ruhestandes. Es wird nicht mehr bis an das Lebensende gearbeitet wie es für die landwirtschaftliche Arbeitsverfassung typisch war. Zwar ist auch in spätindustriellen Gesellschaften der Anteil von Selbstständigen jenseits der 65 Jahre und auch die Eigenarbeit in Haus und Garten weiterhin hoch, doch steigt der Stellenwert von Freizeit, Wellness, Kultur und Reisen. Vielerorts ist das Angebot darauf nicht eingestellt. Zum anderen 125
wird die Unterstützung von Älteren nicht mehr allein in den Familien erbracht. Das hängt mit der höheren Mobilität und Multilokalität der Familien zusammen, aber auch mit der Professionalisierung von Pflegeleistungen. Dadurch steigt die öffentliche und privatwirtschaftliche Aufgabe, das Altwerden zu unterstützen. Interessant ist die Frage, ob einige ländliche Regionen stärker modernisiert sind, während in anderen noch traditionelle Lebensverhältnisse vor allem bei den Älteren vorherrschen. Solche Modernisierungslücken bestehen beispielsweise in Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Dienstleistungen sowie der Veränderung bisheriger Pflegearrangements, bedingt durch erhöhte Erwerbsbeteiligungen, Abwanderung, Familien- und Geschlechterbeziehungen. Erforderlich ist jedenfalls ein Umgang mit zunehmender Differenzierung des Alterns auf dem Land, der sich auch in veränderten Mobilitäts- und Dienstleistungsangeboten ausdrücken muss. Schwierig ist einzuschätzen, ob traditionelle Pflegearrangements kulturell oder durch das schlechte Angebot begründet sind. In den Privathaushalten wird um so mehr selbst gepflegt, je schlechter professionelle Pflegeleistungen sind, je mehr nicht erwerbstätige junge Alte es gibt und je gewichtiger das Haushaltsbudget dadurch aufgebessert wird. Von den vielfältigen Aspekten der Daseinsvorsorge sollen die medizinischen und pflegerischen Angebote eingehender behandelt werden.2 Die nicht zuletzt auf Grund der Multimorbidität des hohen Alters bedeutsame ärztliche Versorgung stellt in vielen ländlichen Regionen ein Problem dar, weil grundlegende Angebote in zumutbarer Entfernung nicht erreichbar sind. In den ostdeutschen ländlichen Räumen zeichnen sich bereits jetzt Versorgungsdefizite ab (z.B. Lausitz, Vorpommern, Müritzregion). Besonders betroffen ist davon die haus- und notärztliche Versorgung. Trotz Bevölkerungsrückganges wird die Alterung einen gleichbleibenden Bedarf an ärztlicher Betreuung nach sich ziehen. Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung ist, dass vor allem im Bereich der niedergelassenen Ärzte die Arbeitsbedingungen wenig attraktiv sind (kurzum weniger Lohn für mehr Arbeit) und dadurch die Besetzung von frei werdenden Praxen fast unmöglich wird. Die Organisation lokaler gesundheitlicher Versorgungssysteme für Ältere steht in Deutschland zudem noch in den Anfängen. Wichtig ist es, komplementäre Angebote und Abstufungen zu entwickeln, wie beispielsweise in den Modellprojekten zur Gemeindeschwester.
2 Vgl. dazu ausführlicher das MORO Projekt Infrastruktur im demographischen Wandel (Thrun/ Winkler-Kühlken 2005) und die Ergebnisse der Arbeitsgruppe LandInnovation der BBAW (z.B. Beetz 2007).
126
Tabelle 3:
Indikatoren der Daseinsvorsorge
Regionalstatistische Indikatoren Fallzahlen Kreise
Deutschland Ost 112
West 327
Ländliche Darunter Kreise ‚junge’ Kreise (LK) Ost West 165 10 26
Durchschnittswerte
Einwohner je niedergelassenen Arzt 2003 Pflegeheimplätze je 1.000 EW 2003 Sachinvestitionen an Kommunalausgaben (%)
Darunter ‚alte’ Kreise Ost West 13 21
Anzahl von Kreisen über dem Durchschnitt der ländlichen Kreise
643
626
841
9
16
9
4
8,6
8,7
8,8
2
6
4
17
37,1
15,8
32,1
10
10
12
0
Anteil EW bis zu 30 min PKW Fahrweg zum Oberzentrum (%)
67
77
39,7
8
18
2
7
Anteil 50 bis 65-Jähriger an EW (%)
20,1
18,3
18,6
8
1
13
13
Quelle: INKAR, eigene Berechnungen und Darstellung
Das Pflegeangebot zeigt ebenfalls regionale Unterschiede. Eine traditionell geringe Dichte an Plätzen in Senioren- und Pflegeheimen weisen die ländlichen Gebiete südlich von Stuttgart, westlich von Dortmund und im südlichen Hessen auf (Koch et al. 1986). Das geringere Angebot ist teilweise auf den suburbanen Einzugsbereich (z.B. Landkreis Würzburg Land), auf eine geringere Anzahl von Pflegebedürftigen (z.B. Landkreis Freising) oder auf die familialen Pflegeaktivitäten (z.B. Landkreis Emsland) zurückzuführen, dokumentiert aber auch Unterversorgungen. Diese wird besonders beim Auslastungsgrad der Pflegeheime deutlich. Einige (vor allem ostdeutsche) Landkreise zeigen auf Grund der demografischen Entwicklung eine hohe Auslastung von 99 Prozent, bei der eigentlich von einer Unterversorgung gesprochen werden kann (z.B. Landkreis Sangerhausen, Muldentalkreis, Uckermark). Andere (vor allem bayrische) Landkreise zeigen eine Auslastung unter 75 Prozent (z.B. Landkreis Rhön-Grabfeld, Oberallgäu, Uelzen, Westerwaldkreis). Vor allem in Ostdeutschland, aber auch in Ostniedersachsen, Saarland und Ostfranken ist in den Pflegeheimen die Personalausstattung problematisch. Regional unterschiedlich ist auch das Verhältnis von familiärer und professioneller, ambulanter und stationärer Pflege. Auf der Ebene der Landkreise variiert die vollstationäre Dauerpflege zwischen über 45 Prozent (z.B. Straubing) und 15 Prozent (z.B. Landkreis Saalkreis, Emsland, Südwestpfalz). 127
Defizite in der infrastrukturellen Ausstattung ‚alter’ ländlicher Räume wirken umso gravierender, weil viele alte Menschen auf das Angebot vor Ort angewiesen sind. Tabelle 3 zeigt unter anderem, dass diese Gebiete eher zentrenfern liegen und schwerer zu erreichen sind, was wiederum den Zugang zu Infrastruktureinrichtungen erschwert. Besonders in den nordbrandenburgischen und nordanhaltinischen Gebieten, dem Emsland, Südharz, Thüringer Wald und Alpenvorland gibt es viele Gemeinden, die mehr als 60 Minuten Fahrtzeit mit dem PKW von einem Oberzentrum entfernt liegen. Teils aufgrund von Effizienzsteigerungen, teils wegen Spezialisierungen nimmt die Zentralisierung von Angeboten zu, ohne dass die Erreichbarkeit abgedeckt ist. Zudem werden Fahrtkosten in den Pflegekosten und ärztlichen Leistungen nicht angemessen berücksichtigt, so dass diese durch die Patienten erbracht und Angebote eingeschränkt werden. Wenn die Unterversorgung mit Geschäften und Dienstleistungen besonders hoch ist, steigen wiederum die Mobilitätsanforderungen (Wahl et al. 1999). Wenn im vorigen Abschnitt die große Bedeutung der Kommunen insbesondere für die ländliche Daseinsvorsorge herausgestellt wurde, so ist diese Aussage nicht nur wegen des europäischen Umbaus der Daseinsvorsorge, sondern auch wegen der Strukturschwäche vieler ‚alter’ Landkreise mit einem deutlichen Fragezeichen zu versehen. Vor allem in den ‚alten’ westdeutschen Landkreisen sind die Sachinvestitionen wesentlich niedriger als im Durchschnitt der ländlichen Räume (Tabelle 3). Das zeitigt Folgen für die qualitative Veränderung einer altengerechten Infrastruktur. Inwieweit die ländliche Daseinsvorsorge durch Nachbarschaften und bürgerschaftliches Engagement unterstützt werden kann, ist eine wichtige Frage, die nicht einfach zu beantworten ist. Unterstützungsnetzwerke sind in den strukturschwachen ‚alten’ Gebieten durch Abwanderung und Pendelwanderungen stark eingeschränkt (Fischer 2005). Es gibt in vielen demografisch ‚alten’ ländlichen Räumen junge Alte zwischen 50 und 70 Jahren, die sich für andere Ältere engagieren. Was im Pflegebereich nicht unbedingt leistbar ist, ist aber in vielen anderen Unterstützungsbereichen und im kulturellen Leben möglich. Trotzdem sind hier Brüche zu konstatieren: Vereine werden als nicht mehr zeitgemäß empfunden. Verschieben sich die sozialen Strukturen und Milieus, so hat dies Auswirkung auf die Aktivitätsmuster in einer Gemeinde, wer sich wie engagiert. Zwar engagieren sich viele Zugezogene für ihr soziales Umfeld, aber auch mit anderen Zielvorstellungen. Gerade in den ostdeutschen ländlichen Räumen hat sich die demografisch starke Generation der über 50-Jährigen oft zurückgezogen und zeigt sich enttäuscht von den Nachwendeerfahrungen. Teilweise erfolgt das Engagement auch weniger demonstrativ, mehr in einfacher Nachbarschaftshilfe.
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6. Daseinsvorsorge für Ältere als kommunales Konzept Es ist zu betonen, dass der Umbau der Daseinsvorsorge auf kommunaler Ebene ein wichtiges Thema ist, gerade weil bei der Diskussion um eine demografisch alternde Gesellschaft nationale Aspekte der Sozialversicherung im Vordergrund stehen. Demgegenüber dominiert in der gegenwärtigen Diskussion um die Entwicklung der kommunalen Daseinsvorsorge die ‚Entjüngung’ und ‚Schrumpfung’ der Bevölkerung. Hervorzuheben ist, dass weder das demografische Altern an sich ein Problem noch die Lebensqualität ländlicher Räume grundsätzlich schlechter ist. Doch kumulieren in vielen ‚alten’ ländlichen Kreisen die demografischen, infrastrukturellen und sozioökonomischen Problemlagen. Dies führt zur Verfestigung sozialräumlicher Defizite bei eingeschränkten Abwanderungsoptionen der Bewohner. Auf der kommunalen Ebene ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem demografischen, sondern auch mit dem gesellschaftlichen Altern notwendig. Es stehen eine Reihe von Fragen an, wie die Spezifika ländlicher Daseinsvorsorge in moderne und plurale Lebensformen übersetzt werden können, das heißt, wie eine Vielfalt von Anforderungen gewährleistet werden kann. In ländlichen Räumen ist der Ausdifferenzierung von Lebenslagen und Lebensformen mehr Beachtung zu schenken, auch wenn es erklärtes politisches Ziel bleiben sollte, sozialräumliche Spaltungen und Segregation zu verhindern. Dafür existiert eine Reihe an Beispielen von multifunktionalen und flexiblen Versorgungsstrukturen, die allerdings einen entsprechenden politischen Handlungsspielraum und die Innovationsfähigkeit auf der kommunalen Ebene erfordern. Hier bestehen häufig strukturelle Schwierigkeiten. Untersuchungen in ländlichen Gemeinden zeigen beispielsweise, dass auf der kommunalen Ebene die Probleme älterer Bewohner oft ignoriert oder bagatellisiert werden, auch wenn deren Lebenssituation sehr angespannt ist (Fischer 2005). Die durchaus sinnvolle Kompetenzverlagerung auf die lokale und regionale Ebene ist nur dann möglich, wenn damit auch eine Klärung der Verantwortlichkeiten, Ausgleichsleistungen und Qualitätsstandards verbunden ist. Grundsätzlich gilt jedoch, dass die Sicherung der Daseinsvorsorge nicht über generell gültige Mindeststandards zu regeln sein wird, sondern nur über die Sicherung kommunaler Handlungsfähigkeit und den angepassten Umbau der Daseinsvorsorge vor Ort. Allgemein geeignete politische Strategien sind in dieser Hinsicht nicht zu benennen, auch wenn eine Reihe von Modellprojekten - wie die der Bertelsmannstiftung oder des BBR - genau dieses Thema bearbeiten. Einige ‚alte’ Kommunen gehen sehr offensiv damit um, andere setzen immer noch auf eine demografische Wende durch den Zuzug einkommensstarker junger Familien. Nicht wenige Kommunen streben derzeit eine Profilierung im Bereich des demografischen Wandels an, zum Beispiel beim Aufbau der Gesundheitswirtschaft. Inwieweit hier auch überregionale Effekte erzielt werden können, dürfte nicht alle Hoffnungen zufriedenstellen. In den USA wird die Altersruhewanderung gezielt als 129
regionale Entwicklungsstrategie eingesetzt. In Deutschland lässt sich eine solche aktive Politik für Seniorengemeinden nicht beobachten. Altenpolitik setzt sich eher als Generationenpolitik durch. Es ist auch nicht wahrscheinlich, dass sich entwicklungsschwache ländliche Regionen in größerem Maßstab dadurch profilieren können. Kleinräumig gedacht macht es Sinn, Wohnkonzepte in Kombination mit Nahversorgung und guter Mobilitätsanbindung zu entwickeln. Dazu zählt auch ein entsprechender Unterstützungs-, Beratungs- und Beteiligungsbedarf. Nicht zielführend ist eine staatliche Subventionierung der demografischen Konkurrenz zwischen den Kommunen. In diesem Rahmen ist auch ein gegenwärtig oft vorgebrachtes Argument zu prüfen, dass die Lebensqualität Älterer in Innenstädten höher sei. Kommunale Konzepte stellen ein wichtiges Mittel für eine altersgerechte Entwicklung der Daseinsvorsorge dar, um Bereichsplanungen zu koordinieren, öffentliche Beteiligung zu erreichen und die Lebensvorstellungen der (zukünftig) Älteren zu eruieren. Auch wenn die marktwirtschaftliche Organisation der Daseinsvorsorge zunimmt, besitzen Kommunen eine wichtige Aufgabe in der Moderation und Koordination. Es erweist sich oft als sinnvoll, solche Prozesse in ländlichen Räumen extern zu begleiten und die klassischen Formen der Altenhilfekonzeption weiter zu entwickeln (AfA 2007). Grundsätzlich sollte für den konzeptionellen Umbau der Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen eine Doppelstrategie gelten: Einerseits ist die Qualität der Daseinsvorsorge in den sozialen und gesundheitlichen Bereichen zu stärken. Andererseits werden die Unterstützungsnetzwerke, der „Not- und Terrorzusammenhang“ (Jeggle/Ilien 1978) vor Ort, weiterhin eine große Rolle spielen. Abhängigenquoten, in denen die Zahl der über 65-Jährigen auf die Erwerbsbevölkerung bezogen werden, sind für einige Aspekte kommunaler Entwicklung relevant, für viele andere verzerren sie die Sichtweise: So sind die Älteren unverzichtbar für die Erhaltung der Daseinsvorsorge wie das soziale und kulturelle Leben auf dem Land.
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Anpassungsstrategien an schrumpfende Versorgungsstrukturen – Beispiele aus Brandenburg und Niedersachsen Karl Martin Born
Die Auseinandersetzung mit möglichen Anpassungsstrategien an schrumpfende Versorgungsstrukturen folgt der gegenwärtig intensiven Bearbeitung von Regressionsprozessen in ländlichen Räumen, die unter dem Begriff der Schrumpfung subsumiert werden. Begleitet wird diese Entwicklung zudem durch die Überalterung und die Demobilisierung der Bevölkerung aufgrund des Rückgangs individueller und öffentlicher Mobilitätsbefähigungen und -angebote. Neben diesen demografischen und sozialen Aspekten wird die Thematik aber in wesentlichen Teilen auch von planerischen und politischen Handlungssträngen durchzogen: Hier zählen insbesondere die Neuordnung und Anpassung der zentralörtlichen Netze an die demografische Entwicklung der Regression und Alterung einerseits und die finanzpolitischen Handlungsspielräume andererseits. In diesem Kontext konzentriert sich die vorliegende Studie auf die Untersuchung reaktiver Anpassungsstrategien. Drei Hauptfragestellungen stehen im Mittelpunkt: Zunächst wird die Ausstattung mit Versorgungseinrichtungen in den Untersuchungsgebieten geklärt und hierbei insbesondere die räumliche Konzentration dieser Einrichtungen in ihren Auswirkungen für die Menschen in der relativen Peripherie dargestellt. Zu dieser Thematik gehört auch die Erhebung der Zufriedenheit mit dem Versorgungsstand in den einzelnen Raumkategorien. Ein zweiter Fragenkomplex widmet sich den Anpassungsstrategien von Konsumenten und Anbietern an die jeweiligen Schrumpfungsprozesse in Angebot und Nachfrage. Hierbei bedarf es vor allem einer räumlichen Differenzierung der jeweiligen Strategien, der Berücksichtigung historischer Traditionen der Selbstversorgung und der Diskussion der Nachhaltigkeit derartiger Lösungsansätze, wie sie von der Politik unter dem Stichwort „Hilfe zur Selbsthilfe“ dankbar aufgenommen werden. Besonderes Augenmerk soll dabei auf die Differenzierung zwischen kollektiven und individuellen Anpassungsstrategien der Betroffenen gelegt werden. Letztlich werden aus diesen Befunden Handlungsoptionen für Planung, Kommunalpolitik und Versorger abgeleitet. Gegenstand der Darstellung ist die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Gütern mittlerer Reichweite; Aspekte der Versorgung mit medizinischen Dienstleistungen oder anderen tertiären oder quartären Dienstleistungen bleiben unberührt. 133
1. Stand der Forschung Der Rückgang der Versorgungsinfrastruktur in ländlichen Räumen ist ein Prozess, der nach Henkel (2004:328) bereits seit drei Jahrzehnten zu beobachten ist und zu einer Halbierung des vorherigen Angebots geführt hat. Als Ursachen benennt er auf der Angebotsseite Preisdruck und Marktmacht von Anbietern in Städten und auf der Nachfrageseite Mobilität, Änderungen im Kaufverhalten, Preissensibilität und Orientierung auf die Städte. In einer Studie zu Dienstleistungen im ländlichen Raum des südlichen Brandenburg konstatiert Ellger (2000) gleichfalls einen deutlichen Rückgang der Versorgungsqualität, den er im Sinne der „funktionsräumlichen Maßstabsvergrößerung“ (Kunst 1985) als einen Anstieg der Reichweiten, eine Reduktion der Handlungsspielräume und eine Belastung dörflicher Haushalte interpretiert. Demgegenüber steht allerdings eine relativ hohe Zufriedenheit der Menschen in ländlichen Räumen, die Schenk/Schliephake (1989:175) als „Zufriedenheit der Zurückgebliebenen“ bezeichnen. Bereits anhand dieser Einschätzungen wird deutlich, wie schwer der Umgang mit diesen Schrumpfungsprozessen erscheint – insbesondere dann, wenn eine Problematisierung möglicher Versorgungsdefizite unterbleibt: „Vermutete Defizite im Bereich der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs in kleinen Dörfern ohne entsprechende Einrichtungen des Einzelhandels erweisen sich nach übereinstimmender Auskunft der Experten als nicht begründet. Durch die hohe Mobilität der Einwohner in Verbindung mit dem sozialen Zusammenhalt in der Bevölkerung (Einkaufen in Supermärkten zentraler Orte und „Mitbringen“ von Waren für immobile Personen) und fahrende Verkaufsstellen (Bäcker, Einzelhandel, spezialisierte Fischverkäufer usw.) sei die Versorgung sichergestellt. Die mit relativ enger Frequenz („es klingelt dauernd“) die Orte ansteuernden mobilen Verkaufsstellen nehmen als Treffpunkte von Teilen der Dorfbevölkerung auch soziale Funktionen wahr.“ (Becker 2000:158). Erklärungsansätze für Tendenzen der Veränderungen von Infrastrukturen finden sich jüngst bei Beetz (2007:14-15), der ein neues Verständnis von öffentlichen Aufgaben, eine Veränderung der Trägerlandschaft, innovative Leistungserbringungen und Entstandardisierungen von Lebenslagen und Lebensstilen als wesentliche Triebfedern für Veränderungen identifiziert. Dass derartige Ansätze primär die Anbieterseite fokussieren, erscheint in Anbetracht des Rückzugs der Anbieter aus der Fläche nachvollziehbar, dennoch bleibt zu fragen, welche Rolle die Betroffenen in derartigen Diskursen spielen. Deutlich wird diese Perspektive in der Ausdeutung von gleichwertigen Lebensbedingungen als gleiche Möglichkeiten und Chancen aus institutionenfixierter Perspektive wie sie Hansen (2007) umreißt. Dem Postulat einer Berücksichtigung der Ansprüche der Betroffenen nähert sich Keim (2007), wenn er zwei Argumentationsfiguren zum öffentlichen Gestaltungsanspruch im Bereich der Infrastruktur skizziert und insbesondere die Frage der Ausstattungsniveaus mit Fragen der kooperativen Planung (governance) in Verbindung bringt. 134
Aus wirtschaftsgeografischer Sicht ist die Schrumpfung von Versorgungsstrukturen unter anderem durch Löffler (2004) erläutert und auf Interaktionen zwischen Einzelhandelsunternehmen, Konsumenten und politischen Entscheidungsträgern zurückgeführt worden. Besondere Bedeutung kommt hier einerseits den handelsexogenen (Bevölkerungsrückgang, Kaufkraftrückgang, verändertes Einkaufsverhalten mit geringerer Einkaufshäufigkeit und höherer Reichweite) und handelsendogenen Faktoren (Wandel der Betriebsformen durch Konzentration und Rationalisierung; Marktmacht von Ketten, Kostenreduzierung) zu. Allerdings konstatiert Löffler (2004:82), dass sich die Ursache-Wirkungs-Relationen in diesem Akteursdreieck nur partiell eindeutig aufzeigen lassen. Im weitesten Sinne lässt sich der Rückzug von Warenangeboten und Betriebstypen aus dem ländlichen Raum mit der Umfeldtheorie des Einzelhandels erklären, der zufolge sich Einzelhandelsstrukturen funktional abhängig von Veränderungen im sozioökonomischen und -demografischen Bereich entwickeln und sich an neue wirtschaftliche, demografische, soziale, technologische und rechtliche Bedingungen anpassen (Jürgens 1998:34). Aus planerischer Perspektive genügt ein Verweis auf die Handlungsempfehlungen der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (2006), in denen explizit die Gewährleistung verkehrlicher Mobilität und Erreichbarkeit gefordert wird. Dieses Postulat baut auf intensive Forschungen zur Gewährleistung von Dienstleistungen in ländlichen Räumen auf (Winkler-Kühlken 2005; Winkel 2006). Grundsätzlich, und an dieser Stelle hakt dieser Beitrag ein, werden Anpassungsstrategien an Schrumpfungsprozesse aus der Perspektive der Bevölkerung nur in geringem Umfang berücksichtigt: Individuelle Mobilität und Nachbarschaftshilfe werden genannt (Ellger 2000:56; Feldmann 1996:201; Stöber 2006), aber in ihrer Ausgestaltung nicht weiter ausgeführt. Ansätze zu einer derartigen Betrachtung leisten hingegen Baier et al. (2005:200) in ihrer Studie zu dörflichen Interaktionen und Tauschmustern, in der sie insbesondere die Verflechtungen zwischen formellem und informellem Wirtschaften herausarbeiten. Auch wenn ihr Untersuchungsdorf über eine umfangreiche Versorgungsinfrastruktur verfügt, spielen Nachbarschaftshilfe und Tauschgeschäfte eine erhebliche Rolle für die Unterstützung älterer Menschen und der Stärkung des Gemeinschaftsgefühls. Den wichtigen Aspekt der Selbstversorgung beziehungsweise der Ergänzung des Angebots stellen Fock und Tillack (2006) für die Region Mecklenburgische Seenplatte dar; hier spielen vor allem Traditionslinien eines eigenständigen Anbaus eine wesentliche Rolle. Die Problematik der schrumpfenden Versorgungseinrichtungen in ländlichen Räumen ist auch zu einem Forschungsgegenstand der Soziologie und hier insbesondere der Ungleichheitssoziologie geworden. Neu (2006) vertritt die These, dass territoriale Ungleichheit nicht nur auf der Ebene der Weltgesellschaft, sondern auch innerhalb von (National-)Staaten ein wichtiges Forschungsfeld für die Soziologie darstellt und nennt als thematische Beispiele für eine derartige Ungleichheit unter anderem ökonomische Strukturschwächen und Entfernungen zu Ballungsräumen. 135
Zur theoretischen Annäherung greift sie auf Bourdieus Modell des sozialen Raums zurück und konstatiert eine Analogie vom sozialen und physischen Raum, die beide durch die ungleiche Verteilung von Gütern beziehungsweise dem ungleichen Zugang zu diesen Gütern gekennzeichnet sind. Einen weiteren, für den Diskurs um schrumpfende Versorgungsstrukturen nicht unerheblichen Ansatz leitet sie aus Kreckels Zentrum-Peripherie-Modell ab: Hier ist die Peripherie davon gekennzeichnet, dass nicht genügend Kräfte mobilisiert werden können, um eigene Interessen zu vertreten und durchzusetzen; genauso verhält es sich aus nachfrageorientierter Sicht bei der Schrumpfung des Angebots. Die Ungleichheitssoziologie verbindet darüber hinaus territoriale mit anderen sozialen Ungleichheiten, zumal diese dazu beitragen können, territoriale Ungleichheiten abzubauen (z.B. die Verfügbarkeit eines Kraftfahrzeugs oder modernen Telekommunikationsverbindungen). Letztlich bildet sich aber eine Parallelität von benachteiligten Räumen und benachteiligten Sozialgruppen. 2. Vergleichende Untersuchung in Niedersachsen und Brandenburg Die hier vorgestellten Ergebnisse basieren auf einer im Jahr 2006 durchgeführten Untersuchung im Amt Lenzen-Elbtalaue (Prignitz, Brandenburg) und der Samtgemeinde Gartow (Lückow-Dannenberg, Niedersachsen), die als Studienprojekt die infrastrukturelle Versorgung im peripheren ländlichen Raum beiderseits der Elbe mit Hilfe empirischer Methoden analysierte. Im Einzelnen wurden in den betroffenen Ämtern die jeweiligen Einrichtungen kartiert, Erreichbarkeiten berechnet und Bürger mit Hilfe standardisierter Fragebogen befragt. Hierbei wurden circa fünf Prozent aller Haushalte erfasst, wobei aufgrund der Festsetzung einer Mindestzahl von drei Haushalten pro Ort die kleineren Gemeinden geringfügig überrepräsentiert sind. Darüber hinaus wurden leitfadengestützte Interviews mit Entscheidungsträgern auf Amts- und Gemeindeebene, Amtsärzten und Vereinsvorsitzenden durchgeführt. Die Versorgungssituation in den Untersuchungsregionen (Abbildung 1) wird zunächst durch die beiden Hauptorte Lenzen (1.960 E.) und Gartow (1.448 E.) geprägt; hier findet sich ein Großteil der in den Regionen selbst vorhandenen Infrastruktur. Lediglich einige kleinere Orte verfügen über weitere Einkaufsmöglichkeiten mit eingeschränktem Sortiment. Der Großteil der Orte und hier besondere die kleineren Orte (65 Prozent aller Haushalte) weisen keine Einkaufsmöglichkeiten auf. Zum Verständnis der Versorgungslage ist es allerdings unerlässlich, die in unmittelbarer Nähe gelegenen zentralen Orte Dömitz (Grundzentrum, MecklenburgVorpommern), Wittenberge (gegenwärtig Mittelzentrum; zukünftig Mittelzentrum den
136
137
Einkaufsmöglichkeiten in den Untersuchungsregionen
Quelle: Eigene Erhebungen
Abbildung 1:
138
PKW-Fahrzeiten in die regionalen Zentren
Quelle: Eigene Erhebungen
Abbildung 2:
139
Mittel
Sehr zufrieden
Zufrieden
Prignitz
Insgesamt
Weniger Zufrieden
Wendland
Weiß nicht
Kleine Orte (unter 200 E) Gar nicht zufrieden
Zufriedenheit mit der Versorgungslage in den Untersuchungsgebieten
Quelle: Eigene Erhebungen; Anzahl befragter Personen = 233
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Abbildung 3:
mit Funktionsteilung) und Lüchow (Mittelzentrum) mit einzubeziehen. Die Befragung ergab, dass gerade die am Rande der Untersuchungsregionen gelegenen Orte von ihrer Lage profitierten, als dass sie näher an diesen höherrangigen zentralen Orten gelegen waren (Abbildung 2). Zur Darstellung der Versorgungslage muss auf ein wichtiges raumdifferenziertes Charakteristikum hingewiesen werden: Während in Lenzen lediglich zwei Discounter ansässig sind, ist Gartow und das Wendland von einer Ökologisierung und Regionalisierung des Angebots gekennzeichnet, die sich in einem weitaus breiteren Angebot an Frischwaren – auch aus der Region – äußern. Darüber hinaus sei darauf verwiesen, dass die Einkaufsmöglichkeiten mit eingeschränktem Sortiment in den kleineren Orten durch kunden- und anbieterorientierte Öffnungszeiten gekennzeichnet sind, da sie teilweise im Nebenerwerb betrieben werden. Bevor die Anpassungsstrategien der Bevölkerung an diese (Unter-)Versorgungssituation (65 Prozent der befragten Haushalte können nicht vor Ort Lebensmittel erwerben) diskutiert werden, bedarf es noch des wichtigen Hinweises auf die hohe Zufriedenheitsrate der befragten Haushalte: Insgesamt zeigten sich 64 Prozent aller Haushalte zufrieden oder sehr zufrieden mit der Versorgungssituation. Sogar in den kleineren Orten unter 200 Einwohnern liegt die Zustimmung bei 55 Prozent. Erwartungsgemäß liegt die Zufriedenheit im Wendland etwas geringer als in der Prignitz, was anhand der Zuwanderer aus urbanen Kontexten erklärlich erscheint (Abbildung 3). 3. Betrachtungsansätze zur Diskussion von Anpassungsstrategien Um die Anpassungsstrategien der Bevölkerung und der Anbieter an die geografischen (Siedlungsdichte und -größe; Entfernungen) und demografischen (Altersstruktur) Begebenheiten der Untersuchungsregionen einschätzen zu können, soll hier zunächst eine grundsätzliche Betrachtung des Kontextes der Versorgung in ländlichen Regionen vorgenommen, bevor aus Sicht der Nachfrager maßgebliche Parameter zum Umgang mit Versorgungsbedingungen erläutert werden. Die zweifellos zwischen institutionellem Kontext und Nachfragern bestehenden Wechselwirkungen und Interaktionen können hier allerdings nur am Rande angesprochen werden, da sie nicht Gegenstand der Untersuchung waren. 3.1 Kontextorientiert Zu den wichtigsten Ausprägungen der Versorgungslage in ländlichen Räumen zählt das Nebeneinander von lokalen, regionalen und ubiquitären Anbietern mit differenziertem Angebot, Kundenbindung und Geschäftskonzept. Die in den Untersu140
chungsregionen angetroffenen lokalen Anbieter zeichnen sich durch eine geringe Sortimentbreite bei einer hohen Kundenbindung, die sich beispielsweise in angepassten Öffnungszeiten, Befriedigung individueller Nachfragen und Flexibilität äußert, aus. Demgegenüber weisen die regionalen, überwiegend als Discounter aufgestellten Anbieter ein differenziertes Angebot auf, ihre Kundenbindung und Geschäftskonzepte sind aber von Einzugsbereichen und Mindestumsätzen determiniert, was auf dem Hintergrund des Bevölkerungs- und Kaufkraftrückgangs bereits zu einigen Schließungen geführt hat. Einen Sonderfall stellen die ubiquitären Anbieter dar, da zu ihnen zum einen die mobilen Anbieter (alle Orte in den Untersuchungsregionen werden von mindestens einem Anbieter angefahren) und zum anderen der Versandhandel per Katalog oder Internet gezählt werden müssen. Beide Gruppen unterscheiden sich sowohl in Angebot, Kundenbindung als auch Geschäftskonzept, stellen aber durch ihren ubiquitären Charakter eine wichtige Säule in der Versorgungsvielfalt der Regionen dar. Ohne Zweifel steigt durch das Nebeneinander dieser Anbieter die Quantität und Qualität der Versorgung in ländlichen Gebieten, wobei sich allerdings auch sozioökonomische und demografische Ausdifferenzierungen der Betroffenen ergeben können. Zum Kontext der Versorgungssituation gehört auch die Berücksichtigung der Verkehrsinfrastruktur und des ÖPNV: Neben der grundsätzlichen Feststellung, dass die Elbe für beide Untersuchungsregionen trotz Brücken und Fahrverbindungen weiterhin eine deutliche Barriere darstellt, soll zunächst auf den physischen Zustand des Verkehrsnetzes hingewiesen werden, der entlang der Hauptverkehrsrouten zwar verbessert, auf den Nebenstrecken allerdings verschlechtert wurde. Einige der kleineren Orte sind nunmehr nur noch über eine Verbindung mit dem regionalen Netz verbunden, da eine frühere Ortsverbindung geschlossen wurde (z.B. Wustrow, Breetz, Seedorf). Ebenso wurde der ÖPNV deutlich reduziert, da er zum einen als Schülertransport, das heißt saisonal, organisiert ist und zum anderen erhebliche Lücken aufweist (vgl. die Verlegung der Haltestelle aus dem Ortskern Baekern über 500 m zur L136). Die Sicherung der Versorgung beziehungsweise der Anpassungsstrategien an Schrumpfungsprozesse sind in ähnlichem Maße von der Siedlungsstruktur bestimmt: In beiden Untersuchungsregionen dominieren Klein- und Kleinstsiedlungen mit geringen Einwohnerzahlen (z. B. Gaarz mit 11 E.). Die Aufrechterhaltung stationärer Versorgungseinrichtungen ist hier kaum möglich; sogar mobile Versorgungsanbieter geraten an ihre Rentabilitätsgrenzen (auch wenn diese – wie im Fall eines Anbieters, der seine Tätigkeit als „Selbstausbeutung“ bezeichnete – niedrig erscheinen). Aus planerischer Sicht spielt das zentralörtliche System weiterhin eine bedeutende Rolle, da es durch entsprechende Ausweisungen zentraler Orte und der Erstellung eines Ausstattungskatalogs ein Gerüst schafft, an dem sich privatwirtschaftliche Anbieter orientieren. Darüber hinaus lenkt das Vorhandensein öffentlicher 141
Einrichtungen wie Verwaltungen und Schulen Mobilitäts- und somit auch Nachfrageströme in diese Orte. Ein weiteres wichtiges Element im Kontext der Versorgung in ländlichen Räumen stellen die Verwaltungsstrukturen dar, da durch sie die räumliche Nähe zu den Betroffenen determiniert wird. Obgleich die Einflussmöglichkeiten kommunaler Entscheidungsträger zur Ansiedlung von Versorgungsanbietern gering erscheinen, kommt ihnen in zweifacher Weise Bedeutung zu: Sie können unter Umständen mobile Dienstleister dazu bewegen, Zeitpunkt und Frequenz der Bedienung den Wünschen der Einwohnern anzupassen. Auf der Nachfrageseite können sie zudem kommunale Netzwerke (z.B. Vereine) nutzen, um Anpassungsstrategien wie beispielsweise Fahrgemeinschaften oder Bringdienste zu organisieren und zu unterstützen. Sie tragen daher wesentlich zur institutionellen Einbettung der Versorgung beziehungsweise des Umgangs mit der Versorgung bei. Als dominierende Kontextelemente für die Entwicklung und Ausgestaltung der Versorgungslage in ländlichen Räumen haben sich allerdings Rahmenbedingungen erwiesen, deren Ursachen vor allem in den räumlichen Disparitäten zwischen Agglomerationsräumen und ländlichen Räumen zu suchen sind. Die Abwanderung von Arbeitsplätzen und -kräften hat durch damit verbundene finanzielle Einbußen den öffentlichen und privaten Handlungsrahmen stark eingeschränkt: Das Fehlen von Finanzmitteln und somit Kaufkraft determiniert die Ansiedlung neuer beziehungsweise die Abwanderung bestehender Versorgungsträger. Damit verbunden ist der Demografische Wandel in ländlichen Räumen, der zur Überalterung und Demobilisierung der Bevölkerung führt und somit schon fast als konstitutives Element für die Defizite in der Versorgung ländlicher Räume gilt. 3.2. Akteursorientiert Aus akteursorientierter Perspektive sind insgesamt sieben Elemente zu nennen, die für eine Diskussion von Anpassungsstrategien wichtig erscheinen. Zunächst ist auf die individuelle Altersentwicklung zu rekurrieren, da alle der folgenden Elemente in ihrer Ausprägung wesentlich vom Alter des betroffenen Individuums beeinflusst sind und in ihren Implikationen dementsprechend stark variieren können. Das individuelle, gefühlte Alter spielt also eine wesentliche Rolle im individuellen Umgang mit Versorgungsdefiziten. Ein erster Aspekt ist sicherlich die Gewöhnung und daraus resultierend auch die Leidensfähigkeit der Menschen in ländlichen Räumen. Allerdings bedarf es einer Berücksichtigung kompensatorischer (Abwägung zwischen Vor- und Nachteilen), lebensstilorientierter und biografischer Zusammenhänge: Gerade im Wendland waren bei Zuwanderern Duldungs- und Gewöhnungsprozesse zu beobachten,
142
während in der Prignitz häufig auf die Versorgungslage in der damaligen DDR mit einen dichten Netz an Verkaufsstellen ohne Warenvielfalt hingewiesen wurde. Zu den akteursorientierten Aspekten des Umgangs mit schrumpfenden Versorgungsangeboten zählt sicherlich die Erfahrung mit subsistenzwirtschaftlichen Handlungsstrategien, wie sie vor allem in der Prignitz über einen langen Zeitraum erprobt und eingeübt waren. Weiterhin lassen sich aus akteursorientierter Perspektive Koordinierungskompetenz und Kooperationswille als wichtige Rahmenbedingungen nennen: Das Ausmaß und die Intensität nachbarschaftlicher Unterstützung hat erheblichen Einfluss auf die individuelle Verwundbarkeit gegenüber Versorgungsdefiziten. Die im vorherigen Abschnitt angesprochenen ubiquitären Anbieter mit telefonischen oder elektronischen Vertriebswegen stellen an ihre Nachfrager hohe Anforderung des Umgangs mit neuen Medien beziehungsweise Kommunikationsangeboten; aus akteursorientierter Sicht ergeben sich hier also Anpassungszwänge. Letztlich – und dieser Aspekt gewinnt innerhalb der Fragestellung die größte Bedeutung – ist jedoch die individuelle Mobilität das bedeutendste Element im Umgang der Menschen mit Versorgungsstrukturen in ländlichen Räumen. Zugangsmöglichkeiten zu Verkehrsmitteln zur Distanzüberwindung differenzieren die Bewohner in Betroffenenklassen und heben diejenigen heraus, die über keine Mobilitätsmöglichkeiten zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse verfügen. 4. Teilaspekte der Anpassungsstrategien Eine erste Anpassungsstrategie an schrumpfende Versorgungsstrukturen, schlechtere Erreichbarkeiten und qualitative Einschränkungen in den Untersuchungsregionen besteht in der Subsistenz beziehungsweise der Ergänzung des Angebots durch den Eigenanbau von Lebensmitteln und der Nutztierzucht. Tabelle 1 verdeutlicht das Ausmaß des Anbaus von Lebensmitteln in den befragten Haushalten, wobei deutliche Unterschiede zwischen dem westlichen und östlichen Untersuchungsgebiet hervorstechen: In der Prignitz liegt die Quote des Anbaus insgesamt sowie des Anbaus von Gemüse signifikant höher. Als Erklärungsansatz kann hier auf die Tradition der Selbstversorgung in der ehemaligen DDR verwiesen werden. Die Übersicht verdeutlicht aber auch die demografische und sozioökonomische Dimension. Ältere Menschen mit relativ geringem Haushaltseinkommen bauen Lebensmittel an. Erwartungsgemäß war das Ausmaß der Nutztierhaltung geringer und vor allem an ein relativ hohes Alter gebunden. Welches Ausmaß die Subsistenz oder Ergänzung tatsächlich erreicht, kann hier nur anhand der beobachteten Anbauflächen in den Hausgärten grob geschätzt werden. Wichtiger erscheint vielmehr das Beharren auf dem Anbau und das vielfach in die-
143
sem Zusammenhang geäußerte Qualitätsbewusstsein im Vergleich zu den Produkten der Discounter. Tabelle 2:
Anbau von Lebensmitteln und Nutztierzucht Ja
Nein
Anbau von Lebensmitteln
64%
36%
Regional: Ost/West
65,4/61,3 %
Haushaltseinkommen
500 bis 2.500€
Alter des Befragten
35 +
34,6/38,7 % Unter 500 € (urban) und über 2.500 € Unter 35
Nutztierzucht
35%
65%
Regional: Ost/West Haushaltseinkommen Alter des Befragten
35,4/17,9 % 500 bis 1.000€ 50 +
64,6/82,1 % 2.000 bis 2.500 €
Produkte Obst (49 %) Gemüse (14 %) Obst (47,2/50 % ) Gemüse (19,8 /8,5%)
Hühner (19 %) Enten (6 %) Schafe (4,5 %)
Quelle: Eigene Erhebungen; Anzahl befragter Personen = 233
Die wichtigste Anpassungsstrategie besteht ohne Zweifel in der Sicherung der eigenen Mobilität: Von den 233 befragten Haushalten verfügten 85,4 Prozent über mindestens ein, 37,3 sogar über zwei oder mehr Kraftfahrzeuge. Sie stellen das am stärksten genutzte Transportmittel für Wege zur Arbeit, zur Versorgung und in der Freizeit dar. Neben dem Kraftfahrzeug spielt lediglich der Fahrrad- und fußläufige Verkehr eine untergeordnete Rolle bei der Erbringung von Transportleistungen. Wie bereits von Henkel (2004:328) erwähnt, spielen mobile und ubiquitäre Angebote eine immer größere Rolle bei der Versorgung ländlicher Regionen. Für die beiden Untersuchungsgebiete bleibt die Nutzung mobiler Angebote allerdings in einem eher geringeren Maß. Die Bedeutung dieser Angebote erschließt sich jedoch aus dem Alter und dem Wohnort der Hauptnutzergruppen derartiger Angebote. Aufgrund der Siedlungsstruktur und der Mobilitätsdifferenzen ist die Nutzung mobiler Versorgungsangebote in der Prignitz höher als im Wendland (Tabelle 2).
144
Tabelle 3:
Nutzung mobiler Versorgungsangebote ja
Bäcker
32,6 %
nein
Frequenz
67,4 %
60 +
50 +
TK-Ware
20,2 %
79,8 %
Wöchentlich Mehrfach wöchentlich monatlich
Fleischer
9%
91%
wöchentlich
Altersgruppe
Wohnort Dörfer unter 300 E. Lenzen, Gartow Dörfer unter 300 E.
30 +
Quelle: Eigene Erhebungen; Anzahl befragter Personen = 233
Ubiquitäre Angebote, die telefonisch oder per Internet bestellt und individuell geliefert werden, gewinnen an Bedeutung: Hier dominieren Kleidung (in 48,1 Prozent der befragten Haushalte), Elektrogeräte (21 Prozent), Möbel (15,5 Prozent) und Haushaltswaren (14,2 Prozent). Zu den Anpassungsstrategien, die vor allem in kleineren Gemeinden intensiv praktiziert werden, gehört das Angebot und die Nutzung der Nachbarschaftshilfe. Nach Einschätzung eines Ortsbürgermeisters ist sie nicht nur aus der Not heraus entstanden, sondern war in dörflichen Gemeinden schon immer vorhanden. Sie hat sich allerdings in den letzten Jahren sehr deutlich von (hand-)arbeits- zu versorgungs- und betreuungsbezogenen Tätigkeiten gewandelt. Zu den wesentlichen Feldern der Nachbarschaftshilfe zählen die Übernahme von Einkäufen, die Pflege von Gärten und die Erledigung von Botengängen (Tabelle 3). Tabelle 4:
Nutzung und Angebot von Nachbarschaftshilfe Einkäufe Kinderbetreuung Altenbetreuung Tierbetreuung Gartenpflege Botengänge
Nutzung 27,9 % 6,4 % 4,3 % 18% 24% 20,6 %
Angebot 30% 12% 9% 17,2 % 23,6 % 23,2 %
Quelle: Eigene Erhebungen; Anzahl befragter Personen = 233
Eine letzte Anpassungsstrategie an die schrumpfenden Versorgungsstrukturen in ländlichen Räumen besteht im Wegzug aus der Region; eine Option, von der angesichts der negativen Wanderungssalden in hohem Umfang Gebrauch gemacht wurde. Allerdings würden nur zwölf Prozent der Befragten aus Gründen der Unzufrie145
denheit mit der Versorgungssituation ihren Wohnort verlassen. In der Best-Ager Zuzugsregion Wendland fanden sich sogar nur 4,7 Prozent Wegzugswillige. Insgesamt weisen niedrigere Einkommensgruppen eine signifikant höhere Wegzugsbereitschaft auf, während höhere Einkommensgruppen ein deutliches Bleibeinteresse artikulieren. Insgesamt lassen sich diese Ergebnisse dahingehend interpretieren, dass die wirklich unzufriedenen Menschen die Regionen bereits verlassen haben. 5. Problemfelder Die Analyse der schrumpfenden Versorgungsstrukturen in beiden Untersuchungsregionen identifiziert neben geografischen Unterschieden, die sich im wesentlichen auf die deutsch-deutsche Teilung zurückführen lassen, zwei umfangreiche Problemfelder, die im folgenden dargestellt werden sollen. Hierbei werden auch andere Versorgungssektoren mit berücksichtigt, da sie ebenso von diesen Problemfeldern betroffen sind. Das erste und wesentlichste Problemfeld in diesem Kontext kann als institutioneller Mismatch zwischen Bevölkerung, Versorgern und Politik umschrieben werden und passt sich somit in das von Löffler (2004:82) beschriebene Akteursdreieck im Einzelhandel ein. Hier ist zunächst auf die Artikulationshemmnisse der Bevölkerung gegenüber den Versorgern und – eingeschränkt – der Politik zu verweisen, wobei diese in unterschiedlichen Umständen begründet liegen: Die im Wendland vorherrschende Struktur aus selbstständigen Einzelhandelskaufleuten unterschiedlicher Größe (zum Teil innerhalb eines Zusammenschlusses) führt zwar zu engen Kundenbindungen und -beziehungen, mündet aber nach Aussage eines maßgeblichen Einzelhandelskaufmanns nicht immer in einer umfangreichen Kommunikation zwischen Anbietern und Nachfragenden. Konkret beklagte er den geringen Umfang an Verbesserungswünschen durch seine Kunden. Auf der anderen Elbseite ist eine derartige Kommunikation durch die beherrschende Position großer Discounter mit normiertem Angebot unmöglich. Bedingt durch diese unterschiedlichen Betriebsformen auf beiden Seiten der Elbe muss von einem erheblichen Gefälle in der regionalen Bindung der Versorgungsanbieter gesprochen werden, das sich nicht nur in einer unterschiedlich intensiven Nutzung lokaler oder regionaler Produkte äußert, sondern auch weiterführend auf Vereins- und Politikebene beobachtbar ist – ganz selbstverständlich engagiert sich ein Anbieter aus Gartow in Politik und Vereinen. Aus der Perspektive der politischen Entscheidungsträger besteht ein Missverhältnis zwischen den Standortentscheidungen der Unternehmen und den eigenen Einflussmöglichkeiten, da sich nur geringe Akquisitionsmöglichkeiten ergeben. Ausnahmen betreffen insbesondere medizinische Dienstleistungen, worunter die Anwerbeanstrengungen für Allgemeinmediziner in Brandenburg zu zählen sind, Dorfläden, die finanziell unterstützt Lücken abdecken und Mischsortimente anbie146
ten können, sowie mobile Dienstleister, die als Unternehmensgründungen unterstützt werden. Neben diesen Defiziten in der Akquise von Unternehmen ist auch auf die geringen Standortsteuerungsmöglichkeiten hinzuweisen, die durch die kommunale Konkurrenz und im Bereich medizinischer Dienstleistungen durch die Reglementierungen der Ärztedichte beziehungsweise durch die Organisation der Pflege bedingt ist. Weiterhin äußert sich der institutionelle Mismatch zwischen Bevölkerung, Versorgern und Politik in unzureichenden Qualitätssicherungsinstrumenten, da zunächst Kostenaspekte und die geringe Artikulation der Bevölkerung den Wettbewerb erschweren. Die Marktdominanz einiger Unternehmen und die durch Entfernungen und Mobilitätshemmnisse eingeschränkten Wahlmöglichkeiten der Nachfrager führen zu einer Verflachung des Angebots. Im wichtigen medizinischen Bereich liegt die Qualitätskontrolle ausschließlich bei den Akteuren des medizinischen Komplexes – Amtsärzte, die Tendenzen der Unterversorgung anhand ihrer Reihenuntersuchungen von schulpflichtigen Kindern wahrnehmen, verfügen über geringe Einflussmöglichkeiten zur Verbesserung von Ärztedichte oder Betreuungsintensität. Das zweite hier anzusprechende Problemfeld umfasst die mobilen und ubiquitären Dienstleister, die ja durchaus als zukünftige Träger der Versorgung in ländlichen Räumen gesehen werden (z.B. Henkel 2004:328). Zunächst ist hier auf die überregionalen mobilen beziehungsweise ubiquitären Dienstleister (z.B. Versandhandel oder Tiefkühl-Produkte) zu verweisen, die zwar leistungsfähig sind, aber keine direkte Regionsbildung und somit Verbundenheit oder Identität mit dem Raum aufweisen. Sie sehen die ländlichen Räume als Absatzgebiete mit geringen Kundendichten und hohen Transportkosten. Aus ihren Aktivitäten leiten sich somit zwar wichtige Versorgungsfunktionen ab, doch tragen sie nicht zur Entwicklung bei. Demgegenüber zeichnen sich die in den beiden Untersuchungsgebieten vorgefundenen kleinmaßstäblichen mobilen Dienstleister durch eine andere ökonomische und soziale Ausrichtung aus, die sich nicht nur aus ihrer eigenen Bewertung heraus als Selbstausbeutung, Aktivismus und persönliche Betroffenheit charakterisieren lässt. Diese Kleinstunternehmen weisen eine enge Kundenbindung, hohe zeitliche und geografische Flexibilität und Nachfrageorientierung auf, wobei sie allerdings auf Initiativen und Ansprache durch ihre Kunden angewiesen sind. Ihren Fahrplan und die jeweiligen Haltepunkte haben sie aufgrund von Erfahrung entwickelt; nur selten initiieren kommunale Vertreter Verbesserungen. An diesem Punkt zeigt sich der deutliche Unterschied in den Marketinganstrengungen der ubiquitären gegenüber jenen der lokalen Anbieter: Katalog- und Broschürenversand, Testfahrten und ähnliches sind für die Kleinstunternehmen nicht denkbar. Letztlich muss in diesem Kontext darauf hingewiesen werden, dass die häufig postulierte Diversifizierung des Angebots mobiler Dienstleister (Postangebote, 147
Distributionsangebote stationärer Anbieter u.ä.) von den Anbietern zwar als Aufgabenfeld identifiziert wurde, eine Implementation dieser Konzepte aus Kosten-, Organisations-, Wettbewerbs- und Zeitgründen fraglich erscheint. Zusammenfassend verdichten sich beide Problemfelder zu einem grundsätzlichen Defizit ländlicher Räume: Sie sind durch externe Kontroll- und Steuerungsmechanismen gekennzeichnet und verfügen über zu geringe eigene Ressourcen. 6. Handlungsbedarfe Aus dieser Analyse heraus lassen sich nun Handlungsbedarfe ableiten, die den Umgang mit schrumpfenden Versorgungsinfrastrukturen in ländlichen Räumen in einen politischen und gesellschaftlichen Kontext einbinden. x
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In Anlehnung an das Leitbild 2006 der Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) bedarf es zunächst der Vermittlung notwendiger Anpassungsprozesse an die Bevölkerung, indem die zukünftigen Kernbereiche der öffentlichen Daseinsfürsorge, die Orte der räumlichen Konzentration von Angeboten und die Existenz regional unterschiedlicher Angebote kommuniziert und im Sinne eines Governance Ansatzes (Keim 2007) diskutiert werden. Zur Abmilderung der negativen Folgen des Schrumpfungsprozesses muss das Zusammenwirken öffentlicher, privater und zivilgesellschaftlicher Akteure gerade im Hinblick auf die Sicherung der Versorgung koordiniert und verstärkt werden. Lokale und regionale Hilfs- und Unterstützungsnetzwerke zur Sicherung der Mobilität, Organisation der Nachbarschaftshilfe oder Diversifizierung des Angebots durch Dienstleistungsbörsen müssen aktiv gefördert werden. Durch eine angemessene Traditionspflege und die Vermittlung notwendiger Fachkenntnisse (beispielsweise durch Gartenbauvereine) sollte der Anbau von Nahrungsmitteln zur Subsistenz oder zur Ergänzung des Angebots aktiv unterstützt werden. Die Akquisition und Koordination von mobilen Angebotsformen sollte weniger den Akteuren mit ihren eingeschränkten Ressourcen als vielmehr den kommunalen Entscheidungsträgern übertragen werden. Die in einigen Regionen bereits etablierten Stammtische von Selbstständigen können hier als Anknüpfungspunkte dienen.
7. Prognosen Die zukünftige Entwicklung der Versorgungsstrukturen in ländlichen Räumen kann erneut kontext- und akteursorientiert betrachtet werden. Der Kontext ländlicher Versorgungsstrukturen steht dabei vor deutlichen Veränderungen, die als negativ beschrieben werden müssen: Im Einzelhandel wird es zu weiteren Konzentrationsprozessen und zu einem verschärften Wettbewerb zwischen nationalen beziehungsweise internationalen auf der einen und regionalen beziehungsweise lokalen Anbietern auf der anderen Seite kommen. Allerdings ergeben sich hier auch Nischen für Kleinstanbieter in dünn besiedelten Regionen. Einhergehend mit einem starken Rückgang der Verkehrsinfrastruktur wird das zentralörtliche System umgestaltet und Verwaltungs- und Entscheidungsstrukturen stärker konzentriert und somit schlechter erreichbar werden. Die Alterung der Bevölkerung und der damit verbundene Rückgang der Erwerbsquote werden durch Steuerausfälle die kommunalen Handlungsspielräume weiter einschränken und durch einen Kaufkraftrückgang weitere Schrumpfungsprozesse im Versorgungsbereich nach sich ziehen. Aus akteursorientierter Sicht hingegen ist zunächst auf die zunehmende Alterung und die damit verbundene Mobilitätseinschränkung zu verweisen. Langfristig ist allerdings mit veränderten Verhaltensweisen älterer Menschen zu rechnen (Mai 2003): Zwar ist mit einem Rückgang der Subsistenzerfahrung zu rechnen, doch kann diese durch eine zunehmende Koordinierungskompetenz und steigende Mobilität kompensiert werden. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Alten der Zukunft generell steigende Aktivitätslevel aufweisen und über größere Erfahrung im Umgang mit neuen Medien verfügen werden. 8. Fazit Die Untersuchung der Anpassungsstrategien an schrumpfende Versorgungsstrukturen in peripheren ländlichen Regionen Brandenburgs und Niedersachsens hat zunächst verdeutlicht, dass jegliche Diskurse über diesen Aspekt der Raumentwicklung nicht stereotyp anhand einfacher Raumkategorisierungen geführt werden dürfen. Vielmehr ist es notwendig, die regionalen und lokalen Begebenheiten und Bedingungen in hohem Maße zu berücksichtigen. Zu diesen Umgebungsparametern gehören neben dem strukturellen Kontext aus Wirtschaft, Infrastruktur, Verwaltung und Politik auch akteursbezogene Reflexionen zur Anpassungsfähigkeit und – willigkeit der Bevölkerung, die auf regional sehr unterschiedliche Erfahrungshorizonte zurückblicken kann. Allerdings dürfen solche Überlegungen nicht in weiter auszudünnende Mindestausstattungen oder governance-orientierte Konsensentscheidungen münden, die gerade die wirtschaftlich und sozial schwächsten Mitglieder der Gesellschaft benachteiligen können. 149
Sowohl die Beschreibung der Anpassungsstrategien als auch die Analyse der Zufriedenheit werfen die Frage auf, wie die Prozesse der Anpassung und der Gewöhnung voneinander zu differenzieren sind. Sicherlich enthält Anpassung mit dem Bezug auf konkrete Strategien und Handlungen eine eher aktivere Konnotation als Gewöhnung; sie sind aber vermutlich nicht als voneinander unabhängige Prozesse zu sehen, da sie zum einen Wechselwirkungen entfalten (wird ein Gewöhnungsniveau unterschritten, kann es zu Anpassungsaktivitäten kommen) und zum anderen segmentär ausgerichtet sein können (z.B. Gewöhnung an unzureichende Mobilitätsstrukturen durch Verzicht und aktive Anpassung an unzureichende Frischgemüseversorgung durch Gartenbau). Darüber hinaus ist es weiterhin erforderlich, demografische und sozioökonomische Rahmenbedingungen mit in diese Betrachtung aufzunehmen, um mögliche Konstellationen von Zwängen und Neigungen für Anpassung und Gewöhnung aufspüren zu können. Obgleich die Untersuchung verdeutlichte, dass mobile und ubiquitäre Anbieter beziehungsweise Dienste einen relevanten Beitrag zur Versorgung in ländlichen Räumen leisten, bleiben Asymmetrien, Kooperationsdefizite und Koordinationslücken bestehen. Darüber hinaus weisen die jeweiligen Angebote im Hinblick auf ihre Nachfrager erhebliche demografische und wirtschaftliche Unterschiede auf, so dass sie also nicht uneingeschränkt als Alternativen zu etablierten und differenzierten Einzelhandelsstrukturen angesehen werden dürfen. Letztlich bedarf es einer Einbettung dieser Ergebnisse in den Kontext der demografischen Entwicklung in ländlichen Räumen, die (noch) von der Abwanderung jüngerer Menschen, der dadurch implizierten Alterung der Gesellschaft und – in regional stark unterschiedlicher Intensität – einer Zuwanderung vor allem älterer Menschen (Junge Alte, Best Ager) geprägt ist (vgl. dazu Born 2007). Hieraus ergeben sich für die vorhandenen Versorgungsstrukturen zwei Handlungsansätze, die nicht vollständig kongruent sind: Zur Sicherung der Versorgung der autochthonen Bevölkerung bedarf es einer Mobilisierung des Angebots; gleichzeitig besteht die Perspektive, dass die mobileren Zuwanderer verstärkt Waren und Dienstleistungen in den Mittelzentren nachfragen. Neben diesen Fragen der Veränderung des Standortmusters ist angesichts einer weiteren Ausdifferenzierung und potentiellen Erhöhung der Kaufkraft älterer Menschen auch an eine kundenorientierte Anpassung der Angebotsqualität durch den Einzelhandel zu denken. Fraglich erscheint in diesem Zusammenhang allerdings, ob eine derartige Differenzierung angesichts der weiterhin geringen Bevölkerungszahl sinnvoll und möglich ist. Die hier aufgeworfenen Problemkreise verdeutlichen die Notwendigkeit einer verstärkten Kommunikation zwischen Einzelhandelsunternehmen, Konsumenten und politischen Entscheidungsträgern beziehungsweise Raumplanern, da Marktkräfte und Regulierungsanstrengungen alleine nicht in der Lage scheinen, dem Postulat gleichwertiger Lebensbedingungen Rechnung zu tragen. Insofern bietet sich eine starke Einbettung der Akteure in lokalen Governance- und Agenda-Prozesse an. 150
Erschwert wird dieser Prozess allerdings einerseits durch den Mangel an regional verwurzelten Versorgungsunternehmen mit Verantwortungsbewusstsein und andererseits durch das Kostenbewusstsein der Konsumenten, die Discounter den ortsansässigen „Tante-Emma-Läden“ vorziehen.
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Land am Rand? Soziale und wirtschaftliche Infrastrukturentwicklung im ländlichen Raum in Österreich Ingrid Machold , Oliver Tamme
1. Einleitung In Österreich hat sich die Versorgungssituation mit sozialer und wirtschaftlicher Infrastruktur im ländlichen Raum und im Berggebiet in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Mit dem Ziel, gleichwertige Lebensbedingungen im ländlichen Raum umzusetzen, wurde bis in die 1980er Jahre eine flächendeckende, dezentrale Infrastruktur forciert. Dadurch konnte auf vielen Standorten eine sehr gute Versorgung erreicht werden. Ausgehend von diesem hohen Versorgungsniveau verschlechterte sich die Situation in den letzten Jahren allerdings in wichtigen Bereichen. Vom Rückbau besonders betroffen sind vor allem ländlich-periphere Gemeinden (unter 1.000 Einwohner) in Regionen mit geringer wirtschaftlicher Dynamik. Dies betrifft immerhin 25 Prozent der Bevölkerung im ländlichen Raum und 18 Prozent der österreichischen Bevölkerung, die in solchen Ortschaften oder in Streusiedlungsgebieten leben (Hiess et al. 2006:89). Im Österreichischen Raumentwicklungskonzept 2001 wird auf die vielerorts bereits prekäre infrastrukturelle Grundversorgung hingewiesen sowie die wichtige Funktion der Infrastruktureinrichtungen bei der Entwicklung der ländlichen Regionen betont. Die „Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen in allen Teilräumen“ stellt dabei eine Leitvorstellung dar, denn: „Infrastrukturen, die nicht vorhanden oder nur schwer erreichbar sind, und Wege, die nicht zurückgelegt werden können, schneiden Entwicklungsmöglichkeiten ab, verhindern Kommunikation und Interaktion und verstärken möglicherweise physische, soziale und mentale Immobilität“ (ÖROK 2002:72f). Der vorliegende Artikel basiert im Wesentlichen auf den Ergebnissen des Forschungsprojekts „Infrastrukturentwicklung im ländlichen Raum“, das von der Bundesanstalt für Bergbauernfragen durchgeführt wurde (Machold/Tamme 2005). Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung, die vor allem im Süden Österreichs einen deutlichen Bevölkerungsrückgang prognostiziert, wird ein Überblick über die regionale Verteilung und Entwicklung wichtiger Bereiche der Daseinsvorsorge in ganz Österreich (Nahversorgung, öffentlicher Personennahverkehr, Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, Postdienstleistungen, Gesundheitsversorgung) gegeben. Dazu werden Sekundärdaten der Statistik Austria (und anderer 154
Datenquellen) meist auf Ebene der politischen Bezirke für ausgewählte Sektoren ausgewertet, analysiert und grafisch aufbereitet. Begleitend dazu werden Umfang und Auswirkungen des Rückbaues auf die betroffene lokale Bevölkerung anhand zweier Gemeinde-Fallstudien im Bundesland Steiermark (ca. 150 km südwestlich von Wien) untersucht. Die Gemeinden wurden nach folgenden Kriterien ausgewählt: innerhalb des Berggebietes liegend, negative oder stagnierende Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung, kein Tourismus, 500 bis 1.000 Einwohner. Beide Gemeinden waren in der näheren Vergangenheit auch von einer Verschlechterung wesentlicher Bereiche der Daseinsvorsorge betroffen. Es wurden 34 qualitative, leitfadengestützte Interviews mit Betreibern der Infrastrukturen (z.B. Kindergarten, Volksschule, Kaufhaus, Gasthaus, Arzt) und Befragten in verschiedenen Lebenslagen (Hausfrauen, Personen ohne Pkw, Beschäftigte, ältere Menschen) geführt und inhaltsanalytisch ausgewertet1. 2. Demografische Entwicklung Die Bevölkerungsprognosen für die kommenden Jahrzehnte gehen davon aus, dass bestehende Trends überwiegend fortgeschrieben werden. Insgesamt wächst die Bevölkerung in Österreich. Dieser Zuwachs ist eine Folge der angestiegenen Zuwanderung, während die Geburtenbilanz keine Zuwächse zeigt. Regional zeigen sich jedoch durchaus unterschiedliche Entwicklungsmuster. Den Regionen mit Bevölkerungszuwachs stehen Bezirke mit zum Teil erheblichen Bevölkerungsabnahmen gegenüber. Laut Heilig (2002) verzeichneten zwischen 1991 und 2001 rund 30 Prozent der ländlichen Gemeinden in Österreich einen Bevölkerungsrückgang. Es sind dies vor allem Gemeinden ohne oder mit vergleichsweise geringem Tourismus, abseits der großen Städte. Nach den Prognosen (siehe Abbildung 1) ist mit einem fortgesetzten Verlust der Wohnbevölkerung für einige alpine oder auch peripher gelegene Regionen zu rechnen, beispielsweise in einigen inneralpinen Regionen der Bundesländer Steiermark, Kärnten und des nördlichen Niederösterreichs. Es sind dies vor allem auch Bezirke, die den industriellen Strukturwandel noch nicht bewältigt haben beziehungsweise so weit von den wirtschaftlichen Zentren entfernt liegen, dass die erwerbstätige Bevölkerung abwandert. Die Abwanderung meist jüngerer Personengruppen hat jedoch erhebliche Auswirkungen auf die Region. Zum einen kommt es zu einer Überalterung der Bevölkerung der Region, zum anderen sinkt die lokale Kaufkraft, was wiederum zur Schließung von Geschäften und Betrieben führt. Der damit verbundene Verlust von Arbeit 1 Die Interviews wurden mit einem teilstrukturierten Fragebogen im Zeitraum zwischen August 2003 und März 2004 durchgeführt.
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Abbildung 1:
Bevölkerungsprognose Österreich 2001-2031
Arbeitsplätzen verstärkt die Abwanderung. Dieser Prozess wird als „negative zirkuläre Verursachung“ bezeichnet und leitet eine Entwicklung ein, die eindeutig „nach unten“ führt (ÖROK 2005:15). Dies dürfte in der Folge negative Konsequenzen für die kleinteilige örtliche soziale und wirtschaftliche Infrastruktur haben, mit weiteren Schließungen ist zu rechnen. 3. Bestandsaufnahme der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur (Daseinsvorsorge) In den letzten Jahren hat sich in einigen Bereichen die Versorgung mit sozialen und wirtschaftlichen Infrastrukturen verschlechtert, während es in anderen Bereichen zu Verbesserungen gekommen ist. Tabelle 1 gibt einen ersten Überblick über Trends in der regionalen Versorgung von Infrastrukturbereichen. Vor allem bei den Gesundheits- und Betreuungseinrichtungen sind Verbesserungen festzustellen, sowohl die Kinder- als auch die Altenbetreuung wurde ausgebaut, und gerade in der Altenund Pflegebetreuung geht die Entwicklung in Richtung kleiner, sowie differenzierterer Angebote. Insbesondere beim Lebensmittel-Einzelhandel (Nahversorgung), dem öffentlichen Nahverkehr (Bus- und Bahnkurse) sowie den Postdiensten hat sich die Versorgung hingegen teils massiv verschlechtert. Tabelle 1:
Entwicklung von ausgewählten sozialen und wirtschaftlichen Infrastrukturen
Infrastrukturen Netzgebundene Infrastrukturen: Strom, Gas, Wasser, Telekom Schulen
Ergebnisse nach Sektoren Gefahr der Überwälzung von Kosten auf Gebiete mit geringer Auslastung Schließung von Volksschulen, Konzentration der weiterführenden Schulen Medizinische Grundversorgung (Ärzte) Praktische Ärzte befriedigend, Konzentration der Fachärzte in den Bezirkshauptstädten Betreuung Kinder Ausbau (von teils niedrigem Niveau), qualitative Defizite Betreuung Senioren Ausbau, bestehende quantitative und qualitative Defizite Nahversorgung Schließung, Konzentration in zentralen Orten Dienstleistungen: Postdienste, Banken Schließung, Konzentration in zentralen Orten Öffentlicher (Nah-)Verkehr Einstellung, Ausdünnung Öffentlicher Dienst: Polizei, Bezirksge- Schließung, Konzentration in zentralen Orten richte etc. Quelle: Ergebnis der Analyse – Machold/Tamme 2005
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Abbildung 2:
Aufgelassene Postämter seit 2002
Postdienste Die österreichische Post und Telegraphenverwaltung (PTV) wurde 1996 in die Post und Telekom umgewandelt und aus dem Bundeshaushalt ausgegliedert. Seither hat es massive Umstrukturierungsmaßnahmen gegeben, die vor allem auch das Filialnetz betroffen haben. Die Universaldienstverordnung des Bundes gibt der Post zwar vor, dass eine flächendeckende Versorgung sichergestellt wird, verbindliche Kriterien werden jedoch nicht genannt (Tamme 2007). Seit dem Jahr 2002 wurden in Österreich 951 Postfilialen geschlossen, damit besteht nur noch nahezu jede zweite Zweigstelle. Besonders davon betroffen sind periphere Regionen in den Bundesländern Nieder- und Oberösterreich, sowie der Steiermark. Die Fläche, die jedes Postamt zu bedienen hat, ist damit deutlich angestiegen. Österreich liegt bei der Versorgung mit Poststandorten bereits unter dem europäischen Durchschnitt (ÖROK 2005:60). Mit Ersatzlösungen wie Post-Partner, Post-Servicestellen und Landzusteller können einige Postdienstleistungen trotz Schließung der Postfilialen aufrecht erhalten werden, einen qualitativ gleichwertigen Ersatz (mit Ausnahme der Post-Partner) stellen sie jedoch nicht dar. In einer Umfrage der österreichischen Arbeiterkammer kommt auch zum Ausdruck, dass ein Großteil der Bevölkerung mit den Ersatzlösungen deutlich weniger zufrieden ist; jeder zweite sieht mehr Nach- als Vorteile, seit Landzusteller und Post-Servicestellen die Postdienste übernommen haben (Arbeiterkammer 2006). Lebensmittel-Nahversorgung Die Nahversorgung als privatwirtschaftlich organisierter Sektor ist seit Jahren einem massiven Strukturwandel unterworfen. Seit den 1980er Jahren hat sich beispielsweise die Anzahl der Lebensmittelgeschäfte halbiert und nach wie vor sind jährliche Rückgänge von drei bis vier Prozent zu vermerken. Waren 1997 noch 237 Gemeinden ohne Lebensmittelhändler, stieg diese Zahl 2001 bereits auf 299 Gemeinden. Am stärksten ist wiederum die Steiermark betroffen, jenes Bundesland in denen die Fallstudien-Gemeinden liegen. Über 25 Prozent der Gemeinden hatten 2001 keinen Nahversorger. Es sind dabei hauptsächlich die kleinen und kleinsten Händler, die ihr Geschäft schließen. Gründe dafür sind ein geändertes Konsumverhalten und auch die hohe Preisorientierung der Käufer, die es kleinen Lebensmittelgeschäften schwer machen, mit den großen Supermarktketten zu konkurrieren. Hinzu kommt, dass in vielen Fällen von den Gewerbetreibenden keine Umsatzchancen wahrgenommen werden und potenzielle Betriebsnachfolger und Händler das Geschäft wegen fehlender Perspektiven nicht weiterführen. Ein Schlüsselfaktor bildet auch das Mobilitätsverhalten. Die flächendeckende Erschließung des ländlichen Raums durch ein engmaschiges Straßennetz beziehungsweise die Motorisierung breiter 159
Kreise der Bevölkerung haben die Wahrnehmung von Distanzen fundamental verändert. Die fußläufige Erreichbarkeit der sozialen und wirtschaftlichen Infrastrukturen in einer Gemeinde geht deutlich zurück und die Bewohnerinnen und Bewohner fahren, wenn sie ins Auto steigen, eher zum nächsten größeren Supermarkt als zum kleinen Nahversorger. Im Gegenzug zum Niedergang der Nahversorgung vor Ort nehmen die Einkaufs-, Verbraucher- und Supermärkte an zentralen Orten (Bezirkshauptstädte) und auf der „grünen Wiese“ zu, an jenen Orten also, die mit einem Pkw angefahren werden können. Insbesondere Supermärkte zwischen 400-1000m2 sind die großen Gewinner der letzten Jahre. Das Schließen des letzten Lebensmittelhändlers im Ort trifft jedoch vor allem die weniger mobilen Bevölkerungsgruppen, wobei immerhin rund 55 Prozent der österreichischen Bevölkerung nicht uneingeschränkt über ein Auto verfügt (VCÖ 2004). Öffentlicher Personennahverkehr Öffentliche Verkehrsmittel sind ein Schlüsselfaktor im ländlichen Raum, da sie für die nicht-motorisierten Bevölkerungsgruppen eine Voraussetzung darstellen, um nicht fußläufig erreichbare (Infrastruktur)Einrichtungen in Anspruch nehmen zu können. Allerdings haben sich hier in den letzten Jahren das Angebot an und die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln (Bahn- und Buskurse) in vielen Regionen massiv verschlechtert. Zum einen ist dies auf den unterschiedlichen Ausbau der Infrastruktur zurückzuführen. Während das Straßennetz kontinuierlich ausgebaut und auf die sich verändernden Siedlungsstrukturen und Wirtschaftsstandorte angepasst wird, ist das Schienennetz veraltet und wird insbesondere im Bereich der Nebenbahnen neuerdings wieder zurückgebaut. Die österreichischen Bundesbahnen haben seit 1995 bei 14 Nebenbahnen die Verkehrsbedienung eingestellt. Geplant wird ab 2008 weitere 17 Nebenstrecken stillzulegen, die allerdings keinen Personenverkehr führen. Darüber hinaus sollen 18 Nebenbahnen (darunter bekannte und vor allem auch touristisch genutzte Bahnen wie die Pinzgau-, Mariazeller- und Ybbstalbahn) geschlossen und durch Busse ersetzt beziehungsweise durch die Bundesländer weitergeführt werden. Betroffen sind ausschließlich Strecken in peripheren Regionen, überwiegend in Niederösterreich (Waldviertel, Voralpengebiet) (Tageszeitung Kurier 16. 8. 2006). Zum anderen kommt es bei der Einstellung der Bahnlinien und deren Substitution durch Buslinien in der Regel zu Reisezeitverlängerungen und damit zu einer Verschlechterung der Erreichbarkeit. Insgesamt konzentrieren sich Bahn- und Buskurse zunehmend auf den Schüler- beziehungsweise Pendlerverkehr, das Angebot wird insbesondere am Wochenende und in den Schwachlastzeiten (z.B. Schulferien) ausgedünnt oder ganz eingestellt. Hinzu kommt, dass regionale Anschlussmöglichkeiten an Eilverbindungen im überregionalen Verkehr in vielen Fällen nicht gege160
ben sind. Maßnahmen, die zwar zu Beschleunigungen im überregionalen Verkehr führen, haben damit keine positiven Auswirkungen auf die Erreichbarkeit in einer Region. Die sich verschlechternden Erreichbarkeitsverhältnisse im Öffentlichen Verkehr schlagen sich unter anderem auch in der Verkehrsmittelwahl für den täglichen Arbeitsweg nieder. Im Vergleich zu 1991 nahm 2001 der Prozentsatz der Kraftfahrzeugslenker um fast ein Drittel zu (auf rund 60% der Beschäftigten), während sich der Anteil der Beschäftigten, die mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fuhren, um 4,5 Prozent reduzierte. Insbesondere die Zahl der Benutzer des Busverkehrs ging dabei stark zurück. Die Erschließung der Fläche durch öffentliche Verkehrsmittel benötigt gezielte Verkehrskonzepte. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass öffentliche Verkehrsmittel durch ein regelmäßiges und zeitlich abgestimmtes Angebot eine echte Alternative zum Individualverkehr darstellen und auch so wahrgenommen werden. Verkehrskonzepte in einzelnen Bundesländern gehen in diese Richtung und bieten eine Grundversorgung in angemessener Qualität an, die für einen Großteil der Bevölkerung (nicht nur für Schüler oder Pendler) attraktiv sein können. Der Erfolg von Lösungen, die sich auf einzelne Gemeinden oder Regionen konzentrieren, hängt davon ab, wie benutzerorientiert die Angebote tatsächlich sind und ob die örtlichen Bedürfnisse bei der Konzeption miteinbezogen werden konnten. Kinderbetreuung In den letzten Jahren waren gerade im Bereich der Kinderbetreuung quantitative Verbesserungen festzustellen. Obwohl nach wie vor große qualitative und regionale Unterschiede vorhanden sind und vor allem die Städte über ein deutlich größeres und differenzierteres Betreuungsangebot verfügen, hat sich die Betreuungssituation, gemessen an den Kinderbetreuungsquoten (dem Anteil der in Kindertagesheimen betreuten Kinder, bezogen auf die gleichaltrige Bevölkerung), vor allem der drei bis fünfjährigen Kinder verbessert. Im europäischen Vergleich liegt Österreich jedoch vor allem beim Betreuungsangebot für die unter dreijährigen Kinder weit zurück. Die qualitativen Unterschiede der verschiedenen Betreuungseinrichtungen sind zudem groß und in vielen Fällen den Bedürfnissen der Eltern nicht angemessen (Tagesöffnungszeiten, Betreuungszeiten in den Ferien). Es besteht weiterhin Bedarf an zusätzlichen Betreuungseinrichtungen, besonders für Kleinkinder und für die Altersgruppe der über sechsjährigen Kinder.
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Bildungseinrichtungen Im Hinblick auf die Ausstattung der Bezirke mit Schulen und Universitäten gilt folgendes Phänomen: Je qualifizierter die angebotene Ausbildung ist, umso stärker konzentrieren sich die Standorte auf einige wenige zentrale Orte und Schulbezirke. Mit Volksschulen und Hauptschulen sind sämtliche Bezirke noch weitestgehend gut ausgestattet, obwohl es gerade im Bereich der Fünf bis Neunjährigen aufgrund der demografischen Entwicklung schwierig wird, alle Schulstandorte aufrecht zu erhalten beziehungsweise seit 2000 bereits mehr als 60 Volksschulen geschlossen wurden. Volksschulen sind als (obligatorische) Pflichtschule ganz unmittelbar vom allgemeinen Rückgang der Schüler betroffen. Das Angebot an Allgemeinbildenden Höheren und Berufsbildenden Höheren Schulen (AHS und BHS), die mit der Matura (=Abitur) abschließen, wurde in den letzten Jahrzehnten ausgebaut und konzentriert sich auf zentrale Orte beziehungsweise Schulstandorte. Inwiefern sich daraus für Schülern aus ländlichen, peripheren Gebieten Nachteile ergeben, hängt stark von der zeitlichen Erreichbarkeit und den öffentlichen Verkehrsbedingungen ab. Die schulpflichtigen Kinder müssen die regionalen Unterschiede in der Schul-Standortausstattung entweder durch tägliches oder wöchentliches Pendeln individuell ausgleichen, oder sie wählen einen Schultyp, der in ihrer Nähe angeboten wird, jedoch ihren Neigungen und Qualifikationen nicht entspricht. Das führt dazu, dass beispielsweise AHS-Schulbesuchsquoten in ländlichen Gebieten deutlich geringer sind als in Städten und auch die höchste abgeschlossene Schulbildung in kleinen, agrarisch strukturierten Gemeinden unter dem Durchschnitt liegt. Fassmann (2002) geht davon aus, dass der Faktor der räumlichen Nähe oder Distanz, die Ausstattung mit und die Standortdichte von schulischen Einrichtungen in einem hohen Ausmaß die Bildungsentscheidung der Kinder, der Jugendlichen und der Eltern beeinflusst. Alten- und Pflegebetreuung Im Bereich der Alten- und Pflegebetreuung ist insgesamt eine Zunahme beziehungsweise Umstrukturierung zu beobachten. Während das Angebot an Wohnplätzen in klassischen Altenheimen rückläufig ist, werden die mobilen Dienste stark ausgeweitet und damit die dauernde Pflege von Patienten in deren Wohnumgebung ermöglicht. Obwohl massive regionale Versorgungsunterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern durch die Landesbedarfs- und Entwicklungspläne für pflegebedürftige Personen verringert werden konnten, bestehen vor allem in den Grenzgebieten und den inneralpinen Regionen nach wie vor Probleme hinsichtlich der Erreichbarkeit, der Wahlmöglichkeiten und der verfügbaren Kapazitäten.
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Abbildung 3:
Niedergelassene Ärzte nach Gemeinden
Gesundheitseinrichtungen Im Bereich der gesundheitlichen Infrastruktur kann man ebenfalls weitestgehend von einer relativ ausgewogenen Versorgung sprechen, obwohl auch hier einige ländlich-periphere Gebiete Versorgungslücken aufweisen. Niedergelassene Ärzte und dabei insbesondere Fachärzte konzentrieren sich stärker in den Stadtregionen, während ländliche Regionen mit deutlich geringerer ärztlicher Versorgung auskommen müssen. In 636 Gemeinden gibt es keinen Arzt oder keine Ärztin (Abbildung 3). Von einem Großteil der Wohngemeinden sind Akutkrankenhäuser innerhalb von 30 Minuten im Straßenindividualverkehr zu erreichen. Problemgebiete, in denen man über 30 Autominuten zum nächsten Akutkrankenhaus fährt, liegen vor allem in extrem dünn besiedelten Regionen wie beispielsweise in den alpinen Bereichen im Westen Österreichs, in der Obersteiermark oder dem niederösterreichischen Waldviertel. 4. (Gesellschafts)politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen Rückbau und Konzentration der Daseinsvorsorge stehen unter dem Zeichen der Einsparungsbemühungen der Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Gemeinden) und der damit forcierten Liberalisierung und Privatisierung sozialer und wirtschaftlicher Dienstleistungen. Dabei tritt die europäische Kommission als treibende Kraft der Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen auf (Stichworte „Marktöffnung und Wettbewerb“). Beeinflusst wird sie dabei durch das massive Lobbying transnationaler Konzerne, die um Marktanteile bislang gemeinwirtschaftlicher Sektoren und Branchen bemüht sind. Die Folge davon ist, dass sich Bund, Länder und Gemeinden aus der Regulierung und Erbringung der Daseinsvorsorge zusehends zurückziehen beziehungsweise privatwirtschaftliche Anreize in der Angebotsbereitstellung forcieren. Die Erhöhung der Rentabilität durch Einstellung oder Ausdünnung des Angebotes verschlechtert in vielen Fällen die Versorgung. Gemeinwohlorientierte Zielsetzungen wie beispielsweise ein flächendeckendes Angebot oder hohe Qualitätsstandards, die für die Erbringer im hohen Ausmaß nicht kostendeckend sind, werden eingestellt. Die Infrastruktur zieht sich aus der Fläche, das heißt den ländlichen Kleingemeinden zurück und konzentriert sich an den höherrangigen und zentralen Orten (z.B. den Bezirkshauptorten), wo Nutzerfrequenz und Auslastungsgrad höher sind. Es greift jedoch zu kurz, den Rückbau der Infrastruktur ausschließlich in veränderten politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu suchen. Was unter Daseinsvorsorge verstanden und nachgefragt wird, verändert sich im Laufe der Zeit. Die flächendeckende Erschließung des ländlichen Raumes durch ein engmaschiges Straßennetz und der steigende Motorisierungsgrad der ländlichen Bevöl164
kerung führen dazu, dass Besorgungen vermehrt überregional in den Bezirkshauptstädten getätigt werden. Niederrangige lokale Kleinstädte und Gemeinden verlieren demgegenüber an Anziehungskraft und Kundenfrequenz. Diese Tendenz beeinträchtigt überproportional jene Personen, die über keinen Pkw verfügen. Aber auch die Bedürfnisse der Bevölkerung haben sich gewandelt und sind heute anders als vor 30 Jahren. Kleinfamilien überwiegen, Pflege- und Betreuungsangebote werden stärker in Anspruch genommen und nachgefragt, da die Frauen vermehrt berufstätig sind und die traditionell weiblichen Betreuungsaufgaben nicht mehr übernehmen können und wollen. 5. Die qualitative Bedeutung von Infrastruktur: Fallstudien in den Gemeinden Radmer und Weißenbach a.d. Enns Anhand von zwei Gemeinde-Fallstudien wurde die qualitative Bedeutung von Infrastruktureinrichtungen analysiert. Dabei wurden die Auswirkungen der Infrastrukturentwicklung auf den Lebensalltag der Bevölkerung untersucht, ebenso die Nutzungsgewohnheiten der Ortsbewohner sowie ihre Einstellung zu Angebot und Rückbau der Einrichtungen. Die steirischen Kleingemeinden Radmer (794 Einwohner) und Weißenbach an der Enns (566 Einwohner) sind vom Infrastrukturrückbau der vergangenen Jahre unterschiedlich stark betroffen. Beide Gemeinden leiden unter Abwanderung und Überalterung. Zusätzlich fehlen insbesondere in Radmer Arbeitsplätze, vor allem für qualifizierte Beschäftigungen. Ohne Nutzung eines Pkws können in beiden Ortschaften wichtige Infrastrukturen nicht oder nur sehr umständlich genutzt werden. Die Infrastrukturen sind fußläufig überwiegend nicht erreichbar. Die Befragten bewerten die regionalen und überregionalen Infrastrukturen sowie Verschlechterungen des Angebotes ambivalent. Werden bestimmte Infrastrukturen (Post, Bahn, Bus etc.) nicht selbst in Anspruch genommen, so wird deren Bedeutung geringer eingeschätzt; selbst dann, wenn objektiv Defizite vor Ort bestehen. Weniger mobile Personengruppen (Senioren, Mütter mit Kindern) sind Verschlechterungen der Daseinsvorsorge gegenüber generell kritischer als Pendler sowie Männer. Bezüglich der Einstellung zum wahrgenommenen Rückbau der Infrastrukturen herrscht eine gewisse Widersprüchlichkeit vor: Die Befragten fordern einerseits den Ausgleich von Benachteiligungen (gleiche Lebenschancen für Stadt und Land, Grundausstattung mit wichtigen Einrichtungen auch in Kleingemeinden), sehen aber ein, dass im Dorf nicht alle Einrichtungen der Daseinsvorsorge finanziert werden können, da die Anzahl der Ortsbewohner deren Unterhaltung nicht rechtfertigt und die Auslastung der jeweiligen Infrastruktur einen zu geringen Kostendeckungsgrad aufweist. Nach ihrer Aussage gefährdet allerdings die Schlie-
165
ßung von Einrichtungen die lokale Lebensqualität. Gleichzeitig hätte der Aspekt der Ausgewogenheit und Flächendeckung bei der Politik an Rückhalt verloren. Tabelle 2:
Soziale und wirtschaftliche Infrastrukturen in den Gemeinden Radmer und Weißenbach a.d. Enns
Lebensmittelhandel
Radmer 2 Lebensmittelhändler, diverse mobile Zusteller
Gasthäuser
3 Gasthäuser
Kinderbetreuung
Halbtages-Pfarrkindergarten ab 3 Jahren, 2 Tagesmütter Altenheim (Eisenerz), mobile Dienste
Seniorenbetreuung
Volksschule Hauptschule/weiterf. Schulen
27 Kinder, zweiklassig Hauptschule + weiterf. Schulen in Eisenerz
Postfiliale
2002 geschlossen, Landzustellung
Öffentlicher Verkehr
Bus nach Eisenerz 3x täglich, Wochenende kein Verkehr
Polizeiposten Arzt
1967 aufgelassen Praktischer Arzt + Hausapotheke, Fachärzte in Bezirkshauptorten
Sonstiges
Gemeindeamt, Tabak-Fachhandel, Raiffeisenkasse, Friseur, Forstverwaltung vorhanden
Weißenbach a.d. Enns Bäckerei mit Imbissstube, Supermarkt Spar 1999 geschlossen, Supermarkt Zielpunkt in Nachbargemeinde 1 Cafe, Wirtshäuser vor 20 Jahren geschlossen Halbtages-Kindergarten ab 3 Jahren, keine Tagesmutter Pensionisten-, Alten- und Pflegeheim (St.Gallen, Weyer), mobile Dienste 25 Kinder, zweiklassig Hauptschule + Polytechnikum im Ort, weiterf. Schulen in Admont, Liezen und Waidhofen 2002 geschlossen, Landzustellung Ennstalbahn (mehrmals täglich) überregionale Busse, Regionaltaxi im Nachbarort St.Gallen Praktischer Arzt + Hausapotheke, Zahnarzt in St. Gallen, Fachärzte in Bezirkshauptorten Gemeindeamt; Bank- und Forstverwaltung aufgelassen
Quelle: eigene Recherchen, Gemeindeamt Radmer, Weißenbach a.d. Enns;
Multifunktionalität von Infrastruktureinrichtungen Die soziale und wirtschaftliche Infrastruktur versorgt die ansässige Bevölkerung nicht nur mit Gütern und Dienstleistungen. Infrastrukturen sind multifunktional 166
und erfüllen ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Neben der Versorgung mit Dingen des täglichen Bedarfes ist die Inanspruchnahme von Leistungen der Daseinsvorsorge Voraussetzung für den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt des Gemeinwesens. Infrastruktureinrichtungen sind wichtige Treffpunkte und Kommunikationsorte, wo sich die lokale Bevölkerung unverbindlich trifft und Neuigkeiten („Dorftratsch“) austauschen kann. Gerade für ältere, weniger mobile Menschen stellen Erledigungen und Besorgungen in der Gemeinde eine willkommene Möglichkeit dar, unter Menschen zu kommen und Verbindungen aufrecht zu erhalten. Auch den mobileren Dorfbewohner dient die ortsansässige Infrastruktur der Pflege und dem Erhalt sozialer Kontakte. Infrastruktureinrichtungen vor Ort beleben das Ortsbild und „entschleunigen“ den Verkehrsfluss, der Verkehr wird nicht nur durch die Gemeinde durchgeleitet. Werden Infrastruktureinrichtungen an zentralen Orten konzentriert und unrentable Zweigstellen in Kleingemeinden geschlossen, fallen diese Nebeneffekte weg und es führt buchstäblich zu einer Entleerung der ländlichen Räume. Weiters werden durch lokale und regionale Infrastruktureinrichtungen auch Arbeitsplätze geschaffen und erhalten. Dies stärkt die lokale Kaufkraft, verringert den Druck, eine auswärtige Beschäftigung annehmen zu müssen, und vermindert die Abwanderung. Vor allem kleine Dienstleistungsbetriebe bieten Frauen, die vielfach die Aufgabe der Kinder- und Altenbetreuung übernehmen, die Möglichkeit, in ihrer Gemeinde einer (Teilzeit)Beschäftigung nachzugehen. 6. Perspektiven Generell ist festzustellen, dass die ländlich-peripheren Regionen in unterschiedlichem Ausmaß mit sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktureinrichtungen versorgt sind. Die Entwicklung verläuft nicht in allen Bereichen gleich, es ist jedoch so, dass in jenen Bereichen, in denen in den letzten Jahren ein deutlicher Rückbau festzustellen ist, dieser Rückbau (aus verschiedenen Gründen) verstärkt im ländlichen Raum stattfindet. Gebiete mit demografischen und wirtschaftlichen Problemen sind besonders davon betroffen. Die Gebietskörperschaften – Bund, Länder, Gemeinden – sind gefordert, sich auf die veränderten Rahmenbedingungen einzustellen und ein ausreichendes Versorgungsniveau aufrechtzuerhalten. Die flächendeckende, dauerhafte, verlässliche Versorgung muss qualitativ und quantitativ verbindlich sein. Dazu können sektorale sowie sektorübergreifende Mindeststandards der Grundversorgung (vgl. beispielsweise der britische „Rural Service Standard“) beitragen. Damit kann der Ausdünnung der verschiedenen Daseinsvorsorgebereiche politisch entgegengesteuert werden. Gefordert sind auch die Kommunen selbst. Eine verstärkte Zusammenarbeit
167
zwischen Kleingemeinden kann zu einer Ergänzung des Angebotes und letztlich zu einer höheren Auslastung führen. Eine zentrale Rolle bei der Grundversorgung des ländlichen Raums mit sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktureinrichtungen stellt die Erreichbarkeit derselben dar. Ein ausgewogenes und benutzerfreundliches Angebot im Öffentlichen Nahverkehr auch innerhalb der Gemeinden ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass auch weniger mobile Verkehrsteilnehmer die Einrichtungen erreichen können. In den letzten Jahren wurden auf Landes-, Regional- und Kommunalebene verschiedene Verkehrskonzepte entwickelt, die für breite Teile der Bevölkerung ein Mindestmaß an Mobilität sicherstellen wollen. Es erscheint in diesem Zusammenhang wesentlich, jene für den Erfolg ausschlaggebenden Kriterien herauszuarbeiten und diese für die jeweiligen Ansprüche weiterzuentwickeln, damit auch andere Regionen von den Erfahrungen profitieren können. Multifunktionale Einrichtungen bieten die Möglichkeit, durch vielfältige Kombinationen Infrastruktureinrichtungen vor Ort wirtschaftlich tragfähig aufrecht zu erhalten. Sowohl die Versorgungsfunktion als auch die nicht-konsumorientierten Funktionen könnten damit gewährleistet beziehungsweise sogar gestärkt werden. Bei der Lebensmittelnahversorgung können durch die Einrichtung von „Multi Service Shops“ (Lebensmittelgeschäft kombiniert mit Dienstleistungen wie Post, Tabak-Trafik, Cafe- und Imbissbereich etc.) neue Käuferschichten angesprochen und damit der Umsatz gestärkt werden. Der Bau und die Ausstattung von Schulgebäuden sollte darauf Bedacht nehmen, dass sie auch als Bildungs- und Kulturzentrum, für Sport und Unterhaltung und Initiativen aller Art genutzt werden können. Im Gesundheitsbereich können Praxisgemeinschaften, die ihre Räumlichkeiten für Zusatzangebote (Prävention, Alternativmedizin) zur Verfügung stellen, zu einer höheren Effizienz beitragen. Gelungene Projekte, die von der Bevölkerung angenommen werden, sollten im Sinne von „best-practice“ als Vorbild für andere Regionen dienen. Das ländliche Entwicklungsprogramm für die Jahre 2007-2013 im Rahmen des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) böte prinzipiell die Möglichkeit, im Rahmen des Schwerpunkts 3 "Lebensqualität im ländlichen Raum und Diversifizierung der ländlichen Wirtschaft" Initiativen so zu fördern, dass zukunftsfähige und bedarfsorientierte Konzepte auf lokaler und regionaler Ebene umgesetzt werden können. Der österreichische Entwurf der Maßnahmenbeschreibungen enthält beispielsweise die Maßnahme “Unterstützung der Gründung und Entwicklung von Kleinstunternehmen”, in deren Rahmen beispielsweise die Förderung von Investitionen in der Nahversorgung einzuordnen ist. Auch die Maßnahme “Dorfentwicklung” und das Leader-Programm (“Maßnahmen zur Steigerung der Lebensqualität im ländlichen Raum”) bieten Anknüpfungsmöglichkeiten zur Förderung von Dienstleistungen der Daseinsvorsorge (BMLFUW 2006). 168
Literatur Arbeiterkammer 2006: AK-Umfrage zeigt: Den Menschen geht ihre Post ab - Landzusteller & Co sind nur ein schwacher Ersatz. Presseunterlagen der Pressekonferenz am 20. Juli 2006. Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft BMLFUW (2006): Der Grüne Pakt für Österreichs Landwirtschaft - Ländliche Entwicklung 2007-2013, Entwurf Maßnahmenbeschreibung. Wien. http://land.lebensministerium.at/article/articleview/60417/1/8486 (Zugriff am 28. September 2007). Fassmann, Heinz (2002): Räumliche Disparitäten im österreichischen Schulsystem. Strukturen, Trends und politische Implikationen. Österreichische Raumordnungskonferenz (ÖROK), Schriftenreihe Nr. 162. Wien: Eigenverlag. Favry, Evelin/ Hiess, Helmut/ Musovic, Zeljka/ Smrzka, Barbara/ Pfefferkorn, Wolfgang (2006): Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit ländlicher Räume. Dienstleistungen der Daseinsvorsorge und Regionale Governance: Veränderungen, Herausforderungen, Handlungsbedarf. Österreichische Raumordnungskonferenz (ÖROK), Schriftenreihe Nr. 171. Wien: Eigenverlag. Heilig, Gerhard (2002): „Der ländliche Raum droht zusammenzubrechen“ Zur Demographie ländlicher Räume in Europa: Zahlen, Fakten, Schlussfolgerungen. In: Ländlicher Raum 5/2002, Wien. Machold, Ingrid/ Tamme, Oliver (2005): Versorgung gefährdet? Soziale und wirtschaftliche Infrastrukturentwicklung im ländlichen Raum. Forschungsbericht Nr. 53 der Bundesanstalt für Bergbauernfragen. Wien: Eigenverlag. Österreichische Raumordnungskonferenz - ÖROK (Hrsg.) (2002): Österreichisches Raumordnungskonzept 2001. Schriftenreihe Nr. 163. Wien: Eigenverlag. Österreichische Raumordnungskonferenz - ÖROK (Hrsg.) (2005): Elfter Raumordnungsbericht. Analysen und Berichte zur räumlichen Entwicklung Österreichs 2002-2004. Schriftenreihe Nr. 170. Wien: Eigenverlag. Tageszeitung Kurier (16.8.2006): „Buslinien statt 15 Nebenbahnen“. Tamme, Oliver (2007): „Wenn der Postfuchs nicht mehr winkt“ - Postversorgung auf dem Land nach der Schließungswelle. Facts & Features Nr. 36 der Bundesanstalt für Bergbauernfragen. Wien: Eigenverlag. Verkehrsclub Österreich - VCÖ (Hrsg.) (2004): Was öffentlicher Verkehr und Schienengüterverkehr leisten. Wissenschaft und Verkehr 3/2004, Wien.
169
Expansive Umgangsweisen mit dem Demografischen Wandel im bildungspolitischen Bereich – Vorteile und Gefahren am Beispiel des polnischen öffentlichen Bildungssektors Katarzyna Kopycka
1. Einleitung Im Fokus dieses Beitrages steht die Analyse möglicher Anpassungsstrategien der öffentlichen Leistungsträger angesichts des Demografischen Wandels. Die Arbeit konzentriert sich dabei auf so genannte expansive Lösungen, das heißt, Verfahren, die eine Ausweitung des Leistungsangebotes als Reaktion auf eine sinkende Nachfrage bedeuten. Im Schulbereich manifestierten sich expansive Lösungen beispielsweise in der Erweiterung des Curriculums, in einer Verlängerung der Schulpflicht oder in neuen Formen wie Ganztagschulen. Solche Strategien können Vorteile haben, da sie einen Abbau der vorhandenen kommunalen Leistungsinfrastruktur vermeiden und gleichzeitig die Qualität der angebotenen Leistungen erhöhen. Allerdings sind sie mit Risiken verbunden. Ein Anstieg der Kosten der Leistungserbringung pro Kunde kann zu einer Destabilisierung der finanziellen Situation der Gemeinden führen. Darüber hinaus kann es zwischen verschiedenen Altersgruppen zu Konflikten über die Verteilung der kommunalen Ressourcen im Bereich kommunaler Leistungen kommen. Ziel dieses Artikels ist es, anhand der polnischen Bildungsreform eine exemplarische Analyse der genannten möglichen Folgen expansiver Strategien im Umgang mit dem Demografischen Wandel durchzuführen. Im ersten Schritt wird die demografische Situation in Polen kurz geschildert. Danach wird auf die 1999 in Polen eingeführte Bildungsreform eingegangen und gezeigt, inwieweit sie als eine expansive Strategie verstanden werden kann. Anschließend wird die Analyse der Auswirkungen dieser Strategie vorgenommen.
170
2. Demografische Situation in Polen Demografische Tendenzen in Richtung Schrumpfung, Überalterung und Geburtenrückgang, wie wir sie aus Deutschland, aber auch aus anderen Staaten Europas kennen, treten seit Beginn der Transformation in steigendem Maße auch in Polen auf. Seit 1984 sinken die jährlichen Geburtenzahlen ununterbrochen. 2004 wurden 356,1 Tausend Kinder geboren: 22,2 Tausend weniger als 2000 und 367,5 Tausend weniger als 1983. Das bedeutet einen Rückgang von mehr als 50 Prozent in etwa 25 Jahren. Der Rückgang der Geburten kann nicht durch eine ungünstige Alterstruktur der Frauen erklärt werden und ist auf eine drastisch fallende Neigung, Kinder zu bekommen, zurückzuführen. Die Gesamtfruchtbarkeitsziffer (TFR) ist in den Jahren 1989 - 2003 von 2,08 bis auf 1,22 systematisch gesunken. Auf Veränderungen des Fertilitätsmusters in Richtung beständiger niedriger Fertilität deutet neben der deutlich unter dem Niveau der einfachen Reproduktion bleibenden Geburtenrate auch die Tatsache hin, dass sich die größte Geburtenhäufigkeit von der Gruppe der 20-24-jährigen auf die Gruppe der 25-29-jährigen Frauen verschoben hat. Mit den beschriebenen Entwicklungen verfestigt sich in Polen eine fehlende Nachhaltigkeit in der Bevölkerungsentwicklung. Laut Experten des Nationalen Statistischen Amtes (GUS) ist kein grundlegender Wandel dieser Tendenzen zu erwarten. In den nächsten Jahren wird die TFR mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter – bis auf 1,1 im Jahr 2010 – sinken. 2010 bis 2020 soll die Gesamtfruchtbarkeitsziffer dann wieder bis auf 1,2 steigen. Das durchschnittliche Gebäralter wird sich in folgenden Jahren systematisch erhöhen und 2025-2030 über 30 Jahre betragen. Die skizzierten Tendenzen treten gemeinsam mit anderen Bevölkerungstrends auf: dem Anstieg des Durchschnittsalters und der kontinuierlichen Steigerung des Anteils älterer Menschen in der Gesellschaft. Im Zeitraum von 50 Jahren (von 1950 bis 2000) hat sich die Zahl der über 60-Jährigen in Polen verdreifacht. Im Vergleich zu 2000 ist ihr Anteil 2004 (von 16,7 auf 17,1 % der Gesamtbevölkerung) wieder leicht gestiegen. Diese Zahlen bleiben nicht ohne Einfluss auf die demografische Belastung der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung. 2004 kommen auf 100 Menschen im erwerbstätigen Alter 24 Rentner. Demografische Alterungsprozesse sind auch in der Alterstruktur der Erwerbstätigen festzustellen. Der Anteil der älteren, weniger mobilen Arbeitskräfte nimmt zu. Ein weiteres Merkmal alternder Gesellschaften ist die steigende Zahl der Hochbetagten (75+). Ihr Anteil an der Gruppe der über 60Jährigen überschritt 2004 30 Prozent. Laut Prognosen des GUS und der Vereinten Nationen (Rzdowa Rada Ludnociowa 2004:40-45) werden sich diese Trends in den nächsten Jahren verfestigen und verschärfen. Es ist zu erwarten, dass bis 2050 die Hälfte aller Polen 50 Jahre und älter sein wird. Der Anteil der nichterwerbstätigen älteren Menschen dürfte im Jahre 2030 etwa 44 Prozent betragen. Der Rückgang und die Alterung der polnischen Bevölkerung werden durch Migrationen ins Ausland weiter verschärft. Obwohl der Migrationssaldo heutzutage 171
viel geringer ist als in den 1980er Jahren, als massive Abwanderungen stattfanden (Okólski 2004:192ff), haben Abwanderungen einen zunehmenden Einfluss auf die Bevölkerungsbilanz und die Altersstruktur, da sie nicht durch natürlichen Zuwachs (der Saldo war in den letzten Jahren negativ) kompensiert werden. Die negative Abwanderungsbilanz wird nur in geringem Maß durch die seit der Transformation 1989 kontinuierlich steigende Immigrationsrate gemildert. Laut Experten des GUS werden sich die Abwanderungsraten in den nächsten Jahren (bis zum Jahr 2010) erhöhen, was auf die Öffnung der Arbeitsmärkte in den alten EU-Mit-gliedstaaten zurückzuführen ist. 3. Die polnische Bildungsreform als eine expansive Lösung des demografischen Problems Aus der Sicht der öffentlichen Akteure rücken angesichts der demografischen Veränderungen zwei Strategien in den Mittelpunkt: eine Offensivstrategie, die eine aktive Gestaltung der demografischen Bevölkerungsstruktur - entweder durch eine Einflussnahme auf das Fertilitätsniveau oder durch eine Zuwanderungspolitik voraussetzt; und eine Defensivstrategie, die eine Anpassung der öffentlichen Infrastruktur auf das neue Nachfrageniveau anstrebt (Gürtler 2004). Darüber hinaus ist eine dritte Reaktionsweise auf demografische Veränderungen möglich, die hier als expansive Lösung bezeichnet wird. Darunter wird verstanden, dass die sinkende Leistungsnachfrage durch eine Ausweitung des Leistungsangebots kompensiert wird. Solche Lösungen sind vor allem im Bildungsbereich in Form von Ganztagschulen beziehungsweise der Eröffnung kleinerer Klassen zu beobachten. Die Reform des polnischen Schulsystems und die neuen institutionellen Arrangements waren nicht spezifisch auf den Demografischen Wandel ausgerichtet. Trotzdem hatten sie einen beträchtlichen Einfluss darauf, wie stark der öffentliche Schulsektor von demografischen Veränderungen betroffen war. Denn der expansive Charakter der Reform hatte kompensative Auswirkungen: Pro Schüler standen nun qualitativ und quantitativ mehr Bildungsinfrastruktur zur Verfügung. In dieser Hinsicht scheinen drei Aspekte der Reform vor größter Bedeutung zu sein: Erstens wurde ein neuer Schultyp eingeführt, zweitens wurde die Schulpflicht um ein Jahr verlängert und drittens hat die Reform Veränderungen im Curriculum bewirkt. Die Unterschiede zwischen der alten und der neuen Struktur zeigt Abbildung 1.
172
Abbildung 1:
Das alte und neue Schulsystem in Polen Altes System
Neues System
Grundschule
1
8 Jahre
2
Nullklasse Grundschule
3
6 Jahre
4 5 6 7
Lyzeum 4 Jahre
Technikum 5Jahre
Berufsschule 3 Jahre
8
Gymnasium
9
3 Jahre
10 11
Lyzeum 3 Jahre
12
Abitur
Abitur
13
Abitur
Technikum 4 Jahre
Berufsschule 2-3 Jahre
Abitur
Quelle: Eigene Darstellung
Die Einführung eines neuen Schultyps (des dreijährigen Gymnasiums) hat eine tiefgreifende Restrukturierung des Schulnetzes ausgelöst. Die aufgrund der sinkenden Schülerzahlen immer weniger ausgelasteten Grundschulen wurden zusammengeführt. Anstelle der Grundschulen, die geschlossen wurden, sind jedoch gleichzeitig neue Gymnasien eröffnet worden. Im Ergebnis wurden mehr Gymnasien eröffnet als Grundschulen geschlossen, so dass die Gesamtzahl der polnischen Schulen seit 1998 sprunghaft anstieg (Abbildung 2). Die Zahl der Schuleinrichtungen hat sich zwischen 1998 und 2002 (ab diesem Zeitpunkt wurde die Reform vollständig umgesetzt) um über 3000erhöht, was ein Einstieg von 16 Prozent im Vergleich zu 1998 ausmacht. Darüber hinaus ist die Zahl der Schulen immer noch größer als Anfang der 1990er Jahre, obwohl sie schrittweise zurückgeht. Der zweite angedeutete Aspekt der Reform, nämlich die Verlängerung der Schulpflicht um ein Jahr, wirkt sich direkt auf die Nachfrageseite im Bildungssystem aus, da sie eine Erhöhung der Schülerzahlen verursacht hat. Dieser Prozess spiegelt sich in den Schulbesuchraten für die Kohorten zwischen dem 16. und dem 18. Lebensjahr wider. Während noch im zweiten Reformjahr (2000) der Anteil der Schulbesucher etwas mehr als 88 Prozent der Gesamtbevölkerung in den genannten 173
Alterskohorten ausmachte, ist ihr Prozentanteil im Jahre 2005, das heißt nach dem Abschluss der Reform, auf fast 93 Prozent und in den folgenden Jahren auf 95 Prozent gestiegen (GUS 2006 b). Zahl der Grundschulen und Gymnasien vor und nach der Reform (in Tausend)
Abbildung 2:
Grundschulen und Gymnasien vor und nach der Reform in Tsd.
Gym nasien
20.00 10.00 2006
2005
2004
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1996
1995
1994
1993
1992
0.00 1991
Zahl in Tsd.
Grundschulen
30.00
Jahr
Quelle: GUS 2006 a
Wochenstundenzahlen in Jahren 1992 - 2002
35
360
30
350 340
25 20
330 320
15
310 300
10
290 280
5 0
270 1992
1993-1998 1999-2002
2002
Wochenstundenzahlen in polnischen Schulen Gesamtwochenstundenzahl
Jahreswochenstundenzahl
Abbildung 3:
Grundstufe I-III Grundstufe IV-VI Sekundärstufe I Sekundärstufe II Gesamtbildungszyklus
Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung auf der Basis der Verordnungen des polnischen Bildungsministeriums (MEN 1992; 1993; 1999; MENiS 2002).
Der expansive Charakter der Reform wird nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Veränderungen im Curriculum deutlich. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass die Reform die Pflichtstundenzahl aller Bildungsstufen erhöht hat (Abbildung 3). Die Abbildung zeigt deutlich, dass die im Rahmen der Bildungsstrukturreform durchgeführte Erhöhung der Jahreswochenstundenzahlen an polnischen Schulen beträchtlich war. Insgesamt wurde durch die Reform die Wochenstundenzahl im
174
gesamten Bildungszyklus von 302 auf 351, also um 49 Stunden, aufgestockt. Dies entspricht einer Ausweitung des Bildungszyklus bis zum Abitur um ungefähr zwei zusätzliche Schuljahre. Die dargestellten Prozesse wirkten sich auch auf die Personalsituation im öffentlichen Schulsektor aus. Im Zuge der Bildungsreform wurde das Lehrpersonal aufgestockt. Ein Rückbau des pädagogischen Personals wäre aufgrund von Abfindungszahlungen zudem mit erheblichen Kosten verbunden gewesen. Abbildung 4 zeigt die Zahlen der Voll- und Teilzeitstellen in polnischen Schulen in den Jahren 1992-2005. Abbildung 4:
Lehrerbeschäftigung in Polen in Jahren 1992-2005
Lehrerzahl in Tsd.
Lehrerbeschäftigung in Polen in Jahren 1992-2005 1000 800
Teilzeitbeschäftigten
600
Vollzeitbeschäftigten
400 200 0 1992
1994
1996
1998
2000
2002
2005
Quelle: CODN 2003; 2006
Wie sich aus der Abbildung ablesen lässt, ist nur geringer Rückgang der Anzahl voller Stellen an polnischen Schulen zu beobachten. Vom Höchststand von leicht über 580 Tausend im Jahre 1994 sind sie mit kleinen Schwankungen gradual auf das heutige Niveau von fast 550 Tausend, also um etwa fünf Prozent gefallen. Dieser Rückgang war aber von einem schnellen Anstieg (von 94 auf 235 Tsd.) bei der Zahl der auf Kurzzeitbasis tätigen Lehrer begleitet, so dass trotz geringerer Schülerzahlen sogar eine Steigerung der Gesamtzahl an Lehrern1 zu beobachten ist (zwischen 1992 und 2005 von 640 auf 784 Tausend, d.h. einen Anstieg um 22 %). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Schulreform im Bezug auf das gegenwärtig in Polen zu beobachtende Geburtentief eine kompensative Wirkung hatte. Die expansive Ausweitung der Schulleistungen pro Schüler im Zuge der Reform hat den Folgen der demografischen Prozesse entgegengewirkt. Die Einführung des neuen Schultyps, die deutliche Steigerung der Zahl der Jahreswochenstunden auf allen Stufen und die Verlängerung der Schulpflicht um ein Jahr haben den Bedarf an
1 Hier ist die Zahl der Stellen, nicht die der faktischen Personen gemeint.
175
Leistungen im Bildungsbereich künstlich erhöht. Dadurch ließ sich zum einen die Entwertung der Schulinfrastruktur und zum anderen, wie gerade dargestellt, der Abbau des Lehrpersonals vermeiden sowie die demografisch bedingten Probleme deutlich mildern. 4. Auswirkungen der expansiven Umgangsweise mit dem Demografischen Wandel am Beispiel Polen Expansive Strategien im Umgang mit dem Demografischen Wandel im Schulwesen werden oft mit dem Argument der Qualitätsverbesserung im Bildungsbereich begründet (Baum/ Seitz 2003). Während eine zu erhoffende Erhöhung der Bildungsqualität als vorteilhaft angesehen werden muss, bergen inflationäre Lösungen jedoch gleichzeitig einige Gefahren. Steigende Kosten der Leistungserbringung wirken zusätzlich belastend und erschweren die finanzielle Lage der öffentlichen Träger. Dies gilt in besonderer Weise für Polen, wo die Personalausgaben im Schulbereich in den Gemeinden anfallen (Abbildung 5). Abbildung 5:
Kommunale Bildungsausgaben und die Subventionierung aus dem Zentralhaushalt
50000 40000 30000
Zuschuss aus dem Zentralhaushalt für die Bildungsaufgaben
20000 10000
Gesamtbildungsausgaben in den Kommunen
19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04 20 05
0
Quelle: GUS 2001; 2002; 2003; 2004; 2005; 2006a
Die in der Abbildung zu sehende ständig wachsende Kluft zwischen den Subventionen für Bildungsaufgaben aus dem Zentralhaushalt und den tatsächlichen Ausgaben der Kommunen in diesem Bereich verweist deutlich auf eine steigende Belastung der kommunalen Leistungsträger durch die Kosten der öffentlichen Bildung. Die wachsenden Bildungsausgaben, die auf den expansiven Charakter der Bildungsreform zurückzuführen sind, wurden einfach auf die Kommunen abgewälzt. Dies kann eine wachsende Verschuldung der kommunalen Haushalte und eine damit
176
zusammenhängende Senkung der kommunalen Handlungsfähigkeit sowie eine Verschlechterung des Angebots der kommunalen Leistungsträger zur Folge haben. In diesem Zusammenhang wird auch befürchtet, dass überproportional hohe Bildungskosten im Vergleich zu anderen öffentlichen Leistungen, beispielsweise im Bereich der Altenpflege, zu einem Generationenkonflikt über die Verteilung von kommunalen Ressourcen führen können. US-amerikanische Forschungen zeigen die Plausibilität solcher Konflikte (Poterba 1997). Während die genannten Risiken expansiver Antworten auf die demografischen Probleme im Schulsektor nicht unberücksichtigt bleiben, sollte die Aufmerksamkeit auch den möglichen Vorteilen dieser Strategien geschenkt werden. Die Erhöhung der Bildungsausgaben pro Schüler kann mit großer Wahrscheinlichkeit für eine bessere Bildungsqualität sorgen und dadurch das Bildungsniveau der Gesellschaft steigern. Dies wiederum kann sich nur positiv auf die Produktivität der Arbeitskräfte und letztendlich auf die Wettbewerbsfähigkeit und Stärke der nationalen Wirtschaft auswirken. Ob die 1999 in Polen eingeführte Bildungsreform tatsächlich einen Beitrag zur Erhöhung der Bildungsqualität geleistet hat, bleibt jedoch vorläufig noch unsicher und wird sich deutlich wahrscheinlich erst in den nächsten Jahren zeigen. Die ersten Erfahrungen sind dennoch grundsätzlich positiv. Die zweite PISA Studie von 2003 hat im Vergleich zu 2000 eine erhebliche Erhöhung der durchschnittlichen Leistung polnischer Schüler festgestellt. Nicht zuletzt sind auch die Unterschiede zwischen den besten und schlechtesten Schülern kleiner geworden. Damit scheinen die zwei wichtigsten Ziele der polnischen Bildungsreform erreicht zu sein. Potenzielle Auswirkungen der expansiven Reformschritte sollen im Folgenden anhand quantitativer Daten zur Kommunalentwicklung in Polen geprüft werden. Es werden zwei Hypothesen formuliert: Die erste bezieht sich auf die finanzielle Stabilität und Handlungsfähigkeit der Gemeinden. Das Hauptinteresse liegt hier in der Investitionsfähigkeit der kommunalen Leistungsträger, was in Hinblick auf die Förderprogramme der Europäischen Union von großer Bedeutung ist. Um EU Mittel akquirieren zu können, müssen die Gemeinden zum Teil eigene Ressourcen bereitstellen – wenn sie nur geringe Mittel aus ihren Haushalten für diesen Zweck verwenden können, verlieren sie eine Chance auf Entwicklung und Wachstum. Die zweite Hypothese fokussiert das Problem des Generationenkonfliktes über die Ressourcenverteilung in den Gemeinden. Die Forschungen von Poterba (1997) in den USA stellen einen Zusammenhang zwischen der Höhe der Bildungsausgaben pro Schüler und dem Anteil der älteren Menschen in der Bevölkerung fest. Dies wird mit Hilfe der politikwissenschaftlichen Theorien (Medianwählermodel, Interessengruppen) erklärt. Damit weist der Autor auf einen intergenerationellen Konflikt hin. In Deutschland haben Baum und Seitz (2003) diese Frage aufgegriffen. Sie konnten jedoch keinen vergleichbaren eindeutigen Zusammenhang 177
zwischen dem Altenanteil und Bildungsausgaben zeigen und somit die These über den intergenerationellen Konflikt weder bestätigen noch verwerfen. In diesem Beitrag wird versucht, diese These anhand statistischer Gemeindedaten für polnische Kommunen zu prüfen. Zunächst wird analysiert, inwiefern eine Steigerung der kommunalen Ausgaben im Bildungsbereich Einbußen in anderen Bereichen der kommunalen Leistungen, hier spezifisch in der Altenpflege, verursacht (H2a) und dadurch möglicherweise eine Basis für das Auftreten eines intergenerationellen Konflikts geliefert haben. Danach wird spezifisch der Frage nachgegangen, ob in den polnischen Gemeinden ein Konflikt zwischen den Generationen festgestellt werden kann (H2b). 5. Belastung der Gemeindehaushalte durch Bildungsausgaben? Den obigen Überlegungen zufolge lautet die erste Hypothese: H1: Eine starke Belastung des Gemeindehaushaltes mit Bildungsausgaben beeinträchtigt die Investitionsfähigkeit der Gemeinde. Die Hypothese wurde im Lichte von narrativen Experteninterviews2 mit Bürgermeistern der acht polnischen Gemeinden formuliert. Sie äußerten in den Gesprächen mehrfach die Meinung, die Notwendigkeit kommunaler Zuzahlungen zur Bildung sei ein Hemmnis für die Investitionen in den Gemeinden. Die Analyse der Ausgabenstruktur der Gemeindehaushalte wird zeigen, ob diese Aussage eine falsche Wahrnehmung seitens der Bürgermeister darstellt oder der Realität entspricht. Die Hypothese wird zunächst für die beiden Woiwodschaften geprüft, in denen die Interviews geführt wurden, das heißt in Mazowieckie und in Lódzkie. Danach wird sie auch für alle polnischen Gemeinden getestet. In Polen werden praktisch alle Bildungsausgaben auf Gemeindeebene getätigt. Die Gemeinden sind sowohl für die Sachinvestitionen als auch für alle laufenden Ausgaben, also auch für die Lehrerbeschäftigung und die entsprechenden Gehälter, zuständig. Im Hinblick darauf ist es nicht verwunderlich, dass in kleineren Gemeinden die Bildungsausgaben häufig etwa die Hälfte des Gemeindebudgets ausmachen. Für Bildungsausgaben erhalten die Gemeinden einen Zuschuss aus dem Zentralhaushalt, eine so genannte Bildungssubvention. Die Höhe dieser Subvention wird jährlich für jede Gemeinde über einen Verteilungsschlüssel berechnet. Der Vertei-
2 Die Experteninterviews wurden in September und Oktober 2006 im Rahmen des B8 Projektes „Demographischer Wandel und Arbeitsmarkt des öffentlichen Sektors“ des Sonderforschungsbereiches 580 der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch“ durchgeführt.
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lungsschlüssel basiert auf der Zahl der in der Gemeinde angemeldeten Kinder im schulpflichtigen Alter. Darüber hinaus werden dabei auch regionale Differenzen, die Unterscheidung zwischen ländlichen und städtischen Gemeinden und andere Faktoren berücksichtigt. Trotzdem bleibt der Verteilungsschlüssel fehlerhaft und die realen Bildungskosten werden unterschätzt. Eine Folge dessen ist die in Abbildung 5 gezeigte Kluft zwischen den staatlichen Subventionen und den faktischen lokalen Ausgaben in diesem Bereich. Die Differenz zwischen den erhaltenen und ausgegebenen Mitteln für die Bildung müssen die Gemeinden aus anderen Töpfen finanzieren. Rückblickend auf die häufig in den Expertengesprächen mit Bürgermeistern geäußerte Ansicht entstand die Vermutung, dass diese zusätzlichen kommunalen Ausgaben im Bildungsbereich die Investitionsfähigkeit der Gemeinden beeinträchtigen werden. Bei der Analyse stellte sich jedoch heraus, dass hier nur eine sehr schwache und erstaunlicherweise entgegengesetzte Beziehung bestand: Höhere Bildungsausgaben korrelieren positiv mit der Höhe der Investitionen. Auf den zweiten Blick lässt sich dieses kontraintuitive Ergebnis jedoch leicht erklären: „Reichere“ Gemeinden tätigen größere Investitionen und geben häufig auch mehr für die Bildung aus, um deren Qualität zu steigern und die lokalen Rahmenbedingungen zu verbessern. Tatsächlich verschwindet der positive Zusammenhang zwischen der Höhe der Zuzahlungen für die Bildung und der Höhe der Investitionen nahezu, wenn man die jeweiligen kommunalen Einnahmen pro Kopf in das Model einbaut. Es handelt sich demnach um eine Scheinkorrelation, die darauf hindeutet, dass die kommunalen Zuzahlungen für die Bildungszwecke allein kein gutes Maß für die Belastung der kommunalen Haushalte durch die Bildungsausgaben darstellen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass es mehrere Gründe für die staatliche Subventionen übersteigende Ausgaben im Bildungsbereich geben kann. Herbst (2000) spricht in seiner Analyse von zwei unterschiedlichen Faktoren, die dafür verantwortlich sind: Einerseits der Faktor „reiche Großstädte“ und andererseits der Faktor „ländliches zerkleinertes Schulnetz“. Demnach geben reiche städtische Gemeinden mehr für die Bildung aus, weil sie genug Ressourcen zur Verfügung haben um Bildungseinrichtungen zusätzlich finanziell zu stärken. Dagegen machen ländliche Gemeinden die Zuzahlungen im Bildungsbereich, weil das zerkleinerte und ineffiziente Schulnetz sie dazu zwingt. Da anhand der statistischen Daten nicht feststellbar ist, welche Motivationen hinter den die Subventionierung überschreitenden Bildungsausgaben stehen, ist dieses Maß nicht sehr aufschlussreich. Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass die höheren Ausgaben der Gemeinden für die Bildung oft durch Investitionen in Bildungseinrichtungen verursacht werden. Damit wird versucht, einen Teil der Varianz einer abhängigen Variable durch die gleiche Variable zu erklären. Es ist daher nicht so verwunderlich, dass die höheren Zuzahlungen mit den Investitionen insgesamt positiv korreliert sind.
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Aus den genannten Gründen wurde ein anderes Maß für die Belastung der Kommunalhaushalte mit Bildungsausgaben in die Analyse aufgenommen, und zwar der prozentuale Anteil der Bildungsausgaben am Gesamthaushalt der Gemeinde. Der Anteil der Bildungskosten in prozentuellen Werten ist schlüssig, weil es die Kontrolle der Größe des Haushaltes ermöglicht. Bivariat korrelieren die Bildungsausgaben und die Investitionsausgaben in absoluten Werten zunächst positiv miteinander, was kontraintuitiv ist. Wenn aber die Gesamtausgaben im Regressionsmodell berücksichtigt werden, kehrt sich dieses Verhältnis um und wird stark negativ (Tabelle 1). Tabelle 1:
Lineare Regression.
Regression 1 Konstante AusBil 2 Konstante AusBil Aus
B-Koeffzient 45986,233*** 0,484*** 306267,225*** -0,393*** 0,296***
eta-Koeffizient
Toleranz
0,878***
1,000
-0,713*** 1,628***
0,046 0,046
Quelle: Eigene Berechnungen abhängige Variable: Investitionsausgaben der Gemeinden AusBil –Bildungsausgaben in PLN Aus – Gesamtausgaben in PLN *** auf mehr als 0,01 %iges Niveau signifikant
Da jedoch die Toleranz (Maß der Kollinearität zwischen den Variablen in der Gleichung) für die Variablen sehr niedrig ist, muss die Größe des Haushaltes auf eine andere Weise mitberücksichtigt werden – in diesem Fall, indem anstelle der absoluten Werte mit den prozentualen Anteilen an den Gesamtausgaben gearbeitet wird. Nun konnte in der Woiwodschaft Lodzkie eine mittelstarke negative Korrelation (Pearsons R = –0,406) zwischen dem Anteil der Bildungsausgaben und dem Anteil der Investitionsausgaben festgestellt werden. Diese bleibt auch bestehen, wenn im Modell die Einwohnerzahl (die Größe der Gemeinde) und die Einnahmen pro Kopf (d.h. der „Reichtum“ der Gemeinde) mitberücksichtigt werden. In Mazowieckie fällt diese Korrelation sogar noch stärker aus (R = -0,51). In beiden Fällen beeinflussen weder die Gemeindegröße noch die Höhe der Einnahmen pro Einwohner Stärke und Richtung des Zusammenhanges. Im zweiten Schritt wurden die Bildungsausgaben in laufende Kosten und in Sachausgaben unterschieden und ihre jeweiligen Anteile als unabhängige Variablen zur Erklärung der kommunalen Investitionen aufgenommen. Zu den laufenden Ausgaben gehören Gehälter und Schulbetriebskosten, während unter die sachlichen Ausgaben Gebäudepflegearbeiten und sonstige Investitionsausgaben fallen. In der 180
Woiwodschaft Lodzkie erklärt der Anteil der laufenden Bildungsausgaben die Varianz des Gesamtinvestitionsanteils am Gesamthaushalt zu 50 Prozent (Tabelle 2). Auch die Stärke des Zusammenhanges ist sehr hoch. Für Mazowieckie zeigten sich ähnliche Ergebnisse. Lineare Regression.
Tabelle 2: Woiwodschaft Mazowieckie Lodzkie
B-Koeffizent
BetaKoeffizient
Konstante pAB_Lauf Konstante
57,058*** -1,019*** 54,020***
-0,742***
pAB_Lauf
-1,012***
-0,707***
Regression
PearsonsR²
korrigierter Pearsons-R²
0,551
0,550
0,500
0,498
Quelle: Eigene Berechnungen abhängige Variable: prozentualer Anteil der Investitionsausgaben der Gemeinden in Gesamtausgaben pAB_lauf – prozentualer Anteil der laufenden Bildungs- in Gesamtausgaben *** auf mehr als 0,01 %iges Niveau signifikant
Kontrolliert man die Gemeindegröße und die Höhe der Eigeneinnahmen pro Kopf in der Gemeinde, so stellt sich heraus, dass sie keinen Einfluss auf diesen Zusammenhang haben. Damit lässt sich die Hypothese 1 auch unter Kontrolle relevanter Drittvariablen bestätigen: Hohe Ausgaben für Bildung beeinträchtigen die Investitionsfähigkeit der polnischen Gemeinden negativ. Darüber hinaus wurde herausgefunden, dass der negative Zusammenhang zwischen dem Anteil der laufenden Bildungsausgaben und den Anteil der für die Investitionen ausgegebenen Mittel für alle Gemeinden unbeachtet ihrer Größe und ihres Wohlstands in den beiden untersuchten Woiwodschaften generell gilt. Lineare Regression.
Tabelle 3:
Regression pAB_lauf pAB_lauf, D_Woi
Pearsons-R 0,59
Pearsons-R² 0,346309
korriegierter Pearsons-R² 0,3460445
0,66
0,43721
0,4335479
Quelle: Eigene Berechnungen abhängige Variable: prozentualer Anteil der Investitionsausgaben der Gemeinden in Gesamtausgaben pAB_lauf – prozentualer Anteil der laufenden Bildungs- in Gesamtausgaben D_Woi – 15 Dummy Variablen für die 16 polnischen Woiwodschaften, die Referenzkategorie bildet Mazowieckie mit der größten Anzahl von Gemeinden (N=413)
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Berechnet man ein vergleichbares Modell über alle polnischen Gemeinden, so ergibt sich, dass der genannte Zusammenhang ebenfalls bestehen bleibt. Aufgrund der höheren Zahl der Fälle steigt jedoch die Varianz und sinkt die Erklärungskraft des Gesamtmodells auf 35 Prozent (Tabelle 3). Für diesen Rückgang sind zum Großteil Gruppenunterschiede zwischen den Woiwodschaften verantwortlich. Berücksichtigt man im Modell diesen Effekt der Woiwodschaften, steigt die Erklärungskraft wiederum bis auf 44 Prozent. 6. Konkurrenz zwischen Altenpflege und Schule? Die zweite Frage, die in diesem Beitrag betrachtet wird, bezieht sich auf einen möglichen intergenerationellen Konflikt über die Ressourcenverteilung zwischen den älteren und den jüngeren Gemeindebewohnern. Hier werden zwei Hypothesen aufgestellt. Zunächst soll geprüft werden, welchen Effekt eine expansive Politik im Bildungssektor auf die Verteilung der kommunalen Ressourcen unter Altersgruppen hatte. Für diesen Zweck wird eine Hypothese formuliert: H2a: Je größer der Anteil der Bildungsausgaben an den Gesamtausgaben der Gemeinde, desto weniger wird in dieser Gemeinde für die Alterspflege ausgegeben. Anschließend wird auf eine generelle Frage über das Vorkommen eines intergenerationellen Konfliktes eingegangen. Sowohl Poterba als auch Baum und Seitz bedienen sich in ihren Analysen Paneldatensätzen, die sich über 30 Jahre erstrecken. Weil so die Analyse im Langschnitt erfolgen kann, sind klarere Aussagen möglich. Ein solches Vorgehen setzt jedoch voraus, dass das Bildungssystem grundsätzlich stabil bleibt. Dies ist in Polen nicht der Fall, da – wie oben ausgeführt – zwischen 1999 und 2005 tiefgreifende Umstrukturierungen des Bildungssystems stattgefunden haben. Da die Reform gleichzeitig sowohl als investiv als auch als expansiv zu bezeichnen ist, ist grundsätzlich ein hoher Einstieg in Bildungsausgaben unbeachtet des Anteils der älteren Einwohner zu erwarten. Dies ist jedoch wenig aussagekräftig, da diese Steigerung in Ausgaben für Bildung durch institutionelle Veränderungen vorbestimmt war. Um die Hypothese eines intergenerationellen Konfliktes zu testen, kann daher lediglich eine Querschnittanalyse durchgeführt werden. Die diesbezügliche Hypothese lautet: H2b: Je größer der Anteil der älteren Gemeindeeinwohner (65+), desto geringer sind die Bildungsausgaben in dieser Gemeinde. Um die erste Hypothese zu prüfen wurde eine Regressionsanalyse vorgenommen. Als abhängige Variable wurden die Ausgaben für die Altenpflegeeinrichtungen pro 182
Einwohner als ein Indikator für die Ausgaben im altenpflegerischen Bereich gewählt. Als unabhängige Variable gilt im Modell der Anteil der Bildungsausgaben im Gesamthaushalt. In der Analyse stellt sich heraus, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Belastung der kommunalen Haushalte durch Bildungskosten und den Ausgaben für die öffentliche Altenpflege gibt. Damit kann die Hypothese über die aufgrund einer expansiven Politik in einem Bereich der kommunalen Leistungen vermutete Benachteiligung der anderen Altersgruppen (hier eben der Älteren) verworfen werden. Tabelle 4:
Lineare Regression. Regression pAusBil Konstante
B-Koeffizient -0,028*** 2,649***
Pearsons-R² 0,032
Quelle: Eigene Berechnungen abhängige Variable: logarithmierte3 Ausgaben für Altenpflegeeinrichtungen pro Einwohner pAusBil - prozentualer Anteil der Bildungs- in Gesamtausgaben *** auf mehr als 0,01 %iges Niveau signifikant
Um die zweite Hypothese zu testen, wurden partielle Korrelationen erstellt, wobei als unabhängige Variable der Anteil der älteren Einwohner und als abhängige Variable der Anteil der gesamten Bildungsausgaben an den Gesamtausgaben verwendet wurden. Als Kontrollvariablen wurden die Schülerzahl und Gemeindeeinnahmen pro Kopf in beiden Modellen berücksichtigt. Tabelle 5:
Partielle Korrelation von Anteil der gesamten Bildungsausgaben an den Gesamtausgaben mit folgenden Variablen Variable Anteil älterer (65+) Einwohner Anteil jungen (bis 17) Einwohner Einnahmen pro Kopf
Pearsons R 0,0964 0,3531 -0,4648
Signifikanzniveau 0,000 0,000 0,000
Quelle: Eigene Berechnungen
Aus der Analyse geht hervor, dass der Anteil der älteren Gemeindeeinwohner einen signifikanten, wobei niedrigen Einfluss auf die Ausgaben im Bildungsbereich hat. Dabei ist die Richtung des Zusammenhanges interessant. Mit steigendem Anteil der
3 Aufgrund der Rechtsschiefe der Verteilung der Variable wurde sie logarithmiert.
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älteren Einwohner steigt ebenfalls der prozentuelle Anteil der Bildungsausgaben an den Gesamtausgaben. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass höhere Ausgaben im Bildungsbereich nicht immer eine freiwillige Zusatzleistung darstellen. Öfters sind sie Resultat einer Fehlanpassung der bestehenden Schulinfrastruktur an Alterungsprozesse (fallende Schülerzahlen). Anstelle der Gesamtausgaben nur die Höhe der Sachausgaben im Bildungsbereich (die Investitionen in Bildungsinfrastruktur darstellen) zu betrachten, scheint besserer Weg zu sein, die Hypothese 2b zu testen. Tabelle 6:
Partielle Korrelation von Anteil der Sachausgaben im Bildungsbereich an den Gesamtausgaben mit folgenden Variablen Variable Anteil älterer (65+) Einwohner Anteil jungen (bis 17) Einwohner Einnahmen pro Kopf
Pearsons R
Signifikanzniveau
-0,0103 0,0771 0,0197
0,637 0,000 0,366
Quelle: Eigene Berechnungen
Die Analyse zeigt, dass die Korrelation zwischen dem Anteil der Sachausgaben in der Bildung an den Gesamtausgaben und dem Anteil der älteren Einwohner insignifikant ist. Damit muss die Hypothese über den intergenerationellen Konflikt, so wie sie gestellt wurde, verworfen werden. 7. Fazit Ziel dieses Artikels war es, die möglichen Auswirkungen der expansiven Reaktionsweise öffentlicher Leistungsträger auf die demografisch bedingten Herausforderungen zu schildern. Als Analysebeispiel für eine solche Strategie diente hier die 1999 in Polen eingeführte Bildungsreform. Anhand statistischer Daten zur Gemeindeentwicklung in Polen wurden zwei potenzielle negative Folgen der expansiven Strategie genannt und getestet. Die Analyse hat ergeben, dass eine expansive Politik im Bildungsbereich zu einer erheblichen Belastung der polnischen Gemeindehaushalte führt und sich diese Entwicklung auf ihre Investitionsfähigkeit negativ auswirken kann. Gleichzeitig konnte, trotz der erheblichen Erhöhung der Ausgaben für Bildung in den letzten Jahren, das Auftreten von intergenerationellen Konflikten in Bezug auf die Ausgaben von altersspezifischen Infrastrukturleistungen nicht festgestellt werden.
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Wenn man gegen den Strom schwimmt und auf Kultur und Weiterbildung setzt Bernadette Jonda
1. Einleitung Die Alterung der Gesellschaft, das Sinken der Kinderzahlen und in Folge dessen ein sukzessiver Rückgang der Bevölkerungszahl – dies sind die zentralen Elemente der gegenwärtigen und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch der zukünftigen demografischen Entwicklung in Deutschland. Diese berührt alle politischen Ebenen empfindlich und fordert zum Handeln heraus. Die Reaktionen auf diese Herausforderungen sind denkbar unterschiedlich. Ein Bereich, in dem eine besondere Betroffenheit durch den Demografischen Wandel wahrgenommen wird, ist der der kommunalen Daseinsvorsorge (Bartl/Jonda 2008:183). Dies ist durch diverse empirische Untersuchungen belegt: Bei der Bürgermeisterbefragung der Bertelsmann Stiftung und der Regionalstudie Rheinland-Pfalz kommt zum Beispiel zum Vorschein, dass die meisten kommunalen und regionalen Entscheidungsträger den Demografischen Wandel als eine zentrale Herausforderung in ihrem Wirkungsfeld betrachten (Bertelsmann Stiftung 2005; Hradil/Jonda 2004; Sarcinelli/Stopper 2004; Eckert et al. 2004). Gleichzeitig wird deutlich, dass die einzelnen kommunalen Aufgabenfelder als unterschiedlich stark betroffen angesehen werden. Unbestritten wird in den Bereichen der Wirtschaftsförderung, der Bildung sowie der Siedlungs- und Infrastruktur im Allgemeinen ein dringender Handlungsbedarf gesehen, um den Folgen des Demografischen Wandels wirkungsvoll begegnen zu können. Andere Bereiche, wie zum Beispiel Kultur und Weiterbildung, erfahren dagegen häufig nur eine nachrangige Aufmerksamkeit. In dem vorliegenden Beitrag soll dieser Umstand beleuchtet werden. Die Ausführungen zum Stellenwert und zur Rolle von Kultur und Weiterbildung im kommunalen und regionalen Kontext vor dem Hintergrund des Demografischen Wandels gehen dabei primär auf die Ergebnisse einer auf Befragungen von Bürgermeistern und Landräten in Rheinland-Pfalz im Jahre 2004 basierenden Studie (Hradil/Jonda 2004; Sarcinelli/Stopper 2004) zurück. Darin wird unter anderem auf die Gefahr hingewiesen, dass in den Reaktionen auf die demografische Entwicklung zuallererst Kultur und Weiterbildung Opfer kommunalpolitischer Entscheidungen 186
werden (können). Darüber hinaus werden aber auch Potenziale genannt, die gerade in den Bereichen Kultur und Weiterbildung stecken und bestens geeignet sind, um auf demografische Veränderungen in den Kommunen sinnvoll reagieren zu können. Ein Beispiel für ein solches kommunales Engagement im Kulturbereich1 schließt den Beitrag ab. 2. Konsequenzen finanzieller Engpässe in den Kommunen Die Hauptaufgabe der Kommunen besteht darin, die Grundversorgung der Bürger mit Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge sicherzustellen. Dazu gehören beispielsweise die Bereitstellung von Kindergärten und Schulen, Ver- und Entsorgung, Öffentlicher Personennahverkehr aber auch Kultur und Sport – allesamt kostenintensive Angelegenheiten. Die allemal knappen finanziellen Ressourcen der Kommunen werden durch den Rückgang der Einwohnerzahlen geschmälert, wodurch sich viele kommunale Entscheidungsträger gezwungen sehen, Sparmaßnahmen zu ergreifen und sich auf ihre Kernaufgaben zu konzentrieren. Durch die finanziellen Engpässe sind Kultur und Weiterbildung besonders stark bedroht. Ohnehin werden die Ausgaben für Kultur und Weiterbildung bereits seit vielen Jahren auf verschiedenen Verwaltungsebenen drastisch zurückgefahren und für zahlreiche kommunale Entscheidungsträger stellt vor allem Kultur ein Luxus dar, den man sich in Zeiten leerer Kassen nicht mehr leisten kann. So sind nach Auskunft einiger Befragter in der Regionalstudie Rheinland-Pfalz kulturelle Angebote nur dann aufrechtzuerhalten, wenn sie aus Spenden oder speziellen Stiftungsmitteln bedient werden können (Hradil/Jonda 2004:49). Andere vertreten hingegen die Meinung, Privatinitiativen seien wichtig, aber eine Gemeinde habe auch im Bereich Kultur ihre Pflichten wahrzunehmen (ebd.). Somit gibt es auch Kommunalpolitiker, nach deren Meinung der Bereich Kultur und Weiterbildung nicht unter der Last des Sparzwanges leiden darf und für die das kulturelle Angebot einer Region gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung zu den wichtigsten Gütern zählt, die man als Standortfaktor zu bieten hat. Jedoch auch in Wissenschaftskreisen ist die Meinung populär, dass unter anderem kulturelle Aspekte zur Disposition stehen können, wenn es darum geht, die Effizienz von Kommunen zu steigern: Als “zumindest unproblematisch“ wird beispielsweise bei den freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben der Kommunen insbesondere im Bereich Sparkassen, Wohnungswesen und in Teilen des Kultur- und Freizeitbereichs „eine weitgehende
1 Dabei wird auf Interviews mit Beate Macht, der Kulturreferentin von Hachenburg – einer Stadt in Rheinlandpfalz, die sich im besonderen Maße für alle Belange der Kultur einsetzt – Bezug genommen. Die Gespräche fanden 2007 und 2008 statt.
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Privatisierung dieser Leistungen unter Effizienzgesichtspunkten“ angesehen (Haug 2008:178). 3. Bedeutung kultureller Angebote im kommunalen Leben Das Themenfeld Kultur – ebenso wie Weiterbildung – spielt für viele kommunale Entscheidungsträger im Zusammenhang mit dem Demografischen Wandel nur eine untergeordnete Rolle und wird von der Mehrheit nicht als prioritäres kommunales Handlungsfeld der Zukunft gesehen (Sarcinelli/Stopper 2004:42). Dennoch gibt es eine differenzierte Meinung darüber, welchen Stellenwert Kultur im Kontext der Daseinsvorsorge besitzen sollte und welche Relevanz ihr im kommunalen Leben zukommt. Im Folgenden werden die wichtigsten Argumente der kommunalen und regionalen Entscheidungsträger zusammengestellt, wie sie vor allem im Rahmen der Regionalstudie Rheinland-Pfalz (Eckert et al. 2004; Hradil/Jonda 2004; Sarcinelli/Stopper 2004) genannt wurden. 3.1 Als freiwillige Aufgabe gerät der Kulturbereich bei finanziellen Engpässen schnell in Bedrängnis Als freiwillige Leistungen stehen kulturelle Angebote oft als Erstes zur Disposition (siehe oben). Als problematisch wird erachtet, dass gerade im Kulturbereich die Sparzwänge den größten Druck ausüben. Vielerorts verbreitet die Tatsache Unmut, dass die Kommunen auf Auftragsangelegenheiten beschränkt bleiben sollen und Kultur weiterhin zu den „freiwilligen Leistungen“ gezählt wird. So wird erwartet, dass Kultur von der Politik als relevanter Bestandteil kommunalen Lebens betrachtet wird. Kultur sei im Zusammenhang mit dem Demografischen Wandel für das Überleben von Gemeinden nicht nur in ländlichen Regionen von Bedeutung – so eine der Aussagen in der Befragung von 2004 (Sarcinelli/Stopper 2004:42). Zwischen Anspruch und Realität klafft häufig eine Lücke. Da die Verwaltungen auf den verschiedenen Ebenen häufig über keine finanziellen Mittel verfügen, um kulturelle Aktivitäten zu entfalten, werden etwa Musikschulen, Museen, Bibliotheken oder andere kulturelle Einrichtungen geschlossen. Dabei sind Schließungen im Kulturbereich und bei Weiterbildungseinrichtungen nur schwer wieder umkehrbar und dadurch besonders problematisch. Daher entscheiden sich einige Kommunen eher dafür, das Niveau ihrer kulturellen Angebote herunterzufahren oder nach alternativen Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen. So wird häufig das Gestalten des Kulturlebens privaten Initiativen oder ehrenamtlichem Engagement überlassen.
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„Kultur ist (auch) eine Aufgabe, die wir wahrzunehmen haben. Aber auch hier ist die Bandbreite, wie wir das machen, groß. Wir haben eine Stiftung "Kultur im Landkreis X.", die wir vor vielen Jahren auf den Weg gebracht haben. Sie hilft uns mit, bestimmte Veranstaltungen zu transportieren. Sie hilft mit, die kulturelle Vielfalt ein Stückchen zu befördern.“ (Hradil/Jonda 2004:50) „Ohne bürgerschaftliches Engagement würde hier vieles nicht funktionieren. […] Das bürgerschaftliche Engagement ist die Ursache dieses Angebotes hier bei uns. Wir könnten das von der Kommune her allein gar nicht gewährleisten.“ (ebd. S. 51)
Weil interessante kulturelle Angebote die Attraktivität einer Region sowohl für potenzielle Neubürger als auch für Touristen erhöhen, suchen die Kommunen, die sich mit dem Ist-Zustand nicht abfinden wollen, in den Branchen nach Sponsoren für kulturelle Aktivitäten. Eine andere Handlungsalternative zur Schließung wird in der Einführung oder Erhöhung von Gebühren gesehen. Senioren- beziehungsweise Rentnerermäßigungen ließen sich angesichts der sich verändernden Altersstruktur und der tatsächlichen Einkommens- und Vermögensverteilung ohnehin nur schwer begründen (Sarcinelli/Stopper 2004:42). Im Allgemeinen macht sich die Erkenntnis breit, dass „die flächendeckende Ausstattung kommunaler Einheiten mit technischer, kultureller und sozialer Infrastruktur und das damit erreichte Ausmaß an Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse (Art. 72,2 GG) […] zumindest im bisherigen Umfang und mit den herkömmlichen Steuerungsinstrumenten nicht aufrechtzuerhalten sein“ wird (Stopper 2008:222). Dennoch: Auch wenn im Zusammenhang mit dem Demografischen Wandel meist die „harten“ Standortfaktoren wie Wirtschaftskraft, Arbeitsplatzangebot oder Verkehrsanbindung im Vordergrund stehen, darf nach Ansicht zahlreicher Bürgermeister die identitätsstiftende und verbindende Wirkung kultureller Einrichtungen und Veranstaltungen nicht unterschätzt werden. Auch Kommunen in ländlicheren, peripheren Regionen dürften ihrer Meinung nach den Kulturbereich trotz Sparzwängen nicht völlig den Ballungsräumen und Städten überlassen. 3.2 Kulturelle Angebote fördern die Integration von Hinzugezogenen und Einheimischen Neben den anfangs genannten Merkmalen des Demografischen Wandels – Rückgang der Kinderzahlen und zahlenmäßiger Zuwachs alter Menschen – spielen auch die größere ethnisch-kulturelle Heterogenität infolge von Zuwanderungen und diversen Migrationsbewegungen (zum Beispiel aufgrund der Zunahme regionaler Disparitäten) im kommunalen Leben eine Rolle.
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Vor dem Hintergrund der demografischen Alterung setzten auch zahlreiche Politiker und Sozialwissenschaftler in Deutschland auf die Zuwanderung von Menschen aus dem Ausland. Dadurch wird dieser demografische Prozess langfristig zwar nicht aufgehalten, doch aber verlangsamt (Roloff 2003). Diese Entwicklung impliziert, dass man der Integration der Immigranten mehr Aufmerksamkeit wird widmen müssen. Dies kann über das Bildungssystem, über Betriebe, aber auch über ein breites Spektrum an kulturellen Angeboten in der Freizeit erfolgen. Auf die Freizeit wird somit noch mehr als bislang der Anspruch der multikulturellen Integration zukommen. Um der Entstehung von Parallelgesellschaften vorzubeugen, sind kulturelle Angebote gut geeignet. Sie lassen sich bewusster und stärker einsetzen, um die Integration von Hinzugezogenen und Einheimischen zu unterstützen. Aber Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen ist nicht nur im Hinblick auf ausländische Zuwanderer relevant. Integrationsmaßnahmen sind auch dort gefragt, wo ein Zusammenschluss von Kommunen notwendig ist (oder auch aufgrund von zurückgehenden Bevölkerungszahlen in Zukunft verstärkt erforderlich sein wird). Infolge einer Gebietsreform in Rheinland-Pfalz vor mehr als 35 Jahren waren beispielsweise die Verbandsgemeinden2 noch lange Zeit nach ihrer Gründung für viele Menschen ein künstliches Gebilde. Auf diesen Tatbestand gingen auch einige Bürgermeister bei ihren Ausführungen zum Thema Kultur ein. Hierzu ein Beispiel: „Kultur ist wichtig. Einfach um auch Identität zu transportieren. Wenn man in Xheim wohnt, dann ist man X-heimer, und erst in zweiter Linie ist man Bürger der Verbandsgemeinde. Um die Verbandsgemeinde, die schon abstrakt ist, zu transportieren, kann man gut Kultur nutzen. Und zwar zum beidseitigen Nutzen. Zum Nutzen der Kultur, die dann stattfindet, und zum Nutzen der Verbandsgemeinde, die dann auch in den Köpfen der Menschen stattfindet. Wenn Sie Verbandsgemeinde in die Köpfe der Menschen bringen wollen, dann brauchen Sie ein Vehikel. Kultur kann da eines sein. Es hat mit Missbrauch von Kultur nichts zu tun.“ (Hradil/Jonda 2004:51)
2 Verbandsgemeinden sind Gebietskörperschaften in Rheinland-Pfalz, die im Zuge der Gebietsreform von 1972 durch Zusammenschluss mehrerer benachbarten rechtlich selbständigen Gemeinden des gleichen Landkreises gebildet wurden (vgl. § 64 Gemeindeordnung Rheinland Pfalz, GemO). Sie erfüllen neben den Ortsgemeinden öffentliche Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft. Den Verbandsgemeinden sind nach der GmO folgende Aufgaben zugewiesen: Schulwesen, Feuerwehr, Wasserversorgung oder Abwasserbeseitigung, zentrale Sport-, Spiel- und Freizeiteinrichtungen. Jede Verbandsgemeinde hat einen hauptamtlichen Bürgermeister und eine eigene gewählte Gemeindevertretung (Verbandsgemeinderat). Der Bürgermeister einer Verbandsgemeinde kann in Personalunion zugleich Ortsbürgermeister einer Ortsgemeinde sein (§ 71 der GmO). Die Verbandsgemeinde nimmt die Aufgaben der Ortsgemeinden in deren Auftrag wahr.
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Auch Veranstaltungen wie etwa Burg-, Ritter-, Brunnen- oder Maifeste und insbesondere Weinfeste oder Weinkulturtage dienen der Gestaltung des kulturellen Lebens sowohl in den Ortsgemeinden als auch in den Verbandsgemeinden und können zu Integration der Bewohner beitragen. 3.3 Kulturangebote müssen besser den Bedürfnissen einer alternden Gesellschaft angepasst werden Infolge des Demografischen Wandels – insbesondere aufgrund der Alterung der Gesellschaft – wird sich das Kulturangebot wandeln und an andere Bedürfnisse anpassen müssen. Denn in vielen Kommunen sind die Kultur- und Freizeitangebote für ältere Menschen defizitär. Dass bestehende Einrichtungen sich in Inhalten und Organisation stärker auf die wachsende Zielgruppe der Senioren einstellen müssen, ist jedoch eine Erkenntnis, deren Umsetzung schnell auf Grenzen stößt: In den meisten Ortsgemeinden spielt sich das Kulturleben vor allem in diversen Vereinen ab. Zu den populärsten Vereinen in Rheinland-Pfalz gehören Gesangs- und Karnevalsvereine, bei denen jedoch verstärkt Nachwuchsprobleme auftreten (Hradil/Jonda 2004:50). Diese Sorgen scheinen Kommunen nicht zu plagen, in denen das kulturelle Leben nicht allein den Vereinen überlassen wird und die sich um ein kulturelles Konzept bemüht sowie finanzielle Mittel für dessen Umsetzung bereitgestellt haben. Dort ist die Überzeugung verbreitet, dass Kultur zwar unter der finanziellen Entwicklung, aber nicht unter der demografischen leiden wird: „Die Nachfrage nach Kultur scheint seit zehn Jahren so stabil zu sein, dass man weiter keine Angst vor der Zukunft haben muss. Selbst wenn wir einen Bevölkerungsrückgang einkalkulieren, wird die Nachfrage mindestens stabil bleiben.“ (Hradil/Jonda 2004:51)
3.4 Kulturelle Attraktivität einer Region als wichtiger Standortfaktor Viele Kommunen versuchen ihre Attraktivität sowohl für potenzielle Neubürger als auch für Touristen zu steigern, indem sie regelmäßig Kulturveranstaltungen anbieten. Das kulturelle Angebot wird – als weicher Standortfaktor – als wichtig für die Lebensqualität der einheimischen Bevölkerung und für den Tourismus betrachtet. Häufig herrscht die Einsicht, dass dieses Angebot deshalb ausgebaut werden sollte, allerdings behindern geringe Mittel der Kommunen viele Ideen oder machen sie sogar zunichte. In diesem Kontext spielt auch die Identifikation mit der Region eine Rolle. Durch ein entsprechendes kulturelles Angebot ist es leichter, die Menschen in der Region zu halten oder sie eventuell zum Zurückkommen zu bewegen. 191
Der Bürgermeister einer Verbandsgemeinde, deren Engagement in Sachen Kultur besonders groß ist, äußert sich im Interview folgendermaßen: „Unser Kulturangebot halte ich für eines der wichtigsten Güter, die wir als Standortfaktor haben. Wir haben ein Kulturangebot, welches über das Zentrum [unserer Verbandsgemeinde] hinausreicht […]. Wir haben über 2300 feste Mitglieder [im Kulturverein] und über 10.000 Abos, die wir im Jahr verkaufen. Wir bieten alles an: von Operette, Musical, Klassik über Schauspiel bis zum Kabarett. [...]. Das ist wichtig, um die Leute hier zu halten und ihnen attraktive Gegebenheiten hier zu bieten. Der Begriff weiche Standortfaktoren gefällt mir überhaupt nicht. Das hört sich so unwichtig an. Aber das ist wichtiger als mancher harte Faktor „Quadratmeterpreis Bauland für Industrieansiedlung“, das spielt nämlich im Grunde genommen gar keine Rolle. Billiges Bauland kann man noch öfters bekommen, Autobahnanbindung haben mittlerweile auch X-Gebiete. Aber sich vor Ort wohl zu fühlen, das ist wichtig! Das ist wichtig für Belegschaften von Unternehmen, die sich ansiedeln wollen. Das ist wichtig für eine gewisse Qualität von Zuzugsbevölkerung, die man will und auch wichtig für alle, die in diesem Raum leben und arbeiten.“ (Hradil/Jonda 2004:50)
Ein anderer Amtsträger meinte hierzu Folgendes: „Es gibt das Schlagwort weiche Standortfaktoren. Das ist ziemlich abgedroschen. Aber es ist was dran. Kultur ist etwas, was dem Menschen innewohnt, was er braucht. So wie er mal ein Bier an der Theke, mal ein gutes Stück Fleisch und einen Spaziergang braucht, braucht er auch Kultur.“ (Hradil/Jonda 2004:50)
Einerseits kann Kultur – ähnlich wie Weiterbildung, auf die im nächsten Kapitel näher eingegangen wird – die Standortfrage aus ihrer ausschließlich ökonomischen Dimension herauslösen helfen. Andererseits wird gerade mit den Standortfaktoren Kultur und Weiterbildung häufig versucht, sie im gleichen Zug mit so genannten „harten“ Standortfaktoren wie Absatzmärkte, Kaufkraft, Verkehrsanbindung, Grundstückspreise, Mietkosten, Steuern, Abgaben und Lohnkosten, Subventionen, und weitere zu nennen, um zu verdeutlichen, dass es beim Wohlfühlaspekt nicht nur auf die materielle Komponente ankommt. Diese Erkenntnis dürfte nicht neu sein, denn bereits vor genau 50 Jahren – anlässlich der Jahrestagung des Verbandes kommunaler Unternehmen e.V. am 16.12.1957 in Köln – sagte Ernst Forsthoff, der den Begriff der Daseinsvorsorge in der verwaltungsrechtlichen Diskussion in Deutschland etablierte, Folgendes: „Es geht hier um mehr als um die banale, immer wieder ausgesprochene Wahrheit, dass die Verwaltung für den Menschen da sei und nicht umgekehrt. (…) Die Auslieferung des Menschen in seiner Daseinsbehauptung an seine Umwelt ist von allen Arten der Entfremdung wohl die elementarste und deshalb ist sie in beson-
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derem Maße ernst zu nehmen. Es gibt Möglichkeiten, diese Entfremdung zu überwinden. (…) Die Teilhabe ist (…) ein für die Ordnung der Daseinsvorsorge tragender Begriff. Er ist nicht schon damit realisiert, dass der Einzelne versorgt wird. Der perfekt bediente Endverbraucher ist keineswegs das Leitbild einer richtig organisierten Daseinsvorsorge, vielmehr ist es der in seinen Daseinsbedingungen im Maße der Möglichen gesicherte Bürger. Das ist ein großer Unterschied. Der lediglich perfekt bediente Endverbraucher bleibt, als Endverbraucher seiner Personhaftigkeit entkleidet, im Zustand des Ausgeliefertseins an irgendwelche, seiner Einfluss- und Kenntnisnahme entrückten Versorgungsapparaturen, er bleibt sich, was seine elementare Daseinsbehauptung anbelangt, entfremdet. Damit steht die Daseinsvorsorge unter Ordnungserfordernissen, denen der bloß technische wie der bloß ökonomische Perfektionismus nicht gemäß ist.“ (Forsthoff 1958:11f.)
Die Diskussion um die weichen Standortfaktoren ist in der Regel ökonomisch begründet. Es geht um den Industriestandort Deutschland, um die Attraktivität von Kommunen und Regionen für neue Industrieansiedlungen (Nuissl 1995:10). Die Hervorhebung der weichen Standortfaktoren wie Kultur und Weiterbildung hat viele Gründe. Nicht zuletzt auch politische seitens derjenigen, die Kultur oder Weiterbildung betreiben, da sie damit die Hoffnung verbinden, in der Akzeptanz als Standortfaktor die gesellschaftliche, aber auch die ökonomische Legitimität zu erhöhen (ebd.). Nicht wenige Entscheidungsträger sehen sich an den Pranger gestellt, wenn sie aus dem kommunalen Haushalt großzügiger als etwa die benachbarten Kommunen Geld für Kulturzwecke zuweisen, und versuchen, die Rentabilität ihrer Entscheidungen zu belegen. „Kultur ist und war ein ganz wichtiges Standbein für uns und die Frage nach der Kultur ist mehr als berechtigt. Man wirft mir vor, dass ich dafür viel zu viel Geld ausgebe. Die meisten kulturellen Veranstaltungen, die wir durchführen, tragen sich einigermaßen selbst.“ (Hradil/Jonda 2004:50)
Standortfragen sind schon seit langem Fragen des Wettbewerbs in einem Weltmaßstab. So bemüht man sich beispielsweise um die Erhaltung beziehungsweise um die Steigerung der Attraktivität des Rhein-Main-Gebiets längst nicht nur im Hinblick auf europäische Investoren, sondern mit der Absicht, außereuropäische Interessenten in diese Region zu locken. Die immer wieder zurückkehrende Diskussion über die zu hohen Lohnkosten darf nicht darüber hinweg täuschen, dass billigere Arbeitskräfte auf anderen Kontinenten oder in Osteuropa zwar billiger als in Deutschland zu haben sind, man aber zunächst in deren Qualifizierung investieren muss, um diesen „Standortvorteil“ nutzen zu können. Auch sind die Absatzmärkte in vielen Erdteilen zwar größer als in den hochentwickelten Ländern, aber dafür nicht so kaufkräftig. Staatliche Subventionen oder günstige Steuern wiegen nicht immer die Mängel etwa in der verkehrstechnischen Infrastruktur auf. Daher sehen viele Kommunen eines Wirt193
schaftsraumes (wie z.B. Rhein-Main) durchaus ihre Chancen im europäischen Wettbewerb der Regionen, auch wenn sie die so genannten harten Standortfaktoren nicht oder nur eingeschränkt beeinflussen können. Bei der Hervorhebung der Attraktivität eines Standortes spielen somit die sogenannten weichen Standortfaktoren eine immer größere Rolle. Dies darf dennoch nicht vergessen lassen, dass sich diese Einsicht noch nicht überall durchgesetzt hatte und häufig nur eine untergeordnete Rolle spielt. Einrichtungen und Angebote im Bereich der Kultur und Weiterbildung – weil sie im Wettbewerb um Einwohner und Firmenansiedlungen „nur“ einen „weichen“ Standortfaktor darstellen – geraten dann bei schlechter kommunaler Finanzlage stark unter Druck. 4. Weiterbildung als Standortfaktor? Bereits seit Jahrzehnten spielt die Weiterbildung in vielen Politikfeldern – wie etwa in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik – eine Rolle, die häufig kaum etwas mit der Bildungspolitik zu tun hat. Die Betrachtung der Weiterbildung vor dem Hintergrund ökonomisch begründeter Standortpolitik lässt in der Regel die Differenzierung zwischen Bildung und Qualifikation außer Acht. Bildung als originär freie Entfaltung von Menschen tritt gewöhnlich in den Hintergrund zugunsten von Qualifikation als intentionale Befähigung von Menschen, übertragene Aufgaben zu bewältigen. Bereits in 1990er Jahren ist davor gewarnt worden (Nuissl 1995), Bildung auf eine berufliche Qualifikation zu reduzieren, denn Investoreninteressen sind in der Regel andere als die Bedürfnisse der Menschen vor Ort und „Standortpolitik öffnet nur selten den Raum, hier Unterschiede wahrzunehmen, auszutragen und zu neuen Konzepten voranzubringen“ (ebd. 11). Es gilt auch zu bedenken, dass höhere Qualifikationen von Arbeitskräften nicht unbedingt eine höhere Produktivität mit sich bringt: Die Investition in das Humankapital seitens der Kommunen birgt keine Garantie für Unternehmensansiedlung und somit erhöhtes Steueraufkommen in sich (ebd. 14). Dennoch sollte nicht gänzlich vernachlässigt werden, dass Weiterbildung – verstanden als berufliche Qualifizierung – ein relevantes Medium dafür ist, „den ‚Beschaffungsmarkt’ (qualifizierte Arbeitskräfte) angemessen und für unternehmerische Investitionen attraktiv zu gestalten.“ (ebd. 13). Für die Kommunen und Regionen bedeutet es, für ansiedlungswillige Unternehmen mit neuen Technologien und zukunftsorientierten Strukturen entweder genügend qualifizierte Menschen anzuwerben (entsprechend attraktiv muss die Region, die Kommune sein) oder aber die ortsansässigen Menschen entsprechend zu qualifizieren. Weiterbildung wird hier zu einer Bringschuld im Kontext regionaler Strukturpolitik. Aber es geht nicht nur darum, neue Investoren und Firmen anzulocken. Längst ist die Diskussion um den 194
Demografischen Wandel unter anderen von der Sorge geprägt, dass bereits existierende Unternehmen keine geeigneten Fachkräfte in Deutschland finden können, beziehungsweise, dass ein entsprechender Nachwuchs fehlen würde. Insofern gäbe es im kommunalen Bereich durchaus Handlungsnotwendigkeiten und -chancen. „Aber viele Weiterbildungseinrichtungen werden aus der Verantwortung der Kommunen entlassen, und die Kommunen berauben sich ein stückweit der Möglichkeit, diese notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen gezielt voranzutreiben“ – diese Erkenntnis ist bereits seit langem vorhanden (Nuissl 1995:13). Die Diskussion über Weiterbildung als Standortfaktor lenkt jedoch häufig den Blick zu sehr auf die ökonomische Dimension und lässt außer Acht, dass Weiterbildung ein wichtiges Instrumentarium darstellen kann, um auf viele weitere Konsequenzen des Demografischen Wandels reagieren zu können und um eine Region als positiven Lebensraum zu erfahren. Weiterbildung als Standortfaktor – nicht nur in seiner ökonomischen Dimension – spielt auch aus der Sicht zahlreicher regionaler und kommunaler Entscheidungsträger eine, wenn auch nicht immer besonders dominante Rolle. Von manchen in Rahmen der Regionalstudie Rheinland-Pfalz befragten Bürgermeistern wurde Weiterbildung – häufig in den Interviews mit dem Stichwort lebenslanges Lernen assoziiert – als eine unverzichtbare Größe bezeichnet, die bewusst forciert werden muss. Dies geschieht in erster Linie mit Hilfe der Kreisvolkshochschulen (KVHS) und der örtlichen Volkshochschulen (VHS), die der jeweiligen KVHS angegliedert sind. In einigen Regionen gibt es eine intensive Kooperation der Volkshochschulen über die Kreisgrenzen hinweg. Vielen Einrichtungen ist es gelungen – trotz der schwierigen finanziellen Situation – die Zahl der VHS-Standorte auszubauen, mehr Personal einzusetzen und die Zahl der anerkannten Weiterbildungsmaßnahmen deutlich zu erhöhen. Weiterbildung ist eine der Pflichtleistungen der Landkreise. Die Befragten sahen jedoch einen relativ großen Spielraum, was die Frage anbelangt, in welchem Umfang und wie intensiv die Aufgabe wahrgenommen werden soll. Weitgehende Einigkeit herrschte darüber, dass weder Kultur noch Weiterbildung unter der Last des Zwanges zu sparen geopfert werden dürfen. Bei Angeboten der Volkshochschulen handelt es sich nicht nur um Wissensvermittlung, sondern auch um Förderung der Kontakte. Insofern spielen Volkshochschulen eine wichtige Rolle gerade für ältere Menschen. Die Alterung der Gesellschaft – als ein Exponent für den Demografischen Wandel – eröffnet somit für den Bereich der Weiterbildung neue Chancen (Sarcinelli/Stopper 2004:43). Gleichzeitig stellt sie ihn vor neue Herausforderungen. Von den regionalen und kommunalen Entscheidungsträgern werden im Weiterbildungsbereich große Potenziale gesehen. Nach deren Bekundungen könnten sowohl Bildungsangebote für Senioren als auch Bildungsangebote von Senioren 195
gezielt ausgebaut werden. Denn einerseits ist das Bildungsbedürfnis älterer Menschen häufig sehr ausgeprägt, andererseits sind ihre Kenntnisse und Lebenserfahrungen noch nicht hinreichend erschlossen: Senioren könnten wesentlich stärker als heute Kunden und Anbieter von Weiterbildungsmaßnahmen sein (ebd.). Nicht alle Regionen können sich Volkshochschulen mit hauptamtlichen Mitarbeitern finanziell leisten und so erfolgt die Leitung vieler Volkshochschulen ehrenamtlich. Dort, wo die Finanzmöglichkeiten für Weiterbildungsmaßnahmen eingeschränkt sind, versucht man auch andere Wege zu beschreiten: „Wir haben eine Volkshochschule im Weiterbildungsbereich, sie funktioniert sehr gut, wir machen sie aber mit Bordmitteln. Wir haben keine Einrichtung mit Hauptamtlichen, so wie in anderen Verbandsgemeinden. Wir machen das zum Beispiel so: Es wird gefragt, ob jemand ein interessantes Thema hat. Es melden sich immer auch genug Leute und daraus stricken wir ein Programm. Und es funktioniert, aber ich muss gestehen, dass es vom Pädagogischen her nicht bis zum letzten Detail durchdacht ist. Wir machen Fremdsprachen, Themen aus dem Gesundheitsbereich, das funktioniert gut.“ (Hradil/Jonda 2004:51f.)
Die Bandbreite an Veranstaltungen, die in den Volkshochschulen angeboten wird, ist in der Regel relativ groß. Besonders beliebt sind Englischkurse und Einführung in die Internetnutzung für ältere Mitbürger. Darüber hinaus: „gibt [es] Ansätze für sprachorientierte Zielgruppen, wo wir Aussiedlern spezielle Sprachprogramme anbieten. Wir bieten den Leuten die Möglichkeit an, den Hauptschulabschluss zu machen. Es gibt eine Reihe zielgruppenorientierter Ansätze an den Kreisvolkshochschulen und an den Volkshochschulen. Auch für ältere Menschen. (…) Die Resonanz ist gut, wobei es nicht nur um Wissensvermittlung geht, sondern auch um Förderung der Kontakte.“ (Hradil/Jonda 2004:51) „Mit den Angeboten muss man sich immer darauf einstellen, was gefragt wird. Bei uns sind nach wie vor Sprachkurse gefragt. Das liegt daran, dass wir sowohl mit einer französischen wie auch mit einer italienischen Gemeinde Partnerschaft haben, so dass Französisch und Italienisch sehr gefragt sind. Aber auch Englischkurse, (…) und Deutschkursangebote für ausländische Frauen.“ (ebd.)
Kulturelle Angebote und Weiterbildungsmaßnahmen sind wichtige Elemente der Daseinsvorsorge und müssten – nach Aussagen der befragten Entscheidungsträger – noch intensiver eingesetzt werden, um zum Beispiel die sprachliche Kompetenz ausländischer Mitbürger zu erhöhen und Bildung von und für Senioren als Potenzial nutzen zu können. Dies wird mit jedem Jahr wichtiger. Doch die zukünftige Relevanz von Weiterbildung spiegelt sich gegenwärtig kaum in der Erhöhung öffentlicher Gelder für diesen Bereich der Daseinsvorsorge. Daher kann und – angesichts der Finanzlage von Kommunen – muss vieles durch ehrenamtliches Engagement 196
getragen werden, wozu jedoch die Kommunalpolitik wenigstens durch Aktivierung und Koordination beitragen sollte. Wie wichtig die Impulse und Initiativen, die von einer Kommune ausgehen, für eine Region sein können, soll abschließend an einem Beispiel aus RheinlandPfalz dargestellt werden. 5. Eine Kulturstadt im Westerwald: Hachenburg Wie bereits dargelegt, gilt – trotz finanzieller Engpässe – in manchen Kommunen eine besondere Aufmerksamkeit dem „weichen Standortfaktor“ Kultur, da gerade das kulturelle Leben die Attraktivität einer Kommune für verschiedene Bevölkerungskreise zu erhalten beziehungsweise zu steigern hilft. Diese Überzeugung prägt auch die kommunale Arbeit zum Beispiel in der Stadt und in der Verbandsgemeinde Hachenburg im Westerwald. Professionelle Kulturarbeit einzuführen – dies war bereits in den 1990er Jahren eine der Hauptaufgaben des ehrenamtlichen Stadtbürgermeisters und des Verbandsbürgermeisters in Hachenburg (seit 2000 in Personalunion). So wurde bereits 1989 eine Kulturreferenten-Stelle eingerichtet, die inzwischen auf 1,5 Stellen erweitert worden ist. Was damals noch Aufsehen erregte – nach dem Motto „Wie kann eine kleine Stadt, wie kann eine Verbandsgemeinde sich eine Kulturreferentin für Kulturarbeit leisten?“ – führte inzwischen dazu, dass für viele Menschen in Rheinland-Pfalz Hachenburg das Image der „Kulturhauptstadt“ im Westerwald erwarb. In der Kommune wurde relativ frühzeitig erkannt: „Es ist eine unserer Zukunftsaufgaben! Wir müssen erstens den Menschen unserer Region etwas Außergewöhnliches bieten, damit sie hier ein Angebot haben, wie in der großen Stadt. Zweitens wollen wir mit unserer Stadt prosperieren, wir wollen uns entwickeln.“ (Peter Klöckner3, Bürgermeister der Stadt und der Verbandsgemeinde Hachenburg, 2004)
So entwickelte sich Hachenburg für Menschen aus dem Umkreis von 60-70 km zu einem kulturellen Anziehungspunkt mit etwa 100 Veranstaltungen im Laufe eines Jahres. Zum Angebot gehören unter anderem Kabarett, Kleinkunst, Figurentheater und Konzerte mit Superstars und Nachwuchskünstlern. Hachenburg organisiert inzwischen das größte Themenfest in Rheinland-Pfalz mit circa 20.000 Besuchern. Desweiteren findet in unregelmäßigen Abständen eine
3 Alle Zitate von Peter Klöckner im vorliegenden Text stammen aus dem mit ihm 2004 im Rahmen der Regionalstudie Rheinland-Pfalz (Hradil/Jonda 2004) geführten Interview.
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Kunstwoche „Kunst! Vor der Haustür“ statt, in der Künstler auf der Straße arbeiten. So finden Menschen schnelleren Zugang zur Kunst. Die Konsequenz ist unter anderem, dass sich viele Künstler in den letzten Jahren in Hachenburg niedergelassen haben. Die Kulturarbeit in Hachenburg ist vom Konzept her so angelegt, dass sie „nicht nur Spaß und Unterhaltung bietet, sondern beides als Mittel nutzt, um dem Besucher die Möglichkeit zu geben, sich mit Gesellschaft, Politik und der Welt (neu) auseinanderzusetzen“ - so die für die Kulturarbeit in der Gemeinde Hachenburg zuständige Kulturreferentin Beate Macht in einem Interview im Mai 2007. „Kunst und Kultur haben die Aufgabe, Fragen aufzuwerfen, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, aber auch mögliche Zukunftsvisionen aufzuzeigen. Dem Bürger wird so eine Möglichkeit angeboten, scheinbar Festgesetztes zu hinterfragen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Das erfordert Flexibilität und Beweglichkeit des Geistes. Feste Gedankenstrukturen können immer wieder aufgebrochen werden durch neue, außergewöhnliche Denkansätze in der Kulturarbeit.“ Wie dies zum Beispiel im Jahr 2003 erfolgte: Noch lange bevor es zum Krieg mit dem Irak kam, ist ein Burggartenfest zum Thema "1001 Nacht" geplant worden. Die Geschehnisse im Nahen Osten legten die Absage des Festes oder zumindest die Änderung des Leitthemas nahe. Doch in der Verbandsgemeinde entschied man sich anders. „Das Gegenteil war der Fall: Das Thema ist uns noch wichtiger geworden, denn dadurch ist es uns gelungen zu zeigen, dass unsere Kultur in Deutschland stark vom Orient geprägt wurde, dass wir vieles übernommen und gelernt haben. Kurzum, dass uns vieles mit dem Orient verbindet. Ein solches Fest trägt immer auch zu Völkerverständigung, Akzeptanz und Toleranz bei. Denn, wenn das Fremde vertrauter wird, das Fremde verstanden wird, werden Brücken zu anderen Völkern und Kulturen geschlagen.“ (Macht 2007)
Häufig sind Städte bestrebt, mit großen Veranstaltungen Besucher zu locken. Denn die Besucherzahlen sind oft die Kriterien, mit denen der Erfolg der Kulturarbeit gemessen wird. Der Kulturinteressent steht einem vielfältigen Angebot gegenüber und die Anbieter versuchen, die potentiellen Besucher mit namhaften Stars an sich zu binden. Das Kulturkonzept in Hachenburg weicht von dieser Strategie ab. In ihm werden neben namhaften Künstlern auch Nachwuchskünstler berücksichtigt, Traditionelles wird mit Modernem verbunden, Veranstaltungen mit regionalem Bezug wechseln sich mit solchen mit überregionaler Bedeutung ab. Darüber hinaus hat man den Anspruch, herausragende regionale Künstler in Veranstaltungen mit überregionaler Bedeutung einzubinden und sie auf diesem Weg zu fördern. So treten zum Beispiel beim Figurentheater-Festival stets auch regionale Ensembles auf, und bei dem Kunstprojekt „Kunst! vor der Haustür“ werden immer auch ortsansässige Künstler eingebunden. 198
„Kulturarbeit wird bei uns noch als Auftrag verstanden und nicht als reines Unterhaltungsangebot für die Bürger. […] Wenn niemand mehr Fragen stellt, niemand mehr reflektiert, ist das eine schlechte Basis für die Demokratie. Daher ist die Förderung von Kunst und Kultur zur öffentlichen Aufgabe erklärt worden und in diesem Sinne verstehen wir sie: Um dieses Ziel zu erreichen, muss sich das Publikum erst einmal angesprochen fühlen. Wir versuchen dies, indem wir eine Mischung aus populären bis hin zu avantgardistischen oder experimentellen Veranstaltungen anbieten. Um ein möglichst breites Publikum zu erreichen, werben wir mit populären Veranstaltungen für unsere KulturZeit und führen die Besucher dadurch auch an andere Veranstaltungen heran.“ (Macht 2007)
Im Laufe der Jahre hat Hachenburg den Ruf erworben, hochkarätige Veranstaltungen anzubieten, unabhängig davon, ob die Künstler bekannt sind oder nicht. Entgegen dem beobachteten Trend im Kleinkunstbereich hat man es in Hachenburg geschafft, die Präsenz der Hachenburger KulturZeit und deren Image im Bewusstsein der Öffentlichkeit soweit zu verbessern, dass die Besucherzahlen nicht nur gehalten, sondern sogar um ein Vielfaches gesteigert werden konnten – und das, ohne auf rein populistische Veranstaltungen auszuweichen. Inzwischen ist Hachenburg weit über die Kreis- und gar Landesgrenzen hinaus bekannt und kulturelle Veranstaltungen, die in dieser Stadt angeboten werden, sind in der Regel sehr gut besucht und häufig ausverkauft (Macht 2007). Um diesen Zustand zu erreichen, wurden seitens der Kulturreferentin der Stadt und der Verbandsgemeinde Hachenburg, Beate Macht, entsprechende Weichenstellungen vorgenommen. Dazu gehört, dass seit beinahe zehn Jahren in den Bereichen Corporate Identity entsprechende Maßnahmen umgesetzt werden, um den Bürgern mit einer klaren Linie und durch ein einheitliches Erscheinungsbild die Zuordnung und Orientierung im Veranstaltungsangebot zu erleichtern. Die Bürger wurden auch über die regionale Tagespresse an der Suche nach einem neuen Logo beteiligt. Da das von der Kommune initiierte Kulturangebot, das zunächst vorwiegend im Sommer stattgefunden hatte, inzwischen bis in den Winter hinein ausgedehnt werden konnte, wurde der Name, unter dem alles gebündelt war, von „Hachenburger Sommer“ in „Hachenburger KulturZeit“ geändert. Es gibt einen Veranstaltungskalender sowie einen stets aktuellen und dem Image der KulturZeit entsprechenden Internet-Auftritt. Auch im Bereich des Marketings wurden viele zielgerichtete Schritte getan. Dazu gehörte in erster Linie die Intensivierung der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Seit 2002 gibt es zwischen 400 und 500 Presseveröffentlichungen jährlich. Auch zahlreiche Hörfunk- und Fernsehbeiträge sowie Berichte und Reportagen der Medien führten dazu, dass Hachenburg für seine Kulturarbeit inzwischen überregional bekannt ist. Aber auch die Kommune Hachenburg stieße schnell an finanzielle Grenzen bei der Realisierung ihrer anspruchsvollen Kulturpläne, wenn sie nicht mit Sponso199
ren rechnen könnte. Diese sind – dank des gut durchdachten Konzeptes – zahlreich, auch wenn ausschließlich mit Sponsoren zusammengearbeitet wird, die hohe Geldbeträge zur Verfügung stellen. Neben Sponsoren, die die Kulturarbeit mit Geldbeträgen unterstützen, konnten in Hachenburg Unternehmen gewonnen werden, die ihre Leistungen kostenfrei erbringen4. Im Jahr 2001 wurde das "3 für 2 KulturZeit-Abo" eingeführt. Es enthält Eintrittskarten für drei Veranstaltungen zum Preis von zweien. Auch hier gilt, dass ein bekannter Künstler (gewissermaßen als „Zugpferd“) von zwei weniger bekannten Künstlern begleitet wird. Dies hilft Nachwuchskünstlern im Kulturbereich bekannt zu werden und Fuß zu fassen. Daneben bietet das Abo die Möglichkeit, Karten für Veranstaltungen zu erwerben, lange bevor sie im Vorverkauf erhältlich sind. Als Geschenktipp angeboten, konnte so auch ein Publikum erreicht werden, das sonst nicht zu Kulturveranstaltungen geht. Seit 2005 wird zudem ein Dauer-Abo angeboten, dass inzwischen von 118 Besuchern genutzt wird. Bei lediglich knapp 6.000 Einwohnern in der Stadt und etwas über 24.000 in der Verbandsgemeinde (siehe Tabelle 1) ist dies eine bemerkenswerte Tatsache. Das kulturelle Angebot reicht von Kleinkunst (etwa Kabarett, Comedy, Puppenspiel, Chanson) über Konzerte sowohl aus dem Rock- und Pop-Sektor (z.B. BAP oder der britische Rock-Musiker Eric Burdon) wie aus dem Bereich Klassik, Oper und Jazz (z.B. Chinesische Nationales Staatsorchester Tianjin Opera und Ballet Theatre) bis hin zu Oper (z.B. Nabucco als Open Air). Zu den herausragenden Projekten gehören auch der jährlich stattfindende „Treffpunkt Alter Markt“, bei dem von Juni bis Mitte August donnerstags am Abend kostenlose Veranstaltungen auf dem Alten Markt in Hachenburg angeboten werden,5 und das Figurentheater-Festival (alle 2 Jahre), das die breite Palette des Figurentheaters, vom traditionellen Marionetten- oder Handpuppenspiel bis hin zum Theater mit Objekten oder lebensgroßen Figuren zeigt. Auch hier sind Weltstars anzutreffen, wie zum Beispiel Neville Tranter (Macht 2007). Nennenswert sind auch das jährliche „Harmonika-Treffen“, zu dem 240 Harmonika-Freunde inzwischen sogar von Köln, Frankfurt und Siegen nach Hachenburg kommen, und die bereits zweimal (2002 und 2004) stattgefundene DaliAusstellung mit je circa 30 Werken des Künstlers.
4 Nach Aussagen der für Kultur zuständigen Mitarbeiterin belief sich ihr Wert im Jahr 2006 zusätzlich auf etwa 14.000 Euro. Es handelt sich um die Leistungen von Grafikern, Fotografen und Gastronomen. 5 Bis zu 2000 Besucher kommen pro Konzert und selbst bei Regen sind 400 Gäste auf dem Markt, die oft aus weiter entfernt liegenden Landkreisen kommen.
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Ein Burggartenfest6, Martinsfest7, der Weihnachtsmarkt8, gelegentliche Seminare für Chöre und Diavorträge von renommierten Weltreisenden (zum Beispiel Reinhold Messner) runden das kulturelle Angebot der vergangenen Jahre in Hachenburg ab. Ab dem Jahr 2008 wird nach einem neuen Konzept gearbeitet: „Hachenburg spielt verrückt“. Dahinter verbirgt sich die Idee, die Tendenzen der Zeit noch stärker im kulturellen Angebot zu berücksichtigen. Die Welt ist im Wandel begriffen und dies trifft auch auf Hachenburg zu. So sieht eine der neuen Grundideen vor, noch stärker auf die Partizipation anderer Akteure zu setzen. Beispielsweise werden die Geschäftsleute eingeladen, sich selbst alternative Geschäftsideen zu überlegen und die Kommune wird für das kulturelle Rahmenprogramm sorgen. Man will damit auch weitere Möglichkeiten schaffen, neues Publikum, aber auch Konsumenten zu gewinnen. Nicht zu übergehen ist auch die Tatsache, dass die kommunale Verwaltung – vertreten durch die Kulturreferentin – auch zahlreiche Initiativen privater und konfessioneller Träger, wie zum Beispiel den Kulturkreis Hachenburg, die Diaszene Westerwald, den Marienstatter Musikkreis, die Hachenburger Kinderkonzerte oder das Theaterhaus Alpenrod in ihrem kulturellen Angebot unterstützt. Alle Aktivitäten werden in den Kulturkalender der Stadt aufgenommen, was eine Bekanntmachung in einem sehr großen Umkreis impliziert und somit die Chancen eröffnet, Publikum zu gewinnen. Auch die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen einzelnen privaten Trägern und Kirchlichen Initiativen wird anregt. Der Demografische Wandel ist nicht nur durch zurückgehende Bevölkerungszahlen erkennbar, sondern auch leerstehende Häuser und Geschäfte sind stumme Zeugen dieser Entwicklung. Auch Hachenburg war davon nicht verschont: Noch Ende der 1990er Jahre gab es einen Leerstand von 20 Prozent. Aus diesem Grund hat man in der Kommune ein Leerstandmanagement, was auch als eine kulturerhaltende und -fördernde Maßnahme zu begreifen ist, initiiert. „Dies ist tödlich für eine Innenstadt, wenn die Geschäfte sterben, wenn die Menschen aus der Innenstadt wegziehen, denn dann verliert eine Stadt ihre Identität, dann stirbt eine Stadt mit ihrem unverwechselbaren Gesicht. Die Neubaugebiete sind ja austauschbar.“ (Klöckner im Interview 2004)
6 Das größte Themenfest von Rheinland-Pfalz zählt – wetterabhängig – 10.000 bis 20.000 Besucher und findet 2-tägig statt (bis 2001 jährlich, ab 2003 alle 2 Jahre). 7 Seit 1999 findet ein zentrales Martinsfest mit Umzug und einem Reiter auf dem Marktplatz von Hachenburg statt. Die Kindergärten und Kirchen konnten zu einem gemeinsamen Fest gewonnen werden. Weit mehr als 1000 Besucher kommen jährlich. 8 Die KulturZeit organisiert das musikalische Programm für den Weihnachtsmarkt mit zahlreichen heimischen Musikvereinen und Chören, u.a. dem einzigen Bürgermeisterchor von Rheinland-Pfalz.
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Die Pflege des äußeren Erscheinungsbildes der Stadt kommt auch dem kulturellen Engagement der Stadt zugute: „Dadurch bekommt man noch ein zusätzliches Publikum für unsere sonstigen kulturellen Angebote“ (Klöckner im Interview 2004). Durch das breite kulturelle Angebot und ein gelungenes Stadtmarketing erreichten die Stadt und die Verbandsgemeinde Hachenburg in den letzten Jahren einen beachtlichen Bevölkerungszuwachs. Wie der untenstehenden Tabelle zu entnehmen ist, liegt dieser Zuwachs im Zeitraum von 1990 bis 2005 mit 13,2 Prozent (in der Verbandsgemeinde) beziehungsweise 18,3 Prozent (in der Stadt) wesentlich höher als im Landesdurchschnitt. Tabelle 1:
Bevölkerungsentwicklung in ausgewählten Kommunen in Rheinland-Pfalz zwischen 1990 und 2006. Bevölkerungsstand
Gebiet 31.12.1990
31.12.2000
Veränderung
31.12.2005
31.12.2006
1990-2005
Rheinland-Pfalz
3.763.510
4.034.557
4.058.843
4.052.860
+ 7,8%
Hachenburg (Verbandsgemeinde)
21.567
24.327
24.410
24.356
+ 13,2%
Hachenburg (Stadt)
4.848
5.561
5.733
5.740
+ 18,3%
Emmelshausen (Verbandsgemeinde)
13.216
14.803
14.782
14.797
+ 11,8%
Emmelshausen (Stadt)
3.960
4.840
4.856
4.863
+ 22,6%
Quelle: Eigene Zusammenstellung auf der Basis von Daten des Statistischen Landesamts Rheinland Pfalz
In Rheinland-Pfalz gibt es noch weitere Kommunen, die im Bereich Kultur eine herausragende Arbeit leisten, wie zum Beispiel die Verbandsgemeinde Emmelshausen, die sich zum kulturellen Mittelpunkt im gesamten Rhein-Mosel-Dreieck entwickelt hat. Das kommunale Kulturzentrum Zentrum am Park (ZAP) wird jährlich von über 20.000 Zuschauern besucht. Im Bereich Kabarett ist das ZAP die beste Adresse zwischen Mainz und Bonn. Mit dem Kulturkreis Region Emmelshausen, der mehr als 2.200 Mitglieder hat, ist dort der größte Kulturverein in RheinlandPfalz angesiedelt. Auch dort ist die Bevölkerungszahl seit 1990 überdurchschnittlich stark angestiegen (siehe Tabelle). Kommt es aber wirklich darauf an, dass die Bevölkerungszahl steigt? Gewiss nicht, denn dies kann auch Probleme mit sich bringen. Aber es ist nicht zu leugnen: 202
„Wir befinden uns in einem Wettbewerb. Wir wissen, dass es um folgende Fragen geht: Welche Region wird die Zukunft gewinnen? Wo werden Menschen hinziehen? Wo werden sie wegziehen? Wie schaffen wir es, dass Menschen zu uns kommen? Es gibt verschiedene Kriterien, wie man die Entwicklung beeinflussen kann. Wir setzen auf Kultur.“ (Klöckner im Interview 2004)
Natürlich ist Kultur nicht das Allheilmittel gegen Bevölkerungsrückgang. Die Stadt und Verbandsgemeinde Hachenburg sorgen auch für eine gute Infrastruktur und bieten Interessierten einen Rundumservice, wenn es um Betriebsansiedlungen geht. Auch bei Nutzungsänderungen und der Umsetzung von Geschäftsideen können die Bürger mit konkreten Hilfen seitens der Stadt und Verbandsgemeinde rechnen (vgl. Informationen auf der Homepage der Verbandsgemeinde Hachenburg: www.hachenburg.de). Das Engagement für Kultur scheint in ein ganzheitliches Konzept eingebetet zu sein. 6. Ausblick In den gegenwärtigen Diskussionen über die demografische Alterung und das Schrumpfen der Kommunen überwiegen Horrorszenarien. Im alten Denken verhaftet, in dem Entwicklung nur mit Wachstum gleichgesetzt wird, kann Schrumpfen allem Anschein nach kaum anders denn als Bedrohung aufgefasst werden, die jeder Kommunalpolitiker von der eigenen Kommune fernzuhalten bemüht ist (Siebel 2008). Der Stadtsoziologe Walter Siebel, der bereits in den 1980er Jahren erstmals den Gegenstand schrumpfender Städte in Deutschland thematisierte (schon damals durchaus mit wachstumskritischen Implikationen) warnt vor falschen Fokussierungen sowohl auf Wachstum als auch auf Demografie. Auch schrumpfende Städte können für ihre Bürger zufriedenstellende Lebensbedingungen bieten, wenn ihnen eine kreative Bewältigung der demografischen Herausforderung gelingt (ebd.). Weder das Streben nach dem ‚immer mehr‘, noch das Erstarren vor dem ‚immer weniger‘ kann hier die Lösung sein. „Demografie ist kein Schicksal, das eine Gesellschaft überfällt“ (Sackmann et al. 2008:15). Die demografische Entwicklung kann selbst mit Kulturpolitik und gezielter Weiterbildung beeinflusst werden. Wenn man den Mut hat, auch mal „gegen den Strom zu schwimmen“.
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„Wenn jemand fragt, wir würden das machen…“ – Engagementpotenziale junger Senioren in ländlichen Räumen Ostdeutschlands Peter-Georg Albrecht
„Der Demografische Wandel stellt gerade ländliche Regionen vor große Herausforderungen. Medizinische Versorgung, Bildung, ÖPNV etc. müssen in vielen Gebieten an die abnehmende Zahl von Bürgern und den höheren Anteil älterer Menschen angepasst werden“, so aktuell das Bundeslandwirtschaftsministerium (BMELV 2006:6). Schrumpfung und Abwanderung sowie die Zunahme des Altersdurchschnitts und des Anteils der Älteren an der Bevölkerung sind jedoch nicht nur eine Herausforderung für die Daseinsvorsorge und die damit beauftragten Institutionen, sondern auch eine Herausforderung für die lokale Bevölkerung selbst. Viele Menschen in den mittleren und kleinen Gemeinden Ost- und Westdeutschlands leiden unter dem Fortzug ihrer jungen Menschen. Sie wünschen sich Nachwuchs und fragen nach Strategien, wie Haltefaktoren vor Ort gestärkt, Fortgezogene zurückgeholt und neue Mitbürger angeworben werden können. Die in diesem Beitrag vorgestellte Studie widmet sich den Potenzialen der nicht-fortziehenden alternden Bevölkerung selbst. Finanziert vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und realisiert vom Nexus-Institut Berlin sowie der Hochschule Magdeburg-Stendal wurden im Frühjahr 2007 aktive Senioren in Ostdeutschland ausführlich dazu befragt, inwieweit sie willens und in der Lage sind, die Geschicke ihrer Kommunen, Einrichtungen und Vereine selbst in die Hand zu nehmen. Mit der Auswahl der 60- bis 75-Jährigen kam in leitfadengestützten Interviews die Altersklasse mit der größten Bleibeneigung zu Wort. Diese jungen Senioren stellen die Bevölkerungsgruppe dar, in die in Zeiten der tief greifenden demografischen Veränderungen mit Hinblick auf das Bürgerengagement „besonders große Hoffnungen und Erwartungen gesetzt werden“ (so Knopp und Deinet 2006:16; hierzu auch die Bundestags-Enquetekommission 2002:213ff). Das Forschungsprojekt „Potenziale junger Senioren in ländlichen Regionen“ untersuchte Fragen, die für die Daseinsvorsorge in schrumpfenden und alternden Gemeinden relevant sind. Im Kern ging es um das ‚Wer’ – also um die Suche nach den Akteuren, die für die Entwicklung der Daseinsvorsorge in ländlichen Regionen auch in Zukunft Verantwortung übernehmen können. 206
Zu klären war deshalb zunächst, welche Personen Lösungen für alternde und schrumpfende Gemeinden haben und entwickeln. Sind dies die Professionellen, die Beauftragten, Berufenen und beruflich Bezahlten? Oder können dies auch die Freiwilligen sein, die ‚Laien’, die aus tiefster Überzeugung Engagierten, die unentgeltlich Tätigen, die in Politik und Verwaltung, in der lokalen Wirtschaft, in Verbänden, Organisationen, Einrichtungen und bürgerschaftlichen Vereinigungen sowie im privaten Bereich der informellen Netzwerke aktiv sind? Nachdem im Forschungsprojekt eine Entscheidung zugunsten der freiwillig Engagierten gefallen war, stellte sich als zweite Frage, aus welchen Bevölkerungsgruppen und Altersklassen die Menschen stammen, die freiwillig engagiert lokale Entwicklungen vorantreiben können. Sind dies die Bürger in der beruflichen Lebensphase mit der Macht und den Möglichkeiten ihrer Arbeitsweltzugehörigkeit oder die jungen Menschen mit ihrer – manchmal sehr spontanen – Aktionsbereitschaft? Sind dies nicht auch die Senioren mit ihrer Lebenswelten-, Orts- und Menschenkenntnis? Nachdem es zur Entscheidung für Menschen in der nachberuflichen Lebensphase kam, stand noch die Frage der Kompetenz zur Debatte. Muss nicht Altern, Altsein und ‚Zu-den-Seniorengehören’ eher als defizitär angesehen werden, wenn viele auf Senioren und Altern bezogene politische Konzepte immer noch den Anschein erwecken, dass die Worte „alt-gebrechlich-krank“ fast Synonyme sind? Können ältere Menschen die Geschicke ihrer Gemeinwesen und Netzwerke selbst in die Hand nehmen? Ist in alternden und schrumpfenden Gemeinden eine aktive, moderne und attraktive Selbstorganisation und Selbstverwaltung der Betagteren in Sachen Kommune, Einrichtungen und Vereinswesen möglich? Diese Fragen, denen wir uns in qualitativer Perspektive stellen, berühren mehrere aktuelle Diskurse: Das Thema freiwilliges Engagement findet sich zuvorderst in den Diskussionen um die Konturen einer zukünftigen Zivil- und Bürgergesellschaft - auch in ihren Bezügen zur Wirtschafts- und Arbeitswelt. Auch die Frage der gegenwärtigen und zukünftigen Rolle der Senioren im Verhältnis zu den anderen Generationen ist ein zentrales Thema. Fähigkeiten und Fertigkeiten von Senioren im Verhältnis zu Defiziten und Bedürfnissen werden zumeist in der Gerontologie diskutiert. Und die Grundfrage nach der Gemeinwesenverantwortung aller oder bestimmter Bürgergruppen stellt sich trotz breit entwickelter staatlicher, marktbasierter, wohlfahrtsverbandlicher beziehungsweise bürgerschaftlicher und informellprivater Daseinsvorsorge immer wieder in der politischen Debatte. Allerdings dominiert bei der Daseinsvorsorge immer noch der Blick auf das professionelle, bezahlt-verantwortliche Handeln und der Bereich Engagement ist nach wie vor von einem Jugendfokus geprägt. Senioren werden zumeist als zu versorgendes Klientel betrachtet. Es sollte zu denken geben, dass Daseinsvorsorge überwiegend als Aufgabe von Professionellen und bezahlten Kräften verhandelt wird. Aus bundespolitischer Perspektive mag es ja richtig sein, dass freiwillig Engagierte „die grundlegenden 207
Herausforderungen der Sozialpolitik“ allein „nicht hinreichend annehmen“ können und „immer nur ein - durchaus sympathischer - Nebenzweig der sozialpolitischen Lösungsstrategien mit beschränktem Wirkungskreis sind“ (Nullmeier 2002:18). Kommunalpolitisch gesehen ist dies nicht der Fall, sitzen doch freiwillig Engagierte an entscheidenden Stellen der kommunalen Selbstverwaltung sowie vieler Einrichtungen und Vereine und stellen vielfältig Weichen mit - auch und vorrangig im sozialpolitischen Bereich. Der bestehende Jugendfokus im Bereich des Engagements muss ebenso verwundern, verdeutlichen doch viele Studien, dass auch ältere Menschen Akteure ihres Gemeinwesens sind. Gaskin et al. (1996:66) haben in der EuroVol-Studie gezeigt, dass sich gerade in Ostdeutschland mehr Senioren als Jüngere engagieren. Der erste Freiwilligensurvey in Deutschland weist darauf hin, dass in Gesamtdeutschland das Engagement der 60- bis 69-Jährigen quantitativ keinesfalls hinter dem anderer Altersgruppen zurücksteht (Rosenbladt 2000:156ff). Im Gegenteil, 2004 vermeldet der zweite Freiwilligensurvey in vergleichender Perspektive sogar Aufwind: „Die deutlichste Steigerung des freiwilligen Engagements gab es bei den älteren Menschen“ (so das BMFSFJ 2006a:6). Nicht zuletzt müssen auch die immer wieder vorgetragenen Kompetenzzweifel erstaunt machen, die ältere Menschen vorrangig als Klientel von Sozialpolitik und Altenhilfe definieren. Denn das Potenziel ist groß: Die nachberufliche Lebensphase hat sich ausgeweitet, es gibt immer mehr immer früher „in Rente“ Gehende, die Menschen leben immer länger. Der Bildungsstand der Senioren ist hoch und ihre ökonomische Situation zufriedenstellend, ihre gesundheitliche Situation hat sich verbessert. Warum vielfach also immer noch von einer Politik für ältere Menschen als von einer Politik der älteren Menschen gesprochen wird, ist kritisch anzufragen1. Die hier vorgestellte Arbeit möchte einen Beitrag leisten, den bestehenden Fokus zu verändern. 1. Zur Studie Im Frühjahr 2007 wurden von einem Interviewerteam des Nexus-Instituts Berlin und der Hochschule Magdeburg-Stendal ausgewählte junge Senioren zu ihrem freiwilligen Engagement in ländlichen Räumen befragt.
1 Zu verstehen ist diese Tatsache, ist doch die Entwicklung der von Engagementfeldern und aktiver politischer Partizipation älterer Menschen relativ jung. Noch 1996 wird in einem renommierten Handbuch der Sozialen Arbeit unter dem Stichwort Altenpolitik konstatiert: „Strukturen und Möglichkeiten der politischen Partizipation älterer Menschen stehen erst am Entwicklungsbeginn“. Und: „In der Altenpolitik fungieren Wohlfahrtsverbände nach wie vor als wichtigstes politisches Sprachrohr der Senioren“ (Holz 1996: 45).
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Zentrales Thema in allen Interviews war stets eine konkrete, dauerhafte, unentgeltliche und öffentlich wirksame Aktivität2. Zur Sprache kamen die im Engagement erlebten Gestaltungsmöglichkeiten, die Einschätzung der Wirksamkeit des Engagements und mögliche Veränderungs- beziehungsweise Verbesserungswünsche. Die Hintergrundvariablen Einheimischer versus Zugezogener, Einkommen, Wohnortgröße, Wohnsituation, Geschlecht, Alter, Kinder und gegenwärtiger Familienstand wurden ebenso erfasst wie der ehemalige Beruf. Die Kontakte zu den Kindern, der Freundeskreis, Mitgliedschaften, persönliche Hobbys und der „gefühlte“ Gesundheitszustand waren ebenfalls Thema in den Befragungen. Gemäß dem Prinzip einer theoriegeleiteten strategischen Auswahl (Glaser/ Strauss 2005) sind in der Untersuchung Einheimische ebenso wie einige Zugezogene, Senioren mit hohen Renten ebenso wie einkommensschwächere Senioren vertreten. Die 23 befragten Personen leben auf Rügen und im Harz, in 200-Seelen-Dörfern ebenso wie in Gemeinden mit 8.000 Einwohnern, in Einfamilienhäusern und zur Miete. Die neun Frauen und vierzehn Männer sind durchschnittlich 68 Jahre alt. Sie haben in der Regel zwei Kinder. Die meisten sind verheiratet, einige verwitwet, drei Personen leben allein. Die Befragten arbeiteten früher als Gärtner, LPG-Facharbeiterin, Diplomlandwirt, Verkäuferin, Poliklinik-Mitarbeiterin, Maurermeister, Postdienststellenleiter und Bahnangestellter. Zudem sind mehrere Grundschul-, Gymnasial- und Berufsschullehrerinnen ebenso wie eine Erzieherin eines Schülerinternats vertreten. Zudem wurden ein ehemaliger NVA-Offizier, ein DDR-Kombinats-Forschungsingenieur, eine Nachwende-Frauenhausleiterin, ein Versicherungsvertreter, ein Geschäftsführer sowie eine „im Alter in die Provinz gezogene“ Berliner Künstlerin befragt. Sie haben sehr ostdeutschlandtypische Vor- und Nachwende-Karrieren hinter sich und viel Erfahrung mit dem Leben in ländlichen Räumen.
2 Die aktive öffentliche Beteiligung von Bürgern, nicht jedoch passive Mitgliedschaften, werden im Freiwilligensurvey als „Gemeinschaftsaktivität“ bezeichnet (BMFSFJ 2006: 33). „Freiwilliges Engagement“ ist über diese manchmal „nur“ teilnehmende Aktivität (z.B. Spieler in einer Fußballmannschaft) dasjenige Tätigkeitsfeld, in dem eine Person etwas für die Gemeinschaftsaktivitäten tut, sei es als Kassierer, Gruppenleiter o.a. Nicht alle freiwilligen Engagements haben allerdings einen solchen „formalen“ Charakter - vieles geschieht informell (ebd.). Anders als in der Bundestagsenquetekommission zu „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ wird hier nicht der Begriff „Bürgerschaftliches Engagement“ verwendet, bezeichnet er doch unseres Erachtens eher Aktivitäten, die sich sehr deutlich durch Verantwortungsübernahme in Gesellschaft und Staat auszeichnen. Zudem hat er eine starke normative Komponente, die Betonung des aktiven Staatsbürgers, die bei unserer Untersuchung sehr unterschiedlicher Engagementformen junger Senioren - zunächst - nicht im Mittelpunkt steht (BMFSFJ 2006: 34; Bundestagsenquetekommission 2002: 73ff).
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Die befragten Senioren sind - entsprechend dem Freiwilligensurvey (BMFSFJ 2006) - in folgenden Aktivitätsbereichen tätig: x politische Organisationen (ein ehrenamtlicher Bürgermeister, mehrere Stadträte und Kreistagsabgeordnete, ein Aktivist einer Bürgerinitiative gegen Bauvorhaben des Bundeslandes), x Bereich Ordnung und Sicherheit (ein ehrenamtlicher Feuerwehrmann, ein freiwilliger Unterstützer des örtlichen Ordnungsamtes), x Bereich Soziales (eine Engagierte in der Kinder-, Familien- und Jugendarbeit, zwei Grüne Damen, mehrere Seniorengruppenleiterinnen), x Kultur- und Umwelt-Bereich (eine Künstlerin, verschiedene Mitglieder in Heimat- und Naturschutzvereinen), x Sport (eine Sportgruppenleiterin, ein Sportvereinsvorsitzender), x Kirche (zwei Mitglieder in Gemeindekirchenräten), x Bereich der Seniorenselbstverwaltung und Seniorenvertretung (eine Vorsitzende einer Kreisseniorenvertretung, ein Kreisseniorenbeauftragter). Die Befragten haben ein breites soziales Netzwerk: Die Beziehungen zu ihren Kindern sind ihnen wichtig, ein Freundeskreis ist stets vorhanden und wird gepflegt, sie sind in der Regel Mitglied mehrerer Organisationen. Hobbys (wie beispielsweise Lesen und Musikhören), die nur einem selbst gut tun, werden kultiviert - der „gefühlte“ Gesundheitszustand der Befragten ist dementsprechend gut3. 2. Ergebnisse Alle befragten aktiven jungen Senioren bringen sich, das ist die zentrale Erkenntnis der Untersuchung, ganz selbstverständlich in die Arbeit in ihren Gemeinwesen ein. Außerdem zeigt sich deutlich: Engagement ist keine Frage des Alters. Die befragten aktiven jungen Senioren haben sich ihr ganzes Leben engagiert und tun dies „einfach weiter“. Ihr Altersengagement ist zutiefst positiv motiviert, ausgesprochen professionell, gegenwartsbezogen, generationsübergreifend, gemeinwohlorientiert - bei Einigen sehr kreativ und innovativ, verbunden mit dem Willen zu „Bühnenposition“ und politischem Einfluss. Die von uns erhobene Binnensicht der Engagierten
3 Dass zwischen Kontakten und mentaler Gesundheit im Alter ein Zusammenhang besteht, zeigt auch eine aktuelle Studie des Wiener Instituts für Demographie (Buber/ Engelhardt 2006).
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unterscheidet sich deutlich von der Meinung jener Menschen, die Engagement zwar grundsätzlich positiv sehen, sich aber selbst zumeist nicht engagieren.4 x Das Engagement ist selbstverständlich, weil es für die Engagierten um ihr Leben geht. Sie müssen nicht gebeten werden und sind nicht auf stete Anerkennung aus. x Das Engagement ist ‚alterslos’. Ihr biologisches Alter wollen die Engagierten dabei nicht spüren, nicht aufgrund ihres Alters etwas Besonderes sein. Zeitlebens haben sie sich in Familie, Beruf, in der Freizeit und Politik eingebracht. Engagement ist für sie ein Stück Lebenskontinuität. x Das Engagement ist positiv motiviert, weil sich die Aktiven gern engagieren. Sie kompensieren durch ihr Engagement in der Regel keine Ängste, Verluste oder seelische und körperliche Beschwerden. x Das Engagement ist quasiprofessionell. Die Aktiven engagieren sich mit viel Sachverstand und Kompetenz, sind reflektiert engagiert - und keinesfalls laienhaft ‚dabei’. x Das Engagement bezieht sich auf die Gegenwart, ist doch die heutige Zeit und die gegenwärtige gesellschaftliche Situation im Blick. Kein Befragter versucht, alte Zeiten zu reaktivieren. x Das Engagement ist generationsübergreifend. Alle Generationen, nicht nur die Gleichaltrigen und Hochaltrigen, werden beachtet und bedacht. x Mit dem Engagement wird Gemeinwohl angestrebt. Es dient nicht vorrangig dem Zweck, sich selbst oder die Eigenen beziehungsweise Gleichgesinnten zu bedienen. x Einige der Engagierten setzen mit ihrem Engagement kreative und innovative Akzente, die in keiner Weise „altbacken“ zu nennen sind. x Sie verfolgen auch das Ziel, durch ihr Geben politisch einflussreich zu sein und nicht nur einfach „dabei zu sein“.
4 Zunächst ist dies sicher ein Korrelat unserer Auswahl: Alle Befragten stehen „mit beiden Beinen mitten im Engagement“ und vertreten damit das Innere bzw. den Kern von Engagementgruppen. Es gehört zu den Eigenheiten dieser Position, die Randbereiche, die Zutrittsschwierigkeiten und das auch vorhandene „Austreten“ nicht allzu deutlich zu sehen und zu zeichnen. Zudem zeigt sich in der uns mitgeteilten Binnensicht das Gesicht, das die aktiven Senioren der Gesellschaft zeigen möchten. Die positive Sicht ist somit ein Artefakt der sozialen Erwünschtheit, hier geradezu eines Darstellungsanliegens. Trotzdem weisen unsere Befunde darauf hin, dass diejenigen, die sich zu einem Engagement aufgerafft haben, davon profitieren. „Das Schwerste ist der Weg vom Sofa bis zur Tür - danach geht’s leichter!“, sagte uns eine Seniorin. Die Jüngeren, die Menschen mit Altersängsten, die Erwerbsarbeitszentrierten wie die Nichtengagierten sind unseres Erachtens diejenigen, die skeptisch auf das freiwillige Engagement im Alter sehen.
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Redet man also mit öffentlich engagierten, aktiven Senioren selbst und nicht mit anderen Generationen oder sehr konsumtiv orientierten, sich nur privat engagierenden Bürgern (zu denen auch viele Senioren zu zählen sind)5, so ist festzustellen: Freiwilliges Engagement im Alter tut den Aktiven gut – und ist von hohem Nutzen für ihre Gemeinwesen. Gleichwohl aber trifft das Engagement der Senioren in Ostdeutschland auf Gemeinwesen mit spezifischem Veränderungsdruck: Der politische, demografisch und fiskalisch begründete Abbau der (verkehrs-) technischen, sozialen und kulturellen Infrastruktur in vielen ostdeutschen Dörfern und Kleinstädten wird von unseren Befragten als großes Problem benannt. Einerseits sehen sich junge Senioren dadurch in ihrer Rolle als Konsumenten, als Nachfrager bestimmter Dienstleistungen eingeschränkt. Sie werden – wie man am Beispiel der Schließung einer Bahnstation gut nachvollziehen kann – nicht mehr „bedient“ und haben schlechter Zugang zu sozialen Diensten und kulturellen Angeboten. Andererseits geht ihnen durch den Infrastrukturabbau der Rückhalt ihres freiwilligen Engagements verloren. Dem Mangel an Kindern folgt beispielsweise die Schließung der Schule und damit der Verlust einer Kultureinrichtung, die auch Senioren als Abendschulräume und als Sportstätte nutzten und nutzen. Dem Mangel an Vereinsaktivitäten (z.B. im Sport) folgt, so erleben es viele Befragte, die Verringerung der Fördermittel und damit der Vereinsausstattung. Dem Rückgang der Kirchgemeindemitglieder folgt der „Abzug“ des Pfarrers, der bislang Engagement nachfragte und unterstützte – wie es vormals auch die Ortsgruppe einer Partei, ein Betriebsgewerkschaftsrat, die Dienststelle eines Wohlfahrtsverbandes und die auch im kleinsten Ort präsente öffentliche Verwaltung taten. Auf den infrastrukturellen Rückbau mit individuellem Engagement zu reagieren, ist – und hier zeigt sich möglicherweise ein ostdeutsches Phänomen – jungen Senioren nicht allzu leicht möglich (Albrecht 2003). Sie wünschen sich – wie Zeit ihres Lebens gewohnt – Netzwerke, die durch Hauptamtliche beziehungsweise Professionelle angeregt, begleitet und moderiert werden6. Sie wünschen sich zudem auch Aktivierung, sei es durch Offenheit der kommunalen Gremien und Institutionen, sei es durch direkte Ansprache und Einbeziehung. Neben Netzwerken und Aktivierung fordern ostdeutsche Senioren eine angemessene finanzielle Grundausstattung von sozialen Einrichtungen und Vereinen im Sport- und Kulturbereich, von Bürgerinitiativen und Parteien, Organisationen des sozialen Engagements sowie – und dies wird besonders unterstrichen – von der Nachwuchsarbeit. Nur eine solche Grundausstattung bringt ihrer Einschätzung
5 Vgl. zu den Begriffen „Freiwilliges Engagement“, „Gemeinschaftsaktivität“ und „passive Mitgliedschaft“ BMFSFJ 2006: 40ff (siehe auch Fußnote 3). 6 Roland Roth hat 2001 sehr deutlich auf diese Besonderheit des bürgerschaftlichen Engagements in Ostdeutschland hingewiesen.
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nach ihre Gruppen und Vereine in die Lage, zum Beispiel zu DDR-Zeiten geschiedene Frauen mit niedriger Rente zu integrieren oder in ihren am Ort lebenden Kindern und Kindeskindern durch qualifizierte Jugendarbeit das zu wecken, was, so ein Befragter, „in ihnen steckt: Nicht das ganz Große, für das man studieren muss. Sondern das, was für uns hier im Ort wichtig ist.“ 3. Konsequenzen für eine Praxis der Förderung des Engagements junger Senioren durch Kreise, Kommunen, Organisationen und Assoziationen Die hier aufgezeigten Ergebnisse sind als sehr positiv zu bewerten. Es bleibt aber festzuhalten, dass sich in Ostdeutschland laut Freiwilligensurvey 2006 weniger Senioren als in Westdeutschland engagieren. Auch da die Älteren in den untersuchten Regionen noch stärker als in Westdeutschland auf dem Weg zur Mehrheitsbevölkerung sind, ist zu fragen, wie Engagement grundsätzlich gefördert und für die Übernahme von Verantwortlichkeiten im Bereich der Daseinsvorsorge motiviert werden kann. Zunächst ist dies sicher eine Aufgabe der ganzen Kommune: „Ich fühle mich nicht als meine eigene Zielgruppe“, so die Aussage eines befragten hoch engagierten Senioren – geradezu stellvertretend für alle anderen. Senioren wollen zwar als spezifische Bevölkerungsgruppe im Blick sein, keinesfalls aber individuell aufgrund ihres Alters herausgestellt werden, wie auch die Bundestags-Enquetekommission zur Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements herausstellt (2002:216). So wie sich die von uns interviewten aktiven, jungen Senioren selbstverständlich und ‚alterslos’ engagieren, wollen sie selbstverständlich und ohne irgendein ‚Altersmitleid’ in ihrer Kommune und ihren Vereinen beteiligt werden. „Ich hab das Gefühl, hauptamtliche Stadt- und Verbandsverantwortliche denken oft, wenn ich ein Anliegen habe: ‚Ach, jetzt kommt der schon wieder!’“, so ein anderer Befragter. „Aber wenn eine Stadt auf ihre Bürger zugeht und sie durch Impulse anregt, das wäre doch was! Wenn der Staat wirklich Ehrenamt will, muss er sich um seine Bürger kümmern!“ Viele der interviewten Senioren wünschen sich – bei aller positiver intrinsischer Motivation – so etwas wie eine Beteiligungsoffensive von Kommunen, Einrichtungen und Vereinen. Eine solche existiert in ihren Augen oft nur verbal und vordergründig, obwohl bereits von der Bundestags-Enquetekommission schon deutlich gefordert (2002:196). Einige Befragte schauen anerkennend, ja ein wenig neidvoll auf die Infrastruktur, die es für Jugendliche und junge Menschen gibt. Die aktiven Senioren wünschen sich, wenigstens etwas von der Vielfalt an jugendlicher Selbstverwaltung und betreuter Jugendarbeit, von den offenen und verbandlichen Strukturen, von der Erlebnis- und Bildungsarbeit, von den Freizeitangeboten und der unterstützenden Sozialarbeit in den Seniorenbereich übertragen zu können. 213
Um Engagement zu fördern und auf Daseinsvorsorgeaktivitäten zu lenken, sind neben der kommunalen Politik und Verwaltung die kollektiven Akteure, die Verbände, Organisationen, Einrichtungen und bürgerschaftlichen Vereinigungen zuständig. Ihre Integrationskraft ist, so die Befragten, der Schlüssel für Engagement. Das Thema Nachwuchs für ihre Gruppen und Projekte liegt den engagierten Senioren dabei besonders am Herzen. Sie denken in diesem Zusammenhang jedoch überwiegend an Kinder und Jugendliche, verfügen nur über wenige und unzureichende Werbestrategien und delegieren die Nachwuchsansprache gar an andere. „Da müssen Sie unseren Jugendzugleiter fragen“, antwortete beispielsweise ein Feuerwehrmann auf die Frage, wie denn die Feuerwehr für Mitgliederstabilität und Nachwuchs sorge. Er brachte uns mit seiner „Einwerbungsdelegation“ und der Negierung von Gleichaltrigen als Nachwuchskandidaten zu der Erkenntnis, dass es die strategische Ansprache neuer Mitwirkender ein Zukunftsthema vieler Verbände und Vereine sein muss und dass das knappe Gut der kompetenten und aktiven Mitstreiter keinesfalls nur in der Jugend gesucht werden darf. Neben der Ansprache von Senioren fehlt es auch an qualifizierter Integration. Hilfestellung, Beratung und Begleitung für das Hineinwachsen in ein Engagement und das Handeln im Engagement sind auch unter sozialpsychologischen und gruppendynamischen Aspekten wichtig. Viele Engagierte berichten von anfänglichen Schwierigkeiten bei ihrer neuen Aufgabe. Professionelle Ansprechpartner, die möglicherweise auch bezahlt werden müssen, sind gesucht, gilt es sowohl den Einstieg als auch die „Karriere“ in den Netzwerken zu begleiten, zu moderieren und mitzuformen. Die Zusammenarbeit in Netzwerken birgt Konfliktpotential. Das erfahren auch ehrenamtlich tätige Senioren: So sprach der ältere Aufbauverantwortliche eines Mehrgenerationenhauses beispielsweise davon, ein örtliches Seniorencafé bald in sein zukünftiges Projekt integrieren zu können. Die ebenfalls befragte ehrenamtliche Leiterin dieses Cafés hatte aber keinerlei Interesse, „Ast an seinem Baum“ zu werden. Sie wollte ihr Engagement lieber beenden und dem Konflikt aus dem Weg gehen, als ihre Arbeit unter solchen Umständen fortzusetzen. Dieses Beispiel macht deutlich, dass es in Zukunft mehr denn je eines Fraktionen- beziehungsweise Generationenmanagements bedarf. Zusätzlich zu synergiebezogenen Vernetzungspodien werden Kommunen, Einrichtungen und Vereine für neue Mitglieder auch Untergruppen („Fraktionen“ beziehungsweise „Projekte“) bereitstellen müssen, weil sich neue Ehrenamtliche nicht unbedingt in bereits etablierten Aktivitäten integrieren lassen. Gesucht ist damit Personal, das die entstehenden Lager in Kommunen, Einrichtungen und Vereinen professionell moderieren kann. Integration erfordert Profil. Viele der befragten Senioren loben, dass das Angebot möglicher Aktivitäten in den meisten Kommunen, Einrichtungen und Vereinen sehr groß und vielfältig ist. Längst sind Parteien nicht mehr allein fürs politische Geschäft, Wohlfahrtsverbände für Hilfe und Unterstützung und die Kulturvereine 214
für die Gemeinschaftlichkeit zuständig. Man sucht und schätzt Ganzheitlichkeit, gute Fachlichkeit wie auch eine gute Beziehungsebene. Von den Kommunen, Einrichtungen und Vereinen ist also Vielfalt und Multifunktionalität gefordert – zumindest was ihre innere Konstitution angeht. Verbände und Vereine neben ihrem sachlichen Satzungszweck auf ihre kommunitären, binnen-partizipativen, sozialen und politisch-einmischenden Aspekte hin zu befragen, sollte demzufolge überall Praxis werden (wie es beispielsweise Evers et al 2002; Albrecht 2001:288ff; Klug 1997 empfehlen). Dennoch beklagen einige der Befragten Profilverluste nach außen. Dies geschieht, obwohl viele der Senioren große Kreativität dabei zeigen, auf die ‚Außenansichten’ ihrer Gruppen Einfluss zu nehmen, und Arbeitsteilung- und Wettbewerb in einem Gemeinwesen akzeptieren (wenn auch hin und wieder Harmonie und Absprachen stärker präferiert werden). Geht den Einrichtungen und Vereinen das Profil verloren, verlieren die Freiwilligen die Lust, sich zu beteiligen. Ein Umstand, der Einrichtungen und Vereine aufruft, professionell an ihrem Außenprofil zu arbeiten und zu feilen. Insgesamt benötigen engagierte Senioren eine lokale, sehr direkt-persönliche, ehrliche Nachfrage- und Anerkennungskultur: Seniorenengagement in Organisationen und bürgerschaftlichen Assoziationen bedarf der Nachfrage der anderen Akteure eines Gemeinwesens. Dies können Menschen sein, die Verantwortung und gute Positionen im Gemeinwesen haben, dies können aber auch Engagierte „auf gleicher Augenhöhe“ sein. Senioren brauchen Aufmerksamkeit, Menschen, die sie nachfragen und von denen sie Anerkennung für ihr Engagement erfahren, wie etwa Kinder und Enkel, Vergangenheitsinteressierte und Engagementbewunderer, Politiker, Verwaltungsleute, Verbands- und Vereinsvertreter. Die Gesellschaft sollte stärker umdenken: Senioren gebührt nicht nur die Rolle des Daseins, Dabei-Seins und einer allgemeinen Beteiligung, nicht, um mit Goffman (1959) zu sprechen, der Platz im Zuschauerraum, sondern auf der Bühne. Die gegebenen Einflussmöglichkeiten und Führungspositionen sind auch älteren Menschen offen zu halten. Senioren müssen mit ihren Fertigkeiten und Erfahrungen das sein dürfen, was sie vielfach schon sind – Großeltern und Eltern, Experten für Vergangenes und Aktivisten der Gegenwart, erfolgreiche Politiker, gute Verwalter, überzeugende Verbandsvertreter und Vereinschefs mit dem notwendigen Fingerspitzengefühl. 4. Weiterdenken! Wir brauchen neue Konzepte der ländlichen Entwicklung Die Studie „Potenziale junger Senioren in ländlichen Räumen“ zeigt, wie qualifiziert und wirkungsvoll sich aktive Senioren in ihren von Alterung und Schrumpfung geprägten Gemeinden engagieren. Sie sind Gestalter ihrer Lebenswelten, Orte und 215
Gemeinschaften, die kompetent die Gegebenheiten ihrer Lebenserfahrung und die Chancen der freien Zeit zur Mitwirkung in öffentlichen bürgerschaftlichen Netzwerken nutzen. Angesichts dieser Ergebnisse verwundert, dass in Publikationen zu ländlichen Räumen und zur Daseinsvorsorge das Thema bürgerschaftliches Engagement und Partizipation sowie speziell Seniorenengagement, Mitwirkung und Einflussnahme älterer Menschen sehr randständig und äußerst unkonkret behandelt wird. So weist beispielsweise der Deutsche Landkreistag in seinem aktuellen Papier zur Zukunft ländlicher Räume zwar darauf hin, dass eine Aufrechterhaltung der Daseinsvorsorge in Zeiten des Demografischen Wandels nur erreicht werden kann, wenn Modernisierung, Flexibilisierung und Multifunktionalisierung der Versorgungsstrukturen (sowie) die Vernetzung der Infrastrukturen und Angebote durch Innovationen und bürgerschaftliches Engagement ergänzt werden (Deutscher Landkreistag 2006:9). Weitgehend unbeleuchtet bleibt jedoch, in welchen Bereichen Innovationen hilfreich und vorstellbar wären und welche Akteure und Rahmenbedingungen beim bürgerschaftlichen Engagement eine Rolle spielen sollten. Hinzu kommt, dass im Politikfeld Familie, Soziales, Bildung und Kultur ausschließlich die Zukunftsaufgaben der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Schule verhandelt werden. Senioren tauchen – defizitär betrachtet – ausschließlich unter den Überschriften „Integration und Versorgung behinderter Menschen“ sowie „Rückgang der Pflege durch Familienangehörige“ auf (ebd.:13f). Wie „Bürgernähe, demokratische Legitimation und Mitwirkung“ (Deutscher Landkreistag 2006:17) zu erreichen sind, wo doch den Erwerbstätigen „angesichts der zunehmenden Komplexität von Arbeitswelt und Gesellschaft“ (ebd.:12) schon Überforderungen attestiert werden, wird nicht ausgeführt. Immer noch scheinen sich in Deutschland die verschiedenen föderal begründeten Verwaltungsebenen, die vielen Programme und institutionellen Akteure eher zu behindern als bürgerschaftliches Engagement zu beflügeln. International vergleichende Arbeiten zeigen erste Erklärungsansätze: Im aktuellen OECD-Prüfbericht „zur Politik für ländliche Räume“ in Deutschland wird in Bezug auf bestimmte Entwicklungsprogramme eine lokale Integration aller Politiken gefordert. Festgestellt werden muss jedoch, „dass der Dezentralisierungsprozess im deutschen Föderalsystem häufig auf Länderebene endet“ und Programmkooperationen sowie Vernetzung oft fehlen (OECD 2007:129). „Obwohl der Grad der aktiven Mitwirkung der Gemeinden und Akteure vor Ort wesentlich höher ist als in den auf Länderebene entwickelten und verwalteten Programmen“ wird „nicht auf eine Integration der lokalen Ebene hingewirkt“. „Schubladendenken behindert“ die in den ländlichen Räumen vorhandenen „Ressourcenströme, was mit erheblichen Effektivitätseinbußen verbunden ist“ (ebd.:129f). „Nur eine optimale Verbindung zwischen den Potenzialen der Steuerung von unten (Bottom up) und den Impulsen und der Steuerung von außen, aber auch den 216
bestehenden politischen Vorgaben von oben (Top down) kann integrierte ländliche Entwicklung zum Erfolg führen“, so das Bundeslandwirtschaftsministerium (BMVEL 2005:19). Verwaltungsebenen-, Programm- und Akteurspartnerschaften „müssen eng an die bestehenden kommunalpolitischen Strukturen angeknüpft werden“ (ebd.:20). Das Bundeslandwirtschaftsministerium benennt als zuvorderst an der ländlichen Entwicklung zu Beteiligende „interessierte Bürgerinnen und Bürger“, unter anderem „Jugendliche und Senioren“ (BMVEL 2005:21). „Die Steuerungsfunktion in der ältere werdenden Gesellschaft muss in den Kommunen interdisziplinär und unter Beteiligung aller Akteure der Bürgergesellschaft wahrgenommen werden“ (Deutscher Verein 2006:7) 7. Dass es dazu einer Öffnung der Institutionen braucht, wie die Bundestagsenquetekommission zur Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements fordert, die nur durch transparente und verlässliche Strukturen und ein Zugehen auf die Bürger wirksam wird, muss vielfach noch erkannt und angegangen werden. Wenn das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in seinen „Perspektiven der Raumentwicklung in Deutschland“ 2006 unter Umsetzungsstrategien zum Leitbild „Daseinsvorsorge sichern“ erst im letzten Abschnitt, ja allerletzten Satz anspricht, dass „Menschen (...) sich aktiv in die Gestaltung ihres Umfeldes und ihrer Region einbringen“ könnten, ist das aus Sicht eines Bauressorts sicher richtig platziert, aus Sicht der vielen bürgerschaftlich engagierten Menschen jedoch Hintenanstellung und Missachtung ihrer Anstrengungen, Leistungen und Potenziale. Sie gestalten ihr Bürgersein und -bild, ihre Alternswelten und ihre Altersbilder vor Ort trotzdem (Rosenmayr 2004) – womöglich nicht gemeinsam mit denen, die sie in ihren Papieren übergehen. Dass die engagierten Senioren die Alterung und Schrumpfung der Gemeinden mit ihren Aktivitäten nur in Ansätzen aufhalten können, wissen sie – wohl aber, dass sie der Verschlechterung der Situation in ihren Kommunen, Einrichtungen und Vereine Einhalt gebieten.
7 Der Deutsche Verein entwickelt ein vorbildliches Handlungsgerüst, wenn er schon für die Analyse alternder Räume einen ressortübergreifenden, generationsübergreifenden und sozialräumlichen Ansatz vorschlägt (Deutscher Verein 2006: 7ff) und entsprechende Handlungsempfehlungen gibt.
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Goffman, Erving (1959/ 1996): Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag. München und Zürich: Piper. Klug, Wolfgang (1997): Wohlfahrtsverbände zwischen Markt, Staat und Selbsthilfe. Freiburg i.Br., Lambertus. Nullmeier, Frank (2002): Vergesst die Bürgergesellschaft?! In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 4/2002: 13-20. OECD - Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Hrsg.) (2007): Prüfbericht zur Politik für ländliche Räume. Bericht zu Deutschland. Paris: OECDpublishing. Olk, Thomas/ Backhaus-Maul, Holger/ Ebert, Olaf/ Jakob, Gisela (Hrsg.) (2003): Bürgerengagement in Ostdeutschland. Opladen: Leske & Budrich. Rosenbladt, Bernhard von (2000): Freiwilliges Engagement in Deutschland - Freiwilligensurvey 1999. Berlin, Schriftenreihe des BMFSFJ. Rosenmayr, Leopold (2004): Das neue Altersbild selber schaffen. In: EFI-Newsletter 5: 3-5 Roth, Roth (2001): Besonderheiten des bürgerschaftlichen Engagements in den neuen Bundesländern. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B.39-40: 15-22.
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Die Autoren
Peter-Georg Albrecht Dr. phil., Diplom-Sozialarbeiter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Nexus Institut Berlin, Forschungsschwerpunkte: Altern, Wohlfahrtsverbände, Sozialpolitik. Kontakt:
[email protected]. Stephan Beetz Prof. Dr., Soziologe, Fachbereich Soziale Arbeit an der Hochschule Mittweida, Forschungsschwerpunkte: Stadt- und Regionalentwicklung, Genossenschaften, Mobilität/Migration, Sozialer Wandel in Ländlichen Räumen. Kontakt:
[email protected] Karl Martin Born PD Dr. habil., Geograph, Gastprofessor für Anthropogeographie am Institut für Geographische Wissenschaften der Freien Universität Berlin, Forschungsschwerpunkte: Ländliche Räume in Europa, Sozial- und Bevölkerungsgeographie, Siedlungsforschung, Transformationsforschung. Kontakt:
[email protected]. Weert Canzler Dr., Politologe, Leiter der Projektgruppe Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Forschungsschwerpunkte: Infrastrukturpolitik, Verkehrsforschung, Technologiepolitik. Kontakt:
[email protected] Klaus Einig Dipl.-Ing. Stadtplanung, Projektleiter und stellvertretender Leiter des Referates Raumentwicklung beim Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Forschungsschwerpunkten: Instrumente der Raumordnung, Methoden der Regionalplanung, interdisziplinäre Institutionenanalysen. Kontakt:
[email protected] 220
Bernadette Jonda Dr., Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der Martin-Luther-Universität Halle, Forschungsschwerpunkte: Demografischer Wandel, Jugendsoziologie, deutsch-polnische Beziehungen. Kontakt:
[email protected] Jens Kersten Prof. Dr., Jurist, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften, Ludwig-Maximilians-Universität München, Forschungsschwerpunkte: Verwaltungs-, Verfassungs- und Europarecht. Kontakt:
[email protected] Andreas Knie Prof. Dr., Politologe, Hochschullehrer an der Technischen Universität Berlin, außerdem Geschäftsführer des „Innovationszentrums für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel“ (InnoZ) sowie Leiter der Projektgruppe Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Forschungsschwerpunkte: Verkehrsforschung, Technologie- und Wissenschaftspolitik. Kontakt:
[email protected] Katarzyna Kopycka M.A., Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Soziologie an der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg, Forschungsschwerpunkte: Arbeitsmarktsoziologie, Strukturwandel, Bildungssoziologie. Kontakt:
[email protected] Ingrid Machold Mag., Soziologin, wissenschaftliche Angestellte an der Bundesanstalt für Bergbauernfragen in Wien/Österreich, Forschungsschwerpunkte: Agrarsoziologie und Ländliche Soziologie, Infrastrukturentwicklung, räumliche Wirkung der EU-Agrarpolitik. Kontakt:
[email protected] 221
Claudia Neu Dr., Soziologin, wissenschaftliche Angestellte am Johann Heinrich von ThünenInstitut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, Forschungsschwerpunkte: Sozialstrukturanalyse, Transformationsforschung, Soziologie des ländlichen Raumes. Kontakt:
[email protected] Oliver Tamme Mag., Soziologe, wissenschaftlicher Angestellter an der Bundesanstalt für Bergbauernfragen in Wien/Österreich, Forschungsschwerpunkte: soziale- und wirtschaftliche Infrastruktur im Ländlichen Raum, Verkehrserschließung, Klimawandel im Berggebiet. Kontakt:
[email protected] Berthold Vogel Dr., disc. pol., Projektleiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen (CH) und an der Universität Kassel, Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie sozialer Ungleichheit, Wandel der Arbeitswelt, Theorie und Empirie des Wohlfahrtsstaates. Kontakt:
[email protected] 222