GALAXY 10 EINE AUSWAHL DER BESTEN STORIES AUS DEM AMERIKANISCHEN SCIENCE FICTION MAGAZIN GALAXY
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GALAXY 10 EINE AUSWAHL DER BESTEN STORIES AUS DEM AMERIKANISCHEN SCIENCE FICTION MAGAZIN GALAXY
HEYNE-BUCH Nr. 3116 im Wilhelm Heyne Verlag, München Auswahl und deutsche Übersetzung von Walter Ernsting und Thomas Schlück
Copyright © 1955, 1966, 1967 by Galaxy Publishing Corporation, New York Printed in Germany 1968 Scan by Brrazo 10/2004 Umschlag: Atelier Heinrichs & Bachmann, München Gesamtherstellung: Verlagsdruckerei Freisinger Tagblatt, Dr. Franz Paul Datterer oHG., Freising
LINDA MARLOWE
Das Versteckspiel (HIDE AND SEEK)
LINDA MARLOWE Das Versteckspiel »Der letzte am Abschlag ist dran!« Mit diesen Worten setzte sich Michael in Bewegung. Die zu beiden Seiten des Pfades aufragenden Bäume waren in der Dämmerung kaum noch zu erkennen. Schemenhaft überdachten sie den Pfad und verdunkelten die Abendsonne. Im Gebiet zwischen Scheune und Seniorensiedlung mußten sie stecken; das war erlaubtes Gebiet. Während er sich langsam auf dem schmalen Weg vorwärtstastete, wobei er bemüht war, jedes Geräusch zu vermeiden, beobachtete ihn seine Mutter von der Veranda. Sie saß in ihrem Schaukelstuhl und strickte. Aber er wußte, daß sie ihn beobachtete. Sie folgte der kleinen Gestalt mit den Blicken und dankte Gott, daß Steve, ihr Ältester, im Wohnzimmer saß und lernte. Sie haßte das Versteckspiel noch ebenso, wie sie es als Kind gehaßt hatte. Das endlose Warten, der ewige Zweifel, ob man aufgespürt wurde. Jedes Geräusch war erschreckend. Dann der wilde Lauf zum Abschlag, das Herz, das einem im Halse schlug. Ein Teil ihrer selbst war jetzt dort draußen bei ihrem Jungen, duckte sich mit ihm hinter einen Busch. Sie haßte das Versteckspiel. Aber sie brauchte nicht mehr zu spielen, sondern konnte sich am frühen Abend in ihrem Schaukelstuhl niederlassen. Sie fragte sich, was ihre Mutter im Heim wohl gerade täte. Vermutlich strickte sie auch. »Sardinenspiel«, dachte sie. »Das war noch ein Spiel.« Man war dabei nicht allein. Ein anderes Kind, eine gute Freundin, durfte sich zusammen mit einem verstecken. Man konnte sich flach in einer Vertiefung ausstrecken und hatte den warmen Körper der Freundin dicht neben sich, hielt sich gegenseitig an der Hand. Beruhigend. Wenn dann noch ein dritter das Versteck entdeckte, lag man wie in einer Sardinenbüchse
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zusammen. Man war nicht allein, wie man es beim Versteckspiel war. Michael hatte inzwischen fast das Ende des Pfades erreicht, ohne eine Spur von den anderen zu entdecken. Sie mußten hier irgendwo im Wald sein, zwischen dem Pfad und der alten Steinmauer. Jenseits der Mauer verlief die dicht befahrene Schnellstraße, und die durfte nicht überquert werden. Einmal hatte sich sein Hund hinausgewagt; und später hatten sie seinen Körper am Straßenrand gefunden. Hunderte von Wagen rasten vorbei, ein unendlicher Strom, und die Fahrer sahen nicht links oder rechts. Er duckte sich seitlich ins Unterholz und hörte plötzlich schnelle Schritte hinter sich. Hastig wandte er sich um und sah Peter, der, so schnell er konnte, zum Freischlag rannte. Michael konnte ihn unmöglich abfangen; trotzdem setzten sich seine Füße unwillkürlich in Bewegung. »Frei!« japste Peter und warf sich neben dem Baum zu Boden, ausgepumpt und glücklich; vorsichtshalber ruhte seine Hand am Stamm der alten Eiche. Er war frei und wollte keinen Zweifel daran aufkommen lassen. Auf der Veranda stieß Michaels Mutter einen Seufzer aus und freute sich für Peters Mutter. Er war ein so gutaussehender und lebendiger Junge, auf den jede Mutter stolz sein konnte. Er war in der Schule vielleicht nicht der Klügste, aber es gab ja auch andere Dinge. Sie konnte hören, wie ihr Ältester hinter ihr in seinen Büchern blätterte. Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. Von ihren vier Jungen war nur ein einziger Student geworden, was eine sichere Zukunft für ihn bedeutete. Er hatte Verständnis für all die Formeln und komplizierten Theorien, und oft hatten die Lehrer seine Intelligenz gelobt. »Wenigstens brauche ich mir um ihn keine Sorgen zu machen. Nur Michael… Bitte, Michael!« flüsterte sie, »du mußt einen finden, ehe es ganz dunkel wird!« 3
Er stand unschlüssig neben dem Baum und blickte auf seinen Freund hinab. Einer war frei. Damit blieben drei. Er beschloß, einen Kreis zu schlagen, ohne sich jedoch zu weit vom Abschlag zu entfernen. Das Sehen wurde immer schwieriger. Die Bäume waren nur noch unbestimmte Umrisse, schwarz, grau und weiß. Sie fragte sich, ob auch ihre Mutter hier gesessen und sich Sorgen um sie gemacht hatte. »Wir machen uns heute so viele Gedanken wegen der älteren Generation«, dachte sie. Als sie noch jünger gewesen war, hatte es große Auseinandersetzungen darum gegeben. Das Land hatte sich besorgt gefragt, was aus den Menschen über Fünfzig werden sollte, aus jenem Teil der Bevölkerung, der immer mehr Raum einzunehmen und dabei immer unproduktiver zu werden schien. Damals war die Welt eine Welt der jungen Generation gewesen. Ihr Vater hatte zu den Wissenschaftlern gehört, die schließlich eine Lösung fanden. Wenigstens war für ihren Ältesten gesorgt. Er trat in die Fußstapfen seines Großvaters. Er hatte eines jener mathematischen Gehirne, die vom Großvater schließlich auf den Enkel vererbt werden. Michael umkreiste den Baum ein zweitesmal, wobei er sich diesmal weiter in den Wald vorwagte. Er glaubte Jims roten Pullover gesehen zu haben. Aber Jim war zwölf und kannte das Spiel. Hinter einigen zerbrochenen Ästen kam er hervor, leichtfüßig sprang er über das Hindernis und erreichte den Baum wenige Sekunden vor Michael. »Frei!« keuchte er und legte die Hand an die Rinde. Michael sank atemlos neben ihm zu Boden. Zu spät. Nur noch zwei. Die Marble-Zwillinge. Sie wußten, daß ihre Mutter sie im Heim erwartete. Jeder hier hatte Verwandte im Heim. Eine Mutter oder einen Vater, manchmal sogar einen Onkel. Sie 4
dachte an die alten Leute, die jetzt warm und sicher im Heim saßen und von der Liebe ihrer Kinder zehrten. Warum nicht die Alten? Warum ließ man nicht die Alten Verstecken spielen? Sollten sie doch sehen, wie ihnen das gefiel! Schon oft hatte sie zu diesem Thema hitzig ihre Meinung gesagt, aber man hatte ihre Ansichten als gefühlsbetont abgetan. War es nicht leichter so, ehe man sich zu sehr an sie band, sich zu sehr an sie gewöhnte …? Michael kroch jetzt auf allen vieren durch den Wald, bewegte sich leise von Baum zu Baum. Ein letzter Sonnenstrahl ließ die Klinge des Messers aufblitzen, das er in der Hand hielt. »Warum ist er nicht geschickter?« dachte sie. »Mein Kleiner! Es macht dir Spaß, einfach die Dinge anzuschauen, die Bäume und das Gras und den Fluß.« Sie erinnerte sich an den Abend, als er erregt von einem Ausflug zurückgekehrt war, mit gerötetem Gesicht, die Arme voller Frühlingsblumen … Das Gras bewegte sich, und sie wußte genau, wo er sich befand. Plötzlich sprangen die Zwillinge auf; ihre hellen Köpfe waren im wildbewegten Gras deutlich zu erkennen. Sie rannten auf den großen Baum zu. Plötzlich stolperte David, der kleinere. Sie erhob sich. Ihre Rechte verkrampfte sich über dem Veranda-Geländer. Der andere Zwilling packte den Arm seines Bruders, dann wandte er sich um und rannte allein weiter. Michael sah ihn liegen, hob das scharfe Messer und versenkte es fachgerecht im Herzen des Jungen. »Er ist durch!« flüsterte Michaels Mutter. Bis zum nächsten Jahr. Sie mußten bis dahin noch viel üben. Sie mußte sein Sehvermögen schärfen und mit ihm in die Felder hinausgehen und Verstecken üben. Denn im nächsten Jahr würde er zu denen gehören, die sich versteckten. Sie fragte sich, wer wohl im Nachbardorf übriggeblieben war. Je Landgemeinde waren nur vier Kinder zugelassen. Der Sohn ihrer Schwester war ein braver und kluger Junge; sie hoffte, daß er
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es ebenfalls geschafft hatte. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und seufzte erleichtert. Ab heute abend gab es größere Portionen, und eine besonders große für Michael. Bei allen Familien gab es ab heute Extra-Portionen, da einer der Marble-Zwillinge nicht mehr am Leben war. Wenn er doch nur beide erwischt hätte! Vielleicht hätte es dann auch etwas Brot gegeben… Aber im nächsten Jahr… Michael war dann größer und stärker, und seine Chancen waren besser. »Frei, frei!« rief sie.
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