Gerhard Hörnke
Der Schatten des Toten
Das neue Abenteuer 132
VERLAG NEUES LEBEN 1958
Copyright by Verlag Neues ...
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Gerhard Hörnke
Der Schatten des Toten
Das neue Abenteuer 132
VERLAG NEUES LEBEN 1958
Copyright by Verlag Neues Berlin 1958 • Lizenz Nr. 303 (305 77 58) Umschlagzeichnung und Illustrationen: Eberhard BinderStaßfurt Druck: (140) Neues Deutschland, Berlin N 54
Der Wind pfiff kalt um die Straßenecken und jagte Wolken aus Sand und Staub vor sich her. Aus dem taubengrauen Him mel fielen hin und wieder ein paar Regentropfen. Die Häuser rechts und links der endlosen grauen Straße schienen in dem kalten Wind zu schaudern. An den schwarzen Zweigen der Bäume zeigte sich nur schüchtern frisches Grün, obwohl es schon Mitte Mai war. Heinrich Pockert zog den Hut fest in die Stirn, schlug den Mantelkragen hoch und kniff die Augen ein, um sie vor dem fliegenden Sand zu schützen. Er kam aus seinem Schrebergar ten, hatte den Unrat, der durch die Schneeschmelze ange schwemmt worden war, zusammengeharkt, die Bäume und Sträucher mit hoffnungsvollem Blick betrachtet und ein paar Beete umgegraben. Nun trieb ihn die Kälte nach Hause. Ein seltsames Frühjahr, ohne Frohsinn, ohne Wärme. Pockert schüttelte sich. Er überholte einen Mann in hellem Mantel, der, so kam es Pockert vor, ihn aufmerksam musterte. Doch er ach tete nicht weiter darauf, er schüttelte sich wieder. Einen Schnaps müßte man trinken, nein, einen Grog. Entschlossen bog Pockert in die Marktstraße ein und ging auf das HO-Kaffee „Rotkäppchen“ zu. Er schloß einen Moment die Augen, als er von der dämmrigen Straße in das hell er leuchtete Lokal trat. Pockert blickte sich um, an der linken Wand waren noch einige Tische frei, er setzte sich. Nicht weit von ihm nahm kurz darauf der Mann im hellen Mantel Platz, den er vorhin überholt hatte. Pockert nahm es nur unbewußt wahr. Er bestellte einen Grog und ließ sich eine Zi garre zu fünfzig geben; behaglich paffte er blaue Ringe über den Tisch. Da wurde auch schon der Grog vor ihn hingesetzt. Flotte Bedienung, dachte er, lächelte der Kellnerin zu und trank dann in kleinen, hastigen Schlucken, wobei er beide Hände um das Glas legte. Gut tat das, heiß rann es durch die Glieder, wie
der nahm er einen Schluck. Irgendwoher kam Unruhe auf Pockert zu, irgend etwas stimmte nicht. Aber er wollte sich nicht stören lassen, machte einen tiefen Lungenzug, noch einen; schließlich hob er doch den Kopf. Der Mann im hellen Mantel saß ihm schräg gegen über und starrte ihn unverwandt an. Unangenehmer Mensch, hatte eine richtige Offiziersvisage. – Wollte der etwas von ihm? Wieder machte Pockert einen tiefen Lungenzug und sah den Rauchringen nach. Da stand der andere auf und trat tat sächlich an seinen Tisch. „Kollege Pockert, nicht wahr? Oder täusche ich mich?“ Der Fremde verbeugte sich lächelnd. Pockert sah ihn überrascht an. „Kennst mich wohl nicht mehr? Denk mal nach, 1945… Be triebskontrolle… Hauptmann…“ „von Eichstätten!“ Pockert wurde blaß und lehnte sich in sei nem Sessel zurück. Die dargebotene Hand sah er nicht. Von Eichstätten ließ die Hand sinken und setzte sich. „Sehr erfreut siehst du nicht aus… Verstehe, die Überraschung… Und das ,von’, weißt du, das lassen wir weg. Habe meinen Adelstitel abgelegt. Antiquarisch, nicht mehr zeitgemäß.“ Eichstätten meckerte ein kurzes Lachen heraus. Pockert sah ihn ungläubig an. „Tatsächlich… mit dem alten Mist völlig gebrochen, vom Saulus gewissermaßen zum Paulus geworden oder umgekehrt, kenne mich da nicht so genau aus.“ Wieder lachte Eichstätten meckernd, wurde aber schnell ernst und betrachtete Pockert von oben bis unten. „Geht dir anscheinend gut?“ „Bin immer noch in der Motorenfabrik Einkaufsleiter, schleicht so hin, Herr… Eichstätten.“ „Erhard Eichstätten. Hast wohl meinen Vornamen vergessen? Oder haben wir uns früher nicht geduzt? - Na, frischen wir un
sere Bekanntschaft auf. – Hallo! Fräulein! Zwei Steinhäger, aber doppelte!“ Der Schnaps kam. Sie tranken sich zu. Eichstätten leckte ge nießerisch mit der Zunge die Lippen, zwinkerte Pockert zu und sagte: „Das Zeug schmeckt immer wieder… Ja, also, ich bin bei der HO, auch Einkäufer, vergangene Woche hierher ver setzt. Möchte aber raus aus dem Laden. Zuwenig Geld… Bei euch soll doch etwas frei sein. Kann man da nicht mal vorspre chen? Als Abteilungsleiter könntest du doch ein Wort für mich einlegen, Heinrich. So alte Kumpel wie wir beide werden be stimmt gut zusammen arbeiten!“ Eichstätten schwieg, meckerte wieder sein auffälliges Lachen und sah Pockert prüfend an. Als der nichts sagte, fuhr er fort: „Daß auf mich Verlaß ist, siehst du schon daraus, daß ich den Mund gehalten habe. Und es ist mir nicht immer gut gegangen… Aber was rede ich da… Fräulein! Machen Sie doch mal die Luft hier aus den Glä sern!“ Pockert schob den kalt gewordenen Grog zurück und sog an der Zigarre. Ihm war, als zwänge man ihm einen Eisenring um die Brust. Was sollte diese Andeutung? War das Zusammen treffen mit Eichstätten heute wirklich nur ein Zufall? Der hob sein volles Glas. Sie tranken wieder. „Du kannst ja im Laufe der Woche vorbeikommen“, sagte Pockert, „besser ist wohl noch, ich rufe dich an… Ich rede erst einmal mit dem Kaderleiter.“ Eichstätten war einverstanden. Nachdem er sich mit Pockert noch eine Weile unterhalten hatte, verabschiedete er sich schließlich. „Wiedersehen, Chef“, sagte er, meckerte und schlug Pockert kräftig auf die Schulter.
Pockert blieb am Tisch sitzen und trank. Der kalte Wind blies
draußen nicht mehr so heftig, er ließ den Wolken nun Zeit, ih ren Regen über die Stadt auszuschütten. In dichten Bächen rann das Wasser das breite Fenster hinab, hinter dem schwarz die Nacht stand. Die Lampe über dem Büfett spiegelte sich gelb und rund in der Fensterscheibe. Genauso fahlgelb war Jeans Gesicht damals gewesen. So bleich wie der Fleck auf der Scheibe hatte Jean ausgesehen, als er tot im Zimmer des Juni orchefs gelegen hatte. Alle Angst war aus seinem Gesicht ver schwunden gewesen, und der überlegene Zug hatte es wieder verschönt… Selbst heute konnte Pockert noch nicht fassen, was sich damals zugetragen hatte. Zu viert waren sie im Zim mer des Juniorchefs gewesen: der Tote, von Eichstätten, der Juniorchef und er, Pockert… Von diesen vier war er allein nach 1945 im Werk geblieben. Geblieben war auch die Erinne rung. Wie ein Schatten stand der Tote hinter ihm, drohend und schwarz in den ersten Jahren, dann mehr und mehr verblas send… Langsam führte Pockert ein volles Glas zum Mund und trank. Verfluchte Vergangenheit! Wie ein Zentnersack lag sie einem auf dem Rücken. Was hatte er nicht alles getan, um den Sack loszuwerden. Aus Verzweiflung hatte er zum Schnaps gegrif fen, wenn der Druck zu stark wurde. Und dachte er an Jean, mußte er immer wieder trinken. Konnte man die Erinnerung überhaupt unterdrücken? Konnte man die Vergangenheit ab werfen wie einen lästigen Sack mit altem Gerümpel? Grinse nicht, du da oben! Pockert drohte dem gelben Fleck mit der Faust und ließ sie schwer auf den Tisch fallen. Die Kellnerin erschrak und sah sich um. Zwei junge Mädchen in der Ecke kicherten. „Noch einen, Fräulein!“ sagte Pockert; seine Stimme klang schnapsrauh. Er schielte zu dem Fleck. Der schwamm noch immer in der regennassen Scheibe. Pockert trank… Der Fleck
wurde undeutlich, begann zu tanzen, zerfloß. Siehst du, dachte Pockert, jetzt habe ich dich weggespült. Jetzt habe ich Ruhe vor dir. Jetzt werde ich schlafen, und du kannst mir nichts an haben. Mühsam holte er die Brieftasche hervor, zahlte und schwankte aus dem Lokal. Wind und Regen schlugen ihm ins Gesicht und machten ihn nüchterner. Er versuchte den Pfützen auszuweichen, es gelang nicht immer. Irma würde ihn groß ansehen und im stillen den ken: Nun geht die Trinkerei wieder los. Sie würde ihre trauri gen Augen haben, wie früher, als ihn die Erinnerung an Jean noch mehr gequält hatte und er oft so nach Hause gekommen war… Diese Offiziersvisage, warum mußte sie alles von neu em hervorkehren… Pockert bog scharf um eine Ecke und stieß mit einem Liebes paar zusammen. „Verzeihung“, murmelte er. „Guten Abend, Herr Pockert“, sagte der junge Mann. Im Licht der Laterne, das sich blaß durch Regen und Finster nis kämpfte, erkannte Pockert, daß er einen Soldaten angesto ßen hatte. Es war der Freund von seinem Sohn. Beide waren vor zwei Jahren freiwillig zur Armee gegangen. Pockert ent schuldigte sich noch einmal und nahm sich zusammen, um seine Trunkenheit nicht zu verraten. Du darfst nicht schwanken, sagte er sich und krallte die Fin gernägel ins Fleisch der Handflächen. Er beeilte sich, aus dem Schein der Laterne herauszukommen. Fritz würde in nächster Zeit auch Urlaub erhalten. Seit einem halben Jahr war der Ben gel auf der Offiziersschule. Dem gefiel es bei der Armee. Er würde seinen Weg machen, brauchte sich nicht herumstoßen zu lassen, wie das früher war. Mit einem Ruck blieb Pockert stehen. Wenn Eichstätten quatschte, dann war es mit dem Fortkommen des Jungen vor bei… Mit allem war es dann vorbei. Ihn sperrten sie ein, und
auf das Mädel würden sie in der Fabrik so lange mit Fingern zeigen, bis es davonlief. Pockert hörte Stimmen hinter sich und ging weiter. Vor seinem Haus angelangt, sah er, daß in der Küche noch Licht brannte. Die traurig-fragenden Augen seiner Frau konnte er jetzt nicht brauchen. Pockert stemmte sich erneut gegen den Wind und schritt ziel los durch die Straßen. Schnell wurde er nüchtern. Eigentlich hatte er ja keinen Grund, sich so aufzuregen. Elf Jahre war das alles schon her. Und trotzdem… Konnte er sich denn rechtfer tigen? Damals, nach dem Zusammenbruch, hatte er sogar ge fürchtet, man würde ihn vor Gericht stellen, aber keiner wußte wohl von seiner unglücklichen Verstrickung in diesen Vorfall. Pockert fühlte, daß er völlig durchnäßt war; er fror und mach te sich auf den Heimweg. In der Wohnung waren jetzt alle Fen ster dunkel. Leise ging er die Treppe hinauf. In der Küche empfing ihn wohlige Wärme. Pockert zog die nassen Klei dungsstücke aus und hängte sie zum Trocknen über die Stühle. Als er in den Schlafanzug schlüpfte, den seine Frau vorsorglich über die Stange am Herd gehängt hatte, befiel ihn neue Unruhe. Er hockte sich auf einen Stuhl und brannte eine Zigarette an. Es war kaum anzunehmen, daß die Offiziersvisage hier völlig grundlos aufgetaucht war… Aber was konnte man von einem lächerlichen Einkaufsleiter wollen? Pockert wurden die Füße kalt, er rieb sie aneinander, sie lie ßen sich aber nicht erwärmen. Ärgerlich warf er den Zigaret tenrest in den Aschenkasten und trat auf den Korridor. Vor der Schlafzimmertür zögerte er, wandte sich um und ging ins Wohnzimmer. Er öffnete die oberste Schublade des Vertikos, langte ganz hinten hinein und zog vorsichtig eine WalterPistole hervor. Bedächtig wog Pockert die Waffe in der Hand. Wie oft hatte
Irma gesagt, er solle das Ding wegwerfen. Immer, wenn ihr beim Aufräumen die Pistole in die Hände kam, fing sie wieder davon an. Sie hatte Angst, durch einen Zufall könne bekannt werden, daß er eine Waffe besaß, obwohl es verboten war… Pockert zog den Verschluß auf und ließ ihn zuschnappen. Jetzt war eine Patrone im Lauf. Er sicherte die Pistole und legte sie an ihren Platz zurück. Nein, er würde sie nicht wegwerfen, noch nicht wegwerfen. Und sie sollten ihn in Frieden lassen! Mit kurzem Ruck schloß Pockert die Schublade und ging in das Schlafzimmer hinüber. Irma, seine Frau, schlief schon fest. Fröstelnd kroch er in sein kaltes Bett. Eichstätten, die Hände tief in den Taschen vergraben, den Hut in die Stirn gezogen, schlenderte gemächlich die Straße vor dem Motorenwerk entlang. Eingehend betrachtete er die Werkanlagen. Hier hat sich äußerlich nicht viel verändert, stell te er fest. Das alte Firmenschild über dem Tor war ausgewech selt worden. „Gansfuß & Co. Flugmotoren“ hatte früher dort gestanden. Über dem neuen Namen „Motorenwerk“ standen jetzt drei Buchstaben: VEB – Volkseigener Betrieb. Sechsund vierzig hatten sie im Westen darüber gelacht, Witze gemacht und fortlaufend prophezeit, daß und wann das alles zusammen brechen müßte. Volkseigener Betrieb! Nun befanden sich diese drei Buchstaben schon zehn Jahre dort oben. Es sah auch gar nicht so aus, als ob die Buchstaben von allein herunterfallen würden. Anscheinend saßen sie fester denn je. Das Pförtnerhaus war vergrößert worden, ein Glaskasten mit dem Emblem der Volkspolizei daran… Das machte die Geschichte nicht ge rade einfacher. Eichstätten kam am Verwaltungsgebäude vorbei und ging noch etwas langsamer. Er kannte von der Fabrik eigentlich nur das große Eckzimmer im Parterre, in dem der junge Gansfuß gesessen hatte, der damals die Fabrik leitete. Das waren Zeiten
gewesen! Eichstätten leckte sich die Lippen. Manche Flasche hatten sie in dem Zimmer geleert… Er war mit dem Juniorchef, wie Gansfuß sich damals gern nennen ließ, vom Studium her befreundet und oft von Leipzig herübergekommen, wo er in der Abnahmeverwaltung für die politische Arbeit verantwortlich gewesen war. Die eigentliche Abnahme der Flugzeugmotoren im Werk hatte ein Leutnant erledigt. Man brauchte sich deshalb nicht zu sorgen, erkannt zu werden. Von der Gefolgschaft, Be legschaft nannten sie das jetzt wohl, hatte er nur zwei Men schen näher kennengelernt: die Privatsekretärin, die dem Gans fuß auch noch heute in Westdeutschland die Treue hielt, und diesen Pockert. Durch Zufall war er, Eichstätten, dabeigewe sen, als die Geschichte mit dem Franzosen passierte… Dort im ersten Stock mußten die Konstruktionsräume liegen. Eichstätten blieb stehen und brannte sich eine Zigarette an. Sofort aber spuckte er aus. Pfui Teufel! Diese Turf schmeckte scheußlich. Aber ein Einkäufer bei der HO konnte sich eben nichts Besseres leisten. Er sah einen Volkspolizisten aus der Wache kommen und ging weiter. Die Zigarette warf er in den Rinnstein. Aus der Gefahr, die mit seinem Unternehmen verbunden war, machte er sich wenig, aber daß er seine kleinen Leidenschaften vorüber gehend aufgeben mußte, das quälte ihn. Er liebte nun einmal aromatische Zigaretten, jeden Morgen sein Bad… Ein Hunde leben, das man hier führen mußte! Aber bald hatte das alles ein Ende. Die allgemeine Wehrpflicht kam, das war nun sicher. Das Gesetz befand sich schon in Arbeit… Man würde sich be währt haben, wenn es soweit war, Verdienste könnte man auf weisen wie diese Sache hier. Noch einige Monate, und man stand wieder vor seinen Leuten. Eichstätten vergaß für einen Augenblick, wo er war, und pfiff den „Badenweiler“, Hitlers Lieblingsmarsch, durch die Zähne.
Ein Arbeiter, der ihn überholte, sah sich nach ihm um. Eich stätten merkte seinen Fehler, blieb stehen und steckte sich eine neue Turf an. Er machte einen Lungenzug, blickte verzweifelt auf die Zigarette, bog in eine Seitenstraße ein und warf sie weg. Nein, die Geschichte ging entschieden zu langsam vor wärts, er mußte etwas Dampf in die Sache bringen, vor allem diesem Pockert mußte er Dampf machen. Der lahme Kerl hatte sich nun schon acht Tage lang nicht gerührt. Aber wie man mit solchen Heinis umzugehen hatte, das wußte man, das hatte man ja schließlich gelernt. Eichstätten ging noch in einige HO-Geschäfte und erkundigte sich, ob besondere Wünsche zur Sortimentserweiterung vorlä gen, dann kehrte er in die HO-Verwaltung zurück. Er grüßte den Pförtner mit einem Scherzwort und bot ihm eine Zigarette an. „Mein Chef schon wieder im Hause?“ fragte er. „Nein, Kollege Eichstätten.“ „Und die anderen Kollegen vom Einkauf?“ „Alle noch unterwegs.“ Eichstätten tippte an den Hut und ging die Treppe hinauf. Es war ein Segen, daß hier überall Per sonalmangel herrschte; so hatte er es leicht gehabt, in Berlin bei der HO anzufangen und sich hierher versetzen zu lassen. Man war ein fortschrittlicher Werktätiger geworden, der im kapitalistischen Sumpf des Westens beinahe erstickt wäre – man fiel nicht mehr auf. Eichstätten meckerte sein kurzes Lachen heraus, langte ein Päckchen amerikanischer Zigaretten aus der Brusttasche und setzte sich genießerisch rauchend an seinen Schreibtisch. Nachdenklich blickte er über die verwaisten Plätze seiner Kol legen trommelte mit den Fingern der Tischplatte. Wie sollte es weitergehen? Anrufen, das war wohl das beste. Er griff zum Telefon und
ließ sich mit der Motorenfabrik verbinden. Er verlangte die Materialverwaltung. „Die Leitung ist besetzt, warten Sie bitte“, tönte es aus dem Hörer. Endlich meldete sich Pockert. „Tag, Heinrich!“ rief Eichstätten in den Apparat. Er versuch te sich vorzustellen, was für ein Gesicht Pockert jetzt wohl machte. „Was? Wer hier ist? Dreimal darfst du raten. – Jawohl, Eichstätten. Ist aber nicht schön von dir, daß du mich vergessen hast. Wenn du schon kein Kameradschaftsgefühl mehr für ei nen alten Kumpel aufbringen kannst, solltest du wenigstens Dankbarkeit beweisen. – Was, du weißt nicht, warum? Nun, ich erinnere mich genau bestimmter Vorfälle.“ Bei dem letzten Satz war Eichstättens Stimme schärfer geworden. Es war lange still auf der anderen Seite. Eichstätten grinste. Wieder versuchte er, sich Pockerts Gesicht vorzustellen. Pockert schlug ein Zusammentreffen für den nächsten Abend vor, seine Stimme klang ein wenig müde. „Einverstanden, mein Lieber!“ rief Eichstätten. Immer noch grinsend, legte er den Hörer auf die Gabel zurück. Dem würde er Feuer geben. Weiß nicht, wofür er dankbar sein soll! Na, warte! Pockert starrte nachdenklich auf das Telefon. Die Offiziersvi sage hatte sich also wieder in Erinnerung gebracht. Er wollte unbedingt hinein in den Betrieb. Warum? Um Sabotage zu treiben? So etwas machten diese Herren doch nie selber, au ßerdem war es schwer für einen Mann allein, noch dazu einen Neueingestellten, der von der Fabrik wenig Ahnung hatte. Und Leute abwerben…? Das war schwierig, wenn man keinen wei ter von der Belegschaft kannte; überall gab es Mitglieder der Kampfgruppe, keinem Schlosseranzug sah man an, ob nicht vielleicht ein Genosse oder ein anderer fortschrittlicher Arbei ter in ihm steckte. Hatte es die Offiziersvisage auf die Neukon
struktionen abgesehen? Im Konstruktionsbüro waren Flug zeugmotoren entwickelt worden. Aber wie dort herankommen? Am Tage waren die Kollegen im Büro, abends wurde es ver schlossen und der Schlüssel auf der Wache abgegeben. Pockert. grübelte vor sich hin, er konnte sich nicht vorstellen, aus welchem Grund Eichstätten in den Betrieb wollte. Gut wä re es, mit irgend jemand über die Angelegenheit zu sprechen. Pockert überlegte, zu wem er gehen könnte. Der Werkleiter? Der war ein Hasenfuß in solchen Dingen, wollte immer ganz sicher gehen und würde Alarm schlagen, obwohl noch gar nichts los war. Der BGL-Vorsitzende? Der war schon in Ord nung, aber er redete gern und viel und würde die ganze Ge schichte bestimmt in der nächsten Belegschaftsversammlung als Beispiel für Wachsamkeit bringen. Wenn die Sache harm los war, würden die Kollegen spotten und hänseln. Blieb der Parteisekretär, zu dem hatte Pockert Vertrauen, zu dem müßte man gehen. Er stand auf und schritt langsam den langen Korri dor hinunter. Auf seinem Wege mußte er an dem Eckzimmer vorbei, in dem seinerzeit das mit Jean passiert war. Je näher Pockert die sem Zimmer kam, um so langsamer ging er. Wieder sah er al les vor sich. In die Enge getrieben, würde sich Eichstätten be stimmt an ihm rächen und versuchen, die Sache von damals auf ihn abzuwälzen… Ich habe elf Jahre gewissenhaft und ange strengt für den Betrieb gearbeitet und auf manche Stunde Frei zeit verzichtet, wenn’s nötig war, dachte Pockert. Alle wissen das und erkennen es auch an… Aber werden sie mir deshalb glauben, wenn ich den Vorfall mit Jean zur Sprache bringe? Unschlüssig ging Pockert in die Toilette und wusch sich, nur um etwas zu tun, die Hände. Wenn nun alles ganz harmlos war? Wenn Eichstätten wirklich nur in den Betrieb wollte, weil er in der Industrie mehr verdienen konnte als im Handel? Aber
was wurde aus Fritz, wenn man ihn, Pockert, doch mit dem Mord an einem Fremdarbeiter belastete? Sicher würde man ihn aus der Offiziersschule entlassen. Und was geschähe mit dem Mädel, der Ingrid? Würde sie dann noch im Konstruktionsbüro arbeiten dürfen? Pockert ging in sein Büro zurück, legte ein Aktenstück vor sich hin und brütete weiter. Eigentlich waren das doch alles Vermutungen, die er anstellte. Etwas Greifbares lag nicht vor. Warum also überängstlich sein? Reden konnte man immer noch, wenn die Offiziersvisage tatsächlich Schweinereien von einem verlangte. So etwas machte er jedenfalls nicht mit, es war schließlich sein Betrieb! – Sicher war alles ganz harmlos. Die viele Arbeit in den letzten Monaten… Die Nerven machten nicht mehr mit, man fing an, weiße Mäuse zu sehen. Der Ein käufer für Walzmaterial war neu und unerfahren, überall mußte man ihm helfen. Für Normteile war überhaupt keiner da. Pockert erhob sich und stieß das Fenster auf. Das Wetter war in den letzten Tagen umgeschlagen und die Temperatur über Nacht auf zwanzig Grad Wärme angestiegen. Die Fliederbü sche unter dem Fenster würden in zwei bis drei Tagen blühen, auf den Kastanien vor dem Werkzaun reckten sich schon über all die Blütenkerzen empor. Ein warmer Luftstrom wehte Pok kert entgegen. Er sog die Lungen voll, bis sie schmerzten. Ja wohl, er wollte den Stier bei den Hörnern packen! Entschlossen drehte sich Pockert um und ging zum Kaderlei ter. Der saß über einen Stoß Fragebogen gebeugt und machte kein erfreutes Gesicht, als der Leiter der Materialversorgung bei ihm eintrat. Der wollte bestimmt wieder fragen, ob sich endlich ein Kaufmann beworben habe. Ja, überall fehlte es an Fachkräften, doch gute Kaufleute waren überhaupt nicht aufzu treiben. Das Gesicht des Kaderleiters hellte sich zusehends auf, als
Pockert ihm erzählte, er habe einen Kollegen von früher getrof fen, Einkäufer von Beruf, der jetzt in der HO arbeite, aber gern in die Industrie wolle, weil er hoffe, dort mehr zu verdienen. „Wenn du denkst, daß du mit ihm arbeiten kannst, Heinrich, dann nimm ihm einen Fragebogen mit und sage ihm, er soll recht bald vorbeikommen.“ Als Pockert auf dem Weg zurück ins Büro war, wollten ihn erneut Zweifel befallen. Er machte einen Umweg durch die Werkhallen. Bläulich gleißten die Lichtbogen der Schweißap parate. Schnell drehte Pok-kert den Kopf zur Seite, er konnte es nicht vertragen, in den grellen Schein zu sehen. Durch die of fene Tür blickte er in die Brennerei. Kaskaden von Funken sprangen durch den Raum, die Kerzen eines Feuerwerks sprüh ten nicht stärker. Pockert ging weiter. Mit dröhnenden Ham merschlägen richteten zwei Kollegen ein großes Blech, und über die Anreißplatte gebeugt stand der alte Schrader und ver richtete mit gewohnter Präzision seine verantwortungsvolle Tätigkeit. Der kraftvolle Rhythmus der Arbeit dröhnte Pockerts Zweifel hinweg. Daß es hier so vorwärtsging, dafür brachte er das Ma terial heran. Es hatte manche Schwierigkeiten gegeben, die er meistern mußte. Warum sollte er da nicht die persönlichen Schwierigkeiten meistern? Er würde auch mit der Offiziersvi sage fertig werden! Am Abend, nach einer Abteilungsleiterbesprechung, ging Pockert mit dem Parteisekretär nach Hause. Wieder kam in ihm der Wunsch auf, über das Auftauchen Eichstättens zu sprechen. Aber jedesmal, wenn er beginnen wollte, verschloß ihm die Vergangenheit den Mund. Als Pockert am nächsten Abend das HO-Kaffee „Rotkäpp chen“ betrat, war Eichstätten schon da und winkte dem Eintre tenden zu. Eichstätten hatte ein Mädel bei sich, er stellte es
Pockert vor und fragte: „Nun, Heinrich, hast du etwas für deinen alten Kameraden tun können?“ Wieso sind wir eigentlich alte Kameraden? dachte Pockert. Er holte den Fragebogen, den ihm der Kaderleiter gegeben hat te, aus der Brieftasche und reichte ihn Eichstätten. „Normteile wirst du doch einkaufen können?“ Eichstätten nahm das gefaltete Papier und sagte: „Und ob ich das kann! Wirst zufrieden sein, Chef!“ Er lachte meckernd. Pockert bestellte sich Kaffee und eine Zigarre. Das hätte er nun nicht zu tun brauchen, dachte Eichstätten, der gern mit dem Mädel allein sein wollte. Aber Pockert blieb nicht lange. Er trank seinen Kaffee aus und verabschiedete sich. „Morgen, Kollege Eichstätten!“ rief der Mann vom Betriebs schutz und fing geschickt die Zigarette auf, die Eichstätten ihm zuwarf. Ein feiner Kumpel, der neue Einkäufer, immer fröh lich, immer freigebig, immer ein Scherzwort bei der Hand. Und der war nun Offizier gewesen… Der Kollege vom Betriebsschutz brannte die Zigarette an. Be trachtete man den Werkleiter dagegen, der sah einen überhaupt nicht, bei dem stand aber unter „erlernter Beruf“ im Fragebo gen: „Motorenschlosser“. Zu dem konnte man noch so laut „guten Morgen“ sagen, der machte den Mund nicht auf, und wenn, dann knurrte er einen an. Nachdenklich blies der Kolle ge den Rauch vor sich hin. Eichstätten eilte inzwischen den langen Korridor im Parterre des Verwaltungsgebäudes entlang. Die Tür des ehemaligen Chefzimmers musterte er eingehend, wieder dachte er an den Kognak, den er dort getrunken hatte; schade, war für einige Zeit vorbei… Er ging in die Materialversorgung. Pockert war mit seinem neuen Mitarbeiter zufrieden. Dem
war keine Arbeit zuviel und keine Dienstreise zu weit. Beson ders gern fuhr er nach Berlin, aber das war verständlich, schließlich wohnte seine Mutter dort. Auftreten konnte der und verhandeln auch… Pockert sah über die Brille zu ihm hinüber. Eichstätten griff zum Telefon und wählte eine Nummer. „Wer ist dort?“ fragte er. „Entschuldige, Kollege, ich wollte das Konstruktionsbüro.“ Er wählte noch einmal und sagte: „Kollegin, ich brauche die Zeichnungen für den FM 23… ja, den Musterbau, ich kann einfach nicht glauben, daß man mir alle Normteile aufgegeben hat, die dazu notwendig sind; möch te die Bestellung mal überprüfen… Was, die Stücklisten sind schon fertig? Na, dann schicken Sie mir die.“ Eichstätten legte den Hörer etwas derber auf die Gabel, als er das sonst tat, und brannte sich eine Zigarette an. So ein Pech! An die Zeichnungen der Serienmaschinen war er verhältnismä ßig leicht herangekommen. Unter dem Vorwand, sich mit der Produktion vertraut machen zu wollen, hatte er sich in der Zeichnungsausgabe der Werkstatt die einzelnen Sätze entlie hen, abends mit nach Hause genommen, fotografiert und am nächsten Tag wieder abgeliefert. Er hatte das Werk immer als einer der letzten verlassen und vom Fenster des Büros aus beo bachtet, ob der Betriebsschutz Kontrollen durchführte. An die se Neuentwicklung aber, auf die Gansfuß besonders versessen war, kam er einfach nicht heran. Kurz vor Feierabend brachte der Bürobote die Stücklisten für den FM 23. Er stapelte den Stoß auf den Schreibtisch. „Mensch, Emil, so kurz vor Ladenschluß!“ sagte Eichstätten. „Laß dir Zeit bis morgen“, antwortete der Bote und eilte aus dem Zimmer. Der Summer über der Tür knarrte dreimal kurz, zum Zeichen, daß es siebzehn Uhr war. Pockert räumte seinen Schreibtisch ab. Eichstätten blieb sitzen.
„Willst du wieder länger machen?“ fragte Pockert. „Du siehst ja“, Eichstätten deutete auf die Stücklisten. „Wenn die Bude leer ist, hat man wenigstens Ruhe.“ Pockert nickte, zog seinen Mantel über und ging. Irma würde im Garten sein, man mußte sich beeilen, den Samen in die Erde zu bringen, wenn man in diesem Jahr noch etwas ernten wollte. Dieser Eichstätten arbeitete, als wollte er Aktivist werden. Wie man sich doch täuschen konnte. Pockert dachte an die Angst, die er nach der ersten Begegnung ausgestanden hatte. Und trotzdem, tief in seinem Innersten nistete immer noch Unruhe. Pockert konnte sich nicht genau erklären, warum er sie nicht los wurde. Da war zeitweilig so ein Gefühl, als säße er auf ei nem Behälter mit Nitroglyzerin, der bei der geringsten Erschüt terung in die Luft gehen konnte. Pockert sagte sich immer wie der, daß es unbegründet sei, aber es war da. „Na, Kollege Pok kert, zeig du auch mal deine Tasche. Ich weiß ja, daß du nichts bei dir hast, aber die Pflicht…“ Lächelnd versperrte der Wachmann den Ausgang. Pockert schrak aus seinen Überlegungen auf. Warum ent schuldigt der sich, dachte er und trat in die Wachstube. Unauf gefordert öffnete er die Aktentasche, breitete den Inhalt auf den Tisch und begann, seine Manteltasche auszuräumen. „Halt, halt!“ Der kontrollierende Kollege hob abwehrend die Hände. „Du bringst es fertig und ziehst dich bis aufs Hemd aus!“ Pockert packte wieder ein, grüßte und ging. Er bog links ab zu seinem Garten. Der Flieder und die Kastanien waren ab geblüht, auch die Tulpen neigten verwelkt ihre Köpfe. Dafür begannen die Pfingstrosen mit dem Duft ihrer ersten Blüten die Luft zu süßen. Pockert schritt dahin und dachte an nichts. Tief atmete er die Frühlingsluft ein, sie machte seinen Körper ange nehm schlaff und müde. Als er in den breiten Weg einbog, der zwischen den Gärten
hindurchführte, stieß er auf einen Trupp Jungen, die einen ihrer Kameraden laut schreiend umringten. „Dich haben wir! Agent!“ schrie einer und fuchtelte dem Ge fangenen mit einer Blechpistole vor dem Gesicht herum. Gebannt starrte Pockert auf dieses kleine schwarze Ding aus Blech. Es sah seiner Walter-Pistole verteufelt ähnlich. Die lag noch durchgeladen oben im Vertiko! Wenn Irma beim Auf räumen… Er mußte noch heute die Patrone aus dem Lauf ent fernen! Auf was für blödsinnige Gedanken der Alkohol einen bringen konnte! An allem war die Offiziersvisage schuld! Mochte sie noch so tüchtig sein, es wäre besser gewesen er hätte sie nie wiedergesehen. Pockert starrte noch immer auf die Jungen. Die Bengel schwiegen verlegen, sahen sich an, begannen zu flüstern und rannten plötzlich davon, in wildes Geschrei aus brechend. „Müßt ihr schon wieder mit solch einem Dreckzeug spielen!“ schimpfte Pockert hinter ihnen her und setzte seinen Weg fort. Eichstätten saß noch immer an seinem Schreibtisch und mas sierte mit der linken Hand nervös den Teil seines Körpers, den Pockert Offiziersvisage nannte. Wo war der Weg zu den Zeichnungen des FM 23? Pockert einweihen? Man konnte ihm Geld geben, drüben eine Stellung versprechen oder ihn ganz einfach mit der alten Geschichte unter Druck setzen – seine Tochter arbeitete im Konstruktions büro. Aber das würde Wochen dauern, mußte psychologisch sorgfältig vorbereitet werden, wenn es nicht schiefgehen sollte. Hatte man den Alten soweit, mußte die Tochter reif gemacht werden… Nein, dieser Weg dauerte zu lange. Er hatte das Le ben hier satt! Wütend stand Eichstätten auf und machte sich zum Gehen fertig. Nein, er mußte einen kürzeren Weg finden. Eichstätten ging zur Tür, lief aber noch einmal zum Arbeits
platz zurück, um die Stücklisten wegzuschließen. Er stapelte den Packen in die Schublade des Schreibtisches, zog ihn jedoch wieder heraus und steckte das Bündel in seine Aktentasche. Es konnte nichts schaden, die Dinger ebenfalls zu fotografieren. Er hatte ja dafür gesorgt, daß aus dem Musterbau so schnell nichts werden konnte. Die würden sich hier wundern, wenn ein Teil der Normteile in völlig verkehrten Abmessungen eintraf. Ein paar Kugellager würden überhaupt nicht kommen, weil sie nicht bestellt worden waren. Zeit würde es kosten, die Dinge zu ordnen. Zeit aber bedeutete Vorsprung. Mal sehen, wer den FM 23 zuerst auf den Markt brachte. Und. durch die fotografierten Stücklisten konnte man noch mehr Zeit gewinnen. Eichstätten schloß die Aktentasche und sah flüchtig aus dem Fenster. An der Wache war alles ruhig. Er drückte den Hut auf den Kopf, schloß das Büro sorgfältig ab und stieg pfeifend die Treppe hinunter. Der Wachmann stellte sich breitbeinig vor die kleine Pforte. „Kollege Eichstätten, heute ist Kontrolle, bitte in die Wachstu be.“ Er lächelte breit und entblößte dabei seine gesunden Zäh ne. Eichstättens Herz machte ein paar schnelle Takte. „Na, dann…“ Der Griff der Aktentasche brannte in der Hand, als sei er glühend geworden. Ein dünnes Lächeln spielte um Eichstät tens Mund, als er in die Wachstube trat. Er stellte die Aktenta sche auf den Tisch. „Nun, Kollegen, tut eure Pflicht… Kennt ihr den schon: Tünnes und Scheel trafen sich…“ Witz auf Witz folgte. Die Kollegen hielten sich die Seiten vor Lachen. Niemand dachte daran, die Aktentasche zu öffnen. Eichstättens Gehirn arbeitete fieberhaft. Die ältesten Sachen kramte er hervor. Der Leiter des Betriebsschutzes wischte sich die Tränen aus
den Falten seines Gesichts. Eichstätten wurde langsam ruhiger. Er stand genau vor dem Schlüsselkasten. Nummer dreiunddrei ßig, das waren die Schlüssel zu den Räumen der Materialver sorgung. Daneben, ganz dicht daneben: Nummer vierunddrei ßig, die Schlüssel zum Konstruktionsbüro. Zum Verwechseln dicht hingen die Bunde nebeneinander. Man griff daneben, konnte jedem passieren, und im Vorraum… Eichstätten langte in die Tasche, zog die Geldbörse hervor und reichte sie dem Jüngsten vom Betriebsschutz. „Scheußlichen Durst, mach schnell, für jeden eine Flasche.“ Dann erzählten sie sich weiter Witze. Als das Bier kam, tran ken sie. „Pump mir doch ein Stäbchen, Franz.“ Eichstätten ließ sich vom Leiter des Betriebsschutzes Zigarette und Feuer ge ben, trank den Rest und sagte, den Schaum vom Mund wi schend: „Jetzt wird’s aber höchste Zeit, seht doch schnell nach.“ Er deutete auf seine Tasche. Der Leiter des Betriebsschutzes ergriff die Tasche, reichte sie Eichstätten und sagte: „Hau ab, Mensch, hast uns lange genug aufgehalten.“ Er schlug Eichstätten auf die Schulter und öffne te die Tür. Der Kollege draußen hatte die Bierflaschen gesehen und das Gelächter gehört. Er fragte: „Hast du mir auch eine Pulle mit bringen lassen?“ „Klar, Heiner.“ Eichstätten puffte ihn im Vorbeigehen, gegen die Rippen. Er atmete tief ein und aus, als er durch das Tor ging. Aber er hatte einen Druck auf dem Darm… Fast laufend erreichte er das Häuschen an der Straßenecke und drückte der Wärterin fünfzig Pfennig in die Hand… Als Eichstätten auf die Straße trat, war sein Gesicht wieder glatt und beherrscht. Eini ge Jährchen Zuchthaus wenigstens… Aber eigentlich hatte er sich tapfer gehalten. Um Haaresbreite wieder einmal daneben gegangen. Doch dicht daneben war auch vorbei. Eichstätten
dachte an seine Aufgabe. Die Geschichte mit den Schlüsseln ließ ihm keine Ruhe. Das war der kurze Weg zum Ziel, den er suchte. Schlossermeister Wehnert im Nebenhaus würde ihm die Dinger zurechtfeilen, wenn er sagte, er habe die Schlüssel zu seiner Wohnung verlo ren und schnell von den Schlüsseln seiner Wirtin Wachsab drücke gemacht. Der Wehnert war eine tolle Nuß, ein Motorrad hatte er sich gekauft und einen Wartburg. Und dabei fluchte er auf diesen Staat, als sei er am Verhungern. Der deutsche Mi chel war eben ein seltsamer Kerl: Du schenkst ihm ein neues Haus, und er verflucht dich, weil du ihm nicht auch die Kohlen und die Kartoffeln in den Keller gepackt hast… Aber das war gut so. Michel würde helfen, das alte Haus zu renovieren, und wenn er dann die Kandare im Munde hatte, würde er verdutzt kauen. Die Aktentasche fest unter den Arm geklemmt, eilte Eichstätten heim. Als er die Zimmertür sorgfältig hinter sich abschloß, pfiff Eichstätten den Präsentiermarsch. Die Uhr im Wohnzimmer nebenan schlug siebenmal. Noch eineinhalb Stunden blieben ihm bis zur Verabredung mit dem Mädel, das er neulich kennengelernt hatte. Eichstätten zog die Fenstervor hänge zu, breitete einige Stücklisten auf dem Tisch aus, schraubte eine zweihundertkerzige Birne in die Nachttischlam pe und begann mit den Fotoarbeiten. Von dieser Seite blendete die Lampe etwas. Eichstätten rück te sie zurecht. Er schraubte den kleinen Spezialapparat aufs Stativ, dann war lange Zeit im Zimmer nur das Surren des Ver schlusses zu hören. Fabelhaft, wie solch ein Apparat arbeitete, man brauchte nicht den Film weiterzudrehen, nichts war not wendig, nur das Spannen des Verschlusses, das Drücken auf den Auslöser und das Auswechseln der Blätter auf dem Tisch.
Es schlug halb neun, als Eichstätten die letzte Aufnahme machte. Die Kleine würde einige Minuten warten müssen. Schnell baute er die Apparatur ab und verpackte sie im Ge heimfach des Koffers, in dem alles enthalten war, was er für seine Tätigkeit brauchte: eine flache Pistole mit Reservemaga zinen, eine Schachtel mit Patronen, ein kurzes Brecheisen, Be täubungsmittel, die in Schnaps, Bier und anderen Getränken nicht vorschmeckten. Ganz rechts an der Seite staken vier dün ne Ampullen, auf denen kaum sichtbar ein Totenkopf eingeritzt
war. Oberst Graf von Brockwitz von der Einsatzleitung in Ber lin hatte ihn fest angesehen, auf diese Ampullen gezeigt und gesagt: „Sie sind preußischer Offizier; da weiß man, wann man wegzutreten hat.“ Der junge Gansfuß, der im Zimmer gewesen war, hatte dümmlich gelächelt und gesagt: „Aber, meine Her ren, ich kenne einen Cocktail, der bekömmlicher ist, und den wollen wir jetzt trinken, auf ein gutes Gedeihen der Aktion, für Deutschland!“ In stiller Wut war er den Herren damals in eine Bar gefolgt. Für wie dumm hielten die ihn eigentlich? Wenn sein alter Herr nicht das Gut in der Pfalz verjubelt hätte, würde er den Brüdern was pfeifen. Nebenan schlug es schon dreiviertel. Eichstätten klappte den Koffer zu und verschloß ihn. Länger durfte er das Mädel nicht warten lassen. Schnell noch ein sauberes Hemd, eine neue Krawatte, etwas Kölnischwasser. Hatte er genügend Geld? Er öffnete die Brieftasche. Das langte nicht. Schnell holte Eich stätten aus einer Tasche im Kofferdeckel fünf Zwanzigmark scheine. Als er die Treppe hinunterging, spitzte er die Lippen zum Pfeifen, kniff sie dann aber zusammen. Verflixt, daß ihm nichts anderes einfiel als Märsche! Der Abend war angenehm kühl. Eichstätten öffnete das Jak kett. Auf den Dachfirsten lag noch roter Abendsonnenschein. Eine Amsel saß auf dem Giebel des Hauses vom Schlossermei ster Wehnert und schmetterte ihr Lied zum glutroten Horizont. In den Fenstern lagen die Mütter und achteten auf ihre Töchter, die kichernd und erzählend auf der Straße spazierengingen. Eichstätten hatte seine Freude an den hübschen Gesichtern, mehr aber noch an den schlanken Beinen. Am nächsten Morgen brachte Eichstätten die Stücklisten des FM 23 selbst in die Zeichnungsausgabe des Konstruktionsbü ros. Er scherzte mit den Kolleginnen, die dort arbeiteten, und paßte genau auf, in welchen der Schränke sie die Listen legten.
Um ganz sicherzugehen, ließ er sich aus verschiedenen Bau gruppen Zeichnungen vorlegen, als habe er etwas zu überprü fen. Dann ging er durch den großen Zeichensaal auf den Aus gang zum Treppenflur zu. In dem Stahlblechschrank lagen also die Zeichnungen! Hoffentlich mußte er das Schloß nicht her aussägen! Ach was, mit dem Brecheisen würde es sich schon machen lassen. Kurz vor der Tür wurden seine Augen schmal. Am Garderobenständer, gleich neben dem Eingang, hing auf einem leeren Haken ein Schlüsselbund mit einer runden Blechmarke. Eichstätten tat, als habe sich ein Schnürsenkel gelöst. Er bückte sich und blickte zurück. Keiner der Zeichner und Konstrukteure beachtete ihn, alle waren in ihre Arbeit ver tieft. Eichstätten richtete sich auf, ging dicht am Garderoben ständer vorbei, griff zu und ließ die Schlüssel geräuschlos in die Tasche gleiten. Er eilte die Treppe hinab, den Flur entlang zur Toilette und riegelte sich ein. Drei Schlüssel waren es. Er holte sie aus der Tasche hervor und betrachtete sie. Das paßte ausgezeichnet in seinen Plan. Sorgfältig machte Eichstätten die Wachsabdrücke, dann schlenderte er zurück zum Konstruktionsbüro. Versehentlich riß er einen Hut vom Garderobenständer, hing ihn auf, und als er weiterging, baumelte das Schlüsselbund wieder an seinem Haken. Die Kolleginnen in der Zeichnungsausgabe fragte er, ob er seinen Bleistift liegengelassen habe. Eine von ihnen be gann zu lachen, zeigte auf sein Ohr und sagte: „Nehmen Sie doch den da!“ Eichstätten schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn, erzählte noch einen Witz und ging in die Materialversorgung. Ganz leise zischte er zwischen den Zähnen einen Marsch. Ein junger Mann muß Glück haben, hatte der Vater immer gesagt, der Verstand allein schafft’s nicht. Jetzt brauchte er nicht die Schlüssel in der Wache zu verwechseln. Wer weiß, ob das auf
Anhieb geklappt hätte. Morgen, am Sonnabend, war um elf Uhr Arbeitsschluß. Bei diesem herrlichen Wetter würden die Büros fünf Minuten später leer sein. Hell würde die Sonne durchs Fenster scheinen, in aller Ruhe konnte er dort oben fo tografieren. Eichstätten brannte eine Zigarette an, heute schmeckte ihm sogar die Turf. Morgen abend war alles erledigt. Ein paar tau send Mark, ein paar erholsame Wochen irgendwo, dann eine Kompanie, vielleicht sogar ein Bataillon… sicher ein Bataillon, man hatte schließlich Verdienste aufzuweisen! In der Mittagspause eilte Eichstätten zum Schlossermeister Wehnert. Er fand ihn in der Garage, an seinem Wartburg her umputzend. Eichstätten schloß sorgfältig die Tür hinter sich und grüßte: „Tag, Meister, wie gehen die Geschäfte?“ Wehnert antwortete, ohne aufzusehen: „Belämmert.“ „Bei dem schönen Wetter sind die Lehrjungen wohl ausgeris sen?“ fragte Eichstätten und zeigte auf den Putzlappen in des Meisters Hand. „Lehrjungen! Hören Sie bloß auf! Genau die Pausen einhal ten, nichts Schweres heben, alle naselang Schule – von denen verlangen Sie mal was. Früher gab’s ein paar hinter die Löffel, da haben sie uns Schliff beigebracht, aber heute.“ Eichstätten trat vertraulich näher. „Keine Sorgen, Meister, die kriegen noch ihren Schliff, die ersten Kasernen werden drüben belegt.“ Wehnert richtete sich auf. „Kasernen…? Wieso? Ich will kei nen Krieg! Keiner will den hier.“ „Wer redet denn von Krieg? Ich meine doch nur so, Befrei ung und so… Man interessiert sich doch für Neuigkeiten. Na ja, ich will nichts gesagt haben.“ Wehnert begann wieder, sein Auto zu putzen. Befreiung, das sagte der Herr Schwiebach auch immer, der seit einiger Zeit in
der Sekte der „Wahren Christen“ predigte. Hätte jemand Weh nert gefragt, wovon er befreit sein wollte, so wäre nicht mehr dabei herausgekommen als Verärgerung über die manchmal unzureichende Materialbelieferung. „Meister, mir ist da ein Unglück passiert“, begann Eichstätten wieder. Wehnert sah ihn mißtrauisch an. „Ich habe gestern ein Schlüsselbund verloren“, fuhr Eichstät ten fort. „Nun, Sie kennen ja die alte Mückeberg, bei der ich wohne. Wenn ich der das erzähle, dann macht die nachts kein Auge mehr zu, aus Angst, jemand könnte die Schlüssel finden und bei ihr einsteigen. Die verlangt bestimmt, ich soll überall neue Schlösser anbringen lassen. Es ist mir nicht ums Geld, nur meine Ruhe möchte ich haben… Ich hab’ deshalb von dem Schlüsselbund der Mückeberg heut morgen Wachsabdrücke gemacht.“ Eichstätten stellte drei kleine Kästchen auf die Feil bank. „Machen Sie mir die Schlüssel bis heute abend?“ „Bis heute abend?“ fragte Wehnert und richtete sich auf. „In drei Wochen können Sie mal nachfragen. Paßt besser auf euer Gelumpe auf.“ Eichstätten griff in die Tasche, zog einen Zehnmarkschein hervor und deckte die drei Kästchen damit zu. „Anzahlung, Meister. Wenn ich die Schlüssel um siebzehn Uhr holen kann, lege ich noch einen drauf.“ Wehnert kratzte sich das Genick und betrachtete die zehn Mark. „Ich habe zwar so viel Aufträge, daß ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Aber weil Sie’s sind…“, sagte er und steckte mit bedächtiger Bewegung den Schein ein. „Aber passen müssen sie. Und, wie gesagt, die Mückeberg braucht nichts davon zu erfahren.“ Eichstätten tippte an den Hut und ging. Wehnert blickte ihm aufgebracht nach und sagte: „Was Mei
ster Wehnert macht, paßt immer! Merken Sie sich das, junger Mann!“ Am liebsten hätte er dem Eichstätten die drei Kästchen hinterhergeworfen. Aber zwanzig Mark für solch einen Auf trag, das gab’s nicht alle Tage. Pünktlich um fünf Uhr nachmittags bekam Eichstätten die Schlüssel. Er zahlte und ging wieder zurück in die Wohnung. Seine Wirtin mußte ihm einen starken Kaffee brühen; dann packte er bis auf den Fotoapparat und das Stativ alle Sachen, die ihn verraten konnten, in einen Karton. Er würde sie vor der Abreise vernichten. Das einzige belastende Material, das er im Zuge noch bei sich führen würde, wären die Filme. Eichstätten überlegte. Brauchte er noch etwas? Halt, das Stemmeisen! Er suchte es hervor und legte es auf den Koffer. Morgen abend würde er die Aufnahmegeräte auch noch beiseite schaffen, und dann ging’s zur Bahn und ab nach Berlin. Eichstätten steckte die Pistole in die Brusttasche und wandte sich zur Tür, kehrte, aber noch einmal um und legte die Waffe in den Koffer zurück. Er machte einen langen Spaziergang durch die dunklen Stra ßen der Stadt. Im Zwielicht des Mondes und der wenigen La ternen sahen die Häuser verzerrt aus und wirkten größer, als sie waren. Eichstätten liebte dieses Licht. Im dunklen Schatten eines Mauervorsprunges stehend, beobachtete er die Menschen auf der Straße. Als es kühler wurde, ging Eichstätten in die „Rotkäppchen-Bar“ und ließ sich eine Flasche guten Wein bringen. Voll Behagen schlürfte er das erste Glas. Aus Ungarn kam der Tropfen, zwölf Mark die Flasche… Er fühlte, wie der Wein ins Blut drang, die Glieder wurden schwer. Eichstätten zahlte und ging nach Hause. Morgen war der entscheidende Tag, morgen mußte er ausgeruht sein. Sicher war es richtig, eine Schlaftablette zu nehmen, damit ihn die Nervosität nicht mitten in der Nacht aufjagte. Eichstätten
schluckte die Tablette und legte sich nieder. Trotzdem erwachte er am anderen Morgen sehr früh. Er wollte seinen Plan noch einmal überdenken, aber das Bett wurde ihm zu warm. Schnell stand er auf, aß etwas und ging auf Umwegen zum Betrieb. Fotoapparat, Stativ und Pistole würde er mittags holen. Es kam darauf an, j schnell zu arbeiten, damit der Betriebsschutz keinen Verdacht schöpfte und kontrollieren kam. „Hallo, Erhard!“ Eichstätten blickte sich um. Pockert kam hinter ihm her und fragte: „Bist du umge zogen?“ Eichstätten spielte mit der Zungenspitze zwischen den gewölbten Lippen. „Vielleicht – für eine Nacht mal…“ Sie lachten beide. „Nein, nein, alles Unsinn. Übrigens, ich werde heute ein paar Stunden dranhängen müssen. Will den letzten Auftrag in Ruhe durcharbeiten. Dafür möchte ich den nächsten Sonn abend frei haben, hab’ da ‘ne Kleinigkeit vor.“ „Du, die vielen Überstunden werden nicht gern gesehen.“
„Wie soll man’s denn machen? Hauptsache ist doch, die Ar beit wird geschafft.“ Pockert schwieg. Was Eichstätten da sagte, überzeugte ihn nicht ganz. In der ersten Zeit – schön, jeder muß sich einarbei ten. Aber nun war Eichstätten reichlich vier Wochen im Be trieb… Zögernd sagte Pockert: „Gut, ich spreche mit der BGL und der Abteilung Arbeit.“ Dann erzählte er noch, daß sein Junge heute mittag auf Urlaub käme und er deshalb pünktlich Feierabend machen müsse. Der Strom der Menschen nahm sie auf, der durch das Werk tor quoll, das Blut, das dem Werk erst sinnvolles Leben gab. Gleich hinter dem Werktor teilte sich dieser Strom in viele kleine Adern, die zu den einzelnen Abteilungen strebten. Der Tag wurde anstrengend für Pockert, wie jeder Sonn abend. Gleich morgens wurde er zu einer Sitzung gerufen. Als er gegen zehn Uhr zurückkam, war es Zeit, die Post zu unter schreiben. Pünktlich um elf räumte er den Schreibtisch auf, tat das Frühstück wieder in die Aktentasche und war dabei, die Brille ins Futteral zu stecken, als das Telefon auf seinem Tisch klingelte. Die Produktionsleitung wollte wissen, ob ein Schmiedestück eingegangen wäre, das dringend zur Fertigstel lung einer Maschine gebraucht wurde. Der Kollege am anderen Ende des Drahtes schilderte ausführlich seine Schwierigkeiten. Pockert sah den Zeiger der Uhr über der Tür weiterrücken und wurde nervös; er spielte mit der Brille und legte sie, aus Sorge, sie zu zerbrechen, neben den Telefonapparat. Endlich war der Kollege fertig. Pockert versprach ihm, sich am Montag gleich um das Werkstück zu kümmern, legte den Hörer auf, griff nach seiner Tasche und stürzte davon. Zum Garten mußte er, Gemü se holen. Man sollte der Frau nicht so etwas versprechen! Eine halbe Stunde dauerte es bestimmt, dann nach Hause, umziehen und zum Bahnhof!
Pockert stand vor dem Gartentor und stocherte mit dem Schlüssel am Schloß herum. Seine Sehkraft hatte doch schon wieder nachgelassen, oder flimmerte es ihm nur vom Laufen so vor den Augen? Wo war denn die Brille? Pockert klopfte die Brusttaschen ab, faßte in die Seitentaschen. Die Brille? Natür lich, neben dem Telefon lag sie! Verdammt und zugenäht, nun mußte er noch einmal in die Bude laufen! Wenn der Tag schon morgens mit einer Sitzung begann! Schnell packte er Mohrrü ben und Kohlrabi in die Aktentasche und hastete den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. „Ist Eichstätten noch oben?“ fragte er, als er in die Betriebswache trat. „Hab’ meine Brille liegenlassen.“ Der Kollege vom Betriebsschutz antwortete: „Eichstätten ist kurz vor dir rein. Er war nur essen.“ Pockert schlug die Tür hinter sich zu. Essen? Wie lange woll te der denn arbeiten? Wieder meldete sich die Unruhe, die Pockert manchmal befiel, wenn er an Eichstätten dachte. Dü ster und schweigend lag der Korridor des Verwaltungsgebäu des da. Geräuschlos eilte ihn Pockert auf seinen Kreppsohlen entlang. Abgestanden roch die Luft und nach Aktenstaub. Die Tür zur Materialversorgung war unverschlossen, aber das Zimmer war leer. Wo mochte Eichstätten stecken? Sicher auf der Toilette; war gut so, der würde nur Fragen stellen und einen noch mehr auf halten. Pockert steckte seine Brille ein und trat wieder auf den Korridor. Er blieb stehen und lauschte… Arbeitete im oberen Flur nicht einer an der Tür zum Kon struktionsbüro? Da, jetzt klang es, als würde sie mit einem schlecht schließenden Schlüssel geöffnet! Das war doch… Pockert stieg die Treppe hinauf. Die Tür zum Konstruktionsbü ro war zu. Hatte er sich getäuscht? Jetzt wurde von innen ein Schlüssel ins Schloß geschoben!
Wenige Schritte, und Pockert drückte die Klinke herunter, riß die Tür auf. „Eichstätten! Herr von Eichstätten.“ Der wurde blaß und griff in die Brusttasche. Als er die Pistole in der Hand spürte, wurde er ruhiger. So ging es nicht. Er ließ die Waffe an ihrem Platz, zog Pockert am Ärmel in das Kon struktionsbüro und schloß die Tür. „Damit wir uns besser ver stehen…“ Eichstätten packte Pockert bei den Jackenaufschlä gen und schüttelte ihn. „Was ich hier zu erledigen habe, geht dich nichts an! Montag früh bin ich nicht mehr da! Spuren bleiben hier nicht zurück. Ich habe mich eben getäuscht, als ich in die Ostzone kam… Und du dich in mir, basta! Laß dir nicht einfallen, zur Polizei zu laufen! Du hast mehr auf dem Kerb holz als ich! Mord an einem Ausländer oder doch Beihilfe… Aber vergiß auch nicht: Ich habe Freunde! Wenn’ mir etwas passiert, dann…“ Eichstätten machte eine nicht mißzuverste hende Bewegung mit der Hand. „Hältst du aber das Maul – wir kommen bald wieder, und eine Liebe ist der anderen wert. – Und nun hau ab!“ Er öffnete die Tür und schob Pockert hinaus. Eichstätten schloß die Tür ab und öffnete die Aktentasche. Hatte der ihm nachspioniert? Abhauen? Ohne Erfolg zurück kehren? Monatelang keinen Pfennig? Keine Reaktivierung, keine Kompanie? Unsinn, der Pockert war ein Waschlappen; wenn der reden wollte, hätte er es längst getan… Der Schock würde schon einige Stunden vorhalten, und das genügte. Si cherheitshalber nahm Eichstätten die Pistole aus der Brustta sche und steckte sie in die rechte Jackentasche. Fieberhaft machte er sich an die Arbeit. Der Kollege vom Betriebsschutz blickte Pockert erstaunt an. Hatte der getrunken? Vorhin war ihm doch nichts anzumerken gewesen. Man mußte mal den Eichstätten fragen, wenn der nach Hause ging.
Pockert irrte durch die Straßen. So war das also. Doch Spio nage! Und er hatte den Strolch in den Betrieb gebracht! Auf die Neuentwicklung hatten sie es abgesehen. Pockert ging über den Marktplatz. Scheu blickte er zum Volkspolizeiamt hinüber. Hineingehen? Aber wenn Eichstätten ihm dann den Mord auf halsen würde… „Hallo, Vater!“ Pockert blieb stehen. Der Junge, er hatte ihn einfach verges sen. Schnelle Schritte kamen näher. Langsam drehte Pockert sich um. „Ich dachte, du würdest mich abholen, Vater… Aber wie siehst du aus? Bist du krank?“ Fritz Pockert setzte den Koffer ab und gab seinem Vater die Hand. „Bißchen viel gearbeitet in den letzten Tagen… und wahr scheinlich zu schnell in den Garten gelaufen. Mutter wollte noch Gemüse.“ Pockert bückte sich nach dem Koffer seines Jungen, aber Fritz war schneller. „Laß das“, sagte er, „den trag’ ich selber. Komm mit heim. Ich hab’ uns einen guten Tropfen mitge bracht, der wird dir auf die Beine helfen.“ Pockert nickte. „Werd’ mich einen Augenblick hinlegen, dann geht’s schon wieder.“ Irma Pockert stand aufgeregt vor dem Küchenherd und schimpfte: „Wo bleibst du nur mit dem Gemüse! Nun ist der Junge da, und ich habe das Essen nicht fertig!“ „Braus nicht gleich auf, Irma“, sagte Pockert, „mir ist nicht wohl.“ Er ging ins Wohnzimmer und legte sich auf die Couch. Fritz brachte ihm ein Glas Kognak, dann lag Pockert allein und dachte nach. Still sein, sich heute einen Rausch antrinken und morgen, dann war der Spuk vorbei… Und wenn die Agenten von drü
ben wiederkamen und ihn erpressen würden? Wenn sie ihn zwängen, das zu tun, was die Offiziersvisage heute machte?. Bestimmt kämen sie wieder! Hetzen würden sie ihn, bis er zu sammenbrach. Immer hatte er ehrlich gearbeitet, war ein an ständiger Kerl gewesen… Das damals, das mit Jean… Er war doch kein Mörder! Aber wer sollte ihm glauben, jetzt, nachdem er so lange geschwiegen hatte… Nach dem Westen gehen, von vorn anfangen? Doch dort hatten ihn Eichstättens Kumpane erst recht in ihren Klauen. Und der Junge? Er hing an seinem Beruf. Mein Gott! Gab’s denn keinen Ausweg? Pockert warf sich herum, daß die Nippsachen auf dem Vertiko klirrten. Er blickte hinauf. In der Schublade lag die Pistole. Pockert richte te sich auf. Er wird sie dem Lumpen unter die Nase halten, ihm die Zeichnungen abnehmen, ihm sagen: „Läßt du dich noch einmal hier blicken, dann sieh dich vor!“ Er wird sich nicht unter Druck setzen lassen! Den wird er unter Druck setzen! Nach Hause schicken wird er die Offiziersvisage! Mit einem Satz ist Pockert von der Couch, steckt die Pistole zu sich und eilt zum Betrieb. Hoffentlich ist die Offiziersvisage noch da. Der Bursche darf nicht weg, bevor reiner Tisch ist zwischen ihnen! Das letzte Stück des Weges rennt Pockert fast. „Ist Eichstätten schon raus?“ Pockert sieht den Kollegen vom Betriebsschutz gespannt an. Der schließt langsam die kleine Pforte auf und sagt: „Nein, der ist noch oben.“ Pockert hastet an ihm vorbei. Der Kollege blickt ihm nach. Komisch, manche Leute müssen absolut nicht wissen, was sie mit ihrer Freizeit anfangen sollen. Als Pockert den langen Korridor des Verwaltungsgebäudes entlang eilt, hört er Eichstätten in der Materialversorgung den Badenweiler Marsch pfeifen. Wenn die Sache schiefgeht? Pockert geht langsamer. Er hat zu wählen: Die von drüben werden ihn nicht in Frieden las
sen… Jeder Auftrag würde gefahrvoller sein, und eines Tages fassen ihn die Sicherheitsorgane der DDR, wie sie schon viele gefaßt haben; oder er gibt der Offiziersvisage dort drinnen eine Abfuhr… Hätte er 1945 gesprochen, dann könnte er heute of fen auftreten! Aber hier ist eine Gelegenheit, wo er zeigen kann, wer er ist. Der Junge soll später nicht sagen: „Mein Vater war ein Lump.“ Pockert hat die Tür erreicht, reißt sie auf und zieht die Pisto le. „Gib die Zeichnungen heraus!“ Eichstätten fährt herum, sieht die Waffe, sieht Pok-kerts ent schlossenes Gesicht und weiß: Jetzt wird es Ernst! Zeit gewin nen! Ist Pockert allein? Eichstätten versucht, über Pockert hin weg in den Korridor zu blicken. „Aber Heinrich, was sind das für Dummheiten? Du verkennst doch völlig deine Lage.“ Eichstätten verzerrt sein Gesicht zu einem Lächeln. „Red nicht herum, leg die Zeichnungen auf den Tisch und verschwinde! Und sag es deinesgleichen: Niemand soll sich mehr hier sehen lassen! Mit Pockert könnt ihr das nicht ma chen, mit Pockert nicht!“ „Brüll nicht so… Was quatschst du nur immer von Zeich nungen? Ich hab’ keine, überzeuge dich, da steht meine Akten tasche.“ Eichstätten deutet zum Schreibtisch. Pockerts Blick folgt unwillkürlich dem ausgestreckten Arm. Das genügt. Schon hat Eichstätten seine Pistole in der Hand und schießt von der Hüfte aus. Pockert sieht es aufblitzen und spürt einen Schlag gegen die linke Brustseite. Er feuert zurück. Das Geschoß streift eine Tischlampe, schlägt quer und reißt die Platte des Schreibtisches auf. Pockert sinkt stöhnend zu Boden. Ihm ist, als breite sich Nebel vor seinen Augen aus. Wenn er jetzt schlappmacht, hat Eichstätten gewonnen! Müh sam öffnet Pockert die Augen. Eichstätten ist verschwunden…
Nein! Dort hinter der Schrankecke steht er ja und beobachtet ihn. Pockert will aufstehen. Es geht nicht. Eichstätten sieht, wie Pockert sich abmüht, grinst und macht einen Satz zu seiner Tasche. Pockert reißt die Pistole hoch und schießt. Einen Fluch ausstoßend, geht Eichstätten hinter dem Schreib tisch in Deckung. Auf der anderen Seite liegt Pockert. Verflixt, wie kann er den loswerden? In wenigen Minuten wird der Be triebsschutz hier sein… Eichstätten blickt durch den Raum. Ein Fenster geht nach der Straße hinaus… Da muß er hindurch, aber möglichst unversehrt, ein Verwundeter im Zug, das fällt bestimmt auf… Eichstätten blickt nach links, nach rechts. Da, der Bürosessel! Er ergreift ihn, legt ihn auf die Schreibtischplatte und gibt ihm einen Stoß, daß er darüber hingleitet. Mit dumpfem Aufschlag fällt der schwere Sessel Pockert auf den Rücken, Eichstätten hört seinen Gegner vor Schmerz stöhnen. Ein Sprung, und er ist am Fenster, Pockert sieht einen großen Schatten an sich vorbeihuschen. Der Blutverlust läßt den Nebel vor seinen Augen dichter wer den. Mühsam hebt Pockert den Kopf, richtet die Pistole auf den Schatten am Fenster und krampft die rechte Hand zusammen – einmal, zweimal, dreimal. Das Krachen der Schüsse hört Pok kert nicht mehr, die Pistole poltert auf den Boden, sein Kopf sinkt nach vorn. Pockert spürt ein heftiges Schwindelgefühl. Alles dreht sich! Er stürzt, stürzt! Dann ist nichts mehr. Der Kollege vom Betriebsschutz kniff sich in die Nase. Hatte er geschlafen, oder waren das tatsächlich Schüsse gewesen? Er sprang auf, öffnete die Tür und lauschte. Da! Wieder! Im Ver waltungsgebäude klirrte eine Fensterscheibe. Der Wachmann riß die Tür zum Ruheraum seiner Kameraden auf. „Alarm!“ Nun schnell die Alarmmeldung zum Kreisamt!
Elende Strippe! Dauert das lange, bis man eine Verbindung bekam… Endlich! Er schrie seine Meldung in den Apparat und mußte sie wiederholen, weil ihn die andere Seite nicht verste hen konnte. – Endlich! Er legte den Hörer auf. Wo blieben die anderen drei? „Beeilt euch doch!“ „Wir kommen ja schon! Was ist denn überhaupt los?“ „Im Verwaltungsgebäude wird geschossen!“ „Was?“ Ungläubig lachend trat einer der Kameraden in die offene Tür. „Du hast wohl.“
Drei Schüsse hallten herüber. Die beiden blickten sich eine Sekunde an. Auch die anderen hatten die Schüsse gehört. „Los!“ Als letzter kam Müller, der Jüngste vom Betriebsschutz, aus dem Ruheraum. Er hatte die Stiefel in der Hand und schrie: „Wartet doch! Ich muß mich erst anziehen!“ Der Wachhabende drehte sich um. „Oft genug haben wir dir gesagt: ,Zieh die Stiefel nicht aus, wenn du Dienst hast!’ Jetzt komm nur so mit!“ Müller lief in Socken auf den Hof. Aber die Schottersteine stachen in die Fußsohlen. Er blieb stehen, zog den rechten Stie fel an, lief wieder ein Stück, zog den linken an und erreichte seine Kameraden, als sie das Verwaltungsgebäude betraten. Zwei blieben am Anfang des langen Korridors stehen und si cherten, die beiden anderen gingen vorsichtig von Tür zu Tür, aber alle waren verschlossen. Nur die Tür zur Materialversor gung am Ende des Ganges ließ sich öffnen. Ein scharfer Luftzug schlug den Betriebsschutzmännern ent gegen. Es roch nach verbranntem Pulver. Eichstätten hing im Fenster nach der Straße zu, ein Bein drinnen, ein Bein draußen. Der Kopf lag auf dem Fensterbrett. Ein Blutfleck zeichnete sich auf der Jacke ab und wurde langsam größer. Pockert lag auf dem Rücken, die linke Hand auf die Brust gepreßt, blutigen Schaum auf den Lippen. Hupen ertönten vor dem Tor, dann rollten die Polizeiwagen auf den Hof. In kürzester Zeit war das Fabrikgelände besetzt und abgeriegelt. Die Kollegen der Spätschicht dachten: Wieder einmal eine Übung. Sie arbeiteten ruhig weiter. Oberkommissar Schröder, der Leiter des Einsatzes, besichtig te den Tatort. Als er Eichstättens Aktentasche geöffnet hatte, pfiff er leise durch die Zähne. Wem von den beiden Verwunde ten gehörte die Tasche? Wahrscheinlich dem im Fenster. Tele
fonisch veranlaßte Schröder, daß die Wohnungen Pockerts und Eichstättens durchsucht wurden. Inzwischen arbeiteten die Fo tografen. Dann trug man Eichstätten und Pockert nach unten. Ein Sanitätswagen war eingetroffen, der die noch immer Be wußtlosen ins Krankenhaus brachte. Im Zimmer des diensthabenden Arztes saß Oberkommissar Schröder. Der Chefchirurg des Krankenhauses hatte sich gera de verabschiedet. Er hatte Eichstätten, dem das Geschoß dicht neben dem Herzen saß, sofort operiert. Die Operation war gut verlaufen. In einigen Tagen würde Eichstätten vernehmungsfä hig sein. Pockert hatte einen Lungenschuß, auch er würde durchkommen… Die Beweisaufnahme am Tatort und die Haussuchungen hatten ein beinahe lückenloses Bild des Tatbe standes ergeben. Zu klären blieb noch, warum sich Pockert allein mit einem so gefährlichen Gegner eingelassen hatte. Darüber konnte nur er selbst Aufschluß geben… Es klopfte an die Tür. Eine Schwester trat ein und sagte: „Der Patient Pockert ist erwacht, Sie können ihn sprechen.“ Oberkommissar Schröder folgte ihr. Vor dem Krankenzim mer stand ein Arzt. Er begrüßte den Oberkommissar und sagte: „Überanstrengen Sie bitte den Patienten nicht. Er hat viel Blut verloren.“ Schröder nickte und ging in das Zimmer. Pockert lag bleich in den Kissen. Seine Augen waren unnatürlich groß. „Nun, Herr Pockert“, sagte Schröder, „Sie hätten die Polizei ihre Arbeit selber machen lassen sollen…“ „Haben Sie Eichstätten?“ fragte Pockert. „Er liegt einige Zimmer weiter. Sie haben ihn schön zuge richtet, aber er wird durchkommen.“ Pockert schwieg einige Zeit. „Es ist besser, ich sage Ihnen al les“, begann er und erzählte dann, daß er schon während des
Krieges Einkaufsleiter bei der Firma Gansfuß gewesen sei. Je mehr sich der Krieg seinem Ende näherte, um so mehr Kriegs gefangene und sogenannte „Fremdarbeiter“ waren in die Fabrik gekommen. Einer von ihnen war Jean Fleurier, ein Franzose. Da er kein Metallarbeiter gewesen war, hatte er als eine Art Hausmann gearbeitet, Kohlen in die Verwaltungsräume getra gen, die Öfen geheizt. Des öfteren seien Flugblätter in der Verwaltung gefunden worden. Niemand habe feststellen kön nen, wo sie herkamen. Auch habe es Unruhen unter den Ge fangenen gegeben, und die Abteilungsleiter hätten Pistolen bekommen. Vier Wochen vor dem Zusammenbruch habe er, Pockert, sich morgens verspätet. Pockert schwieg und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Der Arzt wollte ihm verbieten, weiterzusprechen. Pockert winkte ab und fuhr fort: „Als ich in das Büro trat, war alles in Aufregung. Jean stand am Ofen, meine beiden Kol legen schrien auf ihn ein. Sie hatten gesehen, wie Jean ein Flugblatt fallen ließ. Als Verantwortlicher für die Abteilung mußte ich ihn zum Chef bringen. Gansfuß tobte und brüllte. Außer ihm war noch Eichstätten im Zimmer. Sie hatten getrun ken. Jean sollte sagen, wo er die Flugblätter herhabe. Er schwieg verbissen. Gansfuß drohte mit Prügel und KZ. Plötzlich sprang Jean auf das Fenster zu. , Auf keinen Fall entkommen lassen!’ schrie Gansfuß. Wie es dann weiterging, weiß ich nicht mehr genau. Ich hatte die Pistole in der Hand. Ich wollte nicht schießen. Tun mußte ich was. Ich ließ die Pistole fallen, sprang hinter Jean her, konnte ihn noch bei den Schultern packen. Er riß sich los, tau melte nach vorn, dem Chef entgegen, der hinter dem Schreib tisch hervorsprang. Der junge Gansfuß stieß Jean beide Fäuste unters Kinn. Fleurier kippte nach hinten, schlug mit dem Nak
ken gegen die Schreibtischkante und stürzte auf den Boden. Gansfuß trat ihn einige Male mit dem Stiefel, bis er reglos lie genblieb. Jean Fleurier war tot…“ Pockert schloß die Augen. „Wer hätte mir schon geglaubt!“ „Und damit hat Sie Eichstätten unter Druck gesetzt, und Sie wagten nicht, zu uns zu kommen?“ fragte Oberkommissar Schröder und klappte sein Notizbuch zu. Pockert nickte, er atmete schwer. Der Arzt am Fußende des Bettes bedeutete dem Oberkom missar, das Zimmer zu verlassen. Leise stand Schröder auf. „Wie lange wird er liegen müs sen?“ fragte er den Arzt, als sie auf dem Korridor standen. „Genau weiß man das nie. Aber ich glaube, in acht bis zehn Wochen läuft er wieder herum.“ Schröder stopfte sich eine Pfeife und brannte sie an. Man müßte gleich mit dem Eichstätten reden. Unter dem frischen Eindruck seiner Niederlage sagte der vielleicht die Wahrheit. Der Oberkommissar wandte sich an den Arzt und erhielt die Erlaubnis, Eichstätten zu sprechen. Das Krankenzimmer war hell und freundlich. Schröder zog einen Stuhl neben das Bett, setzte sich und fragte: „Hören Sie mich, Herr von Eichstätten?“ Eichstätten öffnete die Augen und nickte. „Sie waren dabei, als Jean Fleurier im Mai 1945 erschlagen wurde?“ Wieder nickte Eichstätten. „Wer hat Fleurier erschlagen? Pockert oder Gansfuß?“ Eichstätten hatte dem Oberkommissar aufmerksam auf den Mund gesehen, aber er schwieg. „Herr von Eichstätten“, be gann Schröder wieder, „Ihnen hilft nur noch die Wahrheit, wenn Sie Ihre Lage erleichtern wollen. Sagen Sie die Wahrheit, helfen Sie sich selber, Gansfuß hilft Ihnen nicht mehr.“
„Es war Gansfuß.“ Eichstätten schloß erschöpft die Augen. Der Oberkommissar dankte und ging. Vor Pockerts Tür zö gerte er, dann trat er ein und sagte Pockert, daß Eichstätten die Wahrheit gestanden habe. Pockert blickte den Kommissar an. „Was werden Sie nun mit mir machen?“ fragte er schließlich. Schröder zuckte die Schultern. „Werden Sie erst einmal ge sund… Wahrscheinlich wird man Ihnen unerlaubten Waffen besitz vorwerfen… Sie hätten Vertrauen zu uns haben sollen.“ Der Oberkommissar hatte schon recht. Pockert blickte zur Decke. Was nun noch kam, wollte er gern tragen. Fort war der Zentnersack, der ihn über ein Jahrzehnt gedrückt hatte. Er hatte nichts mehr zu verheimlichen, und keiner würde ihn mehr er pressen können!