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Seewölfe 93 1
Fred McMason 1.
Wie ein riesiges, totes Ungeheuer sah der Berg aus Holz, Planken, Rahen, Spieren und zerfetzten Segeln aus, der auf dem Höllenriff lag und nun die Ausfahrt versperrte. Dieser monströse Leichnam war der klägliche Überrest der stolzen Galeone „Sevilla“, die unter der Führung Kapitän Rocas versucht hatte, gewaltsam die Passage der Schlangen-Insel zu durchsegeln, und es dann doch nicht geschafft hatte. Kein Wunder, wenn man diese Passage nicht ganz genau kannte, dachte der Seewolf grimmig. Zusammen mit Ferris Tucker, Big Old Shane, Ben Brighton und dem Waffenmeister Al Conroy, stand er auf der Kuhl der „Isabella VIII.“. „Abbrennen“, sagte der rothaarige Schiffszimmermann lakonisch und deutete mit der Hand auf das hölzerne Ungetüm, das behäbig und schwerfällig wie hundert tote Elefanten im Fahrwasser lag. „Das Oberdeck könnte man schon abbrennen“, meinte der Seewolf, „aber wie sieht es mit dein Rest aus? Die Galeone ist aus gutem, starkem Holz gebaut, die brennt nicht einmal bis zur Wasseroberfläche ab. Am besten, wir fahren einmal hinüber und sehen uns das Wrack genauer an. Kommt ihr mit?“ Die Männer, die auf der Kuhl standen, nickten. Natürlich, dieses Wrack war zu einem echten Problem geworden, und nicht nur dieses Wrack. Es gab da noch ein anderes Problem. Eine der spanischen Karavellen war nach dem heftigen Kampf vor der SchlangenInsel entwischt und befand sich längst wieder auf der Rückfahrt zu ihrem Stützpunkt. Und weil die bloße Erwähnung von Hasards Namen bei den Spaniern Zustände auslöste, würden sie mit einer Übermacht zurückfahren, der die Seewölfe nichts entgegenzusetzen hatten. Nein, sie mußten weg, so schnell, wie es ging, mußten sie verschwinden, denn die Dons konnten schon morgen aufkreuzen, um es dem verhaßten Seewolf zu besorgen,
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der ihnen eine Schlappe nach der anderen zugefügt hatte. Das waren schon seit gestern Hasards Überlegungen, und jetzt sollten sie in die Tat umgesetzt werden, jetzt, nachdem auch der schwarze Segler aufgeriggt war. Aber zuerst mußte das Wrack verschwinden, das war das allererste Problem. Wenn das Wrack nicht beseitigt wurde, gab es vor den Dons kein Entkommen mehr. Als die Männer in das Boot stiegen, ging über dem Meer goldgelb die Sonne auf. Goldene Strahlen tanzten auf dem Wasser und schimmerten durch die Passage bis in die Bucht. Es versprach wieder einmal, ein heißer Tag zu werden. Das Wrack der Galeone schien in den Himmel zu wachsen und immer größer zu werden, als sie sich näherten. Von weitem war es schon groß und gewaltig genug, aber aus dieser unmittelbaren Nähe wirkte es direkt beängstigend. „Bei allen Meergeistern“, stöhnte Al Conroy, „das verdammte Ding wird ja immer größer. Seht euch nur den Achtersteven an! Allein dafür hat man mehr als hundert Bäume benötigt.“ „Jetzt halt mal die Luft an, Al“, sagte Ferris, „das werden wir schon schaffen. Wie gesagt, ein kleines Feuerchen, und der größte Teil ist verschwunden.“ Hasard, Old Shane und Tucker betrachteten das Wrack fachmännisch. Es saß unverrückbar fest, und zwar auf jener kritischen Stelle, der man den Namen Höllenriff gegeben hatte. Auf dem Riff konnte man bequem stehen, es zog sich von der rechten Felsenwand zur linken, ohne die kleinste Lücke. Vor und hinter der schmalen Passage fiel es jedoch steil ab. Dort hausten auch die Kalmare in ihren dunklen Höhlen, die den Seewölfen schon mehr als einmal Kummer bereitet hatten_ Das Boot stieß an den zersplitterten Rumpf der Galeone. Tucker fing es mit den Händen ab und schlang ein Tau um eine zerfetzte Planke, die aus dem Schanzkleid ragte. Die Männer enterten auf und sahen sich kopfschüttelnd um.
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„Ich habe noch nie ein Schiff gesehen, das schlimmer aussieht als dieses“, versicherte Tucker. An dem Kahn ist nichts, aber auch gar nichts heil geblieben. Ein Wunder, daß es nicht total auseinandergefallen ist.“ Das stehende Gut, Stagen, Wanten und Pardunen, lag kreuz und quer auf dem Deck herum. Dazwischen befanden sich Fallen und Schoten, Blöcke, zerrissenes Tauwerk und Teile der Nagelbank. Das Deck selbst war so zerfetzt, daß man kaum darauf laufen konnte. Überall stachen Planken spitz in die Luft. Das alles war von Tauen, Segeln und der riesigen Gaffelrute des Lateinersegels teilweise bedeckt. Auch ein paar tote Spanier befanden sich noch an Bord, entsetzlich verstümmelt und durch die herabgefallenen Masten bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht. Die Galeone knisterte, brach und stöhnte in allen Fugen. Die Geräusche rissen nicht ab. Das Schiff schien sich gegen den Todeskampf zu wehren, dabei war es längst tot. Selbst die besten Baumeister hätten kein neues Leben mehr hineinzaubern können. „Ein wüster Trümmerhaufen, mehr ist es nicht“, sagte Ferris Tucker. „Und die Räume stehen alle unter Wasser. Am besten, wir brennen, es ab“, wiederholte er noch einmal. Hasard nickte nur versunken. In Gedanken sah er noch einmal die stolze Galeone hier eindringen. Er hörte das Krachen und Bersten, sah das Schiff, wie es in die Felswände prallte, wie es von einer Seite zur anderen flog, sich dann steil aufrichtete, und hörte, wie die Masten an Deck fielen und die Todesschreie der Spanier ertönten. Und überall flogen Planken, Splitter und Holzteile durch die Luft. Das war jetzt vorbei. Die „Sevilla“ hatte sich auf dem Höllenriff zur letzten Ruhe gesetzt. „Seht nach, ob noch brauchbares Pulver an Bord ist“, sagte der Seewolf. „Dann stecken wir es gleich an.“ Sie durchsuchten die Räume. Tucker und Shane kehrten mit Pulver und Lunten zurück, genug Pulver, um drei
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Schiffe in die Luft zu blasen. Größtenteils waren die Fässer noch trocken. Auch ranziges Olivenöl fanden sie in großen Mengen. Während Ferris das Pulver auf dem Deck verschüttete, goß Big Old Shane das übelriechende Öl auf die Planken. Er verzog angewidert die Nase. „Wenn der Kutscher in diesem Drecköl etwas backen würde, dann würden ihm die Männer das Fell über die Ohren ziehen“, sagte er. „Das stinkt ja zum Gotterbarmen, das Dreckzeug.“ „Die Dons fressen sogar Kastanien“, sagte Tucker, „und abgezogene Igel hauen sie sich auch in die Pfanne. Vielleicht backen sie die in diesem stinkenden Öl.“ Vier Fässer Pulver waren ausgestreut, der Rest war feucht und würde nicht brennen. Tucker schlug mit Stahl und Flintstein Funken, bis die Lunte zu glimmen begann. Dann blies er kräftig, bis hellrote Glut entstand. „Zurück ins Boot“, mahnte Hasard. „Das Oberdeck ist knochentrocken und brennt gleich wie Zunder. Los, Al!“ wandte er sich an den Waffen- und Stückmeister, der sich die bronzenen Kanonenrohre noch einmal ansah. „Beeil dich, die Kanonen können wir nicht gebrauchen, wir haben bessere.“ Im Boot blies Tucker noch einmal auf die Lunte, und während sie ablegten, warf er die glimmende Lunte in einem hohen Bogen auf das Deck des zerstörten Spaniers. Augenblicklich schoß eine Stichflamme hoch, die sich in rasender Eile über das Deck fraß. Kreuz und quer zuckte sie darüber hin, bis sie endlich erlosch. Das helle Lohen verschwand, aber das kurze, heiße Feuer hatte ausgereicht, das Holz in Brand zu setzen. Fünfzig Yards weiter züngelten die ersten Flammen hoch, und danach ging es sehr schnell. Die trockenen Segel brannten, gleich darauf begann es zu prasseln und zu knistern. Rauch stieg aus der Galeone auf und kräuselte sich in den wolkenlosen Himmel.
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Immer heller brannte das Feuer und fraß sich jetzt in rasender Eile über das ganze Schiff. Als der Seewolf mit seinen Männern wieder bei der „Isabella“ angelangt war, glich die „Sevilla“ einer brennenden Riesenfackel. Pechschwarz quoll der Rauch in einer gewaltigen Wolke steil nach oben, wo er wie ein Pilz auseinanderstrebte. „Die brennen prächtig, die spanischen Kisten“, lobte Ferris Tucker das prasselnde Feuer. Ed Carberry, der neben ihm stand, nickte bedächtig. „Das kannst du laut sagen, Ferris. Es ist nicht die erste, die wir in Brand gesetzt haben.“ Oben in den Felsen stand Dan O’Flynn als Posten. Er hatte die schärfsten Augen an Bord, und deshalb hatte der Seewolf ihn da oben placiert, damit er Zeichen gab, wenn sich fremde Schiffe der Insel näherten. Dan stand da und hielt den Daumen nach oben in die Luft gereckt, zum Zeichen, daß alles klar war. Niemand würde den gewaltigen Qualm sehen, und bis jemand auftauchte, war das Feuer längst erloschen. Jetzt schlugen auch die Flammen an den Seiten hervor, leckten am zersplitterten Schanzkleid und tobten weiter, zum Achterkastell, wo ebenfalls sofort alles in hellen Flammen stand. Smoky, der Decksälteste, gesellte sich zu den Männern. „Warum brennt das Schiff?“ fragte er. „Weil wir es in Brand gesteckt haben“, erwiderte Ferris Tucker freundlich. „Sag mal, Smoky, bist du nun wirklich bescheuert, oder vergeht das demnächst?“ Smoky verzog schmerzhaft das Gesicht. Seit er bei dem vorangegangenen Kampf eins auf den Schädel gekriegt hatte, fehlte ihm der nötige Durchblick. Mitunter stand er eine geschlagene Stunde lang an Deck herum und fragte sich, was er hier eigentlich wolle. Der Kutscher und Feldscher, der bei Sir Freemont gedient hatte, hatte noch gestern etwas von temporärem Gedächtnisschwund gemurmelt. Das würde die Zeit heilen, hatte er gesagt. Seither spazierte Smoky
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mit temporärem Gedächtnisschwund herum, und erzählte jedem von seiner eigenartigen Krankheit. Aber alle paar Minuten rannte er zum Kutscher, um sich den Ausdruck wiederholen zu lassen, denn er vergaß ihn sofort wieder. Und dabei hörte sich das doch so gut an, fand er. „Laß mich bloß in Ruhe, du rothaariger Decksaffe“, sagte Smoky. „Sei froh, daß du keinen - äh - tempo - äh - Schwund hast! Woher kommt das verdammte Wrack eigentlich? Es liegt genau in der Fahrrinne drin.“ „Das war doch der Kampf vor zwei Tagen, du Roß!“ brüllte Ferris, der langsam die Geduld verlor. „Die spanische Galeone ist hier gewaltsam eingedrungen, zersplittert und sitzt nun fest auf dem Riff. Geht das endlich in deinen Kasten?“ Smoky blickte ihn nachdenklich an, und wieder verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse. „Komisch“, sann er laut, „was zum Teufel, wollten die Spanier denn hier auf der Schlangen-Insel?“ Tucker raufte sich in einem neuerlichen Anfall die roten Haare. „Himmel, Arsch und Seemannsgarn!“ schrie er. „Schafft mir diesen Kerl vom Hals! Der spinnt ja wirklich, oder willst du mich bloß verarschen?“ fragte er mit erzwungener Ruhe. Smoky starrte verbiestert auf die Decksplanken. „Ich weiß gar nicht, was du willst, du Büffel. Ich habe dich anständig was gefragt, und du fängst an zu schreien. Ich hab den Kahn jedenfalls nicht einlaufen sehen, vielleicht war es gerade Nacht, und ich habe geschlafen.“ Ehe Tucker explodieren konnte, ging der Seewolf dazwischen. „Laß ihn in Ruhe, Ferris. Das wird sich bald wieder legen, ich habe den gleichen Zustand auch schon einmal erlebt. Da fehlt einem wirklich teilweise die Erinnerung. Sie kehrt nur bruchstückhaft zurück, und dabei hast du das Gefühl, als wäre in deinem Schädel eine gähnende Leere.“ „Na ja, wenn das so ist. Ich dachte immer, der Kerl verstellt sich nur, und will mich
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auf den Arm nehmen. Ausgerechnet mich fragt er nämlich immer.“ Während Tucker dem Decksältesten noch einen zweifelnden Blick zuwarf, brannte weiter drüben die Galeone ab. Das Feuer fraß sich mit höllischem Eifer durch das Holz, bis es den unteren Rand erreichte, die Wasserlinie. Dort wurden die Flammen jetzt immer spärlicher und kleiner, und schließlich zischte es nur noch leise. Schwarzverkohlte Trümmer fielen ins Wasser und zischten noch einmal kurz auf, ehe sie verlöschten und untergingen. Immer mehr fiel das Wrack in sich zusammen. Schließlich war es nur noch ein kleiner Rest, der aus dem Wasser ragte, ein schwarzer Stumpf, an manchen Stellen noch leicht glühend. Die Seewölfe sahen schweigend zu, wie die „Sevilla“ sich in ihre Bestandteile auflöste. „Damit sind wir das Problem noch immer nicht los“, sagte Hasard. „Wir müssen den Rest mit der Hand abwracken, wenn wir hier jemals wieder herauswollen.“ Gesichter verzogen sich angewidert. Jedem war deutlich anzusehen, was er empfand. Das Wrack zertrümmern und zerschlagen war eine Arbeit, wie sie sie lange nicht verrichtet hatten. Eine verdammte Schufterei würde das werden. Aber es blieb ihnen nichts anderes übrig. Tucker seufzte abgrundtief. Er, der immer tüftelte und überlegte, sann verzweifelt nach einer anderen Möglichkeit. Hasard sah ihm an, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. „Hast du einen besseren Vorschlag?“ fragte er. Tucker kratzte sich das stoppelige Kinn. „Hm, mir fällt da etwas ein“, murmelte er zögernd. „Wir könnten dem Bock ein paar Siebzehnpfünder unter die Wasserlinie ballern, und das Schiff so weiter in Trümmer schießen. Dann fällt das Abwracken nicht so schwer.“ Carberrys Riesenpranke krachte dem Schiffszimmermann auf die Schulter, und sein dröhnendes Organ hallte über die ganze Insel.
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„Wenn wir dich nicht hätten und die gekochten Bohnen, Mann, dann müßten wir die ganze Woche rohe Bohnen fressen. Ist das eine Idee, Leute?“ wandte er sich fragend an die anderen. Alles stimmte begeistert mit ein. Warum sollte man sich mühsam einen ganzen Tag lang abrackern, wenn es auch anders ging? Was würde der Seewolf dazu sagen? Hasard nickte, seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. „Ein guter Vorschlag, Ferris“, lobte er den Riesen. „Wir werden ihn sofort in die Tat umsetzen. Dabei kann jeder gleich einmal seine Schießkünste beweisen. Also ladet die Kanonen, dreht das Schiff herum. Kugeln und Pulver haben wir zur Genüge. Wir ersparen uns damit wirklich einen ganzen Tag harter Arbeit.“ Mit Begeisterung wurden die schweren Culverinen geladen. Die Siebzehnpfünder würden den Seewölfen einen großen Teil ihrer Arbeit abnehmen. Auf dem schwarzen Schiff wurde es jetzt ebenfalls lebendig. Der Wikinger Thorfin Njal erschien an Deck, und neben ihm standen seine Mannen: Arne, Oleg, Eike und der Stör. Der Kupferhelm des Wikingers glänzte hell in der Sonne, als er den Kopf bewegte. Ein Grund für den Profos, mißtrauisch hinüberzublinzeln. „Ich wette, er schläft mit diesem Nachttopf“, sagte er. „Oder er züchtet Riesenläuse darunter. Die Biester müssen es verdammt warm haben.“ Grinsende Gesichter sahen ihn an, und sofort wurde der Gedanke an den „Nachttopf“ dankbar aufgegriffen und gründlich ausgeschlachtet, wie es bei den Seewölfen üblich war. Dem Wikinger wäre angst und bange geworden, wenn er die Theorien alle vernommen hätte, die die Männer vom Stapel ließen. Und diese Theorien wurden immer deftiger und verwegener, und bald bogen sich die Männer auf dem Deck vor Lachen. Die Neugier ließ dem Wikinger schließlich keine Ruhe mehr. Er wußte nicht, was auf der „Isabella“ vorging. Er sah nur, daß die
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Galeone ausgebrannt war und man sich jetzt anschickte, die Culverinen zu laden. „Ist das nicht dieser komische Wikinger?“ fragte Smoky stirnrunzelnd und wandte sich dabei wieder an Tucker. Dem Schiffszimmermann standen die Haare jetzt buchstäblich senkrecht zu Berge. Gereizt fuhr er zu Smoky herum. „Treibe mich nicht zum Wahnsinn, Kerl!“ schrie er den verblüfften Smoky wild an. „Du mit deinem verlausten Tempodingsda. Willst du etwa sagen, daß du den Burschen nicht mehr kennst?“ „Ich frag mal den Kutscher, wie das Wort heißt“, sagte Smoky, ohne auf Tucker einzugehen. Damit zog er ab, und ließ einen total verdatterten Ferris Tucker zurück, der sich wild die Bartstoppeln kratzte. „Wenn das mit dem so weitergeht, werde ich auch noch verrückt“, beklagte sich Tucker lautstark. „Das kommt noch so weit, daß er nicht einmal weiß, daß er der Decksälteste ist.“ „Hört mit dem Geschrei auf“, sagte Ben Brighton. „Einige von uns haben etwas abgekriegt, du hättest genauso gut das Ding an den Schädel kriegen können, Ferris.“ Brighton trug den Arm in der Schlinge. Er verspürte noch Schmerzen darin, sobald er ihn bewegte. Und er war auch nicht der einzige. Grey hatte eine Fleischwunde im Rücken und Dan den Stich in den Rippen. Und Bill the Deadhead, den Piraten aus Siri-Tongs Crew, hatte es am jämmerlichsten von allen erwischt. Der lief mit einem Schuß im Achtersteven herum und konnte nicht mehr sitzen. Es gab also ständig Anlaß zu neuen Heiterkeitsausbrüchen. Siri-Tong, der Wikinger und der Stör pullten jetzt im Boot herüber und legten gleich darauf bei der „Isabella“ an. „Einen fröhlichen guten Morgen“, dröhnte Thorfins Stimme über Deck. Er zog die Rote Korsarin mit an Bord, nach der sich sofort alle Kerle wieder umdrehten. Der Gruß wurde von allen Seiten erwidert. Thorfin Njal sah sich verwundert um, und auch die Rote Korsarin sah die Hektik an
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Deck. Da standen die Männer mit glimmenden Lunten neben den feuerbereiten Culverinen, da waren Kugeln an Deck gemannt worden, Pulverfässer standen herum, Wischer lagen bereit. „Was geht denn hier vor?“ fragte der Wikinger erstaunt. Der Profos grinste ihn an, doch dann wurde sein Gesicht schlagartig ernst und verkniffen, als er sah, daß der Wikinger sich den Schädel kratzte. Dem Profos traten die Augen aus den Höhlen. Der Wikinger kratzte weiter, allerdings befand sich zwischen seinem kratzenden Finger und der Kopfhaut noch der Helm, aber das schien ihn nicht zu stören. Ausgiebig kratzte er den Helm weiter, und der Profos bezweifelte ganz entschieden den Erfolg, falls es den Wikinger jucken sollte. Und es ärgerte ihn auch, daß einer seinen Helm kratzte, wenn ihn der Schädel juckte. „Das gab es doch gar nicht, verdammt noch mal“, sagte er. „Wir haben gerade beschlossen, deinen aufgeriggten Kahn unter Feuer zu nehmen“, erklärte er todernst, und es wurmte ihn mächtig, als der Wikinger schon wieder seinen Helm kratzte, wo der doch, verdammt noch mal, gar nicht jucken konnte. „Das heißt, wir wollen nur eine Breitseite darauf abfeuern, um herauszufinden, wie stark das Holz wirklich ist.“ Thorfin Njal stierte ihn ungläubig an. Die grinsenden Gesichter sah er gar nicht. „Das neue Schiff?“ murmelte er fassungslos. „Das kann doch nicht euer Ernst sein.“ Hilflos wandte er sich an den Seewolf, der ebenso ernst daneben stand und nicht einmal das Gesicht verzog. Thorfins Blick kehrte ungläubig zu SiriTong zurück. Dann tippte er mit dem Finger nachdrücklich gegen die Stirn. „Das könnt ihr mir nicht antun“, ächzte er. Und der Stör brummte etwas dazu, was kein Mensch verstand, das aber so viel heißen mochte, daß auch ihm das keiner antun könne. „Schluß jetzt mit dem Grinsen“, sagte Hasard. „Einmal ist der Spaß zu Ende,
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sonst glaubt Thorfin tatsächlich noch, wir wollten sein Schiff unter Feuer nehmen.“ „Dann schießen wir eben auf das andere“, murrte der Profos. Der Wikinger ließ sein dröhnendes Lachen hören und konnte sich kaum beruhigen. Der Seewolf nahm die beiden beiseite. „Ihr habt gesehen, daß wir das Wrack abgebrannt haben. Die Fahrrinne muß so schnell wie möglich frei werden, und daher haben wir heute in aller Frühe damit angefangen. Schon morgen können die ersten Spanier hier auftauchen, und dann sitzen wir in der Falle. Um die Arbeit zu erleichtern, haben wir beschlossen, die Überreste der Galeone mit den Culverinen zu befeuern. Was danach noch übrigbleibt, werden wir von Hand abwracken. Dazu brauche ich jeden Mann, denn es ist eine Knochenarbeit, die uns verdammt lange aufhalten wird. Wir haben gestern ja schon darüber gesprochen.“ „Selbstverständlich schicken wir alle Männer herüber“, versprach Siri-Tong sofort. Thorfin nickte nur, das war für ihn ebenso selbstverständlich, denn schließlich wollten sie ja auch die Schlangen-Insel wieder verlassen. Die Korsarin sah den Seewolf wieder mit einem ihrer unergründlichen Blicke an, die Hasard immer eine leichte Gänsehaut über den Rücken jagten. „Was ist mit den Schätzen?“ fragte sie. „Wenn früher oder später einmal Spanier auf die Insel gelangen, kann der Zufall sie zum Schlangentempel führen. Es wäre nicht auszudenken, wenn sie das viele Gold und Silber fänden.“ Hasard lachte stoßartig auf. „Mehr wäre. den Dons wirklich nicht zu gönnen. Kampflos hätten sie ihre Schätze zurück, die wir ihnen so mühsam abgejagt hatten. Nein, wir müssen ein anderes Versteck suchen, eins, das nicht entdeckt werden kann, denn unsere Reise wird lange dauern.“ „Du gehst nicht von diesem Gedanken ab, das fremde Land zu suchen, Hasard?“ fragte sie.
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Sie sah es schön an seinen Augen, daß er dieses Vorhaben nicht mehr aufgeben würde. „Nein“, sagte er hart, „ich suche es und ich werde es auch finden, selbst wenn du mir nicht dabei hilfst.“ „Ich habe dich oft genug davor gewarnt, Seewolf’, sagte sie leise. „Ich weiß! Aber was ich mir einmal in den Kopf gesetzt habe, das führe ich auch durch.“ „Ja, so bist du!“ Sie seufzte und wechselte wieder abrupt das Thema, wie es ihre Art war. „Ich kenne hier noch ein Versteck“, sagte sie. „Es liegt auf der anderen Seite in den Felsen, und es ist ein beschwerlicher Weg dorthin. Dort wären die Schätze aber einigermaßen in Sicherheit.“ „Einigermaßen hilft uns nicht viel. Sie müssen absolut sicher vor jedem fremden Zugriff sein.“ Hasard sah die Männer an, die darauf warteten, daß er endlich den Befehl zum Feuern erteilte. Er drehte sich um. „Ich werde nachher in den Schlangentempel gehen“, sagte er. „Dort muß ich mir erst einen Überblick verschaffen, wie groß die Beute genau ist. Selbst wenn alle mit anpacken, werden wir es nicht in einem Tag schaffen, schon gar nicht über die Felsen auf die andere Seite.“ „Darf ich mitkommen?“ fragte sie zaghaft. Unbewußt blickte er in ihre rote Bluse, die am Hals zwei Knöpfe offenstand und in ein Tal mit zwei sanften Hügeln wies. Er nickte, zuckte dann aber zusammen, denn die Stimme des Profos ging ihm durch Mark und Bein. „Hoffentlich bist du Läuseknacker gleich von den Kanonen verschwunden!“ schrie der Profos. „Nun seht euch diesen kleinen Affenarsch an! Steht da mit glimmender Lunte bei der Culverine und lauert darauf, sie abzufeuern.“ Der „Läuseknacker“ war kein anderer als Bill, der schmächtige Schiffsjunge mit dem pfiffigen Gesicht. Er hatte tatsächlich eine glimmende Lunte in der Hand und stand neben der Culverine, die auf das Wrack ausgerichtet war.
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Beim Klang der Donnerstimme zuckte er zusammen. Sein Gesicht lief knallrot an. „Ich dachte doch nur, Sir...“ stammelte er kläglich. „Schließlich bin ich doch ...“ „Ein Affenarsch bist du, ein ganz ...“ „Profos”, mahnte der Seewolf sanft, „wir haben eine Lady an Bord. Ich bitte um Mäßigung.“ „Aye, aye, Sir, wir haben eine Lady an Bord“, stotterte der Profos verwirrt. Aber er sah Hasard lächeln, und außerdem nahm die Rote Korsarin solche Worte nicht weiter krumm. Ihre Kerle nahmen erst recht kein Blatt vor den Mund, im Gegensatz zu ihnen wirkten die Seewölfe wie anständige Chorknaben. „Und außerdem“, sagte Hasard ebenso sanft, „weshalb sollte unser Kleiner nicht auch einmal eine Kanone abfeuern? Hier kann er keinen Schaden anrichten, aber er lernt damit umzugehen. Und du kennst ja meinen Grundsatz, Ed: Man kann nie genug lernen, und man kann nie früh genug damit anfangen. Also zeige es ihm, und laß ihn auch mal feuern! Ihr könnt anfangen!“ „Aye, aye, Sir!“ sagte der Profos. Er nahm den Bengel am Kragen und baute ihn vor der Culverine auf. Seine Stimme war sehr leise, und immer wieder drehte er sich verstohlen nach dem Seewolf um. „Hör zu, du lausiger Affenarsch“, flüsterte er. „Wenn ich deinetwegen noch mal einen Anschiß kriege, dann, dann werde ich dir die Haut von deinem Affenarsch in Streifen abziehen und sie im Großmars zum Trocknen aufhängen. Hast du das kapiert, du Laus?“ „Aye, Sir“, schluckte der Bengel, der Bill hieß. Dann raffte er seinen ganzen Mut zusammen und sah den riesengroßen Profos treuherzig an. „Sir, ich habe mal gehört, daß Sie nicht immer so meinen, wie Sie das sagen. Ich meine mit dem Affenarsch und so. Die anderen sagen immer, Sie hätten in Wirklichkeit ein weiches Herz.“ Dem Profos verschlug es heute zum wiederholten Mal schlichtweg die Sprache.
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Er stemmte die mächtigen Arme in die Hüften, schob sein gewaltiges Rammkinn vor und sah den Bengel drohend an. „Da hast du dich aber gewaltig verhört, du Rotznase. In Wirklichkeit habe ich ein Herz aus Eisen, so hart wie ein Anker. Und wenn du jetzt vorbeischießt und das Wrack nicht triffst, dann werde ich dir deinen lausigen ... Ach was, der Teufel holt dich dann von ganz allein. So, und jetzt ‘raus damit! Halt die Lunte an das Zündloch, du Spund! Tiefer!“ brüllte er. „Und hast du dich auch verdammt noch mal überzeugt, daß die Kanone richtig ausgerichtet ist, was, wie?“ „Ja, Sir, das habe ich.“ Mit stolzgeschwellter Brust hielt der Bengel die Lunte an das Zündloch, bis der Funke sich auf das Zündkraut fraß. Das Pulver ging hoch, vor das Rohr legte sich eine dichte Wolke, und die schwere Culverine ruckte auf ihren Holzrädern zurück, bis sie von den Brooktauen aufgefangen wurde. „Treffer!“ schrie der Bengel begeistert. „Ich hab getroffen, Mann, ich hab getroffen!“ Seine Augen leuchteten, seine magere Brust hob sich stolzgeschwellt, und er sah sich nach allen Seiten um. „Dein Glück“, sagte der Profos nur. „Ich habe es auch nicht anders erwartet.“ Unter der Wasserlinie des Wracks schlug es noch mehrmals ein. Das Holz knirschte, zerfetzte, Trümmer flogen durch das Wasser. Ein Siebzehnpfünder nach dem anderen haute den Rest des Wracks zusammen und verwandelte es in Kleinholz. Für die Seewölfe war das nichts weiter als eine Spielerei, die ihnen später eine Menge Zeit ersparen würde. Aber für den Bengel war es eine Heldentat. Er ganz allein hatte die Culverine geladen und abgefeuert. Und er hatte getroffen. Das erfüllte ihn mit einem nie gekannten Stolz. 2. An dem Wrack wurde gearbeitet und mit zäher Verbissenheit geschuftet. Teilweise
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standen die Männer im Wasser. Der Schweiß lief ihnen in Strömen über die Gesichter. Da wurden Äxte geschwungen, Beile dröhnten, mit Entermessern wurden Teile aus dem Holz gehauen, und da wurde gesprengt mit Tuckers Höllenflaschen. Alle schufteten mit nackten Oberkörpern, denn die Hitze wurde langsam unerträglich. Als der Profos einmal aufsah, glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. Da stand doch schon wieder dieser Wikinger, Thorfin, Njal, und kratzte seinen Schädel, auf dem trotz der brüllenden Hitze immer noch der Helm aus Kupfer saß. Der Kerl mußte ja innerlich kochen, dachte Carberry ingrimmig. Zwei- dreimal kratzte sich der Wikinger ausgiebig seinen Helm, dann schuftete er weiter. Carberry ärgerte sich maßlos darüber. Er kam einfach nicht darüber hinweg, daß man sich am Helm kratzen konnte. Wem, zum Teufel, nutzte das denn etwas? Der Gedanke beschäftigte ihn pausenlos. Immer wieder mußte er daran denken, und immer wieder hob er den Kopf, um den Wikinger anzublicken. „Sag mal, Matt“, wandte er sich an Matt Davies, der neben ihm arbeitete. „Regt dich das verdammte Gekratze nicht auch auf? Der Kerl kann doch gar kein Gefühl haben, wenn er dauernd an seinem verdammten Nachttopf herumkratzt.“ „Soll er kratzen“, sagte Matt Davies mürrisch. „Vielleicht hat er doch Läuse, Wikinger-Läuse, die sollen ja besonders groß sein, hab ich mal gehört.“ „Du verstehst mich auch nicht“, ereiferte sich der Profos, der jetzt in seinem Element war. „Es geht doch gar nicht darum, ob er Läuse hat oder nicht. Es geht um den verdammten Helm, Mann! Er kratzt nicht seine Birne, wenn es ihn juckt, nein, er kratzt seinen blöden Helm. Und das regt mich auf!“ „Wenn du keine anderen Sorgen hast, Mann, dann bist du ja direkt zu beneiden“, grollte Matt Davies, der Mann mit den grauen Haaren und der fürchterlichen Hakenprothese. Wütend hieb er seinen
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Haken ins Holz und zerrte ein großes Stück heraus. Vielleicht juckt ihn ganz einfach die Beule, überlegte der Profos weiter, die sie ihm in den Helm geklopft hatten. Ja, das wird es sein, überlegte er, die Beule juckte ihn, und deshalb griff er rein instinktiv dorthin, wo sie auf seinen Schädel drückte. So ganz war er damit aber immer noch nicht zufrieden, und er beobachtete den Wikinger auch weiterhin genau. Und als der sich nun wieder kratzte, begann der Profos vor sich hin zu fluchen, denn seine Theorie von der Beule war plötzlich im Eimer, weil der Wikinger sich diesmal an der anderen Helmseite kratzte, dort wo es keine Beule gab. Das Holz, das sie mühsam herausfetzten, wurde in eins der Beiboote geladen und an den Strand gebracht. Dort verbrannten es die Männer, die noch leicht verletzt waren Und keiner schweren körperlichen Arbeit nachgehen konnten. Hasard hatte angeordnet, daß es nicht einfach zur Passage hinaustreiben sollte, damit sie keine verräterischen Spuren hinterließen. „Sieh mal, Matt!“ schrie der Profos. „Da sind die Biester wieder. Gebt acht, daß keiner ins Wasser fällt!“ Einer jener Riesenkalmare bewegte sich in dem glasklaren Wasser tief unter ihnen neben dem Höllenriff. Ohne besondere Eile zog er seine mörderischen Arme zusammen und trieb davon. Ein zweiter und ein dritter folgten ihm, eine ganze Familie. „Die werden durch den Lärm verscheucht“, sagte Matt Davies. „Die greifen jetzt nicht an, selbst wenn einer in den Bach fällt. Die lauern nur in ihren Höhlen auf Opfer.“ Mit einem flauen Gefühl im Magen sahen die Männer den Riesenbiestern nach, die sich unter ihnen bewegten. Dann waren sie verschwunden, und insgeheim atmete jeder erleichtert auf. Der Profos und Ferris Tucker vergaßen nicht, ab und zu einen Blick zu den Piraten der Roten Korsarin hinüber zu werfen. Die Kerle verstanden es meist vorzüglich, sich vor der Arbeit zu drücken. Ruhte mal einer
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etwas zu lange aus, dann genügte Carberrys stummer Blick, um ihn schnellstens zur Axt greifen zu lassen. Vor dem Profos kuschten sie alle, denn wenn der erst einmal sein gewaltiges Rammkinn in die Luft streckte und sich herausfordernd umsah, lag der Ärger wie eine Pestwolke auf ihnen. In der Bucht dröhnte es von den Axtschlägen, Beilen und Schiffshauern. Und mit jedem Schlag nahm der gewaltige Torso der spanischen Galeone ab. * Zu diesem Zeitpunkt stiegen Hasard und Siri-Tong die Felsen hoch. Dort lastete die Hitze wie eine Wolke auf ihnen. Die Felsen strahlten die Wärme tausendfach zurück. Kein Lufthauch bewegte auch nur ein einziges Blatt an den Bäumen. „Oben wird es besser“, murmelte die Korsarin, von der ungewohnten Kletterei in den scharfkantigen Lavafelsen erschöpft. Von hier aus sah man deutlich die Männer, die an dem Wrack arbeiteten. Sie standen bis an den Knien im Wasser und hieben mit wilder Wut scheinbar direkt auf das Wasser ein. Jedenfalls hatte es von hier aus den Anschein. Der junge Dan O’Flynn begrüßte sie. Er hatte den höchsten Punkt der Felsen erklommen und von hier aus einen Rundblick nach allen Seiten. „Soll ich dich ablösen lassen, Dan?“ fragte der Seewolf. „Keine Sorge, meine Wunde schmerzt nur noch, wenn ich mich bücke“, versicherte Dan. „Ich halte es hier noch tagelang aus.“ „Nichts zu sehen?“ „Nichts, kein Schiff weit und breit.“ Hasard holte tief Luft. Hier oben wehte eine frische Brise vom Meer herüber. Sie ließ die Haare flattern und kühlte das erhitzte Gesicht der Roten Korsarin. Bildhübsch sah sie aus, fand Dan, wie ihre langen schwarzen Haare leicht im Wind flatterten und ihre dunklen Mandelaugen das Wasser bis zum Horizont absuchten. Sie atmete immer noch heftig. Dabei hob
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sich ihr kleiner kräftiger Busen in regelmäßigen Intervallen. „Paß weiterhin gut auf, Dan, wir wollen uns den Schlangentempel ansehen. Wahrscheinlich müssen wir die Beute woanders unterbringen. Sie scheint mir nicht sicher genug, falls hier wirklich mal ein paar Spanier aufkreuzen sollten.“ Dan nickte. „Falls hier oben jemand die Kanonen sieht, wird er neugierig werden, und wenn er gute Augen hat, wird er auch den Eingang der Höhle finden. Habt ihr schon ein besseres Versteck?“ „Ich hätte eins“, sagte Siri-Tong, „aber das liegt auf der anderen Seite der Insel.“ Hasard lachte, als Dan O’Flynn das Gesicht verzog. Er dachte genau das gleiche wie alle anderen. Das Schleppen der riesigen Beute durch das Gewirr der Lavafelsen, in denen es so heiß war wie in einem Backofen. „Deinem Gesicht nach zu urteilen“, sagte der Seewolf, „würdest du die Beute lieber den Spaniern überlassen, was?“ „So war das nicht gemeint, Sir“, ereiferte sich Dan O’Flynn. „Den verlausten Dons — niemals! Und wenn ich das ganze Zeug allein um die Insel schleppen müßte.“ „Wir werden es gemeinsam schleppen“, versprach Hasard. Siri-Tong und der Seewolf umgingen einen gewaltigen Felsblock und stiegen ein paar Yards tiefer hinab. Hasard suchte mit den Augen nach einem Anzeichen für das Vorhandensein der Höhle, aber er mußte schon sehr genau hinsehen, bis er den Eingang endlich fand. Egal, die Dons hatten auch keine schlechten Augen. Er bückte sich und trat in den schmalen Gang. Angenehme Kühle herrschte hier, als er sich an den Wänden vorbeizwängte. Es war immer das gleiche, sobald man den Tempel des Schlangengottes betrat, fand er. Hier herrschte eine majestätische Ruhe, hier war alles anders. Diese Ruhe wurde nur durch das monotone Plätschern von Wassertropfen unterbrochen, aber selbst dieses Geräusch gehörte dazu. Als sie den Hauptdom erreichten, blieb Siri-Tong stehen. Fahles, grünliches Licht sickerte durch irgendwelche Ritzen herein.
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Sie sah aus wie eine fremdartige exotische Göttin. Unverwandt blickten ihre geheimnisvollen Mandelaugen den Seewolf an, und dann trat sie einen Schritt näher, bis sie ganz dicht vor ihm stehenblieb. Sie mußte hoch zu ihm hinaufsehen, denn Hasard überragte sie um fast zwei Kopflängen. Der Seewolf hatte das Gefühl, als schwämme er auf einer riesigen Woge davon, die ihn schnell mit sich fort trug. Er versuchte, sich diesem Bann zu entziehen, der von ihr ausging, aber es half ihm nicht viel, und so wollte er sich brüsk abwenden. Eine kleine warme Hand umschlang seinen Nacken, die Rote Korsarin stellte sich auf die Zehenspitzen, und gleich darauf fühlte der Seewolf ihre brennenden Lippen auf seinem Mund. Er hörte sein Herz überlaut in der Brust schlagen, spürte den weichen biegsamen Frauenkörper und vergaß sekundenlang die Welt um sich herum. Nein, dachte er betäubt, sie hatten im Moment andere Probleme, vor allem, sie hatten keine Zeit. Sehr sanft, ohne sie dabei zu verletzen, löste er sich von ihr, lächelte und sah sie an. „Sollten wir uns das nicht für einen späteren Zeitpunkt aufheben?“ fragte er leise. Ihr zärtlicher Blick brannte in seinen Augen. Sie nickte. Und sie fand auch schnell wieder in die Wirklichkeit zurück. „Ja, Pirat“, flüsterte sie. „Und jetzt suchen wir nach einem anderen Versteck für die Schätze.“ „Erst wollen wir sie mal inspizieren, damit wir einen ungefähren Überblick haben.“ Etwas später erreichten sie den Schlangentempel. Hier war es noch kühler, aber hier war auch das Rauschen lauter, wenn das Wasser durch die geheimnisvollen, unterirdischen Kavernen abfloß. Von den Wänden tropfte es leicht, und auch der Untergrund war von leichter Nässe überzogen. In ein paar Stunden würde es jedoch hier unten völlig trocken sein. Das besorgte die Sonne, die die Felsen von außen her aufheizte, und die
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ihre gespeicherte Wärme dann wieder weiter ins Innere abgaben. Der Schlangengott starrte sie an wie Eindringlinge, die unerwünscht waren. Seine schimmernden Augen schienen zu leben und jeder Richtung zu folgen, in der die beiden sich bewegten. Dieses Phänomen hatte Hasard längst herausgefunden. Es war nichts weiter als ein kleiner Trick. Man hatte die Augen in die Statue so eingesetzt, daß sie genau nach vorn blickten. Ging man dann an dem Schlangengott vorbei, schien einem dieser Blick nach rechts oder links zu folgen. Eine unwahrscheinliche Pracht bot sich dem Auge. Selbst Hasard konnte sich an diesen gewaltigen angehäuften Schätzen nie so recht satt sehen. Da lagen sie aufgetürmt: Gold- und Silberbarren, schwere, hölzerne Truhen mit Eisenbeschlägen, gefüllt bis an den Rand mit Perlen, Schmuck, Edelsteinen, rohen Diamanten, indianischen Kostbarkeiten, Schnitzwerk. Tonnenweise lag es herum, wie der Schatz aus einem Märchen. Alle beide sagten kein Wort. Ihre Augen huschten von einer Wand zur anderen, verweilten dort auf den Kostbarkeiten, kehrten dann wieder zu den geheimnisvollen Truhen zurück und streiften die vielen glänzenden Barren aus purem Gold und Silber. Hasard durchbrach endlich das tiefe Schweigen. „Ein Fremder würde es nicht glauben“, sagte er leise. „Dabei ist es nicht einmal die Hälfte von dem, was wir damals nach England gebracht haben. Der Schatz für die Krone war noch viel gewaltiger und größer. Selbst wenn alle mit anpacken, werden wir es nicht an einem Tag schaffen, denn mehr als drei oder vier der Barren kann kaum jemand allein schleppen.“ Er nahm einen Goldbarren in die Hand und reichte ihn der Roten Korsarin. Als er losließ, sank ihre Hand von dem schweren Gewicht plötzlich nach unten, obwohl sie darauf vorbereitet war. „Nicht auszudenken, wenn das wirklich den Spaniern in die Hände fiele“, sagte sie
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nachdenklich. „Von diesen Schätzen könnten sie eine ganze Flotte bauen und hätten noch genug übrig.“ Hasard nickte gedankenverloren. Er legte den Goldbarren wieder zurück zu den anderen, die einen riesigen Berg bildeten. Im Geist stellte er sich den langen Marsch vor. Selbst wenn sie den Weg durch die dunklen Höhlengänge nahmen, würde es eine verdammt harte Arbeit werden, um bis ans andere Ende der Insel vorzudringen. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg, aber er fand keinen, es gab keine andere Möglichkeit, sie mußten in den saueren Apfel beißen. Er trat an den Schlangengott heran, an diese ihm so vertraute Statue, die er auf der Insel Mocha zum ersten Male gesehen hatte. Mocha — wie lange lag das schon zurück? Ewigkeiten, Jahrhunderte! „Wenn die Spanier diesen Tempel jemals entdecken, werden sie nicht zögern und den Schlangengott abmontieren, zumindest werden sie ihm die Augen herausbrechen. Schade um ihn, ich überlege gerade, ob man ihn nicht woanders unterbringen und dort wieder aufstellen könnte.“ „Den können zehn Männer nicht tragen“, versicherte Siri-Tong. „Und ich glaube auch nicht, daß man ihn so einfach auseinandernehmen kann.“ Hasard hatte das untrügliche Gefühl, als blickten ihn die grünen Augen des Gottes unverwandt an. Lag da nicht ein drohender Ausdruck in diesen Augen? Sie funkelten, schienen sich mit Leben zu füllen, doch im nächsten Augenblick, als er einen kleinen Schritt nach vorn tat, erloschen sie, als sein Schatten das diffuse Halbdämmerlicht verdeckte. Irgendwie schien dieser Gott zu leben, dachte er immer wieder. Er war nicht der einzige, der dieses Gefühl hatte. Auch den anderen Seewölfen erging es ähnlich, aber vermutlich lag das an der eigenartigen Atmosphäre hier unten. Er griff nach der Statue. Sie fühlte sich kalt und seltsam geschmeidig an. Die Kupferschalen gaben ein leises Geräusch von sich, und die Schlange züngelte ihn an, als er sie berührte.
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Da die Statue im Boden verankert war, ließ sie sich nicht anheben, doch als Hasard sie losließ, geriet er auf dem glatten Boden ins Rutschen. Mit einer Hand hielt er sich an dem Schlangengott fest. Diesmal schien tatsächlich Leben in die Gestalt gekommen zu sein, denn sie bewegte sich unter dem Druck seiner Hand und drehte sich leicht um ihre eigene Achse. „Verdammt“, sagte er leise und überrascht. „Die Statue läßt sich bewegen.“ Die Augen des Gottes blickten jetzt in eine andere Richtung — zum Eingang hin. Bisher hatte noch niemand den Schlangengott in dieser Drehrichtung bewegt, überlegte er. Doch, eine Ausnahme gab es, das war einer von SiriTongs Piraten gewesen, der damals die Augen aus dem Götzen hatte herausbrechen wollen. Aber dabei war er auf die Statue hinaufgeklettert. Hasard wollte das herausfinden. Er packte die Gestalt und bewegte sie in die andere Richtung zurück. Gehorsam glitt der Gott herum und wandte seine schimmernden Augen wieder der anderen Wand zu. „Dahinter verbirgt sich doch etwas“, sagte Siri-Tong, die den Gott neugierig betrachtete. „Oder hätte es einen Sinn, wenn man ihn lediglich in eine andere Richtung drehen kann?“ „Ich kann keinen Sinn dahinter entdecken. Aber was kann es nur sein?“ fragte der Seewolf. Er versuchte es ein zweites Mal. Diesmal drehte er mit aller Kraft an der Statue, allerdings in der entgegengesetzten Richtung. Dabei sah er genau auf die Platte, ob die sich ebenfalls verschob. Das war aber nicht der Fall. Die Platte bewegte sich um keine Haaresbreite von der Stelle. Also schien der Gott auf einer Achse zu ruhen, die durch die Platte hindurchführte. Aber welchem Zweck sollte das dienen? Hasard drehte weiter. Nach links bot sich kaum Widerstand, aber wenn er nach rechts drehte, ging es immer schwerer. Jetzt mußte er Gewalt anwenden, und als er es geschafft hatte, den Gott um hundertachtzig Grad zu drehen, hörte er
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den überraschten Ausruf der Roten Korsarin. Hasard fuhr blitzschnell herum und blickte Siri-Tong an, die aufgeregt zur Wand deutete. „Sieh nur“, sagte sie flüsternd, „in der Wand hat sich soeben etwas bewegt, eine Platte, oder ...“ In dem Halbdämmer erkannte Hasard ganz deutlich, was geschehen war, seit er den Gott versetzt hatte. In der glatten Wand war ein Loch entstanden, eine dunkel gähnende Öffnung, gerade groß genug, um einen Mann hindurchzulassen. Schweigend starrte Hasard in die finstere Öffnung. Das hatte niemand vermutet, obwohl er wußte, daß es unter den Felsen noch etliche Hohlräume gab, die bisher noch niemand betreten hatte. „Das wird ja immer rätselhafter“, sagte er schließlich und bewegte sich langsam auf die Öffnung zu. Dahinter gähnte absolute Schwärze. Auch als Hasard noch dichter herantrat, konnte er nichts weiter erkennen als ein finsteres Loch, das irgendwohin „Warte hier“, sagte er heiser, „ich hole eine Fackel. Dan hat welche dabei, ich bin gleich zurück.“ Siri-Tong griff nach seinem Arm. Ihre Augen waren ängstlich auf die entstandene, finstere Lücke gerichtet. „Laß mich hier nicht allein, Hasard“, bat sie. „Ich habe Angst, es ist alles so- so unheimlich.“ „Dann geh du die Fackel holen!“ Während die Rote Korsarin davonging, untersuchte Hasard den Mechanismus genauer. Er wollte unbedingt herausfinden, wie er funktionierte. Wieder und wieder bewegte er die Statue des geheimnisvollen Schlangengottes von einer Seite zur anderen. Und jedesmal verschloß sich die Wand wieder, wenn er den Gott in seine ursprüngliche Position zurückgedreht hatte. Dann kehrte er zu der Wand zurück, beklopfte sie und suchte nach einer Stelle, in der die Platte versenkt war. Aber so sehr er seine Augen auch anstrengte, er fand
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nichts, keinen Riß, keine verräterische Stelle. Siri-Tong kehrte wieder zurück. Sie hatte zwei Fackeln mitgebracht und eine glimmende Lunte, die Dan entfacht hatte. „Ich habe es Dan gesagt“, flüsterte sie, als könne jemand sie hören. „Er ist total aus dem Häuschen. Wir sollen aufpassen, hat er gesagt, er will nach uns sehen, .wenn wir uns nicht in einer halben Stunde melden.“ Hasard grinste, als er die Fackel entzündete. „Das läßt ihm bestimmt keine Ruhe mehr“, sagte er. „So, halte die Fackel bitte, ich werde den Gott zurückdrehen.“ Gespenstisches flackerndes Licht erhellte nun den großen domartigen Raum. Die Fackel warf die Schatten des Seewolfs, der Roten Korsarin und des Schlangengottes übergroß an die Wände und ließ sie auf und ab tanzen. Als Hasard den Gott herumdrehte, entstand plötzlich wieder die Öffnung, wie aus dem Nichts herbeigezaubert. Hasard nahm Siri-Tong die Fackel aus der Hand und leuchtete in die finstere Öffnung hinein. 3. „Eine Treppe“, sagte er überrascht. Der Schein der Fackel fiel auf feuchte Quadern, aus denen die Treppe erbaut war. Sie führte in ungewöhnlich steilem Winkel in die Tiefe. Rechts und links waren die Wände so glatt behauen wie in dem oberen Gang, der zum Tempel führte. Hasard hielt den Kopf vorgereckt und lauschte in die Dunkelheit. Da war leises Rumoren zu hören, feines Zischen und dazwischen ein weit entferntes dumpfes Brausen, das seinen stetigen Rhythmus nicht veränderte. „Das Rauschen kommt von dem Wasser, das durch die unterirdischen Kavernen läuft“, sagte Siri-Tong, die ihren anfänglichen Schreck längst überwunden hatte und jetzt genau so neugierig war wie der Seewolf.
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Ohne zu zögern, schritt Hasard die feuchten Quadern hinunter, dicht gefolgt von der Korsarin. Doch dann blieb er stehen. „Was ist, wenn sich die Öffnung plötzlich hinter uns wieder schließt?“ fragte er. „Wir kennen den Mechanismus nicht. Es ist möglich, daß die Platte auch nach einer Weile von allein in die Wand zurückgleitet.“ „Daran habe ich noch gar nicht gedacht“, murmelte Siri-Tong. „Man sollte aber auch daran denken“, erwiderte der Seewolf, „sonst sitzt man plötzlich in der Falle.“ Ihre Stimmen klangen unnatürlich laut und hohl in dem Gewölbe, obwohl sie nur leise miteinander sprachen. Hasard ging die paar Schritte zurück und untersuchte die Platte. Als er mit der Fackel in die untere Ecke leuchtete, wurde ihm auch der Mechanismus klar. Er war einfach und primitiv, aber gerade daher wirkungsvoll. Verschob man den Schlangengott, so bewegten sich walzenförmige Steine, die eine Platte zum Kippen brachten. Drehte man den Gott wieder in die alte Stellung zurück, ließ die Spannung der Steinwalzen nach und die Platte kippte zurück. Das konnte man bis in alle Ewigkeit wiederholen. Von allein jedenfalls schwang die Platte nicht zurück, sie konnten also nicht überraschend eingeschlossen werden. Hasard ging weiter. Die Fackel hielt er weit von sich in der ausgestreckten Hand. Er zählte mehr als vierzig behauene Steinstufen, ehe er festen Boden unter den Füßen hatte. Das Rauschen und Gurgeln war etwas lauter geworden, doch es fanden sich hier unten keine weiteren Anzeichen von Wasser. Der Boden war trocken und kühl, fast kalt war es hier. Die aufgeheizten Felsen konnten die gespeicherte Wärme nicht mehr bis in diese Tiefen weitergeben. Als er die Fackel höherhob, blieb er wie vom Donner gerührt stehen und sah sich um. Die Korsarin griff nach seinem Arm. „Was ist das?“ fragte sie atemlos.
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„Unser neues Versteck“, sagte der Seewolf respektlos. „Damit dürfte sich das andere erübrigt haben, wenn mich nicht alles täuscht.“ Der Raum, in dem sie jetzt standen, war mehr als doppelt so groß wie der eigentliche Schlangentempel. Auch die Wände waren höher. Nur wirkte er noch unheimlicher. Hier unten fiel nicht mehr der geringste Lichtstrahl herein. Es war absolut dunkel, ohne jenen kleinen grünlichen Schimmer, wie er in den oberen Räumen herrschte. Ein fast, quadratischer Raum tat sich auf, und als Hasard noch weiter vordrang, entfuhr der Korsarin unwillkürlich ein kleiner Schrei. Links und rechts an den Wänden standen Gestalten, mannsgroß, die man auf den ersten Blick für Menschen halten konnte. Auch der Seewolf prallte im ersten Moment zurück. Da standen sie, hölzerne Figuren mit drohend erhobenen Armen, oder mit über der Brust verschränkten Armen, großen Augen, die aus grünlich funkelnden Edelsteinen waren. Sie trugen nur Lendenschurze, die grell bemalt waren. Ihre Gesichter waren Indianern eines unbekannten Stammes nachgebildet, und alle hatten die Augen so angeordnet wie der Schlangengott selbst. Sie alle blickten genau den Betrachter an. Hasard ging weiter. Seine Schritte hallten laut auf dem Steinboden, als er eine nach der anderen der fremden Gestalten passierte. Insgesamt zählte er zwölf, sechs auf jeder Seite, wild noch immer war das Gewölbe nicht zu Ende. Das Licht der Fackel verlor sich irgendwo in der Ferne. Nach annähernd hundert Yards war die Abschlußwand zu erkennen. Diese Abschlußwand aus rohem Felsen bestand aus einem großen Altar auf dessen Mitte die verkleinerte Abbildung eines Schlangengottes thronte, wie er oben im Tempel stand. Siri-Tong war so überrascht, daß sie eine ganze Minute lang kein Wort hervorbrachte. Sie stand nur da, sah den Altar an, blickte auf die hölzernen
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Gestalten, die irgendwelche Wächter symbolisieren sollten, und fühlte, wie ihr ein kühler Schauer über den Rücken lief. „Mir fehlen die Worte“, sagte sie erschüttert. „Und dabei glaubte ich immer, diese Insel so gut zu kennen. Aber ich habe ja nicht einmal den Schlangentempel gefunden. Wer weiß, was hier noch alles zu entdecken ist.“ „Mich sollte nichts mehr überraschen“, gab Hasard ihr recht. „Dieser Raum ist absolut trocken, bis auf die Treppe oben. Aber man hört deutlich das Wasser unter uns murmeln und rauschen.“ „Es dringt hier nicht ein, auch beim höchsten Stand nicht, sonst müßte es Spuren geben“, sagte die Korsarin. Hasard sah den Schlangengott an, der auf dem riesigen Altar stand. Er unterschied sich in nichts von dem anderen, nur, daß er viel kleiner war. Und dann kam ihm plötzlich ein Gedanke. „Mal sehen, was passiert, wenn ich ihn drehe“, sagte er. Siri-Tong hielt den Atem an, als der Seewolf versuchte, auch diese Statue herumzudrehen. Sie saß jedoch fest und gab nicht nach, auch dann nicht, als er es mit aller Kraft versuchte. „Alles kann man schließlich nicht erwarten, aber der Gedanke drängte sich mir geradezu auf“, sagte er. „Was hältst du von diesem Versteck, Siri-Tong? Da gehen mindestens zehn Schiffsladungen voll Gold hinein, und es ist sicherer als das andere, vorausgesetzt, man verschließt den Eingang so, daß wirklich niemand hineingelangen kann.“ „Es ist ideal“, erwiderte Siri-Tong. „Ein besseres Versteck gibt es wirklich nicht.“ „Und vor allem der Transport ist einfach“, sagte Hasard. „Niemand braucht sich mit dem Gold abzuschleppen. Ich lasse ein paar Bohlen heraufbringen, aus denen Ferris eine Rutsche zimmern kann. Dann wird eine Kette gebildet, und der Rest geht so gut wie allein.“ „Eine gute Idee“, sagte Siri-Tong. Wieder sah sie sich nach allen Seiten um, als hätte sie Furcht. Etwas Unheimliches hatte dieser Raum ja auch an sich,
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hauptsächlich der hölzernen Gestalten wegen, die reglos an den Wänden lehnten, und deren grünliche Augen ihnen überall hin zu folgen schienen. Weitere Verstecke gab es nicht, wie Hasard nach einem Rundgang feststellte. Jedenfalls ließen sich keine erkennen, obwohl man gerade hier vor Überraschungen nicht sicher war. „Kehren wir wieder um“, sagte er, als von oben eine dumpfe Stimme erklang. Siri-Tong zuckte zusammen, sie ging gerade an einem der hölzernen Wächter vorbei, und im ersten Augenblick dachte sie, es wäre die dumpfe Stimme aus der Figur gedrungen. Die Korsarin, die so vorzüglich mit dem Degen umzugehen verstand und den Teufel persönlich nicht fürchtete, zeigte Anzeichen von Entsetzen. Doch der Seewolf lachte nur laut. „Das ist Dan“, sagte er, „die Zeit ist vermutlich um. Komm runter, Dan, geh der Treppe nach!“ rief Hasard nach oben. Zusammen gingen sie weiter, damit Dan bei seinem Abstieg ein wenig Licht hatte. Der Seewolf ergriff seinen Arm. „Was sagst du jetzt?“ forschte er. Dan zeigte sich kolossal beeindruckt. Er mußte ein paarmal zum Sprechen ansetzen und räusperte sich die Kehle frei. „Donnerwetter, wer hätte das gedacht!“ rief er. „Und das habt ihr so ganz nebenbei entdeckt. Was sind das für Kerle?“ fragte er dann übergangslos. „Anscheinend symbolisierte Wächter, die Eindringlinge abschrecken sollen, oder aber sie haben die Aufgabe, den Altar und den Schlangengott zu bewachen.“ „Logischerweise müßten dann oben auch welche stehen“, gab Dan seiner Meinung Ausdruck. Der Seewolf hob die Schultern und blickte zurück. „Wer weiß, ob wir jemals erfahren, wer das alles hier angelegt hat“, sagte er. „Ob es reiner Kult war, eine Götzenverehrung oder ein vorübergehendes Versteck. Tatsache ist, daß wir den Raum dringend brauchen, denn durch seine Entdeckung
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sparen wir uns mehr als einen ganzen Tag knochenharter Arbeit.“ „Keine Angst, Hasard“, sagte Dan schnell, als er den Blick des Seewolfs bemerkte, der an ihm vorbei zur Treppe ging. „Mir ist niemand gefolgt, und oben ist weit und breit ebenfalls nichts zu sehen, alles ist sauber.“ „Ich habe dir keinen Vorwurf gemacht, im Gegenteil: Ich freue mich, daß du nach uns gesehen hast. Kehren wir um. Die anderen werden mit dem Abwracken der Galeone bald fertig sein. Dann müssen wir die Beute umladen, denn es dauert nicht mehr lange, und die verdammten Dons sind hier.“ Wortlos eilte Dan die Treppe hoch, gefolgt von Siri-Tong und dem Seewolf, der dem Zufall dankte, daß er diesen Raum gefunden hatte. Zum Verlassen der Schlangen-Insel wurde es wirklich allerhöchste Zeit, denn wenn die Spanier diesmal anrückten. das wußte Hasard, gab es keinen Pardon mehr. Die würden immer mehr Schiffe anfordern, und dieser Übermacht mußten sie früher oder später unterliegen. Draußen brodelte immer noch die Luft in den Felsen. Sie flirrte und zauberte bizarre Muster in das Gestein. Deutlich sichtbare Spiralen tanzten vor den heißen Wänden. Dan versicherte, daß er weiterhin hier oben auf Posten bleiben würde, nur möge Hasard nach Möglichkeit den Affen Arwenack mitbringen, damit der sich richtig austoben konnte. Hasard versprach es lachend. Dann stiegen die beiden hinunter zur Bucht. Mittlerweile war es Mittag geworden. * Von der „Sevilla“ war nichts mehr zu sehen außer ein wenig Rauch, der noch durch die Bucht zog. Das war der Rest von Capitan Rocas stolzem Schiff, der von einer Rah erschlagen worden war. Jetzt hatten die Männer die Galeone restlos abgewrackt, als Hasard d Siri-Tong eintrafen.
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Die meisten hockten erschöpft im Sand oder hatten ihre schwitzenden Körper im kühlen Wasser gebadet. Der Profos stand auf und ertappte sich dabei, wie er seinen Schädel kratzte. „Verdammt“, fluchte er und warf. dem Wikinger einen schiefen Blick zu, „ich glaube, das steckt allmählich an.“ „Das Schiff ist spurlos verschwunden“, sagte Thorfin Njal. „Nicht ein Span ist noch übrig.“ „Kein Span mehr“, versicherte auch der Wikinger, den sie den Stör nannten, weil er so ein langes Gesicht hatte, und der die Angewohnheit hatte, Thorfin die meisten Worte nachzukauen, wenn er etwas sagte. „Das habt ihr prächtig hingekriegt“, sagte der Seewolf lobend, „dafür gibt es heute abend, wenn die größte Hitze vorbei ist, auch eine Extraportion Rum. Unserer baldigen Abfahrt steht dann auch nichts mehr im Wege, bis auf die Schätze.“ Fast dreißig Augenpaare starrten ihn erwartungsvoll an. Aber der Profos kam den anderen zuvor. Er grinste verlegen. „Die Rübenschweine sind zu müde zum Umfallen, Hasard, sonst lägen sie schon längst flach. Hat das mit den Schätzen nicht noch Zeit bis morgen früh?“ „Außerdem haben wir noch kein neues Versteck“, wandte Matt Davies ein. „Und bis wir eins gefunden haben ...“ „Was für ein Versteck denn?“ fragte Smoky den Schiffszimmermann. „Was wollt ihr denn verstecken?“ „Deinen Verstand haben wir versteckt!“ brüllte Tucker. „Mit etwas Glück finden wir ihn bald wieder, Mann! Frag doch nicht immer so dämlich, du Stint!“ Hasard überhörte das geflissentlich. „Nein, es hat nicht mehr Zeit bis morgen“, sagte er. „Und ein neues Versteck haben wir bereits gefunden. Es ist ein weiterer Tempel, eine riesengroße Kaverne, die genau unter dem Schlangengott liegt.“ „Was für’n Schlangengott?“ fragte Smoky. Der Rest seiner Worte kam nur noch erstickt hervor, weil Tucker ihm einfach seine breite Hand auf den Mund legte.
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Hasard erzählte es ihnen, so wie es gerade passiert war. Als er mit seinem Bericht endete, sahen ihn die Männer ungläubig an. Aber dann brach ein lauter Jubel los, als Hasard weiter versicherte, daß sich keiner übermäßig anzustrengen brauche, wenn man eine Rutsche baue, auf der man das ganze Zeug bequem nach unten transportieren könne. „Würde das Versteck auf der anderen Seite der Insel liegen“, schloß er, „dann müßten wir bis morgen warten, das könnte ich nicht von euch verlangen.“ „Nichts wie hin!“ schrie der Profos, „das werden wir uns gleich einmal ansehen.“ „Langsam“, dämpfte Hasard den plötzlichen Eifer. „Zuerst werdet ihr alle kräftig essen und euch danach eine Stunde ausruhen. Dann sehen wir weiter.“ Die Müdigkeit war bei allen wie weggeblasen. Eben waren sie noch physisch total ausgelaugt und erschöpft, und jetzt herrschte von einem Augenblick zum anderen Euphorie unter den Männern. „Wir braten uns Fische auf dem Feuer!“ schrie der Kutscher, der auch mit angepackt hatte. „Los, ein paar ziehen ab und fangen welche, dazu gibt es Dünnbier.“ Nicht mehr der kleinste Rest von Müdigkeit war da. Wie die Wilden stürmten sie los, und jeder hatte plötzlich eine Aufgabe, ohne daß sie es untereinander abgesprochen hätten. „Der Eifer der Seewölfe steckt an“, sagte Siri-Tong zu dem Seewolf. „Sogar meine müden Krieger sind wieder wach geworden. Dabei sind sie eine solche Schufterei gar nicht gewöhnt.“ Was sollte Hasard darauf entgegnen? Schon seit jeher hatte die Rote Korsarin sich an den Seewölfen orientiert und versucht, auch ihre Mannschaft so hinzubiegen, wie Hasard es getan hatte. Aber das war alles vergebliche Mühe gewesen, bis auf ganz wenige Ausnahmen wie den Boston-Mann. Die meisten anderen waren rauhe Gesellen, die es mit der Ehrlichkeit und anderen Dingen nicht so genau nahmen.
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Thorfin Njal trat näher. Mit dem Stiefel scharrte er unruhig im Sand herum. „Wann vermessen wir den schwarzen Segler, Hasard?“ fragte er. „Dein Schiffszimmermann hat doch versprochen ...“ „Eins nach dem anderen, Thorfin. Zunächst laden wir die Beute um, dann sehen wir uns das Schiff an. Das werden wir morgen in aller Frühe nachholen. Zufrieden?“ Der Wikinger strahlte. Seine Hand zuckte zum Helm, aber die riesengroße Pranke Carberrys griff danach. „Kratz dich gefälligst woanders“, grollte er, „sonst denken die anderen noch, du hütest nordische Läuse.“ „He“, protestierte der Wikinger, „ich verstehe kein Wort. Was, beim Odin, soll das heißen?“ Weder Hasard noch ein anderer verstand den Profos. Schließlich konnte ja auch niemand wissen, daß diese Kratzerei am Helm den Profos mächtig aufregte. Und wenn er das laut sagen würde, dann lachten die anderen ihn aus, das war sicher. „Ach, nichts“, wehrte er ab, denn Hasards verwunderter Blick ließ ihn direkt verlegen werden. „So übel sind die nordischen Läuse vielleicht gar nicht mal.“ „Jetzt fängt der auch noch an zu spinnen“, stöhnte Ferris Tucker. _Erst Smoky und jetzt er. Nicht mehr lange, und wir sind von einem Haufen blöder Kerle umgeben.“ Hasard verstand immer noch nicht. Er begriff kein Wort und schaute nur von einem zum anderen. Wer weiß, vielleicht war den Kerlen ganz einfach bei der großen Hitze die Arbeit zu Kopf gestiegen. Der Profos stampfte durch den Sand, um sich um das Feuer zu kümmern. Ein verdammt beschissener Tag heute, dachte er. Insgeheim ärgerte er sich immer noch über den Wikinger, der breit und behäbig in der Sonne stand und seinen Helm malträtierte. Innerhalb einer halben Stunde hatten die Männer vier ausgewachsene Zackenbarsche gefangen. Sie bissen in der Bucht auf fast jeden Köder gierig an, der im Wasser hing. Der Kutscher, Gary
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Andrews und einer aus Siri-Tongs Mannschaft nahmen die vier Exemplare aus. Um das Feuer herum schlich mit verkniffenem Gesicht Bill the Deadhead, den alle angrinsten. Da sie sich irgendwie abreagieren mußten, vor allem der Profos, war Bill the Deadhead sogleich das Ziel ihrer bissigen Bemerkungen. Darin war Ed Carberry ganz groß. Er grinste den Piraten hinterhältig an und zeigte mit seinem großen Daumen auf Bills Hintern. „Setz dich doch“, forderte er ihn auf. „Du hast doch schon den ganzen Tag gestanden.“ „Ich steh gern“, versetzte der Pirat bissig. Carberry kratzte sich das Kinn, während er weiter grinste. „Wenn ich einen Steckschuß im Achtersteven hätte, würde ich mich auch nicht hinsetzen“, sagte er laut. „Wie kommt man eigentlich an so einen Schuß ins Achterkastell?“ Bill preßte die Lippen ärgerlich zusammen. Er schwieg. „Ah, ich weiß“, sagte der Profos und tat so, als überlege er. „Man kriegt Angst vor den Spaniern und rennt weg, was, wie? Und die hinterhältigen Kerle ballern dir einfach eins mit der Drehbasse hinten ‘rein.“ „Hör zu, du Walroß!“ fauchte der Pirat angriffslustig. „Ich bin noch nie vor einem Spanier ausgerissen, klar? Wenn du das noch einmal behauptest, dann kannst du was erleben!“ „Von dir?“ Der Profos lachte laut. „Du hast doch soviel Blei im Arsch, daß du gar nicht mehr laufen kannst!“ Ein wüstes Brüllen und Lachen der Seewölfe begleitete seine Worte. Blacky wälzte sich im Sand und schrie vor Vergnügen. Nur der schweigsame Boston-Mann hielt zu Bill und klopfte ihm auf die Schulter. Er ließ sich sogar dazu herab, eine Rede zu halten. „Wer den Schaden hat, hat auch den Spott“, sagte er beruhigend. „Die Kerle wollen dich doch nur verschaukeln. Lach
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lieber mit ihnen, dann hören sie wieder auf.“ „Darüber kann ich nicht lachen“, schnaufte Bill empört. „Das hätte denen auch passieren können.“ Carberry sah sich verwundert um. „Uns?“ fragte er erstaunt. „Hat von euch schon mal jemand eine Ladung Blei in den Hintern gekriegt?“ fragte er. Alle verneinten lachend, bis auf den Kutscher, der dem Profos einen überlegenen Blick zuwarf und dann anzüglich grinste. „Du etwa, Kutscher?“ fragte der Profos mit gerunzelten Brauen. „Ich nicht“, sagte der Kutscher betont. „Aber ich kannte mal einen bei uns an Bord, den hat eine Schrotladung am Achtersteven erwischt, und ich mußte ihm die Dinger mühsam mit der Pinzette herausholen. Und ein gewisser Arwenack war dabei und hat zugesehen.“ Carberry verschluckte sich fast und lief dunkelrot an. „Du sollst dich doch um deine verdammten Barsche kümmern, du Kombüsenhengst!“ schrie er. „Und nicht immer dein vorlautes Maul aufreißen, wenn dich keiner fragt.“ „Was hat er denn?“ wandte sich Smoky fragend an Tucker. Der Schiffszimmermann schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Himmel, du mit deiner Tempovergeßlichkeit, oder wie das heißt. Das war doch Ed, damals.“ Diesmal verkniffen sie sich alle das Lachen nur mühsam, denn Carberry schickte drohende Blicke in die Runde. Verdammt, das hatte er ganz vergessen, und nur der lausige Kutscher mußte alle wieder daran erinnern. Von da ab ersparte er sich weitere bissige Kommentare und wartete ab, bis die Zackenbarsche über dem Feuer hingen und fertig waren. Und dann langte der Profos heißhungrig zu. „Mann“, sagte Batuti, der riesenhafte Gambia-Neger empört. „Profos fressen alles weg, fressen so viel wie großes Ochs.“
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Aber der Profos ließ sich nicht stören, er hörte überhaupt nicht mehr zu, was die Kerle faselten. Nur einmal blickte er hoch und sah den Bengel Bill vor sich stehen. Er gab ihm ein großes Stück Fisch und grinste. „Hier, iß das“, sagte er. „Hau ordentlich ‘rein! Und wenn es nicht langt, fangen wir nachher noch einen von den Kalmaren.“ Er sah, wie der schwarzhaarige Bengel zusammenzuckte, sich dann aber fing und ebenfalls grinste. Ja, das Erlebnis mit dem Kalmar, der ihn in die Tiefe gezogen hatte, stand noch deutlich in seiner Erinnerung. Hasard hatte ihm in letzter Sekunde das Leben gerettet, oder war es der Knall der berstenden Galeone „Sevilla“ gewesen, die auf dem Riff gestrandet war? Egal, jedenfalls hatte der lausige Krake ihn losgelassen. Und dafür, daß er so übereifrig ins Wasser gesprungen war, hatte der Profos ihm eine Tracht Prügel Verabreicht, eine kleine winzige nur, doch er hatte sie sich redlich verdient. „Die Dinger fange ich mit der bloßen Hand“, übertrieb er, und grinste von einem Ohr zum anderen. „Man braucht ihnen nur den Lebensnerv zwischen den Augen durchzubeißen, und schon sind sie erledigt.“ „Ja, eine Kleinigkeit“, seufzte der Profos. „Du kannst ja nach dem Essen anfangen zu üben. Und wenn du ihnen Salz und Pfeffer auf die Tentakel streust, ergeben sie sich freiwillig.“ Carberry sah sich um, doch noch waren alle beschäftigt, und Hasard hatte das Zeichen zum Aufbruch in die Berge nicht gegeben. Also hatten sie noch eine halbe Stunde Zeit zum Ausruhen. „Bald geht es über den Äquator“, sagte der Profos schläfrig. „Vielleicht schon in einer Woche oder zwei. Daß du mir dann spurst, Söhnchen, und dem Seewolf keinen Kummer bereitest, verstanden?“ „Aye, Sir. Ich bin noch nie dagewesen. Aber mein Vater hat mir schon davon erzählt. Dort ist es höllisch heiß. stimmt’s?“
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„Heiß?“ Carberry grinste. „Heiß ist gar kein Ausdruck. Da mußt du in den Mast und Ausschau halten, aber ganz genau. Du mußt auf grüne Zaunpfähle achten, auf jedem steht ein Schild mit einem großen A drauf, das heißt Äquator. Und dann gehts in einen Tunnel, der im Wasser liegt, und nach einer Weile auf der anderen Seite wieder heraus. Du hast ständig Arbeit, denn wegen der Hitze muß dauernd der Anker gekühlt werden, dann darfst du dich an nichts lehnen, was aus Eisen ist, das schmilzt dann nämlich zusammen. Und wenn du den Äquator anfaßt, verbrennst du dir die Hände, die sind dann plötzlich weg. So wie bei Matt Davies und Jeff Bowie. Die haben auch den Äquator angefaßt.“ Bill hatte mit offenem Mund zugehört, was der Profos ihm da mit todernstem Gesicht erzählte. Jetzt stutzte er. „Aber Jeff Bowie hat doch, äh — im Fluß ...“ stotterte er. „Klar hat er, mitten im Fluß, da läuft der Äquator ja teilweise auch durch, man sieht ihn ganz deutlich. Und wer zuerst die grünen Zaunpfähle entdeckt, ist der Held des — äh — Äquators.“ Carberry lehnte sich zurück, verschränkte die Arme über dem Kopf und war fünf Sekunden später schon eingeschlafen. „Donnerwetter“, murmelte Bill beeindruckt und dachte nicht im Traum daran, daß der Profos ihm etwas vorgelogen hatte. Und so wie Carberry im Schlaf aussah, hätte ihn auch keiner für einen Lügner gehalten. Ganz entspannt war sein narbiges Gesicht mit dem gewaltigen Eisenkinn, und um seine Lippen lag ein stilles Grinsen. Ja, das war schon ein Kerl, der Profos, dachte Bill, der hatte die Schilder am Äquator sicher schon oft gesehen, der kannte sich überall aus. Er nahm sich vor, wenn es soweit war, ganz besonders hoch in den Mars zu entern, damit er als erster die Schilder sah. 4. Die „Le Vengeur“ unter Ribault und von Hutten war ebenfalls in die Bucht der
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Schlangen-Insel eingelaufen. Sie hatte draußen einen ganzen Tag lang nach verirrten Spaniern gesucht, aber keinen mehr gefunden. Es gab keine Überlebenden, außer denen, die entkommen waren und jetzt eine tödliche Gefahr für sie alle darstellten, denn sie würden mit einer starken Flotte zurückkehren. Eine halbe Stunde danach war Ribault über alles unterrichtet, und jetzt hatten sie so viele Leute, daß das Umladen der riesigen Beute zu einem Kinderspiel wurde. Ferris Tucker hatte Holzbohlen und Bretter in die Felsen bringen lassen und Werkzeug mitgenommen. Fackeln wurden entzündet, der Tempel inspiziert und die Rutsche gebaut, die Tucker zusammennagelte. Dann begann die Arbeit und alle packten mit an. Gold- und Silberbarren rutschten nach unten in den neuentdeckten Raum. Die Männer schufteten wie verbissen. Hasard hatte sie alle feierlich schwören lassen, niemals und unter keinen Umständen das Versteck preiszugeben, und sie alle hatten es noch einmal nachdrücklichst hoch und heilig geschworen. Im Schlangentempel nahm die Beute ganz rapide ab, und weiter unten stapelte sie sich an den Wänden. Ein paar Stunden später war es dann so weit. Der letzte Barren war verstaut, der Schlangentempel gähnte leer und verlassen. Die ersten todmüden Männer gingen zu ihren Schiffen zurück. Übrig blieben nur ein halbes Dutzend. Ferris Tucker war dabei, die Platte so zu verkeilen, daß niemand sie öffnen konnte. Zum Schluß sah er sich den Mechanismus an und nickte zufrieden vor sich hin. „Wenn wir jetzt eine der Rollen entfernen, sagte er zu dem Seewolf, „dann möchte ich sehen, wer da noch hinter das Geheimnis kommen sollte. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, weil der Verbindungsbolzen fehlt, in diesem Falle also ein Stein.“
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Der längliche Stein wurde entfernt. Tucker legte ihn auf den Boden, um ihn später mitzunehmen. Dieser Stein war sozusagen der Schlüssel zur Schatzkammer. Danach prüfte der Seewolf selbst den Mechanismus aus. Der Schlangengott ließ sich noch mit Mühe drehen, aber das war auch alles. Er übte keine Funktion mehr aus. Und die Platte ließ sich nicht mehr bewegen, sie war so fest wie die Mauern selbst. Keine Fuge. keine Ritze verriet das Versteck. hinter dem die unschätzbaren Werte lagerten. Kein Spanier würde sie finden. und wenn er den ganzen Tempel auf den Kopf stellte. Sie beseitigten die Spuren, nahmen alles mit, was noch herumlag und kehrten dann an Bord zurück. Morgen begann der große Tag, da sollte alles zum Auslaufen der beiden Schiffe gerichtet werden. Jean Ribault und Karl von Hutten wollten weiterhin in der Karibik bleiben, wie es vereinbart war. Auf den Schiffen und in den Felsen zogen Wachen auf. * Am nächsten Morgen hatte es aufgebrist. Vor der Passage liefen aufgeregte kleine Wellen hin und her. Der Wind blies aus Südwest und vertrieb die größte Hitze. Hasard befand sich bei Thorfin Njal und der Roten Korsarin auf dem schwarzen Segler. Auch Ferris Tucker, Big Old Shane, Bill und noch ein paar andere waren mitgekommen. Tucker sollte das Schiff „abnehmen“, wie er es dem Wikinger schon seit Tagen versprochen hatte. Außerdem wollte Ferris Teile des Achterschiffes vermessen, denn der schwarze Segler gab immer wieder neue Rätsel auf, auch wenn Thorfin hundertmal versicherte, er kenne den Kasten jetzt ganz genau. Tucker trank aus einer Muck einen Schluck verdünnten heißen Rum, in den die Rote Korsarin Zuckerrohr hineingetan hatte. „An die Arbeit“, murmelte er. nachdem er das belebende Getränk getrunken hatte. Er
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blickte den Wikinger an, der sich aufgeregt den Helm kratzte. Im Gegensatz zu Carberry ärgerte das den Schiffszimmermann nicht, es irritierte ihn lediglich immer wieder, wie ihn auch die Felle irritierten, die der Wikinger statt Hosen und Hemd trug. Die Hitze störte den Nordmann dabei keineswegs. Arne, Oleg, Eike und der Stör standen Ferris überall im Weg und grinsten entschuldigend, wenn er sie sanft beiseite schob. Tucker sah noch einmal über das Deck und nickte dann anerkennend. „Ein prächtiger Kasten“, lobte er. „Man kann sich an dem Schiff nicht satt genug sehen.“ Das stimmte. Der schwarze Segler war ein prachtvolles Schiff. Es hatte Jahre in der Bucht von Little Cayman überdauert, ohne erkennbare Anzeichen von Verrottung zu zeigen. Und jetzt, nachdem es teilweise neu aufgeriggt worden war, sah es aus wie neu, mit seinen vier Masten, die eine Menge Zeug tragen konnten. Es war auf den ersten Blick ganz normal gebaut, und dennoch wich es in vielen Einzelheiten von einem herkömmlichen Segler ab. Das fiel aber nur auf, wenn man einen Blick dafür hatte wie Ferris Tucker oder die Seewölfe, wie Hasard oder Big Old Shane. Fremde hatten dieses Schiff gebaut, und sie hatten dazu ein fremdes Holz verarbeitet, das von ganz besonderer Widerstandskraft war, ein Holz, das es in den Kariben nirgends gab. Tucker hatte immer angenommen, daß die Zopfmänner, die dieses Schiff gebaut hatten, eine besondere Art der Präparierung kannten, doch mittlerweile hatte er diese Theorie wieder verworfen. Es lag zweifelsfrei am Holz selbst, ein Holz wie Eisen. Die schwarzen Segel waren aufgegeit, sie waren neu und von der gleichen Farbe wie der Rumpf des Schiffes. Über die Kanonen war man sich noch nicht einig, jedenfalls was das Kaliber betraf. Es mußte sich um Fünfundzwanzigpfünder handeln. Davon standen auf Back- und Steuerbordseite je zwölf Kanonen. Vorn und achtern waren hinter Luken versteckt bronzene Gestelle
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verborgen, die zum Abfeuern der verhängnisvollen Brandsätze dienten. Ferris Tucker überprüfte die Masten, das stehende Gut, das man erst kürzlich neu eingeschoren hatte. Es war alles in Ordnung. Der Wikinger hatte eine Heidenarbeit geleistet, sich kaum Ruhe gegönnt, immer geschuftet und ausgebessert. Angefangen hatte er damit schon auf Little Cayman, als er die Muscheln am Rumpf abgekratzt und die Gerippe, die an Deck herumlagen, über Bord geworfen hatte. Aber die Mühe und der Aufwand hatten sich gelohnt. Wenn er nun noch ein paar gute Leute anheuern konnte, war alles in Ordnung, .und der großen Reise stand nichts mehr im Wege. Schon zweimal hatten sie es versucht, und immer wieder waren sie gescheitert. Einmal hatte es sie nach Caicos in die Bucht der Menschenfresser verschlagen, und jetzt war die Panne mit Tortuga passiert, als Roca mit seiner „Sevilla“ dazwischengekommen war und sie pausenlos verfolgt hatte. An allem Übel war wieder einmal die Hure Juanita schuld gewesen, die jetzt tot war, erschlagen von einem herabstürzenden Mast. Damit war auch das letzte, das noch an Caligu, den Piraten, erinnerte, verschwunden. Tucker ging den anderen voran. „Mich interessiert noch einmal der Verbindungsgang von den Laderäumen zur Kapitänskammer, Madame“, sagte er zu der Roten Korsarin, die den schwarzen Segler befehligte, während der Wikinger Thorfin Njal bei ihr als gleichberechtigter Partner und Steuermann fahren würde. „Sagen Sie nur, Ihnen ist schon wieder etwas aufgefallen, Ferris“, erwiderte die Korsarin lachend. Tucker wiegte seinen roten Schädel. „Aufgefallen nicht gerade“, erklärte er, „aber die Maße erscheinen mir eigenartig. Sehen wir am besten selbst nach.“ „Ho, bei Odin“, sagte der Wikinger schnaufend. „Dieser Zimmermann ist unmöglich, dem entgeht nichts, aber auch gar nichts.“
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Für Tucker bedeutete das ein dickes Lob, wenn Thorfin so sprach. Er stieg in den achteren Laderaum hinunter und sah sich um. Der Raum war verschachtelt und mit einem eingebauten Teilschott abgesichert, hinter dem eine Holztreppe mit sechs Stufen zu einem weiteren Laderaum führte, der allerdings sehr klein war. Aber hier verbarg sich ein Geheimnis, das sie auch erst kürzlich herausgefunden hatten. In der schweren Bohlenwand befand sich eine Öffnung, die man auch auf den zweiten Blick nicht sah. Ferris Tucker hatte sie jedoch nach langer Suche entdeckt. Drei Bohlen ließen sich zur Seite drücken, wenn man den Trick kannte. Jetzt kannten ihn fast alle. Tucker drückte auf die Bohlen, die sich der Länge nach umlegten und dann waagrecht stehenblieben. Dahinter erschien ein geheimer Gang, der zur Kapitänskammer führte. Er war so schmal, daß immer nur ein einzelner durchgehen konnte. Erst unterhalb der Kammer verbreiterte er sich. Da hatte man bequem mit vier oder fünf Personen Platz. „Wir stehen jetzt fast genau unter der Kapitänskammer“, sagte er und hielt Bills Arm etwas höher, der die Lampe trug. Auch der Stör hatte eine Lampe in der Hand, mit der er neugierig in alle Ecken leuchtete. „Und was ist Ihnen dabei aufgefallen?“ fragte Siri-Tong, die heute zur roten Bluse eine weiße Leinenhose trug, die der Segelmacher Will Thorne extra für sie angefertigt hatte. „Die Erbauer waren weitschauende Leute“, stellte Ferris Tucker sachlich fest. „Das ergibt sich aus der gesamten Konstruktion dieses Schiffes. Sie haben nicht einfach wild drauflosgebaut, wie es heute viele tun, sondern sie haben sich wirklich bei allem etwas gedacht. Dieser geheime Gang ist prächtig angelegt, man kann also durch die Kammer jederzeit über die Laderäume an Deck erscheinen oder vom Laderaum aus plötzlich verschwinden. Aber warum ist dieser Teil breiter? Man hätte den Gang
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genauso breit anlegen können, aber da hat man seltsamerweise gespart.“ Thorfin grinste überlegen. „Man hat nicht gespart“, belehrte er Ferris. „Man hat nur daran gedacht, daß es genügt, wenn ein einzelner Mann durch den Gang läuft, und das reicht ja auch. Hier haben dann eben mehrere Leute Platz.“ „Ja, hier haben mehrere Platz“, echote der Stör, der Thorfins letzte Worte gern nachkaute. „Halt doch mal die Luft an, du Stint!“ schnaufte Tucker. „Stint?“ fragte der Stör mit umwölkter Stirn. „Stör“, verbesserte Ferris trocken, „ich hab glatt dein langes Gesicht vergessen.“ Er ging einen Schritt weiter, gefolgt von dem Seewolf, der seinen Zimmermann sehr nachdenklich ansah. Wenn Tucker etwas sagte, dann hatte das Hand und Fuß, darauf konnte er sich verlassen. Und Ferris war nun mal ein ewiger Tüftler, der ständig suchte. Tucker klopfte an das Holz zu seiner rechten Seite. Dann maß er mit dem Zollstock schweigend die Ecken aus. Als er damit fertig war, schüttelte er den Kopf. „Die Maße ergeben keinen vernünftigen Sinn“, sagte er. „Da hört die Kammer auf, dahinter müßte sich demnach auf der anderen Seite noch ein Teil des Laderaumes befinden, das heißt, es müßte hier noch eine winzige Ecke Laderaum vorhanden sein. Ist aber nicht der Fall. Weshalb nicht?“ fragte er die Umstehenden. Thorfin wollte es einfach nicht wahrhaben. In dieser Richtung blieb er stur und trotzig. „Ich kenne das Schiff, mein Lieber! Jede Ecke, jeden Winkel. Hier ragt von der anderen Seite ein Teil der Verstrebungen herein, die auf Backbord den Mast stützen.“ Tucker klopfte ihm mit dem Zeigefinger an den Helm, genau dort wo die Beule saß. „Die drückt wohl noch auf dein Gehirn, was?“ fragte er. „Du lausiger Nachttopfsegler willst mir doch nicht weismachen, daß der Mast von hier gestützt wird. Wo bleibt denn da die
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andere Seite, he? Oder stützt man den Mast nur von Backbord?“ Thorfin verzog das Gesicht. Ganz langsam hob er die Hand und dann kratzte er ausgiebig den Helm, verzog die Lippen und murmelte etwas in seinen rötlichgrauen Bart. Tucker wandte sich irritiert dem Seewolf zu. „Was sagst du dazu, Hasard?“ „Ich bin sicher, daß du recht hast“, sagte er nach kurzem Überlegen. „Thorfin will nur nicht zugeben, daß er einmal unrecht hat. Hier laufen jedenfalls keine Stützen durch.“ „Und doch, bei allen Götterboten, hier laufen Verstrebungen und Verstärkungen durch!“ schrie der Wikinger erregt. „Dafür halte ich jede Wette.“ „Jede?“ fragte Tucker sehr sanft. „Jede!“ schrie der Wikinger. „Jede. Ich würde sogar meinen Helm fressen, wenn ...“ „Was interessiert mich dein Läusenest!“ Tucker winkte ab. „Hast du noch Weinbrand an Bord?“ „Klar, ein ganzes Faß.“ „Und das würdest du verwetten?“ „Jawohl, das verwette ich.“ Thorfin war jetzt krebsrot im Gesicht. Er, der sonst so ruhige und besonnene Mann war kurz vor dem Überkochen. Verdammt, er kannte diesen lausigen Segler doch! Tucker wandte sich grinsend an die anderen. „Ihr seid meine Zeugen“, sagte er. „Ich wette mit Thorfin um ein Faß Branntwein, daß sich hinter diesen Bohlen im Gang ein weiterer Raum oder eine Kammer befindet.“ „Ha, das Faß werde ich mit Genuß saufen!“ schrie der Wikinger wieder. „Und ihr könnt zuschauen. Glaube ja nicht, daß du auch nur einen Tropfen davon abkriegst! Hier und hier!“ brüllte er und klopfte mit seinen riesigen Fäusten an das Schott, daß es im ganzen Schiff hallte und dröhnte. „Das soll hohl sein? Das sind starke und gute Bohlen, gebaut für alle Zeiten. Da ist nichts hohl, nichts, höchstens dein Gehirn!“
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Er lachte dröhnend und schüttelte sich vor Lachen. „Das Faß hast du verloren, Ferris Tucker!“ Das glaubten die anderen auch, denn als der Wikinger an das Holz geklopft hatte, da war kein hohler Ton zu hören gewesen, und jetzt meldeten sich sogar beim Seewolf leise Zweifel. „Du hast ja einen feuchten Helm auf“, konterte Tucker. „Geh mal zur Seite, du nordischer Klotzkopf!“ „Zwecklos, deine Messerei“, sagte Thorfin lachend. „Zwecklos, deine Messerei“, wiederholte der Stör und zuckte zusammen, als Ferris Tucker ihm den Zollstock in den Bauch stieß. Mittlerweile war auch der Profos erschienen. Er hatte etwas gewittert, und er kannte seinen Freund Tucker genau, um zu wissen, daß der nicht so leichtsinnig mit einem Faß Branntwein umging wie der Wikinger. „Ha, Ferris“, sagte er laut, „laß doch diesen Polaraffen behaupten, was er will. Haben wir nicht erst vor ein paar Tagen wieder eine Kammer gefunden, die bis obenhin mit diesen Brandsätzen vollgestopft war, eh? Und da will dieser nordische Hammelbraten behaupten, er kenne das Schiff in- und auswendig? Wehe dir, wenn du kein Faß Branntwein mehr an Bord hast“, sagte er. Thorfin Njal zuckte zusammen. Klar, die Kammer, die Carberry und Al Conroy entdeckt hatten, die hatte er ganz vergessen. Er wurde merklich kleinlauter. Der einzige, der sich diebisch freute, war der schwarzhaarige Bengel. Er hätte sich am liebsten die Hände gerieben vor lauter Aufregung, aber das ging nicht, weil er Tucker ja die Lampe halten mußte. Das hier war ganz nach seinem Geschmack. Und der schwarze Segler war ein Schiff, das immer noch Geheimnisse barg, die einem Jungen das Herz höher schlagen ließen. Hoffentlich fand der Zimmermann wirklich etwas, dachte er immer wieder. Und vielleicht war der dann so großzügig und gab ihm auch einen Schluck von dem
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Branntwein ab, weil er, Bill, ja die ganze Zeit die Lampe gehalten hatte. Was mochte das neue Versteck bergen? Schätze? Gold und Juwelen oder geheimnisvolle Seekarten von den Zopfmännern? Ferris Tucker maß in aller Ruhe weiter, drückte hier gegen die Bohlen, schob dort, lehnte sich auf der anderen Seite dagegen, überprüfte die Ritzen und ließ nicht locker. Er wußte, daß hier etwas verborgen war, er wußte das ganz genau. Und zwar lag dieser kleine Raum in dem Bereich, in dem sie jetzt alle herumstanden. Unter der Kammer, die der Kapitän bewohnte. Daneben gab es die andere Kammer, und dieses Versteck reichte bis dort hinein, das ließ Tucker sich nicht nehmen. Er ließ auch die Decke nicht aus, betastete sie, fummelte daran herum und fand doch nichts. Das impertinente Grinsen des Wikingers, der sich schon in der Vorfreude auf den Branntwein die Lippen leckte, ärgerte ihn. „Dir wird schon kein Branntwein in den Bart tropfen“, versicherte Tucker grimmig. „Ich finde das noch heraus, nur Geduld!“ Aber als eine halbe Stunde vergangen war, und er immer noch nichts entdeckt hatte, begann der Wikinger zu lachen. Gib dir keine Mühe“, versicherte er. „Geh lieber den Branntwein holen.“ In Tuckers Gesicht malte sich eichte Enttäuschung. Sollte er sich wirklich so getäuscht haben? Nein, das war ausgeschlossen. „Ich sehe mal auf der anderen Seite nach“, sagte er leise. „Ich kann mich nicht irren.“ Auch die andere Seite brachte ihm keinen Erfolg. Er stellte lediglich fest, daß der Hohlraum dort leicht hineinragte. Als er wieder erschien, hatte er ein kleines Brecheisen in der Hand, das er jetzt vorsichtig in jeden Spalt setzte und langsam herumhebelte. „Höher die Lampe, Bill“, sagte er zu dem Schiffsjungen. „Ja, so ist es richtig, mein Sohn!“ Augen starrten gebannt auf Ferris Tucker, der mit dem kleinen Brecheisen durch die
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Spalten fuhr, rauf und ‘runter. Er ließ einfach nicht locker. „Ich glaube nicht, daß er noch etwas findet“, sagte Siri-Tong und warf dem Seewolf einen schmachtenden Blick zu. Hinter ihnen räusperte sich dezent der Boston-Mann, der auch noch hinzugekommen war. Jetzt konnten sie kaum noch in dem engen Raum stehen. Außerdem war es warm hier unten, und die Luft wurde stickig. „Aber ich glaube es“, versicherte Hasard. „Und wenn es nur eine Kiste ist, die da verborgen ist.“ Er hatte die Worte kaum zu Ende gesprochen, als von vorn ein erstickter Schrei erklang. Ein Ächzen folgte, ein leises Knarren, und dann schnellte etwas aus der Wand und warf den robusten Wikinger fast um. Was da zum Vorschein kam, ließ sie erschauern. Jeder fühlte, daß es ihm wie Eiswasser durch die Adern rann. 5. Ein breites Brett schnellte voller Schwung aus der dunklen Öffnung heraus, pendelte noch einmal leicht und gelangte dann zur Ruhe. Bill stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Beinahe wäre ihm die Lampe aus der Hand gefallen. Sein Gesicht verfärbte sich grün, wurde dann kreidebleich, und er fing an zu zittern. Aber nicht nur dem Jungen erging es so. Die anderen waren ebenso erschrocken. Selbst der Seewolf ballte im ersten Schreck die Hände zu Fäusten. Unbewußt spürte er, wie sich Siri-Tongs Fingernägel hart in seinen Unterarm gruben. Auf dem Brett, das jetzt ganz ruhig lag, war eine Leiche festgeschnallt. Es war kein gewöhnlicher Toter, es war etwas Besonderes, etwas, das noch niemand von ihnen gesehen hatte. Es war eine Mumie, ein Mann mit hochmütigen, etwas abweisenden Zügen, den zwei dünne Taue auf dem Brett hielten. Er war schaurig und schrecklich
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zugleich anzusehen. Alles an ihm war fremd. Das fing bei seinem Gesicht mit den leicht hervorstehenden Backenknochen an, das von gelblicher Farbe war, so wie die Gesichter jener Zopfmänner auf den fremden Schiffen. Seine Augen waren geschlossen, aber sie erkannten alle deutlich, daß sich dahinter ähnlich geschlitzte Augen verbargen, wie auch Siri-Tong sie hatte. Schwarzgelocktes Haar lag eng an seinem Schädel, das an der Rückfront in einen schwarzen Zopf überging. Auf der Oberlippe trug der Tote einen dünnen schwarzen Bart, der ihm ein grausames Aussehen verlieh. Der Bart, an beiden Enden dünn auslaufend, reichte ihm weit über das Kinn. Der Tote trug kostbare Gewänder, die seinen Körper vom Hals bis zu den Beinen umhüllten. Es war eine Art langer Mantel, auf dem sich, in Gold eingestickt, seltsame Schlangen befanden. Diese Schlangen schienen Feuer zu speien, denn rote und lange Goldfäden deuteten Rauch und Feuer an. Sein kostbares Seidengewand war über und über mit Gold bestickt, durchwirkt, eigenartige Symbole zeigend. Auch seine Schuhe wirkten fremdartig. Es waren keine Stiefel, es war eine leichte Fußbekleidung aus weißem, allerfeinsten Leder, unglaublich geschmeidig und mit grünen, blassen Steinen von Erbsengröße auf der Oberseite verziert. Unter seinem kostbaren Gewand war ein weiteres zu erkennen, aber nur teilweise, weil das andere Gewand es fast ganz bedeckte. Bill klapperte laut und vernehmlich mit den Zähnen. Die Lampe in seiner Hand tanzte auf und nieder und zauberte gespenstische Schatten auf das Gesicht der Mumie, dessen Alter sich nicht einmal ungefähr abschätzen ließ. Nur daß diese Leiche ungewöhnlich gut erhalten war, sah jeder sofort. Da gab es keine Anzeichen von Verwesung, nicht einmal die Lippen waren eingefallen. Der Tote schien auf unerklärliche Art konserviert worden zu sein.
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Hasard überrann ein kühler Schauer nach dem anderen. Carberry und Tucker starrten mit großen Augen auf das Holzbrett, auf das man den Toten festgeschnallt hatte. Der Wikinger selbst war sprachlos. Er blickte mit hervorquellenden Augen auf den fremden unheimlichen Mann. Sofort erschien vor Hasards geistigem Auge wieder jene Gestalt, die so ähnlich ausgesehen und die sie damals im Sargassomeer auf einem unbekannten Schiff gefunden hatten. Hatte der Mann in der Kapitänskammer nicht die gleichen Gesichtszüge gehabt? Und sah er nicht so aus wie jene dunklen, angsteinflößenden Gesellen, die ihnen erst kürzlich bei den Caicos-Inseln in einer Nebelbank begegnet waren und einen Pfeil zur „Isabella“ herübergeschossen hatten, der im Großmast steckengeblieben war? Ja, es waren die gleichen Gesichter, nur hatte keiner dieser Fremden so kostbare Gewänder getragen wie dieser Tote hier. Als alle immer noch stocksteif verharrten und niemand ein Wort sprach, weil das Grauen sie in seinen Bann geschlagen hatte, erwachte der Seewolf aus seiner Erstarrung. Er wollte einen Schritt nach vorn tun, um besseres Blickfeld zu haben, doch Siri-Tong drängte sich plötzlich an ihm vorbei, noch bevor er sich bewegen konnte. Würde sie etwas erklären? fragte sich Hasard. Doch die Rote Korsarin hatte etwas ganz anderes im Sinn. Wie in Trance bewegte sie sich mit steifem Oberkörper auf den Toten zu. Ihre nachtschwarzen Augen waren in weite Fernen gerichtet, ihr Gesicht angespannt und seltsam bleich. Vor der Mumie blieb sie stehen. Dann legte sie die Hände mit den Fingerspitzen zusammen, hob sie an ihre Stirn und verneigte sich ehrfurchtsvoll vor der Leiche. Dreimal hintereinander grüßte sie den Toten auf diese demutsvolle Art, und jedesmal senkte sie den Kopf dabei tiefer auf den Boden.
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Danach wich sie zurück, aber ihre großen Augen blickten weiterhin gebannt und voller Ehrfurcht auf die Mumie. Hasard trat nun ebenfalls zwei Schritte vor. Er wagte kaum zu sprechen, denn von dieser Leiche ging etwas Majestätisches aus, daß er das Gefühl hatsie würde sich beim ersten Wort aufrichten und die Augen aufschlagen, um empört nach der Ursache der Störung zu fragen. „Halte die Lampe höher!“ sagte er Bill zuckte zusammen, als hätte ihn etwas gestochen. Er schloß die Augen und hob die Lampe höher. „Noch dichter heran“, sagte Hasard, und seine Stimme kam ihm vor, als wäre sie Meilen entfernt und in Watte gepackt. Siri-Tong warf ihm einen fast drohenden Blick zu, als er sich dem Brett mit dem Toten darauf näherte, bis er fast daran stieß. Hasard störte der Blick nicht, er gab ihm nur zu denken. Aber jetzt, nachdem er seinen ersten Schreck überwunden hatte, wollte er Gewißheit haben. Er wollte so viel wie möglich über den Toten in Erfahrung bringen, und das konnte er nur, wenn er ihn sich aus der Nähe ansah. Ein beklemmender Geruch ging von dem unbekannten Toten aus, ein Geruch, der ihm auf den Magen schlug und sekundenlang den Atem nahm. Es roch nach Essenzen, nach wilden herben Kräutern und einem Öl, das sich wie ein dumpfer Schwamm auf die Lungen legte. Und es roch gleichzeitig nach stickiger Wärme, nach Kleidern, die muffig waren, und nach Tod. Hasard überwand sich und sah dem Toten in das maskenhaft starre Gesicht. Seiner Kleidung nach schien er einen hohen Posten bekleidet zu haben, jedenfalls war er im Rang höher als der tote Kapitän aus dem Wrack im Sargassomeer. Aber wie kam die Leiche nur hierher? Diese Frage stellte er sich insgeheim immer wieder, aber er fand keine Antwort darauf. Der Schein der blakenden Lampe wanderte über das gelbliche Gesicht, glitt weiter und
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verlor sich in der Dunkelheit der hinteren Kammer, wo nur noch zuckende Schatten tanzten. Hasard nahm dem vor Angst schlotternden Jungen die Lampe aus den kalten Fingern und leuchtete über den Toten weg. Alle Augen folgten gespannt jeder Bewegung. Dahinter war ein Raum von den Maßen zweimal ein Yard, gerade groß genug, um den Körper bequem aufzunehmen. Die dünnen Taue, die den Leichnam hielten, waren nur dazu gedacht, daß er bei heftigen Schlingerbewegungen des Schiffes keinen Schaden erlitt, so stellte sich der Seewolf das jedenfalls vor. Auch die Vorrichtung, die das Brett herausschnellen ließ, war einfach. Sie bestand aus weiteren dünnen Tauen wie jene, die um den Körper geschlungen waren. Öffnete man die kleine Kammer, dann zogen die Taue das Brett ruckartig herunter. Schloß man sie wieder, so kippte das Brett zurück. Demnach hatte die Mumie also die ganze Zeit gestanden, folgerte Hasard. Das Gesicht wies kaum eine Falte auf, es war glatt, bis auf die Oberlippe bartlos, aber es war kalt, abweisend und wirkte grausam, wenn man nach der Physiognomie urteilte. „Verschließt die Kammer wieder!“ SiriTong sprach leise, aber bestimmt. Hinter dem einen Satz lag eine harte Forderung. Hasard wandte sich ihr zu. „Hast du eine Erklärung?“ fragte er, aber er sah schon an ihren Lippen, daß sie nichts sagen würde. Und sofort schüttelte sie den Kopf. „Natürlich hast du eine Erklärung“, sagte Hasard. „Und die Kammer wird nicht eher geschlossen, bis ich diese Erklärung erfahren habe.“ „Sprich nicht so im Angesicht des Todes“, zischte die Korsarin. „Es gibt nicht für alles eine Erklärung.“ Die gesprochenen Worte hatten den Bann gebrochen. Jetzt lockerten sich die verkrampften Glieder etwas, doch die unheilvolle Stimmung blieb auch weiterhin bestehen.
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„Dafür gibt es schon eine Erklärung“, erwiderte der Seewolf. „Der Bursche liegt hier schon jahrelang. Und irgendwie wird er ja auch in diese Kammer hineingekommen sein.“ „Bursche?“ Siri-Tong fauchte fast. „Du weißt nicht, wovon du sprichst. Du frevelst, du versündigst dich, du ...“ Sie war so aufgeregt, daß sie keine Worte mehr fand und nicht weitersprechen konnte. Hasard versuchte einzuhaken, um endlich einmal etwas mehr über diese rätselhaften Leute zu erfahren, doch die Korsarin schwieg verbissen. Nur ihre Augen sprühten Blitze und funkelten zornig. Hasard wurde zum wiederholten Male nicht aus ihr schlau. „Ich möchte wissen, wieso ich mich versündige“, sagte er, „oder frevele. Nur weil ich von einem Burschen sprach? Er kann noch nicht sehr alt sein, und dennoch liegt er hier schon seit Jahren. Nicht einmal El Diablo hat ihn gefunden, sonst wäre er längst nicht mehr an Bord.“ „Hasard!“ schrie Siri-Tong. „Wie kannst du es wagen, diesen Namen des Piraten in dem Raum auszusprechen, in dem er liegt?“ „Wer?“ fragte Hasard. „Wer ist er?“ Er erhielt keine Antwort mehr. Siri-Tong hatte sich umgedreht und den engen Raum kommentarlos verlassen. Jetzt sah er sie als dunklen Schatten weiter weg in dem geheimen Gang stehen, still und reglos, so wie jene Mumie auf dem Brett. Er konnte sein „Verdammt“ gerade noch unterdrücken. Brüsk wandte er sich um und wieder der Mumie zu, die ihn in Gedanken so beschäftigte. Noch immer hatte keiner der anderen ein Wort gesprochen. Er sah nur an ihren Gesichtern, daß sie sich langsam wieder beruhigten, seit sie diese grausige Entdeckung gemacht hatten. Carberry versuchte, die Angelegenheit mit einem Grinsen zu übergehen, das andeuten sollte, es sei alles gar nicht so schlimm, und Leichen hätte man schon oft gefunden. Doch sein Grinsen wurde nur eine hilflose Grimasse.
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Und genauso verloren wirkten der Wikinger und auch Ferris Tucker. Es mochte natürlich auch mit an der ganzen Atmosphäre liegen. Der enge dumpfe, stickige Raum, die Erwartung, etwas zu finden, und dann der Fund selbst, anders, ganz anders, als jeder sich das vorgestellt haben mochte. Hasard forschte weiter, denn diese Mumie interessierte ihn brennend, mochte die Korsarin auch noch so dagegen sein. Er wollte herausfinden, was hier passiert war, und dabei schossen ihm immer neue Gedanken durch den Kopf und überschlugen sich. Als er sich zum zweiten Male über die Mumie neigte, schien ihm der Geruch längst nicht mehr so schlimm zu sein. Jede Ecke leuchtete er mit der Lampe aus, und dann hatte er plötzlich etwas entdeckt. Das, was er zuerst für Teile der Kleidung des Toten gehalten hatte, war etwas anderes, von fahlgelblicher Farbe, länglich. Ohne zu zögern, griff er danach. Es knisterte leicht, als seine Finger zugriffen. Und es schien, als wolle der Tote es nicht hergeben. Hasard zog noch mehr und jetzt löste sich hinter der Kleidung des Toten eine Rolle aus pergamentartigem Papier. Die Rolle war dick, obwohl das Papier nur hauchdünn war. Langsam faltete Hasard die Rolle auseinander. Er fand genau das, was zu finden er erwartet hatte. * Lange Schriftzeichen marschierten in senkrechten Kolonnen über das Papier. Manche sahen wie kleine Häuser aus, andere waren verschnörkelte, sinnverwirrende Zeichen, die er nicht begriff. Aber alle liefen sie in endlosen Reihen von oben nach unten, und wurden vermutlich auch so entziffert. Hasard zog weiter an der Rolle. Sie war eng beschrieben, es mußte demnach eine lange Geschichte sein.
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Die Geschichte der Mumie? Oder die des schwarzen Schiffes? Er hätte es zu gern gewußt und stieß den Wikinger an. „Du hast mal gesagt, Thorfin, du könntest einige von diesen Zeichen entziffern. SiriTong habe sie dir beigebracht. Jetzt kannst du dein Wissen unter Beweis stellen!“ Der Wikinger schüttelte den Kopf. „Es gibt mehrere tausend Zeichen, ich kann höchstens zehn oder zwanzig“, sagte er abschwächend. „Das da kann ich niemals entziffern. Frage Siri-Tong, sie kann es lesen.“ „Sie wird es mir nicht vorlesen“, sagte der Seewolf erbittert. „Sie hat doch um alles ein Geheimnis gewoben.“ Er ging aber dennoch in den Gang, wo sie klein und zerbrechlich stand und stumm auf den Boden starrte. Er griff nach ihrer Schulter und drehte sie herum, so daß sie ihm in die Augen blicken mußte. „Siri-Tong“, sagte er beschwörend, „was immer dich auch mit jenem Toten verbinden mag, ich bitte dich, mir das hier vorzulesen, ich habe es eben in seinem Gewand gefunden. Es sind die gleichen Zeichen, wie wir sie damals auf den Seekarten gefunden haben. Ein paar davon kenne ich, die anderen nicht.“ Ihr Blick fand nur schwer in die Wirklichkeit zurück. Er schien aus weiten Fernen zurückzukehren. Sie schüttelte abweisend den Kopf. „Später, Hasard“, sagte sie leise. „Wir wollen doch zuerst von der Insel fort, weil die Spanier bald erscheinen werden. Eines Tages werde ich es dir vorlesen.“ Er griff hat nach ihrem Arm. „Ich habe diese Vertröstungen langsam satt“, sagte er mit kalter Stimme. „Immer höre ich später, und eines fernen Tages und dereinst. Das befriedigt mich auf die Dauer nicht, Madame, ist das klar? Ich will wissen, was hier vorgeht. Ich will, zum Teufel noch einmal, endlich erfahren, woher diese Mumie stammt, wieso man sie in der Kammer versteckt hat und weshalb sie jahrelang über die Meere fuhr. Vielleicht erklärt sich auch damit gleich die Geschichte El Diabolos.“
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Er drückte ihr die Rolle in die Hand, die am oberen Ende entfaltet war, doch mit einem erneuten Kopfschütteln gab SiriTong dem Seewolf die Rolle wieder zurück. In Hasard kroch die Wut hoch. „Später“, sagte sie noch einmal mit leiser Stimme. „Wie du willst“, sagte Hasard mit erzwungener Ruhe. „Dann eben nicht. So, und jetzt werden wir diesen Burschen an Deck bringen und ihn am Höllenriff bestatten.“ Hart drehte er sich um, und dann erfolgte ihre Reaktion, wie Hasard sie insgeheim nicht anders erwartet hatte. Blitzschnell griff sie nach seiner Hand und preßte ihm die Fingernägel, die spitz wie Krallen waren, in den Handrücken. In ihren Augen glomm ein gefährliches Feuer. „Das wirst du nicht tun“, sagte sie scharf. Ihr Atem ging stoßweise und erregt. „Das werde ich nicht zulassen, niemals. Und außerdem gehört der schwarze Segler mir. Vergiß das nicht!“ „Das heißt also, du könntest mich bitten, dein Schiff zu verlassen, ja?“ Diesmal sah sie seine Augen, hart, kalt wie blaues Gletschereis, unnachgiebig, als wolle er ihr seinen Willen aufzwingen. Sie versuchte krampfhaft, sich dagegen zu wehren, doch in den Augen des Seewolfs stand kühne Entschlossenheit. Wenn sie jetzt noch weiterhin schwieg, das erkannte sie mit absoluter Sicherheit, dann würde sie den stolzen, wilden Seewolf nie wiedersehen. Er würde sich rigoros von ihr trennen. Hasard ließ sich nicht mehr hinhalten, er ließ sich auch nicht mehr vertrösten. In seinen Augen stand es geschrieben, unauslöschlich. Nein, sie wollte ihn nicht verlieren. Sie konnte es sich nicht mehr vorstellen, wie es ohne ihn war. Ein kurzer verzweifelter Kampf tobte, ein Kräftespiel zwischen den beiden, ausgefochten in völliger Stille, ohne Waffen. Dann ergab sie sich. Mit zitternden Fingern griff sie nach der Rolle und folgte dem
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Seewolf, der zu dem Raum zurückging, in dem die Mumie lag. „Ich werde euch diese Geschichte übersetzen“, sagte sie so leise, daß sie kaum jemand verstand. Dann zog sie aus der Rolle einen weiteren Bogen hervor, der ebenfalls zusammengerollt war. Aber dieses Papier war nicht durchsichtig und zudem mit winzigen Bambusfasern verstärkt. An seinem unteren Ende befand sich ein kleines Siegel aus Wachs, durch das ein rötlicher Faden lief. Hasard fragte nicht weiter danach. Er hatte sie da, wo er sie haben wollte, er würde auch das noch erfahren. Zuerst einmal wollte er wissen, was in dem manuskriptartigen Papier stand. Siri-Tong blickte auf die Zeilen, dann verneigte sie sich noch einmal ehrfurchtsvoll vor dem Toten. Mit leiser Stimme, um seine ewige Ruhe nicht zu stören, begann sie zu lesen, stockend erst, dann immer flüssiger und schneller. Und die Männer hörten gebannt zu, nahmen jedes einzelne Wort in sich auf, lauschten ergeben, fast atemlos, lauschten der Geschichte des schwarzen Seglers und der Geschichte El Diabolos. Die Umgebung tat ein übriges, und ihnen war, als blickten sie durch ein Fenster in eine unbekannte Welt voller Geheimnisse. Eine andere Landschaft tat sich auf, fremde Leute erschienen, und alles wurde von einem feinen Nebel überlagert, dem Staub der Jahrhunderte, der Patina einer vergangenen Zeit. 6. „Man wird diese Zeit einmal als die Zeit des großen Ming bezeichnen, vielleicht auch als die Zeit des großen Chan. Und ich — Hung-wan — verneige mich in Ehrfurcht vor dem großen Chan, der mir befahl, ein Stück dieser Epoche aufzuzeichnen. Ich bin nur ein bescheidener Chronist vergangener Dinge, ein Staubkorn im Sand der Ewigkeit, nicht der Ehre würdig, die mir zuteil geworden ist.
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Ich bin auch kein Meister der Worte, doch ich will die Dinge so schildern, wie sie sich wirklich zugetragen haben, nichts hinzufügen und nichts weglassen, nüchtern und objektiv bleiben — dazu hat mich der große Chan verpflichtet, dem ich ein treuer Diener bin. So beginne ich also mit dem Bericht über die Fremden: In den Zaubergärten des großen Chan blühte der Lotos in verschwenderischer Pracht, als sie kamen. Man sah ihr Fahrzeug, ein mächtiges großes Ding, das sie Schiff nannten und das eine wundersame Gestalt hatte. Es kam aus dem Nebel und schwebte über den Wassern, gleich dem großen Allgeist. Große Pfähle, an denen mächtige Tücher wehten, ragten aus dem oberen Teil des Schiffes und trieben es durch den Wind. Was waren dagegen unsere armseligen kleinen Dschunken! Diese Fremden, die sich dann zeigten, schienen von jenem Ort zu stammen, am dem die Welt zu Ende ist, wo es nicht mehr weitergeht und, wie jedermann weiß, wo man von der Erde fallen kann und nie mehr zurückkehrt. Die Männer hatten Haare in den Gesichtern, waren sehr bleich und groß von Gestalt. Sie lärmten und gaben sich unbekümmert, aber einige von ihnen litten an einer Krankheit. Als sie uns zum ersten Mal sahen, wirkten sie erschrocken, doch das legte sich bald, denn der große Chan lud sie in den Palast der himmlischen Stille. Er wollte wissen, woher sie kämen. Aber sie verstanden seine Boten nicht, und so zeigten sie sehr mühselig, daß sie von dort kämen, wo die Welt nur noch aus Nebeln bestand, die immer dichter und undurchdringlicher wurden. Im Palast der himmlischen Stille durften sie bleiben, solange sie nur wollten, auch in den Zaubergärten durften sie sich umsehen, und als Gegenleistung luden sie den großen Chan und sein Gefolge zu sich auf das große Fahrzeug. Wir waren von der Bauweise verwundert, und vor allem von dem Material, einem Holz, das nicht faulte, das nicht verwitterte
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und doch schwamm, obwohl es hart wie Stein war. Alles das verwunderte den großen Chan zutiefst, und es erstaunte ihn, daß es solche Hölzer gab und derartige Schiffe, die den zürnenden Winden zu trotzen vermochten. Es ließ ihm keine Ruhe mehr, auch er wollte diese Hölzer kaufen, mochten sie kosten, was immer sie wollten. Sein Mandarin verhandelte mit dem Befehlsgeber des großen Schiffes, bis dieser sich endlich bereit erklärte, dem großen Chan Stämme vom gleichen Holze zu bringen. Es wäre aber ein langer und gefahrvoller Weg, erklärte der Befehlshaber, und die Kosten müßten unsere Astronomen errechnen, die vermöchten mit so großen Zahlen besser umzugehen. Der große Chan versprach es, wenn er nur das ewige Schiff bauen könne. Die Bleichbärte würden ihm auch im Handel die Unterlagen verschaffen, sobald sie das Holz brächten, versprachen sie noch. Und ehe sich der Mond rundete, fuhren sie über die Wasser in die großen Nebel hinein, die sie verschlangen. Eine der Unterlagen -hatten sie zurückgelassen, und darüber saßen die besten Baumeister des großen Chan und grübelten. Danach hörten wir viele Monde nichts von den Bleichbärten, bis der große Chan ausrief: ,Weh diesen Unglücklichen! Sie haben sich zu weit vorgewagt und sind von der Erde gefallen. Und wir werden das ewige Schiff nicht mehr bauen können!’ Daraufhin hob im Palast der himmlischen Stille großes Wehklagen an, und der große Chan ließ zwei Astrologen und Weissager enthaupten, die ihm falsch prophezeit hatten. Doch als der Lotos zum zweiten Male blühte, da erschienen sie! Wie von Zauberhand glitten zwei Schiffe heran, voll beladen mit den edlen Hölzern, die nicht faulten und moderten. Es stammte aus Südostasien, wie die Bleichbärte versicherten, die sich Portugiesener nannten und hier selbst eine sogenannte Kolonie gründen wollten, was
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ihnen der große Chan ebenfalls versprach, sofern sie ihm beim Baue helfen würden. Zwei Monde später begann der Bau, nachdem man das Holz geschält und getränkt hatte. Und das Schiff wuchs und wuchs. Mit jedem Tag wurde es größer und stattlicher, um die Welt hinter dem großen Wasser zu erforschen. Eisenholz nannte es der große Chan, weil es hart war wie das Metall, das wir kochten, das aber nicht schwimmen konnte. Eines Tages lud mich der große Chan in den Palast der himmlischen Stille. ,Du bist der Schreiber`, sagte er, ,der Chronist aller vergangenen Dinge. Hast du deine Aufzeichnungen sorgfältig zu Pergament gebracht?’ Ja, Herr, so wie Ihr befohlen habt.’ ,Du hast Phantasie, Hung-wan, ich befehle dir, einen Namen ‘für das Schiff zu ersinnen. Und dann habe ich noch eine weitere freudige Nachricht für dich.’ Ich lauschte gespannt und verneigte mich dreimal, während der große Chan fortfuhr: ,Du wirst als der weit und breit einzige des Schreibens Kundige die Ehre haben, an Bord dieses Schiffes zu gehen, als Chronist natürlich, und mit ihm hinaus ans Ende der Welt segeln. Ich befehle dir weiter, alles schriftlich festzuhalten, was du siehst, hörst und fühlst. Beschreibe mir die anderen Länder, schildere mir die Menschen, wie jene Portugiesener, die übers weite Wasser kamen, und vergiß nicht den Namen zu ersinnen. Ich möchte ihn bis morgen wissen. Du kannst jetzt gehen, Hung-wan!’ ,Ich bin dieser Ehre unwürdig, großer Chan, o Herr!’ jammerte ich, denn ich wollte nicht dahin, wo die Welt zu Ende ist und man hinabfallen konnte in endlose Tiefen. Aber der große Chan lächelte nur und entließ mich. Beim Allgeist, wie sollte ich das Schiff nur nennen? Mir fielen Namen ein, lächerliche, ernste, aber ob sie den Gefallen des großen Chan finden würden?
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Ich sann und grübelte, dachte nach, verschmierte Tusche, ersann Namen und verwarf sie wieder, als da waren: Großer Allgeist, Mächtiger Chan, Verkünder des Ming. Ich grübelte und grübelte und schlief in dieser Nacht nicht. Ich tat kein Auge zu, strich wieder Namen durch, schrieb wieder neue Namen darunter. Dann hatte ich achtzehn Namen ersonnen, aber keiner gefiel mir. Am frühen Morgen fand ich mich im Palast ein. Tausende Menschen säumten zu dieser frühen Stunde das Wasser, um das ewige Schiff zu bestaunen, das aus Holz erbaut wurde, das nicht faulte. Und es erschienen immer mehr, denn das Schiff ging langsam seiner Vollendung entgegen. Man hatte es auf Land gebaut, es lag auf großen hölzernen Rollen und Rutschen, die es später ins Wasser tragen sollten. Mehr als dreihundert Männer bauten daran, hämmerten, klopften, sägten. Ich gab dem großen Chan die Liste,, doch er winkte ab. ,Lies die Namen vor, Hung-wan’, sagte er. Ich las und las, aber auf seinem Gesicht zeigte sich keine Regung. Es blieb faltig und verschlossen. Mich verließ der Mut, weil ich versagt hatte, doch der große Chan unterbrach mich. ,Lies den letzten Namen noch einmal!“ ‚Eiliger Drache über den Wassern’, las ich vor, und daraufhin überzog ein glückliches Leuchten sein Gesicht. ,Ein sehr schöner Name, Hung-wan’, sagte er. ,So soll es heißen: Eiliger Drache über den Wassern. Oder sollten wir es nicht lieber Eiliger Drache über allen tausend Wassern nennen?’ ,Herr’, gab ich zu bedenken, ,wir wissen ja nicht genau, ob es tausend Wasser gibt. Vielleicht sind es weniger oder mehr.’ ,Ja, du hast recht, Hung-wan, wir belassen es bei deinem Namen. Schon am nächsten Morgen zeigten uns die Bleichbärte wie man ein Schiff tauft. Das hatte niemand gewußt. Und doch erfüllte es mich mit unbändigem Stolz, diesem edlen Schiff einen so stolzen Namen gegeben zu haben. Ich war beseligt. Nur
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nagte in mir ständig der Kummer, wie es wohl am Ende der Welt wäre, denn die Portugiesener sprachen nicht gern darüber. Wir würden uns noch so genug wundern, sagten sie, und wir sollten immer geradeaus segeln, denn wie das mit dem Segeln vor sich ging, hatten sie einigen von uns schon gezeigt. Und nachts könne man nach den Gestirnen segeln, sagten sie weiter, weshalb wir einen Sternkundigen mitnahmen. Noch einen Tag später wurde das Schiff ,Eiliger Drache über den Wassern’ seinem neuen Element übergeben. Es war ein großes Fest, und die Menschen konnte keiner mehr zählen, die sich am Wasser und den Ufern versammelt hatten. Unter lautem Geschrei fuhr es rauchend und funkenstiebend auf den Rutschen dahin und glitt dann mit mächtig schäumender Welle ins Wasser. Die meisten nahmen natürlich an, daß es sofort versinken würde, und es tauchte auch wohl tief ein, so daß ein Schrei aus mehr als tausend Kehlen über das Wasser scholl. Doch ,Eiliger Drache über den Wassern’ richtete sich sogleich wieder auf, legte sich dann leicht zur Seite und wäre fast allein davongeschwommen, so federleicht war es plötzlich. Männer malten jetzt mit goldener Farbe den Namen an den Vorderteil des ewigen Schiffes. Zum Befehlshaber hatte der große Chan einen Mandarin bestimmt, der fast so viel Einfluß besaß wie der große Chan selbst. Als er an Bord ging, trug er kostbare Gewänder, wunderbare Seide mit goldenen und silbernen Drachen bestickt, die Feuer spien. Wir alle verneigten uns tief, und der Mandarin hielt eine feierliche Ansprache und sagte, von nun an werde sein gütiger Geist über dem Schiff herrschen und es führen, um dem großen Chan den Rest der Welt zu erschließen, doch viel könne es nicht mehr sein, weil das Reich des großen Chan schon groß und mächtig sei. Dann vergingen nochmals zwei Tage, bis das Schiff von den Tauen gelöst wurde, die es hielten, und losfahren durfte. Diesmal
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waren sogar Regierungsbeamte aus den entlegenen Provinzen angereist, um es zu sehen, wie es ans Ende der Welt fuhr. Die Bleichbärte aber lachten hinter uns her und konnten sich kaum beruhigen. Von da an hatte ich den Eindruck, daß wir etwas falsch gemacht hätten. Aber was konnte es nur sein? Wir hatten doch alles, was wir brauchten. Es gab genug Wasser an Bord, wir hatten Kanonen und unsere Feuerspeier, wir hatten Proviant, es mangelte uns an nichts. Selbst wenn uns jemand überfiel, was auf dem Wasser und bei dieser Geschwindigkeit so gut wie unmöglich ist, konnten wir mit den vierundzwanzig Kanonen und den Eisenkugeln schießen. Und wir waren größer und stärker gebaut, als die Schiffe der Portugiesener, die nur zwölf Kanonen an Bord hatten. Außerdem waren wir achtundvierzig Personen an Bord, einschließlich Chronist, einem Feuerwerker, einem Sterndeuter, einem Himmelskundigen und den Beratern des Mandarin. So begann unsere große Reise.“ * Siri-Tong unterbrach sich, legte die Hände wieder an die Stirn und verneigte sich vor der Mumie. Hasard und den anderen war es, als erwachten sie aus einem bunten Traum. Der Seewolf räusperte sich leise, Ferris Tucker scharrte mit dem rechten Fuß auf den Planken, und Carberry hatte ungläubig das narbige Gesicht verzogen. Der Wikinger wollte etwas sagen, doch Hasard winkte schnell mit der Hand ab. Er wollte nicht, daß die Atmosphäre gestört wurde oder Siri-Tong mit dem Übersetzen des Manuskripts aufhörte. „Später“, sagte er leise. Der Wikinger nickte, er hatte begriffen. Bill hatte große Augen. Für den Bengel war das wieder mal ein echtes Abenteuer, das ihn mitriß und an seinen Nerven zerrte. Dennoch las der deutlich die versteckte Angst in seinen Augen, sah die zusammengepreßten Lippen und die freche Nase, die jetzt gar nicht mehr so frech
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wirkte. Als er die Blicke bemerkte, schaute er zu Boden und rieb nervös seine Hände an der Hose. „Es ist eine lange Geschichte“, sagte SiriTong, und faltete die Rolle noch weiter auseinander. Aber wenn sie gehofft hatte, daß jemand sagen würde, sie möge jetzt aufhören, dann hatte sie sich geirrt. Jeder brannte darauf, auch noch den Rest zu erfahren. „Lies bitte weiter“, sagte Hasard ruhig. Die Rote Korsarin nickte und las weiter. * „Hinter uns verschwand das Land, das in leichtem nebligen Dunst lag und uns allen so vertraut war. Die riesigen schwarzen Segel wurden gesetzt. Drei der Masten trugen das schwarze Tuch in der Form eines Trapezes, der letzte Mast hatte nur ein einziges Segel, aber es reichte von der Spitze bis zum Deck. Wir segelten bei gutem Winde los, bei leicht bewegtem Wasser das gluckernd an die Bordwände sprang. Und als wir uns umsahen, erkannten wir nur noch ganz schwach die vielen tausend Menschen, die uns nachwinkten. Bald schon sahen sie wie kleine schwarze Punkte aus, bis sie schließlich verschwanden. Von da an wurde alles anders. Wir sahen das Land nicht mehr, wir waren nur von einer riesigen Masse Wasser umgeben, die mal ruhig wie ein Spiegel dalag, dann wieder empört nach dem Schiff griff und sich erst langsam wieder beruhigte. Das bewirkte der gütige Geist des Mandarin, der unermüdlich an Deck stand, nachsah, ob die Segel richtig geführt wurden, und immer wieder auf das kleine Instrument blickte, das die Portugiesener ihm geschenkt hatten, und das auf einer Karte den Kurs einzeichnete, den das Schiff lief. Die Astronomen und der Sterndeuter sagten der Mannschaft jeweils, wie lang die Strecke war, die wir zurückgelegt hatten. Sie orientierten sich bei Nacht an einem großen hellen Stern und bei Tag an jenem kleinen Ding mit der
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Nadel, die ständig zitterte und immer in eine Richtung wies. Niemand von uns war mit diesem Instrument vertraut, das kannten nur der Mandarin und seine Berater. Das Leben an Bord von ,Eiliger Drache über den Wassern’ lief immer nach dem gleichen Schema ab. Morgens gab es Reis und dazu Tee aus hauchdünnen Tassen. Mittags wurde der Reis zumeist gedünstet, scharf gewürzt und mit Fleisch gegessen. Abends erhielt jeder Reiskuchen, dazu wieder heißen Tee. Der Mandarin und seine Berater tranken Sake. Es war ein herrlicher erster Tag, und er verging schnell. Die Mannschaft hatte nicht viel zu tun, das Schiff war neu und ,Eiliger Drache über den Wassern’ hatte es wirklich eilig, immer schneller voranzukommen. Ich hatte mir das Leben auf See immer viel schlimmer vorgestellt. Aber wir lebten in den Tag hinein, und der Mandarin ließ uns gewähren. So vergingen zwei Tage. Am dritten Tag fragten sich die meisten besorgt, ob wohl bald wieder Land auftauchen würde, aber wir sahen keins und gegen Abend ließ der Mandarin mich zu sich rufen. ,Höre, Chronist’, sagte er, ,du bist ein vielbelesener Mann und hast sicher auch darüber gelesen, wo die Welt zu Ende ist.’ Ja, edler Herr, das habe ich’, sagte ich ehrfurchtsvoll. ,Dann sage mir, wie es da ist, denn es kann sein, daß wir bald dort sein werden, und wir müssen auf der Hut sein, damit wir nicht in diesen fürchterlichen Abgrund gerissen werden und von der Erde fallen.’ Auf seinem Gesicht lag Besorgnis, aber er lächelte gleich darauf wieder freundlich. ,Ich habe gelesen, o Herr, daß an jener Stelle das Wasser brodelt und dampft, daß die Wellen so hoch wie Häuser sind, daß es dort Seeschlangen gibt. Man kann es aber rechtzeitig sehen und umkehren, bis man andernorts Land erreicht.’ ,Dann ist es gut, wir werden noch mehr Wachen aufstellen. Du kannst gehen.’ Mir wurde immer noch nicht richtig bewußt, auf was wir uns eingelassen
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hatten. Aber ich wurde das dumpfe Gefühl nicht los, als wüßten wir alle viel zu wenig über dieses Element. Wir hatten ja selbst Boote, Fischer und auch Seesoldaten, aber noch keiner von ihnen war jemals so weit herausgefahren wie wir. Dann fehlte uns natürlich die Erfahrung. Erst jetzt begriff ich, warum die Portugiesener so gelacht hatten. Sie hielten uns für Anfänger, und darin hatten sie recht. Wir waren Anfänger. Aber jeder fängt einmal an, wenn er Erfahrungen sammeln will. Am vierten Tag braute sich etwas zusammen. Ich roch es an der Luft, sah es an dem Wasser, das immer dunkler wurde, und an den Wolken, die dunkelgelb waren. Mit Sicherheit hatten wir einen kleinen Sturm zu erwarten, so wie er öfter vor unserer Küste auftaucht und über das Land weht. Langsam wurden die Wellen größer und höher. Mitunter erreichten sie sogar die Bordwand und leckten daran hoch. Wir alle hatten Angst und stellten uns natürlich die bange Frage, ob wir wirklich schon das Ende der Welt erreicht haben sollten, denn man sah die gleichen Wirbel und Wellen, und nicht lange danach begann das Wasser zu kochen und zu brodeln. Die ersten Wasserberge erreichten das Deck und brausten donnernd darüber hinweg. Alle hielten sich fest, aber es half nichts. Eine besonders große und wild schäumende Wasserwand erfaßte zwei meiner Gefährten und spülte sie in hohem Bogen über Bord. Ihre Todesschreie klangen entsetzlich, doch das Wasser erstickte sie. Wenn es noch eine Steigerung gab, so erfuhren wir sie gleich darauf. Die Wellen wurden so hoch, daß man ihre schäumenden und sich ständig überschlagenden Köpfe nur noch sah, wenn man hoch in den Himmel blickte. ‚Eiliger Drache über den Wassern’ aber stemmte sich gegen diese Gewalten und brach nicht auseinander, wie wir alle befürchtet hatten. Tapfer hielt das Schiff aus, trotzte dem Wüten des Sturmes, den anrennenden Wassermassen, ließ sich
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immer wieder emporheben und raste sofort danach in ein tiefes Tal, mit einer Höllenfahrt, dir mir den Atem nahm. Es konnte nicht gut gehen. Einmal, wenn ‚Eiliger Drache über den Wassern’ sich wieder in so einem Tal befand, mußte der Berg aus Wasser über es stürzen und es niederdrücken. Niemand begriff, wie das Schiff diese Marter aushielt. Es bebte und ächzte, als sei es verwundet, es knarrte und krachte, und dann wieder schien es zu flüstern. Es sprach zu uns, und ich habe seine Worte später auch verstanden. Es sagte nämlich: ‚Habt keine Angst, seid ohne Furcht. Ich bin aus gutem starken Holz gebaut, und ich werde nicht nachgeben, solange der große Mandarin mich führt.’ Und es hielt tatsächlich dem wütenden Grollen der See stand. Immer wieder stemmte es sich zornig und voller Wut nach oben, wartete geschickt ab und ließ sich dann einfach in die riesigen Täler aus Wasser hineinfallen. Aber unsere kostbaren Tassen gingen kaputt, bis auf zwei. Das ganze zarte Geschirr zerbrach. Nur Scherben blieben übrig. Aber auch das war nicht das Schlimmste. Der schwere Sturm hatte uns drei Segel weggerissen, und als er langsam abflaute, trat der Mandarin vor die Mannschaft. ,Ich habe euch allen etwas Trausriges mitzuteilen’, sagte er. ,Nicht nur, daß wir zwei unserer Gefährten verloren haben — das ist noch zu verschmerzen, doch unser Verlust ist von weitaus größerer Bedeutung.’ Nach einer kleinen Pause drehte er mir das Gesicht zu. ‚Verzeichne das in der Reise-Chronik, Hung-wan! Wir haben das kleine Gerät verloren, das kleine Gerät’, setzte er traurig hinzu. Jeder wußte, was er meinte. Das kleine, kostbare und unersetzliche Gerät mit der Nadel, die sich nie bewegte. Sie war der einzige ruhende Gegenstand an Bord. Nur das Schiff drehte sich um sie, sie selbst
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stand ganz still. Und sie hatte uns immer die Richtung gewiesen, in der wir fuhren. Nun war guter Rat teuer. Zusammen mit dem Mandarin berieten wir, was zu tun sei. Die Berater versprachen, sie würden eine neue Nadel anfertigen, denn sie wußten noch genau, wie die verlorene ausgesehen hatte. Und sie versuchten es in den darauffolgenden Tagen auch immer wieder. Aber keine der Nadeln, die sie anfertigten, wollte funktionieren. Sie drehten sich alle und waren nutzlos, sie konnten uns die Richtung nicht anzeigen. Selbst die Sterndeuter wussten nicht weiter, und auch die Astronomen waren hilflos, denn sobald der Himmel sich bewölkte, konnten sie keinerlei Berechnungen mehr anstellen. Von nun an begann unsere Irrfahrt auf dem Meer, die Irrfahrt von ,Eiliger Drache über den Wassern’. Tage vergingen, mal war das Meer ruhig, dann wieder wurde es wild und rauh, und wir segelten wie die Verdammten geradewegs ins Tor der Hölle. Weit und breit gab es kein Land zu sehen, immer nur Wasser, Wasser, nicht einmal ein Vogel flog über uns. Der Mandarin spürte die Stimmung an Bord, die immer schlechter wurde. Einige wollten umkehren und sagten das auch ganz offen, doch wo sollten wir hin? Vielleicht waren wir längst wieder auf dem Rückweg und wußten es selbst nicht? So fuhren wir über das große Meer, das keinen Anfang hat und kein Ende, und das Schiff trug uns fort ins Ungewisse, immer weiter, immer schneller, wochenlang. Die Angst an Bord wuchs, weil wir weder das Ende der Welt noch irgendwo Land erreichten. Unsere Vorräte gingen zur Neige, die Sojabohnen waren aufgebraucht, wir hatten keine Möglichkeit mehr, sie keimen zu lassen. Und dann gab es nur noch eine Handvoll Reis am Tag für jeden. Er wurde auch nicht mehr gedünstet, und es gab keine Beilagen. Der Tee schmeckte nicht mehr, denn das Wasser, in dem er gebrüht wurde, hatte lange grüne Fäden, und man konnte
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es nur mit großem Widerwillen trinken, so daß man sich mitunter erbrach. Der Mandarin wurde nun immer besorgter. Ganz unversehens erschien er mal unter Deck und sah nach uns. Und seine Miene wurde immer abweisender und kälter. Dann brach Streit unter der Mannschaft aus, der sich sogar gegen den Mandarin persönlich richtete. Ein paar Leute wollten das Schiff wieder zurücksegeln, und ganz besonders tat sich dabei Hoang-Lu hervor. Er war fast wahnsinnig vor Angst. Wir redeten ihm zu, daß der Geist des Mandarin über allem wache und das Schiff auch weiterhin führen werde, denn hatten wir nicht allen Stürmen getrotzt und die Winde besiegt? Trotzte ,Eiliger Drache über den Wassern’ nicht allen Gewalten? Hoang-Lu ließ sich nicht beeinflussen, und er drohte sogar ganz öffentlich, er und ein paar seiner Männer würden dafür sorgen, daß das Schiff wieder zurückkehre. Selbst der große Chan könne an seinem Entschluß nichts ändern, wäre er hier. ,Ich suchte ihn abends auf.’ ,Was du vorhast, ist Frevel, HoangLu’, redete ich auf ihn ein, ,bald werden wir Land finden oder eine Insel, dann haben wir wieder frisches Wasser, Reis und Tee und Gemüse wie zu Hause.’ Aber er sah mich nur haßerfüllt an. ,Scher dich weg, du verdammter Chronist, du Schnüffler’, sagte er und trat nach mir. Man stelle sich das einmal vor! Ich beachtete ihn nicht weiter, diesen Narren, doch am anderen Tag brachte man ihn an Deck, und der Mandarin zeigte auf mich, der ich tödlich erschrak. ‚Zeichne das auf, Chronist!’ befahl er. ‚Damit es auch in einigen Wochen oder Monaten jeder lesen kann und weiß, wie es den Rebellen ergangen ist: Hoang-Lu war gefesselt, als man ihn an Deck warf. Der Mandarin und seine Berater erhoben Anklage gegen ihn. Ich hatte meinen Tuschpinsel und die Schriftrolle bereit und sah zu. Niemand empfand mit Hoang-Lu Mitleid, es war ganz natürlich, daß er sterben mußte, seit er den Befehlshaber des Schiffes tödlich beleidigt hatte.
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‚Du bist schuldig der verräterischen Aufrührerei, Hoang-Lu’, begann der Mandarin leise zu sprechen. Auch in seinem Gesicht zuckte kein Muskel, es blieb beherrscht wie immer. ,Du hast meine Befehle mißachtet und die Leute gegeneinander aufgehetzt. Ich verurteile dich im Namen des großen Chan daher zum Tode. Das Urteil wird sofort vollstreckt, dein Körper der See übergeben, dein Kopf in den Wind gehängt.’ Während zwei Männer den Aufrührer festhielten und ihm die Arme auf den Rücken bogen, trat einer der Berater einen Schritt vor. In seiner Hand blitzte ein kurzes Krummschwert. ,Beuge dein Haupt!’ sprach er laut. Hoang-Lu beugte sich vor, er grinste verächtlich. ,Was seid ihr doch verblendet!’ schrie er. ,Nie werdet ihr zurückkehren, nie! Ihr wißt ja nicht einmal wo ihr euch in diesem Augenblick befindet.' Ein kurzer, aber kraftvoller Hieb trennte seinen Schädel blitzschnell vom Rumpf und unterbrach die Worte, die er noch hatte sagen wollen. Sein Körper bäumte sich auf, während der Kopf schon über die harten Planken rollte und vor einer Taurolle liegenblieb. Zwei Männer schleppten den blutenden Körper zu der einen Schiffsseite, hoben ihn an den Armen hoch, die sie immer noch auf dem Rücken hielten und warfen ihn schwungvoll über Bord. Der Rest des Rebellen ging unter und versank, begleitet von einer rötlichen Spur, die man noch eine Weile sah. Hoang-Hus Schädel mit den jetzt geschlossenen Augen und dem immer noch verächtlichen Grinsen im Gesicht wurde aufgehoben, überall herumgezeigt und dann, an den Ohren mit Tauwerk befestigt, am Vorderschiff in den Wind gehängt. Zwei weitere Anführer, die sich ihm angeschlossen hatten und wohl dachten, sie blieben verschont, wurden von den Beratern des Mandarin aus der Mitte der Mannschaft geholt. Wieder trat der Mandarin vor.
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‚Seht ihn euch an!’ sagte der Mandarin und deutete auf den am Vorschiff hin und her schwingenden Schädel. ,Ihr wart seine Komplicen, ihr habt ebenfalls den Befehl verweigert. Im Namen des großen Chan verurteile ich euch ebenfalls zum Tode.’ Der eine riß sich los und schrie, aber die Berater fingen ihn sofort wieder ein, und beide mußten sich Rücken an Rücken auf die Planken setzen. Man schlang ein Tau um ihre Oberkörper und verknotete es, bis sie sich nicht mehr rühren konnten. Dann wurden sie aufgehoben, vier Männer trugen sie zur Bordwand. Auf ein Handzeichen des Mandarins warf man sie über Bord, wo sie jämmerlich ertranken. ‚Hast du alles aufgezeichnet, Chronist?’ fragte mich einer der Berater. Ich bejahte eifrig und untertänigst. ,Dann schert euch an die Arbeit, alle!’ Das Schauspiel war vorbei, die Verräter hatten die verdiente Strafe erhalten, und der Mandarin schritt davon.“ 7. Wieder unterbrach sich Siri-Tong. In ihren Augen schimmerte es, sie holte tief Luft. „Der hier vor euch liegt, ist der Mandarin“, sagte sie leise. „Wir sollten ihm jetzt seine verdiente Ruhe gönnen.“ Hasard und auch die anderen benötigten eine Weile, um das alles zu verarbeiten, was in der Schriftrolle stand. Stück um Stück wurde das Geheimnis des schwarzen Seglers gelüftet. Sie betrachteten das Schiff jetzt mit ganz anderen Augen als vorher. „Eiliger Drache über den Wassern“ hatte es einstmals geheißen. „Bitte“, sagte Siri-Tong noch einmal. „Laßt ihn in seiner Kammer weiter ruhen.“ Der Schiffsjunge, der mit großen erstaunten Augen um sich sah, zupfte Carberry sanft am Arm. „Wenn das ein Mandarin ist“, flüsterte er ganz dicht am Ohr des Profos’, „ist die Korsarin dann vielleicht eine Mandarinin, weil sie die Sprache kennt?“
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Carberrys Gesicht versteinte. Am liebsten hätte er ausgeholt und dem Bengel eine geklebt, doch der sah ihn voller Unschuld an. Und außerdem konnte er ihm ja hier schlecht eine langen, das hätte Siri-Tong ihm niemals verziehen. „Ich werde dir später in den Arsch treten“, versprach er und flüsterte noch leiser als der Bengel vorhin. Ferris Tucker, der die ganze Geschichte heraufbeschworen hatte, wofür ihm allerdings jeder dankbar war, versuchte nun, die Mumie wieder in die Kammer gleiten zu lassen. Zunächst sah das einfacher aus, als es war. Die Mumie stellte sich auf ihrem Brett senkrecht hin, wurde aber noch von den Stricken festgehalten. „Verdammt“, knurrte Tucker vor sich leise hin, als es nicht klappen wollte. Doch dann gelang es ihm endlich. Die Mumie glitt auf ihrem Brett zurück und verschwand in der engen Kammer. „Was ist ein Mandarin?“ fragte Hasard. „Und woher weißt du, daß ausgerechnet er einer ist? Es kann sich genauso gut um den Chronisten handeln, der das alles aufgezeichnet hat.“ „Ein Mandarin ist ein hoher Würdenträger und bereits an seiner reichverzierten Kleidung zu erkennen“, erwiderte sie etwas von oben herab. „Das schließt die Beantwortung der zweiten Frage dann wohl aus.“ Hasard sah den Wikinger an, dann Tucker, Carberry und schließlich den Boston-Mann der einsam, schweigend und verlassen etwas weiter im Gang stand. Diese Geschichte war einfach ungeheuerlich, dachte er. Da schickten sie ein großes Schiff auf Reisen und besetzten es mit Leuten, die von der Seefahrt so gut wie nichts verstanden und sich auf ein paar vage Angaben verließen sowie auf einen lausigen kleinen Kompaß, den das erste Unwetter einfach über Bord gespült hatte. Die anderen schienen genauso zudenken, denn er sah den rothaarigen Schiffszimmermann gedankenvoll nicken. „Es muß furchtbar für die Leute gewesen sein“, sagte Ferris. „Sie segelten ein Schiff,
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das sie gar nicht kannten. Ihnen werden wohl erst im Verlauf ihrer Irrfahrt die richtigen Seebeine gewachsen sein. Aber man hat auf dem Schiff nicht lange gefackelt, wenn es um Meuterei ging.“ „Mich interessiert, wann sie endlich Land gefunden haben und wie sie in die Karibische See gelangt sein mögen“, sagte der Seewolf. „Vor allem interessiert mich das Datum. Steht das irgendwo in der Schriftrolle, Siri-Tong, oder ist es einmal erwähnt worden? Daraus ließen sich genaue Rückschlüsse auf das Alter des Schiffes ziehen. Schließlich muß es jahrelang über die Meere geirrt sein, ehe es hierher fand.“ Siri-Tong nickte. Hasard hatte sie selten so ernst gesehen wie am heutigen Tag. Kein Wunder, dieser Fund hatte sie immerhin am meisten von allen aufgeregt, und er stand in engen Beziehungen zu ihrer Herkunft, wie der Seewolf vermutete. Jetzt würde sich auch der Schleier um sie ein wenig lüften. „ ,Eiliger Drache über den Wassern’ wurde im Jahre fünfzehnhundertundsechzig fertig gestellt. Jedenfalls ist es in diesem Jahr losgesegelt, so berichtet es der Chronist.“ „Dann ist der ,Eilige Drache’ im Verhältnis zur ‚Isabella VIII.’ ein alter Knabe. Genau dreiundzwanzig Jahre alt.“ „Und am Holz sieht man immer noch keine Spuren“, murmelte Ferris Tucker bewundernd. „Ich erinnere mich noch, wie auf Little Cayman die Steine vom Auge der Götter auf die Decksplanken geknallt sind. Die prallten einfach wieder ab, ohne großen Schaden anzurichten. Das hätte nicht mal unsere stark gebaute Galeone ausgehalten.“ Oben an Deck entstand Bewegung. Sie hörten Stiefel über die Planken gehen, ein paar Flüche, und dann beugte sich jemand über den Süllrand des Laderaumes und brüllte: „He, was ist los? Habt ihr wieder was entdeckt? Dann zeigt es uns gefälligst auch. Wir kommen ‘runter!“ „Erledige du das, Ed“, sagte der Seewolf. „Bring die Kerle zur Räson, dir gehorchen sie schneller als dem Boston-Mann!“
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„Aber wartet mit der Geschichte, bis ich zurück bin“, bat der Profos, den die Neugier ebenso gepackt hatte wie die anderen. „Geht in Ordnung, Ed, aber schrei nicht da oben herum. Das kannst du später nachholen.“ „Aye, aye, Sir“, brummte Ed, und schon war er aufgeentert. Auf dem Quarterdeck stand Mike Kaibuk, einer aus Siri-Tongs Crew, ein Kerl, der nichts weiter als saufen und huren im Kopf hatte. Auch jetzt war er wieder leicht angetrunken. Vielleicht hatte er noch irgendwo eine Flasche versteckt gehabt. Neben ihm standen zwei andere, die ebenfalls nach unten steigen wollten. Der Profos sprach mit sanfter Stimme, aber gerade diese Sanftheit war es, die den meisten Angst einflößte. Wenn der Profos so sprach, dann flogen meist auch gleich seine Fäuste. Und obwohl er nicht ihr Profos war, hatten sie doch einen Heidenrespekt vor ihm. „Hört zu, ihr triefäugigen Decksaffen“, sagte er leise, „ihr verschwindet jetzt, aber schnell, kapiert? Wir haben da unten noch zu tun, um das Schiff zu vermessen, außerdem findet eine Besprechung der Schiffsführung statt, und da wollen wir nicht von ein paar versoffenen Rattenschwänzen gestört werden. Los, verholt an Land oder haltet euch ruhig, bis man euch ruft!“ Mike Kaibuk starrte ihn aus rotgeränderten Augen an. „Ihr habt doch was entdeckt, Mann, und wollt uns das bloß nicht sagen. Aber wir lassen uns nicht ...“ Carberry packte ihn am Kragen und hob ihn mühelos hoch. Dort in der Luft, beutelte er ihn gehörig durch, bis sein Hemd riß und nur noch als trauriger Fetzen herabhing. Dann stellte er ihn zurück. . „Noch ein Wort“, drohte er, „und ich werde dir höchstpersönlich die Haut von deinem roten Pavianarsch abziehen und zum Trocknen in den Wind hängen. An die Arbeit, ihr Säcke, klariert das Vorschiff auf, willig, willig, sonst lernt ihr mich von der üblen Seite kennen.“
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Mike Kaibuk war der erste, der davonrannte, als säße ihm der Leibhaftige im Nacken. Die beiden anderen hatten es nicht so eilig. Sie gingen provozierend langsam, doch dann tat der eine plötzlich einen Satz und lief noch schneller, denn der Profos hatte ihm einen Belegnagel haargenau ins Kreuz gefeuert. Beruhigt kehrte er wieder zurück. Die drei Affenärsche würden sich in der nächsten Zeit nicht mehr blicken lassen. „Gehen wir in die Kapitänskammer“, schlug Siri-Tong vor, „da werde ich auch noch den Rest vorlesen.“ Auf dem geheimen Weg dorthin, wandte sich der Profos an den Seewolf. „Ich möchte wissen, unter welchen Voraussetzungen diese Leute damals einfach losgesegelt sind“, sagte er. „Die haben sich auf eine Reise begeben, in der Annahme, sie führen direkt ans Ende der Welt und würden dann irgendwo von der Erde fallen. Kannten die denn vor zwanzig Jahren noch keine Seefahrt?“ „Nicht in dem Sinn, wie wir sie kennen. Offenbar bewegten sie sich nur an den Küsten entlang, und ohne die Portugiesen wäre der schwarze Segler heute noch nicht hier, Ed. Aber ihre Kultur war trotzdem höher als die unsere, denn sie hatten feines, hauchdünnes Geschirr an Bord. Darunter kann ich mir wieder nicht viel vorstellen. Es sagt mir lediglich, daß sie wirklich nicht wußten, was ihnen bevorstand. Hohe See kannten sie offenbar nicht.“ „Arme Säcke“, sagte Ed bedauernd. „Aber im Meer der toten Seelen haben wir doch ein ähnliches Schiff gesehen und jetzt, bei den Caicos-Inseln wieder eins.“ „Mittlerweile sind ja auch zwanzig und noch mehr Jahre vergangen“, erwiderte der Seewolf lakonisch. „Die bleiben ja auch nicht für alle Zeiten auf einer Stufe stehen.“ „Hm“, sagte Carberry brummig. .Die Korsarin hat aber genau solche Augen, eh? So leicht geschlitzt, meine ich.“ „Das wundert mich, daß dir das auch schon aufgefallen ist.“
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„Sie könnte auch aus diesem Land stammen“, bohrte der Profos vorsichtig weiter. „In deinem Gehirn scheinen heute wohl ganze Brandsätze zu explodieren, was?“ sagte Hasard grinsend. „Dir raucht ja förmlich der Schädel.“ Carberry war leicht verbiestert und schob sein Rammkinn vor. „Wenn es zuviel qualmt“, bemerkte er. _dann borge ich mir den Helm vom Wikinger, bei dem scheint es auch ständig zu rauchen.“ Bill stand an der Tür zur Kapitänskammer und grinste verlegen. Er traute sich nicht hinein, und aufgefordert hatte ihn auch noch keiner. So lungerte er grinsend herum. „Na los“, Hasard stieß ihn leicht an. „Hinein mit dir, du platzt ja fast vor Neugier.“ „Vielen Dank, Sir!“ Der schmale Junge quetschte sich an ihm vorbei und blieb an der Wand stehen. Gebannt hörte er zu, wie es weiterging. 8. „Wir irrten weiter über das Meer, ohne Ziel, ohne Plan, und dieses Meer war gewaltig, es war so gewaltig, daß wir kein einziges Schiff sahen, keinen Vogel, nichts als nur das Wasser, eine unvorstellbar große Wüste ohne Ende. Unsere Vorräte gingen dem Ende zu, das Wasser war verdorben, und unter der Mannschaft wüteten Krankheiten, die niemand heilen konnte. Sechs weitere Leute starben und wurden der See übergeben. Verzweifelt trieben wir dahin und gelangten in Zonen, in denen tagelang kein Wind wehte. Doch dann, als niemand mehr daran geglaubt hatte, entdeckte der Posten plötzlich Land und wir steuerten darauf zu. Es waren zwei Inseln, kleine Eilande, auf denen niemand hauste. Dort gab es seltsame Bäume von hohem schlanken Wuchs, die an ihrem oberen Ende einen Wedel trugen. Daran hingen viele braune Kugeln, deren Saft man trinken und deren
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Fleisch man essen konnte, wie wir nach zahlreichen Versuchen herausfanden. Auch Wasser gab es auf dieser Insel, aber nur dann, wenn es regnete und es sich in großen Erdlöchern sammeln konnte. Der gute Geist des Mandarin hatte uns gerettet, und wir dankten Gott und dem großen Chan dafür. Auf dieser Insel gab es einiges, das eigenartig erschien. Der Strand auf der einen Seite war von dunkler Farbe, der Sand auf der anderen von jadegrüner, und in kurzen Zeitabständen spülten riesige Wellen an den Strand. Insgesamt hielten wir uns hier vier Tage auf, sammelten unbekannte Früchte in riesigen Mengen und füllten unsere Fässer mit dem köstlichen Wasser. Dann segelten wir weiter, tagsüber nach der Sonne, und nachts nach dem hellen Stern, dem Panda, wie ihn unsere Astronomen nannten. Immer und auf ewig schienen wir verdammt dazu zu sein, über das endlose Meer zu fahren. Schon nach ein paar Wochen nahm das Unheil erneut seinen Lauf, denn wieder gingen die Vorräte zur Neige und wir hatten nur Wasser, das wir mit Hilfe der Segeltücher mühsam auffingen. Wieder starben drei Leute, und jetzt waren wir nur noch vierunddreißig Männer. Viele von ihnen waren krank, die Zähne fielen ihnen aus, sie hatten Fieber, und das verdammte Meer nahm kein Ende. Es fraß uns, einen nach dem anderen, bis unsere Mannschaft nach weiteren Monaten der Entbehrung, der Angst und des Grauens nur noch aus sechsundzwanzig Leuten bestand. Je weiter wir aber segelten, umso wärmer und heißer schien es mit jedem Tag zu werden. Die Sonne brannte wild und grell vom Himmel, ein Zeichen, daß wir nach Süden trieben, immer weiter, denn dort sollte es sehr heiß sein, wie die Portugiesener uns erzählt hatten. Wir durchfuhren die Hölle, immer unterwegs, immer ohne Rast. Nur ,Eiliger Drache über den Wassern’ störte sich nicht daran, und wir fragten uns, wohin er uns wohl bringen würde.
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Wir hatten viel gelernt. Wir wußten, wie man mit dem schwarzen Tuch und den langen Stangen umgehen mußte, wenn der Wind tobte und die See brüllte, wir lernten auch zu errechnen, wie lang die Strecke war, die wir zurückgelegt hatten, nur half uns das alles nicht viel, denn das Meer wurde immer größer. Einmal begegneten wir einem Schiff, doch es verschwand gleich an jener Stelle, wo Himmel und Erde sich trennten. Drei lange Tage segelten wir hinterher, doch es blieb verschwunden, und wir trieben weiter nach Süden. Bis wir die nächste Insel fanden, die wir zuerst für einen Kontinent hielten, starben noch einmal sechs Leute an dieser unbekannten Krankheit. Diese Insel war unheimlich, auch war sie nicht bewohnt. Dafür standen im Landesinnern überall große, steinerne Köpfe, mehr als zwei Mann groß. Wenn es Statuen der ehemaligen Bewohner waren, so haben sie jedoch merkwürdig genug ausgesehen, denn sie hatten lange Ohren und riesengroße Köpfe. Es mußten Riesen gewesen sein, aber wir haben sie nie gesehen, oder sie hatten sich versteckt. Auf dieser Insel fanden wir kein Wasser, dafür aber auf einer anderen, die nicht weit entfernt war. Unsere Irrfahrt begann von neuem.“ *
Siri-Tong blickte auf, genau in die Auges des Seewolfs, den eine unerklärliche Erregung gepackt hatte. „Bill!“ sagte er und drehte sich um. „Die Schatzkarte, die dein Vater mir auf Jamaica gab — ich habe sie gut aufgehoben. Das muß die Insel sein, die Insel der steinernen Riesen.“ Alle redeten plötzlich aufgeregt durcheinander, bis Hasard mit einer Handbewegung Schweigen gebot. „Wir werden sie finden“, sagte er leise, „wir haben die nötigen Karten und werden diese Insel suchen, wenn wir zur großen Fahrt auslaufen. Morgen schon“, setzte er
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hinzu, „oder wir segeln noch heute los, ich halte es hier nicht mehr aus.“ Bill hatte es die Sprache verschlagen. Die Insel der steinernen Riesen, dachte er wie betäubt. Der Seewolf würde sie finden, das wußte er ganz genau. Auch die Rote Korsarin war sichtlich erregt. Dieses Schiff hatte eine jahrelange Odyssee hinter sich, es grenzte an ein Wunder, daß es bis in die Karibische See gesegelt war. „Der Chronist unterbricht sich hier“, sagte sie, und auf ihren Wangen erschienen hektische Flecken. „Hier scheint jahrelang nichts mehr aufgezeichnet worden zu sein, aber er spricht von riesigen schwarzen Fischen, die Wasser aus ihrem Kopf blasen.“ „Dann hatten sie den südamerikanischen Kontinent entdeckt. Steht nichts darüber geschrieben?“ „Ich lese gleich weiter.“ * „Unsere Reise dauerte jetzt schon neun mal zwölf Monde, und wir gerieten in den fürchterlichsten Sturm, als wir Land passierten. Dabei wurde auch ‚Eiliger Drache über den Wassern’ leicht beschädigt, denn das Schiff wurde tagelang hin und her geworfen. Wir sahen wieder Land, aber es gelang uns nicht, dort hinzusegeln, denn der Wind war zu wild und die Wasser zu aufgewühlt. So segelten wir in großem Abstand vorbei. Inzwischen war es immer kälter geworden, obwohl wir unseren Berechnungen nach ständig nach Süden fuhren. Dann wurde der Kurs geändert und wir segelten weiter an diesem Land entlang, bis wir eine Bucht anliefen. Hier gab es Menschen von anderer Hautfarbe, deren nackte Körper mit seltsamen Zeichnungen versehen waren. Sie griffen uns an, aber als sie unsere Kanonen hörten, flohen sie voller Angst. Zwei Tage später starb der Mandarin. Er, der uns immer sicher geleitet hatte, war nun tot.
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Wir berieten, was zu tun sei, denn sein guter Geist sollte auch weiterhin das Schiff führen und begleiten, also konnten wir ihn nicht der wilden See übergeben. Einer der Mannschaft verstand sich darauf, menschliche Körper nach dem Tode zu erhalten, damit sie nicht zerfielen. So wurde der hohe Herr gesalbt, eingerieben, mit Essenzen beträufelt und gepunktet. Dann wurde er in seine Gewänder gehüllt und in die geheime Kammer gebracht. Zwei andere übernahmen die Schiffsführung. Sie verstanden sich ausgezeichnet darauf, wir alle hatten viel gelernt, viel erlebt und viel gesehen. Und wir ahnten, daß es kein Ende der Welt gab. Wir segelten weiter an der Küste entlang, begegneten anderen Schiffen und wurden von manchen angegriffen. Aber stets wehrten wir diese Angriffe ab Und nötigten unseren Feinden Respekt ab. Wir waren alt geworden, denn jetzt, als wir liebliche Inseln sahen, eine immer schöner als die andere, hatten wir eine Reise von fünfzehn mal zwölf Monden hinter uns, und wir verstanden besser zu segeln, als manche dieser gewissenlosen Räuber, die große Beute bei uns vermuteten. Eines Nachts wurden wir überrumpelt, noch ehe wir uns wehren konnten. Düstere, schwarzhaarige Männer mit Bärten überfielen unser Schiff und töteten einige von uns. Ich selbst verbarg mich in einem der zahlreichen geheimen Verstecke. Sie segelten jetzt ,Eiliger Drache über den Wassern’. Nachts hörte ich sie schreien, wenn sie Häfen anliefen oder sich betranken. Dann kamen Frauen an Bord, es wurde getrunken und gelacht, bis mir elend wurde. Ich sah sie ein paarmal, ohne daß sie mich sahen. Es waren unheimliche Männer, ganz in schwarzes Tuch gekleidet, düstere Mörder und Räuber, die mit unserem Schiff andere überfielen und meine Kameraden zur Arbeit zwangen. Ihr Anführer wurde eldiaboloh genannt, ein schrecklicher Geselle mit einer wüsten Sprache. Er trank viel und jeden Tag, wenn er betrunken war, befahl er seinen Gesellen, einen der unseren an die Rahen
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zu hängen. Ich wußte nicht warum, hörte aber von unseren Leuten, daß er das nur tun ließ, weil wir Schlitzaugen hätten und Zöpfe trugen. Und jeden Tag hing einer an der Rah, er wurde aufgehängt, ohne daß er jemandem was zuleide getan hätte. Daran hatte dieser grausame Räuber seinen Spaß, und er lachte dabei, wenn die Leute um ihr Leben bettelten. Mich fanden sie nicht, ich schlich mich an Deck, wenn sie getrunken hatten und stahl ihre Vorräte, um nicht vor Hunger zu sterben. Ich fand ein paar Tage später keinen meiner Kameraden mehr lebend vor. Dieser schwarze Teufel hatte sie alle ermordet. Meine Aufzeichnungen verstecke ich in der Kammer des edlen Mandarin, ich hoffe nicht, daß jemand sie findet. Aber ich verfluche diesen grausamen Mann und seine Leute. Verflucht sollen sie sein, eines elenden Todes sollen sie sterben. Ich verfluche sie bis in alle Ewigkeit, beim großen Chan, beim edlen Mandarin, der uns sicher über das große Meer geleitet hat. Ich weiß, daß sie sterben werden — alle diese Höllenhunde, die es nicht wert sind, daß die Sonne sie bescheint, denn WER HIER EINGEHT, DES LEBEN IST FÜR IMMER VERWIRKT... 9. Die letzten Worte waren nur noch sehr leise und zögernd von Siri-Tongs Lippen gekommen. Sie ließ die Schriftrolle sinken und schlug sekundenlang die Hände vor das Gesicht. „Mein Gott“, schluchzte sie, als sie sich wieder gefaßt hatte, „was müssen diese armen Männer alles erduldet haben!“ Niemand sprach. Zu sehr beschäftigte sich noch jeder im Geist mit der qualvollen Irrfahrt des schwarzen Seglers. Es dauerte endlos lange, bis der Seewolf das Wort ergriff. Auch er war erschüttert, sie sahen es ihm deutlich an.
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„Jetzt kennen wir die ganze Geschichte“, sagte er. „Die Geschichte des schwarzen Seglers und auch die von El Diabolo. Und zum ersten Mal haben wir eine Erklärung für den Spruch, den wir schon im Sargassomeer entdeckt haben. Es scheint sich bei allen Schiffen um einen Fluch zu handeln oder aber um einen Spruch, der den Zopfmännern die ganze Aussichtslosigkeit ihrer Lage vor Augen hält. Wer auf eins dieser Schiffe geht, um eine große Reise anzutreten, des Leben ist für immer verwirkt, der wird nie mehr zurückkehren. Kann man es so auffassen, Siri-Tong?“ wandte er sich an die Rote Korsarin. „So kann man es auffassen“, sagte sie tonlos. „Sie wurden ausgeschickt, um das Ende der Welt zu erkunden, und sie kehrten nie wieder in ihr Land zurück.“ Hasard hatte die Rote Korsarin eine ganze Weile beobachtet. „Da war doch noch eine kleine Schrifttafel“, erinnerte sie. „Was steht denn darauf?“ Er war erstaunt, daß sie jetzt diese Bereitwilligkeit zeigte. Früher hatte sie sich immer gesperrt, aber seit sie die Mumie entdeckt hatten, war einiges anders geworden. Sie holte das Pergament hervor und zeigte es herum. Überall sah sie in blasse und verstörte Gesichter. Selbst der eiserne Carberry und der Wikinger brauchten eine geraume Weile, bis sie sich erholt hatten. „Es ist eine Art Schutzbrief, ein Vermächtnis des toten Kapitäns“, erklärte sie etwas widerwillig. „Und was sagt dieser Schutzbrief aus?“ Hasard ließ nicht locker. Er wollte alles wissen, jede Kleinigkeit. „Diese Schrift schützt denjenigen, der sie besitzt“, erwiderte sie zögernd. „Er ist über die ganze Irrfahrt des Schiffes unterrichtet, und es wird ihm nichts geschehen, ja, er wird sogar vom großen Chan empfangen werden, falls er noch lebt. Das Vermächtnis des Kapitäns öffnet ihm alle Türen.“
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„Im Land des großen Chan“, setzte Hasard hinzu. „So ist es doch, oder nicht?“ „So ist es.“ „Würde dich dieser Brief auch schützen?“ fragte er. Siri-Tong zuckte zusammen. „Warum mich?“ „Du wirst es besser wissen als ich. Ich erinnere dich nur an die Botschaft auf dem Zettel, den man uns herüberschoß. Von einem Schiff, auf dem die gleichen Männer fuhren, wie sie auch auf dem schwarzen Segler waren.“ „Inzwischen sind viele Jahre vergangen“, sagte die Rote Korsarin versonnen. „Vieles hat sich verändert, viele andere Schiffe sind inzwischen gebaut worden und haben eine Reise ins Ungewisse begonnen. Manche mögen zurückgekehrt sein, andere nicht. Wenn der große Chan nicht mehr lebt, weiß ich nicht, ob mir dieser Schutzbrief helfen wird.“ Hasard ging zu ihr hinüber und berührte leicht ihren Arm. „Sag doch endlich, was dich bedrückt, SiriTong. Deine Vergangenheit kann doch nicht so schlimm sein. Erzähle sie uns, und wir werden versuchen, dir zu helfen.“ „Ihr könnt mir helfen“, sagte sie. „Ihr könnt mir helfen, indem ihr nicht zu diesem Land segelt. Denn sonst bin ich gezwungen, mitzusegeln, den Grund kennst du!“ Hasard nickte. Ja, den Grund kannte er, er selbst war der Grund, kein anderer. Aber er wollte jetzt nicht weiter in sie dringen, sie war doch zu nervös. „Ich kann nicht mehr zurück“, sagte er, „seit ich diese Geschichte gehört habe, erscheint mir die ganze Karibik grau und langweilig, so schön sie auch sein mag. Mich hat das Fernweh gepackt, eine Krankheit, gegen die der Kutscher kein Mittel hat, die man nur heilen kann, wenn man ihr nachgibt. Und ich muß ihr nachgeben, ich will dieses große verdammte Meer kennenlernen und selbst erleben. Ich will die Insel der steinernen Riesen suchen, und ich möchte den Strand sehen, der auf einer Inselseite grün und auf
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der anderen schwarz ist. Erst dann habe ich Ruhe.“ „Und außerdem hängen uns die Spanier am Hals“, sagte Carberry trocken. „Wir wollen zwar nicht vor denen auskneifen, aber die ganze Mannschaft weiß, daß wir eine große Reise antreten. Wenn wir hierbleiben, verlieren wir unser Gesicht.“ „Pah!“ Siri-Tong lachte grell auf. „Was hat das in diesem Land schon zu bedeuten? Wenn man im Reich des großen Chan sein Gesicht verliert, ist man tot. Hier nicht, hier lebt man weiter.“ Hasard dachte über die Worte nach. Er kam nicht dahinter. „Was sagst du, Thorfin?“ fragte die Korsarin. „Du weißt viel, wollen wir nicht woanders hinsegeln?“ Der Wikinger räusperte sich. Verlegen blickte er in die Runde, und dann, als ihm nichts einfiel, begann er zu Carberrys großem Ärger wieder an seinem verdammten Kupferhelm zu kratzen. Diesmal tat er es ausgiebig und lange, bis Ferris Tucker, den das immer mehr irritierte, noch nervöser wurde. „Ist das vielleicht eine Antwort, du nordischer Affe?“ fuhr er den Wikinger an. „Was haben wir beschlossen? Drück dich gefälligst nicht um die Antwort herum, sonst beule ich dir deinen lausigen Helm auf der anderen Seite auch noch ein.“ „Ho, du machst mir Spaß, Zimmermann, du rothaariger Dickschädel. Hat Thorfin Njal schon einmal nicht sein Wort gehalten?“ fragte er mit seiner Donnerstimme. „Ja, das hat er“, sagte Ferris Tucker ernst, aber in seinen Augen blitzte dabei der Schalk. Sofort ging der Wikinger hoch. „Was habe ich?“ brüllte er. Tucker sah ihm grinsend ins Gesicht. „Wo bleibt denn das Faß Branntwein, Nordmann? Hast du nicht die Wette verloren mit deinem vorlauten Gebrüll?“ „Oh, das hole ich sofort“, versprach Thorfin und sprang auf. „Hier unten wird nicht gesoffen“, sagte die Korsarin schroff.
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„Na, dann gehen wir eben an Deck, oder wir warten solange, bis die Mumie von Bord ist. Wir können sie irgendwo in der Bucht beerdigen. Wenn ich daran denke, daß ich die ganze Zeit praktisch dicht neben einer Leiche gelegen habe, dann wird mir jetzt noch angst und bange.“ Hasard wollte dem Wikinger einen warnenden Blick zuwerfen, denn er kannte Siri-Tongs scharfe Reaktion, aber der Klotz von einem Kerl sah nicht einmal herüber. Ihn beschäftigten jetzt nur noch drei Dinge: die Mumie mußte von Bord, das Faß sollte geholt werden, und die Reise sollte beginnen. Und für Gefühlsduseleien hatte er ohnehin nichts übrig. Tot war tot, war seine Devise, und die Toten gehörten nun einmal nicht mehr zu den Lebenden. Dabei war der Wikinger nicht roh, er sah die Dinge eben nur anders — nordisch. „Ho, was bin ich froh, wenn wir den Kerl von Bord haben“, erzählte er weiter. „Gut, gut, er hat eine Menge erdulden müssen. Aber mich hätte es an der WindwardPassage auch beinahe erwischt, und Odin allein weiß, ob jemand erschienen wäre, um mich einzubalsamieren und in eine Koje zu stopfen. Ich hätte das auch glatt abgelehnt, denn wer ...“ „Thorfin Njal!“ peitschte die Stimme SiriTongs durch den Raum. Ihre Augen sprühten wild, unbändiger Zorn stand in ihrem Gesicht. Hasard hatte sie noch nie so schön gesehen. Wie eine Rachegöttin sah sie aus. „Die Mumie des Mandarin bleibt an Bord!“ rief sie wild. Der Wikinger kriegte den Mund nicht mehr zu. „Der bleibt nicht an Bord“, versicherte er grimmig. „Und mag er zehnmal ein großer Mann sein.“ Jetzt waren zwei Dickschädel aneinandergeraten, dachte Hasard. Die Korsarin hatte ein stures Köpfchen, und der Wikinger war so stur wie ein fettes Walroß, das sich nicht von seinem Platz vertreiben ließ. „Und ich sage dir, Thorfin Njal, die Mumie bleibt in der Kammer, dort wo sie ist!“
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„Nein, zur Hölle!“ brüllte Thorfin und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich fahre nicht mit einer Leiche, auch wenn sie gesalbt ist.“ „Dann fahr allein und fahr zur Hölle“, sagte die Korsarin mit funkelnden Augen. „Dann streich dir deinen schwarzen Segler weiß, aber ohne mich, damit das klar ist.“ Carberry blickte von einem zum anderen. Insgeheim grinste er sich eins, und er war schon gespannt, wie der Kampf ausgehen würde. Der einzige, der den Ausgang kannte, war Hasard. Siri-Tong würde sich durchsetzen, das wußte er. Jedenfalls bei Thorfin. Zum erstenmal gerieten die beiden knallhart aneinander. Der Wikinger fluchte, drohte, bettelte und brüllte aus Leibeskräften. Sein Gesicht hatte die gleiche Farbe angenommen wir der Kupferhelm auf seinem Schädel. Dann versuchte er es mit logischen Argumenten. „Die ganze Mannschaft erfährt es!“ donnerte er. „Und dann möchte ich den sehen, der mit auf die Reise geht! Jawohl, den möchte ich sehen. Du wirst keinen einzigen Mann an Bord haben, alle werden sie davonrennen, und eine neue Mannschaft kriegst du ebenfalls nicht, wenn die wissen, was hier an Bord steckt.“ „Dann sollen die Kerle eben aussteigen“, erklärte sie kalt. „Zum letzten Mal, Thorfin: Entweder bleibt der Mandarin an Bord, oder ich verlasse das Schiff und gehe zu Hasard.“ Thorfin sah den absoluten Ernst und den unbeugsamen Willen in ihren Augen, doch dann lenkte er wütend ein. „Gut, dann bleibt er eben an Bord. Aber du bist und bleibst ein großer, weißer Vogel, Mädchen.“ „Was soll das heißen?“ empörte sich die Korsarin. „Dumme Gans wollte ich nicht sagen!“ schrie der erboste Wikinger. „Und jetzt hole ich den Branntwein und werde den Männern erzählen, was passiert ist. Und wer nicht mitfahren will, den schicke ich persönlich zur Hölle, der kann abhauen.“
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Geladen stapfte er hinaus. Denen habe ich es aber wieder einmal gegeben, dachte er grimmig. „Laß ihn”, sagte der Seewolf und hielt die Korsarin zurück. „Es ist besser, wenn die Leute es erfahren. Besser hier und jetzt als durch einen Zufall unterwegs. Ich bin sicher, daß der größte Teil zu dir hält, trotz der Mumie. Unterwegs könnte es einen Aufstand geben, und so bist du gleich im Bilde.“ „Thorfin ist ein Holzkopf, ein sturer Kerl, aber ich kann ihn immer noch letzten Endes um den Finger wickeln, wenn es sein muß.“ Ein flüchtiges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Hasard und die anderen gingen an Deck. Dort hatte inzwischen die Nachricht, daß man eine Mumie entdeckt hatte, wie ein Lauffeuer die Runde gemacht. Auch die Seewölfe hatten es erfahren, und bald wimmelte es an Deck des schwarzen Schiffes von Männern. Siri-Tongs wilde Gesellen bekreuzigten sich reihenweise. Muddi, die kleine dreckige Ratte, trat vor und krächzte: „Mit einer Leiche an Bord segel ich nicht! Ich nicht!“ „Dann kannst du auf Tobago abmustern, du Stinktier!“ brüllte Thorfin ihn an. „Dort heuern wir nämlich neue Leute an, aber bestimmt keine Läuse wie dich!“ Noch einer trat vor, ein Kreole mit zernarbten Armen, die von vielen Messerstichen kündeten. Auch er schüttelte den Kopf. „Nicht mit einer Leiche an Bord, Madame“, sagte er. „Das bringt Unglück und den Tod für die Mannschaft.“ Siri-Tong maß ihn mit einem erschreckend kalten Blick. „Du kannst in Tobago dein Bündel packen und verschwinden“, sagte sie herrisch. „Dieser Mandarin ist brisanter als eine volle Pulverkammer“, sagte Hasard sorgenvoll. „Wenn die beiden Kerle wirklich von Bord gehen, wird es auf der Schlangen-Insel bald von Piraten wimmeln, die sich alle um die Schätze balgen.“
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Tucker nickte überrascht. „Aber du hast sie doch alle schwören lassen“, sagte er. „Die werden sich nicht lange an den Schwur halten, die Kerle nicht. Den Schwur haben sie morgen schon vergessen.“ Er betrachtete Muddi, den kleinen Stinker, und zog ihn an seinem ausgefransten Ohr dicht zu sich heran. „Die Korsarin wollte dich schon einmal an die Rah hängen lassen, du schmieriger Lümmel. Weißt du noch, daß ich das damals hier auf der Schlangen-Insel verhindert habe? Sonst würde dein Kadaver noch mehr stinken als heute.“ „Ja, ich weiß das, Sir, Sie haben mir das Leben gerettet!“ „Und jetzt willst du kneifen, Muddi?“ fragte Hasard leise. „Keine Rede davon, Sir. Ich kriegte nur einen mächtigen Schrecken, Sir, aber in Wirklichkeit ist das gar nicht so schlimm, nein, Sir, der Mann ist ja schon lange tot.“ „Du bleibst also an Bord?“ „Ehrenwort, Sir.“ „Jetzt stinkst du gar nicht mehr so schlimm, Muddi. Aber wie ist das mit deinem Kumpan, dem Kreolen? Ich glaube, der Boston-Mann wetzt schon unauffällig sein Messer, denn er hat Angst, daß der Kreole den Schatz verraten könnte. Und. du kennst den Boston-Mann ja, der ist immer ehrlich und meint es so, wie er es sagt.“ Muddi wechselte die Farbe und warf dem Seewolf einen treuherzigen Blick zu. „Ich red mit dem Kreolen, Sir“, versprach er. „Ich glaube, es wird ihm auch nicht viel ausmachen.“ Hasard sah die beiden Galgenvögel eine Weile miteinander palavern. Er verstand kein Wort, aber dann stieß der Kreole sich vom Schanzkleid ab und ging zu Siri-Tong hinüber. Sein Gesicht war allerdings kalkig, als er zögernd die Hand vorstreckte. „Ich habe es mir überlegt, Madame“, sagte er und versuchte, ebensoviel Treuherzigkeit in seine Stimme zu legen wie Muddi. „Ich bleibe an Bord. Vergessen Sie alles andere.“
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„Laß dir eine doppelte Portion Branntwein geben“, sagte Siri-Tong und warf dem grinsenden Seewolf einen schnellen Blick zu. Auch sie hatte wohl begriffen, wie haarscharf das noch einmal gut gegangen war. Der einsilbige Boston-Mann aber, der Bursche mit dem kühnen Profil und dem goldenen Ring im Ohr, grinste breit, fetzte mit seinem Messer einen Span aus dem Schanzkleid und steckte es dann wieder ein. Damit war der Frieden gerettet, nur das Palaver nahm kein Ende mehr, aber die Debatte wurde am Strand fortgesetzt, und es beteiligten sich alle daran, die Meute von Siri-Tong, die Seewölfe und Jean Ribaults Burschen, die von der „Le Vengeur“ herübergekommen waren. Es wurde zugleich eine Abschiedsfeier von alten Freunden, die man vorerst nicht wiedersehen würde. 10. Der Seewolf, Siri-Tong, der Wikinger, Karl von Hutten, Jean Ribault, Brighton. Carberry, Shane und noch ein paar Seewölfe hockten etwas abseits von der grölenden Horde, die sich an dem Branntwein labte, den der Wikinger verloren und den Ferris Tucker zum Abschied spendiert hatte. Dabei wurde peinlich darauf geachtet, daß die Kerle sich nicht den Hals vollsoffen, denn es sollte noch heute in See gehen. Ribault hob seinen Becher. „Auf euer aller Wohl und guten Wind!“ rief der schlanke Franzose aus. „Eigentlich beneide ich euch um die große Fahrt, die ihr nun antretet. Ich bin selbst auf dieses Land gespannt, denn was ich heute alles gehört habe, weckt meine Neugier immer stärker. Aber einer muß ja die SchlangenInsel bewachen“, setzte er etwas wehmütig hinzu. Karl von Hutten lachte laut. Auch er hob den Becher und trank. „Und außerdem sollen die Spanier hier nicht glauben, sie wären die alleinigen Herren. Wir werden sie auf Trab halten.“
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Siri-Tong schob dem Franzosen ein längliches Päckchen zu. „Ein Abschiedsgeschenk für Sie, Monsieur Ribault. Sollten Ihnen die Dons zu sehr zusetzen, so heizen Sie ihnen gründlich ein.“ „Brandsätze etwa?“ fragte der Franzose neugierig. „Ja, es sind fünfzehn Stück von der besten Sorte. Verschwenden Sie sie nicht unnötig, nur wenn Sie in Gefahr sind!“ „Herzlichen Dank, Madame, und seien Sie unbesorgt. Wir werden sie in Ehren halten und nur gegen eine ganze Armada einsetzen.“ Hasard hatte eine Karte mitgebracht, die er jetzt auf dem Sand ausbreitete. „Wir segeln zunächst bis nach Tobago zusammen“, erklärte er. „Wenn es mit den anzuheuernden Leuten nicht zu lange dauert, warten wir noch einen Tag. Im anderen Fall segeln wir vor, immer an der Küste entlang, und treffen uns auf der Höhe zwischen Paramaribo und Cayenne. Ich kenne diese Strecke, wir haben sie schon einmal mit Francis Drake gefahren. Es gibt da geschützte Buchten, in denen man sich auch notfalls verstecken kann. Sollten wir nicht in Paramaribo liegen, werden wir auf keinen Fall weiter segeln als bis zu diesen drei Inseln hier.“ Der Seewolf deutete auf drei winzige Punkte, die nicht weit von der Küste entfernt waren. „Du hältst es wohl nicht mehr aus?“ fragte die Rote Korsarin lächelnd. „Ihr segelt schneller als wir“, sagte Hasard lachend. „Es wäre nichts als verlorene Zeit.“ „Und die Spanier?“ fragte der Wikinger. Der Seewolf winkte ab. „Ich weiß nicht, ob sich viel geändert hat, denn so lange ist es ja noch nicht her. Aber damals, unter Drake, gab es dort nicht sehr viele. Ab und zu trafen wir mal auf ein paar vereinzelte, und da sie heute nicht mehr allein, sondern nur noch im Geleit fahren dürfen, werden sie kaum gefährlich werden. Was uns vor die Rohre läuft, versenken wir großzügig.“
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Der Seewolf war sorglos. Wieder einmal die unendliche Weite der unbekannten See schnuppern, dachte er, so wie damals bei Drake, als alles noch neu gewesen war. Auch heute würde es wieder neu sein, und es ging noch weiter. Er ahnte noch nicht, was ihm bevorstand, daß sich seine Sorglosigkeit diesmal in ein großes Verhängnis wandeln sollte, er konnte es auch nicht wissen. „Noch einen auf die große Reise“, sagte Carberry und trank. Dann stand er auf und ging zu den anderen hinüber. „Ich sehe nur nach, ob sich auch keiner besäuft, denn das gibt es heute nicht. Feiern ja, aber in Maßen, denn wir haben eine lange Reise vor uns.“ Als er wieder zurückkam, nickte er anerkennend. „Die Burschen benehmen sich wie die Jungfrauen. So zimperlich habe ich sie noch nie gesehen.“ Er verschwieg allerdings bescheiden, daß er ihnen allen seinen Lieblingsspruch von den Affenärschen in aller Rauhbautzigkeit vorgebetet hatte. Und sein Gesicht hatte dabei Bände gesprochen. Kein einziger hatte diesmal gelacht, sie alle hatten es höllisch ernst aufgefaßt, genauso, wie der Profos es auch meinte. Und so hockten sie am Strand, nippten übervorsichtig an ihrem Branntwein und erzählten sich die Geschichte von der Mumie und von dem Vermächtnis des einbalsamierten Kapitäns, der sie auf der langen Reise begleiten sollte. Die Mumie war überhaupt das Gesprächsthema Nummer eins bei den Seewölfen und auch den anderen. Ihr haftete eine geheimnisvolle Aura an, die jeder noch zu steigern vermochte, obwohl sie keiner gesehen hatte. Aber das wurde hochgespielt, verhätschelt und ausgeschmückt, und es bot Gesprächsstoff für die nächste halbe Stunde. Ein Toter an Bord! Einer, der unsichtbar mitfuhr, der still und tot in seiner Kammer lag und dessen Geist überall herrschte. Auch der Wikinger dachte in diesem Augenblick an die Mumie. Er stieß Hasard leicht an und hatte ein besorgtes Gesicht.
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„Dieser Spruch, Seewolf“, sagte er langsam, „der gibt mit immer noch zu denken. Er ist ein Fluch, nicht wahr? Sag nicht nein, ich weiß es besser“, wehrte er ab, als Hasard etwas erwidern wollte. „Ich frage mich nur, ob dieser Fluch noch immer auf dem Schiff liegt, den der Chronist ausgesprochen hat.“ So sorglos sich der Wikinger auch immer gab, hinter seinen Worten glaubte Hasard doch ein schweres Unbehagen herauszuhören. Welcher Seemann hätte sich dabei auch nicht unbehaglich gefühlt? „Nein, Wikinger“, sagte er bestimmt. „Der Fluch hat seine Wirksamkeit längst verloren und galt nur El Diabolo und seinen rauhen Gesellen. Das hat der Chronist auch ausdrücklich erwähnt.“ „Hm, ich glaube du hast recht, denn immerhin ist El Diabolo ja auch auf Little Cayman gestorben. Der Fluch kann also nicht auf uns übertragen werden.“ „Kann er auch nicht, Thorfin“, warf die Rote Korsarin ein. „Der Chronist wußte ja noch gar nichts von uns, und wir haben seine Leute ja auch nicht geschunden.“ „Dann bin ich beruhigt.“ Der Wikinger legte sich in den Sand zurück, stützte sich auf die Ellenbogen und starrte in den Himmel. Er dachte über den schwarzen Segler nach und nahm sich vor, einmal nachzusehen, ob der Name noch unter dem Lack erhalten war – der Name „Eiliger Drache über den Wassern“. „Wie geht eure Reise weiter?“ erkundigte sich Ribault. „Segelt ihr den alten Kurs, am Kap der Dämonen vorbei?“ Hasard breitete zwei weitere Karten aus. „Wir runden Kap Hoorn, das Kap der Stürme, ich will bis zum äußersten Zipfel vordringen, denn da war ich noch nie. Von da ab segeln wir durch den Pazifik und nehmen die alten Karten zu Hilfe.“ „Es wird ein verdammt langer Weg sein, Hasard.“ Der Seewolf zeigte seine weißen Zähne. In seinen eisblauen Augen funkelte es. „Ein verdammt langer Weg, Jean, aber wir werden dem Teufel ein Ohr absegeln, und wenn es Jahre dauert.“
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„Habt ihr euch wenigstens mit Beute eingedeckt?“ fragte der Franzose. „Falls ihr Proviant tauschen müßt gegen Perlen.“ „Umgekehrt meinst du“, sagte Hasard lachend. „Ja, natürlich, das haben wir. Von jedem etwas.“ Smoky erschien grinsend und gesellte sich zu der Gruppe. Er ließ sich neben Ferris Tucker nieder, der sofort etwas von ihm abrückte. „Stell nur keine dämlichen Fragen mehr“, warnte er den Decksältesten, „oder geht’s dir wieder besser, kannst du dich an alles erinnern?“ „Sicher“, sagte Smoky entrüstet. „Das ist längst vorbei. Aber was geht hier eigentlich vor, weshalb feiern wir?“ Tucker blickte ihn entsetzt an. „Himmel, ich hab es ja gewußt“, stöhnte er. „Es ist ein Kreuz mit dir, Smoky, das muß doch endlich mal. aufhören. Dein Dingsda, diese Tempo — äh ...“ „Warte, ich frag den Kutscher“, sagte Smoky strahlend, „der kennt das Wort, aber ich finde es merkwürdig, daß du es auch immer wieder vergißt. Oder ist in deinem Schädel auch etwas nicht in Ordnung?“ Damit flitzte er los, um den Kutscher mit seinem ständigen Gefrage auf die Nerven zu fallen. Tucker sperrte den Mund auf. Das war ja unerhört. Nur weil er dieses verdammte Wort nicht behalten konnte, hielt Smoky ihn für ein bißchen bekloppt? Das wurde ja immer schöner. Er hörte den Kutscher fluchen und grinste still vor sich hin, denn dessen Geduld war langsam auch zu Ende. Zwischen den Männern hockte der Schimpanse Arwenack und schaufelte Sand mit den Händen, den er sich immer wieder übers Kreuz rieseln ließ. Anscheinend wußte er, was bevorstand, denn immer, wenn sich etwas veränderte, benahm er sich so merkwürdig. Hasard erhob sich. Er hatte keine Ruhe mehr. Er wollte nicht mehr länger hier im Sand hocken. Er wollte hinaus, segeln, segeln, bis ans Ende der Welt, wo man herunterfallen konnte, wo das Wasser
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brodelte und kochte, wo es Seeschlangen gab. „Für dich wird es besser sein, Jean, wenn du dich eine Weile hier nicht blicken läßt“, sagte er warnend zu dem Franzosen. „Und noch besser wäre es, du würdest ebenfalls gleich lossegeln.“ „Das hatten wir ohnehin vor. Wir segeln nach euch, sobald ihr die Schlangen-Insel verlassen habt. Wenn wir hier in einem Monat wieder aufkreuzen, werden sich die Spanier beruhigt haben. Dann ist Gras über die Sache gewachsen.“ „Ja, das denke ich auch“, erwiderte Hasard. Wie auf ein Kommando erhoben sich alle. Hasard spürte deutlich die innere Unrast bei seinen Leuten, aber auch die der anderen. Sogar den schweigsamen BostonMann hatte es gepackt, er fummelte ständig nervös an seinem Ohrring herum. „Sollen wir zuerst hinaussegeln?“ fragte Siri-Tong. Hasard nickte. „Ja, das ist vielleicht besser, Und noch etwas: Wir haben guten Wind, den man selbst hier in der Bucht spürt. Setzt alles Zeug, das ihr an die Masten bringt und ...“ Siri-Tong sah den Seewolf herablassend an. „Traust du uns etwa nicht zu, daß wir ,Eiliger Drache über den Wassern’ nicht heil über das Riff bringen?“ „Doch, das traue ich euch zu“, erwiderte der Seewolf grinsend. „Aber die Strömung hat noch lange nicht ihren höchsten Stand erreicht, und demzufolge läßt sich das Schiff nicht so genau steuern, wie es sonst der Fall ist.“ „Eine Kleinigkeit für mich“, sagte die Korsarin spitz, denn wenn jemand ihre seemännischen Fähigkeiten anzweifelte, dann ging sie in die Luft. „Du kanntest auch den Trick mit den nachschleppenden Trossen nicht“, sagte Hasard, „sonst wäre deine Karavelle nämlich schon lange vorher abgesoffen. Nein, nein, ich will euch nur etwas vorschlagen, es ist eine kleine Hilfe, weil der schwarze Segler größer ist als die Galeone.“ „Laß hören“, brummte Thorfin.
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„Legt die Achterleine mit einer doppelten Bucht um den spitzen Felsen und löst alle Taue. Dann jeden Fetzen Tuch hoch, alles, die gesamte Segelfläche muß voll ausgenutzt werden. Dann wird der ,Eilige Drache’ es immer eiliger haben, loszusegeln, bis die Achterleine zu singen beginnt. Dann löst ihr die doppelte Bucht vom Schiff aus und habt sofort und ruckartig Fahrt drauf.“ Der Wikinger nickte anerkennend. „Ein guter Gedanke, Seewolf“, lobte er, „dadurch läßt sich das schwere Schiff wesentlich leichter durch die Passage steuern.“ „Und vor allem seht ihr dann nicht so aus wie die ‚Sevilla’ „, erwiderte Hasard. „Schließlich müßt ihr auch an uns denken. Wie sollen wir das harte Holz abwracken?“ Siri-Tong rümpfte die Nase. Sie mußte kontra geben, es entsprach ganz einfach ihrer Natur. „Das wird sich noch herausstellen, ob dieser Gedanke so gut ist. Aber wir können es ja versuchen.“ Hasard hob ihr mit dem Zeigefinger das Kinn hoch und blickte in ihre Mandelaugen. „Wir sehen uns bald“, versprach er, „und vergiß nicht, daß du zwar Thorfin um den Finger wickeln kannst, mich aber nicht, du kleine Kratzbürste. Mein Schädel ist härter.“ „Ho!“ rief der Wikinger. „Ich setze meinen Schädel auch immer durch, mich wickelt keiner um den Finger und eine Frau schon gar nicht.“ Dann schien ihm etwas einzufallen, sein gekrümmter Zeigefinger fuhr hoch, und sehr nachdenklich kratzte er seinen Kupferhelm. „Laß uns an Bord gehen“, bat Carberry inbrünstig, „sonst reiße ich ihm den Heim ab und schmeiß ihn bis ans Ende der Welt, bis er irgendwo ‘runterfällt.“ Eine Viertelstunde später war der schwarze Segler seeklar. Auch auf der „Isabella“ war alles zum Auslaufen klariert, ebenso auf der „Le Vengeur“, die als letzte hinaussegeln wollte.
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Was Hasard empfohlen hatte, bewährte sich ausgezeichnet. Die schwarzen Segel gingen hoch und blähten sich hoch über Deck im Wind, der über die Insel strich. Sofort begann der schwarze Segler zu drängen und zu schieben, bis die Doppelbucht so straff gespannt war, daß sie zu brechen drohte. Der Boston-Mann warf sie los. Pfeifend schlängelte sich die Leine um den Felsen und plitschte an Deck zurück. Ruckartig, wie ein schwarzer Schwan, schoß der Segler auf das Höllenriff zu. Hasard stand auf dem Achterkastell und sah zu, wie er mit immer größerer Geschwindigkeit in die Passage segelte, jene kritische Stelle, an der die „Sevilla“ gescheitert war. Es war ein stolzes, schnelles und unverwüstliches Schiff, dachte er, wie es dahinfuhr, als wolle es die ganze See vor sich leerfegen. Und es hatte seinen damaligen Namen „Eiliger Drache über den Wassern“ sicher zu recht erhalten. Auf der „Isabella“ wurde aufgeheißt, der Anker kam auf und gleich darauf glitt sie hinaus, dem schwarzen Segler nach, der sich schon von der Schlangen-Insel entfernte. Diesmal stand Pete Ballie am Ruder, mit schweißnassen Händen und angespanntem Gesicht starrte er nach vorn. Sein Adamsapfel hüpfte auf und nieder vor Aufregung, und aus den Augenwinkeln warf er dem Seewolf immer wieder einen schnellen Blick zu. „Du schaffst es, Pete“, sagte der Seewolf, „ich weiß genau, daß du es schaffst, denn du bist ein erstklassiger Rudergänger.“ Der stämmige blonde Mann mit den großen Fäusten schwitzte Blut und Wasser wie noch nie in seinem Leben. Immer wieder sah er sich im Geist auf die Felsen brummen, sah, wie die Galeone in tausend Fetzen zersplitterte, und glaubte schon, den gewaltigen Krach von reißendem Holz zu hören. Der Seewolf hatte ihm das schwierige Manöver diesmal überlassen, denn jeder Mann an Bord seines Schiffes sollte in der
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Lage sein, auch die schwierigsten Situationen zu meistern, genauso wie der Kapitän. Und zu Petes großer Verwunderung glitt die „Isabella“ sanft über das Höllenriff, durch die Passage mit den hohen Felsdornen hindurch und befand sich gleich darauf in leicht bewegtem Wasser, dem schwarzen Schiff folgend. Etwas später segelte die „Le Vengeur“ hinaus, die Männer brüllten einen letzten Gruß herüber, die Seewölfe schrien zurück, und dann drehte sie nach Backbord ab, in langen Schlägen gegen den Wind kreuzend. Hasard spürte den Zauber der Ferne so stark, daß es am ganzen Körper zu kribbeln begann. Ja, das war die würzige frische Seeluft, die seine Haare flattern ließ, seinen Verstand glasklar schärfte und ihn innerlich beben ließ. Und so wie ihm erging es auch den Seewölfen, als die Schlangen-Insel immer kleiner wurde und schließlich am Horizont versank.
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Dreizehn Tage später liefen sie am Hafen von Tobago ein, um die restlichen Leute anzuheuern, die Siri-Tong noch benötigte. Als der erste Tag vergangen war und sich immer noch nichts getan hatte, hielt der Seewolf es nicht mehr aus. „Wir warten auf euch”, sagte er zu der Korsarin, „wie wir es besprochen haben, auf der Höhe zwischen Paramaribo und Cayenne. Bis dahin ist es nicht mehr weit.“ Es drängte und schob ihn mit unsichtbaren Kräften, der Seewolf kannte sich selbst nicht mehr. Er fühlte sich erst wieder frei, als die „Isabella“ den Hafen Tobago verlassen hatte. Mit Backbordhalsen auf Steuerbordbug liegend, segelte die ranke Galeone weiter, an der südamerikanischen Küste entlang, ihrem fernen Ziel entgegen. Die große Fahrt hatte begonnen.
ENDE