Die Abenteuer der Time-Squad XII
Peter Terrid
Das Zeit-Versteck
Peter Terrid · Das Zeit-Versteck
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Die Abenteuer der Time-Squad XII
Peter Terrid
Das Zeit-Versteck
Peter Terrid · Das Zeit-Versteck
Peter Terrid Die Abenteuer der Time-Squad 12. Heft
Terra Astra 377
Peter Terrid Das Zeit-Versteck
Sie sind auf Flucht – durch Raum und Zeit
1978
Peter Terrid - Das Zeit-Versteck
»Mensch!« sagte Inky. Der Angesprochene konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Der Körper, der angesprochen worden war, gehörte zweifellos zu einem Menschen. Das Bewußtsein aber, das diesen Körper lenkte und kontrollierte, dieses Bewußtsein stammte aus einem anderen Universum. Divorsion hatte einmal zum Volk der Jaynum gehört, einer Rasse, die eine gewisse Ähnlichkeit mit irdischen Robben hatte. »Davon habe ich immer geträumt«, murmelte Inky. »So etwas haben sich meine Zeitgenossen nicht einmal vorstellen können.« Daß der Mann aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sehr beeindruckt war, lag auf der Hand. Zu seiner Zeit war Raumflug nichts weiter gewesen als der Wunschtraum einer Reihe von Phantasten. Erst Jahrzehnte nach dem Zeitpunkt, zu dem wir ihn aus seiner Zeit geholt hatten, waren die ersten Schritte zur Verwirklichung dieses Wunschtraums eingeleitet worden. Inky – der eigentlich Anastasius Immekeppel hieß, aber auf diesen Namen begreiflicherweise wenig Wert legte – fuhr sich mit der Hand durch die wuscheligen Haare. Der Wind auf dem Raumhafen hatte das, was er als Frisur zu bezeichnen pflegte, durcheinandergebracht. Wir standen auf dem Gelände des Raumhafens von Los Angeles und warteten darauf, daß man uns erklärte, was wir hier zu suchen hatten. Wir, das waren außer mir Inky und Divorsion, der Indianer Charriba White Cloud und Corve Munther. Während Charriba groß, breitschultrig und ein wenig maulfaul war, wurde Corve trotz seiner Fähigkeiten als Raumfahrer und Hob
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bybiologe meist wesentlich jünger eingeschätzt, als er wirklich war. Er besaß das Äußere eines Bilderbuchoptimisten – blond, hellblaue Augen, verträumter Blick, schlank und nicht sonderlich groß. Ein hübscher Knabe, in dessen Beurteilung sich manch einer verschätzt hatte – mich eingeschlossen. Wir warteten auf unsere Chefs. Zum einen auf Don Slayter, Leiter der Time-Squad-Station von San Francisco, zum anderen auf Demeter Carol Washington, Chefin der gesamten Time-Squad. Das schloß nicht nur die Spezialtruppe der regulären Polizeitruppe ein, die die Time-Squad darstellte. Das galt auch für die geheime Sondereinheit innerhalb der Time-Squad, das TimeIntelligence-Corps, dem wir angehörten. Unsere Aufgaben waren neueren Datums und so vielgestaltig, daß sich keine genauere Beschreibung geben ließ. Feuerwehr im Dienste der Menschheit, das war eine mögliche Umschreibung. Daß ein neuer Auftrag ins Haus stand, lag auf der Hand. Klar war auch, daß uns dieser Auftrag in den Weltraum führen würde. Dafür sprach nicht nur der Ort, an dem wir zusammentrafen. Ein deutlicher Hinweis wurde uns auch in der Person von Corve Munther gegeben. »Was mag diesmal auf dem Programm stehen?« rätselte Inky halblaut. Er hatte seine hagere, hochaufgeschossene Gestalt gegen die Wand des Kontrollturms gelehnt. Im Hintergrund hob ein Erzfrachter ab, der zum Asteroidengürtel flog. »D. C. hat mir nichts verraten«, erklärte ich. Der Wind war kalt. Ich zog den Haftverschluß meiner Lederjacke zu.
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»Und was meinst du, Winnetou?« fragte Inky. »Nenn mich nicht immer Winnetou!« fauchte Charriba. Auch mir war rätselhaft, wie Inky auf diesen merkwürdigen Namen kam. Divorsion stieß mich an. Ein Gleiter kam auf uns zugefahren. Am roten Haarschopf war unsere Chefin unschwer auszumachen. Das graue Haar ihres Begleiters wies auf Don Slayter hin. Der Gleiter hielt unmittelbar vor uns. »Steigen Sie ein«, forderte uns D. C. auf. Ihre Augen verweilten einen Augenblick lang länger bei mir als bei den anderen, jedenfalls schien es mir so. Aber das konnte täuschen. Mit Gunstbeweisen ging D. C. leider überaus sparsam um. »Stehen Sie nicht herum wie ein Heldenstandbild, Mister Bistarc!« Ich beeilte mich, an Bord des Gleiters zu kommen. Typisch D. C. Meinen Vornamen Tovar nannte sie für gewöhnlich nur, wenn der Sensenmann bereits nach mir ausgeholt hatte. Don Slayter hatte die Rolle des Chauffeurs übernommen. Auch das war ziemlich ungewöhnlich. Während der Fahrt wurde kein Wort gesprochen. Der Fahrtwind spielte mit D. C.s Haaren, und ich konnte feststellen, daß sie auch einen sehr hübschen Nacken hatte. Demeter Carol Washington war überhaupt eine nicht nur überragend intelligente, sondern auch eine außerordentlich attraktive junge Frau – aber ich glaube, ich sagte das bereits einmal. Slayter steuerte den Gleiter am Rand des Raumhafenfeldes entlang. Den zivilen Bereich des Hafens hatten wir bald verlassen. Der Unterschied zwischen den beiden Bezirken war nicht sehr groß, die Kriegsschiffe hatten lediglich einen monoton grauen Anstrich. Im
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Grunde wurden sie nur gebraucht, um damit Jagd auf ein paar Raumpiraten zu machen. Als der Gleiter endlich anhielt, standen wir vor einer ausgesprochen schäbigen Holzbaracke. Knapp fünfhundert Meter davon entfernt ragte die Spitze eines Patrouillenschiffs in die klare Luft. »Kommen Sie mit«, bestimmte D. C. Sie ging voran, in die Baracke hinein. Ich schielte noch einmal zu dem Patrouillenschiff hinüber. Das Fahrzeug war frisch betankt worden. Der Geruch war unverkennbar. Im Inneren der Baracke wartete ein vierschrötiger Mann auf uns, an dem kurzgeschnittenen Bürstenhaar und dem mürrischen Gesichtsausdruck unschwer als Militär zu identifizieren. Er begrüßte D. C. mit spürbarer Zurückhaltung. D. C. wartete einfach und lächelte. Nach einigen Minuten eines mehr als peinlichen Schweigens räumte der Offizier knurrig das Feld. D. C. wartete, bis er den Raum verlassen hatte, dann begann sie zu erklären. »Was Sie dort draußen sehen«, sagte sie in ruhigem Ton, »ist ein Patrouillenschiff, daß Sie zum Mond bringen soll. Dort wird zur Zeit die erste interstellare Expedition vorbereitet. Es versteht sich von selbst, daß die ganze Angelegenheit streng geheim ist.« Sie machte eine Pause, ließ uns Zeit, die Nachricht zu verdauen. »Sie werden sich fragen, was Sie mit diesem Projekt zu tun haben. Ich werde es Ihnen sagen.« Wieder machte sie eine Pause. Der Blick, mit dem sie uns betrachtete, wollte mir gar nicht gefallen. »Wir haben das ursprüngliche Expeditionsteam ausgebootet. Satt dessen werden Sie die Reise antreten. 10
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Ich gehe dabei davon aus, daß Sie sich freiwillig melden.« »Selbstverständlich«, sagte ich sofort, zeitgleich mit Inky. Dabei wußten wir nicht einmal annähernd, zu welchem Himmelfahrtsauftrag wir uns da so eifrig meldeten. »Wir haben außerdem das Ziel dieser Expedition geändert«, fuhr D. C. fort. »Die EXPLORER I wird nicht wie geplant einen Stern in knapp fünfzehn Lichtjahren Entfernung anfliegen. Das neue Ziel wird annähernd eintausend Lichtjahre von Sol entfernt sein.« In mir klingelte eine unsichtbare Alarmglocke. »Wie schnell ist diese Expedition?« fragte ich mißtrauisch. In Demeters Gesicht zuckte ein Muskel. »Wir hoffen, daß die Triebwerke stark genug sind, die halbe Lichtgeschwindigkeit zu erreichen.« Mir verschlug diese Eröffnung die Sprache. Inkys Unterkiefer klappte nach unten. Während Charribas Gesicht unbeweglich wie das einer Statue blieb, konnte sich Divorsion ein geringschätziges Grinsen nicht verkneifen. »Dann wären wir ja mehr als zweitausend Jahre unterwegs!« rief Inky aus. »Richtig!« Nichts in der Stimme unserer Chefin verriet, daß es ihr etwas ausmachte, uns auf diese Reise zu schicken. Ich verstand nicht genug von der Materie, um die Schwierigkeiten abschätzen zu können. »Ich vermute«, sagte ich zögernd, »daß wir unser Ziel nur dank der Zeitdilatation lebend erreichen werden. Aber inzwischen werden auf der Erde zwei Jahrtausende vergangen sein.« 11
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D. C. schüttelte den Kopf. Sie lächelte mich an. Warum, zum Teufel, lächelte sie auf diese Weise immer nur dann, wenn mich entweder die Umstehenden oder schwere Verletzungen daran hinderten, auf dieses Lächeln einzugehen? »Sie irren sich«, sagte D. C. »Bei halber Lichtgeschwindigkeit macht sich die Dilatation nicht annähernd so stark bemerkbar, daß Sie hoffen dürften, das Ziel lebend zu erreichen.« »Wollen Sie, daß wir tot dort ankommen?« Wieder schüttelte D. C. den Kopf. Ihre roten Locken flogen. Sie sah hinreißend … aber das war allgemein bekannt. »Nein«, sagte sie lächelnd. »Sie sollen nicht tot dort ankommen. Sie sollen tot abfliegen!« Ich schluckte. »Sehr spaßig«, ächzte ich. Ich fand diesen Witz überhaupt nicht gut, vor allem nicht, weil D. C. dazu ein so ernsthaftes Gesicht machte. Sie schien ernstzumeinen, was sie sagte. Es war Inky, der die Lösung fand. »Natürlich sagte er strahlend. »Wir fliegen konserviert, im Kältetiefschlaf.« Mir stellten sich die Nackenhaare auf. »Langsam«, sagte ich zu Inky gewandt. »Ganz langsam. Ich weiß, du hast so etwas damals in deiner Zeit schon gelesen. Aber glaube mir, es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man so etwas großzügig beschreibt, oder ob man solche Anlagen bis ins Detail exakt baut.« »Die Anlage existiert«, sagte D. C. ruhig. »Sie wurde auch schon erprobt.« 12
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»Aber nicht für einen Zeitraum von zweitausend Jahren«, warf Divorsion ein. D. C. nickte. »Das stimmt. Vielleicht wird es Sie beruhigen, wenn ich Ihnen mitteile, daß ich dieses Unternehmen führen werde.« »Ausgeschlossen!« rief ich. »Sie haben einen Sohn, der Sie braucht, Chefin!« »Der Rest der Menschheit braucht die Time-Squad«, sagte D. C. gelassen. »Diese Aufgabe geht vor. Und ich kann, will und werde keinem meiner Mitarbeiter etwas zumuten, das ich nicht ebensogut selbst erledigen kann. Ich habe volles Vertrauen zu dem, was die Wissenschaftler erfunden und gebaut haben.« »Ich verstehe eines noch nicht«, warf Charriba ein. »Welchen Sinn hat diese Expedition überhaupt?« »Ich versuche, auf diese Weise ein Versteck für die Time-Squad zu finden«, sagte D. C. »Wir müssen damit rechnen, daß sich die Manipulationen an der menschlichen Geschichte sehr bald verstärken werden. Früher oder später werden wir die Menschen nicht mehr schützen können. Erinnern Sie sich an das, was uns die beiden Terraner der Zukunft verraten haben. Je früher die Time-Squad einen sicheren Zufluchtsort gefunden hat, desto besser werden wir künftig gegen unseren Gegner kämpfen können. Auf der Erde sitzen wir in einer Falle.« »Das stimmt«, sagte Charriba. »Wann werden wir starten?« »Das Boot wartet auf uns«, sagte D. C. Sie sah uns an. »Danke«, sagte sie dann und lächelte. 13
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Wir machten uns auf den Weg. Wie geheim die Angelegenheit war, bemerkten wir, als wir beim Besteigen des Patrouillenschiffs weder einen Piloten noch einen Navigator fanden. Während Corve die Steuerung des Schiffes übernahm, kümmerte sich D. C. um die Navigation. Zehn Minuten nach dem Gespräch in der Baracke erhob sich das Patrouillenschiff in die Luft. Rasch durchflog es die Atmosphäre und nahm dann geradlinig Kurs auf den Mond. Wir absolvierten den Flug schweigend. Jeder von uns hing seinen Gedanken nach. Hatten wir überhaupt eine Chance, dieses Wahnsinnsunternehmen zu überleben? Daß sich Wissenschaftler bereit erklärten, solche Risiken auf sich zu nehmen, erschien mir irgendwie normal. Forscher, die ihre Experimentierfreude bis hin zum Selbstmord trieben, waren in der Geschichte der Erde ziemlich häufig aufgetreten. Eine gewisse Portion Weltfremdheit gehörte allerdings dazu, solche Risiken einzugehen. Weltfremd aber war ich durchaus nicht. Ich arbeitete für TimeSquad, um den Lohn dieser Arbeit in Ruhe und Frieden genießen zu können – die Aussicht, auf einem Denkmal stehend auf die Nachwelt herablächeln zu können, konnte mich nicht begeistern. Die Beweggründe für diese Aktion der Time-Squad lagen auf der Hand. Wir brauchten tatsächlich und überdies sehr dringend einen sicheren Stützpunkt. Was wir in den letzten Wochen und Monaten über unsere Gegner hatten in Erfahrung bringen können, war so erschreckend, daß der Gedanke an Ruhe sich kaum einstellen konnte. Noch nie zuvor in der Geschichte hat14
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ten Menschen es mit so gefährlichen – und so bizarren – Gegnern zu tun gehabt wie die Time-Squad in dieser Zeit. Da waren die Fern, eine Rasse aus einem anderen Universum, von denen wir entsetzlich wenig wußten – außer, daß diese Wesen über derart beeindruckende Fähigkeiten verfügten, daß wir sie die Zeit-Zauberer getauft hatten. Zu allem Überfluß schienen die Fern in mindestens zwei Lager aufgespalten zu sein – eine Fraktion, die uns half, und eine zweite – die es mit dem Gegner hielt. Von diesem Gegner hatten wir auch nur eine sehr verschwommene Vorstellung. Divorsion hatte uns verraten, daß diese Spezies ebenfalls aus einem anderen Universum stammten. Die Oberen, so wurden sie von den Völkern genannt, die sie in diesem Universum unterdrückten. Ein Gegner ganz besonderer Art wartete in der Zukunft auf uns. Es waren die Menschen der Erde, die von den Oberen und den Fern zu willfährigen Handlangern ihrer Pläne gemacht worden waren. Die solcherart kommandierten Terraner waren im achtzigsten Jahrtausend unserer Zeitrechnung der Schrecken und das Entsetzen der halben Galaxis. Fern, die Terraner, die Oberen – drei verschiedene Gegner, alle drei sehr unterschiedlich, miteinander verwoben, daß wir kaum einen Durchschlupf fanden. Drei Gegner, von denen wir nur wenig wußten, viel zuwenig. Diesem Arsenal von Mächten stand der kleine Haufen der Time-Squad recht verloren gegenüber. Was wir machten und planten, waren Verzweiflungsaktionen, Nadelstiche, verglichen mit den Möglichkeiten des Gegners. 15
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Der Einsatz, zu dem wir jetzt aufbrachen, bewies das mehr als deutlich. Wir mußten uns mit schwerfälligen, nur halb lichtschnellen Raumschiffen begnügen. Von den Terranern wußten wir, daß sie sich mit ihren häßlichen schwarzen Würfeln nach Belieben in der Galaxis bewegten. Faustkeile kontra Langlauflaser – das war ungefähr der Unterschied zwischen der Time-Squad und dem Gegner. Die ganze Angelegenheit sah hoffnungslos aus, bevor sie richtig begonnen hatte. Nur eines hielt uns bei der Stange. Vor wenigen Wochen hatten wir bei einem kleinen Stoßtruppunternehmen zwei Terraner in unsere Zeit mitnehmen können, einen Lieutenant der Flotte der Erde und dessen Burschen, einen gewissen Clem Maldoon. Von Maldoon wußten wir, daß es in der fernen Zukunft einen Kult gab, eine geheime, streng verbotene Sekte, die von der Geheimpolizei der Terraner erbarmungslos gejagt wurde. Dieser Kult betraf eine »Göttin der strafenden oder rächenden Gerechtigkeit«! Nur sehr Eingeweihte in der Time-Squad wußten, daß diese merkwürdige Göttin ganz offenkundig mit unserer augenblicklichen Chefin identisch zu sein schien – eine Vorstellung, an die ich mich beim besten Willen nicht gewöhnen konnte. Auf der anderen Seite aber gab uns dieser Kult einen Hinweis darauf, daß unsere Arbeit nicht völlig unnütz sein würde. Die Vorstellung, daß unsere kleine Gruppe den Mächtigen des achtzigsten Jahrtausends Alpdrücke bereitete, war zwar etwas absurd, aber sie gab uns Mut. Leider hatten wir inzwischen so oft erfahren müssen, daß sich Daten und Informationen durch Zeit-Mani16
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pulationen verändern ließen oder gar völlig verschwanden. Die Tatsache, daß Demeter Carol Washington auch im Jahre 80 000 noch Verehrer hatte – was mir ganz natürlich schien –, erlaubte keineswegs den Schluß, daß jede ihrer Unternehmungen vom Glück gesegnet sein würde. Vom Schicksal ihrer Begleiter und Mitstreiter wurde in dem betreffenden Kult nur sehr wenig geredet. Das Patrouillenboot erreichte den Mond und schwenkte in eine Umlaufbahn ein. Wir waren von der Oberfläche des Trabanten nur wenige Kilometer entfernt. Aus dieser Höhe ließen sich die verlassenen Industrieanlagen deutlich sehen, die vor mehr als zwei Jahrhunderten erbaut und sehr bald wieder verlassen worden waren – dann nämlich, als auf dem Mond die ersten Kinder gezeugt und geboren wurden. Es waren Geschöpfe gewesen, die nur dem Schwerefeld des Mondes angepaßt waren. Aus der Sicht dieser bemitleidenswerten Mondkinder war die Erde ein 6-g-Planet, also für alle Zeiten unerreichbar, wie für Erdenbürger die Oberfläche des Jupiters. Erst zwei Generationen später – die Mondgeborenen hatten freiwillig auf Nachkommen verzichtet – wurde die künstliche Schwerkraft entdeckt. Seither dienten die verlassenen ersten Lunarsiedlungen als technologisches Mahnmal, vergleichbar mit frühen Atommülldeponien in Mitteleuropa, der Ruine des Staudamms von Assuan und anderen technologischen Monstrositäten. »Von wo wird das Schiff starten«, fragte ich D. C. »Die Rampe steht auf der Rückseite des Mondes«, antwortete D. C. Sie schien erleichtert, daß das peinliche Schweigen endlich gebrochen wurde. 17
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»Und wann werden wir starten?« D. C. zuckte mit den Schultern. »Mit etwas Glück in vierundzwanzig Stunden«, sagte sie zögernd. »Ich weiß nicht, ob alle Startvorbereitungen bereits abgeschlossen worden sind.« Ich schluckte. In vierundzwanzig Stunden also konnte ich bereits klinisch tot sein, kein sehr schöner Gedanke. Ich wußte, daß es schon seit einigen Jahrhunderten Kälteschläfer gab. In der Mehrzahl hatte es sich dabei um Verstorbene gehandelt, die ihren Leichnam hatten konservieren lassen, in der Hoffnung, spätere Generationen würden ihre Leiden heilen können. Diese Rechnung war nicht aufgegangen. Ein Teil der Kälteschläfer war simplen Stromausfällen zum Opfer gefallen, der Rest wartete noch immer und würde noch etliche Jahrhunderte warten müssen. Auf die naheliegende Idee, daß man eine Krankheit, die einen Menschen bereits getötet hatte, nicht mehr heilen konnte, war damals wohl niemand gekommen – und den Mut, sich lebend einfrieren zu lassen, hatte niemand gehabt. D. C. mußte im Spiegel mein Mienenspiel verfolgt haben. Als erstklassige Psychologin hatte sie auch schnell herausgefunden, woran ich gedacht hatte – sehr viele Möglichkeiten gab es in dieser Lage schließlich nicht. »Angst?« Ich nickte. Selbstverständlich hatte ich Angst. Nur komplette Idioten hätten sich nicht gefürchtet, und Idioten … Ich setzte den Gedankengang lieber nicht fort, weil mir unpassenderweise einfiel, daß ich bei meinem ersten Zusammentreffen mit der Time-Squad selbst ein 18
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Idiot im klinischen Sinn gewesen war. Diese Zeit aber lag weit hinter mir. Corve Munther zog das Patrouillenboot tiefer. Er steuerte nach Radar, da es auf der Rückseite des Mondes nicht genügend Licht für Sichtflug gab. Während des Fluges sorgte die Antischwerkraft dafür, daß wir bequem in unseren Sesseln sitzen konnten, ohne sehr viel von den Manövern des Piloten zu merken. Für unsere Empfindung änderte sich auch nichts, als Corve das Boot mit der Spitze gegen den Himmel richtete und mit abwärts zeigenden Heckflossen zum Landeanflug ansetzte. Ein Ruck ging durch das Boot, als es aufsetzte. Wir schnallten uns los. Da ich mich während des Fluges vorwiegend mit meinen Gedanken beschäftigt hatte, wußte ich nicht einmal annähernd, wo wir uns befanden. Es war einer der vielen Krater der Mondrückseite, knapp vier Kilometer durchmessend. Der größte Teil der Fläche wurde von gewaltigen Scheinwerfern ausgeleuchtet. Die fehlende Atmosphäre bewirkte, daß die Konturen hart und bösartig wirkten, schroff und abweisend. Genau der richtige Platz, ein Todeskommando zu starten, dachte ich unwillkürlich. Als wir die Schleuse erreicht hatten, konnten wir durch die Fenster einen Blick auf das Expeditionsschiff werfen. Ich sah es mir so genau wie möglich an, während ich den Schutzanzug überstreifte, den ich brauchte, um zu den Gebäuden der Mondstation hinübergehen zu können Das Expeditionsschiff ragte schätzungsweise einhundert Meter in den luftleeren Himmel über dem Krater. Eine aerodynamische Verkleidung hatte es nicht aufzu19
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weisen. Was ich sah, war ein großer Kasten aus Metall mit offenen Wänden. Nur die kräftigen Streben waren zu erkennen. In diesem Kasten hingen die großen, kugelförmigen Tanks, die Treibstoff und vermutlich auch die Atemluft enthielten. Wie das eigentliche Triebwerk des Schiffes aussah, war von meinem Standpunkt aus nicht auszumachen. »Sehen konnte ich noch eine Halbkugel an der Spitze des Schiffes. Sie durchmaß etwa zwanzig Meter. »Werden wir damit fliegen?« fragte Inky. Über Kopfhörer klang seine Stimme merkwürdig verzerrt. D. C. machte das Zeichen für Ja. Corve sah sich nach uns um. Wir gaben ihm mit Zeichen zu verstehen, daß wir bereit wären. Danach erst öffnete Corve die Schleuse. Die Atemluft aus dem Schleuseninnern entwich schlagartig in den freien Raum. Gleichzeitig sank der Schallpegel rapide. Kein Wunder, den alltäglichen Arbeitsgeräuschen, an die man sich so gewöhnt hatte, daß man sie gar nicht mehr bewußt wahrnahm, fehlte jetzt das Medium. Schall konnten wir nur über die Kopfhörer, über den Boden oder bei Helmkontakt empfangen. D. C. ging uns voran. Sie schritt auf ein Tor zu, massiver Stahl, der im Licht der Tiefstrahler glänzte. Auf mich wirkte er wie der Eingang zu einer Gruft. Ich hatte anfänglich gewisse Schwierigkeiten, mich an die geringere Schwerkraft zu gewöhnen, aber als wir unser Ziel erreichten, stand ich bereits wieder recht sicher auf meinen Füßen. Inky hingegen bewegte sich wie ein Tänzer. 20
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Unbeeindruckt wie stets zeigte sich Charriba. Divorsion war sehr still geworden. Vielleicht hing er Erinnerungen nach. Die Chefin besaß einen Computerausweis, den sie nur in einen Schlitz zu stecken brauchte. Sekunden später hörten wir durch das Gestein unter unseren Füßen den Klang der starken Pumpen, die die Atemluft aus der Schleuse saugten. Eine gelbe Lampe zeigte uns an, daß wir die Schleuse betreten konnten. Die gewaltigen Tore glitten zur Seite. Dabei konnte ich sehen, daß sie aus dreißig Zentimetern Stahl bestanden – ein mehr als deutlicher Hinweis auf die Wichtigkeit der gesamten Anlage. Drei Minuten vergingen, in denen das Tor wieder geschlossen und Luft in die Schleusenkammer geleitet wurde. »Sie können die Helme abnehmen«, sagte dann eine leidenschaftslose Männerstimme. »Benutzen Sie bitte den mit der Farbe rot markierten Gang.« Keine Begrüßung, kein Wort des Willkommens, und das für eine Handvoll Todeskandidaten. Man schien alles tun zu wollen, uns den Abschied so leicht wie möglich zu machen. Wir folgten D. C. durch die Gänge. Sie schien sich in dieser Anlage bestens auszukennen, und die Art, in der sie von Vorbeikommenden gegrüßt wurde, bewies, daß sie ihren Ruf auch auf dem Mond hatte behaupten können. Nach einem Marsch von zehn Minuten, der sehr deutlich zeigte, was für Abmessungen diese Station haben mußte, erreichten wir ein Büro. Der Platz hinter dem Schreibtisch war leer. In einer Ecke des kahlen, spartanisch eingerichteten Raumes standen einige Korbstühle. 21
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»Setzen Sie sich«, bestimmte D. C.. Während wir auf den Sesseln Platz nahmen, verließ sie den Raum. Ich entschloß mich, diese kurze Zeitspanne zu nutzen. »Leute«, sagte ich schnell, »eines sollte klar sein – die Chefin darf dieses Wahnsinnsunternehmen nicht mitmachen. Sie wird hier auf der Erde dringender gebraucht.« Charriba sagte gar nichts, desgleichen Divorsion. Inky und Corve waren sofort einverstanden. »Und wenn ich sie betäuben müßte«, murmelte Inky. »Sie wird hierbleiben. Es reicht, wenn wir das Zeitliche segnen.« Er verstummte, als D. C. wieder in den Raum trat. Sie wurde von einem älteren Offizier begleitet. Wenn ich die Rangabzeichen richtig deutete, handelte es sich um einen General. Sicher war ich mir allerdings nicht. Ich hatte mir noch nie viel aus Militär gemacht. Diese Art Menschen hatten keinerlei Hemmungen, Menschen wie mich geradlinig in den Tod zu schicken. Und vor allem taten sie es nicht annähernd so nett wie unsere Chefin.
»Das Lebenserhaltungssystem.« Lebenserhaltung war das exakt unpassende Wort, die entsetzliche Maschinerie zu beschreiben. Mir wurde beinahe übel, wenn ich die Apparaturen sah, und meinen Begleitern ging es ähnlich. Wir hatten eine vergleichbare Anlage schon einmal gesehen. Damals, in der goldenen Stadt im Erdaltertum. Aber diesmal standen wir nicht vor der Apparatur, 22
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diesmal sollten wir hineingesteckt werden. Ich erinnerte mich noch an die konservierten Gehirne – brrrr! »Wir werden bei Ihnen einen künstlichen Winterschlaf hervorrufen«, erklärte der General. Ihn schien die ganze Angelegenheit nur als organisatorisches Problem zu interessieren. »Wir werden Ihnen nach und nach das gesamte Blut entziehen«, fuhr er fort. »Es wird gegen eine Flüssigkeit ausgetauscht, die unter den Bedingungen extremer Kälte besser fließt als normales Blut. Mit Hilfe von sorgfältig gesteuerten Drogen wird Ihr Körper so beeinflußt, daß alle Ihre Lebensvorgänge verlangsamt werden.« »Um welchen Faktor?« fragte ich. »Eins zu einer Million«, antwortete der General. »Sie werden, wenn Sie aus dem Tiefschlaf erwachen, nicht einmal eine Rasur nötig haben.« »Sehr beruhigend«, sagte D. C. lächelnd. Ich stand unmittelbar neben ihr. Nur ich konnte sehen, daß ihre Lippen ein wenig zuckten. Es tat gut, zu wissen, daß sie Angst hatte wie wir. Ihr Mut stand von jeher außer Zweifel. »Wer übernimmt die Garantie, daß dieser Maschinenpark nach zweitausend Jahren noch einwandfrei läuft?« Die Antwort kam mit militärischer Kürze und Härte. »Niemand!« Ich zählte sieben Schlafkabinen. Wenn D. C. den Flug mitmachte – woran ich sie in jedem Fall hindern würde –, blieb immer noch ein Platz übrig. Sollte noch jemand zu unserem Team stoßen? Wir standen in der Halbkugel, die das Expeditionsschiff krönte. Die Riesentanks unter unseren Füßen enthielten Wasserstoff, der in einem unerhört aufwendigen 23
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Verfahren mit Anti-Wasserstoff zusammengebracht wurde. Die dabei entstehende Strahlung trieb die EXPLORER I an. Ich wußte, daß ein Triebwerk dieser Bauart noch nie so lange gelaufen war, wie es in diesem Fall nötig sein würde. Es gab Risiken bei diesem Unternehmen, eines größer als das andere. Man konnte diskutieren, reden, argumentieren – eines ließ sich nicht leugnen: Das Unternehmen EXPLORER I war ein Selbstmordkommando. Schweigen breitet sich aus. Der General war taktvoll genug, uns unseren Gedanken zu überlassen. Wie sollten wir uns entscheiden? Keiner von uns hatte jene unbekümmerte Dummheit, mit der Großmäuler extreme Risiken eingingen. Es war uns nicht gleichgültig, ob das Unternehmen fehlschlug oder nicht – auf den Nachruhm konnten wir getrost verzichten. Auf der anderen Seite mußten wir unablässig tätig sein. Der Gegner griff uns an Fronten an, die wir noch gar nicht kannten. Wenn wir einfach warten, bis er zum nächsten Schlag ausholte, war die Time-Squad früher oder später verloren. Die Logik sprach für den Einsatz dieses Schiffes. Die Logik sagte auch, daß angesichts des Risikos für die gesamte Menschheit der Verlust von ein paar Leben nicht sonderlich zählte. D. C. schwieg. Daß sie fest entschlossen war, diesen Flug zu unternehmen, war offensichtlich. D. C. verließ den Schlafraum, wir trotteten schweigend hinter ihr her. Wir mußten uns entscheiden, jetzt und hier. »Ich mache mit.« Ich erschrak fast, als ich meine eigene Stimme hörte. Nicht nur, daß sie auf erschreckende Weise fremd klang; 24
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ich wollte kaum glauben, daß ich diese Worte selbst gesagt hatte. War ich denn von Sinnen? Inky hob langsam den rechten Arm, Divorsion lächelte. Charriba nickte nur. Corve Munthers Augen glänzten. Die Aussicht, als erster Biologe auf einem anderen Planeten Gräser beobachten und klassifizieren zu dürfen, war für ihn ausreichend. »Aber Sie bleiben auf der Erde«, sagte Inky. Er brachte ein schwaches Grinsen zuwege. »Dann haben wir wenigstens ein starkes Motiv, zurückzukehren.« Das Gelächter, das diesem Ausspruch folgte, klang entsetzlich verkrampft. Nach Lachen war uns wirklich nicht zumute. Ich warf einen Blick über die Schulter, zurück zu den grauenvollen Apparaten, denen wir uns anzuvertrauen hatten. Ich fröstelte. Das erste, was ich spürte, war Kälte. Mein Körper war kalt, aber durch die Adern raste ein Feuersturm. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Ich öffnete den Mund, und von den Kiefern jagte der Schmerz ins Gehirn. Meine Zunge fühlte sich pelzig an und ließ sich kaum bewegen. Ich wollte schreien, aber ich brachte nur ein Lallen hervor, das mir höhnisch in den Ohren klang. Wo war ich? Ich wußte nur, daß es mich gab und daß ich Schmerzen auszuhalten hatte. Große Schmerzen. Alles tat weh, selbst das Denken. Mein Kopf schien unter Spannung zu stehen. Irgendetwas drückte und bohrte darin herum. Schlimmer noch war das Gefühl, nicht zu wissen, was mit einem geschah, ja, wer man überhaupt war. 25
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Ich fühlte Schmerz, und ich wußte nicht, was mich quälte. Irgend etwas in meinem Innern bewegte sich schlug nach mir, und es traf jedesmal. Bei jedem Schlag preßte sich etwas grauenvoll Heißes in mir in die Höhe, verbreitete sich, verästelte sich. Langsam begriff ich, daß ich einen Körper hatte. Ein festes Etwas, das zu mir gehörte und gequält wurde. Von diesem Körper gingen die Schmerzattacken aus. Ich versuchte mich zu bewegen, aber es gelang mir nicht. Noch immer stach jemand mit Messern auf mich ein. Auf die Beine, durch die Brust, ins Gesicht. An dem Schmerz spürte ich, daß ich diese Körperteile besaß, der Schmerz brachte mir ins Bewußtsein zurück, was da weh tat. Die Haut, das Bein. Wieder hörte ich durch den Nebel des Schmerzes einen Laut, ein ersticktes Lallen, und ich verstand, daß ich diesen Laut ausgestoßen hatte. Ich hieß Tovar. Es fiel mir plötzlich ein, und gleichzeitig wußte ich, daß mir diese Information überhaupt nichts nützte. Ich bekam einen harten Schlag gegen das linke Bein. Wieder schrie ich vor Schmerz auf. Diesmal kamen die Laute glatter über meine Lippen. Es gab ein Echo in dem Raum, in dem ich mich befand. Höhnisch wiederholte das Echo mein Schreien. Es klang gespenstisch. Was wollte ich hier? Was war hier überhaupt? Ich bekam keine Ordnung in meine Gedanken. Ich begriff nicht einmal annähernd, was mit mir geschah. Von meinem Bein zuckte heißer Schmerz hoch. Unwillkürlich versuchte ich, das Bein heranzuziehen. Der Versuch gelang. Ich konnte das Bein bewegen. Plötzlich überfiel mich das Gefühl eines Triumphs. 26
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Was war triumphal daran, daß ich mein Bein bewegen konnte? Was ging hier überhaupt vor? Der Zustand, der mich umfangen hielt, war schrecklich. Verwirrend, wie geistesgestört. Die Schemazeichnung eines Gleitermotors tauchte vor meinem geistigen Auge auf – aber gleichzeitig wußte ich meinen zweiten Namen nicht mehr. (Wohl aber, daß ich zwei Namen hatte, obwohl ich doch nur eine Person war!) Es war, als würde ein riesiges Lexikon in Stücke geschnitten, als segelten die Blätter an mir vorbei. Was ich zu fassen bekam, war ein verwirrendes Allerlei, in das ich keinen Sinn hineininterpretieren konnte. Was hatte dieser Sturzbach von Informationen für einen Sinn? Wer machte hier was mit mir? Schlagartig wurde mir klar, wieviel in dieser Frage steckte. Die Voraussetzung meiner Existenz stak darin, die Prämisse, daß es außer mir noch andere Lebewesen gab. Aber ich wußte nicht, wer diese anderen Lebewesen – (Was war ein Lebewesen?) – waren, ich wußte nicht, wo ich mich befand, ich wußte nicht einmal … Jäh überfiel mich panische Angst. Wer war ich? Was war ich? Welche Art von Existenz hatte ich? Wie war dieses Ich beschaffen? Ich bewegte einen Muskel – plötzlich wußte ich, was ein Muskel war, nicht aber, was Bewegung bedeutete. Ein Gebilde tauchte vor meinen Augen – Augen? – auf. Fünf Dinger, die an einem anderen Ding steckten. Meine Hand; ich wußte es plötzlich. Das war meine Hand. Sie ließ sich bewegen. Es tat weh, aber sie ließ sich bewegen. 27
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Ich begann zu kichern. Sie ließ sich bewegen, die Hand, von der ich nicht wußte, was ich damit anfangen konnte. Es war absurd, es war lächerlich. Sie ließ sich bewegen. Ich ließ die einzelnen Dinger zappeln, und die Heiterkeit in mir verstärkte sich. »Junge, Junge«, murmelte ich und kicherte, weil ich gar nicht begriff, was ich da gesagt hatte. Was war ein Junge – oder wer? Ich bewegte weiterhin meine Hand. Ebenso schlagartig, wie sie gekommen war, verschwand die Heiterkeit. Irgend etwas Ernstes geschah mit mir, ich hatte buchstäblich nichts zu lachen. Ich versuchte die andere Hand zu bewegen. Auch das gelang. Gleichzeitig unterdrückte ich einen neuen Lachanfall. Was sollte ich mit zwei Händen, wenn ich nicht einmal wußte, wozu die erste zu gebrauchen war. Langsam begann mir zu dämmern, daß ich nicht ganz bei Sinnen war, daß irgend etwas mit mir geschah, und – vor allem – daß dies alles wichtig war. Unerhört wichtig sogar. Ich begann zu begreifen, daß ich durch dieses verwirrende Stadium hindurch mußte, daß es auf der anderen Seite dieses Walles aus verwirrenden Gefühlen etwas gab, das ich erreichen mußte. Noch immer wurde ich von Schmerzattacken gequält, aber sie ließen sich nun leichter ertragen. Ich ahnte, daß ich unter dem Einfluß von Medikamenten stand. Für einen Augenblick tauchte ein Name vor mir auf, eine verwirrende Kombination von Zahlen, griechischen Buchstaben und Silben: ortho, Benz, iso. Ich begriff, daß ich das Medikament damit meinte, daß ich wußte, was dieser ellenlange Name bedeutete – aber 28
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noch immer war ich mir völlig unklar über meine eigene Person. Eine Spritze tauchte vor meinen Augen auf, gehalten von einem blitzenden Metallarm. Dann sah ich die Spritze verschwinden, und als ich den Druck auf meinem linken Oberarm spürte, da wußte ich, daß eine Hochdruckinjektionspistole gegen meine Haut gepreßt wurde. Ich hörte – auch dieses Geräusch wurde bösartig verstärkt – ein leises Zischen, die Injektion selbst konnte ich nicht spüren. Vor meinen Augen wallten rote Schleier auf. Sehr rasch verlor ich das Bewußtsein. Ich setzte mich auf und ließ die Beine herunterbaumeln. In dem Raum war es angenehm warm. Die Klimaanlage arbeitete also noch. Ich hatte ihre Dienste nötig, denn ich war nackt, und das technische Aussehen des Raumes ließ einen schaudern, auch ohne daß es kalt wurde. »Gut gemacht, Jungs!« Es war ein merkwürdiges Gefühl, die eigene Stimme zu hören, eine Stimme, die um zweitausend Jahre gealtert war. Blitzartig schoß mir ein Bibelzitat durch den Kopf. Im vierten Vers des neunzigsten Psalms hieß es: »Tausend Jahre sind vor Dir wie der Tag, der gestern vergangen ist. Und wie eine Nachtwache.« Plötzlich wurde mir in krasser Deutlichkeit bewußt, was geschehen war. Ich war eingeschlafen, wieder aufgewacht, eingeschlafen und endlich erwacht – und darüber waren, wenn alle Apparaturen gearbeitet hatten, mehr als zweitausend Jahre vergangen. Ein Gedanke, der in voller Größe einfach nicht zu begreifen war. 29
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Auf der Erde war D. C. jetzt längst tot, zu Staub geworden wie alle, die ich gekannt hatte. Zweitausend Jahre – eine unvorstellbare Zeitspanne, und doch ein Nichts, wenn man den Maßstab der Natur anlegte. Nun ja, es war eine typische Eigenschaft des Menschen, daß er alles an sich selbst maß, anstatt sich an der Natur zu messen. Ich schwang mich von der Bettkante auf den Boden. Unwillkürlich wartete ich darauf, daß meine Knie einknickten – schließlich hatte ich zweitausend Jahre lang im Bett gelegen. Aber nichts dergleichen geschah – physiologisch waren einige Tage vergangen, mehr nicht. Zu Atrophien oder Paresen hatte es gar nicht erst kommen können. Ich sah mich in dem Raum um. Alles wirkte sehr medizinisch, unfreundlich, kalt. Trotzdem fühlte ich mich wohl. Das Gefühl, wieder zu leben, das Wahnsinnsexperiment heil überstanden zu haben … Erst zu diesem Zeitpunkt dachte ich an meine Gefährten. Die Macht des Egoismus. Ich verließ den Raum. Auf nackten Füßen tappte ich durch die Räume von EXPLORER I. Es war ein beklemmendes Gefühl. An den metallischen Wänden hallte das Klatschen meiner Fußsohlen auf dem geheizten Metallfußboden wider. Es war unglaublich still, obwohl das Schiff beschleunigt wurde – anhand der Schwerkraft unschwer festzustellen. Ich kam mir vor wie in einem jener miserablen SF-Video-Streifen, in denen sich der Plastikfimmel der Bühnenbildner hemmungslos austobte. Ich hatte nie begriffen, warum so viele Regisseure der Meinung waren, in 30
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der Zukunft sähen alle Räume – das Schlafzimmer eingeschlossen – wie eine Intensivstation aus, keine Blumen, keine Bilder, alles glatt, nackt, kahl, häßlich. Ein Knopfdruck ließ das schwere Schott auffahren. Ich machte zwei Schritte und stand in der Lebenserhaltungsstation. Sofort begann ich mit den Zähnen zu klappern. Es war bösartig kalt in dem Raum. Ich sah mich schnell um. Von den sieben Schlafkabinen waren fünf belegt, zwei Zellen waren leer. In einer davon hatte ich gelegen – mehr als zwei Jahrtausende, ein Gedanke, an den ich mich einfach nicht gewöhnen konnte. »Also doch!« murmelte ich. Daß sechs Kabinen belegt waren, bewies mir, daß unsere Proteste nichts gefruchtet hatten. D. C. hatte sich ebenfalls einfrieren lassen und unseren Flug mitgemacht. Es war natürlich leicht für sie gewesen, den Befehl dazu zu geben, als wir anderen schon längst im Kälteschlaf lagen. Ich hatte keine Lust, mich jetzt darüber zu freuen oder zu ärgern. Unsere Körper waren bei schätzungsweise einhundert Grad Kelvin aufbewahrt worden, und von dieser extremen Kälte hing einiges im Raum. Ich sah zu, daß ich diesen Bereich der EXPLORER I verließ. Der Schlafraum, wenn man ihn so nennen wollte, lag unmittelbar über den Tanks des Schiffes. Es war eine naheliegende Lösung – das Kühlmittel für unsere Schlafzellen wurde einfach außenbords von der alles erfassenden Weltraumkälte auf den Wert herabgekühlt, den wir brauchten. Um die Wärmeverluste so gering wie möglich zu halten, waren die Leitungen kurz ausgefallen, folglich lag die Lebenserhaltungsstation unmittelbar über dem Gerüst für die Tanks. 31
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Ich stieg die Treppen hinauf in die oberen Etagen der Kanzel. Hier war es angenehm warm. Die Steuerzentrale der EXPLORER I lag unmittelbar unter der Wölbung der Fronthalbkugel. Die Kappe dieser Halbkugel war transparent, darunter lag die Zentrale. Ringförmig um diesen Raum herum hatte man Kabinen angelegt, Einzelkabinen. Ich fand nach kurzer Zeit eine Tür die meinen Namen trug. Die Tür war nicht abgeschlossen. Ich trat ein. Unwillkürlich begann ich zu grinsen. Es war wirklich phänomenal, wie Demeter ihre Mitarbeiter in der Hand hatte. Sie hatte genau gewußt, daß keiner von uns sich weigern würde, dieses Wahnsinnsunternehmen mitzumachen – schon gar nicht, wenn sie selbst es anführte. Die Kabine gehörte unverkennbar mir. Die Bilder an der Wand entsprachen meinem Geschmack, auf dem Bücherbord standen einige meiner Lieblingsbücher. Die gesamte Kabine sah meiner Dienstbehausung in der Zentrale der Time-Squad überaus ähnlich, mit einem Unterschied allerdings. Der Kabine fehlte etwas von dem Junggesellenhaften, das für meine Behausungen typisch war. Es war nicht zu verkennen, daß dies die Unterkunft eines Mannes war; es ließ sich aber auch nicht übersehen, daß sich eine Frau mit Geschmack um die Einrichtung gekümmert haben mußte. Demeter Carol Washington hatte sich viel Mühe gegeben. Ich nahm mir vor, mein Zimmer in der Time-SquadZentrale nach dem Vorbild dieser Kabine zu verschönern – wenn ich dieses Zimmer jemals wiedersehen sollte. Ich öffnete den Kleiderschrank. Er war gut gefüllt mit allem, was ich brauchen konnte. Die Ausrüstung für 32
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andere Gelegenheiten war wahrscheinlich in irgendwelchen Magazinen gelagert. Ich zog mich schnell an. Danach ging ich in die Zentrale. Von unserem Ziel war einstweilen nicht viel zu sehen. Von den Sternen, die ich durch die Transparentkuppel sehen konnte, kannte ich keinen einzigen. Eine Reise von mehr als tausend Lichtjahren ließ die bekannten Konstellationen völlig verschwinden. Voraus, in Flugrichtung, lag eine Sonne, die die anderen Sterne überstrahlte. Im Augenblick aber war sie nicht mehr als ein besonders heller Punkt auf schwarzem Hintergrund. Wir hatten also noch Zeit, bis wir das Zielsystem erreicht haben würden. Ich versuchte mich zu erinnern, wie die Halbkugel an der Spitze des Schiffes gebaut war. In der obersten Ebene lagen die Kabinen der Besatzung und die Steuerzentrale, darunter die Gemeinschaftsräume. Dort befand sich mein nächstes Ziel. Ich bereitete mir aus Vorräten, die zusammen mit mir aufgetaut worden waren, ein kräftiges Frühstück. Es schmeckte hervorragend, auch wenn ich beim Essen ab und zu daran denken mußte, daß ich vor wenigen Stunden noch ebenfalls in einer Tiefkühlzelle gelegen hatte. Nach dem Frühstück, bei dem mir nur die Boulevardzeitung abging, sah ich auf die Uhr. Angeblich war es zehn Uhr morgens, eine Vorstellung, die mich amüsierte. Vor dem, was nun zwangsläufig auf dem Programm stand, hatte ich ein wenig Angst. Am liebsten hätte ich die Angelegenheit herausgezögert, bis der Briefträger gekommen war. Ich mußte meine Freunde aufwecken – wenn sie sich aufwecken ließen. Daß ich wieder erwacht war, stimmte 33
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zwar optimistisch, war aber kein Beweis dafür, daß das Verfahren bei den anderen ähnlich gut gewirkt hatte. Ich kehrte in die Lebenserhaltungsstation zurück. Die Programmierung sah vor, daß zunächst nur einer der Schläfer geweckt wurde. Gelang dies, wurde der Aufgeweckte beobachtet. Ich wußte, daß ich in den letzten Stunden in den Optiken und Mikrophonen des Zentralrechners einen hartnäckigen, stummen Begleiter gehabt hatte. Hätte ich Anzeichen einer schwerwiegenden geistigen Störung gezeigt, wäre ich getötet worden. Erst nachdem dank dieser Prüfung feststand, daß das Experiment – zumindest in diesem einen Fall – voll und ganz geglückt war, wurde der nächste Schläfer geweckt. Die Entscheidung darüber lag bei mir. Ich zögerte ziemlich lange, dann entschied ich mich für Inky, warum, wußte ich selbst nicht. Ich brauchte dazu nur die Nummer der entsprechenden Schlafzelle in den Rechner einzugeben. Alles andere erledigte die Maschinerie allein, wie sie es auch bei mir getan hatte. Einige Sekunden vergingen, dann hörte ich ein leises Klicken. Es war ein gespenstischer Anblick. Fast geräuschlos öffnete sich die Glassittür von Inkys Zelle. Inky lag auf einer fahrbaren Trage. Er war kalkweiß, völlig reglos. Seine Augen waren geschlossen, und von dem Augenblick an, da er aus der Zelle herausgefahren kam, wallten Nebelschleier um seinen steifgefrorenen Körper. Die Atemluft wurde in der Nähe seines Körpers schlagartig abgekühlt, die darin enthaltene Feuchtigkeit schlug sich als Nebel nieder. Eine einfache physikalische Tatsache, aber ein Anblick, der mich mit Grauen erfüll34
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te. Ich wagte es nicht, hinüberzugehen und Inky anzufassen. Ich spürte, wie die Kälte, die von ihm ausging, mühelos meine Kleidung durchdrang. Fluchtartig verließ ich die Überlebensstation. Dem, was sich nun abspielen mußte, war ich psychisch nicht gewachsen. Ich stellte es mir schlimm genug vor: ein Toter, der ins Leben zurückgerufen werden sollte, ein steifer Leichnam in den Fängen einer kalten, computergesteuerten Technologie. Hebel, Spritzen, Gelenke, Metall und Plastik, der Geruch nach Desinfektionsmitteln – und inmitten dieser entsetzlichen Maschinerie ein hilfloser Mensch, dessen Leben und Gesundheit vom perfekten Funktionieren dieser Maschinerie abhing, der keine Chance hatte, wenn die Apparaturen Fehler machten. Der Vorgang, der sich hinter verschlossenen Türen abspielte, las sich als Kurzform außerordentlich beruhigend – Wiederbelebung. In der Praxis war er ein Martyrium, technisch eine Abfolge von Daten und Befehlen, von vorausberechneten chemischen Wirkungen und Eingriffen, von biologischen Funktionen, deren Komplexität sich dem Vorstellungsvermögen eines einzelnen Menschen entzog. Plötzlich erschien mir dies alles als ungeheuerliche Anmaßung, als Eingriff des Menschen in einen Kompetenzbereich einer höheren Macht. Ich ging in die Zentrale zurück und setzte mich auf den Platz des Piloten. Natürlich hütete ich mich, einen der Hebel anzufassen, obwohl ich ziemlich sicher war, daß die Automatik mir jeden Unfug verbieten würde. Es sah alles danach aus, als sei unser Vorhaben geglückt. 35
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Daß wir uns weit, weit von der Erde entfernt hatten, ließ sich nicht leugnen. Darauf wiesen die Landungsanzeigen der Tanks mehr als deutlich hin. Nur in einem einzigen Behälter gab es noch Wasserstoff. Der restliche Treibstoff war verbraucht worden. Es gab eine Uhr an Bord, deren Daten auf eine Anzeige auf dem Instrumentenpaneel vor dem Pilotensitz übertragen wurde. Diese Uhr basierte auf dem regelmäßigen und gleichförmigen Zerfall irgendwelcher Atome. Wenn diese Uhr sich nicht geirrt hatte, und es gab wenig Grund, das anzunehmen, dann schrieben wir den 15. 3. 4401. Mehr als zweitausend Jahre zwischen uns und unserer Zeit. Mehr als eintausend Lichtjahre Distanz zur Erde. Einsamer, verlassener, hilfloser als wir konnte niemand sein. Ein Fehler, und wir waren für alle Zeiten isoliert. Auch die Time-Squad mit ihren Mitarbeitern und ihren Hilfsmitteln konnte uns nicht weiterbringen. Wenn die haarfeine Verbindung durch Raum und Zeit zur Time-Squad-Zentrale nicht zustande kam … Ich leckte mir die Lippen. Nur nicht daran denken, sagte ich mir. Ich mußte ruhig bleiben, ganz ruhig. Es gab Aspekte dieses Unternehmens, die ich mir im Detail gar nicht vorzustellen wagte. Was war, wenn die Wiedererweckung bei meinen Gefährten fehlschlug? Wenn ich allein übrigblieb, allein mit fünf Leichen, defekten Apparaturen, einem nicht mehr erfüllbaren Auftrag – und allein mit meinen Gefühlen. Allein vor allem mit der Angst, die bei fast allen unseren Unternehmungen ein steter Gefährte war. 36
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Ich holte mir aus dem Kühlschrank eine Flasche Limonade – ein überaus banaler Vorgang in einer alptraumhaften Szenerie. Ich durfte nicht daran denken, unter welchen Bedingungen ich diese Limonade trank. Ich durfte nicht, und doch starrte ich minutenlang auf den Herstellervermerk. Die Flasche war irgendwo in Kalifornien hergestellt worden, und sofort bestürmten mich Erinnerungen, die ich nur mit Mühe zurückdrängen konnte. Ich durfte jetzt nicht sentimental werden. Gefühlsüberschwang konnte in dieser Lage verhängnisvoll werden. Meine Gefährten und ich, wir waren Faktoren in einer gigantischen Rechnung mit vielen Unbekannten, und die ganze mathematisch-logische Operation konnte nur aufgehen, wenn sich die Einzelfaktoren tatsächlich wie Faktoren gebärdeten, kalkulierbar reagierten und in die Gesamtrechnung nichts einfügten, das nicht hineinpaßte. Es waren einige Menschen auf die Reise geschickt worden, um auf einem sehr weit entfernten Planeten einen Stützpunkt anzulegen. Das war die Rechenoperation. Angst war in dieser Kalkulation nicht enthalten. Dieses ganze Unternehmen konnte nur dann gelingen, wenn es uns gelang, jederzeit – oder jedenfalls fast jederzeit – logisch und vernünftig zu handeln. Ich durfte nicht durchdrehen angesichts der gespenstischen Vorgänge, die sich nur wenige Meter entfernt von mir abspielten. Ich dankte der Vorsehung – oder der Menschenkenntnis eines Konstrukteurs – daß die Türen zwischen mir und dem Raum, in dem Inky jetzt langsam ins Leben zurückkehrte, vollkommen schalldicht waren. Ich wußte noch, wie schmerzhaft das Erwachen war – der Alptraum fing in 37
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diesem Fall mit dem Aufwachen erst richtig an. Hätte ich jetzt Inky vor Schmerz schreien hören, so laut und qualvoll, wie ich selbst geschrien hatte, vielleicht hätte ich darüber den Verstand verloren. Ich saß im Sessel des Piloten, trank langsam eine Flasche Limonade und sah mir die Sterne an. Mehr konnte ich nicht tun, beim besten Willen nicht. Das Rädchen Tovar Bistarc hatte in der riesigen Maschinerie fürs erste keine Aufgabe mehr. Das Schiff flog ohne menschliche Hilfe, den Befehlen des Computers gehorchend. Und den Menschen, die in ihren Zellen lagen, konnte ich nicht helfen. Genaugenommen konnte ich nicht einmal mir selbst helfen.
»Wir haben die freie Wahl«, sagte Inky. Er deutete auf die Transparentkuppel. »Wie also nennen wir das System?« »Ein Glück, daß ich nur zwei Vornamen habe«, murmelte D. C. lächelnd. Wir lachten. Seit endgültig feststand, daß die Expedition ein voller Erfolg war, hatte sich an Bord eine ausgesprochene Feiertagsstimmung breitgemacht. Das Bewußtsein, dem Sensenmann zuerst auf die Schippe und dann wieder heruntergesprungen zu sein, beflügelte uns. Unsere Stimmung grenzte an Euphorie. Wir saßen einträchtig in der Zentrale. Das Schiff flog noch immer automatisch, und war mittlerweile so tief in das System eingedrungen, daß wir nunmehr Einzelheiten ausmachen konnten. 38
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Zielstern war eine sehr große, blauweiße Sonne, die im astronomischen Katalog leider nur eine Nummer, nicht aber einen Namen trug. Die Taufe blieb uns vorbehalten, den Entdeckern. Zu benennen waren auch – bislang – acht Planeten, davon einer mit Sicherheit zu heiß und drei entschieden zu kalt für unsere Zwecke. Und zu allem Überfluß war da auch noch ein Schock Monde, das benannt werden sollte. »Wie hieß denn deine Mutter?« fragte ich Demeter. »Rebecca«, bekam ich zur Antwort. »Dann wird die Sonne künftig Rebeccas Stern heißen«, schlug ich vor. »Und die Planeten werden wir einfach durchnumerieren. Alpha, Beta, Gamma und so fort. Die jeweiligen Monde werden römische Zahlen bekommen. Einverstanden?« »Ein Glück, daß wir solche Expeditionen nicht häufiger machen«, sagte Demeter. »Es wäre mir sehr unangenehm, würde der astronomische Atlas bald wie meine Ahnentafel aussehen. Es sind nämlich einige nicht eben respektierliche Vorfahren darunter.« »Auf welchem Planeten werden wir landen?« Die Frage kam von Charriba. Der Indianer war nach seiner Wiedererweckung noch schweigsamer und verschlossener geworden als zuvor. »Delta«, schlug Demeter vor. Auf dem runden Tisch der Zentrale lag eine improvisierte Karte des Systems. Natürlich war die Zeichnung grob verzerrt. Astronomische Gegebenheiten ließen sich zeichnerisch nur selten im Kleinformat wiedergeben. Entweder mußte man die entfernten Planeten im Nachbarraum unterbringen, oder die nahen Planeten waren nur noch mit der Lupe zu erkennen. 39
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Auf unserer Darstellung stimmte nur das Gröbste. In die Mitte hatte Inky eine knallgelbe Sonne gemalt, die von insgesamt acht Kreisbahnen umzogen wurde. Die Kreise waren handgezeichnet, wären die Planeten tatsächlich so durch den Raum geflogen, wie Inky sie gemalt hatte, wären sie bald geborsten. Solchen Bahnschwankungen war auf Dauer kein Planet gewachsen. Eine Schar von Punkten deutete auf der Bahn von Delta eine Reihe von kleinen Monden an. An einem jedoch konnte es nach unseren Beobachtungen keinen Zweifel mehr geben. Rebeccas Stern besaß Planeten, und von diesen Planeten lagen sogar vier in jenem Bereich, in dem Leben nach irdischem Muster vorstellbar war. Zwei dieser vier Planeten lagen allerdings am Rand der Ökozone – eine extrem kühle Welt, deren Charakter dem eines irdischen Hochgebirges entsprach, und einer sehr heißen Welt mit einem ausgeprägten Wüstenklima, auch sie mit denkbarem Leben, aber nicht eben anheimelnd. Die beiden mittleren Planeten, die mitten in der Ökozone lagen, waren für uns schon weit interessanter. Gamma, also die dritte Welt, vom Zentralgestirn aus gerechnet, war ein wenig wärmer als die Erde; Delta hingegen, Planet Nummer vier, mußte ein wenig kühler sein. Auf beiden Welten war Leben denkbar. Daß Demeter sich für Delta entschieden hatte, war einleuchtend. Delta lag sozusagen am Wege. Der Zufall wollte es, daß wir, behielten wir unseren Kurs bei, keinem Planeten so nahe kommen würden wie Delta. Logisch, daß wir dort zuerst nachsehen würden. Ich hatte eine Kanne Kaffee gekocht. Demeter machte ein sehr nachdenkliches Gesicht, als sie ihre Tasse nachfüllte. 40
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Ich sah sie fragend an. »Ich überlege gerade«, begann sie langsam und stellte die Kanne zurück, »ob wir nicht bereits zu spät kommen. Die Terraner der Zukunft besitzen überlichtschnelle Schiffe. Vielleicht haben sie Delta langst besetzt.« »Du meinst, sie hätten uns überholt, während wir im Tiefschlaf lagen?« Demeter nickte. Sie tat Süßstoff in ihren Kaffee. »Dann müßten wir aber irgendwelche Schiffsbewegungen registriert haben«, warf Corve Munther ein. Demeter zuckte mit den Schultern. »Wer weiß, wie lange unsere Ankunft dort unten bereits bekannt ist.« Die freudige Stimmung verflog ziemlich rasch bei diesen Worten. Demeter hatte zweifelsohne recht. Es war durchaus denkbar, daß wir in eine Falle flogen. Und das Schlimmste daran war, daß wir dieser Falle nicht entkommen konnten. Für einen Rückflug fehlten uns alle Voraussetzungen. Der Flug des Schiffes EXPLORER I war eine Fahrt ohne Wiederkehr gewesen. Wir hatten keinen Treibstoff für die Rückkehr – abgesehen davon wären wir günstigstenfalls im sechsten Jahrtausend moderner Zeitrechnung angekommen, vier Jahrtausende nach unserem Aufbruch. Unsere technische Ausrüstung reichte aus, um uns drei, höchstens vier Starts und Landungen mit dem Landefahrzeug zu erlauben. Mehr war nicht möglich. Nach der vierten Landung mußten wir am Boden bleiben, unwiderruflich. Danach war das Beiboot nicht mehr zu gebrauchen. »Ich glaube nicht, daß die anderen uns überholt haben«, murmelte Divorsion. »Obgleich …« 41
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Er sah sich scheu um. Ihm erging es wie uns allen. Die Furcht vor dem schier übermächtigen Gegner saß uns tief in den Knochen. Ich hatte bei meinem letzten Einsatz feststellen müssen, daß der – menschliche! – Gouverneur eines von den Terranern eroberten Planeten ein Vampir war. Zwar hatte der Mann nicht so ausgesehen, wie man sich gemeinhin einen Vampir vorstellte – er war überaus fett gewesen – aber an meiner Beobachtung gab es kein Deuteln. Was das bedeutete, ließ sich im einzelnen gar nicht abschätzen. Unser Datenmaterial über Vampire war mehr als dürftig – wir wußten praktisch nur das, was sich im Laufe der Jahrhunderte an Wissen über Vampire gesammelt hatte, vorzugsweise aus Quellen, die alles andere als wissenschaftlich waren. Wer mit Gegner dieser Machart zu tun hatte, war mehr als gewöhnlich auf der Hut. Nach unseren Erfahrungen mit dem Zeit-Zauberer Valcarcel – dieser Name allein reichte, um selbst Demeter blaß werden zu lassen, und das wollte etwas heißen – mußten wir praktisch darauf gefaßt sein, daß der Hexenmeister der Zeit im nächsten Augenblick zwischen uns stand. Und wenn er die Hand hob und irgendeine Formel sprach … Es war widersinnig, aber tief in meinem Innern saß die Angst, verzaubert zu werden. Wer einmal mit Valcarcel zu tun gehabt hatte, der las die Volksmärchen der Erde mit ganz anderen Gefühlen. D. C. lächelte und strich sich die Haare aus der Stirn. »Ich glaube«, sagte sie halblaut, »daß wir uns selbst viel zu wichtig nehmen. Ich fürchte, daß wir in den Augen der Gegner keine besondere Gefahr darstellen.« Demeter hatte einige Semester Psychologie hinter sich; wenn ich mich recht erinnerte, hatte sie sogar ei42
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nen Doktortitel in diesem Fach. Sie mußte also wissen, mit welcher Erkenntnis sie uns da überraschte. »Unwichtig«, murmelte Divorsion fassungslos. »Sind wir so unwichtig?« Mit hatte es buchstäblich die Sprache verschlagen. All die Ängste, die wir ausgestanden, die Gefahren, die wir auf uns genommen hatten, die Schmerzen – das alles zählte nicht? Die größte und aufwendigste Aktion, die die Time-Squad in die Wege geleitet hatte, sie war nicht mehr als ein Mückenstich in die Haut eines Elefanten? Für den Gegner kaum spürbar, weil so unbedeutend und wirklungslos? Wir sahen uns betroffen an. »Hättest du uns das nicht früher sagen können?«, sagte Inky mit schiefem Lächeln. »Beispielsweise vor dem Beginn der Reise?« »Wärt ihr dann noch mitgekommen?« »Wahrscheinlich nicht«, gab ich zu. Es war wieder einmal charakteristisch, daß nur D. C. auf diesen Gedanken gekommen war. Von uns allen war sie vermutlich die stärkste, charakterlich stabilste Persönlichkeit, von Eitelkeiten und billigen Selbsttäuschungen am wenigsten betroffen. Nun ja, sie hatte es leicht, sich für wunderbar zu halten und über diesen Gedanken nicht zu stolpern. Sie war wunderbar, aber das hatte ich, glaube ich, schon einmal festgestellt. »Es wird Zeit«, sagte Demeter. »Ich bitte dich, das Landemanöver einzuleiten.« »Wird gemacht«, versprach Corve. Er holte noch einmal tief Luft, strich sich eine Strähne hellblonden Haares aus der Stirn und setzte sich dann im Sessel des 43
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Piloten zurecht. Wer ihn so sah, mit seinen verträumt wirkenden blauen Augen und dem ziemlich einfältigen Lächeln auf dem Gesicht, konnte es mit der Angst zu tun bekommen. Corve wirkte, wie ein Knabe, der sich in die Zentrale eines Raumschiffes verirrt hatte. Indes täuschte dieser Eindruck. Corve war der beste Raumpilot, der sich hatte finden lassen. Sein Rang war unter Kollegen unbestritten. Für ein Unternehmen wie dieses hätten wir keinen besseren Mann finden können, denn abgesehen von seinen unbestreitbaren fachlichen Qualitäten war Corve auch ein prachtvoller Freund und Kollege. Während Corve die EXPLORER I herumdrehte, damit das Triebwerk seinen Schub nur noch zur Fahrtverminderung verwenden konnte, schnallten wir uns an unseren Sitzen fest. Während der Drehbewegung wurde das Triebwerk ausgeschaltet, und damit entfiel auch die durch den Triebwerksschub hervorgerufene Ersatzschwerkraft, die uns den Eindruck normaler Schwereverhältnisse verschafft hatte. Corve brauchte für das Manöver nur einige Minuten – die EXPLORER I flog seit fast einem Jahrtausend mit Umkehrschub, sie mußte jetzt nur noch präzise ausgesteuert werden. »Fertig!« verkündete Corve nach kurzer Zeit. Das Heck des Schiffes zeigte genau auf den Planeten Delta. Noch war von dem Himmelskörper nicht viel zu sehen, nichts Körperhaftes jedenfalls. Er war nicht mehr als ein heller Punkt auf den Bildschirmen. Erst in den nächsten Tagen und Stunden konnte er zur Scheibe anwachsen, erst aus dem Orbit heraus würden wir ihn näher begutachten können. 44
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Was würde uns Delta bringen? »Hmmm!« Das Geräusch kam von Inky und war vielsagend. Ihm behagte sichtlich, was er sah. Unter uns lag Delta. Corve hatte die EXPLORER I ohne große Schwierigkeiten an den Planeten herangesteuert und in eine Umlaufbahn gebracht. Zum zweiten Mal in meinem Leben sah ich einen fremden Planeten aus der Höhe. Beim ersten Mal war es Ceres gewesen, die Welt der kleinen grünhäutigen Humanoiden, die jetzt von den Terranern beherrscht wurde. Daß sich dieses jetzt auf das achtzigste Jahrtausend der Zeitberechnung bezog, störte mich nicht. Für mich war alles, was sich zu meinen Lebzeiten abspielte, jetzt. Damals waren wir auf dem Mond von Ceres – Demeter hatten wir ihn genannt – notgelandet, wobei der Ausdruck Notlandung eine Umschreibung für den präzisen Begriff Absturz darstellen sollte. Diesmal würde die Landung hoffentlich glimpflicher verlaufen. Delta hatte gewisse Ähnlichkeiten mit der Erde, und das nicht nur, weil beides Planeten waren und wir keinen anderen Vergleichsmaßstab hatten. Delta war ungefähr erdgroß. Der Durchmesser mochte dreizehntausend Kilometer betragen. Wenn die durchschnittliche Dichte des Planeten ebenfalls erdähnlich war, durften wir mit einer Schwerkraft rechnen, die unmerklich unter der irdischen liegen mußte. Eine von Demeter durchgeführte Spektralanalyse hatte ergeben, daß die Atmosphäre alle Bestandteile enthielt, 45
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die wir von irdischer Atemluft gewohnt waren – Stickstoff, Sauerstoff, Kohlenoxid, Wasserdampf. Delta besaß große Meere und mehrere Kontinente, wir zählten mindestens acht Gebilde in Kontinentgröße. Ob sich unter den großen Eisflächen an den Polkappen ebenfalls Kontinente verbargen, konnten wir vom Weltraum aus nicht feststellen. Was wir aber erkennen konnten, waren ausgedehnte Waldflächen, Gebirge, Seen und Fjorde. Nur einer der Kontinente wurde vom Äquator durchschnitten; dort sahen wir weite Savannengebiete. Die Ränder dieses Kontinents sahen aus der Luft überaus verlockend aus – wir assoziierten unwillkürlich lange weiße Sandstrände, hohe Brecher, Wellenreiten. … Inkys Hmmm gab einiges von diesen Gefühlen wieder. Er sah sehr verträumt aus – und wußte doch im gleichen Augenblick, daß diese Urlaubsstimmung nicht anhalten konnte. Das gab seinen Hmmm einen enttäuschten, unwilligen Unterton. D. C. sah uns der Reihe nach an. »Mir soll es gleich sein«, meinte sie schließlich. »Corve, lande dort am Strand.« Corve grinste über das ganze Gesicht. »Fein«, sagte er strahlend. »Ich sehe mich schon am Strand liegen. Wenn wir in die Zentrale zurückkehren, werden wir gesund, braungebrannt und bestens erholt sein.« Mir fiel etwas ein. »Eine Frage noch, Chefin«, sagte ich zögernd. »Nach welcher Zeitrechnung werden wir eigentlich bezahlt?« Zum ersten Mal sah ich Demeter verblüfft. »Bitte?« 46
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»Wir sind doch, wie es so schön heißt, Lohnabhängige«, versuchte ich zu erklären. »Ich wüßte gern, nach welcher Rechnung wir bezahlt werden – immerhin waren wir zwei Jahrtausende unterwegs.« »Verrechnet«, konterte D. C. kalt. »Wenn wir Verbindung zur Zentrale aufnehmen, werden dort nur einige Stunden, vielleicht Tage vergangen sein. Bezahlt werdet ihr nach der Zeit, die in der Buchhaltung verstrichen ist.« »Das ist der übelste Fall von Ausbeutung seit der Erfindung des Kapitalismus«, schimpfte Inky grinsend. Im Grunde war der Streit völlig überflüssig. Er hatte nur den einen Zweck, uns ein Ventil in Gestalt eines Wortwechsels zu bieten, ein Ventil, durch das sich die Spannung entladen konnte. Corve hatte zum Landeflug angesetzt. Dies war die kritischste Phase jedes Raumfluges, und dementsprechend angespannt waren unsere Nerven. Das Gerede über Gehälter war völlig überflüssig. Jeder von uns wußte, daß wir alle das Äußerste leisten mußten, um uns überhaupt noch eine Chance zu erhalten, die Gehälter auszugeben. Ich für meinen Teil hatte seit einem halben Jahr keine Gehaltsabrechnung mehr angefaßt – das Geld stapelte sich auf irgendeinem Konto, das von der Buchhaltung der Time-Squad geführt wurde. Wieviel sich dort angesammelt hatte, konnte ich nicht einmal schätzen. Essen, Trinken, Kleidung, Unterkunft – die Time-Squad sorgte für alles, was man zum Leben brauchte. Eine ernsthafte Frage nach dem Honorar war in unserer Lage absurd. Es gab Dinge, die wichtiger waren als Geld. Corve ließ die EXPLORER I tiefer auf den Planeten herabsinken. Was er plante, war ein extrem kitzliges Manöver. 47
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Ursprünglich war vorgesehen gewesen, daß sich nach dem Einschwenken in eine stabile Umlaufbahn die beiden Teile des Schiffes trennten. Während der Antriebsteil sich selbst überlassen blieb, sollte der Landeteil – also die Halbkugel an der Spitze des Schiffes – auf dem Planeten landen. Corve hatte sich angesichts der Reserven, die noch in den Tanks des Hauptantriebs verblieben waren, dazu entschlossen, den Landeflug weitgehend mit dem gesamten Schiff durchzuführen. Erst wenn die Hauptantriebssysteme ausgebrannt waren, wollte er sich der Triebwerke des Landeteils bedienen. Zu diesem Plan gehörte, daß er den Zeitpunkt nicht verpaßte, an dem das Haupttriebwerk zu stottern begann. Das Umschaltmanöver mußte schnell und reibungslos ablaufen, andernfalls hatten wir beste Aussichten, in der Atmosphäre von Delta zu verglühen. Ich sah, wie Corve sich die Lippen leckte. Bei ihm war dies das einzige erkennbare Zeichen von Nervosität. Bei mir selbst wurden die Handflächen feucht, auch dies ein untrügliches Zeichen. Von außen drang ein immer stärker werdendes Heulen in das Innere des Schiffes. Der Triebwerksstrahl wurde von der dichter werdenden Atmosphäre gestaut, das war die Ursache des Lärms. Irgendein Gegenstand der nicht hinreichend befestigt worden war, begann in seiner Fassung zu schwingen und produzierte dabei ein Geräusch, das an eine durchgehende Kreissäge erinnerte. Immer lauter wurden die Triebwerksgeräusche, dann brachen sie plötzlich ebenso abrupt ab, wie sie aufgetreten waren. Corve hatte den Hauptteil des Schiffes abgesprengt. Jetzt flog der Landeteil der EXPLORER I allein. Wenig später gab es eine grelle Detonation auf dem 48
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Bildschirm. Die Tanks des Antriebsteils hatten sich wegen der Reibung derart erhitzt, daß sie explodiert waren. Der Lichtblitz dieser Explosion überstrahlte alles – Corve grinste selbstzufrieden, und mir wurde noch nachträglich fast übel, wenn ich daran dachte, was von uns übriggeblieben wäre, hätte die Explosion sich einige Augenblicke früher ereignet. »Das war ziemlich knapp«, bemerkte Demeter unnatürlich ruhig. Mehr sagte sie nicht. Corve zuckte nur mit den Schultern. Die Bremsverzögerung begann stärker zu werden, drückte uns immer tiefer in unsere Sessel. Und der Andruck wuchs. Nach den Angaben, die wir vor Antritt der Reise bekommen hatten, durfte der Andruck beim Landeanflug auf einen erdgleichen Planeten das Dreifache der Erdschwere nicht übersteigen. Von dieser Angabe hatte Corve offenbar nichts gehört; ungerührt ließ er zu, daß wir mit fünf und mehr g belastet wurden. Ich bekam kaum noch Luft, vor meinen Augen wurde es finsterer und finsterer. Als der Druck dann schlagartig wich, schien sich mir der Magen nach außen stülpen zu wollen. Mein Eingeweide verknotete sich förmlich. Selbst für Charriba war dieser Spaß ein wenig zu arg. Er stieß einige Verwünschungen an Corves Adresse aus, glücklicherweise in seiner Muttersprache, so daß Corve den genauen Wortlaut nicht verstehen konnte. Am Sinn dieser Kommentare gab es allerdings nichts zu deuteln. Mit einem Handgriff schaltete Corve die Steuerung des Schiffes aus. »Freunde«, sagte er und drehte sich dabei mit dem Sessel zu uns um. »Das wäre es gewesen. Wir werden in wenigen Augenblicken landen. Kapitän Corve Munther 49
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und seine Crew wünschen Ihnen im Namen der TimeSquad-Space-Lines einen angenehmen Aufenthalt.« Ich bemerkte, daß er während seiner völlig überflüssigen Ansprache auf den Höhenmesser schielte. Trotz dieser Beobachtung wurde auch ich überrascht, als das Schiff mit einem harten Ruck auf dem Boden aufsetzte. Danach war es völlig ruhig im Landeteil der EXPLORER I. Ein merkwürdiger Augenblick. Da waren sechs Menschen, die nach einer Reise von mehr als zweitausend Jahren und über eine Distanz von mehr als eintausend Lichtjahren hinweg einen fremden Planeten angesteuert hatten und darauf gelandet waren. Ein denkwürdiger Augenblick. Aber es wollte keine feierliche Stimmung aufkommen. Wir wußten zu genau, was uns im Nacken saß, was uns antrieb. »Machen wir uns an die Arbeit!« sagte Demeter ruhig. Eine erste Analyse der Atmosphäre ergab, daß sie alles enthielt, was wir zum atmen brauchten. Das bestätigte die Meßdaten der Fernanalyse. Es wurde weiterhin geprüft, ob die Luft Keime enthielt, die uns gefährlich werden konnten. Auch diese Analyse fiel so aus, wie wir es erhofft hatten. Es gab Mikrolebewesen auf Delta, aber keine dieser Mikroben konnte uns gefährlich werden. Immunologisch betrachtet, waren wir bestens ausgerüstet. Unsere Körper waren von der Erde her an den ununterbrochenen Kampf gegen Bakterien gewöhnt. Gegen eine so hochentwickelte Bio-Abwehr kamen die primitiven Bakterien Deltas nicht an. Corve machte eine zweite Probe – mit dem erfreulichen Ergebnis, daß die Delta-Bakterien auf die ältesten irdischen Antibioti50
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ka reagierten wie Schnee in der Sonne. Sie starben sozusagen wie die Fliegen. Wir konnten also unbesorgt die Luft des Planeten atmen. Folgerichtig sperrte Corve unsere Sauerstofftanks nach kurzer Zeit ab und ließ die Planetenatmosphäre in unser Schiff. Auch dafür hatte er einen triftigen Grund – wir hatten nämlich nicht die technischen Mittel, die einmal geleerten Sauerstofftanks wieder zu füllen. Weder konnten wir den Sauerstoff isolieren noch waren wir in der Lage, die Drücke zu erzeugen, mit denen die Tanks vor dem Abflug gefüllt worden waren. Für diese Apparate gab es einfach keinen Platz an Bord. Das Äußerste, was wir auf dem Teilgebiet erreichen konnten, war eine Füllung der Tanks mit Druckluft. Erleichtert stellten wir fest, daß die Luft des Planten keine üblen Gerüche enthielt. Im Gegenteil, die Luft, die in das Schiff strömte, enthielt einen Duft, der sofort an weite, ausgedehnte Wälder erinnerte. Demeter blieb es vorbehalten, die große Luke der EXPLORER I zu öffnen und als erste den Boten Deltas zu betreten. Der Vorgang vollzog sich ebenso unauffällig wie unsere Landung auf dem Planeten. Demeter öffnete die Luke, ließ die Leiter ausfahren und stieg hinab auf den Boden. Das war alles. Die EXPLORER I hatte sich einen guten Landeplatz ausgesucht. Sie stand auf feinkörnigem, feuchtem Sand, der dem Schiff genügend Halt bot. Die Fallschirme, an denen das Schiff gehangen und die letzten Meter bis zur Oberfläche zurückgelegt hatte, flatterten in einem frischen, kühlen Wind, der aus dem Innern des Kontinents kam und auf die See wehte. 51
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Corve hatte den Landeplatz tatsächlich in die Nähe des Strandes verlegt. Wir konnten das Rauschen des Wassers hören. Hastig stiegen wir nacheinander die Leiter hinab. Vom Boden aus bot die EXPLORER I ein etwas befremdliches Bild. Die Hälfte der Halbkugel war von Fallschirmseide bedeckt, einem bunten Etwas aus Stoff, das im Wind flatterte. Auf der sichtbaren Hülle des Landeteils hatte die Reibungshitze des Eintrittsmanövers ihre Spuren hinterlassen – die EXPLORER I sah aus wie eine riesige Konservendose, die jemand aus der Asche eines Feuers hervorgestochert hatte. Die sechzehn dürren Landebeine mit ihren großen Tellern, auf denen das Schiff stand, gab der ganzen Konstruktion ebenfalls einen eher absurden Anstrich. Die Landebeine – hergestellt aus bestem Stahl – waren magere Konstruktionen, denen die erstaunliche Festigkeit nicht anzusehen war. Da stand sie also, die EXPLORER I, rauchgeschwärzt, wie ein riesenhaftes, totes Insekt. Wir gingen dem Geräusch nach, das uns zum Strand führte. Wir mußten eine Düne hinaufklettern, die mit dichtem Gras bedeckt war. Vom Kamm aus konnten wir das Meer sehen. Eine weite, blaugrüne Fläche erschien, gekrönt von den weißen Schaumstreifen der Gischt. Wir standen eine Zeitlang schweigend auf dem Dünenkamm und sahen auf das Meer hinaus. Erinnerungen wurden wach, Erinnerungen an die Erde und ihre Geschichte. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte die Erde einen ähnlichen Anblick geboten – 52
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wie dieser Teil des Planeten Delta. Es hatte eine Zeit gegeben, in der der Mensch Bestandteil der Natur gewesen war, nicht ihre mörderische Krebsgeschwulst. Von Küsten wie dieser waren Händler aufgebrochen und Fischer, Eroberer und Forscher. An Küsten wie dieser war das Leben jahrhundertelang in dem Gleichmaß verlaufen, das die Natur erlaubt hatte – ein stetes Auf und Ab von Mühe und Anstrengung, von Erfolg und Belohnung, Arbeit und Ertrag, ab und zu unterbrochen und neu angestachelt vom Meer, wenn es seine Kräfte an der Küste erprobte. Wir wußten auch, was an diesem Bild fehlte, um es dem irdischen gleichzumachen. Es fehlten einige Millionen Kubikmeter Beton, die die Küste unter sich begruben. Es fehlte der aus dem Binnenland geholte Sand, der den natürlichen Strand bedeckte. Es fehlte in Sichtweite die Einmündung einer Kloake, die einmal ein Fluß gewesen war und nun derartig mit Abwässern verseucht war, daß sie den Fischen die Augen aus den Höhlen ätzte, ihre Eingeweide mit hochgiftigen Schwermetallen anreicherte und die Landschaft mit dem Pesthauch der Industrie überzog. Es fehlten die ambulanten Verkäufer, die Kioske, die an den Strand geklebten Bars und Eisdielen – alle Einrichtungen, die es fertiggebracht hatten, die Natur zum Gaudium einer verblödeten Konsumentenmasse auf das Niveau einer viertklassigen Dorfkirmes herunterzuwürdigen. Wenn man sich auf Delta herumdrehte, sah man Natur – kein Geld. Wir blickten uns einen Augenblick lang schweigend an, dann begann Demeter zu lächeln. Zwei Minuten spä53
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ter lagen unsere Kleider am Strand, und wir tobten in der Brandung herum wie übermütige Kinder. Das Wasser war herrlich kühl und erfrisch-end. Als wir uns dann auf dem sonnenwarmen Sand ausstreckten, um uns von der Sonne trocknen zu lassen, waren wir völlig außer Atem – und das galt auch für Charriba und Divorsion. Diese beiden kamen als letzte aus dem Wasser, erschöpft, naß und breit grinsend. »Winnetou«, sagte Inky kopfschüttelnd, »so habe ich dich noch nie erlebt.« Charriba lachte nur, zuckte mit den breiten Schultern und ließ sich in den Sand fallen. »Freunde«, sagte er nach einer kurzen Verschnaufpause. »Ich schlage vor, daß wir diesen Planeten nicht jedermann zur Verfügung stellen. Es wäre ein Verbrechen an der Natur.« »Keine Sorge«, murmelte Demeter und drehte sich mit geschlossenen Augen auf den Rücken, um sich keinen Sonnenbrand zu holen. »Wie geht das Unternehmen jetzt eigentlich weiter«, wollte Corve wissen. Demeter zählte auf. »Erstens: Wir werden eine Verbindung zur TimeSquad-Zentrale herstellen und dort melden, daß wir gut angekommen sind. Zweitens: Wir werden auf diesem Kontinent einen Platz suchen, an dem man eine Stadt errichten kann.« »Keine Stadt«, wehrte Charriba ab. »Bevor ich zulasse, daß dieses Land mit Beton zugekleistert wird …« »Holz«, sagte Demeter. Ihre Stimme hatte einen verträumten Unterton. »Ich denke an Holzhäuser. Einverstanden, Wi …« 54
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Sie unterbrach sich und lachte. Der Himmel mochte wissen, woher Inky diesen absonderlichen Namen hatte. Angeblich handelte es sich um ein Wort der ApachenSprache, aber Charriba behauptete steif und fest, der einzige sprachliche Bezug wäre der Ausdruck win-tu, und das sei Schoschone und hieße schlichtweg der Mensch. »Und drittens«, setzte Demeter ihre Aufzählung fort, »werden wir uns um die Ruinenstadt kümmern.
»Was für Ruinen?« Wir hatten uns aufgesetzt. Demeter blieb weiterhin lang ausgestreckt auf dem Sand liegen und sonnte sich. »Ich habe mich schon gewundert«, murmelte sie schläfrig, »daß keiner von euch die Spuren gesehen hat. Ziemlich genau im Zentrum dieses Kontinents liegt eine Stadt unter dem Wald. Aus der Luft sind die Linien sehr gut zu erkennen.« Wir sahen uns völlig verwirrt an. »Wie kann man eine Stadt erkennen, die völlig vom Wald bedeckt ist?« Demeter richtet sich auf, um Divorsions Frage zu beantworten. »Die Bäume holen sich ihre Nahrung aus dem Erdreich. Es macht nun einen Unterschied, ob dieses Erdreich einige Meter tief völlig gleichförmig ist oder ob in diesem Erdreich Mauerreste stecken. Die Bäume, die unmittelbar über der Mauer wachsen, haben eine geringfügig andere Ernährungslage als die benachbarten Stämme. Aus der Nähe sind diese Unterschiede nicht zu erkennen – aber aus zweitausend Metern Höhe erge55
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ben die unmerklich verfärbten Blätter eine deutlich erkennbare Linie. Auf diese Weise wird in der irdischen Archäologie schon lange gearbeit-et.« Ich nickte langsam. Richtig, davon hatte ich schon gehört. Luftbild-Archäologie, damit waren – vor allem in Westeuropa – zahlreiche alte Römerkastelle gefunden worden. »Und es gibt tatsächlich eine Stadt im Dschungel?« »Wald«, verbesserte Demeter. »Urwald, präzise gesagt, aber kein Dschungel.« »Und wer …« Demeter zuckte mit den Schultern. Sie sah unsere verwirrten Gesichter und lachte. »Also gut«, meinte sie amüsiert. »Wir fangen sofort mit der Arbeit an.« Wir zogen uns an und kehrten zur EXPLORER I zurück. Wir brauchten sechzehn Stunden, dann hatten wir die Einzelteile der Zeitmaschine ausgeladen und neu zusammengesetzt. Diese Zeitmaschine war unsere Rückversicherung. Wenn sie den Dienst versagte … Ich wagte mir die Folgen nicht im einzelnen auszumalen. Transportieren konnte unsere Zeitmaschine nichts; die Energie hatte gerade ausgereicht, einen Käfer ein paar Minuten durch die Zeit zu schicken. Die Zeitmaschine hatte nur die Aufgabe, ein Zeitfeld zu erzeugen. Dieses Feld wurde in der Zentrale der Time-Squad sehnlichst erwartet. Anhand dieses Peilfeldes konnte die große Zeitmaschine in der Zentrale auf den Zentimeter und die Sekunde genau justiert wer56
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den. War die Verbindung erst einmal hergestellt, konnte der Strom von Material und Menschen zu fließen beginnen. Die neue Zentrale der Time-Squad würde auf Delta Rebecca stehen. Dort, so hofften wir, würden wir vor unserem Gegner sicher sein – so lange jedenfalls, bis wir uns stark genug fühlten, den Kampf gegen den Feind aus der Zeit aufzunehmen. Allein zehn Stunden hatten wir gebraucht, um die Einzelteile der Maschinerie aus den Laderäumen des Landeteils hervorzuwühlen. Es war eine schweißtreibende Wühlerei. Zum Glück hatten wir zum Abkühlen und Erfrischen einen Ozean in der Nähe. »Fertig«, meldete endlich Divorsion. Er hatte die letzten Kabelverbindungen hergestellt. Der Energieerzeuger für das Zeitfeld stand im Landeteil des Schiffes. Jeder Probelauf auf der Zeitmaschine kostete Energie, die uns bei Starts, Raumflügen und Landungen fehlen mußte. Entsprechend vorsichtig waren wir zu Werke gegangen. In den nächsten Minuten mußte sich entscheiden, ob wir einen Kontakt zur Erde herstellen konnten oder nicht. Schlug der Versuch fehl – auch bei neuen Anläufen – waren wir für den Rest unseres Lebens an das System von Rebeccas Stern gefesselt. Demeter schaltete die Zeitmaschine ein. Eine halbe Sekunde verging, dann begannen sich unsere Gesichter zu glätten. Das Etwas, das sich über den Projektorspitzen bildete, das rötlich leuchtete und seine Helligkeit verstärkte, das war unverkennbar ein Zeitfeld. Unser Teil der Anlage arbeitete also einwandfrei. 57
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Jetzt kam es darauf an, ob die Besatzung in der Zentrale die Verbindung herstellen konnte. Einige Augenblicke vergingen, dann gewann das rötliche Zeitfeld schlagartig an Intensität, ein unverkennbares Zeichen, daß es mit Energie gespeist wurde. Noch einmal vergingen einige Augenblicke, dann tauchte mitten in dem Zeitfeld eine glänzende Metallrolle auf, fiel auf den Boden und kollerte Demeter genau vor die Füße. Sie bückte sich schnell und hob die Rolle auf. Es war eine der Nachrichtenhülsen, wie sie üblicherweise von der Time-Squad verwendet wurden. Demeter schraubte den Verschluß ab. »Kontakt hergestellt«, las sie laut vor. »Herzlich willkommen! Was braucht ihr am dringendsten?« »Pferde«, sagte Charriba sofort. »Ich will schnellstens meinen Grauen haben.« Demeter nickte. Sie setzte sich auf den Boden und begann eine Liste aufzustellen. Ein Teil dieser Aufstellung war bereits vor dem Abflug klar gewesen. Wir führten nur das Notwendigste an Waffen und Ausrüstung mit uns, die Vorräte im Landeteil der EXPLORER I waren knapp bemessen – immerhin mußte jedes Kilogramm mehr als eintausend Lichtjahre weit transportiert werden, das schränkte die Nutzlast erheblich ein. »Waffen«, murmelte D. C., während sie schrieb. »Seile, Pickel und Schaufeln.« Die Liste wurde länger und länger. »Ich schlage vor«, sagte Demeter, »daß wir sechs zusammen aufbrechen und die Stadt untersuchen. Ich finde, wir sollten uns erst darum kümmern, bevor wir auf diesem Planeten eine Siedlung anlegen.« 58
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Von uns bekam sie nur Zustimmung zu hören. Sie komplettierte die Liste und beförderte sie zurück. Unsere Botschaft landete bei der Time-Squad des Jahres 2387 moderner Zeitrechnung. Es dauerte nicht lange, da begann der Materialstrom zu fließen. Wir hatten alle Hände voll zu tun, die Ausrüstung unterzubringen. Als letztes tauchten die Pferde auf, sechs Reittiere und vier Packpferde. Charriba begrüßte seinen Grauen, als sei das mausfarbene Pferd ein von den Toten auferstandener Familienangehöriger. Es war später Abend, als wir unsere Arbeit beendet hatten. Aus Treibholz, das wir am Strand gefunden hatten, hatten wir ein Feuer entfacht. Gejagt hatten wir nicht – die Time-Squad hatte uns freundlicherweise mit Fleisch versorgt, das wir über dem Lagerfeuer braten konnten. Die Pferde waren an die Landebeine der EXPLORER I angebunden worden. Das Lagerfeuer verbreitete eine behagliche Wärme, und der Harzgeruch einiger Zweige mischte sich mit dem Bratenduft des improvisierten Grills. Am Himmel waren unterdessen zwei Monde aufgetaucht, die genügend Licht reflektierten, um uns sehen zu lassen, wohin wir traten. »Das reinste Idyll«, stellte Inky fest. »Die Betonbürger der Erde tun mir leid.« »Sie selbst sich aber nicht«, versetzte Demeter. »Ich glaube nicht, daß es viele Menschen geben wird, die bereit wären, sich auf diesem Planeten niederzulassen – ohne Delta binnen weniger Jahrhunderte in eine Kopie der Erde zu verwandeln.« »Nun ja«, meinte Inky. »Dies alles sieht zwar überaus romantisch aus, aber es hat auch ziemlich offenkun59
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dige Nachteile. Vielleicht gibt es Wildtiere in den Wäldern … »Kein Raubtier hat den Menschen jemals so unbarmherzig gejagt, wie er sich selbst«, warf ich ein. »Dazu kommen Krankheiten, Seuchen …« »Niemand redet davon«, überlegte Demeter laut, »zur Primitivität zurückzukehren. Wenn wir – die Leute von der Time-Squad – auf Delta eine Gesellschaft von Bauern, Fallenstellern, Jägern bilden würden – hieße das, daß wir Narkosemittel verbieten müssen, nur weil es in der Zeit der irdischen Jäger und Fallensteller noch keinen Äther gab?« »Natürlich nicht«, sagte Divorsion. »Was also hindert uns, auf bestimmte Aspekte der Neuzeit zu verzichten?« fuhr Demeter fort. »Mir wird jedesmal übel, wenn ich in der Sommerzeit die sprichwörtlichen Blechkarawanen sehe. Warum überfallen alljährlich Millionen von Menschen wie ein gepanzerter Heuschreckenschwarm die klassischen Urlaubsgebiete? Weil sie – das ist meine Antwort – ihre eigene Heimat derartig mit Gleiterfabriken, Schnellstraßen und Fahrzeugen vollgestopft haben, daß man sich dort einfach nicht mehr wohl fühlen kann.« »Es gibt Landschaften auf der Erde, die wirklich alles andere als schön sind«, warf ich ein. »Diese Landschaften sind ohnehin dünn besiedelt«, entgegnete Demeter. »Und dorthin fährt auch niemand in den Urlaub. Ich glaube, das ganze Problem resultiert daraus, daß so viele Menschen glauben, mehr und besser seien sinnidentische Wörter.« Dazu gab es nicht viel zu sagen. Wir hatten ohnedies keine sonderliche Lust auf ein Streitgespräch. Wir verzehr60
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ten wortkarg unser Abendessen, dann streckten wir uns auf dem Strand aus und hingen unseren Gedanken nach. In einem Punkt mußte ich Demeter voll und ganz recht geben. Die Gefahr, mehr mit besser zu verwechseln, war ungeheuer groß – aus dem einfachen Grund, weil in der Vergangenheit diese beiden Wörter tatsächlich nahezu sinngleich gewesen waren. Irgendwie hatte die Menschheit den Augenblick verpaßt, da für die Mehrheit der Erdbewohner die grundlegenden Lebensprobleme gelöst waren – genug Nahrung und eine menschenwürdige Behausung. Anstatt dort aufzuhören und sich nach neuen Zielen umzusehen, war eine Entwicklung eingeschlagen worden, die sich früher oder später verhängnisvoll hatte auswirken müssen. Mit dem beruhigenden Gedanken, daß mir persönlich zum vollkommenen Glück nur ein gewisser Jemand fehlte, der knapp fünf Meter von mir entfernt im Sand schlief und Gott sei Dank nicht schnarchte, schlief ich ein. »So ungefähr sieht der Kontinent aus«, erklärte Demeter. Sie hatte eine grobe Karte angefertigt, auf der aber die wesentlichen Details gut zu erkennen waren. Inzwischen hatte der Kontinent einen Namen – Scalgon. Demeter hatte den Namen ins Spiel gebracht, von dem nicht einmal sie selbst wußte, woher er stammte und was er bedeuten sollte. Der Kontinent namens Scalgon war – sehr, sehr großzügig betrachtet – annähernd quadratisch. Zwei der Spitzen dieses Quadrats zeigten auf die Pole, die andere Diagonale wurde vom Äquator gebildet. Unser Standort lag im Nordosten des Landes. Die Stadt, die unser Ziel war, lag ziemlich genau im geographischen Mittelpunkt Scalgons. 61
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»Mindestens eintausend Kilometer«, stellte Charriba nach einem kurzen Blick auf die Karte fest. »Sollten wir uns nicht lieber einen Gleiter oder einen Hubschrauber schicken lassen?« Demeter schüttelte den Kopf. »Vorläufig nicht«, entschied sie. »Ich möchte vorerst kein Gerät auf dieser Welt wissen, das etwas mit Antigravitation zu tun hat. Ich weiß selbst nicht, warum, aber eine innere Stimme warnt mich davor.« »Dann reisen wir also zu Pferde«, sagte Inky unfroh. Er mochte Pferde nicht sehr, und Charribas Grauer war sein ganz spezieller Feind. Die Zentrale hatte für ihn einen Rapphengst besorgt – warum der pferdescheue Inky sich so auf ein pechschwarzes Pferd versteift hatte, blieb sein Geheimnis. »Diese Reise wird uns einige Wochen beschäftigen«, sagte Corve. »Das müssen wir in Kauf nehmen«, bestimmte Demeter. Sie erklärte: »Es liegt auf der Hand, daß wir auf diesem Planeten keinen Stützpunkt der Time-Squad einrichten können solange mitten in diesem Stützpunkt eine fremde Stadt liegt. Erst wenn wir wissen, was es mit der Stadt auf sich hat – Ruinen hin, Ruinen her, können wir daran denken, die Zentrale der Time-Squad hierher zu verlegen.« »Vorher war die Rede von einem Stützpunkt«, warf ich ein. »Ich rechne damit«, sagte Demeter ruhig, »daß wir die Erde bald nicht mehr als Ausgangsbasis für unsere Operationen werden benutzen können. Ob dieser Pla62
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net nun Stützpunkt genannt wird oder Zentrale, ist nebensächlich. Zuflucht wäre vielleicht die beste Bezeichnung.« Ich holte tief Luft. Ich vertraute auf Demeters Ahnungen, auch wenn diese Vorhersage deprimierend war. Die Vorstellung, die Erde nicht wiedersehen zu dürfen, war erschütternd. Demeter schwang sich in den Sattel und gab ihrem Pferd die Sporen. Unser Ritt begann. Wir kamen erstaunlich schnell und leicht voran. Hauptsächlich lag das daran, daß wir in Charriba einen Führer gefunden hatten, der uns durch den Wald lotste, als sei er darin aufgewachsen. Deutlich war zu erkennen, daß Charriba sich in seinem Element befand. Er trug sein bestes Stirnband, und er lachte häufiger als sonst. Die größten Schwierigkeiten hatte Inky. Sein Rapphengst war ein widerborstiges Vieh, das ihn ein ums andere Mal absetzte. Zum Glück brach sich Inky nichts bei den Stürzen. Einen höchst befremdlichen Anblick bot Divorsion. Seine ursprüngliche Gestalt – im anderen Universum, aus dem er stammte – war die einer übergroßen Robbe gewesen. Aus der vorurteilsbehafteten Sicht eines Menschen war er ein intelligentes Tier – das nun auf einem alles andere als intelligent wirkenden anderen Tier saß. Für Divorsion andererseits war die Körperform eines Menschen ebenso exotisch wie die eines Pferdes. Folglich behandelte Divorsion sein Reittier wie einen geistig zurückgebliebenen Menschen. Demeter hielt sich prachtvoll, aber daran hatte nie ein Zweifel bestanden. 63
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Scalgon, der Kontinent mit dem fremdartigen Namen, hatte gewisse Ähnlichkeiten mit einer Schüssel. Wer sich auf den Weg von der Küste ins Landesinnere machte, hatte es zunächst sehr bequem. Im Küstenbereich kam man zu Pferde sehr leicht vorwärts. Danach aber stellte sich dem Reisenden eine Gebirgskette in den Weg. Es handelte sich zwar nur um Mittelgebirge – kein Gipfel über 1 500 Meter hoch –, aber die Tatsache, daß wir uns den Weg selbst suchen mußten, hatte unsere Kräfte doch sehr strapaziert. Nun aber, da wir das Innere des Kontinents erreicht hatten, kamen wir zügig voran. Die Pferde konnten einen flotten Trab einschlagen, und ab und zu reichte der Auslauf auch zu einem kurzen Galopp. Bestes Pferd war. wie nicht anders zu erwarten gewesen war, Charribas mausgraues Reittier. Diese unglaublich unscheinbare Kreatur war nicht nur unerhört wendig und leichtfüßig, sie hatte auch ein phänomenales Gespür für den richtigen Weg. Charriba hob die Hand. Wir parierten die Pferde durch. »Wild!« flüsterte der Indianer. Er glitt aus dem Sattel, und einen Augenblick später hatte er seinen Bogen in der Hand. Während wir uns bemühten, möglichst wenig Lärm zu machen, verschwand Charriba mit gespannter Waffe zwischen den Bäumen. Das Wild, auf das er es abgesehen hatte, war schon so gut wie tot. Wenn Charriba die Jagd aufnahm, kam er in aller Regel auch zum Ziel. Einige Minuten vergingen, dann tauchte Charriba wieder auf, im Gesicht das Lächeln des überlegenen Siegers, die Hände blutig und über der Schulter die Beute, 64
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in deren Herz ein gold-schwarz gefiederter Pfeil stak .Die Farbzusammenstellung in der Befiederung der Pfeile war keineswegs zufällig. Sie entsprach den deutlichsten Farben auf dem Wappen der Time-Squad, dem schwarzen Hintergrund und der goldenen Sanduhr sowie den ebenfalls goldenen Symbolen der klassischen und der modernen Gerechtigkeit – Schwert und Lasergewehr. Charriba hatte uns einmal erklärt, seit seinem Eintritt bei der Time-Squad betrachte er »den Haufen« als seinen Stamm, und es entsprach der Tradition, Pfeile in den Farben des Stammes zu verwenden. Charriba blickte nach oben. »Wir haben zwei Möglichkeiten«, sagte er ruhig, während er das Wild auf den Boden gleiten ließ. »Entweder rasten wir hier, dann können wir nach dem Essen noch weiterreiten, bis wir nicht mehr vorwärtskommen – oder wir drehen die Reihenfolge der Tätigkeiten herum.« »Was schlägst du vor?« »Rast«, beantwortete Charriba Demeters Frage. Demeter war zwar nach wie vor unsere Chefin, aber unter den Bedingungen der Wildnis hatte sie diesen Rang dem Fachmann stillschweigend abgetreten – und dieser Fachmann war zweifelsohne Charriba. »Corve, du könntest dich einmal im Blätterwald umsehen. Vielleicht findest du etwas.« Corve nickte strahlend. Die Aufgabenteilung in unserem Team klappte vorzüglich – Charriba jagte, Corve sorgte für Gemüse und Obst, und mir oblag es, aus diesen Bestandteilen eine Mahlzeit zusammenzustellen. Wir banden die Pferde an den Büschen der näheren Umgebung fest. Wir hatten bereits feststellen kön65
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nen, daß die Tiere die Blätter dieses Gewächses besonders gern fraßen. Nach einer halben Stunde kehrte Corve mit Beeren, Nüssen und einigen aromatischen Kräutern zurück. Ich hatte unterdessen eine Feuergrube ausgehoben, über der sich das Wild an einem Holzspieß drehte. Inky hatte die Rolle des Grillmotors übernommen. Das Wild hatte Ähnlichkeit mit irdischem Rehwild, besaß aber, wie ich erstaunt hatte feststellen müssen, ein ausgesprochenes Raubtiergebiß. Die gefährlich großen Eckzähne überließ ich Charriba für seine Trophäensammlung. Die Zähne hatten den Vorteil, nachweislich echt zu sein. Der blonde Mädchenskalp an Charribas Gürtel war eine erstklassige Fälschung, dazu gedacht, vorurteilsbehaftete Gemüter zu erschrecken. Während der Braten mit seinem Innenleben aus Nüssen, Kräutern und Beeren sich seiner Fertigstellung entgegenbewegte, machten es sich meine Gefährten im kniehohen Gras bequem. Corve sonderte sich als einziger ab, um einen Schößling zu begutachten, den außer ihm niemand gesehen hatte. »Wieviel Zeit haben wir, um die Stadt zu untersuchen«, fragte Inky plötzlich. Demeter zuckte mit den Schultern. »Das wird davon abhängen, was wir finden. Warum fragst du?« »Es gefällt mir hier«, antwortete Inky. »Ich würde gern hier bleiben. Aber ich fürchte, die Time-Squad wird uns nicht zur Ruhe kommen lassen.« D. C. bat mit einem Lächeln um Verständnis. »Wenn die Erde in die Hand des Gegners fällt«, sagte sie halblaut, »und wenn wir darauf nicht vorbereitet 66
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sind … dann wird auch dieses Idyll nicht lange Bestand haben.« Inky nickte nachdenklich. Ich richtete mich auf. Mir war ein Gedanke gekommen. »Wir haben Zeit«, sagte ich. »Natürlich haben wir Zeit. Überlegt einmal, Freunde. Die Terraner der Zukunft besitzen überlichtschnelle Raumschiffe, das ist erwiesen. Wenn die Erde heute, an diesem Tag, den wir jetzt erleben, von den Terranern beherrscht wäre, dann müßten diese Burschen auch hier zu finden sein. Daraus folgere ich, daß die Erde jetzt, in diesem Augenblick, noch nicht von den Terranern kontrolliert wird. Das aber bedeutet auch, daß die Kollegen in der Zentrale der Time-Squad noch mehr als zweitausend Jahre Zeit haben werden, bis der Erde Gefahr droht. Denn das Jahr 4401, in dem wir sechs auf Delta leben, entspricht dem Jahr 2383 auf der Erde, mit dem wir durch die Zeitmaschine verbunden sind.« Inky zwinkerte verwirrt. Ich konnte ihn gut verstehen. Es war wirklich nicht leicht, die vielfältigen Probleme zu meistern, die mit einer Zeitreise zusammenhingen. Demeter wiegte den Kopf. »Es hört sich gut an«, sagte sie zweifelnd, »aber ich glaube nicht daran. Wir wissen über die Zeit, die zwischen der Gegenwart und der Zukunft des Jahres 80 000 liegt, viel zuwenig, um ein Urteil abgeben zu können. Ich halte es für durchaus möglich, daß der Gegner in den nächsten Tagen und Wochen bereits zuschlägt.« Das hörte sich gar nicht gut an. Meine Nackenhaare stellten sich auf bei dem Gedanken, daß die Erde von 67
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den Oberen – wie immer diese geheimnisvollen Wesen aussehen mochten – besetzt wurde. Womöglich wurde diese Invasion in diesem Augenblick vorbereitet, schmiedete der Gegner Pläne, bestiegen Invasionstruppen ihre Schiffe – während wir in einem romantischen Idyll um ein Feuer hockten und darauf warteten, daß das Wildbret gar wurde. Es war eine scheußliche Vorstellung, aber an ihr ließ sich nichts ändern. Mit dieser Angst im Nacken mußten wir leben, ob wir es wollten oder nicht. Ich prüfte das Fleisch. Noch eine halbe Stunde, dann mußte der Braten gar sein. Viel versprach ich mir nicht von dem Wildbret. Fleisch mußte abgehangen sein, wenn es zart sein sollte. Inky hatte sich an einen Baum gelehnt und eine Zigarette angezündet. »Was machen wir, wenn die Erde morgen früh tatsächlich überfallen wird?« fragte er. »Weiterkämpfen«, sagte Demeter sofort. »So schnell gibt die Time-Squad nicht auf.« Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Von unserem Gegner wußten wir, daß die Terraner im achtzigsten Jahrtausend die Elitetruppe eines gewaltigen Sternenreiches sein würden. Und die Time-Squad war nicht mehr als eine Spezialabteilung der irdischen Polizei. Der weitaus größte Teil der Öffentlichkeit ahnte nicht einmal, daß es uns überhaupt gab. Und das Abenteuer, in dem wir jetzt steckten, war nicht einmal jedem Mitglied der Time-Squad bekannt. Während wir am Lagerfeuer saßen, waren die meisten Kollegen der Time-Squad damit beschäftigt, dem Zweck nachzugehen, zu dem diese Truppe überhaupt ins 68
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Leben gerufen worden war – sie klärten mit dem Mittel der körperlosen Zeitreise Verbrechen auf, die mit anderen Hilfsmitteln nicht zu lösen gewesen waren. Auf diesem kriminalpolizeilichen Aufgabenbereich war die TimeSquad überaus erfolgreich; wenn die Aufklärungsquote bei Kapitalverbrechen noch nicht bei einhundert Prozent lag, dann war daran lediglich Personalmangel schuld. Um solche Erfolgsquoten konnten wir die Kollegen nur beneiden. Was wir in den letzten Wochen und Monaten zuwege gebracht hatten, war bei weitem nicht so beeindruckend. Wenn man die Ergebnisse sehr kritisch betrachtete und auswertete, mußte man zwangsläufig zu dem vernichtenden Urteil kommen, daß wir für jeden Schritt, der auf die Lösung eines Rätsels hinauslief, vier andere Schritte gemacht hatten, bei denen neue Rätsel und Geheimnisse aufgetaucht waren. Bei der Lösung einer Frage stießen wir in der Regel auf ein Dutzend neuer Fragen. So betrachtet, kamen wir praktisch kaum von der Stelle. Das einzige was für uns immer deutlicher und klarer erkennbar wurde, war die Tatsache, daß wir es mit einem überaus gefährlichen Gegner zu tun hatten. Mit jeder Operation, die die Time-Squad durchgeführt hatte, war die Gefahr für uns, vor allem aber für die Erde, größer und größer geworden. Offenbar schienen wir alle über dieses Problem nachzudenken. Es war sehr still an dem Lagerfeuer geworden. Ein weiterer Mond tauchte am Himmel auf und brachte uns auf andere Gedanken. »Delta ist der ideale Planet für Liebespaare«, stellte Inky fest. »Wie sieht es aus, Tovar? Mein Arm fällt mir fast ab.« 69
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Ich machte eine Probe mit dem Messer. Das Fleisch war gar, das gleiche galt für die Farce, mit der ich den Braten gefüllt hatte. Wider Erwarten schmeckte das Essen vorzüglich. Wahrscheinlich hatte der Saft der Nüsse und Beeren das Fleisch durchtränkt und so zum einen mürbe und zum anderen aromatisch gemacht. Als Teller verwendeten wir Blätter, unsere Messer dienten uns zugleich als Messer und als Gabel, die Breitseite mußte auch als Löffel für die Füllung herhalten. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir dieses Trapperspiel bis in alle Ewigkeit fortsetzen können. Das Leben in freier Wildbahn begann mir immer besser zu gefallen – obwohl ich wußte, daß wir mit Sicherheit nicht die einzigen Lebewesen auf Delta waren, die sich überwiegend von Fleisch ernährten. Leider währte das Idyll nur kurze Zeit, dann trieb uns Demeters Befehl in die Sättel zurück. Im Mondlicht setzten wir unseren Weg fort.
»Von hier aus ist nichts zu sehen«, sagte Inky mit hörbarer Enttäuschung. Wir hatten auf einer Hügelkuppe angehalten. Von diesem Platz aus konnten wir die Mulde gut einsehen, die sich vor uns erstreckte. Es war eine ausgedehnte Talmulde, tatsächlich groß genug, um eine Stadt mit mehreren tausend Einwohnern unterbringen zu können. Der Wald, den wir von den Rücken unserer Pferde aus betrachten konnten, war auf der anderen Seite dicht 70
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und üppig genug, um auch eine so große Stadt darunter verschwinden zu lassen. Zu sehen war daher nichts außer Wald. Wie Demeter unter dem Blätterdach eine Stadt gesehen haben wollte, ließ sich von unserem Standort aus nicht beantworten. Wir waren der Stadt zu nahe, als das wir die feinen Farbunterschiede hätten wahrnehmen können. Es war früher Nachmittag, und wir waren froh, daß wir das Ziel der Reise erreicht hatten. Seit Sonnenaufgang waren wir geritten; Pferde und Reiter waren gleichermaßen erschöpft und ruhebedürftig. »Die Stadt existiert«, beharrte Demeter ruhig. »Ihr werdet sie bald sehen.« Sie gab ihrem Pferd die Sporen. Hintereinander trabten die Pferde den Hügel hinab, und nach kurzer Zeit steckten wir tief im Wald, der an dieser Stelle ungewöhnlich dicht wuchs. Zum ersten Mal, seit wir von der EXPLORER I aufgebrochen waren, mußten wir aus den Sätteln steigen und uns mit dem Messer einen Weg durch das Unterholz bahnen. Die Pferde mußten wir an den Zügeln führen. Demeter hatte die Führung übernommen. Obwohl sie es an Körperkraft kaum mit einem von uns aufnehmen konnte, hatte sie ihren Anteil an der notwendigen Arbeit stets voll geleistet. Plötzlich kam unser Zug zum Stillstand. »Was habe ich gesagt?« hörte ich Demeter laut fragen. Ich drängte mich nach vorn. Es gab die Stadt, daran war kein Zweifel mehr. Demeters Hand wies auf ein Stück der alten Stadtmauer. Große, graue Quader als Fels waren zu sehen, die 71
Die Abenteuer der Time-Squad XII
nur zum Teil noch so übereinanderlagen, wie es von den Erbauern geplant gewesen sein mochte. Die Mauer war an vielen Stellen umgefallen, geborsten. Pflanzen hatten sich in den Ritzen festgesetzt, Keimlinge hatten den massiven Fels gesprengt. Einer der Quader hing in einer Baumkrone, zum Glück vom Astwerk derartig umwachsen, daß er nicht auf uns herabstürzen konnte. An den wenigen Stellen, an denen die Mauer unversehrt schien, lagen die gewaltigen Quader so fugenlos dicht, daß man keine Messerklinge dazwischenschieben konnte. »Die Ähnlichkeit ist frappierend«, sagte Demeter. »Machu Picchu, die Mauern von Troja, die Pyramiden bei Gizeh … Es gibt in der Geschichte der Menschheit eine ganze Reihe ähnlicher Bauwerke.« »Wir sind nicht auf der Erde«, warf Inky ein. Sein Gesicht wirkte sehr ernst. Drei fremde Himmelskörper waren von Mitarbeitern der Time-Squad erreicht worden – Ceres, der Planet, der jetzt von den Terranern unterjocht war, Demeter, der Mond dieses Planeten, wo wir eine Station des ZeitZauberers Valcarcel vernichtet hatten – und nun Delta. Und in jedem dieser drei Fälle waren wir auf Lebewesen gestoßen, zumindest aber auf unübersehbare Anzeichen und Beweise für höherentwickeltes Leben. Zufall? Nicht in dieser Größenordnung, dachte ich. Ich glaubte nicht an Zufall. Hier hatte irgendeine Macht die Hand im Spiel. Langsam ging Demeter weiter. Sie durchschritt das Tor, von dem nur noch die Pfosten aus Fels zu sehen waren. Auf der anderen Seite des Felsentores begann eine Straße. Zwar war das Pflaster von Moos überdeckt, Grä72
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ser hatten die Platten gesprengt, aber das Wesentliche war noch genau zu erkennen. Zu sehen war trotz des Bewuchses die Fahrrinne rechts und links auf der Straße. Durch die beiden Rinnen waren die Räder der Karren und Wagen gelaufen, spursicher wie auf Schienen. Gepflastert war die Straße mit gleichmäßigen sechseckigen Platten aus grauem Felsgestein. Die Straße war breit genug für ein Ochsengespann und Fußgänger auf beiden Straßenseiten. »Wie alt mag das hier sein?« fragte Inky. »Ich weiß es nicht«, murmelte Demeter. Sie biß sich leicht auf die Lippen. Ihre rechte Hand lag am Kolben ihres Nadlers. Ich konnte sie verstehen, auch mir war alles andere als behaglich zumute. Irgend jemand hatte diese Stadt erbaut, und irgendwann war das Leben in dieser Stadt erloschen. Was hatte die Einwohner vertrieben? Oder waren sie sogar in der Stadt gestorben? Hatte eine Seuche die Stadt entvölkert, fremde Krieger ihre Einwohner getötet? Es gab viele Möglichkeiten, eine Stadt menschenleer zu machen. Wir mußten auf alles gefaßt sein. Demeter wies auf ein Bauwerk. Von den meisten Häusern war nicht mehr viel zu erkennen. Die Dächer und Mauern waren zusammengestürzt, kaum mehr als große Schutthaufen waren übriggeblieben, vom Wind mit Erde überdeckt und dann vom hartnäckigen Wald überwachsen. Dieses eine Haus aber stand noch, wenn ihm auch das Dach fehlte. Zwei Bäume waren in dem Mauerrechteck gewachsen und hielten noch die Mauern in der Senkrechte. 73
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Das Haus hatte Ähnlichkeit mit römischen Wohnungen, stellten wir fest. Typisches Zeichen dafür war die Straßenfront, die kein einziges Fenster aufwies, nur eine Pforte war zu erkennen. Das Leben hatte sich vielmehr auf den Innenhof konzentriert. Die Vertiefung im Boden deutete auf ein Wasserbecken hin, und aus den wenigen verbliebenen Säulen ließ sich schlußfolgern, daß es sich bei dem Haus um einen Atriumbungalow gehandelt haben mußte. Eine Zeitlang standen wir schweigend zwischen den Mauern. »Wenn wir ein wenig herumgraben«, murmelte Demeter schließlich, »müßten wir eigentlich Haushaltsgegenstände finden. Töpfereien, Glas, Werkzeuge …« In diesen Mauern hatten lebende Wesen gewohnt, intelligente Wesen, städtebauende Wesen, Wesen, die ihrer Umwelt mehr als nur den reinen Lebensunterhalt entnommen hatten. Sie hatten Häuser gebaut, geschmackvolle Villen mit dekorativen Wandmalereien, von denen nur einige Spritzer Farbe die Jahrhunderte oder Jahrtausende überdauert hatten. Ich sah mich noch einmal nach der Türöffnung um. Wenn die Erbauer logisch vorgegangen waren, dann mußten sie ungefähr so groß wie Menschen gewesen sein – die Türöffnung jedenfalls entsprach dem irdischen Standard Es war sehr ruhig in diesem Teil des Waldes. Das erweckte mein Mißtrauen. Während die Freunde weiterhin das Innere des halbzerfallenen Hauses betrachteten, suchte ich nach Bewohnern der Stadt – nach deren Nestern in den zahlreichen Bäumen, nach Höhlen und Erdhügeln, unter denen man Tiere vermuten konnte. 74
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Ich fand nichts. Die Stadt war eine Totenstadt. Außer uns gab es hier keinerlei Leben, jedenfalls kein tierisches. »Dann müssen wir doppelt vorsichtig sein«, erklärte Demeter, nachdem ich meinen Freunden mitgeteilt hatte, was mir aufgefallen war. »Wenn Tiere einen Ort meiden, dann haben sie einen Grund dafür.« Charriba machte ein finsteres Gesicht. »Gefahr«, murmelte er. »Dies ist kein Platz für den Großen Geist.« »Suchen wir weiter«, entschied Demeter. »Diese Straße wird irgendwohin führen«, sagte ich. »Und wahrscheinlich hat die Stadt auch eine Art Zentrum – ein Gegenstück zu einem Tempel, einem Dom …« Wir folgten der breiten Straße. Es war beklemmend still. Der Hufschlag unserer Pferde wurde vom Moos fast unhörbar gemacht. Die Tiere wieherten oder schnaubten nicht, und wir Menschen waren unter dem Eindruck der Umgebung ebenfalls sehr still geworden. Das einzige. Geräusch stammte von den Bäumen. Es war das sachte Rauschen des Windes in den Blättern. Es gab keine summenden Insekten, keine Vögel, keine Nagetiere. Es gab nur die Stadt, die Bäume, uns und die Pferde. Irgend etwas stimmte nicht an dieser Stadt. Von den Mauern ging eine lautlose, aber überdeutliche Bedrohung aus. Diese ganze Stadt war nichts als ein Trümmerfeld, ein Friedhof … eine Falle? Ich leckte mir die trockenen Lippen. Unwillkürlich dachte ich an … aber wie sollte der Zeit-Zauberer hierherkommen? Wir erreichten den Mittelpunkt der Stadt. 75
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Dort stand der Tempel. »Nur eine hohe Säule zeugt von verschwundner Pracht«, sagte Inky, »Uhland, des Sängers Fluch.« Von dem Tempel und seiner Pracht zeugte mehr als eine hohe Säule. Der Tempel schien völlig unversehrt zu sein. Allerdings hatte sich im Lauf vieler Jahre Erde auf dem Dach angesammelt, Bäume waren darauf gewachsen, und um die Säulen hatte sich dichtes Laub gerankt. Dort, wo unter dem Grün des Bewuchses der Tempel selbst zu erkennen war, schimmerte es weiß. Marmor, diagnostizierte ich. Reiner, weißer Marmor, das klassische Material zum Bau von Tempeln. Sehr viel konnte man von dem Bauwerk nicht sehen. Was uns als erstes in die Augen stach, war eine sechsfach gestaffelte Reihe von Bäumen, die den Tempel umgaben. Diese Bäume bildeten einen perfekten Kreis um den Tempel. Sie standen in einer Mulde im Gestein und wuchsen, so hatte es den Anschein, unmittelbar auf dem Fels. Das Grau des Gesteins ging unmerklich in das Braun der Baumstämme über. Die Bäume waren hoch, ich schätzte sie auf fünfzehn Meter. Sie erinnerten mit ihren weit ausladenden Kronen entfernt an Pinien. Die Blätter wuchsen sehr dicht, standen aber nur an den Enden der vielfach verkrümmten Zweige und bildeten insgesamt ein so geschlossenes Dach, daß kein Lichtstrahl auf den Boden zwischen den Bäumen fallen konnte. Wir standen am Rand dieses Baumgürtels. Die beklemmende, angsterregende Stimmung, die über der Ruinenstadt lag, verstärkte sich, je länger wir uns in der Stadt aufhielten und je« näher wir dem Tempel kamen. 76
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Vom Tempel war nicht sehr viel zu sehen, zu stark war der Bewuchs der Säulen. Das Gebäude erinnerte jedenfalls an griechische Vorbilder. Das besagte, daß es sich um einen Mauerkasten handelte, der durch eine Doppelreihe prachtvoller Säulen zur architektonischen und kunsthistorischen Kostbarkeit aufgewertet wurde. Im Unterschied zu den hellenischen und römischen Vorbildern war bei diesem Tempel der Mauerkasten nicht in Stücke zerfallen sondern noch gänzlich erhalten. Auffällig war, daß die Erbauer die Ecksäulen des Tempels fortgelassen und durch Bäume ersetzt hatten. Wir konnten die beiden vorderen Eckbäume deutlich sehen. »Ich traue diesem Frieden nicht«, murmelte Divorsion. »Ich glaube, daß dieser Ort fluchbeladen ist.« Darauf gab ich wenig. Ich war nicht abergläubisch – jedenfalls, solange Valcarcel nicht ins Spiel kam. Ich band mein Pferd am nächsten Strauch fest, dann marschierte ich los. Ich wollte mir den geheimnisvollen Tempel von innen ansehen. Vor allem interessierte mich, wieso die gesamte Stadt in Trümmern lag, obwohl die Mauern zum weitaus größten Teil aus hartem Fels bestanden hatten – während ein anderes Bauwerk die Zeitläufe unbeschadet überstanden hatte, der Tatsache zum Hohn, daß Marmor nicht annähernd so. stabil war wie der graue Fels. Als ich die Mulde im Fels erreicht hatte, blieb ich für einen Augenblick stehen. Zum einen, um mich nach meinen Gefährten umzusehen. Sie waren damit beschäftigt, meinem Beispiel zu folgen. Charribas Grauer allerdings war sehr unruhig. Kein gutes Zeichen, dachte ich. Der zweite Grund für mein Zögern war die Tatsache, daß ich bis in die Kniegelenke in einen grauen Staub 77
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eingesunken war, der den Boden der Mulde bedeckt hatte. Dieser Staub war extrem feinkörnig, glänzte ein wenig und fühlte sich etwas fettig an. Ich beschloß, auf der Hut zu sein. An diesem Stilleben mit attischem Tempel stimmte etwas nicht. Ich konnte mich in dieser Beziehung auf meinen Riecher verlassen. Wenn etwas in der Luft lag, witterte ich es in der Regel frühzeitig. Ich ging vorsichtig weiter, darauf gefaßt, plötzlich unter dem ausgestreckten Fuß keinen Halt mehr zu finden. Aber nichts dergleichen geschah. Meine Gefährten hielten sich an die Fährte, die ich hinterlassen hatte. Auf diese Weise kamen sie ein wenig schneller voran als ich. Im Gänsemarsch durchquerten wir die Mulde. Wir erreichten die Stufen des Tempels. Jetzt waren die Einzelheiten des Baues deutlicher zu erkennen. Vier Stufen führten zum Eingang des Tempels hinauf. Nun konnten wir auch die Säulenkonstruktion genauer sehen. Die Ranken, die den ganzen Tempel überzogen hatten, wuchsen ähnlich übergangslos aus dem Boden wie die pinienähnlichen Bäume der Mulde. Kleine, lanzettenförmige Blätter an dünnen Ranken bedeckten fast die gesamte sichtbare Oberfläche des Tempels. Wenn sich dieses Laub wie das irdische im Herbst verfärbte, mußte der Tempel prachtvoll aus-sehen. Ich erreichte den Eingang zum Tempelinnern als erster, zögerte aber, die breiten Stufen hinaufzusteigen. Eine innere Stimme warnte mich. Ich wurde das beklemmende Gefühl nicht los, daß etwas an diesem Arrangement nicht geheuer war. »Worauf wartest du?« fragte Inky. Ich zuckte hilflos mit den Schultern. 78
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Dann ging ich die wenigen Schritte zum Eingang hinauf. Ich zögerte noch einen Augenblick, dann trat ich über die Schwelle. Sanftes Dämmerlicht erfüllte den Innenraum. Auf dem weißen Marmorboden bewegten sich die Abbilder der Blätter, durch die das Licht auf den Boden fiel. Der Innenraum des Tempels hatte kein eigentliches Dach. Es gab nur ein marmornes Gerüst, dessen Zwischenräume von Bäumen ausgefüllt wurden. Durch deren Wurzelwerk und durch die dünnen Blätter der Krone drang grünlich gefärbtes Licht in den Tempel. Der Raum war rechteckig. Auf der, gegenüberliegenden Seite gab es einen zweiten Eingang. Deutlich hob sich das Rechteck gegen den Hintergrund ab. Der Raum war fast leer. Die glatten, hohen Wände waren mit sechseckigen Marmorplatten verkleidet. Der Stein war makellos weiß wie der des Bodens. Auch dort waren die einzelnen Platten sechseckig. In der Mitte der Tempelhalle stand ein Thron, dessen Sitz aus einer Gesteinsart bestand, die ich bisher noch nie gesehen hatte – es sah aus wie pechschwarzer Marmor mit goldenen und weißen Einsprengseln. Ich wußte nicht, woher das Gefühl seine Kraft bezog, aber plötzlich war ich mir sicher, daß das Wesen, das früher einmal auf diesem Thron gesessen hatte, außergewöhnlich gewesen sein mußte – außergewöhnlich in jeder Beziehung. Zögernd ging ich zu dem Thronsessel hinüber. Völlig isoliert stand der Thron im Raum, und es gab in der Halle kein Mosaik, kein Fresko, kein Standbild. Kein Hinweis auf die Erbauer des Tempels, kein Hinweis auf den Götzen, der hier verehrt worden war. 79
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Dann entdeckte ich das Loch im Boden. Eine steinerne Treppe führte in die Tiefe hinab. Auch diese Treppenstufen bestanden aus dem geheimnisvollen Marmor, dessen Schwärze eine fast greifbare Bedrohung ausstrahlte. »Was habe ich gesagt?« murmelte Inky. Er sah sich nervös um, aber wir waren nach wie vor allein im Tempel. Ich warf Demeter einen fragenden Blick zu. Auf die gleiche Weise forderte sie mich auf, den Weg fortzusetzen. Mir war nicht wohl bei diesem Abenteuer. Ich trat auf die oberste Stufe. Wider Erwarten verwandelte sich die Treppe nicht in eine Rutschbahn. Es gab auch keine Beleuchtung, die den Weg erhellt hätte. Das Dämmerlicht der Halle reichte eine Körperlänge tief in den Einstieg hinab. Da bis zu dieser Tiefe kein Ende der Treppe zu erkennen war, löste ich nach einigen Stufen den Handscheinwerfer vom Gürtel und schaltete ihn ein. Wenig später wurde der Strahl durch das Licht der anderen Geräte in den Händen meiner Gefährten ergänzt. Die Treppe – eine Wendeltreppe -führte langsam in die Tiefe. Immer wieder zog ich prüfend die Luft ein, aber ich nahm nichts wahr. Die Luft roch weder abgestanden noch modrig. Sie war vielmehr klar und erfrischend kühl. Ein Luftzug war nicht festzustellen. »Ich glaube«, hörte ich Inkys Stimme von hinten, »es gibt auf der Erde eine Pflanze, die ähnlich gebaut ist wie diese Anlage hier. Wenn eine Fliege oder ein anderes sehr dummes Tier in die Tiefe dieser Pflanze hinabklettert, kommt es zwar sehr leicht hinein, aber nicht wieder heraus.« 80
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»Ich nehme an«, meldete sich – natürlich – Corve Munther, »du sprichst von der Kannenpflanze, Familie der Nepenthaciae.« »Ich kenne den Namen nicht«, gab Inky knurrig zurück. »Aber ich weiß, daß wir im Augenblick die Rolle der dummen Fliege übernommen haben.« »Irrtum!« belehrte ich ihn. Im Lichtkegel des Scheinwerfers tauchte das Ende der Treppe auf – und es gab dort keinen sich verjüngenden Schaft, der in einem Behälter mit Verdauungssäften endete. Die Treppe endete vielmehr in einem kleinen Raum, dessen Wände aus massivem Felsgestein bestanden. Anscheinend war dieser Teil der Tempelanlage aus dem kompakten Fels herausgemeißelt worden. An den Wänden erkannten wir aus Eisen geschmiedete Fackelhalter. In jedem der Halter stak eine Fackel, ein mit teergetränkten Lappen umwickelter Ast. Ich griff zum Feuerzeug und zündete die erste Fackel an. Meine Freunde folgten diesem Beispiel. Dann schalteten wir die Scheinwerfer aus. Schlagartig änderte sich der Gesamteindruck. Im kalten, sehr hellen Licht der Handscheinwerfer hatte der Raum einen völlig normalen Eindruck gemacht. Jetzt aber ging von den Felswänden eine fast greifbare Drohung aus. Ich blieb am Anfang des Ganges stehen, der aus der Felskammer herausführte. Die leise knisternden Fackeln, der Geruch nach verbranntem Harz, der ihnen entströmte und sich mit dem Rauch verbreitete, das Flackerlicht der kleinen Flammen, der nackte Fels in Griffweite – all dies verband 81
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sich zu einem Bild, das Assoziationen aus der Vergangenheit heraufbeschwor. Es fehlte nur noch die Feuchtigkeit an den Wänden, dann war das Schreckenskabinett perfekt. Ich mußte an die Kerker denken, in denen die Inquisition ihre Opfer festgehalten hatte. Es hatte Unglückliche gegeben, die jahrelang in dieser Atmosphäre des Grauens hatten leben müssen. In Gewölben wie diesem waren Menschen förmlich verfault. Aus diesen Gräbern auf Abruf befreite nur der Tod. Ich schluckte. War es Absicht, daß wir so dachten? Sollten wir uns an eines der schwärzesten Kapitel der menschlichen Geschichte erinnern? Die Wahrscheinlichkeit war gering – woher sollten die Erbauer dieser Anlage die menschliche Geschichte kennen? Welchem Intelligenzwesen im Kosmos hätte man nebenbei glaubhaft machen können, was sich im ausgedehnten Mittelalter in Europa abgespielt hatte an Grausamkeit, Elendsszenen, Widerwärtigkeiten? Langsam schritten wir den Gang entlang. Wir wußten nicht, wohin der Stollen führte; eine ungeheure Erregung hatte sich unser bemächtigt. Jedem einzelnen von uns war die nervliche Anspannung am Gesicht abzulesen. Jeder dachte auf seine Weise an das, was am Ende des Stollens auf uns warten konnte. Ich dachte – und dabei war ich durchaus nicht allein – an Valcarcel, und der bloße Gedanke an dieses Wesen reichte aus, daß mir fast übel wurde vor Angst. Was jeder von uns in den wenigen Minuten, die der Marsch dauerte, an Ängsten ausstand, konnte die Time-Squad mit keinem noch so hohen Honorar wieder wettmachen. Das Ende des Ganges kam in Sicht. 82
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Der Gang erweiterte sich zu einer Vorkammer, deren Ende von einem steinernen Portal gebildet wurde. Wir blieben vor diesem Portal stehen. Deutlich war zu sehen, daß unser Weg von zwei riesigen Steinblöcken versperrt wurde, die in der Mitte des Ganges aufeinandertrafen. Die beiden Teile dieses Schotts aus massiven Fels paßten so hervorragend zusammen, daß die Fuge zwischen beiden Steinen kaum zu erkennen war. Mitten auf diesem Portal erkannten wir ein Wappen. Oder eine Warntafel? Es war eine kreisrunde Fläche, die in das Portal eingelassen war. Die Scheibe bestand aus dem gleichen gold-weiß marmorierten Schwarzen Felsgestein wie der Thron. Irgendein unbekannter Künstler hatte aus diesem Gestein ein Relief gearbeitet. Es war nicht Valcarcel, der uns da angrinste. Allein diese Tatsache ließ meine Stimmung schlagartig steigen. Im Licht der Fackeln zeichnete sich ein Männergesicht auf der Scheibe ab. Es war das Gesicht eines uralten Mannes mit schulterlangem Haar. Die Augen des Alten waren geschlossen. Das Bild war beeindruckend naturgetreu – wenn es sich um die Darstellung eines Menschen handelte. Menschenähnlich war der Abgebildete mit Sicherheit, auch wenn wir nur seinen Kopf sehen konnten. Er sah so aus, wie man sich den Kopf eines großen Königs vorstellte, von Machtbewußtsein geprägt und der Einsicht, daß es Dinge gab, die über die Macht eines jeden Lebewesens gingen. Ich fand keinen passenderen Ausdruck – er wirkte majestätisch. 83
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Wir sahen uns schweigend an. Die nächste Frage lag auf der Hand. Der Siegelcharakter des Reliefs war offenkundig. Es gab etwas auf der anderen Seite dieses steinernen Portals. Es fragte sich, wie dieses Etwas aussah – und ob wir das Recht hatten, uns dazu den Zutritt zu verschaffen. Eine Entscheidung mußte gefällt werden. Unsere Blicke konzentrierten sich auf Demeter. Die Chefin der Time-Squad kaute unsicher auf ihrer Unterlippe. Dann trat D. C. energisch vor.
Sie brauchte nur die Hand auszustrecken. Eine Sekunde lang berührten ihre schlanken Finger die Stirn des Porträts, dann war ein Klicken zu hören. Mit einem Mahlen und Knirschen, das durch Mark und Bein ging, begannen sich die beiden Hälften des steinernen Portals zu bewegen. Zeitlupenhaft langsam gaben sie Weg frei. »Inky«, sagte D. C. ohne sich umzudrehen. »Sieh bitte nach, ob in der Tempelhalle etwas passiert ist.« Inky nickte und hastete den Gang zurück. Auf der anderen Seite des Portals wurde es schlagartig hell. Was da leuchtete, waren keine knisternden Kienfackeln, das waren unverkennbar moderne Leuchtkörper. Ein zweites Mal ertönte das Klicken, dann war der Weg frei. Die beiden Hälften des Portals waren in der Wand verschwunden. Als sich meine Augen an die Beleuchtung gewöhnt hatten, sah ich, daß die Flügel des Portals mindestens einen Meter dick waren. 84
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Demeter hob ihre Fackel und ging voran. »Hier muß gelüftet werden«, stellte Corve fest. »Es riecht muffig wie auf einem alten Speicher.« Der Kommentar stimmte, aber was wir sahen, war kein Speicher. Was vor unseren Augen auftauchte, war eine Gruft, ein Grabgewölbe. Hier war der Tod Hausherr. »Leer«, murmelte Demeter. Ihre Stimme hallte dumpf wider. Das Echo klang höhnisch. »Ääär, ääärrr.« Ich trat neben sie. Der Sarkophag bestand aus einem kompakten Felsblock, in den man eine Vertiefung eingemeißelt hatte. Die schwere Platte, die auf dem Sarg lag, war zur Seite gerutscht. Das Innere des Sarkophags war zu sehen. Der Schrein war leer. Es sah aus … Der Sarkophag bestand aus dem gleichen Marmor wie der Thron und das Siegel. Im gleißenden Licht verdeckt angebrachter Leuchtkörper sah ich, daß der Sarg schwebte. Der Schrein hing frei in der Luft – achtzig Zentimeter über dem grauen, schlichten Felsgestein. Und der Sarg war leer, die Deckplatte lag schräg über der Öffnung des Schreins, als wäre sie einfach beiseite geschoben worden. Von außen? Von innen? Der Boden unter unseren Füßen vibrierte leicht. Es hörte sich an, als wären tief unter uns im Fels Maschinen angelaufen, große Maschinen, die gewaltige Kräfte freisetzten – Kräfte beispielsweise, die einen tonnenschweren Sarkophag aus schwarzem Marmor mit wei85
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ßen und goldenen Einsprengseln achtzig Zentimeter in der Luft freischwebend zu halten vermochten. Demeter hob die Fackel. Über unseren Köpfen, hinter dem Vorhang, der von der grellen Beleuchtung erzeugt wurde, waren Gebilde zu sehen. Schatten, Schemen, vage Gestalten, vom Licht verschleiert. Erst wenn sich die Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, konnte man die Einzelheiten erkennen, die Fratzen, die auf uns herabgrinsten, die gebleckten Zähne. Es waren Monstren, deren steinerne Abbilder auf uns herabstarrten, Scheußlichkeiten, wie sie nur die Natur und die Fantasie eines Wahnsinnigen hervorbringen konnten. Auch diese Figuren waren aus Marmor hergestellt, und der unbekannte Künstler, aus dessen Werkstatt die Skulpturen hervorgegangen waren, hatte es meisterlich verstanden, die Marmorierung seinen künstlerischen Absichten dienstbar zu machen. So hatte er seinen Skulpturen goldfarbene Augen mit weißen Pupillen verliehen. Es waren kleine Pupillen, als duckten sich die Monstren zum Sprung. Das Rumoren unter unseren Füßen hörte auf. Offenbar hatte sich der Maschinenpark beruhigt. Demeter trat noch näher an den Sarkophag heran. Ich sah, wie ihr Gesicht fast blutleer wurde, wie ihr Atem stockte, wie sie zwei Schritte zurücktaumelte, sich umwandte, das Gesicht eine Maske des Entsetzens, die Stimme tonlos vor Angst, die Hand zitternd ausgestreckt und auf den Sarg deutend, auf etwas im Innern des Schreines und als ich näher trat und mich über den Schrein beugte, da sah ich den Abdruck eines Schädels 86
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auf dem weißen Kissen, und ich sah den blutbespritzten hölzernen Pflock, dessen Ende zerfasert war von hämmernden Schlägen, den Hieben, mit denen man … Der Körper fehlte. Es lag niemand in dem Sarg, aber es hatte jemand darin gelegen, von dem nur der Abdruck im Kissen übriggeblieben war, der Abdruck und der hölzerne Pflock, dem man diesem Jemand durch das Herz getrieben hatte. Und ich hörte mein Herz wie rasend schlagen, ich fühlte, wie sich meine Eingeweide vor Furcht verkrampften, wie ich zu zittern begann, von der eisigen Kälte des Grauens angerührt, und aus den Winkeln der Gruft schien ein Echo meine gehetzten, qualvollen Atemzüge in höhnischer Stärke zu wiederholen, und auf mich herab starrten die Fratzen der Monstren, in deren Augen ein düsteres Feuer glimmte. Sie sahen aus, als lebten sie, als hätten sie gesehen, was sich abgespielt hatte in der Gruft, und es schien mir, als grinsten sie in niederträchtiger Vorfreude auf das, was mit uns geschehen würde, wenn wir verweilten an diesem Ort des Entsetzens. Ich taumelte zurück und wußte nicht, welche Kraft meine Glieder bewegten, ob es der eigene Wille oder die Hand des Schreckens war, die mich zurückschwanken ließ. Charriba, dessen bronzenes Gesicht einen Anflug wächserner Blässe zeigte, hielt mich fest. Demeter hatte ihre Fackel fallen lassen und sich an den Fels gelehnt. »Entsetzlich«, murmelte sie. Ihre Züge waren vom Schreck verzerrt, die Haut von totenähnlicher Blässe, die schmalen Lippen zuckten. »Das kollektive Unbewußte«, murmelte Demeter. »Urängste, die tief in der Persönlichkeit verwurzelt sind, der Archetyp des Grauens – ein Vampir.« 87
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Ich hatte davon gelesen, ja, ich hatte auch einen Menschen gesehen, der mit gierig verzerrtem Gesicht Blut aus einer Trinkschale geschlürft hatte. Aber das hier überstieg das bekannte Maß. Der bluttrinkende Gouverneur war widerlich gewesen, ekelerregend und auch ein wenig furchteinflößend. Dies hier aber, die Gruft tief im Fels, rührte an Ängste, die tiefer saßen. Offenbar war diese Angst allen Menschen gemeinsam, offenbar hatte der Mensch bereits seine Erfahrungen mit solchen Wesen gemacht, und er hatte seine Reaktion auf diese Erfahrung im Instinkt verankert. Jetzt erst wurde mir klar, wie tief der Schock wirklich saß, der uns bei diesem Anblick befallen hatte. Was war dabei, wenn ein Mensch Blut trank? Es gab andere, weit gefährlichere Leidenschaften. Es gab eine Sekte auf der Erde, zu deren Zeremoniell das feierliche Verspeisen ihres Gottes gehörte – nach dem Dogma der Dachorganisationen handelte es sich dabei, was nur die wenigsten Anhänger der Sekte wußten, nicht um einen symbolischen Verzehr. Was der Gläubige aß, war das Fleisch des Gottes. Es gab die Ansicht, bei solchen Zeremonien handle es sich lediglich um die moderne Version eines paläolithischen Freßrituals, bei dem der kannibalische Urmensch Teile des erschlagenen Feindes verzehrte, um in den Besitz der Eigenschaften des Toten zu kommen. Wenn jemand Blut trinken wollte – warum sollte er nicht? Wenn er seiner Leidenschaft frönte, ohne dabei jemand zu schaden – wenn er sich sein Blut am Schlachthof oder in Kliniken besorgte … was war dabei? 88
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Aber sobald ein Vorgang dieser Art bekanntgeworden war, sobald ein Beweis für solches Verhalten gefunden war, alsbald stieg die Angst in allen Beteiligten empor und würgte jeden, der davon hörte. Es mußte eine Urangst sein, genährt aus verborgenen Quellen, die in der frühesten Geschichte der Menschheit liegen mußten. Eine ungeheuerliche Erfahrung mußte die Menschheit mit solchen Wesen gemacht haben – so ungeheuerlich, daß selbst eine so persönlichkeitsstarke, ichgefestigte Person wie Demeter beinahe zusammenbrach. Sie war – mit Einschränkungen – in der Lage, die Gefühle klinisch zu diagnostizieren, die sie beherrschten; das verriet die erstklassige Psychologin. Aber sie war zu sehr Mensch, um sich gegen das aufsteigende Grauen wehren zu können. Offenbar gehörte eine solche Konfrontation zu jener Kategorie von Erlebnissen, die sich der Darstellungsmöglichkeit weitestgehend entziehen. Selbst der beste Autor war nicht in der Lage gewesen, ein Trommelfeuer so realistisch zu schildern, wie es ein Betroffener wirklich erlebt hatte. Vor der Wucht der wirklichen Erfahrung zerstob die sprachliche Wiedergabe. Und ein tatsächlicher Kontakt mit dem Vampirismus war etwas anderes als die Lektüre eines einschlägigen Romans. »Das ist kein Trick«, murmelte Demeter. Langsam kehrte das Blut in ihr Gesicht zurück. Sie faßte sich. Mein Puls bewegte sich in abenteuerlichen Höhen. Ich spürte, daß die Angst mich im Griff hatte, und ich war nicht fähig, mich gegen diesen würgenden, erstickenden Griff zur Wehr zu setzen. Demeter wies in die Höhe. Ich folgte ihrem Hinweis mit den Augen. Die satanischen Fratzen an der Decke hatten ihr Aussehen ge89
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ändert. Die Mäuler waren jetzt offen, und tief in den steinernen Kehlen der Bestien war ein düsterroter Glutfunke aufgetaucht. Ich konnte nicht weiter zurückweichen, ich lehnte bereits mit dem Rücken an einer Wand. »Ein Zeitfeld«, murmelte Demeter. Sie hatte den anfänglichen Schock als erste hinter sich gebracht. Ihre Stimme bekam wieder Festigkeit, das Zucken der Lippen hörte auf. Demeter machte zwei Schritte. Sie stand wieder unmittelbar vor dem Sarkophag mit seinem entsetzlichen Inhalt. Ich sah, wie sich Demeters Rückenmuskeln verkrampften, aber sie hielt den Blick in die Höhlung des Schreines aus. Ich sah, wie sie nachdenklich nickte. Mit einem kräftigen Ruck schob Demeter die Platte des Sarkophags zurecht. Das scharfe Knirschen, mit dem sich der Deckstein auf dem anderen Stein bewegte, schien ein Echo in meinem Körper zu finden. Es war ein widerwärtiges Geräusch. Demeter machte zwei, drei Schritte, die sie von dem Schrein wegbrachten. Ich sah, wie sie zu lächeln begann. Von irgendwoher kamen Geräusche, das heisere Fauchen gieriger Raubtierkehlen, so hörte es sich an. Und in den Schlünden der Monstren über unseren Köpfen wuchs die düstere Glut, verstärkte sich immer mehr. Mitten in der Luft, oberhalb des Sarkophags, ballte sich diese Glut zusammen, wurde dichter und nahm an Umfang zu. Ein Zeitfeld, hatte Demeter gesagt. So rot? so dicht? So intensiv? Ich konnte es mir kaum vorstellen. Das Zeitfeld, das ich kannte, war heller, durchscheinender. Und doch … 90
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Das Feld hatte nach wenigen Augenblicken eine beachtliche Größe erreicht, und es wuchs weiter, gespeist aus den Schlünden der Dämonenfratzen über uns. Das Zeitfeld -plötzlich war ich mir meiner Sache überaus sicher – senkte sich auf den Schrein hinab. Aus der Äderung des Gesteins züngelten kleine Flammen empor. Unwillkürlich wichen wir aus. Wir blieben auf der Schwelle stehen und sahen – jederzeit zur Flucht bereit –, wie das Zeitfeld den Sarkophag einhüllte. Die Flammen, die aus dem Stein schlugen, wurden größer und heller, aber sie verbreiteten keinerlei Wärme. Und dann, von einem Herzschlag zum anderen, war der Spuk vorbei. Das Zeitfeld verschwand, die Flammen erloschen. Sonst änderte sich nichts. Noch immer hing der schwere Sarkophag in der Luft, gehalten von Kräften, die unbegreiflich schienen. Demeters Gesicht drückte Zufriedenheit aus. »Ich weiß nicht«, sagte sie langsam und auffallend leise, »wer diese Anlage gebaut hat, aber es handelt sich dabei zweifellos um ein Gerät das große Ähnlichkeit mit unserer Zeitmaschine hat.« Ich brauchte nicht lange zu überlegen. Die Erinnerungen an die Zeitmaschinen des Gegners waren noch überaus frisch. »Dies ist auch kein Modell unserer Feinde«, sagte ich; meine Stimme klang entsetzlich heiser, aber niemand schien den Grundton der Angst zu hören, der darin mitschwang. »Also eine dritte Art, mit der wir es zu tun haben«, konstatierte Charriba. Er ging auf den Sarg zu und schob den Deckel zur Seite. 91
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»Leer«, sagte Charriba. Er holte tief Luft. »Das Kissen und der Pflock sind verschwunden.« »Man braucht sich also nur in diesen Sarg zu legen und den Deckel zurechtzurücken, dann tritt man die Reise an«, überlegte Demeter laut. »Reise?« hörte ich Inky hinter mir sagen. »Spricht hier jemand von einer Reise?« Ich klärte ihn hastig über die Vorgänge der letzten Minuten auf. Inkys Gesicht verriet Betroffenheit. »So ist das also«, murmelte er. Er war ungewöhnlich bleich. »Laßt hier alles stehen und liegen und kommt mit.« Wir sahen uns verwundert an. Inky ging langsam den Weg zurück, den er gekommen war. Wir folgten ihm, darüber rätselnd, was Inky derart bestürzt haben mochte. Die Halle des Tempels war leer. Dort hatte sich nichts verändert. Draußen hatte es zu regnen begonnen. Schleppend ging Inky weiter. Er blieb im Eingang des Tempels stehen. »Seht euch das an«, sagte er leise. Es regnete nicht. Die Tropfen, die auf den Boden fielen, waren nicht in Wolken entstanden. Die Blätter der Bäume schwitzten sie aus. Wenn man in die Höhe blickte, konnte man deutlich sehen, wie sich die Flüssigkeit an den Spitzen der Blätter sammelte, zum Tropfen wurde und dann herabfiel. Auf der anderen Seite des sechsfachen Baumrings war der Boden trocken, ein zweiter Beweis. Der Regen mußte schon einige Minuten lang gefallen sein. In der Mulde, die den Tempel umzog, hatten 92
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sich Pfützen gebildet, die rasch wuchsen. In einer halben Stunde mußte die Mulde fast gefüllt sein. »Gib mir einen deiner Pfeile, Charriba«, sagte Inky. Wortlos griff Charriba in den Köcher. Inky nahm den Pfeil in Empfang und warf ihn nach vorn. Er blieb in der Mulde liegen. Für einige Sekunden. In dem Augenblick, in dem der erste Tropfen auf das Holz des Pfeiles fiel, stieg dort eine kleine Rauchsäule auf. Eine zweite Rauchsäule entstand, ein Tropfen nach dem anderen fiel auf den Pfeil, und der aufsteigende Rauch ließ den Pfeil unsichtbar werden. Einige Augenblicke lang standen die Rauchfäden in der Luft. Als sie verschwanden, war auch von dem Pfeil nichts mehr zu sehen. Wortlos streckte Inky die rechte Hand aus. Ich erschrak. Ich sah rohes Fleisch. Die Wunde war so groß wie ein Soldor und sah furchtbar aus. »Säure«, sagte Inky halblaut. Die Wunde mußte sehr schmerzen, aber in seinem Gesicht zuckte kein Muskel. Zum zweitenmal binnen einer Stunde wurde mir fast übel. Dies war die mörderischste Falle, von der ich je gehört hatte. Es war klar, daß wir nicht den Schimmer einer Chance hatten, die Mulde zu durchqueren. Der feine Staub, durch den wir mühsam genug marschiert waren, hatte sich längst mit der Säure zu einem Brei verbunden. Bis wir es geschafft hätten, diesen Morast zu durchwaten, hatte uns die Säure das Fleisch bis auf die Knochen heruntergebrannt. 93
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Demeter schluckte, dann griff sie zu ihrer Waffe. Sie zog den Nadler, stellte die Waffe auf Dauerfeuer. Sie machte sich nicht erst die Mühe, zu zielen, sie bewegte die Waffe einfach fächerförmig hin und her. Einige Hundert der betäubenden Nadeln verließen pro Sekunde den Lauf. Wir konnten nicht sehen, ob die Nadeln aus gehärteter Gelatine die Oberfläche der Bäume durchschlagen konnten. Ich nahm es an, denn ich wußte, daß die Betäubungsnadeln mühelos dicke Winterkleidung durchdrangen. Demeter hörte auf zu schießen, als das Magazin ihrer Waffe leer war. Sie steckte die Waffe ins Holster zurück. D. C. holte Luft. »Vielleicht ist dies die Lösung«, sagte sie leise. »Wenn nicht, gibt es nur noch einen Ausweg.« Ich schauderte, als ich an die unheimliche Gruft dachte. In den Sarg klettern? Der Gedanke allein war entsetzlich. Und wir hatten nicht die leiseste Ahnung, was das merkwürdige Zeitfeld bewirkte. Normal sah es jedenfalls nicht aus. Wir steckten in einer satanischen Falle, einer Zwickmühle, wie man sie sich boshafter nicht ausdenken konnte. Demeters Züge entspannten sich ein wenig. »Es klappt«, murmelte sie. Der Säureregen hatte tatsächlich aufgehört. Nur noch vereinzelte Tropfen fielen. Aber der Regen hatte nur in jenem Bereich aufgehört, den Demeter mit ihrer Waffe bestrichen hatte. Nur ein Teil der Bäume hatte die Produktion der organischen Säure eingestellt. Im restlichen Teil des Ringes ging der Regen weiter. Die Pfützen wurden immer größer, und 94
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das galt auch für den Bereich, der unmittelbar vor uns lag. An eine Durchquerung des Säuresumpfes war nicht zu denken. Ich für meinen Teil, hatte keine Lust, herauszufinden, wie schnell der ätzende Schlamm erst meine Kleidung, dann meine Muskeln und schließlich auch die Knochen auflöste. Jetzt verstand ich, warum diese Stadt von Tieren gemieden wurde. »Der Regen hat aufgehört«, stellte Divorsion fest. »Aber wie kommen wir jetzt weiter?« Es war Charriba, der die Lösung fand. »Als erstes werden wir auf das Tempeldach steigen«, verkündete er. »Von einem der Bäume an den Ecken werden wir in die Krone eines Säurebaumes klettern – und dann im Astwerk weiter, bis wir den Ring hinter uns gebracht haben.« Ich hätte am liebsten laut gelacht. Dieser Vorschlag war purer Wahnwitz. Hunderte von Argumenten sprachen gegen dieses irrsinnige Unterfangen. Aber keiner von uns sagte etwas. Wir alle wußten, daß es nur eine Alternative zu diesem Vorschlag gab. »Wir versuchen es«, bestimmte Demeter. Keiner von uns hatte Lust, in die Gruft zurückzukehren, zudem wußten wir nicht, wie lange die betäubende Wirkung der Nadeln bei den Säurebäumen anhielt. Wir machten uns ohne Zögern an die Arbeit. Charriba war der gewandteste Turner unter uns. Er brauchte nur wenige Augenblicke, dann hatte er die Krone eines Eckbaumes ereicht. Das Astwerk war breit und ausladend. Es bot Platz genug für uns alle. Charriba half uns hinauf. 95
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»Es ist Wahnsinn«, murmelte Inky. »Heller Wahnsinn.« Wir würden springen müssen, um den nächsten Säurebaum erreichen zu können. Und keiner von uns wußte, was die Säure mit dem Holz des Baumes gemacht hatte. Der Baum selbst war natürlich unempfindlich für seinen mörderischen Ausfluß. Was aber, wenn das Astwerk noch feucht war, feucht von Säure? Wer brachte den Mut auf, die Probe aufs Exempel zu machen? Wer riskierte es, zum Säurebaum hinüberzuspringen – und vielleicht die nackten Hände um einen säurebenetzten Ast zu krallen, zu spüren, wie die Säure furchtbare Wunden fraß, bis die Hände nicht mehr hielten? Wer riskierte den grauenvollen Augenblick, in dem sich der Griff löste und der Sturz in den Säureschlamm hinab begann? Nur wenige Augenblicke lang quälte ich mich mit solchen Gedanken. Charriba nahm uns die Entscheidung ab. Er war der geschickteste Turner, also sprang er als erster. Es waren nur wenige Schritte Distanz, aber mir schien der kurze Augenblick zwischen Absprung und Landung zur Ewigkeit gedehnt. Ich sah, wie sich Charriba abschnellte, wie sich sein muskulöser Körper spannte, wie er hinüberflog. Ich sah die ungeheure Nervenanspannung in seinem Gesicht. Ich sah, wie seine Arme sich nach vorn bewegten, wie seine Hände, ursprünglich weit geöffnet, sich zu schließen begannen. Er bekam den Ast zu fassen, den er sich ausgesucht hatte. Und dann sah ich, wie sich sein Gesicht verzerrte, wie er den Mund weit aufriß. Einen Herzschlag lang würg96
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te mich die Angst, aber dann erklang ein Schrei, der alle Zweifel beseitigte. Charriba hatte festen Halt gefunden, und er stieß ein Triumphgeheul aus, das mir blitzschnell etwas klarmachte, was ich kaum begreifen konnte – Charriba hatte, nur so ließ sich sein gellender Siegesschrei erklären, nicht an den Erfolg geglaubt. Einen Augenblick lang fühlte ich einen eisigen Klumpen in der Magengrube, dann aber fiel die Belastung der letzten Minuten von mir ab, und ein ungeheures Gefühl der Erleichterung überkam mich. Charriba hatte es sich im Astwerk des Säurebaumes bequem gemacht und grinste über das ganze Gesicht. So aufgeräumt hatte ich den verschlossenen Charriba nie erlebt. Zum Überschwang bestand kein Anlaß. Wir mußten zusehen, daß wir den tödlichen Tempelbezirk verließen. Ewig hielt die betäubende Wirkung der Nadlergeschosse nicht an – es war schon erstaunlich genug, daß die Bäume auf das starke Narkotikum überhaupt reagierten. Und wir mußten höllisch aufpassen, daß wir in dem Geäst nicht den Halt verloren. Ein Fehlgriff, ein Sturz – es war das sichere, unabwendbare Todesurteil, das auf der Stelle vollstreckt wurde. Aber dies war eine Aufgabe, die lösbar sein mußte. Die Angelegenheit war zwar lebensgefährlich, aber es wäre eine ausgesprochene Blamage für unseren Ausbildungsstand gewesen, hätten wir dieses Problem nicht meistern können. Charriba machte uns vor, wo und wie wir zu gehen hatten. Einen besseren Führer hätten wir uns kaum wünschen können. Vorsichtig, jeden Griff, jeden Schritt abwägend, bewegten wir uns vorwärts. Unter uns lauerte ein grauen97
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voller Tod, das ließ unsere Sinne wach sein. Wenn wir uns konzentrierten, konnte eigentlich nichts geschehen. Wenn … Es war etwas anderes, im Trainingscamp über einen kleinen Fluß zu hangeln und dabei ein kaltes Bad und laute Verwünschungen des Trainers zu riskieren, als sich im weitverzweigten Geäst unbekannter Bäume über einen Graben hinwegzusetzen, der mit kniehohem, ätzendem Schlamm gefüllt war. Ab und zu, wenn ein Ast ächzte, ein Zweig vernehmlich knackte, begann mein Herz zu rasen. Aber wir legten Meter um Meter zurück, von einem Ast zum anderen. Der Erbauer dieses Mordinstruments hatte erreichen wollen, daß jeder Quadratzentimeter des Ringes mit säureschwitzenden Blättern bedeckt war. Jetzt wurde diese Perfektion zu unserer Rettung, denn die Kronen der Säurebäume standen so dicht an dicht, daß es keine Schwierigkeiten machte, von einem Baum zum anderen zu gelangen. Am Ende dieser Kletterei wartete allerdings eine neue unangenehme Überraschung auf uns. Vom äußersten Ast des letzten Baumes bis zum rettenden Rand der Säuremulde lag eine Distanz von einigen Metern. Wir hatten die Alternative, entweder diesen äußersten Ast zu benutzen – dann ging der unvermeidliche Sprung fast zehn Meter in die Tiefe. Oder wir sprangen aus geringerer Höhe, dann aber mußten wir erheblich weiter springen als bei der ersten Möglichkeit. Knochenbrüche oder Verätzungen – wir hatten die Wahl. Charriba entschied sich für einen Sprung in die Tiefe, und er landete sicher und geschickt, rollte sich ab und 98
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stand ein paar Augenblicke später wieder auf den Füßen. »Es geht«, rief er uns zu. Divorsion sprang. Dann Inky. Corve folgte. »Der Kapitän geht immer als letzter von Bord«, sagte Demeter hinter mir. »Also spring!« Ich sprang. Es war ein ekliges Gefühl, über den ätzenden Schlamm hinwegzufliegen, das sich jedoch schlagartig änderte, als ich festen, sicheren Boden unter mir wußte. Das lange, harte Training der Time-Squad machte sich einmal mehr bezahlt. Auch ich kam einigermaßen glatt auf, konnte mich abrollen und wieder aufrichten. Ich fühlte mich zwar, als hätte ich mir einige Knochen gebrochen, aber das war eine Täuschung. Ich konnte alle meine Glieder bewegen. Ich drehte mich um. Jetzt fehlte nur noch Demeter. »Spring!« schrie ich mit aller Kraft. »Um Himmels willen, spring!« Die Wirkung der Nadeln hatte aufgehört. Die Säurebäume unmittelbar in der Nähe des Tempels waren als erste getroffen und ausgeschaltet worden. Sie nahmen nun wieder die Produktion der Säure auf, und ich konnte sehen, wie sich der Regen auf Demeter zuzubewegen begann. Demeter stieß sich ab. Viel zu kurz. Ich stand am Rande der Mulde und spürte, wie Inky nach meinem Gürtel griff, um mich zu sichern. Wir handelten so schnell und präzise, als hätten wir dieses Manöver hunderte Male geübt. 99
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Ich bekam mit dem ausgestreckten rechten Arm Demeter an der Hüfte zu fassen. Ihr fehlten nicht mehr als einige Handbreiten. Es war eine Frage des Sekundenbruchteils, in dem ich meine Kräfte anspannte. Ich erwischte den rechten Augenblick, riß Demeter aus der Gefahrenzone. Mit einem schnalzenden Geräusch platzte mein Gürtel, Demeter schrie leise auf, ihre Füße berührten den ätzenden Schlamm, Charriba stöhnte unterdrückt auf. Im nächsten Augenblick war die Gefahr vorbei. Demeter und ich lagen auf dem Felsboden, nur eine Handbreit von dem Rand entfernt, der uns von einem entsetzlichen Tod getrennt hatte. Auf dem Ätzschlamm zeichnete sich eine Parallelspur ab, dort, wo Demeters Stiefelabsätze den Schlamm berührt hatten. Wir starrten alle auf Demeters Füße. Der Kontakt hatte nur Sekundenbruchteile gedauert, aber von dem massiven Leder der Absätze war nichts mehr zu sehen. In dieser winzigen Zeitspanne hatte der Ätzschlamm das Material weggefressen. Traurig sah Demeter auf ihre Stiefel, denen die Absätze fehlten. Einen Herzschlag später wären ihre Füße verschwunden gewesen. »Danke, Tovar«, sagte Demeter und stand auf. »Halb so wild«, entgegnete ich. »Es war purer Eigennutz.« Demeter lächelte, und das machte einiges von dem wieder gut, was wir in den letzten Stunden durchzustehen gehabt hatten. »Ich fühle mich gerädert«, ächzte Demeter, als sie sich erhob. Sie schwankte – sie mußte sich erst an Schu100
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he ohne Absätze gewöhnen. Sie sah auf ihre verschandelten Stiefel hinab. »Besser als Prothesen«, murmelte sie. Inky grinste. »Notfalls tragen wir dich auf Händen«, versprach er. Wieso wir?
»Ich bin sicher«, erklärte Demeter, »daß wir ein Material finden werden, das dieser Säure widersteht. Vorher, das versichere ich euch, werden wir diesen Tempel kein zweites Mal betreten.« Mit dieser Ankündigung sprach sie uns aus dem Herzen. Wir hatten in den letzten Tagen zwar Zeit gehabt, uns etwas von den körperlichen Anstrengungen zu erholen, aber der psychische Schock saß uns doch noch sehr tief in den Knochen. Dafür konnte es kein besseres Indiz geben als das Verhalten von Demeter. Auch jetzt, Tage nach dem Vorfall, wurde sie immer wieder ein wenig blaß, wenn sie ihre Stiefel ansah. Uns ging es nicht wesentlich besser. Ruhe würde uns guttun, aber daran war zur Zeit nicht zu denken. Unsere Körper konnten als Musterkollektion für Blessuren dienen. Wir hatten alles, was man sich nur wünschen konnte. Kleine Stich-, Schürf- und Platzwunden, Prellungen, Verstauchungen, blaue, grüne, gelbe Flecken in reicher Auswahl. Trotzdem war unsere Stimmung – wenn wir nicht gerade an den Tempel dachten – hervorragend. Wir waren müde, aber erstaunlich fröhlich. Morgen würden wir es geschafft haben. Morgen, etwa zur Mittagszeit mußten wir den Landeplatz der EX101
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PLORER I erreicht haben. Danach konnte die Umsiedlung der Time-Squad ihren Anfang nehmen. Demeter mußte als Chefin zur Erde zurückkehren, während uns die Aufgabe zufallen sollte, die Umgebung der künftigen Siedlung genau zu erkunden und Wildbret für die Arbeiter heranzuschaffen. Die Aufgabe versprach reizvoll zu werden. Überhaupt sah die Zukunft recht rosig aus – dachte ich. Vielleicht lag es daran, daß wir einmal mehr Lagerfeuerromantik heraufbeschworen hatten. Es stimmte heiter, in die Flammen zu sehen, und nach den wenigen Funken, die aus den Flammen aufstiegen. Mit einem sicheren Griff des Fachmanns hatte Charriba eine Holzart gefunden, die kaum Funken erzeugte. Außerdem machte das Holz nur wenig Rauch. Wenn es also in den Wäldern Apachen, Comanchen oder was immer gab … Ich mußte unwillkürlich lachen, als ich bemerkte, wie absurd dieser Gedanke war. Es gab auf diesem Planeten nur uns. »Wir werden natürlich auch die Meere genauer untersuchen«, sagte Demeter. Sie sprach undeutlich, weil sie auf einem zähen Stück Braten herumkaute. Das Stichwort ließ mich zusammenzucken. »Seefahrt?« fragte ich mißtrauisch. Demeter nickte. »Du kannst an Land bleiben«, beruhigte sie mich. Ich hatte nichts gegen Wasser, sofern es in Würfelform auftrat und sich räumlich auf ein Whiskyglas beschränkte. Aber gegen schier unendliche Mengen wildbewegten Wassers war ich allergisch. Seit meinem Beitritt zur Time-Squad war ich einige Male zu Seefahrten abkommandiert worden, und diese Abenteuer wa102
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ren mir nicht sehr gut bekommen. Wir waren jedesmal nur um Haaresbreite davongekommen. Ich streckte mich auf dem Boden aus, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah zu den Sternen hinauf, von denen ich nicht einen einzigen kannte. Ich wäre nicht in der Lage gewesen, die heimatliche Sonne herauszufinden, selbst wenn unser Heimatgestirn mit bloßem Auge sichtbar gewesen wäre. Wieviele dieser glitzernden Punkte am schwarzen Himmel hatten ebenfalls Planeten; auf wievielen dieser Planeten mochte zum gleichen Zeitpunkt ein anderes lebendes Wesen den nachtdunklen Himmel anstarren – und sich die gleiche Frage stellen wie ich? Die Frage ließ sich nicht beantworten. Vielleicht war es auch besser so. Für die Menschen der Erde galt, daß sie zwar eingesehen hatten, daß sich das Universum nicht um die Erde und ihre Bewohner drehte – daß sie aber nach wie vor dem Universum zürnten, weil es sich nicht um die Erde drehte, wie es sich nach dem Selbstverständnis ihrer Bewohner gehört hätte. Der Mensch wußte, daß er nicht Mittelpunkt des Universums war, aber er glaubte, daß dieser Platz ihm eigentlich gebührte. »Ganz ruhig Freunde«, sagte Charriba plötzlich. Er sagte es beiläufig, sehr ruhig. Ich hütete mich, mich zu bewegen. »Was ist los?« »Jemand kommt.« Jetzt hatte ich alle Mühe ruhig zu bleiben. Wer näherte sich da unserem Lagerfeuer – oder sollte ich besser fragen, was? »Ich hole noch etwas Feuerholz«, sagte Charriba. 103
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Ich wälzte mich langsam auf dem Boden herum, bis ich ihn sehen konnte. Sein Bogen lag griffbereit neben ihm, aber Charriba ließ die Waffe liegen, als er aufstand, einige Schritte machte und in der Dunkelheit verschwand. Wir anderen blieben am Feuer liegen. Ich mußte mich beherrschen, um nicht zur Waffe zu greifen, aber das hätte der oder das Fremde vielleicht gesehen und als Angriffshandlung bewertet. Wir mußten zunächst erst einmal klären, wer oder was sich da auf uns zubewegte. Nach allem, was wir wußten, waren wir auf diesem Planeten völlig allein. Und doch näherte sich jemand. Bei einem Tier hätte sich Charriba sicherlich anders ausgedrückt. Ein Mensch? Einer der Erbauer der Tempelanlage? In diesem Fall schien es mir wirklich ratsam, die Waffe schußbereit in der Hand zu halten, wenn der Fremde zu uns stieß. »He, hallo!« Kein Fremder, dachte ich, und irgendwie war ich ein wenig enttäuscht. Ich sah, daß sich auch meine Freunde entspannten. »Hierher!« rief Inky zurück. In dieser Weise ging ein ziemlich alberner Dialog hin und her, bis unser Gast den vom Feuer erleuchteten Platz erreicht hatte. »Slocum!« rief Demeter verblüfft. Joshua Slocum, einer unserer ältesten Mitkämpfer, der uns auf mancher haarsträubenden Unternehmung begleitet hatte. Er sah abgerissen aus, müde, erschöpft. »Chefin«, sagte er. »Gut, daß ich Sie finde. Sie sind da. Seit gestern sind sie da.« 104
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»Wer?« fragte ich irritiert. Demeter war blaß geworden. »Der Gegner«, stieß Slocum hervor. »Sie sind gekommen, gestern morgen. Es sind Tausende.« Hinter ihm tauchte, lautlos und im Flackerlicht des Feuers eher wie ein Dämon aussehend, Charriba auf. Er kam gerade noch rechtzeitig, um Slocum auffangen zu können. »Ohnmächtig«, stellte Charriba fest, nachdem er Slocum sanft hatte auf den Boden gleiten lassen. »Er ist völlig erschöpft.« »Ich wußte es«, murmelte Demeter mit zuckenden Lippen. »Ich habe es geahnt, die ganze Zeit über habe ich es geahnt.« »Ich verstehe gar nichts mehr«, sagte ich, langsam wütend werdend. »Mensch«, fauchte Inky. »Die Invasion hat begonnen. Die Erde ist überfallen worden.« »Überfallen«, stammelte ich. Inky nickte, und langsam dämmerte mir, was sich abgespielt hatte, was sich immer noch abspielte. Das Spiel war aus, verloren. Die Time-Squad war knockout, noch bevor sie den Kampf richtig hatte aufnehmen können. »Vorwärts«, drängte Demeter. Die Last lag schwer auf meiner Schulter. Das andere Ende des langen Stammes trug Inky auf den Schultern. In einer improvisierten Trage hing zwischen uns der völlig erschöpfte Joshua Slocum. Er war noch immer ohne Besinnung. Demeter hatte eine Viertelstunde gebraucht, dann hatte sie den Schock überwunden. 105
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Seit diesem Augenblick waren wir wieder unterwegs. Wir strengten uns an, so gut wir konnten. Zum ersten Mal sah ich, daß Demeter kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren. Ihre Stimme hatte, wenn sie uns vorantrieb, eine Härte und Kälte, die ich nie zuvor an ihr bemerkt hatte. Ich wußte allerdings – oder glaubte zumindest zu wissen –, was Demeter in diesen Stunden bewegte. Ihr Kind war auf der Erde geblieben, auf einer Erde, die zur Stunde erobert wurde. Divorsion hatte der Schlag am härtesten getroffen. Er schluchzte immer wieder. Charribas Gesicht zeigte wieder den Ausdruck der völligen Unnahbarkeit. Am gefaßtesten hatte Inky die Nachricht aufgenommen. Kein Wunder, er hatte vor einigen Monaten noch als Soldat in einem Weltkrieg mitgekämpft, und er wußte auch, wie es war, wenn man auf verlorenem Posten stand. Sechs Männer, davon einer völlig ausgelaugt, und eine Frau – die Streitmacht der Time-Squad. Und der Gegner war stark und mächtig genug, einen kompletten Planeten zu überfallen – und auf diesem Planeten lebten immerhin fast sechs Milliarden Menschen. Nach meiner Schätzung mußten wir bald am Ziel sein. Wir waren die ganze Nacht hindurch marschiert, angetrieben von Demeters Stimme, die sie wie eine Geißel einzusetzen verstanden hatte. Bald mußte die EXPLORER I mit der Zeitmaschine in Sicht kommen. Slocum stöhnte im Schlaf der Erschöpfung. Jetzt, bei Tageslicht, war deutlicher zu sehen, wie abgerissen er war. Offenbar hatte er tagelang in der Nachbarschaft der EXPLORER I nach uns gesucht. 106
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Wir ereichten den Fuß der Hügelkette, die das Meer vom Binnenland trennte. Danach ging es ein kurzes Stück am Strand entlang, und eine Stunde später hatten wir die EXPLORER I erreicht. Behutsam legten wir Joshua auf den Boden. Er rollte sich sofort zusammen und schlief weiter. Der Landeteil des Raumschiffes stand unversehrt auf dem Strand. Die Zeitmaschine war ausgeschaltet worden, das Zeitfeld erloschen. Demeter blieb vor dem desaktivierten Gerät stehen. Ich konnte mir an den Fingern ausrechnen, welche Gedanken sie bewegten. Wie sah es auf der anderen Seite aus? Hatte der Gegner die Erde bereits völlig in seiner Gewalt? War die Zentrale der Time-Squad erobert worden? Wenn ja, dann brachten wir mit dem Einschalten des Zeitfeldes den Gegner auf unsere Spur. War andererseits die Zentrale noch intakt, dann konnten sich weitere Mitarbeiter der Time-Squad zu uns flüchten, sich dem Zugriff des Gegners entziehen. Demeter drehte sich herum. Sie sah förmlich durch mich hindurch, durch die Hügel, die Wälder. Ihr Blick endete – es war ihr anzusehen – bei dem Mordtempel. Unsere Zeitmaschine war nur sinnvoll, wenn sie aus der Time-Squad-Zentrale mit Energie versorgt wurde. Ohne diese Energiezufuhr war unsere Zeitmaschine keinen Kupferling wert. War die Time-Squad-Zentrale ausgefallen, waren wir auf Delta abgeschnitten? Und im Tempel gab es eine Zeitmaschine – jedenfalls ein Gerät, das genauso aussah – mit einer eigenen Energieversorgung. 107
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Daran dachte Demeter, daran dachte auch ich. Es war eine schwere Entscheidung. »Auf sechs Gefangene mehr oder weniger kommt es nicht an«, versuchte ich zu erklären. »Und wenn die Erde zur Gänze in der Hand des Feindes ist, dann kann es uns völlig gleichgültig sein, ob die Feinde auch noch diesen Planeten erobern oder nicht.« Demeter nickte zögernd, dann schaltete sie die Zeitmaschine ein. Sekunden verstrichen, in denen ich mein Herz schnell schlagen spürte. Das Zeitfeld wurde aufgebaut. Wenn jetzt der Feind in der Zentrale der Time-Squad saß und nach uns suchte, hatte er uns gefunden. Das schwache Zeitfeld unserer Anlage war dort leicht zu orten. Sekunden verstrichen und wurden zu Minuten. Nichts rührte sich. Wir hielten den Atem an. Ein Körper erschien im Zeitfeld, ein Schemen zuerst, dann wurden die Konturen deutlicher. Ich atmete auf. Was dort vor unseren Augen rematerialisierte, war ein Mensch, eine Frau. Nach wenigen Augenblicken war Susan Gilmore bei uns angekommen. Sie öffnete die Augen. »Chefin«, sagte sie erleichtert. »Dem Himmel sei Dank. Wir warten seit Stunden auf ein Lebenszeichen.« »Wie sieht es aus?« fragte Demeter. »Ist die Zentrale noch frei?« Susan lächelte. »Bei uns hat sich noch niemand blicken lassen«, sagte sie zu unserer Erleichterung. »Ich schlage vor, Sie begleiten mich zurück. Die Lage auf der Erde ist, nun ja, wie soll ich es nennen … komisch.« 108
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»Komisch?« Demeter und ich sahen uns verblüfft an. Was hatte das zu bedeuten? »Sehen Sie hier, dort sind die Nokther gelandet, und dort, und dort.« Don Slayter, zufällig anwesend in der Zentrale, als die Invasion begann, und damit als Dienstältester Demeters Stellvertreter, deutete auf verschiedenen Punkte auf einer riesigen Weltkarte. »Sie sind in Norwegen gelandet und im Norden Rußlands. Sie sind in Chile gelandet und in Argentinien. Die USA bedrohen sie von Kanada aus, auf dem afrikanischen Kontinent haben sie die nördlichsten und die südlichsten Staaten angegriffen.« Seit der Invasion waren zwanzig Stunden vergangen. Die Lage war alles andere als übersichtlich. Vor allem gab man uns das Verhalten der Angreifer Rätsel auf. Warum landeten sie – Nokther nannten sie sich? – nicht dort, wo die Macht der Erde geballt war? Wieso saß die amtierende Präsidentin noch im weißen Haus und konnte ungestört mit ihrer russischen Kollegin per Video reden? Don Slayter setzte die Erklärungen fort. »Die Feinde haben einen Angriffskeil gebildet, der ziemlich genau auf unsere Zentrale zielt. Ich halte das allerdings für einen Zufall. Beim Tempo, mit dem die Nokther vordringen, haben wir noch knapp zwei Tage, die Zentrale zu räumen. Das ist fürs erste das Wichtigste.« Demeter kaute auf der Unterlippe. »Diese Entscheidung«, sagte sie langsam, »ist zu groß für mich. Ich stelle es jedem frei, die Zentrale zu verlassen und seine Angehörigen aufzusuchen. Wer 109
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mich begleiten will, soll sich melden. Die große Zeitmaschine in der Zentrale ist auf die Koordinaten von Delta programmiert. Wer will, kann dort mit mir versuchen, dem Feind Widerstand zu leisten.« »Warum so pessimistisch?« fragte Divorsion. »Es sind doch nur einige hundert Schiffe gelandet … noch ist es möglich, die Invasion auf der Erde zu stoppen.« Demeter lächelte nachsichtig. »Diese Invasion kann nicht gestoppt werden,« sagte sie leise. »Erinnert euch an die Daten, die wir bereits gesammelt haben. Die Terraner …« »Das ist doch der Beweis, daß es uns gelingen wird, die Invasion der Nokther zu stoppen.« Demeters Stimme wurde hart. »Nicht uns – den Terranern wird es gelingen.« »Aber …« »Begreift endlich. Dies ist keine normale Invasion. Dies ist der Beginn eines Wettkampfs zwischen zwei Völkern. Gewinnen werden diesen Kampf die besseren Mörder – Mörder im Interesse einer Spezies, die wir nicht kennen.« »Entsetzlich«, murmelte ich. Der Gedanke allein war grauenvoll. Demeter betrachtete angelegentlich die Weltkarte. »Sie sind so gelandet, daß den Menschen eine Chance bleibt«, sagte sie rauh. »Das Ziel der Invasion ist nicht Eroberung, sondern Verschleiß. Der Kampf wird lange dauern, sehr lange.« Auf einem halben Dutzend Bildschirme konnten wir sehen, wie recht Demeter mir ihrer Behauptung hatte. Es war Zeit für die Video-Nachrichten. Heute war es eine Ansammlung von Widerwärtigkeiten. 110
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Kameramänner waren den Truppen bis in die vordersten Linie gefolgt, und die Bilder, die sie dort geschossen hatten, wurden nun weltweit ausgestrahlt. Nokther hießen die Invasoren. Es waren Echsen. Fast so groß wie Menschen, mit zwei geschickten Händen und Armen, die Beine enorm kräftig und ausdauernd. Völlig war der Natur die Umstellung auf eine zweibeinige Fortbewegung nicht gelungen – um sich im Gleichgewicht halten zu können, mußten die Nokther ihren langen Schwanz einsetzen. Der Verlust des Schwanzes allerdings war nicht weiter tragisch – der betroffene Nokther konnte sich auch ohne Schwanz einigermaßen sicher bewegen. Zudem wuchs der abgetrennte Schwanz wahrscheinlich nach, wie wir es von vielen irdischen Echsenarten her kannten. Die Bezeichnung Echse paßte naturgemäß nicht hundertprozentig. Der Begriff war nur gewählt worden, um überhaupt eine Analogie zu irdischen Maßstäben herstellen zu können. Nur einige hundert Noktherschiffe waren gelandet. Es waren Spitzkegel, deren schwarzsilberne Oberflächen ein merkwürdiges Flechtmuster aufwiesen. Zusammen mit diesen Schiffen waren einige Tausend flugfähige Panzer gelandet, schwerfällige Fahrzeuge mit gefährlichen Laserkanonen, den irdischen an Panzerstärke und Feuerkraft weit überlegen. Wo immer die Panzer aufeinandertrafen, gab es auf unserer Seite erheblich größere Verluste. Die eigentlichen Kämpfe standen allerdings noch bevor. In den Brückenköpfen, die die Nokther erobert hatten, landeten sie ohne Pause neue Schiffe und Panzer. 111
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Währenddessen war die Regierung in Washington damit beschäftigt, in allen Landesteilen Reservisten einzuberufen. Eigentlich hätte ich mich in San Francisco zum Dienstantritt melden müssen. »Also!« Ich sah auf die Karte. Uns blieben nur noch wenige Stunden. »Ich entscheide mich für Delta«, sagte ich laut. Ich war Demeter dankbar, daß sie auf ein Lächeln verzichtete. Inky hob die Hand, Charriba machte zwei Schritte und stellte sich neben Demeter. Eine Viertelstunde später stand das Ergebnis fest. Die Time-Squad würde umziehen – komplett. Das gesamte Team wollte nach Delta übersiedeln, keiner wollte zurückbleiben. Noch während die Abstimmung lief, machten wir uns an die Arbeit. Dank Demeters Vorsorge waren in den unterirdischen Magazinen der Time-Squad-Zentrale Lebensmittel, Medikamente und technische Ausrüstung in gewaltigen Mengen gestapelt. Und wir zögerten keinen Augenblick, diese Vorräte erbarmungslos zu dezimieren. Niemand konnte genau vorhersagen, was für uns in den nächsten Monaten wichtig sein würde. Unter Umständen konnte das Fehlen einer Schraube zum Verhängnis werden. Die Verbindung zwischen Delta und der Zentrale stand, und über diese Verbindung floß ein Strom von Gütern, der nicht abreißen wollte und die Besatzung auf Delta vor schwere Probleme stellte. Denn Konserven und Decken, Zelte, Medikamente, Waffen, Werkzeuge … Die Liste hätte sich um hunderte von Metern 112
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verlängern lassen … All das wollte erst einmal verstaut sein. Die Kollegen auf der anderen Seite kamen jedenfalls nicht zum Schlafen. Auf unserer Seite der Verbindung durch Raum und Zeit lagen die Materialien nämlich säuberlich gestapelt und geordnet. Auf der anderen Seite mußten erst einmal Lagerplätze gefunden werden. »Ich habe noch nie in meinem Leben derartig geschuftet«, ächzte Inky während einer kleinen Verschnaufpause. Sie ergab sich zufällig, weil auf Delta ein Stau eingetreten war. Demeter war kurz hinübergegangen, um die Verwicklung zu klären. Eine der Personen, die sich noch auf der Erde aufhielten, war Demeters Sohn. Er sollte mit den letzten nach Delta übersiedeln. Demeter dachte nicht daran, Vorteile für ihre Angehörigen herauszuschinden. Der Kleine durfte uns auch nur deshalb begleiten, weil er keine anderen Angehörigen hatte. Der Rest des Teams hatte Telefonverbot. Niemand durfte seine Verwandten und Freunde zusammentrommeln. Die Time-Squad nahm nur qualifizierte Mitarbeiter mit nach Delta. Wer zu große Sehnsucht nach seinen Verwandten hatte, konnte auf der Erde bleiben. Die Entscheidung war hart, erschien mir aber fair. Ich schielte zur Karte hinüber, die im Transportraum der großen Zeitmaschine aufgehängt worden war. Stündlich wurden die Berichte der großen Video-Anstalten abgehört, ausgewertet und auf der Karte eingetragen. Der Gegner hatte die Kanadische Grenze überschritten. Der schmale Streifen Land zwischen Kanada und 113
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dem Indianerterritorium hatte die Nokther keine zehn Minuten aufgehalten, aber an der Grenze des Indianerstaats wurden die Invasoren von den Indianern erwartet. Dort war der Vormarsch der Invasoren ins Stocken geraten. An anderen Frontabschnitten machten die Nokther hingegen beachtliche Gewinne. »Weiter!« sagte eine schwache Frauenstimme. Demeter war wieder in der Zentrale angekommen. Ihre roten Haare waren schweißverklebt, der Blick ihrer Augen verriet Erschöpfung. Sie war am Ende ihrer Kräfte, aber sie dachte ganz offenkundig noch nicht daran, sich eine Pause zu gönnen. Wir machten uns wieder an die Arbeit.
Ich kam auf Delta an, als gerade die Sonne über dem Meer auftauchte. Auf Delta war es an dieser Stelle früher Morgen; nach der Rechnung der Uhren in der TimeSquad-Zentrale war es spät in der Nacht. Meine Gefühle entsprachen dem Standard der Time-Squad-Zentrale. Ich war völlig erschöpft. Neben mir rematerialisierte Inky. Er trug Datenbände für den Rechner, den wir in Einzelteilen nach Delta geschafft hatten. Diese Bänder enthielten einen Teil des Erbes der Menschheit. »Die Nokther werden die Zentrale bald erreicht haben«, eröffnete ich Demeter. Sie saß auf einer Kiste, die Getreidesamen enthielt, und winkte müde ab. »Höchstens noch eine Stunde«, fuhr ich fort. »Mehr Zeit bleibt uns nicht. Ich weiß allerdings nicht, ob die Nokther das Tal sofort finden werden.« 114
Peter Terrid - Das Zeit-Versteck
»Sie werden«, murmelte Demeter. Inky bot ihr eine Zigarette an, sie lehnte ab. »Wie sieht es aus?« fragte Demeter Carol Washington, völlig ausgepumpte Chefin einer streng geheimen Polizeitruppe, die sich im schönsten Rückzug befand. »Schlecht«, antwortete ich knapp. »Wir werden eine ganze Reihe von Dingen nicht mehr nach Delta schaffen können. Platzmangel.« Ich deutete auf die Kisten, Ballen und Fässer um uns herum. Der Platz erinnerte an die Hafenbezirke früher Städte. Im Umkreis von dreihundert Metern ließ sich beim besten Willen nichts mehr unterbringen. Wir ertranken förmlich im Material – aber ich wußte bereits, daß selbst dieses riesenhafte Warenlager unsere Bedürfnisse nicht voll würde befriedigen können. Es gab so vieles, was man schnell übersah und vergaß. Woher sollten wir beispielsweise ein so einfaches Produkt wie Zahncreme nehmen, wenn unsere Vorräte erschöpft waren? Die Frage klang auf den ersten Blick lächerlich, hatte aber Gewicht. Denn zur Herstellung einer simplen Tube Zahnpasta waren so viele verschiedene Arbeitsgänge erforderlich, wie sich der Konsument kaum vorstellen konnte. Die glänzende Lackfarbe der Reklameaufdrucke -hochwertiger Lack, aus Kohlenprodukten kunstvoll destilliert und synthetisiert. Das Weißblech der Tube, das Papier der Verpackung, das Plastikmaterial des Schraubverschlusses … Die Liste ließ sich beliebig verlängern. Und dieser ganze Aufwand wurde betrieben, um eine wenig aromatisierte Schlämmkreide gebrauchsfertig zu halten. Wir würden uns gewaltig umstellen müssen. Joshua tauchte auf. 115
Die Abenteuer der Time-Squad XII
»Der Posten auf dem Berggipfel sagt, daß er den vordersten Panzer der Nokther bereits im Feldstecher hat.« Demeter nickte nur. Es waren furchtbare Minuten. Die Time-Squad war eine Organisation für die Menschen, von denen wir uns sehr bald würden verabschieden müssen. Für lange Zeit würden wir sehr einsam sein auf Delta. Aber was war gewonnen, wenn wir auf der Erde blieben? Nichts, die Zahl der Kämpfer gegen die Invasoren wurde ein wenig erhöht, das war alles. Aber wir hätten die vermutlich letzte Waffe der Menschheit leichtfertig aus der Hand gegeben. Vielleicht war es unserem kleinen Haufen möglich, in die Geschichte der nächsten Jahrhunderte entscheidend eingreifen zu können, vielleicht. . . »Noch einige Minuten«, erklärte Maipo Rueda, sobald er Delta erreicht hatte. »Irgendwer scheint den Nokthern erklärt zu haben, wo sie nach uns suchen müssen. Die Panzer fahren genau auf unser Tal zu.« Ein verhaltenes Brummen kündete an, daß nun die Kökö bei uns eintreffen würden. Wir hatten dieses Nomadenvolk auf dem Planeten Demeter kennengelernt und einige mit zur Erde gebracht. Wir waren den Kökö verpflichtet, also wurden auch sie nach Delta verfrachtet. Auf keinen Fall durften sie in die Hände der Nokther fallen – das hätte dem Gegner verraten, daß es zumindest eine Organisation der Menschen gab, die in der Lage war, fremde Planeten zu erreichen. Auf ihren Gurans – schwerfällig wirkende Reittiere, die wie eine Kreuzung aus Hund und Bär aussahen – kamen die Kökö nach Delta geritten. 116
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Ihnen würde es vermutlich leichterfallen, sich an den Planeten zu gewöhnen. Wir wußten noch von unserer Landung her, daß es auf Delta auch ausgedehnte Weideflächen gab – also genau das Land, das die Kökö liebten, um ihre Herden dort weiden zu lassen. Minuten vergingen, in denen keiner ein Wort sprach. Immer näher rückte der Augenblick, in dem wir die Zeitmaschine würden abschalten müssen. Das letzte Guran trabte mit zwei kreischenden jungen Kökö davon. Dann erschien verabredungsgemäß Susan Gilmore. Sie gehörte zu dem Kommando, das als letztes nach Delta übersiedeln sollte. Sie führte Demeters Sohn an der Hand. Das Kind war ungewöhnlich ruhig. Vielleicht begriff es, daß es in ein Abenteuer hineinstolperte, von dem keiner sagen konnte, wie es ausgehen würde. Ich zählte unbewußt mit, als die letzten Mitarbeiter bei uns eintrafen. Als William Chadwick auf Delta ankam, der ehemalige Fähnrich der britischen Flotte, wußten wir, daß der Zeitpunkt gekommen war. »Abschalten«, befahl Demeter. Ihre Stimme war heiser. Wir waren viel zu müde, zu abgearbeitet, erschöpft, ausgemergelt, um diesen Augenblick verarbeiten zu können, diesen Augenblick, der für uns und die Menschheit so wichtig sein konnte. Wir ließen die Brücken hinter uns in Flammen aufgehen. Von nun an konnte es nur noch nach vorn gehen. Eine Umkehr war ausgeschlossen. Susan Gilmore streckte die rechte Hand aus. Mit einer müden Handbewegung schaltete sie die Zeitmaschine aus. 117
Die Abenteuer der Time-Squad XII
Das Zeitfeld erlosch schlagartig. Die Verbindung war unterbrochen. Es gab keinen Kontakt mehr zur Erde. Wir waren allein, allein mit unseren Freunden und Gefährten, allein mit unserem brennendsten Problem – wie der Menschheit zu helfen war, die zum gleichen Zeitpunkt unter dem Angriff der Nokther zu leiden hatte. Demeter stand langsam auf und strich sich die Haare aus der Stirn. »Legt euch schlafen, Leute«, sagte sie mit klarer Stimme. »Morgen fangen wir mit der Arbeit an. Wir haben noch viel zu tun.« Sie lächelte verhalten. »Noch ist die Time-Squad nicht geschlagen!« ENDE
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