Buch Die große Umwälzung hat stattgefunden, das verlorene Land der Ashioi ist an seinen angestammten Platz zurückgekehr...
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Buch Die große Umwälzung hat stattgefunden, das verlorene Land der Ashioi ist an seinen angestammten Platz zurückgekehrt - an jenen Ort, von dem es vor Jahrtausenden mit mächtiger Magie in den Äther hinausgeschleudert wurde. Und während die Menschen noch versuchen, mit den Nachwirkungen der Katastrophe fertigzuwerden, unternimmt Sanglant alles, damit ihm die gerade gewonnene Macht nicht gleich wieder aus den Fingern gleitet. Denn sein Vater, König Henry, hat ihm zwar mit seinem letzten Atemzug die Krone vermacht, aber das bedeutet nicht, dass seine Untergebenen und ehemaligen Verbündeten sich diesem Wunsch fügen werden. Und Liath kann Sanglant in seiner Not nicht helfen - im Gegenteil, sie belastet ihn eher in seinem Ringen um die Königskrone, denn sie wurde von der Kirche exkommuniziert. Wird es Sanglant gelingen, die Menschen zu einen und das Reich zu ordnen - oder werden alle menschlichen Reiche den zurückgekehrten, nach Rache dürstenden Ashioi zum Opfer fallen? Oder vielleicht auch Starkhand, dem Aikha, der von seinem Inselreich Alba aus schon die nächsten Eroberungszüge plant? Autorin Kate Elliott hatte bereits unter dem Namen Alis A. Rasmussen mehrere Science-Fiction-Romane veröffentlicht, bevor sie gemeinsam mit Melanie Rawn und Jennifer Roberson »Die Chronik des Goldenen Schlüssels« verfasste. »Sternenkrone« ist ihr erstes großes Solo-Projekt in der Fantasy und wurde von Kritikern und Lesern gleichermaßen begeistert aufgenommen. Von Kate Elliott bereits erschienen: S TERNENKRONE : 1. Erben der Nacht. Roman (24742), 2. Im Namen des Königs. Roman (24743), 3. Auf den Flügeln des Sturms. Roman (24744), 4. Die Kathedrale der Hoffnung. Roman (24842), 5. Der brennende Stein. Roman (24843), 6. Das Rad des Schicksals. Roman (24844), 7. Kind des Feuers. Roman (24131), 8. Schatten des Gestern. Roman (24138), 9. Ins Land der Greife. Roman (24183), 10. Die magischen Tore. Roman (24139), 11. Das verwüstete Land. Roman (24140) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Kate Elliott
Das verwüstete Land Sternenkrone 11
Originaltitel: Crown of Stars, vol. 6, In the Ruins
Vorbemerkung Wie alle meine Leser wissen, war dies eine lange und komplizierte Serie, mit einem langen und komplizierten Plot. Und tatsächlich gab es, nachdem ein bestimmter Punkt erreicht war, einfach keine Möglichkeit mehr, umzukehren.
In den zwei Jahren, die ich gebraucht habe, um den letzten Band zu schreiben, habe ich mich ausschließlich auf die aus meiner Sicht notwendige Entwicklung der Charaktere und der Geschichte konzentriert, um der ganzen Sternenkronen-Saga ein möglichst starkes Ende zu geben. Ich bin zufrieden, dass ich mein Möglichstes getan und das Ende erreicht habe, das ich im Blick gehabt hatte. Allerdings war das Manuskript, das ich schließlich meinem amerikanischen Verlag übergeben habe, mit etwa 430.000 Wörtern einfach zu lang, um es in einem einzigen Band zu veröffentlichen. Ich musste also eine Entscheidung treffen. Eine Möglichkeit wäre gewesen, mehrere hundert Seiten aus dem Buch herauszunehmen - und das Ende der Serie dadurch zu schwächen, dass einige Handlungsstränge und Personenschicksale unaufgelöst bleiben würden -, die andere, das Manuskript in zwei Bände aufzuteilen. Ich habe mich lange mit der Frage nach der Länge herumgeschlagen und mich gefragt, ob irgendwelche Bücher überhaupt so lang sein müssen. Letztlich habe ich jedoch keine Möglichkeit gesehen, das Manuskript zu kürzen, ohne der Geschichte eine Menge Kraft zu nehmen, und so habe ich mich entschieden, das letzte Buch zu teilen, um die Geschichte so zu erhalten, wie ich sie erzählen wollte. Jenen, die diese Entwicklung begrüßen oder sich zumindest mit ihr abfinden, danke ich für ihre Geduld. Die anderen, die verständlicherweise verärgert sind, bitte ich um Entschuldi3 gung. Als ich mit der Sternenkrone angefangen habe, hatte ich keine Vorstellung, worauf ich mich da einlassen würde.
Prolog Federkleid stand kurz vor der Niederkunft - die einzige schwangere Frau, die ihrem Volk noch geblieben war. Genau betrachtet war sie die einzige noch lebende Frau, die mehr als einmal schwanger geworden war. Deshalb hatte sie den Vorsitz über den Rat der Stämme, denn sie besaß eine Macht, die die anderen nicht hatten, eine Macht, die während der Zeit des Exils aus dem Land verschwunden war. Niemand konnte sich dieses langsame Versickern erklären, aber alle wussten, dass es dem Tod des Landes und des Volkes vorausging. Wenn jemand sie retten konnte, musste es jemand sein, in dem die Macht noch immer weilte, während sie die anderen längst verlassen hatte. Und so war ihr der Adlersitz übergeben worden. Tatsächlich war es der einzige Platz, auf dem sie noch gut sitzen konnte. Ihr anderes Kind war fast schon erwachsen - äußerlich und im Hinblick darauf, was es zu lernen galt -, aber in den Tagen, als der Junge in ihrem Innern herangewachsen war, war er nicht so groß gewesen. Jetzt sah es so aus, als würde sie die Brut eines Riesen hervorbringen, obwohl sie wusste, dass der Erzeuger ihres Kindes Regen war, der weder kleiner noch größer als die anderen Männer war. Er war sanft und gutmütig und von mittlerer Statur, ein harter Arbeiter mit geschickten Händen und gut darin, Feuersteine abzuschlagen. Und er hatte einen Namen mit einem guten Omen. Aus all diesen Gründen war er als Vater eine bessere Wahl gewesen als hochmütige Krieger wie Katzenmaske oder Echsenmaske, die Gefallen daran fanden, ihre Speere zu recken und vor den Frauen herumzustolzieren. Wie sie es auch jetzt taten. »Wir müssen uns an einem Ort versammeln - weiter im Landesinnern, wo wir geschützt sind - und uns bereitmachen! 11
Dann können wir sofort und in großer Zahl handeln. Wir können zuschlagen, bevor unser Feind damit rechnet!« »Es ist besser, uns in kleinere Gruppen aufzuteilen, du Narr! Wir müssen uns über das Land verteilen. Falls dann eine Gruppe überrascht wird, kann die andere dem Feind zusetzen und sich wieder neu formieren, wenn es sicher ist.« »Wenn der Feind zuerst zuschlägt, wenn er die Weißstraße passiert und seinen Fuß auf unser Land setzt, sind wir verloren!« Katzenmaske pochte mit dem Ende des Sprechstabes wiederholt auf den Boden, um seine Aussage zu betonen. Als wäre seine Stimme nicht laut genug!
Echsenmaske war einen halben Kopf größer als Katzenmaske. Dies machte er sich jetzt zunutze, reckte die Brust und schob das Kinn vor, während er den Stab oberhalb von Katzen-maskes Hand ebenfalls ergriff. »Wie können wir wissen, wo genau der Feind in unser Land eindringen wird? Wenn wir alle an ein und derselben Stelle sind, werden wir unsere Beweglichkeit verlieren. Wir werden uns so langsam von der Stelle bewegen wie dein Verstand!« »Pff! Dein Wunsch nach Sicherheit lässt dich ängstlich werden! Wir müssen kühn sein!« »Wir müssen vorsichtig, aber geschickt sein - wir müssen der Stachel in ihrer Seite sein.« »Wir müssen der Pfeil in ihrem Herzen sein! Wir müssen ihnen einen gewaltigen Schlag versetzen, der sie kampfunfähig macht, nicht eine Unmenge von bedeutungslosen Stichen, die sie nur noch mehr verärgern werden, ohne dass sie wirklich Schaden anrichten!« Die Beratenden saßen in dem höhlenartigen Zimmer und sahen den beiden jungen Kriegern zu, die in der Mitte herumstampften und sich aufplusterten. Die älteren Frauen wirkten erheitert und nachsichtig, während sich auf den Gesichtern der jüngeren Frauen Abscheu oder eingehendes Interesse spiegelte, je nachdem, ob sie eine Vorliebe für solch ein männliches, streitlustiges Gehabe hatten oder es ablehnten. Die älteren 4 Männer standen mit verschränkten Armen und ergebenen Mienen da und warteten darauf, dass der Sturm sich wieder legte; sie hatten sich früher ebenso aufgeplustert und waren klug genug, sich nicht einzumischen. »Ein Schwärm Bienen kann einen Wolf zur Strecke bringen, der sie ärgert und ihr Nest aufstöbert.« »Ein Wolf kann ihnen davonlaufen und sich nachts zurückschleichen, während sie schlafen, um ihre Zuflucht in Fetzen zu reißen, damit andere Tiere sie verschlingen!« Solange die Männer das Wort hatten, waren die Frauen nicht an der Reihe zu sprechen; dennoch war Federkleid nicht überrascht, als die Ungeduldige - Uapeani-kazonkansi-a-lari, Tochter von Ältester Onkel - lachte. »Was für schöne Reden ihr schwingt!«, rief sie. »Sollen wir demjenigen zujubeln, der uns mit der schönsten Poesie aufspießt?« Die beiden Männer wurden rot. Derart ihrem Spott ausgesetzt, veränderten sie ihre Haltung und vereinigten sich gegen sie. In früheren Jahren hatte die Ungeduldige mit beiden geschlafen und beide wieder verworfen; und auch wenn die beiden aufeinander eifersüchtig waren, war dieses Gefühl bedeutend geringer als die Verstimmung über Uapeanis Gleichgültigkeit. »Ihr streitet über einen Krieg«, sprach sie weiter. »Aber mit Waffen wird sich diese Schlacht nicht gewinnen lassen.« »Wir müssen kämpfen!«, erklärte Katzenmaske. »Ob wir unsere Streitkräfte zusammenziehen oder aufteilen, wir müssen zum Kampfbereit sein«, stimmte Echsenmaske ihm zu. Sie schnaubte. »Sie sind viele - und wir sind wenige. Darüber hinaus sind die Menschen nur eine der Gefahren, mit denen wir es zu tun haben. Wir können noch immer großen Schaden erleiden, wenn der Tag kommt - der schon nahe ist!« Als sollte ihrer Aussage ebenso viel Nachdruck verliehen werden, wie Katzenmaske seine Worte betont hatte, indem er mit dem Speer auf den Boden geklopft hatte, erzitterte das 4 Land unter ihnen. Das Vibrieren erinnerte an ein Erdbeben, aber es war die Erschütterung des Landes, das nach seinesgleichen rief, das inmitten der Wellen des Äthers, die es umgaben, seine Heimat suchte. Es ging geradewegs durch Federkleids Körper hindurch. Ihr Mutterleib verkrampfte und entspannte sich im gleichen Rhythmus. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, wusste, dass ihre Zeit bald gekommen war, ebenso wie der Tag, den sie so lange erwartet hatten. Was auseinandergerissen worden war, würde wieder an seinen Ruheplatz zurückkehren, und die Ashioi, verflucht und vertrieben, würden heimkehren.
Nun, da die Ungeduldige außer der Reihe geredet hatte, sprachen viele, und alle auf einmal. Frieden. Krieg. Beschwichtigung. Verhandlungen. Jede Sichtweise hatte ihre Anhänger, aber jene, die nach Krieg schrien, waren am lautesten. »Ich werde sprechen«, sagte Federkleid. Die anderen verstummten, sogar die Ungeduldige. »Hört gut zu. Wenn wir nicht mit einer Stimme sprechen, werden wir ganz bestimmt untergehen. Wir haben keine Zeit mehr, um zu streiten. Eine Entscheidung muss gefällt werden, und so werde ich es tun. Auf diese Weise soll es geschehen: Lasst das Volk sich im Landesinneren versammeln, wo es auf die größte Sicherheit hoffen kann. Aber es soll sich in dreizehn einzelne Gruppen aufteilen, damit die anderen entkommen können, wenn eine in Gefahr gerät. Katzenmaske, du wirst unsere Krieger in zwei Gruppen aufteilen. Die größere Gruppe wird mit dir an einem Ort deiner Wahl bleiben, wo du dich rasch bewegen und gut kämpfen kannst. Echsenmaske, du wirst die Übrigen in kleine Gruppen einteilen, die die Grenzgebiete bewachen und die anderen warnen, wenn irgendwelche feindlichen Kräfte unsere Grenzen überschreiten. Der Rat wird sich mit den anderen verteilen. Ich werde hierbleiben, bis der Sturm vorüber ist. Weißfeder wird als meine Hebamme bei mir sein. Für die Übrigen gilt, dass wir uns darauf vorbereiten müssen, uns zu verteidigen, aber erst nach dem Sturm werden wir wissen, wie unsere Lage ist und 5 wie viele überlebt haben. Wir werden uns dann wieder versammeln, um unsere weiteren Schritte zu erwägen. Ich habe gesprochen. Niemand soll meine Worte in Zweifel ziehen.« Sie hatte nur ein einziges Mal zuvor ihr Recht in Anspruch genommen, allein eine Entscheidung zu treffen. Kein weiser Anführer tat so etwas oft. Sie seufzte unter ihrer doppelten Bürde, als die Ratsmitglieder sich ihren Worten fügten. Die meisten gingen schnell weg, um ihre Anordnungen auszuführen. Ein paar zögerten, unterhielten sich leise; ihre Stimmen hallten schwach durch die Höhle. Nur Ältester Onkel, der auf dem zweiten Absatz saß, verharrte dort stumm, die Beine überkreuzt. »Du hast deine Meinung nicht gesagt, Onkel«, bemerkte sie. »Er hat keine Meinung«, erwiderte seine Tochter; sie brach das Gespräch mit ihrer Kameradin Weißfeder ab, die genau wie sie schroff, aber stark war. »Er hat sich in die nackte Gefährtin seines Enkels verliebt, die von allen Männern begehrt wird, weil in ihr das Feuer der oberen Sphären brennt.« Ältester Onkel seufzte. »Stimmt das?«, fragte Federkleid. »Ich gebe zu, dass ich überrascht war, als du sie vor den Rat gebracht hast. Sie ist gefährlich - und wie alle gefährlichen Dinge hübsch und klug.« »Sie ist jung, und sie musste unterrichtet werden. Wenn ihr Frauen an nichts als das körperliche Verlangen denken könnt, ist das nicht mein Fehler.« »Mein Vater und mein Sohn - beide ihre Sklaven! Was sagst du dazu, Federkleid?« »Ich habe sie verbannt, als ich gesehen habe, was sie war. Abgesehen von der Gefahr, die sie aufgrund dessen, was sie ist, für jedes irdische Wesen darstellt, sehe ich kein Übel in ihr.« »Du bist eine Närrin!« Federkleid lächelte, legte die Hände auf ihren riesigen Bauch. »Mag sein. Und du bist vielleicht eifersüchtig.« Ältester Onkel kicherte. Die Ungeduldige starrte finster drein. 5 »Aber ich sitze auf dem Adlersitz. Wenn du mein Recht bestreiten willst, diesen Platz innezuhaben, wirst du beweisen müssen, dass du würdiger bist als ich.« Wie alle Erwachsenen ihres Volkes konnte Federkleid einen Bogen benutzen und hatte gelernt, sich mit Messer und Stab zu verteidigen, aber die Ungeduldige hatte Gefallen an den Künsten des Krieges gefunden, in denen alle Jugendlichen unterrichtet wurden. Sie war körperlich stark, hatte kräftige Glieder und besaß eine kämpferische Anmut, die sie einsetzen konnte, um zu beschützen oder zu bedrohen, wie sie es auch jetzt tat. Sie war angespannt und vollkommen im Gleichgewicht - eine Kriegerin, die bereit war, einen Speer auf ihre Feindin zu schleudern. »Ich bin in den Sphären gewandelt! Verhöhne nicht meine Macht!«
»Ich verhöhne dich nicht. Aber ich fürchte dich auch nicht. Macht ist nicht Weisheit. Es ist nur Macht. Wenn Katzenmaske übereilte Entscheidungen trifft, können er und seine Krieger uns nicht beschützen. Wir sind durch unser Exil geschwächt. Wir wissen nicht, was wir noch zu erdulden haben, deshalb rate ich zur Vorsicht. Du selbst hast dich gegen Waffengewalt ausgesprochen.« »Aber nur, weil sie so viele und wir so wenige sind. Wir müssen schnell zuschlagen, mit anderen Mitteln. Ihre größten und grausamsten Krieger können mit Zauberei besiegt werden. Ich habe sogar die wilden Tiere abgewehrt, die bei ihnen hausen und die mich fast in Stücke gerissen hätten.« »Sei vorsichtig«, sagte Ältester Onkel ruhig. »Wir haben gesehen, wie viel größer das Leid ist, wenn Zauberei angewandt wird, um Schaden anzurichten.« »Du denkst, wir sollten uns ergeben!« »Tue ich das? Wir müssen Frieden suchen.« »Frieden ist dasselbe wie sich ergeben! Die Menschheit wird uns niemals den Frieden anbieten.« »Wie kannst du das wissen, Tochter?« 6 »Ich kenne sie besser als du! Ich habe bei ihnen gelebt. Ich habe für einen von ihnen ein Kind ausgetragen.« Sie sah Federkleid trotzig an. »Sie sind nicht wie wir. Sie werden niemals Frieden mit uns schließen. Mein Sohn ist bei ihnen als Ausgestoßener aufgewachsen, und dennoch haben sie ihn zu ihrer Lebensweise verführt.« »Es wäre besser gewesen, wir hätten ihn gemäß unseren Traditionen aufgezogen«, erklärte Ältester Onkel, »statt ihn dort zurückzulassen.« »Ja, das hast du gesagt! Aber es war entschieden worden, den Weg der Beschwichtigung zu gehen - und zwar durch die Geburt eines Kindes, das sowohl ihr Blut als auch das unsere besitzt. Dieser Plan ist gescheitert!« »Ist er das?« »Siehst du das anders? Wie kannst du das wissen? Du bist seit den alten Tagen nicht mehr auf der Erde gewandelt, und die alten Tage sind bei der Menschheit in Vergessenheit geraten. Sie erinnern sich nur noch in Geschichten an uns - an einen uralten, lange verbannten und besiegten Feind. Oder ist es die Erinnerung an die Strahlende, die dich blendet, so dass du keinen Krieg gegen sie führen willst?« »Es zeugt von schlechtem Benehmen, wenn eine Tochter so unhöflich mit ihrem Erzeuger spricht«, bemerkte Federkleid. »In deinen Worten mag Wahrheit enthalten sein, aber dein Verhalten gibt uns Grund, dir mit Zweifeln zu begegnen.« »Ihr seid wirklich Narren!« Die Ungeduldige schnippte mit den Fingern, und einer der jungen Krieger, die vor dem aus der Höhle führenden Gang gewartet hatten, tauchte auf. »Dennoch ist es möglich - nur möglich -, wenn sie nicht tot sind, sondern einfach nur zwischen den Welten gefangen ...« Sie grinste, sprang die Stufen hinauf und verschwand in der Dunkelheit. Der junge Mann folgte ihr dicht auf den Fersen. »Wer ist tot?«, fragte Weißfeder. »Wir sind gefangen zwischen den Welten«, sagte die ältliche Frau namens Grünrock. »Was führt sie im Schilde?« ±6 »Sie wird versuchen, noch einmal schwanger zu werden«, sagte Weißfeder. »Sie will den Adlersitz. Sie wird ihn dir wegnehmen, wenn sie kann.« Federkleid hatte viele Prüfungen in ihrem Leben überstanden - wie alle, die im Exil lebten. Sie lächelte, spürte das vertraute Zupfen der Müdigkeit an ihrem Herzen, das nur von der Erinnerung an das Gelächter aufgelockert wurde, das sie einst mit der Ungeduldigen verbunden hatte, als sie noch Mädchen gewesen waren. »In den alten Tagen«, sagte sie, als die letzten Mitglieder des Rates sich um sie versammelten, »haben wir eine Anführerin nicht einfach nur aufgrund ihrer Fruchtbarkeit gewählt. Es ist eine Schande, dass es so weit gekommen ist.« Sie tätschelte ihren Bauch. Muskeln spannten sich unter ihrer Hand. Die Haut wogte, als das Kind in ihrem Innern sich umdrehte wie eines der legendären Merwesen unter Wasser.
»Wie hat sich die Welt verändert?«, fragte sie die anderen, bedachte sie nacheinander mit einem Blick: Ältester Onkel, Grünrock, den alten Krieger Schädelohrring, Weißfeder, die ihr als Hebamme zur Seite stehen würde. Diesen vier vertraute sie am meisten, denn sie waren ehrlich, ausgeglichen und taten es kund, wenn sie nicht mit ihr übereinstimmten. Sie waren ihr Frühling, Winter, Herbst und Sommer. »Wir wissen nicht, was wir auf der Erde vorfinden werden, wenn wir zurückkehren, denn niemand von uns ist in dem Land gewandelt, das es jetzt ist. Niemand außer der Ungeduldigen.« »Uapeani-kazonkansi-a-lari ist in den Sphären gewandelt«, sagte Weißfeder. »Sie hat ihr Leben riskiert, um zu erfahren, was notwendig war, um den Äther zu durchqueren und zur Erde zurückzukehren. Wir sollten ihre Worte nicht leichtfertig beiseite schieben, nur weil sie nicht mit ihrem Vater einig ist.« Ältester Onkel kicherte. Grünrock verabscheute Unsinn wie alle älteren Frauen. Sie reckte scharf das Kinn, um zu zeigen, dass sie anderer Meinung war. »Dass sie sich weigert, den Älteren zuzuhören, ist genau das, was ihre Ansichten verdächtig macht. Sie ist voreilig.«
7 Schädelohrring verschränkte die Arme vor der Brust. Er war einmal ein kühner, ungestümer und ungeduldiger Krieger wie Katzenmaske gewesen, aber das Alter, der Hunger und die Verzweiflung hatten an ihm gezehrt. Er war wie altes Gold, das zu einem weichen Glanz poliert war. »Zuerst sollten wir das Bevorstehende überleben. Wir wissen nicht, was uns erwartet, abgesehen von dem, was die Strahlende uns erzählt hat: dass unsere alten Feinde, die Pferdemenschen, und ihre menschlichen Verbündeten noch leben und dass sie uns für immer vertreiben wollen. Falls wir überleben, können wir Späher ausschicken, die das Land erkunden sollen. Falls wir ein zweites Mal verstoßen werden, werden wir es nicht überleben, sondern ganz gewiss sterben. Was können wir tun?« »Wir können nichts tun«, sagte Ältester Onkel. »Wir müssen uns einen Unterschlupf suchen und hoffen, dass die Sturmwinde uns verschonen.« »Es muss aber etwas geben, das wir tun können!«, rief Weißfeder. »Sind wir denn Ziegen, die sich vom Schäfer zusammentreiben und schlachten lassen, wenn es Zeit ist, Fleisch zu bekommen?« »Jetzt - in diesem Augenblick - sind wir hilflos«, sagte Ältester Onkel. »Es ist keine Schande, diese Wahrheit anzuerkennen, denn so ist es. Ich stimme mit meinem Neffen überein.« Er machte eine Handbewegung in Richtung Schädelohrring. Der andere Mann lachte. »Nach so vielen Jahren ist es gut, dass wir endlich übereinstimmen, Onkel!« Der alte Mann lächelte, aber Federkleid sah, dass dieses Lächeln nicht von Herzen kam. »Ich werde bei der Lichtung warten, auf der der brennende Stein erscheint«, sagte er. »Das ist am Rand des Landes«, wandte Federkleid ein. »Die Wogen könnten über dich hinwegfluten. Du wirst in Gefahr sein.« »So wie du hier, Federkleid.« »Ich kann den Adlersitz nicht verlassen. Ich brauche dich bei mir. Ich fühle mich dann ruhiger.« 7 Er zuckte mit den Schultern; er wusste, dass sie recht hatte, wusste, dass sie als Anführerin keine Ruhe haben würde. Der Adlersitz war eine ebenso schwere Bürde wie die Schwangerschaft. »Dennoch muss ich dort warten, für den Fall, dass -« Weißfeder schnaubte. »Für den Fall, dass die Strahlende auftaucht? Vielleicht spricht deine Tochter die Wahrheit, Onkel. Du hast den Geist eines jungen Mannes im Körper eines alten Mannes.« »Das ändert sich niemals!«, entgegnete er, aber er fühlte sich von ihrer Aussage nicht beleidigt. Die anderen lachten. »Ich bin der Älteste. Ich werde in dieser Sache tun, was ich tun will. Ich werde sehen, was ich sehen will. Wenn die Wogen mich überwältigen, dann sei es so.«
Ein Krampf erfasste Federkleid. Wie als Echo erzitterte die Erde, und die Erschütterungen hörten nicht auf, bis sie bemerkte, dass sie angestrengt atmete und mit den Händen die Adlerflügel umklammerte. Weißfeder kniete neben ihr nieder. »Es ist bald so weit.« Sie winkte Grünrock, die nickte und zur Tür ging, um einer Kriegerin, die dort wartete, ein paar Anweisungen zu geben. Es war eine junge Frau mit einer Fuchsmaske, die sie nach hinten geschoben hatte. Das Mädchen rannte los, um Wasser zu holen, während Weißfeder Kohlen aus einem hohlen Stab schüttete und ein Feuer entfachte. Schädelohrring holte den Geburtsstuhl. All dies emsige Treiben und weitere Krämpfe lenkten Federkleid ab. Sie nahm kaum wahr, dass Ältester Onkel sich verabschiedete, ebenso wie die zwei jungen Krieger, die ihm folgten. Als sie sich das nächste Mal in der Kammer umsah, waren alle drei verschwunden. Als die Krämpfe heftiger wurden und häufiger kamen, war sie nicht mehr in der Lage zu unterscheiden, welche Kräfte an ihrem Körper zerrten oder welche das Land erzittern ließen. So viele Bürden; so viel Erschöpfung, so eine große Prüfung. Sie 8
musste loslassen. Sie hatte keine Möglichkeiten mehr einzugreifen. Alles, was sie jetzt noch tun konnte, war es auszuhalten. Alles, was sie jetzt tun konnte, wann immer die stechenden, brennenden Schmerzen es zuließen, war zu Sharatanga zu beten, Jene-Die-Keinen-Mann-Haben-Wird. »Führe uns durch diese Geburt und diesen Tod. Gib uns deinen Segen.« War dies ihre Stimme oder die von Weißfeder? Oder sprach Grünrock, deren grüne Perlen und kleine, weiße Schädelmasken aneinanderklackerten, wann immer sich die alte Frau bewegte? Murmelte sie Worte, oder ächzte und stöhnte und fluchte sie nur, während die Eröffnungsschmerzen kamen und gingen? Jenseits ihrer Haut spürte sie schwach die Haut des Kosmos, die die Erde umhüllte - wie sie sich einer Blume gleich öffnete, um das in Empfang zu nehmen, was jetzt zu ihr zurückkehrte: das ausgestoßene Land. Gewaltige Kräfte bewegten sich in den Tiefen. Das Meer wütete auf der Oberfläche, und die Winde heulten, während sich tief unten in den Höhlen Flüsse aus Feuer verlagerten und ein neues Gewirr aus Gängen erschufen. Die Erde heißt uns willkommen. »Still«, sagte Weißfeder. »Behalte deinen Atem, damit du pressen kannst.« »Höre auf das, was Weißfeder sagt!«, wandte Grünrock ein. »Sie sieht, was wir nicht sehen können.« Der Schmerz der Öffnung verwandelte ihr Bewusstsein, während das Kind nach draußen drängte, bereit zum Geboren werden war. Doch was an ihr zerrte, war nicht der Schmerz, sondern die Unausweichlichkeit. Jetzt wurde das ausgestoßene Land zurück an den Platz gezogen, von dem es gekommen war, wo es immer hingehört hatte. Jetzt würde das Kind geboren werden, denn Kinder mussten geboren werden, wenn sie einmal diese Reise begonnen hatten. Vier kümmerten sich um sie: Weißfeder, Schädelohrring, 8
Grünrock und die fuchsmaskige junge Kriegerin, ein ernstes Mädchen, das jeden finster anstarrte, während es hin und her rannte, um das zu tun, was ihm aufgetragen wurde. Sie wusste dies, nicht weil sie darauf achtete, sondern weil sie alles wusste. Die lebendige Seele, die dem Kosmos innewohnt und ihn und alle Dinge mit Leben versorgt - sogar jene, die tot zu sein schienen -, wurde für sie jetzt deutlich erkennbar. Sie sah das Pulsieren aller Dinge bis hinunter in die kleinsten Einheiten. Sie sah die Weite der Himmel, die sich in einem unendlichen Bogen erstreckten, dessen nicht zu ergründender Horizont sie verwirrte. Dem ausgestoßenen Land war diese Seele fast ausgesaugt worden. Vom nährenden Mutterleib getrennt, war es verkümmert, als das Wogen der heiligen Anwesenheit verebbt war. Jetzt hatte das lebenssprühende Netz, das die Erde umgab, sie verschluckt, und während das Kind in ihrem Bauch aus seinem Schutz gestoßen wurde, wurden sie in das alte Nest gezogen, in dessen Struktur noch immer die Erinnerung an den Platz wohnte, den sie einst darin eingenommen hatten. Der glitschige Körper eines Kindes fiel in Weißfeders wartende Hände.
Sie stöhnte, aber vielleicht war es auch die Erde, die in einer Tonlage knirschte, die fast zu tief war, um wahrgenommen werden zu können. »Noch eins!«, rief Grünrock entsetzt. »Zweimal gesegnet! Zweimal verflucht!«, sang Weißfeder, die das erste Kind den wartenden Händen von Schädelohrring übergab, damit sie das zweite ungeduldige Kind übernehmen konnte. Federkleid presste, als die Welt erneut geboren wurde, als die Weißstraße ins Dasein flackerte, ein so helles Band, dass es leuchtete, während die Erde jenseits der Grenzen des Landes der Ashioi barst. Feuerstürme wüteten und Sturmwinde peitschten das Land. Und doch geschah all dies so weit weg vom Herzen des Mahlstroms, dass ihre Wahrnehmung des Kosmos ebenfalls verblasste und sie nur noch müde war. So müde. 9
»Zwei Mädchen!«, sagte Schädelohrring, der das erste zärtlich in den Armen wiegte. »Die Götter sind uns wohlgesonnen !« Sie glitt die lange Straße der Erschöpfung entlang und sank in den Schlaf. Nördlich des Landes ist die Zerstörung so vollständig, dass das Land dampft. Ist diese verwüstete Ödnis, in der sie nichts als Rauch und Ruinen erkennen kann, durch ihre Rückkehr entstanden? Nein, jenseits der Narbe liegt ein Land, das von Feuer heimgesucht wird, vom Wind und von tobenden Meeren, von großen Verlagerungen in der Erde selbst, von Tumulten, aber es ist nicht tot. Sie sieht jetzt, was dazu geführt hat, dass das Land gleich jenseits der Weißstraße von geschmolzenem Felsgestein umhüllt ist. Die Strahlende wandelt in der Ödnis. Sie hat sie erschaffen - mit der Macht, die ihr innewohnt, dem Fluch, den sie vom Volk ihrer Mutter empfangen hat. Sie ist nackt und trägt nur einen Bogen bei sich, der die magische Essenz von Greifenknochen verströmt... die hell strahlt... Sie stöhnte und wurde wach, blinzelte gegen ein Licht an, das sie nicht erkannte. »Oh!« Sie schützte die Augen. »Was ist das?« »Er-Der-Brennt!«, rief Grünrock. »Das ist die Sonne. Seht nur, wie sein Licht scheint!« Sie deutete auf das Dach der Höhle, wo ein gelber Schimmer die Pflanzenwurzeln beleuchtete, die von den bröckelnden Schrunden aus Erde hingen. Schädelohrring trat vor, mit Weißfeder an seiner Seite. »Hier sind deine Töchter«, sagte er und zeigte die dunklen Säuglinge. Weißfeder nickte. »So klein. So vollkommen.« Weinend küsste sie sie. »Sie werden niemals das Exil kennenlernen. Wir sind nach Hause zurückgekehrt.«
Teil Eins
Die Flut der Zerstörung 1 Als die Erde zu zittern begann, ließen die Gefangenenwärter ihn einfach in der Ruine des alten Klosters zurück, neben der deckenlosen Kirche und dem Steinturm. In seinem Käfig im hinteren Teil des Wagens sah er benommen zu, wie die Pferde und Ochsen sich aufgeschreckt durch das unnatürliche Wetter aufbäumten. Am Ufer der Meerenge von Osna zog sich das Wasser weit zurück - viel weiter, als es gewöhnlich bei Ebbe der Fall war -, so dass unterhalb des Drachenrücken genannten Kamms der Meeresboden und eine Reihe scharfer Felsen zum Vorschein kamen. Der Himmel war eine einzige Masse aus Blitzen, die die Sterne verhüllten, aber das Licht war unheimlich, weil ihm keinerlei Donner folgte. Stille senkte sich wie angehaltener Atem über das Land, hing wartend in der Luft. Bald. Die Stille wurde von einem lauten Grollen durchbrochen, als der Boden erbebte. Der Wagen stürzte um. Der Pfosten, an den Alain gekettet war, zerbrach, als er auf den Boden prallte. Unter lautem Ächzen fiel der Steinturm in einer Staubwolke in sich zusammen, die ihn beinahe erstickte, als er wie ein auf
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Eine Vision des Endes dem trockengelegten Meeresboden gestrandeter Fisch dalag und nach Luft schnappte. Die Staubfahne wurde rasch vom stärker werdenden Wind verjagt, aber der Boden bebte noch immer. Mit ohrenbetäubendem Krachen zerbarst der Drachenrücken. Ganze Felsschichten stürzten in die Meerenge hinunter. Die Erde bewegte sich grollend, als der Drache zum Leben erwachte. Sein Schwanz zuckte wild hin und her, zerschmetterte Bäume. Erdlawinen schössen hinunter zum Meer, löschten die alte Uferlinie aus, als seine Flanke sich hob. Das Wesen reckte eine Klaue, setzte sie hart auf den Boden - und rief damit ein neues Beben hervor. Es hob den riesigen Kopf und starrte zum Himmel hinauf, ließ ihn dann herumschnellen. Alain, der immer noch angekettet war, konnte nur zusehen, als der Kopf sich senkte und knapp vor dem Käfig innehielt, um ihn ebenfalls anzustarren. Mit einem einzigen Biss hätte der Drache sowohl den Wagen als auch ihn verschlingen können. Alain kämpfte sich auf die Knie, um ihm ins Auge zu sehen, obwohl er seine ganze Kraft dafür aufwenden musste. Die Schuppen schimmerten golden. Die Augen glänzten wie Perlen. Das Erwachen war nicht spurlos an dem Drachen vorübergegangen: An seinem Bauch war ein Schnitt, und aus der Wunde fiel zischend ein Tropfen aus hellem, heißem Blut, besprenkelte ihn. Die Berührung brannte sich in sein Herz, doch nicht mit Hitze, sondern mit Wahrheit. Mein Herz ist die Rose. Jedes Herz ist die Rose des Heilens, das Barmherzigkeit kennt und sie erblühen lässt. Der Drache blinzelte, stieß zischend eine Dampfwolke aus, legte den Kopf in den Nacken und öffnete die riesigen Schwingen, deren Schatten das gesamte Klostergelände bedeckte. Er hockte sich auf die Hinterbeine, einen Atemzug lang, zehn Atemzüge, hundert Atemzüge, als horchte er auf etwas, als würde er warten. Eine Windböe peitschte heulend aus Südwesten heran, ent 10 wurzelte Bäume auf ihrem Weg. Als sie das Kloster erreichte, stieß der Drache sich ab. Alain stürzte; er würde nie erfahren, ob es der Sturm gewesen war, der ihn zu Boden geschleudert hatte, oder der von dem Drachen verursachte Luftzug. Der Schatten verschwand. Unterhalb von Alain wütete das Meer gegen die Felsen. Die Sterne über ihm waren erloschen. Alles, was er vom Himmel sehen konnte, waren ein wirbelnder Schleier aus Staub, Asche und zerfetzten Blättern und die verblassenden Funken eines gewaltigen Zaubers. Noch immer war ein Tosen zu hören, wurde noch lauter, und bevor er begriff, was es war, schwappte eine salzige Woge über ihn hinweg. Die Ketten hielten ihn unter Wasser, während er in der Brandung herumwirbelte, darum kämpfte, zur Oberfläche zu gelangen. Während er ertrank, sah er in einer Vision, wie sich das Land entfaltete. Er sah, wie der Zauber sich verhedderte und zusammenbrach. Er sah, wie das Land der Ashioi aus dem Äther auftauchte und an den Platz zurückkehrte, von dem es vor so langer Zeit gekommen war. Er sah, was im Kielwasser des Zaubers folgte: Entlang der gesamten westlichen Küste des Stiefels von Aosta erwacht eine Kette von Vulkanen zum Leben. Lava schießt aus der Erde. Leider brechen auf, als sich gähnende Abgründe unter ihnen öffnen. Ein unaufhaltsamer Strom aus Schlamm und Asche begräbt Dörfer und mit ihnen die Menschen, die darin wohnen. Es gibt keine Warnung, es bleibt keine Zeit zur Flucht. Das Wasser des Mittleren Meeres, vom zurückkehrenden Land verdrängt, wogt in riesigen konzentrischen Kreisen nach außen. Die Wellen überschwemmen ferne Küsten, ertränken die Ufer. Entlang des nördlichen Meeres fließen Flüsse rückwärts, und Häfen trocknen aus, während das Land ächzt und sich verlagert, sich gerade mal eine Fingerlänge hebt, als das Gewicht, das sich im Süden niederlässt, den ganzen Kontinent zur Seite neigt. 10 Erdbeben erschüttern das Land. Der Sturm, der über die Erde hinwegfegt, verliert sich in der Wildnis zwischen geistlosen Tieren. Tief in der Erde rennen Kobolde durch uralte Labyrinthe, suchen ihre verlorenen Hallen. Draußen im Meer tauchen die Merwesen tief hinab, um dem Sog zu entkommen. Im fernen Grasland
suchen die Pferdemenschen Schutz in den Höhlen ihres Landes. Die Magie der Geheiligten schützt sie vor dem Schlimmsten, während das Leben aus ihr heraussickert. All dies sieht er, während er im Wasser kämpft. Er sieht, und er versteht: Jene, die in der alten Zeit am meisten Schaden erlitten haben, überstehen den Sturm jetzt mit am besten. Es ist die Menschheit, die am meisten leidet. Vielleicht hat Li'at'dano gehofft oder vorgehabt, dass das Weben schließlich jene am meisten schädigen würde, die die größte Bedrohung für ihr Volk darstellten: die Verfluchten und ihre menschlichen Verbündeten. Vielleicht hatten die WeisMütter vermutet, dass die Menschheit die größte Wucht des Rückpralls abbekommen würde. Vielleicht hatten sie keine andere Möglichkeit, als zu tun, was sie getan hatten, in dem Wissen, dass der Gürtel bereits verdreht war und der Pfad sich klar und deutlich vor ihren Füßen erstreckte. Sie sprechen durch Stein und Wasser zu ihm, obwohl das salzige Meer ihre Stimme fast ertränkt. Es. Ist. Getan. Du. Hast. Uns. Gerettet. Er schnappt nach Luft, aber er schluckt nur Wasser. Die Verbindung zwischen ihnen bricht so abrupt ab, als hätte sie nie existiert. Gefangen im Rückstrom brach er plötzlich durch die Wasseroberfläche, und er wedelte mit den Armen und keuchte, würgte und hustete, während die Strömung ihn zum Meer mitriss. Die Kette hielt ihn jedoch am Boden fest. Der Wagen, verkeilt zwischen umgestürzten Steinen, hatte ihn gerettet, nachdem er ihn die ganze Zeit gefangen gehalten hatte. Alain lag da, zu benommen, um sich zu rühren. 3° Schließlich drang Tageslicht durch den Schleier aus Asche und Staub. Nach einiger Zeit begriff er, dass er am Leben war und dass die Welt, so unmöglich es auch schien, überlebt hatte. Das große Weben, das Adica vor so langer Zeit mit ihren Kameradinnen begonnen hatte, war endlich beendet worden. Der Zauber war wieder dorthin zurückgekehrt, von wo er gekommen war. Die Verlorenen waren aus ihrem Exil zurückgekehrt. Er hatte beides gesehen, den Anfang und das Ende, allerdings war das Ende natürlich selbst ein Anfang. Aber er war nicht allein in der Ruine, wie er geglaubt hatte. Die Hunde kamen und mit ihnen sein Stiefvater Henri. »Wohin gehen wir?«, fragte Alain. »Nach Hause, mein Sohn. Wir gehen nach Hause.«
2 Weil der Kamm durch das Erwachen des Drachen vernichtet worden war, entpuppte sich der Rückweg als schwierig und mühsam, denn sie mussten durch ein Gewirr aus Felsbrocken, umgestürzten Bäumen und von der Flut herangeschwemmtem Unrat nach Hause wandern. Schließlich versagten Alains Beine ihren Dienst, und seine Kräfte verließen ihn. Er konnte kaum noch atmen. Sobald sie einen richtigen Weg erreichten, musste Henri ihn tragen und immer wieder Pausen einlegen, um sich auszuruhen. »Du bestehst nur noch aus Haut und Knochen«, sagte Henri bei einer dieser Pausen. Er saß schwitzend auf einem glatten Birkenbaumstamm, den der nächtliche Sturm entwurzelt hatte. Alain lag zusammengerollt auf dem Boden, denn er hatte nicht die Kraft, aufrecht zu sitzen. Die Hunde stupsten ihn unruhig an. »Du wiegst nicht mehr als ein Kind. Ich werde es
3* Edelmann Jeoffrey nie verzeihen, dass er dir so etwas angetan hat. Es ist eine Sünde, einen anderen Menschen so grausam zu behandeln.« Er war zu schwach, um zu antworten. Es schien ihm, als hätte die Dämmerung eingesetzt, aber vielleicht lag das nur daran, dass Wolken den Himmel bedeckten. Henri seufzte. »Du stinkst auch, mein Sohn. Pfui!« Die Zuneigung, die in seiner Stimme mitschwang, brachte Alains Lippen zum Zittern, aber es gelang ihm nicht zu lächeln. So lange hatte er ausgehalten. Und jetzt, da er in Sicherheit war, starb er möglicherweise, weil er zu dünn geworden war. Er wollte weitergehen, aber er hatte keine Kraft mehr. »Kommt schon, Jungs, rückt beiseite.«
Henri hob ihn mühelos hoch, nahm ihn auf den Rücken, so dass Alains Kopf an seiner Schulter ruhte, während er weiter stapfte. Eigentlich hätten sie durch Osna kommen müssen, aber offensichtlich hielt Henri sich an die Waldwege, die um das Dorf herum und auf die breite südliche Straße führten. Viele Bäume waren umgestürzt, der Boden von Zweigen übersät. Es war still, kein Vogel brachte ihnen ein Ständchen, und nicht eine einzige andere Menschenseele begegnete ihnen an diesem Morgen danach. Als die Straße sich gabelte, bog Henri nach rechts auf einen schmaleren Weg ab, der sich zwischen Eichen und Silberbirken, Ahornbäumen und Buchen hindurchwand. Vor langer Zeit war Alain diesen Weg mit Graf Lavastin entlang geritten. Die Erinnerung kam ihm jetzt wie ein Traum vor, nicht wirklicher als sein Leben mit Adica. Alles vorbei, ihm durch den Tod entrissen. Und doch gab es hier noch Leben. Irgendjemand hatte sich um diese Wälder gekümmert, hatte an vielen Stellen Bäume gefällt, um Feuerholz zu bekommen und Boote zu bauen. An anderen Stellen waren rasch wachsende Eschen gepflanzt worden, während die Hälfte der langsam wachsenden Eichen stehen geblieben war. Tief abgeschnittene Weiden, Haselnussbüsche und Weißdornsträucher befanden sich in unterschiedli 12 chen Wachstumsphasen, einige frisch gestutzt, andere bereit, gefällt zu werden. Kummer bellte. Schweine liefen quiekend ins Unterholz davon. »Wer ist da?«, kam ein Ruf von weiter vorn. »Ich habe ihn gefunden!«, rief Henri. Alain hatte nicht die Kraft, den Kopf zu heben, und so sah er das Anwesen erst auftauchen, als der Pfad an abgemähten Wiesen vorbei und zu einem ordentlichen Garten führte, der erst vor kurzem abgeerntet worden war. In zwei Pferchen standen Schafe und zwei Kühe. Gänse schrien, und Hühner stoben auseinander. Es gab sogar ein Pferd und ein Pony, Reichtümer für eine freie Familie, die keine edlen Vorfahren besaß. Menschen waren aus der Werkstatt und dem Haus getreten und starrten ihn und Henri an, aber diejenigen, die er am besten kannte, rannten ihnen auf dem Pfad entgegen. Julien war narbenüber-sät und schlank. Stancy war schwanger; sie hielt ein Kind an der Hand. War die dritte Erwachsene Agnes, so schön und groß? »Das kann unmöglich Alain sein«, sagte Julien. »Diese Kreatur besteht aus nichts weiter als Haut und Knochen.« »Er ist es«, sagte Stancy. »Armer Junge.« Sie wischte Tränen weg. »Er stinkt! Er stinkt!«, jammerte das Kind, versuchte sich loszureißen und wegzurennen. »Er macht mir Angst.« »Still!« Tante Bei trat zu ihnen, musterte ihn eingehend und runzelte die Stirn. »Stancy, schlachte ein Huhn und mach eine Hühnersuppe. Er ist nicht kräftig genug, um feste Nahrung zu sich nehmen zu können. Agnes, ich brauche den großen Zuber, um ihn zu waschen. Draußen allerdings. Julien, schaff Wasser her und sag Bruno, dass er es auf der Feuerstelle der Werkstatt heiß machen soll. Wir werden viel brauchen. Er darf nicht frieren.« Sie stoben auseinander - wie die Hühner, allerdings zielstrebiger. »Gütiger Gott«, sagte Tante Bei. »Was für ein starker Ge12 ruch. Wir werden ihn zweimal waschen müssen, bevor wir ihn ins Haus holen. Ich lasse die Mädchen ein gutes Bett beim Feuer vorbereiten. Er wird den ganzen Winter über bettlägerig sein, wenn er ihn überhaupt übersteht. Er ähnelt mehr einem Geist als unserem süßen Jungen.« »Er kann dich hören.« »Kannst du mich hören, Junge?«, fragte sie. Weil es Tante Bei war, die ihn fragte, zuckte er mit den Lidern und zwang ein Krächzen heraus, aber es war kaum mehr als ein Seufzen. »Es ist ein Wunder, dass er noch lebt, so, wie er misshandelt wurde.« Sie gab ein schnalzendes Geräusch von sich, war deutlich angewidert. »Es ist gut, dass du ihn gesucht hast, Henri.« »Lass ihn nicht sterben, Bei. Ich habe ihm gegenüber schon einmal versagt.« »Ja, du hast dich von deinem Hochmut leiten lassen. Du bist eifersüchtig gewesen.« Henris Schultern bewegten sich unter Alains Brust und verrieten seine Gefühle.
»Nein, es gibt nichts mehr dazu zu sagen«, erklärte Bei. »Lass es gut sein, kleiner Bruder. Was vergangen ist, ist mit der Strömung dahin. Lass ihn in Frieden. Ich werde mich selbst um ihn kümmern. Wenn er überlebt, werden wir weitersehen.« Etwas Feuchtes fiel auf Alains herabhängende Hand. Zuerst hielt er es für einen Regentropfen aus den dunklen Wolken, aber als sie sich weiter in das Gewimmel der Lebenden begaben, begriff er, dass es Henris Tränen waren.
1 Sanglant wusste nur deshalb, dass der Morgen angebrochen war, weil er die aufgehende Sonne hinter dem Dunst riechen konnte, der den Horizont in alle Richtungen verbarg. Asche regnete auf sein Heer herab, während sie durch den versengten Wald zogen und dabei die Verwundeten mitschleppten. Hier und dort brannten Baumkronen. Rauch stieg auf und vermischte sich mit der Asche, die über ihnen dahintrieb. Große Äste knackten und fielen zu Boden, erzeugten immer neue Echos, als der verwüstete Wald um sie herum einstürzte. Sie versammelten sich mit ihren zersprengten Truppen bei der alten Festung, bei der Edelfrau Wendilgard den Tod gefunden hatte. Hauptmann Fulk ließ Soldaten auf den teilweise eingestürzten Mauern Position beziehen, damit sie über die Verwundeten wachten. Der Prinz stand bei der zerstörten Rampe, die früher einmal ein erhöhter Damm gewesen war, der zur Festung geführt hatte, jetzt aber nur noch aus einer Reihe zerbrochener Stufen bestand, die mit Steinen und Waffen übersät waren und auf denen vier tote Männer lagen. Die letzten überlebenden Soldaten, die den Befehl zum Rückzug gehört hatten, tauchten mitgenommen und humpelnd zwischen den Bäumen 13
II
Das Glück des Königs auf und nahmen ihre Plätze auf der Lichtung ein. Dicht gedrängt, müde und verängstigt warteten alle auf seine Befehle. Etwa zweitausend Soldaten waren ihm noch von den beiden Heeren geblieben, die - als sie sich noch als Gegner gegenübergestanden hatten - jeweils gut und gern doppelt so groß gewesen waren. Von seiner Leibgarde, die einmal mehr als zweihundert Mann gezählt hatte, waren noch etwa vierzig Männer am Leben. Jeder von ihnen hatte sich mindestens eine Verletzung zugezogen, manche davon nur geringfügig, ein paar jedoch zweifellos tödlich. Links von ihm wartete Capi'ra mit ihren Zentaurinnen, die den Sturm besser überstanden hatten als die meisten anderen, sowie ein Rest qumanischer Soldaten. Henrys zahlenmäßig überlegenes Heer hatte den geflügelten Reitern auf dem Schlachtfeld übel mitgespielt, aber sie hatten seinem Druck standgehalten. Es war in einem erheblichen Maß ihrem Mut und ihrer Willenskraft zu verdanken, dass Sanglant während dieser Schlacht ebenso viele Soldaten gerettet hatte wie während des verheerenden Rückzugs der ersten Schlacht, als Henrys Streitkräfte ihn gleich zu Beginn überrannt hatten. Von den Edelleuten, die ihn von Wendar und den Marklanden hierher begleitet hatten, waren ihm nur noch zwei Befehlshaber geblieben: Edelmann Wichman und Hauptmann Istvan, der Ungrianer. Edelmann Druthmar war auf dem Schlachtfeld geblieben, obwohl niemand gesehen hatte, wie er gefallen war, und die übrigen Hauptleute und Edelleute hatte Sanglant längst aus den Augen verloren. Sie mochten sich ebenso gut irgendwo im Wald verbergen wie unter den Toten befinden. Henrys Heer hatte sich rechts von ihm aufgestellt: Herzogin Liutgard und ihre Reiterei aus Fesse, Herzog Burchard und seine Avarianer - zu denen auch die überlebenden Männer seiner Tochter Wendilgard zählten - sowie weitere Soldaten aus Sao-ny und den Herzogtümern von Varre. Der schreckliche Sturm und die Wucht des brennenden Windes hatten Henrys Heer so schwer getroffen wie sein eigenes. 13 Es ist nicht mehr Henrys Heer. Henrys Leiche lag quer über Fests Sattel. Sanglant hielt die Zügel in der Hand. »Eure Majestät.« Hathui verneigte sich vor ihm. »Was nun?«
»Wo ist Zuangua?«, fragte er und ließ seinen Blick über das Gelände schweifen. »Ich sehe hier keinen Ashioi.« »Sie sind nicht mit uns hierher zurückgekehrt, Prinz Sanglant«, sagte Lewenhardt. Dann berichtigte er sich. »Eure Majestät.« Wie die anderen starrte der junge Bogenschütze vor Asche, Dreck und Blut. Asche rieselte als ein gleichmäßiger Regen auf sie herab, der trotz der vielen Geräusche zu hören war, die das Heer verursachte - die weinenden und sprechenden Menschen, die unruhigen Pferde, die wenigen bellenden Hunde und die auf der Schicht aus Staub und Asche knirschenden Wagenräder. »Sie sind zwischen den Bäumen in Richtung Meer verschwunden, über den alten Pfad, den sie auch vorher benutzt haben. Ich weiß nicht, wohin sie gegangen sind.« »Ich weiß es«, sagte Sanglant. »Sie haben uns verlassen und sind nach Hause zurückgekehrt. Ich vermute nämlich, dass ihre Heimat aus der langen Verbannung zurückgekehrt ist.« Das Atmen schmerzte. Der Gedanke an Liath schmerzte, die entweder inmitten der Lebenden kämpfte oder an die Toten verloren war. »Hathui, wenn wir ein Feuer machen, könnt Ihr dann durch die Flammen nach Liath suchen?« »Ich kann es versuchen, Eure Majestät.« Er nickte. Sie nahm zwei Soldaten und schritt durch die Dunstglocke hindurch in den Wald, wo gewiss kein Mangel an Holzkohle herrschen würde. Die drei kamen an einer Gruppe erschöpfter Männer vorbei, die zwischen den Bäumen hervorstolperten. Sie waren so vollständig mit Asche bedeckt, dass unmöglich zu erkennen war, welchem Edelmann oder welcher Edelfrau sie vor der Umwälzung gedient hatten. Sie gehörten jetzt alle ihm. Jeder und jede Einzelne. Mit seinem letzten Atemzug hatte Henry Wendar und Varre seinem 14 bevorzugten Kind übergeben, seinem gehorsamen Sohn, dem Bastard, demjenigen, von dem der König sich schon seit langem gewünscht hatte, dass er trotz aller Widerstände in seine Fußstapfen treten würde. »Wir können nicht in die Zukunft sehen«, hatte Helmut Villam einmal bemerkt. Das war eine Gnade, die der Menschheit gewährt wurde, die ansonsten in einem Meer ungewollten Wissens über Umschwünge, Tragödien, unverhoffte Rettungen und die endlosen Widersprüche des Lebens ertrunken wäre. Er erinnerte sich an die Leidenschaft in seiner Stimme, als er damals am Fluss unterhalb des Palastes von Werlida so entschieden mit seinem Vater, dem König, gesprochen hatte. »Ich will kein König sein. Oder Erbe. Oder Kaiser.« Und jetzt war er doch genau das. König und Erbe eines Kaiserreiches, das er sich nie gewünscht hatte. »Was ist mit Euren aostanischen Verbündeten?«, fragte er seine Kusine Liutgard und nickte dabei auch dem alten Herzog Burchard zu. Die Herzogin zuckte mit den Schultern, wischte sich mit einem schmutzigen Handrücken Asche von den Lippen. Ihre Haare waren ebenfalls mit Asche verschmiert, unordentlich und schmutzig; es war unmöglich zu erkennen, wie hell sie unter all dem Dreck waren. »Sie sind die Küste entlang nach Westen geflohen, statt uns zu folgen«, sagte sie. »Ihre Treue galt Adelheid, nicht Henry. Es gibt noch Nachzügler, und ein paar laufen verwirrt zwischen unseren Soldaten umher. Was die Übrigen betrifft - diejenigen, die noch leben -, vermute ich, dass sie nach Hause fliehen.« Mit einem Seufzen rieb Sanglant sich die brennenden Augen. »Gibt es Nachrichten von den Greifen?«, fragte er jene, die nah bei ihm standen. Hinter Hathui hatten sich etwa ein Dutzend Adler versammelt, die aus Henrys Zug gerettet worden waren. In Wahrheit benötigte er gar keine Antwort. Sofern der 14 Sturm die Greifen nicht auf der Stelle getötet hatte, hatte er sie sicherlich weit weggetrieben. Es schien unmöglich, dass irgendein Geschöpf in der Luft diesen Sturm überlebt haben könnte. Oh Gott, er war so müde, dass er sich einbildete, ein eigenartiges Tosen und Rauschen zu hören, das an seinem Gehör nagte, bis sogar die Menschen um ihn herum es wahrnahmen. Aus dem
Süden erklangen Warnrufe, übertönten das Knacken und Krachen von Zweigen, als ein zweiter Sturmwind durch den Wald raste. Kundschafter, die zurückgeblieben waren, um die Straße zu bewachen, kamen auf die Lichtung gestolpert. »Der Ozean! Der Ozean erhebt sich!« Er winkte Lewenhardt und Hauptmann Fulk zu sich, und gemeinsam liefen sie die Straße zwischen den Bäumen entlang. Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie etwas Erstaunliches sahen. Wassermassen schoben sich zwischen den Bäumen hindurch ins Landesinnere, doch die Woge lief rasch aus, so dass sie nur noch um ihre Stiefel herumplätscherte. Noch während sie das Geschehen fassungslos anstarrten, versickerte das Wasser bereits zum größten Teil im Boden, oder es floss in natürlichen Gräben zurück zum Meer, riss dabei Zweige und Blätter mit. Sanglant kniete sich hin und hielt seinen Finger in eine der verbliebenen Pfützen, als das Tosen des zurückweichenden Wassers nachließ. Er führte den feuchten Finger an die Lippen und spuckte aus. »Meerwasser.« »Das ist unmöglich«, sagte Hauptmann Fulk. »Keine Flut kann so hoch steigen. Von hier bis zum Ozean ist es mindestens eine Wegstunde - eher noch mehr!« »Holt Fest. Ich brauche eine Eskorte von hundert Mann. Wenn wir irgendeine Chance haben wollen, Königin Adelheid gefangen zu nehmen, müssen wir sie jetzt suchen. Holt auch Herzog Burchard, denn er kennt die Stadt und ihre Verteidigungsanlagen. Herzogin Liutgard soll eine Liste der verbliebenen Vorräte anfertigen, sich um die Verletzten kümmern und 15 die Männer auf einen langen Marsch vorbereiten. Und die Toten müssen begraben werden, bevor sie zu verwesen beginnen.« »Auch der Kaiser, Eure Majestät?« »Nein. Henry muss für die Reise gen Norden vorbereitet werden. Sorgt dafür, dass sein Herz entfernt und sein Körper gekocht wird, bis nur noch Knochen übrig sind.« Die Straße durch den Wald hatte die Feuersbrunst überstanden, aber sie war matschig und voller Unrat. Ein unbeständiger Wind herrschte, und nachdem ein Mann von einem herabfallenden Ast bewusstlos geschlagen wurde, achteten sie bei jeder Böe auf entsprechende Anzeichen. Die Bäume waren an der nach Südosten weisenden Seite geschwärzt und verbrannt. Verdorrte Blätter flatterten im unaufhörlichen Ascheregen herab. Im Laufe des Morgens wurde es allmählich heller, aber auch am Tag blieb es dunstig und düster, während der Himmel von einem leuchtenden Schimmer überzogen war. Jedes Geräusch wurde von dem beständigen Zischen der herabregnenden Asche und der Schicht aus Schmutz und Matsch gedämpft, die den feuchten Boden überzog. Es war kühl, sogar klamm, und der lange Marsch erschöpfte sie und die Pferde gleichermaßen. »Ist dies das Ende der Welt, Pr- Eure Majestät?«, flüsterte Lewenhardt. »Wenn dies das Ende ist, wieso sind wir dann nicht tot? Nein, Lewenhardt, es ist so, wie es aussieht. Eine schreckliche Umwälzung ist über uns gekommen. Wir können immer noch überleben, wenn wir einen klaren Kopf behalten und zusammenhalten.« Herzog Burchard machte das Kreiszeichen über der Brust, aber er sagte nichts. Der alte Mann schien zu benommen, um sprechen zu können. Er war nicht der Einzige. Auf jeden Soldaten, der sich laut über den versengten Wald und die Überreste der gerade erlebten Flut äußerte, kamen vier oder fünf, die 15 die Zerstörung auf eine Weise anstarrten, als hätten sie in der Tat den Verstand verloren. »Mir gefällt das nicht, Eure Majestät«, sagte Fulk. »Was ist, wenn das Meer zurückkommt?« »Wir werden es herausfinden. Außer Königin Adelheid müssen wir auch noch diejenigen suchen, die bis Tagesanbruch überlebt und sich versteckt haben. Liutgard hat gesagt, dass viele Aostaner entlang der Küste nach Westen marschiert sind. Was ist mit ihnen?« Tümpel aus Salzwasser füllten die Löcher in der Straße. Ein hoffnungsloser Anblick erwartete sie, als sie endlich die Bäume hinter sich ließen und auf die wirbelnden Schleier aus Asche starrten, die den Blick auf die eine halbe Wegstunde entfernte Bucht von Estriana behinderten. Die Ebene sah aus, als wäre sie mit einer seltsamen Schicht überzogen, und war von Trümmern übersät. Er
konnte das Feld nicht erkennen, auf dem die Schlacht stattgefunden hatte, oder den Weg, den sie auf ihrem Rückzug benutzt hatten, denn Zweige und Leichen, Holzplanken von Wagen und alle Arten von Treibgut lagen überall herum. Er konnte keinerlei Hinweise auf Leben in der fernen Stadt erkennen. »Seid Ihr sicher«, fragte er Herzog Burchard, »dass Ihr Königin Adelheid in Estriana gelassen habt?« Die Stimme des alten Mannes klang mehr wie ein Krächzen. »Ja, Eure Majestät. Sie hat für den Notfall eine Truppe hinter den Mauern zurückgehalten. Es war bereits vereinbart worden, dass sie in dem Turm bleiben sollte, statt einen Ausfall zu machen. Sie denkt strategisch, Eure Majestät, nicht wie ein Soldat.« »Das tut sie«, bestätigte Sanglant. »Sofern sie noch lebt. Ich bin geradewegs in den Hinterhalt hineinmarschiert, den sie und Henry gelegt hatten.« Burchard schüttelte ungehalten den Kopf. »Henry ist in eine Falle geraten; das haben wir nur zu gut begriffen. Der Daemon, mit dem Presbyter Hugh ihn gebunden hatte, sprach seine
4* Worte und bewegte seine Gliedmaßen entsprechend den Befehlen, die der Presbyter ihm gegeben hat. Henry hat nicht gesprochen. Das hier war allein der Plan der Königin.« »Dann ist sie eine ausgezeichnete Gegnerin. Was tun wir jetzt mit ihr?« Burchard starrte über die Ebene zum Mittleren Meer und weinte leise. »Vielleicht sollten wir sie begraben?« Die Dunstglocke traf auf das Meer; es schien - was eigentlich unmöglich war - Ebbe zu herrschen, denn das Wasser hatte sich weit zurückgezogen, so dass sie auf eine ebene Wattfläche blickten. »Oh Gott!«, rief Lewenhardt, der die besten Augen von allen besaß und durch den Dunst hindurchsehen konnte. »Seht nur!« Das Wasser stieg rasch. An der Mündung der Bucht wuchs es zu einer gewaltigen Welle an, die sich in eine Mauer aus sprühendem Weiß verwandelte. Die Welle wogte durch die Bucht und krachte auf die Stadt und das Ufer, überflutete das Land. Das Wasser stieg höher und immer höher und überschwemmte die Ebene. »Lauft!« Die anderen drehten sich um und flohen. Sanglant war unfähig, sich zu bewegen. Obwohl er es mit eigenen Augen sah, konnte er nicht glauben, dass das Meer so schnell ansteigen und so rasch vordringen konnte. Der weiße Kamm, der auf die Stadt niedergegangen war, löste sich rasch auf, ging unter in der riesigen Flutwelle, die über die Ebene landeinwärts rollte. Fest schnaubte und scheute, und er zügelte ihn, zog ihn in einem vollständigen Kreis herum, bis das Pferd stehen blieb, unsicher und widerstrebend, aber standhaft. »Prinz Sanglant!«, rief Hauptmann Fulk, der zurückgekehrt war und sein Pferd neben ihm zügelte. »Wir werden ertrinken. Ihr müsst mitkommen!« Die Flutwelle lief einen Steinwurf entfernt von Fests Hufen aus, erreichte nicht einmal die ersten Bäume des Waldes und 16 rauschte zischend und glucksend wieder zurück ins Meer. Alles, was die erste Welle im Gelände verteilt hatte, wurde jetzt mitgezogen. Sogar die Wälle von Estriana wankten - bis auf den höchsten Turm, denn der wurde durch einen doppelten Mauerring geschützt, der die eigentliche Wucht des Aufpralls abbekommen hatte. Die Männer, die jetzt zurückkehrten, weinten beim Anblick des wütenden Meeres. Als die Welle sich zurückzog, tauchten die Ruinen der Stadt aus dem Wasser auf. Mehr als ein Dutzend Breschen klafften in der steinernen Mauer. Durch diese Löcher betrachtet wirkten die Gebäude wie ein Haufen von Stöckchen. »Oh Gott«, rief Herzog Burchard. »Königin Adelheid ist gewiss tot! Niemand kann eine solche Flutwelle überlebt haben!« Er warf Sanglant einen Blick zu und wischte sich unruhig über die Stirn. »Sicherlich hatte sie einen Grund, warum sie diesen schrecklichen Weg eingeschlagen hat,
Eure Majestät. Sie wollte dem König bestimmt keinen Schaden zufügen. Sie hat ihn geliebt. Sie ist eine gute Frau.« »Hoffen wir, dass wir nicht gezwungen sein werden, ebenso grausame Entscheidungen zu fällen wie sie«, erwiderte Sanglant. »Ich halte es für das Klügste, wenn wir uns zurückziehen«, sagte Fulk. »Wir haben gesehen, dass diese unnatürlichen Flutwellen nicht aufhören. Seht nur, wie das Wasser wieder zurückweicht. Was ist, wenn eine noch größere Welle kommt?« »Da!«, rief Lewenhardt. »Da bewegt sich etwas!« Sanglant stieg ab. »Eure Majestät!«, protestierte Hauptmann Fulk. »Ich werde zu Fuß gehen. Der Boden ist zu rutschig für Pferde.« »Wieso wollt Ihr überhaupt gehen? Wenn Ihr weggeschwemmt werdet -« »Ich glaube, dass wir Zeit haben. Die zweite Welle ist erst gekommen, nachdem wir von der alten Festung hierhergeritten 17 waren. Wenn Ihr jemals am Meer gewesen seid und die Wellen beobachtet habt, Hauptmann, werdet Ihr wissen, dass sie einen ganz eigenen Rhythmus haben. Diese großen Wellen brauchen Zeit, um sich zu nähern.« Fulk hatte viele schreckliche Ereignisse mit ihm durchgestanden, während andere gejammert hatten und zusammengebrochen waren, und obwohl die Aussicht zu ertrinken ihn sichtlich erschreckte, ließ er Sanglant auch jetzt nicht im Stich. »Also schön. Ich komme mit Euch, Eure Majestät.« Sanglant grinste und marschierte los. Der Boden war nicht sonderlich schlammig, denn die Flut war schnell gekommen und ebenso schnell wieder zurückgewichen, so dass das Wasser nicht hatte einsickern können. Nasse Asche machte ihn jedoch glitschig, und Zweige, Ranken und Aststücke verfingen sich an den Knöcheln und verhedderten sich in den Beinkleidern. Es war nicht still, aber auf unheimliche Weise ruhig; abgesehen von ihren eigenen Schritten gab es keinerlei Lebenszeichen. Nur das Zischen des Ascheregens begleitete sie. Vielleicht würde es nie mehr aufhören, Asche zu regnen. Vielleicht waren die Himmelssphären selbst verbrannt und verteilten jetzt den Ruß ihrer Zerstörung über die Erde. Das erstickende Gurgeln des Meeres verklang in der Ferne, als das Wasser immer weiter zurückwich, noch über den Gezeitenstreifen hinaus, auch wenn sich in dem Dunst nur schwer etwas erkennen ließ. Hin und wieder stieg ihnen Verwesungsgestank in die Nase. Sie marschierten auf die Ebene hinaus, warfen immer wieder einen Blick zurück zum Wald, der jedes Mal ein Stück weiter weg war, genau wie die Soldaten, die dort kauerten und jetzt hinter den Ascheschleiern verborgen waren. »Seid Ihr sicher, dass Lewenhardt etwas gesehen hat, Eure Majestät?«, fragte Fulk schließlich. »Es könnte der Wind gewesen sein. Es ist schwer, bei all dem Dunst und der Asche etwas zu erkennen.« »Still.« Sanglant hob die Hand, und Fulk verstummte. Er rührte sich nicht, reckte lediglich das Kinn, während er eben 17 falls lauschte. Aber nur wenige Männer besaßen ein ähnlich scharfes Gehör wie Sanglant, und Fulk konnte das schwache, platschende Geräusch nicht hören. »Es klingt, als würde ein Fisch halb aus dem Wasser springen. Da!« Etwas Lebendiges hatte sich in einem Graben verfangen, zappelte jetzt in einem Rest Meerwasser. Vorsichtig traten sie an den Rand und starrten in eine Grube, in der sich ein Gemisch aus Schlamm, Wasser und Pflanzenresten befand. Unter der Achse eines zerbrochenen Wagens war eine Leiche festgeklemmt, das Gesicht barmherzigerweise durch ein Rad verborgen, die aus dem schaumigen Wasser ragenden Beine grau. »Oh Gott!«, rief Fulk und wich entsetzt einen Schritt zurück.
Die Flutwelle hatte ein Ungeheuer aus der Tiefe hier stranden lassen. Es spürte jetzt, dass jemand da war, schob seinen Körper mit einem Platschen ins Wasser zurück, hatte aber keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Sein riesiger Schwanz peitschte hin und her. Schließlich bäumte es sich trotzig im Schlamm auf, schüttelte den Kopf und versprühte überall Matsch, Gras und Blätter. Die Haare zischten und schnappten nach ihnen, jedes einzelne wie ein augenloser Aal, der in der Luft eine Mahlzeit suchte. Es besaß den Oberkörper eines Menschen, war schlank und kraftvoll und voller schimmernder Schuppen. Es hatte auch eine Art Gesicht: flache Augen, Schlitze, wo eigentlich eine Nase hätte sein müssen, einen lippenlosen Mund und schuppige Hände, deren klauenbewehrte Finger mit Schwimmhäuten verbunden waren. »Das ist ein Fischmensch«, flüsterte Fulk. »Wie wir sie im Fluss gesehen haben!« Es war von der Flutwelle hierhergespült worden und gestrandet. Jetzt saß es in der Falle, zum Tode verurteilt. Aber es war ein furchterregendes Tier, keiner Barmherzigkeit würdig. Trotzdem runzelte Sanglant die Stirn, als Fulk das Schwert zog. Das Wesen starrte sie kühn an. Scharfe Zähne glänzten, als es den Mund öffnete. Und sprach.
18 »Prinss Ssanglant. Hauptmann Fulk.« Fulk machte einen Satz zurück. »Wie kann dieses Tier unsere Namen kennen!« »Prinss Ssanglant«, wiederholte es. Die Aale, die seine Haare waren, zischten und zuckten, als würden auch sie eine Botschaft übermitteln, eine, die er nicht verstehen konnte. »Kannst du Wendisch? Was bist du? Wie heißt du?« »Mücke«, schien es zu sagen, aber es sprach in einer Sprache, die er nicht verstand, obwohl er sie schon gehört hatte. »Das ist Jinnisch.« »Es ist zu undeutlich, Eure Majestät. Ich weiß es nicht.« »Kannst du Wendisch?«, fragte Sanglant langsam, denn er kannte kein einziges jinnisches Wort. Er versuchte die anderen Sprachen, die er ein bisschen beherrschte. »Kannst du Ungrianisch? Kannst du die Sprache der Qumaner? Kannst du -« »Liat'ano«, sagte das Wesen und hob eine Hand, um die flachen Augen zu beschatten - wie ein Mensch, der in die helle Sonne blickt. »Liathano! Sprichst du von meiner Frau Liath?« Das Wesen zischte, als würde es ihm zustimmen. »Was hat das zu bedeuten, Prinz Sanglant?«, flüsterte Fulk. »Wie kann ein solches Ungeheuer unsere Namen kennen?« »Ich weiß es nicht. Wie kann ein solches Wesen gelernt haben, Jinnisch zu sprechen?« »Jinnisch!« Das Wesen sprach jetzt wieder eine Zeitlang, aber sie konnten nur mit dem Kopf schütteln. Brennende Ungeduld erfüllte Sanglant, als er sich fragte, was dieses Wesen wusste und was es ihm sagen konnte. Lebte Liath oder war sie tot? Wie hatte es sie erkannt? »Gibt es irgendjemanden bei uns, der die Sprache der Jinnen beherrscht?«, fragte Fulk. »Nur Liath«, sagte er voller Bitterkeit. »Deshalb hat sie die beiden jinnischen Diener mitgenommen, als sie gegangen ist. Sie war die Einzige, die sie verstehen konnte.« »Was tun wir jetzt?« 18 »Wir ziehen es ins Meer zurück. Wenn es sprechen kann, ist es kein stummes Tier, sondern ein denkendes Wesen wie wir.« »Aber wenn es unser Feind ist? Seht nur seine Zähne und die Klauen. Der Schiffsmeister hat Geschichten erzählt ... sie sollen Menschen fressen.« »Es ist uns ausgeliefert.« Sanglant schüttelte den Kopf. »Es gibt mir die Hoffnung, dass meine Frau noch lebt. Schon aus diesem Grund kann ich es nicht töten oder zum Sterben hier liegen lassen, was sicherlich passieren wird, wenn es hier bleibt.« Es war in der Tat kein stummes Tier. Sanglant deutete aufs Meer. Er sprach seinen eigenen Namen und den von Liath und Fulk, deutete wieder aufs Meer, während das Wesen sie anstarrte. Als sie das bröckelige Ufer hinunterstiegen und es an den Armen packten, wehrte es sich nicht. Es fühlte
sich schwer und seltsam an, und es war schwierig zu schleppen, obwohl der glitzernde Schwanz über die meisten Hindernisse geschmeidig hinwegglitt. Schließlich hatten sie es atemlos und über und über mit Matsch und Asche bedeckt dorthin geschafft, wo früher einmal das Ufer gewesen war. Das Meer hatte sich ein gutes Stück aus der Bucht zurückgezogen, aber sie trauten sich nicht, auf den glitschigen Steinen weiter hinauszugehen, denn sie wussten, dass schon bald die nächste Welle kommen würde. »Geh mit der Gnade des Herrn und der Herrin«, sagte Sanglant. »Mehr können wir nicht für dich tun.« »Liat'ano«, sagte es erneut, deutete zum Himmel und dann zum Boden. »Lebt sie?«, fragte Sanglant. Er wusste, dass der Schmerz in seinem Herzen nie aufhören würde, solange er nicht wusste, was mit ihr geschehen war - mit ihr und ihrer gemeinsamen Tochter. Er hatte so viel verloren - wie sie alle -, aber er fürchtete, dass ihm das Schlimmste noch bevorstand. Das Wesen lag unbeholfen auf dem Boden und starrte aufs Meer hinaus, wiederholte dann mit unheimlicher Genauigkeit seine Geste. Es deutete zum Wald, legte Eile nahe und sagte ein einziges Wort, wiederholte es zweimal, etwas wie: Geht. Geht. 19 Es hatte den Ton einer Warnung. Sicher konnte es die Strömungen des Meeres besser spüren als ein Mensch. Fulk verlagerte ungeduldig sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, sah von dem Wesen zum Meer und wieder zurück. »Oh Gott!«, fluchte Sanglant. »Kommt, Fulk.« Sie rannten über die Ebene zurück. An manchen Stellen hatte die Strömung den Boden leergefegt. An anderen hatten Gräben, kleine Rillen oder andere Hindernisse alle Arten von Abfall eingefangen, Leichen und Zweige und hier und da eine Waffe oder ein Wagenrad. All dies hatte sich miteinander verheddert und stank inzwischen fürchterlich. Nichts rührte sich auf dieser Ebene. Es gab immer noch keinen Hinweis auf Leben innerhalb der eingestürzten Stadtmauern. Kein Vogel flog, und jetzt durchzuckten hier und da Blitze die Wolken, gefolgt von Donnergrollen. Sie hörten das Wasser, noch ehe sie die Soldaten erreichten, die beunruhigt am Waldrand warteten und lauschten und das glitzernde Meer beobachteten. Sanglant drehte sich noch einmal um, während sie sich eilig in den Schutz der versengten Bäume zurückzogen. Das Wasser kam dieses Mal nicht als eine erkennbare Welle, sondern stieg einfach nur rasch an. Er konnte das Merwesen nicht sehen. Das Licht war nicht hell genug, das Ufer ohnehin zu weit weg, der Boden zu uneben. Wie alle anderen würde es die Flut der Zerstörung überleben oder untergehen. Ein Dutzend Männer warteten am Rand, nicht bereit, ohne ihren Prinzen wegzureiten. Ohne ihren König. »Sie muss noch am Leben sein«, sagte er. »Ja, Eure Majestät«, sagte Fulk. Lewenhardt reichte ihm die Zügel. Sanglant stieg auf und ritt zusammen mit den Überresten seiner einst so stolzen Kompanie zwischen die Bäume davon. 19
2 »Ich habe durch das Feuer nach denjenigen gesucht, deren Gesichter ich kenne, Eure Majestät, aber ich habe niemanden gefunden.« Sanglant musterte die Mitglieder seines Rates, die auf der Festungsrampe warteten. Das Heer hatte sich im Dunst des Nachmittags niedergelassen, um seine Wunden zu lecken, Kraft zu sammeln und seine Anzahl und die Vorräte zu überprüfen. »Die Sieben Schläfer könnten sich vor der Adlersicht schützen. Wir müssen so handeln, als würde es sie noch geben. Sie bleiben eine Bedrohung.« Hathui zuckte mit den Schultern. »Ich habe Flammen und Schatten gesehen. Blitzartige Eindrücke. Einen umgestürzten Wagen. Herabstürzende Steine. Ein Pferd, das von einem herabfallenden Ast getötet wurde. Nichts davon hat einen Sinn ergeben, und ich konnte keine einzige Vision im Feuer festhalten. Von Liath habe ich gar nichts gesehen.« »Oh Gott!« Er schritt hin und her, wirbelte Asche auf und wandte ihr dann das Gesicht zu. »Sucht sie jeden Abend bei Einbruch der Dämmerung. Hoffen wir, dass sie ebenfalls sucht.«
»Der Einbruch der Dämmerung ist bei dieser Wolkendecke und dem Ascheregen schwer zu erkennen, Eure Majestät. Wir könnten einander jeden Abend suchen und doch niemals finden. Die Adlersicht ist eine mächtige Gabe, aber ein Mann, der einen Hirsch schlachtet, verfügt über mehr Genauigkeit und Feinheit.« Er lachte, aber mehr vor Schmerz als vor Erheiterung. »Die Kronen leiden unter der gleichen Schwäche, nicht wahr? So sind wir von der Last einer Macht verschont, die zu groß ist, um sie mit natürlichen Mitteln zu bekämpfen. Ich wundere mich nicht mehr« - er machte mit dem Arm eine ausschweifende Bewegung, um auf den Himmel und den Wald zu deu 20 ten -, »wieso die Kirche die Zauberei verdammt hat. Seht nur, was sie angerichtet hat.« »Liath ist eine Mathematiki, Eure Majestät. Wollt Ihr sie beiseiteschieben, weil sie die Kunst der Zauberei beherrscht?« Er grinste. »Ich habe als Hauptmann der Drachen des Königs angefangen. Ich bin immer ein Soldat gewesen. Wenn man mir eine Waffe in die Hände gibt, benutze ich sie. Und abgesehen davon ...« Und abgesehen davon liebe ich sie. Er konnte diese Worte nicht laut aussprechen. Er war jetzt der Herrscher, aber seine Position war keineswegs sicher. Er durfte keine Schwäche zeigen; er durfte keine Schwäche haben, und wenn er doch eine hatte, wenn er unklug liebte, musste er die Natur seiner Begierde verbergen, damit sie nicht gegen ihn verwendet werden konnte. Die Qumaner des Pechanek-Clans hatten ihm seine Ehre rauben wollen, indem sie ihn mit dem Körper einer Frau zu verführen versucht hatten. Er wäre beinahe gestürzt. »Sucht sie bei Einbruch der Dämmerung, Hathui. Versucht es immer wieder.« »Jawohl, Eure Majestät.« Er ging zu denjenigen, die auf ihn warteten, kletterte die Rampe zu ihnen empor und stellte sich so, dass alle unterhalb von ihm oder innerhalb der Festung ihn hören konnten. Er hob die Hand, damit Ruhe einkehrte, und sie schwiegen, aber es war nie wirklich ruhig. Seine Worte wurden begleitet vom Stöhnen der Verwundeten, dem Zischen des Ascheregens und dem Knistern zerbrechender Äste im Wald. Es brachen nicht mehr so viele ab wie zuvor, aber jedes Mal, wenn es geschah, kam das scharfe Geräusch überraschend. »Kusine«, sagte er. »Was habt Ihr herausgefunden?« Liutgard war eine hervorragende Verwalterin und im Hinblick auf Kämpfe und Kriege meistens klug genug, ihre Hauptleute die Schlachten für sie schlagen zu lassen. Als sie jünger gewesen war, hatte ihr Mann an ihrer Stelle ihr Schwert getra 20 gen, als Talisman, aber seit seinem Tod einige Jahre zuvor hatte sie eine beunruhigende Neigung erkennen lassen, sich selbst auf das Schlachtfeld zu begeben. Sie winkte ihre Hauptverwalterin zu sich. Die Frau führte die verbleibenden Streitkräfte auf, etwa zweitausend Männer und vielleicht halb so viele Pferde, obwohl ständig noch versprengte Tiere eingefangen wurden. Sie besaßen Vorräte für etwa drei Wochen, wenn sie sie streng einteilten, aber nicht viel frisches Wasser und Futter für die Pferde. Es gab nicht genügend Wagen, um all die Verwundeten zu transportieren, aber zu diesem Zweck konnten behelfsmäßige Schlitten hergestellt werden, die dann von den Gesunden gezogen würden. »Was jetzt, Eure Majestät?«, fragte Liutgard, als ihre Verwalterin fertig war. »Ja, was jetzt?«, fragten auch die anderen Edelleute und Hauptleute, die überlebt hatten. Er schwieg eine ganze Weile, dann sagte er: »Wenn Feuer, Asche und Wasser hier ein solches Unheil angerichtet haben, wie schlimm wird dann das übrige Land gelitten haben?« Edelmann Wichman lachte heiser. »Bestimmt haben wir das Schlimmste überstanden!«, rief er. »Still, du Narr!«, wies Liutgard ihren Vetter zurecht. »Fordere Gott nicht heraus! Es kann immer noch schlimmer kommen. Was wollt Ihr tun, Eure Majestät?« Der Fluch, in die Zukunft blicken zu können, war ihm erspart geblieben, wie allen Menschen. Es war erstaunlich, dass er einmal zu seinem Vater gesagt hatte: »Ich will nicht König sein, dem andere Fürsten an den Fersen hängen, die nur darauf warten, dass ich zu Boden gehe, damit sie mir die Kehle he-
rausreißen können. Ich möchte ein Stück Land, Liath zur Frau, und Frieden.« Solch ein Luxus stand ihm nicht mehr zur Verfügung. Wenn er dieses Heer jetzt nicht führte, würde es zerfallen, und tatsächlich wäre noch viel Schlimmeres die Folge. »Wir müssen aufbrechen, und zwar rasch. Dieses Land ist zu sehr verwüstet, um ein Heer zu ernähren.«
5* »Was ist mit Königin Adelheid, Eure Majestät?«, fragte Bur-chard. Sanglant lachte voller Bitterkeit. »Wir haben die Trümmer von Estriana gesehen. Ich glaube nicht, dass es Überlebende gibt.« »Sollten wir Kundschafter in die Stadt schicken?« »Wie können wir wissen, wann eine weitere Welle einen derjenigen überrollt, die sich auf die Suche machen? Wenn wir warten, bis das Meer sich vollständig beruhigt hat, werden Hunger und Durst uns Verluste zufügen. Königin Adelheid lebt - oder sie ist tot. Wenn sie tot ist, können wir ihr nicht mehr helfen. Wenn sie lebt, werden jene, die mit ihr überlebt haben, sie bereits in Sicherheit bringen.« Burchard neigte den Kopf, aber er erhob keine Einwände. Liutgard nickte, um zu zeigen, dass sie ihm zustimmte. »Der Brinne-Pass«, sprach er weiter. »Es ist zu spät im Jahr, um die höher gelegenen Pässe zu nehmen, aber wir können in die Marklande gehen und uns von dort nach Wendar wenden.« »Nach Hause!«, rief Luitgard. »Endlich!« »Eure Majestät!«, wandte Burchard ein. »Was ist mit Darre? Was ist mit Henrys Kaiserreich?« »Ohne Wendar gibt es kein Kaiserreich. Versucht Euch doch nur vorzustellen, wie weit diese Flut der Zerstörung gereicht hat. Wir wissen nicht, in welchem Umkreis die tödlichen Stürme zugeschlagen haben oder welche Folgen sie nach sich ziehen. Die Menschen von Wendar haben bereits sehr gelitten. Wenn sie keinen Beistand erhalten, werden sie sich an andere wenden, die ihnen Sicherheit und Ordnung versprechen. Wir müssen zuerst das sichern, was uns gehört - das, was unser Geburtsrecht ist. Dann können wir sehen, ob mein Vater ein Kaiserreich zurückgelassen hat, das es zu verteidigen gilt.« Sie knieten nieder, um ihren Gehorsam auszudrücken, bis auf Liutgard und Burchard. »Was ist mit Henrys sterblichen Überresten?«, fragte Liutgard.
52 »Seine Gebeine und sein Herz müssen nach Quedlingham gebracht werden.« Sie seufzte. Er erinnerte sich daran, wie jung, strahlend und lebhaft sie gewesen war, als sie gemeinsam in der Schule des Königs aufgewachsen waren. Jetzt sah sie so alt aus, wie er sich fühlte; Henrys unglückselige Reise nach Aosta und die Ereignisse der letzten beiden Tage hatten tiefe Spuren hinterlassen. Aber sie besaß einen zu starken Willen, um sich an etwas zu klammern, das nicht zu ändern war. Sie winkte ihrer Verwalterin, sprach mit ihr und wandte sich dann wieder an ihren Vetter. »Meine Verwalterin hat sich um Euren Vater gekümmert, Eure Majestät. Sie wird eine geeignete Truhe finden und ein Kästchen für das Herz.« »So sei es. Wir werden hier lagern, um die Verwundeten zu versorgen und das zu reparieren, was für die Rückreise nötig ist. Trinkt sparsam. Fulk, schickt Kundschafter aus, die nach Wasser suchen sollen, und andere, die nachsehen sollen, ob es im Wald etwas gibt, das wir brauchen können: Wagen oder Waffen, Vorräte, verirrte Pferde. Verwundete. Was auch immer. Begrabt die Toten, die ihr findet. Wir können ihnen jedoch keinen Gedenkstein errichten oder irgendjemanden mit nach Hause nehmen, abgesehen von meinem Vater. Sobald die sterblichen Überreste des Königs vorbereitet sind, werden wir aufbrechen.« Während die Leute sich zerstreuten, um sich zu ihrem Nachtlager zu begeben, trat Hathui zu ihm. »Was ist mit Liath, Eure Majestät? Wenn sie Dalmiaka erreicht hat, wie sie gehofft hatte, befindet sie sich südöstlich von uns. Wir würden sie zurücklassen.« »Wir können nichts tun, solange wir nicht wissen, ob sie noch lebt oder wo genau sie ist.« »Man könnte eine Gruppe ausschicken. Ich würde gehen -« »Ich verfüge nicht über genügend Streitkräfte oder Vorräte, um Männer abzustellen.«
»Nur eine kleine Gruppe, Eure Majestät. Zehn oder zwölf Leute würden sicherlich -« 22 »Und wohin würden sie reiten?« »Wir haben zumindest eine Vermutung, wo sie sein könnte. Nur eine Gruppe von Kundschaftern. Ich könnte ein Dutzend Leute finden, die mutig genug wären, um -« Er biss die Zähne zusammen, und als sie das sah, verstummte sie abrupt. »Quält mich nicht mit Einwänden, Adler. Liath ist stark genug, um sich selbst zu retten.« »Und wenn sie verletzt ist?« »Dann bin ich ohnehin zu weit weg, um ihr helfen zu können. Gott, Hathui, vergesst meine Tochter nicht! Ich vergesse sie jedenfalls nicht! Ich weiß nicht, ob Gnade noch lebt oder tot ist. Ob die Pferdemenschen ihren Schwur gehalten oder sie getötet oder gefangen genommen haben. Ich werde es vielleicht nie erfahren. Aber wir müssen nach Norden marschieren. Wir müssen sofort marschieren. Ich werde mein Heer nicht aufteilen. Nein.« Sie hielt seinem Blick stand. Sie war eine mutige Frau, und deshalb achtete er sie. »Es ist eine schreckliche Entscheidung, Eure Majestät.« »Es ist die Entscheidung, die ich treffen muss. Wir sind zweitausend Leute und haben höchstens eintausend Pferde, nicht genug Wasser, Nahrungsmittel, Futter, befinden uns in einem feindlichen Land, das von unsäglichem Unheil heimgesucht wurde, der Winter steht bevor und wir müssen die Berge überqueren. Unsere Situation ist ziemlich hoffnungslos. Wenn wir Wendar verlieren, verlieren wir alles. Wenn Liath lebt, wird sie uns finden.« »Das hoffe ich, Eure Majestät.« »Das hoffen wir alle.«
1 Sie wartete allein in einer riesigen, neuen Welt. Eine ganze Weile stand sie hoch oben auf einem zerklüfteten Grat, während die vielerorts heiße Erde qualmte, und sah zu, wie die aufgehende Sonne eine veränderte Landschaft erhellte. Alles um sie herum war verwüstet. Was von dem alten Land noch geblieben war, hatte der gewaltige Ausbruch in nackten Fels verwandelt, oder die Hitze hatte es verdampft, oder es war von der Gewalt des Sturms so hart getroffen worden, dass es jetzt völlig kahl war. Im Westen und Nordwesten blies der Wind, und eine Schicht aus Aschewolken verhüllte den Horizont. Im Osten und Nordosten war der Ascheregen nicht ganz so schlimm, aber der Boden hatte sich auf seltsame Weise verändert, denn dort gab es jetzt eine ganze Reihe unheimlich wirkender, hintereinander liegender Hügelketten, die alle gleich hoch und gleich geschwungen waren. Schlamm sammelte sich in den Senken und stank nach Schwefel. Nichts rührte sich. Nichts lebte. Nichts, was jemals hier gelebt hatte, war noch da, um auch nur verwesen zu können. Der Himmel direkt über ihr sah seltsam aus, und nach längerem Betrachten begriff sie, dass es sich um einen natürlichen, blauen Himmel handelte. 22
III
In Erwartung der Flut Nur im Süden, dort, wo sich am meisten verändert hatte, hatte das Leben keinen Schaden erlitten. Irgendeine Magie, vielleicht sogar die Hülle des Äthers, hatte das Land der Ashioi vor den zurückschlagenden Kräften des Zauberspruchs geschützt. Obwohl es während der Verbannung unter einer Dürre gelitten hatte, wirkte es jetzt fruchtbar, bildete mit seinem üppigen Leben einen Gegensatz zu der Verwüstung um sie herum. Im Osten bemühte sich die Sonne, den Aschedunst zu durchdringen, aber es gelang ihr nicht; sie glühte in einem unheilvollen Rot, während sie höher stieg. Was sollte sie tun? Das Ausmaß der Zerstörung überwältigte sie so sehr, dass sie nicht einmal weinen konnte. Es war, als wäre ein Teil von ihr mit der Umwälzung weggerissen worden, so dass sie ohne Tränen zurückblieb, nur mit ein paar praktischen Fragen, die unbedingt beantwortet werden mussten. Kleidung. Wasser. Essen. Ihre verlorenen Kameraden. Sanglant und Gnade.
Alles andere konnte warten. Das Land hinter ihr wirkte unpassierbar. Sicherlich würde sie viele Wegstunden weit nichts zu essen und zu trinken finden. Es war schwer zu sagen, wie weit der Sturm gereicht hatte. Sie bezweifelte, dass sie es lange aushalten würde, wenn erst die Nacht kam und die Temperatur sank. Es war spät im Jahr. Es hatte bereits Schnee gegeben, der nun weggebrannt war. Sie packte ihren Bogen fester und ging nach Süden auf die Berge des alten Landes zu, das jetzt zurückgekehrt war. Das Land der Ashioi. Sie hörte einen schwachen Hornruf. Von weiter weg erzitterte in der eindringlichen Stille der Ruf eines Menschen, aber das mochte auch eine Täuschung sein. Sie sah nichts und niemanden. Der heiße Boden ließ ihre Füße rissig werden, und als der Morgen verstrich, wurden ihre Fußsohlen immer trockener und platzten auf, so dass sie bluteten und sie eine Spur aus Blutstropfen zurückließ. Es war heiß, aber die Hitze hatte ihr noch nie zugesetzt. Der Durst war schlimmer, 23 und ihre Füße schmerzten. Ihre Haut brannte von der Asche. Der Zauberspruch hatte sie erschöpft. Aber wenn sie stehen blieb und anschließend nicht mehr in der Lage sein würde weiterzugehen, würden Durst, Hunger und Schwäche sie besiegen, und niemand, der lediglich der Menschheit entstammte, würde diese dampfende Landschaft betreten und sie retten können zumindest solange sie nicht abkühlte. Und es konnte auch nur jemand versuchen, sie zu retten, wenn er wusste, dass sie hier war, was aber nicht der Fall war. Sanglant war zu weit weg, um ihr zu helfen, wenn er überhaupt noch lebte. Im Laufe der Zeit erhob sich die Sonne über den Dunst und erreichte den Zenit in dem kleinen Stück klaren Himmels direkt über ihr. Die Sonne war so hell. Sogar der Boden blendete sie, als sie auf einen kalkweißen Streifen stolperte. Sie blieb stehen. Sie stand auf einer schmalen Straße, und ihr Blut tropfte auf den kiesigen Boden. Hinter ihr war nichts als leere Wildnis. Vor ihr stieg das Gelände steil an. Gras klammerte sich hier und da an die Bergflanke, in der vielerorts Spalten und Löcher klafften - wie schmale Höhlenöffnungen. Oben auf der Anhöhe stand ein zerfallener Wachturm am Rand einer Gruppe von Kiefern. Sie war schon einmal hier gewesen. Sie hatte genug Kraft, um zu kichern, dann stolperte sie weiter, über alle Maßen müde. Unglaublicherweise war er da, wartete mit einer Wasserhaut auf sie. Er trat hinter dem eingestürzten Turm hervor, und der überraschte Blick auf seinem Gesicht verriet ihr, dass er eigentlich nicht damit gerechnet hatte, sie zu sehen. »Liath!« »Ältester Onkel! Oh Gott! Ich brauche Wasser, wenn du etwas übrig hast.« »Ich habe viel übrig, wie du feststellen wirst.« Er lächelte. »Die Jungen sollten klüger sein, als vor den Alten etwas zur Schau zu tragen, das diese nie zurückerhalten können.« 23 »Entschuldigung!« Sie trank gierig, zwang sich jedoch, aufzuhören, ehe sie die gesamte Haut leergetrunken hatte. Dann schüttete sie Wasser auf ihre Hand und wischte sich über die Stirn. Ihre Finger waren schwarz vor Dreck. Sie sah an sich herunter. »Ich bin in Asche gehüllt«, sagte sie, und das stimmte auch, aber sie war trotzdem nackt, wenn auch rußverschmiert. Er war erheitert. »Komm mit.« Er deutete zu den Bäumen. »Wohin gehen wir?« »Zum Fluss, wo du dich waschen kannst. Ich werde sehen, ob ich aus dem Schilf Kleidung weben kann.« Das Wasser verlieh ihr Kraft, aber das tat auch eine zweite, nicht so greifbare Macht. Sie erinnerte sich deutlich an das letzte Mal, als sie durch diesen Kiefernhain gewandert war, kurz bevor sie die Leiter des Magiers zum Himmel hinaufgestiegen war. Damals war die Luft trocken und der Boden rissig gewesen. Jetzt roch sie Wasser in der Luft. Sie spürte es in den grünen Blättern und den Schösslingen, die grüne Spuren auf dem Boden hinterließen. Seine Weichheit kühlte ihre Haut.
Doch als sie aus dem Schatten der Kiefern traten, war die Wiese verwelkt, die einst voller Kornblumen und Pfingstrosen gewesen war, voller Lavendel und Heckenrosen. Trockene Blütenblätter knisterten unter ihren Füßen. »Komm.« Ältester Onkel eilte voran, achtete nicht auf die sterbende Lichtung. »Hier war es einmal so herrlich. Was ist mit den Blumen passiert?« »Der Äther hat dieses Land gewässert, indem er Feuchtigkeit aus den tiefen Wurzeln hochgezogen hat. Jetzt, da diese Verbindung abgerissen ist, sterben die Blumen. Aber das Land wird leben. Sieh nur da!« Sieh nur da! Sie eilte hinter ihm her über den Weg, der einmal als Blumenpfad bezeichnet worden war und zum Fluss führte. Wo einst ein Rinnsal die Felsen befeuchtet hatte, floss jetzt ein richtiger Strom. Lachend sprang sie in das kalte Was 24 er. Es war wie ein Schock. Ihre Haut schmerzte überall, aber das Wasser war wie die Berührung Gottes. Sie tauchte mit dem Kopf unter, wieder und wieder, schrubbte sich die Haare und die Kopfhaut, bis der schlimmste Dreck weg war, danach schwamm sie, bis ihre Zähne klapperten und ihre Hände blau waren. Dann nahm sie ihren Bogen und watete zum anderen Ufer. Ältester Onkel wartete auf einem Teppich aus Gras auf sie. Frische Schösslinge wuchsen am Ufer, so weit das Auge reichte. Das Land, das einmal gelblich und braun gewesen war, hatte sich unter dem Ansturm eines falschen Frühlings verwandelt, obwohl sie wusste, dass der Winter bevorstand. »Oh Gott!« Sie setzte sich neben ihn. Das Gras kitzelte. Wasser tropfte von ihrem Körper. »Das war gut! Ich bin so müde!« Sie gähnte, legte den Kopf auf die angezogenen Knie, schlang die Arme fest um die Beine. Die Welt entschlüpfte ihr o leicht. Sie glitt in einen Schlummer. Erwachte abrupt und hörte Stimmen. Ältester Onkel stand ein Stück entfernt im Schatten eines Baumes, sprach mit zwei maskierten Kriegern, einem Mann und einer Frau. Sie griff nach ihrem Bogen, erinnerte sich zu spät, dass sie keine Pfeile hatte. Dass sie keine Waffen benötigte. Sie war eine Waffe. Die Erinnerung schlug zu, weil sie verletzbar war. Sie war nur halb wach, unfähig, die Visionen abzuwehren. Die Soldaten brannten wie Fackeln. Sie schrien und schrien, während das Fleisch von ihren Knochen brannte ... »Liath!« Ich habe sie verbrannt. Sie zitterte. Ältester Onkel kniete sich neben sie. Er berührte sie nicht. »Wer sind die?«, fragte sie, den Blick auf die zwei jungen Krieger gerichtet. Der eine trug eine Falkenmaske, der andere die eines Bussards. Sie zitterte so sehr, dass sie sich nicht bewegen konnte. Ihr war übel. »Ich muss aufstehen ... wenn Katenmaske ...« 24 »Dies sind nicht Katzenmaskes Krieger. Sie werden dir nichts tun.« Es hieß, ihm zu vertrauen oder ihm nicht zu vertrauen. »Wieso solltest du mich betrügen?«, fragte sie leise. Ein bitterer Zug stahl sich in sein Lächeln, aber er war nicht gekränkt. »Ja, wieso?« Sie sackte nach vorn und schlief sofort ein.
2 Sie träumte. Sie geht durch so hohes Gras, dass sie nicht darüber hinwegsehen kann. Das Wispern eines vorbeistreichenden anderen Wesens dringt an ihr Ohr, und sie bleibt stehen. Gras biegt sich, die goldenen Spitzen beugen sich und verschwinden. Etwas Großes nähert sich. Sie dreht sich um, als die Pferdeschamanin sich durch die Halme drängt und vor ihr stehen bleibt. »Liathano! Ich habe dich gesucht!« Andere Stimmen fluten über sie hinweg, und das Gras und die Zentaurin erzittern wie Wasser, das von einem Windstoß bewegt wird. »Schon wieder sie! Wenn Katzenmaske sie findet, wird er sie töten, während sie schläft!« »Dann müssen wir dafür sorgen, dass Katzenmaske sie nicht findet. Wirst du es ihm erzählen?« »Das werde ich nicht tun!«
»Du hast dich zuvor gegen sie ausgesprochen, Weißfeder.« »Das habe ich. Aber jetzt sind wir sicher zur Erde zurückgelangt. Es kann sein, dass sie bei unserer Rückkehr die Hand im Spiel hatte, wie sie es uns versprochen hat. Wenn das der Fall ist, verdient sie den Tod nicht. Auch wenn ich es für das Beste halte, wenn sie sich nicht lange in unserem Land aufhält.« 25 Liath stöhnte und schüttelte sich, bis sie einigermaßen wach war, stellte dabei überrascht fest, dass ein kurzer Mantel auf ihr lag. Er bedeckte sie von den Schultern bis fast zu den Knien und bestand aus einem rauen, braunen Gewebe. Sie setzte sich vorsichtig auf, wickelte den Umhang um sich. Ihr tat alles weh. Sie hatte einen Ausschlag bekommen, und an verschiedenen Stellen waren Abdrücke von Steinen zu sehen. Ihr Nacken schmerzte, und ihr Kopf tat weh. Ältester Onkel reichte ihr eine Wasserhaut. Sie trank langsam, musterte ihre Umgebung. Es war deutlich mehr Grün zu sehen als zu dem Zeitpunkt, da sie eingeschlafen war. Die Bäume wirkten kräftiger, der Boden feuchter. Sogar auf der Wiese jenseits des Flusses standen etwa zwanzig blühende Blumen, die gesprossen sein mussten, während sie geschlafen hatte. Das Licht hatte sich verändert; es war so dämmrig wie die Düsternis vor einem Gewitter. Weißfeder betrachtete sie nachdenklich, fast misstrauisch. Weiter weg hockten Falkenmaske und Bussardmaske auf den Fersen, betrachteten erst sie und dann den Fluss. »Wie lange habe ich geschlafen? Wird es bald dunkel?« »Es wird bald dunkel, ja«, stimmte Ältester Onkel ihr zu. »Die Dunkelheit der Nacht vor einem neuen Tag. Du hast den ganzen gestrigen Nachmittag geschlafen, eine ganze Nacht und den größten Teil dieses Tages.« Sie pfiff, fühlte sich, als hätte sie einen Schlag in den Magen erhalten. »Ich bin immer noch müde! Und hungrig und durstig.« »Hunger ist ein Schmerz, den wir alle empfinden«, sagte Weißfeder scharf. »Aber bevor ich die Ratshalle verlassen habe, hörte ich ein halbes Dutzend Berichte, dass auf den alten Feldern bereits die Schösslinge sprießen. Wenn wir es schaffen, den Winter mit den Vorräten zu überstehen, die uns verblieben sind, können wir auf eine reiche Ernte hoffen. Dennoch. Ich möchte nicht erleben, dass du aus Schwäche Katzenmaske in die Hände fällst.« Sie bot Liath ein paar getrocknete Beeren und Körner an, und 25 wenn es auch mühsam war, sie zu kauen, waren sie doch essbar und füllten den Bauch. Liath nahm sich Zeit beim Essen; sie wusste, wie wenig Nahrung die Ashioi hatten. Immerhin mangelte es nicht an Wasser. Die Pflanzen schienen unnatürlich rasch zu wachsen, als würde der nachlassende Einfluss des Äthers ihr Wachstum beschleunigen; es war, als hätte dieses Potenzial jahrelang geschlummert und auf die Flut gewartet. Sie knabberte weiter. Sie wusste, dass sie die Hälfte eigentlich für später aufheben sollte, aber sie war so hungrig, dass sie alles aß. Wie Weißfeder blickte auch Ältester Onkel beiseite, als sie aß, entweder, damit sie sich nicht beobachtet fühlte, oder weil er seinen eigenen Hunger nicht verstärken wollte. »Was jetzt?«, zog sie seine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Werde ich von Katzenmaske bedroht? Wird er mich jagen?« »Nur, wenn er erfährt, dass du hier bist«, sagte Weißfeder in ihrer direkten Art. »Er befürchtet einen Angriff der Menschen.« Liath lachte bitter. »Seid ihr in dem Land jenseits des weißen Pfades gewesen, nördlich von hier? Nichts lebt dort, und kein Lebewesen kann es durchqueren.« »Du hast es durchquert.« »Ich habe es erschaffen.« Weißfeder berührte das Obsidianmesser, das in einer Scheide an ihrer Hüfte steckte. »Was meinst du damit?« »Ich bin halb aus Feuer geboren. Diejenige, die du Federkleid nennst, hat mein Herz gesehen. Deshalb haben sie mich >Strahlende< genannt.« Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war zwar bewölkt, aber trotzdem heiß. Sogar die Brise war unangenehm.
Ältester Onkel wirkte entspannter, als sie ihn jemals zuvor erlebt hatte. Er sah jünger aus, wie ein alter Mann, der durch die Rückkehr in die Welt, in der er geboren worden war, an Lebenskraft gewonnen hatte. Es war, als hätten die Wasser auch ihn getränkt, als würde er wie die Pflanzen ergrünen. »Seht nur!«, rief Falkenmaske. Sie sprang auf. Über ihr 26 schwebten zwei Bussarde. Sie schob die Maske zurück, um besser sehen zu können, und weinte stumm vor Freude. »Ein gutes Omen«, sagte Ältester Onkel und nickte. »Du bist nicht die Einzige, die dieses Land durchqueren kann. Andere werden kommen.« »Unsere Feinde«, sagte Weißfeder. »Wie kann das ein gutes Omen sein?« »Federkleid hat zwei Mädchen geboren, Zwillinge. Was für ein stärkeres Omen könnte es geben?« Die Frau schnaubte. Sie hatte ein ernstes Gesicht, das schon lange nicht mehr jung war. Die weiße Feder an ihrem Schopf bewegte sich im Wind. »Du bist schwach, Strahlende. Ich verspreche dir Folgendes als Gegenleistung für dein Versprechen, dass du für unsere sichere Heimkehr sorgen würdest. Ruh dich hier aus, bis du wieder bei Kräften bist - ich werde Katzenmaskes Aufmerksamkeit von diesem Ort ablenken. Danach musst du gehen, sonst werde ich selbst Katzenmaske und seine Krieger auf dich hetzen.« »Tu das bitte nicht«, murmelte Liath. »Du verstehst nicht...« Sie zitterte erneut, als sie von Erinnerungen überwältigt wurde. Es war zu viel. Sie hörte noch immer die Schreie, hörte, wie die Geräusche abbrachen, als das Feuer ihre Stimmen verbrannt hatte. Sie schloss die Augen und zwang ihre Erinnerung, sich hinter eine geschlossene Tür zurückzuziehen. »Oh!«, rief Falkenmaske. »Sie sind zwischen den Bäumen verschwunden! Aber da! Hört ihr es?« Aus der Nähe kam ein gereizt klingender Ruf. Bei dem unerwarteten Geräusch öffnete Liath die Augen. »Was ist das?«, fragte Bussardmaske und schob die Maske hoch. Er war genauso jung wie Falkenmaske. Sie hätten Zwillinge sein können mit ihren bronzefarbenen Gesichtern, den breiten Nasen und dunklen Augen. »Das ist eine Seeschwalbe«, sagte Liath, die den Ruf erkannte. »Sie muss hergeweht worden sein. Wie weit weg ist das Meer?« 26 »Ich habe es vergessen«, erwiderte Ältester Onkel. »Ich habe das Meer nie gesehen«, sagte Weißfeder. Die beiden jungen Krieger nickten, um zu zeigen, dass sie es ebenfalls noch nie gesehen hatten. »Ich habe nur Geschichten gehört. Ich weiß nicht, wie weit entfernt das Ufer ist. Ich bin den größten Teil des gestrigen Tages und diesen ganzen Morgen gegangen, um zu dir zu gelangen, Onkel. Federkleid hat darum gebeten, dass du zurückkehrst. Die Krieger haben sich aufgemacht, das Grenzland zu erkunden. Es wird bald eine Ratsversammlung geben.« »Was ist mit meiner Tochter?«, fragte Ältester Onkel. Weißfeder zuckte mit den Schultern. »Sie ist starrsinnig.« »Ha! Sag mir etwas Neues!« »Federkleid glaubt, dass Kansi-a-lari das Land verlassen hat. Sie kann ihre Schritte auf der Erde nicht hören. Wenn sie die Weißstraße überquert hat, wird sie für uns unsichtbar.« »Wie könnte sie solch eine Verwüstung durchqueren? Es ist ein dampfendes Ödland.« »Nördlich von hier«, sagte Liath. »Aber was ist mit den Küsten? Es könnte sein, dass sie entlang der Küste reist.« Was war aus Mücke und Moskito geworden? Sie würde es nicht erfahren, wenn sie nicht ans Meer kam, und selbst dort würde sie sie möglicherweise niemals finden. Sie hatte kaum die Kraft, aufzustehen und sich im Wald zu erleichtern, und mühte sich hinterher ebenso sehr, den Mantel eng um sich geschlungen, den Pfad entlangzugehen, um die Lichtung zu finden, auf die sie vor so kurzer und doch so langer Zeit gelangt war. Hier war ihr einmal der brennende Stein erschienen. Das Lager, für das sie tagelang - nein, monate-oder gar jahrelang -
Blätter und Gras gesammelt hatte, war so gut wie unberührt. Sie brach darauf zusammen, im Schutz einer Steineiche, und schlief erneut ein. Sanglant, der auf einem unbekannten Pferd reitet. Er ist schmutzig und blickt verbittert drein. Feuer brannte in ihrem Herzen, und in seinen Flammen er 27 haschte sie einen Blick auf Hathui und Hanna, suchte nach ihnen, suchte und rief ... aber sie war zu erschöpft, um aufzuwachen. Gnade ruft einem jungen Mann etwas zu, dessen Gesicht ihr vertraut vorkommt, obwohl sie seinen Namen nicht weiß, und er dreht sich um und sieht eine Landschaft aus brennendem Sand. Ein Löwe mit dem Körper und dem Gesicht einer Frau bäumt sich über ihr auf, versucht das Mädchen mit den Krallen zu erreichen, während sie schreit, aber es ist nicht sie selbst, die sie sieht, sondern eine junge Frau mit ebenso dunkler Haut wie sie. Ein Mann mit silbrigen Haaren springt in das Gewühl, stößt eine brennende Fackel zwischen die Sphinx und das blutende Mädchen. Als er keuchend herumwirbelt, sieht er sie und schreit »Liathano! Wo bist du?« Die Zentaurin geht am Ufer eines flachen Flusses entlang, der sich durch das Grasland schlängelt aber die strahlende Strömung zieht sie weg. Sie geht unter, und zur gleichen Zeit nährt der Äther sie, so wie er alles nährt, was ursprünglich ist. Sie rührte sich immer wieder, fand zwischendurch etwas zu essen und zu trinken neben ihrem Lager, obwohl sie sich kaum daran erinnern konnte, dass sie aß und trank; die Fäden des Äthers nährten sie, waren die ganze Nahrung, die sie benötigte. Dann wieder wachte sie in der Hoffnung auf, die Sterne zu sehen, aber der Dunst lichtete sich niemals, und es war fürchterlich warm. Gedanken tauchten mit unerwarteter Klarheit auf. Ich hätte bei Einbruch der Nacht mit der Adlersicht nach ihm suchen sollen. Das Land ersetzt eine entsprechend große Menge Wasser. Sind alle Sieben Schläfer gestorben, oder haben einige überlebt? Wenn der Faden, der das Land der Ashioi an die Erde gebunden hat, durchtrennt ist - ist uns dann die Sphäre des Äthers 27 verschlossen? Ist die Leiter des Magiers fort? Ist die Heimat meiner Mutter jetzt für mich verloren? Woher kommt der Äther, der um die Erde gewoben ist? Wird er ständig erneuert, oder wird er vergehen? Gibt es jetzt weniger Äther in der Welt, seit das Tor geschlossen ist? Bei Einbruch der Nacht sucht Hathui mit der Adlersicht im Feuer, aber sie sieht nur Bruchstücke, kleine Fetzen, die in Flammen und Schatten aufblitzen. Der Schlaf überwältigte sie - und ihre Gedanken. Was in ihrem Herzen und in ihrem Verstand war, löste sich in Träumen auf, die so fein gesponnen waren, dass jeder Faden in nichts zerfiel, in dunstige, weiße Schwaden aus Asche, die sich in alle Richtungen verteilten, sich über fahle Dünen zogen, die keinen Anfang und kein Ende kannten, sondern nur Trostlosigkeit. »Wird sie sterben? Sie ist in diesem Zustand, seit ich aufgebrochen bin. Das war vor fünf Tagen!« »Ich glaube nicht, dass sie sterben wird. Sie siecht nicht dahin. Die Substanz, die das Universum zusammenhält, nährt sie, auch wenn wir sie nicht sehen können, weil sie jenseits unserer fünf Sinne existiert. Vergesst nicht, dass sie in den Sphären gewandelt und durch den brennenden Stein gegangen ist; was sie danach noch gemacht hat, weiß ich nicht, aber wir können davon ausgehen, dass es nicht einfach gewesen ist. Jetzt zahlt sie den Preis dafür.« »Was ist, wenn Katzenmaske kommt? Er hat seine Krieger versammelt. Er hat Frieden mit Echsenmaske geschlossen, und sie schmieden Pläne, fragen sich, wann die Menschen uns angreifen.« »Katzenmaske macht mir keine Angst, Weißfeder. Kehre zu Federkleid zurück. Ich werde so bald wie möglich nachkommen.« »Federkleid kann die Ratsversammlung nicht mehr länger aufschieben. Wenn du jetzt nicht mit mir zurückkehrst, werde ich ihr sagen müssen, dass du nicht kommst. Der Rat wird ohne deine Stimme sprechen.« 27
»Ich werde sie nicht verlassen, solange sie nicht kräftig genug ist, um sich zu verteidigen.« »Sucht niemand nach ihr, Onkel? Hat sie keine Familie?« »Sie hat ihren Ehemann, aber wie sollen wir wissen, ob er lebt oder tot ist? Ich habe viele Tage am Rand der Verwüstung im Norden gestanden, jenseits der Weißstraße.« »Eine Ödnis, die Er-Der-Brennt angemessen ist! Es ist ein schrecklicher Anblick.« »Ich weiß nicht, wie weit die Verwüstung reicht. Ich weiß nicht, wer und was überlebt hat, ob sie hierhergelangen können oder ob sie es überhaupt versuchen werden.« »Dann werden wir vielleicht nicht so viel kämpfen müssen! Es würde der Menschheit recht geschehen, wenn sie sich mit ihrer Zauberei am Ende am meisten selbst schädigt!« »Ich glaube, dass wir alle gelitten haben und dass wir es weiterhin tun werden. Dieses Wetter beunruhigt mich. Wir müssten die Sonne sehen.« »Müssten wir das? Scheint die Sonne oft? Früher war es auch immer so.« »Weil es >auch immer so< war, als wir in den Äther gereist sind, ist das Land gestorben. Und so wird es auch jetzt sein, ohne Regen und Sonne. Dies sind keine natürlichen Wolken. Ich erinnere mich, wie es war, als ich ein junger Mann war. Es war nicht so. Wir haben sowohl Regen als auch Sonne gesehen.« »Ich werde all das Federkleid erzählen. Aber wenn du mich nicht begleiten willst, Ältester Onkel, darfst du dich nicht beklagen, wenn die anderen Katzenmaskes Ansichten übernehmen, nur weil er am lautesten spricht und seine männliche Brust stolzgeschwellt präsentiert.« Ein Kichern. »Ich vertraue dir, Weißfeder, dass du dich von seinen Worten nicht blenden lässt. Oder von seiner Brust. Gibt es immer noch kein Zeichen von meiner Tochter?« »Ein kleines Zeichen. Gruppen von Kundschaftern haben die Küste abgesucht und Neuigkeiten über seltsame Vorkomm 28 nisse mitgebracht. An der westlichen Küste, etwa einen Tagesmarsch von hier, wurde diese grüne Flügelfeder zwischen den Steinen gefunden. Erkennst du sie?« »Ah! Ah! Ja. Sie hat die Farbe ihrer Augen. Es ist sicherlich diejenige, die ich ihr gab, als sie die Kraft ihres Frauseins erlangt hat. Ich kann nicht glauben, dass sie sie so nachlässig weggeworfen hat.« »Uh«, stöhnte Liath und versuchte sich zu erheben. Aber sie hörten sie nicht, und sie war so müde. Wie konnte man nur so müde sein, so ohne jede Lebenskraft? »Es gab auch Spuren im Sand, aber wir konnten sie nicht deuten. Etwas wie das hier ...« Ein leichtes Kratzen führte sie in den träumerischen Nebel zurück. So beruhigend. So müde. »Ich weiß nicht. Ich müsste es selbst sehen. Es sieht aus wie der Abdruck eines ans Ufer gezogenen Bootes.« »Was ist ein Boot? Ach ja. Ein Wagen, der dich übers Wasser trägt. Wo könnte sie ein Boot finden?« »Vielleicht ist es ans Ufer gespült worden ...« Wasser, wie Feuer und Luft, ist ein Schleier, durch den ferne Anblicke von jenen gesehen werden können, die keine Angst davor haben zu sehen. Sie träumt. Sanglant und ein zerlumptes Heer mühen sich durch eine verbrannte Landschaft. Er steht bei einigen Männern in verdreckter und zerlumpter Kleidung, die ein Grab ausheben. Sie tragen die Abzeichen von Lesse, denn trotz des Schmutzes ist der stolze rote Adler sichtbar. »Einer von Liutgards Männern?«, fragt er, als sie auf dem rissigen Boden niederknien. »Unser Feldwebel, Eure Majestät«, sagt jemand. »Seine Wunde hat angefangen zu faulen; sie ist ganz schwarz gewesen und hat widerlich gestunken.« Er sieht so ernst aus, als hätte die Umwälzung auch ihn verbrannt, bis tief in die Seele. »Werden wir unsere Heimat wiedersehen, Eure Majestät?« »Dieser arme Mann nicht. Aber das Heer wird Wendar er 28 reichen, auch wenn ich befürchte, dass wer immer uns zu folgen versuchen sollte, eine Spur aus toten Männern und Pferden vorfinden wird.« »Es wird guttun, den Staub von Aosta von den Stiefeln zu schütteln. Wir sind über die hohen Pässe westlich von hier in den Süden gelangt, Eure Majestät. Wie werden wir nach Hause gehen?«
»Seht!« Er deutet auf eine Stelle, die sie nicht sehen kann, nicht einmal in ihren Träumen. »Da sind die Berge. Wir sind dicht genug, dass man sie sogar durch den Dunst erkennen kann. Diese Kerbe da markiert das Tal, das uns zum Brinne-Pass hinaufführen wird. Wenn wir den überquert haben, sind wir in den Marklanden.« »Eure Majestät.« Der eindringliche Ruf lässt die Soldaten unruhig werden, denn sie rechnen mit der Aufforderung, sich zum Kampf gegen einen noch unsichtbaren Feind bereitzumachen. »Seht nur!« Ein junger Mann auf einer störrischen Stute taucht auf. Ein Bogen hängt über seinem Rücken, und er hat die Hand ausgestreckt, deutet auf den bewölkten Himmel im Nordosten. »Die Greifen!« Rufe ertönen von allen Seiten; einige klingen verängstigt, während andere die Rückkehr der Greifen freudig begrüßen. Wie zur Antwort erschallt ein kreischender Schrei vom Himmel. Pferde wiehern, und Sanglant zügelt seinen Wallach mit dem Druck der Knie. Seine Lippen teilen sich, als er nach oben starrt und etwas sieht, das sie nicht sehen kann, und doch fühlt sie ihren Glanz, spürt die Geschöpfe, die bis auf die Knochen mit Magie durchwirkt sind. Sie fliegen über sie hinweg, weiter nach Südosten. »Wohin fliegen sie, Eure Majestät?«, fragt der junge Bogenschütze, während alle die Köpfe drehen und ihnen hinterherblicken. Sanglant schüttelt den Kopf, kneift die Augen zusammen, und einen Moment sinken seine Schultern herab, als wäre er besiegt worden. »Ich weiß es nicht.« 29 »Werden sie zurückkehren?« »Ich verfüge nicht über die Fähigkeit der Vorausschau, Lewenhardt.« Als er seine Worte hört und sie bedenkt, lächelt er kurz und drängt sein Pferd weiter. »Wir sollten dankbar sein, dass sie den Sturm überlebt haben. Wir sollten uns fragen, wieso sie ins Herz der Umwälzung fliegen.« Sie wirbelt mit dem Wind hinauf und findet sich hoch oben wieder, fliegt mit Greifenfedern. Ihre Sicht ist so scharf wie die eines Adlers. War sie nicht einmal ein Adler? Sie beherrscht die Gabe der Sicht, sogar in ihren Träumen, während sie zwischen Traum und Wach sein auf den letzten verklingenden Wogen des Äthers dahintreibt, während die Nachwehen der Umwälzung sich grollend auflösen. Der Odem der Himmel hat seinen Atem längst durch den Faden, der das abgestoßene Land mit seinen Wurzeln verbindet, in die niedere Welt verströmt. Schon bald wird diese Straße versperrt sein. Wird die Magie der Erde verklingen, nicht länger genährt durch diese Kraft? Äther ist ein Element wie die anderen vier, eingewoben in das Gewebe des Kosmos. Sicher wird etwas vom Hauch des Äthers auf der Erde zurückbleiben. Doch das Wissen um die Zukunft ist ihr verschlossen, denn sie ist hier verwurzelt. Was sein wird, ist nicht einmal als Schatten jenseits eines durchlässigen Schleiers zu sehen; es liegt hinter einem undurchdringlichen Vorhang. Nur die Ursprünglichen, die im reinen Äther atmen, können in der Zeit vor und zurück sehen. Nur Gott können die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sehen, als wenn alles eins wäre. Hat ihre Mutter gewusst, welches Schicksal sie erwartet? Ist sie freiwillig in jene Dunkelheit gegangen, oder hat sie dagegen angekämpft? Hat sie meinen Vater eigentlich geliebt? Ich werde es nie wissen. Die Landschaft streicht unter ihr vorbei, eine verwüstete Kette staubverhüllter Berge und niedergemähter Wälder. Hin
29 und wieder gerät ein Dorf in Sicht, abgedeckte Dächer, niedergerissene Zäune, tote Tiere, die in salzigen Tümpeln treiben. Mit jeder Wegstunde, die sie sich nach Südosten bewegen, werden die Narben des Landes deutlicher sichtbar. Diejenigen Bäume, die noch stehen, sind auf der einen Seite verbrannt. Der Boden ist versengt und kahl. Sie wenden sich nach Süden, und sie riecht das Meer. Wellen klatschen gegen ein arg mitgenommenes Ufer. Sie fliegen über eine zerstörte Stadt hinweg, deren Steinmauern eingestürzt sind. Eine Küchenschabe huscht zwischen den Steinen umher. Nein. Es ist ein Mensch, klein und zerbrechlich, aber immer noch am Leben. Dann bleibt die Stadt hinter ihnen zurück. So nah am Meer bewegt sich nichts als der Wind durch das, was von den Pflanzen noch übrig geblieben ist. Draußen auf dem Wasser sieht sie den glatten Rücken eines Merwesens die Oberfläche zerteilen und wieder hinabtauchen. Ist es Mücke oder Moskito?
Der Greif schreit, setzt zu einer weiten Kurve nach rechts an. Unter ihr bewegen sich menschliche Gestalten parallel zum Ufer. So viele! Mindestens zweitausend, oder vier- oder zehntausend, es ist unmöglich, so viele zu zählen. Ein Heer von Flüchtlingen, die zu zweit oder dritt nebeneinander in die schlimmste Verwüstung hineingehen. Viele davon sind Kinder und alte Leute. Es scheinen ihnen weitere Gruppen zu folgen, die sich alle in die gleiche Richtung bewegen. Sie will aufschreien. Sie möchte sie warnen: »Kehrt um! In dieser Richtung liegt das Verderben!« Aber sie hat keine Stimme. Und dann sieht sie sie richtig. Ihren Gesichtern und ihrem Körperbau nach sind es Ashioi. Woher sind sie gekommen? Bei den Verbannten waren nicht so viele Kinder wie in dieser Gruppe. Die Größeren helfen den Kleineren. Die Krieger marschieren vorneweg und als Nachhut, um die Hilflosen zu beschützen, die auch die Kostbarsten sind. Sie sind gut gekleidet, in Tuniken und knielange Um 30 hänge, und die Krieger tragen fein gearbeitete Rüstungen und in leuchtenden Farben bemalte Masken. Die Ashioi, bei denen sie - wenn auch nur kurz - gelebt hatte, waren arm gewesen; niemand von ihnen hatte mehr als einen Fetzen Stoff oder ein abgenutztes Fell gehabt, um sich zu bedecken, nicht einmal die Krieger. Deshalb schläft sie unter einer Decke aus gewebtem Schilf. Ältester Onkel hatte nicht einmal eine zusätzliche Tunika, die er ihr hätte geben können, damit sie nicht nackt schlafen - und wach sein - musste. Alle Tiere waren in der Verbannung gestorben, und zum Schluss waren sogar die Flachsfelder verwelkt. Dies sind nicht die gleichen Leute. Aber wer können sie dann sein? Weiter vorn steigt der Boden an, kennzeichnet den verbrannten Bereich. Im Nordosten dampft die Erde, aber entlang dem Ufer bleibt der Weg begehbar, denn das Meer hat das Feuer gelöscht, das aus der Tiefe gekommen war. Die Erde ist ruhig. Die Alten haben ihre Macht zurückgezogen. Alles, was noch übrig ist, ist das Ödland. Ein Boot ist ans Ufer gezogen worden. Eine einzelne Gestalt eilt den Flüchtlingen laut rufend entgegen, um sie zu begrüßen. Ihr Sichtfeld verengt sich. Den Blick starr auf ihre Beute gerichtet, erkennt sie, wen sie da sieht: Sanglants Mutter, die auch Ältester Onkels einzige Tochter ist. Kansi-a-lari rennt weiter, bleibt dann stehen und starrt den Mann an, der die Übrigen anführt. Ihr Mund öffnet sich. Sie ruft laut etwas, und er lacht, belächelt sie. »Du bist also diejenige!«, sagt er. »Ich bin deinem Sohn begegnet. Aber ich habe ihm nicht geglaubt. Ich grüße dich, Tochter.« »Tochter?« Ihre grimmige Miene verdüstert sich, und sie zieht die Brauen verwirrt zusammen, während sie den Prinzen anstarrt, der sicherlich jünger ist als sie. »Wieso nennst du mich -« »Seht nur! Seht dort oben!« Hinter ihm hebt eine Kriegerin
30 mit einer Fuchsmaske ihren Bogen, zieht die Sehne weit zurück und schießt einen Pfeil ab. »Ha!«, rief Liath. Sie fuhr aus dem Schlaf und erschreckte Ältester Onkel, der wie immer dasaß und biegsame Weidengerten zu einem großen Korb flocht. »Oh Gott!«, sagte sie einen Augenblick später enttäuscht und zog den Mantel fester um sich, während Ältester Onkel kicherte. »Gibt es wirklich überhaupt nichts, was ich anziehen könnte?« »Oh doch, Tochter. Die Frauen haben sich Gedanken gemacht, was sie für dein Schamgefühl tun können. Sieh her.« Aus einem zweiten Korb nahm er ein zusammengefaltetes Stück Stoff, als wäre es kostbarer als Gold. »Aus den Höhlen unterhalb der Ratskammer sind die letzten Schätze geholt worden, Öl und Korn für die allerletzte Dürre, bronzene Werkzeuge, Stoffe und die Schriftrollen, die Er-Der-Brennt geweiht sind.« Der Stoff war ungefärbt, aber im Laufe der Jahre vergilbt. Er war schön gewebt und bestand aus einem Faden, der so weich war, dass sie nicht wusste, was es war. Als sie den Stoff auseinanderfaltete, erwies er sich als ärmellose Tunika, die ihr bis zu den Knien reichte. Sie zog sie rasch an. Die Tunika war eigentlich nichts weiter als zwei gerade geschnittene Rechtecke, die an den Seiten und den Schultern zusammengenäht worden waren. Aber das genügte vollauf. Sie zog den Mantel darüber und ging zum Fluss, um zu trinken. Beeren reiften am Ufer, und sie aß, bis ihre Finger purpurrot waren, obwohl die Beeren säuerlich schmeckten. »Ich bin so hungrig! Oh! Ich werde Bauchschmerzen davon bekommen.«
»Du fühlst dich besser«, sagte Ältester Onkel, der ihr gefolgt war. Sie sah keinen Hinweis auf Falkenmaske und Bussardmaske. »Stärker, ja. Ich habe geträumt ...« Ein Hornruf erklang im Norden. 31 »Es war kein Traum! Komm, rasch!« Während sie schlief, hatten sie eine Seilbrücke über dem rauschenden Fluss angebracht - drei dicke Seile, die straff zwischen Bäumen gespannt worden waren, eins für die Füße und zwei andere darüber, um sich festzuhalten. Sie fand schnell heraus, wie sie sich bewegen musste, und balancierte über den Fluss, den Bogen über der Schulter und Ältester Onkel hinter sich. Der Blumenpfad war an einigen Stellen bunt erblüht, doch alles war von einer Haut aus grauer Asche überzogen, die Blätter und Steine umhüllte. Sie beschattete die Augen, dann ließ sie die Hand sinken. »Es gibt keine Sonne«, sagte Ältester Onkel. »Ich erinnere mich aus meiner Jugend an die Sonne, aber wir haben sie nicht öfter als zwei- oder dreimal gesehen, während du geschlafen hast, und dann auch nur für sehr kurze Zeit.« »Wie lange habe ich geschlafen?« Sie betraten den Schatten des Kiefernwaldes, zermatschten herabgefallene Nadeln unter ihren Füßen. Vorher war alles so trocken gewesen. Jetzt wirkte es feucht. »Zehn Nächte. Vielleicht auch elf. Ich habe vergessen mitzuzählen. Die Tage sind dunstig, und der Rat verhandelt.« »Sieh nur.« Sie deutete auf den Wachturm. Falkenmaske hockte auf der obersten Mauer und starrte nach Westen. Bussardmaske sah sie und kam zu ihnen gelaufen. »Wer sind sie?« »Von wem sprichst du?«, fragte Ältester Onkel. Bussardmaske klang wie ein Jugendlicher; es war nicht sicher, ob er den Stimmbruch schon hinter sich hatte. »Es kommt ein Heer über die Weißstraße! Sie sind nicht wie wir gekleidet, aber viele tragen Kriegermasken.« Liath rannte zum Wachturm und kletterte zu Falkenmaske hinauf. Die junge Frau sah sie überrascht an, dann grinste sie und machte ihr Platz. Sie war jung und kühn und hatte keine Angst vor der Höhe, aber Liath machte es benommen, hier oben zu stehen, während direkt unter ihnen zunächst die Mau 31 er und dann die Bergflanke steil abfiel. Aber das schwindelerregende Gefühl war nicht schlimmer als der Anblick, der sich ihr in Richtung Norden bot: das verwüstete Ödland, das von jenem Ausbruch gezeichnet war, durch den Anne und ihre Leute getötet worden waren. Die meisten von Annes Anhängern hatten kein größeres Verbrechen begangen als das, loyal gewesen zu sein. Welcher Mensch würde sich schon den Forderungen der Skopos entgegenstellen? Aber Anne hatte sich nicht um ihre Tugenden geschert, oder um ihre Sünden, sie waren Schachfiguren gewesen, nichts weiter, und Schachfiguren konnten geopfert werden. Hinter ein paar Bäumen kam kurz die erste Gruppe der Neuankömmlinge in Sicht, verlor sich dann wieder hinter Blattwerk. Ältester Onkel sprach ein Wort und sank auf die Knie. Er wäre gefallen, hätte Bussardmaske ihn nicht gestützt. »Was ist los, Onkel? Was hast du?« »Ich bin getroffen worden«, sagte er zu dem Jüngeren. »Mach sie auf dich aufmerksam«, sagte Liath zu Falkenmaske. »Es sind so viele! Und noch mehr folgen ihnen! Ich habe noch nie so viele Leute gesehen!« Die junge Frau zögerte. Sie war unsicher. »Ist es nicht gefährlich?« »Es sind Leute von eurem eigenen Volk.« Sie kletterte wieder hinunter und kniete sich neben Ältester Onkel, der zu schwach wirkte, um sich zu erheben. »Ist es dein Herz?«, fragte sie voller Angst, dass er an Ort und Stelle sterben würde. »Es ist mein Herz.« Er weinte stumme Tränen, als die Dahinziehenden unterhalb von ihnen auf der Weißstraße auftauchten. Es war ein seltsamer Anblick mit der steilen Bergflanke und dem
zerrupften Wald auf der einen Seite des kalkigen Straßenbandes und der vernarbten, öden Erde, die sich so weit nach Norden erstreckte, wie das Auge reichte, auf der anderen. Es sah aus, als wären diese Flüchtlinge zwischen zwei Welten gefangen, wie es seit Jahrhunderten der Fall gewesen war. Sie ging den Hang hinunter, um sie zu begrüßen. Ihre Haa 32 re waren wirr und verknotet, und ihr Körper klebte vor Schweiß und Schmutz. Ich hätte zwischendurch ein Bad nehmen sollen. Sie trat auf die Weißstraße. Die Marschierenden folgten einer Biegung des Weges, der hinter Bäumen und einem fernen Bergkamm verschwand. Es waren die gleichen Leute, die sie in ihrem Traum gesehen hatte. Der Mann, der sie anführte, trug im Gegensatz zu den Tiermasken der anderen Krieger einen Helmbusch. Er hatte ein stolzes, gutaussehendes Gesicht und kam ihr auf eine Weise vertraut vor, die sie nicht verstand. Als sie sich näherten und begriffen, dass Liath sich nicht vom Fleck rühren würde, hob er die Hand, und die anderen kamen hinter ihm zum Stehen. Er sah Liath von oben bis unten an, während eine Frau mit einer Fuchsmaske neben ihm finster dreinblickte, aber es war Sanglants Mutter, die vorne stand, die als Erste sprach. »Liathano! Wo ist mein Vater?« Liath machte eine Geste. »Sie ist das?«, fragte der gutaussehende Mann. »Dies ist die Frau deines Sohnes, von der du gesprochen hast?« Sein Blick folgte ihrer Geste, und er sah zu dem alten Mann, der gestützt von Bussardmaske gerade den steilen Hang herunterkam. Ein kühler Wind aus dem Norden rauschte durch die Blätter. Draußen im Ödland stieg Staub zum Himmel empor, bis der Wind schlagartig aufhörte und Millionen Staubkörnchen auf den nackten Fels sanken. »Ich dachte, er wäre verloren«, keuchte er. Sein Speer fiel klappernd zu Boden, aber er achtete nicht darauf, sondern sprang wie ein Hirsch vorwärts und den Berg hinauf. Es waren nicht viele Schritte. Sie waren so nah beieinander und konnten sich deutlich sehen. Liath lief ihm nach, aber als er zwei Schritte vor Ältester Onkel stehen blieb, blieb auch sie stehen. Sie starrte beide an, begriff jetzt zum ersten Mal, wieso der junge Mann ihr so vertraut vorgekommen war. Die Daemonen der oberen Sphären können in der Zeit voraus und zurück se 32 hen, weil die Zeit keine Macht über sie hat; sie leben oberhalb der mittleren Welt, in der alle lebenden Kreaturen dem Joch der Zeit unterworfen sind. Einen Moment lang war sie wie entrückt, sah wie ihre Verwandten beides zugleich: Jugend und Alter, was gewesen war und was sein würde. Ältester Onkel und der junge Krieger waren der gleiche Mann, aber der eine war alt - und der andere war jung. Ältester Onkel bedeckte die Augen und zitterte. Der andere schüttelte den Kopf, als wäre er wahnsinnig. »Bruder!« »Wie ist das möglich?« Es war nur ein Flüstern. Sie wusste nicht, wer von ihnen sprach. Bussardmaske ließ den alten Mann los, und der junge machte einen Schritt auf den alten zu, und sie umarmten sich, hielten einander fest, zwei Wesen, die in ihren Herzen eins waren. »Verstehst du jetzt?«, fragte Sanglants Mutter. Als sie neben Liath trat, deutete sie mit einem leichten Recken des Kinns auf die Männer. Sie lachte, aber nicht freundlich, wie Liath verblüfft bemerkte. »Wieso hast du etwas gegen mich?«, fragte Liath sie. »Ich weiß es nicht. Es ist einfach so.« »Wie kann es sein, dass du etwas gegen jemanden hast, den du nicht kennst?« »In der Zeit, als ich mit meinem Sohn zusammen war, musste ich mir immer und immer wieder anhören, wie er von dir gesprochen hat - von dir und vom Kämpfen. Es gibt nur zwei Dinge, über
die er jemals richtig nachgedacht hat, sofern man überhaupt sagen kann, dass ein Mann richtig nachdenkt, sobald sein Schwanz betroffen ist.« »Du scheinst deinen Sohn nicht sehr zu mögen.« »Er ist nicht das, was ich mir gewünscht hatte.« Liath lächelte scharf, wünschte sich, sie wäre wie Sanglant in der Lage, andere mit schlauen Worten und einem Heben der Schultern in Furcht zu versetzen. »Er ist das, was er ist, nicht 33 mehr und nicht weniger. Wenn dir das nicht gefällt, hast du wohl deine Chance versäumt, ihn zu etwas anderem zu machen, nicht wahr? Er ist Henrys Sohn, nicht deiner.« »Geboren von der Menschheit«, sagte Kansi spöttisch. »Seht nur!«, rief Falkenmaske von der Mauer herab. Sie hielt sich mit einer Hand an dem höchsten Stein fest, als sie sich jetzt erhob und darauf entlangging, obwohl die Mauer vor und hinter ihr steil abfiel. Sie deutete zum Himmel. Die beiden Männer lösten sich aus ihrer Umarmung und starrten zum bewölkten Himmel. Wie seltsam es war, einen Menschen sowohl alt zu sehen als auch jung. Es war, als hätte die Zeit ihn halbiert und sich in ihrem kreisförmigen Lauf schließlich selbst eingeholt. Ein Licht zuckte kurz hinter den Wolken auf, war aber rasch wieder verschwunden. »Wir haben zwei Greifen gesehen«, sagte der junge Mann. »Aber unsere Pfeile haben sie vertrieben.« Hoffnung breitete sich in Liath aus, aber sie sagte nichts. Ältester Onkel legte dem anderen Mann eine Hand auf die Schulter, was ihm augenscheinlich neue Kraft verlieh, und starrte die Neuankömmlinge an, die auf der Weißstraße warteten. »Wer sind diese Leute? Wo kommt ihr alle her?« »Wir waren seit den alten Tagen zwischen den Welten gefangen. Jetzt, da ihr zurückgekehrt seid, sind wir aus den Schatten befreit worden.« »Gibt es noch mehr von euch?« »Ich war bei der einen Gruppe, aber wir haben viele andere getroffen. Es kommen noch mehr hierher.« »All diejenigen, die vor dem Ende zur Grenze geschickt worden sind«, sagte Ältester Onkel. »Was meinst du damit?«, fragten Sanglants Mutter und Bussardmaske zur gleichen Zeit. »Ich muss mich setzen«, sagte er entschuldigend, aber es war der junge Mann, der ihn besorgt zum Turm führte und sich dort neben ihm niederließ. Er musterte ihn, als wollte er sich jede Falte und jede Runzel einprägen. 33 »Ich hätte nie gedacht, dass ich dich noch einmal wiedersehe«, sagte der junge Mann. »Ich dachte, ich hätte dich verloren.« »Ich auch. Ich war verzweifelt, aber dann habe ich doch weitergelebt.« Sie berührten sich ungezwungen, eine Hand lag sorglos auf dem Knie oder der Schulter des anderen. Es war, als gäbe es ein Missverständnis zwischen ihnen, als hätten sie vergessen, dass es gewöhnlich einen wenn auch unendlich kleinen Raum zwischen dem einen Körper und dem anderen gab, einen Raum, der die eine Seele von einer anderen trennte. »Du bist alt.« »Ich bin der Ältere.« »Du siehst nicht schlecht aus für einen alten Mann! Nicht so wie der warzige, schwabbelige alte Priester von Schlangenkleid.« Sie lachten zusammen, kicherten fast, wirkten plötzlich jünger, als es ihrem Alter entsprach. Sie waren wieder Jungen. Brüder. Zwillinge. »Seht ihr nicht, was das bedeutet?«, fragte Sanglants Mutter, die Fäuste in die Hüfte gestemmt. Sie wirkte angeekelt, als sie sah, wie sie sich an den Armen berührten. »Von Norden her werden noch mehr kommen! Katzenmaskes Heer wird wachsen. Mit einer solchen Streitmacht brauchen wir unsere Feinde nicht mehr zu fürchten.«
»Katzenmaskes Heer?«, fragte der Jüngere, wandte sich dabei von seinem Bruder ab. »Wer ist Katzenmaske? Was hat er mit mir zu schaffen?« »Pfft! Sie-Die-Erschafft wird viele Fragen zu beantworten haben! Wirst du wie die übrigen jungen Männer herumstolzieren und um die Führung kämpfen wie all die anderen pissenden Hunde?« Er kniff die Augen zusammen. »Du bist durch das Blut meine Tochter. Meine Nichte. Sprich mit deinen Älteren nicht so!« »Du bist jünger als ich! Ich habe einen erwachsenen Sohn! Ich kann sprechen, wie ich will!« 34 »Offensichtlich ist sie mehr deine Tochter als meine, Zuangua«, sagte Ältester Onkel und lachte pfeifend. »Schnell wütend, aber langsam, wenn es um Weisheit geht. Ihr seid beide ungeduldig. Und so habe ich an dich gedacht, als ich ihr einen Namen gegeben habe.« Statt darauf zu antworten erhob sich Zuangua und starrte nach Norden, ließ seinen Blick über den Horizont schweifen. Jetzt konnte Liath die Ähnlichkeit mit seinem Zwillingsbruder, seiner Nichte und Sanglant in den Konturen seines Gesichtes deutlich erkennen. Sie spürte die Wärme einer erwachenden Begierde, als sie in ihm einen attraktiven Mann erkannte. Bis er sie ansah. Seine Miene veränderte sich, nur ein leichtes Anspannen der Lippen, ein kleines Rümpfen der Nase, aber sie spürte seine Verachtung, wusste, dass er ihr Interesse erkannt und es zurückgewiesen hatte. Sie zurückgewiesen hatte. Sein Hohn schmerzte. Sie war Gleichgültigkeit von Männern nicht gewohnt. Sie hatte ihr Interesse nicht gewünscht oder gesucht, aber sie hatte sich daran gewöhnt. Sogar König Henry, der mächtigste Mann, den sie jemals getroffen hatte, hatte ihm nachgegeben. Das ist also der Preis für meine Eitelkeit, dachte sie und genoss es, ihn kühl anlächeln zu können. Er wandte sich von ihr ab und seinem Bruder zu. »Wir werden zurückkehren, alle, die jenseits der Weißstraße gefangen waren, als der Bann gewebt wurde. Wir, die einst Schatten waren und wieder aus Fleisch bestehen. Wir wollen Rache für das, was wir erlitten haben. Wir werden Tag für Tag zurückkehren, jeden Tag mehr, wie eine anschwellende Flut. Wenn wir alle zu Hause sind, werden wir ein Heer aufstellen und die Menschheit vernichten. Unseren alten Feind.« »Wir sind stärker, als ich dachte«, murmelte seine Nichte. »Es sind bereits mehr zu uns gekommen, als von uns in der Verbannung überlebt haben.« »Es ist nicht der richtige Weg«, sagte Ältester Onkel. 34 »Das hast du immer behauptet, aber sieh doch nur, was sie uns angetan haben.« Zuangua deutete auf die öde Wildnis. »Das ist das, was die Menschen erschaffen haben - ein Ödland. Du bist alt. Unser Volk ist geschwächt. Das hat Kansi selbst gesagt, und wenn diese Fetzen das Beste sind, was du zum Tragen hast, erkenne ich die Wahrheit in ihren Worten. Die Menschen sind zahlreich, aber sie sind schwach, und die Umwälzung hat ihnen Schaden zugefügt.« Er berührte den fleckigen Stoff an seiner Schulter. Ein Verband. »Ihr König hat mir diese Wunde zugefügt, aber ich habe ihn getötet. Er ist tot, und dein Enkel ist an seine Stelle getreten.« An seine Stelle getreten. Liath wich einen Schritt zurück. Die anderen bemerkten es nicht, sie achteten zu sehr auf Zuanguas Worte. »Er sucht ein Bündnis. Wir haben zusammen gekämpft, als seine Not groß war, aber jetzt müssen wir ihn als Gefahr betrachten. Wir können den Menschen nicht trauen.« »Wir haben ihnen in den alten Tagen getraut.« »Einigen. Die anderen haben immer gegen uns gekämpft, und sie werden es wieder tun. Sie werden uns niemals trauen.« »Nein, das werden sie nicht«, sagte Kansi. »Sie hassen uns. Sie fürchten uns.« »Glaubst du das auch von deinem Sohn?«, fragte Ältester Onkel. »Sein Herz ist bei seinem Vater. Ich kenne ihn nicht.« »Niemand von uns kennt ihn. Wir sollten so viel wie möglich herausfinden, das Gelände erkunden, ehe wir voreilig handeln.«
»Wir sollten handeln, bevor wir tot sind!«, erwiderte Zuangua. »Das hat deine Tochter mir geraten.« »Ja.« Ältester Onkel seufzte und schloss für einen Moment die Augen. »Der erste Pfeil trifft am tiefsten. Du wirst ihr glauben, was immer die anderen auch zu sagen haben.« Liath war inzwischen vier Schritte zurückgegangen, langsam und mit Pausen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. 35
»Seht nur!«, rief Falkenmaske von der Mauer. »Ist das ein Adler?« Auf der Weißstraße hoben hundert Krieger ihre Bögen und legten Pfeile an. »Lasst sie gehen.« Ältester Onkel fing Liaths Blick ein und reckte das Kinn - eine Geste, die der seiner Tochter auf unheimliche Weise ähnlich war. Eine unausgesprochene Botschaft lag darin: Jetzt! Sie stürzte davon. Kansi sprang hinter ihr her und bekam den Saum ihres Mantels zu fassen, aber als Liath zog und Kansi zerrte, schloss Ältester Onkel die Augen und murmelte leise Worte. Die gebundene Kordel löste sich auf, und der Mantel glitt von ihren Schultern und in den festen Griff der Ungeduldigen. Kansi taumelte, und Liath lief weiter. »Sie ist die Gefährlichste von allen -«, schrie Kansi. Andere Stimmen riefen hinter ihr her. »Diese magere, schmutzige Kreatur ist eine Gefahr für uns ?« »Sie ist nicht nur eine Zauberin ... sie ist auch in den Sphären gewandelt!« »Lass sie gehen, Zuangua! Ich bitte dich - bei dem Band, das uns im Leib unserer Mutter verbunden hat.« Sie stolperte über die Weißstraße und stürzte und prellte sich das Schienbein, als sie über den nackten Boden voller Asche und loser Steine rutschte. Der Boden schien sich aus eigenem Antrieb zu wellen, und scharfe Kanten schnitten in ihre Fußsohlen. Blut fiel zischend auf den Stein, dessen Oberfläche sich auflöste und dampfte, als sie auf einen flachen Felsbrocken zusprang, der fest wirkte. Sie roch die Schärfe von Zauberei, einen Bann, der sie aufhalten und ergreifen sollte: Ashioi-Ma-gie, die den Kern der Dinge beeinflusste. Liath suchte nach ihren Flügeln aus Flammen, aber die Erde band sie. Sie war durch das Fleisch gefangen, das sie von ihrem Vater ererbt hatte. »Hai!«, rief Zuangua hinter ihr. »Los, Bogenschützen! Lasst sie nicht entkommen!« 35 Sie musste sich umdrehen, um sich dem Angriff entgegenzustellen. Zwanzig Pfeile gingen in Flammen auf, und die Feuerwoge vernichtete auch die nächste Salve. Aber sie würden wieder schießen. Pfeile hatten sie schon einmal zu Fall gerächt. Sie besaß nur eine einzige Möglichkeit, sich gegen Pfeilschüsse zu verteidigen, und die konnte sie nicht nutzen, nicht einmal, um ihr eigenes Leben zu retten. Nie wieder. Sie würde lieber sterben als zulassen, dass noch einmal jemand von innen nach außen schmolz. »Ich werde sie festhalten!«, rief Kansi. »Der Stein wird sie verschlingen!« Eine dritte Salve stieg in die Luft empor und verwandelte sich in Funken und einen Regen aus dunkler Asche, als sie Feuer in die Schäfte rief. Der Fels unter ihr zersplitterte mit einem lauten Knacken. Der Boden riss auf, und sie stürzte. Ein von Flügeln erzeugter Windstoß und eine schwüle Hit-e schwappten über sie hinweg, und der goldene Greif kam herabgeglitten, packte sie mit den Klauen an den Schultern. Mit einem Ruck stiegen sie auf, sackten dann wieder ab, so dass sie "ich die Knie an den Felsen aufschürfte, ehe es wieder nach oben, in die Luft ging. Aber sie waren noch nicht außer Reichweite. Noch mehr Krieger waren jetzt auf die Straße gekommen, verteilten sich auf Zuanguas Befehl hin, um besser ihre Pfeile abschießen zu können. Der Greif gewann nur mühsam an Höhe. Liath war zu schwer. Aber auch die Tiere waren Taktiker. Rufe und Schreie brachen unter den Ashioi aus, als das silberne Männchen von hinten dicht über die Marschierenden hinwegstrich. Die Ablenkung genügte, um sie außer Reichweite zu tragen und dem Silbernen zu gestatten, abzudrehen und in Richtung Landesinneres zu fliegen.
Von den Klauen des Greifen gehalten und sich der Tatsache bewusst, dass ihr Gewicht eine Last war, wagte Liath es nicht, sich zu bewegen, um einen letzten Blick auf Ältester Onkel zu werfen. Ihre Kehle war trocken, und ihr Herz schmerzte. Sie
36 fürchtete, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Welches Recht hatten sein Bruder und seine Tochter, aus Wut auf ihre alten Feinde über Sanglant zu richten und den alten Mann so von seinem einzigen Enkel fernzuhalten? Jedes Recht, würden sie sagen. Aber es machte Liath wütend, dass Ältester Onkel niemals seinen Enkel sehen würde, dass er seiner Urenkelin nie einen Kuss auf die Stirn drücken könnte, sofern Gnade überhaupt noch lebte. Nein, sie wusste es tief in ihrem Herzen. Sie hatte wahre Visionen gesehen. Gnade hatte die Umwälzung ebenso überlebt wie Sanglant. »Wir werden sie finden«, schwor sie sich. Der Griff des Greifen wurde fester und zwang ihr Tränen in die Augen, die heiß waren vor Schmerz, Wut und Trauer, als sie tief über das Ödland flogen und sie all seine hässliche Pracht sah. Eine versengte Wildnis aus Asche, Stein und einer Schicht aus nach wie vor qualmendem, geschmolzenem Fels, der im Laufe der Tage abkühlte und härter wurde. Der tief in die Erde führende Tunnel war verschlossen; dafür hatten die Alten gesorgt. Aber die Zerstörung breitete sich viele Wegstunden in alle Richtungen aus, und als sie schließlich wieder Bäume sehen konnte als sie an Stellen gelangten, an denen sie nicht verbrannt waren -, waren sie alle in die gleiche Richtung umgestürzt. Viele Stämme standen auch noch, aber sie waren alle auf einer Seite versengt. Während sie ruhten und flogen und ruhten und flogen, blieb das am schlimmsten zerstörte Gebiet allmählich hinter ihnen zurück, und sie sah wieder Pflanzen, aber niemals Sonne und selten Regen. Hin und wieder flackerten im Norden Blitze auf. Einmal sah sie einen zerlumpten Mann mit drei Schafen einen staubigen Weg entlanggehen; erstaunlicherweise blickte er nicht auf, als der Greif einen Ruf ausstieß, als hätte er sich entschieden, dass es besser war, nichts zu wissen. Es ist niemals besser, nichts zu wissen. Der Schmerz in ihren Schultern war schlimm, aber dass sie ihn ertrug, brachte sie ihrem Ziel näher. Was, wenn sie nie er 36 fuhr, was mit den anderen geschehen war? Wenn die Greifen Sanglant nicht finden konnten? Wenn sie Gnade niemals zurückerhielten ? Monate - oder zumindest Wochen - waren vergangen, seit sie, Sorgatani, Edelfrau Bertha und ihre Gefolgschaft in Annes Hinterhalt gestolpert waren. Sie würde vielleicht nie erfahren, ob ihre treuen Kameraden den Sturm überlebt hatten. Hanna könnte tot sein, der arme Ivar für immer verloren in der Wildnis, die aus der Ferne, der Zeit und den Ereignissen gebildet wird, die uns einen unerwünschten Pfad entlangziehen. Es gab so wenige, die sie als Verwandte oder Kameraden bezeichnete, dass der Gedanke, einen einzigen dieser Menschen zu verlieren, sie zum Weinen brachte. Eigentlich hatte sie sie schon vor Jahren verloren, an dem Tag, als sie durch den brennenden Stein getreten und die Leiter des Magiers hinaufgestiegen war. Sanglant hatte recht: sie hatte sie verlassen. Ich hatte keine Wahl. Es wurde dunkel. Sie sehnte sich ebenso sehr nach ein paar Augenblicken der Erholung vom Anblick der verwüsteten Landschaft, wie der Greif angesichts der Last, die sie für ihn war, eine Pause brauchte. Die Landung auf einer breiten Lichtung war holprig, und sie schürfte sich ein Knie auf, aber sie brach sich nichts. Das Wasser eines Baches, das barmherzigerweise klar war, löschte ihren Durst, aber zwischen den vertrockneten Pflanzen fand sich nichts Essbares. Gott, und sie war so hungrig! Sie fror, und ihre Schultern schmerzten so sehr. Eine Klaue hatte ihre Haut über der rechten Brust aufgerissen. Blut sickerte durch die Tunika, und als sie Gras ausrupfte, um es auf die Wunde zu pressen, machte die Bewegung die Schmerzen noch schlimmer. Während es dunkler wurde, saß sie mit geschlossenen Augen da und versuchte, den Schmerz wegzuatmen. Das Weibchen hockte beschützend über ihr, so dass sie sich im Schutz ihrer weichen Kehle und abseits der schneidenden Flügel zusammenrollen konnte, denn sie hatte nicht einmal einen Mantel, um sich zu bedecken. Sie schlummerte ein, obwohl sie sich vor
37 genommen hatte, Holz für ein Feuer zu sammeln. Die Greifen schnauften und keuchten die ganze Nacht, und Liath schlief unruhig, wachte immer wieder auf und starrte zum Himmel, aber sie sah niemals auch nur einen Stern. Es war sehr kalt, aber wie bei ihr, so war auch in das Wesen der Greifen Feuer gewoben, und das hielt sie am Leben, wie es einst die Schweine getan hatten. Sie lächelte schläfrig, als sie sich an die Namen erinnerte. Hib, Nib, Jib, Bib, Gib, Rib, Tib und die Sau Trotter. Dumme Namen. Es schien so weit zurückzuliegen. Sie beschwor Hugh vor ihrem geistigen Auge, aber er ängstigte sie nicht. Furcht und Schmerz waren jetzt ein Teil von ihr, auf die gleiche Art und Weise in ihre Knochen und in ihr Herz gewoben wie das Wesen ihrer Mutter. Es machte sie zu nichts weniger als dem, was sie war. Dahinströmendes Wasser grub eine Rinne in den Boden, die die Menschheit als Fluss bezeichnete, und in jedem Winter und mit jedem Hochwasser im Frühling konnte sich diese Rinne verlagern und verändern, aber der Fluss blieb stets der gleiche. Sie träumte. Einst war der Äther wie ein Fluss gewesen, der auf dem Weg von den Himmelssphären zur Erde der tiefen Rinne gefolgt war, die die Erde mit dem Land der Ashioi verbunden hatte, fetzt jedoch gibt es Breschen in den Ufern der Rinne, und sie ist verschüttet, und der Äther fließt stattdessen in tausend Rinnsalen weiter, verteilt sich überallhin, dringt als Tröpfeln in alle Dinge ein. Sie geht auf einem Fluss aus Silber, der durch das Weideland fließt, aber es wartet niemand auf sie, nur die Überreste des verwüsteten Lagers der Pferdemenschen und ein paar hastig ausgehobene Gräber. Der Morgen brach ohne Sonnenaufgang an, und die Helligkeit war so diffus, dass überhaupt nicht klar war, ob das Licht wirklich von Osten kam. Es war ganz ruhig, kein Windhauch zu 37 spüren. Ein Zweig knackte, und das Geräusch war so laut, dass Liath aufsprang, während das silberne Männchen einen he-ausfordernden Schrei von sich gab. Am anderen Rand der Lichtung tauchten ein paar Männer auf, die Speere und Knüppel in den Händen hielten. Sie sahen zwielichtig und verzweifelt aus - wie Räuber. Lange Zeit starrten sie nur zu ihr herüber, als wollten sie abschätzen, was sie zu bieten hatte und welche Gefahr sie darstellte. Liath hielt ihren Bogen fest, aber sie hatte keine Pfeile. Ihr Köcher war wie alles Übrige verbrannt, sogar ihr guter Freund, Lucians Schwert. Schließlich trat einer der Männer vor und legte seine Waffe auf den Boden. Er sprach einen dariyanischen Dialekt, die Sprache der Ortsansässigen, so dass sie das Wesentliche verstehen konnte. »Bist du ein Engel oder ein Dämon? Von wo kommst du?« »Ich bin das, was ihr in mir sehen wollt«, antwortete sie mutig. »Nicht mehr und nicht weniger.« »Bist du von Gott geschickt worden? Kannst du uns helfen?« »Was für Hilfe benötigt ihr?« Sie waren offensichtlich verzweifelt, und als sie ihre schwieligen Hände betrachtete - und die zerfurchten, ängstlichen Gesichter -, begriff sie, dass es ich um Bauern handelte. »Wir haben unser Dorf verloren«, sagte der Sprecher. »Unsere Häuser wurden vom Wind weggerissen. Vor drei Tagen ist ein Edelmann mit Soldaten vorbeigekommen. Er hat die Vorräte mitgenommen, die wir noch hatten. Jetzt haben wir nichts u essen. Wir konnten nicht kämpfen. Sie hatten Waffen.« Die Speere waren nichts weiter als zugespitzte Stöcke, und die Knüppel waren Äste aus dem Wald. Einer hatte eine Schaufel. Ein anderer trug eine Sense. »Seid stark«, sagte sie und wusste dabei, wie dumm ihre Worte klangen, aber sie konnte ihnen sonst nichts geben. »Wiff«, hustete das Weibchen und erhob sich. Die Männer rannten davon, flohen in den Schutz der Bäume. »Gehen wir.« Es war immer noch besser, den Schmerz in den 8/ Schultern zu ertragen, als das Messer der Hilflosigkeit an die Kehle gehalten zu bekommen. Wessen Heer hatte das Korn gestohlen? Sie hoffte, dass es nicht Sanglants war. Das Greifenweibchen brauchte zwei Versuche, um sich so weit abzustoßen, dass sie über die Bäume aufsteigen konnten. Wäre die Lichtung nicht so breit gewesen, hätten sie es überhaupt nicht geschafft. Sie kamen an diesem Tag nicht sehr weit, aber immer noch viel weiter, als sie zu Fuß gekommen wäre. Als der Nachmittag zu Ende ging - was vor allem an der Veränderung der
Helligkeit zu bemerken war -, ließen sich die Greifen an einem breiten Berghang, der für ihre Größe besser geeignet war, auf dem Boden nieder. Das silberne Männchen war kurz zuvor ein Stück zurückgeblieben und erschien schließlich mit einem Hirsch in den Klauen. Sie hatte nichts, um ihn zu zerlegen, und so wartete sie darauf, die Reste nehmen zu können, nachdem die Greifen ihn in Stücke gerissen hatten. Sie sammelte Zweige, herabgefallene Äste und Steine und baute mit bloßen Händen eine Feuerstelle, so gut es ging. Feuer in das trockene Holz zu rufen, verlangte nur einen kurzen Moment der Aufmerksamkeit: Sie suchte tief im Innern der trockenen Zweige das Feuer und -da! - schon leckten Flammen am inneren Stapel empor, den sie sorgfältig in Rechtecken aufgeschichtet hatte, um dem Feuer Luft zu geben. Die Fleischbrocken brauchten nicht lang, um an einem Spieß zu braten, und als sie aß, rann ihr der Fleischsaft das Kinn hinunter. Die Greifen ließen sich ein Stück vom Feuer entfernt nieder; sie waren zu unruhig, um zu schlafen. Liath leckte sich die Finger und musterte den dunkler werdenden Himmel. Die Wolkendecke machte es schwer, den Sonnenuntergang zu bestimmen. Sanglant. Gnade. Hanna. Sorgatani. Hathui. Ivar. Heribert. Li'at'dano. Sogar Hugh. Sie suchte mit der Adlersicht nach ihnen, aber alles, was sie sah, war ein knisterndes Durcheinander aus Flammen und Schatten. 38
IV
1 Flüchtlinge«, sagte Fulk und zügelte sein Pferd neben Sanglant, der sich in der Vorhut des Heeres befand. Als sie angefangen hatten, die Ausläufer der Berge zu erklimmen, hatte trübes Wetter geherrscht; es hatte so gut wie einen Tropfen Regen gegeben und nicht den geringsten Hinweis auf die Sonne. In den vergangenen zehn Tagen hatten sie hundert Pferde verloren und dabei das Gebirge noch längst nicht überquert, während der Winter näher rückte. Immerhin war es bis vor kurzem ungewöhnlich warm gewesen, aber in den letzten zwei Tagen hatte der Winter seinen Griff verstärkt. Fulk deutete auf einen Pfad, der von der Straße weg in eine Senke führte. Etwa vierzig verzweifelt wirkende Reisende hatten dort unter behelfsmäßigen Unterständen aus Wagen und Zeltplanen Schutz vor der herannahenden Dunkelheit gefunden. »Ich kenne diesen Ort«, sagte Sanglant. »Hier haben wir die Männer mit den durchtrennten Kehlen gefunden, nachdem die alla uns angegriffen haben.« »Ja, Eure Majestät. Ich sehe jetzt keinen Hinweis mehr auf das Massaker. Es ist ein guter Ort zum Lagern. Bleiben wir
Schauergeschichten für Kinder heute Nacht hier? Diese Leute könnten um Essen und Wasser bitten, aber wir haben eigentlich nichts übrig.« »Die aostanischen Edelleute denken nicht gerade vorausschauend«, bemerkte Sanglant. »Jedes Dorf, an dem wir vorbeigekommen sind, war geplündert. Wenn es niemanden mehr gibt, der die Felder bestellen kann, weil die Bauern alle verhungert sind und es kein Korn mehr gibt, werden sie ihre Truppen nicht mehr ernähren können. So sei es. Wir werden hier lagern.« Sanglant drängte Fest weiter, ritt mit Fulk, Hathui und einem Dutzend seiner Leibgardisten in die Senke hinunter. Er hatte keine Angst vor einem Angriff. Sie konnten ihn nicht töten, und ohnehin war es offensichtlich, dass diese abgerissenen Flüchtlinge für bewaffnete Männer keine Gefahr darstellen würden. Sie hatten nicht einmal eine Wache aufgestellt, sondern sich einfach nur erschöpft auf den Boden gelegt. Als sie jetzt die Pferde und Männerstimmen hörten, kämpften sie sich auf die Beine, warteten in kleinen Gruppen zu zweit oder dritt. »Wer seid ihr?«, fragte Sanglant.
Als sie ihn sprechen hörten, sank die Hälfte von ihnen auf die Knie, die Übrigen weinten. »Ist es möglich?«, fragte ein Mann mittleren Alters, der nach Art eines Bittstellers mit ausgestreckten Armen auf ihn zukroch. »Ihr sprecht Wendisch.« »Wir sind Wendaner«, sagte Sanglant, aber eine Frau in der Kleidung einer Geistlichen zischte scharf und zupfte den ersten Mann am Ärmel. »Das ist Prinz Sanglant, Vindicadus. Sieh nur! Da ist das Banner von Fesse!« »Wer seid ihr?«, fragte Sanglant erneut, ohne abzusteigen. Der Mann namens Vindicadus erhob sich, als andere ihn vorwärtsdrängten. Es war eine seltsame Gruppe, die nur aus Jugendlichen und Erwachsenen im besten Alter bestand. Es gab einen Säugling, aber keinerlei kleine Kinder oder Ältere. Sie
39 waren schmutzig, wirkten aber kräftig, und der Dreck ließ ihre Kleidung abgerissener erscheinen, als sie wirklich war. Es waren auch einige Geistliche dabei, wie er an ihren Gewändern erkennen konnte. »Wir sind Wendaner, mein Herr. Wir waren bei König Henrys Rundreise und sind in Darre zurückgeblieben, weil wir zu den Haushalten von Geistlichen und Presbytern gehören.« »Und wieso seid ihr jetzt hier?« In ihrem Schweigen, ihrem Zögern und Luftholen hörte Sanglant eine Antwort. Einige sahen zur Seite. Andere schluchzten. Zwei Diener klammerten sich an den Rand eines Handkarrens, auf dem ein in sich zusammengerollter Mann lag. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und die Augen geschlossen, trug das zerrissene, fleckige Gewand eines Presbyters. Seit langem getrocknetes Blut hatte seinen Haarschopf steif gemacht und kupfern gefärbt. »Sie haben uns angegriffen, mein Herr«, sagte der Mann namens Vindicadus schließlich. »Weil wir Wendaner sind. Sie haben gesagt, dass wir Gott durch unsere Anmaßung verärgert hätten. Sie sagten, wir hätten den Sturm verursacht, der die Strafe Gottes wäre. Wir sind die Einzigen aus Wendar, die in den Palästen von Darre gedient haben und noch am Leben sind. Unsere Kameraden sind an jenem Tag getötet worden, oder sie sind unterwegs gestorben. Ich bitte Euch, mein Herr, lasst uns nicht allein.« »Wer hat euch angegriffen?« »Alle, mein Herr.« Er weinte. »Die Aostaner. Die Leute von Darre. Die Stadt hat schrecklichen Schaden erlitten - zuerst durch den Sturm und dann die Erschütterungen, die danach folgten. Gas strömte aus Spalten in der Erde. In Richtung der Küste barsten Feuer und Stein aus dem Abgrund und zerstörten alles, was sie berührten. Mindestens drei Berge spuckten entlang der westlichen Küste Feuer. Es ist das Ende der Welt, mein Herr. Was sollte es sonst sein?« »Wahre Worte«, murmelte Hathui. 39 »Werdet Ihr uns helfen, mein Herr? Wir sind Unbekannte für Euch, aber viele haben in der Gelehrtenschule von König Henry gedient.« »Du trägst die Kleidung eines Fraters. Bist du einer?« »Nein, mein Herr. Ich bin ein bescheidener Diener aus Austra und stand einst im Dienst von Markgräfin Judith, bin aber später in den Dienst ihres edelmütigen Sohnes, des Presbyters Hugh, getreten.« Sanglant spürte einen Stich in seinem Innern. Hathui sah ihn scharf an, als hätte er sich irgendwie verraten, und vielleicht hatte er das auch. Sie kannte Liaths Geschichte genauso gut wie er selbst. »Du hast Edelmann Hugh gedient?« »Ja, mein Herr. Von seiner Schule und seiner Gefolgschaft sind nur noch sechs übrig. Die anderen sind tot ...« Er verschluckte sich an dem Wort und konnte fünf Atemzüge lang nicht weiterreden. Sanglant wartete, hörte jenseits des niedrigen Kammes, der die Senke von dem Hauptpfad trennte, das Heer vorbeimarschieren. »Sie sind tot.« Er war kein alter Mann, aber er hatte schon bessere Tage gesehen; der Kummer lastete schwer auf seinen Schultern. »Die Übrigen sind vor Monaten mit dem Presbyter nach Norden gegangen.« »Hugh ist nach Norden gegangen? Wann war das?«
»Vor Monaten, mein Herr. Im ... oh, lasst mich nachdenken. Es war spät im Sommer. Ja, das stimmt.« »Wie klug von ihm, dem Unheil aus dem Weg zu gehen«, murmelte Sanglant. »Es ist genauso gut möglich, dass er tot ist, Eure Majestät«, sagte Hathui. »Das können wir nur hoffen, aber wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.« Er sah sie an, während die Flüchtlinge warteten. Sie wölbte eine Braue; die Geste war kaum wahrnehmbar und hätte ihn niemals so hart treffen dürfen. »Es geht nicht nur um Liath! Er hat Adelheid dazu gebracht, ihm zu glauben. Er hat meinen Vater mit einem Bann belegt. Er ist ehrgeizig, und er ist am Ende.« 40 »Königin Adelheid ist nicht dumm. Sie ist selbst sehr ehrgeizig. Vielleicht hat sie Hugh dazu verführt, von mehr Macht zu träumen, als er sich jemals erhofft hatte.« Er schnaubte. »Glaubt Ihr das, Hathui?« »Nein. Aber ich glaube, dass sie sich jeweils sehr bereitwillig miteinander verbündet haben.« »Hat er mit ihr das Bett geteilt?« »Ich glaube, dass sie Eurem Vater treu gewesen ist. Sie hat Henry bewundert und geachtet.« »Ich bin froh, das zu hören. Obwohl es dadurch noch schwieriger wird, ihre Handlungen zu verstehen.« »Sie haben zwei Kinder, Eure Majestät. Welche Mutter würde nicht versuchen, ihren geliebten Kindern das Vorankommen zu ermöglichen? Auch Presbyter Hugh hat seine hohe Position dem hingebungsvollen Einfluss seiner Mutter zu verankern« »Das ist nur zu wahr. Markgräfin Judith war nicht dumm, abgesehen von ihrer Liebe zu ihm.« Einer der Geistlichen löste sich aus der Menge, humpelte zu Vindicadus, flüsterte ihm etwas ins Ohr und drängte ihn dann vorwärts. »Mein Herr. Ich bitte Euch. Was gibt es für Neuigkeiten vom König? Ich weiß - wir wissen -, dass Ihr gegen ihn rebelliert habt.« »Mein Vater ist tot.« Sie stießen laute Rufe aus. Er hörte ihr Getuschel: Mörder. Vatermörder. »Eure Majestät«, rief Fulk mit lauter Stimme. »Herzogin Liutgard kommt.« Sie ritt auf ihrem Pferd vorsichtig den Hang herunter, mit ihrem Bannerträger zur Linken und ihrer bevorzugten Verwalterin zur Rechten. Als sie die Flüchtlinge sah, schnappte sie nach Luft, und ihr Gesicht wurde noch bleicher als zuvor. Sieben von den abgerissenen Gestalten rannten los und warfen ich vor ihr auf den Boden. Liutgard stieg ab und reichte ihrer 40 Verwalterin die Zügel, trat dann zu den Flüchtlingen, nahm ihre Hände und sprach sie mit Namen an. »Wie ist das geschehen? Wieso seid ihr hier?«, fragte sie. Sie sprachen alle auf einmal, ihre Worte stolperten übereinander. »... Sturmwind ... Rumpeln, dann ein schreckliches Erdbeben ... Feuer am Himmel ... glühende Steine, die überall herumflogen ... Unruhen ... der Palast wurde gestürmt ... Flucht durch zerstörte Straßen.« »Überall herrscht Chaos, meine Herrin«, weinte die Älteste, die nicht älter als vierzig war. »Ich heiße Elsebet und bin als Geistliche in Kaiser Henrys Gelehrtenschule gewesen. Bereits am ersten Tag haben wir die Hälfte der Unsrigen verloren, und noch einmal die Hälfte in diesem Zug hier. Wir haben uns nicht getraut, es über den Julier-Pass zu versuchen. Bruder Vindicadus stand früher einmal im Dienst von Presbyter Hugh und davor im Dienst von Markgräfin Judith. Er kennt einen Pass im Osten, der selten benutzt wird. Ihr seht, wie wenige von der Gelehrtenschule des Königs noch übrig sind. Wir haben so viele verloren. Ist es wahr? Ist der Herrscher - der Kaiser - tot?« »Henry ist tot«, sagte Liutgard und starrte Sanglant an. »Dass überhaupt noch jemand von uns lebt, haben wir meinem Vetter Sanglant zu verdanken. Henry hat ihn zum Erben ernannt, als er im Sterben lag. Es war sein -« Ihre Stimme brach, aber nach einem kurzen Augenblick sprach sie weiter. »Es war sein Herzenswunsch, dass Prinz Sanglant nach ihm herrschen soll. Henry war zum Schluss nicht mehr er selbst, die letzten zwei oder drei Jahre nicht mehr. Er war von seiner Königin
und Presbyter Hugh mit einem Bann belegt worden. Sanglant hat ihn aus ihrem Netz befreit. Hört mich an!« Ihre Stimme erhob sich über das Gemurmel. »Es ist wahr. Ich schwöre es bei den Gräbern meiner Mutter und meines Vaters. Ich schwöre es bei der Hand des Herrn und der Herrin. Sanglant ist jetzt Herrscher über Wendar und Varre. Er ist derjenige, dem wir folgen. Er führt uns nach Hause.« 41 »Wir werden unser Lager heute Nacht hier aufschlagen«, sagte Sanglant leise zu Fulk. »Wir müssen diese Leute irgendwie unterbringen.« »Wir haben nicht genug Nahrung, Eure Majestät.« »Wir können sie nicht zurücklassen. Es sind unsere Landsleute. Wenn wir sie nicht retten, wer wird es dann tun?« Fulk nickte und ging davon, um die Befehle auszuführen. Sie ließen sich in der Reihenfolge nieder, in der sie marschiert waren, während die Dämmerung auf sie herabsank. Die Männer und Frauen schliefen vollständig angezogen, die Waffen griffbereit neben sich; allerdings legten viele ihre Kettenhemden ab. Die Pferde wurden abgerieben, getränkt und gefüttert - glücklicherweise gab es ganz in der Nähe einen unvergifteten Bach. Sanglant ging mit Lewenhardt, Bärbeiß und dem humpelnden Sibold die Reihen entlang, sprach mit vielen Soldaten und kam schließlich zur Nachhut. Die Zentaurinnen, angeführt von Capi'ra, hatten sich freiwillig für diese schwere Aufgabe gemeldet. Sanglant vermutete, dass allein ihr Anblick viele mögliche Angreifer davon abhalten würde, etwas Unüberlegtes zu tun. »Irgendetwas Besonderes?«, fragte er sie nach der Begrüßung. »Alles ist wie immer. Wir sehen Hinweise von Menschen, die unseren Spuren folgen, aber sie verschwinden wieder. Heute waren es weniger. Hier leben weniger Menschen, und wenn sie uns schon nicht angreifen, wenn sie viele sind, werden sie es erst recht nicht tun, wenn sie nur eine Handvoll sind.« Er nickte. Es war fast dunkel. Die Nacht brach jetzt früh herein, was nicht nur mit der Jahreszeit zu tun hatte. Selbst während des Tages verdeckten die Wolken die Sonne. Seine Haut sehnte sich nach Licht. Alle spürten diesen Mangel. »Es ist seltsam bei Euch«, sagte Capi'ra nach kurzem Schweigen. »Eure Art ist so unbenommen. Ich freue mich darauf, in mein Heimatland zurückzukehren.« Sie schnaubte, was ihre Art eines Kicherns darstellte. »Das war nicht als Belei 41 digung gemeint, Sanglant. Wir fühlen uns einfach nicht wohl hier. Das Land sieht falsch aus. Es riecht seltsam. Wir kennen die Winde nicht.« »Seht nur!«, sagte er und blinzelte. »Ich dachte, ich hätte einen Blitz gesehen.« »Einen Blitz?« Er winkte. »Lewenhardt, komm her. Siehst du es?« Der Bogenschütze ritt zu ihm und starrte nach Süden in den dunklen Himmel. Zunächst schüttelte er den Kopf, doch dann versteifte er sich. »Ist das möglich?«, flüsterte er. Dann rief er laut: »Die Greifen! Es sind die Greifen, Eure Majestät!« Sanglant ritt zur hintersten Linie, legte den Kopf in den Nacken, um zum Himmel zu starren, während die Neuigkeit die Reihen entlang weitergegeben wurde, damit die Männer ihre Pferde festhalten konnten. Hunde bellten. Lewenhardt ritt zu ihm. »Sie fliegen tief. Einer hat etwas in seinen Klauen ... vielleicht einen Hirsch? Wenn sie gejagt haben ...« »Oh Gott«, keuchte Sanglant. Durch seinen Körper jagte ein solcher Adrenalinstoß, dass er glaubte, blind zu werden. Er glitt von Fest und rannte stolpernd den Hang hinunter, während die Greifen tiefer und tiefer sanken. Domina wurde von der Bürde, die sie trug, nach unten gezogen. Der kostbaren Bürde, die sie den ganzen Weg zu ihm gebracht hatte - zu ihm, der beschlossen hatte, dass sie weitermarschieren und sie zurücklassen mussten, ohne nach ihr zu suchen.
Ich bin nicht besser als sie. Ich habe getan, was ich für notwendig hielt. Domina senkte sich das letzte Stück herab, und als Liath noch eine Mannslänge vom Boden entfernt war, ließ die Greifin sie los. Sie kam hart auf dem Boden auf. Sanglant sank neben ihr auf die Knie, fragte sich, ob sie noch lebte oder tot war, aber er wusste, dass sie lebte, und das nicht nur, weil sie lachte und weinte und ihn umarmte und den Kopf so fest gegen seine 42 Schulter drückte, dass sein Kettenhemd ein Muster auf ihrer Wange hinterließ, als sie sich schließlich wieder von ihm löste. Er war vollkommen benommen. »Der Herr und die Herrin haben uns gesegnet«, sagte sie und verzog das Gesicht, als sie sich beim Aufstehen auf ihn stützte. »Die Greifen haben dich gefunden.« Er war wie erstarrt und kniete noch immer, während sie die ahne zusammenbiss und ihre Schultern reckte, sie hin und er bewegte, die Arme kreisen ließ. Blut befleckte den hellen Stoff ihres ärmellosen Gewandes, aber jeder Narr konnte Seh en, dass sie nicht ernsthaft verletzt war, nur müde, dünn, schmutzig und sehr mitgenommen. Sie starrte ihn an, suchte in seinem Herzen. Schließlich küsste sie ihn auf den Mund. Sie schmeckte salzig, und etwas wie Schwefel strömte von ihrem Körper aus. Er schloss die Auen, genoss ihre Berührung, ließ alle Gefühle von Siegestaumel, Schrecken und Freude in seinem Innern sich vermischen. Schließlich fand er zu sich zurück, zu seinen Worten, zu seiner Stärke. »Mit dir«, murmelte er, »ist alles möglich.« Er stand auf, drückte sie fest an sich, obwohl offensichtlich ar, dass sie nicht stürzen würde. »Stimmt es, dass du jetzt Herrscher bist?«, fragte sie. »Ja. Woher weißt du das?« »Ich bin Zuangua begegnet.« »Ah. Was ist mit deinen Kameraden, die mit dir durch die Krone gegangen sind?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich habe sie schon vor Monaten verloren.« Sie bebte. »Es war schrecklich, Sanglant. Schrecklich. Anne ist tot.« Ihre Stimme klang rau vor Trauer. Er musste nicht nachfragen. Anne war tot. Liath hatte getan, was notwendig war, obwohl der Preis hoch gewesen war. Er spürte ein wildes Lachen in sich aufsteigen, schluckte seine Furcht, seinen Kummer und eine Wut hinunter - sie wussten noch nicht einmal annä 42 hernd, was der Sturm angerichtet und wie weit er seine Flügel ausgebreitet hatte. »Du wirst mir erzählen, was ich wissen muss«, sagte er. »Komm. Ich kann dir zumindest ein bisschen was zum Essen besorgen. Du bist viel zu dünn, mein Liebling.« »Was ist mit denen, die wir zurückgelassen haben?«, fragte sie und klammerte sich an ihn, so dass es ihm unmöglich war, einen Schritt zu tun. »Was ist mit Gnade? Heribert? Wo ist Hanna? Was ist mit Ivar? Und mit Sorgatani und Bertha? Sind sie alle verloren?« »Ich weiß es nicht.« Sie ließ ihn los und barg ihr Gesicht in den Händen. Er wartete, während sie zitterte, verloren in einem Kampf, für den er keine Waffen dabeihatte, aber dann, endlich - als die Nacht herabsank und die Greifen sich mit hustenden Geräuschen niederließen und auf dem Boden scharrten, während eine Stimme in der Ferne die Leute aufforderte, sich hinzulegen und etwas zu schlafen -, endlich seufzte sie und ließ die Hände wieder sinken. »Nun«, sagte sie. »Nun. Es ist geschehen. Wohin gehen wir?« »Nach Hause. Nach Wendar.« Er nahm ihre Hand, als sie zurück zum Heer marschierten. Die Soldaten starrten sie verwundert an. Wie konnte es anders sein? Er war jetzt ihr Herrscher, und Liath würde ihre Königin sein.
2 In dieser Nacht stand Liath hoch oben im Alfar-Gebirge am Feuer und erzählte die Geschichte einigen hundert Zuhörern, die ihre Worte an die Übrigen im Heer weitergeben würden. Viele weitere kauerten in der Dunkelheit und verhielten sich vollkommen still, denn sie erzählte die Geschichte wie ein
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Dichter, der in einer geschlossenen Halle etwas vortrug und nicht wie ein Hauptmann, der seine Befehle rief. Ihre Stimme reichte nicht so weit, wie seine es getan hätte, die gewohnt war, den Lärm einer Schlacht zu übertönen. Aber er hätte die Geschichte niemals so erzählen können wie sie. Darum überließ er es ihr, während er auf dem Stuhl seines Vaters saß, der - da es der Stuhl des Herrschers war - jetzt ihm gehörte. Die kleine Kiste mit Henrys Asche, seinen Gebeinen und seinem Herz stand auf dem Boden links von ihm, neben den Stuhlbeinen. Er mochte es nicht, wenn sie zu weit von ihm entfernt war, ob bei Tag oder bei Nacht. »Mein Wissen ist nicht vollständig«, begann sie, wie es ihre Art war. »Aber dies weiß ich ganz sicher - so wie ich das für wahr halte, was auf Geschichten und Erfahrungen beruht, die ich selbst gehört und erlebt habe. All dies war lange Zeit verborgen oder vergessen, viele Generationen lang - länger als wir uns vorstellen können. Es war vergessen oder wurde lange vor der Geburt des heiligen Daisan, der uns das Licht gebracht hat, zur Legende. Diese Geschichte muss jetzt ans Licht gebracht werden, muss so vielen Menschen wie möglich bekannt gemacht werden, wenn wir verstehen wollen, was wir als Nächstes tun müssen.« Er musterte die Zuhörerschaft. Ihm am nächsten saßen seine edelsten Kameraden, Herzogin Liutgard, der zitternde Herzog Burchard, Edelmann Wichman, der ausnahmsweise einmal aufmerksam war, und die anderen Edelmänner und die wenigen Edelfrauen, die mit Henry oder mit ihm nach Süden marschiert waren. Hinter ihnen hatten sich die Geistlichen von Henrys Gelehrtenschule versammelt, angeführt von Schwester Elsebet und jenen Kirchenleuten, die zur Gefolgschaft eines Edelmannes oder einer Edelfrau gehörten. Er bemerkte, dass der Mann namens Vindicadus einen Platz gefunden hatte, der nah genug war, um etwas hören zu können, obwohl er nicht in den Diensten eines Edelmannes stand, der sich für ihn hätte einsetzen können. Hinter ihm standen die Hauptleute und 43 Verwalter, die das Heer führten, und noch weiter entfernt warteten die Feldwebel und Soldaten in der Hoffnung darauf, so viel wie möglich mitzubekommen. Alle mussten es hören, damit sie verstehen konnten. Er hatte diese Zusammenkunft angeordnet. Die Zerstörung, die sie erlebt hatten, hatte Fragen aufgeworfen, hatte Ängste erzeugt. Jede Erklärung war besser als gar keine, wie seltsam sie ihnen auch vorkommen mochte, selbst wenn es sich um die Wahrheit handelte. »Vor zweitausendsiebenhundertundvier Jahren hat sich das Pferdevolk mit sieben Zauberern aus sieben Stämmen der Menschen gegen einen gemeinsamen Feind verbündet, der als die Verfluchten« oder die Ashioi bekannt war. Mit Hilfe der Musik der Sphären - jener Zauberei, die wir als >die Mathematika< bezeichnen - haben sie eine Beschwörung gewoben. Sie leiteten die Zauberei durch sieben Steinkreise, die sie als Webstühle bezeichneten und die wir Kronen nennen. Diese Zauberei riss die Heimat der Ashioi von der Erde los und schleuderte sie in den Äther.« »Was ist der Äther?«, fragte jemand. »Jener Teil des Universums, der im Bereich und jenseits der oberen Sphären liegt. Er ist eines der fünf Elemente. Die anderen sind Luft, Wasser, Feuer und Erde. Äther ist das seltenste und reinste. Im Gegensatz zu den anderen ist es unbefleckt von Dunkelheit. Jenseits der oberen Sphären, so lehren es die Gelehrten, gibt es nur noch Äther, sonst nichts.« Sie zögerte, aber als keine Frage mehr kam, sprach sie weiter. »Sämtliche Ashioi sind mit ihrem Land in den Äther geschleudert worden, abgesehen von denen, die sich zu diesem Zeitpunkt nicht in ihrem Heimatland befanden. Diese anderen Ashioi sind nur zur Hälfte - und nicht vollständig - aus der Welt verschwunden. Seit Jahrhunderten haben ihre Schatten als Elfen die Wälder und Wege der Erde heimgesucht und Giftpfeile auf jeden Menschen abgeschossen, der das Pech hatte, ihnen über den Weg zu laufen.«
43 »Das sind doch nur Schauergeschichten für Kinder«, ertönte eine Stimme aus der Menge. Es war Vindicadus, Hughs ehemaliger Diener. Sanglant hatte nicht erwartet, so schnell eine Herausforderung zu hören.
Liath lächelte, blickte aber grimmig drein. »Ich bin diesen Schatten begegnet, als ich durch die Wildnis geritten bin. Es sind keine Schauergeschichten. Ihr Gift hat mein Pferd getötet. Und es hat Räuber vertrieben.« Unter den Feldwebeln kam Bewegung auf. Ein weißhaariger Mann drängte sich nach vorn in die Reihen der Hauptleute. »Lasst mich sprechen!«, rief er. »Ich habe unter Prinz Sanglant gedient. Er selbst hat mich und meine vier Männer aus den Händen von vier Kaufleuten aus Salavii befreit, die uns gefangen genommen hatten und in den Osten verkaufen wollten.« »Wie ist Euer Name?«, fragte Liath. »Das ist Gotfrid«, sagte Sanglant, bevor der alte Soldat antworten konnte. »Ich erinnere mich; es war in Machteburg. Was möchtest du sagen, Feldwebel?« »Nur dies.« Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen -den harten Blick eines Mannes, der genug gesehen hatte, um die Missbilligung anderer nicht mehr zu fürchten. »Ich und meine Männer - wir haben einen Angriff der Verlorenen überlebt. Wir haben unsere Kameraden durch ihre Pfeile verloren. Wenn Ihr dieser Frau nicht glaubt, bitte ich Euch, mir die Frage zu beantworten, wieso ich sie ebenfalls gesehen habe. Zwei meiner Männer sind noch bei mir. Sie werden ebenfalls bezeugen, was sie gesehen haben, wenn sie gefragt werden.« »Was ist mit den anderen beiden?«, fragte Sanglant. Erkannte die Antwort, denn er hatte die Geschichte bereits gehört. Der Mann machte eine schnelle, abrupte Geste mit der Hand. Seine Kehle und sein Kinn verkrampften sich. Die Leute flüsterten leise, aber es war schwer zu sagen, wem sie glaubten. »Gibt es noch jemanden hier, der etwas zur Existenz der Verlorenen sagen möchte?«, fragte Liath.
44 Niemand meldete sich. Der Zwischenrufer verschwand wieder in der Menge. Sanglant konnte beinahe riechen, dass Vindicadus noch da war, und er fragte sich, welche verdrehte Loyalität den Mann an Hugh von Austra band. Liath sprach bereits weiter. »Im Laufe der Jahrhunderte ging die Geschichte der großen Beschwörung verloren, bis sie nichts weiter als eine Legende war. Die Ashioi wurden zu den Aoi, den Verlorenen. Auch das Wissen darüber, wie der Zauberbann gewoben worden war, ging verloren, denn wie ich glaube, sind alle sieben Zauberer, die ihn gewoben haben, im Rückschlag des Bannes umgekommen.« Gemurmel folgte dieser Aussage, versiegte aber rasch wieder. »Vielleicht haben sie keine Schüler gehabt, die ihr Wissen weitergeben konnten, auch wenn mich das überraschen würde.« »Vielleicht haben sich jene, die zurückgeblieben sind, entschlossen, es zu vergessen«, sagte Schwester Elsebet. »Was die Kirche verdammt hat, muss unsittlich sein.« »Dies alles geschah vor der Zeit des heiligen Daisan«, erklärte Liath. »Die Regeln der Kirche konnten noch gar nicht befolgt werden.« »Aber vielleicht haben sie im Herzen gewusst, dass es falsch war«, gab die Geistliche zurück. Liath nickte freundlich. »Es gibt viele mögliche Antworten. Vielleicht waren ihre Schüler auch zu unerfahren, zu verschwiegen oder zu entsetzt, um das Wissen weiterzugeben. Vielleicht hatte man ihnen gesagt, dass sie es nicht tun sollen. Wir werden es niemals wissen, da wir sie nicht fragen können.« »Ich bitte Euch, Edelfrau Liathano«, sagte Herzogin Liutgard und lächelte zweifelnd. »Wie könnt Ihr sagen, dass dieses Wissen verloren ist, wo Euch doch vorgeworfen wird, selbst eine Mathematika zu sein? Die Heilige Mutter Anne hat sich
44 ihrer Zauberei gerühmt und diese Künste in den letzten zwei oder drei Jahren im Palast der Skopos offen gelehrt.« Liath nickte, womit sie die formelle Höflichkeit der Frau erwiderte. Sie kannten sich nicht. Liutgard wusste von Liath nur, dass sie der Adler war, der Henrys Lieblingskind der herrlichen Verbindung entrissen hatte, die der König ihm versprochen hatte. Aber Liath schien taub gegenüber den Schwingungen zu sein, die in der Gruppe der Edelleute zu spüren waren, während
sie sie abschätzig musterten. Sie war wie immer einfach nur bestrebt, die Wahrheit zu verstehen. »Eine gute Frage. Wenn Ihr mir gestattet, möchte ich meine Behauptung näher darlegen, damit alles klarer wird, wie ich hoffe.« Liutgard nickte. Sie fürchtete sich nicht davor, Liath die Möglichkeit zu geben, sich zu erklären. »Im Laufe der Zeit schufen einige Halb-Ashioi - halb-menschliche Nachkommen der ursprünglichen Ashioi - ein mächtiges Reich in den Südlichen Ländern, die an das Mittlere Meer grenzen. Sie nannten dieses Reich Dariya, und sich selbst bezeichneten sie als Dariyaner. Wie die Dichter sangen: Aus diesem Volk trat einer, der herrschte, als Kaiser über Menschen und auch Elfenart. schon bald beherrschte das Dariyanische Kaiserreich den nordwestlichen Kontinent und die Länder am nördlichen und südlichen Ufer des Mittleren Meeres. Wir reisen auf einer Straße, die von diesem Reich gebaut wurde. Schließlich wurde das Pferdevolk - die Dariyaner und die Geschichtsschreiber bezeichnen seine Angehörigen als die >BwrEdelmann< angesprochen. Selbst von jenen, die unter einem Dach geboren wurden, das sich des kaiserlichen Sterns rühmt. Vor allem, wenn sie die Männer und Waffen brauchen, die er mitbringt.«
88 »Die erhabene Edelfrau Eudokia braucht ihn, um ihren Neffen zum Kaiser zu machen?« Er zuckte mit den Schultern. »Eine starke Hand herrscht, wo schwächere Hände Unruhe säen. Kommt.« Sie ging mit ihm über den staubigen Boden dem General hinterher, der mittlerweile in der Flut von Wagen, Pferden, herumlaufenden Soldaten und Zelten verschwunden war. Jede Nacht wurde das Lager auf die gleiche Weise in einem bestimmten Abstand zum Zelt des Herrschers errichtet, abhängig davon, welchen Rang oder was für eine Position der Zeltinhaber hatte - und welche Bedeutung er für das königliche Kind hatte. Diese Nacht hatten sie in der Mitte von etwas angehalten, das einmal ein Dorf gewesen war. Drei Ziegelhütten standen inmitten eines Dutzends alter Olivenbäume, aber der winzige Weiler war offensichtlich verlassen, vielleicht erst seit einem Tag, vielleicht auch schon seit hundert Jahren. Das Land war so trocken, dass das unmöglich zu erkennen war. Bysantius ging langsamer, damit er nicht zu weit vorausschritt. Im Laufe der letzten zehn Tage hatte Hanna sich an die Ketten gewöhnt, so dass sie jetzt nicht mehr stolperte. »Danke«, wiederholte sie. »Für welche Freundlichkeit?«, fragte er, lachte beinahe. »Dafür, dass Ihr mich vor jedweder Unfreundlichkeit bewahrt habt, die ich durch diese Soldaten möglicherweise erlitten hätte.« »Der General möchte nicht, dass Euch etwas zustößt. Tot nützt Ihr ihm nichts.« Sie nützte ihm offensichtlich auch lebendig nichts, aber das behielt sie lieber für sich. Es wäre dumm gewesen, diejenigen, die sie gefangen hielten, daran zu erinnern, dass es ihnen möglicherweise besser ginge, wenn sie die Nahrungsmittel für sich behielten, die sie ihr jeden Tag gaben. »Stimmt es, dass Ihr alle dem edlen General dient und nicht der erhabenen Edelfrau?« Jetzt lachte er richtig. »Die Priester lehren uns, dass wir Gott
88 dienen, oder nicht? Gott diente der Menschheit, indem Er eine Zeitlang unter uns wandelte, um uns ins Licht zu führen.« »Das ist Ketzerei.« »Nein, Ihr aus Darre seid die Ketzer. Ihr behauptet, dass der heilige Daisan ein Mensch wie jeder andere war.« Er sprach ohne jede Leidenschaft. Er war offenbar kein Mann, den Glaubensfragen übermäßig berührten. »Die Diakonissinnen meines Landes haben mir erklärt, dass der heilige Daisan sieben Tage und Nächte gebetet hat und dann von der Mutter und dem Vater des Lebens zur Kammer des Lichts emporgehoben wurde. Ihr glaubt die Geschichten über sein Martyrium nicht, oder?« »Nein.« Aber er runzelte die Stirn. »Der heilige Daisan vereinigt zweierlei Natur in sich, denn wie sonst hätte er zur Kammer des Lichts aufsteigen können, während er noch lebte? Dennoch reden die Leute von seinem Martyrium - davon, wie ihm die Haut vom Körper geschält wurde.« »Ich bin im Westen mehr als einem Menschen begegnet, der die Ketzerei der Erlösung weiterverbreitet. Ich wusste nicht, dass sie auch hier erzählt wird.« Er klatschte mit der Reitpeitsche gegen seinen Oberschenkel und warf erst einen Blick nach links, dann nach rechts, während sie weiter durch das Lager gingen. Erschöpfte Männer saßen auf dem Boden oder lagen auf Decken und Umhängen. »Es könnte jemand zuhören. Der Patriarch hat Spione unter den Soldaten.« Wenn das stimmte, bedeutete es, dass der Patriarch die Kraft der Ketzerei fürchtete. Wieso sollte man ausspionieren, was man nicht fürchtete? Sicherlich musste die Ketzerei, zu der Ivar sich bekannt hatte, irgendwo hergekommen sein. Wieso nicht aus dem Osten? Es klang sehr
wahrscheinlich. Was immer Bysantius auch sagte, mit ihrem Gerede von der »zweierlei Natur« des Daisan waren sie ohnehin Ketzer. War diese Tür erst einmal geöffnet, wie Diakonissin Fortensia in Friedleben zu sagen pflegte, konnte jeder schamlose Tagedieb hineinschleichen und sich als Heiliger ausgeben.
89 »Denkt Ihr jemals darüber nach, was Ihr Euch erhofft, falls der General Euch die Freiheit schenkt?«, fragte Bysantius, während sie sich dem großen Zelt des Generals näherten. Es nahm gerade erst Gestalt an, denn Soldaten und Bedienstete waren noch damit beschäftigt, den Zeltstoff über die Gestelle zu hängen und alles zu befestigen. »Was ich mir erhoffe? Ich hoffe, nach Hause gehen zu können! Ich diene Kaiser Henry.« »Die Kundschafter sagen, das Land westlich von hier wäre vernichtet. Dass Asche, Staub und Feuer die Luft verschmutzen. Ich glaube nicht, dass der wendische König noch ein Reich hat. Es wäre besser, Ihr würdet Euch an zivilisierte Gebiete halten.« Ihre Augen brannten. Sie wischte Tränen weg, während sie gegen ihre Bestürzung ankämpfte. »Von diesen Berichten habe ich noch nichts gehört.« In ihrem eigenen Land hätte sie sie gehört. Adler sprachen miteinander und wussten alles - so viel, wie irgendjemand nur wissen konnte. Sie wussten beinahe so viel wie der Herrscher, weil sie seine Augen und Ohren waren. »Ihr seid eine Gefangene«, erwiderte er, den Blick auf sie gerichtet. »Aber Ihr könntet etwas anderes sein.« »Etwas anderes?« Sie schluckte die Tränen hinunter, hasste es, ihre Schwäche zu zeigen. »Ich würde Euch heiraten, wenn Ihr bereit wärt.« »Mich heiraten?« Die widersinnige Bemerkung trocknete ihre Tränen und ihre Verärgerung, brachte sie dann zum Lachen. »Mich heiraten?« »Ihr seid stark, fähig und klug. Die erhabene Edelfrau Eudokia behauptet, dass Ihr noch Jungfrau wärt. Ihr würdet eine gute Frau abgeben. Ich mag Euch. Ihr habt nicht aufgegeben.« Jetzt brannten ihre Wangen. Wie konnte die erhabene Edelfrau das wissen? »Ich habe nicht aufgegeben. Ich habe mich noch nicht an diese Ketten gewöhnt.« Sein Seitenblick war abschätzend, nicht verärgert. »Ich habe
89 eine aufrichtige Frage gestellt. Ich dachte, ich könnte bei der Antwort die gleiche Höflichkeit erwarten.« »Noch bin ich eine Gefangene. Fragt mich, wenn ich die Freiheit habe, zu gehen oder zu bleiben, wie es mir gefällt.« »Hach«, sagte er. Es war zur Hälfte ein Lachen, und den Rest konnte sie nicht deuten. Mit der Reitpeitsche wies er auf den Eingang zum Zelt. »Geht hinein.« »Kommt Ihr nicht mit?«, fragte sie. Sie musste sich zwingen, nicht seinen Arm zu packen, als wäre er eine Rettungsleine. Sie brachte es nicht über sich, den Gedanken auszusprechen, der ihr durch den Kopf geschossen war: Allein habe ich Angst vor der Wut des Generals, aber wenn Ihr da wärt, könnte ich hoffen, dass mich jemand beschützt. Er strich sich mit einer Hand durch seine dunklen Haare, wie es ein Mann tun mochte, der sich für den Besuch seiner Geliebten zurechtmacht. »Geht hinein«, wiederholte er und hob die Peitsche. »Ich muss mit ein paar Wachen sprechen. Sie sind zu nachlässig geworden.« Nachlässig ihr gegenüber. Er nickte, ließ sie dann allein und ging davon. General Edelmann Alexandras' Wachen zogen ihre Speere vom Eingang zurück und ließen sie eintreten. Im Innern rollte ein Diener einen Teppich aus, der die rotgraue Erde bedeckte, aber ansonsten verzichtete der General auf das reiche Mobiliar, das ihn vor dem großen Sturm umgeben hatte. Die Zeltwände waren kahl und nicht mit grüner Seide geschmückt. Stühle und kostbare Sofas waren verschwunden, ersetzt durch eine Bank, eine Pritsche und einen Wasserkrug, der in einer Kupferschüssel auf einem dreibeinigen Hocker stand. Der General saß auf der Bank, wischte sich den Staub mit einem Stück Leinen vom Gesicht, während ein Hauptmann in einem roten Überwurf ihm Bericht erstattete. Der Mann hatte einen ungewöhnlichen Akzent und sprach so schnell, dass sie Mühe hatte, ihn zu verstehen.
»... einen Tag voraus ... Flüchtlinge ... die Stadt. Sie flüch 90
teten ... dem Meer. Diese Menschen sind diejenigen ... der Sturm am Himmel ...« Der General blickte auf und bemerkte sie, winkte einem Diener. »Ein Feuer«, sagte er leise zu dem Mann, der nach draußen ging, während der Hauptmann weitersprach. »... Sie flüchteten in die Berge ... das Meer ... die Stadt ... sie lügen ... es ist wahr ... wollt Ihr mit ihnen sprechen?« »Nein, noch nicht. Wenn ihre Geschichte stimmt, werden wir anderen begegnen, die das Gleiche sagen. Wenn sie nicht stimmt, werden wir es schon bald herausfinden. Verdoppelt die Wachen. Achtet auf Banditen und Diebe.« Als der Hauptmann ging, kehrte der Diener mit einer Kohlenpfanne voller glühender Kohlen zurück. Ein zweiter Mann kam hinterher, der eine Stoffschlinge mit Holzscheiten trug. Sie stellten ein Dreibein auf dem Boden auf und hängten die Kohlenpfanne ein. Alexandros deutete auf die Kohlenpfanne, sagte aber nichts. Sie kniete sich auf den Boden, denn sie hatte nicht die Erlaubnis erhalten, den Teppich zu berühren. Einer der Diener legte Holz auf die Kohlen. Einen Moment später richtete Hanna ihre Aufmerksamkeit auf die Flammen, suchte in ihnen nach jenen, die sie kannte: König Henry, Liath, Ivar, Prinz Sanglant, Wulfhere, Sorgatani, Schwester Rosvita und ihre Gefolgschaft, Hauptmann Thiadbold und sogar ihre Freunde bei den Löwen, einen nach dem anderen. Von ein paar flackernden Schemen abgesehen, sah sie nichts in den Flammen. Vielleicht waren all jene, die sie kannte, in dem Sturm gestorben. Vielleicht waren Ingo, Folquin, Leo und Stephen tatsächlich tot, vielleicht waren sie während der Umwälzung verloren gegangen - oder in einer Schlacht, von der sie nicht einmal wusste, dass sie stattgefunden hatte. Vielleicht waren Rosvita und die anderen Geistlichen verdurstet und verhungert oder von Banditen getötet worden. Die Zeltklappe hob sich. Der über den Boden wandernde Lichtfleck verwirrte sie so sehr, dass sie blinzeln musste. Zwei
90 Diener trugen die Sänfte herein, auf der Edelfrau Eudokia reiste. Drei Eunuchen stellten vier Stühle auf den Teppich und traten zurück, als die Diener die Sänfte auf dieses Gerüst stellten, die sich somit immer noch ein gutes Stück über dem Boden befand. Die Eunuchen wuschen das Gesicht und die Hände der Edelfrau mit Wasser, dann zogen sie sich zurück. »Was gibt es für Neuigkeiten?«, fragte die Edelfrau Alexandras. »Wie Ihr seht, keine anderen als in der letzten Nacht oder der vorigen oder jeder Nacht davor. Entweder sie lügt, oder sie sagt die Wahrheit und hat die Adlersicht verloren.« »Und wenn dem so ist, handelt es sich dann um eine vorübergehende Blindheit oder eine dauerhafte?« Er kratzte sich am Nacken und zog eine Grimasse, dann rieb er sich die Augen, als wäre er verzweifelt. »Was wisst Ihr sonst noch über diese Zauberei, erhabene Edelfrau?« »Nichts, was ich Euch nicht bereits gesagt hätte. Die Geheimnisse sind uns nicht bekannt. Ich werde den Kampfer wieder einsetzen, aber es ist der letzte, den ich habe.« »Seht!« Er richtete den Blick seines einen Auges auf Hanna. Ein Messer an ihrer Kehle hätte ihr nicht mehr Angst machen können. Wie konnte ein als Gewöhnlicher geborener Mann »Edelmann« genannt werden? Entweder er machte gemeinsame Sache mit dem Feind, oder die Arethusaner waren ein noch seltsameres Volk, als sie bisher gedacht hatte. Dass er unbarmherzig war, wusste sie; er hatte nichts getan, um Prinzessin Sapientia Beistand zu gewähren. Er hatte seine anderen Geiseln offensichtlich zurückgelassen, ohne einen Gedanken an sie zu verschwenden. Er trieb seine Männer in einem harten Tempo voran, ließ die Nachzügler einfach zurück. »Seht.« Edelfrau Eudokia warf drei winzige Zweige ins Feuer. Der erstickende Geruch des Kampfers erfüllte Hannas Lunge und brachte ihre Augen zum Tränen. Ihr Herz klopfte. Sie sah Flammen, die brannten und brannten, und obwohl der Rauch
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ihr in den Augen schmerzte, starrte sie weiter den Tanz des Feuers an. Sollten sie glauben, dass sie nur einen Atemzug vom Erfolg entfernt war. »Nichts«, sagte Edelfrau Eudokia, aber sie klang eher neugierig als angewidert. »Wir könnten genauso gut nackt mit den Feueranbetern herumtanzen wie in diese Kohlen starren.« Der General hatte sich nicht gerührt, aber Hanna spürte seine Anwesenheit wie eine Bedrohung. »Lügt sie, erhabene Edelfrau?« »Ich glaube nicht, dass sie lügt. Ich sehe nur Flammen.« »Wenn wir sie nicht benötigen, dann ...« »Wir sollten nicht überstürzt handeln, General. Ihr denkt wie ein Soldat in der Schlacht. Aber denkt einmal daran, dass jene, die diesen Sturm über uns gebracht haben, überlebt haben könnten. Ich weiß nicht, über welche Macht sie verfügen. Wenn sie die Möglichkeit haben, die Adlersicht zu behindern, müssen wir darüber nachdenken, was das Beste für uns ist. Haltet den Adler bereit, für den Fall, dass sich die Lage ändert.« »Und was ist, wenn es Jahre dauert?« Sie hob die Hand und machte eine lässige Geste, die zeigte, wie unwichtig diese Frage war. »Ich habe eine Tante, die seit achtundzwanzig Jahren im Kloster von St. Marie von Gesythan lebt. Es ist besser für die Familie, dass sie dort weiterlebt, als dass sie getötet wird. Wer einmal an diesen Ort verbannt worden ist, verlässt ihn nie wieder. Die da kann ebenfalls dorthin gebracht werden.« »Sie kommt aus dem Westen und ist daher eine Ketzerin.« »Das ist wahr. Aber sie muss ja nicht jeden Luxus erhalten wie die anderen.« Er kratzte sich erneut am Nacken, und ein roter Striemen blieb zurück. »Der Plan ist gut. Aber ich stimme nur unter der Bedingung zu, dass sie bis dahin in meinem Gewahrsam bleibt und dass ich die Freiheit habe, sie zu besuchen, wann immer ich es möchte.«
91 »Wenn mein Neffe Kaiser wird, General, sind dies keine Hindernisse.« Er nickte. Sie klatschte in die Hände, und die Eunuchen wuschen ihr erneut das Gesicht und traten dann zurück, damit die Diener sie wegtragen konnten. Als die Zeltklappe sich hinter ihrem Gefolge schloss, wandte der General sich an die Soldaten, die respektvoll hinter ihm warteten. Er machte eine Geste mit der Hand. Ein Hauptmann in einem blauen Überwurf trat vor und erstattete Bericht, aber Hanna war vor Furcht zu benommen, um mehr als nur Bruchstücke aufzuschnappen. »... vielleicht die gleichen Banditen, die uns verfolgen ... die Kundschafter können sie einfach nicht finden ... nein, es gibt nie eine Spur ...« Sie sollte sich jede Äußerung merken, sie hüten wie die Schätze, die sie waren. Sie war ein Adler. Was sie hörte, an das erinnerte sie sich. An was sie sich erinnerte, das konnte sie ihrem Herrscher mitteilen, so wie dieser Mann seinem berichtete. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren, denn sie konnte den Anblick weiß getünchter Mauern, die kein Tor hatten, durch das sie hätte entkommen können, und zu hoch waren, um darüber zu klettern, nicht aus ihrem Kopf verbannen. Zwei Diener trugen Eimer mit Wasser herein. Sie stellten sie ab und machten sich an dem Krug und der Schüssel zu schaffen. Hannas Augen schmerzten immer noch. So sehr sie auch schluckte, sie würde nie all ihre Furcht, Enttäuschung und Wut hinunterschlucken können. War es das, was ihr Leben ausmachte? Hatte sie Gott irgendwie so sehr erzürnt, dass sie nun von einer Hand zur nächsten als Gefangene weitergereicht wurde? Der General mochte sie einen Adler nennen, aber sie war keiner. Es wäre besser gewesen, sie wäre in Friedleben geblieben und hätte den jungen Johan geheiratet, auch wenn er Stinkfüße hatte und ein lautes, dummes Lachen. Eine Kuh oder eine Ziege war nicht wirklich frei, aber zumindest war sie nicht von engen Mauern einge
91 schlossen. Sie war klug genug, sich nicht von Selbstmitleid überwältigen zu lassen, aber die Verführung, sich einfach nur fallen und fallen zu lassen, war in diesem Augenblick sehr groß. Einer der beiden Diener goss Wasser aus dem Krug in die Schüssel. Weil der Geruch des Wassers sie heftig traf, sah sie sie an. Beide waren Männer mittleren Alters, drahtig und stark, mit ernsten Mienen. Sie waren die Art Männer, die weit genug aufgestiegen waren, um als Gefolgsleute eines
mächtigen Edelmanns ein gewisses Maß an Wohlergehen und Sicherheit zu erlangen. Einer sah tatsächlich so gut aus, dass sie ihn zweimal angesehen hätte, wäre er nicht alt genug gewesen, um ihr Vater sein zu können. Bysantius' unerwünschtes, aber schmeichelhaftes Angebot hatte alte Gefühle in ihr geweckt. Es war nicht so schlecht, begehrt oder wenigstens geachtet zu werden. Ivar war für sie verloren. Sie hatte Hauptmann Thiadbold bewundert, sich aber an den Schwur der Adler gehalten. Rufus hatte sie zeitweise in Versuchung geführt, aber sie hatte sich schließlich für den einfacheren Pfad entschieden. Sie hatte sich zurückgehalten. Sie hatte sich nicht ergeben. Im Gegensatz zu Liath. In gewisser Weise war sie neidisch auf Liath, die die Leidenschaft angenommen hatte, ohne einen Blick zurückzuwerfen, trotz der Schwierigkeiten, die es ihr bereitet hatte. Ich bin nicht so spontan. Aber das stimmte nicht. Sie hatte Friedleben verlassen, um Liath zu folgen. Sie war ohne Furcht in den Osten gegangen. Sie war in Träumen ins ferne Grasland gewandert, um die kerayitische Schamanin zu suchen, die Hanna als ihr Glück bezeichnet hatte. Der gutaussehende Diener blinzelte ihr zu, rieb dann mit dem Stumpf seines rechten Arms über seine schmutzige Stirn. Die Hand war am Gelenk sauber abgetrennt worden, der Schnitt gut verheilt. Der Arm verbarg seinen Mund vor dem Blick seines Kameraden. Seine Lippen bildeten ein Wort, ein
92 mal, dann ein zweites Mal, ohne jeden Laut, aber eindeutig dazu gedacht, dass sie es verstand. Geduld. Sie zuckte zusammen. Hatte sie es sich eingebildet? Hatte er Wendisch gesprochen? Er und der andere Diener gingen jetzt mit den leeren Eimern zum Eingang, schweigend, während ein weiterer Hauptmann Bericht erstattete. Und während die beiden Diener das Zelt verließen, hörte sie ein schwaches Klimpern wie von winzigen Glocken, die von einer Brise bewegt wurden. Fünf Atemzüge später wusste sie Bescheid, und sie war überrascht, dass es so lange gedauert hatte. Aber jetzt trug er nicht mehr das Gewand eines Kirchenmannes, sondern die einfache Kleidung eines arethusanischen Bauern. Und er sah anders aus, irgendwie; härter und lebhafter und seltsamerweise mehr wie ein Mann, der geküsst werden wollte, nicht wie ein enthaltsamer Kirchenmann. Und doch hatte er einmal geliebt, und zwar leidenschaftlich. Wie Liath war er gesprungen und hatte es niemals bereut. Der ekelhafte Gestank des Kampfers verflog allmählich, aber die Luft in dem geschlossenen Zelt schien wie ein Strudel um sie herumzuströmen, als würde sie von den Flügeln eines Daemons bewegt. Wieso arbeitete Bruder Breschius als Diener im Lager des Heeres seines Feindes? Der Wespenstich in ihrem Herzen brannte.
3 Sanglants Heer ließ sich in einem weiteren verlassenen Dorf-und darum herum - nieder. Das, was zurückgelassen worden war, verriet jedoch nichts darüber, was hier geschehen war: Waren die Bewohner alle gestorben? Waren sie geflohen, als sie mitbekommen hatten, dass ein unbekanntes Heer im An
92 marsch war? Oder waren sie bereits gleich nach dem Sturm geflohen? Hatte irgendeine andere Kraft sie vertrieben oder zu Gefangenen gemacht? In diesen Grenzlanden erstreckte sich die unbewohnte Wildnis über weite Gebiete, und die Dörfer waren ausnahmslos von Holzpalisaden umgeben, die allerdings wohl eher dazu gedacht waren, Schutz vor wilden Tieren und herumstreunenden Banditen zu gewähren, denn ein richtiges Heer hätte mit so dürftigen Befestigungsanlagen kurzen Prozess gemacht. Diese hier war nicht niedergebrannt worden, aber die Tore standen weit offen, und die Vorhut war hineinmarschiert, ohne ein einziges Lebewesen zu erblicken, abgesehen von zwei Krähen, die laut krächzend zu den Bäumen geflüchtet waren.
»Ich vermisse Vogelgezwitscher«, sagte Liath. »Selbst im Winter sollte es welches geben.« Sanglant befand sich auf seiner abendlichen Runde durch das Lager. Hathui war mit ihm gegangen, während bei Liath drei Adler zurückgeblieben waren, die sie mit wachsamem Interesse ansahen. Sie fühlte sich bei Sanglants edlen Kameraden nicht besonders wohl, bevorzugte stattdessen die Gesellschaft der Boten des Königs. »Hanna hat von Euch gesprochen«, sagte der Rothaarige namens Rufus. »Hanna! Wann habt Ihr sie zuletzt gesehen?« »Vor Monaten. Vielleicht ist es auch noch länger her. Ein Jahr oder sogar mehr. Sie ist mit einer Nachricht von Prinzessin Theophanu in den Süden gekommen. Hathui sagt, dass sie und Hanna sich unterwegs getroffen hätten, auf einer Straße in Avaria oder Wayland, ich bin mir nicht ganz sicher. Sie sagt auch, dass Hanna die Wahrheit über das gewusst hat, was mit dem König passiert ist. Aber sie hat nie mit mir oder sonst jemandem darüber gesprochen.« »Wieso nicht?« »Sie war vorsichtig. Das ist alles, was ich weiß. Ich mochte sie.«
93 Liath stützte das Kinn auf die Faust und sah den Adler stirnrunzelnd an. Er war ein sympathischer, ausgeglichener junger Mann, der sie an Ivar erinnerte, aber das lag vielleicht nur an seinen roten Haaren. Ansonsten sahen sie sich gar nicht ähnlich, und er neigte im Gegensatz zu Ivar auch nicht zu lästigen und unpassenden Gefühlsausbrüchen. Sie seufzte. Friedleben schien unvorstellbar weit weg. Die Episode mit Hanna und Ivar, ihren unschuldigen Freunden, hätte in einer Welt, die so zerstört war wie diese, niemals stattfinden können. Wie blind sie damals gewesen war! Hanna hatte ihr aufrichtige Freundschaft entgegengebracht, aber sie hatte mit eigenen Widerständen zu kämpfen gehabt, die Liath unbekümmert übersehen hatte. Ivar war niemals ihr Freund gewesen; sie hatte sich etwas eingeredet, weil seine Vernarrtheit ihr Unbehagen bereitet hatte. Weil er so unerfahren gewirkt hatte, verglichen mit Hugh. So sehr sie Hugh auch gehasst hatte, hatte sie doch nie wirklich aufgehört, Ivar mit ihm zu vergleichen, und sie hatte stets festgestellt, dass es Ivar an etwas fehlte, auch wenn er ehrlich und aufrichtig war. »Hanna ist meine Freundin«, sagte sie schließlich, als sie sah, dass die anderen sie beobachteten Rufus, die dunkelhaarige Nan und ein älterer Mann namens Radamir, den alle anderen Adler jedoch Hastig nannten, weil er immer so bedächtig war. »Ich wünschte, wir wüssten, was aus ihr geworden ist.« »Ich weiß nicht, ob sie das Erdbeben überlebt hat«, sagte Rufus. »Das, bei dem die Kirche von St. Mark eingestürzt ist, meine ich. Ich habe gehört, dass sie und einige von der Gelehrtenschule des Königs während des Durcheinanders davongelaufen sind. Ich war zu der Zeit aber schon weg. Hanna war im Gefolge von Presbyter Hugh gelandet, allerdings war Herzogin Liutgard darüber nicht glücklich. Hugh hat Hanna nie erlaubt, dem König vollen Bericht zu erstatten - das heißt, dem Kaiser.« Liath stellte ihm weitere Fragen, aber er hatte nicht mehr viel zu erzählen, obwohl er alles bis in die kleinsten Einzelhei 93 ten erläuterte, da Adler ihre Fähigkeit geschärft hatten, sich Dinge einzuprägen und wieder in Erinnerung zu rufen. »Ich hoffe, dass sie noch lebt«, sagte Rufus zum Schluss. »Sie ist eine gute Frau.« »Wenn irgendwer so etwas überleben kann, dann Hanna.« Ein Aufruhr hinter ihnen kündete von der Ankunft Sanglants und seines Gefolges: Schritte, lautes Geplapper, Kichern, eine gemurmelte Wette. Es hörte niemals auf. An diesem Abend sprach er mit seiner Kusine Liutgard, der er zu vertrauen schien, während dieser Dreckskerl von Wichman hinter ihnen ging und dem ungrianischen Hauptmann Istvan geschmacklose Witze erzählte, was dieser ungerührt über sich ergehen ließ. Ein Schwärm von Edelleuten umgab sie; ein Verwalter wartete rechts von ihm, Soldaten hingen außerhalb des Feuerscheins herum, niemals weit von ihm entfernt.
Er stand aufrecht da und bildete den Mittelpunkt dieser Gruppe, mit der erstaunlichen Fähigkeit, genau zu wissen, wo sich jeder seiner Begleiter befand, ohne dass er wie ein ängstlicher Hund, der getätschelt werden wollte, ständig hin und her springen musste. Aber sie konnte an seinem Gesicht und seiner Haltung erkennen, dass die Reise und die neuen Verpflichtungen ihn erschöpften. Er war stark, aber selbst der Stärkste musste einmal ruhen. Soldaten hatten bereits das Reisezelt errichtet, in dem sie schliefen. Dank dem Herrn und der Herrin war es zu klein, um mehr als zwei Leute zu beherbergen. Sie suchte Hauptmann Fulks Blick, und er nickte und drängte den König zu seinem Lager, trennte ihn sanft von den anderen. Liath war sich nicht sicher, ob Fulk sie mochte oder wenigstens achtete, aber was diese Sache betraf, verstanden sie einander. Sie verabschiedete sich von den Adlern, und während Sanglants Begleiter sich zu ihren eigenen Zelten begaben oder sich für ihren Wachdienst bereitmachten, kroch sie in das Zelt und zog die Stiefel aus.
94 »Du musst mitkommen, wenn ich die Runde durch das Heer mache«, sagte er ungeduldig. »Man muss dich an meiner Seite sehen, als meine Frau. Als Mitherrscherin.« »Bitte, Sanglant, lass mir etwas Zeit. Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt.« Sie bezweifelte, dass sie sich jemals daran gewöhnen würde. Sie brauchte Frieden und Ruhe und die Gesellschaft von Büchern, aber sie traute sich nicht, ihm das jetzt zu sagen. Noch nicht. Er schien etwas sagen zu wollen, unterließ es dann doch und zog stattdessen seine restlichen Sachen aus. Sofern kein unmittelbarer Angriff drohte, schlief er am liebsten nackt, und er war warm genug, um sie vor der Kälte zu schützen, die sie stets schwächte. »Ich werde mich nie an die Kälte gewöhnen«, sagte sie, während sie ihr Hemd auszog, sich zitternd an ihn drängte - Haut an Haut - und die Felle und Decken über sie beide zog. »Und doch brennst du!«, flüsterte er und küsste sie. »Hmm«, brummte sie. Aber dann lehnte er sich zurück, und sie legte den Kopf an seine Schulter und wartete. Sie kannte ihn immer besser. In solchen Augenblicken ging ihm etwas im Kopf herum, das er schließlich ausspucken würde. »Bist du noch wütend auf mich?«, fragte er. »Weil ich dir verboten habe, Gnade zu suchen?« Schuldgefühl pflegte einen anzustarren wie ein hungriger Hund. Liath hatte die ganze Zeit damit gelebt, bis es zu einem toten Gewicht in ihrem Magen geworden war. Sanglants Atemzüge gingen gleichmäßig, ihre nicht. »Oh, Liebling, hätte ich darauf bestanden zu gehen, wäre ich gegangen. Du hättest mich nicht aufhalten können.« Er hielt die Luft an, als wäre er geschlagen worden, aber er sagte nichts. Dann atmete er weiter, sagte jedoch immer noch nichts. Sie fuhr fort, denn sein Schweigen schmerzte zu sehr. »Ich
94 habe sie im Stich gelassen. Zuerst in Verna, auch wenn es damals nicht meine freie Entscheidung gewesen ist. Zum zweiten Mal dann draußen in der Steppe, als wir sie zurückgelassen haben, obwohl wir wussten, dass sie dem Tode nahe war. Und jetzt zum dritten Mal. So viele Stimmen jagen durch meinen Kopf. Welchen Sinn hat so eine lange Reise, wenn andere sie für mich machen können? Die die Reise besser ertragen werden. Die auf diese Weise dienen können, so wie ich es auf andere Weise kann.« Er antwortete noch immer nicht, strich nur über ihren Arm, von der Schulter bis zum Ellbogen, von der Schulter bis zum Ellbogen. Es war seine Art, hin und her zu gehen, wenn er lag. »Ich kenne Gnade nicht einmal. Ich lerne sie vielleicht auch nie kennen. Das ist die Entscheidung, mit der ich es zu tun habe. Die Entscheidung, die ich getroffen habe.« »Ich hätte gehen können«, sagte er verärgert und heiser -aber seine Stimme klang immer so. »Doch sie ist nur ein einzelnes Kind. Wendar und Varre und alle, die dort leben - alle, die die Umwälzung überstanden haben -, könnten im Chaos versinken. Ohne die Ordnung, die eine rechtmäßige
Herrschaft ihnen auferlegt, wird es Krieg zwischen den Edelleuten geben - zwischen Herzogtümern und Grafschaften. Das ist die Entscheidung, die ich getroffen habe. Die Verpflichtung, die ich angenommen habe, auch wenn ich sie niemals gewollt habe. Inwiefern ist deine Entscheidung anders?« »Ich bin nicht Henrys Erbin. Ich bin noch nicht einmal Taillefers Urenkelin. Ich bin die Tochter eines unbedeutenden edlen Geschlechts, nichts weiter.« »Das erinnert mich seltsamerweise an Hugh von Austra, der sich bestimmt keinen Deut um die Tochter eines unbedeutenden edlen Geschlechts geschert hätte, wenn das alles wäre, was du bist.« »Oh! Das war ein grausamer Hieb!« »Das sollte es auch sein. Ich trauere um Gnade. Niemand tut das mehr als ich. Ich gebe zu, dass mir mein süßes Mädchen 95
nicht immer gefallen hat, aber ich habe sie immer geliebt - liebe sie. Wenn sie tot ist, Liath, wenn sie bereits gestorben ist, haben wir die richtige Entscheidung getroffen.« »Ich habe sie gesehen.« »Du bist blind, wenn du die Adlersicht einsetzt. Was war deine Vision dann? Wahr oder falsch?« »Wahr, glaube ich. Ich habe Gnade gesehen. Ich habe Li'at'dano gesehen. Ich glaube, ich habe Wulfhere gesehen. Ich habe auch dich in einer Vision gesehen, als du die wendischen Flüchtlinge aufgenommen hast, die aus Darre geflohen sind. Henrys Gelehrtenschule, zumindest ein Teil davon.« »Das stimmt«, gab er zu. »So gesehen, könnte es tatsächlich eine wahre Vision gewesen sein.« »Oder auch ein Traum. Vielleicht habe ich sie einfach nur so schrecklich gern sehen wollen ... aber es kam mir alles so wirklich vor. Ich habe gesehen, wie sie mit einem jungen Mann gestritten hat -« »Thiemo? Matto?« »Ich habe ihn noch nie gesehen.« »Hast du vielleicht die Vergangenheit gesehen?« »Nein - sie war so alt wie zu dem Zeitpunkt, an dem wir sie verlassen haben.« Aber noch nicht so alt wie in der schrecklichen Vision, in der sie Gnade als Hughs Gefangene gesehen hatte. »Es war die Gegenwart oder die Zukunft. Dessen bin ich mir sicher. Es bedeutet, dass sie lebt.« »Wenn das so ist und Gyasi sie gesund und wohlbehalten zu uns zurückbringt, haben wir die richtige Entscheidung getroffen.« »Was ist, wenn sie stirbt, weil niemand von uns zu ihr gegangen ist?« »Dann werden wir dafür verantwortlich sein. Was sonst können wir tun? Jeden Tag muss ich Entscheidungen treffen, und als Folge davon sterben manche, während andere leben.« »Oh Gott. Es ist keine gute Aufgabe. So viele sind bereits tot.«
95 »Und doch wären noch mehr tot, wenn du dich nicht Anne entgegengestellt und sie getötet hättest. Du weißt, dass es so ist.« »Ja, das weiß ich«, gab sie zögernd zu. »Aber ich spüre keine Freude über diesen Sieg.« »Weil wir keinen Sieg errungen haben. Wir haben nur eine Niederlage verhindert, das ist alles.« »Ich bin in Aosta einer Gruppe von Bauern begegnet. Nachdem die Greifen mich vor Zuangua gerettet hatten. Diese Bauern hatten ihr Zuhause an den Sturm verloren. Soldaten hatten das gestohlen, was ihnen an Vorräten noch geblieben war. Zweifellos schien es diesem Edelmann und seinem Heer angemessen, das zu tun, denn er muss seine Leute ernähren, damit sie kämpfen können.« »Das muss er, aber er wird nächstes Jahr nichts zu essen haben, wenn all diejenigen, die für ihn die Äcker bestellen, verhungert sind.« Einer der Knoten in ihrem Magen löste sich. »Ich vermute, das ist nur eine kleine Ungerechtigkeit unter vielen großen. Und doch erinnert es mich an etwas, das Hathui einmal gesagt hat: >Der Herr und die Herrin lieben uns in ihrem Herzen alle auf die gleiche Weise.Gott werden aus Gnade, was du bist.Gott sind als Fleisch geboren, damit auch du als Geist geboren werden wirst.Krypte!Seid wie ich durch das Schicksal gebunden, das andere für Euch bestimmt habenDiese Straße wage ich nicht entlangzuschreiten.Herr< an. Es ist nicht recht. Ich bin nicht der Erbe von Lavas.« »Aber die Hunde, Herr!« Verärgert machte sie eine Geste zu den Hunden, die rechts und links von ihm saßen. »Die Hunde sind der Beweis! Sie haben niemals jemand anderem gehorcht als dem Erben von Lavas!« »Ist das wahr?«, fragte er. »Oder betrachtet Ihr es nur von der falschen Seite? Haben sie nie jemand anderem als dem Erben von Lavas gehorcht - oder nie jemand anderem als dem Erben von Charles, dem Älteren?« »Ich verstehe Euch nicht, Herr. Die Hunde sind der Beweis.«
224 »Wir können aufbrechen«, sagte er. »Sobald Ihr so weit seid.« Es dauerte bis Mittag, das einzusammeln, was das kleine Dorf in diesem Jahr an Abgaben aufbringen konnte, und da Lavas nicht die Mittel hatte, noch mehr Bäuche zu füllen, nahm sie keine jungen Leute aus dem Dorf auf, die dem Grafen das übliche Jahr hätten dienen können. Der Geistliche, der sie begleitete, trug Zahlungen und Rückstände in das Rechnungsbuch ein, und von Letzteren gab es weit mehr als von Ersteren.
»Es scheint, als würdest du uns wieder verlassen«, sagte Tante Bei zu Alain. »Und es macht mich traurig, dass du gehst. Ich weiß nicht, wann wir dich wiedersehen werden.« »Ich weiß es auch nicht«, erwiderte er. »Mein Pfad ist seltsam. Ich weiß nur, dass unsere Wege sich hier trennen müssen.« Sie weinte, aber nicht sehr. »Es gibt immer einen Platz für dich bei uns, Alain, auch wenn ich nicht glaube, dass du wirklich unser bist.« Er küsste sie, und sie umarmte ihn. Auch die anderen verabschiedeten sich mit einem Kuss oder einer Umarmung von ihm, je nachdem, was ihrem Wesen entsprach. »Ich bitte euch«, sagte er zu Stancy und Artald. »Bleibt stark und passt auf die anderen auf. Lasst nicht zu, dass die Familie zerbricht.« »Beherrsche dich«, sagte er zu Julien, und dann zu Agnes: »Warte nicht ewig. Heirate in einem Jahr wieder, wenn du keine Nachricht von deinem verschollenen Mann hast.« »Ich sollte selbst nach Medemelacha gehen!«, sagte sie mit aufgebrachter, aber gedämpfter Stimme, damit die anderen es nicht hörten. »Aber Onkel lässt mich nicht. Er sagt, dass die Frau den Herd bewachen muss und es Sache der Männer ist, sich auf die gefährlichen Reisen zu begeben, wie es in der Heiligen Botschaft steht. Alle sagen, dass ich einfach Fotho heiraten soll, aber ich will nicht! Ich will nach Medemelacha gehen und herausfinden, ob es Nachrichten von Guy gibt.« »Dann schließe mit ihnen ein Abkommen. Wenn sie dich dieses Frühjahr gehen lassen, sofern das Meer befahrbar ist,
225 und du keinen Hinweis auf ihn findest, wirst du keine Einwände mehr dagegen erheben, wieder zu heiraten, wie es Tante Bels Wunsch ist.« Die ganze Zeit über hing Blanche an seinem Arm, mit zusammengepressten Lippen und einer so finsteren Miene, dass Milch davon hätte sauer werden können. Als Letzter kam Henri an die Reihe. »Es tut mir leid, dich weggehen zu sehen, Sohn. Aber ich weiß, dass du gehen musst. Du hast uns niemals gehört, du warst nur ein Geschenk, das wir eine bestimmte Zeit besessen haben, bis es zurückgefordert wurde.« Und in diesem Augenblick zerbrach schließlich die Ruhe, die ihn bisher getragen hatte. Alain konnte nicht sprechen, als er den Mann umarmte, der ihn aufgezogen hatte. Blanche begann zu weinen. »Nein! Nein! Ich lasse dich nicht gehen!« Henri wirkte sowohl erheitert als auch verärgert, wie es bei allen der Fall war, wenn sie mit Blanche zu tun hatten. »Es wird schwer sein, diese Klette loszuwerden.« »Vielleicht.« Alain versuchte nicht, sie abzuschütteln, obwohl die anderen herankamen und mit ihr schimpften und an ihr zerrten. »Vielleicht sollte ich es auch gar nicht erst versuchen«, sagte er, und sie starrten ihn alle überrascht an. »Was meinst du damit?«, fragte Tante Bei. Julien errötete und blickte beschämt drein, und Agnes verdrehte angewidert die Augen. »Sie gedeiht hier nicht«, sagte Alain. »Sie ist wie ein Baum, der verkrüppelt wächst und nicht gerade. Ich möchte sie mit nach Lavas nehmen.« »Wer wird für sie sorgen?«, fragte Agnes. »Wer sollte einem so unsympathischen Wesen wie ihr Freundlichkeit entgegenbringen?« »Sie werden sie vermutlich zu den Hühnern stecken, statt sie in ihr Haus zu lassen«, sagte Stancy. »Armes Ding.« Sie sah Julien an, der den Kopf senkte. »Wenn du dich mehr für sie ein
225 setzen würdest, Jul, und sie schelten würdest, wenn sie es verdient hat, wäre sie vielleicht nicht so.« »Nein! Ich lasse dich nicht gehen!«, schrie Blanche, die nicht zugehört hatte, da ihr Wutanfall sie vollkommen beherrschte. »Ich kann dafür sorgen, dass man sich um sie kümmert.«
»Es gefällt mir nicht«, erwiderte Tante Bei. »Die Kastellanin hat selbst gesagt, dass Lavas nicht genug besitzt, um dieses Jahr junge Menschen aufzunehmen. Ich möchte mir nicht nachsagen lassen, dass ich meine eigene Enkelin rausgeworfen hätte, damit sie bei den Hühnern scharren kann.« »Vertraust du mir, Tante Bei?« »Natürlich, Junge.« »Lass mich sehen, was aus ihr in frischem Boden wird.« Weil niemand von ihnen das Kind mochte, waren sie zu beschämt, um zuzustimmen. »Blanche! Still!« Sie beruhigte sich, hielt sich aber nach wie vor an seiner Taille fest. Tränen verschmierten ihr schmutziges Gesicht, als sie erst ihn und dann die anderen ansah. Tante Bei musterte jedes einzelne Familienmitglied, aber sie alle runzelten nur die Stirn oder zuckten mit den Schultern. »Also gut, Alain. Vielleicht ist es am besten so.« »Was ist am besten so?«, murmelte Blanche und schniefte argwöhnisch. »Dass du mit mir nach Lavas gehst«, sagte er zu ihr. »Solange du dich benimmst und genau das tust, was ich dir sage.« Die Worte machten sie benommen. Sie steckte den Daumen in den Mund und verzog das Gesicht. »Aber sie hat keine Kleidung, gar nichts. Ich werde keine arme -« »Es wird alles gut werden, Tante Bei. Am besten gehen wir jetzt, und zwar rasch. Die Kastellanin ist fertig.« Sie weinten, ebenso wie er. Blanche weinte nicht, nicht einmal, als ihr Vater sie küsste, nicht einmal, als Agnes ihren schönen, blauen Umhang abnahm, der zu ihrer Hochzeitskleidung gehört hatte, und ihn ihr reichte.
226 Am schwersten fiel es Alain, Henri loszulassen, und am Ende war es Henri, der ihre Umarmung löste, ihm die Hand auf die Schulter legte und ihm in die Augen sah. »Geh jetzt, Sohn. Du wirst das Richtige tun.« Er strich mit einem Finger über die Narbe. »Vergiss uns nicht.« »Du wirst immer bei mir sein, Vater.« Alain küsste ihn ein letztes Mal. Er warf sich sein Bündel über den Rücken, nahm Blanche an die linke Hand und folgte Kastellanin Dhuoda und ihrem kleinen Gefolge aus Osna heraus und wieder in die Welt dahinter.
2 Im ersten Moment wusste Anna nicht, was für ein Geräusch sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Gnade lag neben ihr, still wie eine Maus und ganz eng zusammengerollt, den Kopf fast auf den Knien. Eine Dienerin namens Julia, eine Spionin der Königin, schlief auf einer Pritsche über der geschlossenen Falltür. Sie schnarchte gleichmäßig weiter. Dann erklang das Schlurfen erneut, und danach war einmal zu hören, wie Holz über Stein scharrte. Anna stützte sich auf einem Ellbogen auf und sah, wie Edelfrau Elene sich aus dem Fenster lehnte. Es sah so aus, als wäre sie kurz davor, sich in den Tod zu stürzen. Anna rappelte sich auf und stolperte zu ihr, stieß sich einen Zeh an der Bank und fluchte. »Sieh nur!«, sagte Elene. Ihre Haare berührten Annas Haut so leicht wie eine Feder, als sie neben sie trat. Anna zitterte und schluckte ein Schluchzen hinunter, als sie an Thiemo und Matto denken musste, deren Haare sie auf diese Weise hätten berühren können. »Was ist da drüben?« Elene deutete mit dem Finger auf etwas. »Siehst du die Lichter?«
226 Von dieser Stelle aus konnte man bei Tageslicht nach Süden sehen, auf eine allmählich hügeliger werdende Landschaft. Nicht eine einzige Kerze brannte in Novomo. Die Stadt war so dunkel wie der Abgrund. Der strenge Geruch von Pisse drang ganz aus der Nähe zu ihnen herauf, kam von jener Stelle am Fuß des Turms, wo die Soldaten sich erleichterten. Aber in der Ferne sah sie einen Schauer aus Blitzen und einen Lichtbogen, als würde sich eine Sturmfront nähern. Das Licht dort war so hell, dass sie den Atem anhielt. »Was ist das, Herrin?«
»Es muss eine Krone da draußen sein, obwohl Wulfhere sie nie erwähnt hat. Jemand webt in dieser Krone. Aber wie kann man das tun, wenn keine Sterne da sind?« »Wieso braucht man Sterne, Herrin?« »Das ist das Geheimnis der Mathematiki, Anna. Ich kann es dir nicht erklären. Aber ich sage dir, dass es ein Weben ist, in gewisser Weise. Man muss Sterne sehen können, um die Hand und das Auge zu führen.« Anna gefiel es, dass Edelfrau Elene so ungezwungen mit ihr sprach. Elene war stolz, aber nicht dumm, und so hatte sie Anna eingeschätzt und ihre Loyalität bedacht, und wenn sich die Tochter eines Herzogs auch nie einer gewöhnlichen Dienerin anvertrauen würde, so begegnete sie ihr auch nicht mit Verachtung. Tatsächlich erwies Edelfrau Elene ihr ihre Gunst umso mehr, je mehr Gnade sich darüber ärgerte, dass sie ihrer eigenen Dienerin so viel Aufmerksamkeit schenkte. Anna fand das nicht sehr nett von ihr, aber es war schön, eine erwachsene Kameradin zu haben, die keinen Schmollmund zog und schrie und bei der geringsten Kleinigkeit Wutanfälle bekam. Es war angenehm, mit einem Menschen sprechen zu können, der Verstand besaß - einen Verstand, den sie jenen, denen sie nicht traute, nicht immer offenbarte. »Aber sieh doch!« Sie war mehr als Schatten zu erkennen denn als Gestalt, die sich jetzt jedoch mit einem scharfen Atemzug verlagerte. Anna spürte Elenes Hüfte an ihrem Kör 227 per, als die Edelfrau die Hand wieder ausstreckte. »Irgendjemand kommt von irgendwoher durch die Krone. Wer könnte das sein? Wer könnte überlebt haben?« Anna zitterte erneut, hauptsächlich wegen der Kälte. »Wer kennt sonst noch die Geheimnisse der Kronen?« »Marcus und die Heilige Mutter Anne und meine Großmutter sind tot, wie auch diese andere Frau aus dem Süden, die sie Schwester Abelia genannt haben.« »Woher wisst Ihr, dass sie tot sind?« »Ich wünschte bei Gott, dass ich es nicht miterlebt hätte, aber ich habe es. Sie sind tot. Aber jemand von den anderen könnte überlebt haben. Die im Norden konnte ich nicht sehen, nachdem das Weben verzerrt wurde.« »Wenn das stimmt, könnt Ihr ihnen dann trauen?« »Niemandem von ihnen, wie Wulfhere sagt.« »Könnt Ihr Wulfhere trauen?« »Das fragst du nicht zum ersten Mal!« Elene lachte, aber ihre Erheiterung klang verbittert. »Er ist der Einzige, dem ich trauen kann. Nun, ihm und meiner Großmutter, und meiner armen toten Mutter, möge sie in Frieden in der Kammer des Lichts ruhen, aber sie kann mir jetzt nicht helfen.« »Was ist mit Eurem Vater, dem Herzog?« Sie zuckte mit den Schultern, berührte dabei Annas Arm. »Er hat mich aufgegeben, in dem Wissen, dass ich sterben würde. Er hat getan, was seine Mutter verlangt hat, und ich habe gehorcht.« Mutig legte Anna eine Hand auf die von Elene, um sie zu trösten. Elene zog ihre Hand nicht weg. Gemeinsam beobachteten sie, wie die Lichtblitze verschwanden, sahen dann noch eine ganze Weile länger hin, obwohl es gar nichts mehr zu sehen gab. »Heilige Mutter! Wacht auf, ich bitte Euch.« Antonia hatte die Angewohnheit, rasch aufzuwachen. »Was ist, Schwester Mara?«
227 »Kommt rasch, ich bitte Euch, Heilige Mutter. Die Königin hat nach Euch geschickt.« Sie ließ sich von ihren Dienerinnen in ein leichtes Gewand und einen Umhang kleiden. Noch immer war es so kühl wie im Winter, obgleich es schon einige Zeit Frühling war; und dabei hätte es eigentlich ständig wärmer werden müssen, da jeder Tag sie dem Sommer näher brachte. Lampen beleuchteten ihren Weg, obwohl das schwache Licht der Morgendämmerung die Bögen und Winkel des Palastes bereits erkennen ließ. Zwanzig Leute befanden sich auf der offenen Veranda vor den Gemächern der Königin. Sie traten zur Seite, um sie durchzulassen, und als sie im Zimmer war, fand sie weitere zwanzig Leute, die
vollkommen still waren, sogar jene, die weinten. Mathilda schlief. Adelheid saß auf ihrem Bett und hielt die schlaffe Berengaria in den Armen. Nur die Toten kannten solchen Frieden. Adelheid blickte auf. »So ist es also geschehen, Heilige Mutter. Sie hat ihren letzten Atemzug getan.« Ihre Augen waren trocken, ihre Miene beherrscht, aber starr vor unterdrückter, gebändigter Wut. »Armes Kind.« Antonia legte ihre Hand auf die kalte Stirn des winzigen Kindes und sprach ein Gebet. Es war während der langen Krankheit fast völlig abgemagert. Da die Seele geflohen war, schien es kaum mehr als eine skelettartige Puppe zu sein, mit grauer Haut und Haaren, die noch vom letzten Schweißausbruch verklebt waren. »Sie klettert in diesem Augenblick die Leiter hoch, die zur Kammer des Lichts führt, Eure Majestät. Ihr müsst Euch für sie freuen, denn ihr Leiden hat ein Ende.« »Mathilda ist alles, was ich habe.« Antonia fand diese Verlagerung beunruhigend, obwohl sie eine Frau bewunderte, die bereits die praktische Seite ihrer Situation bedachte. »Ihr seid noch jung, Eure Majestät. Ihr könnt Euch neu verheiraten.« »Mit welchem Mann? Es gibt niemanden, dem ich trauen kann, und niemanden, dessen Rang meiner würdig ist.«
228 »Das mag sein, aber Ihr werdet wieder heiraten müssen.« »Ich muss. Oder Mathilda muss verlobt werden, um ein vorteilhaftes Bündnis zu schließen.« »Mathilda!« »Still, ich bitte Euch, Heilige Mutter. Ich möchte sie nicht aufwecken.« »Wenn es für Euch selbst keine geeignete Verbindung gibt, wie sollte es sie dann für Mathilda geben, Eure Majestät?« Sie antwortete nicht. Aus dem anderen Zimmer erklangen die Schritte eines Soldaten. Eine Frau trat ein. »Hauptmann Falco hat dringende Nachrichten, Eure Majestät.« »Ich komme.« Adelheid reichte das tote Kind der Zofe, die die Bürde ernst und ohne Tränen in den Augen annahm. Die Übrigen weinten, aber ihre Augen kündeten lediglich von ihrer Erschöpfung, das war alles. Adelheid stand auf und zog ihr Gewand zurecht. Seltsam, dass sie um diese Stunde, da sie eigentlich hätte schlafen sollen, angezogen war. Aber in den letzten Tagen hatte sie häufig nachts bei dem Kind gewacht, denn alle wussten, dass der Engel Gottes oft in der Stunde vor dem Morgengrauen kam, um die Seelen der Unschuldigen mitzunehmen. Hauptmann Falco wartete vor dem Zimmer. Er war wachsam, sein breites Gesicht bemerkenswert lebhaft. »Ihr werdet es nicht glauben, Eure Majestät! Kommt bitte rasch mit.« Nur ein einziger Springbrunnen im Palast von Novomo war noch unversehrt, und durch seinen raffinierten Mechanismus rann plätschernd Wasser. In diesem Hof gab es auch eine schattige Laube, ein Beet mit Lavendel und einen einst herrlichen Garten mit Salbei und Chrysanthemen. Unter der Arkade hockte Edelfrau Lavinia und rieb sich die Hände. Sie wirkte aufgeregt, während sie den Mann anstarrte, der sich im Wasser Gesicht und Hände wusch. Antonia blieb abrupt stehen, verblüfft und atemlos, aber Adelheid ließ sich nichts anmerken. Sie schritt zu ihm wie zu
228 einem Liebhaber, und als er sich erhob und umdrehte, offensichtlich überrascht, sie zu sehen, versetzte sie ihm eine Ohrfeige. Die Hälfte ihres Gefolges schnappte nach Luft. Die Übrigen unterdrückten Ausrufe. Adelheid achtete nicht darauf. Zorn loderte in ihr. Sie sah aus, als wollte sie ihn anspucken. »Ihr habt Henry getötet!« Er berührte seine Wange. Er verbeugte sich nicht und machte auch keine ehrerbietige Geste, ließ aber auch keine Verachtung erkennen. »Wir waren einmal Verbündete, Eure Majestät.« »Nein! Ihr habt mich mit Euren vergifteten Aussagen verführt. Es ist Eure Schuld, dass Henry tot ist!«
»Ganz bestimmt ist es die Schuld seines Sohnes, der ihn getötet hat. Und, wenn wir schon dabei sind, außerdem Annes Schuld, die Henry hätte töten lassen, hätten wir beide ihn nicht durch unser Einschreiten davor bewahrt.« Er sprach ruhig, ohne zu schreien, und doch so klar und deutlich, dass alle im Hof seine vernünftigen Worte und seine wohlklingende Stimme hören konnten. »Ich flehe Euch an, Eure Majestät! Ich bitte Euch! Vergesst nicht, dass wir beide wegen der Dinge, die getan werden mussten, geweint und getrauert haben. Aber wir haben es zusammen beschlossen. Wir haben ihn gerettet. Sein Sohn war derjenige, der ihn getötet hat.« »Wenn Ihr nicht bis Einbruch der Nacht aus Novomo verschwunden seid, lasse ich Euch als Verräter hinrichten.« Sie raffte ihr Gewand zusammen, so dass der Stoff ihn nicht berühren konnte, und stapfte davon. Ihr Gefolge eilte hinter ihr her, ließ Antonia und eine verzweifelte Edelfrau Lavinia und ein Dutzend Bedienstete zurück, die ihrem Gemurmel und Gescharre zufolge nicht wussten, was sie tun sollten. »Geht es Eurer Tochter gut, Edelfrau Lavinia?«, fragte Hugh freundlich. Sie unterdrückte ein Schluchzen. »Ja, Edelmann Hugh«, sagte sie nur. »Sie hat den Sturm überlebt, was mehr ist, als man von vielen anderen sagen kann.«
229 »Gott waren Euch also wohlgesonnen. Ich bin froh, das zu hören.« Sie schluchzte jetzt doch, unterdrückte es dann und schwankte, wusste nicht, was sie tun sollte. Vielleicht liebte sie ihn mehr, als sie Adelheid liebte. »Bitte, Edelfrau Lavinia«, sagte Antonia. »Ich werde mich um die Angelegenheit kümmern. Die Königin ist außer sich vor Kummer.« »Ja! Das arme Würmchen. Ja, in der Tat.« »Dann beruhigt Euch und tut, was Ihr tun müsst. Edelmann Hugh, wenn Ihr bitte mit mir kommen wollt.« Er neigte demütig und mit jener Anmut, die so typisch für ihn war, den Kopf und folgte ihr dann mit noch staubigen Stiefeln in ihre Gemächer. Dort hieß sie ihn, sich auf eine Bank zu setzen, und trug den Bediensteten auf, gewürzten Wein zu bringen. Eine Geistliche öffnete die Schnalle an seinem Umhang und legte ihn beiseite. »Was bedeutet das?«, fragte er, während er den Raum musterte. »Dort hängen die Gewänder der Skopos.« »Ich bin jetzt die Mutter der Kirche, Edelmann Hugh. Merkt es Euch.« Die Neuigkeit verblüffte ihn, aber er nahm sie hin, nippte nicht gierig, sondern nachdenklich an dem Wein. »Vieles hat sich verändert. Ich habe in diesen Stunden beängstigende Geschichten gehört. Die Wachen am Tor von Novomo haben mir erzählt, dass Darre eine Ödnis ist.« »So ist es, schrecklich wie der Abgrund. Darre stinkt nach Schwefel und ist vollkommen unbewohnbar. Jetzt hört zu. Ihr habt mir in der Vergangenheit einen Gefallen getan, und ich werde ihn erwidern, obwohl ich nicht sicher bin, ob Ihr das seid, was ich mir erhofft hatte.« Er lächelte, aber sie konnte nicht erkennen, was er dachte. Er war tatsächlich wunderschön - und müde -, und sie wusste noch nicht, woher er gekommen war und was für eine Geschichte er zu erzählen hatte. Doch ihre Augen schmerzten 229 nicht, als sie ihn anblickte und ihm dabei von dem erzählte, was in den letzten sechs Monaten geschehen war, und den bedauernswerten Zustand beschrieb, in dem sich der Rest von Aostas Hof befand. Er zuckte nicht ein einziges Mal zusammen, machte keine Bemerkungen und weinte nicht vor Entsetzen. Es schien wenig zu geben, was ihn überraschen konnte - außer, als sie erzählte, welche Gefangenen sie besaßen. »Wirklich?«, fragte er. »Die Tochter von Sanglant und Liath? Wirklich?« Er errötete. »Seid vorsichtig, Edelmann Hugh, sonst verratet Ihr Euch noch zu sehr.« »Wie meint Ihr das?« »Glaubt nicht, dass ich es nicht wüsste.« Das überraschte ihn nun doch, weil die Erschöpfung ihn verletzbar machte.
»Ich habe eine Idee«, fügte sie hinzu. »Aber sie umzusetzen wird einige Zeit dauern - und sie bedarf einer Menge Planung und Geduld.« Er hob elegant eine Hand, um zu zeigen, dass er sie gehört hatte und dass er bereit war, sie weitersprechen zu lassen. »Was für Aussichten habt Ihr, Edelmann Hugh ? Wieso seid Ihr hier in Aosta, wenn Ihr von Anne nach Norden in das Land Eurer Ahnen geschickt worden seid, um dort Euren Teil zum Weben beizutragen?« Er lächelte, aber er sagte nichts. »Woher kommt Ihr?« »Aus Wendar. Ich habe Annes Zauberei überstanden, wie Ihr sicherlich bereits begriffen habt. Ich habe jemanden an meinen Platz gestellt und bin auf diese Weise am Leben geblieben, während er tot ist.« »Auf diese Weise hat Schwester Meriam sich geopfert, um ihrer Enkelin das Leben zu retten«, bemerkte sie trocken. »Ich bin nicht Schwester Meriam.« »Nein, das seid Ihr allerdings nicht, Edelmann Hugh.« »Was wollt Ihr von mir?«
230 »Königin Adelheid braucht einen Ehemann. Wieso solltet Ihr es nicht sein?« Er zuckte zurück, so dass er fast rücklings von der Bank gestürzt wäre. »Ich bin ein Presbyter, wie Ihr wisst, Heilige Mutter. Es ist unmöglich. Ich kann nicht heiraten.« »Wenn ich Euch die Erlaubnis gebe, die Kirche zu verlassen, könnt Ihr heiraten. Es ist in der Dienerschaft und Bevölkerung oft darüber geredet worden, welch schönes Paar Ihr und Adelheid abgebt. Zumal Henry so viel älter war und Ihr so jung und hübsch seid und von den Aostanern in Darre geliebt wurdet.« »Ich bin Gott treu, Eure Heiligkeit. Ich suche die Ehe nicht.« »Ihr seid voller Begierde. Wollt Ihr das leugnen?« Seine Lippen wurden dünner. Er ballte die Hände zu Fäusten. Seine Augen zeigten ein kaltes Blau, so spröde wie Eis. »Ich bin treu, Eure Heiligkeit.« »Wem? Gott?« Er schloss die Augen. »Einer Frau, die Ihr niemals haben könnt.« Der wilde Blick verblüffte sie, als er die Augen abrupt wieder öffnete. »Ich hatte sie einmal!« Er schlug mit der Faust auf die Bank, dann biss er die Zähne zusammen und schloss die Augen wieder, machte drei zitternde Atemzüge, bevor er sich beruhigte. »Ich bin ihr treu. Niemandem außer ihr. Und danach Gott. Und nach Gott Henry.« »Der tot ist.« »Ich habe mein Bestes getan, um ihn zu retten!« »Daran zweifle ich nicht«, sagte sie, um ihn zu besänftigen. »Was ist mit Henrys Sohn? Ist er bei Prinz Sanglant?« Er konnte nicht sprechen. Er war erschüttert und müde und so von Eifersucht zerfressen, dass er davon zerbrechlich geworden war, kurz davor, in Stücke zu zerfallen, aber noch nicht zerbrochen. »Es ist alles zu viel und geht zu schnell«, sagte sie freundlicher. »Ihr seid gerade erst nach einer langen und zweifellos mühsamen Reise hier eingetroffen. Wie seid Ihr hergelangt?«
230 »Ich bin von Quedlingham nach Südwesten geritten, bis ich eine Krone gefunden habe. Mit meinem Astrolabium war es leicht, meinen Weg nach Novomo genau zu bestimmen. Das habe ich mir selbst beigebracht. Anne wusste nichts davon und hat es nicht beherrscht. Ich kann überall hingehen, wenn ich das Ziel kenne und es abschätzen kann. Ich habe nur zwei Wochen beim Durchschreiten der Krone verloren. Schon bald werde ich die Zeit auf ein paar Tage mindern können.« »Und ganz allein, ohne Gefolge.«
»Nur mit meinem Pferd, das jetzt in den Stallungen der Edelfrau ist. Ich bin vor denen weggelaufen, die mir nicht trauen. Selbst meine Verwandten haben sich durch vergiftete Worte dazu bringen lassen, sich gegen mich zu wenden.« Er musste in der Tat sehr müde sein, dass er so viel enthüllte. »Ich traue Euch nicht, Edelmann Hugh. Wieso sollte ich auch?« »Vertraut mir, dass ich - abgesehen von meinem Wissen über die Künste der Mathematiki - keine Macht habe. Meine Mutter ist tot, meine Schwestern hassen mich. Königin Adelheid möchte mich wegschicken. Dieser Bastard, der sich König nennt, hat die Macht, mich zu verbannen.« »Und er besitzt die Frau, die Ihr begehrt.« »Verflucht soll er sein!« Er vergoss Tränen vor Wut. Der Anblick erstaunte sie so sehr, dass sie sich nicht rühren konnte, abgesehen davon, dass sie die Bediensteten wegwinkte, die ins Zimmer gekommen waren, als sie Geräusche gehört hatten. Ihre Verblüffung gewährte ihr die Zeit, abzuwarten und die Züge seiner Wut zu erkunden, die sich in seiner zur Faust geballten Hand zeigten, in der Anspannung seines Kiefers, in der Art und Weise, wie seine Unterlippe wie bei einem Kind zitterte, das sich ungerecht behandelt fühlte. Sie hatte ihn noch nie so offen die Beherrschung verlieren sehen. So mochte ein Engel weinen, der von einer Beleidigung Gottes hörte, aber nicht die Macht hatte, Sie zu rächen.
5°3 Als er sich etwas beruhigt hatte, berührte sie seine Hand. »Ich werde mit der Königin sprechen. Ruht Euch aus. Wir unterhalten uns später weiter. Im Vorzimmer befindet sich eine Pritsche. Niemand wird Euch stören. Bittet um Essen und Trinken, was immer Ihr wünscht.« »Ihr könnt mir nicht geben, was ich mir wünsche«, sagte er. Seine Stimme klang noch immer heiser. »Ihr solltet Euch Gottes Gunst wünschen, Edelmann Hugh, nicht einfach nur eine Frau. Einfach nur Fleisch.« »Ihr wisst nicht, was sie ist.« »Aber ja doch, ich weiß es. Ich habe gesehen, was sie ist, und es war beängstigend. Ihr vergesst, dass ich in Verna war. Ich glaube, sogar meine Galla würden zögern, jemanden wie sie zu berühren. Sie ist sehr gefährlich, und zweifellos macht sie das in Euren Augen süßer und strahlender. Ich glaube, sie ist zu gefährlich, um sie am Leben zu lassen.« »Nein!« »Dann angekettet. Tot oder angekettet.« Er hatte seine Augen nicht getrocknet, aber die Tränen schadeten seiner Schönheit nicht. »Ich werde alles tun, um sie zurückzubekommen.« »Werdet Ihr das? Würdet Ihr dafür sogar Adelheid heiraten?« Er hatte den Kopf gesenkt, und der Blick, den er jetzt nach oben richtete, war beinahe kokett. »Wie soll das Adelheids Sache dienen - oder meiner? Oder Eurer, Eure Heiligkeit?« »Gar nicht, wenn Adelheid Euch nicht verzeiht und in ihren Rat zurückholt. Was das Übrige betrifft - bedenkt, wer Adelheids Erbin ist, bei weitem jünger und leichter zu lenken.« Das gab ihm zu denken. Er saß schweigend da, den Blick nach innen gerichtet, als würde er ein Bild ansehen, das sie nicht berühren konnte. Aber sie ahnte, was er sah: Antonia als Skopos und Hugh als Ehemann der verstorbenen Königin, die gemeinsam als Mathildas Regenten herrschten. »Ruht Euch jetzt am besten aus, Edelmann Hugh«, sagte sie
231 freundlich. »Vielleicht werden Schlaf und Essen die Unruhe lindern, die Euren Geist bedrückt.« »Niemals«, flüsterte er kaum hörbar. Sie nickte, um ihn zu besänftigen, aber er war schon zu weit weg von ihr, und als er zu der Pritsche geführt wurde, die sich hinter einem Vorhang befand, schlief er tatsächlich sofort tief ein. Er war tot für die Welt, wie die Dichter sagten, die aus eigenen schmutzigen Erfahrungen wussten, wie
heftiges Verlangen einen Mann, der ansonsten mit Gelassenheit gewappnet war, einnehmbar machte. Er schlief den ganzen Tag und die ganze Nacht, während die Königin sich ihrem Kummer überließ. Ihre jüngste Tochter wurde in ein Leichentuch gehüllt und in einer Kiste zur Krypta von Novomos schöner Kirche gebracht, dem einzigen angemessenen Ort, um eine Prinzessin zur Ruhe zu betten. Die Glocke schlug sieben Mal, um die Seele des toten Kindes durch die Sphären hinaufzuführen. Ein Getränk mit Baldrian half der Königin in dieser Nacht zu schlafen. Der nächste Morgen brach friedlich an, wie Edelfrau Lavinia bemerkte, als sie Antonia nach der Prim beim Springbrunnen traf. »Ich habe gehört, dass ein Zug von Kaufleuten gegen Mittag in Novomo eintreffen wird. Sie sind von den östlichen Provinzen bis hierher geritten. Einer soll sogar aus Arethusa kommen! Trotz ihres Kummers ist sich die Königin bewusst, dass diese Menschen eine lange Reise hinter sich haben, und möchte, dass sie heute Nachmittag ein angemessenes Festmahl erhalten.« »Sie ist weise. Wenn es keine Unterhaltung gibt, wird ein besonnenes Festmahl nicht als unangemessen erscheinen. Schließlich ist das Kind noch nicht einmal zwei Jahre alt gewesen. Wir dürfen nicht überrascht sein, wenn kleine Kinder sterben, wie es so oft der Fall ist. Ich habe keine Einwände.« Lavinia hielt eine Hand ins Wasser und blickte nach einer Weile auf. »Ich bitte Euch, Heilige Mutter. Wird die Königin 5°5 ihm vergeben? Er war ihr immer treu ergeben, und ganz besonders Henry. Ich habe nie ein schlechtes Wort über ihn gehört, nicht einmal ein Flüstern.« »Was meint Ihr damit, Edelfrau Lavinia?« »Ich halte es nicht für richtig, ihn zu verbannen, aber ich kann nicht gegen die Wünsche der Königin vorgehen.« »Was wäre, wenn er die Königin heiraten würde?« »Er ist ein heiliger Presbyter! Er ist an Gottes Dienst gebunden. Eine Heirat würde ihn vergiften!« Sie verstummte. Ihre Wangen waren gerötet, als hätte die Sonne sie gefärbt, aber es gab natürlich keine Sonne, nur die Eintönigkeit eines weiteren bewölkten Tages. »Es wäre eine Schande, die Schönheit eines solch schönen Mannes zu beflecken.« »Ich weiß nicht, ob es richtig wäre, Heilige Mutter.« »Es ist nicht an Euch, Gottes Wünsche zu deuten.« »Nein, Heilige Mutter.« »Nun ja, vielleicht ist er doch nicht der Richtige. Aber die Königin muss wieder heiraten.« »Sie trauert um ihren toten Ehemann, Heilige Mutter.« »Um Henry?« »Allerdings, Heilige Mutter. Sie hat ihm gegenüber eine große Zuneigung empfunden.« Dann hatte Adelheid einen seltsamen Weg eingeschlagen, um ihre Zuneigung zu zeigen, dachte Antonia, aber vielleicht hatte sie wirklich geglaubt oder sich eingeredet, dass sie keine andere Wahl hatte. Hugh hätte natürlich bei jedem Plan mitgemacht, der ihm Macht bot, aber es war Antonia nicht so ganz klar, was er zu gewinnen geglaubt hatte, indem er diese bösartige Zauberei eingesetzt hatte. Besessen von einem Daemon Dennoch ... vielleicht hatte auch er es nur aus Loyalität gegenüber Henry und Wendar getan. Sie bezweifelte es allerdings. Mit Hilfe des Daemons hätte Henry ihm alles gegeben, was er wollte. Alles. War es tatsächlich möglich, dass ein so schöner und kluger
232 Mann wie Hugh so ... klein war, wenn man alles in Betracht zog? Dass er sich selbst fesselte, indem er sich an eine einzige Sache band? Wer war dann Sklave und wer Herr? Der eine war entkommen, während der andere noch seine Fesseln polierte. »Ihr seid eine praktisch denkende Frau, Edelfrau Lavinia. Habt Ihr eine Empfehlung?« Sie seufzte und sah zum Springbrunnen. Wasser floss in den unteren, runden Teich. »Ich habe viele Nächte über solche Dinge nachgedacht, Heilige Mutter. Ich bin Witwe und habe nicht wieder
geheiratet. Ich habe festgestellt, dass es einen Mangel an Männern gibt, deren Herkunft und Wesen mir gefällt. In dieser harten Zeit muss die Königin weise wählen oder gar nicht.« »Hat sie mit Euch über diese Dinge gesprochen?« Lavinias Zögern war Antwort genug. »Was zwischen Euch und der Königin vorgeht, will ich gar nicht wissen, aber vergesst nicht, dass Gott all Eure Geheimnisse kennen, Edelfrau Lavinia. Wenn Ihr Euch von einer Bürde befreien müsst, tut es mir gegenüber.« »Ich bin Eure gehorsame Dienerin, Heilige Mutter.« Vielleicht. Es war schwer zu erkennen, wem Lavinia diente. Sie war eine gewöhnliche Frau, die sich ihrem Land - das sie klug regierte - und ihren Kindern und Verwandten widmete, die sie so gut wie möglich beschützte. Sie hielt Adelheid zum Teil wahrscheinlich auch deshalb die Treue, weil sie glaubte, dass Adelheids Herrschaft ihr und ihren Besitztümern mehr zugutekommen würde als die irgendeines anderen Adligen. Aber Herzklopfen - Herzklopfen bekam sie nur, wenn sie Edelmann Hugh verteidigte. Nachdenklich kehrte Antonia in ihre Gemächer zurück, um festzustellen, dass die Bediensteten ihm eine kräftige Mahlzeit aus Käse und Brot gereicht hatten, nachdem er aufgewacht war, und ihm dann seinen Umhang gebracht hatten. »Wohin ist er gegangen?« »Heilige Mutter!« Sie starrten auf den Boden. »Haben wir
233 falsch gehandelt, Heilige Mutter? Er hat uns nichts gesagt. Es war kurz nachdem Ihr diese Räume verlassen habt, um die Morgenandacht zu halten. Hättet Ihr es anders gewünscht? Wäre es besser gewesen, wir hätten ihn hier behalten?« »Nein. Nein. Ich bin nicht verärgert. Habt ihr irgendeine Idee, wohin er gegangen sein könnte?« Seine Taten würden seine Gedanken enthüllen. Nun, dorthin, wo er beten konnte, versicherten sie ihr, und sie glaubte ihnen. Das heißt, sie glaubte ihnen, dass sie es glaubten. Wieso hätte er ihnen auch die Wahrheit sagen sollen ? Sie wusste, wohin er wollte. Was ihn mehr als alles andere anzog. Er brauchte Macht, um zu bekommen, was er wollte. Antonia hatte ihm lediglich den Weg gezeigt. »Komm, Felicita. Gib mir mein Audienzgewand ... nein, nicht das schwere, denn ich werde danach noch eine Weile herumgehen. Schick nach Bruder Petrus. Er ist weggegangen? Nun gut. Dann werdet Ihr mir helfen, Schwester Mara. Nein, keine Eile. Lasst mich erst meine Füße einen Augenblick ausruhen. Ich muss die Königin aufsuchen. Ihr großer Kummer wird sie vermutlich erst spät aufwachen lassen.« Und da sie spät aufstand, würde Hugh, der gekommen war, um sie um Vergebung zu bitten, in ihrem Vorzimmer warten müssen. Es bestand keine Notwendigkeit, ihm rasch zu folgen und ihn bei seiner Bitte um Verzeihung zu unterbrechen. Immerhin würde er es auf wundervolle Weise tun. Nicht einmal Adelheid würde in der Lage sein, ihm zu widerstehen. Aber wie sich herausstellte, verbrachte Adelheid den ganzen Morgen in betäubtem Schlummer. Um die Mittagszeit wurde Alarm gegeben, während Antonia gerade zum Turm der Gefangenen eilte, um sicherzustellen, dass sie nicht gestört worden waren. Der Feldwebel erklärte ihr, dass der heilige Presbyter tatsächlich vorbeigekommen war. Aber als er gehört hatte, dass die Prinzessin an einer Magenverstimmung litt, hatte er nur das Verlies aufgesucht. Es war ein kalter, unangenehmer und schmutziger Ort. Sie
233 stützte sich auf den Arm des Wächters, um nicht auf den Stufen auszurutschen, die kein Geländer besaßen. Von der großen, offenen Kammer waren drei kleinere Zellen mittels Backsteinmauern abgetrennt worden. In der dunkelsten saß Wulfhere auf dem strohbedeckten Boden; die Hände ruhten im Schoß, die Handfesseln lagen auf den Beinen. Er blinzelte, als der Lichtschein der Lampe auf ihn fiel, und sah sie mit gelangweilter Ergebenheit an, die sie verärgerte. Trotz der Brandwunden, die man ihm im Gesicht und am Hals beigebracht hatte, hatte er nie irgendein Geheimnis verraten, sondern nur allgemeine Geschichten von sich gegeben, die ihr nicht sehr geholfen hatten. Im Laufe der Zeit würde er reden. Sie musste nur Geduld haben. Irgendwann
würden die Einsamkeit und die Ratten ihn wahnsinnig machen, und er würde ihr alles sagen, nur um ein Stück Himmel zu sehen. »Eure Heiligkeit«, sagte er so gleichgültig, dass sie zusammenzuckte und ihn am liebsten geschlagen hätte. »Was wollte er?«, fragte sie. »Wissen, wer der Vater des geschätzten Geistlichen Heribert sein mag.« Sie hätte ihm eine weitere Brandwunde verpasst, wenn sie die notwendigen Utensilien zur Hand gehabt hätte. So musste sie sich mit einem freundlichen Lächeln begnügen. »Seltsam, einem geringen Adler eine solche Frage zu stellen.« Er zuckte mit den Schultern. Seine Nägel waren so lang, dass sie sich krümmten, und der Bart war verfilzt und schmutzig. Er stank. »Es ist vielleicht nicht ganz so seltsam, wenn es sich um einen Mann handelt, der den wendischen Hof sehr gut kennt.« Sie hätte ihn fast geschlagen, aber dann zerrte sie mit erstarrtem Lächeln am Ärmel ihres Gewandes. »Was versprecht Ihr Euch davon, mich zu verärgern? Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet.« »Er hat mich auch gefragt, wie ich hergekommen und wo ich gewesen bin, also vermute ich, dass er selbst erst vor kurzem in Novomo eingetroffen ist.« 234 »Was habt Ihr ihm gesagt?« »Nicht mehr als das, was ich Euch gesagt habe, Eure Heiligkeit. Ich glaube, er ist vor allem gekommen, um sich über mein Unglück zu freuen. Aber Ihr könnt ihn selbst fragen. Ich bin sicher, er wird es Euch sagen, da er und ich alte Feinde sind.« »Seid Ihr das? Und aus welchem Grund?« Sein Lächeln war verwegen, und es erinnerte sie daran, wie stark dieser Mann war, der nach so langer Gefangenschaft noch mit solcher Kraft lächeln konnte. »Ich hatte zweimal das Vergnügen, eine junge Frau vor ihm zu retten. Ich schätze, er wird es mir nie vergeben.« »Liathano. Eine alte Geschichte.« »Es ist eine Geschichte, die für Hugh von Austra niemals alt werden wird.« Seine Worte verblüfften sie. »Ist es möglich, dass Ihr gerissener seid, als Ihr wirkt, Wulfhere?« »Was für eine Antwort könnte ich Euch geben, die Euch zufriedenstellt? Gott sind mein Zeuge, dass ich nur ich selbst bin, weiter nichts.« »So sagt Ihr. Ich bin noch nicht fertig mit Euch, Wulfhere.« Er zuckte zusammen, das erste Zeichen von Schwäche, das sie ihm entlockt hatte. »Ich bin der gehorsame Diener Gottes und des Herrschers, Eure Heiligkeit.« »Der Diener Annes.« »Gottes und des Herrschers, Eure Heiligkeit. Damals, jetzt und für alle Zeiten. Nichts weiter.« Er sprach mit einer Endgültigkeit, dass sie ihm in diesem Augenblick glaubte. Sie fand Hugh in Lavinias Garten bei den Pappeln, wo er herumging und sich freundlich mit Bruder Petrus unterhielt, den er vom Palast der Skopos kannte. »Heilige Mutter«, sagte er und verbeugte sich nach Art der Presbyter, als sie sich näherte. »Ich bitte um Vergebung, Eure Heiligkeit. Ich war unruhig, denn ich musste über das nachdenken, worüber wir gestern gesprochen haben.«
234 Ihr Gesicht war gerötet vor Verärgerung darüber, dass sie sich Sorgen gemacht hatte, wohin er gegangen sein könnte. Möglicherweise war das der Grund, weshalb Bruder Petrus sich verneigte und sich dann hastig zurückzog, um sie allein zu lassen. »Ich hatte einige Mühe, Euch zu finden, Edelmann Hugh.« »Gärten spenden mir Trost, Eure Heiligkeit. Vergebt mir.« »Hattet Ihr keine Angst, dass Königin Adelheid ihre Drohung wahr machen und dafür sorgen könnte, dass Ihr hingerichtet werdet?« »Man sagte mir, dass sie schlafen würde, Eure Heiligkeit. Edelfrau Lavinia hat mir die Erlaubnis gegeben, in ihrem Garten umherzugehen.«
»Und die Erlaubnis, den Turm der Gefangenen aufzusuchen und mit dem Adler zu sprechen?« »Ich gestehe, dass ich sehr überrascht war, Wulfhere in Novomo zu finden. Weshalb ist er wohl hier?« »Was wolltet Ihr von ihm wissen?« »Ich weiß es selbst nicht genau«, gab er zu. »Er war Annes Diener. Bestimmt weiß er etwas von Anne - von ihren Plänen, ihrer Zauberei, ihrer Geschichte, ihren Büchern. Alles Dinge, die von Wert für uns sein könnten.« »Wenn das so ist, habe ich davon noch nichts herausgefunden! Trotz all meiner Bemühungen. Er ist ein hartnäckiger Mann.« »Er hat irgendeinen Pakt mit Schwester Meriam geschlossen, wie es scheint«, sagte er. »Wieso?« »Dieses Rätsel muss erst einmal unbeantwortet bleiben. Wir können später noch darüber sprechen, Edelmann Hugh. Ich muss jetzt in meinen Audienzsaal gehen. So viele Bittsteller treten vor mich hin. So viele Probleme, die einer Lösung bedürfen, gibt es auf der Welt, seit Gottes Zorn auf uns gekommen ist.« »Ja«, pflichtete er ihr bei. »Ich spüre selbst die Last dieser Probleme, als hätte der Feind eine Klaue in mein Herz gegraben.«
235 »Tut, was ich sage, Edelmann Hugh, und Ihr werdet das erhalten, was Ihr sucht.« Es war wie immer bewölkt, aber in dieser Ecke des Gartens, in der er umherging, schien es heller zu sein. Er blieb bei einem sorgfältig gepflegten Beet mit Eisenkraut stehen und fuhr mit der Hand über die hellen Triebe. »Es ist so schwierig, das zu erhalten, was man erstrebt«, murmelte er. »Habt Ihr Euch jemals mit den Geschichten über diese Ketzerei auseinandergesetzt, die sich in den westlichen Ländern verbreiten, Eure Heiligkeit? Habt Ihr von der Geschichte des Phönix gehört?« »Lügen, die von den Günstlingen des Feindes verbreitet werden !« »Viele reden, die nichts wissen, das ist wahr. Aber man fragt sich doch, woher solche Geschichten kommen und wieso sie aufgetaucht sind.« »Ich frage mich das nicht! Die Arethusaner haben sie zu uns gebracht, in der Hoffnung, dass sie sich wie die Pest bei uns verbreiten würden. Sollen zehntausend der Seuche zum Opfer fallen! Auf diese Weise wollen sie uns schwächen, aber das wird nicht geschehen. Wir werden stark bleiben, solange wir in Gottes Gunst stehen.« »Und wenn ich meinen Eid widerrufe und mit Adelheid verheiratet werde, was dann? Soll sie getötet werden, Eure Heiligkeit, damit an ihrer Stelle Mathilda herrscht - und wir als ihre Regenten über sie?« »Selbst die Mauern könnten Ohren haben, Edelmann Hugh! Seid etwas vorsichtiger!« »Ich bitte um Entschuldigung, Eure Heiligkeit. Aber ich bin verwirrt, was den Plan betrifft. Wie er ausgeführt werden und wie er sich entfalten soll. Muss ich sie anlügen?« »Ist sie nicht begehrenswert? Andere Männer würden das so sehen. Sie gilt als sehr hübsch.« »Wie ein vom Fluss polierter Stein, bis er neben einen Saphir gelegt wird.« »Ihr werdet an Eurer Besessenheit festhalten.«
235 »Wie soll meine Heirat mit Adelheid mir dabei helfen, das zu bekommen, was ich begehre?« »Ist das Euer einziger Einwand? Ich kann Euch nicht das versprechen, was Ihr begehrt, aber irdische Macht kann Euch Waffen gewähren, die Ihr gegenwärtig nicht besitzt. Welche Familie wird Euch helfen?« »Keine.« »Welche Fürsten werden Euch unterstützen?« »Keine.« »Ihr habt nur mich. Ich kann Euch benutzen, und wenn Ihr mir helft, werde ich Euch belohnen. So fordern es Gott von uns. Jene, die dienen, werden erhalten, was sie verdienen.« Er nickte, war inzwischen bei einem Büschel Helmkraut angekommen. Er riss ein Blatt ab. »Die Königin hat mir einmal vertraut. Sie tut das möglicherweise nicht mehr, obwohl ich ihr keinen Grund gegeben habe, mir zu misstrauen. Aber wenn sie sich weigert, mir zu vertrauen, gibt es Wege, sie zu ermutigen.«
Der Garten lag still in seinem zerlumpten Frühlingskleid; ein paar Veilchen blühten spät; tiefes Blau blinzelte zwischen Rosmarinhalmen hervor. »So ist es, aber seid vorsichtig, Hugh. Seid vorsichtig.« »Wie stets«, pflichtete er ihr demütig bei, den Blick auf den Boden gesenkt. Zufrieden winkte sie ihren Bediensteten. »Ich werde später nach Euch rufen lassen. Haltet Euch von dem Fest heute Abend fern. Wir werden morgen damit beginnen, die Königin zu überreden.« Edelfrau Elene wachte stets vor der Morgendämmerung auf, um zu beten. Weil sie eine Zuneigung zu Bruder Heribert und seinem seltsamen Verhalten entwickelt hatte, bestand sie
236 darauf, dass er jeden Morgen die Leiter heraufstieg, um neben ihr zu beten. Wenn Elene betete, pflegte natürlich mit Heribert auch Edelmann Berthold heraufzukommen, um zu beten, dem wiederum Edelmann Jonas auf den Fersen folgte. Gnade blieb schmollend auf ihrer Pritsche liegen. Anna zog sich stets an und kniete hinter den Edelleuten nieder. Weil sie die Verse und Psalmen nicht auswendig kannte, musste sie sie wiederholen, nachdem die anderen fertig waren. Elene dachte stets daran, den Geistlichen, der sie begleitete, als Ausdruck ihrer Höflichkeit darum zu bitten, Anna mehr Zeit für die Erwiderung zu lassen. Das galt allerdings auch für Bruder Heribert, der nicht mehr ganz richtig im Kopf war, seit der Berg über ihm eingestürzt war. Er konnte sich kaum noch an seine eigenen Verse und Gebete erinnern, obwohl er sie einmal besser als jeder andere gekannt hatte. Die anderen knieten auf dem weichen Teppich. Anna kniete auf dem harten Holzboden, bedeckte das Gesicht mit den Händen, um sich besser auf Gottes Willen zu konzentrieren. Um ihre Worte besser zu verbergen, wenn sie von »Ihr« sprach statt von »Ihnen«. Niemand wusste, dass der Phönix ihr Herz berührt hatte. Niemand außer Gnade, die gelernt hatte, den Mund zu halten, was das betraf, seit Prinz Sanglant die Bediensteten seiner Tochter dafür bestraft hatte, dass sie sie ketzerischen Worten ausgesetzt hatten. Gnade hasste es, wenn ihre Bediensteten bestraft wurden, denn wie sie wusste, würde sie selbst nie bestraft werden. Ein Wesenszug, der Anna Hoffnung gab. »Gesegnet seid Ihr, Mutter und Vater des Lebens«, sagte Edelfrau Elene. »Gesegnet seist du, Heilige Mutter«, flüsterte Anna in die Hände hinein. »Gesegnet seid Ihr«, wiederholte Bruder Heribert mit seiner unbeholfenen Stimme. Edelmann Berthold gähnte. Edelmann Jonas gab keinen Laut von sich. Häufig schlief er mit offenen Augen im Knien ein.
236 Gnade schluckte ein vorgetäuschtes Schluchzen hinunter, erstickte es in ihren Kissen. Krachend öffnete sich im Stockwerk unter ihnen die Falltür, knallte hart auf den Boden. Anna zuckte zusammen, nahm die Hände herunter. Berthold erhob sich, und Gnade hörte auf zu schniefen. »Gesegnet sei das Land der Mutter und des Vaters des Lebens und die Heilige Botschaft, die sich im Kreis der Einigkeit offenbart«, sprach Elene störrisch weiter, ohne auf die Schritte unten zu achten. »Jetzt und für immer und bis in alle Ewigkeit.« Die Kapuze einer Geistlichen tauchte in der offenen Bodenluke auf. Es handelte sich um Schwester Mara, eine der treuen Bediensteten der Heiligen Mutter. Sie schaute sich um. Dann kam sie ganz hochgeklettert und sprach leise mit Julia, die den Kopf schüttelte. Sie gingen im Raum herum und öffneten beide Truhen, während Edelfrau Elene weiterbetete, als wären sie gar nicht da. Schließlich ging Schwester Mara wieder. Als die Gebete zu Ende waren, fragte Berthold: »Was hatte das zu bedeuten?« »Ich bitte um Vergebung, Herrin. Herr.« Julia rieb sich mit einer Hand die Stirn. Gewöhnlich war sie voller unerschütterlicher Zuversicht, aber seit sie mit Schwester Mara gesprochen hatte, wirkte sie beunruhigt. »Ihr müsst heute hier drinbleiben. Den ganzen Tag. Kein Rundgang im Garten.« Elene wölbte eine Braue und sah Berthold an, der mit den Schultern zuckte.
Gnade tauchte aus ihren Laken auf; sie war sich ihrer Nacktheit nicht bewusst, besaß allerdings auch nicht das geringste Schamgefühl, obwohl die Zeichen ihrer erblühenden Weiblichkeit unübersehbar waren. »Ich will nicht hier drin-bleiben!« »Still, Gör«, sagte Berthold sanft. »Bedeckt Euch bitte.« »Ich will nicht -« »Ruhe!«, blaffte Elene. 5*5 »Ich hasse Euch!« »Ich hasse Euch, übles Geschöpf! Ich werde Euch in die Ohren zwicken, wenn Ihr nicht mit dem Gejammer aufhört!« Gnade legte die Hände über die Ohren und kroch zurück unter die Laken, bis Anna sie irgendwann später, nachdem die anderen sich zum Schachspielen und Lesen in das Stockwerk darunter begeben hatten, wieder herauslocken konnte. »Ich fühle mich nicht gut«, wimmerte das Mädchen. »Ich habe mich am Bein geschnitten.« »Wie könnt Ihr Euch -« Aber es war natürlich kein Schnitt. »Prinzessin Gnade. Eure Hoheit. Oje.« »Stimmt etwas nicht, Anna?«, fragte Julia von ihrem Platz beim Fenster, wo sie saß und nähte. »Setzt Euch«, sagte Anna ernst, und Gnade setzte sich mit gekreuzten Beinen hin. Ein paar Tropfen Blut befleckten das Laken, aber es war nicht allzu schlimm. »Bitte, Julia, Prinzessin Gnade fühlt sich nicht gut. Würdest du vielleicht nach unten gehen und den Feldwebel fragen, ob wir ein wenig Brot bekommen können, um ihren Magen zu beruhigen? Es muss an dem liegen, was sie gestern gegessen hat.« Julia sah sie scharf an. Vielleicht hatte sie einen Verdacht. Vielleicht hatte sie etwas mitbekommen, obwohl Gnade nur geflüstert hatte. Aber sie ging, ließ Anna und das Kind allein. »Also gut, Eure Hoheit, hört mir genau zu.« »Mein Bauch tut weh.« »Ich weiß. Und so wird es ab jetzt jeden Monat einmal sein, eine ganze Weile lang.« »Wieso?« »Ihr kennt den Lebensweg einer Frau.« »Dass man empfängt?« »Ja, wie Ihr wisst, begünstigt die Herrin Frauen, indem sie ihnen die Macht über das Leben gibt, während Männer nur die Macht über den Tod besitzen. Deshalb können wir jeden Monat bluten und es überleben. Und jetzt habt Ihr zu bluten begonnen.«
237 »Was heißt das?« Sie biss sich besorgt auf die Lippe, machte dann tapfer weiter. »Es bedeutet, dass Ihr es verbergen müsst, Gnade.« Wie schwer war es, dies einem Kind zu sagen, das den Verstand einer Fünf- oder Sechsjährigen besaß, aber den Körper einer Heranwachsenden! »Bei meinen Leuten wird ein Mädchen nicht verheiratet, solange es nicht älter ist und das Mädchen und ihr Verlobter nicht die Mittel haben, um einen Haushalt zu gründen. Aber die Mädchen edler Familien werden manchmal verheiratet, sobald sie zu bluten beginnen.« »Wieso?« »Wieso sie verheiratet werden? Um Bündnisse zu schließen. Um Verträge zu machen. Um ein Erbe zu sichern.« »Wieso tun sie es nicht, wenn sie so klein sind wie ich?« »Mädchen werden durchaus bereits verlobt, wenn sie noch Kinder sind. Aber kein Mann wird mit einer Verlobten schlafen, solange dieses Mädchen nicht eine Frau ist und ein Kind austragen kann.« »Ist Edelfrau Elene alt genug? Wieso kann sie nicht verheiratet werden und uns verlassen? Ich hasse sie!« »Wir sind alle Gefangene, Eure Hoheit. Unsere Häscher können mit uns tun, was sie wollen, uns sogar töten. Deshalb müsst Ihr still sein und es geheim halten.« Eine ganze Weile runzelte das Kind die Stirn und dachte nach - es dauerte länger, als Anna es jemals zuvor bei Gnade erlebt hatte. Sie war ein hübsches Kind mit einer Hautfarbe, die weder hell noch dunkel war, und glänzenden, dichten schwarzen Haaren, die ihr bis halb über den Rücken fielen und gekämmt und geflochten und aufgesteckt werden mussten. Ihre Augen wirkten manchmal grün und manchmal blau, manchmal auch haselnussbraun oder tiefbraun, eine Mi-
schung aus denen ihres Vaters und ihrer Mutter. Und genau wie ihr Vater und ihre Mutter zog sie die Blicke auf sich. Die Leute sahen sie an, sogar die Soldaten versuchten, einen Blick auf sie zu erhaschen, auch wenn sie so taten, als wäre das nicht
238 so. Schönheit war etwas Gefährliches bei den Unschuldigen, sie mochte verwüstet werden, wenn man es am wenigsten erwartete. »Wenn ich Königin Adelheid wäre«; sagte Anna schließlich, »würde ich Euch benutzen, Eure Hoheit, wie eine Figur beim Schachspiel.« »Ich bin die Urenkelin von Kaiser Taillefer! Sie kann ohne meine Einwilligung nichts tun!« »Sie kann alles tun, was sie will, Eure Hoheit! Wie wollt Ihr sie daran hindern? Wenn Königin Adelheid weiß, dass Ihr blutet, könnte sie es für sinnvoll halten, Euch zu verheiraten und auf diese Weise loszuwerden. Im Augenblick hält sie Euch noch für ein Kind.« Gnade starrte ihre Hände an, dann fuhr sie mit einem Finger an der Innenseite ihres Oberschenkels entlang und starrte auf das Blut an ihrem Nagel. »Denkt daran, was für eine Kostbarkeit Ihr seid, Eure Hoheit. Viele Männer könnten Euch wegen Eurer Eltern zur Frau haben wollen. Einige hoffen vielleicht, sich damit selbst zu belohnen. Andere hoffen möglicherweise, auf diese Weise Euren Vater oder Eure Mutter zu bestrafen.« Tränen liefen dem Mädchen übers Gesicht. »Wieso kommt mein Vater nie, Anna?« »Er weiß nicht, dass Ihr hier seid. Wir haben keine Möglichkeit, ihn zu benachrichtigen. Wenn irgendjemand von uns entkommt, wird die Heilige Mutter Antonia es erfahren und schreckliche Dämonen losschicken, die uns bei lebendigem Leib fressen. Das hat Edelfrau Elene gesagt.« »Ich glaube ihr nicht! Ich hasse sie!« »Aber Ihr solltet ihr glauben! Ihr müsst es tun! Und Ihr werdet es tun! Sie ist wie Eure Mutter als Zauberin ausgebildet. Sie weiß Bescheid. Wir sind gefangen, Eure Hoheit. Und Ihr seid jetzt verletzbarer als jemals zuvor! Versteht Ihr das? Edelfrau Elene ist ebenso wie Edelmann Berthold und Bruder Heribert unser Freund. Und Edelmann Jonas. Und unsere Be
238 diensteten Berda und Odei. Aber sonst niemand. Außer ihnen können wir niemandem vertrauen.« Schritte erklangen auf der Leiter. Gnade faltete die Hände über ihren Lenden, als Julias Kopf auftauchte. Sie setzte sich störrisch hin und rührte sich nicht von der Stelle, bis Anna dem Mädchen ein Hemd überzog. Kurz darauf tauchte die Heilerin auf. »Berda, komm her!«, sagte Anna. »Ist die kleine Königin krank im Bauch?« Die Heilerin kniete bei der Pritsche nieder. Anna drehte Julia den Rücken zu und legte zwei Finger an die Lippen. Die Heilerin nickte. Gnade, die immer noch mit gekreuzten Beinen dasaß, zog das Hemd hoch, um die blutigen Streifen am Oberschenkel zu zeigen. Berda nickte. »Ein Trank wird den Magen beruhigen«, sagte sie mit ihrer eigenartigen Stimme. Ihre breiten Hände strichen das Hemd wieder über die Beine des Mädchens. Sie berührte Gnades Stirn, den Hals und auch beide Schlüsselbeine. »Es muss das Essen gewesen sein«, sagte sie. »Habt Ihr heute Morgen schon gepinkelt?« Gnade schüttelte den Kopf. »Kommt, kleine Königin.« Sie gingen zu der Ecke, wo der Zimmertopf unter einer Bank stand, und Gnade erledigte ihr Geschäft. Julia kam, um nachzusehen, aber nachdem Gnade sich erhoben hatte, hockte Berda sich rasch mit ihrem schweren Filzkleid darüber, das das etwas komplizierte Unterfangen verbarg, denn wie Anna gesehen hatte, trugen die Steppenfrauen sowohl Kleider als auch Hosen. Sie pinkelte jetzt ebenfalls und erhob sich mit einer Grimasse. »Der Mond wechselt«, sagte sie. »Ich blute. Muss mein Bett nach oben bringen.« Die kerayitische Heilerin hatte die Angewohnheit, den größten Teil des Monats unten bei den Männern zu schlafen und während der Zeit der Blutung oben bei den Frauen, obwohl es
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Anna so vorkam, als wären kaum zwei Wochen vergangen seit ihrem letzten Aufenthalt bei ihnen. Egal. Sie würden diese Brücke verbrennen, wenn sie sie überquert hatten. Sie sah Ber-da an, und die Heilerin nickte, bedeckte den Topf und gab ihn Julia, damit sie ihn entsorgen konnte, wie es ihre Pflicht war. »Ich bringe einen Kräutertrank für die kleine Königin. Sie soll sich heute ausruhen.« Und sie ruhte sich tatsächlich aus. Berda besorgte ihr saubere Lappen, um das Blut aufzufangen, und tat so, als wären es ihre eigenen. Es war gar nicht so schwierig, seit sie mit der List einmal begonnen hatte; wie die meisten Aostaner empfand Julia die Heilerin als so eigenartig, dass sie ihr gar nicht nahe kommen wollte. Danach gingen sie zum gewöhnlichen Alltag über. Wasser musste zum Waschen hergeschafft werden, die Eimer mussten nach unten gebracht, geleert und ausgespült werden. Die morgendlichen Arbeiten unterbrachen die Gleichförmigkeit des Tages, und Anna übernahm jede noch so kleine Aufgabe, trödelte, wo sie nur konnte. Es störte sie nicht, dass sie nach dem Waschen und Säubern des oberen Stockwerks nach unten geschickt wurde, um den Eimer aus dem Verlies zu holen. Der alte Mann machte ihr keine Angst, obwohl der Gestank schlimm war. Nach den ersten Wochen waren die Soldaten einfach nicht mehr mit ihr hinuntergegangen, denn sie hassten das Loch. Immerhin hatte Anna so Gelegenheit, mit dem Adler zu sprechen, gab ihm meistens einen ausführlichen Bericht über die Vorgänge des Vortages, übermittelte ihm gelegentlich aber auch eine Botschaft von Edelfrau Elene. An diesem Morgen jedoch lungerten die Soldaten unruhig bei der Tür herum, die nach draußen führte, als würden sie nach jemandem Ausschau halten, von dem sie erwarteten, dass er jeden Augenblick vorbeikam. Anna - einen sauberen Eimer in einer Hand - setzte gerade den Fuß auf die oberste Stufe der Treppe, die in die Düsternis hinunterführte, als der wachhabende Feldwebel einen Blick zurück in den Raum warf und sie sah.
239 »Komm her«, sagte er und hob eine Hand, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Aber sie stieg bereits die Wendeltreppe hinunter, stieß sich immer wieder die Schulter an der kalten Steinmauer. Es war sehr dunkel, aber inzwischen kannte sie die Neigung jeder einzelnen Stufe. Sie hätte mit geschlossenen Augen hinuntergehen können, und tatsächlich blieb sie unterwegs im Schatten stehen und schloss die Augen, denn sie hörte Stimmen. Das unterste Stockwerk des Turmes war in die Erde gegraben worden, wodurch es deutlich kühler war als das Erdgeschoss und die anderen Räume darüber. Dieser untere Raum wurde genutzt, um Bohnen und Zwiebeln zu lagern, aber es gab auch drei kleine, gemauerte Zellen. Von oben drangen nur gedämpfte Geräusche an ihr Ohr - aber keinerlei Schritte -, so dass sie hören konnte, was die Stimmen sagten. Eine davon war ihr vertraut; die andere hatte einen seltsamen, bezaubernden Klang, der ihre Füße an Ort und Stelle bannte, so dass sie sich weder traute noch den Wunsch verspürte, sich zu bewegen. »Ihr könnt nicht entkommen, denn Antonia hat Macht über die Galla.« »Ich fürchte die Galla nicht.« »Das solltet Ihr aber.« »Vielleicht.« »Warum flieht Ihr dann nicht?« »Ist das nicht offensichtlich? Es gibt welche, für die ich verantwortlich bin. Wenn sie nicht weglaufen können, kann ich es auch nicht.« »Was bedeutet, dass Ihr sie nicht vor den Galla beschützen könnt. Welche von den beiden hält Euch hier fest: Prinzessin Gnade oder Conrads Tochter?« »Wieso können es nicht beide sein?« »Ich habe gehört, dass Ihr versucht habt, Prinz Sanglant zu ertränken, als er ein Säugling war.« »Diese Geschichte ist schon oft erzählt worden, gelegentlich sogar in meiner Hörweite.«
239 »Eine interessante Geschichte, und es ist ein Jammer - sofern sie stimmt -, dass Ihr nicht erfolgreich wart. Obwohl sie andererseits die Frage aufwerfen könnte, welches Band Euch mit Prinzessin
Gnade verbindet. Ist es ihr Vater, dem Ihr zu dienen versucht? Ihre Mutter? Annes verworrenes Weben, dem noch immer gehorcht werden muss? Oder habt Ihr einfach nur eine Schwäche für gefangene Vögel?« »Ich sehe es tatsächlich nicht gern, dass so strahlende Geschöpfe von grausamen Herren eingesperrt werden.« Wulfhere klang überaus gelangweilt, des Spiels überdrüssig. »Was wollt Ihr, Edelmann Hugh?« »Woher kommt Ihr? Wie seid Ihr hergekommen?« Wulfhere seufzte. »Ihr seid zuletzt in Gesellschaft von Bruder Marcus und Schwester Meriam gesehen worden. Dann seid Ihr weggelaufen. Und doch taucht Ihr jetzt hier auf, mit Meriams Enkelin in Eurer Obhut. Wo wart Ihr? Wie seid Ihr der Umwälzung entkommen?« »Das Glück war uns hold«, sagte der alte Mann trocken. »Ihr wart der Geringste der Sieben Schläfer. Cauda Draconis, der Schwanz des Drachen. Sie haben mir gesagt, dass Ihr zu unwissend wärt, um die Kronen zu weben. Ist das wahr?« »Ja, das ist wahr. Man hat mich nie in den Künsten der Mathematiki unterrichtet. Ich verfüge über die Adlersicht - und über jene Fähigkeiten, die ein Bote besitzen muss, der sein Leben auf der Straße verbringt. Daher bin ich besonders geeignet, lange Reisen durch feindselige Gebiete zu überleben.« »Wieso sollte ich Euch glauben?« »Es spielt für mich keine große Rolle, ob Ihr mir glaubt oder nicht, Edelmann Hugh. Wieso auch? Die Schlacht ist verloren, Anne ist tot.« »Und daher auch der Zweck Eures Daseins.« »Und daher auch der Zweck meines Daseins«, sagte Wulfhere tonlos. »Was wollt Ihr? Oder seid Ihr nur gekommen, um Eure Schadenfreude auszuleben?«
240 »Es ist wahr, dass ich Euch nicht mag, Adler. Ihr habt mir etwas genommen, das rechtmäßig mir gehört. Ich will es zurückhaben.« »Wie wollt Ihr das machen ? Liath ist tot, oder nicht? Wie die anderen.« Anna hörte den anderen Mann abrupt Luft holen, scharf und lieblich. »Sie ist nicht tot. Nein, sie ist nicht tot.« Plötzlich wurde die Stimme des alten Mannes härter. »Wo habt Ihr sie gesehen? Woher wisst Ihr das?« »Wo ich sie gesehen habe? In Wendar, mein Freund. Neben dem Bastard, der sich König nennt.« »Ich habe von Henrys Tod gehört. Aber ich war mir nicht sicher, ob es stimmt.« »Oh, es stimmt, und der Prinz der Hunde ist von Mutter Scholastika persönlich gekrönt und gesalbt worden, obwohl ich den Eindruck hatte, dass sie nicht sehr glücklich darüber war, es zu tun.« »Dann stimmt es also wirklich. Und Liath hat überlebt, wie Ihr sagt.« Zweifellos war er begierig, diese Neuigkeiten zu erfahren, aber seine Stimme klang immer noch leise und ruhig. »Könnt Ihr sie denn nicht sehen, mit Eurer wunderbaren Adlersicht? Habt Ihr nicht mit Eurer Schülerin Hathui gesprochen, die den Schutz des neuen Königs genießt und in seinem Schatten steht?« Es trat eine lange Pause ein, und in der Stille hörte Anna über sich Füße scharren. Sie warf einen Blick nach oben, sah, wie jemand sich über die Falltür beugte und zu ihr heruntersah, aber es war offensichtlich, dass seine Augen sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten. »Ihr könnt ruhig erfahren, dass ich blind bin«, sagte Wulfhere. »Seit der Umwälzung.« »Blind? Also nutzlos und hilflos. Ein Meister von gar nichts, Diener von niemandem. Aber warum erzählt Ihr mir das? Wieso gesteht Ihr mir so viel, Adler?« »Weil ich Schmerzen habe, Edelmann Hugh. Wenn ich Euch
240 sage, dass Ihr durch Folter nichts von mir erfahren werdet, seht Ihr vielleicht davon ab.«
»Ah. Ich vermute, es war die Heilige Mutter - oder die Königin -, die Euch das zugefügt hat. Was wollen sie wissen?« »Nichts, was ich Euch sagen würde, wenn ich es nicht auch ihnen sagen würde. Lasst uns in Ruhe, Edelmann Hugh. Ich weiß nicht, wieso Ihr hier seid. Ich bitte Euch nur um diesen einen Gefallen: lasst uns in Ruhe.« »Was bietet Ihr mir als Gegenleistung?« »Als Gegenleistung wofür?« »Dass ich Euch in Ruhe lasse.« »So kehren wir also zu meiner ersten Frage zurück: Was wollt Ihr?« »Wer ist Liaths Vater?« »Bernard.« »Und ihre Mutter?« »Eine Daemonin der oberen Sphären. Ich bin überrascht, Euch das fragen zu hören.« »Es war einmal ein gut gehütetes Geheimnis.« »Ja, das war es einmal. Als wir noch ein gewisses Maß an Kontrolle über sie hatten. Anne hat Euch zu den Sieben Schläfern geholt. Ich bin nicht überrascht, dass Ihr noch lebt, während andere gestorben sind, aber es überrascht mich, dass Ihr Fragen stellt, deren Antworten Ihr bereits gehört haben müsst.« »Die Leute könnten lügen.« »Ich bin entsetzt, das zu hören.« Edelmann Hugh kicherte. »Ist es sicher, Euch leben zu lassen, Adler?« »Oh, allerdings. Ich würde es sogar als Notwendigkeit betrachten.« »Glaubt Ihr das?« »Natürlich. Lasst uns in Ruhe, Edelmann Hugh. Wir haben nichts, was Ihr brauchen könntet.« »Nein, nein«, sagte der andere Mann nachdenklich. »Ich bin nicht sicher, ob Ihr irgendetwas habt, das ich brauchen könnte.«
241 Anna spürte warmen Atem in ihrem Nacken und hörte das schwache Quietschen der Stufe über der, auf der sie stand. »Schscht!«, flüsterte der Feldwebel ihr ins Ohr. »Hoch und raus hier, Mädchen, sonst sind wir gleich alle in ernsten Schwierigkeiten.« Sie flohen nach oben - gerade noch rechtzeitig, denn kaum hatte der Feldwebel Anna durch die Tür geschoben und hinüber zu den Gruben geschickt, wo sie mit gesenktem Kopf so tat, als wäre sie mit irgendeiner schmutzigen Arbeit beschäftigt, hörte sie die Soldaten tuscheln, während irgendeine erhabene Gestalt den Turm verließ und wegging. »Närrin!«, sagte der Feldwebel, der zu ihr gekommen war, und riss ihr den Eimer aus der Hand. »Niemand sollte sie stören! Heute werde ich mich um den Gefangenen kümmern. Du gehst nach oben und hältst den Mund. Und lass deine Füße da, wo sie hingehören.« »Wie hätte ich das wissen sollen?«, fragte sie, und er gab ihr eine Ohrfeige. Die Stunden, in denen sie eingesperrt waren, vergingen ohne Zwischenfall, und irgendwann wurde der Feldwebel weich und kam herauf, um mit Edelmann Berthold, seinem bevorzugten Gefangenen, zu plaudern. Die jüngere Tochter der Königin war am Tag zuvor gestorben, was das Läuten der Glocke erklärte. Es gab dennoch ein Festmahl in dieser Nacht, wenn auch ein eher ernstes, denn eine Gesandtschaft war aus einem fernen Land gekommen - Arethusa vielleicht, er wusste es nicht genau -, um mit der trauernden Königin zu verhandeln. Dies war der Grund, warum Berthold und seine Begleiter die oberen Räume nicht verlassen durften. So rechneten sie auch später am Nachmittag nicht mit Besuchern, als es im Hof ruhig geworden war und Gemurmel aus der großen Halle drang, deren Dach vom Ostfenster aus zu sehen war. Dort hatten sich die meisten Bewohner des Palastes zum Essen eingefunden - oder um zu bedienen. Die Gerüche
241 aus den Küchen sorgten dafür, dass Annas Bauch wehtat, und machten ihren Mund wässrig.
Berthold und Elene spielten beim Fenster eine neue Partie Schach. Sie sahen sich auf eine Weise an, die - wie Anna wusste - gefährlich war, was Gnade glücklicherweise nicht erkannte. Zwei hübsche junge Leute, die endlose Stunden, Tage und Wochen zusammen verbringen mussten. Wie gut wusste Anna, wohin solche Vertrautheiten führten! Sie wischte sich über die Augen, aber es waren keine Tränen mehr übrig für Thiemo und Matto. Sie waren unter dem Berg verschwunden -zusammen mit Bertholds Kameraden, mit ihrem alten Leben, mit allem, was vor dem Sturm gewesen war. Heribert saß bei Gnade, die ausnahmsweise mit einem Stift in der Hand über einer Tafel grübelte und mit unbeholfenen Strichen versuchte, einige Buchstaben richtig zu schreiben. Anna setzte sich auf den Teppich zu Gnades Füßen und machte sich daran, einen Riss in ihrem anderen Hemd zu flicken. Julia saß auf der Bank und stickte. Edelmann Jonas war unten und würfelte mit Odei; die beiden konnten das stundenlang tun, und das Kullern der Würfel auf dem Boden war, wie die Dichter beim Festmahl singen würden, eine stetige Begleitmusik zu anderer Leute Arbeit. Berda saß in einer dunklen Ecke und mahlte eine Wurzel zu Pulver. Das Licht fiel dämmrig durch das offene Fenster, und es war kühl, aber niemand wollte die Läden schließen. Elene schnüffelte, wischte sich die Nase und sah auf. Sie hielt einen Löwen in der Hand. »Riecht Ihr das?« Berthold unterdrückte ein Gähnen. »Was? Ich hasse es, den ganzen Tag im Haus zu sein.« Berda blickte ebenfalls auf. »Es ist scharf«, sagte sie, berührte ihre Nase. Die Edelfrau runzelte die Stirn. Sie stellte den Löwen nicht ab. »Jetzt ist es weg. Ich dachte ...« Sie gähnte ebenfalls, riss sich aber zusammen. Sogar Anna gähnte und stach sich fast mit der Nadel. Ihr
242 entrüstetes Schnauben setzte eine wahre Gähn-Lawine bei allen in Gang, abgesehen von Heribert. »Dieser Bogen hier, Eure Hoheit. Er ist ungleichmäßig.« »Ich bin einfach nur müde! Ich kann das besser!« »Ja«, pflichtete er ihr bei. »Das scheint so zu sein, wenn man Euch gähnen sieht. Es liegt etwas in der Luft. Es kitzelt in den Knochen.« Berthold schob die Schachfiguren beiseite und bettete den Kopf auf die Arme. »Nur ein Nickerchen, dann können wir von vorn anfangen.« Elenes Kopf sackte nach hinten. Der Löwe fiel ihr aus der Hand, und als er auf den Boden prallte, schreckte sie auf. »Was ist das?«, fragte sie. »Ein Glanz ... ein Bann ...« Anna war so müde. Die Wände flüsterten, erinnerten sie an den friedlichen Schlaf, den jede Seele erwartete, die in den Tod überging ... Leise Schritte kamen die Leiter hoch. Ein Mann mittleren Alters tauchte in der offenen Falltür auf. Er hieß Bruder Petrus und war einer der Geistlichen, die der Heiligen Mutter dienten. »Hier oben, Herr«, sagte er, während er von der Leiter auf den Fußboden trat. Sie stach sich mit der Nadel, und der Schmerz weckte sie auf. Ein Tropfen Blut quoll aus ihrem Finger. Gnade war eingeschlafen, ihr Kopf gegen Heriberts Schulter gesunken. Berthold rührte sich benommen, hob seinen Kopf. Elene kämpfte, griff nach dem Löwen, den sie auf den Boden hatte fallen lassen. Berda schnarchte leise, ihr Kopf war gegen die Wand gesackt, ihre Kehle entblößt. Ein Engel kletterte aus der Falltür und blieb stehen. Er betrachtete den Tisch mit dem Schachspiel und die zwei jungen Edelleute, die dort gegen den Schlaf ankämpften. »Nun«, sagte er mit einer melodiösen Stimme, die so beruhigend war, dass Anna sicher war, er zähme wilde Tiere mit ihr. Sie erkannte sofort, dass es die Stimme des Mannes war, der
242 mit Wulfhere gesprochen hatte. »Conrads dem Untergang geweihte Tochter und Villams verlorener Sohn. Wie unerwartet! Wie hübsch beide zusammen aussehen, dunkel und hell!« Elene ächzte, bekam den Löwen zu packen und vergrub ihn in ihrer Hand. Ihre Augen blitzten. »Wer seid Ihr? Welche Zauberei ...?«
Die Schachfigur entglitt ihr wieder, landete auf dem Rand des Teppichs und fiel auf den Holzboden. Ihre Lider flatterten, während sie sich bemühte, wach zu bleiben. »Ihr kennt Tricks, Edelfrau Elene, aber Ihr seid unerfahren.« Anna stach sich erneut in die Hand, und der Schmerz brannte wie Feuer und weckte ihren Verstand, aber es war so schwer. Es war so viel leichter zu schlafen. Er drehte sich um und sah Gnade. »Ah«, sagte er mit fesselnder Stimme. »Schon so alt. Wie ich gehofft hatte ...« Von ihrem Platz aus - etwas schräg hinter Gnade - konnte Anna sehen, wie seine Miene sich verdüsterte. »Wie ist es möglich, dass du noch wach bist?«, fragte er. Bevor sie antworten konnte, fragte Bruder Heribert ganz deutlich: »Wer seid Ihr?« »Das sollte ich besser Euch fragen: Wer seid Ihr? Ihr seid Bruder Heribert, ein enger Vertrauter des Prinzen, Beschützer seiner Tochter. Vorher wart Ihr ein Geistlicher in der Gelehrtenschule der Bischöfin von Mainni und den Gerüchten zufolge ihr -« Er lachte. Anna zog den Kopf ein, und als sie spürte, wie die Erschöpfung sie wieder benommen machte, stach sie sich erneut. »Gott im Himmel! Seht nur Eure Augen an! Wie ist das möglich ? Ich dachte, ich wäre der Einzige, der dieses Geheimnis kennt. Wieso seid Ihr hier?« »Ich suche nach demjenigen, den ich liebe. Sie sagen, der andere hat ihn gestohlen. Der mit Namen Sanglant.« »Hat ihn gestohlen?« Der Engel verlagerte das Gewicht auf die Fersen, wie es jemand tun mochte, der geschlagen worden war, rollte dann wieder nach vorn auf die Zehenspitzen und gewann das Gleichgewicht zurück. »Wer hat wen gestohlen?«
243 »Edelmann Hugh?«, fragte Bruder Petrus, der an einem Amulett um seinen Hals herumfingerte. »Sollten wir uns nicht beeilen? Es wird bald dunkel.« »Ja.« Der Engel nickte, aber er sah nur Heribert an. »Wer ist verloren, und wer ist blind?«, sagte er zu sich selbst. »Ist es möglich ? Sagt mir, Freund, wenn der andere ihn gestohlen hat, wollt Ihr dann den zurückbekommen, den Ihr sucht?« »Ich weiß nicht, wer er ist.« »Ganz und gar weg, fürchte ich, wenn das wahr ist, was meine Augen mir sagen, und ich glaube, dass es so ist. Aber ich kenne den, der ihn getötet hat.« »Was bedeutet das?« »Das bedeutet, dass seine Seele von der Erde geflohen ist.« »Wie finde ich ihn?« »Sucht seinen Mörder und rächt Euch. Tötet denjenigen, der ihn getötet hat.« »Wird es ihn zurückbringen, wenn ich den töte, der ihn getötet hat?« Das Lächeln des Engels hätte eine dunkle Halle in strahlende Helligkeit tauchen können. »Oh ja. Sicherlich. Taucht tief und sucht sein Herz. Vertreibt die Seele, die Ihr dort findet. Das wird denjenigen töten, der ihn getötet hat. Denjenigen mit Namen Sanglant.« »Aber er hat ihn geliebt! Er hat ihm vertraut!« »Leider«, sagte der Engel mit so sanfter Stimme, als würde eine Mutter ein weinendes Kind trösten. »So ist es bei den Menschen, dass diejenigen, die wir lieben, die sind, die uns am schnellsten verraten.« »Wo muss ich hingehen?« »Kommt mit mir. Ich werde Euch auf den Weg bringen. Bruder Petrus, da ist eine Dienerin der Prinzessin. Findet sie und legt ihr ein Amulett um ... Oh!« Elene ächzte, kämpfte gegen den Bann an, bewegte die Lippen, als sie eine Beschwörung sprach. »Petrus, das Messer.«
243 »Eure Hände, Herr. Lasst mich es tun, wenn es getan werden muss.« »Ich werde nicht zulassen, dass andere ihre Hände beflecken, damit meine sauber bleiben. Dies ist meine Entscheidung, nicht Eure.« Er nahm das gewöhnliche Küchenmesser -gutes, scharfes Eisen -
aus Petrus' zitternden Händen und ging zum Tisch. Dann packte er Elene bei den Haaren, legte das Messer an ihre pulsierende Kehle. Elene versuchte sich zu wehren, aber sie schaffte es nicht. Anna schrie, aber der einzige Laut, der sich ihr entrang, war ein Stöhnen. Sie kam taumelnd auf die Beine, aber sie war zu langsam, da die Schlafsucht sie niederdrückte. Sie war zu langsam, und es war bereits zu spät. Er führte den Schnitt aus. Elenes Blut spritzte über das Schachbrett und auf Bertholds Ärmel und Haare, aber er schlief zu tief, um sich zu rühren. Blut strömte aus ihrem Hals. Ein Drache und eine Königin fielen im ersten Schwall. Die Übrigen waren schon bald nass, Inseln in einem roten Meer. Hugh drückte ihren Körper auf den Stuhl und ließ das blutverschmierte Messer auf den Teppich fallen. Dann ging er zu Anna und packte sie. Sie sackte gegen ihn, ohne dass sie es verhindern konnte. »Ist die hier ebenfalls heimgesucht?« Er hob ihre Hand, fuhr mit einem Finger über die drei Blutstropfen und nahm ihr die Nadel weg. Sie konnte nichts dagegen tun. Nur sein starker Arm hielt sie aufrecht. »Rasch, Bruder Petrus!« Eine Bewegung, ein Arm, der über ihr Gesicht strich, und dann drang ihr ein süßer Geruch in die Nase. Sie wurde wach, sah durch einen rauchigen Nebel die anderen schlafen und hörte, wie sich eine unheimliche Stille über dem Palastgelände ausbreitete, als wären sämtliche Lebewesen geknebelt und in Wolle gepackt worden. Seine Augen waren so blau, dass sie glaubte, sie würde in ih 53° nen ertrinken. »Ich nehme Prinzessin Gnade mit. Du hast die Wahl. Entweder du kommst mit und kümmerst dich um sie, oder du bleibst hier.« Ihr Mund zuckte, aber sie bekam die Worte nicht heraus. Er lächelte traurig. Oh, dieses Lächeln. Sie hätte sterben können in der Hoffnung auf ein weiteres solches Lächeln. Sie hatte noch nie einen so schönen Mann gesehen wie ihn. »Wie ist dein Name?« »Anna, Euer Gnaden«, flüsterte sie. »Anna«, sagte er, machte Musik aus ihrem Namen. »Trag die Prinzessin. Wir müssen uns beeilen.« »Und wenn nicht, Euer Gnaden? Wenn ich mich weigere mitzugehen?« »Dann wird ein treuerer Diener sie tragen«, sagte er mit einer Stimme, die über alle Maßen freundlich klang; es fröstelte sie, als sie das hörte, denn er hob seine Stimme nicht und sah auch nicht verärgert aus. Er war kein Bulkezu, der heulte und wütete. Er wirkte nicht wie ein Mann, der gerade einer wehrlosen jungen Frau die Kehle durchtrennt hatte. »Und du wirst später aufwachen und hoffen, dass gut für sie gesorgt wird, aber du wirst es niemals wissen.« Weinend nahm sie Gnade auf, obwohl das Mädchen so groß geworden war, dass es schwer in ihren Armen hing. Anna musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um ihn wieder anzusehen und um Worte zu sprechen, die er möglicherweise nicht hören wollte. »Es gibt ein paar Dinge, die wir brauchen werden, Euer Gnaden -« »Alles, was gebraucht werden könnte, ist bereits vorbereitet. Wir haben in der Stadt besorgt, was wir benötigen. Bruder Petrus, gehen wir rasch, wie Ihr geraten habt.« »Ja, Edelmann Hugh.« Und so gingen sie, ließen die Kammer und das tote Mädchen und ihre schlafenden Kameraden zurück. Unten warteten vier Soldaten; sie trugen ebenfalls Amulette. Edelmann Jonas und 244 Odei lagen ausgestreckt auf dem Boden, zwischen ihnen die Würfel. Bruder Heribert folgte ihnen wie ein Hund, stockend, zuckend, aber entschlossen. »Bindet den Adler los«, sagte Edelmann Hugh zu zwei von den Soldaten. »Sorgt dafür, dass Blut an seinen Händen ist und er das Messer hat. Dann stoßt am verabredeten Ort zu uns.«
Die Soldaten in den Unterkünften im Erdgeschoss schliefen, lagen auf den Bänken oder schnarchten auf den Pritschen. Zwei saßen beiderseits der Tür, lehnten an der steinernen Mauer. Einer hatte den Mund offen, und es jagte Anna Angst ein, wie der Speichel herauslief. Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie rasch einen Flügel des Palastes durchquerten. Wachen schliefen auf Bänken und Pflastersteinen. Ein Soldat hatte einen Arm um eine Säule geschlungen, als wollte er sie umarmen. Im Hof vor der großen Halle hatten mehrere Bedienstete die Platten mit Speisen und Flaschen fallen gelassen. Zwei Hunde waren eingeschlafen, während sie versucht hatten, ein Fleischstück zu zerreißen, das für den Tisch der Königin gedacht gewesen war. Aus der Halle selbst drang auch durch die offenen Türen nichts als Stille. Einer der Soldaten grapschte sich zwei gebratene Hühner und band sie in ein Tuch, das er an seinem Gürtel befestigte. Der Geruch des guten, warmen Essens brachte Annas Magen zum Knurren. Sie hasste sich dafür, dass sie einen Hunger verspürte, den Edelfrau Elene nie wieder kennen lernen würde. Gnade rührte sich und wimmerte, aber sie wachte nicht auf. Fünf weitere Soldaten warteten bei den Unterkünften, hielten die Zügel von vierzehn Pferden fest, von denen vier mit Gepäck beladen waren. Wer immer wach war, trug ein Amulett um den Nacken wie das, was Anna um den Hals hatte. Edelmann Hugh trat zu den Pferden und nickte Bruder Petrus zu. »Alles Übrige ist so geschehen, wie ich befohlen hatte?« »Alles ist vorbereitet, Edelmann Hugh. Alles wird geschehen, wie Ihr es befohlen habt. Aber ich bin mir nicht sicher, Herr - habt Ihr Edelmann Berthold ein anderes Schicksal zu 245 gedacht? Villams Sohn ist mit Villams Verrat an Kaiser Henry befleckt, möge er in Frieden in der Kammer des Lichts ruhen.« »Villams Sohn spielt keine Rolle, obwohl es da ein Geheimnis gibt, was sein Verschwinden und Wiederauftauchen betrifft. Lasst es, wie es ist. Findet sein Geheimnis heraus, wenn Ihr könnt. Vielleicht vertraut er Euch, wenn Ihr versucht, Euch mit ihm zu befreunden, nachdem wir weg sind.« Petrus zögerte. »Sprecht, Bruder. Ihr braucht keine Angst zu haben, frei mit mir zu reden.« »Wieso die junge Edelfrau, Euer Gnaden? Sie war wunderschön. Stolz, das ist wahr, aber lieblich. Es ist, als würde man eine blühende Blume zertreten.« »Manche Blumen werden zertreten, wenn ein Heer marschiert, um eine Belagerung aufzuheben, Bruder. Niemand erfreut sich an der Zerstörung, aber manchmal gibt es keine andere Möglichkeit. Ihre Großmutter hat ihr Dinge beigebracht, die sie nicht anwenden darf. Wir können ein solches Risiko nicht eingehen. Ich werde die Buße für die Tat übernehmen.« »Ja, Euer Gnaden. Dennoch ... wenn Ihr sie als Risiko empfindet, wieso wollt Ihr dann den alten Mann am Leben lassen?« »Er ist zu schwach und weiß zu wenig, um eine Bedrohung für uns zu sein. Er dient uns besser, indem er den Verdacht von uns ablenkt. Zweifellos war ihr Tod barmherziger, als seiner es sein wird.« »Ja, Euer Gnaden.« »Löscht das Schlaffeuer erst, wenn die Lichter auf dem Berg verschwunden sind. Tut alles so, wie ich es gesagt habe. Achtet darauf, dass niemand Euch in der Gruft beobachtet. Alles hängt vom richtigen Zeitpunkt ab und davon, wo Ihr den Köder platziert.« »Ich werde Euch nicht enttäuschen, Edelmann Hugh.« »Ich vertraue Euch. Und dann wartet auf meine Rückkehr.« »Ja, Edelmann Hugh. Mögen Gott mit Euch gehen, Edelmann Hugh.« 245 Es lag Ironie im Lächeln des Engels. »Das hoffen wir.« Er winkte. Ein Soldat nahm Anna Gnade ab und reichte sie einem seiner Kameraden, der bereits auf einem Pferd saß. Ein anderer hob Anna hinter sich auf sein Reittier. Die Übrigen machten sich bereit, und gemeinsam verließen sie den Palast durch das Spähertor, ein dreifach bewachtes Tor,
das sich in der äußeren Wand des Palastes befand und zu einem Steilabbruch und einem Pfad führte, der die nordöstliche Flanke des Hügels entlang verlief, auf dem die Stadt Novomo erbaut worden war. Schiefer bedeckte den Berghang. Sie arbeiteten sich bergab. Niemand sprach; nur das Klappern von Steinen störte die Stille. Wie weit reichte der Bann? Hatte er sein Netz der Zauberei über die ganze Stadt ausgeworfen? Wie konnte irgendjemand so schön und so bösartig sein? Am Fuß des Hügels machten sie bei einem Weinberg halt, der still unter dem späten Nachmittagshimmel lag. Nichts rührte sich, abgesehen von einer einzelnen Honigbiene, die auf der Suche nach Nektar war. »Bruder Heribert«, sagte Edelmann Hugh. »Nehmt so viele Vorräte, wie Ihr tragen könnt. Geht nach Norden, über den St-Barnaria-Pass. Kennt Ihr den Weg?« »Den wir genommen haben, als wir nach Süden gekommen sind?« »Es geht das Gerücht, Ihr wärt von den Bergen gekommen. Kehrt dorthin zurück und folgt dem Pfad nördlich nach Wendar.« »Wer wird mich führen?« »Ihr müsst Euch selbst führen. Ihr sucht Sanglant, der sich als König bezeichnet. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er in Quedlingham. Sucht ihn und tut, was Ihr tun müsst.« Ohne zu antworten, nahm der Geistliche einen Sack Nahrungsvorräte, den ihm einer der Soldaten reichte. Er blieb kurz bei Gnades erschlafftem Körper stehen und berührte ihr Knie, dann ging er durch die Reben davon und geriet rasch außer Sicht. Die Übrigen wandten sich nach Süden zur Hauptstraße, 246 die aus der Stadt herausführte. Zweimal sah Anna Leute in der Ferne, Arbeiter oder Bauern. Einmal sah sie einen Wagen hinter einem Baum stehen, aber sie erhaschte keinen Hinweis darauf, wer in ihm war; nur ein Maultier graste mit gesenktem Kopf. Zweimal hörte sie einen Hund bellen. Eine große Gruppe war vor ihnen diesen Weg entlang gezogen; sie sah ihre Staubwolke weiter vorn auf der Straße Richtung Süden. Als die Dämmerung sich senkte, hielten sie bei einem kalkigen Pfad an, der von der Hauptstraße abbog und einen nahen Berg hochführte. »Zwei Leute kommen hinter uns her«, sagte der Soldat, der die Nachhut bildete. »Es werden Liutbold und Theodore sein. Sie kommen spät.« »Wir warten hier«, sagte Hugh, und schon bald trafen die zwei Soldaten ein, die beim Turm zurückgeblieben waren. , »Theodore. Liutbold.« Hugh musterte sie. »Wie lautet Euer Bericht? Ich habe früher mit Euch gerechnet.« »Ich bitte um Vergebung, mein Herr«, sagte der Soldat namens Theodore. »Es war schwieriger, als wir gedacht hatten. Der alte Mann war wachsam und hat sich gewehrt, er hat Liudbold einen Kinnhaken versetzt.« Einige der anderen Soldaten husteten und kicherten, als Liudbold mit der Hand den blauen Fleck berührte, der sich in seinem Gesicht abzuzeichnen begann. Als Hugh die Hand hob, schwiegen sie. »Ja, er hat gegen den Bann gekämpft, und wohl mit einigem Erfolg. Das sollte mich nicht überraschen. Was habt Ihr getan?« »Nun, zuerst dachten wir daran, ihn festzubinden, aber dann erinnerten wir uns, dass es so aussehen sollte, als hätte er sich befreit. Also haben wir ihn bewusstlos geschlagen, die Treppe hochgeschafft, ihn in dem Blut gewälzt und mit dem Messer in der Hand liegen lassen.« »Das wird genügen«, sagte Edelmann Hugh freundlich. »Ihr habt einen kühlen Kopf bewahrt. Gut gemacht.« Solch ein Lob konnte Steine erweichen! Die Soldaten mur 246 melten, aber Edelmann Hugh lenkte sein Pferd auf den Pfad und führte die anderen von der Straße herunter. Hinter ihnen verwischten die beiden Männer der Nachhut ihre Spuren. Weiter vorn warteten andere Gestalten: stehende Steine, die einen Kreis bildeten.
Sie sagte nichts, aber gerade das machte Edelmann Hugh auf sie aufmerksam. »Wie seid ihr nach Novomo gekommen, Anna? Wie hat Prinzessin Gnade mh> ihrer Gruppe Aosta erreicht, und warum? Woher kommt ihr? Wieso habt ihr ihren Vater und ihre Mutter verloren?« Sie zuckte mit den Schultern, tat so, als hätte sie nicht die geringste Ahnung, während er sie musterte. Sie hatte Angst. Es schien, als würde er trotz seines sanften Blickes alles sehen und alles wissen. »Presbyter«, sagte einer der Soldaten, ein Mann mit einer Narbe am Kinn. »Ich kann sie zum Reden bringen, wenn Ihr wollt.« Er wandte sich ab. »Kommt nicht in Frage, John. Ich weiß bereits genug von der Geschichte. Wenn ich mehr wissen will, werde ich es herausbekommen.« »Es gefällt mir nur nicht zu sehen, wie Ihr so respektlos behandelt werdet, Presbyter. Es bedrückt mich, dass die Königin sich geweigert hat, Euch zu sehen, nach allem, was Ihr für sie und die Menschen in Darre getan habt.« »Die Königin ist wegen des Verlustes ihrer Tochter bekümmert. Es stand zu erwarten.« »Wenn Ihr nur nicht so leicht vergeben würdet, Herr.« Die anderen Soldaten murmelten zustimmend. »Wie dem Geistlichen, den Ihr nach Norden geschickt habt. Ich glaube, dass er den Verstand verloren hat!« Hugh nickte, ohne zu lächeln. »Das hat er auch, die arme Seele.« Sie erreichten eine ebene Fläche, die sich gleich vor den Menhiren befand und auf der keinerlei Pflanzen wuchsen.
247 »Steigt rasch ab, alle - bis auf den mit der Dienerin und Euch, Frigo«, sagte Hugh und deutete dabei auf den Mann, der Gnade trug. »Bewegt Euch, wenn ich den Befehl gebe. Zögert nicht.« Gnade schlief. Anna konnte nicht zu ihr gelangen, denn sie befand sich im Griff eines Mannes, der sehr viel größer und stärker war als sie, aber sie sah, dass Gnade ebenfalls ein Amulett trug, nur dass ihres mit Lavendelzweigen und einem verdrehten Knoten versehen war, der aussah, als würde er jeden ahnungslosen Nacken würgen, der sich in seinem Griff befand. Hugh reichte einem der Männer seine Zügel. Er stellte sich auf einen Kreis aus hellem Boden - er war weiß vom Staub -und zog ein seltsames goldenes Gerät aus dem Ärmel, das wie ein Rad in einem Rad aussah. Er richtete es auf den Horizont. Dann wandte er seinen Blick nach Novomo, das im schwächer werdenden Licht dunstig wirkte. »Wir müssen bereit sein«, sagte er zu seinen Soldaten. »Sorgt dafür, dass die erwähnten Dinge griffbereit sind. Ihre Teufel können uns folgen, wie weit wir auch reisen. Wenn ich spreche, müsst ihr also genau tun, was ich sage.« Sie murmelten ihre Zustimmung. Anna lachte. »Wir können nicht gehen!«, frohlockte sie. »Ihr könnt keine Beschwörung vom Himmel weben, wenn es bewölkt ist! Ihr seid hier gefangen!« Er sah sie an. Sie schlug die Hand vor den Mund. War das ein Messer, das da in der Hand eines Soldaten blinkte? »Und noch dazu klug«, sagte Edelmann Hugh. »Aber ich besitze ein Instrument, das mir sagt, wo jeder Stern aufgehen und untergehen wird. Die Musik der Sphären gelangt durch die Wolken. Es ist nur unser schwaches Augenlicht, das uns behindert, denn im Gegensatz zu den Engeln und Daemonen können wir nicht hinter das sehen, was blendet. Mit diesem Instrument muss ich nicht sehen, was ich bereits berechnet habe, um zu wissen, dass es da ist. Ich kann weben, auch wenn die Wolken den Himmel verbergen. Ich kann sogar bei Tageslicht 247 weben, obwohl meine Feinde nicht erfahren dürfen, dass ich das kann.« Während die Nacht hereinbrach, wob er, zog Licht vom Himmel, obwohl kein einziger Stern zu sehen war, so weit das menschliche Auge reichte. Er wob einen Bogen aus Licht, und auf seinen Befehl - denn wer wollte sich ihm widersetzen? -traten sie hindurch zu einem anderen Ort.
XIV
Der Blick des Guivre
1 Normalerweise dauerte die Reise von Osna nach Lavas fünf bis sechs Tage. Als Alain vor vielen Jahren mit Kastellanin Dhuoda dorthin gereist war, hatten sie fünfzehn Tage benötigt, weil sie in jedem Dorf und bei jedem Gehöft angehalten hatten, um Steuern und Pacht einzutreiben oder junge Leute in Dienst zu nehmen. Obwohl sie jetzt nur nachts anhielten, um zu schlafen, reisten sie zehn Tage, weil die Straßen im vergangenen Herbst vom Sturm ziemlich stark beschädigt worden waren. Umgestürzte Bäume versperrten den Weg. An zwei Stellen hatten sich Flussläufe geändert, und eine Rinne zog sich quer über den festgetretenen Pfad, über den einst Wagen gerollt waren. »Mögen Gott uns helfen«, sagte die Kastellanin am späten Nachmittag des siebten Tages. Sie ritt als Einzige auf einem Pferd, während die Übrigen zu Fuß gingen. »Was ist das?« Alain ging mit fünf bewaffneten Männern voraus; sie fanden einen Wagen, der umgestürzt war und auf der Seite lag. Auf dem Weg sowie im Wald rechts und links davon lagen Leichen, an denen sich Tiere zu schaffen gemacht hatten. »Wie lange mögen sie hier schon liegen?«, fragte einer der Burschen, der von seinen Kameraden Hol genannt wurde. 248 Es waren fast nur noch Knochen übrig, an denen hier und da kleine Hautfetzen voller Haare oder die Reste einer gewebten Tunika hingen. Es war unmöglich zu sagen, wie viele hier gestorben waren oder wie weit weg Wölfe und Füchse die Leichenreste geschleppt hatten. »Monate.« Alain zog aus den Speichen eines Wagenrads einen Pfeil. »Räuber. Seht euch diese Befiederung an.« Die Soldaten waren jung; er kannte keinen von ihnen aus der Zeit, als er Lavastins Erbe gewesen war, obwohl es ihm seltsam schien, dass so viele neue Soldaten in so kurzer Zeit den Dienst angetreten haben sollten. Es waren alles Jungen aus den Dörfern, die Edelfrau Aldegunds Familie die Treue geschworen hatten. Sie musterten beunruhigt den Wald beiderseits des Weges. Plötzlich schrie einer von ihnen auf. »Was ist das? Was ist das?« Es war nur ein weißer Schädel, der sich in einem Brombeerstrauch verfangen hatte und sie anstarrte. »Bring ihn her, Hol«, sagte der Älteste. »Nein. Er ist vielleicht verflucht.« »Haben wir eine Schaufel oder etwas anderes zum Graben?«, fragte Alain. »Wir sollten ein Grab ausheben und diese Toten zur Ruhe betten. Mehr können wir nicht tun.« Er sah seine Kameraden der Reihe nach an und schüttelte den Kopf. »Kommt schon. Ihre Seelen sind zur Kammer des Lichts aufgestiegen. Sie können euch nichts tun. Wenn euer eigener Bruder hier liegen würde, würdet ihr dann nicht wollen, dass er zur Ruhe gebettet wird, damit keine Tiere mehr an seinen Knochen nagen können?« Sie hatten nur eine einzige Schaufel dabei, aber ein Mann hatte ein Stück von einem Geweih, das er als Pickel benutzte, und die anderen spitzten Stöcke zu. Mit diesen Hilfsmitteln und mit ihren bloßen Händen gruben sie rasch ein tiefes Grab. Blanche sah stumm zu, lutschte an ihrem Daumen. Sie war die Erste, die in die Büsche gezerrte Knochen herbeischaffte, und
248 sie holte auch den Schädel und legte ihn auf den Haufen in dem Loch. Sie wischte sich die Hand an ihrem Kleid ab und seufzte. »Werde ich eines Tages auch aus solchen Knochen bestehen?«, fragte sie. »Der Teil von dir, der Fleisch ist, wird sterben, ja, und er wird bis auf die Knochen verwesen, aber sieh nur, wie weiß und stark sie sind. Sie erinnern uns an die Stärke unserer Seelen, die ebenfalls verborgen unter dem Fleisch liegen.« Sie sah ihn stirnrunzelnd an, sagte aber nichts. Die Geistliche der Kastellanin sprach ein Gebet über die Toten, und dann füllten sie das Loch wieder mit Erde auf. »Es wird spät«, sagte Alain zu der Kastellanin. »Wir sollten an ein Lager für die Nacht denken.«
»Ich möchte nicht an einem Ort des Todes lagern«, erwiderte sie. »Wir werden noch etwas weiterziehen.« »Ob hier wohl noch Räuber rumlungern?«, fragte Hol Alain, während sie an der Spitze der Gruppe gingen. »Das könnte sein.« Ein Zweig knackte zwischen den Bäumen, und die Soldaten zuckten zusammen und wirbelten herum, aber es war nur ein Reh, das in den Wald davonlief. Sie lachten und bezeichneten einander als Feiglinge, marschierten aber eilends weiter, um rasch dorthin zu gelangen, wo der Wald in freies Gelände überging; der Boden war sumpfig und zum Ackerbau ungeeignet, und die wenigen Hügel waren mit dichtem Buschwerk bewachsen. Die Straße war etwas erhöht angelegt worden, um diesen Sumpf durchqueren zu können, und als schließlich die Dämmerung einsetzte, fanden sie sich irgendwo mitten auf dieser Straße, und um sie herum gab es nichts als Mücken, Sumpffliegen und Stechmücken. »Entzündet Feuer«, sagte die Kastellanin. »Dann können wir in beide Richtungen sehen, falls Diebe uns angreifen sollten. Außerdem wird der Rauch die Insekten vertreiben.« Es war schwer, trockenes Holz zu finden, doch schließlich hatten sie genug, um die halbe Nacht Rauch einzuatmen, aber
249 gestochen wurden sie trotzdem. Der Wind wehte gleichmäßig aus Nordosten. Spät, sehr spät, erwachte Alain, starrte verwirrt gen Himmel. Blanche schnarchte leise neben ihm. Sterne blinkten, wurden wieder von Wolken verhüllt. »Oh!«, sagte er, obwohl er gar nicht vorgehabt hatte zu sprechen. »Seht Ihr?« »Bitte, Kastellanin. Könnt Ihr nicht schlafen?« »Ich kann nicht schlafen, Herr. Aber ich habe gesehen, dass es einen Funken Hoffnung gibt. Gott blicken lächelnd auf meine Reise herab. Es war richtig, dass ich Euch gesucht habe. Monatelang haben wir den Himmel nicht gesehen. Aber jetzt ... jetzt habe ich es.« »Jeder Zauberbann muss im Laufe der Zeit nachlassen.« »Ihr besteht darauf, dass diese Wolken die Reste eines gewaltigen Zauberbannes sind, der von Menschen gewebt wurde?« »Ich weiß, dass es so ist.« »Nicht ein Ausdruck von Gottes Missfallen?« »Es ist wahr, dass manches Übel uns ohne Warnung oder Grund überfällt. Aber so viele Übel, die uns plagen, erschaffen wir durch unsere eigenen Taten. Wieso sollten wir Gott die Schuld geben? Sicherlich weinen Gott, wenn sie sehen, dass ihre Kinder gegen das handeln, was natürlich und richtig ist. Das würde der heilige Daisan sagen. Und das hat Graf Lavastin gesagt. Wir sind nicht schuldig aufgrund von Dingen, die außerhalb unserer Macht liegen, aber es entschuldigt nicht unser Handeln. Das Übel ist das Werk des Feindes. Es ist leichter, das zu tun, was richtig ist.« »Glaubt Ihr das? Es scheint mir, dass die Menschen die unterschwellige Neigung haben, das Falsche zu tun.« »Aber niemand behauptet, dass das richtig wäre. Jene, die Falsches tun, machen Ausflüchte und erzählen Geschichten, um sich zu rechtfertigen oder die Schuld auf Gott zu schieben, aber in ihren Herzen sind sie nicht frei von Schuld. Und diese Schuld treibt einen Menschen zu noch schlimmeren Taten, aus
249 Schmerz und Furcht heraus. Es ist eine mühsame Straße, und es ist noch schwieriger, umzukehren, wenn man diese Reise erst einmal begonnen hat.« Sie kicherte spöttisch. »Viele Leute sagen, dass sie recht handeln, und glauben daran. Der Feind täuscht sie.« »Sie täuschen sich selbst.« »Wer entscheidet darüber, dass oft die Boshaften gedeihen und die Unschuldigen auf der Strecke bleiben? Wo ist Gottes Gerechtigkeit, wenn sie gebraucht wird?«
Er blinzelte sie an, aber es war schwer, in der Düsternis ihr Gesicht zu erkennen. »Es liegt in Euren Händen, Meistrin Dhuoda. Wir haben die Freiheit, über unsere Taten selbst zu bestimmen.« »Und was ist, wenn wir falsch wählen?« Er seufzte, dachte an Adica. Der Wind seufzte ebenfalls, ein Echo seiner Atemzüge. Schilf raschelte im Sumpf. Ein Mann drehte sich geräuschvoll im Schlaf auf die andere Seite. Blanche schnarchte, schien kurz davor aufzuwachen und schlief dann doch weiter. »Wieso haben Gott uns nicht so erschaffen, dass wir nur das Richtige tun können und niemals das, was falsch ist?«, sprach sie weiter. »Dann wären wir nicht viel anders als die Werkzeuge, die wir benutzen. Wenn wir dann das Richtige täten, wäre es kein Verdienst, weil wir gar keine andere Wahl hätten. Wir wären Sklaven und keine Menschen.« »Es wäre möglicherweise besser«, murmelte sie. »Glaubt Ihr das?« »Manchmal tue ich das«, sagte sie, und dann schwieg sie. Schließlich schlief er ein. 250 Sie erreichten Burg Lavas am Festtag von St. Abraames. Aus der Ferne wirkte sie nicht viel anders als vor sieben Jahren, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte - oder waren es acht? Es war schwer, den Lauf der Zeit zu verfolgen. Die hohe Palisade umgab die Burg mit der Holzhalle und dem steinernen Burghof. Dahinter erstreckte sich das Dorf entlang des sich gemächlich neigenden Flussufers. Jetzt jedoch umgaben ein Graben und ein Erdwall das Dorf und die inneren Felder, Obstwiesen und Weiden, die an zwei Stellen vom Fluss durchtrennt wurden. Viele der Ortsansässigen kamen Alain vertraut vor, aber alle Soldaten waren neu, stammten dem Klang ihrer Worte nach nicht aus Lavas, sondern aus dem Osten. »Wo ist Feldwebel Fell?«, fragte Alain die Kastellanin, als die Leute neugierig näher kamen. »Er wurde verabschiedet, um sich in sein Heimatdorf zurückzuziehen, mit gerade mal zehn Skeattas für seinen jahrelangen Dienst. Auch viele andere haben sich mit wenig genug oder gar nichts abgewandt, weil Edelmann Jeoffrey sich beschützt von Soldaten aus dem Land seiner Frau sicherer fühlt. Es hat zu einigem Gemurre geführt, und zwar zu Recht.« »Wer ist das, Meistrin Dhuoda?«, fragte ein Soldat, der mit einem Speer in der einen Hand und einem Becher Bier in der anderen aus der Halle trat. »Hauptmann, wo ist Edelmann Jeoffrey?« »Er ist mit dem Bruder der Edelfrau ausgeritten, um sich einen Bullen anzusehen.« »Den, der Meister Schmitt von Ferhold gehört? Er hat bereits gesagt, dass er ihn auch für noch so viel Skeattas nicht abgeben will.« »Er wird ihn abgeben, wenn Edelmann Jeoffrey ihn für seine Herde haben will«, erwiderte der Hauptmann spöttisch. 250 »Wer ist das?« Er blinzelte in die helle Sonne und deutete mit seinem Speer auf Alain. Bedienstete kamen näher, flüsterten dabei und starrten ihn an. Da war Alma, die dünner und älter wirkte, und ein verblüffter Meister Rodlin mit zwei geschmeidigen Windhunden auf den Fersen. Die Windhunde senkten die Köpfe und jaulten, versteckten sich hinter dem Stallmeister, aber Kummer und Rage setzten sich friedlich hin und wandten ihre treuen Blicke Alain zu, warteten auf seinen Befehl. »Das sind große Hunde«, sagte der Hauptmann, und in seinem Blick und in dem unterdrückten Getuschel und Gemurmel lag eine Anspannung, als würde ein Sturm kurz bevorstehen. Alain sah Alma an, nahm Blanche und brachte das Mädchen zu der alten Frau. »Herr«, murmelte die Köchin mit einem Blick zu dem argwöhnischen Hauptmann. Ihre Hände waren vom Alter aufgesprungen und fleckig, und die Linke war gelähmt, aber ihre Augen waren noch scharf. »Ich bitte dich, Alma«, sagte er ruhig, »sprich mich nicht mit einem Titel an, der mir nicht länger zusteht. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«
Sie nickte benommen. Der Hauptmann hustete und sah sich um, wollte wissen, wo seine Soldaten waren, aber es waren nur fünf oder sechs in Sicht, die bei den Ställen herumhingen oder an der Ecke der Halle standen. »Pass bitte für mich auf dieses Kind auf. Sie ist die Tochter eines Mannes, den ich meinen Bruder nannte.« Alma sah ihn an, nickte und streckte die Hand aus. »Geh, Blanche. Tu, was ich sage.« Sie biss sich auf die Unterlippe und sah ihn stirnrunzelnd an, aber dann legte sie ihre schmutzige Hand in die von Alma, ohne Einwände zu erheben. »Bitte, Edelmann Alain«, sagte Dhuoda und trat zu ihm. »Wir sollten hier nicht wie Bittsteller im Hof stehen bleiben, 251 sonst wird er irgendetwas veranlassen.« Sie deutete auf den ruhelosen Hauptmann. »Ich warte in der Kirche.« »Nein, Herr! Ihr wartet im Audienzzimmer des Grafen, wie es angemessen ist!« »Bitte, Meistrin Dhuoda«, sagte er sanft. »Bringt diese unschuldigen Seelen nicht in Schwierigkeiten. Ich ziehe es vor, in der Kirche zu warten, wenn Ihr nichts dagegen habt. Ich möchte beim Grab des Grafen beten.« »Natürlich.« Sie errötete. »Natürlich, Edelmann!« »Wer ist dieser Mann?«, fragte der Hauptmann, verließ jetzt den Vorbau der Halle. »Er ist hier nicht willkommen!« Auf die eine oder andere Weise setzten die Bediensteten sich plötzlich in Bewegung und behinderten seinen Weg, und Alain und Dhuoda gingen allein zu der Steinkirche, die abseits der anderen Gebäude hinter der Palisade stand. »Wovor hat Edelmann Jeoffrey Angst?«, fragte Alain und deutete dabei auf die neuen Erdwälle. »Vor der Gerechtigkeit, Herr. Er hat Angst vor Edelfrau Sabella.« »Wieso sollte er sie fürchten ? Ist sie nicht in der Obhut von Bischof in Constanze in Autun?« »Seit vielen Jahren nicht mehr, Herr. Edelfrau Sabella hat sich ihres alten Herrscherstuhls wieder bemächtigt. Sie hält Bischöfin Constanze gefangen und herrscht aufs Neue über Arconia. Edelmann Jeoffrey hat Bischöfin Constanze die Treue geschworen, aber es ist unwahrscheinlich, dass die edle Bischöfin uns helfen kann. Räuber ziehen durch das Land. Habt Ihr nicht von unseren Schwierigkeiten gehört?« »Was für Schäden hat Lavas erlitten?« »Gut Ravnholt wurde im letzten Herbst - wenige Wochen nach dem großen Sturm - bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Acht Menschen wurden ermordet, vielleicht auch mehr. Es war schwer, in den Trümmern der Halle noch irgendwelche Überreste zu finden. Ein Dutzend oder mehr Überle
251 bende haben wir später im Wald gefunden, wo sie sich versteckt hatten, aber vier Mädchen sind nie gefunden worden, obwohl Zeugen sie gesehen haben, als sie vor dem Brand weggelaufen sind. Sie waren noch jung - aber keine kleinen Mädchen mehr; eine von ihnen hatte erst kurz zuvor geheiratet. Es gibt wohl keinen Zweifel daran, was die Räuber mit diesen armen Wesen vorhatten.« »Hat denn niemand nach ihnen gesucht? Was ist mit den Räubern passiert?« »Es hat nur ein kurzes Gefecht gegeben, zwei Tage später. Dann sind die Räuber verschwunden jedenfalls haben Edelmann Jeoffreys Kundschafter das behauptet. Ich weiß nicht, ob es stimmt.« »Ihr glaubt ihnen nicht?« Sie zuckte mit den Schultern, zögerte, wollte nicht mehr dazu sagen. Als das Schweigen unangenehm wurde, sprach sie weiter. »Die Mädchen, die geraubt wurden, waren nur die Töchter von Bediensteten. Zwei waren Sklaven - ihre Eltern hatten sie in den Dienst verkauft, um ihre Schulden gegenüber Ravnholts Verwalter zu begleichen.« »Hat Ravnholts Verwalter nicht versucht, diese verlorenen Seelen zurückzubekommen?«
»Der Verwalter ist bei dem Überfall getötet worden.« »Und wer hat jetzt dort das Sagen?« Ihr dunkler Blick passte zu dem trüben Tag und dem unheilvollen Wind in den fernen Bäumen. »Edelmann Jeoffrey hat das Land brachliegen lassen. Er sagte, er würde sich später darum kümmern. Aber wir müssen dringend pflanzen. Sicherlich wisst Ihr ... es ist schwer, ans Pflanzen zu denken, wenn es immer noch jede Nacht Frost gibt. Die Apfelbäume sind von Schädlingen befallen. Möglicherweise gibt es dieses Jahr gar keine Apfelernte. Im Süden hat eine schwarze Fäulnis den Roggen erwischt...« Sie sah ihn von der Seite an, errötete dann wieder. »Aber das müsst Ihr eigentlich wissen, nicht wahr? Denn dort hat man Euch gefunden, im Süden, bei einer Mühle.« 252 »Wahnsinnig, wie man mir erzählt hat«, sagte er, als sie zu der Kirche mit dem schmalen Portal kamen. Er trat in den Schatten und drehte sich zu der Kastellanin um, die noch im gedämpften Tageslicht stand. »Nicht wahnsinnig«, sagte sie vorsichtig. »Es war die Tanzwut, Herr.« »Nicht nur, nehme ich an. Ich hatte eine Kopfverletzung. Lange Zeit bin ich ohne meine treuen Hunde umhergewandert. Ich war verloren und blind.« Er schnippte mit den Fingern, und die Hunde kamen schwanzwedelnd zu ihm und leckten ihm die Hände. Er tätschelte sie liebevoll und rieb seine Knöchel an ihren großen Köpfen, wie sie es mochten, und kratzte sie hinter den Ohren. Sie rang die Hände, den Blick auf den Boden gerichtet. »Und jetzt seid Ihr zu uns zurückgekehrt, Herr.« »Nein«, erwiderte er freundlich. »Ich bin nur auf der Durchreise. Ich werde nicht bleiben.« Sie weinte, sagte aber nichts. Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Verzweifelt nicht«, sagte er. »Der Mensch, den Ihr sucht, wird kommen.« Er begab sich ins Hauptschiff, das so düster war, dass er nach vier Schritten stehen blieb und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Hunde hechelten neben ihm. »Kommt«, sagte er schließlich. Sie gingen zu der Bahre, die in der Mitte des Hauptschiffes aufgestellt war; Bänke standen beiderseits davon. Rage und Kummer ließen sich am Fuß der Bahre nieder, unterhalb von Schrecken, und Alain kniete sich neben Lavastins rechter Hand hin. Die Statue war mit einem langen weißen Leinenhemd und darüber mit einer Wolltunika in Blau bekleidet, der Lieblingsfarbe von Lavastin. Das Kleidungsstück wirkte gut gebürstet, wenn auch etwas staubig. Der Saum bestand zur Hälfte aus einer bestickten Borte mit springenden schwarzen Hunden
252 eine mühsame Arbeit, die jemand mit sehr viel Erfahrung ausgeführt hatte. Er fragte sich, ob die Stickerei erst kürzlich begonnen worden und noch nicht beendet war oder ob die aufrichtige Arbeit der Frau unterbrochen worden war. Lavastins Füße waren auf verletzliche Weise nackt, und seine scharfen Gesichtszüge waren so vertraut wie immer, der Bart ordentlich gestutzt und die Augen geschlossen. Zweifellos hielten die Menschen, die neu nach Lavas kamen, dies für eine meisterhafte Bildhauerarbeit. Wer würde glauben, dass dies Lavastin selbst war? Alain neigte den Kopf, legte seine Stirn an die kühle Wange. »Ich bitte dich«, flüsterte er. »Vergib mir, dass ich gelogen habe. Ich habe diese Lüge aufgegeben, um das Land der Blumenwiesen betreten zu können, aber jetzt, da ich zu dieser Erde zurückgekehrt bin, muss ich sie dir gegenüber bekennen. Ich habe gesagt, dass Tallia schwanger war, um dir Kummer zu ersparen, da ich wusste, dass du fortgehen würdest. Ich bedauere nicht, dass ich dir auf deinem Sterbebett Schmerz ersparen wollte. Ich bedauere nur, dass ich bei der Aufgabe versagt habe, die du mir gestellt hast. Aber es sollte nicht sein. Gott haben es so gemacht. Sie wussten, dass ich nicht dein rechtmäßiger Erbe bin. Wenn Tallia schwanger geworden wäre, hätten sich die Fäden nur noch mehr verwickelt. Aus einer Lüge kann keine gute Herrschaft entstehen. Und, Gott mögen mir helfen, Vater, hätte Tallia mich nicht verraten, hätte ich Adica nie
getroffen. Es tut mir leid, dass ich nicht der Sohn sein konnte, den du dir gewünscht hast, aber das ändert nichts an der Liebe, die ich für dich empfinde.« Als er zu sprechen aufhörte, breitete sich eine so durchdringende Stille in der Kirche aus, dass er glaubte, den leisen Atem der Erde hören zu können, den Atem des Steins. Schwaches Tageslicht fiel auf den Altar, das goldene Gefäß und das Buch der Botschaft, das aufgeschlagen dalag, als wäre die Diakonissin mitten in ihren Gebeten unterbrochen worden. Hinter ihm befand sich die Seitenkapelle, die St. Lavrentius geweiht war, der 253 vor der Zeit von Kaiser Taillefer gestorben war, als er den Kreis der Einigkeit zu den varrenischen Stämmen gebracht hatte. Hier hat es begonnen, dachte er. Er hatte die Herrin der Schlachten auf dem Drachenrückenkamm gesehen, aber er fragte sich jetzt, ob es Zufall oder Schicksal oder freier Wille gewesen war. Entsprach es ihrem Wesen, bei Sturm über diesen Pfad zu reiten? War es nur Zufall gewesen, dass sie sich dort getroffen hatten? Oder war sie absichtlich diesen Weg entlang geritten, weil sie gewusst hatte, dass sie ihn treffen und er keine andere Wahl haben würde, als jene zu retten, die er liebte, indem er sich ihrer Sache verschwor? Hier lag die Antwort, in diesem düsteren Hauptschiff. Darunter befand sich die Krypta, in der die Grafen von Lavas ihren Todesschlaf hielten, obwohl ihre Seelen sicherlich zur Kammer des Lichts aufgestiegen waren. Hier im Seitenschiff lag der Letzte vom Geschlecht Charles' des Älteren. Was hatte er verborgen ? Kummer bellte leise, und als Antwort hörte Alain, wie in der Nähe des Altars von St. Lavrentius Mäuse in ihre Verstecke zurückhuschten. Einst - vor langer Zeit - hatten etwa um die gleiche Jahreszeit er und Simplizius in dieser Kapelle gekniet; Simplizius hatte geweint, als ein zutrauliches kleines Wesen in seine Hand gekrochen war und sich von ihm das weiche Fell hatte streicheln lassen. Jetzt hörte das Rascheln und Scharren auf. Die Tür öffnete sich, und ein einzelner Mann trat ein, dessen Gesicht im Schatten lag und nicht zu erkennen war. »Ihr seid gekommen«, sagte der Mann eher traurig als wütend, aber da war durchaus auch von Angst gedämpfte Wut. Die Tür schloss sich hinter ihm, und er blieb stehen. »Nehmt es! Nehmt es zurück! Es ist in meinen Händen verrottet!« »Bitte, Edelmann Jeoffrey. Setzt Euch. Ich bin nicht gekommen, um Euch irgendetwas wegzunehmen, das Euch gehört.« Jeoffrey schluckte ein wütendes Schluchzen hinunter, aber er rührte sich nicht. »Ständig habt Ihr mich überlistet! War es 55° nur eine dumme Vorstellung, als Ihr stammelnd und tanzend hier aufgetaucht seid? Habt Ihr es darauf angelegt, dass ich tue, was ich getan habe, damit es so aussieht, als sei ich ein grausamer, harter Mann? Als sei ich jemand, der Angst vor Euch hat?« »Habt Ihr denn Angst?« »Ich habe immer Angst!«, brüllte er. Die Hunde bellten, zuerst Kummer, dann Rage, und er wich einen Schritt zurück. »Sie bewachen Euch also immer noch, diese Tiere.« »Kummer und Rage sind meine treuen Kameraden.« »Was wollt Ihr? Weshalb seid Ihr zurückgekommen?« »Ich bin hier, weil Kastellanin Dhuoda mich gebeten hat, nach Lavas zurückzukehren. Den Winter zuvor habe ich in Osna verbracht, wo ich mich von den Verletzungen meines Körpers und der Wunde in meinem Herzen erholt habe.« »Dhuoda ist eine Verräterin!« »Ist sie das?« »Nein! Nein!« Er schritt vor dem Eingang auf und ab, verschwand hinter einer Säule und tauchte an der Wand wieder auf, drehte sich dort um und ging zurück. Die Mauern hielten ihn gefangen. Er konnte sich nur immer wieder umdrehen und weitergehen. »Sie hat mir gesagt, was sie vorhatte. Sie ist meine Verwandte. Sie hat das Recht, mir zu widersprechen.«
Er blieb vor dem Seitenschiff stehen. Sein Gesicht wirkte blass und gequält, seine Hände waren ineinander verschränkt. »Ist Lavastin Euer Vater gewesen?« Sein Stimme klang rau, als er diese Frage stellte. Er neigte den Kopf einen Augenblick, dann hob er ihn trotzig. Rage wandte ihm das Gesicht zu, rührte sich ansonsten aber nicht. Kummer blieb sitzen, schnüffelte an Schreckens steinernem Hinterteil, als suchte er nach einer Spur. Alain erhob sich. Er ließ eine Hand auf Lavastins regloser Hand liegen, spürte die Ausformungen der Knöchel, den verschlungenen Rand eines versteinerten Rings, der für immer auf dem rechten Zeigefinger gefangen sein würde. Auch der 55* Edelstein hatte sich in Stein verwandelt. Alain konnte sich nicht mehr erinnern, welche Farbe er gehabt hatte. Jeoffrey sprach weiter, die Worte sprudelten förmlich aus ihm heraus. »Die Köchin hat gesagt, dass Eure Mutter ihren Körper verkauft hat, um Essen zu bekommen. Sie wurde >Rose< genannt, weil sie so schön war. Sie war so hübsch, dass jeder Mann sie begehrt hat. Die Köchin hat gesagt, dass jeder, der hier gelebt hat und alt genug war, seinen Eimer in ihren Brunnen zu tauchen, Euer Vater hätte sein können, denn viele haben es getan. Sie hat niemanden abgewiesen. Lavastin war der Einzige, der sie nicht haben wollte. Er wollte nichts, was andere Männer benutzt hatten. Er hat nie mit ihr geschlafen, so sehr sie auch versucht hat, ihn zu verführen. Das hat Alma mir gesagt. Als mein Vetter Euch erhoben hat, hat sie geschwiegen, weil sie Angst hatte, ihn zu beleidigen. Weil sie Angst hatte, zum Schweigen gebracht zu werden!« Er keuchte wie jemand, der zu schnell gelaufen war. »Was sagt Ihr dazu?«, fragte er. »Tatsächlich glaube ich«, sagte Alain, »dass der schwachsinnige Simplizius Lavastins unehelicher Sohn war.« Jeoffrey atmete zischend aus, sagte aber nichts. »Ich glaube nicht, dass ich entsprechend der Gesetze der Nachfolge, des Blutes also, Lavastins Sohn war. Aber ich habe >Vater< zu ihm gesagt, und er hat mich >Sohn< genannt. Ich kann jetzt nicht zu Euch sagen, dass diese Worte mir nichts bedeutet hätten.« »Sie bedeuten nichts Rechtmäßiges!« »Was sie bedeuten, ist nur für mich wichtig, und es war wichtig für ihn. Das ist alles.« »Was wollt Ihr, verflucht?« »Lasst mich Euch ansehen«, sagte Alain. Nach einigem Zögern trat Jeoffrey näher. Im Licht des Herdfeuers konnte Alain das Gesicht des anderen Mannes erkennen. Jeoffrey hatte sich verändert. Er hatte einmal sehr viel jünger und unbekümmerter ausgesehen, war ein ziemlich gut 254 aussehender Mann gewesen, aber jetzt war sein Gesicht von Furcht gezeichnet. Der Mund war auf eine Art und Weise verzogen, dass er dem ganzen Gesicht einen finsteren Ausdruck verlieh, der so tief eingegraben war, als wäre er in Stein gemeißelt. Mehrere tiefe Falten auf der Stirn zeugten von Verzweiflung. »Etwas plagt Euch, Edelmann Jeoffrey.« »Dieses Land ist geplagt! Die Gesetze verstummen in Anwesenheit von Waffen, so sagen die Kirchenmütter. Diejenigen, die eigentlich herrschen sollten, werden beiseitegeschoben, und diejenigen, die herrschen, wenden ihren Blick von den Plagen ab, die uns heimsuchen, kümmern sich nur um ihr eigenes Fortkommen, ihre Bereicherung und ihr Vergnügen.« Er schüttelte eine Faust, wenn auch nicht gegen Alain, wie es schien, sondern eher gegen das Schicksal, oder gegen Gott, oder gegen einen unbekannten Menschen, den Alain nicht sehen konnte und nicht kannte. Rage knurrte, und Jeoffrey ließ die Hand sinken, aber er öffnete sie nicht. »So erhalte ich also einen kleinen Teil von dem, was ich Euch gegeben habe, zurück. Seid Ihr gekommen, um Euch daran zu weiden?«
»Ich bin aus einem anderen Grund hier«, sagte Alain und lächelte schwach. »Es ist seltsam, dass ich so lange gebraucht habe und eine solche Straße entlanggehen musste, um es zu erkennen. Bitte, Edelmann Jeoffrey, setzt Euch.« »Nein!« Alain seufzte. Einen flüchtigen Augenblick lang hatte er das heftige Gefühl, als würde sich Lavastins steinerne Haut unter seiner Hand erwärmen. Er atmete in diesem Moment den Pulsschlag eines anderen - so langsam wie der Pulsschlag der Erde, aber nicht weniger gleichmäßig. Tief unten in der Erde strömten die Flüsse aus Feuer, die im Herzen der irdischen Welt brannten, mächtig dahin, und hinter ihnen, so weit weg, dass es war, als wollte man die Sterne berühren, hauste eine alte Intelligenz, gewichtig, aber nicht schwach. Er stürzte hi 255 nunter, erinnerte sich daran, wie die uralten Geister ihn berührt hatten - an jenem Tag, als die Räuber ihn zu Vater Benignus' üblem Lager gebracht hatten. An jenem Tag hatte Alain Vater Benignus getötet, indem er seinen Anhängern enthüllt hatte, dass er nichts weiter war als eine Hülle, die sich am Leben hielt, indem sie sich von den Seelen derer nährte, die er ermordet hatte. Nur sein Skelett blieb übrig, wurde dunkel, wo das Sonnenlicht in die Knochen drang. Der Gestank der Versteinerung verschwand, als Wut hochkochte, und Männer rückten schnauben d und schreiend näher. Rage sprang auf, knurrte wütend. Ein scharfer Schlag krachte gegen seine n Kopf. Keuchend und nach Luft schnappend fuhr er auf, fand sich in der stillen Kirche wieder. Jeoffrey stand steif und überheblich vor ihm. Die Hunde waren reglos, ihre Ohren hingen schlaff herab. Er stützte sich auf Lavastins kalten Arm. »Ich bitte Euch um einen Gefallen, Edelmann Jeoffrey.« »Was wollt Ihr?« »Ich habe ein Kind bei mir, ein Mädchen von sieben oder acht Jahren. Sie ist das älteste Kind von jemandem, den ich meinen Bruder genannt habe, einem guten Mann, der jetzt eine Frau und ein anderes Kind hat. Obwohl er mit der Mutter dieses Mädchens verlobt war, haben sie nie geheiratet. Lasst sie in Eurem Gefolge dienen. Ehrt sie als die Enkelin einer treuen Hausherrin bei Osna. Behandelt sie gut. Lasst sie Kastellanin Dhuoda dienen. Wenn sie genug Verstand hat, um mit Zahlen umgehen und Schreiben und Lesen lernen zu können, lasst sie es tun. Wenn sie diesen Verstand nicht besitzt, lasst sie in der Küche unter Almas Anleitung arbeiten.« Eine Weile sagte Jeoffrey nichts. Schließlich kratzte er sich am Bart, als wäre er verwirrt. »Was bedeutet Euch dieses Mädchen? Wieso habt Ihr sie hergebracht?«
255 »Es wird nichts Gutes dabei herauskommen, wenn sie dort bleibt, wo sie ist. Sie sollte einen neuen Anfang machen, wenn das möglich ist.« »Ist das alles? Ist sie hübsch? Soll sie mich verführen oder einen anderen Mann? Ist sie Euer uneheliches Kind, das das Herz und die Loyalität meiner Tochter verrenken soll, wenn sie mit ihr aufwächst?« »Nichts von alledem. Ein Baum wächst verzerrt, wenn der Wind unaufhörlich an ihm rüttelt. Es wäre besser, wenn sie gerade wachsen kann. Ich hoffe, dass dies hier auf Lavas möglich ist, weit weg von einer ansonsten guten Familie, die sie nicht mag. Das ist alles.« »Ihr habt Euch schon immer um die Unglückseligen gekümmert !« »Spottet nicht über die Unglückseligen, Edelmann Jeoffrey. Sie leiden mehr als wir Übrigen.« »Wegen ihrer Sünden!« »Glaubt Ihr das? Sie leiden wohl eher wegen unserer Sünden. Oder ist es nicht eine Sünde, wegzusehen, wenn man einem Ertrinkenden die Hand reichen könnte? Ist es nicht eine Sünde, zwei Laibe Brot zu essen, wenn man einen davon mit Hungernden teilen könnte? Leiden ist die Aufgabe, die Gott uns gestellt haben. Wir entscheiden, ob wir handeln oder wegsehen wollen. Und so werden wir beurteilt.« Jeoffrey brach zusammen und weinte. »Es ist alles schiefgegangen! Meine Tochter - sie hinkt, seit sie von ihrem Pony gestürzt ist! Meine teure Frau ist kurz nach dem schrecklichen Sturm bei einer Geburt gestorben. Unsere Söhne werden als Geiseln in Autun festgehalten. Im Wald hausen
Räuber und fallen über die Bauern her. Die Pest frisst an unseren Grenzen. Huffäulnis befällt unsere Schafe und unser Vieh. Die Vögel sind geflohen, als würden wir in einer Wüste leben. Und so geht es weiter, immer weiter! Es ist zu viel, um alles aufzuzählen! Wie habe ich Gott beleidigt?« »Ihr kennt die Antwort besser als ich, Edelmann Jeoffrey. 256 Fragt besser danach, wie Ihr die Dinge wieder in Ordnung bringen könnt. Glaubt Ihr, dass Eure Tochter die rechtmäßige Erbin von Lavas ist?« »Es gibt niemanden sonst, von dem ich wüsste.« »Wenn so jemand auftauchen würde, würdet Ihr diesem Menschen die Treue schwören?« »Es kann niemand anderen geben, der einen Anspruch besitzt! Gräfin Lavastina hatte nur zwei Söhne, nämlich Charles und - achtzehn Jahre später - Jeoffrey den Ersten, meinen Großvater. Dort liegt mein Vetter.« Er deutete auf die Bahre. »Er ist der Letzte des älteren Geschlechts. Ich bin der einzige überlebende Nachkomme des jüngeren. Wen könnte es sonst noch geben?« »Habt Ihr Euch nie gefragt, wie der ältere Charles an die furchterregenden Hunde gekommen ist?« Jeoffrey zuckte mit den Schultern. »Ich kenne die Antwort nicht«, sprach Alain weiter. »Aber ich mache mir Gedanken. Furcht hat mich verlassen, um einen anderen zu suchen. Und es hat jemanden gegeben, den die Hunde gefürchtet haben. Gibt es eine Verbindung zwischen ihnen ?« »Ihr sprecht in Rätseln, um mich zu quälen!« »Vergebt mir. Etwas ist schon vor langer Zeit in Lavas schiefgelaufen. Wenn wir es in Ordnung bringen, könnte es so sein, als würde man einen Stein in einen stillen Teich werfen. Die Wellen könnten sich bis an den Rand ausbreiten.« »Das sind Geheimnisse! Mutmaßungen! Wenn Ihr Lavas nicht beansprucht, was spielt es für Euch dann für eine Rolle, wer es tut?« »Die Gerechtigkeit spielt eine Rolle.« Jeoffrey zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Da ist noch mehr! Wer ist Euer Vater?« Alain schüttelte den Kopf, als er derart von seinen Gedanken abgelenkt wurde, und tatsächlich war er auch etwas verärgert, aber er schüttelte die Gereiztheit ab. »Mein Vater? Henri aus Osna ist mein Vater. Ebenso wie Graf Lavastin. Wie vielleicht
256 auch der Schatten des verlorenen Prinzen in der Ruine auf dem Hügel. Es könnte auch der Mann gewesen sein, der mein Großvater war, sofern er mit seiner eigenen Tochter beisammen gewesen ist. Oder ein anderer Mann, dessen Namen ich niemals gehört und den ich niemals kennengelernt habe. Dies ist die Wahrheit.« Er nahm die Hand von Lavastins Arm und trat zwischen die Hunde, so nah vor Jeoffrey, dass er ihn hätte berühren können. »Mein Weg ist von dem Tag an vorgezeichnet gewesen, als die Herrin der Schlachten mich herausgefordert hat. Ich weiß, wem ich die Sohnesliebe schulde. Abgesehen davon kümmert es mich nicht, weil es keine Rolle spielt.« »Das ergibt keinen Sinn für mich. Ihr sagt, dass Ihr meine Herrschaft als Regent für meine Tochter nicht herausfordern wollt, oder ihren Anspruch, es sei denn, es käme jemand, der einen besseren Anspruch auf Lavas hat als wir. Ihr sagt das, obwohl Ihr wisst, dass es keine anderen überlebenden Nachkommen von Charles dem Älteren und Jeoffrey dem Ersten gibt.« »Ich habe keinen Grund zu glauben, dass es von jenen Männern andere Nachkommen gibt als Euch, Eure Tochter und Eure Söhne.« »Aber wie soll dann -? Was -? Ihr glaubt also, es gibt andere Nachkommen von meiner Urgroßmutter Gräfin Lavastina. Sie hatte keine überlebenden Geschwister, keine Nichten und Neffen, die Charles dem Älteren seinen Erbteil hätten streitig machen können. Die Familiengeschichte ist von Lavas' Geistlichen sorgfältig niedergeschrieben worden, und nichts deutet auf so etwas hin!« Er lächelte, aber es war ein von Spott verzerrtes Lächeln. »Wenn bewiesen werden könnte, dass es einen rechtmäßigen Anwärter gibt, würdet Ihr beiseitetreten?« »Meine Tochter erbt nichts außer der Grafschaft Lavas.«
»Wenn bewiesen werden könnte, dass es eine Person gibt, deren Anspruch ihren übertrifft, würdet Ihr ihren Anspruch zurückziehen?« Jeoffrey machte eine weit ausholende, unbekümmerte Ges 257 te mit der Hand. Kummer bellte angesichts der plötzlichen Bewegung, beruhigte sich aber auf ein Wort von Alain wieder. »Wieso nicht? Ihr seid ein Narr, so etwas zu sagen! Wenn Ihr mir versprecht, keinen eigenen Anspruch zu erheben und den Anspruch zurückzugeben, den Lavastin in Eurem Sinne erhoben hat, werde ich versprechen, dass ich einen Anspruch anerkenne, der den meiner Tochter übertrifft. Aber er muss einer eingehenden Betrachtung standhalten! Bischof in Constanze oder ein Rat von Kirchenleuten von ähnlicher Autorität muss die Echtheit dieses Anspruchs bezeugen. Ihr könnt mir nicht einfach irgendein Mädchen unterschieben - ist es das? Ist das die Geschichte dieses Mädchens, das Ihr bei mir lassen wollt?« »Nein. Sie ist die unerwünschte Enkelin einer Hausherrin aus Osna, weiter nichts.« »Also schön! Wir werden diese Versprechen öffentlich abgeben und niederschreiben lassen. Ihr werdet gehen und mich und meine Tochter in Frieden lassen!« Alain lächelte traurig. »Ihr solltet Euer Versprechen nicht leichtfertig abgeben, Edelmann Jeoffrey, und schon gar nicht, weil Ihr glaubt, dass es nicht auf Euch zurückfallen kann.« »Ich möchte, dass Ihr noch vor Sonnenuntergang von hier verschwunden seid!« »So sei es.«
3 Draußen wartete ein Wachtrupp auf Jeoffrey, ein Dutzend mürrisch dreinblickender Männer, die den Grafen und Alain gemeinsam mit Meistrin Dhuoda zur Halle begleiteten. Die Kastellanin rang gereizt die Hände, während sie gingen. »Wartet hier, bis genügend Leute versammelt sind, die bezeugen können, was sie sehen und hören«, sagte Jeoffrey schroff zu Alain, nachdem sie die Halle betreten hatten. Er
257 nahm seinen Hauptmann beiseite und gab ihm Befehle, dann schickte er Dhuoda los, um seine Tochter aus dem oberen Stockwerk zu holen. Alain setzte sich auf eine Bank in der Ecke der Halle. Die Hunde lagen zu seinen Füßen. Er saß vollkommen ruhig da, und als die meisten Wachen weggegangen waren, um die Leute zusammenzuholen, wirkte es, als wäre er vergessen worden. An diesem kalten Frühlingsnachmittag hielt sich niemand in der Halle auf. So, wie die Tische standen, schien seit geraumer Zeit kein Festmahl mehr abgehalten worden zu sein. Der Hohe Tisch war an die Wand des Podestes geschoben worden, doch ohne Stühle oder Bänke. Zwei Tische und Bänke standen nebeneinander bei der großen Herdstelle, in der ein Feuer brannte, auch wenn es die Ecke nicht zu wärmen vermochte, in der Alain wartete. In den guten Tagen unter Lavastin hatten achtzig bis hundert Leute bei einem großen Festmahl in der Halle Platz gefunden. Jetzt sah es so aus, als würde - an wärmeren Tagen - ein Dutzend beim Feuer essen, während die Leute ansonsten in ihren eigenen Räumen oder Häusern aßen oder in den Unterkünften und Küchen. Der Boden war erst kürzlich gefegt worden; nur gleich links neben der doppelflügeligen Eingangstür lag ein bisschen Vogeldreck. Alain starrte zu den Dachsparren bei der Tür. Zwei Schwalben hatten dort immer ihr Nest gebaut, waren geduldet worden, weil es hieß, dass Schwalben Glück brachten, aber er sah von ihnen keine Spur. Von draußen erklang Stimmengemurmel, aber es kam niemand an den zwei Wachen vorbei, die vor dem Eingang standen und deren Rücken Alain sehen konnte. Einst, vor langer Zeit, hatte er auf dem Hohen Sitz gesessen und über Lavas -über Land und Leute - geherrscht. Er trauerte dem, was er verloren hatte, nicht nach. Diese Zeit kam ihm wie ein Traum vor, wie etwas, auf das er einen Blick erhascht, das er aber niemals richtig in Händen gehalten hatte. Einst hatte Tallia als seine Frau neben ihm gesessen. Wie er sie geliebt hatte! Aber was 257
hatte er wirklich geliebt? Einen Traum. Einen Wunsch. Eine Illusion. Sie war nicht die Frau, die er in seinem Geist aus ihr gemacht hatte. Vielleicht kann man nur dort betrogen werden, wo man sich blenden lässt. Wenn man weiß, dass ein bestimmter Mensch schlecht oder nicht vertrauenswürdig ist, darf man nicht überrascht sein, wenn er unehrlich ist oder auf eine Weise handelt, die anderen Schaden zufügt. Wenn man richtig hinsieht, kann man nicht überrascht werden. Es war leicht, sich an jene Zeit zu erinnern und Tallia als das zu sehen, was sie wirklich war: ein schwacher Charakter, kleinlich, verängstigt, auf engstirnige Weise grausam - und immer bestrebt, ihren Willen zu bekommen, ohne dabei an andere Menschen zu denken. Das zerbrochene Gefäß, so hatte Hathumod sie genannt, zu zerbrechlich, um das Gewicht der Ketzerei zu bewahren, das sie mit der Autorität derjenigen beanspruchte, die bezeugt hatte. Sie hatte gelogen, was den Nagel betraf, aber wenn er jetzt an seine traurige Ehe zurückdachte, musste er zugeben, dass sie nicht gelogen hatte, was ihren »Wunsch« betraf, ihn zu heiraten. Ihr Onkel hatte sie zu dieser Heirat gezwungen. Sie hatte von Anfang an offen gesagt, dass sie jeden Tag und jede Nacht für eine keusche Ehe und ewige Jungfräulichkeit betete. Er hatte so sehr etwas anderes glauben wollen, dass er am Ende Lavastin verraten hatte. Er hatte einen Mann angelogen, den er geachtet und geliebt hatte. Nun gut. Es war geschehen und konnte nicht rückgängig gemacht werden. Staub sank um ihn herum langsam herab. Kummers Schwanz klopfte auf den Boden. Draußen wieherte ein Pferd, als wollte es ein anderes herausfordern. Hinter ihm öffnete sich knarrend eine Tür. Er fragte sich, ob er den zweiten Verrat, den Tallia bei den Minen an ihm begangen hatte, nur geträumt hatte. Jene Monate kamen ihm so zersplittert und bruchstückhaft vor, als würde er nur einzelne Fetzen kennen, die nicht wieder zu einem ganzen Wandteppich zusammengesetzt werden konnten.
258 Tallia war schwanger gewesen, und sie hatte ihrem Verwalter befohlen, ihn in das Loch zu werfen, weil sie ihn erkannt und gefürchtet hatte, dass er sie erkennen und ihr schaden würde. Welcher Verrat war schlimmer gewesen ? Dass sie versucht hatte, ihn zu töten, oder dass sie einem anderen Mann das gegeben hatte, was sie ihm verweigert hatte? Begierde ist ein Dämon, der seine Opfer verschlingt, während sie noch leben und atmen. Und dennoch. Was sie ihm verweigert hatte, hatte Adica ihm bereitwillig und mit der Süße von Wiesenblumen gegeben. Wer konnte sagen, welche Frau sich mehr achtete? Diejenige, die ihm gab, was ihr kostbar war - oder diejenige, die log, um alles für sich zu behalten? »Ich bitte um Vergebung, Herr. Verzeiht mir.« Er warf fast die Bank um, so verblüfft war er, als er die vertraute Stimme hörte. Die Hunde blieben still. Rages Schwanz klopfte einmal auf den Boden. Alma verbeugte sich unbeholfen, da ihr Rücken steif war. Er wischte sich über die Stirn und schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu vertreiben. Dann nahm er ihre Hand, während er aufstand. »Verbeug dich nicht, Alma. Bitte. Oh, da ist ja Blanche!« Das Mädchen drängte sich an ihn, umarmte ihn. »Ich muss sprechen, bevor die anderen kommen«, sagte die Köchin. »Sie lassen sie noch nicht herein. Ich bin durch den Hintereingang reingekommen.« »Setz dich bitte.« »Ich stehe lieber, Herr, das ist mit meinen schmerzenden Knochen leichter. Ich möchte nur sagen, was ich zu sagen habe, dann werde ich Euch nicht mehr belästigen.« »Also sprich.« Sie hatte einige Zähne verloren, weshalb ihre Wangen eingefallen wirkten, aber ihr Blick war immer noch fest und klug. »Ich bitte um Vergebung, Herr. Ich wollte nicht, dass Edelmann Jeoffrey Euch in Verruf bringt. Letztes Jahr habe ich ihm
56a erzählt, was ich wusste, weil er die Wahrheit von mir wissen wollte.« »Du hast nichts gesagt, was du nicht für wahr gehalten hast. Du musst dich nicht entschuldigen.«
»Trotzdem tut es mir leid. Ich hätte nie gedacht, dass er Euch so grausam behandeln würde. So würde ich ja nicht einmal einen Hund behandeln, wie er Euch angekettet und eingesperrt hat! Und das habe ich ihm auch gesagt.« »Dann hast du mir einen Dienst erwiesen, denn du hast gesprochen, als du hättest schweigen können. Es ist in Ordnung.« Er tätschelte Blanches Kopf. »Was ist mit dem Mädchen?« »Oh, mit ihr?« Der gequälte Blick verschwand. Sie lächelte breit und zupfte liebevoll am Ohr des Mädchens. »Was für ein arbeitsames kleines Wesen sie doch ist! Sie ist die ganze Zeit bei mir geblieben und hat alles gemacht, was ich von ihr verlangt habe. Sie ist gut mit dem Messer! Sehr geschickt, was man bei einem Kind in ihrem Alter nicht oft sieht. Ich kann längst nicht alle Mädchen zum Schälen und Schneiden einsetzen. Sie hat Rüben und Pastinaken gewaschen und die weichen Stellen rausgeschnitten, von denen es viele gibt, denn dies ist der Rest unserer Wintervorräte, und einige von ihnen sind fast nur noch Matsch.« Blanche errötete, verbarg ihr Gesicht halb in Alains Gewand, aber sie lächelte stolz. »Wirst du sie dann in der Küche als Hilfe behalten? Und dich um sie kümmern? Kannst du das tun?« »Für Euch, Herr? Gern. Ich schwöre Euch, dass ich für sie sorgen werde wie für meine eigene Enkelin.« »Du bleibst hier, Blanche.« »Ich möchte mit dir gehen, Onkel«, sagte sie in den Stoff hinein. »Das geht nicht.« Er musste es nur ein einziges Mal sagen. »Du bleibst hier. Sag mir, dass du das verstanden hast.« Sie sprach mit gedämpfter Stimme, während ihre Arme ihn umschlangen. »Ich bleibe bei Alma.«
259 Mehrere Soldaten betraten die Halle, bezogen beiderseits des Podestes Position. Zwei Bedienstete trugen den Stuhl des Grafen aus einem anderen Raum herein und stellten ihn vor dem Hohen Tisch ab. Hinter den Soldaten traten andere Burgund Dorfbewohner vorsichtig in die Halle, strömten herein wie das wirbelnde Wasser eines Flusses in einen Seitenarm. Ein paar kamen zu ihm geschlichen, knieten heimlich nieder und flüsterten Worte, die er bei dem ganzen Geschlurfe und Gemurmel nicht verstehen konnte. Eine Tür knallte - sie war entweder aufgerissen oder geschlossen worden. Die Versammlung beruhigte sich, als Edelmann Jeoffrey mit seiner jungen Tochter eintrat. Sie hatte ein kindliches Gesicht und war klein und schlank und humpelte deutlich, aber trotz ihrer Blässe reckte sie das Kinn, und ihr Blick war fest, als sie erst Alain und dann die versammelten Soldaten und die anderen Menschen musterte, für die sie als Gräfin von Lavas verantwortlich war. Die Hunde knurrten, aber das Geräusch war zu leise, als dass jemand außer ihm es hören konnte, höchstens vielleicht noch Blanche. Lavrentia war die Einzige, die sich setzte. Selbst ihr Vater blieb stehen. »Lasst mich Euren Schwur hören«, sagte sie mit heller, klarer Stimme. Sie hob die Hand, um ihm die Erlaubnis zu geben, näher zu treten, und Alain lächelte, als er die Geste sah, denn sie hatte etwas von Lavastins Entschlossenheit. Er löste sich von Blanche, reichte sie an Alma weiter und ging die beiden Stufen hinauf, um auf gleicher Höhe mit dem Mädchen zu stehen. Doch er trat nicht an den Stuhl heran und kniete auch nicht vor ihr nieder. Stattdessen wandte er sich der Menge zu. Die Hunde standen nebeneinander auf der ersten Stufe, und die Soldaten wichen vor ihnen zurück. »Bitte, hört zu!« Als hätte sich ein Bann über die Menge gelegt, wurden alle ruhig und lauschten. Nicht ein einziges Murmeln störte die Stille, wenngleich jemand hustete.
259 »Ich gebe diese Erklärung aus freiem Willen ab und nicht etwa, weil ich irgendwie unter Druck gesetzt worden wäre. Ich bin auf eigene Veranlassung in Begleitung von Kastellanin Dhuoda hierhergekommen. Ihr kennt mich. Ich heiße Alain. Ich bin hier auf Lavas geboren und bei Zieheltern in Osna aufgewachsen. Graf Lavastin, gesegnet sei sein Andenken, hat geglaubt, dass
ich sein unehelicher Sohn wäre, und mich zu seinem Erben ernannt. Ich habe einige Monate auf dem Stuhl des Grafen gesessen, ehe König Henry persönlich die Grafschaft in die Hände von Lavrentia gelegt hat, der Tochter von Jeoffrey. Das alles wisst ihr.« Jeoffrey war weiß und zitterte, und seltsamerweise war es seine junge Tochter, die ihre kleinen Finger auf die geballte Faust ihres Vaters legte, um ihn zu beruhigen. »Dies muss ich jetzt sagen, damit alle es hören und sich merken können, um es an andere weiterzugeben, die heute nicht hier sind. Ich bin nicht Lavastins Erbe. Ich bin nicht der rechtmäßige Graf von Lavas.« »Nein! Nein! Sagt das nicht, Herr!« »Wir werden solche Lügen nicht glauben!« »Ich wusste, dass er ein habgieriger Gauner ist.« »Was ist mit den Hunden?« »Bitte!«, sagte Alain. »Gewährt mir bitte etwas Ruhe.« Das taten sie. Irgendjemand hustete, ein paar Leute scharrten mit den Füßen, als sie sich bewegten, während andere zu murmeln anfingen, aber von zischenden Nachbarn schnell zum Schweigen gebracht wurden. Draußen auf dem Hof ertönte Hundegebell, doch auch das erstarb wieder. »Ich werde diesen Ort bei Sonnenuntergang verlassen, mit nichts weiter als dem, was ich schon vorher bei mir hatte - bis auf eines: das Versprechen von Edelmann Jeoffrey, dass seine Tochter Lavrentia als Gräfin von Lavas herrschen wird, aber beiseitetreten wird, wenn jemand mit einem Anspruch vortreten sollte, der ihren übertrifft und den ein Rat von Kirchenleuten oder Bischöfin Constanze von Autun bestätigt hat.«
260 »Ich schwöre es«, knurrte Jeoffrey. Die Hunde knurrten gemeinsam, als Antwort oder als Herausforderung. Jeoffrey wischte sich über die Stirn. Das Mädchen biss sich auf die Lippe, aber sie rührte sich nicht und zeigte auch sonst keinerlei Angst vor den furchterregenden schwarzen Hunden. Eine Feder kratzte auf Pergament, als ein Geistlicher beim Feuer einen Bericht verfasste. Alain trat vom Podest und ging zu der Bank, wo seine Sachen lagen. Er hob sie auf, pfiff die Hunde zu sich, und bevor irgendjemand etwas tun konnte, küsste er Blanche, verabschiedete sich von Alma und ging zur Tür. Er trat an den Wachen vorbei ins Freie und hatte bereits den Hof überquert, war fast schon beim Tor, als er ein Rauschen vernahm - wie ein langes Ausatmen -, als die Menschen aus der Halle nach draußen eilten, um zu sehen, wohin er ging. Sie strömten zum Tor, und einige gingen ihm zu der Öffnung im Wallgraben nach, wo er auf die nach Osten führende Straße stieß. Eine Handvoll Menschen folgte ihm weiterhin, den ganzen Weg bis zum Wald, ehe es fast dunkel war und er sich schließlich umdrehte und sie freundlich bat, umzukehren, bevor es so dunkel wurde, dass sie nichts mehr würden erkennen können. Ein Junge war dabei; er weinte und trat zu ihm, nahm seine Hand und küsste sie. »Bitte«, sagte Alain. »Weine nicht.« Meister Rodlin war dabei, ohne seine Windhunde, starrte ihn an und fragte: »Was ist mit den Hunden? Sie folgen Euch immer noch. Ist das nicht das Zeichen für das Blut von Lavas? Und wenn nicht, was ist es dann?« »Sie können nicht antworten, denn sie sprechen unsere Sprache nicht«, erwiderte Alain. »Sie haben sich vor langer Zeit entschieden, mir auf meinem Weg zu helfen. Dient dem rechtmäßigen Erben so treu wie Graf Lavastin, Meister Rodlin.« »Wann wird er kommen?«, fragte er.
260 »Wie die Hunde, kann ich darauf nicht antworten. Wenn Lavrentia die rechtmäßige Erbin ist, müsst Ihr ihr mit der gleichen Treue dienen, die Ihr Graf Lavastin erwiesen habt.« Rodlin runzelte die Stirn, nahm aber den Jungen bei der Hand und führte ihn weg. Das Anwesen war von Bäumen verborgen, und der Steinturm versank in einem Zwielicht, in dem die Farben sich mit dem matten Hintergrund vermischten.
Eine war noch da, rieb sich die Hände. »Erinnert Ihr Euch an mich?«, fragte sie. »Werdet Ihr mich verfluchen, weil ich Euch belästigt habe, als Ihr zu uns gekommen seid? Hasst Ihr mich deswegen?« Ihre Augen waren immer noch verblüffend blau, so wie vor Jahren, als er sie kennen gelernt hatte. Sie wirkte wohlgenährt, und ihr Bauch wölbte sich unter ihrem Kleid auf eine Weise, die vermuten ließ, dass sie in der Mitte einer Schwangerschaft war. »Hast du jemals den Prinzen in der Ruine getroffen?«, fragte er. Um ihre Lippen zuckte ein ergebenes Lächeln. »Habt Ihr mich angelogen in jener Nacht, als wir zur Ruine hochgegangen sind?« »Nein, das habe ich nicht. Ich habe ihn gesehen.« »Dann habt Ihr mehr gesehen als ich! Ich habe gesucht, aber nichts gesehen. Vielleicht ist das auch normal für ein Mädchen, das jung und dumm ist. Ich habe einen guten Mann geheiratet, der hart arbeitet und mich, meine jüngeren Schwestern und unser Kind ernähren kann. Es sind jetzt nur noch Schatten in der Ruine.« »Bist du seither noch einmal hingegangen?« »Ich war zur Wintersonnenwende dort, vor ein paar Monaten. Weil ich an Euch gedacht habe, um ehrlich zu sein. Weil wir Euch in dem Käfig gesehen haben. Ich habe es nicht für richtig gehalten. Herik hat es getan, und ich habe ihn dafür verflucht.« Sie machte eine Pause, wartete.
261 »Was willst du?«, fragte er. »Du hast mir kein Unrecht getan und ich dir auch nicht, denke ich.« »Ich wollte Euch nur in der Dämmerung sehen«, sagte sie. »Um herauszufinden, ob Ihr in den Schatten so ausseht, wie der Prinz ausgesehen haben soll. Um zu sehen, ob Ihr sein uneheliches Kind seid, wie einige flüstern. Schattengeboren. Dämonenbrut.« »Glaubst du das?« Sie verwirrte ihn. Sie war sauberer und hübscher als damals und auch gepflegter - sowohl ihre Kleidung als auch ihr Benehmen. Und sie war zwar nicht gerade freundlich, aber auch nicht verächtlich. »Ihr seid nicht, was Ihr zu sein scheint«, sagte sie und wandte sich ab. Sie machte drei Schritte, ehe sie sich noch einmal umdrehte und ihn ansah. »Es war nichts in dieser Ruine, nicht einmal Schatten waren da, denn es hat kein Mond geschienen. Aber wenn Ihr das Weinen von Geistern hören wollt, geht nach Ravnholt.« Das kalte Wetter und die Wolkendecke hatten verhindert, dass der verlassene Pfad, der nach Ravnholt führte, übermäßig zugewachsen war, und auch die paar heruntergefallenen Zweige und die dicke Laubschicht machten ihn kaum weniger begehbar. Gegen Mittag des zweiten Tages nach seinem Aufbruch von Lavas stieß Alain auf die Lichtung. Er fand acht Gräber neben einer Kapelle, die gerade groß genug war, um neben dem kleinen Herdfeuer ein halbes Dutzend Betende aufzunehmen. Aus der Ferne sahen die Gräber frisch aus, aber das lag nur daran, dass so wenig Unkraut auf ihnen gewachsen war. Erst als er näher kam, sah Alain, dass die Erde sich gesetzt hatte und hart geworden war. An der Ecke eines Grabhügels befand sich eine Rehspur, die an den Rändern bröckelte. Eine Ratte huschte in das zerfallene Haupthaus davon, ihr Schwanz verschwand in einem Loch zwischen den Trümmern. Ansonsten war es still. Nein. Da. Er hörte einen schwachen Schrei, und als er aufsah, bemerkte er das in die Länge gezogene »V« eines nach Nor
261 den fliegenden Gänseschwarms. Es konnten nicht mehr als ein Dutzend sein. Er führte eine Hand zum Gesicht, spürte Freudentränen aufsteigen und lächelte. Rage und Kummer schnüffelten in den zerfallenen Gebäuden. Es gab eine Webscheune, einen Abort, zwei niedrige Vorratshütten und drei Bauernhäuser. Der Kuhstall war nicht abgebrannt, aber das strohgedeckte Dach war eingestürzt. Alain stocherte mit seinem Stab in den Trümmern des Langhauses herum, aber er fand nichts, abgesehen von zerbrochenen Schüsseln, zwei halb zerfressenen Körben und den Überresten zweier Strohbetten, die auf dem aschebedeckten Boden zerfielen. Ein Zweig knackte.
»Was wollt Ihr?«, fragte eine Stimme vom Wald her. Sie kam Alain vertraut vor, aber er konnte sie nicht einordnen. »Ich suche nur nach den vier Frauen, die hier gelebt haben und von Räubern verschleppt wurden.« Er spürte einen Atemzug, einen Luftzug, und warf sich auf den Boden. Ein Pfeil zischte über seinen Kopf hinweg und bohrte sich mit einem dumpfen Geräusch in den verkohlten Pfosten hinter ihm. Die Hunde rannten laut bellend in den Wald. Als Alain sich wieder aufgerappelt hatte, hörte er einen Mann entsetzt schreien. »Nein! Nein! Ruft sie zurück! Bitte! Was immer Ihr wollt, ruft sie zurück!« Alain eilte durch das Gebüsch und fand einen Mann, der auf dem Boden lag; Kummer stand über ihm. Sein rechtes Handgelenk blutete, wo Rage ihn gebissen hatte. Ein Eichenbogen und ein Pfeil lagen neben ihm. Der Mann zuckte, stöhnte und jammerte, während Kummer seine Kehle anstupste. Eine zerrissene Wolltunika bedeckte seinen Oberkörper. Sie war mit den übergroßen Stichen zusammengenäht worden, die von einer ungeübten Hand zeugten. Seine Hände waren rot vor Kälte. Er war barfuß; die Füße waren rissig und voller Schwielen. Der große Zeh des rechten Fußes war geschwollen, aufgeplatzt, und Eiter und Blut traten aus.
262 Alain hob den Pfeil auf und zerbrach ihn über seinem Knie, dann hängte er die Sehne aus und band den Bogen an sein Bündel. »Gnade! Gnade! Es war meine Sünde! Ich bin der Schuldige!« »Kummer! Sitz!« Kummer setzte sich auf den linken Arm des Mannes und hielt ihn am Boden fest; er knurrte, und Speichel tropfte von seiner Schnauze, während Alain vortrat und dem Mann ins Gesicht sah. »Ich kenne dich. Du bist Herik. Du warst vor sieben oder acht Jahren Soldat auf Lavas.« Der Mann musste sich benässt haben, denn plötzlich stank es beißend nach Urin. »Es tut mir leid! Es tut mir leid! Bitte, vergebt mir!« »Dass du mich gerade töten wolltest?« Herik quasselte weiter. »Es war meine Sünde! Meine!« Alain erinnerte sich - obwohl die Erinnerung mit leichtem Kopfweh einherging. »Du warst derjenige, der mich in den Käfig gesteckt hat.« »Tötet mich nicht! Tötet mich nicht!« »Was ist mit der Belohnung, die du dafür erhalten hast, dass du mich zu Jeoffrey gebracht hast? Sicher hat er dir etwas dafür gegeben ? Wie kommt es, dass du dich nach all dem hier im Wald versteckst und solche Fetzen trägst?« »Sie dürfen mir nicht die Hand abschlagen! Ich habe nichts gestohlen!« »Nur meine Freiheit.« Herik schrie, und sein Bein zuckte, aber Rage leckte nur an dem geschwollenen Zeh. »Ich musste es tun! Ihr wart ein Gesetzloser! Ein Dieb, der schlimmste von allen! Ihr habt Euch genommen, was Euch nicht gehört hat! Alle haben das gesagt!« »Dreh dich auf den Bauch.« »Das Tier wird mich beißen!« Aber er tat es dennoch, zog
262 seinen Arm unter Kummer weg, während der Hund Alain erwartungsvoll ansah. Herik war einmal ein großer Mann gewesen, aber der Hunger hatte ihn verändert. Seine Tunika hatte keinen Gürtel, und ein grobes Band aus Schilf band seine widerspenstigen Haare zurück. Dieser Mann hatte ihn verraten. Aber Alain spürte in sich keine Empörung gegenüber dieser erbärmlichen Kreatur, die keine Schuhe hatte, keine Handschuhe und nur zwei Pfeile - von denen einer jetzt zerbrochen war -, um sich etwas zum Essen zu schießen. Der Mann hatte nicht einmal ein Messer. »Was tust du hier auf Ravnholt?« »Ich habe gehört, dass es hier Wild und Ratten gibt«, sagte Herik. Er hatte den Kopf zur Seite gewandt, um beim Sprechen nicht an der Erde zu ersticken. »Ich habe Hunger.«
»Weißt du, was mit den vier Frauen geschehen ist?« »Nein.« »Ach.« Jahrhunderte zuvor, nach dem Maß, mit dem die Menschheit die Zeit berechnete, war Alain von einer blinden Schlange gebissen worden, die im Bau eines Phönix gelegen hatte. Die Folgen dieses Bisses kreisten immer noch in seinem Blut, und wo das Gift brannte, brannte es voller Wut. »Du lügst, Herik. Ich bitte dich, lüge nicht. Gott wissen die Wahrheit. Wie kannst du sie vor Ihnen verbergen?« »Ich habe niemanden getötet! Das waren die anderen. Sie sind schuldig! Auch hier, auf Ravnholt. Ich habe nur Wache gestanden, ich habe nie jemandem Schaden zugefügt! Nachdem Ihr dem Käfig entkommen seid, nach dem Sturm und diesem Ungeheuer - oh Gott! Damals haben sich alle, die vorher so freundlich zu mir gewesen sind, gegen mich gewandt und mich verjagt! Was konnte ich tun? Diese Waldleute - so nennen sie sich - sind nicht sehr wählerisch!« »Obwohl ein ehrlicher Waldmann etwas dagegen haben könnte, dass ein Haufen von Räubern diesen ehrlichen Namen benutzt.«
263 »Wir hatten Hunger, genau wie die anderen. Wir haben nur dafür gesorgt, dass wir etwas zu essen bekommen haben.« »Indem ihr die Leute von Ravnholt umgebracht habt? Wohin sind die vier Mädchen gebracht worden?« Herik schluchzte hilflos in die Erde. Seine Nase lief. Er stank vor Angst. »Ich bin weggegangen, nachdem sie es getan haben. Ich bin nicht schuldig. Ich habe es nicht getan!« »Nachdem sie was getan haben?« »Sie getötet haben! Nachdem sie sie vergewaltigt und getötet haben. Sie haben gesagt, sie könnten versuchen wegzulaufen. Ich habe gesagt, dass sie sie verschonen sollen. Aber das wollten sie nicht.« »Und du hast keines der Mädchen angerührt?« »Ich habe sie nicht getötet!« »Aber du hast sie vergewaltigt! Ist das nicht schlimm genug? Und du hast daneben gestanden und sie sterben lassen! Befleckt das deine Hände nicht mit ihrem Blut? Wer nicht handelt, um Unschuldige zu retten, ist ebenso schuldig wie derjenige, dessen Hand den Schlag führt!« Diese Worte veranlassten Herik, sich auf der Erde zu winden, als hätte er einen Anfall. »Dreh dich um und setz dich auf.« Herik hörte auf zu schluchzen und drehte sich vorsichtig auf den Rücken, dann setzte er sich auf und strich sich Laub, Erde und Zweige von den Lumpen. Er sah zuerst Rage an, die wieder an seinem entzündeten Zeh lecken wollte, dann Kummer, der mit weit geöffneter Schnauze gähnte und seine Zähne zeigte. Alain musste ein paar Mal tief durchatmen, um seine Wut im Zaum zu halten. »Ich glaube, dass du die Wahrheit sagst, was diese vier Mädchen betrifft, aber ich möchte ihre Gräber sehen.« »Es gibt keine Gräber! Die anderen haben ihnen die Kehlen durchtrennt und sie in das Gebüsch geworfen, das ist alles!« »Dann wirst du ihre Leichen begraben. Führe mich zu ihnen.«
263 »Nein! Es ist in der Nähe des Schlupfwinkels. Wir werden getötet werden, wir beide. Zwanzig von ihnen gegen uns zwei. Ich habe keine Waffe mehr, seit Ihr sie mir weggenommen habt... es sei denn, Ihr wollt mir meinen Bogen zurückgeben.« »Nein, das will ich nicht. Los, komm.« »Wir gehen nicht dorthin, oder?« Seine Stimme wurde vor Angst schrill. »Ich will nicht sterben.« »Wollten diese Mädchen sterben? Haben sie geweint und gefleht, Herik? Hast du ihre Bitten gehört, während du daneben gestanden und zugesehen hast?« »Ich habe mich umgedreht!«, sagte er entrüstet. »Ich bin kein Ungeheuer, das zusieht, wie jemand umgebracht wird!«
»Wenn das Umdrehen nicht bereits die Tat eines Ungeheuers ist, was ist es dann?« Alain machte eine Geste mit der Hand. Die Hunde wedelten mit den Schwänzen, warteten auf seinen Befehl. »Wohin gehen wir?« »Nach Lavas.« »Nein, nicht dorthin, bitte! Sie werden mich hängen! Sie werden mir erst die Hände abhacken und dann den Kopf!« »Wenn du nicht schuldig bist, wieso fürchtest du dann ihre Gerechtigkeit?« Herik spuckte auf den Boden. Rage knurrte. »Seid Ihr so weise?«, schnaubte er höhnisch. »Welche Gerechtigkeit gibt es dort wohl für einen Mann wie mich? Ich habe dem alten Grafen treu gedient, und was habe ich für meinen guten Dienst bekommen? Ich bin von dem neuen Herrn ohne ein Wort des Dankes hinausgeworfen worden! Ein alter Jagdhund wird besser behandelt, als sie mich behandelt haben! Edelmann Jeoffrey wird mich hängen lassen, schon um nicht noch einen Esser mehr zu haben. Er war glücklich damit, mir Stiefel und Kleidung und eine Handvoll Skeattas zu geben, als ich Euch zu ihm gebracht habe, so dass er Euch überall in der Grafschaft zur Schau stellen konnte! Weil er dachte, dass die Leute dann aufhören würden zu flüstern! Und danach -« Er 264 spuckte erneut aus. »Nach dem Sturm, nachdem Ihr entkommen seid, haben diejenigen, die am meisten gejubelt haben, als sie Euch so wahnsinnig und angekettet gesehen haben, mich geschlagen und angespuckt und als bösen Mann bezeichnet. Weil sie fürchteten, dass Gott den Sturm geschickt hatten, um Euch zu befreien. Wieso sollte ich ihre Gerechtigkeit nicht fürchten? Sie werden froh sein, mich hängen zu sehen, um die Schande von ihren eigenen sündigen Herzen zu nehmen.« »Ich werde dafür sorgen, dass dir Gerechtigkeit widerfährt.« Herik lachte hysterisch. »Wie könnt Ihr das tun? Wie? Wer seid Ihr? Woher kommt Ihr? Was ist mit dem Wahnsinn passiert, der an Euch gezehrt hat?« Alain stellte fest, dass noch immer Groll in seinem Herzen war. »Es ist ein bisschen spät, solche Fragen zu stellen, nicht wahr?«, sagte er mit einem verbitterten Grinsen. Dann drehte er sich um und ging davon. Es raschelte - und dann waren ein dumpfes Geräusch und ein Schmerzensschrei zu hören. Alain drehte sich um und sah Kummer wieder auf Heriks Brust sitzen. Mit einem Knurren öffnete der Hund die Schnauze und schloss die Kiefer sanft direkt über Heriks Gesicht. »Komm«, sagte Alain energisch. Kummer wich zurück, kratzte sich an einem Ohr, als wüsste er nicht, wofür sie da waren, und folgte Alain. Schluchzend stand Herik auf und humpelte hinter ihnen her. Rage bildete den Abschluss. »Einer ist immer wach«, sagte Alain. »Der eine oder der andere.« »Ich komme! Ich komme!« Herik stolperte vorwärts wie jemand, der seinem Tod entgegenging. Und so musste es ihm auch vorkommen, dachte Alain. Es mochte sogar wahr sein. Doch wie wenig Gnade Herik aufgrund seiner Feigheit und der Vergewaltigungen auch verdiente, er durfte letztendlich nur für die Sünden verurteilt werden, die er begangen hatte. Er durfte nicht zu einem Opfer für die 264 jenigen werden, die sich mit dem Blut eines anderen von ihrer eigenen Schande reinwaschen wollten. Sie gingen schweigend, und nur das Säuseln des Windes, der durch die Zweige wehte, die noch immer bar jeder Knospe waren, durchbrach die Stille. Abgesehen von den Stellen, an denen Immergrün wuchs, konnte man immer wieder in den Wald hineinsehen, der ein Ort gedämpfter Farben und durchdringender Einsamkeit war. Sie kamen an einer alten Kohlengrube vorbei, die zwei oder drei Jahreszeiten nicht benutzt worden war. Blätter und Erde bildeten feuchte Haufen, und ein halb verbranntes Stück Holz war von Reben überwuchert. Eine Lichtung bei einem Fluss war von Menschenhänden in einen kleinen Obstgarten mit einem Dutzend Bäumen verwandelt
worden. Weiter vorn gab es eine breite Wiese mit einem robusten Unterschlupf für eine Schafherde. »Dies war einmal ein friedlicher Ort«, sagte Alain. »Gepflegt und geliebt.« »Möglicherweise«, murmelte Herik. »Aber sie haben sich dennoch ein Mädchen aus Salia gehalten, das dem Sohn des Verwalters in jeder Hinsicht gedient hat.« »Woher weißt du das?« »Sie konnte sich befreien und ist zu den Räubern gekommen, deshalb. Sie hat den Plan ausgeheckt und das Signal gegeben. Sie kannte die Abläufe und die Zeiten des Haushalts, deshalb. Die anderen sagten, dass sie denjenigen selbst getötet hat, der sie missbraucht hat, aber das habe ich nicht gesehen.« »Hat sie keine Einwände erhoben, als die vier Mädchen auf die gleiche brutale Weise behandelt wurden wie sie? Sogar noch schlimmer, da sie danach ja getötet wurden?« »Was hätte sie es kümmern sollen? Sie wollte Rache, und sie hat ihre Rache bekommen. Sie hat am lautesten davon gesprochen, dass sie nur stören würden und weg sollten. Ich vermute, dass sie eifersüchtig war. Sie hat die Männer gerne an der Leine gehalten, wenn Ihr wisst, was ich meine. Dieses Mädchen aus Lavas, Witti, die ich gemocht habe, hat das auch mit 265 mir gemacht, verflucht sei sie. Und dann ist sie zu jemandem gegangen, der sie ernähren konnte.« Seine Stimme war voller Selbstmitleid. »Das salianische Mädchen hat auch gesagt, dass die anderen Mädchen ihr mit Worten und Schlägen zugesetzt hätten, als sie noch als Konkubine gehalten wurde. So war es also eine doppelte Rache.« »Könnte sie gelogen haben?« »Inwiefern? Dass sie jede Nacht mit jemandem ins Bett gegangen ist, den sie gehasst hat? Dass die anderen Mädchen sie geschlagen und als salianische Hure beschimpft haben? Woher soll ich das wissen?« Alain marschierte weiter; er konnte nicht sprechen, da Bitterkeit ihm die Kehle zuschnürte. Es schien, dass die Ungerechtigkeit in unerklärlichen Mustern in die Welt eingewoben war, so dass es unmöglich war, sie zu zerreißen, ohne das ganze Netz zu entwirren. »Es scheint so, als wären Gott blind, taub und stumm«, sprach Herik weiter, dessen Klagesegel nun von gutem Wind gefüllt wurden. »Aber ich habe eine Geschichte über den Phönix gehört. Kennt Ihr sie? Es heißt, dass ein Phönix vom Himmel herabgestiegen wäre und dem heiligen Daisan das Herz herausgerissen hätte, um ihn so leiden zu lassen wie uns Übrige. Ich frage mich, ob das wahr ist.« »Ich glaube, dass diese Geschichte beim Erzählen verzerrt wurde.« »Oh. >Die Wahrheit fliegt mit dem Phönix.< Das hat eins von den Mädchen gerufen, als sie ihr die Kehle durchgeschnitten haben. Nun, sie ist auf jeden Fall geflogen, entweder direkt zum Licht oder in den Abgrund.« »Spotte nicht!« Rage bellte, und Kummer knurrte. Herik verlegte sich auf ein mürrisches Gemurmel, das nicht laut genug war, um es verstehen zu können. Sie gingen weiter, und schon bald drangen andere leise Geräusche an Alains Ohren. Er hob die Hand und blieb auf dem 265 Pfad stehen, an einer Stelle, wo er eine Biegung nach links machte. Er erkannte sie wieder, denn er war erst heute Morgen hier vorbeigekommen. Nach etwa vierzig Schritten würden sie auf die Hauptstraße stoßen. Während sie lauschten, hörten sie die Geräusche einer Truppe von Berittenen, die sich den bislang noch nicht sichtbaren Pfad entlang bewegten: klirrendes Geschirr, knirschende Räder, Stimmen und Hundegebell. Kummer jaulte, antwortete aber nicht. Herik wimmerte. Alain drehte sich um und sah, dass Rage den Mann an den Beinen festhielt. Er hatte offenbar versucht, den Weg zurückzuschleichen, den sie gekommen waren. »Das ist eine große Gruppe«, jammerte er. »Hört nur! Mindestens hundert Leute. Edelmann Jeoffrey, der in den Krieg zieht. Vielleicht ist er gekommen, um Euch töten zu lassen!«
Alain schüttelte den Kopf. »Sie reiten nicht von Lavas weg, sondern dorthin.« Er drehte sich zu den Hunden um. »Rage. Kummer. Bleibt. Wacht.« Er bahnte sich einen Weg über herabgefallene Zweige hinweg, die hier viel zahlreicher auf dem Boden lagen, als hätten die Räuber ihre Spuren verwischen wollen. Schon bald hörte er die Geräusche deutlicher, aber es war auch das Kichern von Kindern zu hören und - völlig unerwartet - ein Teil einer Hymne, gesungen von einer Stimme, die er schon einmal gehört hatte, aber nicht recht einordnen konnte. »... die einen Weg zum Meer schufen Und einen Pfad durch das machtvolle Gewässer.« Er kam zur letzten Biegung, wo der Pfad um eine riesige Eiche herumführte, die als Grenzmarke diente. Er erinnerte sich aus früheren Jahren an sie. Der Herbststurm hatte sie halb aus dem Boden gerissen. Ihr riesiger Stamm war in westliche Richtung gefallen, und die Wurzeln ragten wie Dolche auf den Weg hinaus. Er versteckte sich hinter ihnen, musterte von dort aus die Straße.
266 Soldaten ritten zu zweit nebeneinander oder marschierten in Viererreihen. Zwischen ihnen rollten Wagen und Karren mit Haushaltsgegenständen und Kindern, Alten und Hühnerkäfigen. Junge, kräftig wirkende Frauen gingen neben ihnen her, trugen fast alle ein oder zwei Bündel. Zwei Geistliche marschierten neben einem Wagen, auf dem sich einige schöne Kisten befanden. Er sah Hathumod! Sie saß auf einem Wagen bei einer weißhaarigen Frau, die auf Kissen gebettet war, und einer weiteren älteren Frau in den Gewändern einer Geistlichen. Letztere wandte Alain den Rücken zu, aber den Bewegungen ihrer Schultern und Hände zufolge sprach sie auf lebhafte Weise, während die anderen ihr lauschten. Die weißhaarige Frau lächelte mit geduldigem Interesse, obwohl sich Schmerz in ihr Gesicht gegraben hatte. In Hathumods Miene stand kaum verhohlene Langeweile. Der Wagen fuhr vorbei und war kaum hinter den Bäumen außer Sicht, als Alain begriff, wen er da gerade gesehen hatte. Und wohin sie offenbar unterwegs war: Bis Lavas war es eine Reise von drei Tagen in westlicher Richtung, und nicht eine einzige Kreuzung querte die Straße vor der Burg. Schon bald würde es dunkel werden. Die Gruppe musste ein Lager für die Nacht aufschlagen, höchstwahrscheinlich auf der Straße. Die Soldaten musterten den Wald, als rechneten sie mit einem Angriff, aber die umgestürzte Eiche verbarg ihn, weil er sich nicht bewegte. Was war das für eine seltsame Gruppe? Der Tross wirkte nicht wie die königliche Rundreise einer Edelfrau, sondern eher, als wäre ein ganzes Dorf unterwegs. Auch als die letzten Reihen der Fußsoldaten verschwunden waren, blieb er noch in seinem Versteck, und tatsächlich kamen schließlich drei Berittene vorbei. Er wartete weiterhin, ließ noch einmal zwei Männer vorbeireiten, die die Zügel locker in der Hand hielten. Ihre Blicke waren scharf und durchdringend, und der eine hatte einen Bogen auf den Oberschenkeln liegen, der andere ein Schwert. 266 Und einer von diesen beiden sah ihn schließlich, obwohl Alain genau das hatte vermeiden wollen. »Sssst!« Der junge Mann riss den Kopf herum. Ehe Alain auch nur zum zweiten Mal Luft holen konnte, zielte er mit einem angelegten Pfeil auf ihn, hielt das Pferd mit den Knien ruhig. Der andere Mann wendete sein Pferd und sah mit erhobenem Schwert in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. »Ich komme raus«, sagte Alain mit ruhiger Stimme. »Ich habe auf Euch gewartet. Was will Bischof in Constanze hier? Ich dachte, sie wäre eine Gefangene von Edelfrau Sabella in Autun.« »Kommt raus«, sagte der Bogenschütze. »Was glaubt Ihr, Hauptmann? Sind da noch mehr? Sollen wir ihn töten?« Das Pferd des anderen Mannes machte einen Schritt zur Seite. »Lass ihn herkommen, aber er soll sich langsam bewegen. Finden wir erst mal raus, was er weiß. Es ist besser, die Schlacht früher zu schlagen, wenn wir bereit dafür sind, als später, wenn wir es nicht sind.« Alain hielt die Hände hoch und trat auf die Straße.
Der Hauptmann kniff die Augen zusammen und beäugte ihn. »Ich habe Euch schon einmal gesehen.« »Gent!«, sagte der jüngere Soldat. »In Graf Lavastins Kompanie. War er nicht -?« Der Hauptmann stieß zischend die Luft aus. »Ihr seid Lavastins Erbe - ja, genau. Euer Anspruch ist zugunsten von Edelmann Jeoffreys Tochter abgewiesen worden.« Er reckte drohend das Schwert. »Was führt Euch hierher? Ich habe gehört, Ihr wärt als Löwe nach Osten marschiert.« »Das stimmt. Jetzt bin ich zurückgekehrt.« »Um Edelmann Jeoffrey herauszufordern?« »Nein. Ich habe ein anderes Ziel.« »Und was könnte das für eins sein?«, fragte der Hauptmann mit freundlicher Stimme, die dennoch keinen Zweifel daran ließ, dass er eine Erklärung verlangte.
267 In diesem Wald drangen die Geräusche weit. Der Tross war in Richtung Westen verschwunden. Nun, da die Nacht bald hereinbrechen würde, ließ der Wind nach. Aus östlicher Richtung erklang deutlich das Klirren von Waffen und Zaumzeug. »Verdammt«, sagte der Hauptmann. Sie hatten es alle gehört. »Wie ich es befürchtet habe.« »Was sollen wir tun, Hauptmann?«, fragte der junge Mann. Er wirkte äußerst unruhig, aber auch entschlossen und wütend. »Wenn sie uns kriegen ...« »Wer folgt Euch?«, fragte Alain. »Edelfrau Sabellas Soldaten«, antwortete der Hauptmann. »Wenn ich sie zur Umkehr bewegen kann«, sagte Alain, »bringt Ihr mich dann zu Bischöfin Constanze? Ich möchte nur kurz mit ihr sprechen. Dann mache ich mich wieder auf den Weg.« »Sie zur Umkehr bewegen!«, spottete der junge Mann. »Still, Erkanwulf! Die Bischöfin muss unbedingt nach Lavas gelangen. Reite voraus und warne die Übrigen. Die Soldaten sollen sich hinten und an den Flanken aufstellen, auch ein Stück in den Wald hinein. Ich bleibe hier.« »Nein, Hauptmann. Ich bitte um Entschuldigung, Hauptmann. Sie brauchen Euch und nicht mich. Ich kann hier warten und nachkommen. Und wenn ich nicht komme, bin ich tot.« Der Hauptmann überlegte. Er war ein nachdenklicher Mann, wie Alain sah, nicht zu eifrig, aber auch nicht zu vorsichtig, ein guter Befehlshaber. Sein Gesicht kam ihm vage bekannt vor, aber wenn er diesen Mann in Gent gesehen hatte -was er nicht bezweifelte -, war es allenfalls flüchtig gewesen. Viele Männer ritten in den Kriegstrupps der Edelleute. Ein Edelmann mochte Gesichter sehen und weiterziehen, ohne sie sich zu merken, weil sie nicht zu seinen Untergebenen gehörten. Der Hauptmann nickte bedauernd. »So sei es.« Er richtete 267 den Blick auf Alain, musterte ihn noch einmal. »Wenn Erkanwulf mir die Nachricht bringt, dass diejenigen, die uns folgen, umgekehrt sind, werde ich dafür sorgen, dass Ihr eine Audienz bei der Bischof in erhaltet.« Er schob sein Schwert zurück in die Scheide, sah Erkanwulf eindringlich an und ritt davon. Er blickte sich noch zweimal um, ehe er hinter der nächsten Biegung verschwand. »Ich mache das am besten allein«, sagte Alain. »Eher sterbe ich, als dass ich meinen Hauptmann verrate!« »Wenn Ihr das Pferd den Pfad entlangführt, könnt Ihr es festbinden und zusehen, ohne gesehen zu werden.« »Und ohne etwas zu hören! Ihr könnt ihnen alles erzählen, könnt die Aufstellung unserer Streitkräfte verraten, die Größe unserer Gruppe, unser Ziel, wenn sie das nicht bereits erraten haben. Möglicherweise seid Ihr ja ein Spion, der mit Edelfrau Sabella gemeinsame Sache macht!« »Möglicherweise, aber so ist es nicht.« Erkanwulf kratzte sich am Kopf. »Ich neige dazu, Euch zu glauben, obwohl ich nicht weiß, warum. Wie wollt Ihr sie aufhalten?« Ein zweites Mal erklangen Geräusche, dieses Mal näher. Und sie hörten nicht mehr auf, wurden stattdessen ständig lauter.
»Geht«, sagte Alain. Erkanwulf zögerte nur einen Augenblick, dann biss er sich auf die Lippe und stieg ab, führte sein Pferd den Weg entlang, der nach Ravnholt führte. Alain stellte sich mitten auf die Straße; in der einen Hand hielt er seinen Stab, während er die andere locker herabhängen ließ. Er atmete die nach Lehm riechende Luft ein. Die festgetretene Straße gab unter seinem rechten Fuß etwas nach; ein kleines Rinnsal floss dort und machte das Leder seiner Stiefel feucht, drang durch die Nähte. Eine Fliege summte an seinem linken Ohr. Eine Biene schwebte in den Schatten eines Gestrüpps aus verwelktem Geißblatt, das am Straßenrand wuchs.
268 Er wartete, zufrieden damit, die Zeit verstreichen zu lassen. Er spürte das schwache Schimmern der Sonne über sich, wie einen Kuss durch ein Stück Stoff hindurch. Wenn das Wetter sich nicht änderte, würde das Korn gar nicht wachsen oder nur schlecht. Der Gedanke blieb bei ihm hängen und gab ihm Mut. Schließlich tauchten im Osten die ersten Vorreiter als langgezogene Schatten auf der Straße auf, die an dieser Stelle ziemlich lange fast gerade war, so dass er den größten Teil der Kompanie sehen konnte. Knapp sechzig Soldaten kamen auf ihn zu. Die Hälfte von ihnen war beritten, trug Überwürfe mit dem Wappen des Guivre von Arconia. Ein Dutzend der Fußsoldaten führte ein Wappen mit einem Turm, das er nicht kannte. Die Übrigen trugen irgendeinen Lederumhang oder eine feste Jacke; Männer, die rasch in Dienst genommen worden waren, um eine besondere Aufgabe zu erfüllen, die aber nicht auf Dauer als Soldaten des Herzogs Dienst taten. Ihr Hauptmann ritt in der dritten Reihe hinter besorgt drein-blickenden jüngeren Männern, die kleine Schilde und Kurzspeere in den Händen hielten. Er war ein furchterregender Mann, grimmig vor Wut und mit schrecklichen Narben. Ein Auge fehlte, war nur noch ein Klumpen aus weißem Narbengewebe. Auf seiner Stirn und an seinem Kinn waren die Spuren alter Verletzungen zu sehen. Hin und wieder hob ein Mann in der ersten Reihe den Arm und deutete auf etwas, das davon zeugte, dass hier vor kurzem eine nicht ganz kleine Gruppe durchgekommen war. Sie wussten, wem sie folgten. Sie hatten Alain bereits gesehen und schickten jetzt Kundschafter ins Gebüsch, um nicht in einen Hinterhalt zu geraten. Schwerter glitten zischend aus Scheiden. Schilde wurden gehoben, Speere geschwenkt. Einige Männer hatten Bögen, und die legten jetzt Pfeile an die Sehnen und suchten den Wald nach Bewegungen ab. »Tammus!«, rief Alain. »Hüter!« Der Hauptmann zuckte zusammen, und die Männer um ihn herum murmelten. Langsam näherten sie sich Alain, als würden sie auf eine Falle zugehen, die bald zuschnappen musste.
58i »Ich bin allein, abgesehen von einem Zeugen, der sich zwischen den Bäumen verbirgt«, sprach Alain weiter, »und zwei Hunden ein Stück weiter weg, die einen Verbrecher bewachen, der mit Räubern gemeinsame Sache gemacht hat.« »Das soll glauben, wer mag«, sagte der Hauptmann. »Woher kennt Ihr meinen Namen? Gehört Ihr zu den Männern der Bischöfin?« »Nein, das tue ich nicht.« »Welchem Herrn oder welcher Herrin schuldet Ihr dann die Treue?« »Ich diene Gott, Hauptmann Tammus. Wem dient Ihr, Gott oder dem Feind?« Sie murmelten verärgert, wie durch Rauch aufgescheuchte Bienen, und ein voreiliger Soldat löste sich aus der ersten Reihe und schwang sein Schwert. »Zurück!«, bellte der Hauptmann. Der Mann gehorchte. Die Übrigen blieben eine knappe Speerwurflänge von Alain entfernt stehen. Ein Zweig knackte im Wald. »Was wollt Ihr?«, fragte der Hauptmann. »Ich habe keine Zeit. Wir sind dicht an unserer Beute, und Ihr steht uns im Weg.«
Alain war nah genug, um erkennen zu können, dass Tammus' Auge zu flackern begann, als es seinem festen Blick begegnete. Der Hauptmann hatte nur eine Hand. Der andere Arm endete in einem ausgebrannten Stumpf am Handgelenk. »Um an mir vorbeizugejangen, müsst Ihr mich töten, Hüter.« Einer der Soldaten kicherte. »Still! Wieso nennt Ihr mich so? Woher kennt Ihr meinen Namen?« »Ihr habt das Guivre für Edelfrau Sabella gehalten. Ich habe gesehen, wie Ihr ihm einmal einen lebenden Mann zum Fressen gegeben habt. So habt Ihr es am Leben erhalten. Ich glaube, Ihr habt Euch damals noch anders genannt.« Tammus' Blick flackerte erneut, als er ihn von Alain löste
269 und prüfend über seine Soldaten schweifen ließ. Die Soldaten sahen einander an; Hände bewegten sich in einer Zeichensprache, Gemurmel wanderte die Reihen entlang nach hinten. »Still!«, sagte der Hüter. »Ich bin Edelfrau Sabellas Diener. Ich tue, was sie mir aufträgt. Ihr steht mir im Weg. Wir werden Euch niederreiten. Ihr habt keine Waffe.« Alain fing seinen Blick wieder ein und hielt ihn herausfordernd fest. »Ihr müsst mich mit eigener Hand töten«, sagte er, »oder Ihr müsst einem Eurer Männer mit eigenen Worten den Befehl geben, mich zu töten, weil Ihr Euch weigert, mein Blut mit Eurer Waffe zu vergießen. Wie auch immer, Eure Hand wird befleckt sein.« »Ich bin der Diener der Edelfrau«, knurrte Tammus. »Ich tue, was sie mir befiehlt.« Er konnte jetzt nicht wegsehen, ohne das Gesicht zu verlieren, nicht angesichts der Tatsache, dass sämtliche Männer seiner Kompanie zusahen. Alain sagte nichts, hielt nur seinen Blick fest mit dem des Hauptmanns verschränkt. Er erinnerte sich an die Nacht, als er über den Käfig des Guivre gestolpert war, der mit Zeltstoff verhangen gewesen war, um das Ungeheuer darin zu verbergen. Er erinnerte sich an den schlaffen Körper des betäubten Mannes, der zu spät aufgewacht war, um das Schicksal zu erkennen, das ihn verschlingen würde. Er wusste in seinem Herzen und in seinen Gliedern, wie es war, vom Blick des Guivre berührt zu werden, der wie das Schwert Gottes traf, denn er hatte ihn in jener Nacht gespürt. So lehrten die Kreaturen Gottes die Menschen, was sie wissen mussten. »Ich habe viele Männer auf schlimmere Weise getötet, als sie auf der Straße niederzustrecken«, murmelte Tammus heiser. »Ich weiß«, sagte Alain, erinnerte sich an das große Auge und seine Macht. »Denn ich bin derjenige, der Bruder Agius bei Kessal dabei geholfen hat, das arme Tier zu töten. Mit einem Schwert habe ich es getötet, und Edelfrau Sabellas Heer ist in die Flucht geschlagen worden. Glaubt Ihr wirklich, Ihr könntet mich töten?«
269 Ein Atemzug war das einzige Zeichen; Lippen öffneten sich. Wind bewegte kahle Zweige. Tammus verlor die Nerven. Alle Männer dort fühlten es, wussten es mit dem gleichen Instinkt, mit dem Hunde eine Schwäche erkannten. Es dauerte nur einen Atemzug, um den Vorteil zu verlagern, um die Schlacht zu verlieren. Alain rührte sich nicht. Sie waren es, die den Weg zurückflohen, den sie gekommen waren.
4 »Euer Gnaden.« Alain kniete an der Stelle, die Hauptmann Ulric ihm gezeigt hatte. »Ich weiß nicht, wie er es getan hat!«, sagte Erkanwulf neben ihm. Seine zunehmende Aufregung ließ seine Stimme lauter werden. »Er hat sie einfach nur angesehen. Sie haben sich umgedreht und sind weggelaufen. Das war, noch bevor ich diese riesigen schwarzen Hunde gesehen habe!« »Ich weiß, wer Ihr seid oder einst gewesen seid.« Bischöfin Constanze war furchtbar alt geworden. Ihr Gesicht war ebenso sehr von Falten gezeichnet wie Tammus' von Narben, und sie schonte die linke Seite, als würde es schon schmerzen, die Hüfte zu verlagern. Aber ihr Blick war ruhig und ihre Stimme sanft. »Abgesehen von dem, was ich selbst bezeugt und erfahren habe, als ich über
Arconia geherrscht habe, habe ich gerade in den letzten Augenblicken Geschichten vernommen, bei denen mir schwindlig wird. Ihr seid der uneheliche Sohn eines Grafen. Selbst ein Graf. Ein Betrüger, Lügner und Dieb. Der Sohn einer Hure. Ein treuer Löwe, der im Osten in der Schlacht gestorben ist. Ihr seid, so scheint es, ein Mann, der über wilde Tiere herrscht. Der einen Kriegstrupp auf einer Waldstraße allein mit seinem Blick zurückschicken kann.«
270 »Ich bin der Sohn eines salianischen Flüchtlings. Ich bin in Osna in einem ehrlichen Haushalt von Kaufleuten aufgezogen worden. Das allein zählt.« »Vielleicht. Wieso seid Ihr gekommen, Alain aus Osna? Was wollt Ihr von mir?« »Ich möchte Euch bitten, den Menschen von Ravnholt, die ermordet wurden, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wozu auch vier junge Frauen gehören, die vergewaltigt und getötet wurden. Lasst ihre Leichen bergen und begraben. Bringt die Räuber, die sie getötet haben, vor Gericht.« So viele, wie irgendwie Platz finden konnten, hatten sich um sie herum versammelt; sie alle hatten inzwischen sicherlich von der Begegnung auf der Straße erfahren. Sie schwiegen, aber ihre Blicke hatten eine unerwartete Kraft, waren so mächtig wie der des Guivre. »Ist das alles? Ich glaube, da ist noch etwas.« »Ich suche nach einer Frau.« Sie lächelte, missverstand ihn. Hathumod fuhr mit dem Handrücken zum Mund, unterdrückte einen Schrei. Sie starrte Alain reuevoll an. Hinter ihr waren andere, die Alain von der Zeit bei Hofe und von seinem Aufenthalt im Kloster Herford wiedererkannte. Auch ein gutaussehender junger Mann war dabei, der einmal der Ehemann von Markgräfin Judith gewesen war. Wie lange es zurücklag, seit er auf die Veranda getreten war, um einen Kampf zwischen Prior Ratbold und einer zerlumpten Gruppe von fünf Geistlichen und zwei Löwen zu verhindern! Wie diese Ketzer in Bischof in Constanzes Tross geraten waren, wusste er nicht. »Die Frau, nach der ich suche, war einmal ein Adler«, sprach er weiter. »Dann habe ich gehört, dass sie mit Prinz Sanglant weggelaufen ist.« »Liath!« Ein rothaariger junger Mann trat so wütend vor, als wollte er zuschlagen. »Bruder Ivar!«, tadelte Constanze ihn. Ivar zuckte mit den Schultern und bewegte die Füße, aber er kehrte nicht an seinen
270 alten Platz neben Judiths Bräutigam zurück, der Baldwin hieß, wie Alain sich plötzlich erinnerte. Dieser schöne Jüngling war jetzt seltsamerweise wie ein Geistlicher gekleidet. Seine Augen waren weit geöffnet, und mit der rechten Hand fingerte er an einem goldenen Kreis der Einigkeit herum, dessen Oberfläche fein ziseliert war. Er trug einen Ring aus leuchtendem Lapislázuli. Alain schnappte nach Luft; die Worte entschwanden ihm. Er kannte den Ring. Er war einmal sehr wertvoll für ihn gewesen. »Sprecht weiter«, sagte die Bischöfin. »Ich bitte Euch«, sagte Alain, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. »Woher habt Ihr diesen Ring, Bruder?« Einen Moment herrschte Verwirrung. Dann sah Baldwin den rothaarigen Bruder Ivar an, der für ihn antwortete. »Er stammt aus einem Grab tief in einem Hügel, einem Grab der Ungläubigen weit östlich von hier. Was spielt das für Euch für eine Rolle?« »Ivar«, sagte die Bischöfin sanft. »Ich dulde keine Missachtung gegenüber jenen, die aufrichtig zu mir gekommen sind.« »An dem gleichen Ort haben wir den Nagel gefunden«, sagte Hathumod. »Und den Überwurf und die Waffen des Löwen. Wie sind diese Dinge dorthin gekommen, in dieses uralte Grab?« Das Geschenk noch einmal zu berühren, das sie ihm gegeben hatte! Der Gedanke fiel mit dem neugierigen Blick des gutaussehenden Geistlichen zusammen, und der Mann schloss die andere Hand besitzergreifend um die mit dem Ring.
Finger mochten sich berühren, und dennoch war es möglich, dass zwei Menschen durch eine Kluft getrennt waren, die niemals überbrückt werden konnte. »Egal«, murmelte Alain. Adi-ca war fort. Den Ring einem Mann wegzunehmen, der ihn schätzte, würde sie nicht zurückbringen. Aber es war schwer, angesichts all der Pein in seinem Herzen zu sprechen. »Ja, ich suche tatsächlich Liathano. Wisst Ihr, wo sie sich aufhält?«
271 »Wieso wollt Ihr das wissen? Was habt Ihr mit ihr zu schaffen?«, fragte der Rotschopf. »Still, Ivar!« Hathumod warf ihr einen durchdringenden Blick zu, aber sie schnitt nur eine Grimasse. »Die Antworten auf diese Fragen wüsste ich selbst gern«, erklärte Constanze. »Aber ich muss Euch sagen, Alain aus Osna, dass ich nicht weiß, was aus dem Adler geworden ist. Ich bin mehr als fünf Jahre von meiner Halbschwester Sabella gefangen gehalten worden. Wir wissen nur das Wenige, was Bruder Ivar und der junge Erkanwulf herausgefunden haben. König Henry hat viele Jahre in Aosta verbracht, um die Kaiserkrone zu erringen. Sabella und Conrad haben gemeinsam die Herrschaft über Varre an sich gerissen. Wer kann es ihnen verübeln, da Henry sein Volk verlassen hat? Prinzessin Theophanu ist in Osterburg und beschützt Saony, den uralten Sitz der Macht meiner Familie. Prinz Sanglant hat bei der Veser ein qumanisches Heer geschlagen und ist danach nach Osten gezogen, um Greifen und Zauberer zu finden und mit ihrer Hilfe einen geheimnisvollen Zirkel von Zauberern zu bekämpfen, die - wie er behauptet hat - die Welt zerstören wollten. Danach, so heißt es, sei er nach Aosta geritten, um seinen Vater und die Zauberer zu finden. Mehr weiß ich nicht.« »Oh«, sagte Alain. »Dann wussten also einige von dem bevorstehenden Sturm. Es war nicht vergebens, dass die Alten mit mir gesprochen haben.« »Von dem Sturm? Demjenigen, der im letzten Herbst über uns hinweggefegt ist?« »Er war das Ende einer Beschwörung, die vor vielen Jahrhunderten in Gang gesetzt worden war.« Er hatte sie überrascht, diese Frau, die sich nicht leicht verblüffen ließ. Sie berührte ihr linkes Ohr, als wäre sie nicht ganz sicher, ob sie die Worte wirklich gehört hatte. »Von welchem Geheimnis sprecht Ihr? Verfügt Ihr über verborgenes Wissen von Ereignissen, die in der Vergangenheit, in der Zeit des heiligen Daisan, verloren gegangen sind?«
271 »Sie haben lange vor der Zeit des heiligen Daisan stattgefunden, und was sie vor uns verbirgt, ist nur der Lauf der Jahre. Nur der Tod, der uns am Ende alle verbirgt. Ich bitte Euch, habt Ihr irgendwelche Neuigkeiten über Liathano?« »Nein. Sie ist in einem Schleier aus Feuer verloren gegangen.« »Die Wahrheit erhebt sich mit dem Phönix«, murmelte der schöne Jüngling, und Alain spürte die Worte wie Stiche in seinem Herzen, als würde eine unbeachtete Hand versuchen, seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Was habt Ihr gesagt?«, fragte er ihn. »>Die Wahrheit erhebt sich mit dem Phönix