Lima Barretos Roman erzählt die traurige Geschichte des Policarpo Quaresma, eines guten, ehrlichen Menschen und kleinen...
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Lima Barretos Roman erzählt die traurige Geschichte des Policarpo Quaresma, eines guten, ehrlichen Menschen und kleinen Beamten im Kriegsministerium, der unablässig davon träumt, Mittel und Wege zu finden, die wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit seines Landes sowie die Unfähigkeit und Nachlässigkeit der Verantwortlichen in Regierung und Verwaltung zu überwinden. Er versenkt sich so sehr in seine Träume von der möglichen Größe des Vaterlandes, daß er seinen Kollegen zum Gespött wird, um schließlich in ein Irrenhaus eingewiesen zu werden. Policarpo Quaresma ist ein Don Quijote des Patriotismus, dessen puristische Auffassung von Nationalkultur Barreto ebenso ad absurdum führt wie den Opportunismus und Autoritarismus seiner Gegner. Das traurige Ende des Policarpo Quaresma – ein Roman, der zwischen Satire, Humor und Tragik changiert und zur gleichen Zeit eine Veranschaulichung des Grillparzerschen Verdikts über Nationalismus ist: Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität. Ein Werk der Weltliteratur von großer Aktualität, ein Klassiker aus Brasilien. lima barreto, eigentlich Afonso Henriques de Lima Barreto, wurde am 13. 5. 1881 in Rio de Janeiro geboren, wo er auch im Alter von 41 Jahren am 1. 11. 1922 starb. Schon seine Kindheit war von Elend gekennzeichnet. Er wuchs in einem Irrenhaus auf, da sein Vater dort als Wärter arbeitete. Später mußte er aus finanziellen Gründen sein Ingenieurstudium abbrechen, und er erhielt eine Anstellung im Kriegsministerium. Barreto hat während seines kurzen Lebens ein vielbändiges Werk als Romancier, Erzähler und Chronist geschaffen. Erst nach seinem Tod erkannte man seine literarische Bedeutung als kompromißlosester Vorläufer der Modernisten. Triste Fim de Policarpo Quaresma (1915) ist sein bedeutendster Roman.
Afonso Henriques de
Lima Barreto
Das traurige Ende des Policarpo Quaresma Aus dem brasilianischen Portugiesisch, mit Zeittafel, Glossar und Nachwort versehen von Berthold Zilly
Ammann Verlag 5
Die Originalausgabe erschien 1911 in Rio de Janeiro unter dem Titel »Triste fim de Policarpo Quaresma« als Fortsetzungsroman in der Zeitung Jornal do Commercio; 1915 folgte die erste Buchausgabe. Der Verlag dankt dem Brasilianischen Kulturministerium (Stiftung Nationalbibliothek/Nationales Buchinstitut) für die Unterstützung bei der Drucklegung des Werkes. Obra publicada com o apoio do Ministério da Cultura do Brasil (Fundação Biblioteca Nacional/Departamento Nacional do Livro)
Erste Auflage Im 20. Jahr des Ammann Verlags © 2001 by Ammann Verlag & Co., Zürich http: //www.ammann.ch Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Satz Dörlemann Satz, Lemförde Druck, Bindung: WS Bookwell, Porvoo, Finnland isbn 3-250-10414-0
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Für João Luís Ferreira Bauingenieur
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Le grand inconvéniant de la vie réelle et ce qui 1a rend insupportable à l’homme supérieur, c’esl que, si l’on y transporte les principes de l’idéal, les qualités deviennent des défauts, si bien que fort souvent l’homme accompli y réussit moins bien que celui qui a pour mobile l’egoïsme ou la routine vulgaire. Der große Nachteil des realen Lebens, der dieses dem höheren Menschen unerträglich macht, besteht darin, daß ihm, wenn man die Prinzipien des Ideals dorthin verpflanzt, Vorzüge zu Fehlern werden, so daß der vollendete Mensch weniger erfolgreich ist als derjenige, dessen Triebkräfte Egoismus oder bloße Routine sind. Ernest Renan, Marc-Aurèle
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Erster Teil
1 Die Gitarrenstunde
Wie gewöhnlich traf Policarpo Quaresma, besser bekannt als Major Quaresma, um viertel nach vier zu Hause ein. So geschah es seit mehr als zwanzig Jahren. Wenn er das Heereszeugamt verließ, wo er als Unteramtmann tätig war, besorgte er in den umliegenden Feinkostläden ein wenig Obst, bisweilen auch ein Stück Käse, und kaufte stets das Brot der französischen Bäckerei. All dies erledigte er in weniger als einer Stunde, nahm um zwanzig vor vier, auf die Minute genau, die Trambahn und überschritt exakt um viertel nach vier die Schwelle seines Hauses in einer abgelegenen Straße der Vorstadt São Januário, pünktlich wie das Auftreten eines Himmelskörpers, einer Sonnenfinsternis, eines mathematisch determinierten Phänomens, vorhergesehen und vorhergesagt. Die Nachbarn waren mit seinen Lebensgewohnheiten längst vertraut, und sobald man ihn bei Hauptmann Claudio, wo gegen halb fünf gegessen wurde, vorbeikommen sah, rief dort die Hausfrau der Dienerin zu: »Alice, es ist soweit, Major Quaresma ist gerade vorbei.« So ging es alle Tage, seit nunmehr fast dreißig Jahren. Da er das Haus, in dem er wohnte, sein eigen nannte und nebst seinem Gehalt über weitere Einkünfte verfügte, konnte Major Quaresma sich einen Lebenszuschnitt leisten, der über seine Dienstbezüge 9
hinausging, weswegen er von der Nachbarschaft als wohlsituierter Mann geschätzt und geachtet wurde. Er empfing keine Besucher, sondern lebte in klösterlicher Zurückgezogenheit, wenn auch höflich gegen die Nachbarn, die ihn für einen Sonderling und Misanthropen hielten. Hatte er in der Vorstadt keine Freunde, so hatte er auch keine Feinde, und der einzige, dessen Mißfallen er erregte, war der Doktor Segadas, ein bekannter Arzt des Viertels, der nicht einsehen wollte, warum Quaresma Bücher besaß: »Er ist doch kein Akademiker, wozu braucht er dann Bücher? Wichtigtuerei!« Seine Bücher zeigte der Unteramtmann niemandem, doch wenn die Fenster seiner Bibliothek geöffnet waren, konnte jeder, der auf der Straße vorüberkam, die von oben bis unten vollgepfropften Regale sehen. So war sein Tageslauf. In letzter Zeit allerdings hatte sich einiges geändert, was in dem Viertel mancherlei Kommentare hervorrief. Außer dem Gevatter und seiner Tochter, den einzigen Menschen, die ihn bislang besucht hatten, sah man seit kurzem dreimal pro Woche an immer den gleichen Tagen einen kleinwüchsigen Herrn, mager und blaß, Quaresmas Haus betreten, eine Gitarre im Wildlederfutteral unter dem Arm. Sogleich war die Neugier der Nachbarn geweckt. Eine Gitarre in einem so respektablen Haus! Was mochte es damit auf sich haben? Selbigen Nachmittags verabredete sich eine der hübschesten Nachbarinnen mit einer Freundin, und beide spazierten endlos auf dem Gehsteig auf und ab, und jedesmal wenn sie vor dem offenen Fenster des sonderbaren Unteramtmanns vorüberkamen, reckten sie die Hälse. Sie spionierten nicht vergeblich. Quaresma saß neben dem unbekannten Besucher auf dem Sofa, die »Klampfe« in Spielhaltung, und hörte ihm aufmerksam zu. »Schauen Sie, Major, das geht so«. 10
Und langsam ließen die Saiten den angerissenen Ton erklingen, worauf der Meister erklärte: »Das ist das D, haben Sie verstanden?« Weiterer Erkundigungen bedurfte es nicht; die Nachbarschaft kam sogleich zu dem Schluß, der Major erlerne das Gitarrenspiel. Du meine Güte! Ein so seriöser Mensch, und nun gab er sich mit solcher Tagedieberei ab! Eines sonnigen Nachmittags gegen vier Uhr – die Märzsonne schien kräftig und unerbittlich – bevölkerten sich die Fenster in einer menschenleeren Straße von São Januário urplötzlich von einem Ende zum andern. Sogar im Haus des Generals schauten die Mädchen aus dem Fenster! Was gab es da zu sehen? Ein Bataillon? Eine Feuersbrunst? Nichts dergleichen. Major Quaresma kam, mit Schritten, klein wie die eines Zugochsen, gesenkten Hauptes die Straße herauf, etwas so Unanständiges wie eine Gitarre unter dem Arm. Gewiß, sie war schamhaft mit Papier umwickelt, doch verhüllte diese Gewandung nicht ganz ihre Formen. Ein derart skandalöser Anblick ließ die Achtung und Wertschätzung, deren Major Quaresma sich in der Nachbarschaft erfreute, ein wenig sinken. Er sei auf Abwege geraten, sei närrisch geworden, hieß es. Er aber setzte seine musikalischen Übungen unverdrossen fort, zumal er von der Minderung seines Ansehens nichts bemerkte. Quaresma war ein kleiner, hagerer Mann, der ein pince-nez trug und für gewöhnlich zu Boden schaute; doch sobald er jemanden oder etwas fixierte, bekamen seine Augen hinter den Gläsern einen starken, bohrenden Glanz, als wolle er bis zur Seele der betreffenden Person oder Sache vordringen. Freilich hielt er, wie gesagt, die Augen meist gesenkt, als folgten sie der Bartspitze, der Zierde seines Kinns. Stets trug er einen 11
Gehrock aus gemustertem Stoff, blau, schwarz oder grau, jedenfalls einen Gehrock, und selten sah man ihn ohne seinen hohen Zylinder mit schmaler Krempe, ein längst veraltetes Modell aus einer Zeit, die er präzise anzugeben wußte. An jenem Nachmittag fragte ihn seine Schwester, als sie ihm öffnete: »Möchtest du gleich essen?« »Noch nicht. Warten wir ein wenig, Ricardo kommt heute zu Tisch.« »Policarpo, nimm doch Vernunft an. Wie kann ein Mann gesetzten Alters, in Amt und Würden wie du, sich mit so einem Ständchensinger, einem halben Gassenmusikanten einlassen? So etwas schickt sich nicht!« Der Major stellte den Sonnenschirm ab – ein altes Modell mit einem hölzernen Stock und einem gekrümmten, mit kleinen Perlmuttrauten verzierten Griff – und entgegnete: »Da irrst du aber sehr, Schwesterchen. Es ist ein Vorurteil zu meinen, jeder Gitarrenspieler sei ein heruntergekommener Mensch. Die Modinha ist die echteste lyrische Ausdrucksform unserer Nation, und die Gitarre ist das ihr gemäße Instrument. Wir Heutigen vernachlässigen diese Liedgattung, doch einstmals stand sie in hohen Ehren, als Pater Caldas sie im Lissabon des achtzehnten Jahrhunderts adligen Zuhörerinnen vortrug. Beckford, ein bekannter englischer Reisender, hat seine Darbietungen gerühmt.« »Das war früher, aber jetzt ...« »Was heißt hier früher, Adelaide? Unsere Traditionen dürfen wir nicht untergehen lassen, unsere echt nationalen Bräuche ...« »Nun gut, Policarpo, ich will dir da nicht hineinreden; mach du nur weiter mit deinen Narreteien.« Der Major betrat das anstoßende Zimmer, während seine 12
Schwester im Innern des Hauses verschwand. Er entkleidete sich, wusch sich, schlüpfte in einen Hausanzug, ging in die Bibliothek, wo er in einem Schaukelstuhl Platz nahm, um auszuruhen. Es war ein weitläufiger Raum, mit Fenstern zu einer Querstraße hin, ganz mit Eisenregalen vollgestellt, an die zehn, mit je vier Böden, abgesehen von den niedrigeren Regalen für die großformatigen Bände. Wer sich diese stattliche Büchersammlung eingehend ansah, mußte staunen über den darin waltenden Geist. In der Belletristik waren ausschließlich einheimische Autoren vertreten oder solche, die dafür gelten konnten: Bento Teixeira mit der Prosopopéia; Gregório de Matos, Basílio da Gama, Santa Rita Durão, José de Alencar (sämtliche Werke), Macedo, Gonçalves Dias (sämtliche Werke), neben vielen anderen. Man konnte sicher sein, daß in Quaresmas Bücherregalen kein brasilianischer oder zum Brasilianer gewordener Autor aus der Zeit vor 1880 fehlte. Zur brasilianischen Geschichte war die Tafel reichlich gedeckt: da waren die Chronisten Gabriel Soares, Gândavo, Rocha Pita, Pater Vicente de Salvador, Armitage, Aires do Casal, Pereira da Silva, Handelmann (Geschichte von Brasilien), ferner Melo Moraes, Capistrano de Abreu, Southey, Varnhagen, abgesehen von entlegeneren, weniger berühmten Autoren. Und nun gar die Reiseund Forschungsliteratur, welche Fülle! Da waren Hans Staden, Jean de Léry, Saint-Hilaire, Martius, der Prinz von Neuwied, John Mawe, von Eschwege, Agassiz, Couto de Magalhães, und wenn sich darunter außerdem Darwin, Freycinet, Cook, Bougainville sowie der berühmte Pigafetta, Bordchronist des Weltumseglers Magalhães, befanden, so deshalb, weil die letztgenannten, sei es knapp oder ausführlich, unter anderem auch von Brasilien berichteten. 13
Des weiteren standen dort Nachschlagewerke: Wörterbücher, Handbücher, Enzyklopädien und Kompendien in verschiedenen Sprachen. Man sieht also, daß die Vorliebe des Majors für das poetische Werk eines Porto Alegre oder Gonçalves de Magalhães durchaus nicht von unheilbarer Unkenntnis der europäischen Kultursprachen rührte; im Gegenteil, mit dem Französischen, Englischen und Deutschen war er leidlich vertraut; und wenn er diese Idiome auch nicht sprach, so konnte er sie doch zureichend lesen und aus ihnen übersetzen. Der Grund für die Auswahl der Bücher war vielmehr in seiner besonderen Geisteshaltung zu suchen, in einem starken Gefühl, das seinem Leben die Richtung wies. Policarpo war Patriot. Schon in jungen Jahren, noch vor Ende seines zweiten Lebensjahrzehnts, hatte die Liebe zum Vaterland ihn ganz und gar ergriffen. Keine gewöhnliche Liebe, leer und geschwätzig, sondern ein ernstes Gefühl, tief und verzehrend. Keinerlei Ehrgeiz auf eine Karriere in Politik oder Verwaltung trieb ihn; was er im Sinn hatte, oder vielmehr, worauf der Patriotismus seinen Sinn lenkte, war eine umfassende Erkundung Brasiliens, um zunächst seine Reichtümer zu ergründen und sodann aus voller Sachkenntnis die möglichen Abhilfen und Verbesserungen aufzuzeigen. Man wußte nicht recht, wo er geboren war, jedenfalls weder in São Paulo noch in Rio Grande do Sul oder in Pará. Vergeblich hätte man bei ihm den leisesten Regionalstolz gesucht; Quaresma war in erster Linie Brasilianer. Er hegte keine Vorliebe für diesen oder jenen Teil seines Heimatlandes; was seine patriotische Leidenschaft erregte, waren nicht allein die Pampas des Südens mit ihren Rinderherden, nicht der Kaffee São Paulos, nicht das Gold und die Diamanten von Minas Gerais, nicht die Schönheit der Bucht von Guanabara, nicht die Höhe der Wasserfälle von Paulo 14
Afonso, nicht das poetische Feuer eines Gonçalves Dias oder das kriegerische Ungestüm eines Andrade Neves – es war vielmehr alles dies zusammen, vereint, verschmolzen unter dem Banner mit dem Kreuz des Südens. Kaum achtzehn geworden, hatte er Soldat werden wollen; doch die Musterungskommission befand ihn für untauglich. Er grämte sich, er litt, doch er verwünschte das Vaterland nicht. Die Regierung war liberal, also wurde er konservativ und liebte inniger denn je »das Land, das ihn hatte zur Welt kommen sehen«. An einer Karriere unter den Goldtressen der Armee gehindert, trat er in den Verwaltungsdienst ein, unter dessen Zweigen er den militärischen wählte. Dort fühlte er sich wohl. Mitten unter Soldaten, Kanonen, Veteranen, unter Schriftstücken voller Pulverfässer, Gewehrbezeichnungen und Fachbegriffen der Artillerie atmete er täglich jenen Hauch von Krieg und Tapferkeit ein, von Sieg und Triumph, der so recht der Hauch des Vaterlandes ist. In der freien Zeit, welche die Amtsgeschäfte ihm ließen, widmete er sich voll Eifer dem Studium des Vaterlandes, seiner Naturschätze, seiner Geschichte, Geographie, Literatur und seiner politischen Verhältnisse. Quaresma kannte die in Brasilien vorkommenden Arten von Mineralien, Pflanzen und Tieren, kannte die Exporterlöse des Goldes und der Diamanten aus Minas Gerais, kannte die Kriege gegen die Holländer, die Schlachten des Paraguaykrieges, die Quellen und Läufe aller Flüsse. Schroff und leidenschaftlich verteidigte er den Vorrang des Amazonas vor allen übrigen Strömen der Erde und scheute nicht vor dem Frevel zurück, den Nil um einige Kilometer zu amputieren, haderte er doch gerade mit diesem Rivalen »seines« Stromes am allermeisten. Wehe dem, der ihn in seiner Gegenwart erwähnte! Für ge15
wöhnlich ruhig und taktvoll, geriet der Major außer sich bis zur Unhöflichkeit, wenn jemand bezweifelte, daß der Amazonas den Nil an Länge übertreffe. Seit einem Jahr beschäftigte er sich mit dem Tupí-Guaraní. Jeden Morgen, bevor die »rosenfingrige Eos dem blonden Phöbus die Bahn eröffnet«, versenkte er sich bis zum Frühstück in Montoyas Artey diccionario de la lenguaguaraní o más bien tupí und studierte dieses Eingeborenenidiom voll Ausdauer und Leidenschaft. Als die kleinen Beamten, Schreiber und Bürogehilfen seiner Behörde davon erfuhren, verfielen sie darauf, man weiß nicht recht warum, ihn Ubirajara zu nennen. Eines Morgens sagte der Schreiber Azevedo, als er sich ins Anwesenheitsbuch eintrug, zerstreut und in scherzhaftem Ton zu einem Kollegen, ohne zu bemerken, wer hinter ihm stand: »Der Ubirajara läßt aber heute auf sich warten.« Quaresma war im Zeugamt wohl angesehen. Sein Alter, seine Bildung, die Bescheidenheit und Rechtschaffenheit seiner Lebensführung trugen ihm jedermanns Achtung ein. Als er merkte, daß dieser Spitzname indianischer Herkunft auf ihn gemünzt war, verlor er weder seine würdevolle Haltung noch brach er in Beschimpfungen und Beleidigungen aus. Er richtete sich vielmehr auf, rückte das pince-nez zurecht, hob den Zeigefinger und entgegnete: »Herr Azevedo, reden Sie nicht gedankenlos daher. Spotten Sie nicht über diejenigen, die im stillen für die Größe und Emanzipation des Vaterlandes wirken.« An diesem Tag war Quaresma wenig gesprächig. Zur Kaffeestunde, wenn die Kollegen ihre Schreibtische verließen, pflegte er ihnen die Früchte seiner Forschungen zur Kenntnis zu bringen, die natürlichen Reichtümer der Nation, die er in seinem Studier16
zimmer entdeckt hatte. Das eine Mal war es das Erdöl, das man, wie er gelesen hatte, soeben in Bahia fand; ein andermal war es ein neuentdeckter Gummibaum, der am Rio Pardo in Mato Grosso wuchs; ein weiteres Mal ein Gelehrter, eine internationale Koryphäe, dessen Urgroßvater Brasilianer war; und wenn es keine Entdeckung mitzuteilen gab, so widmete er sich der Landeskunde, machte Ausführungen über den Lauf der Flüsse, ihre schiffbaren Abschnitte, die geringfügigen Regulierungen, deren es bedürfe, um sie von der Mündung bis zur Quelle ungehindert schiffbar zu machen. Die Flüsse liebte er über die Maßen; die Gebirge waren ihm gleichgültig, vielleicht zu niedrig ... Die Kollegen hörten ihm respektvoll zu, und keiner außer besagtem Azevedo getraute sich in seiner Gegenwart den leisesten Einwand vorzubringen, einen Witz, ein Bonmot. Kaum aber hatte der Major ihnen den Rücken gekehrt, hielten sie sich für seine Belehrungen schadlos und zogen über ihn her: »Dieser Quaresma! Was für ein Besserwisser! Der hält uns wohl für Erstkläßler ... Herrje auch! Immer dieselbe Leier.« Dieserart brachte er sein Leben zu, zur Hälfte in seiner Dienststelle, wo man ihn nicht verstand, zur Hälfte daheim, wo er ebensowenig verstanden wurde. An dem Tag, als man ihn Ubirajara nannte, blieb er in sich gekehrt, wortkarg, stumm; erst kurz vor Feierabend brach er sein Schweigen, als einer der Kollegen, die sich im Nebenraum die Hände wuschen und sich zum Gehen anschickten, seufzte: »Ach, wenn ich doch einmal nach Europa fahren könnte!« Da hielt der Major nicht länger an sich, er sah auf, rückte den Kneifer zurecht und sprach in brüderlichem, werbendem Ton: »Undankbarer! Du hast ein so schönes, so reiches Vaterland und willst andere Länder besuchen! Ich für mein Teil, wenn ich eines Tages die Möglichkeit habe, werde das meinige 17
von einem Ende zum andern bereisen!« Der Angeredete hielt ihm entgegen, Brasilien habe nichts als Fieber und Moskitos zu bieten; doch das bestritt der Major mithilfe von Statistiken und bewies ihm sogar in aller Ausführlichkeit, das Klima des Amazonas sei eines der gesündesten der Erde. Es werde bloß von ein paar Liederjanen verleumdet, die krank von dort zurückkämen ... So war er, der Major Policarpo Quaresma, der soeben, wie jeden Nachmittag außer sonntags, um viertel nach vier zu Hause angelangt war, keine Minute früher oder später, pünktlich wie das Auftreten eines Sternbilds oder einer Sonnenfinsternis. Im übrigen war er ein Mensch wie alle anderen, diejenigen mit politischem oder geschäftlichem Ehrgeiz ausgenommen, denn davon hatte Quaresma nicht die leiseste Spur. Da saß er nun inmitten seiner Bibliothek im Schaukelstuhl, schlug ein Buch auf und begann zu lesen, während er seinen Gast erwartete. Es war der alte Rocha Pita, der enthusiastische, die Wortpracht eines Góngora aufbietende Verfasser der Geschichte des Portugiesischen Amerikas. Quaresma las den berühmten Satz: »Nirgends sonst wölbt sich heiterer der Himmel und steigt Aurora schöner empor; in keiner anderen Hemisphäre sendet die Sonne goldnere Strahlen aus ...« Doch er kam nicht weiter, es klopfte, und er öffnete selbst. »Bin ich spät dran, Major?« fragte der Besucher. »Nein, du kommst gerade recht.« Der Besucher war Herr Ricardo Anderherz, berühmt für sein Geschick als Modinha-Sänger und Gitarrenspieler. Anfangs beschränkte sich sein Ruf auf eine der kleinen Vorstädte, bei deren »Abendgesellschaften« er mit seiner Gitarre auftrat wie Paganini bei fürstlichen Festen mit seiner Geige; doch nach und nach ver18
breitete sich sein Ruf über alle Vorstädte, wuchs, festigte sich, bis er schließlich als ihr charakteristischer Ausdruck galt. Freilich sollte man in Ricardo keinen hergelaufenen Modinha-Sänger sehen, keinen bloßen Ständchenbringer. Nein, Ricardo Anderherz war ein Künstler, der in den besten Häusern von Meier, Piedade und Riachuelo verkehrte. Selten verging ein Abend, ohne daß man ihn einlud. Ob bei Oberleutnant Marques, bei Doktor Bulhões oder bei »Meister« Castro, seine Anwesenheit war stets erwünscht, erbeten, geschätzt. Doktor Bulhões’ Bewunderung für Ricardo war so außerordentlich, daß sie an Delirium grenzte, an Raserei, und wenn der Troubadour sang, so fiel er in Verzückung. »Ich liebe den Gesang«, sagte der Doktor einmal bei einer Zugfahrt zu einem Bekannten, »doch nur zwei Sänger erfüllen meine Ansprüche: Tamagno und Ricardo.« Besagter Doktor genoß in den Vorstädten hohes Ansehen, nicht als Arzt, da er nicht einmal Rizinusöl verschrieb, sondern als Fachmann für Telegraphengesetzgebung, denn er war Abteilungsleiter im Haupttelegraphenamt. So erfreute sich Ricardo Anderherz in der vornehmen Gesellschaft allgemeiner Wertschätzung. Es ist dies eine Gesellschaft ganz eigener Art, und vornehm ist sie nur in den Vorstädten; sie besteht überwiegend aus Beamten, kleinen Geschäftsleuten, Ärzten mit leidlich gehender Praxis, Leutnants verschiedener Truppenteile – eine Gesellschaftscreme, die auf den schlaglochübersäten Straßen sowie auf den Festen und Bällen jener abgelegenen Viertel stolzer auftritt als die Bourgeoisie in Petrópolis und Botafogo. Denn nur dort, auf den Bällen, Festen und Straßen der Vorstädte, pflegen Vertreter jener vornehmen Gesellschaft, wenn sie einen mehr oder weniger Bedürftigen erblicken, diesen von Kopf bis Fuß zu mustern und dann aufzufordern: »Schau mal bei 19
mir zu Hause vorbei, da kriegst du was zu essen.« Die Vorstadtaristokratie setzt nämlich ihren ganzen Stolz darein, alle Tage reichlich zu Mittag und zu Abend zu speisen, mit viel Bohnen, viel Dörrfleisch, viel Eintopf – das, so meint sie, sei der Prüfstein des Adels, der Vornehmheit, der Distinktion. Außerhalb der Vorstädte, in der Rua do Ouvidor, in den Theatern, auf den glanzvollen Festen im Zentrum schrumpft dieser Stand, verblaßt, verschwindet, so daß selbst seine Frauen und Töchter ihre Schönheit verlieren, mit der sie die schmucken Kavaliere auf den nicht enden wollenden Bällen in ihren eigenen Vierteln fast täglich betören. Ricardo, zum Dichter und Sänger dieser kuriosen Aristokratie geworden, wuchs über sie hinaus und faßte Fuß in der eigentlichen Stadt. Schon erreichte sein Ruf São Cristóvão, und in Kürze, so hoffte er, würde Botafogo ihn einladen, denn schon schrieben die Zeitungen über ihn und erörterten die Bedeutung seines Werkes und seiner poetischen Kunst ... Doch was hatte er dort zu suchen, im Haus eines Menschen von so hohen Zielen und so strengen Lebensgewohnheiten? Es war nicht schwer zu erraten. Gewiß kam er nicht, um dem Major bei seinen Studien zur Geologie, zur Dichtkunst, Mineralogie oder Geschichte Brasiliens behilflich zu sein. Wie die Nachbarschaft ganz richtig vermutete, kam Anderherz einzig und allein, um ihn zu lehren, wie man Modinhas singt und Gitarre spielt. Weiter nichts, und die Erklärung ist einfach. Seiner beherrschenden Leidenschaft folgend, hatte Quaresma lange überlegt, worin die Seele der Nation ihren poetischmusikalischen Ausdruck finde. Er schlug bei Historikern nach, bei Chronisten und Philosophen, und gewann die Überzeugung, sie verkörpere sich in der mit Gitarrenbegleitung vorgetragenen 20
Modinha. Von dieser Wahrheit durchdrungen zauderte er keinen Augenblick: Er setzte sich in den Kopf, dieses echt brasilianische Instrument zu erlernen und in die Geheimnisse der Modinha einzudringen. Da er selbst ohne alle Vorkenntnisse war, erkundigte er sich, wer in der Stadt der erste Instrumentalist und Sänger sei, und bei ihm nahm er Unterricht. Ihm schwebte vor, die Modinha in Regeln zu fassen und sie zu einem Kraftquell bodenständiger Kunst zu erheben. Zu einer solchen Unterrichtsstunde kam nun Ricardo, doch vorher sollte er auf ausdrücklichen Wunsch seines Schülers mit diesem speisen; und deshalb hatte sich der berühmte Barde früher als sonst im Haus des Unteramtmanns eingefunden. »Können Sie schon das Dis, Major?« fragte Ricardo gleich, als er Platz nahm. »Ja.« »Lassen Sie mal hören.« Unter diesen Worten begann er seine geheiligte Gitarre aus der Hülle zu nehmen; doch wurde er dabei unterbrochen. Dona Adelaide, Policarpos Schwester, trat ein und bat sie zu Tisch. Die Suppe werde schon kalt, sie sollten sich beeilen! »Herr Ricardo«, entschuldigte sich die alte Dame, »Sie müssen uns die Kargheit dieser Mahlzeit nachsehen. Ich wollte Hähnchen mit petits-pois kochen, doch Policarpo hat mich nicht gelassen. Petits-pois seien etwas Ausländisches, und ich solle statt dessen guando nehmen. Wo hat man denn schon so etwas gesehen, Hähnchen mit guando?« Anderherz gab zu bedenken, das sei vielleicht eine gute Idee, und etwas Neues auszuprobieren könne nicht schaden. »Es ist eine Manie Ihres Freundes, Herr Ricardo, daß er ausschließlich einheimische Sachen will, und wir müssen das Zeug 21
dann herunterschlucken, igitt!« »Aber Adelaide, was sind das bloß für Vorurteile! Unsere Heimat hat alle Klimazonen der Erde und kann alles erzeugen, was der anspruchsvollste Magen begehrt. Wer hier Probleme macht bist du!« »Nur ein Beispiel: unsere Butter wird im Handumdrehen ranzig.« »Ja, weil sie aus Milch gemacht wird; würde man sie aus Ölen herstellen, wie diese ausländischen Speisefette, würde sie vielleicht nicht verderben ... So ist das, Ricardo! Keiner will unsere heimischen Erzeugnisse ...« »So geht es meistens«, sagte Ricardo. »Aber das ist falsch ... Man tut nichts zum Schutz der nationalen Industrie ... Mein Standpunkt ist ein anderer: Wann immer es ein inländisches Erzeugnis gibt, verschmähe ich das ausländische. Meine Kleidung kommt aus heimischer Produktion, meine Schuhe ebenfalls, und so fort.« Sie setzten sich an den Tisch. Quaresma nahm eine kleine Kristallflasche und füllte zwei Gläschen mit parati. »Auch der gehört zum nationalen Programm«, bemerkte die Schwester lächelnd. »Selbstverständlich, und es ist ein großartiger Aperitif. Diese ganzen Wermutweine – abscheuliches Zeug! Das hier ist unverfälschter, guter Branntwein aus Zuckerrohr, nicht etwa aus Mais oder Kartoffeln ...« Behutsam und ehrerbietig nahm Ricardo den kleinen Kelch, führte ihn an die Lippen, und es war, als genösse er dies nationale Getränk mit allen Fasern seines Selbst. »Ein guter Tropfen, nicht wahr?« erkundigte sich der Major. »Köstlich«, sagte Ricardo und schnalzte mit den Lippen. 22
»Aus Angra dos Reis. Und jetzt wirst du sehen, was für großartige Weine wir in Rio Grande do Sul haben ... Was ist schon Burgunder, was Bordeaux! Die Weine aus unserem Süden sind tausendmal besser.« Unter derlei Reden nahm das Essen seinen Verlauf. Quaresma rühmte die inländischen Erzeugnisse: das Schmalz, den Speck und den Reis; seine Schwester brachte kleinere Einwände vor, und Ricardo warf gelegentlich ein: »Ja, ja, zweifellos«, ließ seine kleinen Augen rollen, runzelte die niedere Stirn, die unter dem spröden Haar verschwand, und suchte seiner schmalen, harten Physiognomie den ehrlichen Ausdruck kultivierten Behagens abzuringen. Nach beendeter Mahlzeit schauten sie sich im Garten um. Dieser war wundervoll, es gab dort keine einzige Blume. Denn als solche konnten die armseligen beijos-de-frade, palmas-de-santa-rita, die traurigen quaresmas, die trübsinnigen manacás nicht gelten, ebensowenig wie andere schöne Gewächse unserer Wiesen und Felder. Wie in allen Dingen, so war der Major auch beim Gärtnern von Grund auf national eingestellt. Nichts da von Rosen, Chrysanthemen, Magnolien – das waren exotische Blumen; unsere Heimat besaß andere, schönere, ausdrucksvollere, duftreichere, wie etwa die in seinem Garten. Ricardo stimmte wieder einmal zu, und so betraten sie das Bibliothekszimmer, während die Dämmerung leise, ganz allmählich und behutsam daherkam, als wolle die Sonne einen langen, sehnsuchtsvollen Abschied von der Erde nehmen und alle Dinge mit der wehmütigen Poesie ihres Entschwindens überziehen. Kaum waren die Gaslichter entzündet, griff der Meister zur Gitarre, spannte die Wirbel, spielte die Tonleiter, über sein Instrument gebeugt, als wolle er es küssen. Er probierte einige Akkorde; 23
dann wandte er sich seinem Jünger zu, der das seinige schon spielbereit hielt: »Dann lassen Sie mal hören. Die Tonleiter, Major.« Quaresma legte die Finger zurecht, stimmte die Gitarre und schlug die Töne an, doch hatte sein Spiel weder die Kraft noch den Schmelz, womit der Meister dieselbe Übung vollführte. »Schauen Sie, Major, das spielt man so.« Er zeigte ihm die Stellung des Instrumentes, zwischen Schoß und ausgestrecktem linken Arm, sanft gehalten vom rechten; dann fuhr er fort: »Major, die Gitarre ist das Instrument der Leidenschaft. Aus ihr spricht die menschliche Brust ... Man muß sie an sich drücken, aber mit Zartgefühl und Liebe, als wäre sie unsere Freundin, unsere Braut, denn sie soll sagen, was wir empfinden ...« Ging es um die Gitarre, wurde Ricardo redselig, voller Sentenzen, bebend vor Leidenschaft für das verkannte Instrument. Der Unterricht dauerte etwa fünfzig Minuten. Dann fühlte Quaresma sich müde und bat den Meister zu singen. Es war das erste Mal, daß er diese Bitte äußerte; wiewohl geschmeichelt, wollte es Ricardos professionelle Eitelkeit, daß er sich zierte. »Oh! Ich hab nichts Neues komponiert.« Dona Adelaide, die hinzugetreten war, störte das nicht: »Dann singen Sie eben eine Modinha von jemand anders!« »Oh, gnädige Frau, Gott bewahre! Ich singe nur meine eigenen. Der Bilac – vielleicht ist er Ihnen bekannt – wollte mir mal eine Modinha schreiben, aber ich bin darauf nicht eingegangen. ›Sie kennen die Gitarre nicht, Herr Bilac‹, habe ich ihm gesagt. Es reicht nicht, ein paar ordentliche Verse zu machen und damit etwas Hübsches zu sagen; es kommt darauf an, diejenigen Worte zu finden, nach denen die Gitarre verlangt. Würde ich zum Bei24
spiel in Der Fuß, einer Modinha von mir, wie zunächst beabsichtigt sagen: ›Dein Fuß ist ein duftendes Kleeblatt‹, so würde das nicht zur Gitarre passen. Wollen Sie mal hören?« Und er probierte mit leiser Stimme, vom Instrument begleitet: »Dein-Fuß-ist-ein-duf-ten-des-Klee-blatt.« »Sie sehen ja selbst, so geht es nicht. Jetzt passen Sie auf: DeinFuß-ist-ei-ne-Myr-rhen-blü-te. Das klingt schon anders, nicht wahr?« »Zweifellos«, sagte Dona Adelaide. »Singen Sie doch die!« bat der Major. »Nein, nein«, wehrte Ricardo ab. »Die ist schon alt, ich werde Das Versprechen singen, kennen Sie die?« Die Geschwister verneinten. »Oh, sie wird genausoviel gesungen wie Die Tauben von Raimundo Correia.« »Singen Sie, Herr Ricardo«, bat Dona Adelaide. Und Herr Anderherz stimmte noch einmal die Gitarre und sang mit leiser Stimme: Ich versichere beim allerheiligsten Sakrament Immer wirst du meine große Liebe sein ... »Sehen Sie selbst«, sagte er in einer Pause, »welcher Reichtum an Bildern!« Und er sang weiter. Die Fenster standen offen. Immer mehr Mädchen und Burschen drängten sich auf dem Gehsteig, um den Spielmann zu hören. Als Anderherz das Interesse der Straße bemerkte, begann er deutlicher zu artikulieren und gab sich einen Zug von Wildheit, den er für den Ausdruck von Ergriffenheit und Begeisterung hielt; am Ende seines Vortrags wurde draußen Bei25
fall geklatscht. Dann trat ein Mädchen ein, um mit der Schwester des Majors zu sprechen. »Setz dich, Ismênia«, lud diese sie ein. »Ich bleibe nicht lange.« Ricardo richtete sich auf dem Stuhl empor, schaute kurz das Mädchen an und dozierte weiter über die Modinha. Als er eine Pause machte, fragte Dona Adelaide das Mädchen: »Nun, wann ist deine Hochzeit?« Immer wieder dieselbe Frage. Dann pflegte Ismênia ihr trauriges, mit prächtigem braunen, goldschimmernden Haar bekränztes Köpfchen nach rechts zu neigen und zu antworten: »Ich weiß noch nicht ... Ende des Jahres ist Cavalcânti mit dem Studium fertig, dann legen wir das Datum fest.« Sie sagte es mit schleppender, beeindruckend träger Stimme. Sie war nicht häßlich, die Tochter des Generals aus Quaresmas Nachbarschaft. Sie wirkte sogar recht sympathisch mit ihren leicht unregelmäßigen Gesichtszügen, die einen Anflug von Gutmütigkeit hatten. Ihr Verlöbnis bestand schon seit Jahren; der Verlobte, besagter Cavalcânti, war angehender Dentist, ein normalerweise zweijähriges Studium, das sich bei ihm seit vier Jahren hinzog, und so mußte Ismênia auf die allbekannte Frage: »Nun, wann ist denn die Hochzeit?« immer die gleiche Antwort geben: »Ich weiß noch nicht... Cavalcânti ist nächstes Jahr mit dem Studium fertig und dann ...« Im Grunde machte sie sich deswegen keine Sorgen. Für sie war im Leben nur eines von Bedeutung: zu heiraten, doch eilig hatte sie es damit nicht, nichts in ihr drängte sie dazu. Einen Verlobten hatte sie schon ergattert, alles übrige war eine Frage der Zeit ... Nach ihrer Antwort auf Dona Adelaides Frage kam sie auf den 26
Grund ihres Besuchs zu sprechen. Im Namen ihres Vaters lud sie Ricardo Anderherz ein, noch an demselben Abend bei ihr daheim zu singen. »Vater mag Modinhas sehr ...«, sagte Dona Ismênia, »er ist aus dem Norden, und Sie wissen ja, Dona Adelaide, im Norden sind diese Lieder sehr beliebt. Bitte kommen Sie alle.« Also gingen sie hin.
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ii Radikale Reformen
Seit gut zehn Tagen hatte Major Quaresma das Haus nicht verlassen. In seinem gemütlichen, ruhigen Heim in São Cristóvão befaßte er sich mit Dingen, die den Bedürfnissen seines Geistes und Temperamentes aufs nützlichste und angenehmste entgegenkamen. Vormittags, nach Morgentoilette und Frühstück, las er auf dem Diwan im Wohnzimmer Zeitung. Es waren stets mehrere, die er las, denn er hoffte in der einen oder andern etwas Wissenswertes zu finden, einen Gedanken, der dem teuren Vaterland von Nutzen sein könnte. Seine bürokratischen Gewohnheiten ließen ihn zeitig speisen, und obschon er im Urlaub war, nahm er, um ihnen nicht untreu zu werden, weiterhin das Gabelfrühstück um halb zehn Uhr vormittags ein. Nach dem Essen erging er sich ein wenig im Garten mit seinen überwiegend einheimischen Obstbäumen, wovon die pitanga und der cambuim die sorgfältigste, von der Pomologie empfohlene Pflege genossen, als handelte es sich um Kirschen oder Feigen. Es waren lange philosophische Spaziergänge. Auch wenn der Major mit Anastácio, dem Schwarzen, der ihm seit dreißig Jahren diente, über alte Zeiten plauderte, über die Hochzeit der Prinzessinnen, den Konkurs des Bankhauses Souto und anderes mehr, so kreiste sein Denken doch unablässig um jene Fragen, die ihn letzthin beschäftigten. Nach längstens einer Stunde pflegte er 28
wieder in der Bibliothek zu sein und sich in die Zeitschriftenbände des Historisch-Geographischen Instituts zu vertiefen, in die Chronik des Fernão Cardim, in die Briefe des Paters Nóbrega, in die Jahrbücher der Nationalbibliothek, in die Schriften Karl von den Steinens, und machte sich Aufzeichnungen über Aufzeichnungen, die er in einer kleinen separaten Mappe verwahrte. Er studierte die Indianer. Das heißt, eigentlich studierte er sie nicht, denn dies hatte er schon längst getan, nicht nur ihre Sprache, die er beinahe beherrschte, sondern auch die ganz alltäglichen ethnographischen und anthropologischen Aspekte ihrer Kultur. Er rief sich gewisse Erkenntnisse seiner früheren Studien in Erinnerung, vertiefte sie, denn er hatte begonnen, ein System von Zeremonien und Festen zu erstellen, das, ausgehend von den Gebräuchen unserer Waldbewohner, alle gesellschaftlichen Beziehungen umfassen sollte. Um seine Beweggründe recht zu verstehen, muß man berücksichtigen, daß für den Major nach dreißig Jahren des patriotischen Meditierens, der Studien und Reflexionen nunmehr die Zeit der Ernte anbrach. Seine große Vaterlandsliebe und seine schon immer gehegte Überzeugung, daß Brasilien das erste Land der Welt sei, nahmen nun praktische Gestalt an und trieben ihn zu bedeutsamen Unternehmungen. Er fühlte in sich den gebieterischen Drang zu handeln, zu wirken, seine Ideen in die Tat umzusetzen. Es ging um kleine Verbesserungen, schlichte Anstöße, denn eigentlich, so meinte er, benötigte das Land unter dem Kreuz des Südens nichts weiter als Zeit, um England zu überflügeln. Es hatte alle Klimazonen, alle Früchte, alle Bodenschätze, alle Nutztiere, die besten Ackerböden, die tapfersten, gastfreundlichsten, klügsten und sanftesten Menschen der Welt – was brauchte es weiter? Nur Zeit und ein wenig mehr Ursprünglichkeit. Wenn 29
ihn also auch keine Zweifel mehr an der Zukunft Brasiliens plagten – die an der Urspünglichkeit seiner Sitten und Gebräuche waren keineswegs verflogen, vielmehr zur Gewißheit geworden, nachdem er bei einem Fest im Haus des Generals an der Lustbarkeit des tangolomango teilgenommen hatte. Der Besuch Ricardos mit seiner Gitarre beim wackeren Militär hatte nämlich bei diesem und seiner Familie eine Vorliebe für Festlichkeiten, Gesänge und Gebräuche von, wie man zu sagen pflegt, echt brasilianischer Art geweckt. Bei allen regte sich der Wunsch, nach der alten Weise des Volkes zu fühlen, zu träumen, zu dichten. Albernaz, der General, entsann sich, derlei Brauchtum als Kind erlebt zu haben; Dona Maricota, seine Frau, entsann sich sogar einiger Verse vom Dreikönigsfest; und ihre Kinder, fünf Töchter und ein Sohn, sahen in alledem einen willkommenen Anlaß zum Feiern und begrüßten daher den elterlichen Enthusiasmus. Die Modinha reichte ihnen nicht, ihnen stand der Sinn nach etwas Plebejischerem, Eigentümlicherem, Ausgefallenerem. Quaresma war entzückt, als Albernaz davon sprach, zu seinem Dienstjubiläum eine chegança nach nordbrasilianischem Brauch zu veranstalten. Im Hause des Generals hielt man es folgendermaßen: zu jedem Jahres- oder Geburtstag gab es ein Fest, also gut und gern dreißig pro Jahr, nicht gerechnet die Sonntage, Feierund Heiligentage, an denen man ebenfalls tanzte. Der Major hatte bislang wenig an traditionelle Feste und Tänze gedacht, erkannte indessen sogleich die hochpatriotische Bedeutung der Bestrebungen seines Nachbarn, die er begrüßte und förderte. Wer aber sollte die Proben leiten, wer kannte Musik und Verse? Jemandem fiel Tante Maria Rita ein, eine alte Negerin, die in Benfica wohnte, die frühere Wäscherin der Familie Albernaz. Dorthin machten sich beide, Albernaz und Quaresma, an einem 30
schönen, kristallklaren Aprilnachmittag frohen Mutes und zügigen Schrittes auf den Weg. Dem General haftete nichts Martialisches an, er trug nicht einmal eine Uniform, die er womöglich gar nicht besaß. In seiner ganzen militärischen Laufbahn hatte er nicht eine einzige Schlacht erlebt, nicht ein Kommando geführt, nichts getan, was mit seinem Beruf und seiner Ausbildung zum Artilleristen zu tun gehabt hätte. Immer war er Ordonnanzoffizier gewesen, Adjutant, Beauftragter für dieses und jenes, Rechnungsführer, Rentmeister, und er war Sekretär des Obersten Militärrats, als er im Generalsrang den Ruhestand erreichte. Seine Lebensgewohnheiten waren die eines guten Abteilungsleiters und bestimmten auch seine Denkungsart. Von Kriegen, Strategien, Taktik oder Militärgeschichte verstand er nichts; sein diesbezügliches Wissen beschränkte sich auf die Schlachten des Paraguaykrieges, für ihn der größte, der gewaltigste Krieg aller Zeiten. Der hochtrabende Titel General, der an die übermenschlichen Taten eines Cäsar, eines Turenne, eines Gustav Adolf gemahnte, paßte schlecht zu jenem friedfertigen, mittelmäßigen, gutmütigen Mann, dessen einzige Sorge darin bestand, seine fünf Töchter zu verheiraten und seinen Sohn mit Hilfe von »Beziehungen« durch die Prüfungen des Militärgymnasiums zu schleusen. Gleichwohl war es untunlich, an seinen kriegerischen Fähigkeiten zu zweifeln. Ihm selbst war seine allzu zivile Erscheinung wohl bewußt, und so gab er dann und wann eine Kriegsepisode, eine militärische Anekdote zum besten. »Es war in Lomas Valentinas ...«, pflegte er zu beginnnen, und wenn jemand fragte: »Waren Sie dabei?«, erwiderte er: »Das ging nicht; wegen einer Erkrankung mußte ich tags zuvor nach Brasilien zurück. Aber von Camisão und Venâncio weiß ich, daß es dort übel aussah.« 31
Die von Maultieren gezogene Trambahn, welche die beiden zur alten Maria Rita brachte, führte durch eines der interessantesten Viertel der Stadt. Sie passierte Pedregulho, ein ehemaliges Stadttor, einstmals Ausgangspunkt eines Saumpfads nach Minas Gerais, mit Abzweigen nach São Paulo und zur königlichen Fazenda Curato de Santa Cruz. Auf diesem Wege gelangten Gold und Diamanten aus Minas und noch jüngst die sogenannten Landesprodukte auf Maultierrücken nach Rio de Janeiro. Es war noch keine hundert Jahre her, daß die Kutschen seiner Majestät des Königs Dom João VI. auf dem Weg zum fernen Santa Cruz hier vorüberrollten, mit ihren vier weitständigen Rädern wie schwere Galeeren schaukelnd. Von dieser Szene darf man sich freilich keine allzu großartige Vorstellung machen; der Hof steckte in Geldnöten, und der König war ein Hallodri. Trotz der geflickten Uniformen der Soldaten, die auf ihren müden Kleppern eine traurige Figur abgaben, hatte der Zug sicherlich eine gewisse Würde, nicht um seiner selbst willen, sondern wegen der demütigenden Ehrerbietungen, zu denen jedermann seiner Allerkläglichsten Majestät gegenüber gezwungen war. In unserem Land ist alles unsolide, vorläufig, ohne Dauer. Nichts an diesem Ort gemahnte an die erwähnte Vergangenheit. Die alten Häuser mit ihren großen, beinahe quadratischen Fenstern und kleinen Scheiben waren deutlich jüngeren Datums, weniger als fünfzig Jahre alt. An alledem fuhren Quaresma und Albernaz ohne historische Reminiszenzen vorbei. Bevor sie die Endhaltestelle erreichten, kamen sie durch ein vom Pferdesport geprägtes Viertel, wo sich Stellmachereien und Sattlereien für Rennpferde drängten, mit riesigen Hufeisen, Pferdeköpfen, Ungetümen von Reitpeitschen 32
und anderen hippischen Emblemen an Torpfosten oder auf Türbalken, kurz, überall dort, wo solche Wahrzeichen passend und augenfällig waren. Das Haus der schwarzen Alten lag eine Strecke hinter dem Endpunkt der Trambahnlinie. Ihr Weg führte sie am LeopoldinaBahnhof vorbei; auf einem weiten Platz, der schwarz vor lauter Steinkohlenstaub dalag, stapelten sich Brennholzscheite und mit Holzkohle gefüllte Säcke zu gewaltiger Höhe; dahinter ein Eisenbahndepot und auf den Gleisen ein paar rangierende oder unter Dampf zischende Lokomotiven. Schließlich schlugen sie den Fahrweg ein, der zum Haus von Maria Rita führte und den das trockene Wetter benutzbar gemacht hatte. Vor ihnen erstreckte sich die unendliche Weite der Mangrovensümpfe, eine triste, häßliche Ebene, welche die Bucht von Guanabara umschließt und bis an den Fuß der blauen Berge von Petrópolis am fernen Horizont reicht. Schließlich gelangten sie zum Haus der Alten. Es lag ein wenig abseits vom Fahrweg, niedrig, weißgetüncht, mit schweren portugiesischen Ziegeln gedeckt. Rechter Hand sah man einen Abfallhaufen – einen sambaqui aus Küchenresten, Lumpen, Schalen von Meeresfrüchten, Geschirrscherben –, woran Archäologen eines fernen Tages ihre helle Freude haben könnten; links stand ein Papayabaum und dicht am Zaun auf derselben Seite ein Rautengewächs. Sie klopften an. Am offenen Fenster erschien eine junge Schwarze. »Sie wünschen?« Die beiden antworteten und kamen näher. Das Mädchen rief ins Haus hinein: »Großmutter, da sind zwei ›junge Männer‹, die mit Ihnen sprechen wollen. – Treten Sie nur ein«, wandte sie sich an den General und seinen Begleiter. Die Wohnstube war klein, ohne Zwischendecke unter dem 33
Ziegeldach. Alte Farbdrucke aus Almanachen, Heiligenbilder, Zeitungsausschnitte mit allen möglichen Illustrationen hingen kreuz und quer an den Wänden und bedeckten zwei Drittel ihrer Höhe. Neben einer Muttergottes von der Wallfahrtskirche Penha fand sich ein Porträt des Königs Vittorio Emanuele mit seinen gewaltigen, zerfransten Schnurrbartenden; ein verträumter Frauenkopf, ein rührseliger Farbdruck, schien einen Johannes den Täufer neben sich anzublicken. Über der Tür, die zu den hinteren Räumen führte, hing in einer Nische ein Öllämpchen, das eine Porzellanmadonna von der Unbefleckten Empfängnis mit Ruß überzog. Die Alte ließ nicht auf sich warten. Sie trug eine spitzenbesetzte Bluse, welche ihre fleischlose Brust nur wenig verhüllte, und darüber als Zierde eine doppelt geschlungene Glasperlenkette. Sie hinkte auf dem rechten Fuß, und um sich das Gehen zu erleichtern, stützte sie sich mit der Hand auf den Schenkel des anderen Beins. »Einen guten Tag, Tantchen Maria Rita«, sagte der General. Sie antwortete, offenbar jedoch ohne ihn wiederzuerkennen. Der General setzte hinzu: »Kennt Ihr mich nicht mehr? Ich bin der General ... das heißt, der Oberst Albernaz.« »Ah! Der Herr Obers! ... Wie lang das schon her is! Wie geht’s der Gnä Frau Maricota?« »Es geht ihr gut. Altes Tantchen, Ihr sollt uns ein paar Lieder beibringen.« »Wer bin ich denn schon, Herrchen!« »Nur zu, Tantchen Maria Rita ... Ihr habt doch ein gutes Gedächtnis ... kennt Ihr noch den Bumba-meu-boi?« »I wo, Herrchen, hab ich längst vergessen.« »Und den Boi Espácio?«. 34
»Altes Zeugs aus der Sklavenzeit – wofür will Herr Obers das denn wissen?« Beim Sprechen zog sie die Silben in die Länge und lächelte sanft, mit einem unbestimmten Blick. »Es ist für ein Fest ... was kennt Ihr sonst noch?« Die Enkelin, die bisher schweigend zugehört hatte, faßte Mut und sagte, indem sie die leuchtende Reihe ihrer makellosen Zähne zeigte: »Omchen erinnert sich nicht mehr.« Der General, den die Alte Oberst nannte, da sie ihn als Inhaber dieses Ranges kennengelernt hatte, ließ die Bemerkung des Mädchens unbeachtet und insistierte: »Was heißt hier vergessen! Irgendwas werdet Ihr doch noch wissen, nicht wahr, Tantchen?« »Kenn bloß noch das Lied vom Monster Tutú«, sagte die Alte. »Singt es doch mal!« »Herrchen kennt es doch selbst! Oder etwa nicht? Natürlich kennt er’s!« »Ich kenne es nicht, singt es nur. Wenn ich’s kennen würde, wäre ich nicht hier. Fragt doch meinen Freund, den Major Policarpo, ob ich’s kenne.« Quaresma nickte, und die alte Negerin, vielleicht voll wehmütiger Erinnerung an die Zeit, als sie Sklavin und Amme in irgendeinem großen, vornehmen und reichen Hause war, hob, wie um sich besser zu besinnen, den Kopf und sang: Nun komm hervor Tutú Hinterm Berg Murundú Und friß das kleine Herrchen Wenn’s nicht ißt den angú.
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»Achje!« sagte der General unwillig, »das istja bloß ein altes Kinderlied. Kennt Ihr denn nichts anderes?« »Nein, Herr. Hab alles vergessen.« Traurig gingen sie wieder. Quaresma war niedergeschlagen. Wieso erinnerte sich ein Volk nicht mehr an Traditionen, die vor dreißig Jahren noch lebten? Wie rasch verlor es seine Gesänge und Lustbarkeiten aus dem Gedächtnis! Das war durchaus ein Zeichen von Schwäche, von Unterlegenheit gegenüberjenen Völkern, die sie über die Jahrhunderte hartnäckig bewahren! Dagegen mußte man unbedingt etwas unternehmen, mußte die Traditionen zu Ehren bringen, um sie in den Gemütern und in den Bräuchen lebendig zu erhalten ... Albernaz war mißgestimmt. Es hatte ein so schöner Programmpunkt auf seinem Fest werden sollen, und nun fiel er ins Wasser. Und damit beinahe auch die Hoffnung, eine der vier ledigen Töchter zu verheiraten, jawohl vier, denn von den fünfen war eine schon unter Dach und Fach, Gott sei Dank! Die Dämmerung brach herein, und so waren sie, als sie zu Hause ankamen, in die Melancholie der Abendstunde getaucht. Die Enttäuschung währte tagelang. Cavalcânti, Ismênias Bräutigam, wußte von einem Literaten ganz in der Nähe, der ein unermüdlicher Bewahrer volkstümlicher brasilianischer Geschichten und Lieder sei. Sie gingen hin. Es war ein alter Poet, der in den siebziger Jahren in aller Munde gewesen war, ein liebenswürdiger, biederer Mann, der sich damit abfand, zu Lebzeiten als Dichter in Vergessenheit geraten zu sein, und sich nun der Aufgabe widmete, von niemand gelesene Sammlungen volkstümlicher Erzählungen, Lieder, Sprichwörter und Redensarten zu veröffentlichen. Er war hocherfreut, als er erfuhr, was seine Besucher zu ihm 36
führte. Quaresma war Feuer und Flamme, desgleichen Albernaz, denn in dem geplanten Fest mit der Folklore-Einlage sah er eine Möglichkeit, sein Haus in den Mittelpunkt zu rücken, Besucher anzulocken und ... seine Töchter an den Mann zu bringen. Das Zimmer, in dem sie empfangen wurden, war geräumig, doch so vollgestopft mit Tischen, Regalen voller Bücher, Aktenmappen, Dosen, daß man sich kaum darin bewegen konnte. Auf einer der Dosen stand zu lesen: Santa Ana dos Tocos; auf einer Mappe: São Bonifacio do Cabresto. »Meine Herren«, sagte der alte Dichter, »Sie wissenja gar nicht, wie reich unsere Volkspoesie ist! Welche Überraschungen sie bereit hält ...! Noch vor wenigen Tagen erhielt ich einen Brief aus Urubú-de-Baixo mit einem wunderschönen Lied. Interessiert es Sie?« Der Sammler wühlte in seinen Mappen und brachte schließlich einen Zettel zum Vorschein, den er vorlas: Wenn Gott mich Armen sähe Ließ’ er mich nicht allein: Gäb’ mir in ihrem Herzen Ein kleines Plätzelein Die Liebe zu ihr voll Schmerzen Will aus der Brust heraus Sie dringt mir aus den Augen Fliegt zu der Wolken Haus. »Ist das nicht schön? ... wunderschön! Wenn Sie nur erst den Affenzyklus kennenlernen, all die Geschichten, die sich das Volk über die Primaten erzählt ... Oh! Ein wahrhaft komisches Epos!« Quaresma betrachtete den alten Poeten mit der unverhofften 37
Genugtuung dessen, der mitten in der Wüste auf einen Seelenverwandten trifft; und Albernaz, für einen Augenblick von der Leidenschaft des Folklore-Forschers angesteckt, warf ihm einen für seine Verhältnisse ungewöhnlich verständnisinnigen Blick zu. Der alte Poet legte das Gedicht aus Urubú-de Baixo wieder in die Mappe zurück, um sogleich eine andere zu öffnen, aus der er verschiedene Blätter hervorzog, und wandte sich wieder an seine Besucher: »Jetzt lese ich Ihnen eine kleine Affengeschichte vor, eine von den vielen, die sich das Volk erzählt ... Ich allein habe schon über vierzig davon gesammelt, und mir schwebt vor, sie unter dem Titel Geschichten vom Meister Simon zu veröffentlichen.« Und ohne sich zu erkundigen, ob die beiden sie überhaupt hören wollten, begann er:
Der Affe vor dem Richter Eine Horde Affen tollte am Rande einer Grube ausgelassen umher und sprang von Baum zu Baum. Plötzlich erblickt einer von ihnen tief unten einen Jaguar, der dort hineingefallen war. Die Affen bekommen Mitleid und beschließen, ihn zu retten. Zu diesem Zwecke reißen sie Lianen aus, verknoten sie fest, schlagen den so geknüpften Strick um ihre Leiber und werfen das andere Ende dem Jaguar zu. Mit vereinten Kräften bringen sie es fertig, das Raubtier herauszuziehen, worauf sie sich augenblicklich losbinden und das Weite suchen. Einem von ihnen aber gelingt dies nicht schnell genug, und er wird vom Jaguar gepackt. »Gevatter Affe«, sagt dieser, »immer mit der Ruhe. Ich bin 38
hungrig, und Ihr werdet die Güte haben, Euch von mir fressen zu lassen.« Der Affe bettelt, fleht, weint; doch der Jaguar bleibt unerbittlich. Simon schlägt vor, den Streit vor den Richter zu bringen. So gehen sie zu ihm, der Affe die ganze Zeit in den Fängen des Jaguars. Richter unter den Tieren ist die Schildkröte, welche die Verhandlungen am Flußufer anberaumt, wo sie auf einem Steine Platz zu nehmen pflegt. Die beiden Kontrahenten finden sich ein, und der Affe legt seine Gründe dar. Die Schildkröte hört ihn an und befiehlt am Schluß: »Klatsch in die Pfoten!« Dem Affen, obwohl in den Klauen des Jaguars, gelingt es, in die Pfoten zu klatschen. Jetzt ist es am Jaguar, ebenfalls seine Gründe und Motive darzulegen. Wie seinem Vorredner, so befiehlt der Richter schließlich auch der Raubkatze: »Klatsch in die Pfoten!« Der Jaguar kann nicht anders als den Affen loslassen, der das Weite sucht, ebenso wie der Richter, der sich ins Wasser stürzt.
Nach der Lektüre wandte sich der alte Poet an die beiden: »Ist das nicht interessant? Hochinteressant! Unser Volk besitzt viel Phantasie, viel Erfindungskraft, echten Erzählstoff für interessante fabliaux ... Und wenn eines Tages ein genialer Schriftsteller kommt und das Ganze in eine unsterbliche Form gießt ... Ja, dann!« Indem er dies sagte, spielte ein zufriedenes Lächeln um seinen Mund, und zwei flüchtige Tränen schimmerten in seinen Augen. 39
»Lassen sie uns jetzt«, sprach er, als seine Rührung abgeklungen war, »zur Sache kommen. Der Boi Espácio und der Bumba-meu-boi ist noch ein bißchen viel für Ihre Zwecke ... Es empfiehlt sich, mit einfacheren Stücken anzufangen ... Da gibt es den Tangolomango, kennen Sie den?« »Nein«, sagten beide. »Eine lustige Sache. Besorgen Sie zehn Kinder, eine Greisenmaske, ausgefallene Kleidung für einen von Ihnen beiden, und ich fange mit den Proben an.« Der Tag der Aufführung kam. Das Haus des Generals war voller Gäste. Cavalcânti hatte sich eingefunden; er und seine Verlobte, die abseits in einer Fensternische standen, waren offenbar die einzigen, die an der Belustigung keinen Anteil nahmen. Er wortreich, mit viel Dramatik in seinen Blicken; sie ein wenig lethargisch, ab und zu mit einem dankbaren Blick auf ihren Verlobten. Quaresma spielte den Tangolomango, das heißt, er zog einen alten Gehrock des Generals an, setzte eine riesige Greisenmaske auf, stützte sich auf einen oben gekrümmten Spazierstock, der wie ein Hirtenstab aussah, und betrat das Zimmer. Die zehn Kinder sangen im Chor: Eine Mutter hatte der Kinder zehn Alle zehn in einer Scheun Bis daß der Tangolomango kam Da waren’s nur noch neun. Da trat der Major nach vorn, pochte mit dem Stab auf den Boden und machte hu, hu, hu! Die Kinder sprangen auseinander, doch schließlich bekam er eines von ihnen zu fassen und schleppte es fort. So spielte er die Rolle zum großen Ergötzen aller Anwesen40
den, bis er bei der fünften Strophe plötzlich keine Luft mehr bekam, ihm schwarz vor den Augen wurde und er zusammenbrach. Man nahm ihm die Maske ab, schüttelte ihn ein paarmal, dann kam er wieder zu sich. Dieser Vorfall indessen konnte ihm die Folklore durchaus nicht verleiden. Er kaufte Bücher, las alle einschlägigen Publikationen, doch nach einigen Wochen stellte sich Enttäuschung ein. Fast alle Gebräuche und Gesänge waren ausländischen Ursprungs; selbst der Tangolomango. Es wurde also notwendig, etwas Eigenes beizuschaffen, etwas Originelles, Ursprüngliches, eine Schöpfung unserer Heimaterde und unseres Himmels. Dieser Gedanke veranlaßte ihn, die Überlieferungen der Tupinambá zu studieren, und da ein Gedanke den andern nach sich zieht, weitete er bald sein Vorhaben aus, weshalb er sich anschickte, einen Verhaltenskodex aus Begrüßungsformeln, häuslichen Konventionen und Festlichkeiten aufzustellen, der auf den Bräuchen der Tupf beruhte. Seit zehn Tagen widmete er sich dieser mühseligen Aufgabe, als es eines Sonntags, er war mitten bei der Arbeit, bei ihm klopfte. Er öffnete, schüttelte aber seinen Besuchern keineswegs die Hand, sondern fing an zu weinen, zu schreien, sich die Haare zu raufen, als hätte er Weib und Kind verloren. Seine Schwester kam herbeigelaufen, Anastácio ebenfalls, und der Gevatter wie seine Tochter – denn sie waren die Besucher – blieben wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. »Aber was ist Ihnen, Herr Gevatter?« »Was ist dir, Policarpo?« »Aber lieber Herr Pate ...« Er weinte noch ein wenig. Dann trocknete er sich die Tränen ab und erläuterte mit der größten Unbefangenheit: 41
»Da haben wir’s. Ihr habt nicht die geringste Ahnung von den Bräuchen unserer Heimat. Ich soll Euch die Hand geben, nicht wahr? Das ist keine brasilianische Sitte. Unsere Art, Freunde zu begrüßen, besteht darin zu weinen; so haben es die Tupinambá gehalten.« Der Gevatter Vicente, seine Tochter und Dona Adelaide sahen sich an und wußten nicht, was sie sagen sollten. War er von allen guten Geistern verlassen? Was für ein Unfug! »Aber Herr Policarpo«, entgegnete ihm Herr Vicente, das mag ja sehr brasilianisch sein, aber es ist auch sehr traurig, lieber Gevatter.« »So ist es, Herr Pate«, fügte das Mädchen lebhaft hinzu, »es ist fast wie ein böses Omen ...« Der Gevatter war gebürtiger Italiener. Die Geschichte ihrer Beziehungen ist durchaus erzählenswert. Vor über zwanzig Jahren war er Straßenhändler gewesen und hatte auch Quaresmas Haushalt beliefert. Damals schon frönte der Major seinen patriotischen Ideen, verschmähte aber keineswegs eine Unterhaltung mit dem Hausierer, sah ihn sogar gern, wenn dieser schwitzend, gebeugt vom Gewicht der Körbe daherkam, mit dem hellweißen Gesicht und den geröteten Wangen des frisch eingewanderten Europäers. Eines schönen Tages, als Quaresma geistesabwesend über den Largo do Paço vor dem alten Kaiserpalast ging und an die architektonischen Herrlichkeiten von Meister Valentins Brunnen dachte, traf er wieder den Italiener. Er sprach ihn mit der ihm eigenen Schlichtheit des Gemütes an und bemerkte, daß den jungen Mann eine schwere Sorge drückte. Nicht nur, daß er hin und wieder unvermittelt kurze Schreie ausstieß, er preßte auch die Lippen zusammen, knirschte mit den Zähnen und ballte wütend die Fäuste. Auf Befragen erfuhr Quaresma, es gehe um Geldstrei42
tigkeiten mit einem Kollegen, den er umbringen wolle, denn seinetwegen habe er allen Kredit verloren und werde bald ins Elend absinken. In seinen Worten lag soviel Entschlossenheit und ein so befremdlicher Zug von Wildheit, daß der Major all seine Liebenswürdigkeit und Überredungskunst aufbot, um ihn von seinem Vorsatz abzubringen. Und dabei beließ er es nicht: er borgte ihm Geld. Vicente Coleoni eröffnete einen Kramladen, verdiente ein paar Tausend Réis, etablierte sich bald als Bauunternehmer, gelangte zu Reichtum, heiratete, wurde Vater der bereits erwähnten Tochter, die sein Wohltäter zum Taufbecken trug. Müßig zu erwähnen, daß diesem der Widerspruch zwischen seinem Handeln und seinen patriotischen Ideen völlig entging. Diese waren zwar noch nicht sehr ausgeprägt, wogten aber bereits in seinem Kopf als zarte Wünsche, Anwandlungen eines Jünglings von wenig mehr als zwanzig Jahren, Bestrebungen, die bald an Konsistenz gewannen und nur Jahre des Reifens benötigten, um sich in Handlungen umzusetzen. Es waren also sein Gevatter Vicente und seine Patentochter Olga, die er mit dem ureigenen Begrüßungszeremoniell der Guaitacá empfangen hatte, und wenn er die Tracht dieses so bemerkenswerten Volkes nicht angelegt hatte, so nicht etwa deshalb, weil er sie nicht besäße. Er hatte sie sogar griffbereit, doch war keine Zeit zum Umkleiden gewesen. »Sie lesen wohl viel, Herr Pate?« fragte ihn die Patentochter und blickte ihn mit ihren leuchtenden Augen an. Die beiden verband eine innige Neigung. Quaresma war ein wenig reserviert und genierte sich, seine Gefühle zu zeigen. Man konnte jedoch ahnen, daß die junge Frau in seinem Herzen den Platz der Kinder einnahm, die er nicht hatte noch jemals haben würde. Das lebhafte Mädchen, an freies, ungezwungenes Spre43
chen gewohnt, verbarg ihre Zuneigung um so weniger, als sie undeutlich spürte, daß etwas Höheres in ihm war, das Streben nach einem Ideal, das ausdauernde Verfolgen eines Traums, einer Idee, kurz, der Wunsch nach einem Flug zu erhabenen Geistessphären, den sie in der Welt, in der sie verkehrte, bei noch niemandem beobachtet hatte. Diese Bewunderung ging nicht auf ihre Erziehung zurück, die typisch für Mädchen aus ihren Kreisen gewesen war. Sie entsprang einem ganz persönlichen Hang, vielleicht ihren europäischen Wurzeln, die sie ein wenig verschieden von unseren brasilianischen Mädchen werden ließen. Mit einem leuchtenden, forschenden Blick also hatte sie Quaresma gefragt: »Nun, lieber Herr Pate, Sie lesen wohl viel?« »Ja, meine Tochter. Stell dir vor, ich sinne über große Projekte nach, Reformen, die Emanzipation eines Volkes.« Die beiden führten im Bücherzimmer ein Gespräch unter vier Augen, nachdem Vicente und Dona Adelaide in die hinteren Räume gegangen waren. Die Patentochter bemerkte, daß Quaresma anders war als sonst. Er redete jetzt mit soviel Selbstsicherheit, er, der früher so bescheiden gewesen war und nur zögerlich gesprochen hatte – Donnerwetter! Nein, das war nicht die Möglichkeit ... Doch wer weiß? Welch sonderbare Freude in seinen Augen strahlte – die Freude des glücklichen Erfinders, des Mathematikers, der ein Problem gelöst hat! »Sie werden sich doch nicht an irgendeiner Verschwörung beteiligen«, scherzte das Mädchen. »Mach Dir deswegen keine Sorgen. Es geht alles seinen normalen Gang, es bedarf keiner Gewalt ...« Unterdessen trat Ricardo Anderherz ein, angetan mit seinem 44
langen, geschwänzten Frack aus Serge, die in Wildleder gehüllte Gitarre unter dem Arm. »Darf ich bekannt machen?« fragte der Major. »Vom Namen her waren Sie mir schon bekannt, Herr Ricardo«, sagte Olga. Ricardo Anderherz strahlte vor freudiger Genugtuung. Seine unscheinbare Physiognomie straffte sich im Glänze seines zufriedenen Blickes; seine welke Haut, stumpf wie alter Marmor, glättete und verjüngte sich. Dieses Mädchen schien reich, war kultiviert und schön, und sie kannte ihn – welche Befriedigung! Er, der in Gesellschaft junger Frauen, welchen Standes auch immer, stets ein wenig unbeholfen und verlegen war, wurde lebhaft, seine Zunge löste sich, seine Stimme wurde geschmeidig und wohlklingend, und er begann in wohlgesetzten Worten zu sprechen. »Dann haben Sie also meine Verse gelesen, nicht wahr, meine Dame?« »Dieses Vergnügen hatte ich noch nicht, doch vor Monaten las ich einen Artikel über eines Ihrer Lieder.« »Im Tempo, nicht wahr?« »Richtig.« »Der war sehr ungerecht«, fuhr Ricardo fort. »Alle Kritiker halten sich bei der Frage der Metrik auf. Sie behaupten, ich schriebe gar keine richtigen Verse ... Die schreibe ich sehr wohl, aber eben Verse zur Gitarre. Gnädige Frau müssen wissen, daß vertonte Verse etwas anderes sind als gewöhnliche, nicht wahr? Kein Wunder also, daß meine Verse, die ja für die Gitarre gedichtet wurden, einer andern Metrik und einer andern Form gehorchen, meinen Sie nicht?« »Gewiß«, sprach das Mädchen. »Wenn ich Sie richtig verstehe, machen Sie Verse zur Musik und nicht Musik zu Versen.« 45
Dabei lächelte sie still und geheimnisvoll und ließ ihren leuchtenden Blick auf ihm ruhen, während Ricardo mit seinen lebhaften kleinen Hamsteraugen argwöhnisch ihre Hintergedanken herauszufinden suchte. Quaresma, der bis dahin geschwiegen hatte, nahm das Wort: »Olga, Ricardo ist Künstler ... Er ruht und rastet nicht, um die Gitarre zu Ehren zu bringen.« »Ich weiß, Herr Pate, ich weiß ...« »Bei uns, meine Dame«, sprach Anderherz, »nimmt man solche nationalen Bestrebungen nicht ernst, in Europa aber werden sie überall hochgehalten und gefördert ... Major, wie hieß noch dieser Dichter, der in volkstümlichem Französisch schrieb?« »Mistral«, sekundierte ihm Quaresma, »doch es ist kein volkstümliches Französisch, es ist Provenzalisch, eine eigene Sprache.« »Ja gewiß«, pflichtete Ricardo bei. »Also dieser Mistral, wird er etwa nicht geachtet und geschätzt? Ich tue das Gleiche für die Gitarre.« Triumphierend blickte er die Umstehenden einen nach dem andern an, und Olga sagte: »Setzen Sie Ihre Bemühungen fort, Herr Ricardo, denn sie sind lobenswert.« »Haben Sie vielen Dank. Seien Sie versichert, meine Dame, daß die Gitarre ein schönes Instrument mit einem hohen Schwierigkeitsgrad ist. Beispielsweise ...« »Ach was«, unterbrach ihn Quaresma abrupt. »Es gibt schwierigere.« »Das Klavier?« fragte Ricardo. »Der maracá, die inúbia.« »Kenne ich nicht.« »Du kennst sie nicht? Großartig! Das sind die brasilianischsten 46
Instrumente, die man sich denken kann, die einzigen wahrhaft national zu nennenden, die Instrumente unserer Vorfahren, jener tapferen Menschen, die um den Besitz dieses herrlichen Landes kämpften und immer noch kämpfen, der Indios!« »Indianerinstrumente, also nein«, sagte Ricardo. »Warum denn nicht? Nach Léry waren diese Instrumente äußerst wohlklingend und angenehm zu hören ... Und wenn die Indianerinstrumente so schlimm sind, dann taugt die Gitarre genausowenig – sie ist nämlich ein Instrument von Herumtreibern.« »Von Herumtreibern, Major? Sagen Sie doch nicht so etwas ...« Und die beiden führten ihren hitzigen Disput noch eine ganze Weile vor der jungen Frau fort, die verdutzt, verblüfft, ratlos war und keine Erklärung wußte für diese rasche Wesensveränderung ihres bis dahin so stillen und ruhigen Paten.
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iii Genelícios Nachricht
»Wann ist denn die Hochzeit, Ismênia«? »Im März. Cavalcânti hat schon sein Examen gemacht und ...« Endlich konnte die Generalstochter auf die Frage, die man ihr seit beinahe fünf Jahren immer wieder stellte, eine eindeutige Antwort geben. Der Verlobte hatte zu guter Letzt seine Ausbildung zum Dentisten beendet und beschlossen, in drei Monaten zu heiraten. In der Familie herrschte eitel Freude, und wie stets in solchen Fällen verlangte soviel Freude nach einem Ball, und so wurde für den Samstag nach dem offiziellen Heiratsantrag ein Fest anberaumt. Froher als die Braut waren ihre Schwestern Quinota, Zizí, Lalá und Viví. Nun würden sie bestimmt zum Zuge kommen, vom Heiratshindernis befreit, das ihre Schwester bisher für sie gewesen war. Seit beinahe fünf Jahren so gut wie verlobt, fühlte sich Ismênia schon halb verheiratet. Ebendies sowie ihr armseliges Gemütsleben hinderten sie nun, sich ein wenig mehr zu freuen. Sie blieb gleichmütig. Heiraten hatte für sie nichts mit Leidenschaft zu tun, mit Gefühlen oder Sinnlichkeit: es war ein Gedanke, eine bloße Idee. In ihrer geistigen Beschränktheit sah sie die Heiratsidee losgelöst von der Liebe, von der Sinnenfreude, von dieser oder jener Freiheit, von der Mutterschaft, sogar vom Verlobten. Von Kind 48
auf hörte sie ihre Mutter sagen: »Du mußt lernen, wie man dies oder das macht, wenn du erst verheiratet bist ...« Oder auch: »Du mußt Knöpfe annähen lernen, denn wenn Du heiratest ...« Jede Stunde und jede Minute hörte sie diesen Spruch: »Wenn du erst verheiratet bist«, und das gute Mädchen gewann allmählich die Überzeugung, ihre gesamte Existenz habe nur ein einziges Ziel, nämlich die Heirat. Bildung, Erheiterung des Gemüts, Freude, dies alles war überflüssig; das Leben erschöpfte sich darin, zu heiraten. Nicht nur daheim wurde sie mit dieser Erwartung konfrontiert. In der Schule, auf der Straße, bei Bekannten, überall sprach man von nichts anderem als vom Heiraten. Da hieß es: »Wissen Sie, Dona Maricota, die Lilí hat geheiratet, es war aber keine besondere Hochzeit, der Bräutigam ist wohl auch nichts Besonderes«, oder auch: »Die Zezé ist ganz wild darauf, unter die Haube zu kommen, aber sie ist ja so häßlich, du meine Güte ...!« Das Leben, die Welt, die ganze Vielfalt der Gefühle und Gedanken, ja selbst unser Recht auf Glück, all das schien diesem armen Köpfchen belanglos; das Heiraten aber stellte sie sich als so bedeutend vor, als eine so unabweisliche Pflicht, daß nicht zu heiraten, ledig zu bleiben, »Tante« gerufen zu werden ihr wie ein Vergehen vorkam, eine Schande. Von dürftigem Gemütsleben, außerstande, irgend etwas tief und stark zu empfinden, zu armselig für Leidenschaften oder starke Affekte, wie sie war, hatte das »Heiraten« sich in ihrem Denken mit der Hartnäckigkeit einer fixen Idee festgesetzt. Sie war nicht häßlich: Brünett, mit ihrem verlegenen Gesichtsausdruck, mit ihrer unschönen, doch niedlichen Nase und ihrer passiven Gutmütigkeit, ihrer Indolenz des Leibes, der Gedanken und Sinne – konnte sie, nicht zu klein und nicht zu ma49
ger, sogar als Vertreterin jenes Typus gelten, den verliebte Jünglinge »süß« zu nennen pflegen. Schön an ihr aber war vor allem das Haar: volles, kastanienbraunes Haar, goldschimmernd, seidenweich, eine Augenweide. Seit dem 19. Lebensjahr ging sie mit Cavalcânti, und die Leichtigkeit, womit der künftige Dentist sie eroberte, rührte gewiß nicht zuletzt aus ihrer Willensschwäche und aus ihrer Sorge, keinen andern mehr zu finden. Der Vater hatte zunächst das Gesicht verzogen. Über die Liebschaften seiner Töchter hielt er sich stets auf dem laufenden: »Sag mir immer, Maricota, was das für Leute sind. Augen auf! Besser vorbeugen als heilen ... Mit einem Mal kommt da so ein Taugenichts und dann ...« Als er erfuhr, Ismênias Freier sei Dentist, war er wenig erbaut. Was ist schon ein Dentist? sprach er bei sich selbst. »Ein halber Akademiker, eine Art Bader«. Ein Offizier wäre ihm lieber gewesen, das bedeutete später Witwenrente und halben Sold, doch seine Frau machte ihm klar, daß Dentisten gut verdienten; also stimmte er zu. So begann Cavalcânti im Haus des Generals als inoffizieller Verlobter ein und aus zu gehen, das heißt als jemand, der noch nicht um die Hand der Tochter angehalten hat und noch kein Bräutigam ist. Am Ende des ersten Jahres, als der General vernahm, der künftige Schwiegersohn habe Probleme mit dem Studienabschluß, leistete er ihm großzügige Hilfe, bezahlte ihm Studiengebühren, Bücher und anderes mehr. Nicht selten kam Dona Maricota nach einer langen Unterhaltung mit ihrer Tochter zu ihrem Mann und sagte: »Chico, gib mir zwanzig mil-réis, Cavalcânti braucht ein Anatomiebuch«. Der General war offenherzig, gütig und freigebig; von seinen martialischen Allüren abgesehen hatte er nicht den geringsten Charakterfehler. Was seine Töchter betraf, so machte ihn die 50
Notwendigkeit, sie zu verheiraten, noch gütiger. Er pflegte also seine Frau anzuhören, sich am Kopf zu kratzen und ihr das Geld zu geben; und er lud den künftigen Schwiegersohn sogar zum täglichen Abendessen ein, um ihm Unkosten zu ersparen. So hatte das Verlöbnis seinen Lauf genommen. »Endlich«, sagte Albernaz zu seiner Frau am Abend des Heiratsantrags, als sich beide zurückgezogen hatten, »hat die Warterei ein Ende.« »Was für ein Glück«, entgegnete Dona Maricota, »daß wir diesen Wechsel nun einlösen können.« Die gedämpfte Genugtuung, die der General an den Tag legte, war freilich nur gespielt; in Wirklichkeit jubelte er. Bei der erstbesten Gelegenheit, wenn er auf der Straße einen Bekannten traf, sagte er: »Hol der Teufel dieses Leben! Stell dir vor, Castro, jetzt muß ich zu allem Überfluß auch noch eine Tochter verheiraten!« Woraufhin Castro fragte: »Welche?« »Ismênia, die zweite«, antwortete Albernaz und fügte sogleich hinzu: »Du hast es gut: du hast nur Söhne.« »Ja, mein Freund«, erwiderte der andere schelmisch, »ich kenne das Rezept. Warum hast Du es nicht genauso gemacht?« Sie verabschiedeten sich, und der alte Albernaz eilte in die Kaufhäuser, in die Porzellangeschäfte, kaufte Teller, Kompottschalen, eine Drehplatte, denn es sollte ein prächtiges Fest werden, mit einem Hauch von Reichtum und Üppigkeit, Ausdruck seiner Zufriedenheit und Freude. Schon am frühen Morgen des Verlobungstages sang Dona Maricota, was sie sehr selten tat. Bei besonders freudigen Anlässen aber trällerte sie eine alte Arie, eine Weise aus ihrer Mädchenzeit, woraufhin ihre Töchter, die darin ein zuverlässiges Freudenzeichen sahen, herbeieilten und sie um dieses oder jenes baten. 51
Ungemein fleißig und emsig, wie sie war, konnte man sich keine sparsamere und besser wirtschaftende Hausfrau denken, keine, die aus dem Geld des Ehemanns und der Arbeit der Dienstmädchen größeren Nutzen gezogen hätte. Kaum aufgewacht, brachte sie heute alle auf Trab, Dienstmädchen wie Töchter. Viví und Quinota kümmerten sich um die Süßspeisen, Lalá und Zizí halfen den Dienstmädchen beim Aufräumen der Wohn- und Schlafzimmer, während die Mutter selbst und Ismênia die Tafel deckten, geschmackvoll und glänzend. Den ganzen Tag über würde sie derart wohlgeschmückt dastehen. Dona Maricota freute sich sehr, denn für sie war es unausdenkbar, daß eine Frau unverheiratet blieb. Nicht nur der damit verbundenen Gefahren und des mangelnden Beistands wegen, es erschien ihr ganz einfach als häßlich und entehrend für die ganze Familie. Ihre Genugtuung verdankte sich nicht nur der bloßen Einlösung eines Wechsels, wie sie sich ausdrückte, sondern entsprang den tieferen Gefühlen der Mütterlichkeit und des Familiensinns. Beim Tischdecken war sie freudig erregt, Ismênia aber blieb kühl und teilnahmslos. »Aber Tochter«, sagte sie, »man könnte ja denken, nicht du wärst die Braut, sondern jemand anders! Was machst Du denn für ein Gesicht! Du schaust ja drein wie bestellt und nicht abgeholt.« »Mama, was soll ich denn tun?« »Man soll ja nicht immerzu lachen und herumalbern wie eine Jahrmarktschöne, aber so, wie Du es machst, geht es nun auch wieder nicht! So eine Braut habe ich noch nicht gesehen.« Eine Stunde lang bemühte sich das Mädchen, fröhlich zu wirken, doch es dauerte nicht lange, bis ihre Gemütsarmut, ihre Unfähigkeit zu Gefühlsregungen wieder Oberhand gewann und sie zurückfiel in ihre krankhafte Mattigkeit. 52
Es kamen viele Gäste. Der Einladung des Generals folgten, abgesehen von den Freundinnen der Töchter und ihren achtbaren Müttern, auch Konteradmiral Caldas, Doktor Florêncio, seines Zeichens Wasserbauingenieur, der Major ehrenhalber Inocêncio Bustamante, ein gewisser Bastos, Buchhalter und überdies Verwandter von Dona Maricota, sowie weitere wichtige Personen. Ricardo war nicht eingeladen, denn der General befürchtete, die öffentliche Meinung könne seine Anwesenheit bei einem seriösen Familienfest übelnehmen; Quaresma hingegen war eingeladen, kam aber nicht, und Cavalcânti hatte mit seinen künftigen Schwiegereltern bereits vorher gespeist. Um sechs Uhr war das Haus schon voll. Die Mädchen umringten Ismênia, beglückwünschten sie, nicht ohne einen Anflug von Neid im Blick. Die dunkelblonde, hochgewachsene Irene riet: »Ich an Deiner Stelle würde alles im ›Parque‹ kaufen.« Es ging um die Aussteuer. Sie alle, wiewohl ledig, gaben gute Ratschläge, kannten die wohlfeilen Geschäfte, wußten, welche Dinge wichtig und welche entbehrlich waren. Sie waren auf dem laufenden. Armanda sprach mit verführerischem Schmelz in den Augen: »Gestern habe ich in der Rua da Constituição ein Doppelschlafzimmer gesehen, wunderschön, willst du dir das nicht anschauen, Ismênia? Ich glaube, es ist nicht teuer.« Ismênia war die am wenigsten Begeisterte; kaum daß sie auf Fragen antwortete, und wenn, dann einsilbig. Einen Augenblick lang aber lächelte sie beinahe froh und versonnen. Estefânia, ein Fräulein Doktor, Absolventin der Lehrerbildungsanstalt, den mit Edelsteinen gespickten Akademikerring am Finger, näherte sich mit ihrem fleischigen Mund ihrem Ohr und flüsterte ihr etwas zu. 53
Dann, als wollte sie das Gesagte bestätigen, weitete sie ihre spitzbübischen, feurigen Augen und sagte laut: »Warten wir’s ab ... alle Frauen leugnen das ... ich weiß Bescheid ...« Damit reagierte sie auf die überaus knappen Worte -»Nein, so was!« –, mit denen Ismênia ihre vertrauliche Mitteilung kommentiert hatte. Sie alle blickten, während sie sich unterhielten, zum Klavier hinüber. Die jungen Männer und einige der Älteren umringten Cavalcânti, der sich in seinem großen, schwarzen Frack höchst feierlich ausnahm. »Nun ist es geschafft, Doktor, nicht wahr?« begrüßte ihn jemand. »Gewiß. Ich habe aber auch gearbeitet. Sie machen sich ja keine Vorstellung von den Schwierigkeiten, den Stolpersteinen – ich habe gekämpft wie ein Löwe! ...« »Kennen Sie den Chavantes?«, fragte ein anderer. »Sicher. Ein Herumtreiber, ein Taugenichts ...« »War er ihr Kommilitone?« »Ja, das heißt, er studiert Medizin. Wir haben uns im selben Jahr immatrikuliert.« Cavalcânti hatte kaum Zeit gehabt, dem einen zu antworten, als er sich schon genötigt sah, einem andern zuzuhören. »Es ist sicher wunderbar, Akademiker zu sein. Hätte ich auf meinen Vater gehört, müßte ich mir jetzt nicht den Kopf über ›Soll‹ und ›Haben‹ zerbrechen. Jetzt ist das Kind in den Brunnen gefallen.« »Heutzutage ist das Hochschulstudium doch nichts mehr wert, mein lieber Herr«, bemerkte Cavalcânti bescheiden. »Mit diesen freien Akademien ... Stellen Sie sich vor, man spricht schon von 54
einer Freien Akademie für Zahnheilkunde! Das ist doch der Gipfel! Ein schwieriges und teures Studium, das Leichen, Apparate, gute Professoren erfordert, wie soll das von privater Hand finanziert werden? Wenn es schon der Regierung schwerfällt ...« »Nun, Herr Doktor«, sprach ihn ein anderer an, »ich beglückwünsche Sie. Und ich sage Ihnen, was ich meinem Neffen gesagt habe, als er sein Examen machte: Nun bohr mal schön!« »Ah, Ihr Neffe ist Akademiker?«, erkundigte sich Caval-cänti zuvorkommend. »Diplom-Ingenieur. Er arbeitet in Maranhão, beim Bau der Eisenbahn nach Caxias.« »Eine schöne Laufbahn.« In den Gesprächspausen schauten sie alle auf den frischgebackenen Dentisten, als wäre er ein übernatürliches Wesen. Für all diese Leute war Cavalcânti kein gewöhnlicher Mensch mehr, er war Mensch und zugleich etwas Heiliges, Höheres; und zwar nicht etwa deshalb, weil sie zu dem Erscheinungsbild, das er ihnen bot, alles hinzudachten, was er wissen oder gelernt haben mochte, das war es nicht. Blieb er äußerlich ein gewöhnlicher, alltäglicher Mensch, so hatte sich in Wahrheit seine Substanz verändert, er war ein anderer geworden als sie, gesalbt mit etwas Überirdischem, beinahe Göttlichem. Während sich die weniger wichtigen Gäste bei Cavalcânti im Besucherzimmer aufhielten, war der General im Eßzimmer geblieben, wo er rauchte, umringt von den Älteren und Höherbetitelten, Konteradmiral Caldas, Major Inocêncio, Doktor Florêncio und Feuerwehrhauptmann Sigismundo. Inocêncio nutzte die Gelegenheit, um Caldas über ein Detail der Militärgesetzgebung zu befragen. Der Konteradmiral war ein hochinteressanter Mensch und spielte bei der Marine in etwa die gleiche Rolle wie 55
Albernaz beim Heer. Nie war er an Bord eines Schiffes gegangen, es sei denn im Paraguaykrieg, und auch da nur für ganz kurze Zeit. Ihn traf jedoch keine Schuld. Kaum Oberleutnant zur See geworden, begann Caldas immer ungeselliger zu leben, die Kameradenrunde zu meiden, so daß er, ohne Gönner und ohne Freunde höheren Ortes, bei Beförderungen oft übergangen wurde und kein Schiffskommando erhielt. Es hat eine merkwürdige Bewandtnis mit der Personalpolitik beim Militär: Mit Kommandos wird man nach seinen Verdiensten betraut, doch man bekommt sie nur durch Protektion. Eines Tages, als er schon Kapitänleutnant war, gab man ihm ein Schiff im Staate Mato Grosso und ernannte ihn zum Kommandanten des Panzerkreuzers »Lima Barros«. Also verfügte er sich dorthin, doch als er sich beim Flottillenkommandanten meldete, wurde ihm eröffnet, auf dem Rio Paraguay gebe es kein Schiff dieses Namens. Er erkundigte sich da und dort, und man äußerte die Vermutung, jene »Lima Barros« könne zum Geschwader auf dem Oberlauf des Uruguay gehören. Er wandte sich erneut an den Flotillenkommandanten. »An Ihrer Stelle«, riet ihm der Vorgesetzte, »würde ich mich sogleich zur Flottille von Rio Grande do Sul begeben.« So sah man ihn zum Oberlauf des Uruguay aufbrechen, wo er schließlich nach einer mühseligen, strapaziösen Reise ankam. Auch dort aber gab es keine »Lima Barros«. Wo war sie dann? Er wollte nach Rio telegraphieren, befürchtete aber eine Rüge, um so mehr, als er nicht eben im Geruch der Heiligkeit stand. Also blieb er einen Monat lang in Itaqui, zaudernd, ohne Sold und ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte. Eines Tages kam ihm der Gedanke, sein Schiff werde sich wohl auf dem Amazonas befinden. Er schiffte sich nach dem hohen Norden ein, und als er 56
in Rio Zwischenhalt machte, meldete er sich, wie üblich, bei der Marineführung. Er wurde festgenommen und einer Untersuchungskommission überantwortet. Die »Lima Barros« war im Paraguay-Krieg untergegangen. Trotz seines Freispruchs erlangte er nie mehr das Wohlwollen der Minister und Vorgesetzten. Jedermann sah in ihm einen Tölpel, einen Operettenkapitän, der seinem Schiff nach allen vier Winden hinterhergereist war. Man ließ ihn »schmoren«, wie es im Militärjargon heißt, und er brauchte beinahe vierzig Jahre, um vom Seekadetten zum Fregattenkapitän aufzusteigen. Zum darauffolgenden Dienstgrad befördert und im nächsthöheren pensioniert, entlud sich all seine Verbitterung gegen die Marine in einem ausführlichen Studium von Gesetzen, Dekreten, Erlassen, Verordnungen, Gutachten über die Beförderung von Offizieren. Er kaufte juristische Nachschlagewerke, besorgte sich Gesetzessammlungen und Kommentare und stopfte sein Haus voll mit all dieser öden, langweiligen Verwaltungsprosa. Auf die Marineminister ging ein Hagel von Gesuchen nieder, worin er die Überprüfung seiner Pensionierung beantragte. Monatelang durchliefen sie den endlosen Rosenkranz von Abteilungen und wurden regelmäßig nach Konsultierung des Marinerates oder des Obersten Militärgerichtshofes abschlägig beschieden. In jüngster Zeit hatte er die Sache einem beim Bundesgericht zugelassenen Anwalt übertragen, und so sah man ihn von Kanzlei zu Kanzlei wandern, in beständiger Tuchfühlung mit Gerichtsdienern, Schreibern, Richtern und Advokaten – mit diesem greulichen Paragraphengesindel, dem alles Elend anzuhaften scheint, das ihm unter die Hände oder unter die Augen kommt. Inocêncio Bustamante war mit der gleichen Prozessierwut geschlagen. Mürrisch, eigensinnig, aber auch diensteifrig und un57
terwürfig, ließ er als ehemaliger Freiwilliger des Vaterlandes im Rang eines Majors keinen Tag verstreichen, ohne zum Heereshauptquartier zu laufen, um sich dort nach dem Stand seiner diversen Anträge zu erkundigen. In einem ersuchte er um Aufnahme ins Invalidenheim, in einem andern um den Rang eines Oberstleutnants, in einem dritten um irgendeine Ehrenmedaille, und wenn es gerade nicht um seine eigenen Anträge ging, erkundigte er sich nach denen anderer. Er scheute nicht einmal davor zurück, sich um den Antrag eines Kauzes zu kümmern, der als Oberleutnant ehrenhalber der Armee wie auch der Nationalgarde das Majorspatent beantragte, da zwei plus zwei Litzen vier ergäben – also Major. Da Bustamante von den akribischen Studien des Admirals wußte, suchte er seinen Rat. »So auf Anhieb kann ich Ihnen das nicht sagen. Die Armee ist nicht mein Fach, aber ich werde der Sache nachgehen. Das Ganze ist aber auch zu vertrackt.« Und damit strich sich Bustamante über die weißen Koteletten, die ihm nicht nur etwas von einem Kommodore verliehen, sondern auch von einem portugiesischen Bauern, denn er hatte einen starken lusitanischen Einschlag. »Oh, zu meiner Zeit«, bemerkte Albernaz, »welch eine Ordnung, welch eine Disziplin!« »Die Menschen von heute taugen nichts mehr«, sagte Bustamante. Da wagte sich auch Sigismundo mit seiner Meinung hervor: »Ich bin zwar kein Militär, aber ...« »Wieso denn nicht?«, sprach Albernaz mit Nachdruck. »Sie, meine Herren, sind die wahren Militärs: Sie stehen immer vor dem Feind, meinen Sie nicht, Caldas?« 58
»Gewiß, gewiß«, sagte der Admiral und strich sich die Koteletten. »Will sagen«, fuhr Sigismundo fort, »obwohl ich kein Militär bin, getraue ich mich zu behaupten, daß es um unsere Streitkräfte schlecht bestellt ist. Wo haben wir heute einen Porto Alegre, einen Caxias?« »Die gibt es nicht mehr, mein Lieber«, bestätigte Doktor Florêncio mit dünner Stimme. »Ich weiß nicht wieso, dabei geht doch heute alles so wissenschaftlich zu.« Caldas hatte es gesagt, mit bemühter Ironie. Albernaz empörte und erregte sich: »Diese geschniegelten Jünglinge mit ihren Gleichungen voller xx und yy hätte ich gern in Curupaití gesehen, nicht wahr Caldas, nicht wahr Inocêncio?« Doktor Florêncio war der einzige Zivilist in der Runde. Ingenieur und Beamter, hatte er aufgrund der Jahre und des ruhigen Lebens alles Wissen eingebüßt, das er beim Abschluß seines Studiums gehabt haben mochte, und war mehr Aufseher beim Rohrleitungsbau als ein wirklicher Ingenieur. Er wohnte unweit von Albernaz und kam fast jeden Nachmittag, um mit ihm Karten zu spielen. Doktor Florêncio fragte: »Sie waren dabei, nicht wahr, General?« Der General zauderte nicht, verhaspelte sich nicht, kam nicht ins Stottern und antwortete mit der größten Selbstverständlichkeit: »Ich war nicht dabei. Ich war erkrankt und kehrte unmittelbar vor dem Gefecht nach Brasilien zurück. Aber viele meiner Freunde waren dort: Camisão, Venâncio ...« Alle schwiegen und blickten in das hereinbrechende Dunkel. 59
Vom Fenster des Raumes, wo sie standen, war keiner der Hügel zu erkennen, da der Horizont begrenzt war durch die Höfe der Nachbarhäuser mit ihren Wäscheleinen, ihren Rauchabzügen und piependen Küken. Ein blattloser Tamarindenbaum erinnerte traurig an die freie Natur, an den grenzenlosen Blick in die Ferne. Die Sonne war schon untergegangen, und mit schwachem Schein leuchteten die Gaslichter und Petroleumlampen nacheinander hinter den Scheiben auf. Bustamante brach das Schweigen: »Dieses Land taugt gar nichts mehr. Stellt euch vor, daß mein Antrag auf Einstufung im Range eines Oberstleutnants seit mindestens sechs Monaten im Ministerium schmort.« »Was für ein Schlendrian«, riefen alle aus. Es war Nacht. Dona Maricota kam zu ihnen, überaus geschäftig, überaus emsig und mit einem frohen Gesichtsausdruck. »Ist das hier etwa eine Betstunde?« und setzte gleich hinzu: »Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich Chico einen Augenblick beiseite nehme?« Albernaz verließ die Runde der Freunde und ging mit seiner Frau in eine Zimmerecke, wo sie ihm etwas zuflüsterte. Dann kehrte er zu seinen Freunden zurück und rief ihnen auf halbem Wege zu: »Wenn ihr nicht tanzt, seid ihr selber schuld. Hindere ich etwa jemanden daran?« Dona Maricota näherte sich den Freunden ihres Gatten und ergänzte: »Sie wissen ja, wenn man nicht ein bißchen nachhilft, macht keiner Musik und fordert keiner auf. Und dabei sind doch so viele Mädchen da, so viele junge Männer, schade.« »Na gut, ich gehe rüber«, sprach Albernaz. Er verließ die Freunde und ging zum Besucherzimmer, um das 60
Tanzvergnügen in Schwung zu bringen. »Auf Mädchen! Nun, was ist denn los? Zizí, auf zum Walzer!« Und er höchstselbst brachte die Paare zusammen: »Nicht doch, General, ich habe schon einen Partner«, sagte ein Mädchen. »Macht nichts«, erwiderte er, »tanz mit Raimundinho, der andere kann warten.« Nachdem er die Gäste zum Tanzen gebracht hatte, kehrte er zur Freundesrunde zurück, schwitzend, doch mit sich zufrieden. »Familie! Du meine Güte! Man kommt sich ja närrisch vor«, sagte er. »Da hast Du’s richtig gemacht, Caldas, du hast nicht geheiratet.« »Eigentlich habe ich aber mehr Kinder als du. Allein acht Neffen und Nichten, und dann noch die Vettern und Kusinen.« »Spielen wir Karten«, forderte Albernaz sie auf. »Wir sind zu fünft, fürs solo einer zuviel.« »Keineswegs, ich spiele nicht mit«, sagte Bustamante. »Dann spielen wir also zu viert, und einer schaut zu?« fragte Albernaz. Jemand brachte die Karten und auch ein dreifüßiges Tischchen. Die Spieler setzten sich und losten ums Geben. Florêncio gab als erster. Albernaz schien mit ganzer Seele beim Spiel zu sein: er hielt den Kopf zurückgeneigt, und seine Augen zeugten von angestrengtem Nachdenken. Caldas, den Oberkörper aufgerichtet, spielte mit der Gelassenheit eines Lord-Admirals bei einer Partie Whist. Sigismundo spielte konzentriert, eine Zigarre im Mundwinkel und den Kopf seitwärts geneigt, um dem Rauch zu entgehen. Bustamante war in den Saal gegangen, um den tanzenden Paaren zuzuschauen. Die Kartenspieler hatten die Partie begonnen, als Quinota, eine 61
der Töchter des Generals, durch den Raum kam, um etwas Wasser zu trinken. Caldas, indem er sich an den Koteletten kratzte, fragte das Mädchen: »Na, Quinota, wo ist denn Genelício?« Kokett warf sie den Kopf zur Seite, schnalzte mit der Zunge und antwortete mit gespieltem Mißmut: »Was weiß ich? Soll ich ihm etwa nachlaufen?« »Nun regen Sie sich doch nicht auf, Dona Quinota«, beschwichtigte Caldas, »es war ja nur eine Frage.« »Ich passe.« Es war der General, der mit ernster Stimme das Gespräch unterbrach, nachdem er aufmerksam sein Blatt geprüft hatte. Quinota zog sich zurück. Dieser Genelício war ihr Freund, zudem ein entfernter Verwandter von Caldas, und so galt die Heirat in der Familie als ausgemacht, eine Kandidatur, die allseits gefördert wurde. Dona Maricota und ihr Mann überhäuften ihn mit Einladungen. Als Beamter des Schatzamtes, mit dreißig Jahren schon auf halber Höhe der Karriereleiter, hatte er offensichtlich eine große Zukunft. Niemand wußte besser zu schmeicheln und zu buckeln, schamlos, hemmungslos. Direktoren und Vorgesetzte beweihräucherte er nach allen Regeln der Kunst. Bei Dienstschluß zögerte er zu gehen, wusch sich drei oder viermal die Hände, bis er den Abteilungsleiter an der Tür erwischte. Dann lief er neben ihm her, unterhielt sich mit ihm über den Dienst, gab Urteile und Meinungen von sich, kritisierte diesen oder jenen Kollegen und begleitete ihn zur Trambahn, wenn der Betreffende nach Hause fuhr. Besuchte ein Minister die Behörde, ließ er sich zum Sprecher der Kollegen wählen und hielt eine Rede; war ein Geburtstag zu feiern, rezitierte er ein Sonett, das unweigerlich mit »Salve« begann und mit einem dreifachen »Salve« endete. 62
Das Muster war stets dasselbe, er brauchte nur den Namen des Ministers und das Datum einzusetzen. Am folgenden Tag brachten die Zeitungen seinen Namen und veröffentlichten sein Sonett. Binnen vier Jahren war er zweimal befördert worden und bemühte sich jetzt um eine leitende Stellung im zu gründenden Rechnungshof. Was Schmeicheleien und karriereförderliche Winkelzüge betraf, so war er in der Tat ein Genie. Sonette und Ansprachen reichten ihm nicht; er suchte andere Mittel, andere Kunstgriffe, wozu Artikel in den Tageszeitungen gehörten. Um die Minister und Direktoren auf seine höhere Gelehrsamkeit aufmerksam zu machen, belieferte er die Gazetten hin und wieder mit langen Aufsätzen über die öffentliche Finanzverwaltung, nichts weiter als Kompilationen angestaubter Dekrete, die er mit Zitaten französischer oder portugiesischer Autoren garnierte. Erstaunlicherweise schätzten ihn seine Kollegen, bewunderten sein Wissen, und so galt er in seiner Abteilung als ein Genie der Akten und des Sachverstandes. Hinzu kam, daß Genelício neben seinem sicheren Verwaltungsposten ein vor dem Abschluß stehendes Jurastudium betrieb; und eine Anhäufung so vieler Titel konnte ihren Eindruck auf das Ehepaar Albernaz mit seinen Verheiratungssorgen nicht verfehlen. Außerhalb der Behörde trug er eine stolze Haltung zur Schau, die zur Dürftigkeit seines Körperbaus in komischem Gegensatz stand, jedoch genährt und getragen wurde von der Überzeugung, dem Staate in einer hohen Mission zu dienen. Ein vorbildlicher Beamter ... Lautlos nahm das Kartenspiel seinen Fortgang, und der Abend wurde immer später. Am Ende einer jeden Partie gab es den einen oder anderen kurzen Kommentar, und wenn eine neue begann, 63
hörte man nur die rituellen »Sprüche«: »Solo, bolo – biete, passe«. Dann spielte man schweigend weiter; aus dem Salon aber drang der festliche Lärm von Tanz und Unterhaltung. »Seht mal, wer da kommt!« »Genelício«, sagte Caldas. »Wo warst du, Mensch?« Der Ankömmling legte Hut und Stock auf einen Stuhl und grüßte die Anwesenden. Kleinwüchsig, schon ein wenig gebeugt, mit abgezehrtem Gesicht, ein pince-nez auf der Nase, verriet alles an ihm seinen Beruf, seine Vorlieben und Angewohnheiten. Er war ein Aktenmensch. »Nichts besonderes, Freunde! Ich bin sehr mit meinen Angelegenheiten beschäftigt.« »Läuft alles gut?« fragte Florêncio. »So gut wie sicher. Der Minister hat mir sein Wort gegeben ... Es gibt keine Hindernisse. Ich bin bestens ›angeschrieben‹!« »Das freut mich sehr«, sagte der General. »Danke. Wissen Sie was, General?« »Was denn?« »Der Quaresma ist verrückt.« »Aber ... wie bitte? Von wem hast du das?« »Von diesem Gitarrenspieler. Er ist schon in der Anstalt ...« »Ich hab’s mir doch gleich gedacht«, sagte Albernaz, »so ein Gesuch konnte nur ein Verrückter schreiben.« »Aber das war noch nicht alles«, setzte Genelício hinzu. »Er hat ein Amtsschreiben auf tupí aufgesetzt und es dem Minister geschickt.« »Ich hab’s ja gleich gesagt«, bemerkte Albernaz. »Von wem ist eigentlich die Rede?« fragte Florêncio. »Ach, von diesem Nachbarn, der im Zeugamt arbeitet, kennen Sie ihn nicht?« 64
»Klein und mit pince-nez?« »Genau der«, bestätigte Caldas. »So mußte es ja kommen«, sagte Doktor Florêncio. »Diese Bücher, diese Lesewut ...« »Wozu hat er denn so viel gelesen?« erkundigte sich Caldas. »Nicht richtig im Oberstübchen«, sagte Florêncio. »Er ist kein Studierter, wozu also mußte er seine Nase in Bücher stecken?« warf Genelício mit aller Entschiedenheit ein. »Richtig«, sagte Florêncio. »Sich mit Büchern abgeben ist gut für Gelehrte, für Doktoren«, bemerkte Sigismundo. »Leuten ohne akademischen Abschluß sollte man den Besitz von Büchern sogar verbieten«, meinte Genelício. »Damit könnte man so ein Malheur vermeiden. Findet ihr nicht?« »Gewiß«, sagte Albernaz. »Gewiß«, bestätigte Caldas. Einen Augenblick lang schwiegen sie, dann wandten sich alle wieder dem Spiel zu. »Sind schon alle Trümpfe heraus?« Albernaz verlor, und im Salon nebenan verstummte alles. Cavalcânti würde singen. Triumphierend durchschritt er den Raum, ein breites Lächeln auf dem Gesicht, und postierte sich neben dem Klavier. Zizí begleitete. Er hüstelte, und mit metallischer Stimme, unter sorgfältiger Artikulierung des »s«, hub er an: Das Leben ist eine sinnlose Komödie Eine Geschichte aus Blut und Staub Eine Wüste ohne Licht ... Und das Piano seufzte ...
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iv Katastrophale Folgen einer Eingabe
Die Ereignisse, von denen die um den Spieltisch versammelten gewichtigen Persönlichkeiten an jenem denkwürdigen Nachmittag von Ismênias Verlobung sprachen, hatten sich atemberaubend überstürzt. Die Energie der in Quaresma angestauten Gedanken und Gefühle war urplötzlich mit der Heftigkeit eines Wirbelsturms in unerwarteten Handlungen zutage getreten. Deren erste überraschte, doch immer weitere folgten, und was zunächst wie eine Überspanntheit, wie eine kleine Manie ausgesehen hatte, stellte sich bald als eindeutiger Wahnsinn heraus. Bei der Eröffnung einer Sitzung des Abgeordnetenhauses hatte der Parlamentssekretär – just einige Wochen vor Cavalcântis Heiratsantrag – eine absonderliche Eingabe zu verlesen, die schließlich eine für derartige Schriftstücke ungewöhnliche Publizität und Kommentierung erfuhr. Das Getuschel und Durcheinander, welche die für das hohe Amt der Gesetzgebung unerläßliche innere Sammlung der Volksvertreter kennzeichnen, hinderten sie, den Antrag zu vernehmen; die in der Nähe des Präsidenten sitzenden Journalisten aber vernahmen ihn sehr wohl und brachen in ein Gelächter aus, das schwerlich zur Würde des Hohen Hauses paßte. Lachen ist ansteckend. Beim Vorlesen lachte der Sekretär im stillen mit; als er fertig war, lachte schon der Präsident, es lachte der Protokollant, 66
es lachte der Saaldiener – der ganze Tisch und alle, die sich in seiner Nähe befanden, schütteten sich aus vor Lachen, obwohl sie es immer wieder zu unterdrücken suchten, und einigen traten vor lauter Heiterkeit die Tränen in die Augen. Wer aber wußte, welche Mühe, welche Arbeit, welch hochherziger und selbstloser Traum in einem solchen Stück Papier beschlossen waren, den mußte jenes harmlose Gelächter schmerzen und betrüben. Das Schriftstück, das auf dem Tisch des Abgeordnetenhauses lag, mochte Zorn, Haß oder auch feindseligen Spott verdienen, mitnichten aber solche Heiterkeit, solch harmlose Ausgelassenheit, als lache man über eine Posse, über ein Pferdekarussell oder die Grimasse eines Clowns. Die meisten aber kannten gar nicht den Grund der Heiterkeit und sahen darin nur einen Anlaß, um arglos und unbeschwert mitzulachen. Der Verlauf der Sitzung war bis dahin langweilig gewesen, und so publizierten am folgenden Tag die Zeitungen unter der Rubrik »Parlament« das Gesuch und glossierten es gehörig. Hier der Wortlaut der Eingabe: Policarpo Quaresma, brasilianischer Staatsbürger und Beamter – überzeugt, daß die portugiesische Sprache Brasilien aufgenötigt ist, des weiteren überzeugt, daß infolgedessen hierzulande der mündliche und schriftliche Ausdruck, insbesondere im Reich der Literatur, einer ständigen Demütigung in Form von harschen Rügen seitens der Eigentümer dieses Idioms ausgesetzt ist; ferner im Bewußtsein dessen, daß in unserem Lande Schriftsteller und Autoren, insonderheit die Philologen, sich bezüglich der grammatischen Korrektheit nicht zu einigen wissen, so daß unter den gründlichsten Erforschern unserer Sprache tagtäglich heftige Polemiken aus67
brechen –, ersucht in Ausübung seiner verfassungsmäßigen Rechte den Nationalkongreß, das Tupí-Guaraní zur Amtsund Nationalsprache des brasilianischen Volkes zu erklären. Der Antragsteller, die historischen Vernunftgründe für seine Idee beiseite lassend, bittet in Erinnerung rufen zu dürfen, daß die Sprache höchste geistige Offenbarung eines Volkes ist, seine lebendigste und ursprünglichste Schöpfung, und daß daher die politische Emanzipation eines Landes zu ihrer Vervollständigung der sprachlichen Emanzipation bedarf. Im übrigen, verehrte Herren Abgeordnete, ist das TupíGuaraní eine höchst originelle Sprache, zwar agglutinierend, doch dank ihrem polysynthetischen Charakter von vielfältiger, facettenreicher Ausdruckskraft – die einzige, welche die Schönheiten unseres Landes in Worte zu übersetzen vermag, uns mit seiner Natur verbindet und sich vollkommen unseren Denk- und Sprechorganen anpaßt, wurde sie doch von Völkern geschaffen, die hierzulande lebten und immer noch leben, die folglich die physiologische und psychologische Konstitution besitzen, zu der auch wir hinneigen; dergestalt, daß die fruchtlosen grammatischen Kontroversen sich erübrigen, die auf die mangelnde Anpassung einer fremdländischen Sprache an unseren Gehirnaufbau sowie unsere Sprechwerkzeuge zurückgehen und die den Fortschritt unserer literarischen, wissenschaftlichen und philosophischen Kultur so sehr behindern. In der festen Überzeugung, daß die Weisheit der Herren Gesetzgeber Mittel und Wege zur Verwirklichung eines solchen Vorhabens finden wird, und in der Gewißheit, daß Abgeordnetenkammer und Senat seine Tragweite und Nütz68
lichkeit ermessen werden, verbleibe ich, in der Hoffnung auf positiven Bescheid mit vorzüglicher Hochachtung Unterschrieben und vorschriftsmäßig gesiegelt, war die Eingabe des Majors tagelang Gesprächsthema Nummer eins. In allen Zeitungen publiziert und mit launigen Kommentaren versehen, gab es niemand, der nicht darüber scherzte, der nicht auf Kosten Quaresmas seinen Witz erprobte. Doch dabei beließ man es nicht, die ungute Neugier verlangte nach mehr. Man wollte wissen, wer er war, wovon er lebte, ob er verheiratet oder ledig sei. Eine illustrierte Wochenschrift machte ihn zum Gegenstand einer Karikatur, und auf der Straße zeigte man mit Fingern auf ihn. Und nun erst diese launigen Blättchen, die Spaß- und Scherzgazetten – wie grausam verspotteten sie den armen Major. Immer wieder kamen sie auf ihn zurück, mit einer Hartnäckigkeit, welche die Freude der Redakteure darüber verriet, ein leichtes, dankbares Thema gefunden zu haben: Major Quaresma hat dies oder jenes gesagt, Major Quaresma hat dies oder jenes getan. Eines dieser Blätter machte ihn zum Thema der Woche und widmete ihm neben diversen andern Erwähnungen eine ganzseitige, auf den Ruf der Tupí als Kannibalen anspielende Karikatur, die überschrieben war: »Die Schlachterei von Santa Cruz, nach Major Quaresma«. Sie zeigte eine Warteschlange aus Männern und Frauen vor einer links im Bild zu sehenden Schlachtbank. Ein andere Karikatur war betitelt: »Metzgerei Quaresma«; Bildunterschrift: »Die Köchin fragt den Metzger: ›Haben Sie Rinderzunge?‹ Antwort: ›Nein, nur Mädchenzunge, wieviel darf es denn sein?‹« Die nicht enden wollende, ganz ungewöhnliche Langlebigkeit solcher mehr oder weniger geistreichen Kommentare hing 69
mit der fehlenden Verbindung des Majors zu Pressekreisen zusammen. Volle zwei Wochen befaßten sich die Blätter mit seinem Fall. All das verdroß Quaresma zutiefst. Seit dreißig Jahren für sich allein lebend, ohne mit der Welt zusammenzustoßen, hatte er eine so lebhafte Empfindlichkeit entwickelt, daß eine Geringfügigkeit ihn zu kränken vermochte. Nie hatte er Kritik ertragen müssen, nie das Rampenlicht der Öffentlichkeit gesucht; er lebte umfangen von seinem Traum, den die Wärme seiner Bücher ausgebrütet hatte und am Leben erhielt. Außerhalb ihres Bezirkes kannte er niemanden, und mit Menschen seiner Umgebung tauschte er Belanglosigkeiten aus, alltägliche Redensarten über Dinge, an denen sein Herz und seine Seele keinen Anteil hatten. Nicht einmal seiner Patentochter gelang es, ihn dieser Zurückgezogenheit zu entreißen, obgleich er ihr mehr als sonstwem zugetan war. Dieses Insichgekehrtsein machte ihn weltfremd, immun gegen Konkurrenz und Ehrgeiz, denn nichts von diesen Gefühlen, die Haß und Streit zu entfachen pflegen, hatte Zutritt zu seinem Gemüt. Ohne Interesse an Geld, Ruhm und Karriere, in traumartiger Zurückgezogenheit lebend, hatte er die Unschuld und Lauterkeit all jener angenommen, die von einer fixen Idee erfüllt sind, all jener großen Forscher, Gelehrten, Erfinder, die weichherziger, naiver, argloser sind als die Edelfräulein der Dichtungen vergangener Zeiten. Solche Menschen trifft man selten, doch es gibt sie, und wenn man sie trifft, und hätten sie auch ein Fünkchen Narrheit, so überkommt uns größere Sympathie für unsere Gattung, größerer Stolz auf unser Menschsein, größere Hoffnung in das Glück unserer Art. 70
Die fortgesetzten Spöttereien in den Zeitungen, die Art, wie man ihn auf der Straße ansah, erbitterten ihn, bestärkten ihn aber auch in seiner Idee. Jedesmal wenn er einen Witz, eine Anzüglichkeit einstecken mußte, grübelte er über seinen Aufruf, erwog ihn in allen seinen Aspekten, durchdachte ihn gründlich, verglich ihn mit ähnlichen Initiativen, rief sich Autoren und Autoritäten in Erinnerung; und je weiter er nachsann, um so überzeugter war er von der Nichtigkeit der Kritik, der Leichtfertigkeit des Spottes, und um so mächtiger, heftiger und verzehrender ergriff ihn die Idee. Während die Zeitungen das Gesuch mit letztlich harmloser, ungehässiger Spaßhaftigkeit aufnahmen, war man in der Behörde außer sich. Unter Bürokraten stößt jedes Herausragen, das nichts mit Amtsschimmelweisheit, Aktenhuberei und kalligraphischer Korrektheit zu tun hat, auf feindselige, kleinliche Mißgunst. Es ist, als sähe man im Träger dieser Ungewöhnlichkeit einen Verräter an der Mittelmäßigkeit, der papiernen Anonymität des Behördenalltags. Es geht nicht nur um Beförderungen oder um pekuniäre Interessen, es geht um Eigenliebe, um gekränkte Empfindlichkeiten von Leuten, die zusehen müssen, wie jener Kollege, ein Amtsstubensträfling gleich ihnen, den Regularien der Behörde, den Launen der Vorgesetzten, den herablassenden Blicken des Ministers unterworfen, größere Beachtung genießt als sie selbst und gewissermaßen das Recht usurpiert, sich über Regeln und Vorschriften hinwegzusetzen. Man betrachtet ihn mit dem heimlichen Groll, mit dem der plebejische den adligen Mörder betrachtet, der seine Frau oder Geliebte umgebracht hat. Beide sind Mörder, doch selbst im Gefängnis eignet dem Marquis oder auch dem Großbürger etwas von seiner Welt, ein Hauch von Feinheit und Unangepaßtheit, 71
der seinen niedriggestellten Unglücksgefährten kränkt. Wenn also in einer Behörde jemandes Ruf über seinen Dienstrang ein wenig hinausragt, stellen sich all die kleinen Gehässigkeiten ein, die zugeflüsterten Bosheiten, die Anspielungen, das ganze Arsenal an Neid und Mißgunst, wie man es bei einer Frau findet, die ihre Nachbarin für besser angezogen hält als sich selbst. Man schätzt oder, besser gesagt, erträgt eher jene, die sich durch Wissen, durch Schreibgewandtheit, durch Fleiß bei der Arbeit hervortun, selbst die Doktoren, die Juristen, als diejenigen, die es außerhalb der Institution zu Ruf und Ansehen brachten. Dem Werk und Verdienst des Arbeitskollegen begegnet man für gewöhnlich ohne das geringste Verständnis, und niemandem kommt in den Sinn, daß dieser Kerl da, ein Amtsschreiber wie man selbst, etwas zustande bringen soll, das Außenstehende interessiert und Gesprächsthema einer ganzen Stadt wird. Die unvermittelte Popularität Quaresmas, sein Publikumserfolg und seine vorübergehende Bekanntheit waren seinen Kollegen und Vorgesetzten ein Ärgernis. »Wo gibt es denn so was?« sagte der Amtmann. »Dieser Trottel wendet sich an den Kongreß und macht eine Eingabe! Was fällt dem ein?« Wenn der Direktor in die Kanzlei kam, blickte er ihn schief an und bedauerte, daß die Dienstordnung für solche Fälle keine Abmahnung vorsah. Der Archivar, von allen Kollegen der noch am wenigsten feindselige, erklärte den Major ganz einfach für verrückt. Quaresma litt unter der Falschheit seiner Umgebung, unter diesen Anspielungen, was seine Verzweiflung steigerte und ihn an seiner Idee um so trotziger festhalten ließ. Er verstand nicht, wie sein Antrag einen solchen Sturm, eine so allgemeine Böswilligkeit entfesseln konnte, war er doch eine unschuldige Sache, ein patriotisches Anliegen, das jedermanns Zustimmung verdiente; und so 72
grübelte er aufs neue über seine Idee und durchdachte sie noch gründlicher. Die breite Publizität, die der Fall gewann, erreichte auch die Villa in der Rua da Real Grandeza in Botafogo, wo sein Gevatter wohnte. Als Bauunternehmer reich geworden, seit einigen Jahren verwitwet, hatte der frühere Krämer sich von den Geschäften zurückgezogen und lebte nun still in dem weitläufigen, von ihm selbst errichteten Haus, das allen architektonischen Zierat aufwies, für den er eine Vorliebe hatte: Zierschalen auf der Fassadenkrone, ein riesiges Monogramm über der Haustür, zwei Porzellanhunde auf den Pfosten des Eingangstors und ähnliches mehr. Das Haus, das in der Mitte des Grundstücks stand, hatte einen ansehnlichen, mit farbigen Kugeln verzierten Vorgarten, der sich auf beiden Seiten fortsetzte. Es erhob sich über einem ebenerdigen Keller und hatte eine Veranda mit einem Käfig, dessen Vögel in der Hitze traurig dahinsiechten, ein bürgerliches Anwesen im landestypischen Geschmack, protzig, teuer, wenig abgestimmt auf das Klima und ohne Komfort. Im Innern herrschten Launenhaftigkeit, barocke Willkür, hoffungsloser Eklektizismus. Alles quoll über von Möbeln, Teppichen, Türvorhängen, Nippsachen, und die Phantasie der Tochter, planlos und ungeschult, brachte noch mehr Unordnung in diese Ansammlung teurer Gegenstände. Eine alte Schwägerin besorgte dem Witwer den Haushalt, während Olga ihn zu Zerstreuungen und Festen ausführte. Coleoni willigte herzlich gern in diese sanfte Tyrannei. Er wollte seine Tochter gut und nach ihrem eigenen Gutdünken verheiraten und hatte daher nichts gegen ihre Ausgehpläne einzuwenden. Anfangs gedachte er sie seinem engsten Mitarbeiter, dem Polier, zur Frau zu geben, eine Art Baumeister, der keine Pläne 73
zeichnete, aber Einfamilienhäuser und große Gebäude entwarf. Als er Olga befragte, fand er keinen Widerstand, aber auch keine Zustimmung. Ihm wurde klar, daß ihr ätherischer Zug, ihre distanzierte Heldinnenart, ihre Klugheit, ihr schwärmerisches Wesen nicht gut zur rustikalen Derbheit und Schlichtheit seines Mitarbeiters passen würden. »Sie will einen Akademiker«, dachte er, »soll sie sich einen suchen. Er wird wohl nicht betucht sein, aber dafür bin ich es, und so lassen sich die Dinge regeln.« Er hatte sich angewöhnt, im brasilianischen Akademiker den Grafen oder Baron seiner ehemaligen Heimat zu sehen. Jedes Land hat seinen Adel, was dort der Marquis ist, ist hier der Doktor, Rechtsanwalt oder Zahnarzt; und ihm schien es durchaus akzeptabel, die Freude über die Nobilitierung seiner Tochter mit ein paar Zehntausend Réis zu erkaufen. Es gab Augenblicke, da ihn die Entschlüsse des Mädchens verdrossen. Er, der gerne zeitig zu Bett ging, mußte Abende über Abende im Ballhaus »Lírico« zubringen; er, der am liebsten in Hausschuhen dasaß und Pfeife rauchte, sah sich genötigt, stundenlang Straßenpflaster zu treten, seiner Tochter von Modehaus zu Modehaus zu folgen, um bei Tagesausklang einen halben Meter Stoffband gekauft zu haben, ein paar Spangen und ein Fläschchen Parfüm. Es war amüsant zu sehen, wie er mit der Bereitwilligkeit eines Vaters, der sein Kind zu nobilitieren wünscht, in den Textilgeschäften seine Meinung über die verschiedenen Stoffe kundtat, den einen mit dem andern verglich, diesen schöner fand als jenen, mit einem Mangel an Fingerspitzengefühl, den er auch beim Befühlen verriet. Dennoch ging er immer mit, scheute weder Zeit noch Mühe, in das Geheimnis, in das Mysterium der Mode ein74
zudringen, zäh und gutwillig wie nur je ein Vater. Bisher hatte er alles recht gut ertragen und seinen Verdruß verdrängt, ausgenommen die ständigen Besuche der Freundinnen seiner Tochter samt deren Müttern und Schwestern mit ihrer aufgesetzten Vornehmheit, ihrer kaum verschleierten Hochnäsigkeit, womit sie den alten Bauunternehmer fühlen ließen, wie tief er unter ihrer Gesellschaftsschicht stand. Doch ging sein Ärger nicht sehr tief, er hatte es ja so gewollt und hatte sie so aufgezogen, mußte sich also wohl oder übel damit abfinden. Für gewöhnlich zog sich Coleoni, wenn solcher Besuch nahte, ins Innere des Hauses zurück; bei großen Festen und Empfängen freilich mußte er zugegen sein, und dann fühlte er am deutlichsten den verdeckten Standesdünkel des alteingesessenen Adels, der bei ihm ein und aus ging. Er war immer ein kleiner Bauunternehmer geblieben, der sich kaum je Gedanken über sein Geschäft hinaus machte, der unfähig war, sich zu verstellen, und der jenen Redereien über Hochzeiten, Bälle, Feste und teure Ausflüge nichts abgewinnen konnte. Wenn hin und wieder einer der taktvolleren Gäste ihm vorschlug, Poker zu spielen, willigte er ein und gehörte immer zu den Verlierern. Es bildete sich sogar ein Spielerkreis in seinem Hause, zu dem der bekannte Advokat Pacheco gehörte. Coleoni verlor, und zwar erheblich, doch nicht das bewog ihn, das Spielen aufzugeben. Was verlor er schon? Ein paar tausend Réis, eine Kleinigkeit! Die Sache aber war die, daß Pacheco mit sechs Karten spielte. Als Coleoni dies zum ersten Mal bemerkte, hielt er es für ein bloßes Versehen des achtbaren Journalisten und bekannten Rechtsanwalts. Ein rechtschaffener Mann würde so etwas niemals mit Absicht tun. Und beim zweiten Mal, und beim dritten? So viel Zerstreutheit war ausgeschlossen. Er gewann die Über75
zeugung, daß hier eine Gaunerei vorlag; er schwieg, wahrte eine Würde, die man dem früheren Krämer nicht zugetraut hätte, und wartete ab. Als man sich wieder einmal zum Poker traf und die Karten ausgegeben wurden, zündete Vicente sich eine Zigarre an und bemerkte mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt: »Wissen Sie, meine Herren, daß es jetzt in Europa neue Spielregeln für Poker gibt?« »Welche?« fragte einer. »Es ist nur eine ganz kleine Neuerung: Man spielt mit sechs Karten, das heißt nur einer der Mitspieler.« Pacheco stellte sich ahnungslos, spielte weiter, gewann weiter, verabschiedete sich um Mitternacht mit vollendeter Höflichkeit, machte ein paar Bemerkungen über die Pokerpartie und kam nie wieder. Nach alter Gewohnheit las Coleoni Zeitung, wenngleich mit der Umständlichkeit und Langsamkeit des ungeübten Lesers, als er eines Morgens auf die Eingabe seines Gevatters vom Zeugamt stieß. Er begriff nicht recht, worum es ging, doch die Zeitungen trieben solchen Spott, stürzten sich so begierig auf die Sache, daß er den Eindruck gewann, sein alter Wohltäter habe aus Unachtsamkeit irgendeinen schweren Fehler begangen und sich in strafbare Machenschaften verwickelt. Stets hatte er ihn für den ehrlichsten Menschen der Welt gehalten und hielt ihn weiterhin dafür, doch wer weiß? Als er ihn das letzte Mal besuchte, hatte er da nicht ein merkwürdiges Gebaren an den Tag gelegt? Vielleicht war das Ganze ein Scherz ... Coleoni, wenn auch zu Reichtum gelangt, hielt große Stücke auf seinen unscheinbaren Gevatter. Er brachte ihm nicht nur die Dankbarkeit des Bauern entgegen, der von ihm eine große Wohltat empfangen hatte, sondern auch zweifache Achtung: vor seinem Beam76
tenstatus und vor seiner Bildung. Als Europäer aus einfachen, dörflichen Verhältnissen bewahrte er tief in seinem Herzen den heiligen Respekt des Landmanns vor Menschen, denen der Staat ein Amt verliehen hat; und da er trotz seines langjährigen Aufenhaltes in Brasilien Wissen nicht mit akademischen Titeln identifizierte, bewunderte er die Gelehrtheit seines Gevatters. Kein Wunder also, daß es ihn bekümmerte, dessen Namen in Vorgänge verwickelt zu sehen, die von den Zeitungen mißbilligt wurden. Wieder las er die Eingabe, verstand nicht, worum es ging. Er rief seine Tochter. »Olga!« Der Name seiner Tochter kam ihm fast akzentfrei über die Lippen, doch wenn er portugiesisch sprach, legte er seinen Worten eine eigenartige Heiserkeit bei und würzte sie mit italienischen Ausrufen und Redewendungen. »Olga, was soll das bedeuten? Non capisco ...« Das Mädchen setzte sich neben ihn und schaute in die Zeitung, las das Gesuch und die Kommentare. »Che cosa! Nun, was soll das?« »Der Pate will das Portugiesische durch das Tupí ersetzen, verstehen Sie?« »Wie das?« »Heute sprechen wir portugiesisch, nicht wahr? Nun ja, er will, daß wir in Zukunft tupí sprechen«. »Tutti?« »Alle Brasilianer, alle.« »Ma che cosa! Aber geht denn so etwas?« »Unter Umständen schon. Die Tschechen haben eine eigene Sprache, wurden aber gezwungen, deutsch zu sprechen, nachdem sie von den Österreichern erobert worden waren; die Lothringer 77
waren Franzosen und ...« »Per la madonna! Deutsch ist eine Sprache, aber dieses Acujelê, ecco!« »Acujelê kommt aus Afrika, Papa; Tupí ist von hier.« »Per Bacco! Das ist doch das Gleiche ... Er ist übergeschnappt.« »Aber Papa, mit Verrücktheit hat das nichts zu tun.« »Wie? Dann ist das also der Einfall von einem uomo bene?« »Vielleicht nicht gerade vernünftig, aber auch nicht verrückt.« »Non capisco.« »Es ist eine Idee, Vater, ein Plan, der einem vielleicht auf den ersten Blick absurd vorkommt, abwegig, der aber nicht eigentlich verrückt ist. Vielleicht gewagt, aber ...« Wie sehr sie auch wollte, sie brachte es nicht fertig, die Handlungsweise ihres Paten mit denselben Maßstäben zu beurteilen wie ihr Vater. Aus ihm sprach der gesunde Menschenverstand und aus ihr die Liebe zu den großen Dingen, zu hochfliegenden Plänen und kühnen Unternehmungen. Sie entsann sich, daß Quaresma von Emanzipation gesprochen hatte, und im Innersten empfand sie für seinen gewagten Schritt wo nicht Bewunderung, so jedenfalls auch kein Mißfallen oder Bedauern, vielmehr ein freundliches Mitgefühl, denn sie sah die Tat dieses Menschen mißverstanden, den sie seit so vielen Jahren als jemanden kannte, der einsam, unbekannt, beharrlich der Verwirklichung seines Traumes nachging. »Das wird ihm Unannehmlichkeiten bereiten«, bemerkte Coleoni. Und er hatte recht. Das Urteil des Archivars setzte sich in den Flurgesprächen durch, und der Verdacht, Quaresma sei verrückt, gewann den Status der Gewißheit. Anfangs ertrug der Unteramtmann das Gewitter recht gut; als er aber annehmen mußte, man 78
halte ihn des Tupí für unkundig, erboste er sich und fühlte dumpfe Wut in sich aufsteigen, die er nur mühsam zügelte. Wie blind sie waren! Er, der seit dreißig Jahren Brasilien gründlich studierte; er, der um dieser Studien willen sogar genötigt war, das garstige Deutsch zu erlernen, er sollte nicht Tupí können, die brasilianische Sprache, die einzige, die diese Bezeichnung verdiente – welch schäbige Unterstellung! Mochte man ihn für überspannt erklären – nun ja. Aber daß man an seiner Redlichkeit zweifelte, das war zu viel! Und er kam ins Sinnieren, suchte Mittel und Wege, seinen Ruf wiederherzustellen, schweifte in Gedanken ab, selbst beim Schreiben und Erledigen der täglichen Obliegenheiten. Er lebte zweigeteilt: mit der einen Hälfte war er bei den Tagesgeschäften, mit der anderen grübelte er, wie er seine Tupí-Kenntnisse unter Beweis stellen könne. Eines Tages fehlte der Amtmann und wurde vom Major vertreten. Das Tagespensum war umfangreich, und er selbst mußte einen Teil redigieren und kopieren. Er hatte begonnen, ein Schriftstück über Vorgänge in Mato Grosso ins Reine zu schreiben, wo von Aquidauana und Ponta-Porã die Rede war, als der Kollege Carmo hinten im Raum sich mit einem spöttischen Unterton vernehmen ließ: »Du, Homero, eine Sprache kennen ist eine Sache, sie aber können eine andere.« Quaresma sah nicht vom Papier auf. Sei es wegen der im Entwurf vorkommenden Tupí-Wörter, sei es wegen der Anspielung des Beamten Carmo, Tatsache ist, daß er unwillkürlich das Amtsschreiben, an dem er saß, ins Eingeborenenidiom übertrug. Als er fertig war, bemerkte er seine Zerstreutheit, doch sogleich wurde seine Aufmerksamkeit von mehreren Untergebenen in 79
Anspruch genommen, die ihm ihre Arbeiten zur Überprüfung vorlegten. Neue Angelegenheiten verdrängten die vorigen, so daß er das auf Tupí abgefaßte Schriftstück vergaß, das mit den übrigen auf den Weg ging. Der Abteilungsleiter, dem weiter nichts auffiel, zeichnete es ab, und so gelangte das Tupinambá ins Ministerbüro. Man kann sich gar nicht vorstellen, welche Aufregung das Schreiben dort auslöste. Was für eine Sprache mochte das sein? Man befragte den Doktor Rocha, den klügsten Mann der Kanzlei. Der Staatsdiener putzte sein pince-nez, betastete das Papier, wendete es um, stellte es auf den Kopf und kam zu dem Schluß, es sei Griechisch, und zwar wegen der vielen Ypsilons. Doktor Rocha hatte in der Kanzlei den Ruf des Gelehrten, denn er war Jurist und machte den Mund nicht auf. »Aber«, fragte der Chef, »dürfen Behörden im Verkehr untereinander sich denn einer Fremdsprache bedienen? Ich glaube, es gibt da eine Anweisung aus dem Jahre 1884 ... Schauen Sie doch bitte nach, Herr Doktor Rocha ...« Man durchforschte alle Dienstordnungen und Gesetzessammlungen, man schritt von Tisch zu Tisch, rief das Gedächtnis eines jeden Amtsdieners zu Hilfe und fand nichts Diesbezügliches. Schließlich, nach dreitägigem scharfen Nachdenken, suchte Doktor Rocha seinen Vorgesetzten auf und sagte voll Nachdruck und Selbstsicherheit: »Der Ministererlaß von 1884 behandelt lediglich die Orthographie.« Der Abteilungsleiter sah seinen Untergebenen voll Bewunderung an und bekam eine noch viel höhere Achtung vor den Fähigkeiten dieses diensteifrigen, intelligenten und akribischen Beamten. Er erfuhr, daß die Gesetzgebung die Frage der in amtlichen Schriftstücken zu benutzenden Sprache unerwähnt 80
lasse; allerdings scheine es nicht in der Ordnung, eine andere als die Landessprache zu verwenden. Nach Erteilung dieser Auskunft wie auch weiteren Erkundigungen schickte der Minister das Schriftstück mit einer Rüge ans Zeugamt zurück. Dort war am nächsten Morgen die Hölle los! Die Klingeln schrillten, die Bürodiener liefen in heilloser Geschäftigkeit hin und her, und alle Augenblicke wurde nach dem Amtmann gefragt, der noch nicht eingetroffen war. »Eine Rüge«, murmelte der Direktor vor sich hin. Den ersehnten Generalsrang sah er davonschwimmen. So viele Jahre hindurch hatte er von diesen Sternen geträumt, und nun entschwanden sie ihm, womöglich nur wegen des Schabernacks von irgendeinem Büroschreiber! Wenn man die Sache nur aus der Welt schaffen könnte ... Aber wie? Der Amtmann traf ein und meldete sich beim Direktor. Von der Angelegenheit unterrichtet, prüfte er das Schriftstück und erkannte an der Handschrift Quaresma als Verfasser. Lassen Sie ihn holen, sagte der Oberst. Der Major kam, während er an einige Tupí-Verse dachte, die er in der Frühe gelesen hatte. »Sie machen sich also über mich lustig, wie?« »Wie bitte?« entgegnete Quaresma. »Wer hat das hier geschrieben?« Der Major prüfte das Schriftstück nicht einmal. Er hatte, als er die Handschrift sah, sich sogleich seiner Zerstreutheit erinnert und bekannte unumwunden: »Ich.« »Sie bekennen also?« »Gewiß. Aber Eure Exzellenz wissen nicht ...« 81
»Ich, nicht wissen ... Was sagen Sie da?« Der Direktor erhob sich vom Stuhl, die Lippen entfärbt und die Hand in Kopfhöhe. Er war dreifach beleidigt: in seiner persönlichen Ehre, in seiner Standesehre und in seiner Ehre als Absolvent der Militärakademie von Praia Vermelha, der ersten wissenschaftlichen Hochschule der Welt. Überdies hatte er im Prytaneion, der Zeitschrift der Militärakademie, eine Erzählung veröffentlicht – »Die Sehnsucht« –, die von seinen Kameraden aufs höchste gelobt worden war. Da er alle Examina mit »gut« und »sehr gut« bestanden hatte, fühlte er sein Haupt umkränzt vom doppelten Lorbeer des Gelehrten und des Künstlers. So außerordentliche Titel und Verdienste, die sich kaum in einem Descartes oder Shakespeare vereinigt fanden, machten aus diesem »Eure Exzellenz wissen nicht« eines bloßen Kanzleischreibers eine tiefe Kränkung, ja eine Beleidigung. »Was soll ich nicht wissen? Was nehmen Sie sich heraus! Haben Sie etwa bei Benjamin Constant studiert? Sind Sie beschlagen in Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Soziologie und Ethik? Was unterstehen Sie sich also? Glauben Sie denn, bloß weil Sie ein paar Romane gelesen und ein paar Brocken Französisch gelernt haben, können Sie sich mit jemand messen, der eine 9 in Arithmetik bekommen hat, eine 10, Bestnote, in Mechanik, eine 8 in Astronomie, eine 10 in Hydraulik, eine 9 in Geometrie? Wie kommen Sie dazu?« Wütend fuchtelte er mit der Hand und blickte voll Ingrimm auf Quaresma, der sich bereits erschossen wähnte. »Aber Herr Oberst ...« »Da gibt es kein Aber, da gibt es rein gar nichts mehr! Betrachten Sie sich bis auf weiteres als vom Dienst suspendiert.« Quaresma war ein sanftmütiger Mensch, gutwillig und be82
scheiden. Nie hatte er daran gedacht, die Gelehrsamkeit seines Direktors in Zweifel zu ziehen. In keiner Weise maßte er sich an, selbst ein Gelehrter zu sein, und mit dem obigen Satz hatte er nur eine Entschuldigung einleiten wollen. Doch als er diese Flut von Kenntnissen und Zeugnissen wie einen wütenden Sturzbach auf sich niedergehen sah, verlor er die Geistesgegenwart, die Stimme, die Gedanken, und war außerstande, irgend etwas vorzubringen. Beschämt, als wäre er ein Gesetzesbrecher, verließ er das Arbeitszimmer des Obersten, der ihm wütende Blicke nachschleuderte, empört, grimmig, bis in alle Fasern seines Selbst verwundet. Schließlich war Quaresma draußen. In seinem Bürosaal sagte er nichts, nahm Hut und Stock und stürzte zur Tür hinaus, schwankend wie ein Betrunkener. Er ging ein wenig umher, holte in der Buchhandlung einige Bücher ab. An der Trambahnhaltestelle traf er Ricardo Anderherz. »Zeitig, nicht wahr?« »Gewiß.« Sie verstummten, und es herrschte zwischen ihnen ein betretenes Schweigen. Ricardo machte einen erneuten Anlauf: »Der Herr Major scheint heute von einer Idee, von einem mächtigen Gedanken erfüllt.« »Gewiß, mein Sohn, nicht erst seit heute, seit langem schon.« »Denken tut gut, Träumen beruhigt.« »Es mag beruhigen, doch es macht uns auch verschieden von den andern, es reißt Abgründe zwischen den Menschen auf...« Die beiden trennten sich. Der Major nahm die Trambahn, und Ricardo folgte gedankenverloren der Rua do Ouvidor, unbeholfenen Schrittes und mit einer Bügelfalte über dem Schienbein, unter dem Arm die Gitarre in ihrer Wildlederhülle.
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v Nippes
Es war nicht ihr erster Besuch. Mehr als ein Dutzend Mal schon war sie die breite Steintreppe emporgestiegen, zwischen zwei Figuren aus Lissaboner Marmor, der Barmherzigkeit auf der einen und der Nächstenliebe auf der andern Seite; war durch diesen Portikus mit seinen dorischen Säulen eingetreten, hatte das geflieste Atrium durchschritten, vorbei an Pinel und Esquirol, die linker und rechter Hand über das beängstigende Rätsel des Wahnsinns grübelten; hatte eine andere, sorgfältig gebohnerte Treppe erstiegen, um dort oben den Paten zu treffen, traurig und verloren in seinem Traum und seinem Wahn. Mitunter, sonntags, kam sie mit ihrem Vater, wenn er aus barmherziger Freundschaftspflicht Quaresma besuchte. Seit wann war er dort? Sie wußte es nicht mehr genau, seit drei oder vier Monaten. Schon der Name des Gebäudes war beängstigend. Heilanstalt! Es war wie ein Begräbnis zu Lebzeiten, eine Beerdigung des Geistes, der lenkenden Vernunft, die der Leib, wenn sie fehlt, nur selten vermißt. Die Gesundheit hängt nicht von ihr ab, und mancher scheint sogar an Lebenskraft zu gewinnen, sein Erdendasein zu verlängern, wenn die Vernunft, wer weiß durch welche Körperöffnung und wohin, entflieht. Welche Angst vor dem Übernatürlichen, welches Entsetzen vor einem unsichtbaren und allgegenwärtigen Feind durchschauerte 84
die armen Menschen, wenn sie von dem Haus am Sehnsuchtsstrand, an der Praia das Saudades hörten! Lieber ein sanfter Tod als das, pflegten sie zu sagen. Auf den ersten Blick war dieser Schrecken unverständlich, dies Entsetzen des Volkes angesichts des gewaltigen, strengen, ernsten Gebäudes, halb Krankenhaus, halb Gefängnis, mit dem hohen Gitterzaun und vergitterten Fenstern, mit seiner mehr als hundert Meter langen Frontseite vor der unendlich weiten, grünen Meeresbucht. Trat man ein, erblickte man etliche Männer ruhig dasitzen, gedankenversunken, grübelnd, gleich Mönchen bei Andacht und Gebet. In dieser schweigenden, hellen, achtunggebietenden Eingangshalle verflüchtigte sich im übrigen rasch die landläufige Vorstellung von Wahnsinn – Gekreische, Grimassen, Raserei, ein Hin und Her von närrischen Reden. Nichts dergleichen: hier herrschten Ruhe und Schweigen, eine ganz natürlich wirkende Ordnung. Schließlich aber, wenn man im Besucherraum diese verstörten Gesichter betrachtete, diese abgestumpften Mienen, teils irre und ausdruckslos, teils wie abwesend und versunken in einem tiefinneren, nie endenden Traum, oder wenn man die Erregung der einen sah, die angesichts der Reglosigkeit anderer um so lebhafter wirkten, dann spürte man wohl das Grauen des Wahnsinns, das darin eingeschlossene beklemmende Geheimnis, die unerklärliche Flucht des Geistes aus den Angesichtern. Wer einmal diesem unentzifferbaren Rätsel unserer eigenen Natur gegenüberstand, der erschrickt, denn er fühlt, daß der Keim des Gebrechens tief in uns ruht, bereit, uns aus irgendeinem Anlaß zu überfallen, zu packen, niederzuwerfen und zu begraben unter einer verkehrten, unsinnigen Vorstellung von uns selbst, 85
von den andern und der Welt. Jeder Wahnsinnige trägt seine Welt in sich, und für ihn gibt es keine Mitmenschen mehr: der Mensch, der er vor dem Wahnsinn war, ist gänzlich verschieden von dem, der er nun geworden ist. Dieser Wandel hat keinen merklichen Anfang und selten ein Ende. Wie war es im Falle ihres Paten gewesen? Da war zunächst die Eingabe ... Aber was hatte das schon zu bedeuten? Eine Grille, eine Laune, nichts von Belang, die harmlose Idee eines alten Mannes. Dann dieses Amtsschreiben auf tupí? Etwas Belangloses, eine bloße Zerstreutheit, wie sie immer einmal vorkommen mag ... Und schließlich? Der helle Wahnsinn, bestürzend, hohnlachend, der uns die Seele raubt und eine andere gibt, der uns hinabzieht; die Exaltiertheit des Ichs, die Obsession, das Haus nicht zu verlassen, der Verfolgungswahn, worin er seine Freunde, und gerade die besten, für Feinde hielt. Wie schmerzlich das alles war! Die erste Phase seines Deliriums, diese ziellose Unruhe, dieses zusammenhanglose Sprechen, ohne Bezug zu seiner Umgebung und zur Vergangenheit, ein Sprechen, von dem man nicht wußte, woher es kam, wohinaus es wollte, welchen Teil seines Selbst es meinte! Was für ein Entsetzen hatte den sanftmütigen Quaresma ergriffen? Es war das Entsetzen jemandes, der einen Kataklysmus gesehen hatte, der ihn durch und durch erzittern ließ, von Kopf bis Fuß, und ihn gleichgültig machte gegen alles außerhalb seines Deliriums. Haus, Bücher, Geld, alles war ihm einerlei. Nichts davon ging ihn an, nichts davon hielt er für wirklich und wichtig; es waren Schatten, Erscheinungen. Wirklich waren die Feinde, die furchtbaren Feinde, deren Namen sein Delirium jedoch nicht offenbarte. Die alte Schwester war beklommen, benommen, ziellos, ratlos. Daheim erzogen, immer einen Mann zur Seite, erst den Vater, 86
dann den Bruder, wußte sie mit der Welt nicht umzugehen, mit den Geschäften, den Behörden und einflußreichen Menschen. Gleichzeitig schwankte sie in ihrer schwesterlichen Unerfahrenheit und Zärtlichkeit zwischen der Annahme, ihr Bruder habe ganz recht, und der Sorge, er sei schlicht verrückt. Wäre da nicht Olgas Vater – und seine Tochter liebte ihn deswegen in all seiner Derbheit um so mehr –, der sich um alles kümmerte, der die Interessen der Familie wahrnahm und statt der drohenden Entlassung Quaresmas seine Versetzung in den Ruhestand erwirkte, was wäre aus ihm geworden? Wie leicht bricht alles im Leben zusammen! Dieser methodische, ordentliche, rechtschaffene Mann in gesicherter Berufsstellung hatte unerschütterlich ausgesehen, und doch genügte ein Quäntchen Narrheit, um ... Seit mehreren Monaten nun war ihr Pate in der Anstalt. Doch seine Schwester vermochte ihn nicht zu besuchen; zu sehr würde es ihre Nerven erschüttern und ihr zu Herzen gehen, sähe sie ihn dort, in diesem halben Gefängnis, sich selbst entfremdet, von wiederholten, unentrinnbaren Anfällen heimgesucht. Olga und ihr Vater jedoch gingen hin, bisweilen ihr Vater allein, hin und wieder auch Ricardo, sie drei waren seine einzigen Besucher. Jener Sonntag war ausnehmend schön, vor allem in Botafogo, zwischen der Meeresbucht und den hohen Bergen, die sich vor dem seidigen Himmel abhoben. Die Luft war mild, und zartes Sonnenlicht schimmerte auf den Gehsteigen. Während der Vater in der Trambahn Zeitung las, saß Olga grübelnd da und blätterte in den Illustrierten, die sie dem Paten zur Aufmunterung und Zerstreuung mitbringen wollte. Dieser lebte in der Anstalt wie ein Pensionsgast, doch schämte sich Olga anfangs ein wenig, sich unter die Besucher zu mischen. 87
Ihr Vermögen, so wollte ihr anfangs scheinen, enthob sie der Verpflichtung, solchen Szenen des Elends beizuwohnen; doch bald verdrängte sie diesen egoistischen Gedanken, diesen Klassendünkel, und begann nunmehr die Anstalt ganz selbstverständlich zu betreten und auf die Wirkung ihrer natürlichen Anmut zu vertrauen. Sie liebte diese Opfer, diese Selbstlosigkeit, deren Größe sie genoß, und sie war mit sich selbst zufrieden. Auch andere Fahrgäste waren zur Irrenanstalt unterwegs, und alle stiegen vor ihrem Eingangstor eilig aus. Hier trafen sich, wie vor allen Toren zu unseren gesellschaftlichen Höllen, Menschen verschiedenster Lebensstellung, Geburt und Vermögenslage. Nicht nur der Tod ebnet ein; auch Wahnsinn, Verbrechen und Siechtum fahren mit dem Rasiermesser über die von uns erdachten Unterschiede. Die gut und die schlecht Gekleideten, die Eleganten und die Armen, die Häßlichen und die Schönen, die Klugen und die Einfältigen gleichermaßen pflegten hier mit einer Ehrerbietung, einer Angespanntheit, einem Anflug von Schrecken einzutreten, als setzten sie den Fuß in eine andere Welt. Kaum waren sie bei ihren Verwandten angekommen, wurden die Mitbringsel ausgepackt, Leckereien, Tabak, Strümpfe, Pantoffeln, mitunter auch Bücher und Zeitungen. Die Patienten unterhielten sich teils mit ihren Besuchern, teils verharrten sie schweigend, in grimmige, unerklärliche Stummheit gehüllt; teils blieben sie völlig geistesabwesend. So groß war die Mannigfaltigkeit dieser Begegnungen, daß man die Herrschaft der Krankheit über all diese Unglücklichen vergaß, denn ihre je eigene Erscheinungsform legte den Gedanken nahe, es handele sich um individuelle Grillen oder willentliche Verhaltensweisen. Und Olga bedachte, wie unterschiedlich und mannigfaltig unser Leben sei, wieviel reicher an traurigen denn an frohen Seiten, 88
und wie diese so mannigfaltige Traurigkeit des Lebens gleichsam seine Bewegung selbst ausmache. Dieser Gedanke erfüllte sie fast mit Genugtuung, denn in ihrer klugen und neugierigen Wesensart genoß sie die einfachsten Entdeckungen, die sie mit ihrem eigenen Verstande machte. Quaresma ging es besser. Seine Exaltiertheit war vorüber, und sein Delirium schien gänzlich abklingen zu wollen. Die Konfrontation mit seiner neuen Umgebung hatte eine heilsame und notwendige Reaktion bei ihm ausgelöst. Wenn man ihn hierher gebracht hatte, mußte er wohl tatsächlich geistesgestört sein ... Auf seinem schon ergrauten Schnurrbart lag sogar ein Lächeln, als er den Gevatter und die Patentochter gewahrte. Er war abgemagert, die schwarzen Haare schon ein wenig weiß, doch insgesamt sah er aus wie immer. Seine milde und sanfte Sprechweise hatte er nicht ganz verloren, und nur, wenn die fixe Idee ihn ergriff, wurde er etwas spröde und argwöhnisch. Jetzt aber, als er die beiden gewahrte, sagte er liebenswürdig: »Da seid ihr ja ... Ich habe schon auf euch gewartet ...« Sie begrüßten sich, er und die Patentochter sogar mit einer langen Umarmung. »Wie geht es Adelaide?« Coleoni beeilte sich zu antworten: »Gut. Sie läßt grüßen, sie konnte nicht kommen, weil ...« »Die Arme!« sagte er und schüttelte den Kopf, als wolle er eine traurige Erinnerung verscheuchen; dann fragte er: »Und Ricardo?« Freudig erregt, denn schon sah sie ihn dem Grabe des Irrsinns entronnen, sprudelte Olga heraus: »Gut geht’s ihm, Pate. Vor ein paar Tagen hat er Papa aufgesucht und gesagt, daß Ihre Versetzung in den Ruhestand so gut 89
wie beschlossen ist.« Coleoni hatte sich gesetzt, Quaresma ebenfalls, während das Mädchen stand, um den Paten mit ihren leuchtenden, aufmerksamen Augen besser sehen zu können. Krankenwärter, Medizinstudenten, Ärzte gingen mit gleichgültiger Berufsmiene ein und aus. Die Besucher schauten aneinander vorbei, offenbar wollten sie sich später auf der Straße nicht wiedererkennen. Dort draußen war ein wundervoller Tag, weich die Luft, grenzenlos und schwermütig die Meeresbucht, die Berge deutlich abgehoben gegen den seidenen Himmel – die Schönheit der großartigen, unentzifferbaren Natur. Coleoni, wiewohl er öfter kam, registrierte die Genesung seines Gevatters mit einer Zufriedenheit, die seinen Gesichtsausdruck, seinen Anflug von Lächeln mißverstand. So machte er einen Vorschlag: »Es geht Ihnen doch schon viel besser; wollen Sie nicht nach Hause?« Quaresma antwortete nicht gleich; er dachte ein wenig nach und erwiderte mit fester, bedächtiger Stimme: »Damit hat es noch etwas Zeit, auch wenn es mir jetzt schon besser geht ... Es tut mir leid, Dir solche Umstände zu bereiten, ihr seid so gut zu mir gewesen und werdet das Ganze weiterhin auf dem Konto eurer Güte verbuchen müssen. Wer Feinde hat, muß auch Freunde haben ...« Vater und Tochter sahen sich an; der Major hob den Kopf und schien kurz davor, in Tränen auszubrechen. Eilig griff das Mädchen ein: »Es gibt eine Neuigkeit, Pate, ich werde heiraten.« »So ist es«, bestätigte ihr Vater. »Olga wird heiraten, und wir wollten es Ihnen mitteilen.« »Wer ist dein Verlobter?« fragte Quaresma. 90
»Ein junger Mann ...« »Natürlich«, unterbrach sie der Pate lächelnd. Und die beiden beobachteten ihn mit herzlicher Genugtuung. Ein gutes Zeichen. »Er heißt Armando Borges, ein angehender Arzt. Freut Sie das, lieber Pate?« fragte Olga lächelnd. »Also im nächsten Frühjahr?« »Wir hoffen, so um diese Zeit.« »Du hast ihn wohl sehr gern?« erkundigte sich der Pate. Auf diese Frage wußte sie keine Antwort. Sie wünschte das Gefühl herbei, ihren Verlobten gern zu haben, doch es gelang ihr nicht. Warum heiratete sie dann? Sie wußte es selbst nicht ... Etwas in ihrer Umgebung drängte sie, etwas, das nicht aus ihr selbst kam ... Mochte sie einen andern? Auch das nicht. Unter den jungen Männern aus ihrem Bekanntenkreis war keiner, der über das Mittelmaß hinausragte und ihre Aufmerksamkeit erregte, keiner, der das »gewisse Etwas« besaß, das sie hätte fesseln oder überwältigen können. Sie wußte nicht recht, was es war, forschte in ihrem Verstand und Gemüt, in ihren Neigungen vergeblich nach einer klaren Vorstellung von derjenigen Eigenschaft, die sie hauptsächlich im Manne suchte. Irgendwie war es das Heroische, das Außerordentliche, die Kraft zu großen Entwürfen; doch im Bewußtseinswirrwarr unserer jungen Jahre, da vielerlei Gedanken und Wünsche sich kreuzen und verschränken, vermochte Olga dieses Sehnen nicht zu fassen und zu erkennen, diese Art und Weise, sich ein männliches Wesen vorzustellen und zu lieben. Vielleicht tat sie gut daran zu heiraten, ohne ihrem Hang zum Heroischen nachzugeben. Es war derart schwierig, was sie sich erträumte, in einem zwanzig- bis dreißigjährigen Manne fertig vorzufinden, daß sie sich leicht hätte ein X für ein U vormachen 91
können. So heiratete sie aus gesellschaftlicher Konvention, ein wenig aus Neugier und auch, um ihren Lebenshorizont zu erweitern und ihr Empfindungsvermögen zu schärfen. All das ging ihr rasch durch den Sinn, und sie antwortete dem Paten ohne Überzeugung: »Ja.« Ihr Besuch neigte sich seinem Ende zu. Man tat gut daran, ihn nicht in die Länge zu ziehen, um die Aufmerksamkeit des Genesenden nicht zu überanstrengen. Die beiden gingen, nicht ohne einen Ausdruck der Zufriedenheit und Zuversicht auf ihren Gesichtern. Vor dem Eingang warteten schon einige Besucher auf die Trambahn. Da diese an der nahen Endhaltestelle noch nicht zu sehen war, spazierten Coleoni und seine Tochter entlang der Fassade des Irrenhauses dorthin. Auf halbem Wege stand, an das Gitter des Vorgartens gelehnt, eine weinende alte Negerin. Coleoni, wie immer gutherzig, sprach sie an: »Was habt Ihr, gute Frau?« Die arme Alte warf ihm einen langen, tränenfeuchten, weichen Blick voll unheilbarer Traurigkeit zu, und antwortete: »Ach, mein Herr! ... Es ist so traurig ... Ein so guter Sohn, der unglückliche Junge!« Und sie weinte in einem fort. Coleoni wurde von Rührung erfaßt; seine Tochter schaute die Alte teilnahmsvoll an und fragte: »Ist er gestorben?« »Ach, wäre es nur das, mein Fräulein.« Weinend und schluchzend erzählte sie, ihr Sohn erkenne sie nicht wieder, gebe auf Fragen keine Antwort, sei wie ein fremder Mensch. Sie wischte sich die Tränen ab und schloß: »Es war Hexerei.« 92
Traurig entfernten sich die beiden und nahmen in ihrer Seele ein wenig mit vom Schmerz jener schlichten Frau. Die Luft war frisch, und die aufkommende Nachmittagsbrise kräuselte die Wasserfläche zu kleinen weißen Wellen. Der Zuckerhut ragte schwarz, streng, feierlich aus den schäumenden Fluten und warf einen Schatten über den hellichten Tag. In der Blindenanstalt wurde Geige gespielt, und die wehmütige, langgezogene Stimme des Instrumentes schien aus allen Dingen zu tönen, aus ihrer Traurigkeit und Feierlichkeit. Die Trambahn ließ auf sich warten. Schließlich kam sie. Die beiden stiegen ein und fuhren bis zum Largo da Carioca. Es tut gut, die Stadt an einem Feiertag zu sehen, die Geschäfte geschlossen, die engen Straßen menschenleer, wo die Schritte wie in stillen Kreuzgängen hallen. Dann ist sie wie ein Gerippe, ihr fehlt das Fleisch, das heißt die Geschäftigkeit, der Verkehr von Fuhrwerken, Kutschen und Menschen. Vor der Tür des einen oder andern Geschäftes spielen die Kaufmannskinder mit Dreirädern oder werfen Bälle, und um so spürbarer ist der Unterschied zur Stadt vom Vortag. Der São-Francisco-Platz lag schweigend da, und das Standbild inmitten des einstigen, inzwischen verschwundenen kleinen Parks schien nun ganz gewöhnlicher Zierat. Träge rollten Trambahnen, von Maultieren gezogen, mit ihren wenigen Fahrgästen heran und hielten auf dem Platz. Coleoni und seine Tochter nahmen die Linie zu Quaresmas Stadtviertel. Noch hatte es sich nicht eingebürgert, sonntags die malerischen Vororte aufzusuchen, und sie trafen nur dann und wann auf Paare, die eilige Besuche machten, wie sie selbst es soeben taten. Der Abend rückte heran, in den Fenstern erschienen schon die Sonntagstoiletten. Und auf der Straße erblickte man Schwarze in hel93
len Anzügen, eine Zigarette oder Zigarre im Mund; Gruppen von Handlungsgehilfen mit einer auffälligen Blume im Knopfloch; Mädchen in wohlgebügelten Musselinkleidern, vorsintflutliche Zylinder neben den schweren, schwarzen Satinkleidern fülliger Matronen; so zeigte sich der Sonntag geschmückt mit der Schlichtheit der kleinen Leute, dem Reichtum der Armen und der Schaustellung der Eingebildeten. Dona Adelaide war nicht allein. Ricardo war gekommen, und die beiden unterhielten sich. Kurz bevor der Gevatter ihres Bruders ans Tor klopfte, erzählte er der alten Dame von seinem jüngsten Triumph: »Ich weiß nicht, Dona Adelaide, wie ich es anstellen soll. Ich bewahre meine Kompositionen nicht auf, ich bringe sie nicht zu Papier, es ist zum Auswachsen!« Für einen Künstler wie ihn war die Sache wirklich peinlich. Ein Herr Paysandón aus Córdoba in der Republik Argentinien, ein wohlbekannter Autor in jener Stadt, hatte ihn brieflich um Exemplare seiner Partituren und Liedtexte gebeten. Ricardo war ratlos. Wohl lagen seine Verse schriftlich vor, nicht aber die Musik. Zwar wußte er sie auswendig, doch sie mir nichts, dir nichts zu notieren, das überstieg seine Fähigkeiten. »Zum Teufel auch, fuhr er fort. Es geht ja nicht um mich, aber es ist eine verpaßte Chance für das Ansehen Brasiliens im Ausland.« Quaresmas Schwester brachte der Gitarre nur geringes Interesse entgegen. Aufgrund ihrer Erziehung gewohnt, solche Instrumente bei Sklaven und Leuten ähnlichen Schlages zu sehen, konnte sie es nicht gutheißen, wenn Menschen eines gewissen Ranges sich dafür erwärmten. Taktvoll, wie sie war, ertrug sie jedoch Ricardos Besessenheit, zumal sie einen Anflug von Wertschätzung für den 94
berühmten Vorstadttroubadour zu empfinden begann. Diese ging auf die Hilfsbereitschaft zurück, die er in ihrem Familiendrama an den Tag legte, denn er übernahm die anfallenden kleineren Aufgaben und Besorgungen, tat diesen oder jenen Gang, und alles erledigte er bereitwillig und zuverlässig. Gegenwärtig war er beauftragt, sich um die Pensionierung seines ehemaligen Schülers zu kümmern. So eine Pensionierung zu »erledigen«, wie es im Bürokratenjargon heißt, ist eine dornenvolle Aufgabe. Ist der Betreffende kraft feierlicher Verfügung in den Ruhestand versetzt, wandert der Vorgang zu einem Dutzend Dienststellen und Beamten, bevor er zum Abschluß kommt. Es gibt nichts Ernsteres als den Ernst, mit dem der Sachbearbeiter uns erklärt, er sei noch mit den Berechnungen beschäftigt, und diese dauern einen Monat oder länger, als gehe es um ein Problem der Himmelsmechanik. Bevollmächtigter des Majors war eigentlich Coleoni, doch da er von Behördendingen wenig verstand, überließ er diesen Teil seines Mandats Ricardo Anderherz. Dank seiner Popularität und Offenherzigkeit hatte dieser den Widerstand des bürokratischen Räderwerks überwunden, und man hatte ihm den Abschluß der Angelegenheit für die nahe Zukunft in Aussicht gestellt. Ebendies teilte er Coleoni mit, der soeben mit seiner Tochter eintrat. Ricardo und Dona Adelaide baten um Neuigkeiten über den Freund und Bruder. Die Schwester hatte den Major nie recht verstanden, und in seiner Krise verstand sie ihn keineswegs besser, doch mit ihrem schlichten schwesterlichen Gefühl bedauerte sie ihn zutiefst und wünschte ihm von ganzem Herzen Genesung. Ricardo mochte den Major, hatte er doch in ihm den moralischen und geistigen Beistand gefunden, dessen er bedurfte. Auch 95
andere lauschten gern seinem Gesang, schätzten ihn aus Liebhaberei; der Major aber war der einzige, der sein Anliegen von Grund auf verstand und die patriotische Tragweite seines Werkes würdigte. Im übrigen litt er gerade jetzt, litt bei all seinem Ruhm, Frucht geduldiger, ausdauernder, jahrelanger Arbeit. Denn ein schwarzer Modinha-Sänger war aufgetreten, dessen Name sich immer mehr durchsetzte und schon neben dem seinen genannt wurde. Der Rivale störte ihn aus zweierlei Gründen; erstens, weil er dunkelhäutig war, und zweitens wegen seiner Theorien über das Gitarrenspiel. Nicht, daß Ricardo eine besondere Abneigung gegen Schwarze gehabt hätte. Wenn aber ein Schwarzer sich durchs Gitarrenspiel einen Namen machte, würde das aus seiner Sicht das Ansehen des Instrumentes noch weiter herabsetzen. Wenn sein Rivale Piano spielte und dadurch zu Ruhm gelangte, so wäre daran nichts Nachteiliges, im Gegenteil: das Prestige des Instrumentes würde den Rang des jungen Talentes erhöhen. Doch da er Gitarre spielte, verhielt es sich gerade umgekehrt: das seiner Person anhaftende Vorurteil diskreditierte das geheimnisvolle, von ihm so hochgeschätzte Instrument. Und dann diese Theorien! Du meine Güte! Von der Modinha zu erwarten, sie solle etwas aussagen und überdies korrekt gebaute Verse enthalten! Welch ein Unsinn! Ricardo mußte ständig an diesen Rivalen denken, der sich seinem wunderbaren Aufstieg zur Berühmtheit plötzlich entgegenstellte. Er mußte ihn entfernen, erdrücken, seine eigene unzweifelhafte Überlegenheit demonstrieren, aber wie? Reklamemethoden genügten nicht mehr; der Konkurrent benutzte sie ebenfalls. Gäbe es eine bekannte Persönlichkeit, einen einflußreichen Literaten, der einen Artikel über ihn und sein Werk publizierte, wäre 96
sein Sieg vollkommen. Wie aber sollte er so jemanden finden? Unsere Literaten waren ja so töricht und starrten wie gebannt auf alles Französische ... Ihm schwebte eine Zeitschrift vor, Die Gitarre, worin er den Rivalen herausfordern und mit einem polemischen Artikel vernichten würde. Ja, dies mußte er unbedingt erreichen, und seine Hoffnung ruhte auf Quaresma, der in der Heilanstalt war, doch glücklicherweise auf dem Wege der Besserung. So freute er sich sehr, als er von der fortschreitenden Genesung seines Freundes erfuhr. »Heute konnte ich nicht zu ihm«, sagte er, »aber nächsten Sonntag bestimmt. Hat er ein wenig zugenommen?« »Kaum«, sagte das Mädchen. »Er hat sich angeregt mit uns unterhalten«, fügte Coleoni hinzu. »Es hat ihn sogar gefreut, als er hörte, daß Olga heiraten wird.« »Sie werden heiraten, Dona Olga? Meine Glückwünsche.« »Danke.« »Wann soll die Hochzeit sein, Olga?« fragte Dona Adelaide. »So gegen Jahresende ... Es ist noch lange hin.« Dann regnete es Fragen nach dem Verlobten, und es wurden Betrachtungen über die Ehe angestellt. Olga fühlte sich peinlich berührt, Fragen wie Betrachtungen hielt sie für ungehörig und ärgerlich und wäre dem Thema gern ausgewichen, doch immer wieder kam man darauf zurück, nicht nur Ricardo, sondern auch die betagte Adelaide, die noch gesprächiger und neugieriger war als sonst. Diese Tortur wiederholte sich bei allen Besuchen, so daß Olga fast bedauerte, den Heiratsantrag angenommen zu haben. Endlich fand sie eine Ausflucht und fragte: »Wie geht es dem General?« 97
»In der letzten Zeit habe ich ihn nicht gesehen, doch seine Tochter Ismênia schaut öfter herein. Ihm geht es offenbar gut, sie aber ist so traurig und unglücklich – die Ärmste!« Nun erzählte Dona Adelaide von dem Drama, das die kleine Seele der Generalstochter schüttelte. Cavalcânti, der so lange fürs Studium gebraucht hatte, war vor drei oder vier Monaten ins Landesinnere gereist, ohne auch nur einen Brief oder eine Karte zu schicken. Das Mädchen hielt das für einen Bruch der Verlobung, und außerstande zu einem tieferen Gefühl, zu einem ernsthafteren geistigen oder physischen Aufschwung, litt sie darunter zutiefst, wie unter einem unheilbaren Zustand, der ihr ganzes Bewußtsein beherrschte. Für Ismênia war es, als hätten alle heiratsfähigen Männer zu existieren aufgehört. Einen andern zu finden war unendlich schwierig, eine Aufgabe, die über ihre Kräfte ging, ein schier unlösbares Problem! Einen jungen Mann zum Freund haben, Briefchen schreiben, sich zuwinken, tanzen, Spaziergänge machen – zu alledem würde sie sich nicht noch einmal aufraffen. Nun stand es fest, sie war dazu verdammt, unverheiratet zu bleiben, Tante zu werden, ihr Leben lang den Stand einer alten Jungfer zu ertragen, was sie entsetzte. Zwar waren ihr die Züge ihres Verlobten beinahe entfallen, seine ausdruckslosen Augen, seine harte, knöcherne Nase; doch unabhängig davon kam ihr regelmäßig, wenn der Postbote morgens wieder keinen Brief für sie hatte, dieser alte Gedanke: keine Heirat. Sie war vom Schicksal gestraft ... Quinota würde heiraten, Genelício bereitete schon die Papiere vor; und sie, die so lange gewartet, ja, sich als erste verlobt hatte, sie sollte zur Ehelosigkeit verdammt bleiben, erniedrigt vor aller Augen. Fast schien es, als käme den beiden Brautleuten die unerklärliche Flucht Cavalcântis gelegen. Wie sie sich beim Karneval amüsier98
ten! Wie sie bei den Karnevalsbelustigungen auf ihr verfrühtes Witwentum anspielten. Wenn sie so überaus eifrig mit Konfetti um sich warfen und Duftwasser versprühten, dann taten sie es gewiß, um der im Stich gelassenen Schwester ihr beider Glück zu demonstrieren, ihren glorreichen und geneideten Gang zum Traualtar. Sie gab sich unbeeindruckt von der Freude der beiden, die ihr taktlos und feindselig vorkam, doch der Spott der Schwester – »Nun amüsier Dich doch, Ismênia! Er ist weit weg, nutz die Gelegenheit« – weckte Wut in ihr, jene Wut der Schwachen, die das Gemüt zerfrißt, weil sie sich nicht Luft machen kann. Dann überließ sie sich, um die bösen Gedanken zu verscheuchen, dem kindlichen Anblick der Straßen, die mit bunten Konfetti übersät waren, die Erker behängt mit schillernden Papierschlangen. Was ihrer armen, gedrückten Seele aber besonders wohl tat, waren die Umzüge, dieses Getöse aus Trommeln, Tamburinen, Pauken und Becken. In diesen Heidenlärm einzutauchen war eine Labsal für ihren Geist, als werde dadurch der Gedanke, der sie schon so lange verfolgte, von ihrem armen Köpfchen ferngehalten. Im übrigen weckten diese ausgefallenen Indianertrachten mit Bildern einer wilden Mythologie voller Kaimane, Schlangen, Schildkröten, die höchst lebendig wirkten, in ihrer dürftigen Phantasie heitere Vorstellungen von klaren Flüssen, tiefen Wäldern, tröstlichen Orten der Ruhe und Reinheit. Selbst jene geschrienen, gebrüllten Schlager mit ihren harten Rhythmen und dürftigen Melodien kamen wie gerufen, um den Kummer zu verdrängen, der, erstickt, zurückgehalten, unterdrückt, in ihr schwelte und der hinausgeschrien werden wollte, wozu sie jedoch nicht stark genug war. 99
Einen Monat vor dem Karneval war ihr Verlobter abgereist, und nachdem dieses große Fest von Rio vorbei war, empfand sie noch größere Qual als zuvor. An Lektüre und Gespräch nicht gewöhnt, in häuslicher Tätigkeit ungeübt, verbrachte sie die Tage im Liegen oder im Sitzen, und all ihr Sinnen kreiste um diesen einen Gedanken: keine Heirat. Tränen brachten ihr Linderung. Jedesmal, wenn die Post ausgetragen wurde, keimte frohe Hoffnung. Ob vielleicht ...? Doch der Brief kam nicht, und wieder stellte sich dieser eine Gedanke ein: keine Heirat. Dona Adelaide kommentierte ihren Bericht über das traurige Los der unglücklichen Ismênia: »So ein Kerl gehörte bestraft, findet ihr nicht?« Coleoni gab sanft und gutmütig zu bedenken: »Es besteht kein Grund zur Verzweiflung. Es gibt so viele schreibfaule Menschen ...« »Ach was!« meine Dona Adelaide. »Es sind schon drei Monate vergangen, Herr Vicente!« »Der kommt nicht wieder«, sprach Ricardo sentenziös. »Wartet sie denn immer noch auf ihn, Dona Adelaide?« fragte Olga. »Ich weiß nicht, meine Tochter. Kein Mensch begreift dieses Mädchen. Sie spricht kaum etwas, und wenn überhaupt, dann ein paar abgerissene Worte ... Sie scheint wirklich ein Wesen ohne Fleisch und Blut. Man spürt, wie traurig sie ist, doch sie redet nicht.« »Ist es Stolz?« fragte Olga weiter. »Nein, nein ... Wäre es Stolz, würde sie nicht von Zeit zu Zeit ihren Verlobten erwähnen. Eher ist es ihre Schlaffheit und Trägheit ... offenbar scheut sie sich, über diese Dinge zu reden, damit das Befürchtete nicht wirklich eintritt.« 100
»Und was sagen ihre Eltern dazu?« wollte Coleoni wissen. »Ich weiß nicht recht. Nach meinem Eindruck ist der General darüber nicht sehr bekümmert, und Dona Marieta meint, sie solle sich eben ›einen andern suchen‹.« »Das wäre das Beste«, sagte Ricardo. »Ich glaube, sie ist aus der Übung«, bemerkte Dona Adelaide lächelnd. »Sie war so lange verlobt ...« Und das Gespräch hatte sich schon andern Themen zugewandt, als Ismênia der Schwester des Majors ihren täglichen Besuch abstattete. Sie grüßte alle, und alle fühlten, daß sie litt. Der Schmerz belebte ihre Züge ein wenig. Ihre Wimpern schimmerten rötlich, und ihre kleinen braunen Augen hatten mehr Glanz und Ausstrahlung als sonst. Sie erkundigte sich nach Quaresmas Gesundheit; dann schwiegen alle für eine kurze Weile. Schließlich fragte Dona Adelaide: »Hast Du Post bekommen, Ismênia?« »Noch nicht«, antwortete sie mit dem geringstmöglichen stimmlichen Aufwand. Ricardo saß unruhig auf seinem Stuhl. Er stieß mit dem Arm gegen einen Vitrinenschrank, von dem ein Nippesfigürchen herabfiel und beinahe geräuschlos in zahllose Teile zersprang.
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Zweiter Teil
i Auf dem »Ruhehof«
Es war nicht häßlich, das kleine Landgut, doch auch nicht schön. Immerhin strahlte es die Gelassenheit und Zufriedenheit jemandes aus, der sich im Einklang mit seinem Schicksal weiß. Das Haus stand auf erhöhtem Gelände, einer Art Vorstufe zu einem dahinter ansteigenden Hügel. Vorn sah man durch den Bambuszaun auf eine sich bis zu den fernen Gebirgen ziehende Ebene; sie wurde, parallel zur Hausfront, durchschnitten von einem Bach mit stehendem, schmutzigem Wasser, dahinter verlief die Eisenbahn mit ihrem hellen, graslosen Band; von links kam ein beidseitig von Häusern gesäumter Fahrweg, querte den Bach und schlängelte sich durchs flache Gelände dem Bahnhof entgegen. So hatte Quaresmas Wohnstätte einen weiten Horizont, freien Blick auf den kühlen Osthang der Gebirge; und mit ihren weißgetünchten Mauern nahm sie sich heiter und anmutig aus. Von beklagenswerter architektonischer Einfallslosigkeit, wie bei uns auf dem Lande üblich, hatte sie immerhin weite Räume, große Schlafzimmer mit hellen Fenstern und ein umlaufendes Vordach mit einer nicht ganz stilechten Kolonnade. Zum Landsitz »Ruhehof« gehörten einige Nebengebäude wie die alte Maniokmühle mit einem noch betriebsbereiten Ofen, doch ohne das Schwungrad der Raspel, und ein mit sapê-Gras gedeckter Pferdestall. 102
Erst vor drei Monaten war Quaresma hierher gezogen, in diese einsame Gegend, zwei Eisenbahnstunden von Rio entfernt, nach sechsmonatigem Aufenthalt in der Heilanstalt am »Sehnsuchtsstrand«. War er nun geheilt? Wer konnte es wissen? Es schien so, er phantasierte nicht mehr, und seine Gebärden und Reden waren die eines normalen Menschen, obschon man dahinter weiterhin wenn nicht den Wahnsinn, so doch den Traum vermuten konnte, den er so viele Jahre hindurch genährt hatte. Es waren sechs Monate eher der Muße und heilsamen Absonderung gewesen als die einer wirklichen psychiatrischen Therapie. Dort in der Irrenanstalt hatte Quaresma still ergeben vor sich hin gelebt, in Gesprächen mit seinen Schicksalsgefährten, unter denen er Reiche sah, die sich für arm erklärten, Arme, die behaupteten, reich zu sein, Gelehrte, welche die Gelehrsamkeit verfluchten, Ungebildete, die sich zu Gelehrten aufwarfen; doch am meisten verwunderte ihn ein älterer, sanftmütiger Geschäftsmann aus der Rua dos Pescadores, der sich für Attila hielt. »Ich«, sagte der friedfertige Alte, »bin Attila, wissen Sie das nicht?« »Ich bin Attila.« Er wußte kaum etwas über diese Gestalt, er kannte den Namen und weiter nichts. »Ich bin Attila und habe schon viele Menschen umgebracht« – das war alles. Der Major verließ die Anstalt noch trauriger, als er sein ganzes Leben lang gewesen war. Von allen traurig anzuschauenden Dingen auf der Welt ist der Wahnsinn das traurigste, das am meisten deprimierende und schmerzende. Jene eigentümliche Fortsetzung unseres Lebens mit einer zunächst unmerklichen, doch tiefen und fast immer unerforschlichen Störung, die es völlig unnütz macht, deutet auf etwas, das stärker ist als wir, das uns führt, das uns treibt und in dessen Händen wir bloßes Spielzeug sind. In manchen Zeiten 103
und Ländern galt der Wahnsinn für heilig, und der Grund dafür liegt gewiß im Gefühl, das uns überkommt, wenn wir beim Anblick eines daherfaselnden Irrsinnigen glauben, nicht er, sondern ein anderer sei es, der da an seiner Statt spricht, an seiner Statt sieht, an seiner Statt urteilt, jemand, der hinter ihm steht, unsichtbar! ... Umfangen, durchdrungen von der Schwermut der Irrenanstalt, kehrte Quaresma heim, und der Anblick der ihm vertrauten Gegenstände benahm ihm nicht die starken Eindrücke, die er dort empfangen hatte. War er schon vorher niemals froh gewesen, so zeigte seine Physiognomie jetzt noch größeres Mißvergnügen als zuvor, eine tiefe Niedergeschlagenheit, und wenn er sich in dieses heitere Landhaus zurückgezogen hatte, wo er sich dem schlichten Feldbau widmete, so mit der Absicht, seine Gemütsverfassung zu heben. Nicht er jedoch war auf den Gedanken an solch einen freundlichen Lebensabend gekommen, vielmehr hatte ihn seine Patentochter darauf gebracht. Als sie ihn so niedergeschlagen sah, so traurig und schweigsam, ohne den Mut, auszugehen, eingeschlossen in seinem Haus in São Cristóvão, fragte sie ihn eines Tages sanft und töchterlich: »Warum kaufen Sie sich keinen Bauernhof? Es wäre so schön, den eigenen Acker zu bestellen, das eigene Obststück, den eigenen Gemüsegarten ... meinen Sie nicht?« Wie schweigsam er auch war, bei dem Vorschlag des Mädchens gewann sein Antlitz sogleich einen anderen Ausdruck. Ebendies hatte ihm immer vorgeschwebt, der Erde Nahrung, Lebensfreude und Wohlstand abzugewinnen; und eingedenk seiner alten Projekte erwiderte er: »Wie wahr, meine Tochter. Was für eine großartige Idee. In 104
Brasilien dehnen sich so weite fruchtbare Landstrecken, die brachliegen. Unsere Heimat hat überhaupt die fruchtbarsten Böden der Welt ... was den Mais betrifft, so wirft er sogar zwei Ernten ab pro Jahr, mit einem Ertrag von vierhundert zu eins ...« Fast bereute die junge Frau ihre Anregung. Ihr war, als wecke sie im Geiste des Paten bereits erloschene Wahnvorstellungen. »Fruchtbare Böden gibt es überall, meinen Sie nicht, Herr Pate?!« »Doch in wenigen Ländern sind sie so fruchtbar wie in Brasilien«, beeilte er sich zu sagen. »Ich will tun, was du sagst, Mais, Bohnen und Kartoffeln will ich säen, ziehen, hegen. Und dann wirst du dir meine Kulturen, meinen Gemüse- und meinen Obstgarten anschauen und wirst einsehen, wie ertragreich unsere Böden sind!« Kaum war diese Idee in sein Gemüt gefallen, da keimte sie schon empor. Der Boden war bereitet gewesen und hatte nur auf den geeigneten Samen gewartet. Nicht daß er eine Heiterkeit wiedergewonnen hätte, die er nie gehabt hatte, doch mit der Niedergedrücktheit wich auch sein Schweigen, und sein Gehirn wurde rege wie zuvor. Er erkundigte sich nach den marktüblichen Preisen für Obst, Gemüse, Kartoffeln, Maniokknollen; er berechnete, daß fünfzig Orangenbäume, dreißig Avocado-, achtzig Pfirsich- sowie weitere Obstbäume, des weiteren Ananas (»was für eine Goldgrube!«), Kürbis und andere, weniger wichtige Landprodukte abzüglich der Unkosten jährlich mehr als viertausend Mil-Réis abwerfen könnten. Es wäre müßig, hier alle Einzelheiten seiner Berechungen auszubreiten, die auf den Empfehlungen im Mitteilungsblatt des Brasilianischen Landwirtschaftsverbandes fußten. Er veranschlagte den mittleren Ertrag eines jeden Obstbaums, eines jeden Hektars Anbaufläche, zog die Lohnkosten ab, 105
die unvermeidlichen Verluste, und was die Preise betraf, so machte er sich persönlich in den Markthallen von Rio kundig. Seine Existenz als Landwirt plante er mit der Genauigkeit und Gründlichkeit, mit der er alle seine Projekte anging. Er betrachtete sie von allen Seiten, wog Gewinnaussichten und Belastungen gegeneinander ab; und er freute sich, seine künftige Tätigkeit für lukrativ zu befinden, nicht weil er damit ein Vermögen hätte verdienen wollen, sondern weil er darin einen erneuten Beweis für die Vorzüge Brasiliens sah. Aufgrund solcher Überlegungen hatte er dieses unweit von Rio gelegene kleine Landgut erworben, dessen Name – »Ruhehof« – nach jenem Sturm, der ihn fast ein Jahr hindurch geschüttelt hatte, so gut zu seiner neuen Lebensweise paßte. Er hatte es übernommen, wie es war, übel zugerichtet, verwahrlost, um desto besser unter Beweis zu stellen, was Ausdauer und Hingabe im Landbau vermögen. Große Ernten versprach er sich an Obst, Körnerfrüchten, Gemüse; und seinem Vorbild würden tausend andere Landwirte folgen, so daß binnen kurzem eine wahre Kornkammer die Hauptstadt umschließen würde, so grünend und üppig, daß man auf die Einfuhren aus Argentinien und Europa würde verzichten können. Mit welcher Freude ging er dorthin! Nach seinem alten Haus in São Januário sehnte er sich kaum zurück, das nunmehr in anderen Händen war, vielleicht dazu bestimmt, als Mietobjekt dem schnöden Profit zu dienen ... Er bedauerte keineswegs, daß jener große Raum, stilles Obdach seiner Bücher während so vieler Jahre, nunmehr womöglich Schauplatz nichtiger Tanzvergnügungen oder heftiger Ehe- und Familienstreitigkeiten würde – ein so gutes, wohltuendes, freundliches Zimmer mit seiner hohen Decke und seinen glatten Wänden, worin seine Seelenwünsche sich ein106
gegraben hatten und das ganz durchdrungen war vom Überschwang seiner Träume! ... Zufriedenheit erfüllte ihn. Wie einfach es war, auf brasilianischer Erde zu leben! Viertausend Mil-Réis pro Jahr, die sich leicht, freundlich, heiter der Erde abgewinnen ließen! Oh, gesegnete Erde! Warum nur wollte alle Welt Beamter werden, am Schreibtisch versauern, sich den Stolz und die Unabhängigkeit beschneiden lassen? Warum sollte man lieber in engen Wohnungen leben, ohne Luft, ohne Licht, sollte krankmachende Dünste einatmen, sich von minderwertigen Lebensmitteln ernähren, wo es doch so leicht war, ein Leben in Glück, Wohlstand, Freiheit, Freude und Gesundheit zu führen? Erst jetzt gelangte er zu dieser Einsicht, nachdem er so lange unter dem Elend des Großstadtlebens und dem entmannenden Trott des Behördenalltags gelitten hatte! Spät war er dorthin gelangt, aber noch rechtzeitig, um vor seinem Tod das freundliche Landleben und die Fruchtbarkeit der brasilianischen Erde kennenzulernen. Und er bedachte, wie vergeblich seine Wünsche nach tiefgreifenden Reformen der Sitten und Gebräuche gewesen waren: Entscheidend für die Größe des heißgeliebten Vaterlandes war vielmehr eine solide landwirtschaftliche Basis, eine geradezu kultische Pflege seines überreichen Bodens – ein kräftiges Fundament für alle weiteren Bestimmungen der Nation. Angesichts so fruchtbarer Landstrecken und so verschiedenartiger Klimazonen, die einen mühelosen und gewinnträchtigen Ackerbau verhießen, war dies der natürlicherweise vorgezeichnete Weg. Und vor seinem inneren Auge sah er die Orangenbäume in voller, duftender, strahlend weißer Blütenpracht stehen und gleich Brautprozessionen hügelan steigen; sah die Avocadobäume mit ihren mächtigen Stämmen sich unter der Last der schweren, grü107
nen Früchte biegen; sah die großen, schwarzen jabuticaba-Beeren an dicken Ästen beinahe platzen, sah die Ananasstauden mit ihrem königlichen Blätterkranz, von der heißen Sonne gesalbt, die Kürbisse, die mit fleischigen, pollenträchtigen Blüten daherkrochen, die Wassermelonen, von so kräftigem Grün, als wären sie gemalt, die samtenen Pfirsiche, die ungeheuren jacas, die jambos, die berauschenden Mangos; und inmitten dieser Pracht erschien eine wunderschöne Frau, eine Schulter entblößt, den Schoß voller Früchte, die ihm dankbar zulächelte mit ihrem überirdischen, ewigen Lächeln – Pomona, die Göttin der Obsthaine und Gärten! ... Die ersten Wochen seines Aufenthaltes auf dem »Ruhehof« verwendete Quaresma zu einer regelrechten Erkundung seiner neuen Besitzung. Es gab dort reichlich Land, alte Obstbäume, nachwachsenden Buschwald mit camarás, bacurubus, tinguacibas, tibibuias, munjolos und anderen Arten. Anastácio, der ihn begleitet hatte, griff auf seine Erinnerungen als früherer Sklave auf einer Fazenda zurück, und er war es, der dem brasilienkundlich vielbelesenen und vielgelehrten Quaresma die Namen eines jeden Baumes erklärte. Unverzüglich richtete der Major auf dem »Ruhehof« ein Naturkundemuseum ein. Die Wald- und Feldpflanzen bekamen Etikette mit ihren volkstümlichen und, wenn möglich, mit ihren wissenschaftlichen Namen. Die Sträucher und Kräuter kamen ins Herbarium, und die Bäume waren als kleine Längs- und Querschnitte ihrer Stämme vertreten. Der Gang seiner Studien hatte Quaresma zu den Naturwissenschaften geführt, und mit der Lesewut des Autodidakten hatte er sich solide Kenntnisse in Botanik, Zoologie, Mineralogie und Geologie angeeignet. 108
Nicht nur den Pflanzen, auch den Tieren wurde die Ehre der Inventarisierung zuteil; doch aus Platzmangel und wegen des größeren Aufwandes, den ihre Konservierung erfordert hätte, beschränkte sich Quaresma darauf, sein Museum mit Papierexemplaren derjenigen Arten auszustatten, von denen er seine Besitzung bevölkert wußte: Gürteltiere, Nager wie cutias und preás, diverse Schlangen und Vögel, saracuras, sanãs, avinhados, coleiros, tiês etc. Die Mineralogie dagegen war schwach vertreten: Tone, Sande, ein paar abblätternde Glimmerbrocken. Nach Fertigstellung dieses Inventars organisierte er zwei Wochen lang seine landwirtschaftliche Bibliothek; auch erstellte er eine Liste meteorologischer Instrumente, die seine Arbeit als Landwirt unterstützen sollten. Er kaufte Bücher und ließ Thermometer, Barometer, Pluviometer, Hygrometer, Anemometer kommen. Alle diese Geräte wurden gleich nach ihrem Eintreffen fachgerecht aufgestellt. Anastácio war über diese Anstalten verblüfft. Wozu so vieles Zeug, so viele Bücher, so viele Gläser? Wollte sein Herr etwa auf einmal Apotheker werden? Die Zweifel des alten Schwarzen währten nicht lange. Als Quaresma eines Tages den Regenmesser ablas, stand Anastácio neben ihm und schaute ihm sprachlos zu wie jemand, der einem Zauber beiwohnt. Sein Herr bemerkte seine Verblüffung und fragte: »Weißt Du, was ich da mache, Anastácio?« »Nein, Senhor.« »Ich schaue, ob es viel geregnet hat.« »Wozu, Patrão? Das weiß man doch, wenn man hinguckt, ob es viel oder wenig regnet ... Feldarbeit heißt jäten, säen, warten bis alles wächst, ernten ...« Er sprach mit seinem weichen afrikanischen Tonfall, mit einem 109
undeutlichen »r«, langsam und selbstbewußt. Quaresma, ohne sich vom Gerät abzuwenden, dachte über den Rat seines Dieners nach. Unkraut und Buschwerk bedeckten sein Land. Die Orangen-, Avocado- und Mangobäume waren verholzt, starrten von toten Ästen und waren mit einem Medusenhaupt aus erva-de-passarinho überwachsen; doch da die Jahreszeit zum Beschneiden der Bäume noch nicht gekommen war, beschränkte der Major sich darauf, den Boden zwischen ihnen zu jäten. Frühmorgens waren er und Anastácio, die Hacken geschultert, schon unterwegs zur Feldarbeit. Die Sonne schien heiß und kräftig, man war mitten im Sommer, doch Quaresma schritt unermüdlich und wacker aus. Er bot einen eigenartigen Anblick, mit seinem Hut aus Kokosfasern, wenn er, der kleinwüchsige und kurzsichtige Mann, sich an seine große Hacke mit dem knotigen Stiel klammerte und mit wiederholten Hieben einen hartnäckigen guaximba-Strunk herauszureißen suchte. In seinen Händen glich die Hacke eher einer Riesenschaufel, einem Bagger, als einem bäuerlichen Werkzeug. Voll Mitleid und Verwunderung blickte Anastácio auf seine Herrschaft. Wie konnte man zum Vergnügen in solch einer Sonne roden und jäten, ohne etwas davon zu verstehen? ... Was es nicht alles gibt auf dieser Welt! Und so arbeiteten sie beide fort. Der alte Schwarze hurtig, schnell, mit geübter Hand die Hacke schwingend, die mühelos über den Boden glitt und niederes Buschwerk und Unkraut mähte; Quaresma wütend, lange bei jedem Strauch verweilend, da die Klinge seines Werkzeugs des öfteren fehlging und mit solcher Wucht die Erde schrammte, daß sie Schollen herausriß und eine höllische Staubwolke aufwirbelte, wie wenn eine Schwadron Kavallerie darüber hinweggeritten wäre. Dann meldete sich Ana110
stácio bescheiden, aber belehrend zu Wort: »So nich, Herr Majoh. Man läßt die Hacke nicht in die Erde sausen, man hält sie ganz locker, so geht das!« Und er lehrte seinen unerfahrenen Cincinnatus den Umgang mit diesem uralten Arbeitsgerät. Quaresma packte es, stellte sich zünftig hin und mühte sich nach Kräften, es in der gezeigten Weise zu handhaben. Vergeblich. Die Klinge fuhr ins Gras, hüpfte auf und ab, und von oben vernahm man das spöttische Zwitschern eines bem-te-ví: »Sieh da, hi, hi«. Der Major ereiferte sich, versuchte es noch einmal, ermattete, schwitzte, wurde wütend, hieb mit aller Kraft, und mehrfach brachte ihn die Hacke, wenn sie den Boden verfehlte und ins Leere ging, aus dem Gleichgewicht, so daß er stürzte und die Erde küßte, die Mutter der Früchte und der Menschen. Sein pince-nez löste sich, traf auf einen Kieselstein und zersprang. Er wurde ganz wild und kehrte mit verdoppelter Entschlossenheit und Energie zur selbstgestellten Aufgabe zurück. Die Erinnerung an diesen heiligen Auftrag, der Erde den Lebensunterhalt abzugewinnen, ist in unseren Muskeln so fest verankert, daß es dem Major am Ende nicht unmöglich war, in den seinigen den richtigen Gebrauch der altehrwürdigen Hacke wachzurufen. Nach einem Monat jätete er schon recht ordentlich, nicht in einem fort von früh bis spät, vielmehr, seinem Alter und seiner mangelnden Gewöhnung entsprechend, mit stündlichen Ruhepausen. Hierbei leistete ihm der treue Anastácio mitunter Gesellschaft, und so standen sie Seite an Seite im Schatten eines der dichter belaubten Obstbäume und schauten in die schwere Luft jener Sommertage, welche die Blätter der Bäume sich kräuseln ließ und alle Dinge mit morbider Resignation überzog. Dann, kurz nach der Mittagsstunde, wenn die Hitze alles zu betäuben 111
und alles Leben in Schweigen zu tauchen schien, erkannte der alte Major die Seele der Tropen, die voller Widersprüche ist, darunter dieser: eine Sonne, die hoch, hell, olympisch über einer von ihr selbst bewirkten Todesstarre leuchtete. Das Mittagessen nahmen sie ebendort auf dem Acker ein, Speisen vom Vortag, die auf einem improvisierten Steinherd rasch aufgewärmt wurden, und dann ging die Arbeit fort bis zum Nachmittag. Quaresma war von aufrichtiger Begeisterung beseelt, von der Begeisterung des Ideologen, der seine Idee in die Praxis umsetzen will. Keineswegs ließ er sich von der anfänglichen Undankbarkeit der Erde verdrießen, von ihrer morbiden Liebe zum Unkraut und ihrem unverständlichen Haß auf die fruchtbarkeitsfördernde Haue. Er jätete und rodete bis zur Essensstunde. Beim Abendessen ließ er sich Zeit, unterhielt sich ein wenig mit seiner Schwester, erzählte ihr vom Tagewerk, wobei es jedesmal um die Ausdehnung der bereits gerodeten Fläche ging. »Weißt Du Adelaide, morgen wird das Orangenstück sauber sein, nicht ein einziger Strunk wird im Boden zurückbleiben.« Die Schwester, älter als er, betrachtete ihn wortlos; seinen Enthusiasmus für alles Landwirtschaftliche teilte sie keineswegs, und wenn sie mit ihm hierher gezogen war, so nur aus Anhänglichkeit. Gewiß, sie hatte ihn gern, doch sie verstand ihn nicht, begriff weder sein Handeln noch seine innere Unruhe. Warum war er nicht denselben Weg gegangen wie die andern? Warum hatte er nicht studiert und sich zum Abgeordneten wählen lassen? Es wäre so schön gewesen ... Jahr um Jahr sich mit Büchern abgeben, um es zu nichts zu bringen – was für ein Unsinn! Immerhin züchtete sie auf dem »Ruhehof« zu ihrem Zeitvertreib Hühner, zur großen Freude ihres Ackerbau treibenden Bruders. »Es ist schon recht«, sagte sie, wenn er von seiner Arbeit erzähl112
te. »Daß du mir ja nicht krank wirst ... den ganzen Tag in so einer Sonne ...« »Ach was, krank, Adelaide! Siehst du denn nicht, wie gesund die Leute hier herum sind ... Und wenn sie krank werden, dann deshalb, weil sie nicht arbeiten.« Nach dem Abendessen schaute Quaresma aus dem Fenster, das auf den Hühnerhof hinausging, und warf dem Federvieh Brotkrumen hin. Er mochte dieses Schauspiel, jenen erbitterten Kampf zwischen Enten, Gänsen, Hühnern, großen und kleinen. Es bot ihm ein Abbild des Lebens und der Belohnungen, die es dem Tüchtigen gewährt. Dann erkundigte er sich: »Sind die Entenküken schon ausgeschlüpft, Adelaide?« »Noch nicht. In acht Tagen ist es soweit.« Sie ihrerseits fragte ihn: »Deine Patentochter heiratet nächsten Samstag, willst du nicht hin?« »Nein, ich kann nicht ... Ich würde mich da nicht wohl fühlen, dieser ganze Luxus ... Ich werde ein Spanferkel und einen Truthahn schicken.« »Nun hör aber mal! Was ist denn das für ein Geschenk!« »Na und? Das ist Tradition.« So verlief das Gespräch zwischen den Geschwistern im Eßzimmer des alten Landhauses, als Anastácio auftauchte und ihnen mitteilte, am Gatter stehe ein Herr. Seit Quaresma hierhergezogen war, hatte kein Besucher an seine Tür geklopft, abgesehen von den Armen der Gegend, die unter diesem oder jenem Vorwand um Almosen bettelten. Er selbst hatte niemandes Bekanntschaft gemacht, so daß ihn die Mitteilung des alten Schwarzen überraschte. 113
Er beeilte sich, den Besucher im Wohnzimmer zu empfangen. Dieser war schon die kleine Vordertreppe heraufgekommen und betrat die Terrasse. »Guten Tag, Major.« »Guten Tag, bitte treten Sie ein.« Der Unbekannte kam herein und nahm Platz. Ein Allerweltsmensch, dem aber etwas Sonderbares anhaftete: seine Körperfülle. Diese war weder unmäßig noch grotesk, hatte aber einen Anflug von Unschicklichkeit, als habe er sie ganz plötzlich erworben und als esse er um die Wette, aus Furcht, sie von einem Tag zum anderen zu verlieren. Er hatte etwas von einer Eidechse, die Schmer für den kargen Winter hortet. Seine vollen Backen ließen ohne weiteres seine natürliche, normale Magerkeit erkennen, und wenn es ihm bestimmt war, dick zu sein, dann gewiß nicht in so jungen Jahren, knapp über dreißig, ohne genügend Zeit gehabt zu haben, rundum in die Breite zu gehen, weshalb seine feisten Wangen einen seltsamen Kontrast bildeten zu seinen mageren Händen mit ihren langen, spindelförmigen, unruhigen Fingern. Der Besucher stellte sich vor: »Ich bin Oberleutnant Antonino Dutra, Steuerinspektor ...« »Irgendeine Formalität?« fragte Quaresma besorgt. »Nichts dergleichen, Major. Uns ist bereits bekannt, wer Sie sind, es gibt nichts Neues, keinerlei gesetzliche Auflage.« Der Inspektor hüstelte, nahm sich eine Zigarette, bot Quaresma ebenfalls eine an und fuhr fort: »Da ich wußte, daß Herr Major sich hier niedergelassen haben, habe ich mir erlaubt, Sie mit meinem Besuch zu behelligen ... Nichts von Belang ... Ich fürchte, ich störe Herrn Major ...« »Oh, ich bitte Sie, Herr Oberleutnant!« »Ich bin gekommen, Sie um eine kleine Unterstützung zu bit114
ten, einen Obolus für Maria Empfängnis, das Fest unserer hiesigen Schutzheiligen; ich bin der Schatzmeister ihrer Bruderschaft.« »Ausgezeichnet, ganz richtig. Obwohl ich nicht religiös bin ...« »Das eine hat mit dem andern nichts zu tun. Es ist eine lokale Tradition, die wir pflegen müssen.« »Richtig.« »Wissen Sie«, fuhr der Inspektor fort, »die Leute hier sind sehr arm und die Bruderschaft auch, so daß wir genötigt sind, an die Freigebigkeit der Bessergestellten zu appellieren. Also dann, Herr Major ...« »Nicht doch, warten Sie einen Augenblick.« »Oh, Major, nur keine Umstände. Es muß ja nicht sofort sein.« Er wischte sich den Schweiß ab, behielt das Taschentuch in der Hand, schaute ein wenig nach draußen und setzte hinzu: »Was für eine Hitze! So ein Sommer ist mir noch nicht vorgekommen. Haben Sie sich gut eingelebt, Major?« »Sehr gut.« »Sie wollen sich der Landwirtschaft widmen?« »Ja, ebendeshalb bin ich aufs Land gezogen.« »Heute taugt die Gegend hier nicht mehr, aber früher ...! Dieser Hof war einst ein Schmuckstück, Major! Wieviel Obst! Wieviel Maniokmehl! Heute sind die Böden ausgelaugt und ...« »Was heißt hier ausgelaugt, Herr Antonino! Es gibt keine ausgelaugten Böden. In Europa betreibt man seit Jahrtausenden Landwirtschaft, und dennoch ...« »Da wird aber auch gearbeitet.« »Warum soll denn hier nicht auch gearbeitet werden?« »Da haben Sie recht, aber bei uns gibt es so viele Hindernisse, daß ...« »Ach was, mein lieber Leutnant! Kein Hindernis, das nicht zu 115
überwinden wäre ...« »Sie werden es schon noch einsehen, Major. Bei uns dreht sich doch alles um Politik, ansonsten: Fehlanzeige. Im Augenblick zum Beispiel streitet sich alles wegen dieser Abgeordnetenwahl ...« Bei diesen Worten warf der Inspektor unter seinen fettigen Wimpern einen lauernden Blick auf den arglos dreinschauenden Quaresma. »Worum geht es dabei?« Der Leutnant schien die Frage erwartet zu haben und redete munter weiter: »Sie wissen es also nicht?« »Nein.« »Ich will es Ihnen erklären: Kandidat der Regierung ist der Doktor Castrioto, ein rechtschaffener junger Mann, ein guter Redner; doch gibt es hier im Distrikt ein paar Bürgermeister, die der Regierung unbedingt Steine in den Weg legen wollen, nur weil der Senator Guariba sich mit dem Gouverneur überworfen hat, und – schwupp – stellen sie einen gewissen Neves auf, einen Kandidaten, der rein gar nichts für die Partei getan hat und über keinerlei Einfluß verfügt ... Was meinen Sie dazu?« »Ich ... gar nichts!« Der Finanzbeamte war verdutzt. Es gab also jemanden auf der Welt, der das Munizip Curuzú kannte, der sogar hier wohnte und dem der Streit zwischen dem Senator Guariba und dem Gouverneur des Staates Rio de Janeiro gleichgültig war! Das war doch nicht die Möglichkeit. Er dachte nach und lächelte kaum merklich. So ein Schlawiner, der wollte sich wohl mit beiden Kontrahenten gutstellen, um hinterher sein Schäfchen ins Trockene zu bringen. Einer, der auf Samtpfoten daherkam, um zu wildern ... 116
Sicher ein ganz ehrgeiziger Pfiffikus, dem mußte man die Flügel stutzen, diesem »Ausländer«, der wer weiß woher kam. »Der Herr Major ist ein Philosoph«, sprach er maliziös. »Schön wär’s«, erwiderte Quaresma treuherzig. Antonino ließ das Gespräch noch ein wenig um diesen hochwichtigen Gegenstand kreisen; als er jedoch die Hoffnung aufgeben mußte, hinter die verborgenen Absichten des Majors zu kommen, setzte er eine gleichgültige Abschiedsmiene auf: »Also, dann leisten Sie einen Beitrag zu unserem Fest, nicht wahr?« »Selbstverständlich.« Die beiden verabschiedeten sich. Quaresma, über das Geländer der Terrasse gebeugt, sah ihn auf seinen kleinen Braunen steigen, schweißglänzend, dick und lebhaft. Der Inspektor entschwand auf der Landstraße, und dem Major ging durch den Kopf, mit welch merkwürdigem Eifer diese Leute sich für politische Auseinandersetzungen interessierten, für diese Wahlintrigen, als läge darin etwas Lebenswichtiges und Bedeutungsvolles. Ihm wollte nicht einleuchten, wieso ein Streit zwischen zwei prominenten Politikern so viele Menschen gegeneinander aufbringen konnte, deren Leben sich in einer ganz anderen Sphäre abspielte. Gab es denn hier nicht Land genug, um Ackerbau und Viehzucht zu treiben? Erforderte dieses nicht täglichen harten Kampf? Warum verwendete man den Eifer, den man in den Tumulten um Abstimmungen und Protokolle zeigte, nicht darauf, diese Erde zu befruchten, Geschöpfe, Lebewesen aus ihr hervorzubringen – eine Arbeit wie die von Göttern und Künstlern? Wie töricht, sich mit Gouverneuren und Senatoren abzugeben, wo doch unser Leben ganz auf die Erde angewiesen ist! Und diese will Anstrengung und Arbeit, Zuneigung und Liebe ... Das allgemeine Wahlrecht 117
kam ihm vor wie eine Landplage. Ein Pfiff ertönte, und er betrachtete eine ganze Weile den herannahenden Zug. Für Bewohner eines abgelegenen Ortes ist es ein eigenartiges Gefühl, eine Mischung von Furcht und Freude, die Verkehrsmittel herankommen zu sehen, die uns mit der übrigen Welt verbinden. Man rechnet zugleich mit guten wie mit schlechten Nachrichten, ein beängstigender Zwiespalt ... Zug und Dampfer kommen gewissermaßen aus dem Unbestimmten, aus dem Geheimnisvollen, und sie bringen uns nicht nur Neuigkeiten, sondern auch die Gebärden, das Lächeln, die Stimmen geliebter Menschen aus der Ferne. Quaresma verweilte beim Anblick des Zuges, der schnaubend auf die Bahnstation zukroch, wo er sich wie eine Echse vom einen bis zum andern Ende hinstreckte, beschienen von der kräftigen Abendsonne. Nicht lange verharrte er dort. Wieder gellte ein Pfiff, der Zug fuhr an, und Nachrichten, Freunde, Geldgut und Schwermut trug er weiter zu andern Bahnstationen. Der Major sann noch darüber nach, wie roh und häßlich dies alles sei und wie weit die Erfindungen unserer Zeit sich von der gedachten Linie der Schönheit entfernten, die unsere Erzieher vor zwei Jahrtausenden uns zum Vermächtnis machten. Er blickte zur Straße, die vom Bahnhof kam. Jemand kam näher, geradewegs auf sein Haus zu ... Wer mochte es sein? Er putzte sein pince-nez, um den Mann genauer zu betrachten, der eilig ausschritt ... Wer war es? Dieser aufgefaltete Hut, fast wie ein Tschako ... Dieser lange Gehrock, die kleinen Schritte ... Eine Gitarre! Ja richtig! »Adelaide, da kommt Ricardo.«
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ii Dornen und Blüten
Die Vorstädte von Rio de Janeiro sind das Kurioseste, das es in Sachen Stadtanlage gibt. Die topographischen Verhältnisse mit ihrer launigen Gebirgsbildung tragen gewiß zu diesem Anblick bei, mehr noch aber die Zufälligkeiten der Baugeschichte. Nichts Unregelmäßigeres, Launenhafteres, Planloseres läßt sich denken. Die Häuser wuchsen wie vom Winde gesät, und nach ihnen richteten sich die Straßen. Einige von ihnen beginnen breit wie Boulevards und enden schmal wie Gäßchen, sie lieben Kurven, sinnlose Kehren und scheinen geradlinige Fluchten mit zähem und heiligem Haß zu meiden. Bald verlaufen sie in irritierend dichten Abständen parallel, bald streben sie auseinander und umgehen eine große, geschlossene Häusermasse. Mitunter drängen sich Häuser beängstigend übereinander, und gleich nebenan gewährt ein weites Feld unserem Auge freie Sicht. So verteilen sich die Gebäude und mit ihnen die Straßenzüge nach dem Zufallsprinzip. Es gibt Häuser jeglichen Geschmacks und jeglicher Form. Man geht durch eine Straße voller chalets, ein jedes nur Tür und Fenster im ziegelgefüllten Fachwerk, engbrüstig und bescheiden, und plötzlich steht man vor einer bürgerlichen Villa, einer von jener Sorte, die sich über einem halbhohen, vergitterten Kellergeschoß erheben und Zierschalen auf dem filigranen Dachgesims tragen. Hat man sich 119
von dieser Überraschung erholt, fällt der Blick auf eine mit Zinkblech oder gar mit Stroh gedeckte Lehmhütte, um die es von Menschen wimmelt; und wenige Schritte weiter steht man vor einem alten Landhaus mit umlaufendem Vordach auf stilistisch schwer bestimmbaren Säulen, das sich angesichts dieser Flut von bunt zusammengewürfelten neuen Gebäuden peinlich berührt zu ducken scheint. Nichts erinnert uns an die bekannten Vorstädte der europäischen Metropolen mit ihren frisch und zufrieden aussehenden Siedlungen, mit ihren gepflasterten, gepflegten Fern- und Stadtstraßen; wir haben nicht einmal die wohlgepflegten, hübsch beschnittenen, hübsch geharkten Vorgärten, denn die unsrigen, sofern es sie überhaupt gibt, sind meistens dürftig, häßlich, verwahrlost. Ebenso launenhaft sind die Maßnahmen der Stadtverwaltung. An manchen Stellen haben die Straßen Bürgersteige, an anderen nicht; einige Verkehrswege wurden gepflastert, andere, ebenso wichtige, beließ man im Naturzustand. Hier führt eine wohlbefestigte Brücke über einen wasserlosen Bach, und wenige Schritte weiter müssen wir einen kleinen Fluß auf einem Steg aus roh gefügten Planken überqueren. Auf den Straßen sieht man elegante Damen in Brokat und Seide, die nur mühsam verhindern können, daß Kot und Staub den Glanz ihres Kleides trüben, man sieht Arbeiter in Holzschuhen, sieht nach der neuesten Mode gekleidete Stutzer, sieht Frauen in buntem Kattun; und spät nachmittags, wenn diese Leute von Arbeit oder Spaziergang heimkehren, begeben sich alle ins Gewühl auf den Bürgersteigen desselben Straßengevierts, und selten ist der Bestgekleidete auch derjenige, der das stattlichste Haus betritt. Die Vorstädte weisen, abgesehen von der grassierenden Liebelei 120
unter den jungen Leuten und dem unausrottbaren Spiritismus, noch weitere bemerkenswerte Aspekte auf, beispielsweise die höchst eigenartigen Sammelbehausungen, die man dort nicht vermuten würde. Wohnungen, die kaum für eine Familie reichen, werden geteilt, unterteilt, und die so gewonnenen winzigen Gelasse vermietet man an die Elendsbevölkerung der Stadt. Dort, in jenen Menschenkäfigen, findet man die am wenigsten beachtete Fauna unseres Lebens, über die das Elend mit der Strenge Londoner Vorstädte herrscht. Traurigere und abwegigere Berufe als die jener Verschlagbewohner kann man sich gar nicht vorstellen. Neben Amtsgehilfen, Bürodienern und betagten Spitzenklöpplerinnen finden wir Altflaschensammler, Kastrierer von Katern, Hunden und Hähnen, Zauberheiler, Kräutersammler, kurz, eine bunte Palette von Elendsberufen, von denen unser Klein- und Großbürgertum nicht einmal etwas ahnt. Oft drängt sich in einem dieser Verschlage eine ganze Familie zusammen, deren Oberhaupt bisweilen zu Fuß in die Stadt geht, weil ihm die Kupfermünze für die Bahnfahrt fehlt. Ricardo Anderherz wohnte seit Jahren in solch einem ärmlichen Haus. Es war keines von den schlimmen, doch immerhin eine Sammelbehausung in einer Vorstadt. Seit Jahren lebte er dort, und ihm gefiel das auf einem Hügel errichtete Gebäude, zumal das Fenster seines Zimmers auf eine weite, bebaute Fläche blickte, die von Piedade bis Todos os Santos reichte. So, von oben besehen, haben die Vorstädte ihren Reiz. Die vielen kleinen Häuschen, blau, weiß, ocker gestrichen, eingefaßt vom dunkelgrünen Laub der Mangobäume, da und dort überragt von einer Kokospalme oder einer hohen, stolzen Königspalme, bieten einen freundlichen Anblick, und die Unübersichtlichkeit der Straßen121
züge verleiht dem Ganzen einen Anflug von demokratischer Nivellierung und vollkommener Solidarität der Bewohner. Mitten hindurch fährt der kleine, flinke Eisenbahnzug, bald nach links, bald nach rechts sich wendend mit seiner geschmeidigen, aus Wagen gebildeten Wirbelsäule, gleich einer zwischen Felsen sich windenden Schlange. Wenn er aus diesem Fenster schaute, konnte Ricardo seinen Freuden, seinen Genugtuungen, seinen Triumphen und auch seinen Leiden und Kümmernissen freien Lauf lassen. Auch jetzt stand er da, über die Fensterbank gebeugt, das Kinn auf die Hand gestützt, und überblickte einen Gutteil jener schönen, großen, einzigartigen Stadt, Metropole eines großen Landes, als dessen Seele er sich empfand und dessen zarteste Träume und Wünsche er in Verse faßte. Mochten sie von strittiger Qualität sein, die schmachtende Gitarre gab ihnen, wo nicht einen Sinn, so doch den rührenden Ausdruck des noch stammelnden, noch kindlichen, noch werdenden Vaterlandes ... Woran er dachte? Er dachte nicht nur, er litt. Jener schwarze Sänger versuchte unentwegt, der Modinha eine Aussage zu unterschieben, und er hatte Bewunderer. Einige handelten ihn schon als seinen Rivalen; andere behaupteten gar, der betreffende junge Mann lasse ihn, Ricardo, weit hinter sich zurück, und einige Leute – diese Undankbaren! – vergaßen seine Leistungen, vergaßen, was Ricardo Anderherz in zäher Arbeit für die Hebung der Modinha und der Gitarre alles geleistet hatte, und erwähnten nicht einmal den Namen des selbstlosen Kärrners. Mit versonnenem Blick erinnerte sich Ricardo an seine Kindheit im Norden des Landes, an sein Dorf im Sertão, an das elterliche Häuschen mit dem Pferch und den brüllenden Kälbern ... Und an den Käse, den so nahrhaften, herzhaften Käse, unansehn122
lich wie jene herbe Landschaft, doch kraftspendend wie sie, von dem man nur eine kleine Scheibe zu essen brauchte, um sich gesättigt zu fühlen ... Und dann die Feste ... Welches Heimweh ... Und die Gitarre, wie hatte er sie zu spielen begonnen? Und sein Meister, Maneco Borges, hatte er ihm nicht vorausgesagt: »Du wirst es weit bringen, Ricardo, die Gitarre will dein Herz«? Warum dann diese Erbitterung, dieser Haß auf ihn – auf ihn, der diesem Volk von Ausländern die Seele, den Lebenssaft, das Mark Brasiliens geschenkt hatte! Tränen traten ihm heiß aus den Augen. Eine kurze Weile blickte er nach den Bergen, ahnte den Duft des fernen Meeres ... Schön war dieses Land, wundervoll, erhaben, doch es zeigte sich undankbar und schroff mit seinem allgegenwärtigen Granit, der schwarz und bösartig wirkte, wo nicht gesänftigt durch das Grün der Bäume. Da stand er nun allein, allein mit seinem Ruhm und seinem Kummer, ohne Liebe, ohne vertraute Seele, ohne Freund, allein wie ein Gott oder ein Apostel in einem undankbaren Land, das seine frohe Botschaft nicht hören wollte. An keines geliebten, an keines befreundeten Menschen Brust konnte er diese Tränen vergießen, die nunmehr auf den fühllosen Boden stürzten. Da kam ihm der berühmte Vers in den Sinn: Weine ich ... so trinkt der heiße Sand meine Klage ... Bei dieser Erinnerung schaute er nach unten und gewahrte ein wenig abseits, am Wasserbecken, eine junge Schwarze beim Waschen. Sie beugte sich über die Wäsche, hob sie auf, schwer wie sie war, seifte sie ein, rieb sie auf dem Waschstein und begann alles immer wieder von vorn. Er fühlte zweifach Mitleid mit der armen Frau, ihrer Stellung und ihrer Hautfarbe wegen. Ihm wurde 123
weich ums Herz, und er dachte an die Welt, an das viele Unglück, das in ihr war, und verlor sich für eine Weile in Grübeleien über das Rätsel unseres elenden Menschenschicksals. Das Mädchen, ganz ihrer Arbeit hingegeben, sah ihn nicht und begann zu singen: Den Reiz deiner Augen Neidet dir selbst der Wind Es war von ihm. Er lächelte voller Genugtuung und hätte jene arme Frau am liebsten umarmt und geküßt ... Wie also stand es um ihn? Soeben erhielt er Balsam von jener jungen Frau, deren schlichte, schmachtende Stimme sich zärtlich über seinen Kummer legte. Da kamen ihm die Verse des Paters Caldas in den Sinn, seines glückvollen Vorgängers aus dem 18. Jahrhundert, dem ein Publikum aus adligen Damen lauschte: Lereno erfreute die andern Doch selbst hatte er niemals Freude ... Jawohl, er hatte eine Sendung. Als sie ausgesungen hatte, konnte Ricardo nicht länger an sich halten: »Gut gemacht, Dona Alice, gut gemacht! Bitte eine Zugabe!« Das Mädchen hob den Kopf, erkannte den Sprecher und sagte: »Ich wußte nicht, daß Sie da sind, sonst hätte ich nicht gesungen.« »Ach was! Ich darf Ihnen versichern, daß es sehr gut war. Singen Sie weiter, nur zu.« »Gott bewahre! Damit Sie mich ›bekritteln‹.« Und obgleich er hartnäckig insistierte, wollte das Mädchen 124
durchaus nicht weitersingen. Immerhin schien der Trübsinn aus Ricardos Gemüt gewichen. Er kehrte zur Mitte des Zimmers zurück und setzte sich an den Tisch, um zu schreiben. Die Einrichtung war so sparsam wie irgend möglich. Eine Hängematte mit spitzenbesetzten Fransen, ein Pinientisch, worauf Schreibutensilien lagen, ein Stuhl, ein Regal mit Büchern und an der Wand die Gitarre in der Wildlederhülle. Außerdem eine Kaffeemaschine. Er setzte sich, um eine Modinha über den Ruhm zu schreiben, jenes flüchtige Ding, dessen man, auch wenn man es hat, nicht habhaft wird, ungreifbar, unfaßbar wie ein Hauch, doch etwas, das uns fortreißt, verstört, entflammt und verbrennt wie die Liebe. Er versuchte den Anfang zu finden, legte sich das Papier zurecht, doch es gelang ihm nicht. Zu heftig war die Gefühlsbewegung gewesen, sein ganzes Gemüt war in Unruhe und Aufruhr geraten bei der Erinnerung daran, wie man seine Verdienste zu schmälern suchte. Er war außerstande, seine Gedanken zu ordnen, die Worte in der Luft zu erhaschen, das Summen der Musik in seinem inneren Ohr zu vernehmen. Es war hoher Morgen. Vor dem Hause zirpten die Zikaden im blätterlosen Tamarindenbaum; es wurde allmählich heiß, und der Himmel wölbte sich in luftigem, zartem Blau. Er wollte hinaus, einen Freund aufsuchen, ihm sein Herz ausschütten, aber wem? Ja, wenn Quaresma ... Ach, Quaresma! Der würde ihm sicher Trost und Aufmunterung spenden. Zwar hatte sich dieser Freund in letzter Zeit an der Modinha wenig interessiert gezeigt, doch verstand er sein, Ricardos Anliegen und die Tragweite seiner Bestrebungen. Wenn der Major nur in der Nähe wäre, doch er wohnte ja so weit entfernt! Der Sänger 125
fuhr mit der Hand durch seine Taschen, sein Vermögen betrug nicht einmal zwei Mil-Réis. Wie die Fahrt bezahlen? Er würde sich einen Freifahrschein besorgen, und dann ginge es los. Es klopfte, ein Brief. Die Schrift war ihm unbekannt; ungeduldig riß er den Umschlag auf. Was mochte es sein? Er las: Mein lieber Ricardo: Gesundheit und Wohlergehen! Übermorgen, Donnerstag, heiratet meine Tochter Quinota. Ihr und ihrem Bräutigam ist es ein Anliegen, daß Sie dabei sind. Wenn Sie, lieber Freund, keine anderweitige Verpflichtung haben, nehmen Sie ihre Gitarre und kommen Sie auf eine Tasse Tee zu uns. Ihr Freund Albernaz. Die Miene des Troubadours, je weiter er las, verwandelte sich. War sie zunächst hart und verkniffen, so spielte, als er zu Ende gelesen hatte, ein Lächeln über sein ganzes Gesicht, von unten nach oben, von einer Wange zur andern. Der General ließ ihn nicht im Stich, für jenen achtungswürdigen Militär war Ricardo Anderherz nach wie vor der König der Gitarre. Quaresmas früherer Nachbar würde ihm eine Fahrkarte besorgen. Lange, zärtlich, dankbar betrachtete er sein Instrument, als wäre es ein wunderkräftiges Amulett. Als Ricardo das Haus des Generals Albernaz betrat, war der letzte Trinkspruch soeben verklungen, und alles strebte grüppchenweise ins Besucherzimmer hinüber. Dona Maricota trug malvenfarbene Seide, und ihr zu kurz geratener Oberkörper erschien noch gestauchter, noch gedrungener in jenem teuren Stoff, der offensichtlich einen schlanken und geschmeidigen Leib erfordert. Quinota strahlte in ihrem Brautkleid. Sie war groß und hatte ebenmäßigere Züge als ihre Schwester Ismênia, allerdings eine gewöhnlichere, weniger bemerkenswerte Gemütsart, obschon heiter und ausgelassen. Lalá, die dritte Tochter des Generals, die 126
sich schon putzte wie eine junge Frau, hatte viel Reispuder im Haar und war immerzu damit beschäftigt, ihre Frisur in Ordnung zu bringen und den Oberleutnant Fontes anzulächeln. Eine gute, beifällig erwartete Partie. Genelício, eingezwängt in einen schlecht geschnittenen Frack, der seine Buckligkeit noch mehr hervortreten ließ, stolzierte in seinen engen Lackschuhen unbeholfen umher. Ricardo sah die Genannten nicht, denn bei seinem Eintreten umstanden die Besucher den General, der in einer Replik der Uniform seiner großen Tage steckte und darin so merkwürdig aussah wie ein Nationalgardist in seiner Sonntagsuniform. Ein gewichtiges, martialisches, weitgesegeltes und zugleich palastmäßiges Auftreten aber zeigte Konteradmiral Caldas, der Trauzeuge, dem sein Uniformrock tadellos stand. Die Anker auf den Manschetten blitzten wie Metallteile bei einer Schiffsparade, und seine wohlgepflegten Koteletten, die sein Gesicht noch breiter machten, schienen sich nach den Stürmen des unendlichen Ozeans zu sehnen. Ismênia war in Rosa gekleidet und ging mit ihrer Leidensmiene, ihrer Trägheit, ihren langsamen Gebärden durchs Haus, um Vorbereitungen zu treffen. Lulú, der einzige Sohn des Generals, stolzierte in der tressen- und lamettaübersäten Uniform des Militärgymnasiums einher und machte sich um so wichtiger, als er dank der guten Beziehungen seines Vaters versetzt worden war. Der General hieß Ricardo alsbald willkommen, und die Brautleute nahmen seine Glückwünsche mit tiefem Dank entgegen; Quinota hauchte sogar ein: »Ich bin ja so glücklich«, legte den Kopf auf die Seite und lächelte mit niedergeschlagenen Augen, womit sie das lautere Gemüt des Barden in helles Entzücken versetzte. Man begann zu tanzen, und der General, der Admiral, der Ma127
jor Inocêncio Bustamante, der ebenfalls in Uniform erschienen war und seine rote Ehrenschärpe trug, der Doktor Florêncio, Ricardo und zwei weitere Gäste gingen ins Eßzimmer hinüber, um ein wenig zu plaudern. Der General war hochzufrieden. Seit vielen Jahren träumte er von einer solchen Zeremonie in seinem Hause, und endlich sah er diesen Wunsch in Erfüllung gehen. Mit Ismênia war es schiefgegangen ... So ein undankbarer Kerl von Verlobtem! Doch was half es zurückzuschauen! Die Glückwünsche häuften sich. »Ein stattlicher Bursche, Ihr frischgebackener Schwiegersohn«, sagte ein soeben gekommener Gast. Der General nahm sein pincenez ab, das sich in einem Goldfaden verheddert hatte, und während er es putzte, antwortete er mit dem Blick der Kurzsichtigen: »Ich freue mich sehr.« Dann setzte er sein pince-nez wieder auf, legte den Goldfaden zurecht und fuhr fort: »Ich denke, ich habe meine Tochter gut verheiratet; der junge Mann hat studiert, macht Karriere und ist intelligent.« Der Admiral pflichtete ihm bei: »Und was für eine Karriere. Nicht etwa weil er mein Verwandter ist, aber mit zweiunddreißig Oberamtmann im Schatzamt, so etwas hat es noch nicht gegeben.« »Ist Genelício nicht am Rechnungshof, hat er nicht bestanden?« fragte Florêncio. »Doch, aber seine jetzige Stelle ist ebenso gut«, erwiderte der andere neue Gast, der zum Freundeskreis des Frischvermählten gehörte. In der Tat hatte Genelício seine Beförderung erreicht, doch nicht allein das hatte für seinen Entschluß zur Heirat den Ausschlag gegeben. Er hatte einen Wissenschaftlichen Grundriß des Öf128
fentlichen Rechnungswesens verfaßt und sah sich nun, er wußte selbst nicht, wie ihm geschah, von der »Presse dieser Hauptstadt« mit Lobeshymnen überhäuft. Der Minister gewährte ihm in Anerkennung der außerordentlichen Verdienste dieser Abhandlung, die auf Staatskosten in der Nationaldruckerei veröffentlicht wurde, eine mit zweitausend Mil-Réis dotierte Auszeichnung. Es war ein dicker, im Kanzleistil verfaßter Band von vierhundert Seiten, Type zwölf, mit einem umfangreichen dokumentarischen Anhang aus Erlassen und Verfügungen, die zwei Drittel des Buches füllten. Der erste Satz des ersten Abschnitts, die Quintessenz dieses wahrhaft grundlegenden, wissenschaftlichen Werkes, von den Kritikern viel beachtet und gerühmt, nicht nur wegen der Neuheit des Gedankens, sondern auch wegen der Eleganz des Ausdrucks, lautete folgendermaßen: »Das öffentliche Rechnungswesen ist die Kunst beziehungsweise Wissenschaft von der sachgerechten Verbuchung der Einnahmen und Ausgaben des Staates.« Abgesehen von der Auszeichnung und der Beförderung war ihm auch der erste frei werdende Abteilungsleiterposten zugesagt worden. Nachdem er all dies aus dem Munde des Admirals, des Generals und der neuangekommenen Gäste vernommen hatte, konnte Major Inocêncio sich nicht enthalten zu bemerken: »Nächst der militärischen Laufbahn ist die der Finanzverwaltung die beste, meinen Sie nicht?« »Gewiß ... selbstverständlich«, sagte Doktor Florêncio. »Ich spreche natürlich nicht von den akademischen Berufen«, beeilte sich der Major, »diese ...« Ricardo sah sich bemüßigt, irgend etwas zu bemerken, und sag129
te, was ihm zuerst auf die Zunge kam: »Wenn man Erfolg hat, sind alle Berufe gut.« »Ganz so ist es nun auch wieder nicht«, bemerkte der Admiral und strich sich die Koteletten auf einer Seite glatt. »Nichts für ungut, was die anderen betrifft, aber unser Beruf ... nicht wahr, Albernaz, nicht wahr Inocêncio?« Albernaz hob den Kopf, als wolle er in der Luft eine Erinnerung erhaschen, und erwiderte: »Sicher, aber er hat auch seine Schattenseiten. Wenn man in so einem Hexenkessel steckt, Feuer hier, Schüsse dort, der eine stirbt, der andere schreit, wie damals in Curupaití, dann ...« »Waren Sie dabei, General?« fragte der mit Genelício befreundete Gast. »Nein. Ich war krank und mußte nach Brasilien zurück. Aber der Camisão ... Ihr macht Euch ja gar keine Vorstellung, wie das war – du weißt natürlich Bescheid, Inocêncio!« »Ich war ja dabei ...« »Polidoro hatte Befehl, Sauce zu stürmen, Flores auf dem linken Flügel und wir auf dem rechten, so fielen wir über die Paraguayer her. Doch diese Schlawiner waren gut verschanzt, sie hatten die Zeit zu nutzen verstanden ...« »Das hat uns der Mitre eingebrockt«, sagte Inocêncio. »Sicher. Wir griffen voller Ungestüm an. Kanonenschüsse dröhnten, daß einem angst und bange wurde, überall regnete es Kugeln, Menschen starben wie die Fliegen ... Es war die Hölle!« »Wer hat gesiegt?« fragte einer der zuletzt Gekommenen. Alles schaute sich verwundert an, mit Ausnahme des Generals, der die Kriegskunst der Paraguayer außerordentlich fand. »Die Paraguayer, das heißt, sie schlugen unseren Angriff ab. Deshalb sage ich immer, unser Beruf ist schön, aber er hat seine 130
Tücken.« »Das war noch gar nichts. Beim Durchbruch von Humaitá ...«, ließ der Admiral sich vernehmen. »Waren Sie an Bord?« »Nein, ich fuhr erst später den Paraguay hinauf. Aufgrund von Intrigen kam ich nicht zum Einsatz, denn an Bord zu gehen kam einer Beförderung gleich ... Jedenfalls beim Durchbruch von Humaitá ...« Im Besucherzimmer wurde eifrig weitergetanzt. Nur selten kam von dort drinnen jemand zu ihnen heraus. Gelächter, Musik und was sonst zu ihnen herüberdringen mochte, konnte die Männer nicht von ihrer kriegerischen Thematik abbringen. Der General, der Admiral und der Major erfüllten jene braven Zivilisten mit sprachlosem Staunen, wenn sie von kühnen Gefechten erzählten, an denen sie nicht teilgenommen, und Schlachten, die sie nicht geschlagen hatten. Niemand weiß Kriegserzählungen so zu schätzen wie ein friedsamer Bürger, der gut gespeist und etliche Gläser edlen Weines genossen hat. Er sieht nur das Pittoreske, das gewissermaßen Ideelle an Schlachten und Scharmützeln; die Schüsse sind nur zum Salut, und wenn sie töten, dann nur beiläufig. Ja, in diesen Erzählungen verliert der Tod seine Tragik: dreitausend Tote, wie, mehr nicht??? In den Worten des Generals Albernaz, der nie einen Kampf miterlebt hatte, nahm sich das Ganze niedlich aus wie der Krieg in einer bibliothèque rose oder auf volkstümlichen Stichen, ohne die übliche Metzelei, Brutalität und Grausamkeit. Ricardo, Doktor Florêncio, besagter Wasserbauingenieur sowie die beiden neuen Bekannten von Albernaz standen hingerissen da, offenen Mundes, neiderfüllt angesichts der phantastischen Heldentaten jener drei Militärs, von denen der Major, Offizier ehrenhalber, 131
vielleicht der am wenigsten friedliche war, der einzige, der schon einmal etwas Kriegerisches mitgemacht hatte. Da trat Dona Maricota ein, immerzu rührig und emsig bestrebt, das Fest mit Schwung und Lebendigkeit zu erfüllen. Sie war jünger als ihr Mann und hatte immer noch schwarzes Haar auf ihrem kleinen Kopf, der sich so seltsam von ihrem fülligen Körper abhob. Noch ganz außer Atem, mahnte sie ihren Gemahl: »Also Chico, was ist denn los? Du stehst hier herum, und ich soll allein die Honneurs machen, soll die Mädchen ermuntern ... Ab mit Euch in den Salon!« »Wir kommen gleich, Dona Maricota«, sagte einer der Gäste. »Nichts da, sofort!« fiel ihm die Hausfrau ins Wort, »kommen Sie, Herr Caldas, Herr Ricardo, die andern Herren!« Und einen nach dem andern schob sie an der Schulter hinaus. »Schnell, gleich singt die Tochter von Lemos, und dann sind Sie dran ... hören Sie, Herr Ricardo?« »Jawohl, gnädige Frau, Ihr Wunsch ist mir Befehl ...« Also gingen sie. Unterwegs wandte sich der General an Ricardo Anderherz und fragte: »Sagen Sie, wie geht es unserm Freund Quaresma?« »Gut.« »Hat er Ihnen geschrieben?« »Ab und zu. Übrigens, Herr General, wenn ich Sie um etwas bitten darf ...« »Worum geht es?« Ricardo fühlte sich durch den martialischen Ton von Albernaz’ Frage eingeschüchtert. Nach einem leichten Zögern antwortete er in einem Atemzuge, aus Furcht, sich zu verhaspeln: »Ich möchte Sie bitten, mir eine Fahrkarte zu verschaffen, eine Freifahrt, damit ich ihn besuchen kann.« 132
Der General schaute ein paar Augenblicke zu Boden, kratzte sich am Kopf und sagte: »Das ist ein bißchen kompliziert, aber schauen Sie morgen mal in meiner Dienststelle vorbei, im Generalhauptquartier.« Und während sie weitergingen, setzte Anderherz hinzu: »Ich vermisse ihn sehr, und außerdem hatte ich einige Unannehmlichkeiten ... Sie wissen ja, wenn man einen Namen hat ...« »Kommen Sie morgen vorbei!« Dona Maricota kam ihnen verärgert entgegen: »Wo bleibt ihr nur?« »Wir kommen ja schon«, entgegnete der General. Und zu Ricardo gewandt, fügte er hinzu: »Diesem Quaresma könnte es so gut gehen, aber er hat sich mit Büchern abgegeben ... Daran liegt es! Ich für mein Teil rühre seit gut und gern vierzig Jahren kein Buch mehr an ...« Sie betraten den Salon, der sehr geräumig war. Zwei Ölgemälde in schweren, vergoldeten Rahmen hingen an den Wänden, furiose Porträts von Albernaz und seiner Frau; ein ovaler Spiegel und verschiedene kleinere Bilder vervollständigten den Wandschmuck. Über das Mobiliar war an diesem Tage nicht zu befinden, man hatte es größtenteils hinausgestellt, um den Tänzern Platz zu schaffen. Braut und Bräutigam, die Hauptpersonen des Festes, saßen auf dem Sofa. Man sah das eine oder andere Dekolleté, wenige Gehröcke, einige Cutaways und viele Fräcke. Durch die Vorhänge konnte Ricardo auf die Straße blicken. Der Gehsteig auf der andern Seite war voller Menschen, nur von dort konnten die Schaulustigen, die »Nachtschwärmer«, etwas von dem Fest erspähen, denn das Haus war ein wenig hochgebaut und hatte einen Vorgarten. In einer Erkernische unterhielt sich Lalá mit Oberleutnant Fontes. Der General segnete die beiden mit 133
einem wohlwollenden Blick ... Lemos’ hübsche Tochter schickte sich zu singen an. Sie schritt zum Piano, stellte die Noten auf und begann. Es war eine italienische Romanze, die sie mit der Vollendung und der Geschmacksverirrung eines wohlerzogenen Fräuleins sang. Es gab allgemeinen, doch leicht unterkühlten Beifall. Doktor Florêncio, der hinter dem General stand, bemerkte: »Eine schöne Stimme. Wer ist die Sängerin?« »Die Tochter von dem Lemos, Doktor Lemos vom Hygieneinstitut«, antwortete der General. »Sie singt sehr gut.« »Sie besucht das letzte Jahr auf dem Konservatorium«, setzte der General hinzu. Nun war Ricardo an der Reihe. Er ließ sich in einer Ecke des Salons nieder, faßte die Gitarre unter den Arm, stimmte sie, fuhr durch die Tonleitern, gab sich den tragischen Ausdruck eines Mimen, der im Begriff ist, den König Ödipus zu spielen, und sprach mit rauher Stimme: »Senhoritas, meine Damen, meine Herren.« Er stockte, setzte neu an: »Ich singe jetzt »Oh, deine Arme«, eine von mir komponierte und gedichtete Modinha, eine zartfühlende, artige Komposition, voll poetischen Feuers.« Bei diesen Worten traten ihm die Augäpfel fast aus den Höhlen, und er setzte hinzu: »Ich hoffe, es gibt keine störenden Geräusche, sonst verfliegt die Inspiration. Denn die Gitarre ist ein sehr ... sehr em-pfind-sa-mes Instrument. Nun denn.« Alles war gespannt. Er begann in sanften, seufzenden, weichen und langen Tönen, gleich dem Murmeln einer Welle; dann gab es einen schnellen, hüpfenden Teil, bei dem die Gitarre dröhnte. Nach den beiden Sätzen war die Modinha zu Ende. Die Musik hatte alle tief ergriffen, hatte die Träume der Mäd134
chen und die Sehnsüchte der Männer angesprochen. Der Applaus wollte kein Ende nehmen. Der General umarmte den Sänger, Genelício erhob sich und schüttelte ihm die Hand, ebenso Quinota in ihrem makellos weißen Brautkleid. Um den Glückwünschen zu entgehen, floh Ricardo ins Eßzimmer. Im Flur rief ihn jemand an: »Senhor Ricardo, Senhor Ricardo!« Er wandte sich um. »Was befehlen die Dame?« Es war ein Mädchen, das ihn um eine Abschrift der Modinha bat. »Vergessen Sie es nur nicht«, sprach sie einschmeichelnd, »vergessen Sie es nicht. Ich mag Ihre Modinhas so sehr ... Sie sind so zart, so empfindsam ... Da kommt Ismênia, geben Sie ihr die Abschrift, und ich bekomme sie dann von ihr.« Cavalcântis Verlobte näherte sich, und als sie ihren Namen hörte, fragte sie: »Was gibt es, Dulce?« Diese erklärte es ihr. Sie nahm den Auftrag an und fragte Ricardo mit ihrer Leidensstimme: »Herr Ricardo, wann sehen Sie Dona Adelaide?« »Übermorgen, hoffe ich.« »Fahren Sie hin?« »Ja.« »Dann sagen Sie ihr, sie möchte mir schreiben. Ich hätte so gern einen Brief von ihr.« Und mit ihrem spitzenbesetzten Taschentüchlein wischte sie sich flüchtig die Augen.
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iii Goliath
In der Woche nach Quinotas Vermählung mit dem würdevollen und buckligen Genelício, Ruhm und Stolz unseres Beamtentums, heiratete auch Olga. Die Zeremonie fand an einem Samstag statt, mit allem in ihrer Gesellschaftsschicht üblichen Prunk und Reichtum, samt der Imitation einer cor-beille und anderem Pariser chic, der sie zwar keineswegs verdroß, aber vielleicht mit weniger Genugtuung erfüllte als andere Bräute. Ihre eigene, von niemand beeinflußte Entscheidung war es, nicht zur Kirche zu gehen, denn dafür fand sie in sich keinen Beweggrund. Ihr Ehemann war hochzufrieden, weniger vielleicht mit der Braut als mit der Wendung, die sein Leben nun nehmen würde. Als zu Reichtum kommender Arzt und mit seinem durch Examensnoten und akademische Auszeichnungen beglaubigten Talent sah er eine breite Triumphstraße in Staatsapparat und Gesundheitswesen vor sich. Er hatte keinerlei Vermögen, hielt seinen banalen Doktortitel aber für einen ebenso wertvollen Adelsbrief wie jene, mit denen die echten Adligen aus Europa den Stammbaum amerikanischer Würstchenverkäufer aufpolieren. Obschon sein Vater irgendwo in diesem Brasilien ein ansehnlicher Gutsbesitzer war, verdankte er alles seinem Schwiegervater, und alles hatte er ohne jede Verlegenheit entgegengenommen, mit der herablassenden Grandezza eines Herzogs, eines durch 136
Bestnoten und Preise Geadelten bei der Huldigung durch einen reichen Plebejer, der keine akademischen Bänke gedrückt hat. Seiner Meinung nach hatte seine Braut ihn um seiner großartigen Doktorwürde, um jener feierlichen Urkunde willen genommen; in Wahrheit hatte sie diesen Schritt weniger deshalb getan als wegen des Anscheins von Intelligenz, von Liebe zur Wissenschaft, von hochfliegenden Gelehrtenträumen, den er zu erwecken verstand. Doch das Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte, zerstob sehr bald, und danach war es die Schwerkraft und Tyrannei der Gesellschaft, auch die natürliche Schüchternheit des jungen Mädchens, was sie hinderte, das Heiratsversprechen zu lösen. Zumal sie bei sich selbst überlegte, daß, wenn sie nicht diesen nähme, sie an einen andern vom gleichen Schlage geraten würde und es am besten sei, die Sache nicht auf die lange Bank zu schieben. Ebendeshalb wollte sie keine kirchliche Trauung, aus eigenem Willensentscheid, ohne allerdings von irgend jemand eine Mißbilligung zu bemerken. Bei allem Hochzeitsprunk war sie durchaus keine stattliche Braut. Ungeachtet ihrer rein europäischen Herkunft wirkte sie klein, sehr klein sogar, wenn man sie an der Seite ihres großen, aufrechten, glückstrahlenden Bräutigams sah; und beinahe verschwand sie unter ihrem Kleid, ihrem Schleier und jenem obsoleten Zierat, mit dem man angehende Ehefrauen herausputzt. Sie war schön, doch nicht von jener Schönheit, die wir nach dem Muster klassischer Stiche von reichen Bräuten erwarten. Ihr Gesicht hatte nichts Griechisches, weder echtes noch aufgesetztes Griechentum, auch nichts von der Majestät einer Operndiva. Ihre Züge waren unregelmäßig, verrieten aber Tiefe und Eigensinn. Das Licht ihrer übergroßen schwarzen Augen ließ ihr 137
lebhaftes Antlitz funkeln; ihr kleiner, fein gezeichneter Mund drückte Güte ebenso aus wie Schalkhaftigkeit, und aus ihrer ganzen Erscheinung sprachen Neugier und Nachdenklichkeit. Anders als üblich machten die Neuvermählten keine Hochzeitsreise, sondern nahmen gleich Wohnung im Haus des früheren Bauunternehmers. Quaresma war nicht zum Fest gefahren, er hatte traditionsgemäß ein Spanferkel und einen Truthahn geschickt, und dazu einen langen Brief. Sein Hof nahm ihn ganz und gar in Anspruch, die heißen Tage würden bald vorüber sein, es kam die Zeit der Regenfälle, der Saaten, da wollte er seine Ländereien nicht verlassen. Selbst eine so kurze Reise mit einer ein- oder zweitägigen Abwesenheit wäre für ihn wie Fahnenflucht mitten in der Schlacht. Der Obsthain war nun völlig gesäubert, und die Beete des Gemüsegartens waren vorbereitet. Ricardos Besuch zerstreute den Major ein wenig, ohne ihn von seinen landwirtschaftlichen Obliegenheiten abzulenken. Der Aufenthalt des Sängers in Curuzú währte einen Monat, und er wurde zum Triumph. Der Ruf, der ihm vorausging, ließ das ganze Munizip darin wetteifern, ihn einzuladen und zu feiern. Seine erste Tat war ein Besuch im Städtchen, vier Kilometer hinter Quaresmas Anwesen an der Bahnlinie gelegen. Ricardo aber nahm nicht den Zug, sondern wanderte über die Landstraße, sofern man eine mit Schlaglöchern übersäte Piste so bezeichnen wollte, die hügelauf, hügelab und durch ebenes Gelände führte und Flüßchen auf plumpen Brücken querte. Das Städtchen! ... Es hatte zwei Hauptstraßen, die ein T bildeten: die alte, die dem historischen Heerweg folgte, und die neue, die durch einen rechtwinkligen Abzweig zum Bahnhof entstanden war. Von diesen beiden gingen die übrigen Straßen aus, deren Häuser sich zu138
nächst in urbaner Dichte drängten, dann sich immer mehr vereinzelten und sich endlich in Busch oder Feld verloren. Die alte Hauptstraße, die ehemalige Kaiserstraße, war nach Marschall Deodoro benannt; und die neue, die ehemalige Kaiserinstraße, nach Marschall Floriano. Von einem der beiden Enden der MarschallDeodoro-Straße zweigte die Parochialstraße ab, die hügelan zur Kirche führte, einem häßlichen, armseligen Bau im jesuitischen Stil. Links vom Bahnhof, mitten im Feld, am Platz der Republik, am Ende einer an vereinzelten Häusern notdürftig erkennbaren Straße lag das Rathaus. Es war ein großer Quader aus Ziegeln, mit prätentiösem Kranzgesims und eisenvergitterten Erkerfenstern, reiner Maurermeisterstil, eine beklagenswerte Geschmacksverarmung vor allem für den, der an die mittelalterlichen Rathäuser kleiner französischer oder belgischer Gemeinden dachte. Ricardo betrat einen Barbierladen in der Marschall-DeodoroStraße, den Salon »Rio de Janeiro«, wo er sich rasieren ließ. Der Figaro setzte ihn über die Kleinstadt ins Bild, und auch Ricardo stellte sich vor. Einer der Anwesenden nahm ihn unter seine Fittiche, und binnen kurzem war er in der ganzen Ortschaft bestens eingeführt. Samstag war er angekommen, und Sonntag in die Stadt gegangen. Soeben war die Messe zu Ende, und der Troubadour sah die Gläubigen das Gotteshaus verlassen. In ländlichen Regionen ist der Kirchenbesuch niemals groß, doch immerhin begegneten Ricardo einige fürs Hinterland typische Mädchen: lymphatisch und triste, hübsch geputzt, mit Schleifen behängt, so kamen sie stumm den Kirchenhügel herab und verliefen sich in den Straßen, um sogleich in den Häusern zu verschwinden, wo sie wieder eine Woche der Abgeschlossenheit und Langeweile zubringen würden. 139
Bei dieser Gelegenheit wurde Ricardo mit Doktor Campos, dem Bürgermeister, bekannt gemacht. Er war der Arzt des Ortes, wohnte aber außerhalb auf seiner Fazenda und war heute mit seiner Tochter Nair im Einspänner vorgefahren, um dem Gottesdienst beizuwohnen. Während der Troubadour und der Arzt sich für einen Augenblick unterhielten, schaute die klapperdürre, blasse Tochter, deren Arme lang und fleischlos herabhingen, mit gespielter Verschämtheit auf den staubigen Boden der Straße. Als die beiden fortrollten, blickte Ricardo noch eine Weile diesem Sproß der freien brasilianischen Landluft nach. Als er zu Hause ankam, fand er schon eine Einladung von Doktor Campos zu einem Ball am kommenden Mittwoch vor. Auf dieses Fest folgten weitere, die Ricardo ebenfalls mit seiner Anwesenheit beehrte und mit seiner Stimme ergötzte. Quaresma begleitete ihn nie, freute sich aber über seinen Erfolg. Hatte er auch das Gitarrenspiel aufgegeben, so schätzte er doch weiterhin dieses wahrhaft brasilianische Instrument. Die katastrophalen Folgen seines Gesuches hatten seinen patriotischen Überzeugungen keinerlei Abbruch getan. Sie blieben tief in seinem Gemüt verwurzelt, und wenn er sie verbarg, so nur, um nicht unter der Verständnislosigkeit und Bosheit seiner Mitmenschen zu leiden. Er genoß also Ricardos überwältigenden Sieg, ein deutliches Zeichen dafür, daß in der Bevölkerung der Gegend starke Reste unserer nationalen Eigenart vorhanden waren, die dem Vormarsch ausländischer Moden und Vorlieben Einhalt geboten. Dem Sänger wurden von allen Seiten alle erdenkliche Ehren und Gunstbezeigungen zuteil. Besonders Doktor Campos, der Bürgermeister, überhäufte ihn mit Huldigungen. Für jenen Morgen hatte ihm dieser Ädil sogar eines seiner Pferde zugesagt, um ihn zu einem Spazierritt nach Carico abzu140
holen; und während der Sänger wartete, sprach er zu Quaresma, der noch nicht zum Rodungsstück aufgebrochen war: »Major, es war eine vortreffliche Idee, aufs Land zu kommen. Hier lebt man gut, und man kann es zu etwas bringen ...« »Danach verlangt es mich ganz und gar nicht. Du weißt ja, wie fremd mir all diese Dinge sind.« »Ich weiß ... Sicher ... Ich sage ja nicht, daß man danach streben soll, aber wenn man uns ein Angebot macht, sollten wir es nicht zurückweisen, meinen Sie nicht?« »Das kommt darauf an, mein lieber Ricardo. Ich könnte nicht das Kommando über ein Geschwader übernehmen.« »So weit gehe ich ja gar nicht. Schauen Sie, Major: Ich liebe die Gitarre, mein ganzes Leben widme ich ihrer moralischen und geistigen Aufwertung, und dennoch, wenn morgen der Präsident zu mir sagen würde: »Ricardo, du sollst Abgeordneter werden«, glauben Sie, daß ich da nicht zugreifen würde, selbst wenn ich genau wüßte, daß ich dann keine Gelegenheit mehr hätte, meinem Instrument seine elegischen Töne zu entlocken? Natürlich würde ich zugreifen! So einen Glückstreffer läßt man sich nicht entgehen, Major.« »Jeder hat so seine Theorien.« »Gewiß. Noch etwas, Major: Kennen Sie den Doktor Campos?« »Dem Namen nach.« »Wissen Sie, daß er Bürgermeister ist?« Quaresma betrachtete den Sänger einen Augenblick lang mit einem leichten Mißtrauen. Ohne den Blick des Freundes zu bemerken, fuhr Ricardo fort: »Er wohnt eine Meile von hier. Ich habe schon bei ihm zu Hause musiziert, und heute werde ich mit ihm ausreiten.« »Daran tust du gut.« 141
»Er möchte Sie kennenlernen. Kann ich ihn herbringen?« »Sicher.« In diesem Augenblick trat ein Bekannter des Doktor Campos durch das Tor und brachte, wie vereinbart, das Pferd. Ricardo stieg auf, und Quaresma begab sich wieder aufs Feld zu seinen beiden Arbeitern, denn außer Anastácio, der weniger Lohnarbeiter war als Pächter, hatte er noch Felizardo eingestellt. Es war Sommer, doch die anhaltenden Regenfälle der voraufgegangenen Tage hatten die Temperaturen gedämpft. Der Morgen strahlte vor Helligkeit, und es wehten linde Lüfte. Quaresma schritt unter dem Lebensgeräusch einher, das aus dem Rascheln des Laubes und dem Gezwitscher der großen und kleinen Vögel rührte. Rote tiês flatterten auf, Schwärme von coleiros und anuns flogen umher und ließen kleine schwarze Flecke auf das Baumgrün fallen. Selbst die Blumen, dieser traurige Schmuck unserer Felder, waren nunmehr aufgeblüht, um der Fortpflanzung, aber auch der Schönheit willen. Quaresma und seine Helfer arbeiteten derzeit an der Rodung eines abgelegenen Buschwaldstückes, und ebendafür hatte Quaresma Felizardo geholt, einen mageren, großgewachsenen Kerl, langarmig und langbeinig wie ein Affe. Sein Gesicht war kupferfarben, sein Bart schütter, und seiner scheinbaren Muskelschwäche zum Trotz erwies er sich beim Roden zupackend wie nur einer. Zudem war er eine unermüdliche Plaudertasche; wenn er frühmorgens ankam, so gegen sechs, kannte er schon alle Tratschereien aus dem Munizip. Mit der Rodung sollte einem von Gehölz überwucherten Gelände nördlich vom Bauernhof neue Ackerfläche abgewonnen werden. Dort würde der Major gut zwei Hektar Mais anpflanzen und dazwischen Kartoffeln, eine neue Kultur, in die er große 142
Hoffnungen setzte. Die Bäume waren bereits gefällt und das Waldstück gelichtet; Quaresma jedoch wollte nicht alles anzünden, um ein Ausglühen des Bodens und ein Verschwinden seiner flüchtigen Bestandteile zu vermeiden. Jetzt bestand die Arbeit darin, die dickeren Hölzer zu sammeln und beiseite zu schaffen, um sie als Brennholz aufzuheben, während die Reiser und Blätter zu kleinen Haufen geschichtet und verbrannt werden sollten. Dies nahm einige Zeit in Anspruch und kostete seinen Körper, der auf den Umgang mit Lianen und Baumstümpfen schlecht vorbereitet war, einige Stürze; doch all diese Mühe versprach der Pflanzung erhöhte Erträge. Während der Arbeit erzählte Felizardo seine Neuigkeiten, um sich zu zerstreuen. Wie mancher zu seinem Vergnügen singt, so redete er drauflos und bekümmerte sich wenig darum, ob man ihm zuhörte oder nicht. Oft unterhielt sich Quaresma mit ihm und stellte ihm Fragen. Anastácio hingegen, von stillem, ernsthaften Wesen, arbeitete wortlos und hielt von Zeit zu Zeit inne, gleich einer hieratischen Figur auf einer thebanischen Wandmalerei, um nachzudenken. »Die Leute hier sind ganz aus dem Häuschen«, sagte Felizardo, kaum war der Major gekommen. »Was gibt es denn, Felizardo?« Der Bursche schob den dicken Stumpf eines camará beiseite, wischte sich den Schweiß mit den Fingern ab und antwortete mit seiner sanften, an Zischlauten reichen Redeweise: »Politisches Zeug ... Der Herr Loitnent Antonino hätte sich fast mit Herrn Dokter Campos geprügelt.« »Wo?« »Am Bahnhof.« »Wieso?« 143
»Parteizeugs. Wie ich gehört hab, ist der Herr Loitnent fürn Guvenöhr, und der Herr Dokter Campos ist fürn Senater ... Ein richtiger Kuddelmuddel, Patrão!« »Und du, für wen bist du?« Felizardo antwortete nicht gleich. Er nahm die Sichel und zerhieb einen Ast, der das Fortschaffen eines Baumstumpfes hinderte. Anastácio stand daneben und maß einen Augenblick lang die Gestalt des redseligen Gefährten. Dieser antwortete schließlich: »Ich? Was weiß ich ... Geier mischen sich nich unter Paradiesvögel. Das is nur gut für den Herrn.« »Da bin ich wie du, Felizardo.« »I wo, Patrão. Noch vorvorgestern habe ich gehört, Sie warn n’ Freund vom Marschall.« Er trug den Ast beiseite, und als er zurückkam, fragte Quaresma erschrocken: »Wer hat das gesagt?« »Ich weiß nich, Herr Majoh. Hab so was gehört, da im Laden vom Spanier, und der Dokter Campos läuft aufgeblasen rum wie’n Frosch, weil Sie sein Freund sind.« »Aber das stimmt doch gar nicht, Felizardo. Ich bin gar nicht sein Freund ... Ich habe den Marschall irgendwann einmal kennengelernt ... und habe niemandem davon erzählt ... von Freundschaft keine Rede!« »Ach was!« gab Felizardo mit einem breiten, harten Lächeln zurück. »Der Patrão spielt bloß den Ahnungslosen.« Trotz allen Bemühens gelang es Quaresma nicht, diesem kindlichen Gemüt den Gedanken auszureden, daß er mit Marschall Floriano befreundet sei. »Ich hatte nur dienstlich mit ihm zu tun«, versuchte ihm der Major klarzumachen; Felizardo aber lächelte verschmitzt und sagte ein übers andere Mal: »Ach was, der 144
Patrão ist schlau wie eine Schlange.« So viel Hartnäckigkeit machte Quaresma stutzig. Was hatte dies alles zu bedeuten? Und auch Ricardos Worte, seine Andeutungen an demselben Morgen ... Er hielt den Volkssänger für einen rechtschaffenen Mann und aufrichtigen Freund, außerstande, ihm eine Falle zu stellen; seine Begeisterungsfähigkeit wie auch sein Wunsch, ihm ein guter Freund zu sein, konnten ihn freilich zum Opfer einer Illusion und zum Werkzeug eines Schurken machen. Quaresma blieb einen Augenblick lang nachdenklich, hielt inne mit dem Beiseiteräumen der abgehauenen Zweige; bald darauf jedoch vergaß er die Angelegenheit, und seine Sorge verflog. Nachmittags beim Essen verlor er keinen Gedanken mehr an die Unterhaltung, und die Mahlzeit verlief normal, weder froh noch traurig, jedenfalls ohne einen Schatten von Grübeleien seinerseits. Dona Adelaide, stets in cremefarbener Matinee und schwarzem Rock, saß am Kopfende; Quaresma rechts und links Ricardo. Es war die alte Dame, die dem Troubador immer wieder die Zunge löste. »Hat Ihnen der Spazierritt gefallen, Herr Ricardo?« Sie brachte es nicht fertig, ihn einfach mit »Ricardo« anzureden. Ihre traditionelle Erziehung zur Dame untersagte ihr diesen plebejischen Sprachgebrauch. Sie hatte ihre noch stark portugiesisch geprägten Eltern in solchen Situationen »Herr« sagen hören, und sie sagte es ebenfalls, ohne Affektiertheit, ganz selbstverständlich. »Ausgezeichnet. Was für eine Gegend! Ein Wasserfall, wie wunderbar! Hier auf dem Lande findet man Inspiration.« Und er nahm eine begeisterte Haltung ein, setzte die Maske eines griechischen Tragöden auf und gab seiner Stimme das dumpfe Rollen fernen Donners. »Hast du viel komponiert, Ricardo?« erkundigte sich Quaresma. 145
»Heute habe ich eine Modinha vollendet.« »Wie heißt sie?« erkundigte sich Dona Adelaide. »Carolas Lippen.« »Hübsch! Haben Sie schon die Musik dazu komponiert?« Wieder war es Quaresmas Schwester, die fragte. Ricardo führte gerade die Gabel zum Mund, die er nun zwischen Lippen und Teller schweben ließ, um mit dem Brustton der Überzeugung zu antworten: »Die Musik, meine Dame, ist stets das erste, was ich mache.« »Du mußt sie uns heute noch vorsingen.« »Gewiß, Major.« Nach dem Essen spazierten Quaresma und Anderherz ein wenig über das Anwesen, die einzige Konzession, die er seinem Freunde im Hinblick auf seine landwirtschaftlichen Obliegenheiten machte. Stets nahm er ein Stück Brot mit, das er im Hühnerhof zerbröselte, um den heftigen Zank unter dem Federvieh mitanzusehen. Eine Zeitlang verharrte er bei der Betrachtung jener Lebewesen, die zum Unterhalt seines eigenen Lebens gezüchtet, gefüttert, gehütet wurden. Er lächelte den Hähnchen zu, griff nach den noch federlosen, aber schon äußerst lebhaften und gierigen Küken und bestaunte eine Weile die Dummheit des Truthahns, der gravitätisch einherstolzierte, ein Rad schlug und hochmütig kollerte. Dann ging er zum Schweinestall, sah Anastácio zu, wie er Futter in die Tröge schüttete. Das riesige Mastschwein mit den großen Hängeohren stand mühsam auf und steckte feierlich seinen Kopf in den Kessel; in einem andern Koben quiekten Ferkel und wühlten zusammen mit ihrem Mutterschwein im Trog. So abstoßend die Freßgier dieser Tiere war, ihre Augen waren von einer geradezu menschlichen Sanftmut, die sie sympathisch 146
machte. Ricardo hatte für jene niederen Formen des Lebens nur wenig übrig, doch Quaresma brachte Minuten selbstvergessen damit zu, sie in langer, stummer Befragung zu betrachten. Die beiden setzten sich auf einen Baumstumpf; und Quaresma schaute in den hohen Himmel, während Anderherz irgendeine Anekdote erzählte. Der Tag ging zur Neige. Mit dem Ende des langen, brennenden Sonnenkusses begann das Land zu ermatten. Die Bambusrohre seufzten; die Zikaden zirpten; die Turteltauben gurrten verliebt. Der Major vernahm Schritte und wandte sich um. »Pate!« »Olga!« Kaum hatten sie sich gesehen, umarmten sie sich, und als sie sich voneinander lösten, blickten sie sich an und hielten sich an den Händen. Dann fielen jene ebenso banalen wie rührenden Sätze aller freudigen Begegnungen: »Wann bist du denn gekommen? Ich hatte gar keine Ahnung ... Es ist wirklich eine weite Fahrt ...« Ricardo schaute zu und war entzückt von der liebevollen Begrüßung der beiden; Anastácio hatte den Hut gezogen und betrachtete »die kleine Herrin« mit seinem rührenden, treuherzigen Afrikanerblick. Nachdem die Gefühlsaufwallung vorüber war, beugte sich die junge Frau über den Schweinekoben, schaute sich überall um, bis Quaresma fragte: »Und wo ist dein Mann?« »Der Doktor? ... Er ist schon hineingegangen.« Ihr Ehemann hatte sich lange gesträubt, sie hierherzubegleiten. Ein so vertrauter Umgang mit einem Menschen ohne Titel, ohne glänzende Position und ohne Vermögen erschien ihm unangebracht. Er verstand nicht, wie sein Schwiegervater, immerhin ein 147
reicher Mann und aus einer höheren Sphäre, mit einem kleinen Beamten einer zweitrangigen Behörde enge Beziehungen pflegen und ihn sogar zu seinem Gevatter machen konnte! Umgekehrt wäre es recht und billig gewesen; doch ein solches Verhalten brachte in seinen Augen die ganze Hierarchie der brasilianischen Gesellschaft durcheinander. Schließlich aber, als Dona Adelaide ihn mit besonderer Aufmerksamkeit und unendlicher Hochachtung empfing, fühlte er sich entwaffnet und in all seinen Eitelkeiten zufriedengestellt. Als eine alte Dame aus der Zeit des Kaisertums, das jenen Bildungsadel begründet hatte, empfand Dona Adelaide eine besondere Reverenz, eine wahre Verehrung für den Doktortitel; und diese übertrug sie umstandslos auf Doktor Armando Borges, über dessen Examensnoten und Auszeichnungen sie genauestens unterrichtet war. Auch Quaresma empfing ihn mit höchster Ehrerbietung; der Doktor genoß sein übermenschliches Ansehen und redete gemessen, sentenzhaft, dogmatisch, wobei er, vielleicht um ein Nachlassen der Wirkung seiner Worte zu verhindern, mit der rechten Hand am Akademikerring, seinem Talisman drehte, der groß wie ein Sonnenschirm seinen linken Zeigefinger bedeckte. Man unterhielt sich ausführlich. Das junge Paar erzählte von den politischen Unruhen in Rio, der Revolte der Festung Santa Cruz, und Dona Adelaide von ihrem Umzugsdrama, von zerbrochenen Möbeln, beschädigten Utensilien. Gegen Mitternacht begab sich alles in ausnehmend heiterer Stimmung zur Ruhe, während die Kröten im nahen Graben ihren ernsten Hymnus auf die transzendentale Schönheit des schwarzen, tiefen, bestirnten Himmels anhuben. Man wachte zeitig auf. Quaresma begab sich nicht sogleich zu 148
seiner Arbeit, sondern frühstückte und unterhielt sich mit dem Doktor. Die Post kam und brachte eine Zeitung. Er riß das Band ab, es war Das Munizip, ein der Regierungspartei nahestehender lokaler Wochenanzeiger. Da der Doktor sich soeben entfernt hatte, nutzte der Major die Zeit, um ihn zu lesen; er setzte das pincenez auf, lehnte sich im Schaukelstuhl zurück und entfaltete die Zeitung. Er saß auf der Veranda unter dem Vordach, während der Landwind wehte und der Bambus sich sachte wiegte. Der Leitartikel war mit »Eindringlinge« überschrieben und bestand aus einer heftigen Invektive auf diejenigen Bewohner des Munizips, die dort nicht geboren waren – »wahre Ausländer, die sich ins private und politische Leben der großen Familie von Curuzú einmischen und ihre friedliche Eintracht stören.« Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Er wollte das Blättchen schon beiseite legen, als er zwischen ein paar Versen seinen Namen zu finden glaubte. Er schaute genauer hin und las die folgenden Vierzeiler: politik in curuzú Quaresma, geliebter Quaresma! Quaresma Bruderherz! Laß die Kartoffeln in Ruhe, Laß diesen schlechten Scherz, Zum Landwirt taugst du nicht, Pfleg lieber deine alte Manie Tanz wieder Negertänze, Und Briefe schreib auf tupí. Wachsames Auge 149
Der Major war wie vor den Kopf gestoßen. Was hatte es damit auf sich? Warum das? Wer steckte dahinter? Er konnte sich keinen Reim auf einen solchen Angriff machen, fand dafür weder Motiv noch Hintergrund. Mittlerweile war seine Schwester in Begleitung der Patentochter herangetreten. Mit zitternder Hand reichte ihr Quaresma die Zeitung: »Lies das, Adelaide.« Die alte Dame, die Verstörung des Bruders bemerkend, las rasch und eifrig. Sie hatte die großherzige Mütterlichkeit alter Jungfern, denen das Fehlen eigener Kinder das Herz für die Leiden anderer Menschen weitet. Während sie las, sagte Quaresma: »Was habe ich denn getan? Was habe ich mit Politik im Sinn?« Und er kratzte sich das schon recht angegraute Haar. Dona Adelaide sagte sanft: »Ruhig Blut, Quaresma. Was soll’s ... Was regst du dich auf?« Die Patentochter las die Verse ebenfalls und fragte den Paten: »Haben Sie sich irgendwann mit Lokalpolitik befaßt?« »Ich? Niemals! ... Ich werde sogar eine Erklärung abgeben, daß ...« »Das wäre verrückt!« riefen beide Frauen gleichzeitig aus, und die Schwester fügte hinzu: »Das wäre Feigheit ... Denen Beachtung schenken? Niemals!« Als der Doktor und Ricardo hereinkamen, fanden sie die drei bei diesen Gesprächen und bemerkten Quaresmas Bestürzung. Er war blaß, hatte feuchte Augen und kratzte sich immer wieder am Kopf. »Was ist los, Major?« fragte der Volkssänger. Die Damen erklärten, worum es ging, und gaben ihm die beiden Vierzeiler zu lesen. Daraufhin erzählte Ricardo, was er im Städtchen gehört hatte. Dort unterstellten alle dem Major, er sei 150
ins Munizip gekommen, um Politik zu treiben, weswegen er Almosen gebe, dem Volk in seinem Waldstück das Sammeln von Brennholz erlaube, homöopathische Medikamente verteile ... Antonino habe versichert, eines Tages werde er diesen Tartüff entlarven. »Und du hast ihnen nicht widersprochen?« fragte Quaresma. Ricardo beteuerte, dies getan zu haben, doch der Inspektor habe ihm nicht geglaubt und seine Anschuldigungen wiederholt. Den Major verdroß dies alles zutiefst; doch seiner Wesensart nach brütete er zunächst darüber, und solange seine Freunde bei ihm wohnten, zeigte er nach außen hin keine Beunruhigung. Olga und ihr Mann verbrachten etwa zwei Wochen auf dem »Ruhehof«. Der Doktor schien sich schon nach einer Woche zu langweilen. Es gab nicht viele Ausflüge zu unternehmen. Die meisten unserer ländlichen Ortschaften haben wenig Malerisches zu bieten, da und dort eine Attraktion, während in Europa jedes Dorf seine historische Sehenswürdigkeit hat. Das Ausflugsziel von Curuzú war Carico, ein Wasserfall in zwei Meilen Entfernung von Quaresmas Haus, nach den Bergen hin gelegen, die vorn den Horizont begrenzten. Der Bürgermeister hatte sich mit dem Major bereits in Verbindung gesetzt, und so standen Pferde ebenso zur Verfügung wie ein Damensattel für die junge Frau. Sie ritten in der Frühe ab, Bürgermeister Campos, seine Tochter, der Doktor und seine Frau. Die Stelle war durchaus nicht häßlich, ein kleiner Wasserlauf, der dreigeteilt aus etwa fünfzehn Meter Höhe die Bergwand herabstürzte. Das Wasser zitterte im Fall, wirbelte und zerstäubte brausend und rauschend in einem großen Felsenbecken. Alles war überaus grün, die ganze Kaskade lebte unter einer Blätterkuppel, und die sie vereinzelt durchdrin151
genden Sonnenstrahlen funkelten mit kleinen runden oder länglichen Lichtflecken auf Wasser und Felsen. Hellgrün gefiederte Sittiche saßen auf den Zweigen, als gehörten sie zum Zierat dieses phantastischen Salons. Olga konnte sich alles in Ruhe anschauen und ein wenig umhergehen, denn die Tochter des Bürgermeisters blieb grabesstumm, während dieser damit beschäftigt war, den Doktor nach neuesten medizinischen Erkenntnissen zu befragen: »Wie heilt man heutzutage eine Wundrose? Ist die Anwendung von Brechweinstein immer noch üblich?« Was ihr bei ihrem Rundgang am meisten auffiel, war das allgemeine Elend, die Vernachlässigung des Ackerbaus, die Dürftigkeit der Behausungen, der triste, gedrückte Anblick der Armen. Aufgewachsen in der Stadt, hatte sie von den Bauern die Vorstellung, sie seien glücklich, gesund und fröhlich. Wenn es hier soviel Lehmboden gab, so viel Wasser, warum waren die Häuser nicht aus Ziegeln erbaut und nicht mit Dachpfannen gedeckt? Immer wieder diese unsäglichen Dächer aus sapê-Gras und diese Wände aus gestampftem Lehm, worunter das Stangengeflecht zum Vorschein kam wie das Skelett eines Kranken. Warum waren diese Häuser nicht von Pflanzungen umgeben, von Obst-und Gemüsegärten? Sie anzulegen wäre doch eine Kleinigkeit, eine Arbeit von Stunden. Auch gab es kein Vieh, weder großes noch kleines. Nur selten sah man eine Ziege oder einen Hammel. Warum nur? Die großen Güter boten keinen ermutigenderen Anblick. Alle sahen sie düster aus, geduckt, meistenteils ohne duftenden Obsthain und üppigen Gemüsegarten. Von Kaffee- und Maispflanzungen da und dort abgesehen waren Kulturen, war landwirtschaftliches Gewerbe nicht zu erkennen. Das konnte nicht nur an Faulheit oder Trägheit liegen. Für seinen eigenen Nutzen, für seine eige152
nen Bedürfnisse hat der Mensch immer Energie. Die am meisten der Faulheit geziehenen Völkerschaften arbeiteten relativ fleißig. In Afrika, Indien, Indochina, überall bauten die Ehepaare, die Familien, die Stämme irgend etwas an. Ob es am Boden lag? Woran wohl? All diese Fragen forderten ihre Neugier heraus, ihren Wissensdrang, auch ihr Mitleid und ihre Sympathie für jene Parias, die zerlumpt, übel behaust, hungrig vielleicht, mit verschlossener Miene dahinvegetierten! ... Ja, wenn sie ein Mann wäre! Dann würde sie dort und anderswo Monate und Jahre zubringen, würde forschen und beobachten, und mit Sicherheit würde sie Ursache und Abhilfe finden. Genau so war die Lage des Bauern im Mittelalter und in der frühen Neuzeit gewesen: das berühmte Tier mit menschlichem Antlitz und artikulierter Stimme bei La Bruyere ... Als sie am folgenden Tag zur Rodung des Paten spazierte, nutzte sie die Gelegenheit, um den redseligen Felizardo zu befragen. Die Plackerei ging ihrem Abschluß entgegen; das große Buschwaldstück war beinahe ganz gesäubert, und sanft zog es sich den Hügel hinauf, der hinter dem Anwesen lag. Olga traf den Gesuchten hier unten, damit beschäftigt, die dickeren Äste mit der Axt abzuschlagen; Anastácio stand weiter oben, am Rande des Buschs, und zog mit einem Rechen die abgefallenen Blätter zusammen. Sie ging auf Felizardo zu: »Guten Morgen, Madam.« »Hier wird also fleißig gearbeitet, Felizardo?« »Man tut sein Bestes.« »Gestern war ich in Carico, ein hübsches Plätzchen ... Wo wohnst du denn, Felizardo?« »Auf der andern Seite, an der Straße zur Stadt.« »Ist Dein Anwesen groß?« 153
»Is schon ein ziemliches Stück Land, jawohl, Madam.« »Warum baust du da nichts für dich an?« »Achje, Madam! Und wovon soll ich leben?« »Von dem, was du anbaust, oder von dem Geld, das dir dein Land einbringt.« »Madam stellt sich die Sache so vor, aber die Sache is anders. Die Pflanzen wachsen einfach vor sich hin, und weiter nix? Ach, Madam, so is das nich.« Er führte einen Axthieb, der am Rundholz abglitt und es umwarf; er stellte es besser auf dem Hauklotz zurecht, und bevor er nochmals zuschlug, sagte er: »Das Land gehört uns nich. Und dann, was is mit’n Ameisen? Auch hamwir kein Werkzeug ... das is für die Italiener oder Deutschen, denen gibt die Regierung alles ... Uns mag die Regierung nich ...« Er schwang die Axt mit fester, sicherer Hand, spaltete das runzlige Holz in zwei fast gleiche, hellgelbe Hälften mit einem dunklen Kern. Auf dem Rückweg wollte sie die Erinnerung an die Meinungsverschiedenheit mit Felizardo verscheuchen, doch es gelang ihr nicht. Er hatte recht. Zum ersten Mal bemerkte sie, daß die von der Regierung propagierte self-help nur für die Einheimischen galt; die Einwanderer erhielten alle mögliche Hilfe und Förderung, ganz abgesehen davon, daß sie auf ihre frühere Ausbildung und auf die Unterstützung durch ihre Landsleute zurückgreifen konnten. Das Land gehörte nicht Felizardo? Aber wem gehörte es dann, wem gehörte das viele brachliegende Land hier in der Gegend? Selbst aufgegebene Landgüter mit verfallenden Gebäuden hatte sie gesehen ... Warum dieses Horten von Land, warum diese nutz154
losen, unproduktiven Latifundien? Ihre Abgespanntheit hinderte sie, über diese Probleme weiter nachzudenken. Sie war auf dem Heimweg, zumal es Essenszeit war und sie allmählich Hunger verspürte. Zuhause traf sie den Gatten und den Paten im Gespräch. Jener wirkte etwas weniger arrogant; zuweilen sogar natürlich. Als sie hinzutrat, rief der Pate soeben aus: »Dünger! Wie ist es nur möglich, daß ein Brasilianer auf solch einen Gedanken kommt! Wo wir die fruchtbarsten Böden der Welt haben!« »Aber sie erschöpfen sich, Major«, bemerkte der Doktor. Dona Adelaide schwieg und widmete sich emsig ihrer Häkelarbeit; Ricardo hörte mit weit aufgerissenen Augen zu; Olga aber schaltete sich ins Gespräch ein: »Was ist das für ein Streit, lieber Pate?« »Dein Mann will mir weismachen, daß unsere Böden Dünger benötigen, eine Beleidigung für unser Land!« »Ich versichere Ihnen, Major«, fuhr der Doktor fort, »ich an Ihrer Stelle würde es mit Phosphaten probieren ...« »Gewiß, Major«, pflichtete Ricardo bei, »was mich betrifft, als ich mit der Gitarre anfing, da wollte ich von Methodik und Studium nichts wissen ... Wozu Musik erlernen? Wozu sollte das gut sein? Inspiration war alles! ... Heute sehe ich, daß man studieren muß ... So ist das eben«, schloß er. Alle schauten sich an, ausgenommen Quaresma, der sogleich mit aller Seeleninbrunst sprach: »Herr Doktor, Brasilien ist das fruchtbarste Land der Erde, das mit Naturreichtümern am besten ausgestattete, und seine Böden bedürfen keiner ›Leihgaben‹, um den Menschen Nahrung zu schenken. Seien Sie dessen versichert!« »Es gibt fruchtbarere Böden, Major«, entgegnete der Doktor. 155
»Wo denn?« »In Europa.« »In Europa?!« »Ja, in Europa. Die Schwarzerdeböden in Rußland, zum Beispiel.« Der Major blickte den jungen Mann eine Zeitlang an und rief dann triumphierend aus: »Da haben wir’s. Sie sind kein Patriot! Diese jungen Leute ...« Die Mahlzeit verlief in ruhigeren Bahnen. Ricardo machte noch einige Bemerkungen über das Gitarrenspiel. Abends sang er seine neueste Komposition: Carolas Lippen. Man vermutete hinter Carola eine der Mägde von Doktor Campos, doch niemand spielte darauf an. Alle hörten aufmerksam zu und spendeten ausgiebig Beifall. Olga ließ sich auf Dona Adelaides altem Klavier vernehmen, und vor elf Uhr zogen sich alle zurück. Quaresma suchte sein Zimmer auf, entkleidete sich, zog sein Nachthemd an, ging zu Bett und begann in einem alten Lobpreis auf die Reichtümer und Schätze Brasiliens zu lesen. Das Haus lag in tiefer Stille; von draußen kam nicht das leiseste Geräusch. Die Kröten hatten ihr Nachtkonzert für einen Augenblick unterbrochen. Quaresma erinnerte sich bei der Lektüre, daß Darwin solche Musik der Sümpfe mit großem Vergnügen hörte. In unserem Land ist alles außerordentlich, dachte er. Aus der Speisekammer, die neben seinem Schlafzimmer lag, drang ein seltsames Geräusch. Er horchte gespannt. Wieder stimmten die Kröten ihren Hymnus an. Nacheinander erschollen hohe, tiefe oder schrille Stimmen, und mit einemmal vereinten sich alle zu einem langen Unisono. Plötzlich verstummten sie. Wieder horchte der Major; das Geräusch hielt an. Was mochte das sein? Es war ein leises Knistern, wie wenn jemand Reiser zerbräche und auf 156
den Boden fallen ließe ... Die Kröten huben aufs neue an: der Kapellmeister gab einen Fanfarenstoß, und alsbald fielen die Bässe und Tenöre ein. Sie musizierten eine ganze Weile, und Quaresma konnte etwa fünf Seiten lesen. Wieder verstummten die Lurche; das Geknister hielt an. Der Major stand auf, ergriff den Leuchter und ging, im Nachthemd wie er war, zu der Kammer, von wo die Geräusche kamen. Er öffnete die Tür und konnte nichts erkennen. Gerade wollte er die Ecken absuchen, als er auf dem Fußrücken einen Stich verspürte. Fast hätte er aufgeschrien. Er senkte die Kerze, um besser zu sehen und fand eine Riesenameise, die sich wütend in seine magere Haut verbissen hatte. Nun hatte er die Quelle der Geräusche entdeckt: Ameisen waren durch ein Loch im Fußboden in seine Speisekammer eingedrungen und trugen seine Vorräte an Mais und Bohnen aus Behältnissen fort, die man aus Unachtsamkeit hatte offenstehen lassen. Der Boden war schwarz vor Insekten, die körnerbeladen in dichten Trupps dahinmarschierten und zu ihrer unterirdischen Stadt hinuntertauchten. Er versuchte sie in die Flucht zu schlagen. Tötete eine, zwei, zehn, zwanzig, hundert; doch es waren Tausende, und ihr Heer schwoll zusehends an. Sie zwickten ihn in die Füße, in die Beine, krabbelten an seinem Körper empor. Er hielt es nicht mehr aus, schrie, trampelte und ließ die Kerze fallen. Nun stand er im Dunkeln. Tastete nach der Tür, fand sie und lief vor jenem winzigen Feind davon, den er vielleicht nicht einmal bei strahlendem Sonnenschein deutlich wahrgenommen hätte ...
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iv »Energisch durchgreifen! Komme sofort«
Dona Adelaide, ihrem Bruder um etwa vier Jahre voraus, war eine gutaussehende ältere Dame von mittlerer Statur; sie hatte eine Haut, welche die typische Alterspatina anzunehmen begann, dichtes, schon gänzlich angegilbtes Haar, und einen stillen, sanften Blick. Von nüchternem Temperament, ohne Phantasie, mit heller, positiver Intelligenz begabt, bildete sie in allem einen starken Kontrast zu ihrem Bruder; dennoch entstand zwischen beiden nie eine tiefgehende Kluft, allerdings auch keine wirkliche Übereinstimmung. Das Wesen ihres Bruders verstand sie nicht, und sie wollte es nicht verstehen, während er von den einfachen, durchschnittlichen, klaren Gedanken dieser methodischen, ordentlichen und ordnenden Frau völlig unberührt blieb. Sie hatte die fünfzig schon überschritten, und er war auf dem Wege dorthin; doch beide strahlten Gesundheit aus, waren von Zipperlein weitgehend verschont geblieben und hatten gewiß noch viele Lebensjahre vor sich. Die ruhige, sanfte und geordnete Existenz, die sie bisher geführt hatten, trug wesentlich zu ihrem guten Gesundheitszustand bei. Quaresma hatte seine Obsessionen erst nach dem vierzigsten Lebensjahr ausgebrütet, und sie hatte nie welche gehabt. Für Dona Adelaide war das Leben eine einfache Sache; leben hieß eine Wohnung haben, Mittag- und Abendessen, Kleidung, 158
alles anspruchslos, durchschnittlich. Ambitionen, Leidenschaften, Begierden waren ihr fremd. Als Mädchen hatte sie nicht von Prinzen, Schönheit, Triumphen und nicht einmal von einem Ehemann geträumt. Wenn sie nicht geheiratet hatte, so deshalb, weil sie kein Bedürfnis danach verspürte; das Geschlechtliche bedrängte sie nicht, und an Leib und Seele fühlte sie sich rundum zufrieden. Die Gelassenheit ihrer Erscheinung und die Ruhe ihrer grünen Augen, die wie smaragdener Mondschein glänzten, ließen in jenem Heim die Erregung und Ruhelosigkeit, ja, die Gequältheit des Bruders um so deutlicher hervortreten. Nicht, daß Quaresma verstört wie ein Verrückter umhergelaufen wäre. Glücklicherweise nicht. Äußerlich gesehen konnte man sogar den Eindruck gewinnnen, daß nichts sein Gemüt beunruhige; doch wer seine Gewohnheiten, Gebärden und Haltungen länger studierte, würde bald erkennen, daß Ruhe und Friede nicht in seiner Seele wohnten. Manchmal blickte er minutenlang gedankenverloren zum fernen Horizont; andere Male hielt er mitten bei der Feldarbeit inne, starrte eine Weile reglos zu Boden, kratzte sich die Hände, stieß einen Stoßseufzer aus und setzte die Arbeit fort; und es gab sogar Augenblicke, da ihm ein Ausruf oder ein Satz entfuhr. Bei solchen Gelegenheiten warf Anastácio einen verstohlenen Blick auf den Patrão, es gelang ihm aber nicht mehr, ihm in die Augen zu blicken, und er sagte nichts; Felizardo fuhr zu erzählen fort, wie Cusódios Tochter mit dem Manduca vom Kaufladen durchgebrannt war; und so nahm die Arbeit ihren Fortgang. Müßig zu sagen, daß die Schwester auf derlei Dinge nicht achtete, zumal die beiden außer am frühen Morgen und bei der Hauptmahlzeit getrennt voneinander waren, Quaresma auf der 159
Rodung, auf den Pflanzungen, und sie bei der Führung des Haushaltes. Auch den andern Menschen aus seinem Umkreis entgingen die verzehrenden Sorgen des Majors, und zwar schlicht deshalb, weil sie fernab weilten. Ricardo war seit sechs Monaten nicht mehr gekommen, ebensolange wie Olga, und ihren Vater hatte er gar seit einem Jahr nicht mehr gesehen, seitdem er auf den »Ruhehof« gezogen war. Immerhin lagen die jüngsten Briefe des Gevatters und seiner Tochter erst eine Woche zurück. Während all dieser Zeit hörte Quaresma nicht auf, sich über die bestmögliche Nutzung seiner Ländereien Gedanken zu machen. Seine Gewohnheiten änderten sich nicht, und seine Tätigkeit blieb stets die gleiche. Die meteorologischen Instrumente allerdings hatte er beiseite gelegt. Das Hygrometer, das Barometer und ihre Gefährten wurden nicht mehr konsultiert, und es wurden keine Beobachtungen mehr in einem Heft notiert. Damit hatte er Pech gehabt. Ob aus Unerfahrenheit oder aus Unkenntnis der theoretischen Grundlagen, ob aus anderen Gründen, jedenfalls erwiesen sich alle Vorhersagen, die auf seinen Messungen beruhten, als falsch. Erwartete er gutes Wetter, kam Regen; erwartete er Regen, kam Trockenheit. So verlor er viel Saatgut, und auch Felizardo hatte mit seinem breiten, derben Grinsen eines Höhlenmenschen die Apparate bespöttelt: »Ach was, Patrão! Regen fällt, wenn’s Gott gefällt.« Das Aneroidbarometer, dessen Zeiger auf und ab tanzte, ohne abgelesen zu werden, war in eine Ecke verbannt; das MaximumMinimum-Thermometer, ein echtes Casella, hing auf der Veranda unter dem Vordach, ohne mit einem freundlichen Blick bedacht zu werden; das Sammelgefäß des Pluviometers stand im Hühner160
stall und diente dem Federvieh als Tränke; und nur das Anemometer, nun allerdings ohne Draht, drehte sich unverdrossen hoch auf dem Mast im Wind, als wolle es gegen Quaresmas Verachtung der Wissenschaft protestieren. So lebte Quaresma vor sich hin, und er spürte, daß die gegen ihn entfachte Kampagne, obgleich nun nicht mehr öffentlich geführt, unterschwellig weiterwirkte. Seinem Geist und Charakter entsprechend wünschte er die Sache ein für allemal zu klären, doch wie? Wenn man ihn nicht anklagte, wenn man ihn nicht direkt bekämpfte? Es war ein Kampf gegen Schatten, gegen Schemen, den zu akzeptieren lächerlich wäre. Überdies entfachten die ringsum herrschenden Verhältnisse, dies vorher nie geahnte Elend der Landbevölkerung, diese Vernachlässigung und Unergiebigkeit der Böden quälende Sorgen in seiner patriotischen und grüblerischen Seele. Voll Traurigkeit vermißte der Major ein Gefühl der Solidarität, der gegenseitigen Hilfsbereitschaft unter jenen einfachen Menschen. Sie verfolgten keinerlei gemeinsames Ziel, lebten gesondert, isoliert, in meist wenig geordneten Familienverhältnissen, ohne das Bedürfnis, sich zur Bearbeitung der Erde zu verbünden. Dabei hatten sie doch ganz in der Nähe das Beispiel der Portugiesen vor Augen, die sich zu sechst oder mehr zusammentaten, um gemeinschaftlich größere Ackerflächen unter den Pflug zu nehmen, und die mit Gewinn davon lebten. Selbst die alte Nachbarschaftshilfe, der mutirão, war ausgestorben. Wie war dem abzuhelfen? Quaresma verzweifelte. Das gängige Argument von den fehlenden Arbeitskräften schien ihm eine böswillige oder törichte Unterstellung, und böswillig oder töricht war die Regierung, die neue Arbeitskräfte zu 161
Tausenden importierte, ohne sich um die hier vorhandenen zu kümmern. Es war, als wollte man auf einer Weide, wo ein Halbdutzend Rinder mit Mühe Futter fanden, drei weitere halten, um den Dünger zu mehren! ... An seinem eigenen Fall ersah er wohl die Schwierigkeiten und Hindernisse aller Art, die der Absicht entgegenstanden, die Erde produktiv und rentabel zu machen. Seine eigenen Erfahrungen waren höchst aufschlußreich. Nach dem Sieg über das Unkraut, über Mißhandlung und Verwahrlosung so vieler Jahre begannen seine Avocado-Bäume endlich zu tragen, nicht reichlich, doch über den Eigenbedarf hinaus. Groß war seine Freude. Zum ersten Mal würde er Geld in die Hand bekommen, Geld, das ihm seine Erde schenkte, immerzu Mutter und immerzu Jungfrau. Er wollte die Früchte verkaufen, doch wo? An wen? Im Ort gab es den einen oder andern, der zum Ankauf bereit war, doch zu lächerlichen Preisen. Kurzentschlossen fuhr er nach Rio, um Käufer zu suchen. Er ging von Tür zu Tür. Niemand wollte sein Obst, es gab zu viel davon. Man verwies ihn an einen gewissen Herrn Azevedo in der Markthalle, den sogenannten Obstkönig. Ihn suchte er auf. »Avocados! Du meine Güte! Davon habe ich übergenug ... Die sind spottbillig!« »Und doch«, sagte Quaresma, »habe ich eben heute in einem Feinkostgeschäft nachgefragt, und man wollte fünftausend Réis für das Dutzend haben.« »Bei kleinen Mengen, müssen Sie wissen, ist das der Preis ... Nun ja, wenn Sie wollen, schicken Sie sie ...« Dann klimperte er mit seiner schweren Goldkette, legte seine Hand in den Westenausschnitt und sagte, dem Major beinahe den Rücken zugewandt: »Ich müßte sie sehen ... Die Größe spielt nämlich auch eine 162
Rolle ...« Quaresma schickte sie, und als er das Geld erhielt, fühlte er die stolze Genugtuung dessen, der soeben eine große, unvergeßliche Schlacht gewonnen hat. Er streichelte die verschmutzten Banknoten eine nach der andern, betrachtete aufmerksam Zahl und Bild, legte sie auf einem Tisch nebeneinander und bewahrte sie lange auf, ohne damit zu zahlen. Um den Gewinn zu berechnen, zog er die Frachtkosten für Eisenbahn und Fuhrwerk ab, den Preis der Kisten, die Lohnkosten für die Hilfskräfte, und nach dieser durchaus nicht komplizierten Berechnung wurde ihm klar, daß er tausendfünfhundert Réis verdient hatte, nicht mehr und nicht weniger. Für das Hundert hatte der Herr Azevedo ihm einen Betrag gezahlt, für den man im Laden nur ein Dutzend bekommt. Das minderte jedoch nicht seinen Stolz, und er freute sich über diesen lächerlichen Gewinn mehr als über einen erklecklichen Lohn. So ging er mit verdoppeltem Eifer an die Arbeit. Im kommenden Jahr würde er einen größeren Gewinn erzielen. Jetzt galt es, die Obstbäume zu putzen. Anastacio und Felizardo widmeten sich weiterhin den großen Ackerflächen; für die Arbeit an den alten Obstbäumen stellte er einen weiteren Helfer ein, Mané Candeeiro. Mit diesem machte er sich daran, die Zweige an den Bäumen abzusägen, die abgestorbenen sowie diejenigen, auf denen Unkraut Wurzeln geschlagen hatte. Es war eine harte, schwierige Arbeit. Mitunter mußten sie bis in die Wipfel klettern, um einen kranken Zweig zu stutzen; die Dornen zerrissen die Kleidung und stachen ins Fleisch; und jeder von ihnen war mehr als einmal im Begriff, mitsamt der Baumsäge auf den rissigen Boden zu stürzen. Mané Candeeiro sprach wenig, und wenn, dann nur von der Jagd; doch er sang wie ein Vögelchen. Beim Sägen der Äste träl163
lerte er eine naive ländliche Weise, worin zur Überraschung des Majors von heimischer Fauna und Flora und von bäuerlichen Sitten nicht die Rede war, Verse, die auf wolkige Weise sinnlich und überaus zärtlich waren, sogar etwas süßlich. Zufällig folgte aber nun ein Lied, worin ein heimischer Vogel vorkam, und so lauschte der Major: Ich sage nun Lebewohl Wie stets der bacurau es tut Ein Füßlein schon in den Lüften Das ander auf dem Zweige ruht. Dieser bacurau nun kam Quaresmas Bestrebungen ganz besonders entgegen. Die Volkskultur begann ländliche Szenen zu betrachten und sich davon anrühren zu lassen; unsere Bevölkerung schlug also Wurzeln in dem großen Land, das sie bewohnte. Quaresma schrieb die Verse auf und schickte sie dem alten Poeten aus São Cristóvão. Felizardo nannte zwar Mané Candeeiro einen Lügner, denn all diese Geschichten von erlegten caititús, jacú-Hühnern und Jaguaren seien Jägerlatein; doch er respektierte sein poetisches Talent vor allem als Stegreifsänger: »Wirklich, der Kerl kann was.« Mané war hellhäutig und hatte regelmäßige Züge, die cäsarisch, hart und kraftvoll wirkten, ein wenig gemildert vom afrikanischen Blut. Quaresma suchte bei ihm nach jenem abstoßenden Äußeren, das Darwin bei den Mischlingen beobachtet haben wollte; doch er mußte ehrlicherweise zugeben, das er es nicht fand. Mit Mané Candeeiros Hilfe gelang es dem Major, die Obstbäume dieses alten, seit zehn Jahren verwaisten Anwesens auszu164
putzen. Nach beendeter Arbeit war er traurig, die alten Bäume so amputiert zu sehen, verstümmelt, lückenhaft belaubt ... Sie schienen zu leiden, und Quaresma dachte an die Hände, die sie vor zwanzig oder dreißig Jahren dort gepflanzt hatten, Sklaven vielleicht, erfüllt von Verzweiflung und Heimweh! ... Doch es dauerte nicht lange, bis die Knospen aufsprangen und sich alles begrünte; und die Wiedergeburt der Bäume brachte Frohsinn in die große und kleine Vogelwelt. Frühmorgens flatterten die roten tiês mit ihrem dünnen Gepiepe, eine nutzlose und federschmucke Vogelart, wie gemacht für Damenhüte; die grauen und braunen Turteltauben scharrten zahlreich im gejäteten Boden; im Laufe des Tages sangen die sanhaçús von den hohen Ästen, die papa-capins, die Schwärme von coleiros; und des Nachmittags versammelten sich alle zum Singen, Piepen, Zwitschern in den hohen Mangobäumen, in den Kaschu- und Avocadobäumen, um ihr Preislied auf die ausdauernde und fruchtbringende Arbeit des alten Majors Quaresma anzustimmen. Nicht lange dauerte diese Freude. Ein Feind trat auf, unversehens, mit der verwegenen Schnelligkeit eines erprobten Generals. Bisher hatte er sich scheu genähert und offenbar nur Kundschafter ausgeschickt. Seit jenem Angriff auf die Vorräte waren die Ameisen, sogleich in die Flucht geschlagen, nicht mehr wiedergekehrt; doch eines Morgens, als Quaresma sein Maisfeld besah, war es ihm, als würde ihm die Seele aus dem Leib gerissen; reglos blieb er stehen, und Tränen füllten ihm die Augen. Der Mais war längst aufgekeimt, klein und tiefgrün, schüchtern wie ein Kind, eine halbe Handbreit hoch; und schon hatte der Major das Kupfersulfat besorgt für die Lösung, worin die Kartoffeln gespült werden sollten, die er zwischen den Maisstauden 165
pflanzen wollte. Jeden Morgen war er zu ihnen gegangen, hatte sie vor seinem inneren Auge heranwachsen sehen mit weißen Rispen und schwellenden Kolben voll weinfarbener Fäden, die sich im Winde wiegten. An diesem Morgen aber sah er nichts mehr davon. Selbst die zartesten Halme waren abgeschnitten, verschwunden! »Sieht aus wie Menschenwerk«, sagte Felizardo; doch es waren die Blattschneiderameisen, entsetzliche Hautflügler, kleinwüchsige Räuber, die über Quaresmas Arbeit mit geradezu türkischer Beutegier hergefallen waren ... Man mußte sie bekämpfen. Der Major nahm den Kampf auf, er entdeckte die Haupteingänge des Ameisenbaus und räucherte jeden von ihnen mit tödlichem Gift aus. Tage vergingen; die Feinde schienen besiegt, doch eines Nachts, als er zum Obsthain hinüberging, um die Sternennacht besser genießen zu können, hörte Quaresma ein merkwürdiges Geräusch, als zerriebe jemand die dürren Blätter an den Bäumen ... Ein Knistern ... Es war ganz in der Nähe ... Er entzündete ein Streichholz, und was mußte er da sehen, mein Gott! Fast alle Orangenbäume waren schwarz vor riesigen Ameisen. Zu Hunderten bedeckten sie von unten bis oben Stämme und Äste, und sie wuselten, krabbelten, marschierten wie die Bevölkerung auf den Straßen einer Großstadt mit dichtem, aber wohlgeordnetem Verkehr: die einen kletterten aufwärts, andere abwärts, ohne Zusammenstöße, Verwirrung oder Durcheinander, als wäre ihre Arbeit durch Hornsignale geregelt. Dort oben schnitten die einen die Blätter am Stiel ab; hier unten zersägten andere sie in kleine Stücke, und wieder andere luden sie auf ihren übergroßen Kopf und trugen sie in langen Reihen auf einer durch den Bodenbewuchs sauber gebahnten Schneise fort. Für einen Augenblick wurde die Seele des Majors von Mutlo166
sigkeit erfaßt. Mit diesem Hindernis hatte er nicht gerechnet, geschweige denn damit, daß es so mächtig wäre. Nun sah er wohl, daß er es mit einem intelligenten, wohlorganisierten, wagemutigen und hartnäckigen Feind zu tun hatte. Ihm kam der berühmte Satz von Saint-Hilaire in den Sinn: Entweder wir vertreiben die Ameisen, oder sie vertreiben uns. Der Major war nicht ganz sicher, ob der Satz diesen Wortlaut hatte, jedenfalls war dies sein Inhalt, und er wunderte sich, daß er ihm jetzt erst einfiel. Am folgenden Tage faßte er wieder Mut. Er kaufte neue Munition, und so sah man ihn mit Mané Candeeiro zu Werke gehen, Schneisen schlagen, scharfsinnige Vorkehrungen treffen, um die wichtigsten Rückzugswerke, die »Kessel« dieser fürchterlichen Insekten aufzuspüren und auszuräuchern. Wie Artilleriefeuer verbrannte das Sulfuret, mit wiederholten, todbringenden, vernichtenden Detonationen! Eine Schlacht ohne Feuerpause hatte begonnen. Sobald sich die Öffnung eines unterirdischen Ganges, ein »Auge« zeigte, wurde das Gift eingesetzt, anders war keine Landwirtschaft möglich. Allerdings ließ sich absehen, daß, kaum hätte er die Ameisenvölker auf seinem eigenen Gelände vernichtet, die aus der Nachbarschaft oder von den öffentlichen Wegen unverzüglich Gänge zu seiner Besitzung graben würden. Es war eine Qual, eine Strafe, ein Zwang zur Wachsamkeit wie bei einem holländischen Deich, und Quaresma sah ein, daß nur eine zentrale Instanz, eine Obrigkeit oder zumindest eine Übereinkunft zwischen den Landwirten diese Plage endgültig würde ausrotten können, die schlimmer war als Hagel, Rauhreif oder Dürre, denn sie herrschte jahraus, jahrein, ob im Winter oder Sommer, Herbst oder Frühling. Ungeachtet dieses täglichen Kampfes ließ der Major den Mut nicht sinken, und es gelang ihm tatsächlich, auf den von ihm an167
gelegten Pflanzungen einige Erträge zu erzielen. War bei der Obsternte seine Freude schon groß gewesen, so war sie jetzt noch ausgeprägter und tiefer, wenn er Fuhre auf Fuhre mit Kürbissen, Maniokwurzeln, Süßkartoffeln in Körben oder Säcken zum Bahnhof rollen sah. Das Obst hatte gewissermaßen noch aus anderen Händen gestammt; die Bäume waren nicht von ihm gepflanzt. Doch diesmal war es anders, diese Produkte waren Ergebnis seines eigenen Schweißes, seines Unternehmungsgeistes, seiner Arbeit! Auf dem Bahnhof warf er einen letzten Blick auf diese Körbe, zärtlich wie ein Vater bei der Verabschiedung seines Sohnes, der zu Ruhm und Sieg in die Ferne strebt. Als er Tage später das Geld erhielt, ging er nicht aufs Feld, er zählte es und berechnete den Gewinn: die Arbeit des Buchhalters ersetzte die des Landwirts. Seine schon ein wenig ermattete Aufmerksamkeit war dem Umgang mit Zahlen nicht eben günstig, und erst gegen Mittag konnte er seiner Schwester das Ergebnis mitteilen: »Weißt du, wie hoch der Gewinn war, Adelaide?« »Nein. Niedriger als der mit den Avocados?« »Ein bißchen höher.« »Also dann ... Wieviel?« »Zweitausendfünfhundertundsiebzig Reis«, artikulierte Quaresma Silbe für Silbe. »Wie bitte?« »Ganz genau. Allein die Fracht hat mich hundertzweiundvierzigtausend und fünfhundert Réis gekostet.« Dona Adelaide hielt eine Zeitlang die Augen auf ihre Näharbeit gesenkt, dann hob sie den Blick: »Hör mal, Policarpo, du solltest das lieber lassen ... Du hast 168
schon so viel Geld da hineingesteckt ... Wenn ich nur an die Ameisen denke!« »Aber Adelaide! Denkst du etwa, daß ich damit ein Vermögen machen will? Ich arbeite, um andern ein Beispiel zu geben, um die Landwirtschaft zu fördern, um unsere überaus fruchtbaren Böden nutzbar zu machen ...« »Das ist es ja ... Du willst immer die erste der Arbeitsbienen sein ... Hast du jemals gesehen, daß die Reichen solche Opfer bringen? ... Von wegen! Den Teufel tun sie ... Sie stecken ihr Geld in den Kaffee und bekommen alle erdenkliche Protektion ...« »Und was für Opfer ich gebracht habe.« Die Schwester wandte sich wieder ihrer Näharbeit zu, Policarpo stand auf, trat ans Fenster, das auf den Hühnerhof ging. Es war ein trüber, verdrießlicher Tag. Er rückte das pince-nez zurecht und sagte, während er hinunterblickte: »He, Adelaide! Liegt da nicht ein totes Huhn? ...« Die alte Dame stand mit ihrer Näharbeit auf, ging zum Fenster und überzeugte sich mit einem Blick: »Ja ... Heute ist es schon das zweite.« Nach diesem kurzen Dialog kehrte Quaresma in sein Studierzimmer zurück, um über große landwirtschaftliche Reformen nachzusinnen. Er hatte sich Kataloge kommen lassen und wollte sie nun studieren. Doppelpflug, Egge und Maschinen zum Jäten, Säen, Entwurzeln schwebten ihm vor, alles amerikanisches Gerät aus Stahl, mit einer Arbeitsleistung von zwanzig Mann. Bisher hatte er von diesen Neuerungen nichts wissen wollen; die reichsten Böden der Welt brauchten solche Maßnahmen zur Produktionssteigerung nicht, die ihm künstlich vorkamen; doch nun war er bereit, sie versuchsweise anzuwenden. Noch aber sperrte sich sein Geist gegen den Einsatz von Dünger. Gepflügter Boden ist 169
gedüngter Boden, pflegte Felizardo zu sagen; und es schien Quaresma eine Entweihung, einem brasilianischen Boden Nitrate, Phosphate oder auch nur gemeinen Dung beizugeben ... Eine Beleidigung! Sollte er sie eines Tages als notwendig erachten, so würde das, so schien ihm, sein ganzes Gedankengebäude zum Einsturz bringen und seine Lebensgrundlagen zerstören. Er war gerade dabei, Pflüge und andere »Planets«, »Bajacs« und »Brabants« auszuwählen, als sein kleiner Küchenjunge ihm den Besuch des Doktor Campos meldete. Besagter Gemeindepolitiker trat mit seinem ganzen Frohsinn, seiner Sanftmut und seiner Leibesfülle ein. Er war groß und dick, ein wenig wanstig, hatte braune, hervortretende Augen, eine mittelhohe, senkrechte Stirn, eine unschön geformte Nase. Mit seiner sonnenverbrannten Haut und seinem strähnigen, schon angegrauten Haar war er trotz seines gekräuselten Schnurrbartes das, was man einen caboclo nennt. Nicht aus Curuzú, sondern aus Bahia oder Sergipe gebürtig, wohnte er schon mehr als zwanzig Jahre in jenem Ort, wo er geheiratet hatte und wo er dank der Mitgift seiner Frau und seiner Arzttätigkeit zu Wohlstand gekommen war. Für letztere betrieb er keinen besonderen geistigen Aufwand: Er wußte ein halbes Dutzend Rezepte auswendig und hatte es längst gelernt, alle hiesigen Gebrechen mit seiner reduzierten Arzneiliste zu behandeln. Als Bürgermeister war er einer der angesehensten Menschen in Curuzú, und Quaresma schätzte ihn besonders wegen seiner umgänglichen, leutseligen, ungezwungenen Wesensart. »Seien Sie gegrüßt, Major! Wie steht’s, wie geht’s? Viele Ameisen? Bei mir gibt es keine mehr.« Quaresma antwortete etwas weniger vergnügt und über170
schwenglich, war aber froh über die ansteckende Munterkeit des Doktors. Dieser fuhr unbefangen und natürlich fort: »Wissen Sie, was mich herführt, Major? Nicht wahr, Sie wissen es nicht? Ich brauche von Ihnen eine kleine Gefälligkeit.« Der Major war keineswegs verwundert, er fand seinen Besucher sympathisch und versicherte ihm seine Hilfsbereitschaft. »Wie Sie wissen ...« Seine Stimme wurde noch weicher, feiner, geschmeidiger; zuckersüß entströmten die Worte seinem Mund, wanden und schlängelten sich: »Wie Sie wissen, Herr Major, finden in den nächsten Tagen die Wahlen statt. Der Sieg ist uns sicher. Alle Wahllokale sind auf unserer Seite, außer ... Just da liegt das Problem, und wenn der Herr Major wollen ...« »Aber wieso ich? Jemand, der kein Wähler ist, der sich da nicht einmischt, der mit Politik nichts zu schaffen hat?« fragte Quaresma. »Gerade deshalb«, sagte der Doktor mit Nachdruck und fuhr etwas milder fort: »Das Wahllokal liegt in Ihrer Nachbarschaft, dort in der Schule, und wenn ...« »Ja und?« »Ich habe hier einen Brief, den der Neves Ihnen geschrieben hat. Wenn Sie antworten wollen – am besten sofort –, daß es zu keiner Wahl gekommen ist ... Wären Sie bereit?« Quaresma blickte den Doktor mit aller Entschiedenheit an, strich sich einen Augenblick lang seinen Kinnbart und antwortete mit klarer, fester Stimme: »Auf gar keinen Fall.« Der Doktor war keineswegs verärgert. Mit einer Stimme, die noch salbungsvoller und einschmeichelnder klang als zuvor, warb er: die Sache diene der Partei, der einzigen, die für die Hebung 171
der Landwirtschaft eintrete. Quaresma war unbeugsam; er blieb bei seiner Ablehnung, ihm seien solche Zwistigkeiten gänzlich zuwider, er habe keine Partei, und selbst wenn er eine hätte, würde er nichts versichern, wovon er nicht wisse, ob es wahr oder gelogen sei. Campos ließ sich keinen Unwillen anmerken, er plauderte über ein paar belanglose Gegenstände und verabschiedete sich mit liebenswürdiger Miene, mit aller Aufgeräumtheit, deren er fähig war. Dies war am Dienstag, einem Tag mit trübem, verdrießlichem Licht. Am Nachmittag zog ein Gewitter auf, und es regnete ausgiebig. Das Wetter besserte sich erst am Donnerstag, als der Major vom Besuch eines Mannes in einer alten, erbärmlichen Uniform überrascht wurde, der ein an ihn, den Eigentümer des »Ruhehofs«, adressiertes Amtsschreiben brachte. Aufgrund munizipaler Verordnungen und Gesetze, so hieß es in dem Schriftstück, werde der Herr Policarpo Quaresma, Eigentümer des »Ruhehofes«, aufgefordert, unter Androhung der in genannten Verordnungen und Gesetzen vorgesehenen Strafen die an erwähnte Besitzung grenzenden öffentlichen Wegstrecken zu säubern und zu jäten. Der Major verfiel eine Zeitlang ins Grübeln. Eine solche Aufforderung hielt er für ein Ding der Unmöglichkeit. War das ernst gemeint? Gewiß ein Scherz ... Wieder las er das Schriftstück, erkannte die Unterschrift des Doktor Campos. Tatsächlich ... Aber was war das für eine absurde Aufforderung, Wege auf einer Länge von tausendzweihundert Metern zu jäten und zu säubern, immerhin grenzte sein Anwesen vorn auf vierhundert und seitlich auf achthundert Metern an solche Wege – war das die Möglichkeit!? 172
Da war sie wieder, die alte Fron des Ancien Régime!... Eine Absurdität! Eher sollte man ihm den Hof konfiszieren! Als er die Sache mit seiner Schwester besprach, riet sie ihm, sich an den Doktor Campos zu wenden. Da erzählte ihr Quaresma von der Unterredung, die er Tage zuvor mit ihm gehabt hatte. »Du Dummkopf, Policarpo! Er selber steckt dahinter ...« Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen ... Dieses ganze Gespinst aus Gesetzen, Verordnungen, Vorschriften, Bestimmungen war in den Händen dieses Dorffürsten, dieses Kaziken, nichts anderes als eine Daumenschraube, eine Streckbank, ein Folterwerkzeug, um die Feinde zu martern, die Bevölkerung zu drangsalieren, ihre Initiative und Selbständigkeit zu ersticken, sie zu lähmen und zu entmutigen. Vor seinem inneren Auge erschienen einen Augenblick lang jene gelblichen, ausgemergelten Gesichter, untätig an die Türpfosten der Kaufläden gelehnt; erschienen jene zerlumpten und schmutzigen Kinder, die verschämt, mit niedergeschlagenen Augen am Straßenrand bettelten; jene verwahrlosten, unbestellten Ländereien, dem Unkraut und Ungeziefer preisgegeben; erschien Felizardo mit seinen verzweifelten Sorgen, ein guter, tatkräftiger, fleißiger Mann, der, ohne Anreiz, auch nur ein einziges Maiskorn für sich selbst zu säen, alles Geld vertrank, das ihm in die Hände kam – all diese Bilder zogen mit der Geschwindigkeit und dem düsteren Glanz eines Wetterleuchtens vor seinem Auge vorüber und erloschen erst ganz, als er den Brief zu lesen begann, den ihm seine Patentochter geschrieben hatte. Dieser war munter und aufgeräumt. Olga erzählte von kleinen Alltagsbegebenheiten, von der bevorstehenden Europareise ihres Papas, von der Verzweiflung ihres Mannes an jenem Tag, als er den Ring, Insignium seiner Doktorwürde, zu Hause vergessen 173
hatte; auch bat sie um Nachrichten vom Paten, von Dona Adelaide, der sie, ohne es an Achtung fehlen zu lassen, den »Hermelinmantel« der »Herzogin« zur besonderen Obacht anempfahl. Die »Herzogin« war eine große, weiße Ente, mit flaumweichem, leuchtendem Gefieder, die wegen ihres gemessenen, majestätischen, festen Ganges mit stolz emporgerecktem Hals von Olga diesen vornehmen Namen bekommen hatte. Das Tier war vor wenigen Tagen verendet. Und wie! Durch eine Pest, die auch zwei Dutzend anderer Enten hinweggerafft hatte. Eine Art Lähmung ergriff zuerst die Beine und dann den übrigen Körper. Drei Tage lang siechte sie dahin. Auf der Brust liegend, den Schnabel auf den Boden gedrückt, von Ameisen befallen, war das einzige Lebenszeichen, das sie noch von sich gab, ein langsames Schütteln des Halses, um die Fliegen zu verscheuchen, die sie in ihrer letzten Stunde belästigten. Merkwürdig, wie uns in diesem Augenblickjenes fremde Leben so tief berührte, daß wir sein Leiden, seinen Schmerz, sein Sterben mitempfanden. Der Geflügelhof war wie ein verwüstetes Dorf; die Seuche hatte Hühner, Truthähne, Enten befallen, mähte und wütete unter ihnen, bis sie den Bestand auf weniger als die Hälfte dezimierte. Und niemand war, der Abhilfe hätte schaffen können. In einem Land, wo die Regierung so viele Hochschulen unterhielt, die so viele Gelehrte hervorbrachten, gab es nicht einen einzigen Menschen, der diesen beträchtlichen Schaden mit seinen Kräutern und Arzneien zu begrenzen verstanden hätte. Diese Widrigkeiten, diese Mißgeschicke dämpften die Begeisterung, die ihn in den ersten Monaten beflügelt hatte, erheblich; dennoch dachte Quaresma nicht einen Augenblick daran, seine Pläne aufzugeben. Er betrieb den Kauf der in den Katalogen be174
schriebenen Landmaschinen und erwarb Kompendien der Veterinärmedizin. Eines Nachmittags aber, er wartete gerade auf ein Ochsengespann, das er zum Pflügen bestellt hatte, erschien in seiner Tür ein Gendarm mit einem amtlichen Schriftstück. Ihm fiel die Aufforderung ein, die er von der Gemeindeverwaltung bekommen hatte. Er war zum Widerstand entschlossen, wegen der Folgen machte er sich keine Sorgen. Er nahm das Schreiben und las. Diesmal kam es nicht vom Bürgermeisteramt, sondern von der Gemeindekasse, deren Inspektor, Antonino Dutra, Herrn Policarpo Quaresma aufforderte, fünfhundert Mil-Réis Strafe zu zahlen, da er selbsterzeugte landwirtschaftliche Produkte ohne Entrichtung der entsprechenden Steuern dem Verkauf zugeführt habe. Quaresma erkannte, wieviel kleinliche Rache in alledem lag; doch seine Gedanken, getrieben von seinem tiefempfundenen Patriotismus, erhoben sich sogleich zu einer übergeordneten Sicht der Dinge. Vierzig Kilometer von Rio entfernt mußte man also Steuern bezahlen, um ein paar Kartoffeln zum Markt zu schicken? Nach Turgot, nach der Revolution gab es also noch Binnenzölle? Wie sollte man angesichts so vieler Barrieren und Abgaben die Landwirtschaft zur Blüte bringen? Wenn zum Monopol der Zwischenhändler aus Rio die Steuerbedrückungen des Staates hinzukamen, wie sollte man der Erde einen halbwegs zufriedenstellenden Ertrag abgewinnen? Und die Bilder, die ihm vor Augen getreten waren, als er die Aufforderung des Bürgermeisteramtes erhielt, stellten sich wieder ein, noch finsterer, düsterer, jammervoller; und er sah eine Zeit voraus, da jene Menschen gezwungen wären, sich von Kröten, Schlangen und Aas zu nähren wie die Bauern im Frankreich der großen Könige. 175
Quaresma dachte an sein Tupf, sein folkloristisches Ringen um die Modinha, seine landwirtschaftlichen Versuche – all das erschien ihm nun belanglos, unausgegoren, kindisch. Größere, tiefere Aufgaben waren anzugehen; die Staatsverwaltung bedurfte dringend einer Reform. Eine starke, geachtete, kluge Regierung schwebte ihm vor, die all diese Schranken und Hemmnisse beiseite räumen würde, ein Sully, ein Heinrich IV., Staatsmänner, die weise Agrargesetze erlassen und dem Landwirt unter die Arme greifen würden ... Ja dann! Die Kornkammer würde Wirklichkeit, und das Vaterland wäre glücklich. Felizardo brachte ihm die Zeitung, die Policarpo allmorgendlich am Bahnhof kaufen ließ, und sagte: »Herr Patrão, morgen komm ich nich aabeitn.« »Gewiß; es ist Feiertag, Siebter September ... die Unabhängigkeit.« »Deswegen nich.« »Aber weswegen dann?« »Da is Krach inner Hauptstadt, und es soll Rekrutierungn gehm. Mit mir aber nich! Ich geh innen Busch ...« »Was für ein Krach?« »Steht inne Blätter, jawohl Herr Patrão.« Quaresma schlug die Zeitung auf und stieß sogleich auf die Meldung, das Geschwader der Bucht von Guanabara habe revoltiert und den Präsidenten zum Rücktritt aufgefordert. Ihm kamen seine soeben angestellten Überlegungen in den Sinn: eine starke Regierung, ja, eine Tyrannei ... Maßnahmen zur Hebung der Landwirtschaft ... Sully und Heinrich IV. ... Seine Augen glänzten vor Hoffnung. Er schickte Felizardo fort, trat ins Haus, sprach zur Schwester kein Wort, nahm den Hut, ging zum Bahnhof. 176
Von dort telegraphierte er: »Marschall Floriano, Rio. Energisch durchgreifen! Komme sofort. Quaresma.«
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v Der Volkssänger
»So geht das auf keinen Fall weiter, Albernaz ... Da besteigt so ein Kerl ein Schiff, richtet die Kanonen aufs Land und sagt: He, Präsident, Sie können gehen, und dann hat der zu gehen? ... Nein! Da muß man ein Exempel statuieren ...« »Das sehe ich genau so, Caldas. Die Republik muß gestärkt und gefestigt werden ... Wir brauchen eine Regierung, die sich Respekt zu verschaffen weiß ... Es ist nicht zu fassen! Ein so reiches Land wie dieses, vielleicht das reichste der Welt, ist trotzdem arm und bei der ganzen Welt verschuldet ... Und warum? Weil den Regierungen, die wir die ganze Zeit hatten, Respekt und Härte gefehlt haben ... Deswegen.« Sie schritten im Schatten der großen, majestätischen Bäume des verwahrlosten Parks der Quinta da Boa Vista dahin, beide in Uniform und mit umgehängtem Degen. Nach einer kurzen Pause fuhr Albernaz fort: »Denk an den Kaiser, an Pedro II. Da war doch keine Gazette, keine Postille, die ihn nicht ›Tropf‹ oder ähnliches genannt hätte ... Man verulkte ihn im Karneval ... Eine unsägliche Respektlosigkeit. Und was ist daraus geworden? Wie einen Fremden hat man ihn davongejagt!« »Und dabei war er ein guter Mann«, bemerkte der Admiral. »Er liebte sein Land ... Deodoro wußte nicht, was er tat.« 178
Sie gingen weiter. Der Admiral kratzte sich den Backenbart, und Albernaz blickte einen Augenblick lang um sich, steckte sich eine Strohzigarette an und setzte die Unterhaltung fort: »In seiner Todesstunde bereute er es ... Er wollte nicht einmal in Uniform beerdigt werden! ... Ganz unter uns, wo keiner uns hört: er war ein undankbarer Kerl; der Kaiser hatte so viel für seine ganze Familie getan, findest du nicht?« »Ganz zweifellos! ... Albernaz, weißt du was? Damals ging es uns besser, da kann man sagen, was man will ...« »Wer wollte dem widersprechen? Damals gab es mehr Anständigkeit ... Wo ist heute ein Caxias? Ein Rio Branco?« »Und mehr Gerechtigkeit gab es«, sagte der Admiral mit Nachdruck. »Was ich habe mitmachen müssen, war nicht Schuld des »Alten«, sondern dieser Kanaille in seiner Umgebung ... Außerdem waren damals die Preise niedrig ...« »Ich weiß nicht, wie heutzutage noch jemand heiraten soll ...«, sagte Albernaz mit besonderer Betonung, »es geht ja alles den Bach hinunter!« Eine Weile betrachteten sie die alten Bäume des kaiserlichen Parks, was sie noch nie getan hatten; und sie konnten sich nicht erinnern, jemals so stolze, schöne, ruhige und selbstsichere Bäume erblickt zu haben wie diese, die mit ihren ausladenden Ästen einen weiten Schatten spendeten, wohltuend und köstlich. Hier fühlten sie sich offenbar heimisch, auf eigenem Grund, von wo sie niemals durch Axthiebe vertrieben würden, um als Bauholz zu dienen, und dieses Gefühl gab ihnen Kraft zu wachsen und Lust sich auszubreiten. Ihnen gehörte die Erde, auf der sie standen, und dankbar gewährten sie mit ihrem ausgedehnten Astwerk und dichten Laub der guten Mutter Kühle und Schutz gegen das unbarmherzige Sonnenlicht. 179
Am dankbarsten waren die Mangobäume, deren lange und blattreiche Äste beinahe die Erde küßten; die Jaca-Bäume reckten und streckten sich; die Bambusrohre wölbten sich über der Allee zu einem spitzbogigen, grünen Dom ... Auf einem kleinen Hügel erhob sich der alte Kaiserpalast. Sie blickten auf seine rückwärtige Seite, den ältesten Teil des Gebäudes, aus der Zeit von König João VI., mit dem ein wenig abseits errichteten Uhrenturm. Schön war er nicht, der Palast, wahrhaftig nicht, vielmehr anspruchslos und monoton. Die engbrüstigen Fenster der alten Fassade, die niederen Stockwerke machten einen enttäuschenden Eindruck; doch als Ganzes atmete er eine Art Sicherheit, ein unsern Wohngebäuden selten anzumerkendes Selbstbewußtsein, eine gewisse Würde, die Atmosphäre von jemand, der sich nicht für einen Augenblick, sondern für Jahrzehnte, wenn nicht für Jahrhunderte als Hausherr fühlt ... Der Palast war umringt von fest und schlank sich erhebenden Palmen, die ihre langen, grünen Federbüsche turmhoch himmelwärts reckten ... Sie waren gleichsam die Wache der alten kaiserlichen Wohnstätte, stolze Garde ihrer alten Bestimmung. Albernaz unterbrach das Schweigen: »Wohin soll das alles führen, Caldas?« »Was weiß ich.« »Der Mann muß schwer unter Druck sein ... Erst hatte er Rio Grande am Hals, und jetzt auch noch den Custódio ... hmm.« »Macht ist Macht, Albernaz.« Sie wollten zum Bahnhof von São Cristóvão und durchquerten den alten Kaiserpark vom Cancela-Tor bis dorthin. Es war noch früh am Tag, und die Luft war klar und frisch. Sie machten kleine, sichere Schritte, doch ohne jede Eile. Kurz bevor sie den Park verließen, trafen sie auf einen unter Büschen schlafenden Solda180
ten. Der General beliebte ihn zu wecken: »He Kamerad! Kamerad!« Der Soldat erhob sich schlaftrunken, und als er die beiden hohen Offiziere vor sich sah, nahm er sogleich Haltung an, entbot ihnen den gebührenden militärischen Gruß, hielt einen Augenblick lang die Hand stramm an der Mütze, schwankte jedoch bald darauf. »Nehmen Sie die Hand herunter! Was machen Sie denn hier?« Albernaz sprach mit scharfer Kommandostimme. Angstvoll erklärte der Soldat, er habe die ganze Nacht hindurch an der Küste Wache gehalten. Die Truppe sei in die Kaserne zurückgekehrt, und er habe die Erlaubnis bekommen, nach Hause zu gehen, sei aber vom Schlaf übermannt worden. »Nun, wie sieht die Lage aus?« fragte ihn der General. »Ich weiß nicht, mein Herr.« »Geben die andern nun auf oder nicht?« Einen Augenblick lang musterte der General den Soldaten. Er war weiß und hatte mehr oder weniger blondes Haar, ein schmutziges, verwahrlostes Blond; seine Züge waren häßlich: vorstehende Wangenknochen, eine kantige Stirn, alles an ihm war eckig und zusammenhanglos. »Woher kommen Sie?« fragte ihn Albernaz weiter. »Aus Piaui, jawohl mein Herr.« »Aus der Landeshauptstadt?« »Aus dem Sertão, aus Paranaguá, jawohl mein Herr.« Der Admiral hatte sich an der Befragung des Soldaten bisher nicht beteiligt, der weiterhin ängstlich und linkisch antwortete. Um ihn zu beruhigen, beschloß er, ihn milder anzureden. »Wissen Sie, Kamerad, welche Schiffe die da haben?« »Die Aquidabã ... die ›Lucí‹.« »Die ›Lucí‹ ist kein richtiges Schiff.« 181
»Gewiß, jawohl mein Herr, die ›Aquidabã‹ ... Ein ganzer Haufen Schiffe, jawohl mein Herr.« Da griff der General wieder ein, mit sanfter, beinahe väterlicher Stimme, wobei er vom »Sie« zum »Du« überging, das im Umgang mit Untergebenen freundlicher und vertraulicher klingt: »Na gut, ruh dich aus, mein Sohn. Geh lieber nach Hause, sonst stiehlt man dir noch deinen Säbel, und dann bekommst du Ärger mit der Disziplin«. Die beiden Generäle setzten ihren Weg fort und standen bald auf dem Perron. Der kleine Bahnhof war ziemlich belebt. Zahlreiche Offiziere des aktiven Dienstes, der Reserve oder solche ehrenhalber wohnten in der Nähe, und alle wurden in öffentlichen Bekanntmachungen aufgerufen, sich bei den zuständigen Dienststellen zu melden. Der General war aufgrund seines Postens wohlbekannt, der Admiral nicht. Beim Vorübergehen hörten sie die Leute fragen: »Wer ist dieser Admiral da?« Caldas gefiel das, und er empfand ein wenig Stolz auf seinen Rang und sein Inkognito. Im Bahnhof war eine einzige Frau, ein Mädchen. Albernaz schaute sie an und dachte einen Augenblick lang an seine Tochter Ismênia ... Die Ärmste! ... Ob sie je wieder gesund würde? Diese Obsessionen ... Wo sollte das hinführen? Ihm wollten die Tränen kommen, doch er hielt sie mit Macht zurück. Er hatte seine Tochter schon zu einem Halbdutzend Ärzte gebracht, und keinem von ihnen war es gelungen, den Verfall ihres Verstandes aufzuhalten, der sich nach und nach zu verflüchtigen schien. Das Lärmen eines Expreßzuges, der mit eisenrasselndem Getöse, wütenden Pfiffen und schweren Rauchwolken die Lüfte durchschnitt, verscheuchte seine Gedanken an die Tochter. Vollgestopft mit Soldaten und Uniformen eilte das Monstrum vor182
über, und lange noch zitterten die Schienen nach. Bustamante tauchte auf; er wohnte in der Nähe und wollte ebenfalls den Zug nehmen, um sich zu melden. Er trug seine alte Uniform aus dem Paraguay-Krieg, deren Schnitt dem der KrimKrieger nachempfunden war. Der Tschako war ein stumpfer, nach vorn rutschender Kegel; und mit seiner violetten Schärpe und kurzen Jacke sah er aus wie einem Schlachtgemälde von Vítor Meireles entsprungen. »Sie hier? ... Wie kommt das?« fragte der Offizier ehrenhalber. »Wir sind durch den Park gegangen«, sagte der Admiral. »Mich bringt nichts dazu, in eine der Trambahnen zu steigen, die fahren mir zu nah an der Bucht entlang ... Zu sterben würde mir nichts ausmachen, aber bitte im Kampf, nicht so, von einer zufälligen Kugel getroffen, ohne zu wissen, wie einem geschieht, das ist nicht meine Sache ...«, setzte der General hinzu. Er hatte ein wenig laut gesprochen, und die umstehenden jungen Offiziere blickten auf ihn mit kaum verhohlener Mißbilligung. Albernaz gewahrte es und fügte eilends hinzu: »Mit Kugeln hab ich so meine Erfahrungen ... hab schon so manche Beschießung erlebt ... Du weißt ja, Bustamante, damals in Curuzú ...« »Fürchterlich«, fuhr Bustamante fort. Langsam, ganz sachte näherte sich der Vorortzug; die tiefschwarze, fauchende, aus allen Poren schwitzende Lokomotive mit ihrem Zyklopenauge auf der Stirn sah aus wie eine übernatürliche Erscheinung. Der Konvoi lief ein, erzitterte von einem Ende zum andern, kam zum Stillstand. Er war vollbesetzt; nach den vielen Offiziersuniformen zu urteilen hätte Rio eine Garnison von hunderttausend Mann haben müssen. Die Militärs schwatzten heiter drauflos, die Zivilisten aber blieben schweigsam, gedrückt, 183
ja erschrocken. Sie unterhielten sich nur im Flüsterton und schauten sich vorsichtig um, wer hinter ihnen saß. In der ganzen Stadt wimmelte es von »Geheimen«, Angehörigen des Heiligen Republikanischen Offiziums, und Denunzierungen waren die gängige Münze, um Posten und Belohnungen zu ergattern. Die geringfügigste Kritik genügte, und man verlor die Anstellung, die Freiheit und – vielleicht – das Leben. Noch standen wir am Anfang der Revolte, doch das Regime hatte schon seine Antrittsrede gehalten, und alle waren gewarnt. Der Polizeichef hatte die Liste der Verdächtigen zusammengestellt, ohne Ansehen von Rang und Talent. Der gleiche Bannstrahl traf den armen Amtsdiener und den einflußreichen Senator, den Gelehrten und den schlichten Büroangestellten. Auch kam es immer wieder zu kleinlichen Racheakten, zu Revanchen für kleine Schikanen ... Alle hatten das Kommando; die Obrigkeit lag in aller Hände. Im Namen des Marschalls Floriano konnte jeder beliebige Offizier oder sogar jeder Bürger, ohne irgendein öffentliches Amt, Verhaftungen vornehmen, und wehe dem, der ins Gefängnis kam; dort moderte er vergessen vor sich hin, angsterregenden Martern einer inquisitorischen Phantasie überantwortet. Die Staatsdiener überboten sich in Schmeicheleien und Liebedienereien ... Es herrschte Terror, ein matter, feiger Terror, blutig, heimlich, ohne Größe, ohne Entschuldigung, ohne Gründe und ohne Verantwortlichkeiten ... Es gab Exekutionen, doch es gab keinen Fouquier-Tinville. Die Lage war ganz nach dem Geschmack der Offiziere, vor allem der unteren Chargen, der Leutnants, Oberleutnants und Hauptleute. Die meisten empfanden Genugtuung darüber, daß sie das Kommando, das sie über einen Zug oder eine Kompanie 184
hatten, auf die ganze Zivilistenherde ausdehnen konnten. Andere waren von reineren Gefühlen beseelt, von Uneigennützigkeit und Aufrichtigkeit. Sie alle jedoch waren Adepten jenes unseligen, verlogenen Positivismus, einer tyrannischen, engstirnigen Wissenshuberei, mit der man alle Gewalttätigkeiten, alle Grausamkeiten, alle Morde im Namen der Aufrechterhaltung der Ordnung rechtfertigte, notwendige Bedingung, so hieß es, für den Fortschritt und die Heraufkunft des Musterstaates. Unter den näselnden Klängen der Flügelhörner und in jämmerlichen Versen verkündete man eine Religion der Menschheit, die Verehrung des Obergötzen, kurzum das Paradies, wo die Inschriften sich in phonetischer Schreibung präsentieren und die auserwählten Jünger kautschukbesohlte Schuhe tragen würden! ... Die Positivisten diskutierten und zitierten Theoreme der Mechanik, um ihre Ideen über Regierungsformen zu rechtfertigen, die durchweg an orientalische Khanate und Emirate erinnerten. Die Mathematik des Positivismus war leeres Geschwätz, das damals jedoch alle Welt in Schrecken hielt. Mancher war sogar überzeugt, die Mathematik sei speziell für den Positivismus erfunden und entwickelt worden, so, als wäre die Bibel einzig und allein für die Katholische Kirche und nicht auch für die Anglikanische geschrieben. Sein Ansehen war unermeßlich. Der Zug hielt, fuhr wieder an, und bald darauf lief er in den Bahnhof am Platz der Republik ein. Der Admiral ging, eng an die Häuserwände gedrückt, zum Marinezeugamt; Albernaz und Bustamante suchten das Heereshauptquartier auf. Sie betraten das weitläufige Gebäude, wo ihnen Degengeklirr und Hornsignale entgegenhallten, der große Innenhof voller Soldaten, Fahnen, Kanonen, Gewehrpyramiden, Bajonette, die in der schräg einfallenden Sonne blitzten ... 185
Im Obergeschoß, in der Nähe des Ministerkabinetts, war ein Kommen und Gehen von Uniformen, goldenen Litzen, bunten Stoffen, Abzeichen der verschiedenen Waffengattungen und Milizen, unter denen die dunklen Anzüge der Zivilisten sich störend ausnahmen wie Fliegen. Dort drängten sich Offiziere der Nationalgarde, der Polizei, der Marine, des Heeres, der Feuerwehr und der patriotischen Bataillone, die soeben aus »Freiwilligen« gebildet wurden. Nachdem sie sich beim Generaladjutanten und beim Minister gemeldet hatten, unterhielten sie sich eine Weile in den Fluren und hatten das Vergnügen, Oberleutnant Fontes zu treffen, dem sie beide gern zuhörten, der General, weil er der Verlobte seiner Tochter Lalá war, und Bustamente, weil er von ihm einiges über die Nomenklatur moderner Waffen lernen konnte. Fontes war empört, voll Abscheu und Verwünschung gegen die Aufständischen, für die er die schlimmsten Strafen forderte. »Die werden sich noch wundern ... Diese Piraten und Banditen! Wenn ich der Marschall wäre ... wehe ihnen, wenn ich sie zu fassen bekäme ...« Oberleutnant Fontes war weder grausam noch bösartig, eher gutmütig und sogar generös, aber er war Positivist und hatte von seiner Republik eine religiöse und transzendentale Idee. Darauf gründete er alles menschliche Glück und ließ von der Republik keine andere Vorstellung zu als diejenige, die er für richtig hielt, außerhalb derer es keine anständigen und ehrlichen Menschen gab. Zweifler waren eigennützige Ketzer; und wie ein eifernder Dominikaner mit Jakobinermütze, voll Ingrimm darüber, daß er seine Feinde nicht auf dem Scheiterhaufen verbrennen konnte, ließ er mit hochrotem Kopf eine endlose Reihe von Angeklagten Revue passieren, reuige, rückfällige, halsstarrige, falsche, verschla186
gene, listige und hinterlistige, die immer noch in aller Unverfrorenheit herumliefen ... Albernaz teilte diese Wut auf die Gegner nicht. Im Grunde seines Herzens mochte er sie sogar, er hatte Freunde unter ihnen, und all diese Auseinandersetzungen waren für einen Menschen seines Alters und seiner Lebenserfahrung ohne Belang. Allerdings knüpfte er an die Maßnahmen des Präsidenten gewisse Hoffnungen. Da seine Pension sowie die Gratifikation, die er für den Aufbau des Militärarchivs am Largo do Moura erhalten hatte, unzureichend waren, steckte er in finanziellen Nöten und hoffte mit einem neuerlichen Auftrag betraut zu werden, der es ihm erleichtern würde, für Lalás Mitgift zu sorgen. Der Admiral setzte ebenfalls großes Vertrauen in Florianos kriegerische und staatsmännische Talente. Mit seinem Prozeß stand es nicht zum Besten. In der ersten Instanz hatte er verloren, und die Sache kostete ihn eine Menge Geld ... Die Regierung benötigte Marineoffiziere, die meisten waren auf Seiten der Rebellen; vielleicht würde man ihm ein Geschwader unterstellen ... Zwar fehlte ihm ... Zum Teufel mit den Bedenken! Wenn man ihm ein Schiff gäbe, ja, das wäre heikel; aber ein Geschwader war weniger schwierig; alles was man dafür brauchte, war Kampfgeist. Bustamante glaubte so fest an die Fähigkeiten des Generals Floriano Peixoto, daß er zur Unterstützung und Verteidigung der Regierung vorhatte, ein »patriotisches Bataillon« von Freiwilligen aufzustellen, wofür er auch schon einen Namen hatte, nämlich »Kreuz des Südens«, und einen Befehlshaber, natürlich sich selbst im Range eines Obersten. Auch Genelício, dessen Tätigkeit nichts Kriegerisches hatte, setzte große Erwartungen in die Energie und Entschlußkraft der Regierung Floriano: er hoffte Vize-Direktor zu werden; was ande187
res konnte eine ernsthafte, energische Regierung tun, wenn sie in seinem Arbeitsbereich wirklich Ordnung schaffen wollte? Solche heimlichen Hoffnungen waren verbreiteter, als man denken sollte. Unsereins lebt von der Regierung, und die Revolte brachte Bewegung in die Stellen, Ämter, Pfründen, die der Staat zu vergeben hatte. Die von den Verdächtigen geräumten Posten mußten besetzt werden, und die Interessenten würden ihre fehlenden Titel und Fähigkeiten durch Ergebenheitsadressen kompensieren. Außerdem mußte die Regierung, auf Sympathien und auf Menschen angewiesen, Posten, Gehälter, Beförderungen und Gratifikationen verkünden, verschenken, verschwenden, erfinden, schaffen, verteilen. Auch Doktor Armando Borges, Olgas Ehemann, der als Student dem Ideal des abgeklärten, hingebungsvollen Gelehrten nachgeeifert hatte, versprach sich von der Revolte die Erfüllung hochfliegender Hoffnungen. Als Arzt und – dank seiner Frau – vermögender Mann war er dennoch unzufrieden. Der Ehrgeiz nach Geld und Karriere ließ ihn nicht ruhen. Er hatte schon eine Stelle am Syrischen Hospital, wo er dreimal pro Woche praktizierte und in einer halben Stunde dreißig und mehr Patienten abfertigte. Wenn er kam, ließ er sich vom Pfleger kurz unterrichten, ging von Bett zu Bett und fragte: »Wie geht es uns denn?«; worauf der aus Syrien eingewanderte Patient mit gutturaler Stimme antwortete: »Schon besser, Herr Doktor.« Am nächsten Bett erkundigte er sich: »Geht es uns besser?«, und so nahm die Visite ihren Fortgang; und wenn er in seinem Dienstzimmer war, verordnete er: »Patient Nr. 1, Rezeptur wiederholen; Patient Nr. 5 ... wer war das noch«? »Der mit dem Bart.« »Ach ja!« Und wieder verordnete er. Doch Arzt in einem privaten Krankenhaus zu sein bringt wenig 188
Prestige: er mußte unbedingt für die Regierung arbeiten, um nicht als bloßer Praktiker zu gelten, und so strebte er eine staatliche Stellung an, als Oberarzt, Medizinaldirektor oder sogar Professor. Dies war nicht besonders schwierig, wenn er die richtigen Empfehlungen erhielt, denn dank seines Fleißes und seiner mannigfaltigen Verbindungen hatte er sich bereits einen gewissen Namen gemacht. Von Zeit zu Zeit veröffentlichte er eine Broschüre, beispielsweise Die Gürtelrose: Ätiologie, Prophylaxe und Behandlung oder auch Zum Studium der Krätze in Brasilien; und diese Schriften von vierzig oder sechzig Seiten schickte er an die Zeitungen, in denen zwei oder dreimal pro Jahr von ihm die Rede war: »der rührige Doktor Armando Borges, der illustre Mediziner, der tüchtige Kliniker unserer Hospitäler« und so fort. Diese Gefälligkeiten verdankte er seinem weitsichtigen, schon als Student gefaßten Entschluß, Beziehungen zu den Burschen von der Presse aufzubauen. Nicht zufrieden mit diesen Erfolgen, schrieb er Artikel, in die Länge gezogene Kompilationen, die nichts Eigenes enthielten, dafür aber zahlreiche Zitate auf französisch, englisch und deutsch. Die Professur reizte ihn am meisten; das Bewerbungsverfahren aber machte ihm Sorgen. Er hatte durchaus Kenntnisse, in der Fakultätsversammlung war er angesehen und verfügte über gute Beziehungen, doch die Sache mit der Disputation erschreckte ihn. Kein Tag verging, an dem er nicht Bücher auf französisch, englisch und italienisch kaufte; er nahm sogar Deutschunterricht, um in die germanische Wissenschaft einzudringen; doch zu einem anhaltenden Studium fehlte ihm die nötige Ausdauer, und das bißchen, was er davon in seiner Studentenzeit hatte, war ihm durch seine behaglichen Lebensumstände abhanden gekommen. 189
Das Vorderzimmer im ebenerdigen Kellergeschoß diente nun als Bibliothek. Die Wände standen voller Regale, die unter dem Gewicht der großformatigen Traktate ächzten. Abends öffnete er die Fensterläden, zündete alle Gaslichter an und setzte sich, ganz in weiß gekleidet, mit einem aufgeschlagenen Buch an den Tisch. Es dauerte nicht lange, nach der fünften Seite, bis ihn der Schlaf übermannte ... Zum Teufel auch! Er verfiel darauf, in den Büchern seiner Frau zu blättern. Es waren französische Romane, die Brüder Goncourt, Anatole France, Daudet, Maupassant, die ihn ebenso einschläferten wie die wissenschaftlichen Traktate. Die Größe, die Bedeutung, den Wert jener Analysen, jener Beschreibungen, die den Menschen und der Gesellschaft das Leben, die Gefühle, die Schmerzen der Romanfiguren, eine ganze Welt, offenbaren – er verstand sie nicht! Seine Wichtigtuerei, seine wissenschaftliche Hohlheit und seine dürftige Allgemeinbildung ließen ihn darin lediglich Geschwätz, Spielereien, Zeitvertreib sehen, zumal er bei der Lektüre solcher Bücher einschlief. Doch er mußte sich etwas vormachen, sich und seiner Frau. Und außerdem, was sollten die Vorübergehenden denken, wenn sie durchs Fenster sähen, wie er über seinen Büchern eingeschlafen war?! ... Er bestellte sich Unterhaltungsromane von Paul de Kock, deren Titel auf dem Buchrücken er austauschen ließ, und bei dieser Lektüre gelang es ihm, den Schlaf zu verscheuchen. Seine Praxis hingegen florierte. So verdiente er bei der Behandlung einer reichen Waise, die an einem heftigen Fieber erkrankt war, in Absprache mit ihrem Vormund ungefähr sechstausend Mil-Réis. Hatte Olga seine vorgetäuschte Bildung längst durchschaut, so empörte sie doch dieses neuerliche würdelose Manöver. Wozu hatte er das nötig? War er nicht reich? War er nicht jung? Hatte er nicht das Privileg eines akademischen Titels? Eine solche 190
Handlungsweise schien ihr noch schändlicher, noch niedriger als der Wucher eines Juden oder als das Lohnschreibertum eines Literaten ... Für ihren Ehemann empfand sie nicht einmal Verachtung oder Ekel, ohne Aufhebens wandte sie sich von ihm ab, verlor schlicht das Interesse an ihm, löste sich von seiner Person. Sie fühlte, daß alle Bande der Zuneigung, der Sympathie, kurzum, alle seelische Gemeinsamkeit zwischen ihnen zerschnitten war. Schon als Verlobte hatte sie seine zur Schau gestellte Liebe zum Studium, sein Interesse an der Wissenschaft, seinen Entdeckerehrgeiz als oberflächlich, als bloßen Firnis durchschaut, doch sie entschuldigte ihn. Oftmals täuschen wir uns über unsere eigenen Kräfte und Fähigkeiten; wir träumen, Shakespeare zu sein, und finden uns als Dutzendschreiber wieder. Dies war verzeihlich. Doch Scharlatanerie? Das ging zu weit! Ihr kam ein böser Gedanke ... Doch ihre fast begangene Würdelosigkeit, was hätte sie ihr gebracht? ... Sicherlich waren alle Männer gleich, und es wäre sinnlos, den einen mit dem andern zu vertauschen ... Als sie zu dieser Schlußfolgerung kam, fühlte sie eine große Erleichterung, und ihre Miene hellte sich wieder auf, als hätte sich eine Wolke verzogen, die den Sonnenschein auf ihren Augen verdunkelte. Bei seiner Jagd nach dem schnellen Renommee achtete der Doktor nicht auf die Wandlungen, die in seiner Frau vor sich gingen. Sie verbarg ihre Gefühle, vornehmlich aus Takt und Würde; ihm aber fehlten Scharfblick und Feingefühl, um dies zu erkennen. Sie lebten weiter, als wäre nichts geschehen, doch welche Kluft lag zwischen ihnen! ... So standen die Dinge, als die Marinerevolte sie überraschte; und seit drei Tagen, seit ihrem Ausbruch war der Doktor damit 191
beschäftigt, für seinen gesellschaftlichen und pekuniären Aufstieg zu arbeiten. Sein Schwiegervater, der seine Europareise aufgeschoben hatte, las, wie jeden Morgen nach dem Frühstück, in einen Klappstuhl zurückgelehnt die Tageszeitungen. Der Schwiegersohn kleidete sich eben an, die Tochter saß am Kopfende des Eßtisches und widmete sich ihrer Korrespondenz. Sie hatte ihr eigenes Schreibkabinett mit allem Luxus, mit Büchern, Regalen, Sekretär, doch in den Morgenstunden schrieb sie gern in Gegenwart ihres Vaters an jenem Tisch. Der Raum schien ihr heller, der Ausblick auf das unschöne, doch überwältigende Gebirge gab ihrem Denken größere Ernsthaftigkeit, und die Weite des Salons beflügelte ihre Gedanken. Während sie schrieb und ihr Vater las, sagte dieser mit einemmal: »Weißt du, wer nach Rio kommt, meine Tochter?« »Wer denn?« »Dein Pate. Er hat es dem Marschall telegraphiert ... Hier steht es in O País.« Die junge Frau erriet sogleich Quaresmas Beweggründe, die Wirkung, die der Aufstand auf sein Denken und Fühlen haben mußte. Sie wollte sein Handeln mißbilligen, wollte es tadeln; doch sie befand ihn so kohärent, so in Übereinstimmung mit der Substanz seines Lebens, wie er selbst es gestaltet hatte, daß sie sich auf ein nachsichtiges Lächeln beschränkte. »Ja, der Pate ...« »Er ist verrückt«, sagte Coleoni, »per la madonna! Da stürzt sich ein Mann seines Alters, der ein stilles, ruhiges Leben führt, in dieses Getümmel, in diese Hölle ...« Der Doktor erschien in Trauerkleidung, im schwarzen Geh192
rock, den glänzenden Zylinder in der Hand, und strahlte über sein ganzes rundes Gesicht, außer dort, wo der große Schnurrbart Schatten warf. Er hatte die letzten Worte vernommen, die sein Schwiegervater in seinem rauhen Portugiesisch gesprochen hatte. »Was gibt es?« fragte er. Coleoni erklärte es ihm und wiederholte seinen Kommentar. »Aber nicht doch«, sagte der Doktor, »Dienst am Vaterland ist Pflicht eines jeden Patrioten ... Was heißt hier Alter? Mit etwas über vierzig ist man doch nicht alt ... Er kann durchaus noch für die Republik kämpfen ...« »Aber das liegt nicht in seinem Interesse«, entgegnete der Alte. »Soll man denn nur dann für die Republik kämpfen, wenn man ein persönliches Interesse hat?« fragte der Arzt. Die junge Frau, die den von ihr geschriebenen Brief soeben zu Ende gelesen hatte, sagte, ohne aufzublicken: »Gewiß soll man für sein Land kämpfen.« »Du wieder mit deinen Theorien, Töchterchen. Der Patriotismus kommt doch nicht aus dem Bauch ...« Und er setzte ein gezwungenes Lächeln auf, das durch den leblosen Glanz seiner künstlichen Zähne noch gezwungener wirkte. »Redet ihr denn als einzige vom Vaterland? Und die anderen? Habt ihr etwa den Patriotismus gepachtet?« fragte Olga. »In der Tat. Wenn die da Patrioten wären, dann würden sie nicht die Stadt beschießen, würden die Autorität der rechtmäßigen Regierung nicht lähmen und untergraben.« »Sollen sie etwa Verhaftungen, Verbannungen, Erschießungen, all diese Gewalttaten ruhig mitansehen, die von der Regierung hier und im Süden unseres Landes begangen werden?« »Du bist im Grunde eine Rebellin«, sagte der Doktor und beendete die Diskussion. 193
Letzteres war nicht zu leugnen. Die Sympathie aller Uneigennützigen, ja der gesamten Bevölkerung war auf Seiten der Aufständischen. Das ist überall so, ganz besonders aber in Brasilien, und zwar aus vielerlei Gründen. Die Regierungen mit ihren unausweichlichen Übergriffen und Verlogenheiten entfremden sich ihren eigenen Anhängern; die Mächtigen vergessen ihre Ohnmacht und Ineffizienz und versprechen Unerfüllbares, so daß die Menschen schließlich von ihnen Reform auf Reform verlangen und an ihnen verzweifeln. Es war daher nicht verwunderlich, daß die junge Frau den Aufrührern zuneigte, während Coleoni als Ausländer und als ein im Umgang mit unseren Behörden erfahrener Mann seine Sympathien hinter vorsichtigem Schweigen verbarg. »Du wirst mich doch nicht kompromittieren, Olga?« sagte ihr Mann. Sie war aufgestanden, um ihn zur Tür zu begleiten. Einen Augenblick lang blieb sie stehen, blickte ihn mit ihren leuchtenden Augen an und sagte mit ihren feinen, ein wenig gespitzten Lippen: »Du weißt sehr wohl, daß ich dich nicht kompromittiere.« Der Doktor schritt die Stufen der Veranda hinab und durch den Garten zum Tor, von wo er er seiner Frau, die, über die Brüstung gelehnt, ihm nachschaute, einen Abschiedsgruß zurief, gemäß dem Ritual aller Paare, seien sie gut oder schlecht verheiratet. Zu jener Stunde gab sich Ricardo Anderherz, losgelöst von allen irdischen Bindungen, seinen Träumen hin. Er lebte immer noch in seiner vorstadttypischen Sammelbehausung, mit einer Aussicht, die von Todos os Santos bis Piedade reichte und eine große besiedelte Fläche umfaßte, ein Panorama mit Häusern und Bäumen. 194
Von seinem Rivalen war nicht mehr die Rede, und seine Verbitterung hatte sich gelegt. In diesen Tagen triumphierte er unangefochten. Die ganze Stadt zollte ihm gebührende Achtung, und er glaubte sich fast auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn. Nur die Anerkennung des vornehmen Botafogo stand noch aus, doch war er sicher, sie zu erringen. Er hatte schon mehrere Bände mit Liedern veröffentlicht und stellte soeben einen weiteren zusammen. Seit Tagen ging er kaum aus, um sich ganz der Arbeit an seinem Buch zu widmen. Er lebte zurückgezogen in seinem Zimmer, wo er das selbstbereitete Frühstück mit Kaffee und Brot einnahm, und suchte nachmittags eine Kneipe am Bahnhof auf, um dort zu essen. Er bemerkte, daß die Fuhrleute und Arbeiter, die an den schmutzigen Tischen aßen, leiser sprachen, sobald er auftauchte, und ihn mißtrauisch beäugten; doch er achtete nicht weiter darauf ... Trotz seiner Popularität in diesem Viertel hatte er in den letzten drei Tagen keinen Bekannten getroffen, er selbst sprach niemanden an und beschränkte sich im Umgang mit seinen Pensionsnachbarn auf die üblichen Grußformeln wie »Guten Morgen« und »Guten Tag«. Gern verbrachte er ganze Tage auf diese Weise, in sich gekehrt und seinem Herzen lauschend. Er las keine Zeitungen, um seine Aufmerksamkeit nicht von der Arbeit abzulenken. Beständig dachte er an seine Modinhas und an sein Buch, gewiß ein weiterer Sieg für ihn und für seine heißgeliebte Gitarre. Selbigen Nachmittags saß er am Tisch und korrigierte eine seiner letzten Arbeiten, ein Lied, das er auf Quaresmas Anwesen komponiert hatte, Carolas Lippen. Zuerst las und summte er den ganzen Text; dann las er ihn noch einmal, griff zur Gitarre, um seine Wirkung besser einschätzen zu können, und sang: 195
Schöner als Helena und Margarethe Strahlt sie voll Anmut beim Fächeln Die Illusion des Glücks ich anbete Wenn Carolas Lippen mir lächeln. Plötzlich ein Schuß, dann wieder einer, und noch einer ... Er stockte. Was zum Teufel mochte das sein? Sicher Salutschüsse für irgendein ausländisches Schiff. Wieder griff er in die Saiten und besang Carolas Lippen, auf denen er die Illusionen fand, die das Leben versüßen ...
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Dritter Teil
i Patrioten
Seit mehr als einer Stunde stand er dort, in einem Saal des Präsidentenpalastes, den Marschall vor Augen, doch ohne ihn sprechen zu können. Man hatte kaum Schwierigkeiten, zu ihm vorzudringen, doch ihn zu sprechen war alles andere als leicht. Im Innern des Palastes herrschte eine sehr bezeichnende Atmosphäre der Ungezwungenheit, ja beinahe der Nachlässigkeit. In manchen Räumen sah man Adjutanten, Ordonnanzen, Bürodiener halb ausgestreckt auf dem Sofa ein Schläfchen halten, die Uniform aufgeknöpft. Überall Schlaffheit und Schlendrian. In den Winkeln der Saaldecke hafteten Spinnengewebe; von den Teppichen stieg, wenn man fest auftrat, Staub empor wie von einer schlecht gefegten Straße. Quaresma hatte, anders als telegraphisch angekündigt, nicht sofort abreisen können. Er mußte Geschäftliches ordnen sowie jemanden finden, der seiner Schwester Gesellschaft leistete. Diese hatte tausend Einwände gegen seine Abreise vorgebracht und ihm die Gefahren des Krieges vor Augen gestellt, die mit seinem Alter und seinen physischen Kräften unvereinbar seien. Er aber ließ sich nicht umstimmen und blieb unbeirrbar bei seinem Entschluß, fühlte er doch die gebieterische Notwendigkeit, all seine Willenskraft, all seine Intelligenz, alles was er an Lebendigkeit und Energie besaß, in den Dienst der Regierung zu stellen, 197
und dann! ... oh ja, dann würde man sehen ... Er hatte die Tage bis zu seiner Abreise sogar genutzt, um eine Denkschrift zu verfassen, die er Floriano überreichen wollte. Darin legte er die nötigen Maßnahmen zur Hebung der Landwirtschaft dar und zeigte die Behinderungen auf, zu denen der Großgrundbesitz, die drückenden Steuerlasten, die überhöhten Frachtkosten, die Enge der Märkte und die politischen Gewalttaten führten. Der Major hielt das Manuskript zusammengepreßt in der Hand und dachte an sein Haus dort hinten in jener unschönen Ebene, mit Blick nach Westen auf die Gebirge, die sich an klaren, durchsichtigen Tagen als dünne Linie am Horizont hinzogen; er dachte an seine Schwester, an ihre grünen, milden Augen, die seiner Abreise am Ende mit unnatürlicher Teilnahmslosigkeit gefolgt waren; doch am meisten dachte er in diesem Augenblick an Anastácio, seinen alten schwarzen Diener, der seinen Herrn, als er in den Eisenbahnwaggon stieg, lange anblickte, nicht mehr mit der unterwürfigen Zärtlichkeit eines Haustiers, sondern voll Bestürzung, Schrecken und Mitleid, wobei er seine hellweißen Augäpfel heftig rollte. Es war, als witterte er Unglück ... Ein für ihn ganz ungewöhnliches Verhalten, als hätte er in einigen Dingen Vorzeichen leidvoller Ereignisse entdeckt ... Du meine Güte! ... Quaresma war in einer Ecke stehengeblieben; er sah einen Besucher nach dem andern eintreten und wartete darauf, daß der Präsident ihn zu sich rief. Es mußte kurz vor zwölf sein, früh am Tag, und Floriano hatte als Reminiszenz des Gabelfrühstücks noch den Zahnstocher im Mund. Er wandte sich zunächst einer Abordnung von Damen zu, die ihren Arm und ihr Blut zur Verteidigung der Staatseinrichtungen und des Vaterlandes darboten. Die Sprecherin war eine klein198
wüchsige Frau, dick, mit kurzem Oberkörper und großem, hohem Busen, die beständig mit dem geschlossenen Fächer in ihrer Rechten wedelte. Ihre Hautfarbe und Rasse waren schwer zu bestimmen, es kamen ihrer so viele zusammen, daß sie sich gegenseitig überdeckten und eine eindeutige Zuordnung vereitelten. Während sie redete, richtete sie ihre großen, blitzenden Augen auf den Marschall, den dieses Gefunkel zu stören schien, als fürchtete er unter ihren heißen Blicken dahinzuschmelzen, die mehr Verführung als vaterländische Gesinnung ausstrahlten. Er vermied es, sie anzuschauen, senkte den Blick wie ein Jüngling und trommelte mit den Fingern auf den Tisch ... Als er seinerseits sprach, hob er ein wenig das Gesicht, doch ohne der Frau in die Augen zu blicken, und mit einem derben, mühsamen Bauernlächeln lehnte er ihr Angebot ab, da die Republik noch über genügend Kräfte zum Sieg verfüge. Den letzten Satz sprach er besonders langsam und beinahe ironisch. Die Damen verabschiedeten sich; der Marschall schaute im Saal umher und gewahrte den Major: »Nun, Quaresma?« sprach er in vertraulichem Ton. Der Major wollte auf ihn zugehen, hielt aber inne. Ein Schwärm von Kadetten und Offizieren unterer Dienstgrade umringte den Diktator, der sich ihnen zuwandte. Man konnte ihre Worte nicht verstehen. Sie sprachen, flüsterten Floriano etwas ins Ohr, klopften ihm auf die Schulter; der Marschall sagte kaum etwas: er bewegte den Kopf oder antwortete einsilbig, wie Quaresma an seinen Lippen ersah. Sie wandten sich zum Gehen, verabschiedeten sich mit Handschlag vom Diktator, und einer von ihnen, noch aufgeräumter und vertraulicher als die andern, drückte ihm fest die schlaffe Hand, klopfte ihm gemütlich auf die Schulter, während er laut 199
und nachdrücklich sprach: »Energisch durchgreifen, Marschall!« All dies schien so normal, so selbstverständlich, gehörte so zum neuen Zeremoniell der Republik, daß niemand, nicht einmal Floriano selbst, sich im geringsten darüber wunderte; im Gegenteil, einige lächelten beinahe freudig, als sie sahen, wie der Kalif, der Khan, der Emir seinem ungezwungenen Untergebenen ein wenig von seiner sakralen Autorität übertrug. Nicht alle gingen sofort. Einer von ihnen verweilte etwas länger bei diesem höchsten Amtsträger des Landes und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Es war ein Kadett in türkisblauer Uniform und mit Unteroffiziersdegen. Die Kadetten der Militärakademie waren die heilige Phalanx der Republik. Sie genossen alle Rechte und alle Privilegien; beim Diktator hatten sie gegenüber Ministern den Vortritt, und diesen Rückhalt bei Sulla mißbrauchten sie, um die ganze Stadt zu schikanieren und zu drangsalieren. Mit dem bißchen Positivismus, das sich in ihren Köpfen eingenistet, und der eigenartigen Religiosität, die in ihrem Gefühlsleben Wurzel geschlagen hatte, verwandelten sie die Obrigkeit, vor allem den Marschall, und in gewisser Weise die ganze Republik in einen Glaubensartikel, in einen Fetisch, in einen mexikanischen Götzen, dem zur Genugtuung und zum unsterblichen Ruhme alle möglichen Gewalttaten und Verbrechen als würdige Oblaten und nützliche Opferdienste dargebracht wurden. Der Kadett stand immer noch dort ... Quaresma konnte nun die Physiognomie jenes Mannes genauer betrachten, der fast ein Jahr lang eine so gewaltige Macht in Händen halten sollte, die Macht eines römischen Imperators, die über allem schwebte, die alles beschränken konnte, ohne selbst, weder 200
in den Gesetzen noch in den Sitten noch allgemein im menschlichen Mitleid, auf irgendwelche Schranken für die eigenen Launen, Schwächen und Wünsche zu stoßen. Sein Äußeres war platt und kläglich. Der vernachlässigte Schnurrbart, die schlaff herabhängende Unterlippe, an die sich ein »Fliegenbart« anschloß, die weichlichen, gewöhnlichen Züge, selbst die Form des Kinns, der Blick – nichts war eigentümlich, nichts verriet eine höhere Begabung. Es war ein erloschener, leerer Blick ohne jeden Ausdruck, abgesehen von dem der Traurigkeit, der aber nichts Individuelles hatte, sondern angeborenes Merkmal der Rasse war. Ein Mann aus Gallertmasse, ohne nervliche Spannkraft. In alledem wollte der Major jedoch keinen Hinweis auf seinen Charakter, seine Intelligenz und sein Temperament erkennen. Es seien Äußerlichkeiten, sagte er zu sich selbst. Sein Enthusiasmus für dieses politische Idol war stark, aufrichtig und selbstlos. Den Marschall hielt er für entschlossen, klug, vorausschauend, zäh, wohlunterrichtet über die Bedürfnisse des Vaterlandes, vielleicht ein wenig verschlagen, eine Art Ludwig XI. mit dem Innenleben eines Bismarck. Dies freilich war ein Irrtum. Bei gänzlicher Abwesenheit intellektueller Fähigkeiten hatte Marschall Floriano einen vorherrschenden Zug: Lauheit des Charakters und Trägheit des Temperaments. Nicht die gewöhnliche Trägheit, die in uns allen ist, sondern eine von krankhafter Art, gleichsam eine Unterversorgung der Nervenstränge, bedingt durch einen unzureichenden Flüssigkeitsstrom im Organismus. Auf allen Posten, die er einnahm, fiel er durch die Lässigkeit und Gleichgültigkeit auf, womit er seine Dienstpflichten versah. Als Direktor des Zeugamtes von Pernambuco hatte er nicht einmal Tatkraft genug, die laufenden Vorgänge abzuzeichnen; 201
und in seiner Zeit als Kriegsminister tauchte er monatelang nicht in seinen Amtsräumen auf und ließ alle Akten unerledigt, so daß er seinem Stellvertreter ein gewaltiges Arbeitspensum »vererbte«. Wer den Aktenfleiß eines Colbert, eines Napoleon, eines Philipp II. von Spanien, eines Wilhelm I. von Deutschland, überhaupt aller großen Staatsmänner kennt, dem muß unverständlich bleiben, wie Floriano die Befehlserteilung, die Erläuterung seiner Absichten und Auffassungen gegenüber seinen Untergebenen derart vernachlässigen konnte, was dringend nötig gewesen wäre, damit seine höhere Vernunft dem Gang der Regierungs- und Behördengeschäfte zugute käme. Dieser Schlaffheit im Denken und Handeln entsprang auch seine Einsilbigkeit: geheimnisvolle, zu sibyllinischen Orakeln erhobene Worte, die berühmten »Scheidewege des Vielleicht«, die das Denken und Trachten der nach Helden und großen Männern lechzenden Nation so tief beeindruckten. Seine krankhafte Trägheit, die ihn auch im Dienst Pantoffeln tragen ließ, gab ihm einen Zug von überlegener Ruhe, der Ruhe eines großen Staatsmannes und außerordentlichen Kriegers. Die ersten Monate seiner Regierung sind in aller Gedächtnis. Konfrontiert mit der Meuterei der Gefangenen, Unteroffiziere und Gemeinen in der Festung Santa Cruz, hatte er eine Untersuchung angeordnet, deren Ergebnisse er unterdrückte, aus Furcht, die darin als Drahtzieher Genannten könnten erneut einen Aufruhr anzetteln; doch damit nicht genug, er gewährte ihnen die größten Vergünstigungen. Im übrigen ist ein starker Mann unvorstellbar, ein Caesar, ein Napoleon, der seinen Untergebenen derart entwürdigende Vertraulichkeiten gestatten und soviel Entgegenkommen bezeigen würde, wie Floriano es tat, der damit zuließ, daß sein Name als 202
Freibrief für eine lange Reihe von Verbrechen diente. Es sei nur daran erinnert, in welch feindseliger Atmosphäre Napoleon den Befehl über die Italienarmee übernahm. Augereau, der ihn einen »Gassengeneral« genannt hatte, erklärte nach einer Unterredung: »Der Mann kann einen das Fürchten lehren«, denn der Korse war ein Truppenführer ohne Schulterklopfen, ohne stillschweigende oder ausdrückliche Delegierung seiner Autorität an unverantwortliche Untergebene. Die Langsamkeit dagegen, mit der Floriano den Marineaufstand vom 6. September niederschlug, unterstrich die Unsicherheit, ja die Entschlußlosigkeit eines Mannes, der doch über so außergewöhnliche Machtmittel gebot. Es gibt eine Seite an ihm, die seine Schritte, Handlungen und Gesten in hohem Maße erklärt. Dies war sein Familiensinn, eine tiefverwurzelte Liebe, ein patriarchalisches, altertümliches Gefühl, das sich mit dem Vormarsch der Zivilisation allmählich verflüchtigt. Infolge geschäftlicher Rückschläge, die er mit zweien seiner Landgüter erlitt, war seine persönliche Lage mißlich, und er wollte diese Besitzungen, bevor er starb, seiner Familie von aller Schuldenlast befreit übergeben. Ehrlich und rechtschaffen wie er war, sah er den einzigen Ausweg in den Ersparnissen, die er von seinen Dienstbezügen zu machen hoffte. Daher sein Lavieren, sein doppeltes Spiel, um einträgliche Posten zu erlangen, daher auch die Zähigkeit, mit der er sich ans Präsidentenamt klammerte. Die Hypothek auf seinen Landgütern Brejão und Duarte war seine Nase der Kleopatra ... Seine Trägheit und Lauheit, gepaart mit seiner innigen Liebe zum Heim, ergaben schließlich jenen »Mann des Vielleicht«, den die geistigen und gesellschaftlichen Bedürfnisse der Zeitgenossen zu einem Staatsmann, zu einem Richelieu stilisierten und der, weniger dank seiner Tatkraft als dank seines Beharrungsvermö203
gens, mehreren Aufständen trotzte, wofür er Geld und Menschenleben, ja Begeisterung und Fanatismus zu mobilisieren vermochte. Diese Stimmungen in der Bevölkerung, die ihn trugen, stützten und ermunterten, verdankte er seiner Karriere als Generaladjutant des Kaiserreichs, als Senator und Minister, wodurch er sich vor aller Augen »aufgebaut« und für alle Herzen seine Legende geschmiedet hatte. Sein Regierungskonzept war weder der Despotismus noch die Demokratie noch Aristokratie, sondern die häusliche Tyrannei. Das Kind war unartig, das Kind wird bestraft. Auf politischer Ebene bedeutete unartig sein: opponieren, Auffassungen vertreten, die den seinigen zuwiderliefen; und zur Strafe gab es keine Prügel, sondern Gefängnis und Hinrichtung. Ist die Staatskasse leer, setzt man bereits eingezogene Banknoten wieder in Umlauf, ähnlich wie man es daheim macht, wenn unverhoffter Besuch kommt und die Suppe nicht reicht: man streckt sie mit Wasser. Seine militärische Erziehung und die Dürftigkeit seiner Allgemeinbildung verschärften dieses infantile Regierungskonzept und drückten ihm den Stempel der Gewalttätigkeit auf, nicht so sehr auf sein persönliches Betreiben, nicht wegen seiner eigenen Bösartigkeit oder Geringschätzung von Menschenleben, als vielmehr wegen seiner Laxheit, womit er die Unmenschlichkeit seiner Helfer und Anhänger deckte oder zu verfolgen unterließ. Quaresma war weit davon entfernt, alles dies zu bedenken; wie so viele andere redliche, aufrichtige Menschen seiner Zeit wurde auch er von dem ansteckenden Enthusiasmus mitgerissen, den Floriano zu wecken vermochte. Ihm stand das große Werk vor Augen, welches die Vorsehung dieser stillen und traurigen Gestalt übertragen hatte: radikale Reformen für den angeschlagenen Organismus des Vaterlandes, das der Major für das reichste der Welt 204
hielt, wiewohl ihm letzthin mancherlei Zweifel gekommen waren. Floriano würde solche Hoffnungen gewiß nicht enttäuschen; sein kraftvolles Handeln würde dem ganzen Land mit seinen acht Millionen Quadratkilometern zugute kommen, würde ihm Straßen, Sicherheit, Schutz der Schwachen bringen, für Arbeit sorgen und seinen Reichtum mehren. Nicht lange verweilte Quaresma bei solcherlei Gedanken. Einer der Mitwartenden, nachdem der Marschall ihn ganz familiär empfangen hatte, wurde auf jenen schmächtigen, schweigsamen, mit einem pince-nez bewehrten Mann aufmerksam, näherte sich ihm und raunte ihm wie ein furchtbares Geheimnis zu: »Die werden sich noch über den »Mestizen« wundern ... Kennen Sie ihn übrigens schon lange?« Der Major gab eine kurze Antwort, und der andere fragte ihn noch etwas; der Präsident aber stand nun allein, und Quaresma ging auf ihn zu. »Nun, Quaresma?« fragte Floriano. »Ich komme, um Eurer Exzellenz meine bescheidenen Dienste anzubieten.« Einen Augenblick lang betrachtete der Präsident dieses schmächtige Mannsbild und lächelte mühsam, wenngleich mit einem Anflug von Genugtuung. Er spürte das Ausmaß seiner Beliebtheit oder zumindest die Rechtmäßigkeit seiner Sache. »Ich danke dir sehr ... Was hast du in der letzten Zeit gemacht? Ich weiß, daß du aus dem Zeugamt ausgeschieden bist.« Floriano verfügte über die Begabung, Physiognomien, Namen, Ämter, Lebensumstände von Untergebenen im Gedächtnis zu bewahren. Er hatte etwas Asiatisches, er war grausam und väterlich zugleich. 205
Quaresma berichtete ihm von seinen Lebensverhältnissen und nutzte die Gelegenheit, ihn auf eine Reform der Agrargesetze anzusprechen, auf die erforderlichen Maßnahmen, welche die Situation der Landwirtschaft entspannen und sie auf eine neue Grundlage stellen könnten. Zerstreut und mit einer Verdrußfalte im Lippenwinkel hörte ihm der Marschall zu. »Ich habe Eurer Exzellenz sogar diese Denkschrift hier mitgebracht ...« Mit einer Gebärde verriet der Präsident seinen Unwillen, fast ein »geh mir nicht auf die Nerven«, und sagte träge zu Quaresma: »Die kannst du da liegen lassen ...« Er legte das Manuskript auf den Tisch, und gleich darauf wandte sich der Diktator dem nächsten Gesprächspartner zu: »Was gibt’s Neues, Bustamante? Geht es voran mit dem Patriotischen Bataillon?« Der Angeredete kam ein wenig verschüchtert näher: »Gut geht’s voran, Marschall. Wir brauchen aber eine Kaserne ... Wenn Eure Exzellenz einen entsprechenden Befehl erteilen würden ...« »Richtig. Du kannst in meinem Namen mit Rufino sprechen, er soll das Nötige in die Wege leiten ... Oder besser noch: Bring ihm diese Notiz.« Er riß von der ersten Seite des Manuskripts einen Zipfel ab, auf den er mit blauer Tinte eine Mitteilung an den Kriegsminister schrieb. Als er fertig war, bemerkte er sein Versehen: »Oh je, Quaresma! Jetzt hab ich von deiner Schrift ein Stückchen abgerissen. Aber das macht nichts ... Es war ja nur das Deckblatt, da stand nichts geschrieben.« Der Major nickte, und der Präsident wandte sich wieder an Bustamante: 206
»Den Quaresma kannst du in deinem Bataillon einsetzen. Was für einen Posten willst du?« »Ich?« sprach Quaresma verdutzt. »Nun ja, ihr werdet euch schon einigen.« Die beiden verabschiedeten sich vom Präsidenten und schritten langsam die Stufen des Itamaraty-Palastes hinab. Bis zur Straße sprachen sie kein Wort. Quaresma fröstelte leicht, trotz des hellen und warmen Tages. Die Geschäftigkeit auf den Straßen schien unverändert; die Trambahnen, die Fuhrwerke und Kutschen verkehrten wie immer, doch auf den Gesichtern spiegelten sich Terror und Schrecken, etwas Entsetzliches schien in der Luft zu schweben und alle zu bedrohen. Quaresmas Begleiter stellte sich vor. Er sei der Major Bustamante, jetzt Oberstleutnant, ein alter Freund des Marschalls, sein Kamerad aus dem Paraguay-Krieg. »Aber wir kennen uns doch!« rief er plötzlich aus. Quaresma musterte diesen älteren, dunklen Mulatten mit seinem stattlichen Mosesbart und verschmitzten Augen. »Ich kann mich im Augenblick nicht entsinnen ... Wo war das noch?« »Bei General Albernaz ... Wissen Sie das nicht mehr?« Policarpo kam eine vage Erinnerung, und dann erläuterte ihm Bustamante die Aufstellung des Freiwilligenbataillons »Kreuz des Südens«. »Wollen Sie eintreten?« »Gewiß«, sprach Quaresma. »Wir haben da einige Schwierigkeiten ... Uniformen, Schuhwerk für die Mannschaften ... Bei den anfänglichen Ausgaben müssen wir die Regierung unterstützen ... Die Staatskasse darf nicht zur Ader gelassen werden, finden Sie nicht?« 207
»Selbstverständlich«, antwortete Quaresma begeistert. »Ich freue mich sehr über Ihr Einverständnis ... Man sieht gleich, daß Sie Patriot sind ... Ich habe also beschlossen, unter den Offizieren eine dem Dienstgrad entsprechende Umlage durchzuführen: ein Leutnant beteiligt sich mit hundert Mil-Réis, ein Oberleutnant mit zweihundert ... Welches Patent wollen Sie? Ach ja, Sie sind Major, nicht wahr?« Da erklärte ihm Quaresma, wie es dazu gekommen war, daß man ihn mit Major anredete. Ein Freund, ein einflußreicher Beamter im Innenministerium, hatte seinen Namen auf die Offiziersliste der Nationalgarde gesetzt. Und ohne die entsprechenden Gebühren jemals bezahlt zu haben, sah er sich plötzlich mit diesem Titel angeredet, den er nun nicht mehr los wurde. Anfangs habe er protestiert, doch da die Leute darauf beharrten, habe er es hingehen lassen. »Nun ja«, sprach Bustamante, »Sie bleiben also Major.« »Wie hoch ist mein Beitrag?« »Vierhundert Mil-Réis. Ein bißchen heftig, aber ... Sie wissen ja, es ist ein wichtiger Posten ... Sind Sie einverstanden?« »Gewiß.« Bustamante zog seine Brieftasche heraus, notierte etwas mit einem Bleistiftstummel und verabschiedete sich gutgelaunt: »Also dann, Major, um sechs in der provisorischen Kaserne.« Die Unterhaltung hatte sich an der Ecke der Rua Larga mit dem Park Campo de Sant’Ana abgespielt. Quaresma wollte mit der Trambahn in Richtung Stadtzentrum und von dort zum Gevatter in Botafogo fahren, da ihm bis zu seiner militärischen Initiation noch etwas Zeit blieb. Der Platz war wenig belebt, die Trambahnen zuckelten im Maultiertrab vorüber, dann und wann vernahm man Hörnersig208
nale oder Trommelwirbel, und aus dem Mitteltor des Armeehauptquartiers kam ein Trupp mit geschultertem Gewehr und aufgepflanztem Bajonett, das auf dem Rücken der Rekruten tanzte und einen harten, bösen Glanz aussandte. Er stieg soeben in die Trambahn, als man Kanonenschüsse und das dürre Krachen von Gewehren hörte, doch bald darauf, noch ehe die Rua da Constituicäo erreicht war, verstummte aller kriegerischer Lärm, so daß ein nichtsahnender Mensch sich hätte im Frieden wähnen können. Quaresma saß in der Mitte einer Bank und faltete gerade seine Zeitung auseinander, als ihm jemand auf die Schulter klopfte. Er wandte sich um. »Oh, General!« Es war eine herzliche Begegnung. General Albernaz liebte solche Rituale, ja er genoß sie und hatte seine Freude daran, Bekanntschaften, die sich durch irgendeine Entfernung gelockert hatten, wiederzubeleben. Er trug Uniform, immer noch dieselbe schlecht sitzende Montur, diesmal ohne Degen, und wie immer ein pince-nez, das an einer ums linke Ohr laufenden Goldschnur befestigt war. »Sie sind also in Rio, um zu sehen, was los ist?« »Ja. Ich habe mich schon beim Marschall gemeldet.« »Die da werden sich noch wundern, mit wem sie sich angelegt haben. Die denken wohl, sie hätten es mit einem Marschall Deodoro zu tun, da haben sie sich aber geirrt! ... Gottseidank, an der Spitze der Republik steht jetzt ein Mann ... Der Mestize ist ein eiserner Kerl ... Im Paraguay-Krieg ...« »Haben Sie ihn dort kennengelernt, General?« »Das heißt ... Eigentlich kennengelernt haben wir uns dort nicht, aber der Camisão hat mir von ihm erzählt ... Floriano ist einer von der harten Sorte. Ich bin mit der Munitionsausgabe 209
beauftragt ... Ein kluger Bursche, der Mestize: er wollte mich nicht bei den Küstenbatterien an der Bucht. Er weiß sehr wohl, was für einer ich bin und daß Munition, die durch meine Hände geht, wirklich Munition ist ... Da im Depot geht mir keine einzige Kiste hinaus, die ich nicht selbst untersucht hätte ... Das muß so sein ... Im Paraguay-Krieg gab es viel Durcheinander und Schieberei: da wurde oft Kalk statt Pulver geliefert – wußten Sie das nicht?« »Nein.« »Doch, so war es. Wenn es nach mir ginge, würde ich jetzt zur Guanabara-Bucht gehen, um dort an den Kämpfen teilzunehmen; der ›Mann‹ will aber, daß ich mich um die Munition kümmere ... Kapitän befiehlt, Matrose gehorcht ... Der wird schon wissen, was er tut ...« Er zuckte mit den Schultern, brachte den Goldfaden in Ordnung, der ihm von der Ohrmuschel gerutscht war, und schwieg einen Augenblick. Quaresma fragte: »Wie geht’s der Familie?« »Gut. Wissen Sie, daß Quinota geheiratet hat?« »Ja, Ricardo hat es mir erzählt. Und Dona Ismênia, wie geht es ihr?« Die Züge des Generals verdüsterten sich, und er antwortete fast widerwillig: »Wie immer.« Väterliche Scham hielt ihn davon ab, die ganze Wahrheit zu sagen. Seine Tochter war irre geworden, war in einen sanften, kindischen Irrsinn verfallen. Ganze Tage brachte sie stumm in einer Ecke zu, betrachtete alles mit einem törichten Gesichtsausdruck, mit einem toten Statuenblick, mit der Reglosigkeit eines unbelebten Wesens, gleichsam im Schwachsinn erstarrt; doch es 210
kamen Augenblicke, wo sie sich ausgiebig kämmte und putzte, zur Mutter lief und sagte: »Mach mich schön, Mama. Gleich kommt mein Bräutigam ... heute ist mein Hochzeitstag.« Andere Male schnitt sie Anzeigenkärtchen zurecht, auf die sie schrieb: »Ismênia de Albernaz und Soundso (der Name wechselte) geben ihre Eheschließung bekannt.« Der General hatte schon ein Dutzend Ärzte konsultiert, auch Spiritisten, und versuchte es nun mit einem Wunderheiler; die Tochter aber wurde nicht gesund, genas nicht von ihrer Besessenheit, verstrickte sich vielmehr immer tiefer in den Wahn von der Hochzeit, jenem ihr stets vor Augen gestellten Lebensziel, das sie nun verfehlt hatte, was ihren Geist und ihre Jugend in der Blüte der Jahre dahinsiechen ließ. Ihr Zustand verbreitete in jenem einst so fröhlichen, so festlichen Haus eine traurige Stimmung. Die Bälle wurden seltener; und wenn die Familie sich genötigt sah, an wichtigen Daten ein Fest zu geben, wurde das Mädchen mit aller Fürsorglichkeit und gegen allerlei Versprechungen ins Haus ihrer verheirateten Schwester gebracht, wo sie sich aufhielt, während die andern tanzten und für einen Augenblick die leidende Angehörige vergaßen. Von diesem Schmerz seines Alters wollte Albernaz nicht reden, er unterdrückte seine Gefühlsbewegung und sprach ganz natürlich weiter, in jenem familiären, freundschaftlichen Ton, den er gegen jedermann übte: »So eine Schandtat, Herr Quaresma. Ein Rückschritt für die Nation. Und nun erst die wirtschaftlichen Verluste! Ein für die Wirtschaft unseres Landes so bedeutender Hafen geschlossen, um wie viele Jahre wirft uns das zurück!« Der Major pflichtete ihm bei und unterstrich die Notwendig211
keit der Regierung, sich Respekt zu verschaffen, damit sich solche Revolten und Aufstände nicht wiederholten. »Ganz recht«, bestätigte der General, »so kommen wir nicht vorwärts, so machen wir keine Fortschritte. Und im Ausland, was für ein übler Eindruck!« Die Trambahn erreichte den São-Francisco-Platz, die beiden stiegen aus und trennten sich. Während Albernaz den Weg zur Rua do Rosário einschlug, ging Quaresma stracks zum CariocaPlatz, wo er in die Trambahn nach Botafogo stieg. Olga begrüßte ihren Paten ohne die frühere Freude und Herzlichkeit. Es war nicht Gleichgültigkeit, was sie empfand, vielmehr Befremden, Schrecken, beinahe Angst, obgleich sie wußte, daß er kommen würde, und obgleich seine Miene, seine physische Erscheinung, sein ganzes Auftreten unverändert waren. Er war derselbe kleine, blasse Mann mit dem Spitzbart und dem stechenden Blick hinter seinem pince-nez, nicht einmal sonnengebräunter als sonst; und die Art, wie er die Lippen preßte, kannte sie seit so vielen Jahren. Dennoch schien er ihr, als er hereinkam, ein anderer geworden zu sein, geschoben, getrieben von einer fremden Gewalt, von einem Wirbelwind; wenn sie sich genauer besann, mußte sie freilich zugeben, daß er ganz normal eingetreten war, mit kleinen, festen Schritten wie immer. Woher dann dieser Eindruck, der sie verlegen machte, der ihr die Freude nahm, einen so lieben Menschen wiederzusehen? Dies war ihr unbegreiflich. Sie war im Eßzimmer in eine Lektüre vertieft gewesen, als Quaresma unangekündigt eintrat, wie es seit jeher seine Gewohnheit war. Noch unter dem schmerzlichen Eindruck, den sein Erscheinen ihr gemacht hatte, antwortete sie dem Paten: »Papa ist ausgegangen, und Armando ist unten beim Schreiben.« 212
Letzterer war tatsächlich damit beschäftigt, einen großen Artikel über »Verletzungen durch Feuerwaffen« zu schreiben oder vielmehr in ein klassisches Portugiesisch zu übersetzen. Sein neuester intellektueller Kunstgriff war ebendies »Klassische«. Er suchte darin eine Unterscheidung, eine geistige Abgrenzung von jenen Burschen, die in den Gazetten Romane und Erzählungen veröffentlichten. Er als Gelehrter und vor allem als Doktor konnte unmöglich so schreiben wie sie. Seine höhere Weisheit und sein akademischer Titel verboten ihm, sich derselben Sprache, derselben Wendungen, derselben Syntax zu bedienen wie diese Dichterlinge und Dutzendliteraten. So kam ihm die Idee mit dem Klassischen. Das Verfahren war einfach: er verfaßte seine Texte zunächst im üblichen Stil, mit den heute gängigen Worten und Ausdrucksmitteln; dann stellte er die Wortfolge um, spickte die Satzperioden mit Kommata und tauschte Wörter aus, schrieb beispielsweise »inkommodieren« statt »stören«, »Mühewaltung« statt »Bemühung«, »dazumal« statt »damals«, »selbiges« statt »dies« oder »das«, flocht da und dort ein »alldieweil« oder ein »hernach« ein und gelangte so zu seinem klassischen Stil, womit er bei Kollegen und in der Öffentlichkeit Bewunderung zu erregen begann. Er liebte den Ausdruck »in edlen Wettstreit treten«, verwendete ihn ständig, und wenn er ihn niederschrieb, bildete er sich ein, seinem Stil Pascalsche Kraft und Eleganz zu verleihen und seinen Gedanken transzendentale Vollkommenheit. Abends las er in den Predigten des Paters Vieira, doch nach den ersten Zeilen übermannte ihn der Schlaf, und dann sah er sich im Traum als »Physikus« des siebzehnten Jahrhunderts, der sich mit »Meister« anreden ließ und wie weiland Doktor Sangrado Aderlässe und heiße Bäder verschrieb. Die Übersetzung war beinahe fertig; der Doktor hatte sich dank 213
seiner Routine mittlerweile einen hinlänglichen klassischen Wortschatz angeeignet, so daß er schon bei der ersten Niederschrift die Endfassung zur Hälfte mitbedachte. Die Nachricht seiner Frau, es sei Besuch gekommen, nahm er zunächst ein wenig unwillig auf, doch da er augenblicklich partout keine klassische Entsprechung für »Öffnung« finden konnte, sah er die Unterbrechung als nützlich an. »Loch« war zu plebejisch, »Öffnung« ein zwar alltägliches, doch immerhin schicklicheres Wort. Bei seiner Rückkehr an den Schreibtisch würde er vielleicht eine bessere Lösung finden, und so ging er nach oben. Wohlgelaunt, den großen, zerfransten Schnurrbart in seinem runden Gesicht, trat er ins Eßzimmer, wo er Paten und Patentochter beim Streitgespräch über die Staatsorgane fand. Soeben sagte sie: »Diesen weihevollen Ton, mit dem Sie und ihre Leute von den Staatsorganen sprechen, werde ich nie begreifen. Heutzutage wird doch nicht mehr von Gottes Gnaden regiert, warum also diese Aura von Hochachtung, von Verehrung, womit Sie die Regierenden umgeben?« Bei diesem Satz konnte der Doktor nicht umhin zu bemerken: »Aber das muß so sein, das geht nicht anders ... Wir wissen sehr wohl, daß die da oben Menschen sind wie du und ich, aber wenn jeder so denkt, geht alles drunter und drüber.« Quaresma fügte hinzu: »Autorität existiert aufgrund innerer und äußerer Notwendigkeiten unserer Gesellschaft ... Bei den Bienen, bei den Ameisen ...« »Einverstanden. Aber gibt es bei den Bienen und Ameisen Aufstände, und halten sich ihre Regierungen etwa durch Morde, drückende Steuerlasten und Gewalttaten an der Macht?« »Das kann man nicht wissen ... Wer weiß das schon? Vielleicht ...«, meinte Quaresma ausweichend. 214
Der Doktor war von keinerlei Zweifeln geplagt und sagte geradeheraus: »Was haben wir mit den Bienen zu schaffen? Sollen wir Menschen, Gipfel der zoologischen Evolution, etwa bei den Insekten nach Verhaltensnormen suchen?« »Das nicht, mein lieber Doktor, wir suchen bei ihnen den Nachweis, daß es sich um ein allgemeines Phänomen handelt, um etwas gewissermaßen Angeborenes«, sagte Quaresma freundlich. Er hatte noch nicht geendigt, als Olga zu bedenken gab: »Wenn diese Staatsorgane wirklich für das Glück der Menschen sorgten – meinetwegen. Wenn sie es aber nicht tun, wozu taugen sie dann?« »Sie müssen und werden dafür sorgen«, erklärte Quaresma mit Nachdruck. »Das können sie aber nur, wenn ihre Autorität gefestigt ist.« Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile. Der Major erzählte von seinem Besuch bei Floriano, von seinem bevorstehenden Eintritt ins Patriotische Bataillon »Cruzeiro do Sul«. Der Doktor fühlte eine Anwandlung von Neid, als der Gast von der Vertraulichkeit berichtete, mit der Floriano ihn empfangen hatte. Sie nahmen ein lunch ein, und Quaresma ging. Er hatte das Bedürfnis, diese engen Straßen mit ihren tiefen, dunklen Geschäften zu sehen, wo die Angestellten wie in einem Keller umherliefen. Die gewundene Rua dos Ourives, die schlaglochübersäte Rua da Assembléia, die stutzerhaft elegante Rua do Ouvidor flößten ihm nostalgische Gefühle ein. Das Leben nahm seinen gewohnten Lauf. Menschengruppen standen umher, und Mädchen gingen spazieren; im Café do Rio herrschte großes Gedränge. Dort trafen sich die »Fortschrittler«, die »Jakobiner«, die selbstlose Garde der Republik, die Unbeug215
samen, in deren Augen Mäßigung, Toleranz, Achtung vor Freiheit und Leben anderer den Tatbestand der Vaterlandsbeleidigung erfüllten und Symptome eines verbrecherischen Monarchismus sowie ehrloser Unterwürfigkeit gegenüber dem Ausland waren. Unter Ausland verstand man vor allem Portugal, was keineswegs ausschloß, daß »radikaljakobinische« Zeitungen von Vollblutportugiesen redigiert wurden. Von diesen gestikulierenden Heißspornen abgesehen war die Rua do Ouvidor dieselbe geblieben. Die Mädchen kamen und gingen, und es wurde geliebelt wie eh und je. Wenn eine Kugel durch den blauen, leuchtenden Himmel zischte, kreischten die jungen Dinger wie Katzen, hasteten in die Geschäfte, warteten ein wenig und kamen bald lächelnd auf die Straße zurück, und allmählich röteten sich wieder ihre angstblassen Gesichter. Quaresma speiste in einem Restaurant und begab sich anschließend zur provisorischen Kaserne, einem alten, hygienisch bedenklichen Massenquartier bei der Cidade Nova. Es hatte zwei Stockwerke, jedes aufgeteilt in Verschlage wie Schiffskajüten. Der erste Stock hatte eine umlaufende Veranda mit hölzernem Geländer, zu der eine Treppe führte, eine rohe, schwankende Holztreppe, die beim leisesten Auftreten knarrte. Die Kommandozentrale des Bataillons lag in der ersten Stube des ersten Stocks, und der Hof, nunmehr ohne Wäscheleinen, aber noch voller Laugen- und Seifenflecken auf dem Steinboden, diente der Rekrutenausbildung. Diese leitete ein zum Leutnant beförderter pensionierter Feldwebel, der ein wenig hinkte und soeben mit majestätischer Langsamkeit brüllte: »Schul-teeert’s – Geee-wehr!« Der Major übergab dem Obersten seinen Kostenbeitrag, und dieser zeigte ihm das Uniformmodell. Es sah recht eigenartig aus, dieses Phantasiekostüm eines Posamentenherstellers. Der Dolman 216
war flaschengrün und hatte stahlblaue Litzen, goldene Schleifen und auf dem Kragen vier silberfarbene, kreuzförmig angebrachte Sterne. Plötzliches Geschrei ließ sie auf die Veranda eilen. Soldaten zerrten einen Mann herbei, der um sich schlug, weinte, flehte und gelegentlich einen Stoß mit dem Gewehr erhielt. »Das ist ja Ricardo«, rief Quaresma aus. »Kennen Sie ihn nicht mehr?« setzte er voller Anteilnahme und Mitleid hinzu. Bustamante stand ungerührt auf der Veranda und antwortete erst nach einer Weile: »Ich kenne ihn ... Ein widerspenstiger Freiwilliger, ein störrischer Patriot.« Die Soldaten kamen mit dem »Freiwilligen« nach oben, und Ricardo, kaum hatte er den Major erkannt, flehte ihn an: »Retten Sie mich, Major!« Quaresma nahm den Oberstleutnant beiseite und setzte sich inständig für Ricardo ein, doch vergeblich ... Man brauche Leute ... Schließlich machte Bustamante ihn zum Gefreiten. Ricardo beobachtete von weitem die Unterredung der beiden, er ahnte die Ablehnung und rief: »Ich bin ja zum Dienst bereit, aber man soll mir meine Gitarre geben.« Der Oberstleutnant richtete sich auf und befahl den Soldaten: »Dem Gefreiten Ricardo ist seine Gitarre zurückzuerstatten!«
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ii Quaresma, du bist ein Utopist
Acht Uhr früh. Noch liegt alles in Morgendunst gehüllt. Landeinwärts sind kaum die unteren Teile der nächsten Gebäude zu erkennen; meerwärts stößt der Blick gegen jene weißliche, schwankende Finsternis, gegen jene undurchsichtige Flockenwand, die da und dort sich zu Erscheinungen, zu gegenständlichen Formen verdichtet. Meeresstille – nur dann und wann ein leiser Wellenschlag. Vom Strand ist nur ein kurzes Stück erkennbar, schmutzig, algenbedeckt, einen Seegeruch ausströmend, den der Nebel zu verstärken scheint. Linker und rechter Hand das Unbekannte, das Geheimnisvolle. Diese zähflüssige Masse von diffuser Helligkeit indes wird von Geräuschen belebt. Das Kreischen der benachbarten Sägewerke, die Pfiffe der Fabriken und Lokomotiven, das Quietschen der Schiffskräne hallt durch die unentzifferbare, schweigende Frühe. Plötzlich das regelmäßige Eintauchen von Ruderblättern. Vor dieser Kulisse hört es sich an, als lenke Charon seinen Nachen an eines der Ufer des Styx ... Achtung! Alle starren auf den breiigen Dunstvorhang. Unruhe zeichnet die Gesichter; es ist, als wolle der Schoß des Nebels Dämonen gebären ... Das Glucksen ist verstummt: der Kahn hat sich entfernt. Erleichtertes Aufatmen, die Mienen entspannen sich ... Es ist weder Nacht noch Tag; weder Morgen- noch Abend218
dämmerung; es ist die Stunde der Angst, das Zwielicht der Ungewißheit. Auf dem Meer weisen weder Sterne noch Sonne die Richtung; an Land sterben Vögel, die gegen weiße Häuserwände stießen. Unser Elend ist größer und unsere Vereinzelung inmitten der gewaltigen Natur deutlicher fühlbar, wenn jene wortlosen Zeichen unserer Tätigkeit fehlen. Die Geräusche aber halten an, und da man nichts erkennt, ist es, als kämen sie aus der Tiefe der Erde oder als seien sie akustische Täuschungen. Die sichtbare Wirklichkeit tritt uns nur als die kleine Meeresfläche entgegen, die vor uns liegt und bisweilen mit schwachem, leisem, ängstlichem Wellenschlag gegen den von Algen, Tang und Seegras verunzierten Sandstrand schwappt. Nach dem Verstummen der Ruderschläge lassen sich die Soldaten in kleinen Gruppen auf dem Grasstreifen nieder, der auf den Strand folgt. Etliche sind eingenickt, andere suchen den Himmel durch den Nebel, der ihnen das Gesicht benetzt. Der Gefreite Ricardo Anderherz, das Seitengewehr im Gürtel und das Schiffchen auf dem Kopf, sitzt abseits auf einem Stein, für sich, und schaut in jenen angsterregenden Morgen hinaus. Es ist das erste Mal, daß er die Nebelwand so nahe der Meeresbucht erblickt, wo sie mit all ihrer entsetzlichen Macht zu spüren ist. Sonst hatte er nur Augen für die purpurnen, klaren, weichen, duftenden Morgenröten; doch diese dunstige, häßliche Frühe ist ihm neu. In seiner Gefreitenuniform fühlt sich der Spielmann nicht eigentlich unwohl. Das ungezwungene Kasernenleben kommt seiner Gemütsart entgegen, in seiner Stube liegt die Gitarre, in müßigen Stunden greift er in ihre Saiten und summt etwas dazu, die Finger dürfen nicht einrosten ... Nur ist er ein wenig bekümmert, daß er nicht hin und wieder seiner Sangeslust freien Lauf lassen 219
kann. Chef seiner Abteilung ist Quaresma, vielleicht, daß er es genehmigt ... Der Major sitzt im Innern des Gebäudes, das als Kaserne dient und liest. Seine Lieblingslektüre ist jetzt die Artillerie. Er hat sich allerlei Handbücher gekauft, doch da seine Vorbildung nicht ausreicht, muß er von der Artillerie zur Ballistik übergehen, von der Ballistik zur Mechanik, von der Mechanik zur Mathematik und zur analytischen Geometrie; und weiter steigt er die Stufenleiter hinab zur Trigonometrie, zur allgemeinen Geometrie, zur Algebra und zur Arithmetik. Diese ineinandergreifenden Wissenschaften durchwandert er mit der Gläubigkeit eines Erfinders. Um einen einzigen Elementarbegriff zu klären, muß er einen Rosenkranz von Handbüchern konsultieren; und so verbringt er die Tage kriegerischer Muße über die Mathematik gebeugt, jene Disziplin, die allen Menschen mit einem nicht mehr ganz jungen Gehirn so abweisend und feindselig entgegentritt. Die Abteilung hat eine Kruppkanone, und Quaresma, wiewohl nicht verantwortlich für dieses todbringende Gerät, studiert nunmehr Artillerie. Zuständig ist Oberleutnant Fontes, der dem patriotischen Major keinen Gehorsam zollt, woran sich dieser nicht stört; vollauf damit beschäftigt, sich in die Bedienung des Geschützes allmählich einzulesen, duldet er die Arroganz des Untergebenen. Der Kommandeur, Bustamante mit dem Mosesbart, sitzt weiter in seiner Kaserne bei Cidade Nova und beaufsichtigt das administrative Innenleben seines Bataillons »Kreuz des Südens«. Die Einheit hat wenige Offiziere und sehr wenige Gemeine, doch der Staat zahlt Sold für vierhundert Mann. Es mangelt an Hauptleuten, die Zahl der Leutnants ist knapp, die der Oberleutnants bei220
nahe ausreichend, doch gibt es einen Major, nämlich Quaresma, und natürlich den Kommandeur Bustamante, der sich bescheidener- und einfacherweise zum Oberstleutnant gemacht hat. Die von Quaresma befehligte Abteilung hat vierzig Gemeine, drei Leutnants, zwei Oberleutnants, doch die Offiziere tauchen nur selten auf. Sie sind entweder krank oder beurlaubt, und nur er, der frühere Landwirt vom »Ruhehof«, sowie ein Leutnant, Polidoro, und auch dieser nur nachts, sind regelmäßig auf dem Posten. Ein Soldat trat ein: »Herr Major, kann ich essen gehen?« »Ja. Rufen Sie mir den Gefreiten Ricardo.« Der Gemeine humpelte in seinen großen Knobelbechern davon, die der arme Kerl wie zur Strafe trug. Sobald er den Weg durch das Buschgelände eingeschlagen hatte, der zu seiner Behausung führte, entledigte er sich der schützenden Fußbekleidung, und sogleich spiegelte sein Gesicht den Hauch der Freiheit. Der Major ging ans Fenster. Der Nebel löste sich allmählich auf. Schon sah man die Sonne, die wie eine goldene, matte Scheibe leuchtete. Ricardo Anderherz erschien. Er wirkte komisch in seiner Gefreitenuniform. Die Jacke war viel zu kurz und saß schlecht, die Ärmel ließen die Handgelenke frei; die Hosenbeine waren viel zu lang und schleiften über den Boden. »Wie geht es dir, Ricardo?« »Gut. Und Ihnen, Major?« »So einigermaßen.« Quaresma musterte seinen Untergebenen und Freund mit seinem scharfen, langen Blick. »Du hast etwas auf dem Herzen, nicht wahr?« 221
Der Volkssänger freute sich über die Anteilnahme des Vorgesetzten. »Das nicht ... oder, um die Wahrheit zu sagen, Herr Major, eigentlich doch ... Wenn alles so bleibt wie jetzt, dann geht es ja ... Aber zum Teufel auch, wenn geschossen wird ... Noch eines, Herr Major, könnte man nicht, so in den Stunden, wenn nichts zu tun ist, da hinten unter den Mangobäumen ein bißchen singen? ...« Der Major kratzte sich am Kopf, strich sich seinen Spitzbart und sagte: »Ich weiß nicht ... Nun ja ...« »Sie wissen doch, leise singen ist wie Trockenrudern ... Im Paraguaykrieg, so sagt man ...« »Na gut. Meinetwegen, aber nicht zu laut, verstanden?« Sie schwiegen eine Weile; Ricardo wollte schon gehen, als der Major ihm auftrug: »Sag der Küche Bescheid, man soll mir das Essen bringen.« Quaresma nahm die Mittags- und Abendmahlzeiten, die ihm von einer nahen Garküche geliefert wurden, in seiner Dienststelle ein. Auch übernachtete er nicht selten in einem Zimmer jenes kaiserlichen Gebäudes. In der Tat, die Massenherberge, in der man seine Abteilung einquartiert hatte, war nichts anderes als der ehemalige kaiserliche Pavillon inmitten des Parks der Quinta da Ponta do Cajú. Auf dieser Landspitze in der Bucht von Guanabara befanden sich auch der Bahnhof der Eisenbahnlinie nach Rio Douro sowie ein großes, lärmendes Sägewerk. Quaresma ging zur Tür, blickte auf den schmutzigen Strand und wunderte sich, wie der Kaiser dort einst hatte baden wollen. Allmählich löste sich der Nebel auf. Die Dunstgebilde verschwanden mit jenem schweren Vorhang, gleichsam zufrieden über das Ende des Alptraums. Zuerst verzogen sich langsam die 222
unteren Schichten, und endlich, beinahe plötzlich, die oberen. Rechter Hand tauchten die Stadtteile Saúde und Gamboa, Handelsschiffe, Dreimaster, Dampffrachter und stolze Segelschiffe aus dem Nebel auf und erinnerten vorübergehend an eine holländische Landschaft; linker Hand sah man die Viertel Saco da Raposa, Retiro Saudoso, das schreckliche Sapucaia, die Gouverneursinsel, die blauen Spitzen des Orgelgebirges, so hoch, als berührten sie den Himmel; in unmittelbarer Nähe die Schmiedeinsel mit ihren Kohlebunkern; und weiter glitt der Blick über die ruhige Meeresbucht nach Niterói, dessen Berge sich soeben im Lichte jenes verspäteten Morgens gegen den blauen Himmel abzeichneten. Der Nebel hatte sich nun gänzlich aufgelöst, und ein Hahn krähte. Es war, als kehrte die Freude auf die Erde zurück, es war ein Halleluja. Jene kreischenden, pfeifenden, quietschenden Geräusche hatten nun den festlichen Klang von Zufriedenheit. Das Essen kam, und der Feldwebel teilte Quaresma mit, zwei Mann seien desertiert. »Schon wieder zwei?« fragte der Major verwundert. »Jawohl. Die Nummern hundertzwanzig und dreihundertzwanzig sind nicht zum Appell angetreten.« »Machen sie einen Vermerk.« Quaresma war beim Essen, als der für das Geschütz zuständige Oberleutnant Fontes eintrat. Fast nie schlief er hier, er übernachtete zu Hause und kam tagsüber, um nach dem Rechten zu sehen. Eines frühen Morgens, er war nicht anwesend und es herrschte noch tiefe Finsternis, erblickte ein Wachsoldat dort in der Ferne einen übers Wasser gleitenden dunklen Schemen. Er war unbeleuchtet, und nur seine Bewegung sowie das leichte Phosphoreszieren des Wassers verriet, daß es sich um ein Schiff handeln mußte. Der Soldat schlug Alarm, die kleine Abteilung ging auf 223
Posten, auch Quaresma erschien. »Die Kanone! Schnell! Fertig machen!« befahl er. Gleich daraufsetzte er nervös hinzu: »Wartet einen Augenblick!« Er lief zum Haus und schlug in seinen Handbüchern und Tabellen nach. Er blieb eine ganze Weile fort, das Wasserfahrzeug, eine Barkasse, kam immer näher, die Soldaten waren ratlos, bis einer von ihnen die Initiative ergriff: er lud das Geschütz und feuerte es ab. Quaresma eilte erschrocken herbei, und sprach stockend, atemlos keuchend: »Habt ihr auch alles richtig eingestellt? ... Entfernung ... Visiereinrichtung ... Neigungswinkel ... Es kommt alles auf größtmögliche Feuereffizienz an.« Als Fontes am folgenden Tag von der Sache erfuhr, sagte er lachend: »Mein lieber Major, Sie denken wohl, wir wären bei einer Übung auf dem Schießplatz ... Hier gibt’s nur eines: volles Rohr!« So ging es während der Revolte zu. Fast jeden Nachmittag gab es eine Beschießung vom Meer auf die Artilleriestellungen und von diesen aufs Meer; und Schiffe wie Bastionen gingen aus so fürchterlichen Heimsuchungen unversehrt hervor. Kam es doch einmal zu einem Treffer, meldeten die Zeitungen: »Gestern hat die Artillerie vom Forte Academico einen großartigen Schuß getan. Mit dem Geschütz soundso hat sie die »Guanabara« getroffen«. Am folgenden Tage korrigierte dieselbe Zeitung auf Betreiben der Batterie vom Kai Pharoux: ebendiese habe den betreffenden Schuß abgegeben. Tage vergingen, und die Sache schien schon vergessen, als ein Brief aus Niterói einging, der die Ehre des Schusses für die Festung Santa Cruz reklamierte. Oberleutnant Fontes trat an die Kanone heran und untersuchte 224
sie mit Kennermiene. Sie stand getarnt in einer Schanze aus Luzernenballen, und die Mündung des Rohrs lugte durch die Heustengel wie der Rachen eines zwischen Sträuchern versteckten Raubtiers. Nach eingehender Untersuchung des Geschützes betrachtete er den Horizont und spähte nach der Ilha das Cobras, der Schlangeninsel, als er wehmütige Gitarrenklänge und eine Singstimme vernahm: Ich verspreche beim allerheiligsten Sakrament ... Er ging zu der Stelle, von wo die Töne kamen, und stand plötzlich vor einer reizenden Szene: Im Schatten eines großen Baumes lagen oder saßen die Soldaten rings um Ricardo Anderherz, der schmachtende Lieder sang. Die Gemeinen, die soeben zu Mittag gegessen und Zukkerrohrschnaps getrunken hatten, lauschten hingerissen Ricardos Gesang, der die Ankunft des jungen Offiziers gar nicht bemerkte. »Was soll das heißen?« sagte dieser streng. Die Soldaten erhoben sich alle und nahmen Haltung an; Ricardo, aufrecht, die rechte Hand an der Mütze, mit der linken die auf dem Boden stehende Gitarre haltend, entschuldigte sich: »Herr Oberleutnant, der Herr Major hat es uns erlaubt. Sie wissen ja, ohne Befehl würden wir uns niemals so vergnügen.« »Na schön. Ich will, daß damit jetzt Schluß ist.« »Aber«, wandte Ricardo ein, »der Herr Major Quaresma ...« »Hier gibt es keinen Major Quaresma. Ich will das nicht, ich habe es bereits gesagt!« Die Soldaten liefen auseinander, und der Oberleutnant begab sich zum alten Kaiserpavillon, um den Major des Bataillons »Kreuz des Südens« aufzusuchen. Dieser saß bei 225
seinen Studien, bei seiner – wenn auch freiwilligen – Sisyphusarbeit für die Größe des Vaterlandes. Fontes trat ein und sagte: »Was soll denn das, Herr Quaresma! Wie können Sie diese Singerei bei der Truppe erlauben?« Der Major, der sich nicht mehr erinnerte, war über den strengen und scharfen Ton des jungen Mannes betroffen. Dieser insistierte: »Sie erlauben also, daß die Mannschaften mitten in der Dienstzeit Modinhas singen und Gitarre spielen?« »Aber was schadet das denn? Ich habe gehört, auf den Feldzügen in Paraguay ...« »Und die Disziplin? Und der Respekt?« »Nun ja, ich werde es verbieten«, sagte Quaresma. »Nicht nötig. Ich habe es bereits verboten.« Quaresma war keineswegs gekränkt, wofür er auch keinen Anlaß sah, und sprach mit sanfter Stimme: »Da haben Sie recht getan.« Dann fragte er den Oberleutnant, wie man aus einem Dezimalbruch die Quadratwurzel ziehe; der junge Mann zeigte es ihm, und dann unterhielten sie sich in herzlichem Einvernehmen über allerlei Privates. Fontes war mit Lalá, der dritten Tochter des Generals Albernaz verlobt, und wartete nur auf das Ende der Revolte, um zu heiraten. Eine Stunde lang drehte sich ihr Gespräch um diese kleine Familienangelegenheit, die mit jenen Detonationen, jenen Schüssen, jenem glorreichen Zusammenstoß zweier Machtwillen zusammenhing. Plötzlich zerschnitt ein metallisches Trompetensignal die Luft. Fontes horchte; und der Major fragte: »Was für ein Kommando ist das?« »Achtung!« Beide liefen hinaus. Fontes in tadelloser Uniform; der Major 226
vergeblich bemüht, sein Wehrgehänge an sich zu pressen, und in Gefahr, über seinen ehrwürdigen Degen zu stolpern, der ihm fortgesetzt zwischen die kurzen Beine fahren wollte. Die Soldaten hatten schon die Schanzen bezogen, die Waffen gefechtsklar; auch die Geschützmunition lag bereit. Eine Barkasse kam langsam näher, den hohen Bug auf die Stellung gerichtet. Plötzlich stieg von Bord eine dichte Rauchwolke auf: »Ein Schuß!« rief ein Junge. Alle bückten sich, die Kugel flog hoch über ihre Köpfe hinweg, zischend, pfeifend, harmlos. Die Barkasse kam unerschrocken näher. Außer den Soldaten waren Schaulustige da, vor allem Gassenjungen, um den Schußwechsel zu erleben. So ging es immer. Bisweilen kamen die Zuschauer ganz nahe an die Truppe, an die Schützenstellungen heran und störten den Militärdienst; gelegentlich wandte sich irgendein Bürger an den Offizier und fragte mit ausgesuchter Höflichkeit: »Erlauben Sie, daß ich einen Schuß abgebe?« Der Offizier stimmte zu, die Mannschaften luden das Geschütz, der Mann zielte und der Schuß wurde abgefeuert. Mit der Zeit wurde die Revolte ein Fest, eine Lustbarkeit für die ganze Stadt ... Wenn eine Beschießung angekündigt war, füllte sich innerhalb von einer Stunde die Promenadenterrasse des Passeio Público. Es war wie eine Mondnacht in jener Zeit, als es zum guten Ton gehörte, von dem ehemaligen Garten des Dom Luis de Vasconcelos bewundernd nach dem einsamen Gestirn zu blicken, welches das Wasser silbrig färbte und den Himmel mit seinem Glanz erfüllte. Ferngläser wurden gemietet, und Greise wie Mädchen, Burschen wie Greisinnen verfolgten das Bombardement wie eine Theatervorstellung: »Santa Cruz hat gefeuert! Jetzt die ›Aquidabã‹! Da!«. Und so fügte sich die Revolte ganz natürlich in die Sitten 227
und Gebräuche der Stadt. In der Hafengegend, am Kai Pharoux, suchten Straßenjungen, Zeitungsverkäufer, Schuhputzer, fliegende Händler hinter Portalen, Pissoirs und Bäumen Deckung, um den Einschlag der Kugeln zu beobachten; und wenn irgendwo eine zu Boden ging, eilten sie scharenweise hinzu, um sie aufzuheben, als wäre es eine Münze oder eine Leckerei. Die Kugeln kamen in Mode. Aus den kleinen, den Gewehrkugeln, machte man Krawattennadeln, Uhrketten, Bleistiftanspitzer; die mittelgroßen Projektile wurden ebenfalls gesammelt und schmückten samt ihren geputzten, gescheuerten, polierten Hülsen die Konsolen und Vitrinen in den Häusern der Mittelklasse; die großen aber, die »Melonen« und die »Kürbisse«, wie man sie nannte, zierten die Gärten der Begüterten wie Statuen oder Vasen aus Fayence. Die Barkasse gab mehrere Schüsse ab; Fontes befahl Feuer. Die Kanone spie das Projektil aus, wich ein wenig zurück und wurde sogleich wieder in Position gebracht. Das Wasserfahrzeug erwiderte das Feuer, und ein Bübchen schrie: ein Schuß! Immer waren es diese Gassenjungen, die die Schüsse des Feindes meldeten. Kaum hatten sie das kurze Mündungsfeuer dort auf dem fernen Schiff erspäht, noch ehe langsam und schwer der Pulverdampf hervorquoll, da schrien sie auch schon: ein Schuß! In Niterói gab es einen Viertelstundenheld. Er hieß DreißigRéis; die Zeitungen schrieben über ihn, man begann für ihn Geld zu sammeln. Eine Berühmtheit! Die Revolte ging vorüber und er wurde vergessen, ebenso wie die »Lucí 5«, eine schmucke Barkasse, die in der Vorstellungwelt der urbs zu einer festen Größe wurde und Gegner wie Bewunderer fand. Das Boot von vorhin erregte nun keine besondere Wut mehr 228
beim Artillerieposten der Halbinsel Ponta do Cajú, und Fontes, nachdem er dem Oberkanonier Anweisungen gegeben hatte, konnte gehen. Quaresma zog sich in sein Zimmer zurück und setzte seine kriegerischen Studien fort. Die meisten Tage, die er an diesem Ende der Stadt verbrachte, verliefen nicht anders als dieser. Die Ereignisse waren immer die gleichen, und der Krieg verkam zur banalen Wiederholung immergleicher Episoden. Von Zeit zu Zeit, wenn er sich langweilte und die Stellung Polidoro oder Fontes übergeben konnte, fuhr er in die Stadt. Dies geschah jedoch selten, denn Polidoro, der diensteifrigste, Schreiner von Beruf und in einer Möbelfabrik beschäftigt, kam nur abends, und auch Fontes war häufig abwesend. Die Abende im Stadtzentrum waren heiter und lustig. Es gab viel Geld, die Regierung bezahlte den Soldaten doppelten Sold, bisweilen auch Gratifikationen, abgesehen davon, daß der Tod auch immer mit von der Partie war, was die Vergnügungssucht schürte. Die Theater waren gut besucht, desgleichen die Restaurants. Quaresma aber warf sich nicht in das Getriebe dieses halb belagerten Ortes. Wohl ging er bisweilen ins Theater, und zwar in Zivil, doch gleich nach der Vorstellung kehrte er auf sein Zimmer in der Stadt oder zu seiner Einheit zurück. An manchen Nachmittagen, sobald Polidoro eintraf, ging Quaresma zu Fuß durch die Straßen der Umgebung und am Strand entlang bis zum Campo de São Cristóvão. Auf dem Weg sah er jene Abfolge von Friedhöfen mit ihren weißen Grabsteinen, die hügelan stiegen wie geschorene Schafe auf der Weide, sah die sie hütenden nachdenklichen Zypressen; und ihm wollte scheinen, dieser Teil der Stadt sei Besitztum und Lehen des Todes. Die Häu229
ser, eingezogen und dichtgedrängt, wirkten begräbnishaft; am schlammigen Ufer gluckste unheilvoll das Meer; klagend flüsterten die Palmen; und selbst das Bimmeln der Trambahn klang traurig und düster. Die Gegend war vom Tod gezeichnet, und mehr noch das Denken dessen, der sie durchwanderte. Er gelangte zum Campo de São Cristóvão; dort kam ihm der Gedanke, bei seinem früheren Haus vorbeizuschauen, und schließlich lenkte er seine Schritte zum Domizil des Generals Albernaz. Seit längerem schuldete er ihm einen Besuch und nutzte jetzt die Gelegenheit. Dort hatte man soeben zu Abend gegessen; zu Gast war außer Oberleutnant Fontes und Admiral Caldas auch Quaresmas Vorgesetzter, Oberstleutnant Inocêncio Bustamante. Er war ein aktiver Truppenführer, aber nur innerhalb der Schreibstube. Niemand wie er verstand sich auf Buchhaltung und vor allem auf korrekte Kalligraphie, worin die Hauptbücher, die Berichte, die Mannschaftslisten und andere Dokumente abgefaßt waren. In dieser Hinsicht war sein gesamtes Bataillon tadellos organisiert; denn wenn er ab und zu bei den einzelnen Teilen seiner Einheit erschien, dann um die Aktenführung zu überwachen. Seit zehn Tagen hatte Quaresma ihn nicht zu Gesicht bekommen. Gleich nach der Begrüßung fragte ihn sein Vorgesetzter: »Wie viele Desertionen?« »Bis jetzt neun«, sagte Quaresma. Bustamante kratzte sich verzweifelt am Kopf und überlegte: »Ich weiß nicht, was in diese Leute gefahren ist ... Da wird einfach so drauflos desertiert ... Was für ein Mangel an Patriotismus!« »Die machen’s ganz richtig ... verflixt nochmal!« sagte der Konteradmiral. Caldas war ständig mißgelaunt und pessimistisch. Sein Prozeß lief schlecht, und bis jetzt hatte ihm die Regierung keinerlei Pos230
ten gegeben. Sein Patriotismus ließ in dem Maße nach, wie seine Hoffnung, eines Tages kommandierender Vize-Admiral zu werden, verflog. Zwar hatte die Regierung ihr Geschwader noch gar nicht aufgestellt, doch den umlaufenden Gerüchten zufolge war abzusehen, daß er nicht einmal eine Abteilung kommandieren würde. So eine Ungerechtigkeit! Gewiß, er war nicht der Jüngste; doch gerade weil er nie ein derartiges Kommando gehabt hatte, könnte er nun seine ganze, noch frische Energie einbringen. »Herr Admiral dürfen so nicht sprechen ... Das Vaterland kommt gleich nach der Menschheit.« »Mein lieber Oberleutnant, Sie sind noch jung ... Ich weiß, wie der Hase läuft ...« »Man darf die Hoffnung nicht aufgeben ... Wir arbeiten nicht für uns, sondern für die Mitbürger und für künftige Generationen«, versuchte Fontes ihn zu überzeugen. »Was habe ich denn mit denen zu tun?« entgegnete Caldas gereizt. Bustamante, Albernaz und Quaresma verfolgten stumm die kleine Auseinandersetzung, und die beiden ersten lächelten ein wenig über die Aufgebrachtheit von Caldas, der nicht müde wurde, mit dem Bein zu wippen und sich den langen weißen Backenbart glattzustreichen. Der Oberleutnant antwortete: »Sehr viel, Herr Admiral. Wir alle müssen dafür arbeiten, daß bessere Zeiten kommen, Zeiten der Ordnung, des Glücks und der moralischen Erhebung.« »Die gab es nie und wird es nie geben!« sagte Caldas heftig. »Da denke ich genauso«, fügte Albernaz hinzu. »Die Dinge werden immer bleiben, wie sie sind«, pflichtete Bustamante ihm voller Skepsis bei. Der Major sagte nichts; er schien an der Unterhaltung keinen 231
Anteil zu nehmen. Fontes, anders als seine Glaubensgenossen, reagierte auf solche Einwände keineswegs gereizt. Er war ein hagerer, ausgemergelter Mann, dunkelbrünett, und das Oval seines Gesichtes wies da und dort Unregelmäßigkeiten auf. Nachdem er allen zugehört hatte, sprach er, nach Predigerart mit der rechten Hand fuchtelnd, voll Salbung mit seiner schleppenden, näselnden Stimme: »Es hat eine Vorstufe zu solch besserer Ordnung gegeben: das Mittelalter.« Niemand konnte ihm widersprechen. Quaresma kannte sich nur in brasilianischer Geschichte aus, und die andern in gar keiner. Seine Behauptung brachte alle zum Schweigen, obgleich sie insgeheim ihre Zweifel hegten. Es ist dies ein merkwürdiges Mittelalter mit seiner sittlichen Erhebung, von dem keiner weiß, wo und in welchem Jahr man es ansiedeln soll. Fragt jemand: »Etwa zur Zeit der Merowinger, als König Chlothar mit eigener Hand die Hütte anzündete, in der er seinen Sohn Chramne mitsamt dessen Frau und Kindern eingesperrt hatte?« – entgegnet der Positivist: »Damals war die Herrschaft der Kirche noch nicht vollständig etabliert«. »Der heilige Ludwig«, würden wir einwenden, »verurteilte einen Feudalherrn zum Tode, weil dieser drei Kinder hängen ließ, die in seinen Wäldern ein Kaninchen getötet hatten.« Da wendet der Gläubige ein: »Hast du vergessen, daß unser Mittelalter nur bis zum Erscheinen der Göttlichen Komödie reicht? Zur Zeit des heiligen Ludwig war es schon im Niedergang begriffen« ... Erwähnte man die epidemieartigen Nervenleiden, das Elend der Bauern, die Überfälle der Raubritter, die Wahnvorstellungen der Jahrtausendwende, die Abschlachtung der Sachsen durch Karl den Großen, so antworteten sie das eine Mal, die sittli232
che Vormacht der Kirche sei noch nicht vollendet, das andere Mal, sie sei schon vorüber gewesen. An diesem Abend jedoch wurde dem Positivisten nichts dergleichen entgegengehalten, und man kam auf die Revolte zu sprechen. Der Konteradmiral übte heftige Kritik an der Regierung. Sie handle völlig planlos, lasse einfach drauflos schießen; seiner Meinung nach hätte sie längst alles daransetzen müssen, um die Ilha das Cobras zu erobern, und hätte es auch Ströme von Blut gekostet. Bustamante hatte keine feste Meinung, doch Quaresma und Fontes waren dagegen: Ein Sturm auf diese Insel wäre ein riskantes und ganz offensichtlich nutzloses Unternehmen. Albernaz schließlich meinte: »Aber wir haben einen Vorstoß gegen Humaitá unternommen, und fast hätten wir es geschafft!« »Es wurde damals aber nicht genommen«, sagte Fontes. »Die natürlichen Bedingungen waren andere, und dennoch war diese Erkundungsaktion völlig sinnlos ... Sie müssen es wissen, Sie waren ja dabei!« »Das heißt ... Kurz vorher wurde ich krank und kam nach Brasilien zurück, doch von Camisão habe ich gehört, wie brenzlig es war.« Quaresma schwieg. Er schaute sich nach Ismênia um. Fontes hatte ihn über ihren Zustand in Kenntnis gesetzt, und der Major fühlte sich irgendwie ergriffen von ihrem Gebrechen. Er sah sie alle: Dona Maricota, immerzu rege und emsig; Lalá, die mit ihren Blicken den Verlobten aus der endlosen Unterhaltung zu reißen suchte, und die anderen Töchter, die ab und zu aus dem Salon ins Eßzimmer kamen, wo die Besucher saßen. Schließlich, als er seine Zurückhaltung aufgab und nach der Kranken fragte, erfuhr er, sie halte sich im Hause ihrer verheirateten Schwester auf, ihr Zustand 233
habe sich verschlimmert, sie versinke immer tiefer in ihrem Wahn und verfalle körperlich immer mehr. Der General beendete die unverblümte Schilderung seines privaten Unglücks mit einem langen Seufzer: »Ich weiß nicht, Quaresma ... ich weiß nicht.« Es war zehn, als der Major sich verabschiedete. Er nahm die Trambahn zu seiner Kaserne auf der Halbinsel Ponta do Cajú. Von der Haltestelle ging er stracks auf sein Zimmer, erfüllt von jener besonderen Wirrsal, welche der Mondschein in unser Gemüt legt, vor allem, wenn er wundervoll, milchig und zart ist wie an diesem Abend. Es ist ein körperliches Gefühl der Erleichterung, der Auflösung, als seien wir, von der Leibeshülle befreit, nur noch Seele, umfangen von einer milden Atmosphäre aus Träumen und Chimären. Dem Major wurde seine transzendentale Stimmung nicht recht bewußt, doch er spürte die Wirkung des matten, kühlen Mondscheins. Er legte sich für kurze Zeit nieder, angekleidet, wie er war, nicht aus Müdigkeit, sondern unter dem Eindruck der süßen Trunkenheit, mit der jenes Gestirn seine Sinne erfüllte. Bald kam Ricardo und rief ihn: der Marschall sei da. Es hatte sich herumgesprochen, daß er des öfteren nächtens unterwegs war und von Stellung zu Stellung ging. Diese Gepflogenheit wurde von der Öffentlichkeit mit Beifall aufgenommen und trug dazu bei, seinen Ruf als vollendeter Staatsmann zu festigen. Quaresma ging ihm entgegen. Floriano trug einen weichen Filzhut mit breiter Krempe und einen kurzen, abgetragenen Gehrock. Sein Aussehen hatte etwas von einem Ganoven, aber auch von einem vorbildlichen Hausvater, der zu außerehelichen Abenteuern unterwegs ist. Der Major begrüßte ihn und berichtete ihm von dem wenige Tage zurückliegenden Angriff auf seine Stellung. 234
Der Marschall antwortete einsilbig und träge, während er um sich schaute. Kurz bevor er ging, wurde er ein wenig gesprächiger und sagte mit schleppender Stimme: »Werde hier einen Scheinwerfer aufstellen lassen.« Quaresma begleitete ihn bis zur Trambahn. Sie gingen durch den alten Lustgarten der Kaiser. In einiger Entfernung vom Bahnhof zischte eine Lokomotive, die eben angeheizt wurde. Sie schien zu schnarchen, und auch die Waggons standen da, klein, vom Mondschein übergössen, still und ruhig, als schliefen sie. Die hochbetagten Mangobäume, denen da und dort Äste fehlten, schienen mit kostbarem Silberstaub bedeckt. Ein herrlicher Mondschein. Während sie so dahinschritten, fragte der Marschall: »Wieviel Mann hast du?« »Vierzig.« »Nicht viel«, murmelte der Marschall und fiel in sein Schweigen zurück. Es kam ein Augenblick, da das Gesicht des Diktators, vom Mondlicht übergössen, dem Major sympathischer vorkam als sonst. Ob er ihn ansprechen sollte ...? Er bereitete eine Frage vor; doch ihm fehlte der Mut, sie vorzubringen. Sie schritten weiter. Der Major überlegte; was war schon dabei? Er beging durchaus keine Respektlosigkeit. Sie näherten sich dem Kasernentor. Plötzlich war hinter ihnen ein Geräusch zu hören, Quaresma drehte sich um, doch Floriano machte nur eine unmerkliche Gebärde. Die Gebäude des Sägewerkes schienen schneebedeckt, so weiß erglänzten sie im Mondlicht. Der Major kaute weiter an seiner Frage; sie drängte, sie mußte heraus; das Kasernentor war nur noch einen Steinwurf entfernt. Er faßte Mut, gab sich einen Ruck und sagte: »Haben Herr Marschall meine Denkschrift gelesen?« 235
Floriano sprach langsam, fast ohne die herunterhängende Lippe zu heben: »Ja.« Quaresma war Feuer und Flamme: »Dann sehen Eure Exzellenz ja, wie leicht es ist, dieses Land voranzubringen. Man muß nur alle die Hindernisse aus dem Wege räumen, auf die ich in der Denkschrift, die Eure Exzellenz die Güte hatten zu lesen, hingewiesen habe; man muß nur die Fehler einer mangelhaften und den Bedingungen unseres Landes unangemessenen Gesetzgebung korrigieren; und Eure Exzellenz werden sehen, daß sich all dies ändert, daß wir nicht mehr auf andere angewiesen sind, sondern unsere Unabhängigkeit vollenden werden ... Wenn Eure Exzellenz geruhen ...« Je länger er sprach, umso mehr begeisterte er sich. Er konnte die Miene des Diktators nicht sehen, die von der Hutkrempe beschattet war, sonst wäre er erstarrt, denn seine Maske trug Anzeichen tödlichen Überdrusses. Quaresmas Redeschwall, sein Ruf nach neuen Gesetzen, nach Regierungsmaßnahmen drohten das Denken seines Zuhörers in Bewegung zu bringen, wie sehr er sich auch dagegen sträubte. Der Präsident war verärgert und sagte endlich: »Mensch, Quaresma, glaubst du denn, ich kann jedem dieser Faulenzer da eine Hacke in die Hand drücken?! Eine ganze Armee würde dazu nicht reichen ...« Quaresma war verdutzt, zögerte, erwiderte dann aber: »Aber nicht doch, Marschall. Dank Eurem Ansehen und Eurer Macht sind Eure Exzellenz in der Lage, energische und zweckdienliche Maßnahmen zu ergreifen und Initiativen ins Leben zu rufen, welche die Arbeit aufwerten, fördern, lohnend machen ... Beispielsweise würde es ausreichen ...« 236
Sie durchschritten das Tor des alten Parks von Kaiser Pedro I. Der Mondschein war unverändert schön, skulpturhaft, opalisierend. Ein großes, unfertiges Gebäude an der Straße mutete vollendet an, mit Scheiben und Türen, die das Mondlicht schuf. Ein Traumpalast. Floriano war über Quaresmas Worte höchst verstimmt. Die Trambahn hielt, und der Marschall verabschiedete sich mit der ihm eigenen schlaffen Stimme: »Quaresma, du bist ein Utopist ...« Die Bahn fuhr an. Der Mond beschien alle Dinge, gab ihnen ein Gesicht, ließ Träume aus unserer Seele steigen, erfüllte das Leben mit seinem geborgten Licht ...
237
iii
... und sie verstummten bald ...
»Ich habe alles probiert, Quaresma, ich weiß nicht mehr weiter ... da ist nichts zu machen!« »Warst du mit ihr schon beim Facharzt?« »Sicher. Ich bin zu Ärzten gelaufen, zu Geistheilern, sogar zu Quacksalbern!« Der alte Mann bekam feuchte Augen unter seinem pince-nez. Die beiden hatten sich bei der Zahlmeisterei des Kriegsministeriums getroffen und gingen, in Gespräche vertieft, mit kurzen Schritten durch den Park Campo de Sant’Ana. Der General war größer als Quaresma, und sein Kopf steckte zwischen Schultern, die hoch wie Stummelflügel waren, während der des Majors sich auf einem langen Hals erhob. Albernaz fing wieder an: »Und dann die Medikamente! Jeder Arzt verordnet etwas anderes; die Spiritisten sind die besten, sie geben homöopathische Mittel, die Medizinmänner bloß Aufgüsse, Gebete und Räucherungen ... Ich bin ratlos, Quaresma!« Er blickte zum Himmel, der ein wenig bleiern aussah, doch das pince-nez erlaubte ihm nicht, in dieser Haltung zu verweilen, da es herunterzufallen drohte. Quaresma ging mit gesenktem Kopf und betrachtete die Körnung des Granitbelags auf dem Bürgersteig. Nach einiger Zeit sah er auf und sagte: »Warum bringst Du sie nicht in einem Pflegeheim unter, Ge238
neral?« »Das hat mir der Arzt auch schon geraten ... Meine Frau will aber nicht, und in Ismênias jetziger Verfassung lohnt es nicht mehr ...« Verschlimmert hatte sich in den letzten Monaten nicht so sehr ihre Gemütskrankheit als ihr allgemeiner Gesundheitszustand, denn sie war immerzu bettlägerig, fiebrig, magerte ab, welkte dahin und siechte rasch der kalten Umarmung des Todes entgegen. In der Tat hatte Albernaz, um sie von ihrem Wahn wie auch von ihrem hinzugetretenen körperlichen Gebrechen zu kurieren, kein Mittel gescheut, keinen Rat ausgeschlagen, von wem auch immer. Es war rührend anzusehen, wie jener General, der eine höhere staatliche Bildungsanstalt genossen hatte, zu Spiritisten und Geistheilern lief, um bei ihnen Heilung für seine Tochter zu finden. Bisweilen holte er diese Leute nach Hause. Dann näherte sich das Medium dem Mädchen, erbebte, starrte es mit wirren Augen an und schrie: »Weiche von hinnen, Bruder!« und machte fächelnde Bewegungen von seiner Brust zum Mädchen hin, rasch und nervös, um das wundertätige Fluidum auf sie zu übertragen. Die Medizinmänner, zumeist Afrikaner, praktizierten andere Zauberkünste und langwierige, verwickelte Zeremonien, um mit den okkulten Mächten, die um uns sind, in Verbindung zu treten. Kaum angekommen, zündeten sie im Zimmer einen Kocher an, zogen eine ausgestopfte Kröte und andere Merkwürdigkeiten aus einem Korb, schwangen Kräuterbündel, vollführten Tanzschritte und sprachen unverständliche Worte. Das Ritual war kompliziert und dauerte seine Zeit. Beim Abschied schaute die arme Dona Maricota, deren Tatkraft 239
und Emsigkeit schon ein wenig erlahmte, voll Wärme in jenes große schwarze Antlitz des Medizinmannes, dem sein weißer Bart ein ehrwürdiges Aussehen und eine gewisse Erhabenheit verlieh, und fragte ihn: »Nun, Onkelchen?« Der Schwarze schaute einen Augenblick ins Leere, als erhielte er die letzten Mitteilungen von einer Instanz, die weder zu sehen noch sonstwie wahrzunehmen ist, und sprach mit all seiner Afrikanerwürde: »Werdn sehn, Senhora ... will Spuk bannen ...« Sie und der General hatten dem Ritual beigewohnt; ihre Elternliebe wie auch jener Bodensatz von Aberglauben, der in uns allen ist, brachten sie dazu, respektvoll, ja, beinahe gläubig auf den Heiler zu blicken. »Dann hat also jemand meine Tochter verhext?« »Ja, Senhora.« »Wer?« »Heiliger will’s nich sagn.« Und der namenlose Schwarze, vor einem halben Jahrhundert dem tiefen Afrika entrissen, ließ, als er sich altersschwach fortschleppte, in jenen beiden Herzen eine flüchtige Hoffnung zurück. Es war eine merkwürdige Konstellation, worin jener frühere Sklave, der die Leiden seiner langen Gefangenschaft schwerlich vergessen haben konnte, jetzt die Reste seines schlichten Stammesglaubens, der die erzwungene Verpflanzung nach Ländern anderer Götter nur mühsam überstanden hatte, aufbot, um seinen einstigen Herren Trost zu spenden. Als wollten die Götter seiner Kindheit und seiner Rasse, die blutigen Götzen aus dem unentzifferbaren Afrika, ihn mit der wunderbaren Barmherzigkeit rächen, die Christus in den Evangelien lehrte ... 240
Die Patientin sah alledem verständnislos zu, ohne die Grimassen und Zauberhandlungen so mächtiger Menschen zu beachten, die mit immateriellen Wesenheiten, Existenzen neben und über der unsrigen, Umgang pflegten und sich ihres Beistands erfreuten. Als er neben Quaresma dahinschritt, fiel dem General dies alles wieder ein, und er erhob bittere Vorwürfe gegen die Wissenschaft, die Geister, die Zauberpraktiken, gegen Gott, der ihm seine Tochter allmählich fortnahm, ohne Mitleid und Erbarmen. Der Major wußte nicht, was er angesichts jenes ungeheuren Vaterschmerzes sagen sollte, und jegliches Trostwort kam ihm nichtig und töricht vor. Schließlich sagte er: »General, erlauben Sie, daß ich einen mir bekannten Arzt bitte, sie sich anzuschauen?« »Wer ist es?« »Der Ehemann meiner Patentochter ... Sie kennen ihn ... Er ist jung, wer weiß! Meinen Sie nicht? Vielleicht, daß ... nicht wahr?« Der General war einverstanden, und die Hoffnung, seine Tochter geheilt zu sehen, glättete sein faltiges Antlitz. Jeder Arzt, den er um Rat anging, jeder Geistheiler, jeder Medizinmann munterte ihn auf, denn von ihnen allen erwartete er ein Wunder. Noch selbigen Tages suchte Quaresma Doktor Armando auf. Die Revolte war schon seit mehr als vier Monaten im Gange, und nur mühsam behielt die Regierung die Oberhand. Im Süden stieß der Aufstand bis an die Tore von São Paulo, und nur Lapa, im Staate Paraná, leistete noch zähen Widerstand, eines der wenigen würdigen, makellosen Kapitel in jenem Gewoge trüber Leidenschaften. In den Schanzen dieses Ortes kämpfte Oberst Gomes Carneiro, ein Mann von wahrhafter Energie und Willensstärke, heiter, zuversichtlich und gerecht. Gewalttaten aus Angst hatte er nicht nötig, und er verhalf jener hochtrabenden Redensart zur 241
Wirklichkeit: Standhalten bis zum Letzten. Magé im Norden der Guanabara-Bucht aber war von Regierungstruppen eingenommen, ebenso wie die Gouverneursinsel, während die Aufständischen mit ihren Schiffen die weite Bucht und ihre enge Einfahrt beherrschten, durch welche sie ein- und ausliefen, ohne die Beschießung aus den Festungen zu fürchten. Die Gewalttätigkeiten und Verbrechen, welche diese beiden Höhepunkte regierungsamtlicher Kriegsführung auszeichneten, kamen auch Quaresma zu Ohren, und er litt darunter. Von der Gouverneursinsel wurde, wie bei einem Umzug, abtransportiert, was nicht niet- und nagelfest war. Alles andere wurde mit Feuer und Axt zerstört. Die Besetzung der Insel war ein Ereignis scheußlichen Angedenkens, und bis heute ist den Einwohnern ein Hauptmann eines patriotischen Bataillons oder der Nationalgarde, Ortiz mit Namen, wegen seiner Grausamkeit und hemmungslosen Lust am Plündern und anderen Übergriffen in böser Erinnerung geblieben. Ging ein Fischer mit seinem Fang vorüber, rief er den Armen zu sich: »Komm mal her!« Verschüchtert näherte sich der Mann, und Ortiz fragte: »Wieviel willst du dafür haben?« »Dreitausend Réis, Herr Hauptmann.« Er lächelte diabolisch und feilschte leutselig: »Läßt du ihn mir nicht ein bißchen billiger? ... Ganz schön teuer ... Das ist doch gewöhnlicher Fisch ... Carapebas! Na hör mal!« »Nun ja, Herr Hauptmann, Sie können ihn für fünfhundert haben.« »Bring ihn dort hinein.« Er zeigte auf sein Haus. Der Fischer kam zurück und blieb eine Zeitlang vor ihm stehen, um zu zeigen, daß er auf das Geld warte242
te. Ortiz schüttelte den Kopf und sagte höhnisch: »Geld, was? Hol’s dir von Floriano!« Moreira César aber hinterließ gute Erinnerungen, und noch heute ist ihm mancher für die eine oder andere Wohltat dankbar, die dieser berühmte Oberst ihm erwies. Die Rebellentruppen schienen ungeschwächt, doch hatten sie zwei Schiffe verloren, darunter die »Javarí«, die sich beim Aufstand allerhöchsten Rufes und Respektes erfreute und von den Landstreitkräften ganz besonders gehaßt wurde. Sie war ein sogenannter Monitor, mit geringem Tiefgang, flach auf dem Wasser liegend, eine Art Saurier oder Schildkröte aus Eisen, eine französische Konstruktion. Ihre Bordkanonen waren gefürchtet, doch was die Gegner über die Maßen erzürnte, war ihre geringe Bordhöhe, knapp über der Wasseroberfläche, so daß sie den schlecht gezielten Schüssen von der Landseite mühelos entkam. Ihre Maschinen funktionierten nicht, und die große Meerechse mußte durch einen Schlepper in Kampfposition gebracht werden. Eines Tages, sie lag bei der Insel Villegagnon, ging sie unter. Niemand wußte, und bis zum heutigen Tage weiß niemand, warum. Die Regierungstruppen führten es auf einen Treffer aus der Festung Gragoata zurück; doch die Aufständischen behaupteten, ein defektes Ventil oder irgendein anderer Unfall sei die Ursache gewesen. Wie der Untergang ihres Schwesterschiffes, der »Solimões«, die nahe Kap Polônio verschwand, ist derjenige der »Javarí« immer noch in ein Geheimnis gehüllt. Quaresma blieb in der Kaserne auf der Halbinsel Ponta do Cajú stationiert, die er heute verlassen hatte, um seinen Sold abzuholen. Das Kommando hatte er Polidoro übergeben, denn die andern Offiziere waren krank oder beurlaubt, und Fontes, eine Art Oberaufseher der Artillerie, hatte entgegen seinen Gepflogenhei243
ten im kleinen Kaiserpavillon übernachtet und würde dort bis zum Nachmittag bleiben. Ricardo Anderherz war, seitdem man ihm das Gitarrenspiel verboten hatte, griesgrämig gestimmt. Sein Herzblut hatte man ihm genommen, seinen Lebensgrund, und so verbrachte er die Tage einsilbig, an einen Baumstamm gelehnt, insgeheim das Unverständnis der Menschen und die Launen des Schicksals verwünschend. Fontes hatte seine Traurigkeit bemerkt; und, um seinen Kummer zu lindern, hatte er Bustamante bewogen, Ricardo zum Feldwebel zu ernennen. Dies war nicht ohne Mühe abgegangen, denn dem Paraguayveteranen war dieser Dienstrang teuer, und er vergab ihn nur als außergewöhnliche Belohnung oder auf Fürsprache einflußreicher Personen. So glich das Leben des armen Spielmanns dem einer Amsel im Käfig; nur dann und wann entfernte er sich ein wenig und erprobte seine Stimme, um zu sehen, ob sie ihm noch zu Gebote stehe oder mit dem Pulverdampf der Schüsse verflogen sei. Quaresma wußte den Militärposten also in guter Obhut, und so beschloß er länger fortzubleiben. Er verabschiedete sich von Albernaz, um das Haus seines Gevatters aufzusuchen und das Versprechen, das er dem General gegeben hatte, zu erfüllen. Coleoni war noch unschlüssig, ob er seine Europareise antreten solle. Er zögerte und wartete auf das Ende der Rebellion, das nicht abzusehen war. Er hatte damit nichts zu tun; hatte bisher niemandem seine Meinung enthüllt, und wenn man in ihn drang, berief er sich auf seinen Ausländerstatus und hielt sich klug zurück. Die Notwendigkeit, im Polizeipräsidium einen Paß zu beantragen, schreckte ihn. Damals hatte jedermann Angst vor den Behörden. Es gab so viel Böswilligkeit gegenüber Ausländern, soviel Anmaßung bei den Beamten, daß er sich nicht getraute, 244
sich um jenen Ausweis zu bemühen, aus Furcht, ein Wort, ein Blick, eine Geste könne von irgendeinem dieser übereifrigen, beflissenen Staatsdiener übel gedeutet werden und ihm ein paar ungemütliche Viertelstunden einbringen. Zwar war er Italiener, und Italien hatte dem Diktator bereits klar gemacht, daß es eine Großmacht sei, doch in dem betreffenden Fall war es, wie er sich erinnerte, um einen von Regierungstruppen getöteten Matrosen gegangen, für den Floriano die Summe von hunderttausend Mil-Réis hatte zahlen müssen. Er, Coleoni, war jedoch kein Matrose und wußte nicht, ob die diplomatischen Vertreter seines Landes, sollte er verhaftet werden, sich für seine Freilassung verwenden würden. Überdies hatte er nicht auf seiner Staatsangehörigkeit bestanden, als die provisorische Regierung das berühmte Einbürgerungsdekret erließ, und so konnte es durchaus sein, daß beide Seiten sich wenig um ihn kümmern und ihn in der berühmten Galerie Nr. 7 vergessen würden, jenem Zuchthaus, das ein magischer Federstrich in ein Staatsgefängnis verwandelt hatte. Es waren Furcht- und Schreckenszeiten, und was Coleoni davon hielt, teilte er nur seiner Tochter mit, denn vom Schwiegersohn, der immer florianistischer und jakobinischer wurde, bekam er des öfteren harte Invektiven gegen Ausländer zu hören. Der Doktor behielt auf seine Art recht, denn schon hatte die Regierung ihm eine Gunst erwiesen und ihn an das Hospital Santa Barbara berufen, auf die Stelle eines Kollegen, den man im öffentlichen Interesse entlassen hatte, weil er verdächtigt wurde, einen Freund im Gefängnis besucht zu haben. Da das Krankenhaus jedoch auf der Insel gleichen Namens in der Bucht von Guanabara lag, auf der Höhe des Saude-Viertels, und diese noch in der Hand der Aufständischen war, hatte er nichts zu tun, denn 245
bisher war die Regierung auf sein Anerbieten, bei der Versorgung der Verwundeten mitzuwirken, nicht eingegangen. Der Major traf Vater und Tochter zu Hause an; der Doktor war in der Stadt unterwegs, um seinen Eifer für die Sache der Legalität zu demonstrieren, indem er sich mit den exaltiertesten Jakobinern im Cafe do Rio unterhielt; auch vergaß er nicht, durch die Korridore des Itamaraty-Palastes zu wandeln und sich den Adjutanten, Amtsräten und anderen Personen von Einfluß auf Floriano in Erinnerung zu bringen. Olga sah Quaresma mit demselben unguten Gefühl eintreten, das er ihr in letzter Zeit immer wieder eingeflößt hatte und das sich verschärfte, wenn sie ihn von den kriegerischen Zwischenfällen bei seiner Abteilung, den vorüberfliegenden Kugeln, der Beschießung durch die Barkassen erzählen hörte, mit einer Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit, als seien es Episoden eines Festes, eines Turniers, irgendeiner Belustigung, bei welcher der Tod nicht vorhanden wäre. Andererseits sah sie, daß ihn Sorgen quälten, und gelegentlich verrieten seine Worte Niedergeschlagenheit und Verzweiflung. Tatsächlich steckte dem Major ein Stachel in der Seele. Die Art, wie Floriano auf seine Reformvorschläge reagiert hatte, entsprach weder seiner aufrichtigen Begeisterung für die Sache noch auch seiner Vorstellung vom Diktator. Er hatte einen Heinrich IV. erwartet, einen Sully, und traf auf einen Präsidenten, der ihn einen Utopisten nannte, der die Tragweite seiner Projekte nicht ermaß, ja, sie nicht einmal prüfte, der kein Interesse an den höheren Zielen der Regierung hatte, als wäre er gar nicht der Präsident! ... Zur Unterstützung eines solchen Mannes hatte er also die Ruhe seines Anwesens aufgegeben und sein Leben in den Verschanzungen aufs Spiel gesetzt? Für diesen Mann also starben so viele Men246
schen? Wer gab ihm das Recht über Leben und Tod seiner Mitbürger, wenn er an ihrem Schicksal, an ihrem Glück und Wohlstand, am Reichtum der Nation, am Fortschritt ihrer Landwirtschaft und am Wohlergehen ihrer bäuerlichen Bevölkerung kein wirkliches Interesse hatte? In solchen Augenblicken befiel ihn tödliche Verzweiflung, Wut über sich selbst, doch gleich darauf überlegte er: Floriano ist von Hindernissen umstellt, er kann jetzt nicht, wie er will, doch später wird er die Dinge in Angriff nehmen ... Dieses quälende Hin und Her, worin Quaresma lebte, erfüllte ihn mit Befürchtungen, mit Mut- und Trostlosigkeit, die seine Patentochter an seinem verdüsterten Gesicht ablas. Bald hörte Quaresma auf, von den Wechselfällen seines Militärlebens zu erzählen, und kam auf den Anlaß seines Besuches zu sprechen. »Welche der Töchter ist es?« fragte Olga. »Die zweite, Ismênia.« »Die kurz vor der Heirat mit dem Dentisten stand?« »Ebendie.« »Hmm! ...« Dieses »hmm« zog sie bedeutungsschwer in die Länge, als lege sie darein alles, was sie zu diesem Fall zu sagen hatte. Sie verstand sehr wohl Ismênias Verzweiflung und sah die tiefere Ursache in der allbekannten Pflicht, die man schon den kleinen Mädchen einimpft, nämlich um jeden Preis zu heiraten, so daß die Ehe zum Ziel und Zweck ihres Lebens wird und ledig zu bleiben Schimpf und Schande bedeutet. Die Ehe ist nicht mehr Liebe, nicht Mutterschaft, nichts dergleichen: sie ist ganz einfach Ehe, etwas Leeres, ohne Wurzeln in unserer Natur und unseren Bedürfnissen. Für Ismênia in ihrer 247
Schlaffheit, ihrer geistigen Unbedarftheit und mangelnden Vitalität wurde die Flucht des Verlobten zur Gewißheit, daß sie nie mehr heiraten würde, und bei diesem verzweiflungsvollen Gedanken brach eine Welt in ihr zusammen. Coleoni war sehr gerührt und erkundigte sich nach ihr. Von gutmütiger Wesensart, war er hart und unwirsch geworden, als er um die Schaffung eines Vermögen kämpfte, denn er hatte wohl gemerkt, daß man nur gut sein kann, wenn man in gewisser Weise stark ist, und erst nachdem er zu Reichtum gekommen war, legte er die Rauheit, mit der er sich gepanzert hatte, wieder ab. In letzter Zeit hatte der Major, seiner ständigen Gewissensqualen wegen, Ismênia etwas weniger Aufmerksamkeit geschenkt als früher, doch wenn er auch nicht immerzu und intensiv an Albernaz’ unglückliche Tochter dachte, so schloß er sie doch in seine umfassende, weitherzige Menschlichkeit ein. Nicht lange blieb er im Hause des Gevatters; er wollte noch, bevor er zu seinem Posten auf der Halbinsel Ponta do Cajú zurückkehrte, in der Kaserne seines Bataillons einige Tage Urlaub beantragen, um seine Schwester zu besuchen, die er auf dem »Ruhehof« zurückgelassen hatte und von der er dreimal wöchentlich Post bekam. Die Nachrichten waren zufriedenstellend; gleichwohl hatte er das Bedürfnis, sie und auch Anastácio wiederzusehen, jene ihm seit so vielen Jahren durch täglichen Umgang vertrauten Gesichter, die er vermißte und deren Anblick ihm vielleicht Ruhe und Seelenfrieden zurückgeben würde. In Dona Adelaides letztem Brief hatte ein Satz gestanden, bei dessen Erinnerung er lächeln mußte: »Bring Dich bloß nicht in Gefahr, Policarpo. Sei nur ja vorsichtig!« Arme Adelaide! Sie dachte wohl, die Kugeln fielen so dicht wie Regentropfen?! ... Als Kaserne des Bataillons diente noch immer das alte, unhy248
gienische Massenquartier bei Cidade Nova. Sobald Quaresma um die Ecke kam, stieß der Wachposten ein lautes Gebrüll aus und hantierte geräuschvoll mit seiner Waffe. Beim Durchschreiten des Tores lüftete der Major – er war in Zivil – den Hut, den er statt seines Zylinders trug, um die republikanischen Empfindlichkeiten der Jakobiner nicht zu verletzen. Im Hof drillte der hinkende Ausbilder neue Freiwillige; seine gebieterischen, langgezogenen Kommandos – »Schul-teeert’s Geeewehr! ... halbeeer Schwenk!« – stiegen zum Himmel auf und hallten geraume Zeit von den Wänden der früheren Herberge wider. Oberstleutnant Bustamante, tadellos anzusehen in seiner flaschengrünen Uniform mit goldenen Litzen und schwarzblauen Aufschlägen, saß in seinem offiziell als Dienstzimmer bezeichneten Gelaß. Von einem Feldwebel unterstützt prüfte er die Eintragungen in einem der Dienstbücher. »Rote Tinte, Feldwebel! So schreiben es die Instruktionen von 1864 vor.« Es handelte sich um eine Korrektur oder Ähnliches. Sobald er Quaresmas ansichtig wurde, rief der Befehlshaber freudig aus: »Ah, der Herr Major hat es wohl geahnt!« Quaresma legte in aller Ruhe den Hut ab, trank ein wenig Wasser, und Inocêncio Bustamante erklärte ihm den Grund seiner Aufgeräumtheit: »Wissen Sie, daß wir abrücken?« »Wohin?« »Ich weiß es nicht ... Befehl vom Itamaraty.« Er sagte niemals »vom Hauptquartier«, nicht einmal »vom Kriegsminister«; der Befehl kam »vom Präsidenten«, »vom obersten Kriegsherrn«. Offenbar verlieh er sich selbst und seinem Ba249
taillon auf diese Weise größere Bedeutung und machte es zur Lieblingstruppe des Diktators. Quaresma war keineswegs verblüfft oder verärgert. Er sah ein, daß seine Beurlaubung jetzt ein Ding der Unmöglichkeit war und daß sich der Gegenstand seiner Studien ändern würde: von der Artillerie mußte er nun zur Infanterie übergehen. »Sie, Herr Major, werden die Einheit kommandieren, wußten Sie das schon?« »Nein, Herr Oberstleutnant. Gehen Sie denn nicht mit?« »Nein«, sagte Bustamante, indem er sich den mosaischen Backenbart strich und den linken Mundwinkel öffnete, »ich habe hier noch Organisatorisches für die Truppe zu erledigen, ich kann jetzt nicht mit ... Seien Sie unbesorgt, ich werde später nachkommen ...« Der Tag ging zur Neige, als Quaresma die Kaserne verließ. Der hinkende Ausbilder brüllte nach wie vor sein lautstarkes, würdevolles, langgezogenes: »Schulteeerts ... Geeewehr!« Der Wachposten am Tor konnte nicht mehr geräuschvoll grüßen, denn er sah den Major erst, als dieser schon in einiger Entfernung war. Quaresma fuhr in die Stadt, er wollte zur Post. Vereinzelt waren Schüsse zu hören; im Café do Rio diskutierten die Leviten über ihre Vorschläge zur endgültigen Konsolidierung der Republik. Noch bevor er das Postamt erreichte, kam Quaresma sein künftiger Posten in den Sinn. Er eilte stracks in eine Buchhandlung und kaufte sich Bücher über Infanterie; die entsprechende Dienstordnung, die er ebenfalls benötigte, würde er sich im Armeehauptquartier besorgen. Wohin würde es gehen? Nach Süden, nach Magé oder auf die andere Seite der Bucht, nach Niterói? Er wußte es nicht ... Er wußte es nicht ... Oh! Wer weiß, vielleicht würde ihn dies der Ver250
wirklichung seiner Wünsche und Träume näher bringen ... Wohl möglich, man würde ja sehen, später ... Den ganzen Tag über quälten ihn Zweifel, ob er sein Leben und seine Kräfte richtig genutzt habe. Olgas Gatte hatte nichts dagegen, die Generalstochter zu untersuchen. Er tat es in der tiefen Überzeugung, mit all seiner Wissenschaft etwas ausrichten zu können; doch dem war nicht so. Das Mädchen welkte immer weiter dahin; und hatte auch ihr Wahn offenbar ein wenig nachgelassen, so verfiel doch ihr Organismus. Sie war so mager und schwach, daß sie kaum aufrecht im Bett sitzen konnte. Vor allem ihre Mutter kümmerte sich um sie; ihre Schwestern vernachlässigten sie ein wenig, denn die Bedürfnisse der Jugend drängten sie in andere Richtungen. Dona Maricota, die ihren früheren Eifer für Feste und Bälle gänzlich eingebüßt hatte, hielt sich ständig im Zimmer der Tochter auf, um sie zu trösten und aufzumuntern, und zuweilen, wenn sie ihre Blicke lange auf ihr ruhen ließ, fühlte sie sich an ihrem Unglück fast ein wenig mitschuldig. Das Gebrechen hatte Ismênias Gesichtszüge gestrafft, ihre Mattigkeit gemildert und ihren Augen das Erloschene genommen; um so schöner rahmte ihr kastanienbraunes, goldschimmerndes Haar die Blässe ihres Antlitzes. Selten redete sie; und so war Dona Maricota eines Tages baß erstaunt über die plötzliche Gesprächigkeit ihrer Tochter: »Mama, wann heiratet Lalá?« »Wenn die Revolte aufhört.« »Hat die Revolte denn noch nicht aufgehört?« Nachdem die Mutter geantwortet hatte, blickte sie einen Augenblick schweigend zur Decke, dann sagte sie: »Mama ... ich werde bald sterben ...« 251
Die Worte kamen ihr sicher, sanft und natürlich über die Lippen. »Sag das nicht, meine Tochter«, unterbrach Dona Maricota sie hastig. »Was heißt hier sterben! Du wirst bestimmt wieder gesund; dein Vater fährt mit dir in die Bäder von Minas; da wirst du zunehmen und wieder zu Kräften kommen ...« Die Mutter sprach langsam und streichelte ihr das Gesicht, als wäre sie ein Kind. Sie hörte geduldig zu und entgegnete ruhig: »Nein, Mama! Ich weiß, ich muß sterben, und ich habe eine Bitte an Sie ...» Die Mutter war über den Ernst und die Entschlossenheit ihrer Tochter verblüfft. Sie schaute um sich, bemerkte die angelehnte Tür und stand auf, sie zu schließen. Sie versuchte Ismênia ihren Gedanken auszureden; diese aber wiederholte geduldig, sanftmütig, heiter: »Ich weiß es, Mama.« »Nun ja. Und wenn es wahr wäre; worum möchtest du mich bitten?« »Mama, ich will im Brautkleid beerdigt werden.« Dona Maricota wollte noch scherzen und ihre Tochter ein wenig aufziehen; diese aber drehte sich zur Seite und schlief leise und langsam atmend ein. Die Mutter verließ tief bewegt das Zimmer, Tränen in den Augen und insgeheim überzeugt, daß Ismênia die Wahrheit sprach. Dies sollte sich nur zu bald bewahrheiten. Doktor Armando hatte sie an jenem Morgen zum vierten Male besucht; seit mehreren Tagen schien es ihr besser zu gehen, sie redete verständig, richtete sich im Bett auf und unterhielt sich gern. Dona Maricota mußte einen Besuch machen und überließ die Kranke der Obhut ihrer Schwestern, die mehrmals nach ihr schauten und, als sie sie 252
schlafend fanden, sich ihren Zerstreuungen überließen. Ismênia wachte auf und gewahrte durch die halbgeöffnete Tür des Kleiderschranks ihr Brautkleid. Sie ging barfuß hin, um es von nahem zu besehen, und breitete es auf der Bettstatt aus. Da überkam sie der Wunsch, es anzuziehen, und als sie in den Rock schlüpfte, stieg in ihr die Erinnerung an ihre gescheiterte Hochzeit auf. Sie dachte an ihren Verlobten, an Cavalcântis knochige Nase, an sein Augenrollen, doch ohne Haß, wie an einen vor langer Zeit gesehenen Ort, der sie tief beeindruckt hätte. An wen sie aber voller Erbitterung zurückdachte, war die Kartenlegerin. Heimlich, ohne Wissen ihrer Mutter, hatte sie in Begleitung einer Magd Madame Sinhá aufgesucht. Mit welcher Gleichgültigkeit hatte diese ihr geantwortet: »Der kommt nicht zurück!« Das hatte ihr weh getan ... Was für eine böse Frau ... Oh weh! ... Da sie kein Mieder fand, knöpfte sie den Rock einfach über dem Korsett zu, ging zum Spiegel, betrachtete ihre nackten Schultern und ihren hellweißen Hals ... Sie staunte. Gehörte das alles zu ihr? Sie betastete sich ein wenig und setzte sich den Brautkranz auf. Der Schleier liebkoste ihr den Rücken, gleich dem Flattern eines Schmetterlings. Sie fühlte etwas wie eine Schwäche, stieß einen Schmerzenslaut aus und fiel rücklings aufs Bett, die Beine auf dem Boden ... Als man sie fand, war sie tot. Sie hatte noch den Kranz auf dem Kopf, und eine der Brüste, schneeweiß und rund, quoll aus dem Korsett. Anderntags, bei der Beerdigung, war Albernaz’ Haus voller Besucher, die zwei Tage blieben, wie früher zu Zeiten der rauschendsten Feste. Auch Quaresma, obgleich er solche Zeremonien nicht mochte, kam und sah das arme Mädchen blumenbedeckt, angetan mit ihrem Brautkleid, im Sarge liegen, unbefleckt wie ein Heiligen253
bild. Sie hatte sich kaum verändert, es war wirklich sie, es war die bedauernswerte, nervenleidende Ismênia, mit ihrem zarten Antlitz und ihrem wundervollen Haar, umrahmt von jenen vier hölzernen Wänden. Der Tod hatte ihre kleine Schönheit und ihr kindliches Aussehen festgehalten; und sie ging so unbedeutend, unschuldig und ohne individuellen Ausdruck ins Grab, wie sie im Leben gewesen war. Bei der Betrachtung jener traurigen Überreste stellte sich Quaresma vor, wie der Sarg mit der Kutsche vor dem Friedhofstor halten und sodann die Wege zwischen den Gräbern kreuzen würde, die zahllos im engen Tal und an den Hängen der Hügel emporstiegen, sich drängten und sich den Raum streitig machten. Einige Grabmäler schauten sich gleichsam voll Zuneigung an und strebten zueinander; anderen war die gegenseitige Nähe offenkundig zuwider. Dort, in jenem stummen Laboratorium der Zersetzung, kam es zu unhörbaren Bitten, Zurückweisungen, Sympathien und Antipathien, fanden sich anmaßende, eitle, stolze, bescheidene, frohe und traurige Gräber; und aus vielen von ihnen sprach der Wunsch, der verzweifelte Wunsch, sie möchten der Gleichmacherei des Todes, der Einebnung der Ränge und Vermögen entrinnen. Immer noch in die Betrachtung der Mädchenleiche vertieft, tauchten in Quaresmas Geiste Berge von Skulpturen auf, Vasen, Kreuze und Inschriften auf manchen Gräbern; auf anderen waren es roh behauene Pyramiden, Bildnisse, absonderliche Lauben, vertrackte Verzierungen, barocke, aberwitzige Skulpturen, und alles dies, um der Anonymität des Grabes, dem Ende aller Ende zu entfliehen. Es wimmelte vor Inschriften: lange oder kurze; mit Vornamen, Familiennamen, Abstammung, wahre Urkunden mit den Lebensdaten der Toten, die dort unten lagen, unkenntlich, 254
nichts als verfaulter Schlamm. Und man verzweifelt darüber, daß man keinen bekannten Namen findet, keine bekannte oder berühmte Persönlichkeit, keinen jener Namen, welche durch die Dekaden hallen und die bisweilen, sind ihre Träger auch längst verstorben, weiterzuleben scheinen. Hier aber sind alle unbekannt, all jene, die aus dem Grab ins Gedächtnis der Lebenden drängen, sind glückliches Mittelmaß, Durchschnittsexistenzen, die durch das Leben gingen, ohne sich hervorzutun. Dorthin würde nun das Mädchen wandern, zur dunklen Grube, zum Ende, ohne im Leben eine tiefere Spur von ihrer Person, von ihren Gefühlen, von ihrer Seele zu hinterlassen! Quaresma wollte diese traurige Vision abschütteln und ging in die hinteren Räume des Hauses. Er war im Wohnzimmer gewesen, wo auch Dona Maricota sich aufhielt, umringt von befreundeten Damen, die kein Wort sprachen. Lulú in seiner Schuluniform, mit schwarzer Armbinde, schlummerte in einem Sessel. Die Schwestern kamen und gingen. Im Eßzimmer stand schweigend der General, neben ihm Fontes und andere Freunde. In einigem Abstand Caldas und Bustamante, die sich leise unterhielten. Als Quaresma vorüberkam, konnte er den Admiral sagen hören: »Ach was! In Kürze sind die Rebellen hier ... Die Regierung ist am Ende.« Der Major stand am Fenster, das auf den Garten ging. Das Himmelsgewebe war zarter geworden: ein seidiges, delikates Blau, und alles wirkte still, heiter und gelassen. Estefânia, die Akademikerin mit ihren maliziösen, blitzenden Augen, ging mit Lalá vorüber, die immer wieder das Taschentuch zu ihren schon trockenen Augen führte, und redete ihr zu: »An deiner Stelle würde ich woanders kaufen ... Da ist es viel zu teuer! Geh lieber zum »Bonheur des Dames« ... Da soll alles von 255
guter Qualität und sehr erschwinglich sein.« Der Major betrachtete erneut den Himmel, der sich über dem Garten wölbte und der von einer fast gleichgültigen Ruhe war. Genelício zeigte sich allzu leidtragend, ganz in schwarz, die Maske tiefster Trauer vor dem Gesicht. Selbst sein bläuliches pince-nez schien Trauer zu tragen. Er konnte nicht umhin, zum Dienst zu gehen, dringende Berufspflichten machten ihn in seiner Behörde unabkömmlich. »Ja, so geht es, General«, sagte er, »wenn der Doktor Genelício nicht da ist, passiert rein gar nichts ... Die Marine bringt es einfach nicht fertig, die richtigen Akten zu schicken ... So eine Schlamperei ...« Der General antwortete nicht; er war tieferschüttert. Bustamante und Caldas unterhielten sich immer noch leise. Man hörte einen Wagen heranrollen. Quinota erschien im Eßzimmer: »Papa, die Kutsche ist da.« Mühsam erhob sich der Alte und ging ins Besucherzimmer. Er sagte etwas zu seiner Frau, die mit stark angespannter Miene aufstand. Ihr Haar zeigte schon viele Silberfäden. Sie tat keinen Schritt, blieb einen Augenblick stehen und fiel weinend auf den Stuhl zurück. Alle sahen zu, ohne zu wissen, was sie tun sollten; einige weinten; Genelício faßte einen Entschluß: er entfernte die Kerzen, die den Sarg umstanden. Die Mutter stand auf, näherte sich der Toten und küßte sie: »Meine Tochter!« Quaresma ging ihnen voraus, den Hut in der Hand. Im Flur hörte er noch, wie Estefânia zu jemand sagte: »Eine schöne Kutsche.« Er verließ das Haus. Auf der Straße schien festliche Stimmung zu herrschen. Die Kinder der Nachbarschaft umringten den Leichenwagen und sprachen ganz unschuldig über die Vergoldun256
gen und Verzierungen. Die Trauerflore wurden oben an den vier Säulen des Wagens befestigt: »Meiner lieben Tochter«, »Meiner Schwester«. Die violetten und schwarzen Bänder mit den goldenen Buchstaben flatterten sacht im Wind. Der Sarg erschien, ganz violett, mit vergoldeten, hellglänzenden Beschlägen. All dies würde in die Erde fahren. Die Fenster bevölkerten sich von einem Ende der Straße zum andern; ein Junge rief in ein Nachbarhaus hinein: »Mama, jetzt geht die Beerdigung los.« Man zurrte den Sarg auf dem Leichenwagen fest, vor dem die Grauschimmel, ein schwarzes Netz auf dem Rücken, voll Ungeduld mit den Hufen scharrten. Alle, die an der Beerdigung teilnehmen wollten, gingen zu den bereitstehenden Kutschen. Sie stiegen ein, und die Trauergesellschaft rollte fort. In demselben Augenblick erhoben sich mehrere unbefleckt weiße Tauben – die Venusvögel – mit lautem Geflatter, vollführten eine Runde über der Kutsche und kehrten lautlos, fast ohne Flügelschlag, zum Taubenhaus zurück, das in den bürgerlichen Hausgärten verborgen lag ...
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iv Der Schlund
Quaresmas Anwesen in Curuzú fiel allmählich in den verwahrlosten Zustand zurück, in dem er es vorgefunden hatte. Unkraut überwucherte alles. Die von ihm angelegten Kulturen waren dem Ansturm des Grases, der Kletten, Disteln und Sträucher erlegen. Die Umgebung des Hauses bot einen trostlosen Anblick, obgleich Anastácio mit seinem rastlosen Fleiß und seiner afrikanischen Altersstärke dagegen ankämpfte, doch ohne Plan, ohne Methode, ohne Ausdauer. Den einen Tag jätete er hier, den andern dort, sprang er von Stelle zu Stelle, ohne sichtbares Arbeitsergebnis, und ließ zu, daß die Ländereien rund um das Haus aller verausgabten Mühe zum Trotz verkamen. Die Ameisen kehrten ebenfalls zurück, schrecklicher und räuberischer denn je, überwanden Hindernisse, verwüsteten alles, Saaten, Obstbaumschößlinge, fledderten sogar die Araçá-Bäume, und die Energie und Verwegenheit, mit der sie zu Werke gingen, spotteten der hilflosen Vorkehrungen und der welken Intelligenz des früheren Sklaven, der vergeblich nach Mitteln und Wegen suchte, um die Schädlinge zu vernichten oder zu verscheuchen. Immerhin, er bearbeitete die Erde. Dies war seine Obsession, seine fixe Idee, an der er mit dem Starrsinn des Alters festhielt. Täglich rang er mit den Blattschneiderameisen um den Gemüse258
garten, den er, seitdem jene Feinde von benachbarten Grundstücken her eingefallen waren, geduldig mit einer Umfriedung aus den unglaublichsten Materialien schützte: aufgeschnittene Petroleumkanister, gut erhaltene Dachsparren, Palmblätter, Kistenbretter, obgleich ihm doch Bambus in Hülle und Fülle zur Verfügung stand. Sein Denken verlangte nach dem Gewundenen, dem für ihn offenbar Selbstverständlichen, eine psychische Eigenart, die er in allem zeigte, sowohl beim Sprechen, wo er viele Umschweife machte, als auch beim Anlegen der Gemüsebeete, die er regellos, bald größer, bald kleiner abteilte, aus quasi ästhetischem Widerwillen gegen alles Regelmäßige, Parallele, Symmetrische ... Die Marinerevolte hatte sich auf die Lokalpolitik von Curuzú befriedend ausgewirkt. Alle Parteien wurden streng regierungstreu, so daß die beiden mächtigen Kontrahenten, Doktor Campos und Oberleutnant Antonino, nunmehr eine gemeinsame Grundlage hatten, auf der sie sich verständigten und versöhnten. Dem Knochen, um den beide erbittert zankten, hatte sich ein Dritter, Stärkerer genähert, der ihre Interessen bedrohte, und so verbündeten sie sich bis auf weiteres. Die Wahlen standen kurz bevor; den Kandidaten hatte die Zentralregierung bestimmt. Es ist dies ein kurioses Ereignis, Wahlen auf dem Lande. Man weiß nicht recht, woher so viele exotische, merkwürdige Menschentypen kommen, und man darf ohne weiteres damit rechnen, Spitzenkrausen und Kniehosen oder auch Wams und Florett zu Gesicht zu bekommen. Da tauchen taillierte Gehröcke auf, trichterförmige Hosen, Seidenhüte – ein ganzes Trachtenmuseum, das jene Landleute anlegen und einen Augenblick lang auf den schlaglochübersäten Dorfstraßen und den staubigen Landstraßen zu neuem Leben erwecken. Auch fehlen 259
nicht Raufbolde in Pumphosen und langen pequiá-Stöcken, die erwartungsvoll in die Runde blicken. Angesichts ihres eintönigen Lebens war für Dona Adelaide dieses Defilee von Museumsfiguren vor ihrer Haustür auf dem Weg zum nahen Wahllokal eine willkommene Abwechslung. Lange, traurige Tage hatte sie in dieser Abgeschiedenheit zugebracht. Gesellschaft leistete ihr seit längerem Felizardos Frau Sinhá Chica, ein Halbblut mit indianischen und afrikanischen Zügen, eine klapperdürre, angejahrte Medea, deren Ruf als Gesundbeterin im ganzen Munizip verbreitet war. Niemand wie sie konnte Schmerzen besprechen, Fieber senken, Gürtelrosen heilen, und niemand kannte die Wirkung der Heilkräuter wie sie: Ochsenzunge, silvinaFarn, Bleiliane – jene ganze Drogerie, die auf den Feldern, in den Buschwäldern und auf den Bäumen wächst. Abgesehen von diesem Wissen, das ihr Respekt und Wertschätzung eintrug, war sie auch eine geschickte Hebamme. Weit und breit, bei den Armen und selbst bei den etwas besser Gestellten, fanden alle Entbindungen unter ihrer Obhut statt. Man mußte sie sehen, wie sie ein Messer nahm und mit diesem kleinen Werkzeug über dem schmerzenden oder zu operierenden Körperteil immer wieder das Kreuz schlug und leise murmelnd betete, um den darin wohnenden bösen Geist zu vertreiben. Man erzählte sich von Wundern, von außerordentlichen Siegen, die sie ihrem seltsamen, fast magischen Einfluß auf die dunklen, uns verfolgenden oder uns helfenden Mächte verdankte. Eine der merkwürdigsten Behandlungen, von der man sich überall und jederzeit erzählte, war der Raupenbann. Diese Würmer waren zu Tausenden in ein Bohnenfeld eingefallen, wo sie auf Blättern und Stengeln wimmelten; der Eigentümer, schon ganz verzweifelt, gab alles verloren, als ihm die wundersamen Kräfte 260
der Sinhá Chica in Erinnerung kamen. Die Alte wurde gerufen. Sie stellte in Abständen Kreuze aus Ästen an den Rändern des Ackers auf und tat, als befestige sie daran aus unsichtbarem Material einen Zaun: Diesen ließ sie an einer Stelle offen und stellte sich auf der gegenüberliegenden Seite auf, um zu beten. Das Mirakel ließ nicht auf sich warten. Wie eine langsam ziehende, vom Stab eines Hirten getriebene Herde krochen die Raupen hinaus, erst zu zweit, dann zu viert, zu fünft, zu zehnt, in Zwanzigergruppen, und nicht eine blieb zurück. Doktor Campos war auf diese Rivalin keineswegs eifersüchtig. Er wappnete sich mit einer tüchtigen Portion Verachtung für ihre übernatürlichen Kräfte, appellierte aber nie an das Arsenal der Gesetze, das die Ausübung jener transzendentalen Medizin verbot. Das wäre unpopulär, und er war Politiker ... Im Hinterland, und keineswegs weit von Rio de Janeiro entfernt, leben beide Heilkünste ohne Groll nebeneinander, und beide befriedigen die seelischen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Bevölkerung. Die von Sinhá Chica war beinahe kostenlos und richtete sich an die armen Schichten, an jene, in deren Gehirnen durch Ansteckung oder Vererbung noch die indianischen oder afrikanischen Geister und Götzen leben, die sich durch Beschwörungen, Besprechungen und Räucherungen günstig stimmen oder vertreiben lassen. Ihre Klientel jedoch beschränkte sich nicht auf die armen Leute, die in jener Gegend geboren oder aufgewachsen waren; es gab sogar Neuankömmlinge aus anderen Himmelsgegenden, Italiener, Portugiesen und Spanier, die ihre übersinnlichen Kräfte anriefen, weniger angezogen durch ihre bescheidenen Preise und weniger angesteckt durch die ringsum verbreitete Volksfrömmigkeit, als vielmehr geprägt durch jenen merkwürdigen europäischen Aberglauben, wonach jeder Schwarze oder Far261
bige fürs Erkennen böser Magie und fürs Wunderheilen besonders begabt sei. Galt Dona Sinhás Kräuter- und Tranktherapie vor allem den Elenden, den armen Teufeln, so wurde die Heilkunst des Doktor Campos von den Gebildeten und Wohlsituierten in Anspruch genommen, deren intellektueller Entwicklungsstand nach der Schulmedizin verlangte. Bisweilen ging ein Patient von der einen zur andern Gruppe über, im Falle schwerer, komplizierter, unheilbarer Gebrechen, wenn die Kräuter und Gebete der Wunderheilerin nichts mehr fruchteten oder wenn die Pillen und Arzneisäfte des Doktors wirkungslos blieben. Sinhá Chica war keine sehr angenehme Gesellin. Beständig versunken in ihr übersinnliches Träumen, eingetaucht in ihre geheimnisvollen Zauberkräfte, saß sie mit gekreuzten Beinen da, die stieren, schwach glänzenden Emailleaugen zu Boden gerichtet, runzlig und eingetrocknet wie eine Mumie. Sie vergaß auch die Heiligen nicht, die heilige Mutter Kirche, die zehn Gebote, die katholischen Gebete; und obgleich sie nicht lesen konnte, war sie stark im Katechismus und kannte Teile der biblischen Geschichte, die sie durch eigenwillige Auslegungen und pittoreske Einschübe bereicherte. Zusammen mit Apolinário, dem beliebten Kaplan und Litaneiensänger, war sie die wichtigste geistliche Instanz der Gegend. Der Pfarrer war auf seine Bürokratenrolle beschränkt, eine Art Standesbeamter, der Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle zu registrieren hatte, denn alle Verbindung zu Gott und dem Überirdischen wurde durch Sinhá Chica oder Apolinário vermittelt. Was Trauungen betrifft, so darf man sie getrost vernachlässigen, denn die Armen unter unseren Landsleuten machen vom heiligen Sakrament der Ehe recht sparsamen Gebrauch, und al262
lenthalben tritt das schlichte Konkubinat an die Stelle dieser feierlichen Institution der Kirche. Felizardo, ihr Mann, zeigte sich wenig im Hause Quaresmas; und wenn, dann abends, denn tagsüber hielt er sich in den Wäldern auf, aus Angst vor Rekrutierung, und sobald er heimkam, fragte er seine Frau, ob der Tumult schon vorüber sei. Er lebte in beständiger Panik, schlief angekleidet, um beim geringsten Geräusch aus dem Fenster zu springen und sich ins Dickicht zu schlagen. Sie hatten zwei Söhne, der ältere, José, war etwa zwanzig Jahre alt, aber was für traurige Kreaturen waren beide! Sie hatten nicht nur die geistige Niedergedrücktheit ihrer Eltern sondern auch eine mangelhafte physische Vitalität und eine empörende Indolenz. Beide waren sie träge, schlaff, ohne Kraft und ohne Glauben, sogar ohne den an die Quacksalbereien, Gebete und Zaubersprüche ihrer Mutter, die vom Vater immerhin geachtet wurden. Niemand brachte diese Burschen dazu, irgend etwas zu erlernen und sich stetiger Arbeit zu widmen. Ab und zu, etwa alle vierzehn Tage, spalteten sie etwas Brennholz und verkauften es an den erstbesten Kneipwirt zum halben Preis; froh und zufrieden kehrten sie heim, mit einem bunten Tuch, einem Fläschchen Kölnisch-Wasser, einem Spiegel und anderem Plunderkram, der ihren noch ziemlich rohen Geschmack offenbarte. Dann verbrachten sie eine Woche zu Hause, schliefen oder trieben sich auf Straßen und in Schänken umher. Abends, vor allem an Sonn- und Feiertagen, machten sie sich mit ihrer »Harmonika« auf den Weg, um irgendwo zum Tanz aufzuspielen, worin sie Könner waren, so daß man sie gern zu den Festen der Umgebung einlud. Nur selten zeigten sie sich in Quaresmas Haus, obwohl ihre Eltern dort lebten, und wenn sie es taten, so deshalb, weil sie wirk263
lich nichts mehr zu essen hatten. Ihre Sorglosigkeit, ihren Leichtsinn trieben sie so weit, daß sie nicht einmal die Zwangsrekrutierung fürchteten. Dabei konnten sie hilfsbereit, rechtschaffen, gutmütig sein, doch regelmäßige, tagtägliche Arbeit war ihnen ein Greuel wie Strafe oder Folter. Diese Erschlaffung unserer Bevölkerung, diese krankhafte Abgespanntheit, diese nirwanaartige Gleichgültigkeit gegen jedes und alles überzieht unser Landleben mit einem Schleier von Trostlosigkeit und nimmt ihm den Reiz, die Poesie und den Zauber, die eine üppige Natur gewähren könnte. Vermutlich weist von den großen unterdrückten Ländern wie Polen, Irland, Indien, keines einen solchen Anblick von Lähmung auf wie unser Hinterland. Alles hier schläft und dämmert dahin, wie tot; jene haben Revolten, haben Träume; bei uns ... oh je! ... wird nur geschlafen. Quaresmas Abwesenheit führte auf seinem Anwesen zu einem Rückfall in diese weitverbreitete ländliche Lethargie. Der »Ruhehof« schien zu schlafen, einem verwunschenen Schlaf hingegeben, in der Erwartung eines Prinzen, der ihn aufwecken würde. Landmaschinen, nie benutzt und noch mit dem Firmenetikett versehen, rosteten vor sich hin. Die stählernen Pflüge, bei ihrer Ankunft glänzend anzusehen mit ihrer bläulich schimmernden Schar, boten nun einen häßlichen Anblick; sie grämten sich ob ihrer Verwahrlosung und schienen angstvoll den stummen Himmel anzuflehen. Kein Hühnergegacker im Geflügelgehege und kein Taubengeflatter war in der Frühe zu hören – jener wahre Morgenhymnus von Leben, Arbeit, Fülle paarte sich nun nicht mehr mit der Morgenröte und dem munteren Zwitschern der Vogelwelt. Und niemand mehr betrachtete mit verständigem Auge die paineira-Bäume, ihre wunderschönen rosafarbenen und weißen Blüten, die bisweilen sachte gleich verletzten Vögeln zu 264
Boden sanken. Dona Adelaide besaß weder Tatkraft noch Neigung, jene Arbeiten zu beaufsichtigen und die Poesie der Scholle zu genießen. Sie litt unter der Trennung von ihrem Bruder und versuchte zu leben wie in der Stadt. Die Nahrungsmittel kaufte sie im Kramladen und kümmerte sich nicht um landwirtschaftliche Dinge. Ungeduldig wartete sie auf die Rückkehr des Bruders, schrieb ihm verzweifelte Briefe, auf die er mit beruhigenden Worten und Versprechungen reagierte. Der letzte jedoch, den sie von ihm erhalten hatte, war nicht länger zuversichtlich und begeistert, sondern verriet Enttäuschung, Entmutigung, ja Entsetzen: Liebe Adelaide, erst jetzt komme ich dazu, Deinen Brief zu beantworten, den ich vor knapp zwei Wochen erhielt. Gerade als er in meine Hände gelangte, hatte ich eine Verwundung erlitten, die zwar ungefährlich war, mich aber ans Bett fesselte und mir eine lange Genesung aufnötigt. Welch ein Kampf, liebe Schwester! Welch ein Entsetzen! Wenn ich daran denke, fahre ich mir mit den Händen über die Augen, wie um eine böse Erscheinung wegzuwischen. Mein Entsetzen über den Krieg kann niemand ermessen ... Ein Tohuwabuho, ein höllisches Gezische von Kugeln, ein gräßliches Mündungsfeuer, Verheerungen, Verwünschungen – und all das im tiefsten Dunkel der Nacht ... Es gab Augenblicke, da wir die Feuerwaffen fortwarfen: wir schlugen uns mit dem Bajonett, mit dem Gewehrkolben, mit der Axt, mit dem Haumesser. Meine Tochter, es war ein Kampf zwischen Steinzeitmenschen, etwas Prähistorisches ... Ich zweifle, ich zweifle, ich zweifle an der Berechtigung von alledem, ich zweifle an seinem 265
Sinn, ich zweifle, daß es richtig und notwendig ist, die tief in uns allen schlummernde Wildheit zu wecken, diese Grausamkeit, die sich in jahrtausendelangen Kämpfen mit wilden Tieren in uns gebildet und eingenistet hat, als wir mit ihnen um die Vorherrschaft auf der Erde rangen ... Ich habe keine heutigen Menschen gesehen; ich habe Cro-Magnon-Menschen gesehen, Neanderthaler mit Feuersteinäxten, ohne Erbarmen, ohne Liebe, ohne Großmut und ohne Träume, nur damit beschäftigt zu töten, zu töten ... Dieser Dein Bruder, der vor Dir steht, hat daran auch seinen Anteil, hat ebenfalls viel Brutalität in sich entdeckt, viel Wildheit, viel Grausamkeit ... Ich habe getötet, meine Schwester, ich habe getötet! Und nicht zufrieden damit, habe ich noch einen Schuß auf den Feind abgegeben, als dieser schon zu meinen Füßen röchelte ... Vergib mir! Ich bitte Dich um Vergebung, denn ich brauche Vergebung und weiß nicht, wen ich darum bitten soll, welchen Gott, welchen Menschen, welches Wesen ... Du kannst Dir nicht vorstellen, wie ich darunter leide ... Als ich unter einen Karren geriet, war es nicht die Verletzung, die mir wehtat, es war die Seele, es war das Gewissen; und als Ricardo, der ebenfalls verwundet wurde und neben mir hinfiel, stöhnte und flehte: »Hauptmann, meine Mütze, meine Mütze« – da war mir, als spotte mein eigenes Denken über mein Schicksal ... Dieses Leben ist absurd und unlogisch, ich habe Angst bekommen zu leben, Adelaide. Ich habe Angst, denn wir wissen nicht, wohin wir gehen, was wir morgen tun, in welche Widersprüche wir uns von früh bis spät verwickeln werden ... Am besten handelt man gar nicht, Adelaide; und sobald 266
mir meine Pflicht erlaubt, diese Bürde abzuschütteln, will ich in aller Stille leben, in größtmöglicher Stille, damit mein Handeln nicht aus der Tiefe meiner selbst oder aus dem Geheimnis der Dinge Kräfte hervorruft, die meinem Willen fremd sind, die meine Schmerzen verschlimmern und die mir den süßen Lebensgenuß verleiden ... Auch meine ich, daß all mein Opfer nutzlos war. Mein ganzes Denken und Trachten war vergeblich, und das Blut, das ich vergossen habe, und der Schmerz, der mich mein ganzes Leben quälen wird, wurden für eine politische Torheit verbraucht, vergeudet, verschwendet, verdorben, verhöhnt. Niemand versteht, was ich will, niemand will es ergründen und fühlen; ich gelte als verrückt, närrisch, besessen; und das Leben geht seinen unerbittlichen Gang mit all seiner Roheit und Häßlichkeit. Wie Quaresma schrieb, war seine Verwundung nicht schwer, doch immerhin heikel, und ihre vollständige, sichere Heilung erforderte Zeit. Ricardo war schwerer verwundet, und wenn Quaresma vor allem seelisch litt, so litt Anderherz physisch und hörte nicht auf, zu stöhnen und das Schicksal zu verwünschen, das ihn in die Rolle des Kämpfers hinein gestoßen hatte. Beider Lazarette waren durch die jetzt unpassierbare Bucht getrennt, und von Ufer zu Ufer dauerte der Umweg mit der Eisenbahn gut und gern zwölf Stunden. Auf der Hin- und Rückfahrt kam Quaresma, verletzt wie er war, durch seinen Wohnort, doch da der Zug nicht hielt, konnte er nur einen langen, wehmütigen Blick dort hinten auf seinen »Ruhehof« mit seinen kargen Böden und alten Bäumen werfen, wo er sein ganzes weiteres Leben in aller Stille zu verbringen gehofft hatte, bis das Schicksal ihn in das 267
schrecklichste aller Abenteuer stieß. Und er fragte sich, wo auf der Welt wahre Ruhe zu finden sei, wo er die so ersehnte Erholung für Leib und Seele finden werde, nach all den Erschütterungen der letzten Zeit. Ja, wo? Kontinente, Länder, Städte zogen auf der Landkarte vor seinen Augen vorüber, und er sah nicht ein Land, nicht eine Provinz, nicht eine Stadt, nicht eine Straße, wo er Ruhe hätte finden können. Sein Grundgefühl war das der Mattigkeit, nicht körperlicher, sondern seelischer und geistiger Art. Es verlangte ihn, nicht mehr zu denken, nicht mehr zu lieben; freilich wollte er leben, zu seinem physischen Genuß, ganz einfach um dieser materiellen Empfindung willen: leben. Seine Genesung verlief langwierig, zögerlich, melancholisch, ohne einen Besuch, ohne daß sich ein Freundesantlitz zeigte. Coleoni und seine Familie hatten die Stadt verlassen, und der General versäumte aus Trägheit und Nachlässigkeit, bei Quaresma vorbeizuschauen. So lebte er allein, umfangen vom milden Gefühl der Rekonvaleszenz, und dachte an das Schicksal, an sein Leben, an seine Ideen und vor allem an seine Enttäuschungen. Indessen ging die Revolte in der Bucht allmählich zu Ende, alle Welt ahnte es und sehnte diese Befreiung herbei. Diesem Ende blickten der Konteradmiral und Albernaz, beide aus den gleichen Beweggründen, voll Betrübnis entgegen. Ersterer sah seinen Traum vom Kommando über ein Geschwader und von der damit verbundenen Reaktivierung zerrinnen; und der General fühlte sein jetziges Amt bedroht, dessen Einkünfte das Familienbudget so spürbar verbesserten. An jenem Morgen hatte Dona Maricota ihren Gatten früh geweckt: »Chico, steh auf! Du mußt zur Seelenmesse für Senator Clari268
mundo!« Kaum hatte er die Mahnung seiner Frau gehört, stand Albernaz auf. Er durfte nicht fehlen, seine Anwesenheit war eine unabweisbare Pflicht und eine bedeutungsvolle Geste. Clarimundo, Republikaner der ersten Stunde, war in der Kaiserzeit ein gefürchteter Agitator und Tribun gewesen, der nach Ausrufung der Republik allerdings seinen Mitsenatoren nichts Nutzbringendes oder Sachdienliches zu präsentieren wußte. Dennoch hatte er erheblichen Einfluß behalten und gehörte zum erlauchten Kreis derer, die Patriarchen der Republik genannt wurden. Die Stützen der republikanischen Gesellschaft haben ein außerordentliches Ruhmesbedürfnis, das sie veranlaßt, sich bei Mitwelt und Nachwelt hartnäckig in Erinnerung zu bringen. Clarimundo war eine dieser Stützen der Republik, und während der Unruhen, man wußte nicht recht warum, war sein Ansehen noch gewachsen, so daß er schon als möglicher Nachfolger des Marschalls gehandelt wurde. Albernaz hatte ihn nur obenhin gekannt, doch seiner Messe beizuwohnen kam einem politischen Glaubensbekenntnis gleich. Der Schmerz über Ismênias Tod war seinem Gedächtnis schon weitgehend entschwunden. Worunter er damals gelitten hatte, war jenes Halbleben seiner in Wahnsinn und Krankheit versunkenen Tochter. Der Tod eines lieben Menschen hat, anders als ein derart langwieriges Leiden, den Vorzug der Plötzlichkeit; er erschüttert, aber er zerfrißt nicht. Ist die Erschütterung vorüber, bleibt uns die süße Erinnerung an das geliebte Wesen, ein freundliches Antlitz vor unserem inneren Auge. So erging es Albernaz, und seine Lebensfreude, seine natürliche Heiterkeit kehrten allmählich zurück. Er gehorchte seiner Frau, stand auf, kleidete sich an und ging. Solange die Revolte noch im 269
Gange war, wurden solche Trauergottesdienste in den Kirchen der Stadtmitte abgehalten. Der General kam rechtzeitig an. Man sah Uniformen und Zylinder, und alle drängten zu den Kondolenzlisten, um sich darin einzutragen. Nicht so sehr, um der Familie des Verstorbenen ihr Beileid zu bekunden, als vielmehr in der Hoffnung, den eigenen Namen in den Zeitungen wiederzufinden. Auch Albernaz versäumte nicht, sich zu einer der Listen, die in der Sakristei auf Tischen auslagen, einen Weg zu bahnen; und just als er sich eintragen wollte, sprach ihn jemand an. Es war der Konteradmiral. Die Messe würde gleich beginnen; doch beide mieden das vollbesetzte Kircheninnere und blieben in der Sakristei unter einer Fensterwölbung stehen, um sich zu unterhalten. »Dann ist das Ganze also bald vorbei, was?« »Das Geschwader soll schon von Recife ausgelaufen sein.« Caldas hatte zuerst gesprochen, und die Antwort des Generals quittierte er mit einem ironischen Lächeln: »Endlich ...« »Die Bucht ist von Geschützen umstellt«, fuhr der General nach einer Pause fort, »und der Marschall wird die Rebellen auffordern, sich zu ergeben.« »Das wurde aber auch Zeit«, sagte Caldas, »mit mir war’ die Geschichte schon längst vorbei ... Sieben Monate, um mit so ein paar Kähnen in der Bucht von Guanabara fertig zu werden! ...« »Du übertreibst, Caldas; so einfach war die Sache nun auch wieder nicht ... Und wie stand es auf See? Der Regierung haben einfach die Schiffe gefehlt ...« »Was hat denn das Geschwader so lange in Recife gemacht, kannst du mir das erklären? Ha! Wenn es nach deinem ergebensten Diener gegangen wäre, hätte es schon längst die Anker gelich270
tet und die Aufständischen angegriffen ... Ich bin für schnelle Entschlüsse ...« Der Priester im Kirchenschiff war noch immer damit beschäftigt, Gott um Ruhe für die Seele des Senators Clarimundo zu bitten. Der mystische Weihrauch breitete sich bis zu den beiden Freunden aus, doch dieser heilige, dem Gott des Friedens und der Güte geweihte Duft hielt sie nicht von ihren kriegerischen Gedankengängen ab. »Bei uns«, setzte Caldas hinzu, »gibt es keine Leute mehr, die was taugen ... Dieses Land ist verloren, eines Tages wird es noch eine englische Kolonie werden ...« Nervös kratzte er sich auf einer Seite den Backenbart und betrachtete einen Augenblick lang die Bodenfliesen. Albernaz bemerkte halb sarkastisch: »Jetzt aber nicht; jetzt sind die Staatsorgane konsolidiert und haben Autorität, und für Brasilien bricht eine Ära des Fortschritts an.« »Ach was! Wo hat man denn schon eine Regierung gesehen, die ...« »Leiser, Caldas!« »... eine Regierung, die mit den Befähigungen ihrer Leute nichts anzufangen weiß, sie verschmäht, sie brachliegen läßt? Das Gleiche geschieht mit unseren Bodenschätzen: ungenutzt liegen sie herum!« Das Glöckchen ertönte, und sie warfen aus der Sakristei einen Blick ins Kirchenschiff. Es war voller Menschen, die, alle in Schwarz, auf Knien liegend, sich zerknirscht an die Brust schlugen und das Bekenntnis vor sich hinmurmelten: mea culpa, mea maxima culpa ... Ein Sonnenstrahl fiel durch eins der oberen Fenster und schim271
schimmerte auf einigen Köpfen. Unwillkürlich führten die beiden Militärs die Hand zur Brust und bekannten gleichfalls: mea culpa, mea maxima culpa ... Die Messe war zu Ende, und beide betraten zur rituellen Umarmung das Kirchenschiff, das nach Weihrauch duftete und den ruhigen Anblick von Unsterblichkeit bot. Alle zeigten sich tiefbetrübt: Freunde, Verwandte, Bekannte und Unbekannte schienen gleichermaßen zu trauern. Albernaz und Caldas, als sie die Schwelle überschritten, fingen ein tiefes Mitgefühl auf und befestigten es im Gesicht. Auch Genelício hatte sich eingefunden; er war geradezu süchtig nach Totenmessen hochgestellter Personen, nach Beileidskarten, aber auch nach Geburtstagsglückwünschen. Aus Furcht, er könnte von seinem Gedächtnis im Stich gelassen werden, besaß er ein Notizheft mit allen wichtigen Lebensdaten und Adressen, das er mit großer Sorgfalt führte. Keine Schwiegermutter, Kusine, Tante, Schwägerin eines Prominenten, die an ihrem Geburtstag nicht seine Glückwünsche erhielt und deren Totenmesse er nicht am siebenten Tag besuchte. Sein Traueranzug war aus grobem, schwerem Stoff; und wer ihn erblickte, der fühlte sich sogleich an die Danteschen Höllenstrafen erinnert. Auf der Straße strich Genelício sich mit dem Ärmel seines Gehrocks über den Zylinder und bemerkte zum Schwiegervater und zum Admiral: »Bald ist die Sache ausgestanden ...! Demnächst ...« »Und wenn sie Widerstand leisten?« fragte der General. »Ach was! An Widerstand ist gar nicht zu denken. Sie sollen sogar schon die Kapitulation angeboten haben ... Es wird Zeit, für den Marschall eine Kundgebung zu organisieren ...« »So weit sind wir noch nicht«, entgegnete der Konteradmiral, 272
»ich kenne den Saldanha ganz gut, der hat seinen Stolz und kapituliert nicht einfach so ...« Genelício war ein wenig erschrocken über den Ton in der Stimme seines Verwandten; er fürchtete, dieser könnte noch lauter sprechen und ihn kompromittieren. Er schwieg; Albernaz aber fuhr fort: »Gegen das stärkere Geschwader hilft auch kein Stolz.« »Was heißt hier stark! Das sind doch bloß ein paar alte Kähne, Mann!« Nur mühsam bezähmte Caldas die Wut, die seine Seele erfüllte. Der Himmel war blau und ruhig. Weiße, luftige, zerfaserte Wolken zogen langsam wie Segelschiffe über jenes unendliche Meer das sich über ihnen wölbte. Genelício schaute ihn kurz an und riet ihm: »Admiral, so dürfen Sie nicht sprechen ... Bedenken Sie doch, daß ...« »Ach was! Ich habe keine Angst ... Das sind doch alles Seelenverkäufer! ...« »Nun ja«, sagte Genelício, »ich muß zur Rua Primeiro de Marco, wo ...« Er verabschiedete sich, und in seinem bleifarbenen Anzug trippelte er, krumm wie er war, mit kleinen, vorsichtigen Schritten, den Blick durch sein bläuliches pince-nez zu Boden gesenkt, die Straße entlang. Albernaz und Caldas unterhielten sich noch eine Zeitlang, ehe sie sich, freundschaftlich wie immer, ebenfalls verabschiedeten, ein jeder mit seinem Verdruß und seiner Enttäuschung. Sie hatten recht: Binnen weniger Tage ging die Revolte zu Ende. Das regierungstreue Geschwader lief ein; die aufständischen Offiziere flüchteten sich auf die portugiesischen Kriegsschiffe, 273
und Marschall Floriano war Herr der Bucht von Guanabara. An jenem Tage floh ein Großteil der Bevölkerung aus Furcht vor einer Kanonade in die Vorstädte, wo man unter Bäumen, bei Freunden oder in eigens von der Regierung errichteten Schuppen die Dinge abwartete. Wieviel Schrecken, Angst und Beklemmung malten sich auf den Gesichtern! Bündel, Fischkörbe, Koffer voller Habseligkeiten wurden mitgeschleppt; weinende Säuglinge, der geliebte Papagei, der Lieblingshund, das Vögelchen, das die Traurigkeit einer ärmlichen Behausung linderte. Am meisten fürchtete man die berüchtigte Dynamitkanone der »Niterói«, eine aufsehenerregende amerikanische Erfindung, ein fürchterliches Gerät, imstande, Erdbeben auszulösen und die Fundamente der Granitgebirge von Rio zu erschüttern. Kinder und Frauen zitterten selbst außerhalb ihrer Reichweite vor ihrem Donner; und doch endete dieses Yankee-Gespenst, dieser Alptraum, diese Quasi-Naturgewalt einsam und verlassen an einem Kai, harmlos und verachtet. Das Ende des Aufstands, der immer monotoner wurde, war ein großes Aufatmen, und der Marschall gewann mit dem Sieg eine übermenschliche Statur. Zur gleichen Zeit konnte Major Quaresma das Lazarett verlassen und wurde mit einem Flügel seines Bataillons zur Ilha das Enxadas abkommandiert. Währenddessen setzte Oberstleutnant Inocêncio Bustamante aus der Tiefe seines Dienstzimmers in der baufälligen Herberge bei Cidade Nova, die als Kaserne diente, voll Eifer die bürokratische Oberaufsicht über sein Bataillon fort. Die Buchführung war in tadelloser Ordnung und wurde wie immer in Schönschrift erledigt. Quaresma hatte auf der Insel, wo die gefangengenommenen Matrosen inhaftiert waren, nur widerwillig die Rolle des Kerker274
meisters übernommen, und je länger er dieses Amt versah, um so heftiger wurden seine Seelenqualen. Kaum, daß er die Gefangenen anschaute; er fühlte Beschämung und Mitleid, und ihm kam es vor, als ahne der eine oder andere von ihnen seine verborgene Gewissensnot. Das ganze Ideengerüst, das ihn veranlaßt hatte, sich in diesen Bürgerkrieg zu stürzen, war zusammengebrochen. Keinen Sully hatte er angetroffen und noch weniger einen Heinrich IV. Auch fühlte er, daß die ihn umtreibenden Gedanken von niemand in seiner Umgebung geteilt wurden. Alle machten sie aus kindischen oder aus selbstsüchtigen Beweggründen mit; nichts Höheres beflügelte sie. Selbst unter den Jungen, die in großer Zahl beteiligt waren, fand er entweder niedere Interessen oder eine fetischartige Anbetung der republikanischen Staatsform, eine Verklärung ihrer Tugenden, einen Hang zum Despotismus, Einstellungen, die er aufgrund seiner Studien und Reflexionen keinesfalls billigen konnte. Groß war daher seine Ernüchterung. Die Gefangenen hatte man in den früheren Unterrichtsräumen und Schlafsälen der Seekadetten zusammengepfercht. Es waren einfache Matrosen und Unteroffiziere, es waren Schreiber und Schiffshandwerker, Weiße, Schwarze, Mulatten, Mestizen, Menschen aller Hautfarben und aller Gemütsarten, Menschen, die aus gewohnheitsmäßigem Gehorsam in dieses Abenteuer geraten waren, Menschen, die mit der Sache, um die es ging, nicht das geringste zu tun hatten, Menschen, die man in zartem Alter mit Gewalt vom häuslichen Herd oder vom Müßiggang auf der Straße fortgeschleppt hatte, oder solche, die sich aus Not hatten rekrutieren lassen; ungebildete, einfache Menschen, bisweilen grausam und bösartig wie unwissende Kinder, bisweilen gutmütig und folgsam wie Lämmer, jedenfalls Menschen ohne Verantwortlich275
keit, ohne politischen Ehrgeiz, ohne eigenen Willen, bloße Automaten in der Hand ihrer Anführer und Vorgesetzten, von denen sie am Ende im Stich gelassen und der Willkür der Sieger ausgeliefert worden waren. Nachmittags ging er spazieren und schaute auf die Meeresbucht. Es wehte eine beständige Brise, und die Möwen jagten nach Fischen. Man sah Schiffe vorübergleiten. Bald waren es Barkassen, die in die Tiefe der Bucht hineindampften; bald waren es kleine Boote oder Kähne, die liebevoll die Wasseroberfläche streiften und sich bald zur einen, bald zur anderen Seite neigten, als wollten ihre weißen, angerauchten Segel die Spiegeldecke über einem Abgrund streicheln. Das Orgelgebirge verschwamm allmählich in einem weichen Violett; und alles übrige war blau, ein körperloses Blau, das die Sinne betäubte und betörte wie ein berauschender Trank. Lange schaute er so in die Ferne, dann wandte er sich um und betrachtete die Stadt, die unter den blutigen Küssen der untergehenden Sonne ins Dunkel sank. Es wurde Nacht, und Quaresma wanderte immer noch am Ufer auf und ab, meditierte, grübelte, litt unter jenen Erinnerungen an Haß, Blutvergießen und Grausamkeit. Das Leben und die Gesellschaft erschienen ihm als entsetzliche Mächte, als Anstifter ebender Verbrechen, die die Gesellschaft verfolgt, bestraft, zu hindern sucht. Schwarz und verzweifelt waren seine Gedanken, und oftmals kam es ihm vor, als phantasiere er. Er beklagte, allein zu sein, keinen Gefährten zu haben, mit dem er reden könnte, der ihm die traurigen Vorstellungen verscheuchen hälfe, die ihn belagerten und sich allmählich zu einer Obsession auswuchsen. Ricardo war auf der Schlangeninsel stationiert, der Ilha das Cobras; und selbst wenn er bei Quaresma wäre, so würde die 276
strenge Disziplin ihm keine freundschaftliche Unterhaltung erlauben. Es wurde vollends Nacht; Schweigen und Finsternis umfingen alles. Noch stundenlang blieb Quaresma im Freien, grübelte, schaute ins Innere der Bucht, wo kaum ein Licht die geschlossene Schwärze der Nacht durchbrach. Unverwandt starrte er in die Ferne, als wollte er seine Augen dazu anhalten, das Unerkennbare zu durchdringen und die vom schwarzen Dunkel verschluckten Formen der Gebirge und die Umrisse der Inseln zu erraten. Er war erschöpft und wollte sich zur Ruhe begeben. Oft litt er unter Schlaflosigkeit, und wenn er zu lesen versuchte, entglitten ihm die Gedanken und schweiften fern dem Buche umher. Eines Nachts, just als er besser schlief als sonst, wurde er von einem Untergebenen geweckt: »Herr Major, der Mann vom Itamaraty ist da.« »Was für ein Mann?« »Der Offizier, der die Schlundleute abholt.« Ohne recht zu begreifen, worum es ging, stand er auf, um den Besucher zu treffen. Dieser stand schon in einer der Gefangenenunterkünfte, die Eskorte an der Tür. Einer der Soldaten, die mit ihm eingetreten waren, trug eine Laterne, die ein schwaches, gelbliches Licht verbreitete. Der Saal lag voll halbnackter Leiber in allen Hautschattierungen. Die einen schnarchten, die anderen schliefen lautlos; und als Quaresma eintrat, stöhnte einer im Traum: »Au!« Sie grüßten sich stumm, Quaresma und der Abgesandte vom Itamaraty. Beide scheuten sich zu sprechen. Der Offizier weckte einen der Gefangenen und sprach zu den Wachen: »Den da abführen«. Er ging weiter und weckte einen andern: »Wo bist Du gewesen?« »Ich«, so der Matrose, »auf der Guanabara ...« »Du Lump«, unterbrach ihn der Mann vom Itamaraty ... »Den 277
ebenfalls ... Abführen!« ... Die Wachen brachten den Gefangenen zur Tür und kehrten zurück. Wortlos schritt der Offizier durch die Menge der Liegenden; ein Stück weiter fand er einen hellhäutigen, schmalen Burschen, der nicht schlief. Er schrie ihn an: »Steh auf!« Der Junge stand schlotternd auf. »Wo bist du gewesen?« – »Ich war Sanitäter«. – »Von wegen, Sanitäter, der wird auch abgeführt«. »Bitte Herr Oberleutnant, lassen Sie mich wengistens meiner Mutter schreiben«, bat ihn der Junge weinend. »Von wegen Mutter!« erwiderte der Abgesandte des Itamaraty. »Mitkommen! Los!«, und so wurden ein Dutzend Männer, aufs Geratewohl, beliebig ausgewählt, unter strenger Bewachung zu einem Kahn gebracht, den eine Barkasse von der Insel fortschleppte. Quaresma begriff nicht sogleich, was sich da vor seinen Augen abspielte, und erst nachdem die Barkasse abgelegt hatte, wurde es ihm klar. Da schoß ihm die Frage durch den Kopf, welche geheimnisvolle Macht, welche Ironie des Schicksals ihn dazu gebracht hatte, sich in so finstere Machenschaften zu verwickeln und das Regime auf so verhängnisvolle Weise zu unterstützen ... Das Boot würde es nicht weit haben. Das Meer rauschte klagend gegen die Steine der Ufermauer. Das Kielwasser funkelte phosphoreszierend. Hoch am schwarzen, tiefen Himmel glänzten gelassen die Sterne. Die Barkasse verlor sich in der dunklen Tiefe der Bucht. Wohin fuhr sie? Zu einer Insel ... Zum Schlund ...
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v Die Patentochter
Welch ein Aberwitz, daß ausgerechnet er nun in diesem engen Kerker saß. Hatte er, der friedfertige Quaresma, der erzpatriotische Quaresma, ein so trauriges Ende verdient? Wie, auf welch trügerischen Pfaden hatte das Schicksal ihn hierherlocken können, ohne daß er von seinem absonderlichen Vorsatz etwas geahnt hätte, mit dem sein bisheriges Leben scheinbar so gar nichts zu tun hatte? Ob er selbst mit seinem Tun, mit der Verkettung seiner Handlungen jenen alten Gott herbeigerufen hatte, um sich willig von ihm zur Vollstreckung solchen Vorsatzes führen zu lassen? Oder sollten äußere Umstände ihn, Quaresma, überrumpelt und zum Sklaven der allmächtigen, richtenden Gottheit gemacht haben? Er wußte es nicht, und wenn er darüber nachgrübelte, so vermischten und verhedderten sich beide Mutmaßungen, und er gelangte zu keinem klaren, triftigen Schluß. Er war noch nicht lange hier. Frühmorgens hatte man ihn verhaftet, gleich nach dem Aufstehen; und seinem Zeitgefühl nach – denn er hatte keine Uhr, die bei dem spärlichen Licht in seinem Verlies ohnehin nicht erkennbar gewesen wäre – mußte es jetzt ungefähr elf Uhr sein. Warum war er verhaftet worden? Er wußte es nicht mit Sicherheit; der Offizier, der ihn abholte, hatte nichts sagen wollen; und seitdem er von der Ilha das Enxadas zu einer anderen Insel, zur 279
Ilha das Cobras, verbracht worden war, hatte er mit niemand ein Wort gewechselt, hatte unterwegs keinen Bekannten getroffen, nicht einmal Ricardo, der mit einem Blick, mit einer Geste seine Ängste hätte lindern können. Jedenfalls vermutete er als Grund seiner Verhaftung seinen Brief an den Präsidenten, worin er gegen die Szene protestierte, die er tags zuvor miterlebt hatte. Er hatte nicht an sich halten können. Dieser Abtransport von ein paar unglücklichen, bei Nacht und Nebel wahllos herausgegriffenen Gefangenen an einen abgelegenen Ort, wo sie hingemetzelt werden sollten, hatte all seine Empfindungen wachgerüttelt, all seine moralischen Prinzipien ihm vor Augen gestellt, all seine Zivilcourage und menschliche Solidarität herausgefordert; und so hatte er voll Verve, Leidenschaft und Empörung besagten Brief geschrieben. Er machte aus seinem Herzen keine Mördergrube; seine Sprache war klar, offen, ohne Umschweife. Deshalb wohl befand er sich in diesem Verlies, weggeschlossen, eingekerkert, abgesondert von seinen Mitmenschen wie ein Raubtier, wie ein Verbrecher, im Dunkel begraben, der Feuchtigkeit ausgesetzt, inmitten seiner eigenen Ausscheidungen, fast ohne Nahrung ... Was wird aus mir werden? Wie wird das enden? Immer wieder drängte sich ihm diese Frage auf, inmitten des Schwarms von Gedanken, den seine quälende Angst in ihm wachrief. Es gab keinen sicheren Anhaltspunkt für eine Hypothese. Die Regierung verhielt sich derart regellos und unvorhersehbar, daß er mit allem rechnen mußte: Freiheit oder Tod, eher letzteres als ersteres. Die Zeiten standen auf Tod, auf Gemetzel; alle hatten Blutdurst, um sich des Sieges zu versichern und ihn als eigene, verdiente, höchst ehrenvolle Leistung zu empfinden. Ob er noch in dieser Nacht würde sterben müssen? Was hatte er 280
aus seinem Leben gemacht? Nichts. Er hatte es ganz der Fata Morgana des Vaterlandes geweiht, weil er es liebte und verehrte und zu seinem Glück und Wohlstand beitragen wollte. Dafür hatte er seine Jugend hingegeben, ebenso seine Mannesjahre; und jetzt, im Alter, wie dankte es ihm, wie belohnte es ihn, dieses Vaterland? Indem es ihn umbrachte. Was hatte er nicht zu sehen, zu fühlen, zu genießen versäumt! Alles. Nie hatte er sich vergnügt, nie sich etwas gegönnt, nie geliebt; diese Seite der menschlichen Existenz, ein kleines Gegengewicht zu ihrer unvermeidlichen Traurigkeit – er hatte sie nicht gesehen, nicht erfahren, nicht erlebt. Seit seinem achtzehnten Lebensjahr hatte ihn der Patriotismus ergriffen und ihn die Torheit begehen lassen, nutzloses Zeug zu studieren. Was gingen ihn die brasilianischen Flüsse an? Ob sie lang waren? Sollten sie es doch sein! ... Und was bedeutetete es für sein Glück, die Namen aller Helden des Vaterlandes zu kennen? Nichts ... Das Wichtigste wäre dies gewesen: glücklich zu sein. War er es? Nein. Ihm fielen seine Tupí-Studien ein, seine Bemühungen um die Folklore, seine landwirtschaftlichen Versuche ... Hatten sie in seiner Seele ein Gefühl der Befriedigung hinterlassen? Keines! Keines! Mit seinem Tupí war er überall auf Unverständnis, Lachen, Spott und Hohn gestoßen, es hatte ihn in den Wahnsinn getrieben. Eine Enttäuschung. Und die Landwirtschaft? Nichts war damit. Sie war nicht so leicht zu betreiben, und die Böden waren nicht so fruchtbar, wie die Bücher behaupteten. Eine weitere Enttäuschung. Und als sein Patriotismus kämpferisch wurde, was hatte er da erlebt? Enttäuschungen. Wo war das friedliche Naturell unserer Landsleute? Hatte er sie nicht wie Raubtiere kämpfen sehen? Hatte er sie nicht zahllose Gefangene töten sehen? 281
Wiederum eine Enttäuschung. Sein ganzes Leben war eine Enttäuschung oder vielmehr eine Reihe, eine ganze Kette von Enttäuschungen. Das Vaterland, das er gesucht hatte, war ein Mythos, ein in der Stille seines Studierzimmers von ihm selbst geschaffenes Hirngespinst. Weder in physischer noch in moralischer, noch in geistiger, noch in politischer Hinsicht existierte es, wie er angenommen hatte. Das tatsächlich existierende Vaterland war das des Oberleutnants Antonino, das des Doktor Campos, das des Mannes vom Itamaraty. Selbst wenn man es in seiner ideellen Reinheit erwog, was hatte das Vaterland schon zu bedeuten? War er nicht sein ganzes Leben lang einer Illusion nachgelaufen, einer Idee ohne Wert, ohne Grundlage, ohne Konsistenz; einem Gott oder einer Göttin, deren Macht bei näherem Zusehen sich in Wohlgefallen auflöste? Wußte er etwa nicht, daß diese Idee sich aus dem Totenglauben der griechisch-römischen Antike entwickelt hatte, wonach die Vorfahren als Schatten weiterlebten und gespeist werden mußten, damit sie die Nachfahren nicht behelligten? Fustel de Coulanges fiel ihm ein ... Ihm fiel ein, daß dieser Begriff den Menenanãs gar nichts bedeutete, ebensowenig wie so vielen anderen Menschen ... Eine Idee, so wollte ihm scheinen, die von den Eroberern, gründlichen Kennern unserer Neigung zur Unterwürfigkeit, ausgenutzt wurde und mit der sie ihre eigenen Interessen verfolgten ... Er blickte zurück auf die Geschichte; er blickte auf die territorialen Verluste und Gewinne der verschiedenen Länder und fragte sich, wie und wo ein Mensch, wenn er vier Jahrhunderte lebte, sei er Franzose, Engländer, Italiener oder Deutscher, sein Vaterland sehen würde? In dem einen Jahrhundert wäre für den Franzosen die Franche-Comté die Heimat seiner Väter, in einem andern 282
Jahrhundert wäre sie es nicht; in einem gegebenen Augenblick wäre das Elsaß deutsch, im nächsten Augenblick wäre es französisch, dann wieder deutsch. Wir Brasilianer besaßen einst das heutige Uruguay, und wenn wir es verloren haben, fühlen wir deshalb dort die Manen unserer Vorväter umgehen, und leiden wir darunter? Zweifellos war das Vaterland ein irrationaler Begriff, der überprüft werden mußte. Wie aber konnte ein so abgeklärter, so verständiger Mensch wie er sein Leben vertun, seine Zeit vergeuden, alt werden bei der Jagd nach einer solchen Chimäre? Wieso hatte er die Wirklichkeit nicht klarer erkannt, sie nicht früher erahnt, sich vielmehr blenden lassen von einem trügerischen Götzen und ihm seine ganze Existenz geopfert? Er, Quaresma, war mit seiner Selbstisolierung und Selbstvernachlässigung selbst dafür verantwortlich. Und so würde er nun in die Grube gehen: ohne eine Spur zu hinterlassen, ohne Kind, ohne Liebe, ohne einen heißen Kuß, ohne überhaupt einen Kuß, ohne auch nur eine einzige Eselei! Nichts hinterließ er, was von seiner Lebensfahrt zeugte, und nichts Köstliches hatte die Welt ihm gegeben. Ob andere, wenn sie in seine Fußstapfen träten, wohl glücklicher würden? Sogleich gab er sich selbst die Antwort: Wie denn? Wenn er niemandem etwas gesagt, sich niemandem mitgeteilt, seinen Traum nicht festgehalten, ihm nicht Gestalt und Gehalt verliehen hatte? Und selbst wenn jemand auf demselben Wege weiterschritte, was würde das nützen? Würde es die Welt letztendlich irgendwie glücklicher machen? Seit wie vielen Jahren opferten sich Wertvollere als er, gaben ihr Leben dahin, und doch blieben die Dinge, wie sie waren, verharrte die Welt in demselben Elend, in derselben Unterdrückung, in derselben Traurigkeit. 283
Und er erinnerte sich, daß gut hundert Jahre zuvor ebendort, wo er jetzt war, vielleicht sogar in demselben Kerker, großdenkende und berühmte Männer gefangen saßen, weil sie für die Verbesserung der zeitgenössischen Verhältnisse eingetreten waren. Womöglich hatten sie nicht einmal wirklieh etwas unternommen, sondern nur nachgedacht, doch dieses Nachdenken mußten sie teuer bezahlen. Hatte es sich gelohnt? Hatten sich die Verhältnisse gebessert? Scheinbar ja, doch genauer besehen: nein. Jene Männer, angeklagt eines nach den damaligen Gesetzen schändlichen Verbrechens, hatten zwei Jahre auf ihre Aburteilung warten müssen; und er, der kein einziges Verbrechen begangen hatte, wurde nicht einmal verhört, geschweige denn abgeurteilt; ihn würde man heimlich exekutieren. Gutmütig war er gewesen, großdenkend, redlich, tugendhaft – und doch würde er, der alles dies gewesen war, ins Grab sinken ohne das Geleit eines Verwandten, eines Freundes, eines Gefährten ... Wo sie wohl waren? Ricardo Anderherz, ein so schlichter Mensch, mit seiner unschuldigen Gitarrenmanie, würden seine Augen ihn nie mehr erblicken? Es wäre so schön, dann könnte er dem Sänger eine letzte Nachricht für seine Schwester mitgeben, ein Lebewohl für den schwarzen Anastácio, eine Umarmung für seine Patentochter! Nie mehr würde er sie sehen, niemals! Er weinte kurz. In einem Punkte freilich irrte Quaresma. Ricardo hatte von seiner Verhaftung gehört und kannte sehr wohl ihren Grund, doch ließ er sich dadurch nicht beirren und sann auf Mittel und Wege, seine Freilassung zu erwirken. Er wußte, daß er viel riskierte, denn im Itamaraty-Palast war man über den Major aufs äußerste erbost. Der Triumph hatte die Sieger gnadenlos und grausam gemacht, und Quaresmas Protest klang in ihren Ohren wie ein 284
Versuch, die erreichten Erfolge zu schmälern. Da war kein Mitleid mehr, keine Sympathie, nicht einmal Achtung vor Menschenleben; da waren, wenn auch heimlich, Exempel zu statuieren gleich türkischen Massakern, damit die Staatsorgane niemals mehr angegriffen oder auch nur in Frage gestellt würden. Dies war die Gesellschaftsphilosophie der Zeit, die von ihren Eiferern, Priestern und Predigern mit religiöser Inbrunst vertreten wurde, und sie herrschte wie eine bösartiger, mächtiger Glaube, als hätten wir das Glück der Allgemeinheit darauf gegründet. Ricardo jedoch verzagte nicht, er wollte einflußreiche Freunde aufsuchen. Auf dem Largo de São Francisco begegnete er Genelício, der eben aus der Totenmesse der Schwester der Schwiegermutter des Abgeordneten Castro kam, wie immer angetan mit einem schweren, schwarzen, bleiern wirkenden Gehrock. Er war bereits Unterabteilungsleiter und suchte nunmehr rastlos nach Mitteln und Wegen, Abteilungsleiter zu werden. Das war ein schwieriges Unterfangen, doch schon schrieb er an einem neuen Buch: Die Rechnungshöfe in den asiatischen Ländern, womit er seine überragende Gelehrsamkeit unter Beweis stellen und vielleicht die begehrte Führungsposition erringen würde. Als er ihn erblickte, scheute sich Ricardo nicht, auf ihn zuzugehen und ihn anzusprechen: »Herr Doktor, erlauben Eure Exzellenz ein paar Worte?« Genelício richtete sich auf, und da er ein katastrophales Gedächtnis für Gesichter einfacher Leute hatte, fragte er gravitätisch und arrogant: »Was wünschen Sie, Kamerad?« Anderherz trug die Uniform seines Bataillons »Kreuz des Südens«, und es schickte sich für Genelício nicht, wenn er sich als Bekannten eines einfachen Soldaten zu erkennen gab. Der Trou285
bador glaubte, der Beamte habe ihn schlicht vergessen und fragte treuherzig: »Kennen Sie mich denn nicht mehr, Doktor?« Genelício blinzelte mit den Augen hinter seinem bläulichen pince-nez und sagte trocken: »Nein.« »Ich bin Ricardo Anderherz und habe auf Ihrer Hochzeit gesungen«, sagte der Sänger bescheiden. Genelício lächelte nicht, zeigte keinerlei freudige Erinnerung und bemerkte nur: »Ach ja! Sie sind es! Nun, was wünschen Sie?« »Wissen Sie nicht, daß der Major Quaresma verhaftet wurde?« »Wer ist das?« »Der frühere Nachbar Ihres Schwiegervaters.« »Ach, dieser Verrückte ... Hmm! ... Na und?« »Ich möchte Sie bitten, sich für ihn zu verwenden ...« »In solche Dinge mische ich mich nicht ein, mein Freund. Die Regierung hat immer recht. Einen guten Tag.« Und Genelício ging mit vorsichtigen Schritten weiter, wie einer, der seine Schuhsohlen schont, während Ricardo stehenblieb und auf den Platz schaute, auf die vorübergehenden Menschen, das reglose Standbild, die häßlichen Häuser, die Kirche ... Alles schien ihm feindlich, bösartig oder gleichgültig; all diese Gesichter hatten etwas Raubtierhaftes, und einen Augenblick lang wollten ihm die Tränen kommen vor lauter Verzweiflung darüber, daß er seinen Freund nicht retten konnte. Da fiel ihm Albernaz ein, und er eilte zu seiner Dienststelle, die in der Nähe lag. Der General war noch nicht eingetroffen; er kam nach einer Stunde, und als er Ricardo sah, fragte er: »Was gibt’s?« 286
Aufgewühlt und mit bekümmerter Stimme erklärte ihm der Troubadour den ganzen Fall. Albernaz rückte sein pince-nez zurecht, dessen Goldschnur er sorgfältig am Ohr befestigte, und sprach mit sanfter Stimme: »Mein Sohn, da kann ich nichts machen ... Du weißt ja, ich bin Regierungsanhänger, und wenn ich mich für einen Gefangenen einsetze, dann sieht es so aus, als wäre ich es nicht entschieden genug ... Ich bedaure sehr, jedoch ... was läßt sich da schon machen? Geduld.« Und wohlgelaunt betrat er sein Dienstzimmer, vollkommen selbstsicher in seiner friedfertigen Generalsuniform. Offiziere kamen und gingen, Klingeln ertönten, Bürodiener eilten hin und her, und unter all diesen Gesichtern suchte Ricardo eines, das ihm helfen könnte. Er fand keines, und er war verzweifelt. Wer kam in Frage, wer? Da fiel ihm jemand ein: der Befehlshaber seines Bataillons; also suchte er den Oberstleutnant Bustamante in der ehemaligen Massenherberge auf, die dem schneidigen Bataillon »Kreuz des Südens« als Kaserne diente. Die Einheit befand sich noch in Kriegsbereitschaft. Zwar war die Marinerevolte im Hafen von Rio de Janeiro niedergeschlagen, doch mußte man Truppen nach dem Süden entsenden, wo die Kämpfe ihren Fortgang nahmen, weshalb die Bataillone nicht aufgelöst wurden, und eines der nun abkommandierten war ebendas »Kreuz des Südens«. Der hinkende Leutnant in dem mit Seifenflecken übersäten Hof der alten Herberge war nach wie vor als Ausbilder der neuen Rekruten zugange: »Schulteerts Geeewehr! Halbeeer Schwenk!« Ricardo trat ein, stieg rasch die schwankende Treppe der alten Mietskaserne empor und rief, sobald er vor dem Gelaß des Befehlshabers stand: »Sie gestatten, Herr Kommandeur!« 287
Bustamante war übel aufgelegt. Diese Sache mit dem Einsatz in Paraná gefiel ihm gar nicht. Wie sollte er in der Hitze der Gefechte, im Durcheinander der Märsche und Kontermärsche für eine anständige Aktenführung sorgen? Eine Dummheit war es, den Befehlshaber mit ins Feld zu schicken, der sollte lieber in der Etappe bleiben, um die Buchführung zu beaufsichtigen und in Ordnung zu halten. Derlei Dinge gingen ihm durch den Kopf, als Ricardo ihn ansprach. »Herein«, sagte er. Der wackere Oberstleutnant kratzte sich seinen mosaischen Bart, sein Dolman war noch halb aufgeknöpft, und er hatte sich soeben einen Stiefel angezogen, um seinen Untergebenen würdiger zu empfangen. Ricardo brachte seine Bitte vor und wartete geduldig auf eine Antwort, die auf sich warten ließ. Endlich entgegnete Inocêncio, indem er den Kopf schüttelte und den Untergebenen mit aller Strenge ansah: »Hinaus mit dir, sonst laß ich dich verhaften! Wird’s bald!« Und mit martialischer, energischer Geste zeigte er auf die Tür. Unteroffizier Ricardo blieb nicht einen Augenblick länger. Im Hof ließ der hinkende Ausbilder und Paraguayveteran weiterhin seine feierlichen Kommandos durch die verfallene Massenherberge schallen: »Schulteeerts Geeewehr! Halbeeer Schwenk ... Drehung.« Traurig und entmutigt zog Ricardo von dannen. Die Welt erschien ihm gemüt- und lieblos. Er, der in seinen Modinhas immer von Selbstlosigkeit, Liebe, Sympathie gesungen hatte, mußte nun einsehen, daß es solche Gefühle nicht gab. Unwirklichen Zielen war er nachgelaufen, Chimären. Er schaute zum hohen Himmel, schaute auf zu den Bäumen, da wurde ihm ruhig und gelassen 288
ums Herz. Stolz ragten die Palmen empor, titanisch strebten sie zum Himmel. Er schaute auf die Häuser, die Kirchen, die Paläste und dachte an die Kriege, das Blut, die Schmerzen, die das alles gekostet hatte. So vollzog sich das Leben, die Geschichte, das Heldentum: mit Gewalt, gegen andere Menschen, mit Unterdrückung und Leid. Doch dann erinnerte er sich, daß der Freund gerettet und etwas unternommen werden mußte. Wer käme in Frage? Er forschte in seinem Gedächtnis, wo bald dieser, bald jener auftauchte, bis ihm Quaresmas Patentochter einfiel, und so begab er sich nach Botafogo zur Rua da Real Grandeza. Kaum angekommen, berichtete er ihr von dem Vorfall und von seinen schlimmen Ahnungen. Sie war allein, da ihr Mann immer eifriger daran arbeitete, sich seinen Anteil an der Siegesbeute zu sichern, und nicht eine Minute rastete, um diese oder jene einflußreiche Persönlichkeit aufzusuchen. Olga erinnerte sich gern an ihren Paten, an sein fortwährendes Träumen, seine Gutmütigkeit, seine Beharrlichkeit im Verfolgen seiner Ideen, seine Arglosigkeit, die der einer romantischen Jungfrau glich ... Einen Augenblick lang wurde sie von großer Betrübnis überwältigt, die ihren Willen zum Handeln lähmte, als reiche es, Mitleid zu empfinden und als lindere sie damit irgendwie das Leid ihres Paten. Doch bald sah sie ihn blutüberströmt vor sich – ihn, der so großdenkend war, so gutmütig, und sie begann über seine Rettung nachzusinnen. »Was läßt sich da tun, mein lieber Herr Ricardo, was tun? Ich kenne niemanden ... Ich habe keine Beziehungen ... Meine Freundinnen ... Alice, die Frau von Doktor Brandão, ist verreist ... Cassilda, die Tochter von Doktor Castrioto, kann nichts machen ... Ich sehe keinen Ausweg, mein Gott!« 289
Diese letzten Worte sprach sie mit großer, herzzerreißender Verzweiflung. Beide verharrten stumm. Die junge Frau, die am Tisch saß, nahm den Kopf zwischen die Hände, und ihre langen, perlmuttschimmernden Fingernägel gruben sich in ihr schwarzes Haar. Ricardo stand wie betäubt. »Was soll ich nur tun, mein Gott?« wiederholte sie. Zum ersten Mal fühlte sie, daß es im Leben Dinge gibt, die den Menschen zur Verzweiflung bringen. Sie war fest entschlossen, ihren Paten zu retten, alles würde sie dafür aufopfern, doch es war unmöglich, unmöglich! Kein Mittel, kein Weg war in Sicht. Er mußte zum Richtplatz gehen, mußte den Kalvarienberg besteigen, ohne Hoffnung auf Wiederaufstehung. »Vielleicht Ihr Mann«, sagte Ricardo. Sie überlegte, verweilte prüfend beim Charakter ihres Gatten; doch bald wurde ihr klar, daß sein Egoismus, sein Ehrgeiz, sein gnadenloser Eigennutz ihn abhalten würden, auch nur den geringsten Schritt zu tun. »Ach, der ...« Ricardo wußte nicht, was er ihr raten sollte, und schaute gedankenleer auf die Möbel, auf das hohe, schwarze Gebirge, das aus dem Wohnzimmer, wo sie sich befanden, zu sehen war. Er suchte einen Rat, einen Vorschlag, fand aber nichts. Die junge Frau drückte immer noch ihre Finger in ihr schwarzes Haar und starrte auf den Tisch, auf den sie ihre Ellenbogen stützte. Es herrschte feierliches Schweigen. Plötzlich rief Ricardo freudestrahlend aus: »Und wenn Sie selbst hingehen würden ...« Sie hob den Kopf, ihre Augen weiteten sich vor Staunen, und ihr Gesicht straffte sich. Sie dachte einen winzigen Augenblick nach, dann sprach sie entschlossen: 290
»Ich gehe.« Sie verließ den Raum und kleidete sich um. Ricardo setzte sich. Voll Bewunderung dachte er an die junge Frau, die aus reiner Freundschaft ein so gefährliches Opfer auf sich nahm, deren Handeln so sehr im Einklang mit ihrer Seele stand; er spürte, wie weit sie von unserer Welt entfernt war, von unserem Egoismus, unserer Niedrigkeit, und dankbar ruhten seine Augen auf ihrem Bild. Bald war sie fertig und knöpfte eben noch im Eßzimmer die Handschuhe zu, als ihr Mann eintrat. Voll Selbstzufriedenheit strahlte er über sein rundes Gesicht mit dem großen Schnauzbart. Ohne Ricardos Anwesenheit mit einem Wort zu berühren, fragte er sogleich seine Frau: »Du gehst aus?« Sie, vom verzweifelten Wunsch getrieben, Quaresraa zu retten, antwortete mit einer gewissen Heftigkeit: »Jawohl.« Armando wunderte sich über ihren Ton. Einen Augenblick lang schaute er Ricardo an und wollte ihm eine Frage stellen, doch sogleich wandte er sich wieder an seine Frau und fragte streng: »Wo gehst du hin?« Sie antwortete nicht gleich, und nun fragte der Doktor den Troubadour: »Was machen Sie denn hier?« Anderherz hatte wenig Lust zu antworten, er ahnte, daß es eine Szene geben würde, was er vermeiden wollte, doch Olga sagte rasch: »Er begleitet mich zum Itamaraty, wo ich versuchen werde, meinem Paten das Leben zu retten. Weißt du von der Sache?« 291
Ihr Mann schien sich zu beruhigen. Er glaubte seiner Frau diesen Schritt, der seinen Interessen und Ambitionen so gefährlich zuwiderlief, ausreden zu können. Mit sanfter Stimme sprach er: »Das wäre ein Fehler.« »Wieso?« fragte sie erregt. »Du würdest mich kompromittieren. Du weißt doch, daß ich ...« Während er redete, schaute sie ihn eine Zeitlang mit ihren großen Augen spöttisch an, ein, zwei Minuten lang; endlich lachte sie kurz auf und sagte: »Da haben wir’s! ›Ich‹, weil ›ich‹ und immer nur ›ich‹. ›Ich‹ hier, ›ich‹ da ... Du denkst an nichts anderes ... Das Leben ist nur für dich da, alle andern dürfen nur für dich leben ... Das ist ja heiter! Dann hätte ich also – jetzt sag ich ebenfalls ›ich‹ – nie im Leben das Recht, ein Opfer zu bringen, meine Freundschaft unter Beweis zu stellen, mich in meinem Leben für etwas Höheres einzusetzen? Wie interessant! Ich soll wohl ein Nichts sein, ein Nichts! So etwas wie ein Möbelstück, ein Zierat? Ich habe wohl keine Bekanntschaften, keine Freundschaften, keinen Charakter? Jetzt reicht es!« Sie sprach bald langsam und ironisch, bald rasch und leidenschaftlich; ihr Mann aber war über ihre Worte vollkommen verblüfft. Er hatte immer so fern von ihr gelebt und sie nie solcher Aufwallungen für fähig gehalten. Wo war das junge Mädchen von früher geblieben? Das Mädchen mit den Nippsachen? Wer hatte ihr diese Dinge beigebracht? Er wollte sie mit einer ironischen Bemerkung entwaffnen und sagte lächelnd: »Bist du etwa im Theater?« »Wenn es menschliche Größe nur im Theater gibt, dann ja!« erwiderte sie auf der Stelle. Und mit Nachdruck setzte sie hinzu: 292
»Und das laß dir gesagt sein: ich gehe hin, und zwar deshalb, weil ich es will, weil es mein Recht ist.« Sie nahm den Sonnenschirm, rückte ihren Gesichtsschleier zurecht und verließ den Raum, feierlich, entschlossen, stolz und vornehm. Ihr Ehemann wußte nicht, was er tun sollte. Fassungslos blieb er stehen, fassungslos und schweigend sah er sie die Haustür durchschreiten. Bald war sie im Palast an der Rua Larga. Ricardo trat nicht mit ein, er wollte die junge Frau im Park Campo de Sant’Ana erwarten. Sie stieg die Treppe hinauf. Es herrschte ein gewaltiges Stimmengewirr, ein geschäftiges Kommen und Gehen. Jedermann wollte sich Floriano zeigen, ihn beglückwünschen, ihm seine Ergebenheit bekunden, seinen Diensteifer unter Beweis stellen und sich als Mitsieger präsentieren. Da waren alle Mittel recht, alle Manöver, alle Winkelzüge. Doch der früher so zugängliche Diktator machte sich jetzt rar. Es gab Menschen, die ihm die Hände küssen wollten, wie einem Papst oder Kaiser, und er selbst empfand schließlich Ekel über soviel Unterwürfigkeit. Der Kalif fühlte sich keineswegs als Heiliger und war unangenehm berührt. Olga wandte sich an die Bürodiener und bat, vom Marschall empfangen zu werden. Vergeblich. Kaum daß es ihr gelang, mit einem Amtsrat oder Adjutanten zu sprechen. Als sie den Grund ihres Kommens sagte, versteinerte sich sein erdiges Gesicht, seine Augen blitzten rasch und hart wie ein funkelnder Dolch. »Wer, Quaresma?« rief er, »ein Verräter! Ein Bandit!« Dann bereute er seine Heftigkeit und fuhr mit einer gewissen Höflichkeit fort: »Das ist ausgeschlossen, meine Dame. Der Marschall wird Sie nicht empfangen.« 293
Sie wartete kaum das Ende seines Satzes ab. Stolz erhob sie sich und kehrte ihm den Rücken, beschämt, sich zu einer Bitte herabgelassen und damit die moralische Größe des Paten befleckt zu haben. Sie hätte, anstatt sich mit solchen Leuten abzugeben, besser daran getan, ihn allein und heroisch auf jenem Eiland sterben zu lassen, damit er seinen Stolz, seine Sanftmut, seine moralische Integrität unberührt ins Grab mitnähme, ungeschmälert durch ein Gesuch, das die Ungesetzlichkeit seiner Hinrichtung mindern und seine Henker in ihrem Glauben bestärken mochte, sie hätten das Recht, ihn zu töten. Sie trat ins Freie, blickte in die Luft, zum Himmel, nach den Bäumen von Santa Teresa, und ihr kam in den Sinn, daß über diese Erde einstmals wilde Stämme gezogen waren, von deren Häuptlingen sich einer brüstete, in seinen Adern fließe das Blut von zehntausend Feinden. Das war vier Jahrhunderte her. Sie blickte erneut in die Luft, zum Himmel, nach den Bäumen auf den Hügeln von Santa Teresa, nach den Häusern, den Kirchen; sie sah die Trambahnen mit den Maultiergespannen vorüberrollen; eine Lokomotive pfiff; ein von zwei schmucken Pferden gezogener Wagen kreuzte ihren Weg, als sie eben in den Campo de Sant’Ana eintrat ... Viele und große Wandlungen hatte dieser Park erlebt. Was war früher hier gewesen? Vielleicht ein Sumpf. Große Wandlungen hatte das Antlitz des Landes, hatte vielleicht sogar das Klima durchgemacht ... Hoffen wir auf weitere Wandlungen, dachte sie, und schritt gelassen Ricardo Anderherz entgegen. Todos os Santos (Rio de Janeiro), Januar-März 1911.
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Zeittafel
Folgende Abschnitte der brasilianischen Geschichte sind von Belang, da sie zur Handlung des Romans, zu seiner Entstehung und seiner ersten Rezeption den Hintergrund bilden:
· Kolonialgeschichte: 1500–1822 · Kaiserreich: 1822–1889 · Paraguaykrieg: 1865–1870 · Zeit der Romanhandlung, Gründung und Konsolidierung der Republik: 1889–1894 Zeit · der Konzipierung und Niederschrift des Romans: 1909–1911 · Lebenszeit des Autors: 1881–1922 1500
1565 1622–54 1694 1730 1760 1763 1775 1789
1792
Brasilien durch eine portugiesische Flotte unter Cabral entdeckt, zunächst Terra da Vera Cruz oder auch Terra da Santa Cruz genannt (Land des Wahren / des Heiligen Kreuzes) um 1530 Einführung des Zuckerrohranbaus 1532 Einführung der ersten afrikanischen Sklaven, vor allem als Arbeitskräfte in den Zuckerrohrplantagen 1548 Gründung von Salvador da Bahia, der ersten Hauptstadt Brasiliens Gründung von Rio de Janeiro Holländische Präsenz in Nordostbrasilien, Hauptort: Recife (Pernambuco) Gold, bald auch Diamanten in Minas Gerais gefunden, über Rio exportiert Sebastião da Rocha Pita, Histöria da America Portuguesa, Lissabon Höhepunkt des Goldexports; Blüte städtischer Kultur in Minas Gerais Rio de Janeiro wird Hauptstadt Brasiliens Domingos Caldas Barbosa kommt nach Lissabon und propagiert die modinha Inconfidencia Mineira (Verschwörung von Minas Gerais) aufgedeckt; ihr Ziel war Unabhängigkeit von Portugal; die Verschwörer waren vor allem Schriftsteller Anführer Tiradentes, ein Unteroffizier, in Rio de Janeiro hingerichtet
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1794
um 1800 1808
1815 1822 1822–89 1822–31 1831–40 1840–89 1854 1865–70
1866
1866
1867
Conjuração do Rio de Janeiro (Verschwörung von Rio de Janeiro) ebenfalls gescheitert; Verschwörer kamen aus der Literarischen Gesellschaft von Rio de Janeiro; Einfluß der Aufklärung; Ziel: größere Bürgerrechte erste größere Kaffeeplantagen in und um Rio de Janeiro der portugiesische Thronfolger und spätere König João (Johann) VI. flieht mit dem Hof auf englischen Schiffen vor napoleonischen Truppen nach Brasilien Errichtung des Vereinigten Königreichs von Portugal, Algarve und Brasilien; Hauptstadt: Rio de Janeiro 7. September: Unabhängigkeit Brasiliens am Ipiranga in São Paulo ausgerufen Brasilien Kaiserreich Dom Pedro (Peter) I. Kaiser von Brasilien, der einzigen Monarchie in Amerika Regentschaft für den unmündigen Thronfolger; Unruhen und Bürgerkriege Dom Pedro (Peter) II. Kaiser von Brasilien; Zeit relativer politischer Stabilität erste brasilianische Eisenbahn Tripel-Allianz-Krieg von Argentinien, Uruguay und Brasilien gegen Paraguay, von England vorfinanziert. Oberbefehlshaber 1865–68: der argentinische Präsident Bartolome Mitre; 1868–69: der brasilianische Marschall Duque de Caxias (Herzog von Caxias) 3. 9.: Curuzú im südlichen Paraguay, ein zum Festungskomplex von Humaitá gehöriges Bollwerk, von den Verbündeten eingenommen; Curuzú nennt Lima Barreto auch das fiktive Munizip bei Rio, wo Policarpo sein Mustergut gründet 22. 9.: Sturm auf Curupaití (Curupaytí), ein weiteres der Festung Humaitá vorgelagertes Bollwerk, von den Paraguayern abgeschlagen; diese von zeitgenössischen brasilianischen Autoren oft als Guaranís bezeichnet Februar-Juni: brasilianische Truppen unter Oberst Carlos de Morais Camisão fallen von Mato Grosso her in das nördliche Paraguay ein, werden zu verlustreichem Rückmarsch gezwungen, der durch seine literarische Gestaltung berühmt wird: La Retraite de Laguna: Episode
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1868
1868
1868 1869 1870
1870 1871 1872 1874 1874 1873 1876
1878 1881
de la Guerre du Paraguay (»Der Rückzug von Laguna ...«), von Alfred d’Escragnolle Taunay (1871) 19.2.: Passagem de Humaitá (Durchbruch von H.); brasilianische Kriegsschiffe passieren stromaufwärts trotz heftigen Artilleriefeuers und einer Sperrkette im Fluß diese mächtige am linken Ufer des Rio Paraguay gelegene Festung 5. 8.: Humaitá nach mehr als zweijährigen verlustreichen Kämpfen erobert; wichtiges Hindernis für Vorrücken der Verbündeten nordwärts gegen Asunción damit beseitigt (alle Orte brasilianischer Siege später in Brasilien als Ortsnamen beliebt) 27. 12.: Schanzen von Lomas Valentinas erobert; Weg nach Asunción frei 1. 1.: Einnahme von Asunción 1. 3.: Kriegsende durch Tod Solano López’, des paraguayischen Präsidenten, am Rio Aquidabã (dies später Name eines brasilianische Kriegsschiffs); Krieg war immer mehr in Völkermord ausgeartet, Bilanz: 600 000 Tote auf Seiten Paraguays, 4/5 aller Männer; 30 000 Tote auf Seiten Brasiliens; in Brasilien innenpolitische Stärkung der Armee, Zerrüttung der Staatsfinanzen erstes republikanisches Manifest, in der Zeitung A República Republikanische Partei von São Paulo gegründet A Batalha de Riachuelo (Schlacht in Paraguay) von Victor Meirelles gemalt telegrafische Verbindung zwischen Brasilien und Europa Beginn der italienischen Einwanderung indianistischer Roman Ubirajara von José de Alencar veröffentlicht »Positivistische Vereinigung« von Benjamin Constant gegründet, dem späteren Dozenten an der Offiziersakademie und republikanischen Minister Republikanischer Offiziersklub gegründet 13. Mai: Geburt von Afonso Henriques de Lima Barreto; kleinbürgerliche Verhältnisse, Mulatte, Vater Drucker in Staatsdruckerei, Übersetzer eines Fachbuches aus dem Französischen; Pate: Afonso Celso, Visconde de Ouro Preto (Graf von O. P.), ein monarchietreuer Politiker, der jahrelang ein allerdings herablassender Gönner der Familie blieb
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Raimundo Correia, Sinfonias, (parnassische Gedichte, u. a. »Die Tauben«) 1887 Mutter Lima Barretos stirbt an Tuberkulose; vier Kinder werden zu Halbwaisen, L. B. hat 2 Brüder und 1 Schwester, alle jünger als er 1888 13. Mai: Abschaffung der Sklaverei 1888 Olavo Bilac: Poesias (parnassische Gedichte) 1889 5. 11.: Militärputsch gegen die Monarchie; Errichtung der Republik 1889–1930 República Velha (Alte Republik); liberal-konservatives, formaldemokratisches, elitäres System, beherrscht von der Kaffeepflanzer-, Export- und Finanzoligarchie sowie den Spitzen von Bürokratie und Armee; Blütezeit des Coronelismo (klientelistische Potentatenherrschaft ohne Gewaltenteilung vor allem auf dem Lande mit häufigen Wahlfälschungen und Übergriffen gegen politische Gegner); Alte Republik 1930 durch Putsch von Vargas beendet 1890 Lima Barretos Vater wegen Verbindung zu kaiserlichen Politikern aus Staatsdruckerei entlassen; bald darauf Verwalter einer Irrenanstalt auf der Ilha do Governador (Gouverneursinsel) in der Bucht von Guanabara, wo L. B. einen Teil seiner Kindheit und Jugend verbringt und der Vater sich auch als Landwirt betätigt, unterstützt vom schwarzen Diener Manuel de Oliveira; beide offenbar Vorbilder für die Romanfiguren Policarpo Quaresma und Anastácio 1890 Aluízio de Azevedo: O Cortiço (»Die Mietskaserne«; naturalistischer Roman) 1889–1928 3 Millionen Einwanderer strömen nach Brasilien, vor allem Italiener, Portugiesen, Spanier, Deutsche, Japaner, »Türken« (Libanesen und Syrer) 1889–1891 Marschall Deodoro da Fonseca Regierungschef und ab Februar 1891 Präsident 1891 24. 2.: Verfassung der »Vereinigten Staaten von Brasilien« verkündet; Verfassunggebende Versammlung konstituiert sich als Kongreß (Parlament) 1891–94 23. 11. 91: Vizepräsident Floriano Peixoto, der »eiserne Marschall«, übernimmt nach einer Verschwörung die Regierung (bis 1894), bleibt aber formal Vizepräsident; fragwürdige Legitimität; Opposition fordert Neuwahlen 1890–92 Encilhamento: Kreditexpansion, Spekulationsfieber, Inflation, Börsen1883
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1892 1892 1893–94
1892–94 1893
1893–94 1893
1893 1894 1894
1894–98
krach 19. 1.: Meuterei auf Festung Santa Cruz bei Niterói gegen Floriano Peixoto Tod von Marschall Deodoro da Fonseca Revolução Federalista, Revolte für mehr regionale Autonomie in Rio Grande do Sul (15. 2. 93–10. 7. 94); zugleich blutiger Kampf zwischen regionalen Eliten in Verfassung vorgeschriebene Präsidentschaftswahlen mehrfach aufgeschoben 6. 9.: erneute Meuterei auf der Festung Santa Cruz (gegenüber dem Zuckerhut bei Niterói gelegen); Beginn des Flottenaufstands bzw. der Marinerevolte Marinerevolte in der Bucht von Guanabara bei Rio de Janeiro (6. 9. 93–13. 3. 94) 25. 9.: Belagerungszustand von Regierung ausgerufen; Ziele der Revolte unklar; diese nimmt allmählich monarchistische Aspekte an; Floriano Peixoto regiert mit diktatorischen Methoden; Repression teilweise willkürlich und blutig; Zensur; radikale Anhänger Florianos, »Jakobiner«, zumeist junge Offiziere, begehen zahlreiche Übergriffe 20. 10.: in Aussicht genommener Wahltermin, der jedoch abgesagt wird 1. 3.: Kongreß- und Präsidentschaftswahlen; der künftige Präsident siegt mit 290 000 Stimmen (ca. 2% der Bevölkerung) 13. 3.: Marinerevolte endgültig niedergeschlagen; die aufständischen Offiziere retten sich auf portugiesische Kriegsschiffe; die Mannschaften, sich selbst überlassen, werden gefangen genommen; manche von ihnen von Armee mißhandelt und ermordet, u. a. auf der Insel Boqueirão (»Schlund«) nördlich der Ilha do Governador, bald bricht auch der Aufstand in Südbrasilien zusammen Präsident Prudente de Morais (15. 11. 94–14. 11. 98), ein Zivilist und gemäßigter Republikaner, versteht sich vor allem als Interessenvertreter der Kaffeepflanzer von São Paulo; weitgehende Entmachtung der »Florianisten« und »Jakobiner« mit ihrer radikal-nationalistischen und reformerischen Rhetorik; Erholung der Wirtschaft und Stabilisierung der politischen Institutionen unter weitgehendem Ausschluß
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der Mittelschichten und völligem Ausschluß der Unterschichten von der politischen Willensbildung (typisch für die »Alte Republik«) 1895 29. 6.: Tod des Marschalls Floriano Peixoto; die Florianisten in Opposition 1896–97 Vernichtungskrieg der Regierung gegen die sozio-religiöse Bauernund Hirtenbewegung von Canudos im Sertão von Bahia, Nordostbrasilien 1897 Gründung der Academia Brasileira de Letras (Brasilianische Akademie für Literatur), nach dem Vorbild der Académie Française, ebenfalls mit 40 Mitgliedern; ihr erster Präsident ist Joaquim Machado de Assis, der bis heute als größter Schriftsteller Brasiliens gilt; L. B. bewirbt sich zweimal, 1917 und 1919, vergeblich um Aufnahme 1897 Lima Barreto besucht positivistische Vorlesungen bei Teixeira Mendes in Igreja Positivista (Positivistische Kirche) 1897 Lima Barreto nimmt das Ingenieurstudium an der elitären Escola Politécnica (Polytechnische Hochschule, am Largo São Francisco gelegen) auf, das er mit geringem Eifer betreibt, zum einen weil man ihn dort aus sozialen und rassistischen Gründen diskriminiert, zum andern weil er seinen literarischen Neigungen frönt; beginnt in Kreisen der »niederen« Boheme zu verkehren (daneben gibt es eine EdelBoheme um den oben erwähnten parnassischen und neoklassizistischen Dichter Olavo Bilac) 1898–1902 Präsidentschaft Campos Salles’, vertritt Kaffeeoligarchie von São Paulo; finanzpolitische Stabilisierung Brasiliens durch funding loan von Rothschild 1900 Brasilien hat nach dem amtlichen Zensus 17 318 556 Einwohner, von denen 2/3 auf dem Lande leben; die Stadt Rio de Janeiro (Distrito Federal) hat 691 565 Einwohner, davon ca. 200 000 Ausländer. Einwohnerzahl Brasiliens im Jahre 2000: ca. 170 Millionen, von denen 4/5 in Städten leben 1900 Por que me ufano do meu país von Afonso Celso veröffentlicht, ein Klassiker des danach so genannten Ufanismo, des brasilianischen Hurrapatriotismus; ins Deutsche übersetzt: Affonso Celso, Warum bin ich stolz auf mein Vaterland? 1902 Mitarbeit Lima Barretos bei der Studentenzeitung A Lanterna; Beginn seiner journalistischen Tätigkeit, die er bis ans Lebensende fortsetzt;
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1902–06 1903
1903
1903 1904
1904
1905
1906
1907
von Anbeginn kritische und satirische Tendenz; nimmt gegen Einführung der Wehrpflicht Stellung, die manche Politiker und auch der Dichter Olavo Bilac befürworten Präsidentschaft von Rodrigues Alves; zahlreiche Modernisierungs-, Sanierungs- und Stadtumbaumaßnahmen vor allem in Rio de Janeiro Vater arbeitsunfähig, leidet an Verfolgungswahn; Lima Barreto muß Familie unterhalten, mit der er in die nördliche Vorstadt Todos os Santos (bei Engenho Novo) zieht: er bricht endgültig das Studium an der Polytechnischen Hochschule ab; wird Verwaltungsbeamter im Kriegsministerium Beginn der aufwendigen, von Lima Barreto kritisierten Stadtsanierung auf Kosten der Unterschichten durch Bürgermeister Pereira Passos, den »Haussmann Brasiliens«, gemäß der Losung »O Rio civilizase« (Rio zivilisiert sich); zahlreiche von Unterschichten bewohnte Quartiere im Zentrum werden beim diesem sogenannten bota-abaixo abgerissen; Bau der Avenida Central (heute: Av. Rio Branco); Ausbau des elektrischen Straßenbahnnetzes; Hygienekampagnen des Arztes Oswaldo Cruz gegen Gelbfieber und Pocken Lima Barreto schreibt für humoristische Zeitschriften Aufruhr gegen autoritär durchgeführte Pockenimpfung in Rio de Janeiro (Revolta da Vacina); L. B. sympathisiert mit den Aufrührern, befürwortet eine moderne, aber auch demokratische Gesundheitspolitik freiberufliche journalistische Tätigkeit Lima Barretos bei der wichtigen Tageszeitung Correio da Manhã; schreibt am Roman Clara dos Anjos, der posthum erscheint; er plant eine Geschichte der Negersklaverei in Brasilien Lima Barreto schreibt am Roman Recordações do escrivão Isaías Caminka (»Erinnerungen des Schreibers Isaias Caminha«); zeigt in Artikeln revolutionäre und anarchistische Sympathien Abkommen von Taubaté (São Paulo) zwischen Regierung des Bundes und denen von Rio, São Paulo und Minas Gerais zur Stützung des Kaffeepreises L. B. und Freunde gründen die Zeitschrift Floreal, um die »Mandarine der Literatur zu bekämpfen« und den jungen Autoren ein Forum zu bieten; vom berühmten Kritiker José Veríssimo gelobt; dort er-
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1906–07 1906–09 1907 1907 1908 1909
1909 1909
1909
1910
1910
scheinen die ersten Kapitel des Isaías Caminha; nach der 4. Nummer Erscheinen der Zeitschrift eingestellt L. B. schreibt Vida e Morte de M. J. Gonzaga de Sá, Roman, erscheint erst 1919 Präsidentschaft von Afonso Pena; Vizepräsident Nilo Peçanha wird nach seinem Tod Präsident (1909–10) die Stadt Rio hat 34 850 Industriearbeiter, in ganz Brasilien sind es 653 466 Brasilien hat 16 780 km Eisenbahnstrecken Tod von Machado de Assis, Verfasser des Romans Memórias póstumas de Brás Cubas (1881, Die nachträglichen Memoiren des Brás Cubas) Recordações do escrivão Isaías Caminha von L. B. erscheint in Lissabon; wird als satirischer Schlüsselroman über Pressekreise aufgefaßt, Achtungserfolg Tod von Euclides da Cunha, Verfasser von Os Sertões (1902, Krieg im Sertão) Kandidatur des Kriegsministers Hermes da Fonseca für das Präsidentenamt; verbreitete Angst vor scheinbar drohender Militärdiktatur; Campanha civilista (»zivilistische Kampagne«) des liberalen Gegenkandidaten Rui Barbosa, eines Literaten und Juristen, den Lima Barreto unterstützt, obwohl er ihn als Vertreter einer hochtrabenden Rhetorik, einer elitären Buchkultur und eines volksfernen Liberalismus nicht sonderlich schätzt; erstmals ein Wahlkampf mit Massenmobilisierung 22. 9.: Primavera de Sangue (Blutiger Frühling), brutale Auflösung harmloser Studentendemonstration durch Militärpolizei, zwei Studenten erstochen; Stimmung gegen Armee bei Großteil der Bevölkerung wächst 1. 3.: Präsidentenwahl; Verdacht der Wahlfälschung; erst im Juli Bestätigung des Wahlsieges von Hermes da Fonseca, der sein Amt am 15. 11. 1910 antritt Sept.: Lima Barreto Schöffe in einem Prozeß gegen Soldaten, die im »Blutigen Frühling« 1909 bei einer Demonstration zwei Studenten getötet haben; der Autor scheint zur Verurteilung eines der Hauptverantwortlichen, eines Oberleutnants, wesentlich beigetragen zu haben
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Nov: Revolta da Chibata (Revolte gegen die Peitsche), Meuterei von Matrosen in der Bucht von Guanabara aus Protest gegen barbarische Mißhandlungen; Anführer: João Cândido, wegen Hautfarbe und Führungsqualitäten »schwarzer Admiral« genannt; Kongreß und Regierung versprechen Erfüllung der Forderungen und Amnestie; baldiger Wortbruch der Regierung 1910 Dez.: Meuterei von Marinesoldaten auf der Ilha das Cobras (Schlangeninsel), die mit voriger Meuterei ursächlich nichts zu tun hat; Bombardierung und Erstürmung der Insel; ca. 600 Teilnehmer an dieser Meuterei sowie an Revolta da Chibata blutig bestraft, verbannt, vielfach ermordet; João Cândido überlebt, wird später in derselben Nervenheilanstalt eingesperrt wie Policarpo Quaresma, im Hospício National dos Alienados (heute Universitätsgebäude) gegenüber der Praia da Saudade (Sehnsuchtsstrand); nahe Praia Vermelha (Roter Strand), heute Gelände des Iate-Clube (Jachtklub) von Rio de Janeiro 1910 Notizen zum geplanten Roman Triste Fim de Policarpo Quaresma im Tagebuch Diário Íntimo, u.a. Geschichte vom Affen und vom Jaguar notiert 1911 Jan.–März: Niederschrift von Triste Fim de Policarpo Quaresma (Das traurige Ende des Policarpo Quaresma); veröffentlicht vom 11. 8. bis zum 19. 10. 1911 in der Tageszeitung Jornal do Commercio 1911 Lima Barreto wegen Krankheit vorübergehend beurlaubt 1912–1916 Vernichtungskrieg der Regierung gegen die messianische Bauernbewegung des Contestado (zwischen den Bundesländern Paraná und Santa Catarina) 1914 Internierung Lima Barretos wegen Halluzinationen und Verfolgungswahn in der bedeutendsten Nervenheilanstalt Brasiliens, im Hospício National dos Alienados, wohin er bereits seinen Helden Policarpo Quaresma geschickt hatte; heute gehört das stattliche Gebäude an der Avenida Pasteur (Botafogo/Urca) zur Universidade Federal do Rio de Janeiro; Ursache der Erkrankung: Alkoholismus; weitere Klinikaufenthalte 1916 und 1919 1915 in der Zeitung A Noite erscheint Numa e a Ninfa (» Numa und seine Nymphe«; eine Politikersatire) als Fortsetzungsroman 1915 Dezember: Triste Fim de Policarpo Quaresma, zusammen mit den Meistererzählungen O homern que sabia javanês (Der Mann, der java1910
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1916 1917 1917
1918 1918 1918 1918 1919
1919
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nisch konnte) und A nova California (Das neue Kalifornien) als Buch gedruckt, vom Autor selbst finanziert ab Februar: Policarpo Quaresma kommt in den Buchhandel, von der Kritik fast einhellig begrüßt wegen der Versenkung brasilianischer Schiffe durch deutsche UBoote tritt Brasilien an der Seite der Entente in den 1. Weltkrieg ein erster Generalstreik in São Paulo, ebenso wie frühere und spätere Streiks von Lima Barreto publizistisch unterstützt; seine Artikel werden immer polemischer Tod von Olavo Bilac L. B. unterstützt Russische Revolution; anarchosyndikalistische Sympathien L. B. aus gesundheitlichen Gründen pensioniert Nov.–Dez.: Aufenthalt in Hospital Central do Exército (Armeekrankenhaus) Febr.: Der Roman Vida e Morte de M. J. Gonzaga de Sáá (»Leben und Tod des Gonzaga de Sá«) vom Verleger Monteiro Lobato, einem progressiv-nationalistischen Schriftsteller und Kinderbuchautor in São Paulo veröffentlicht L. B. bewirbt sich zum 2. Mal um Sitz in der Academia Brasileira de Letras, erhält 2 Stimmen; offen unterstützt nur vom Historiker João Ribeiro Dez.: erneute Einweisung Lima Barretos in das Hospício National; darüber autobiographisches Romanfragment: O Cemitério dos vivos (»Der Friedhof der Lebenden«), 1921 teilweise in Revista Souza Cruz publiziert L. B. gibt seine Artikel und Erzählungen in Buchform heraus mehrere Fakultäten in Rio zur ersten Universität Brasiliens zusammengefaßt Brasilien hat ca. 30 Millionen Einwohner Vida e Motte de M. J. Gonzagade Sá erhält »menção honrosa« (ehrende Erwähnung) der Academia Brasileira de Letras Februar: »Woche der Modernen Kunst« in São Paulo, Beginn der avantgardistischen Bewegung des Modernismo; dessen Vertreter schätzen L. B. und lassen ihm durch Sérgio Buarque de Holanda die Zeitschrift Klaxon zukommen; L. B. aber lehnt den Modernismo wegen
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seiner angeblichen Nähe zum italienischen Futurismo ab Gründung der Kommunistischen Partei Brasiliens 5.7.: Revolte im Fort von Copacabana gegen den gewählten Präsidenten Artur Bernardes und gegen die Politik des café com leite (Absprachen zwischen den Oligarchien von São Paulo und Minas Gerais); Revolte Ausdruck des Tenentismo, der positivistisch inspirierten, antioligarchischen, autoritären, modernisierungsorientierten Leutnantsbewegung, die in florianistischer Tradition das olig-archische System der Alten Republik bekämpft 1922 7. September: Hundertjahrfeier der Unabhängigkeit 1. November: Tod Lima Barretos an Herzversagen; in der Todesstunde hält er einen Band der Revue des Deux Mondes in der Hand; zwei Tage später stirbt sein Vater; beide im damals vornehmen Botafogo bestattet, auf dem Friedhof São João Batista, wo zahlreiche Autoren, vor allem auch die »Unsterblichen« der Brasilianischen Akademie für Literatur, ihre letzte Ruhestätte fanden Veröffentlichung der gesammelten Werke: »Obras de Lima Barreto, organizadas sob a direção de Francisco de Assis Barbosa, com a colaboração de Antônio Houaiss e M. Cavalcânti Proença«, 17 Bände, São Paulo: Editora Brasiliense
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Glossar
Bemerkung zur Schreibung brasilianischer Wörter und Namen: Die Vokale i und u in der letzten Silbe eines Wortes werden im Portugiesischen stets betont gesprochen; um falsche Betonungen beim deutschen Leser zu vermeiden, wurden sie in vorliegendem Buch entgegen der modernen portugiesischbrasilianischen Rechtschreibung mit einem Akut versehen, zum Beispiel Curuzú (statt Curuzu) oder tupí (statt tupi). Abreu, João Capistrano de (1853–1927): brasilianischer Geschichtswissenschaftler; schrieb O Brasil no Século XVI (1880); Capítulos de história colonial (1907). Agassiz, Louis (1807–1873): nordamerikanischer Biologe, Geologe, Meeresforscher Schweizer Herkunft, der Expeditionen in Brasilien leitete; Gegner des Darwinismus; schrieb A Journey in Brazil by Prof and Mrs. Louis Agassiz (1868). Aires do Casal, Manuel (1754–1821): portugiesischer Pater, Autor einer umfassenden naturkundlichen Studie: Corografia brasílica, ou relacão históricogeográfica do reino do Brasil (»Landschaftsbeschreibung Brasiliens, oder historisch-geographischer Bericht über das Königreich Brasilien«) (1817). Alencar, José de (1829–1877): wichtigster Vertreter der brasilianischen Romantik, schrieb indianistische Romane über die Frühzeit Brasiliens als eine Art »Gründungsliteratur«: O Guaraní (1857), Iracema (1865), Ubirajara (1874). Anun (zool.): pl. anuns, lat. crotophaga ani; Familie der Kuckuckartigen; mittelgroßer Vogel, schwarz mit metallischem Glanz; Insekten- und Aasfresser. Aquidabã (geogr. + hist.): Nebenfluß des Paraguay, an dessen Ufer sich brasilianische und paraguayische Truppen 1870 das letzte Gefecht lieferten, wobei der paraguayische Präsident und Oberbefehlshaber Solano López fiel. Danach benanntes Kriegsschiff bei Marinerevolte 1893/94 gegen Regierung eingesetzt. Armitage, John (1807–1856): englischer Historiker und Geschäftsmann, der lange in Brasilien lebte; veröffentlichte The History of Brazil front the period of the arrival of the Braganza family in 1808 to the abdication of D. Pedro the first in 1831 (1836). Avinhado (zool.): auch curió; lat. oryzoborus angolensis; Familie der Finkenarti-
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gen; kleiner Singvogel mit dickem Schnabel und vollem Rumpf; Männchen buntgefiedert. Beijo-de-frade (bot.): lat. impatiens balsamine, Springkraut, Familie der Balsamartigen, Heilkraut und Zierpflanze mit roten, rosigen oder weißen Blüten; stammt aus Asien. Bem-te-ví (zool.): »Hab-dich-gesehen«; lat. saurophagus sulfuratus, Familie der Tyrannen (Schreivögel), grau-grün, mit roten Flügel- und Schwanzspitzen, ca. 20 cm groß. Benfica (geogr.): ärmliches Stadtviertel im Norden von Rio de Janeiro, unweit Halbinsel Ponta do Cajú. Bilac, Olavo (1865–1918): brasilianischer Dichter, Erzähler und Essayist; schrieb elegante, formvollendete, visuell suggestive Gedichte; wichtigster Vertreter des Parnasianismo; zugleich Autor patriotischer politischer Schriften. Bleiliane (bot.): wörtl. Übersetzung von port, cipó-chumbo; Familie lianenartiger Parasiten; lat. Cuscutaceae. Boi espácio (folkl.): Volksstück mit Musik aus Sertão um ein frei lebendes Rind, das sich dem Viehtreiber nicht ergibt, sondern in einen Abgrund stürzt, aber gerettet wird. Botafogo (geogr.): in der Bucht von Guanabara südlich von Flamengo gelegenes Stadtviertel von Rio, das im 19. und frühen 20. Jahrhundert als besonders vornehm galt. In B. liegt der Friedhof, wo Lima Barreto bestattet wurde. Bougainville, Louis-Antoine de (1729–1811): französischer Offizier und Seefahrer; leitete 1766–69 erste französische Erdumsegelung; entdeckte in Südsee mehrere Inseln; berührte Brasilien; schrieb Voyage autour du monde (1771), von Diderot kommentiert. Bumba-meu-boi (folkl.): Volksstück mit Musik und Tanz um ein Rind; viele Spielarten, z.B. mit einem Viehtreiber, der aus Not das Rind seines Gutsherrn schlachtet und mit Gefährten teilt, beinahe grausam bestraft, aber durch Wiederauferstehung des Rindes gerettet wird. caboclo: 1.) Mestize; 2.) Hinterwäldler. Caldas, Antônio Pereira de Souza (1762–1814): brasilianischer Jurist, Priester und Dichter; schrieb unter Einfluß von Rousseau Gedichte auf Natur und den natürlichen Menschen; von Inquisition des Deismus beschuldigt. Camisão, Carlos de Morais: brasilianischer Oberst im Paraguaykrieg; kommandierte Einmarsch nach Paraguay vom Bundesland Mato Grosso aus, um Asunción von Norden anzugreifen; nach Fehlschlag führte er seine Truppen
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zurück, wobei er selbst ebenso wie sein Oberstleutnant Jovêncio de Meneses an Cholera starb; Rückmarsch von einem der überlebenden Teilnehmer, dem Offizier und Schriftsteller Alfredo d’Escragnolles Taunay, literarisch dargestellt, mit Anklängen an Anabasis von Xenophon (über den »Zug der Zehntausend«); wahrscheinlich spielt Romanfigur General Albernaz im Policarpo Quaresma auf diese Offiziere (Camisão und Juvêncio) an, obwohl beide vor Ende des Krieges fielen; Venâncio vermutlich für Jovêncio. Carapeba (zool.): platter, schmackhafter Fisch, 30 cm lang. Cardim, Fernão (1540–1625): Jesuitenpater aus Portugal, kam 1583 nach Brasilien; seine Chroniken erschienen zuerst 1625 in englischer Sprache; erst 1939 unter dem Titel Tratados da Terra e Gente do Brasil (»Abhandlungen über Land und Leute von Brasilien«) vollständig auf portugiesisch erschienen. Caxias, Duque de (1803–1880): bürgerlich Luis Alves de Lima da Silva, Herzog von Caxias, brasilianischer Militär und Politiker; Chef kaiserlicher Kabinette; im Tripel-Allianz-Krieg gegen Paraguay 1868–69 Oberbefehlshaber der verbündeten Truppen; Schirmherr des brasilianischen Heeres mit eigenem Mausoleum auf der Avenida Presidente Vargas in Rio de Janeiro; caxias bis heute Synonom für einen strengen, pflichtbewußten, autoritären Menschen. Correia, Raimundo (1859–1911): Jurist, Diplomat, Dichter des Parnasianismo; siehe Bilac. Chramne, lat. Chramnus, Sohn des fränkischen Merowingerkönigs Clothar I. (497–561); lehnte sich gegen Vater auf, der ihn mitsamt seiner Familie grausam hinrichten ließ. Constant, Benjamin (1833–1891): eigentlicht B. C. Botelho de Magalhães; Militär, Teilnehmer am Paraguaykrieg, Mathematiker, Bildungspolitiker, Dozent an Offiziersakademie in Rio de Janeiro, Positivist, Vorkämpfer für Abschaffung der Sklaverei, geistiger Wegbereiter der Republik; Urheber der positivistischen Devise Ordem e Progresso (»Ordnung und Fortschritt«) auf brasilianischer Staatsflagge; Minister 1889–91. Curupaití (geogr. + hist.): span. Curupaytí; vorgelagertes Bollwerk des Festungskomplexes von Humaiti am Rio Paraguay; nach der Einnahme von Curuzú 1866 Angriff der Dreier-Allianz auf C. unter Führung von Mitre gescheitert. Curuzú (geogr. + hist.): Außenwerk der Festung Humaitá, 8 km südlich davon am Rio Paraguay gelegen; im September 1866 von brasilianischen Truppen unter Führung des Barão de Porto Alegre vom Land und vom Fluß aus er-
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obert. Custódio: siehe Melo, Custódio José de Cutia (zool.): lat. dasyprocta aguti; Aguti; kaninchengroßes Nagetier; nachtaktiv, pflanzenfressend, in Wäldern lebend. Deodoro: siehe Fonseca Durão, José de Santa Rita (1720–1784): Dichter aus Minas Gerais in Brasilien, Augustinerpater, Theologieprofessor; ging nach Portugal; im Epos Caramurú (1781) erstmals Liebesgeschichte zwischen portugiesischem Siedler und Indianerin. Erva-de-passarinho (bot.): lat. struthantus flexicalis; wörtlich »Vögelchenkraut«; mistelartiges Heilkraut auf Obstbäumen, trägt kleine Früchte, die Vögeln als Nahrung dienen. Eschwege, Wilhelm Ludwig von (1777–1855): deutsch-brasilianischer Geologe, Bergbau- und Hütteningenieur; gilt als Begründer der brasilianischen Schwerindustrie; schrieb Beiträge zur Gebirgskunde Brasiliens, 1832. Esquirol, Jean-Etienne Dominique (1772–1840): französischer Nervenarzt, der eine Heilanstalt mit Modellcharakter einrichtete. Floriano: siehe Peixoto. Fonseca, Manuel Deodoro da (1827–1892): meist genannt Marechal Deodoro, brasilianischer Marschall, provisorischer Regierungschef nach Ausrufung der Republik 1889; erster brasilianischer Staatspräsident (1890–91); von Floriano Peixoto gestürzt. Fouquier-Tinville, Antoine Quentin (1747–1795): radikaler Jakobiner in der Französischen Revolution; skrupelloser Ankläger beim Revolutionstribunal 1793–94; ließ Girondisten, Danton und Robespierre hinrichten; später selbst guillotiniert. Freycinet, Louis Claude de (1799–1842): französischer Forschungsreisender, berührte auf Reisen zur Südsee Brasilien; veröffentlichte Reiseberichte und Atlanten. Fustel de Coulanges, Numa Denis (1830–1889): französischer Historiker; schrieb Werke über Staatsrecht Frankreichs und der Antike, z.B. La cité antique (1864) (»Die antike Stadt«). Gama, José Basílio da (1741–1795): brasilianischer Dichter, dessen Epos O Uraguai (1769) die Indianer mit Sympathie darstellte, allerdings ihren Untergang hinnahm; antijesuitisch. Gândavo, Pero de Magalhães de (?–nach 1576): portugiesischer Chronist; Tratado
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da Terra do Brasil (»Abhandlung über Brasilien«) und História da Província de Santa Cruz que vulgarmente cha-mamos Brasil (»Geschichte der Provinz vom Heiligen Kreuz, die wir gewöhnlich Brasilien nennen«) fast enzyklopädische landeskundliche Darstellungen; erst im 19. Jahrhundert publiziert. Gomes Carneiro, Antônio Ernesto, (1846–1894): brasilianischer General, der sich im Paraguaykrieg (1865–70) sowie 1894 durch Verteidigung von Lapa (Bundesland Paraná) gegen die von Süden anrückenden Föderalisten hervortat. Gonçalves Dias, Antônio (1823–1864): brasilianischer romantischer und indianistischer Lyriker; Jurist; verfaßte ethnologische Studien, z.B. das TupíWörterbuch Dicionário da Lingua Tupí, cha-mada Língua Geral dos Indígenas do Brasil (1846); gründete die Zeitschrift Guanabara. Gouverneursinsel: siehe Ilha do Governador Gragoatá (geogr.): Landzunge in der Bucht von Guanabara, bei Niterói gegenüber von Rio de Janeiro. Guanabara, Bucht von: (geogr.) Bucht oder Bai von Rio de Janeiro; auch Name eines Kriegsschiffes der Aufständischen bei Marinerevolte (1893–1894). Guando (bot.): lat. Cajanus cajan, angolanische Erbse, Straucherbse, Taubenerbse Guarda Nacional (hist.): 1831 ins Leben gerufene Miliz, die die innere Ordnung garantieren, die Gemeinden überwachen und die Macht der Zentralregierung sichern sollte; zur Aufstandsbekämpfung und auch im Paraguaykrieg eingesetzt; Einschreibung bemittelten Bürgern vorbehalten; lokale Machthaber wurden zu Obersten der G. N. ernannt; daher mächtige Großgrundbesitzer im Hinterland bis in jüngere Vergangenheit verallgemeinernd als coronéis (Obersten) und ihre Herrschaft als coronelismo bezeichnet; G. N. verlor mit Republik an Einfluß, 1918 aufgelöst. Guaximba (bot.): urena lobata; strauchartiges Gewächs, dessen Fasern in der Textilindustrie verwendet werden. Handelmann, Heinrich (1827–1891): deutscher Historiker, Professor an der Universität Kiel; schrieb Bücher über die USA, Haiti und Brasilien; seine Geschichte von Brasilien (1860) noch heute wichtig, obwohl er nie dort war. Heinrich IV. (1553–1610): König von Frankreich (1598–1610), Wegbereiter des absolutistischen Staats; beendete Religionskriege durch Edikt von Nantes 1598; sorgte für Sanierung der Staatsfinanzen und Besserstellung der bäuerlichen Bevölkerung.
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Historisch-Geographisches Institut (hist.): Institute Histórico e Geográfico Brasileiro (IHGB); 1838 als halbstaatliche Einrichtung gegründet mit dem Ziel, Forschungen zur Vertiefung des nationalen Selbstverständnisses und Begründung einer Nationalkultur zu veranlassen und zu fördern; Schirmherr später Kaiser Pedro II.; Zeitschrift des Instituts von großem Einfluß auf Geistesleben im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Humaitá (geog. + hist.): gewaltige paraguayische Festung am linken Ufer des Rio Paraguay, 42 km oberhalb Mündung in den Rio Paraná; verzögerte mehr als 2 Jahre lang Vordringen der Truppen der Dreier-Allianz (Argentinien/Brasilien/Uruguay) nordwärts in Richtung Asunción; nach Niederlage der Verbündeten vor Curupaití ging Oberkommando auf den brasilianischen Marschall Caxias über; dank seiner Strategie gelang brasilianischem Schiffskonvoi 1868 Durchbruch stromaufwärts an Festung vorbei, die berühmte Passagem de Humaitá; H. erst im August 1868 endgültig eingenommen; Kämpfe um H. Mythos der brasilianischen Geschichte. Ilha das Cobras (geogr. + hist.): wörtlich »Schlangeninsel«; Insel in Bucht von Guanabara, heute mit Landverbindung zum Festland; etwa in Höhe der Ilha Fiscal (»Zollinsel«) nahe Cais Pharoux (Kai Ph.) und heutigem Platz Praça XV; Festung früher oft als Gefängnis benutzt. Ilha das Enxadas (geogr.): Insel in Bucht von Guanabara, nördlich der Ilha das Cobras, im 19. Jahrhundert Sitz der Marineschule; Herkunft des Namens unklar, vermutlich von Fischart. Ilha dos Ferreiros (geogr.): wörtlich »Insel der Schmiede«; in Bucht von Guanabara nahe Landzunge von Cajú; Leuchtturm. 2 Ilha do Governador (geogr.): wörtlich: »Gouverneursinsel«; größte Insel (31 km ) der Bucht von Guanabara; heute dort Internationaler Flughafen von Rio mit Zufahrt vom Festland. Inúbia (folk.): Kriegstrompete der Indianer. Jaqueira: (bot.): lat. Artocarpus heterophyllus, Jackbaum, indischer Brotfruchtbaum. Jambo: (bot.): lat. Syzygium jambos, Jambuse, Rosenapfel. João VI. (1769–1826): meist: Dom João VI., Thronfolger und später König von Portugal, der 1808 auf Flucht vor napoleonischen Truppen mit Familie ins Vizekönigreich Brasilien übersiedelte; übergab 1821 Regierung Brasiliens an Sohn Pedro (der 1822 brasilianischer Kaiser wurde) und kehrte nach Portugal zurück.
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Kock, Paul de (1794–1871): französischer Schriftsteller niederländischer Herkunft, der in zahlreichen populären Unterhaltungsromanen, Vaudevilles und Chansons auf amüsante Weise die Welt des Kleinbürgertums schildert. La Bruyere, Jean de (1645–1696): französischer Schriftsteller und Moralist; sein Hauptwerk Les Caractères ou les Moeurs de ce siècle (1688) nach Vorbild des griechischen Philosophen Theophrast bietet kritisches Sittenbild vom Zeitalter Ludwigs XIV.; im Aphorismus 128 des Abschnitts »De l’homme« (»Vom Menschen«) ist von Tieren mit artikulierter Stimme und menschlichem Antlitz die Rede, die den ganzen Tag in der Erde wühlen, nachts sich in Höhlen verkriechen, sich von schwarzem Brot und Wurzeln ernähren und so andern Menschen die Mühsal der Feldarbeit ersparen, weshalb ihnen das Brot nicht fehlen sollte, das sie selbst erzeugen. Lapa (geogr. + hist.): Kleinstadt im Bundesland Paraná; siehe Gomes Carneiro. Largo do Paço (geogr.): früherer Name des heutigen Platzes Praca XV (Praca Quinze), zwischen Paço Imperial (Kaiserpalast) und Anlegestelle der Fähren nach Niterói. Lery, Jean de (1534–1611): hugenottischer Geistlicher, der 1556–57 an einem Siedlungsprojekt unter Nicolas Villegaignon in Rio de Janeiro teilnahm; seine Histoire d’un voyagefakt en 1a terre du Brésil (1578) wichtige ethnohistorische Quelle. Lomas Valentinas (hist.): Verschanzungen südlich von Asunción; von Verbündeten im Paraguaykrieg unter Caxias vom 21.–27.12. 1868 erobert. Macedo, Joaquim Manuel de (1820–1882): brasilianischer Schriftsteller und Journalist; Vorsitzender des Historisch-Geographischen Instituts; Landtagsabgeordneter von Rio de Janeiro; erfolgreicher Roman: A Moreninha (1844) (»Die kleine Brünette«). Magalhães, Fernão de (1480–1521): engl. und deutsch Magellan; portugiesicher Seefahrer, unternahm in spanischen Diensten die erste Weltumsegelung, die nach seinem Tod auf den Philippinen von seinen Gefährten vollendet wurde; Bericht darüber vom mitreisenden Italiener Antônio Pigafetta. Magalhães, José Couto de (1837–1898): brasilianischer Jurist, Offizier, Geschichtsschreiber, Politiker, Anthropologe, Forschungsreisender in Goiás, Pará und Mato Grosso; kurzzeitig unter Diktatur Floriano Peixotos inhaftiert; sein Buch O Seivagem (1876) (»Der Wilde«) eine der ersten von einem Brasilianer verfaßten wissenschaftlichen Abhandlungen über die Indianer. Mage (geogr.): Kleinstadt und Munizip am nördlichen Rand der Bucht von
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Guanabara im Bundesland Rio de Janeiro; auch Name eines brasilianischen Kanonenbootes, das im Paraguaykrieg eingesetzt wurde; M. vielleicht reales Vorbild für das fiktionale Curuzú, wo im Roman der Musterhof Policarpo Quaresmas liegt und dessen Name ebenfalls auf den Paraguaykrieg verweist. Manacä (bot.): lat. brunfelsia hopeana; Zierstrauch; Nachtschattengewächs mit großen, weißen bis blauen Blüten; duftet nach Jasmin; offizinal. Maracá (folkl.): Rassel der Indianer; aus Kürbis, Palmnuß oder anderen Früchten. Martius, Karl Friedrich Philipp (1794–1868): deutscher Botaniker, Naturforscher und Ethnograph; bereiste mit dem Zoologen Spix 1817–20 Brasilien, mit dem er den Bericht Reise in Brasilien (1824–31) verfaßte; gewann 1844 Preisausschreiben des Historisch-Geographischen Instituts mit dem Essay Wie man die Geschichte Brasiliens schreiben soll. Matos, Gregório de (1633–1696): größter brasilianischer Barockdichter; schrieb überwiegend satirische Verse, die ihm Verbannung nach Angola eintrugen. Mawe, John (1764–1829): englischer Naturforscher, bereiste 1807–10 u. a. Minas Gerais. Meireles, Vítor (1832–1903): andere Schreibung: Victor Meirelles; brasilianischer Maler, während Paraguaykrieg von Regierung als Schlachtenmaler verpflichtet; berühmte Gemälde sind Combate do Riachuelo und Passagem de Humaitá. Melo, Custódio José de (1840–1902): neben Saldanha da Gama einer der beiden Admiräle, welche die Revolta da Armada (Flottenaufstand) anführten; monarchistisch eingestellt. Melo Moraes, Alexandre José de (1816–1882): andere Schreibung Morais; brasilianischer Arzt und Historiker; schrieb O Brasil Historico (1864) und A Independência do Brasil (1877). Sein gleichnamiger Sohn war hurrapatriotischer Dichter. Mitre, Bartolomé (1821–1906): argentinischer General; 1862–1868 Staatspräsident von Argentinien; 1865–68 im Paraguaykrieg Oberbefehlshaber der Truppen der Dreierallianz, nach brasilianischer Darstellung wenig erfolgreich; 1868 vom brasilianischen Marschall Duque de Caxias abgelöst. Modinha (folkl.): im 18. und frühen 19. Jahrhundert arienähnliches Kunstlied; später gefühlvolles Volkslied mit Gitarrenbegleitung. Montoya, Antônio Ruiz de (um 1584–1652): aus Peru stammender Jesuitenmissionar; gründete im Konflikt mit den bandeirantes (Goldsucher und Sklaven-
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jäger) im heutigen Dreiländereck Brasilien/Paraguay/Argentinien die Missionen Loreto und San Ignacio Miní; Verfasser eines Wörterbuchs TupíSpanisch: Arte de la lengua guaraní ó más bien tupí (1639). Munjolo: Hülsenfrüchte tragender Baum, auch manjolo genannt. Neuwied, Maximilian Prinz zu (1782–1867): auch Wied-Neuwied; deutscher Forschungsreisender; schrieb Reise nach Brasilien in den Jahren 1815 bis 1817 (1820). Nóbrega, Manuel da (1517–1570): genannt Padre Nóbrega (Pater N.), portugiesischer Jesuit, versuchte als Missionar in Brasilien Indianer gegen Sklavenjäger und Kolonisatoren zu schützen; gründete São Paulo; schrieb Diálogo sobre a Conversão do Gentio (»Dialog über die Bekehrung der Heiden« (1558). Ochsenzunge (bot.): port, língua-de-vaca; Name sehr verschiedener rauhblättriger Heilpflanzen Palma-de-santa-rita (bot.): lat. gladiolus communis, Art Gladiole; stammt aus Europa. Papa-capim (zool.): Familie der Finkenartigen, kleiner Singvogel. Passeio Público: wörtlich: »öffentliche Promenade«; 1783 im Auftrag des Vizekönigs Luis de Vasconcelos vom Baumeister und Bildhauer Valentim da Fonseca e Silva angelegter Park in Rio, nahe Lapa, damals am Ufer der Bucht von Guanabara gelegen. Pedro II. (1825–1891): von 1840 bis zur Ausrufung der Republik 1889 Kaiser von Brasilien; studierte eifrig das Tupí. Peixoto, Floriano (1841–1895): meist Marechal Floriano genannt; Marschall des Kaiserreichs; Teilnehmer des Paraguaykriegs; Vizepräsident von Deodoro da Fonseca, den er nach einer Verschwörung im November 1891 ablöste; formal bis zum Ende seiner Amtszeit im November 1894 Vizepräsident; während Marinerevolte bei Rio de Janeiro und Föderalistenaufstand in Südbrasilien kam es unter ihm zu Zensur, Willkür und Terror. Pereira da Silva, João Manuel (1817–1898): brasilianischer Historiker, schrieb Plutarco Brasileiro (»Brasilianischer Plutarch«) (1847), schwärmerische Kurzbiographien großer Brasilianer. Petrópolis (geogr. + hist.): Munizip und Stadt im Bundesland Rio de Janeiro, etwa 70 km von der Stadt Rio de Janeiro entfernt; 800 m hoch im EstrelaGebirge gelegen; 1845 von deutschen Einwanderern gegründet; Luftkurort und Sommersitz des Kaisers sowie der gehobenen Gesellschaft von Rio; der Palácio do Imperador (Kaiserpalast) heute Museum; in P. starb 1943 Stefan
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Zweig. Pinel, Philippe (1745–1826): französischer Nervenarzt; der Volksmund von Rio versteht unter P. die Irrenanstalt in Botafogo/Urea; pinel auch synonym für »verrückte Person«. Pita, Sebastião da Rocha (1660–1738): Dichter, Jurist, Geschichtsschreiber, Gutsbesitzer in Bahia; schrieb História da América Portuguesa (1730); trotz des hyperbolischen, schwülstigen Barockstils, der an Góngora erinnert, wichtige Geschichtsquelle. Ponta do Cajú (geogr.): Landzunge in Bucht von Guanabara nördlich des Hafens von Rio de Janeiro; dort früher kaiserlicher Park; heute führt die Brücke nach Niterói über die P. d. C. Porto Alegre, Barão de (1805–1875): bürgerlich Manoel Marques de Sousa; brasilianischer General im Paraguaykrieg; nicht zu verwechseln mit dem Maler und Dichter Manuel de Araújo Porto Alegre (1806–1879). Prytaneion (hist.): Gemeindehaus; Heimstätte des staatlichen Herdfeuers im alten Griechenland. Quaresma (bot.): lat. tibouchina granulosa, Zierstrauch; Schwarzmundgewächs mit großen violetten Blüten. Rautengewächs (bot.): arruda, lat. ruta graveolens; hat im Volksglauben zauberbannende Wirkung. Rio Branco, Visconde do (1819–1878): reformorientierter kaiserlicher Politiker, Kabinettchef 1871–75; setzte 1871 das »Gesetz des freien Bauches« durch, die Befreiung aller neugeborenen Kinder von Sklavinnen; Exponent im Kirchenkampf mit dem Vatikan; heute bekannter ist sein Sohn Barão do Rio Branco (1845–1912), 1902–1912 brasilianischer Außenminister. Rua do Ouvidor (geogr.): im 19. Jahrhundert elegante Geschäftsstraße im Zentrum von Rio de Janeiro; Sitz von Buchhandlungen und Zeitungen. Rua Larga (geogr.): heute Rua Floriano Peixoto in Rio de Janeiro; der dort gelegene Itamaraty-Palast bis 1897 Amtssitz des Präsidenten, später des Außenministers. Saint-Hilaire, Augustin de (1779–1853): französischer Naturforscher; bereiste 1816–22 Brasilien; schrieb Voyages dans l’intérieur du Brésil (1830) (»Reisen im Innern Brasiliens«). Saldanha da Gama, Luís Filipe (1846–1895): brasilianischer Admiral, neben Custódio de Melo Anführer des Flottenaufstands von 1893–94, mehr oder weniger monarchistisch eingestellt.
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Salvador, Frei Vicente do (1567-ca. 1636): Franziskaner und Chronist aus Bahia; schrieb 1627 História do Brasil, erst 1889 veröffentlicht. Sambaqui (hist.): Aufschüttung aus Muscheln, Küchenresten, Tierskeletten; stammt von prähistorischen Indianerkulturen in Küstengegenden Brasiliens; häufige archäologische Fundstätte. Sangrado, Doktor (lit.): ein ständig zur Ader lassender Arzt im Schelmenroman Gil Blas de Santillane (1715–35) des französischen Schriftstellers Lesage (1668–1747). Sanhaço (zool.): auch sanhaçú; Familie der Tangaren; buntgefiederter Singvogel, der vorwiegend in Palmenwäldern lebt. Santa Cruz: (geogr. + hist.): Landzunge mit strategisch wichtiger Festung im Munizip Niterói an der Einfahrt in die Bucht von Guanabara gegenüber Zuckerhut; am 19./20. 1. 1892 dort Meuterei gegen Regierung Floriano Peixoto zugunsten seines Amtsvorgängers Deodoro da Fonseca; am 6. 9. 1893 Beginn der Marinerevolte in Festung; von dort nach Einnahme durch Regierungstruppen Schiffe der Aufständischen beschossen, meist vergeblich. S. C. auch kaiserliches Landhaus im Westen von Rio; später dort Schlachthof. Terra da S. C. frühester Name Brasiliens. São Januário (geogr.): Teil des nördlichen Vorortes São Cristóvão von Rio de Janeiro, zwischen Ponta do Cajú und Saude gelegen; in São Cristóvão kaiserlicher Park Quinta da Boa Vista. Sapucaia (geogr.): Ilha da Sapucaia, Insel in Bucht von Guanabara nördlich der Landspitze Ponta do Cajú; früher Müllhalde von Rio de Janeiro. Sauce: (geogr. + hist.): die Schanzen von S. in Paraguay am 16. 7. 1866 von den Brasilianern unter Flores erstürmt. Saude (geogr.): (wörtlich: »Gesundheit«); Hügel und Stadtviertel von Rio de Janeiro, an Bucht von Guanabara südlich von Gamboa gelegen, nahe Insel Ilha de Santa Barbara. Schlund (geog.): portug. Boqueirão (»großer Mund«, »Schlund« oder »Schlucht«), gemeint ist Insel Ilha do Boqueirão, im 19. Jahrhundert Munitionsdepot der Marine, wo nach Niederschlagung des Flottenaufstands im März 1894 gefangene Matrosen von Regierungstruppen erschossen wurden. Auch im Paraguaykrieg gab es diesen Ortsnamen: die Schanzen von Boqueirão do Sauce, die am 16. 7. 1866 von den Brasilianern genommen wurden. Schmiedeinsel: siehe Ilha dos Ferreiros. Silvina: auch erva silvina; lat. polypodium vaccinifolium, Heilkraut aus der
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Abteilung der Farne; wächst strauchartig an Baumstämmen. Soares de Sousa, Gabriel (1540–1592): portugiesischer Gutsbesitzer und Chronist in Bahia, schrieb 1587 Tratado descritivo do Brasil (»Beschreibende Abhandlung über Brasilien«), Verherrlichung der Naturreichtümer des Landes; in jüngster Zeit Echtheit dieses 1851 von Varnhagen publizierten Textes angezweifelt. Southey, Robert (1774–1843): englischer Dichter der Romantik und historischer Schriftsteller; schrieb dreibändige History of Brazil (1810–19), ohne je in Brasilien gewesen zu sein. Staden, Hans (1525–1579): deutscher Landsknecht; 1548 und 1550–54 in Brasilien, vor allem im Raum des heutigen Rio und São Paulo; 10 Monate in Gefangenschaft bei den Tupinambá; sein Bericht Wahrhaftig’ Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden / Nacketen / Grimmigen Menschfresser Leuthen / in der Newen welt America gelegen (1557) wichtige ethno-historische Quelle; seine Behauptungen über die kannibalischen Tischsitten brasilianischer Indianer von einigen Forschern angezweifelt. Steinen, Karl von den (1855–1929): deutscher Ethnologe und Arzt; unternahm zwei geographisch-ethnologische Forschungsreisen in das Amazonasgebiet, vor allem in das Gebiet des Xingú; schrieb Durch Central-Brasilien (1886). Sully, Maximilien de Bethune (1560–1641): französischer Staatsmann, Hugenotte; reformierte als Minister und Freund König Heinrichs IV. Steuer- und Zollwesen, förderte Gewerbe und Landwirtschaft, ließ Straßen und Wasserwege ausbauen. Teixeira, Bento (ca. 1561–1600): neben José de Anquieta einer der frühesten brasilianischen Schriftsteller; als Neuchrist von Inquisition verfolgt; schrieb nach Vorbild der Lusiaden von Camões das Epos Prosopopéia (1601) (»Prosopopöie«), das Landnahme Brasiliens sowie Gegend von Recife verherrlicht. Tiê (zool.): auch tié; lat. rhamphocoellus jacapa; Familie der Tangaren (südamerikanische Finkenvögel); früchtefressender Singvogel von überwiegend schwarz-roter Farbe. Tinguaciba (bot.): auch limãozinho; lat. zantoxyllum tinguaciba; strauchartiges Gewächs mit Zitronengeruch. Turgot, Robert Jacques (1727–1781): französischer Jurist und Ökonom; setzte sich 1774–76 als Minister Ludwigs XVI. für liberale Wirtschaftsreformen ein: Abschaffung der Binnenzölle, der Frondienste und des Zunftzwangs; plante umfassende Steuer- und Verwaltungsreformen mit Stärkung kom-
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munaler Selbstverwaltung; scheiterte an Uneinsichtigkeit des Adels. Valentim, Meister (?–1813): Valentim da Fonseca e Silva, genannt Mestre Valentim, brasilianischer Bildhauer, bekannt vor allem durch den Brunnen auf Platz Praca XV sowie durch Anlage des Passeio Público in Rio de Janeiro. Varnhagen, Francisco Adolfo de (1816–1878): Adelsname Visconde de Porto Seguro; Diplomat; Begründer der brasilianischen Geschichtswissenschaft; Mitglied des Historisch-Geographischen Instituts; verfaßte História geral do Brasil (1854) (»Allgemeine Geschichte Brasiliens«); gab historische und literarische Quellentexte heraus; forderte in Denkschrift die Gebildeten auf, die Eingeborenensprachen zu erlernen, vor allem tupí. Vasconcelos, Luis de: Vizekönig von Brasilien 1779–1790; zu seinem Garten siehe Passeio Público. Vieira, Antônio (1608–1697): meist genannt Padre Vieira (Pater V.), Jesuit, Missionar, Diplomat; in Portugal geboren, in Bahia aufgewachsen und verstorben; versuchte Indianer gegen Versklavung und Vertreibung zu schützen; berühmtester Prediger portugiesischer Sprache; barocker Schriftsteller und Briefautor. Villegagnon (geogr. + hist.): Insel in Bucht von Guanabara, in Höhe des Stadtteils Gloria; 1555–67 von Franzosen unter Nicolas Durand de Villegaignon besiedelt und befestigt; heute dort Marineschule; während Marinerevolte 1893/1994 umkämpft. Zeugamt: Arsenal de Guerra, Heereswaffenamt am Ufer der Bucht von Guanabara nahe Zentrum von Rio de Janeiro gelegen; heute Museo Histórico Nacional.
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Nachwort Das Vaterland zwischen Parodie, Utopie und Melancholie
Marginalität und Kanonisierung Im Jahre 1919 bewirbt sich der Schriftsteller Afonso Henriques de Lima Barreto aus Rio de Janeiro, 38jährig, zum zweiten Mal um einen Sitz in der angesehensten Kulturinstitution seines Landes, der Academia Brasileira de Letras, der gut zwei Jahrzehnte zuvor nach dem Vorbild der Académie Française gegründeten Brasilianischen Akademie für Literatur. Mehrere seiner Prosatexte, allen voran der Roman Das traurige Ende des Policarpo Quaresma haben den Beifall bedeutender Kritiker gefunden, so daß am literarischen Rang des Kandidaten kein Zweifel besteht. Als die Akademie sich dennoch ein weiteres Mal gegen Lima Barreto entscheidet, ist dies eine der vielen Enttäuschungen seines Lebens, die jedoch keineswegs überraschend kommt. Bewerbung und Ablehnung werfen ein Schlaglicht auf das widersprüchliche Verhältnis des Autors zum Kulturbetrieb, der ihn trotz seiner künstlerischen Erfolge auf institutioneller Distanz hielt und von dem er seinerseits, wie sehr er ihn auch parodierte und verspottete, anerkannt werden wollte. Dies vor allem deshalb, weil er die Statuten und Zielsetzungen kultureller Einrichtungen beim Wort nahm und somit höher achtete als deren Mitglieder selbst es oftmals taten. Er war so optimistisch, so unzynisch, vielleicht so naiv zu glauben, eine Akademie für Literatur solle tatsächlich in erster Linie das literarische Leben fördern, solle sich aus Literaten zusammensetzen und neue Mitglieder nach literarischen Verdiensten wählen. Institutionen und Menschen maß er an ihren eigenen Ansprüchen, eine Betrachtungsweise, die den Moralisten mit dem Satiriker verbindet. Ebendie repräsentative, beinahe staatstragende Rolle, die er der Akademie zum Vorwurf machte, hinderte ihre Mitglieder, einen noch relativ jungen Kollegen zuzulassen, der in Auftreten, Gesinnung und Stil so gar nicht der von einem Schriftsteller erwarteten Reputierlichkeit entsprach. Seinem starken Wunsch, die eigene literarische Begabung für den gesellschaftlichen Aufstieg zu nutzen, standen in Lima Barreto seine noch stärkere Redlichkeit und Unbestechlichkeit
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entgegen, ein Dilemma, das er in seinem ersten Roman Recordações do escrivão Isaías Caminha (»Erinnerungen des Schreibers Isaías Caminha«, 1909) gestaltet hat. In seinem Stolz auf seine bescheidene Herkunft, auf seine Großeltern, die noch Sklaven gewesen waren, im Bestreben, die »Kümmernisse und Träume des Volkes« zum Ausdruck zu bringen, ließ unser Autor, der sein Leben und Werk als »immerwährenden Protest gegen alles Unrecht« verstand, kaum eine Gelegenheit aus, gesellschaftliche Mißstände zu geißeln und die dafür Verantwortlichen lächerlich zu machen, um radikale Wahrhaftigkeit mitunter mehr bemüht als um allerletzte Ausgefeiltheit der Sprache und Komposition. Wer heute eine Buchhandlung betritt und nach Werken eines der damaligen Akademiemitglieder fragt, wird auf ratlose Verkäufer stoßen, denn die meisten derjenigen, die im Jahre 1919 unsern Autor für unwürdig hielten, ihrem erlauchten Zirkel anzugehören, sind, sofern sie überhaupt je Schriftsteller und nicht mehr oder weniger schöngeistig angehauchte Politiker, Pressezaren oder Generäle waren, literarisch längst mausetot. Bücher des einstigen Querschreibers Lima Barreto und Anthologien mit seinen Erzählungen dagegen findet man in jeder Buchhandlung und jeder Bibliothek, allen voran Das traurige Ende des Policarpo Quaresma. Dieser Roman gehört seit Jahrzehnten, weit über die Belletristik hinaus, zum Kanon jener Grund- und Hauptbücher Brasiliens, die für das Selbstverständnis der Nation unentbehrlich sind, und wird unter diesem Aspekt in einem Atemzug genannt mit Werken wie Der Guaraní von José de Alencar (1857), Die nachträglichen Memoiren des Brás Cubas von Machado de Assis (1880), Krieg im Sertão von Euclides da Cunha (1902), Macunaíma von Mário de Andrade (1928), Herrenhaus und Sklavenhütte von Gilberto Freyre (1933), Die Wurzeln Brasiliens von Sérgio Buarque de Holanda (1936), Karges Leben von Graciliano Ramos (1938), Grande Sertão von Guimarães Rosa (1956). Policarpo Quaresma ist Schullektüre, Vorlage für ein Theaterstück, Gegenstand einer unübersehbaren Fülle feuilletonistischer und wissenschaftlicher Sekundärliteratur, Bestandteil so bedeutender Buchreihen wie der Biblioteca Ayacucho, einer Sammlung mustergültig kommentierter Schlüsselwerke der lateinamerikanischen Literaturen, und der Colección Archivos der UNESCO. Die deutsche Ausgabe des Policarpo Quaresma verlängert die Liste der Übersetzungen in zahlreiche Sprachen der Welt. Im Jahre 1998 kam der Roman in einer sehenswerten, wenngleich sehr eigenwilligen Bearbeitung durch den brasilianischen Regisseur Paulo Thiago ins Kino: Policarpo Quaresma – herói do Brasil (»Policarpo Quaresma – Held Brasiliens«), schon im Titel eine kontrapunktische Anknüpfung an den erwähnten
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modernistischen Roman Macunaíma – O herói sem nenhum caráter (Macunaíma – der Held ohne jeden Charakter) von Mário de Andrade aus dem Jahre 1928, den Joaquim Pedro de Andrade im Zeichen des Tropicalismo Ende der 60er Jahre verfilmte. Vergleicht man die beiden komischen Hauptfiguren, so erscheint Policarpo im Gegensatz zum schlawinerhaften Macunaíma als ein Held mit zuviel Charakter – in einer Gesellschaft ohne jeden Charakter. Vor allem dank Triste Fim de Policarpo Quaresma zählt Lima Barreto zu jenen Autoren, die im Jahre 2000 aus Anlaß des 500-Jahr-Gedenkens an die sogenannte Entdeckung Brasiliens durch den portugiesischen Seefahrer Cabral als Wiederentdecker ihres Landes diskutiert und gefeiert wurden. Brasilien – seine Geschichte, seine Kultur, seine Mißstände und die Möglichkeiten ihrer Behebung – ist in der Tat das zentrale Thema des Romans, das hauptsächliche Anliegen seines Helden, die beherrschende Sorge des Autors. Ja, mit der lächerlichsympathischen Figur des Policarpo und der ironischen Brechung seiner Suche nach dem wahren Vaterland hat Lima Barreto die Erkundung Brasiliens ihrerseits kritisch erkundet und damit eine nationale Selbstreflexion auf höherer Stufe angeregt.
Ein Literatenleben im Rio de Janeiro der Belle Epoque Afonso Henriques de Lima Barretos Lebensumstände fordern zum Vergleich mit denen Machado de Assis’ (1839–1908) heraus, des anderthalb Generationen zuvor geborenen Doyens der brasilianischen Prosaautoren; wie dieser war er Mulatte und stammte aus den gehobenen Unterschichten von Rio de Janeiro, die teils der Facharbeiterschaft, teils dem unteren Kleinbürgertum zuzuordnen sind; wie dieser wurde er zum Chronisten seiner Vaterstadt, die bis 1960 Hauptstadt Brasiliens war; wie dieser war er psychisch gefährdet und beschäftigte sich wiederholt mit der fließenden Grenze zwischen Wahn und Vernunft; ähnlich wie dieser erfreute er sich, jedenfalls in seiner Jugend, der Gönnerschaft einflußreicher Politiker; wie Machado und wie überhaupt die meisten brasilianischen Schriftsteller begann er seine literarische Laufbahn in der Presse, vor allem als Verfasser von »crônicas«, von Glossen, Alltagsminiaturen, Prosaskizzen. Wie Machado war Lima Barretos Vater Drucker gewesen, hatte sich dank seiner Tüchtigkeit zum Setzermeister emporgearbeitet, gefördert vom kaiserlichen
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Minister Afonso Celso, der zum Visconde de Ouro Preto geadelt worden war und dem unser Autor einen der beiden Vornamen verdankte, die zudem auf die frühesten portugiesischen Könige verweisen. Das hinderte Lima Barreto nicht, im Policarpo Quaresma ein vom gleichnamigen Sohn seines Gönners verfaßtes hurrapatriotisches Opuskulum, Warum bin ich stolz auf mein Vaterland? (1900), gehörig zu parodieren. Andererseits bewahrte sich Afonso Henriques, ungeachtet seiner radikaldemokratischen, ja anarchistischen Positionen und seiner Sympathien für die Bolschewistische Revolution von 1917, zeit seines Lebens einen Gutteil seiner ererbten monarchiefreundlichen Gesinnung. Trotz der ähnlichen Ursprünge gingen die Lebenswege von Machado de Assis und Lima Barreto weit auseinander. Das Kunststück des Älteren, sich in die Elite seines Landes hineinzuschreiben und zugleich der Kritiker ihrer Egoismen und Verlogenheiten zu werden, im Tone höflich, doch in der Sache unerbittlich und schneidend sarkastisch, brachte Lima Barreto nicht zuwege, und es wäre auch ganz gegen seine plebejisch-kleinbürgerliche Grundeinstellung gewesen. Zur Creme der Gesellschaft zu gehören war nicht sein Ehrgeiz, wohl aber zum Kreis der meinungsund stilbildenden Autoren, doch eine derart gespaltene Karriere war wegen der Verquickung von gesellschaftlicher und kultureller Elite ein Ding der Unmöglichkeit. Literarischer Erfolg war unserm Autor nicht in die Wiege gelegt. Nach dem frühen Tod seiner Mutter, einer Lehrerin, zusammen mit drei jüngeren Geschwistern Halbwaise geworden, konnte er dank seines Gönners ordentliche Schulen besuchen und die Aufnahmeprüfung zur Escola Politécnica bestehen, um Ingenieur zu werden, neben den wenigen Medizin- und den Rechtsfakultäten sowie den Priesterseminaren und der Militärakademie der einzige akademische Bildungsweg im damaligen Brasilien, und vielleicht der modernste. Zwar hatte Lima Barreto unter den Studenten gute Freunde, und einem von ihnen hat er später den Policarpo Quaresma gewidmet, doch fühlte er sich an der Hochschule diskriminiert, was ihn zusammen mit seinen früh erwachten literarischen und journalistischen Neigungen dazu brachte, sein Studium, das ihm einen einträglichen Posten und gesellschaftliche Achtung hätte verschaffen können, zu vernachlässigen. Dunkle Hautfarbe rückte ihren Träger damals, wenige Jahre nach der erst 1888 abgeschafften Sklaverei, in die Nähe der früheren Parias und deutete auf einen niederen sozialen Status, von dem sich zu distanzieren, besonders wenn kein Vermögen zur Verfügung stand, beträchtliche Anstrengung erforderte,
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überkorrekte Kleidung und Haltung, den Verzicht auf Thematisierung des Rassenvorurteils und nach Möglichkeit die Heirat mit einer weißen Frau, wie es Machado de Assis tat oder im 20. Jahrhundert der Fußballspieler Pele. Bitter beklagte sich Lima Barreto, gelegentlich mit einem Pförtner oder Bürodiener verwechselt zu werden, und seinem Tagebuch vertraute er an: »Es ist traurig, nicht weiß zu sein«. 1902 mußte Lima Barreto sein Studium endgültig abbrechen: Sein Vater wurde geisteskrank und somit arbeitsunfähig, so daß auf den nunmehr 21jährigen Afonso Henriques die Rolle des Familienoberhauptes mit der Verantwortung für seine drei jüngeren Geschwister zukam. Er bewarb sich um eine kleine Beamtenstelle im Kriegsministerium, die dem Range nach unter derjenigen seines patriotischen Helden angesiedelt war, ein ungeliebter Brotberuf, der ihm immerhin bescheidene materielle Sicherheit bot und außerdem Zeit zum Schreiben ließ, denn die Bürostunden dauerten wie die des Unteramtmanns Quaresma täglich von 10 bis 15 Uhr. Mit dem Vater, den Geschwistern und dem alten Diener Manuel Oliveira zog der junge Beamte in die Vorstadt Todos os Santos, zu deutsch Allerheiligen, in der heute so genannten Nordzone gelegen, wo die nicht auf der Sonnenseite lebenden Einwohner von Rio de Janeiro ihre Quartiere hatten und heute noch haben. »Die Vorstadt ist die Zuflucht der Unglücklichen«, läßt der Autor eine seiner Romanfiguren sagen, und das galt auch für ihn selbst. Täglich fuhr er mit dem Vorortzug zum Bahnhof Dom Pedro II, heute Central do Brasil, und ging zu Fuß zur nahen Dienststelle. Es deprimierte ihn, abends in sein Viertel zurückzukehren, sich mit häuslichen Sorgen konfrontiert zu sehen, aufgewärmtes Essen hastig einzunehmen, bevor er sich in sein Zimmer mit seinen geliebten Büchern zurückzog, von denen viele auch zu Policarpos Bibliothek gehörten. Oft kehrte er absichtlich zu später Stunde heim, um die, wie er meinte, herablassenden Blicke der besser gekleideten Vorstadtbourgeosie unterwegs nicht ertragen zu müssen, doch den häufigen Schreien seines wahnsinnigen Vaters konnte er schwerlich entgehen. Er liebte die einfachen Menschen der Vorstädte und setzte ihnen mit seinem ganzen Werk ein Denkmal, fühlte sich aber oft einsam in ihrer Mitte, brachten sie doch kaum Verständnis für seine literarische Berufung auf noch gehörten sie zu seinen Lesern. Da hatte es sein Geschöpf Ricardo Anderherz besser: er hörte eine schwarze Wäscherin seine eigenen Lieder singen. Die für engagierte lateinamerikanische Schriftsteller typische Erfahrung der Kluft zwischen literarischen Figuren und Lesern, zwischen fiktivem Personal aus dem einfachen Volk und
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realem Publikum aus der Mittel- oder Oberklasse, gelegentlich als kulturelle Heterogenität bezeichnet, blieb auch Lima Barreto nicht erspart: die Menschen, denen er in seinen Büchern Leben und Stimme gab, gehörten zu jenem »Meer von Analphabeten«, von dem der elitäre Dichter Olavo Bilac ein wenig despektierlich sprach. Gewiß zu recht wirft Lima Barretos Volkssänger ihm vor, er verstehe nichts von der gefühlvollen und populären Liedgattung der modinha. Das Beamtendasein war unserm Autor keineswegs nur ein Greuel. Zumindest in den ersten Jahren versah der schreibgewandte, vielseitig gebildete junge Mann seine bürokratischen Dienstaufgaben, ungeachtet seiner wenig kalligraphischen Handschritt, zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzen. Pflichterfüllung in Beruf und Familie wußte er mit dem bohemehaften Literatenleben einigermaßen in Einklang zu bringen. Und solange sein Beamtenverhältnis bestand, sah er sich zu einer gewissen Loyalität gegenüber Heer und Regierung genötigt. Lima Barreto stand zwischen der Unverbindlichkeit der Boheme und der Konventionalität der akademischen Autoren. Er schrieb gegen den Kulturbetrieb der Belle Epoque an, der Literatur vor allem als Ornament und Dekor verstand, als das »Lächeln der Gesellschaft«, wie es einer der bekanntesten Modeschriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der heute fast vergessene Afrânio Peixoto, formulierte: Dichtung als Sahnehäubchen auf dem Gesellschaftskuchen, von dessen Genuß die große Mehrheit der Bevölkerung ausgeschlossen war. Für Lima Barreto war die herrschende Literatur die Literatur der Herrschenden, und wenn dieses Urteil da und dort ungerecht war und er manche zeitgenössische Autoren gar nicht zur Kenntnis nahm wie etwa den literarischen Entdecker des Hinterlandes Euclides da Cunha, so traf es doch das Wesentliche. Die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die Pre-Modernismo genannte Periode zwischen den letzten großen Werken Machado de Assis’ und der Avantgardebewegung des Modernismo, die mit der Woche der Modernen Kunst von 1922 in São Paulo einen ersten Höhepunkt erlebte, brachten viel Epigonentum, akademische Fingerübungen, Wortdrechseleien und Formspielereien, Kunst als Repräsentation und Selbstbespiegelung der Eliten. Die tonangebenden Intellektuellen der Alten Republik schauten wie gebannt auf Europa und schämten sich fast ihres eigenen Landes, das sie so rasch wie möglich dem alten Kontinent anzugleichen suchten. »Nur Europa interessierte uns. Es war das Gelobte Land unserer Träume«, schrieb später selbstkritisch der Kaffeebaron und Mäzen der Modernisten Paulo Prado. Wenn Lima Barreto den Kult des Schönen als Übertünchung von Armut und
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Unrecht anprangerte, so verfocht er doch keine Ästhetik des Häßlichen, keinen sozialistischen Realismus, den es damals noch gar nicht gab, und auch keine Ästhetik des Schocks oder des épater le bourgeois, sondern blieb eher dem Modell des realistischen und naturalistischen Romans des späten 19. Jahrhunderts verpflichtet, den er selbständig fortentwickelte. Es gelang ihm, an die komischen, karnevalistischen und pikaresken Traditionen der Volkskultur anzuknüpfen und sie einerseits mit einem bitterernsten J’accuse im Sinne Zolas und andererseits mit einem neoromantischen, elegischen Blick auf Natur, Stadt und Mensch zu verbinden. Er erweiterte die literarische Verwendung der Umgangssprache, ohne sich von ihr als Erzähler besserwisserisch zu distanzieren, etwa beim Gebrauch der erlebten Rede. Dieser antiakademische Gestus und seine Lust am Entdecken des eigenen Landes verbinden ihn mit den Modernisten. Von den drei kulturellen Traditionen Brasiliens, in denen sich drei verschiedene Einstellungen zur Wirklichkeit mit den entsprechenden Ausdrucksformen manifestieren – die ernsthafte, die komisch-respektlose, die lyrische – sind bei Lima Barreto und insbesondere im Policarpo Quaresma alle vertreten, am stärksten wohl die komisch-respektlose. Auf den bereits erwähnten Journalistenroman Recordações do escrivão Isaías Caminha folgten eine Reihe weiterer, überwiegend karikaturharter, zum Teil fast kommerziell orientierter Romane und Erzählungen, zum Beispiel Numa e a Ninfa (»Numa und seine Nymphe«, 1915), wiederum ein Schlüsselroman, diesmal über den Weg eines von seiner Frau angetriebenen, ehrgeizigen Politikers. Mehrfach behandelte er die Benachteiligung der Schwarzen und Mulatten, so in dem posthum erschienenen Roman Clara dos Anjos, der Geschichte einer verführten Schwarzen aus der Unterschicht. Im Jahre 1919 erschien endlich der schon früh geschriebene und heute noch vielgelesene Dialogroman Vida e Morte de M. J. Gonzaga de Sá (1919), ein kontemplatives, locker komponiertes Buch voll liebevoller Ironie über Stadt und Nation. Es ist die Geschichte eines alteingesessenen Carioca, eines Einwohners von Rio, der die Utopie einer Verbindung von kaiserzeitlichem Patriziertum und einfachem Volk gegen die mit der Republik an die Macht gekommene kulturlose, profit- und karrieresüchtige Bourgeoisie verkörpert. Auch verfaßte Lima Barreto eine Reihe längerer satirischer Erzählungen, vor allem Aventuras do Dr. Bogoloff (»Abenteuer des Dr. Bogoloff«), Erlebnisse eines sympathischen russischen Hochstaplers in Brasilien, und Os Bruzundangas, die nach aufklärerischer Manier geschriebene Beschreibung eines exotischen Volkes, hinter dem unschwer seine brasilianischen Landsleute er-
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kennbar sind. Die posthum veröffentlichten Tagebuch- und Romanfragmente O Cemitério dos vivos (»Der Friedhof der Lebenden«) sind ein erschütterndes, an Dostojewskij erinnerndes Zeugnis seines letzten Aufenthaltes (1919) im Hospício National dos Alienados, der bekanntesten Nervenheilanstalt Brasiliens, die ihn und seinen Romanhelden Policarpo Quaresma wegen ähnlicher Leiden schon einmal beherbergt hat. Nicht nur äußere Erfolge, auch private Freuden des Lebens blieben Lima Barreto weitgehend versagt, und von Liebesglück weiß sein Biograph Francisco de Assis Barbosa erst recht nichts zu berichten; ähnlich wie sein Held Policarpo Quaresma widmete der Autor seinen Eros nicht den Frauen, sondern Werten und Zielen. Er selbst bemerkte zuweilen, er habe sich mit der Literatur verheiratet. Freunde und andere Zeitgenossen schildern ihn als einen scheuen, schüchternen, doch nach einigem Auftauen warmherzigen, nur selten und dann unter Alkoholeinfluß aufbrausenden Menschen, grundehrlich, hilfsbereit, mutig, sensibel, leicht zu kränken. Strategisches oder gar opportunistisches Verhalten war ihm fremd, und arrogant verhielt er nur gegen Arrogante. Lima Barreto war ein Fachmann fürs Unglücklichsein, er litt an seinen Lebensumständen, er litt an Brasilien, das er, der Kritiker des Patriotismus, mehr liebte als die meisten selbsternannten Patrioten. Kaum hatte er ein mittleres Alter erreicht, war dieser große, stattliche Mann erschöpft und ausgebrannt. Bereits mit achtunddreißig Jahren mußte er als Beamter, ohne je befördert worden zu sein, in den Ruhestand treten, mit einundvierzig starb er. Wie sein Held Policarpo Quaresma hatte er ein trauriges Ende, von seinem Vaterland allerdings nicht erschossen, sondern langsam zu Tode gekränkt. Auf dem Totenbett hielt er ein Exemplar der Revue des Deux Mondes in Händen, eine symbolische Geste für seinen hartnäckig verteidigten Glauben an die menschenverbindende Kraft der Literatur über alle Grenzen hinweg. Das vornehme Botafogo, das ihm zu Lebzeiten seine Tore ebenso wenig öffnen mochte wie dem Volkssänger Ricardo Anderherz – als Toten nahm es ihn auf. Lima Barreto fand, ebenso wie sein zwei Tage nach ihm verstorbener Vater, seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof São João Batista, wo traditionell auch die »Unsterblichen« der Literaturakademie bestattet werden. Von seinem Grab sind es nur wenige Schritte zur Rua da Real Grandeza – Straße der Königlichen Hoheit –, wo in einer pompösen Villa die hochherzige und kluge Olga, seine vielleicht sympathischste Frauenfigur, mit ihrem ungebildeten, doch gutmütigen Vater und ihrem charakterlosen Ehemann lebte. Sie, die ihren Paten Policarpo
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zu retten versuchte, hätte auch alles getan, um seinen und ihren Schöpfer Lima Barreto zu retten. Doch einer solchen Frau ist er nie begegnet.
Der Patriot von der traurigen Gestalt Im Jahre 1911 steht der Autor auf dem Zenit seiner Kreativität; noch hat ihn der fragwürdige Tröster Zuckerrohrschnaps nicht gebeugt, noch achtet er auf seine äußere Erscheinung, noch überarbeitet er seine Texte. Fast alle seine späteren Werke sind bereits konzipiert oder gar großenteils niedergeschrieben. Im Feuilleton des Jornal do Commercio publiziert er, von den Kritikern kaum beachtet, den Fortsetzungsroman Das traurige Ende des Policarpo Quaresma, der 1915/16 als Buch erscheint und nunmehr einhelligen Beifall findet. Schon der Titel schwankt zwischen Komik und Ernst, und der darin vorkommende Name der Hauptfigur ist ein geistreiches Wortspiel, ein Oxymoron oder gar Paradox. Denn policarpo bedeutet »vielfrüchtig«, während quaresma, vom lateinischen quadragesima stammend, die vierzigtägige Fastenzeit von Aschermittwoch bis Ostern meint, also die Passionszeit, was den vielen Bedeutungsebenen dieses Buches von vornherein eine religiöse hinzufügt. Außerdem erwähnt der von Lima Barreto hochgeschätzte französische Historiker Ernest Renan einen frühchristlichen Bischof Policarpo aus Smyrna in Kleinasien, während quaresma auch verschiedene Arten von Ziersträuchern mit meist violetten, zur Fastenzeit sprießenden Blüten bezeichnet. Der Roman erzählt die komisch-traurige Geschichte eines kauzigen und zugleich erzhumanen, fast pazifistischen Beamten ausgerechnet in einer Dienststelle des Kriegsministeriums, der sein ganzes Leben der »Größe und Emanzipation seines Vaterlandes« widmet, wodurch er an Generationen redlicher, kluger, idealistischer Intellektueller erinnert – von Alexandre Rodrigues Ferreira über Gonçalves Dias, Couto de Magalhães, Euclides da Cunha, Cândido Rondon, Monteiro Lobato bis hin zu Antônio Callado, um nur einige zu nennen, von denen nicht zufällig drei Militärs waren. Zu Beginn der Handlung hat der Held, knapp fünfzig Jahre alt, bereits drei Jahrzehnte lang seiner patriotischen Leidenschaft gefrönt und mit Hilfe seiner brasilienkundlichen Privatbibliothek ebenso romantischer wie wissenschaftlicher Observanz sein Land in enzyklopädischer Bildungsanstrengung umfassend zu erforschen und zu deuten gesucht. Nun sind
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die Lesefrüchte gereift und die Zeit ist gekommen, die gewonnenen Erkenntnisse und Konzepte zur Überwindung der Rückständigkeit, Armut und Abhängigkeit Brasiliens in die Praxis umzusetzen. Frei nach Marx: Policarpo hat die brasilianische Wirklichkeit studiert und interpretiert, nun kömmt es ihm darauf an, sie zu verändern. Seine Reformbestrebungen sucht er in drei gesellschaftlichen Sphären zu verwirklichen – Kultur, Wirtschaft, Politik –, deren Abfolge den dreiteiligen Aufbau der Handlung und ihres Raumes bestimmt. Zunächst betätigt sich unser Held als Folkloreforscher und Kulturreformer in den kleinbürgerlichen Vororten von Rio de Janeiro, in seiner Behörde im Zentrum und sogar im Parlament, von dem er aufs ganze Land wirken will. Im zweiten Teil bewirtschaftet er ein Mustergut in Curuzú, einem fiktiven, aber typischen Munizip bei Rio, dessen Name an den Paraguaykrieg erinnert. Politische Reformen sucht er im dritten Teil als Bürgerkriegsoffizier bei der Niederschlagung der Marinerevolte in der Bucht von Guanabara zu veranlassen. Immer wieder scheitert er, weil er als ein Don Quichotte des Patriotismus sich von seinen Büchern wirklichkeitsfremd indoktrinieren ließ und mechanisch zu Werke geht. Policarpo Quaresma knüpft schon auf den ersten Seiten an das in der Literatur beliebte Thema der literarisch vermittelten Wirklichkeitsverkennung an und wird lesbar als ein Buch über falsches Lesen, als ein Buch über Bücher. Des Helden meistbenutztes Requisit ist anfangs seine historisch-belletristische Bibliothek; als diese bei seinen weiteren Lebensstationen ihren beschränkten Nutzen erweist, legt er sich neue, pragmatischere Büchersammlungen zu, eine agronomische und eine militärkundliche, und trotz abnehmender Bedeutung seiner Bücher bleibt er bis zum Vortage seines Todes ein eifriger Leser. Der Primat des Lesens sowie die Seßhaftigkeit unterscheiden ihn von den realen Erkundern Brasiliens, die neben ihrer Lesetätigkeit vor allem Forschungsreisende und Autoren waren. Policarpo, dieser an Neugier und Talenten so reiche Mann, kann sich das Reisen nicht leisten; auch zeugt er weder Kinder noch Texte, von seinen behördlichen Schriftsätzen abgesehen, und trotz didaktischer Neigung ist er auch kein Lehrer, so daß sein Wirken, da es im Verborgenen und Stillen bleibt, etwas Vergebliches und Unfruchtbares hat. Gleichwohl unternimmt er Ansätze zur Autorschaft, denn ganz ohne schriftliche Mitteilung kann er seinem Vaterland nicht wirklich dienen: handeln heißt auch schreiben. Sein erster Versuch, ins gesellschaftliche Leben einzugreifen ist konsequenterweise seine erste Schrift, die Eingabe an den Kongreß. In der Folge
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verfaßt er eine Reihe weiterer Schriften, deren politisch bedeutsamste, seine Denkschrift über eine Reform der Landwirtschaft, obgleich im Gegensatz zu seiner wirklichkeitsfremden Eingabe offenbar überaus sachdienlich, von niemand zur Kenntnis genommen wird, während sein letzter Text, der Protestbrief gegen willkürliche Erschießungen, ihm ironischerweise selbst den Tod bringt. Den unübersehbaren Anklängen an den Don Quichotte des Cervantes ähnelt der Bezug zum Bovarysmus, ein auf Madame Bovary von Flaubert anspielender, damals gängiger Begriff der Kulturkritik, den der französische Philosoph Jules de Gaultier mit seinem Buch Le Bovarysme in Umlauf brachte. Auch auf Voltaires Candide wäre zu verweisen, dessen gleichnamiger Held ebenfalls durch weltfremde Lektüren eine allzu optimistische, täuschende Sicht der Wirklichkeit erworben hat und durch Anschauung und bittere Erfahrung enttäuscht werden muß, ohne daß der Erzähler uns eine Lektion in Zynismus geben wollte. Cervantes, Flaubert und Voltaire gemeinsam ist der ebenso kritische wie verständnisvolle Blick auf angelesene, menschenfreundliche und doch gefährliche Verblendung. In einer Mischung aus Stolz und Selbstkritik bezeichnete Lima Barreto sich allerdings selbst als Anhänger des Bovarysmus, und er liebte den Don Quichotte, der ebenso wie der Candide zu seiner Bibliothek gehörte. Dem Major Quaresma steht sogar ein Sancho Pansa zur Seite: Ricardo Anderherz ist, ähnlich wie der spanische Schildknappe, skurriler Nachahmer und nüchterner Widerpart seines Herrn, und, bei allem gesellschaftlichen Abstand, fast sein Freund. Wie bei Cervantes ist die Erzählhaltung überwiegend satirisch und parodistisch: die Gesellschaft, bis zur Kenntlichkeit mehr oder weniger stark überzeichnet, wird an ihren Behauptungen und Ansprüchen gemessen und der Lüge, des Irrtums oder der Inkohärenz überführt. Wichtiges Mittel der Personencharakterisierung ist die Karikatur, die sich oft der mechanischen Wiederholung von Verhaltensweisen bedient, als wolle der Autor die Definition des Komischen belegen, die Bergson in seinem berühmten Essay über das Lachen gegeben hat: »du mécanique plaqué sur du vivant«. Die komischen Figuren reagieren auf die immer neuen Situationen der lebendigen, sich wandelnden Wirklichkeit unflexibel, unlebendig, unsensibel, mit immer denselben erlernten oder angewöhnten Redensarten und Handlungsweisen, ohne deren Inadäquatheit oder Absurdität zu bemerken. Stets aufs neue beschwört Quaresma die Fruchtbarkeit der brasilianischen Erde, bevor er sie überprüft hat, stets aufs neue schwärmt General Albernaz von den Schlachten des Paraguaykriegs, die er gar nicht geschlagen hat,
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stets aufs neue schmollt Konteradmiral Caldas über entgangene Beförderungen, obwohl er nie ein Schiff kommandiert hat. Dabei schwankt die Komik, je nach Figur oder Realitätsausschnitt, zwischen verständnisvollem Humor, entlarvender Ironie und bitterem Sarkasmus. Quaresma allerdings verliert dank seiner partiellen Lernfähigkeit allmählich einen Teil seiner Lächerlichkeit. Mit seiner einfühlenden und nach Gerechtigkeit strebenden Charakterzeichnung bricht der Autor auch bei andern Figuren seiner Satire oft die Spitze ab; als konsequenter Satiriker müßte er distanziert und ungerecht bleiben.
Glanz und Schäbigkeit einer Gründerzeit Der Zeitpunkt, da Policarpo beschließt, dem Vaterland die Früchte seiner Studien zugute kommen zu lassen, ist mit Bedacht gewählt: kurz nach Ausrufung der Republik von 1889. Das marode Kaiserreich war durch einen Militärputsch abgeschafft worden, den die einflußreichen Kaffeepflanzer aus São Paulo unterstützten und den die Gebildeten und Schreibenden ganz überwiegend begrüßten, allerdings in der Erwartung, daß die Militärs sich bald wieder in die Kasernen zurückziehen würden, wofür sie tatsächlich fünf lange Jahre brauchten. Die Zeit der Handlung fällt also mit den krisen- und aufstandsgeschüttelten, von Militärregierungen geprägten Gründungsjahren (1889–1894) der Alten Republik, die bis 1930 bestehen sollte, zusammen, wobei die Anspielungen auf die Zeitumstände im ersten Teil vage bleiben, im zweiten immer deutlicher werden und sich im dritten Teil an recht genau identifizierbaren Daten orientieren. Ab 1889 herrschten bei vielen Zeitgenossen Aufbruchstimmung und Gründerzeitoptimismus, ein neues Zeitalter schien für Brasilien angebrochen, Morgenröte lag über dem Land, Brasiliens schien endlich erwachsen, ja neu erschaffen zu werden. Idealisten, Geschäftemacher und Karrieristen, sie alle sehen ihre Chance gekommen, Staat und Gesellschaft in ihrem Sinne zu gestalten oder auszunutzen. Im Februar 1891 verabschiedete die Nationalversammlung die neue Verfassung der Vereinigten Staaten von Brasilien und konstituierte sich als erster republikanischer Kongreß, an den kurz darauf Policarpo seine Eingabe zur Frage der Nationalsprache richtete. Ähnlich wie hundert Jahre zuvor das revolutionäre Frankreich machte Brasilien zunächst allerdings eine schwere Finanzkrise durch und wie jenes mußte es sich bald gegen als konterrevolutionär interpre-
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tierte Aufstände verteidigen. Der größte Teil der öffentlichen Meinung hoffte auf eine Überwindung vieler Mißstände, die man dem Kaiserreich anlastete, und erwartete Demokratisierung, Durchsetzung des Rechtsstaates, Karrierechancen für befähigte Angehörige der Mittelschichten, Dezentralisierung und größere Effizienz der öffentlichen Verwaltung, Belebung von Handel und Wandel. Verständlich, wenngleich vom Standpunkt der Geschichtsforschung »falsch«, daß sich die radikalen Republikaner, vor allem kleinbürgerliche Nationalisten, nach ihren scheinbaren französischen Vorläufern »Jakobiner« nannten, sich mit cidadãos, also »Bürger« anredeten und es durchsetzten, daß man den 14. Juli zum Staatsfeiertag erklärte. Damals begann man, Tiradentes, den Anführer der Verschwörung des Jahres 1789 in Minas Gerais gegen die portugiesische Herrschaft, als Nationalhelden zu verehren. Auch der ständige Rückgriff auf den Paraguaykrieg, scheinbar nur eine nostalgische Reminiszenz skurriler Veteranen, gehört indirekt zu dieser Aufbruchstimmung und gleichzeitigen Rückbesinnung auf nationale Traditionen. Jener ferne Krieg war nicht die Geburtsstunde, aber doch die Feuertaufe der brasilianischen Armee, von der sie ihren Ruhm und ihren Anspruch auf politische Mitwirkung ableitete. Zwar brachte die Ausrufung der Republik eine Reihe von juristischen und ökonomischen Fortschritten, und die Militärregierung erließ auch einige soziale Maßnahmen zugunsten der benachteiligten Bevölkerungsschichten wie Höchstgrenzen für Preise und Mieten. Insgesamt gesehen kam es jedoch zu keiner politischen und gesellschaftlichen Umwälzung. Manch fragwürdiges Erbe des Kaiserreichs bestand weiter, vor allem der Coronelismo, die klientelistisch verfaßte, mit Landes- und Bundesinstanzen verfilzte Herrschaft von Lokalpotentaten, meist Großgrundbesitzern, die mittels Intrigen, Vetternwirtschaft, Gewalt oder Wahlbetrug ein oder mehrere Munizipien kontrollierten und jeden bekämpften, der sich dieser Struktur nicht fügte. Ein beliebtes Machtmittel ist die einseitige, parteiische Anwendung von Verordnungen und Gesetzen nach dem Prinzip: für die Freunde alles, für die Feinde das Gesetz. Dieses wird nicht als allgemeingültiges, ohne Ansehung der Person zu verwirklichendes Recht verstanden, sondern als feindseliges Instrument in der Hand der Mächtigen, als Strafe und Schikane, während die Freunde der Mächtigen statt des Rechtes Privilegien genießen. Als Policarpos Reformen auf dem Lande deswegen zu scheitern drohen, tritt ein Ereignis ein, das ihm die Hoffnung gibt, zur Herstellung politischer Rahmenbedingungen für die Durchsetzung seiner Ideen beitragen zu können.
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Am 6. September 1893, einen Tag vor dem jährlichen Gedenken an die Unabhängigkeit von 1822, brach in der Festung Santa Cruz eine Marinerevolte aus. Es war das Aufflammen einer alten Rivalität zwischen der traditionell konservativen Marine, deren Führung überwiegend der Oberschicht entstammte und der Republik distanziert oder gleichgültig gegenüberstand, einerseits und der Armee mit ihrem republikanisch gesinnten Offizierskorps, das sich auch aus den Mittelschichten rekrutierte, andererseits. Etwa gleichzeitig, doch zunächst davon unabhängig, kam es in Rio Grande do Sul zu einem Aufstand gegen die Zentralregierung, dessen Träger größere regionale Autonomie verlangten. Die Anführer der beiden Bewegungen, die verschiedene Fraktionen der Eliten repräsentierten und denen es weniger um politische Programme als um Macht und Prestige ging, verständigten sich bald und nahmen auf undeutliche Weise eine monarchistische Haltung ein. Im März 1894 gaben die Marineoffiziere auf, überließen die Mannschaften ihrem Schicksal und retteten sich auf portugiesische Kriegsschiffe. Die Rache der Sieger, die viele Gefangene mißhandeln, deportieren oder ermorden ließen, traf Unschuldige, da auf beiden Seiten großenteils zwangsrekrutierte Soldaten kämpften, die ebenso wie die Masse der Bevölkerung kaum wußten, worum es bei diesem Bürgerkrieg ging. Zwischen der Situation des Landes während der Marinerevolte 1893–94, die den historischen Rahmen des dritten Teiles bildet, und dem politische Klima der Jahre 1909–1911, als Lima Barreto den Policarpo Quaresma konzipierte und schrieb, bestehen Analogien, welche die Phantasie des Autors beflügelten. 1909/1910 fand erstmals in der brasilianischen Geschichte ein Wahlkampf statt, dessen Ergebnis nicht im voraus zwischen den politischen Eliten vollständig ausgehandelt war und der daher in bisher nie gekanntem Maße die Öffentlichkeit mobilisierte. Die beiden Bewerber um das Präsidentenamt waren Marschall Hermes da Fonseca, der Kriegsminister der vorigen Regierung, ein autoritärer, doch nicht unbedingt diktatorischer Haudegen, und der international angesehene liberale, hochgebildete Jurist Rui Barbosa. Dieser führte den Wahlkampf, die sogenannte Campanha Civilista, vor allem mit Hilfe bürgerrechtlicher Losungen, die den Rückzug der Armee aus der Politik verlangten. Wichtige Argumente lieferten ihm die Übergriffe der Militärpolizei im sogenannten »Blutigen Frühling« von 1909, bei dem zwei Studenten getötet wurden. Der Prozeß gegen die Verantwortlichen wurde zu einer öffentlichen Abrechnung mit der Armee. Die Unterstützer Rui Barbosas beschworen – nicht ohne Grund, doch sehr überspitzt, wie aus der historischen Rückschau erkennbar – das Gespenst eines Rück-
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falls der Republik in die Diktatur von 1893/94, und der Besorgtesten einer war Lima Barreto. Mit einer seiner ersten Amtshandlungen schien der Wahlsieger Hermes da Fonseca sich tatsächlich als Wiedergänger des Diktators Floriano Peixoto zu entpuppen: das Ergebnis war ein Massaker. Im November 1910 brach die als Revolta da Chibata bekannte Meuterei bei der Marine aus. Wiederum, wie 1893– 94, waren die Kanonen der Flotte in der Bucht von Guanabara auf Rio gerichtet, doch diesmal hatten einfache Matrosen unter Führung des wegen seiner Hautfarbe und seiner Führungsqualitäten so genannten »Schwarzen Admirals« João Cândido die Schiffskanonen auf die Stadt gerichtet. Sie wollten nicht die Regierung stürzen, sondern gegen die unzumutbaren Dienstbedingungen an Bord, gegen verdorbenes Essen und vor allem gegen die unwürdige Züchtigung mit einer besonders schmerzhaften Peitsche, der chibata protestieren. Nachdem Kongreß und Regierung den Meuterern die Erfüllung ihrer wesentlichen Forderungen sowie Straflosigkeit zugesagt hatten, ergaben sie sich, doch die wortbrüchige Regierung bestrafte sie ebenso barbarisch wie sechzehn Jahre zuvor die von ihren Offizieren im Stich gelassenen Matrosen der revoltierenden Flotte. So machte der Autor aus seinem historischen Roman, für jeden damaligen Leser erkennbar, einen impliziten Kommentar zu zeitgenössischen Ereignissen, die er in eine düstere Tradition stellte – Massenmord als Herrschaftsmittel, als Strafe und Abschreckung, ausgerechnet in einem Land, das als eines der ersten der Welt schon im 19. Jahrhundert die Todesstrafe abgeschafft hatte.
Auf der Suche nach einer Nationalkultur Als echter Idealist setzt Policarpo mit seinen Reformen, marxisch gesprochen, zunächst beim Überbau an. Im 19. Jahrhundert, dem klassischen Zeitalter der Bildung von Nationalstaaten, ging es in Brasilien, anders als etwa in Italien oder in Deutschland, nicht darum, für eine Nation einen Staat zu schaffen, sondern darum, für einen von der Kolonialmacht ererbten Staat eine Nation zu schaffen, und die Gebildeten waren aufgerufen, dazu ihren Beitrag zu leisten. Da die Hochkultur und ihre Institutionen aus Europa importiert waren, schienen sich zur Differenzierung von der alten Kolonialmacht und zur Begründung dessen, was man im 20. Jahrhundert nationale Identität nennen sollte, zwei Realitätsbe-
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reiche besonders anzubieten: die tropische Natur und die indianische Kultur, vorzugsweise die der Vergangenheit. Das bald nach der Unabhängigkeit gegründete Nationalmuseum, seit 1892 im ehemaligen Palast des kaiserlichen Parks Quinta da Boa Vista, unweit von Policarpos Haus in São Cristóvão untergebracht, veranschaulicht mit seiner Verbindung von naturkundlichen und ethnographischen Sammlungen diese Konzeption. Begeisterung für Natur und Urbevölkerung findet sich auch bei Policarpo, dessen Nationverständnis aber umfassender ist. Er spürt, daß eine Nation als künstliches, doch naturwüchsig erscheinendes Sozialgebilde, als »vorgestellte Gemeinschaft«, wie Benedict Anderson sie nennt, weil ihre Angehörigen sich persönlich gar nicht kennen können, des Bewußtseins kultureller Gemeinsamkeiten bedarf, also einer Nationalkultur. Diese sieht unser Sucher nach dem, was Brasilien im Innersten zusammenhält, gleich den europäischen Nationalisten bestimmt durch Musik, Volkspoesie, Tanz, Sprache, Literatur, bis hin zu Kochrezepten und Begrüßungsritualen, besonders auch durch das Bild von der eigenen Geschichte. Er und der Erzähler ahnen, daß nicht nur Nationen Erfindungen sind, sondern auch Traditionen, und so läßt sich Lima Barretos Buch als Veranschaulichung der entsprechenden Thesen Eric Hobsbawms verstehen. Wie die europäischen Nationen sollen auch die Brasilianer Bauwerke restaurieren, Denkmäler errichten, Museen gründen, Folklore studieren und wiederbeleben, sollen die Geschichtsund Geisteswissenschaften in den Dienst einer Nationalkultur stellen und diese weit in die Vergangenheit zurück projizieren, um ihr Ehrwürdigkeit und Unverrückbarkeit zu verleihen. Im Grunde erforschen die Nationen nicht nur die Nationalkultur, sondern sie stiften sie, indem sie sie aus Bruchstücken vergangener oder regionaler Traditionen zusammensetzen, die sie zu Nationalsymbolen erheben. Auf der Suche nach Echtheit und Eigentlichkeit verfällt Policarpo wie die europäischen Nationalisten des 19. und sogar 20. Jahrhunderte in ein puristisches Jagdfieber, das in Brasilien wegen der in höherem Maße multiethnischen Herkunft der Kulturelemente noch absurder ist als in der Alten Welt. Sein Verständnis von Originalität der Nationalkultur im Sinne von Ursprünglichkeit und Einzigartigkeit führt ihn zu einer ausschließenden Methode: echt brasilianisch ist ihm alles, was keine ausländischen Einflüsse und Beimischungen enthält. Da er immer wieder entdecken muß, daß für urbrasilianisch gehaltene Kulturphänomene ganz oder teilweise europäischen oder afrikanischen Ursprungs sind, vor allem seine geliebte modinha, schrumpft das, was er noch als wahrhaft brasi-
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lianisch anerkennen kann, immer mehr zusammen. Immer weiter muß er sich von der Gegenwart und von der Stadtkultur entfernen, die ihm allzu überfremdet erscheinen, immer tiefer muß er in die Vergangenheit und ins Landesinnere zurückschreiten, um die afrikanischen und europäischen Beiträge auszuschließen. Das reine, unvermischte Brasilien liegt in der Kaiserzeit, dann in der späten Kolonialzeit, dann in der frühen Kolonialzeit. Schließlich läßt er als echt brasilianische Kultur nur noch die der Tupí-Guaraní vorkolumbischer Epochen gelten, ein Unsinn, der sich aus der Methode ergibt, das Wesen einer Kultur mit ihrem autochthonen Ursprung zu identifizieren und alles Hinzugetretene als Fremdes auszusondern. Passenderweise wird Policarpo von seinen Kollegen mit dem Spitznamen Ubirajara belegt, Titel und Held des einzigen indianistischen Romans von José de Alencar, der vor der Kolonialzeit spielt und dessen Gesellschaft, weit fiktiver als die seiner anderen Werke, sich keiner räumlichen und zeitlichen Realität mehr zuordnen läßt. In Wahrheit gab es immer schon, auch in den Anfängen, kulturelle und ethnische Mischung, ja übernationalen Austausch, zumal in Brasilien, und so demontiert der Gang der Handlung von Anfang an puristische und essentialistische Vorstellungen von nationaler Eigenart und kultureller Identität. Die Reinheit einer Kultur ist ein Phantom, und die Suche danach muß in die Irre und ins Irrenhaus führen. In der europäischen und bald auch neuweltlichen Literatur konkurrierten seit dem Entdeckungszeitalter zwei widersprüchliche Bilder vom Ureinwohner: das des Guten Wilden und das des Unmenschen und Kannibalen, beides mythische Projektionen aus der Alten Welt, Ausdruck von Höllen- oder Paradiesvisionen. Sind für Policarpo die Tupí-Guaraní Idealmenschen und Inbegriff des Brasilianertums, sind sie für Teile der öffentlichen Meinung und für die Verfechter eines eher technisch-ökonomischen Fortschritts schlichte Barbaren und Menschenfresser, ohne deren augenzwinkernde Rehabilitierung wie später bei den Modernisten. Daher die Karikierung Quaresmas als Metzger aus Santa Cruz, einerseits der erste Name Brasiliens, andererseits der eines westlichen Vororts von Rio, wo damals der Schlachthof lag. Der Rückgriff auf die indianische Vergangenheit, und vor allem auf Kultur und Sprache der Tupí-Guaraní steht in einer brasilianischen Tradition, die rückwärts, aber auch vorwärts weist und emanzipatorische Aspekte hat, reicht sie doch vom Nativismus, dem Heimatstolz der Chronisten und Lyriker des 18. Jahrhunderts, über die Indianerromantik zu den Modernisten wie Mario und Oswald de Andrade. Letzterer publizierte 1928 sein Anthropophagisches Manifest, das mit Hilfe einer »menschenfresserischen« Einverleibung
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des wertvollsten Teils der europäischen Kultur und unter Anknüpfung an indianische Traditionen eine avantgardistische, matriarchale, klassenlose tropische Kultur entwarf. Die Neubesinnung auf das indianische Erbe gipfelte in Worten, die trotz ihrer fremdländischen Einkleidung auch dem Major Quaresma gefallen hätten: »Tupí or not tupí, that is the question«. Auch die Idee, daß zur Schaffung einer Nation eine eigene Sprache gehöre, ist so absurd nicht, wie sie zunächst erscheinen mag. Vor allem der Umkehrschluß war und ist unter Nationalisten seit dem 19. Jahrhundert gängige Münze, nämlich daß eine Sprach- und Kulturgemeinschaft eine Nation sei und als solche ein Anrecht auf einen eigenen Staat besitze. Dieser Ansprüche haben sich übernationale Staatengebilde immer wieder erwehren müssen, wie damals das Osmanische Reich und die Donaumonarchie, worauf Olga mit ihrer Bemerkung über den Kampf der Tschechen für ihre Nationalsprache anspielt. Als vernünftiger Kern von Policarpos Sprachnationalismus läßt sich die Forderung nach einer Brasilianisierung des literarischen Portugiesisch betrachten, die seit der Romantik viele Autoren, auch und gerade Lima Barreto, erhoben und mehr oder weniger konsequent eingelöst haben.
Reformen auf dem Lande Policarpo ist Wirtschaftsnationalist; ähnlich wie die damaligen positivistischen Politiker fordert er Schutzzölle für die nationale Industrie und kauft nach Möglichkeit nur einheimische Erzeugnisse. Wichtiger aber noch ist ihm die Entwicklung der Landwirtschaft als Grundlage für ein starkes, wohlhabendes, sozial gerechtes Vaterland. Nachdem die Reformen im Bereich der Kultur nicht nur gescheitert sind, sondern sich auch als sinnlos herausgestellt haben, zieht Policarpo aufs Land, um seine Gesundheit wiederherzustellen, aber auch, um ein Mustergut aufzubauen, von dem Impulse zu einer regionalen und nationalen Reform der Landwirtschaft ausgehen sollen. Er will beweisen, stets die »Größe und Emanzipation des Vaterlandes« als Voraussetzung und Ziel vor Augen, daß Brasilien als das fruchtbarste Land der Welt seine Bevölkerung leicht ernähren könnte, während es in der Realität – dies der faktische Hintergrund von Policarpos Sorgen – mehr als ein Fünftel seiner Devisen für Lebensmittelimporte ausgab. Seine Patentoch-
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ter Olga teilt zwar nicht seine Brasilien-Schwärmereien, wohl aber seinen Wunsch nach Hebung der Agrarproduktion und der Lebensbedingungen auf dem Lande. Voll Mitgefühl forscht sie, warum es dort, und keineswegs nur in abgelegenen Regionen, sondern ganz in der Nähe der Hauptstadt, soviel Armut und Elend gibt, und bekommt als Teilantwort, daß die Besitzverhältnisse keinen Anreiz zur Entfaltung von Eigeninitiative bieten. Policarpo sieht ein – Ergebnis eines Lernprozesses –, daß er zusätzlich zu seiner Bibliothek meteorologische Meßgeräte, landwirtschaftliche Maschinen und Schädlingsbekämpfungsmittel anschaffen muß, die ihm allerdings nicht sonderlich weiterhelfen, teils weil er sie nicht fachkundig anzuwenden weiß, teils weil die brasilianische Erde nicht so fruchtbar ist wie gedacht, teils weil einige Tierkrankheiten und Pflanzenschädlinge wie die Blattschneiderameisen von einem einzelnen Landwirt kaum effizient bekämpft werden können. Diese saúvas erinnern an einen leitmotivischen Spruch im erwähnten Roman Macunaíma aus dem Jahre 1928: »Wenig Gesundheit und viel Ameisen Brasiliens Übel heißen«. Auch ökologische Überlegungen sind Policarpo nicht fremd, so, wenn er Brandrodungen ablehnt. Anders als die vom Autor immer wieder karikierten hochnäsigen Akademiker scheut er sich nicht, vom Volk zu lernen, zum Beispiel von seinem schwarzen Diener Anastácio. Gegen die Ameisen aber kann auch dieser wenig ausrichten. Was den Aufschwung des Mustergutes und überhaupt des Landbaus noch stärker hemmt, sind gesellschaftliche und politische Strukturen, so der bereits erwähnte Coronelismo und die damit verbundene Vorherrschaft des Latifundiums, dem angesichts der fast kostenlosen Arbeitskräfte und des Überangebotes an Boden die Anreize zur Produktivitätssteigerung fehlen. Eine von der Regierung und von der Auslandsnachfrage geförderte Modernisierung findet nur im Bereich von Exportprodukten statt, vor allem beim Kaffee, dem bei weitem wichtigsten Devisenbringer. Ein weiteres Hemmnis ist die monopolartige Rolle des Zwischenhandels, die den Absatz von Agrarprodukten auf dem Binnenmarkt verteuert, eine Ausweitung der Produktion behindert, die Konkurrenz lähmt und so eine moderne kapitalistische Entwicklung des ländlichen Raums verzögert. Wenn sogar Policarpo als landwirtschaftlicher Kleinunternehmer scheitert, obwohl er doch gebildet ist, einigen Sachverstand besitzt und neuen hinzu erwirbt, über Kapital verfügt und Eigentümer des von ihm bewirtschafteten Landes ist, wie sollen dann die analphabetischen Kleinbauern, Pächter und Tagelöhner vorankommen, denen meist nicht einmal der Grund und Boden
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gehört, auf dem sie wohnen und arbeiten? In diesem Teil des Romans verspottet Lima Barreto romantisierende Klischees von der patriarchalischen Geborgenheit, der pittoresken Biederkeit, Unverdorbenheit und Urwüchsigkeit der Landbewohner wie sie sich bei den damals berühmten Prosaerzählern Coelho Neto und Afonso Arinos sowie beim Volksdichter Catulo da Paixäo Cearense finden, der manche Züge von Ricardo Anderherz trägt. Auch ästhetisch gesehen bleibt das Land hinter seinen literarischen Bildern zurück; an vielen Stellen ist es langweilig, triste, verwahrlost, wo nicht gar häßlich und abstoßend. Nur hier und da berührt es den Betrachter durch Stille oder Anmut, besonders am Wasserfall von Carico, der als locus amoenus, als lieblicher Ort im Sinne der klassischen Poetik geschildert wird.
Entwicklung durch Diktatur? Policarpos Pläne zu Erneuerung der Nation erfordern einen starken Staat, der sich über die Partikular- und Klasseninteressen der Oligarchen, der Karrieristen und Opportunisten hinwegsetzt, um notwendige Reformen durchzuführen und der gemäß dem Konzept Auguste Comtes die besten Fachleute des Landes mit den Regierungsgeschäften beauftragt. Bei unserm Patrioten verbinden sich romantische Indianerbegeisterung mit modernem, positivistischem und republikanischem Fortschrittsglauben, und so ist es ihm eine Selbstverständlichkeit, die »Entwicklungsdiktatur« des Marschalls Floriano Peixoto zu unterstützen, zumal er ihn aus früheren Zeiten persönlich kennt, ohne daß er daraus persönliche Vorteile zu ziehen gedächte. Die Grenzen zwischen traditionellem Patriotismus und modernem Nationalismus gehen in der jungen brasilianischen Republik verloren, denn diese hat sich ja den vollen Ausbau des Nationalstaats zum Ziel gesetzt, eine Aufgabe, die das Kaiserreich schon deshalb nicht leisten konnte, weil Sklaven keine Staatsbürger sein konnten, was auch auf die meisten Indianer zutraf. Die vom eher patriotischen als nationalistischen Policarpo unterstützten Militärs sind jedenfalls Nationalisten und Etatisten, und zwar in einer aggressiven, alles Fremde ausschließenden Weise, wenngleich sie in Übereinstimmung mit den Lehren des Positivismus formal am Primat der Menschheit und de facto an ihrer Frankreichorientierung festhalten. Indem Policarpo sie unterstützt, leistet er ihrem
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fanatischen Nationalismus, ihrem autoritären Republikanismus, ihrer Staatsanbetung und ihren Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen ungewollt Vorschub. Daß Policarpo schon in jungen Jahren hat Soldat werden wollen und daß seine politischen Reformbestrebungen ihn, der nie eine Waffe getragen hat, scheinbar versehentlich und absurderweise zum Offizier machen, hängt mit der engen Verbindung zusammen, die zwischen Patriotismus, Nationalismus, Republik und Armee in Brasilien bestand. Die Streitkräfte sahen sich als besondere Sachwalter der Nation, der man daher am besten mit der Waffe dienen konnte. Das Heer war, mehr noch als die Marine, trotz seiner Mannschaftsstärke von im Jahre 1890 kaum über 20 000 Mann, eine der wenigen Institutionen, die in den Weiten dieses kontinentalen Landes, groß wie Europa ohne Rußland, dem Staat Präsenz verlieh, die Regionen mit der Hauptstadt verband, etwa durch den Bau von Telegraphenleitungen, und die Einheit des Staatsgebietes gewährleistete. In der ersten republikanischen Verfassung ließ die Armee ihre nationale Sendung als Schiedsrichter zwischen den drei verfassungsmäßigen Gewalten und als Garant nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren Sicherheit festschreiben, womit sie teilweise die Rolle des Kaisers übernahm, der diese als poder moderador definiert hatte, als »ausgleichende Gewalt«. Wie bei seinen beiden ersten Versuchen, die Nation zu reformieren, muß unser Held auch jetzt eine herbe Enttäuschung erleben. Daß selbst unter einem Regime, das buchstäblich »Ordnung und Fortschritt« auf die Staatsflagge schrieb und der Mittelklasse Karrierechancen zu eröffnen schien, den fachlich weniger Befähigten die Führungsposten zufallen, ist noch relativ harmlos. Generäle und Admiräle, die in der Tradition des miles gloriosus der römischen Komödie sich mit fremden Ruhmesfedern aus dem Paraguaykrieg schmücken, müssen sich wegen ihrer tatsächlichen Inkompetenz bei jungen Offizieren Rat holen. Von diesen einer, Oberleutnant Fontes, wird mit einem bemerkenswert differenzierten Profil ausgestattet. Seine Geradheit, Geistesgegenwart, militärische Kompetenz, positivistische Halbbildung, Kleinbürgerlichkeit, sein autoritärer republikanischer Reformeifer, aber auch seine fanatische Aufopferungs- und Tötungsbereitschaft weisen auf den Geist des Tenentismo, der Leutnantsbewegung der zwanziger Jahre, einer politischen Reforminitiative von Offizieren unterer Dienstgrade, die man als die Jungtürken Brasiliens bezeichnen könnte und die letztlich 1930 den späteren Diktator Getúlio Vargas an die Regierung brachten. Noch negativer und karikaturhafter als die Militärs erscheinen aller-
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dings die zivilen Unterstützer des Regimes, inkompetent, aufgeblasen und hemmungslos ehrgeizig, wie etwa der Finanzbeamte Genelício oder der Arzt Armando Borges. Eine herbe Enttäuschung ist der Staatschef selbst, Floriano Peixoto, dessen Blässe und Undurchsichtigkeit eine ideale Projektionsfläche für die hochfliegendsten Hoffnungen seiner Landsleute abgeben. Gewiß ist sein Bild eine Karikatur, doch hat der Autor wesentliche Züge des historischen »eisernen Marschalls« erfaßt, jenes provinziellen, gemütlichen, leutseligen, grausamen, unerschütterlich gleichmütigen Machthabers. Daß dieser die positivistischen Visionen vieler seiner militärischen und zivilen Unterstützer nutzte, ohne sie zu teilen, oder daß er die Landbevölkerung der eigenen Nation verachtete, ist durchaus glaubhaft. Allerdings hat er dank seiner Kaltblütigkeit zwei durchaus nicht fortschrittliche Aufstände niedergeschlagen, was man ihm als Leistung anrechnen mag. Mit der Figur des Marschalls und der Beschreibung der Atmosphäre des Terrors weist Lima Barreto auf die spätere Gattung des lateinamerikanischen Diktatorenromans, wozu etwa Der Herr Präsident von Asturias, Ich der Allmächtige von Roa Bastos oder Der Herbst des Patriarchen von García Márquez gehören. Gewiß belächelt der Erzähler Policarpos idealisierende Maßstäbe, die sich an dem frühabsolutistischen Herrscher Heinrich IV. und seinem Minister Sully sowie an Turgot, dem aufklärerischen Minister im vorrevolutionären Frankreich, orientieren, doch im Grunde teilt er sie, denn alle drei Staatsmänner, bis heute hochgeachtet, stehen für Versöhnung und Toleranz, für Reform der Landwirtschaft und Effizienz der Verwaltung. Bekanntermaßen forderte jener ursprünglich protestantische König, dem Paris eine Messe wert war und der das Edikt von Nantes erließ, jeder Franzose solle am Sonntag sein Huhn im Topf haben, was so recht im Sinne Lima Barretos und seines patriotischen Helden war.
Zur Dialektik von Humanität, Nationalität, Bestialität Krieg und Bürgerkrieg spielen eine große Rolle bei der Konstituierung von Nationen und wurden von Nationalisten deswegen oft verklärt. Doch abgesehen davon, daß sie Nationen auch zerstören können, wirken sie, aus der Nähe besehen, fast immer ernüchternd, unheroisch, schäbig, erschreckend oder grauen-
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haft. Sogar Policarpo gerät, trotz seines grundgütigen, pazifistischen Naturells, das so gar nicht zu seiner fixen Idee von Krieg und Vaterland paßt, in die Nähe einer steinzeitlichen Bestialität, die seinem Fortschrittsoptimismus Hohn spricht. Wie er in einem erschütternden Brief an seine Schwester schreibt, wirkt der Krieg, eine in allen Zivilisationen erlaubte oder gar befohlene Barbarei, auf ihn, als er selbst zum Kämpfer wird, verstörend, nicht nur wegen der unnötigen Opfer, sondern weil er im eigenen Ich eine ganz unvermutete Roheit und Bosheit zutage fördert, ja sie sogar voraussetzt, denn ein rücksichtsvoller, humaner Soldat wäre ein Widerspruch in sich. Darauf verweist auch die Wortgeschichte von »brav«, abzuleiten von »Barbar«, über die Bedeutungsstufen »wild«, »roh«, »tapfer« und »rechtschaffen« zu »gehorsam« – alles soldatische Tugenden. Der Nationalismus hat das Kriegführen nicht erfunden, doch er hat die Kriege, für die er tendenziell die ganze Nation mobilisiert, leidenschaftlicher, gefährlicher, totaler gemacht. Darf die Nation aber Menschenopfer verlangen wie die alten Götter? Der Gang der Romanhandlung, vor allem im dritten Teil, veranschaulicht das barbarische Potential eines ins Nationalstaatliche gewendeten und fanatisierten Patriotismus. Wenn sich die Idealisten als beinahe ebenso gefährlich entpuppen wie die Machtmenschen und ihre Schmeichler, so zeigt sich darin Lima Barretos pessimistische und aufklärungskritische Haltung zur Geschichte, geplagt von der Sorge, Humanitätsstreben und Fortschritt könnten im Zeitalter der losgelassenen Nationalismen und Staatsvergottungen umschlagen in Haß, Gewalt und Unmenschlichkeit. Ihrer mythischen Verklärung entkleidet, erinnern alle Zeitalter, auch die jüngste Vergangenheit, an die Hegelsche Ansicht, daß die Geschichte eine Schlachtbank sei und nur selten das menschliche Glück befördere. Der Schriftsteller und Dramatiker Franz Grillparzer, ein dynastischer Patriot aus dem multinationalen und multikulturellen späten Habsburgerreich, hat diese dunkle »Dialektik der Aufklärung«, als hätte er die Greuel beider Weltkriege vorausgeahnt, so zusammengefaßt: »Der Weg der neuern Bildung geht von Humanität durch Nationalität zur Bestialität«. Um den Nationalismus zu bekämpfen, mußte Lima Barreto die falschen Bilder, die Brasilien von sich selbst hatte, in Frage stellen. Schritt für Schritt werden die nationalistischen Klischees und Mythen von den Ereignissen dementiert und ad absurdum geführt, die üppige Fruchtbarkeit der Böden, die Bodenständigkeit der Volkskultur, Versöhnlichkeit und die Friedfertigkeit der Bewohner, die Redlichkeit der Regierenden, bis schließlich zum Wesen Brasiliens, seiner Ge-
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schichte und seiner Kultur, nur noch Fragen übrig bleiben. Einer der gefährlichsten Mythen ist der Patriotismus selbst: die selbsternannten Patrioten sind, streng genommen, Vaterlandsverräter. Lima Barreto argumentiert nicht von außen, von einem abstrakten kosmopolitischen Humanitätsideal, sondern von innen, von einem durchaus patriotischen Standpunkt, indem er der Klassengesellschaft und dem Unrechtsstaat, die den Patriotismus und Nationalismus für Partikularinteressen mißbrauchen, durch den Gang der Ereignisse selbst den Prozeß macht. Ihm schwebt, als Utopie ex negative erkennbar, ein sozialer, bürgerschaftlicher, geschichtsbewußter, in der eigenen Kultur verankerter, fremdenfreundlicher Patriotismus vor, der über sich hinaus weist und gewissermaßen sich selbst aufhebt. Und dazu gehört das genaue Gegenteil von Policarpos Suche nach kultureller Unvermischtheit, nämlich die Anerkennung der mestiçagem, der ethno-kulturellen Mischung. Wenn Policarpo am Ende dem Regime, nachdem er es durchschaut hat, die Mittäterschaft aufkündigen kann und einen Großteil seiner Schuld durch sein Martyrium abträgt, so dank seines menschenfreundlichen Naturells, das vom Humanitätsgerede der Positivisten und von der Anpasserei der Mitläufer vorteilhaft absticht. Zu seiner Menschlichkeit gehört, anders als bei Quichotte, eine hohes Maß an Inkonsequenz, an Widerspruch zwischen Gesinnung und Verhalten, etwa wenn er französisches Brot ißt, amerikanische Landmaschinen kauft, Gevatterschaft mit einem Italiener pflegt und als Kronzeugen für den Wert der scheinbar urbrasilianischen modinha einen englischen Reisenden zitiert. Seine Herzensbildung aber verdankt sich auch der Literatur. Die Buchverächter, wie realitätstüchtig im Sinne des eigenen Vorwärtskommens sie auch seien, werden vom Erzähler lächerlicher gemacht als die Buchenthusiasten. Der regierungsfromme Dr. Borges, der über anspruchsvollen Büchern einschläft, verhöhnt, als seine Frau das Leben ihres Paten retten will, ihre Zivilcourage als theatralische, wirklichkeitsfremde Attitüde: »Bist du etwa im Theater?«. Diese ironische und rhetorische Frage wendet Olga, die romantisch angewehte, aber gescheite Verbündete des überspannten Policarpo, ins Ernsthafte: »Wenn es menschliche Größe nur im Theater gibt, dann ja«. Sie verteidigt die Künste als Hort der Humanität und Charakterfestigkeit gegen Duckmäuserei und Freundesverrat. Eine schönere Rehabilitierung des Bovarysmus, bei aller nötigen Kritik, könnte man sich gar nicht denken. Wenn die ästhetisch inspirierte rettende Phantasie mit der Wirklichkeit zusammenstößt, dann, so ließe sich frei nach Hegel sagen, um so schlimmer für die Wirklichkeit. Der Spott über literarische Chimären rechtfer-
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tigt durchaus nicht die Abschaffung der Literatur; bei aller Satire auf das patriotische Schrifttum – anders als der spanische Ritter müssen Policarpo und Olga keine Bücherverbrennung miterleben. Dieser zwischen Ernst, Humor, Satire und Nostalgie changierende Roman ist eine Liebeserklärung an die kleinen Leute in Stadt und Land, an Rio de Janeiro, an Brasilien, an die Menschheit. Er geht traurig und beinahe tragisch aus, hinterläßt aber keine ganz und gar pessimistische Stimmung. Zwei redliche, gütige, vom Erzähler nur mit leiser Ironie bedachte Menschen, Freunde des todgeweihten, ebenso komischen wie edlen Helden treffen sich am Schluß in einem Park, eine Frau und ein Künstler, halbe Außenseiter sie beide: Olga, die junge Dame italienischer Herkunft, und Ricardo Anderherz, der fast plebejische Dichtersänger aus dem fernen Sertão. Beide, wiewohl kein Paar, werden vor dem Hintergrund des geschichtlichen Wandels und der möglichen Zivilisierung von Natur und Gesellschaft als Hoffnungsträger angedeutet: »Sie trat ins Freie, blickte in die Luft, zum Himmel, nach den Bäumen von Santa Teresa, und ihr kam in den Sinn, daß über diese Erde einstmals wilde Stämme gezogen waren, von deren Häuptlingen sich einer brüstete, in seinen Adern fließe das Blut von zehntausend Feinden. Das war vier Jahrhunderte her. [...] Große Wandlungen hatte das Antlitz des Landes, hatte vielleicht sogar das Klima durchgemacht ... Hoffen wir auf weitere Wandlungen, dachte sie, und schritt gelassen Ricardo Anderherz entgegen«. Berthold Zilly
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Inhalt
Erster Teil I Die Gitarrenstunde
9
II Radikale Reformen
28
III Genelícios Nachricht
48
IV Katastrophale Folgen einer Eingabe 66 V Nippes
84
Zweiter Teil I Auf dem »Ruhehof«
102
II Dornen und Blüten
119
III Goliath 136 IV »Energisch durchgreifen! Komme sofort« V Der Volkssänger 344
178
158
Dritter Teil I Patrioten
197
II Quaresma, du bist ein Utopist
211
III ... und sie verstummten bald ... 238 IV Der Schlund
258
V Die Patentochter
Zeittafel
295
Glossar
306
Nachwort Inhalt
319 344
Dank des Übersetzers
345
279
346
Der Übersetzer dankt folgenden Personen und Institutionen für freundliche Unterstützung: Acácia Rios, Afonso Carlos Marques dos Santos, Beatriz Resende, Carmem Lúcia Negreiros de Figueiredo, Catarina Sant’Anna, Diatahy Bezerra de Menezes, Florence Isabelle Häneke, Inés Koebel, Ingrid Starke, Laura Barreto, Ramona Jahn, Ursula Thiemer-Sachse, Vanessa Fischer sowie Christian, Frederik und Solveig Zilly; ferner dem Ibero-Amerikanischen Institut Berlin, dem Deutschen Übersetzerfonds und dem Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf.
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