DAS NEUE ABENTEUER 004 WALTE R STEIN
Das Ende des Pistolero
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN 19 5 2
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DAS NEUE ABENTEUER 004 WALTE R STEIN
Das Ende des Pistolero
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN 19 5 2
Copyright by Verlag Neues Leben GmbH. Berlin W 8 Veröffentlicht unter der Lizenz Nr. 303 des Amtes für Literatur und Verlagswesen der Deutschen Demokratischen Republik • Gen-Nr. 305/73/52 Umschlagzeichnung: Heinz Rammelt, Bernburg Gestaltung und Typographie; Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V 15/30 Preis 0,25 DM
I Jose war ein Pistolero, also ein Subjekt, das bereit war, für eine gewisse Summe Pesetas auf Menschen zu schießen. Trotz seines rohen Berufes blieb er ein Mann mit ehrbaren Grundsätzen. Einer der vortrefflichsten war, sich niemals unnötige Feinde zu schaffen. Nie verfluchte er die heilige Madonna oder schoß auf Menschen, die man auf Grund ihres Einkommens zu den anständigen Bürgern rechnen konnte. Daß er trotzdem nur noch eine knappe halbe Stunde leben sollte, lag daran, daß er nicht genügend einschätzte, wie sehr an Pablo Perales, dem siebzehnjährigen Landarbeiter, der Hunger nagte. Mißmutig starrte Jose auf das Wasserbecken, das er im Auftrage des Großgrundbesitzers Don Philippe Ascasso zu bewachen hatte. Jose machte sich keine Sorgen um die Felder der Bauern, denen sein Auftraggeber das Wasser entzog. Das einzige, was ihm an der Geschichte mißfiel, war, daß gerade er in dieses verdammte Nest verschlagen worden war. Sein Mißmut war durchaus begreiflich. Jose war aus der Stadt und gewohnt, im Schutz der Häuser oder der Polizei auf streikende Arbeiter zu schießen. Hier war es anders. Nirgends boten ihm die offenen Felder Schutz, wenn er mal gehetzt werden sollte. Im stillen berechnete er die Entfernung, die ihn vom Gutshof trennte. Es war nicht allzuweit; nur daß er dabei durchs ganze Dorf mußte, bereitete ihm schweren Kummer. Sein Mißtrauen schlug in offene Furcht um, seitdem alle zwei Stunden ein Bauer erschien und sich stumm und reglos neben dem Bassin niederließ. Wenn auch Jose nicht den Hunger kannte, so wußte er doch sehr genau, zu welchen Handlungen er Menschen treiben kann. Und er zitterte bei dem Gedanken, daß die demütig hungernden Bauern eines Tages kühn und entschlossen auf die Schuldigen
zeigen könnten. In gleißenden Reflexen schleuderte ihm der Wasserspiegel die aufprallenden Sonnenstrahlen in die Augen. „Geh weg“, sagte er, auf Pablo zugehend. Der Junge saß auf der platten Erde. Die grell scheinende Sonne zwang ihn, den Kopf gesenkt zu halten. Darum sah er auch den Mann nicht, aber den Schatten, der auf ihn zukam. „Du sollst gehn!“ wiederholte Jose, als er dicht vor dem Jungen stand. Pablos Blick kroch von der Schuhspitze des Mannes bis zu dessen Gesicht hinauf. Die gequollene Visage und die merkwürdige Hautfarbe ekelten ihn. Er kannte diesen grauen, verwaschenen Bronzeton. Er hatte ihn oft bei Säufern beobachtet. „Senor, gehen Sie doch zu dem Apfelsinenhain hinüber“, sagte er zu dem schwitzenden Wächter. „Es ist wirklich kühl und angenehm dort.“ Das Gesicht des Pistoleros wurde plötzlich fleckig. „Du willst die Schieber öffnen, du Schuft!“ schrie er den Jungen an. „Senor“, Pablos Stimme wurde sanft und schmeichelnd, „unsere Felder verdursten, und wir werden nichts zu essen haben. Sie sind ein guter Mann“, fuhr er fort, „und ich weiß, daß Sie das nicht wollen.“ „Nichts weißt du“, unterbrach ihn der Wächter brüsk. „Zahlt dem Herrn die Wasserpacht, und ihr habt alles, was ihr wollt.“ In Pablo nagte die Furcht vor dem Hunger. „Senor“, begann er von neuem, „Sie sind von Malaga, sicherlich kennen Sie Taga Marin.“ In seiner Naivität versuchte Pablo, den Pistolero durch die Erinnerung an einen gemeinsamen Bekannten umzustimmen. „Er hat lange Jahre die Handfessel getragen. Sie wissen doch, damals die Geschichte in Asturien. Und dann hat er ein Jahr in Malaga gearbeitet, am Hafen. Vor einigen Monaten kehrte er zu uns zurück.“
Die Gestalt des Wächters schob sich einen Schritt vor. „Ach so“, sagte er höhnisch. „Am Hafen hat er gearbeitet? Er hat den Weibern ihr sauer verdientes Geld abgenommen. Und eines Tages werden wir ihn dafür umlegen.“ Pablo liebte Taga. Seine Verehrung für diesen schon in den Fünfzigern stehenden Mann hatte verschiedene Ursachen. Trotz der Verleumdungen, die damals über ihn im Dorf aufgetaucht waren, wußte heute jeder, daß er in jenen Tagen in Asturien gegen die Granden gekämpft hatte. Und war Taga, obwohl er nur ein Bauer war, nicht ein gelehrter Mann, der außer dem Padre Bücher besaß, aus denen er den Bauern vorlas? Gewiß, es waren seltsame, nie gehörte Worte, die ihm den Weg in eine strahlende Zukunft zeigten. Und die Bilder, die vor Pablos geistigem Auge erstanden, erregten ihn. Sie besaßen die Macht, die tierische Ergebenheit gegenüber seinem Dasein in eine sprachlose Sehnsucht zu verwandeln. Selbst auf dem Acker konnte er sich plötzlich aufrichten und, mit verlorenem Blick in die Weite sehend, über Tagas Worte nachdenken. Und während Pablo auf das Summen der Insekten lauschte, die auf die geöffneten Blüten zuflogen, stand am Ende seiner Träume immer die Sehnsucht nach einem Stück Land, das er bearbeitete und das darum auch ihm gehören mußte. So hatte es Taga gesagt. Pablo brachte den Besitz an einem Stück Land in Verbindung mit täglich einem Stück Fleisch, mit der neuen schwarzen Manschesterhose, die beim Krämer hing, und, wenn alles gut ging, sonntags mit fünf Pesetas in der Tasche. Langsam stand Pablo auf. „Du hast den Weibern ihr Geld abgenommen, nicht Taga“, sagte er mit der Überzeugung eines Wissenden. Der Pistolero sah die kräftigen Schultern und die schmalen Hüften des Siebzehnjährigen. Mit dem Instinkt des geübten
Provokateurs fühlte er, daß ihm dieser Junge gefährlich werden könnte. „Geh weg, du Bestie!“ drohte er und hielt Pablo die Pistole vors Gesicht. Der Junge machte seinen letzten Versuch. „Das Wasser gehört allen, so befiehlt es das Gesetz der vom Volk gewählten Regierung.“ „Zahlt die Wasserpacht, oder freßt Gras wie die Bauern in Las Matas!“ schrie der Pistolero und brach plötzlich in ein grölendes Lachen aus: „Und was eure Volksfront-Regierung betrifft, so scheint mir, daß eine Herde Maultiere dem Granden Don Ascasso befehlen möchte! Weißt du, was ungehorsamen Maultieren zusteht…?“ Und sich vorbeugend, zischte er: „Die Peitsche!“ Pablo prallte zurück. „Hüten Sie sich! Die Peitsche macht nicht satt!“ brach es aus ihm hervor, und auf den fast verwelkten Mais deutend: „Da sehen Sie, was die Peitsche der Habgier in Don Ascassos Händen angerichtet hat! Und Sie schämen sich nicht…“ „Geh, oder ich knall dich nieder!“ keuchte der Pistolero außer sich. Und Pablo ging, Er ging dicht an der Pistolenmündung vorbei, in die offenen Felder hinein. Seine Hand glitt über die dünnen, kraftlosen Maisstengel. „Er läßt euch verhungern, der Schuft“, murmelte Pablo mit einem Blick auf das Schloß. In der schwirrenden Luft erschien ihm Don Ascassos Stammsitz merkwürdig klein, gleichsam, als sei er meilenweit von ihm entfernt. Ein stechender Druck im Nacken ließ Pablo den Kopf zurückbeugen. Für eine Sekunde blinzelte er zur Sonne hinauf, die unaufhörlich heiße Lichtwellen gegen die Erde schleuderte. Und was er geahnt hatte, wurde ihm zur Gewiß-
heit. „Der Saharawind“, flüsterte er. Schwer und drückend strich der Wüstenwind über die Felder, umspielte sengend die Pflanzen und brachte sie zum Vertrocknen. Pablo hatte Erfahrung genug, um zu wissen, daß nur noch sofortige Berieselung die Frucht retten konnte. Hilflos schaute er nach dem großen Bassin hinüber. Dann neigte Pablo ein wenig den Kopf und lauschte auf das Sterben der Frucht. In der tödlichen Umarmung der heißen Winde schlug ihre Qual dröhnend gegen sein Gehör. Und ihre Not war seine Not. Die Frucht gehörte ihm, und er gehörte ihr. Von Sonnenauf- bis -Untergang verlangte sie nach ihm. Durch seine unermüdliche Arbeit hatte er ihr seinen Atem eingehaucht, und wiederum würde sie ihm Kraft geben, neues Leben zu erzeugen. Er liebte die Frucht wie das Leben selbst. Er liebte sie wie den Gesang der Mädchen an den stillen Abenden am Brunnen, wo eine erregende Sehnsucht sein Blut zum Klopfen brachte. Entschlossen richtete sich Pablo auf und ging auf das Becken zu. Was wollte er dort? Unter den Oliven stand, vor der Hitze Schutz suchend, eine Schafherde. Ihr Hüter Martinez war alt und gebrechlich und konnte ihm nicht helfen. Außerdem wußte er hinter der Mauer, die Don Ascassos Stammsitz umgab, die Gewehre der Carabineros. Jose kam Pablo einige Schritte entgegen. „Na“, grinste er höhnisch. Alle Gefahr vergessend, warf sich der Junge mit einem unerwarteten Satz auf den Gegner. Noch im Sprung griff er nach der Hand, welche die Pistole hielt. Er bog das Handgelenk des Mannes zurück. Die Mündung der Pistole zeigte auf die Stirn des Wächters. Als Pablos Zeigefinger den Hahn fand, drückte er ab. In weni-
gen Sprüngen war er bei den Schiebern und riß sie hoch. Brausend füllten sich die Bewässerungsgräben. Auf den Knien liegend, starrte Pablo in das strömende, glucksende Wasser. Eine wilde Freude durchzitterte ihn, als die Flut die ersten Maisstengel erreichte. „Sauft!“ flüsterte er, „sauft!“ Plötzlich erinnerte sich Pablo eines Gespräches, das er mit Taga gehabt hatte. „Du mußt Wasserbauingenieur werden!“ hatte jener zu ihm gesagt, nachdem das Volk aus dem Wahlkampf als Sieger hervorgegangen war. Pablos Hand griff wieder und wieder in das weiße Gold, das an ihm vorbeifloß. Ja, es gehörte ihnen allen, auch den ärmsten Bauern. Und in seiner Vorstellung baute Pablo riesige Dämme. Mit ihnen wollte er das Wasser, welches im Frühjahr bei der Schneeschmelze ohne Nutzen ins Meer floß, der verdorrten Erde zuleiten. Gewaltige und paradiesische Gärten würden entstehen. Die Bauern würden ihm dafür danken und sagen: „Pablo, du hast lange studiert und bist Ingenieur geworden; aber deine Mühe hat sich gelohnt. Du hast uns neue Äcker gegeben. Denn was bedeutet Boden ohne Wasser!“ Dies alles sah Pablo greifbar nahe vor sich. Aber dann sah er die Wirklichkeit: nämlich, vom Wasser widergespiegelt sein zerrissenes Hemd. Ernüchtert stand Pablo auf. „Du Vieh“, sagte er, als er an dem Toten vorbeiging. Gleichzeitig bemerkte er, daß vom Gutshof eine Gruppe Carabineros auf die Felder zustürmte. Pablos Beklemmung wich einer kühnen Angriffslust, als er sah. wie sich zwischen ihn und die Carabineros eine Anzahl Bauern schob. An ihrer Spitze ging Taga. Der Junge erkannte ihn an seinem nach vorn fallenden Gang. Noch während er auf die Menge zulief, fielen Schüsse. Wie von einer schweren Faust getroffen, wichen die Bauern zurück. Aber dann stürzten sie vor, und Pablo lief mitten im Haufen.
Ganz vorne lief Taga und führte sie. Die Anhöhe zum Schloß war steil, und die Männer keuchten. Doch Pablos Herz und Lungen waren jung, und fast hatte er Taga eingeholt. Unmittelbar am Schornstein auf dem Schloßdach stiegen weiße Wölkchen hoch. Pablo hörte das Singen der Geschosse, aber er sah den Mann nicht, der auf ihn schoß. Mit Befriedigung stellte er fest, daß er keine Angst hatte, und lief aufrecht weiter. Er wunderte sich nur, daß der Mann dort oben gerade auf ihn schoß, der einen Knüppel trug. Auf dem halben Wege zum Schloß starb Vincenc, der Weinbauer. Pablo sah nur einen dunklen Tropfen über dem Auge des Bauern. Scheu, fast widerwillig nahm er das Gewehr des Toten. Hinter einem Felsblock liegend, lugte er zum Dach hinauf. Für einen Augenblick sah er neben dem Schornstein den Kopf und die Schulter des Carabineros. Pablo hatte das Gefühl, noch nicht ganz abgedrückt zu haben, als der Mann dort oben vornüber fiel. „Hast du es gesehen, Vincenc?“ schrie Pablo dem toten Bauern zu und stürmte weiter. Jetzt lief er Seite an Seite mit Taga. Er hörte sein schweres Keuchen. „Auf die Fenster, schieß auf die Fenster!“ schrie Taga Pablo zu. Plötzlich verließ ein Personenauto den Schloßhof. Am Steuer saß Gonzales, der Aufseher, hinter ihm, tief gebückt, Don Ascasso und Padre Bernardo. Mit ihrer Flucht hörte die Schießerei auf. Während eine Gruppe Bauern die Carabineros entwaffnete und sie davonjagte, schleppten andere Stroh herbei und versuchten, das Schloß in Brand zu stecken. „Ihr seid verdammte Narren!“ schrie Taga und trampelte auf dem Stroh herum. Einen Augenblick zögerten die Bauern, dann stürzten sie sich auf den brennenden Strohhaufen und löschten
ihn. „Wir werden in den nächsten Tagen über alles sprechen“, wandte sich Taga an die schwitzenden Bauern. Dann drehte er sich nach Pablo um. „Komm, wir wollen gehen“, forderte er den Jungen auf. Taga schien Sorgen zu haben. Erst in seiner Behausung taute er auf. „Du hast die Frucht gerettet“, wandte er sich an den Jungen. Vorsichtig schob der ehemalige Sträfling ein Schachbrett mit Figuren beiseite. „Das ist ein Schachbrett; wenn ich Zeit habe, werde ich dir die Spielregeln erklären. Vorläufig spiele ich noch allein. Doch ich wollte dir etwas anderes sagen“, damit zog Taga einen Brief aus der Tasche. „Die Granden mit General Franco an der Spitze verraten Spanien. In unserem Land sind Fremdenlegionäre, Mussolini - und Hitlertruppen, gelandet. Du mußt Offizier werden.“ „Aber du hast mir doch gesagt…“ entgegnete Pablo völlig verwirrt. „Ich weiß“, unterbrach ihn Taga. „Ich selbst war es, der dir riet, Wasserbauingenieur zu werden.“ Und geduldig legte Taga dem Jungen auseinander, warum alles anders gekommen war. Gewiß, das Volk hatte gesiegt. Jedoch vorerst hatte es sich nur durch seine Stimmabgabe gegen die maßlose Unterdrückung und Ausbeutung durch die Granden gewendet, gegen die Großen des Landes, welche den Fleiß des Volkes für sich in Gold und überschwenglichen Luxus verwandelt hatten. Hierauf wollten die Granden aber trotzdem auch in Zukunft nicht verzichten, und so setzten sie dem Willen des Volkes ausländische Bajonette entgegen. „Wir müssen jetzt kämpfen“, vernahm Pablo die Stimme Tagas, „und zwar mit dem Gewehr um jeden Zentimeter Boden,
um jeden Tropfen Wasser, den uns die Granden entreißen wollen. Was nützt dir dein Wunsch, Ingenieur zu werden, wenn die Granden es dir nicht erlauben. Bevor du Ingenieur werden kannst, mußt du das Wasser für immer aus den Klauen der Granden befreien.“ Pablo nickte mechanisch. Gewiß, er wollte kämpfen. Seiner Pflicht würde er nachkommen. Aber Offizier werden? Nein! Dieser Aufgabe sollten sich andere widmen. Er hatte ganz andere Pläne. Wie diese aussahen, wisse Taga ja. Aber Taga ließ nicht locker. „Wir müssen eine Armee aufbauen“, erklärte er Pablo. „Woher sollen wir die Offiziere nehmen, wenn nicht aus dem Volk, aus dem die Armee geboren wird.“ Später gestand sich Pablo, nur halb hingehört zu haben. Magdalena, die Tochter des gefallenen Bauern Vincenc, ging gerade am Fenster vorbei, und Pablo hatte es plötzlich sehr eilig. Auf den Brief deutend, der vor Taga auf dem Tisch lag, sagte er: „Und was werden wir gegen die ausländischen Eindringlinge unternehmen?“ „Zunächst werden wir um das Dorf herum Stellungen bauen“, entgegnete Taga. „Außerdem schickt uns die Kommunistische Partei eine Abteilung Bergarbeiter zu Hilfe.“ Die letzten Worte vernahm Pablo, als er schon in der Tür stand, die er, mit dem Blick nach Magdalena, hinter sich schloß. Taga ging auf das Schachbrett zu. Behutsam nahm er einen der Bauern und schob ihn ein Feld vor. „Ich muß einen Offizier aus ihm machen“, sagte er.
II Die Truppen der Granden standen schneller vor dem Dorf, als man geglaubt hatte. Von der Front kam das Knallen der Gewehre. Die kurzen, trockenen Schläge hallten wider von den buckligen Ausläufern der Sierra, schwangen hoch über das Dorf und versanken klagend in der Abenddämmerung. Als die Sterne verblaßten, begann auch schon der Angriff der Granden. Die in aller Eile hergerichteten Stellungen um das Dorf schützten die Bauern ein wenig. Nur Rodrigez, ein alter Bauer, weigerte sich entschieden, in eines der ausgegrabenen Löcher zu gehen. Seine Deckung war ein faustgroßer Stein, auf dem die Mündung des Gewehres lag. Pablo besaß nur einen Dolch, und darum legte er sich hinter Rodrigez, in der sicheren Erkenntnis, daß der alte Mann einer der ersten war, der sterben mußte. Langsam rückten die Legionäre und Marokkaner vor. Eigentlich war es nur ein Abtasten des Gegners. Das Ganze war nicht sehr aufregend, und Pablo hatte Zeit genug, seine nächste Umgebung zu betrachten. Überrascht sah er einige Schritte seitwärts von Rodrigez Senor Antonio, den Wirt. Mehr als einmal hatte Antonio versichert, daß ihn niemand aus seiner Taverne herauslocken könnte. Um aber doch zu zeigen, daß ihm das Wohl seines Volkes am Herzen lag, verdammte er stundenlang sämtliche Parteien zur Hölle, wobei er am Schluß seines Lamentierens stets behauptete, daß er ein ehrsamer Mann sei und darum auch mit Politik nichts zu tun haben wolle. „Meinen Kopf für andere hinhalten“, pflegte er zu sagen, „ich müßte ein Narr sein!“ Und nach einem behäbigen Seufzer schloß er: „Jeder soll tun, was ihm behagt.“ Im Augenblick behagte es ihm also doch, seinen Kopf für an-
dere hinzuhalten. Vergeblich versuchte Pablo, den Wandel in der Gesinnung des Wirtes zu ergründen. Es war wirklich der Tavernenhalter! Pablo erkannte ihn an dem vierkantigen, massigen Rücken und dem dicken Bauch, der eine flache Mulde ausfüllte, so daß er bequem liegen konnte. Lässig hob Antonio das Gewehr und schoß. „Senor Antonio kämpft fürs Volk!“ rief Pablo begeistert. Der Wirt wandte den Kopf. Sein Schnurrbart zitterte vor Empörung. „Fürs Volk? Bin ich nicht auch Volk?“ schnauzte er den verdutzten Jungen an. „Die Legionäre stehlen meinen Wein, und wovon soll ich armer Mann leben?“ Plötzlich erschütterten Artilleriesalven die Stellungen. Pablo spürte das Zerreißen der Luft. Seine Finger krallten sich in die Erde. Warum blieb er noch liegen? Sicher waren schon alle weg. Ebenso rasch, wie der Beschuß eingesetzt hatte, trat tiefe Stille ein. Behutsam öffnete Pablo die Augen. In einer Erdsenke sah er inmitten einer Gruppe Mädchen auch Magdalena, die in einem Weidenkorb Verbandszeug mit sich führte. Zu Pablos Erstaunen lagen auch Antonio und Rodrigez noch immer auf derselben Stelle. Noch nie hatte sich Pablo so nach der Berührung eines Menschen gesehnt wie in diesem Augenblick. Vorsichtig kroch er zu Rodrigez hinüber. Der Alte warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. Dann rollte er seinen Körper ein wenig quer zur Front. „Leg dich hier hinter“, sagte er gutmütig. Wieder griff der Gegner an, und aus der Ebene schlug ein monotones Rattern gegen die Stellungen. Für eine Sekunde standen auf dem Kamm einer Bodenwelle fünf dunkle, stählerne Kuppen. „Die Panzer!“ schrie Lopez, ein jüngerer Bauer. Instinktiv preßte Pablo seinen Körper an den des alten Mannes.
„Schießt nicht auf die Maschinen!“ schrie Taga, während er mit einigen Männern die Stellung hinablief. Sie trugen blaue Leinenanzüge, und ihre Gesichter waren nicht so gebräunt wie die der Bauern. Es waren asturische Bergarbeiter. An ihren Gürteln hingen kurze, dicke Stahlrohre, aus deren einem Ende ein Stück Lunte ragte. Fest zwischen die Lippen gepreßt hielten die Männer brennende Zigaretten, mit denen sie die Zündschnur im gegebenen Augenblick zum Glimmen bringen würden. In dem Drang, alles zu sehen, vergaß Pablo die Gefahr, die eintönig über ihn hinweg sang, und hob den Kopf etwas höher. Die vor ihm aufschlagenden Geschosse schleuderten Dreck und Steinsplitter in sein Gesicht. Unter einem Schleier von Schweiß und staubverklebten Tränen beobachtete Pablo den Kampf der Dynamiteros gegen die stählernen Kolosse. Und wieder lief Taga ganz vorn. Wenn er auch die Männer führte, so merkte Pablo an der Art ihres Vorgehens doch, daß jeder auf sich selbst angewiesen war. Und ihre Einsamkeit, mit der sie dem Gegner gegenüberstanden, erschütterte ihn. Obwohl die Sonne schon warm herniederschien, überlief ihn ein Frösteln, und ohne es zu wissen, zitterte er ein wenig. Beim Anblick der anstürmenden Bergarbeiter heulten die Kolosse kurz auf. Ihre Raupen zermalmten den Mais und knechteten die Erde. Es war ein kurzer, aber blutiger Weg bis zu den Panzern. Wieder erschütterten schnell aufeinanderfolgende Detonationen die Luft, und zwei der Panzer bäumten sich auf. „Sie brennen!“ Die drei übriggebliebenen Panzer drehten ab. „Sieg! Sieg!“ In unaufhörlichen dumpfen Wellen lief der Ruf die Stellungen entlang. Pablo schrie bis zur Heiserkeit. Ein ungeheures Selbstvertrauen erfüllte ihn, Waren sie nicht unbesiegbar?
Rodrigez stand aufrecht. Und in dem glücklichen Gefühl des Sieges verließ er für immer die Barrikaden Mit zitternden Knien sackte er langsam zur Erde. Im Sitzen schwankte sein Oberkörper hin und her. Die Augen standen weit offen, es war ein sonderbar leerer Blick. Während er kraftlos zur Seite rollte, umklammerten seine Hände das Gewehr. Erst jetzt sah Pablo den roten Faden, der unaufhaltsam den dürren Hals hinabrann. Pablo warf einen schnellen Blick hinter sich. Niemand war da. „Gib das Gewehr“, sagte er und griff nach der Waffe. Rodrigez stöhnte auf. Mühsam wälzte er seinen Körper herum und legte ihn quer über den Kolben. „Was willst du noch?“ knurrte Pablo. Er versuchte, den Sterbenden von der Waffe herunterzurollen, doch Rodrigez’ Hände krallten sich in das spärlich wachsende Gestrüpp, und Pablo war gezwungen, die Mündung hochzuziehen. „Warum wehrst du dich so?“ keuchte der Junge. Rodrigez rollte langsam vom Kolben herunter zur Seite. Sein Mund ging krampfhaft auf und zu, als ob er etwas sagen wollte. Doch dann schien er zu begreifen, daß seine Stimme schon tot war, und seine Lippen preßten sich fest aufeinander. Noch einmal bäumte sich das Leben in seinen Augen auf, sie wurden klein und listig wie immer. Zärtlich strich seine Hand über den Rücken des Jungen. Pablo sah nicht, das Sterben des alten Mannes. An die Erde gepreßt, beobachtete er die wieder vorgehenden Marokkaner. Jetzt stürmten sie ohne Begleitung der Fremdenlegionäre. Aus den Erzählungen Tagas wußte er, daß man drüben auf die Entscheidung drängte. Noch während der neueinsetzende Artilleriebeschuß Erd- und Steinfontänen in die Luft warf, tauchten am Horizont die ersten Flieger auf, und wieder sah Pablo die massigen Leiber der Pan-
zer. Aus geringer Höhe warfen die Bomber Schrecken und Tod auf die Verteidiger. Sie stießen über die Stellungen hinweg und zermalmten einen Teil des Dorfes zu Staub. Die Kämpfer zogen sich zurück. Aber an der Art ihres Zurückweichens spürte Pablo deutlich die Regellosigkeit, die dem Gegner sein Vordringen erleichterte. Es müßte jemand da sein, durchfuhr es den Jungen, der den. Bauern bestimmte Anweisungen gibt, wie sie sich zu verhalten haben. Jedoch wer sollte dies tun? Wo gab es jemanden unter ihnen, der fähig war, die zersplitterte Kampfkraft der Bauern inmitten des wilden Chaos aus Explosionen und Rauch zu einer geballten Abwehr zusammenzuschweißen? So kam es, daß Pablo plötzlich an Tagas Worte dachte: „Du mußt Offizier werden!“, ein Gedanke, den er ebenso schnell, wie er gekommen war, wieder verwarf. Die in Schutthaufen verwandelten Häuser als Deckung ausnutzend, zog sich Pablo bis zur Plaza zurück. Der Dorfbrunnen war zerstört, trübe floß sein Wasser über das Kopfsteinpflaster. Einige Häuser waren vom Luftdruck geborsten, standen aber noch. Vermischt mit dem Bellen der Maschinengewehre hörte Pablo das anschwellende Dröhnen der Panzer. Sie mußten ganz in der Nähe sein, und er wußte, daß hinter ihnen die Marokkaner kamen. Sein Blick hetzte über die Plaza hinweg. Wo waren Taga und die Männer in den blauen Anzügen? Er sah nur einige Bauern, die, hinter Mauerresten stehend, unablässig schossen. Pablos suchender Blick fiel auf den Krämerladen. An der Hausmauer entlang lag eine Reihe Schwerverwundeter, Vor ihnen auf einer Fußbank saß Pilar, die Besitzerin des Ladens. Ihr greises Haupt ging hin und her. Magdalena stand auf einem Karren und half den Verwundeten, die gehen konnten, beim Aufsteigen.
Plötzlich stürmten aus einer Seitengasse zwei Marokkaner auf den Laden zu. Pilar sprang auf. Die zitternden Hände griffen nach dem Saum ihres Kleides. Mit einer naiven Bewegung versuchte sie, die Verwundeten hinter ihrem ausgespannten Rock zu verbergen. „Rührt sie nicht an!“ kreischte sie mit entsetzter Stimme, Noch bevor Pablo schießen konnte, traf ein Kolbenhieb die alte Pilar. Gleichzeitig schoß Magdalena die beiden Angreifer mit ihrer Pistole nieder. Die Muli bäumten sich erschreckt auf, Im rasenden Galopp zogen sie den Karren hinter sich her und galoppierten mit Magdalena aus dem Dorf. „Hoffentlich kommen sie durch“, murmelte Pablo und schoß in schneller Folge auf die anstürmenden Marokkaner. Als er keine Munition mehr hatte, verbarg er sich in einem zerstörten Haus. Bei einer günstigen Gelegenheit zog er sich, abwechselnd springend und auf dem Bauche kriechend, zurück. Er hatte schon den Dorfausgang erreicht, als ihn ein schwerer Schlag gegen die Stirn traf. Er sah die Felder. Im Olivenhain stand dicht gedrängt die Schafherde. Deutlich sah er ihre wolligen Leiber. Man hat vergessen, Martinez Bescheid zu sagen. – Klar dachte Pablo diesen Gedanken zu Ende. Dann nichts mehr. III Die Weinkammern im Kellergewölbe des Schlosses sind nicht größer als gewöhnliche Zimmer. Don Ascasso ist kein Bauer, der seinen Wein aus dem Faß trinkt, und darum auch die vielen Flaschen, die auf den Regalen lagern. Damit die Luft zirkulieren kann, sind die Lichtschächte offen und nur mit kleinen, stabilen Gittern versehen. Auch wenn draußen, die Sonne
scheint, ist es kühl und dumpf dort unten. Sicherlich eine Folge der zementierten Böden und Wände, die ewig feucht sind. Auffallend sind die festen, mit Eisenblech beschlagenen Türen, die außer mit einem Schloß auch noch mit einem Riegel versehen sind. Es gibt viele solcher Räume in dem großen Ziegelgewölbe. Seitdem sie geräumt sind, haben sie eine merkwürdige Ähnlichkeit mit Gefängniszellen. Daten und Namen, die in die Wände eingekratzt sind, zeugen davon, daß diese Räume schon oft von Gefangenen bewohnt wurden. Pablo konnte sich später nicht erinnern, wie er in eine solche Kammer, hineingeraten war. Auch seine Mitgefangenen wußten es nicht. „Du bist als letzter gekommen“, flüsterte ihm Bonifacio, ein Landarbeiter, zu. Er zog seine Jacke aus und schob sie Pablo unter den Kopf. Ermattet durch den schweren Schmerz in der Stirn, schloß Pablo die Augen. Er wußte nicht, wie lange er so gelegen hatte, doch plötzlich hatte er den Wunsch zu wissen, ob noch mehr Bekannte anwesend waren, er hob den Kopf. Er spürte den sanften Druck von Bonifacios Händen, die ihn zwangen, still liegenzubleiben, und wieder erfaßte Pablo die tiefe Gleichgültigkeit, die ihm wohltat und ihn gleichzeitig ängstigte. „Du hast eine große Beule auf der Stirn“, flüsterte ihm Bonifacio zu. „Sicher war es ein Kolbenhieb oder ein Querschläger.“ Pablo hörte die Worte des Landarbeiters, doch ihren Sinn begriff er nicht. Sie glitten an der Oberfläche seines Denkens ab wie die Kugeln an den Panzern, auf die er geschossen hatte. Verzweifelt kämpfte er gegen die würgende Gleichgültigkeit, und obwohl sie ihm zärtlich den Schmerz aus den Augen streichelte und Ruhe und Vergessen versprach, wußte er genau, daß es eine Wirklichkeit gab, brutal und voller Gefahren, gegen die
er sich wehren mußte. „Antonio ist auch hier“, hörte Pablo die Stimme wieder über sich. „Die Männer in den blauen Anzügen und die Verwundeten haben sie gleich totgeschlagen, und Taga liegt nebenan allein.“ Mit einer heftigen Bewegung richtete sich der Junge auf und stützte sich auf beide Ellenbogen. „Laß mich“, sagte er zu Bonifacio, der ihn zurückdrücken wollte, und zu sich selbst: „Ich muß mehr an meine Kameraden denken. Taga hat es viel schwerer als ich.“ Er freute sich über seine Gedanken, und ein leises Verantwortungsgefühl erfüllte ihn mit Stolz. Seine Augen gewöhnten sich allmählich an das Kellerlicht. Neugierig geworden, suchte Pablos Blick nach bekannten Gesichtern. Außer Bonifacio und dem Wirt waren es lauter Fremde. Antonio hatte sich in eine Ecke verkrochen. Die Hände hielt er über dem dicken Bauch gefaltet. Das große, platte Kinn ruhte auf der Brust. Sein Gesicht war schwer zu erkennen. Es glich einem langen, schmutzigen Fleck, aus dem manchmal ein kurzes Blinzeln schimmerte. Die wenigen Sonnenstrahlen, die auf dem Zementboden kupferfarbene Striche zeichneten, ließen die Gesichter der übrigen Gefangenen nur schwach aufleuchten. Von draußen wurde der Riegel zurückgeschoben, das metallene Geräusch riß das Geflüster in der Zelle mittendurch. Die Gefangenen sprangen auf. Sie bewegten sich aufeinander zu, und Pablo stand mitten unter ihnen. Durch den langsam größer werdenden Türspalt fiel helles Licht in die Kammer, das sogleich durch eine breite Gestalt, die sich bis zur Schwelle des Raumes vorschob, wieder ausgelöscht wurde. „Pablo Perales, komm raus, du Schuft! Don Ascasso will dich
sehen.“ Pablo duckte sich. Die fette, tief aus der Kehle herausgepreßte Stimme des Gutsaufsehers senkte sich wie ein schweres Gewicht auf seine Schultern. Für einen Augenblick sackten sie nach unten, aber dann hoben sie sich mit dem gemeinsamen Atmen der Gefangenen. „Na, wird’s bald?“ Selbstbewußt wiegte sich die massige Gestalt in den Knien. Pablo zögerte. Den leeren Raum zwischen sich und dem Aufseher empfand er als eine Gefahrenzone, die er zu durchqueren fürchtete. Die Gefangenen schoben sich näher an den Jungen heran, nur Antonio ging ein wenig zur Seite. „Hast genug Unglück über uns gebracht, geh schon!“ zischte er den Jungen an. Mit einem plötzlichen Entschluß hob Pablo die Arme und schob die Männer von sich. „Du Feigling“, sagte er ruhig und spuckte dem Wirt mitten ins Gesicht. Antonio ächzte böse auf. „Ach, du, wirst schon sehen“, knurrte er und zog sich in seine Ecke zurück. Widerwillig trafen die Gefangenen zur Seite und gaben dem Jungen den Weg frei. Aufrecht ging Pablo auf den Aufseher zu. „Kommen Sie“, sagte er stolz. „So, so“, murmelte der Aufseher, als er die Tür schloß. Er kehrte Pablo den Rücken zu, aber einige Schritte weiter stand ein arabischer Posten, der den Jungen scharf beobachtete. „So! Kommen Sie! Ach“, höhnte der Aufseher und drehte sich um. Pablo sah das bekannte Gesicht mit den dicht zusammenstehenden Augen. Die unnatürlich kleinen Ohrmuscheln lagen flach am Kopf. Pablo wunderte sich, daß er dieses Gesicht noch vor kurzem gefürchtet hatte, jetzt empfand er lediglich einen tiefen Widerwillen.
„Was starrst du mich so an? Los, vorwärts!“ knurrte der Aufseher und stieß den Jungen in den Rücken. „So, so! Kommen Sie!“ sagte er, hinter Pablo hergehend. „Hast in den wenigen Wochen, wo ich nicht hier war, schon das Kommandieren gelernt. Weißt wohl nicht mehr, wer du bist?“ schrie er und schlug dem Jungen mit der geballten Faust ins Genick. Der Schlag warf Pablo gegen einen Mauervorsprung. Er tat so, als. ob er verletzt sei. Während er sich mühsam aufrichtete, überlegte er die Möglichkeit zur Flucht, Er wußte, daß hinter eine kleine Treppe kam. Von dem Podest aus führte eine Tür direkt zum Hof, und die kleine Mauerpforte war nur durch einen hölzernen Riegel verschlossen. „Wenn ich nur ein Messer hätte!“ Tränen der Wut traten Pablo in die Augen, „Na, du weinst ja“, lächelte der Aufseher zynisch. „So ist es recht, wer weint, vergißt das Beißen.“ Mit einem sehnsüchtigen Blick auf die Tür stieg Pablo die Treppe hinauf. Vor dem Arbeitszimmer des Granden gebot ihm der Aufseher stehenzubleiben. Der gekrümmte Zeigefinger des Wächters bewegte sich ein paarmal unentschlossen hin und her. Nachdem er sich kräftig geräuspert hatte, klopfte er endlich an. Auf das barsche „Herein!“ öffnete er vorsichtig die Tür und schob Pablo vor sich her. Schon an der Stimme hatte Pablo erkannt, daß der Mann, der mit dem Rücken zum Fenster an einem großen Schreibtisch saß, nicht Don Ascasso war. Außerdem war der Grande schlank, hatte ein schmales, gelbliches Gesicht und langes, bläulich schimmerndes Haar. Jener aber, der unbeweglich auf einen Bogen Papier starrte, hatte schwere Schultern und volle, rosige Wangen. „Senor“, meldete der Aufseher mit einer respektvollen Verbeugung, „hier ist der Kerl.“
Der Mann hinter dem Schreibtisch tat so, als ob er nichts gehört hätte. Sich in dem Ledersessel räkelnd, las er aufmerksam weiter. „Senor“, begann der Aufseher von neuem, hielt dann inne und knuffte den Jungen in den Rücken. „Stell dich vor den Tisch“, befahl er leise. Pablo trat einige Schritte vor. Der Dicke hob langsam den Kopf, und der Junge sah ein Paar helle, kleine Augen, deren Blick träge sein Gesicht abtastete. Mit einer schnellen Bewegung strich sich Pablo über die Stirn. Einer alten Gewohnheit folgend, putzte er die Hand an der Hose ab, und es wurde ihm leichter. Der Dicke schob die Lippen vor und vertiefte sich wieder in das Schriftstück. Die Ruhe des Mannes erzeugte bei Pablo die beabsichtigte Wirkung. Nervös trat er von einem Bein auf das andere. Sein auf Gefahr eingestelltes Nervensystem notierte die geringste Kleinigkeit. Ihm fiel ein, daß der Mann, als er den Aufseher hinausschickte, das „c“ nicht weich und lispelnd wie alle Spanier gesprochen hatte. Auch fehlte jenem dort hinter dem Schreibtisch die satte, bronzene Hautfarbe, die Pablo an den Menschen seiner Umgebung gewöhnt war. Er hat lange im Schatten gelebt und ist sicher ein Ausländer, folgerte der Junge. Endlich legte der Dicke das Schriftstück beiseite, klatschte in die Hände, und aus einer Nebentür traten zwei Männer. Obwohl sie schlanker waren, glichen sie doch in einer gewissen Hinsicht dem Dicken. Auch an ihnen war alles blaß, eckig und träge. Auch das sind Ausländer, dachte der Junge. Einer von den beiden setzte sich an den kleinen Tisch, auf dem eine Schreibmaschine stand, zog eine Pistole aus der Tasche und legte sie neben sich. Der andere stellte sich Pablo gegenüber.
„So.“ Der Dicke nahm einen Bleistift, tippte mit der Spitze leicht auf den Schreibtisch und sagte: „Warum hast du damals den Wächter ermordet?“ Die Frage kam ohne Einleitung, ohne Übergang. Trotzdem warf sie Pablo nicht aus dem Gleichgewicht; im Gegenteil, er fühlte eine gewisse Entspannung. Jetzt wußte er, was man von ihm wollte. Er war empört, daß man ihn des Mordes beschuldigte und bereit, dem Dicken alles zu erklären. „Es ist ja alles anders, als Sie glauben“, antwortete Pablo. „Der Wächter hatte eine Pistole und…“ Der Dicke kniff die Augen zusammen. „Du weißt genau“, unterbrach er Pablo, „daß es gesetzlich verboten ist, einen bewaffneten Zivilisten als Wächter zu verpflichten. Also, wer gab dir die Waffe und den Befehl, ihn zu ermorden?“ Gleichzeitig wandte sich der Dicke an die Männer und sagte etwas, das Pablo nicht verstand. Die beiden erhoben sich. Schritt für Schritt kamen sie auf Pablo zu, bis ihre leblosen, steinernen Gesichter dicht vor ihm standen. Noch nie hatte Pablo etwas von einem Gestapoverhör vernommen, aber in diesem Augenblick wußte er, daß er sich in einer tödlichen Gefahr befand, und er fürchtete sich. „Wie alt bist du? Gab dir Moskau den Befehl zu morden? Warum hast du Land von Don Ascassos Besitz genommen?“ Die Fragen des Dicken folgten schnell aufeinander. Er muß für die Granden arbeiten… dieser Gedanke gemahnte den Jungen daran, daß hinter all den unsinnigen Fragen eine bestimmte Absicht lag. Vor einigen Tagen war er achtzehn Jahre alt geworden. Aber was hatte das mit Moskau zu tun? Allerdings hatte er dieses Wort oft von Taga gehört. Dort wohnten die Menschen, die vor langer Zeit siegreich gegen ihre Granden gekämpft hatten. Die Erinnerung an die Erzählung
Tagas gab ihm neuen Mut und Hoffnung. „Du brauchst nur zu sagen, daß Moskau und Taga Marin dich zu allem verleitet haben“, schmeichelte der Dicke. „Niemand hat mir den Befehl gegeben!“ antwortete Pablo trotzig. Plötzlich hatte er den Wunsch, dem Manne etwas klarzumachen, das er anscheinend nicht begriff. Vielleicht wird er dann auch nicht mehr für die Granden arbeiten, hoffte Pablo. „Don Ascasso ist an allem schuld“, erklärte er eifrig. Der Dicke stand auf und stützte sich mit beiden Händen auf die Schreibtischkante. „Ach“, entgegnete er freundlich. Pablos Hoffnung steigerte sich zu einem freudigen Eifer, und er ging dicht an den Schreibtisch heran. „Er wollte uns verhungern lassen, und darum hat er den Pistolero an das Wasserbecken gestellt, damit die Frucht nichts zu saufen bekam und zugrunde gehen sollte.“ Der Dicke beugte sich ein klein wenig vor, als ob er etwas berechnete. „So weit ist es schon mit dir?“ sagte er ruhig. Nie sollte Pablo den Schlag zu Ende spüren, mit dem ihn der Dicke an die Wand schleuderte. Etwas Neues, Furchtbares löschte alles andere in ihm aus. Verschwommen sah er die beiden Männer über sich, und einer von ihnen griff nach seiner linken Hand. Er hörte das knirschende Geräusch, mit dem seine Finger brachen. Eine schwere Hand preßte sich vor seinen Mund, und sein Brüllen erstarb zu einem Winseln. Und während er den schrecklichen Schmerz hinausheulte, war es still in seiner Seele. Sein Bewußtsein befand sich auf einer nie gekannten Höhe. Nur die gellenden Gongschläge, die in regelmäßigen Abständen durch seinen Körper jagten, drohten manchmal alles zu übertönen. Und in den Pausen, wo er mit zitternder Gespanntheit auf das tönende Reißen in seinem Innern wartete, kämpfte Pablo seinen Kampf gegen sich selbst. Das Tier in ihm, das bereit war, sich demütig der Gewalt zu beugen, ver-
sank in graue Fernen. In strahlender Erinnerung stand er mit Taga auf den Hügeln, und wieder sah er den tollkühnen Angriff der Dynamiteros auf die Panzer. Diese Bilder vereinigten sich zu einem Akkord berauschender Visionen, an denen die Qual zerbrach. Und während er unter der Folter wimmerte, gedachte er mit höhnischer Genugtuung seines Triumphes über den Dicken. Noch einmal spürte er, wie einer seiner Finger zurückgebogen wurde, doch diesmal war der Schmerz nur ein stechendes Zusammenziehen seines Herzens. Wie ein dichter Nebel umhüllte ihn wohltuende Schwäche und entzog ihn seinen Peinigern. Mit einem üblen Gefühl in Mund und Magen wurde Pablo sich wieder seiner Umgebung bewußt. Er hörte nicht sein leises Stöhnen, seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Dicken, der wieder hinter dem Schreibtisch saß. „So geht es jeden Tag, bis du alles gesagt hast“, keuchte sein Gegenüber. Wenn auch Pablo vollkommen wach war, so erfaßte er doch nicht völlig die Worte des Dicken. Der Schmerz in den gebrochenen Fingern und die Beklommenheit, die auf ihm lastete, lähmten ihn. Getrieben vom Selbsterhaltungstrieb und dem Willen, dem Mann im Sessel zu widerstehen, kämpfte er verzweifelt gegen das unsichtbare Netz, das ihn umschnürte und am freien Denken hinderte. Manchmal gelang es ihm, das zähe Gewebe an einer Stelle zu zerreißen, und dann hatte er für einen Moment einen freien Ausblick. In diesem Zustand des völligen Erkennens seiner Lage empfand Pablo Furcht und gleichzeitig den Wunsch, dem Dicken an die Kehle zu springen. In seinem Grübeln überhörte er das Klopfen an der Tür. Doch als gleich darauf Teresa, die Frau des Wirtes Antonio, eintrat, zuckte er ein wenig zusammen. Unbewußt empfand er die neue
Gefahr, die mit dem Eintreten Teresas in das Zimmer auf ihn zukam. Sie warf Pablo einen triumphierenden Blick zu und sagte zu dem Dicken gewandt: „Gut, daß Sie den Kerl haben.“ Sie nahm Platz und begann mit schneller Zunge ihre Aussagen. Pablo war nicht fähig, alle Einzelheiten ihrer Erzählung zu erfassen. Der Wortschwall aus dem Munde dieser Frau drohte ihn wieder in das Nichts zurückzustoßen, aus dem er soeben gekommen war. Doch als sie ausführlich erzählte, wie sich Pablo an den Wächter herangeschlichen und dann geschossen habe, raffte er sich auf und sagte laut und vernehmlich: „Du lügst!“ Teresa schrie leise auf, der Dicke lächelte verzerrt. „Wir werden ihn nach Badajoz schaffen und ihm dort den Prozeß machen“, beruhigte er die Frau, Und mit gehobener Stimme: „Die ganze Welt soll sehen, gegen welche Desperados wir zu kämpfen haben!“ Später führte der Aufseher Pablo hinaus. Kurz vor der Zelle hatte er noch einen Zusammenstoß mit seinem Begleiter. „Wie kannst du den dreckigen Schuften dort oben helfen“, warf der Junge ihm vor. Die Fäuste des Aufsehers trommelten auf das Gesicht Pablos. „Du wagst es, unsere Freunde zu beleidigen?“ Als der Aufseher ihn in die Zelle stieß, kroch Pablo auf Bonifacio zu. Fest schmiegte er sich an den Landarbeiter. Von seinen gebrochenen Fingern sagte er kein Wort. IV Es war am zweiten Tag nach der Gefangennahme, als man Taga aus der Zelle holte. Kreischend öffnete sich nebenan die Tür, und die geflüsterten Gespräche der Gefangenen ver-
stummten. Bonifacio stand auf und preßte sein Ohr gegen die Wand. Doch außer den durch das Gewölbe hallenden Schritten war nichts zu hören. Stunden mochten vergangen sein, und wieder hörten sie Schritte näher kommen. Als sie an der Zelle der Gefangenen vorbeikamen, vernahm Pablo deutlich ein schleifendes Geräusch. „Sie haben ihn ermordet“, flüsterte er Bonjfacio zu, und mit einem tiefen Seufzer fügte er hinzu: „Er hat alles hinter sich.“ Obwohl Pablo nicht genau wußte, daß Taga tot war, hielt er beharrlich an diesem Gedanken fest. Befremdet über sich selbst, machte er die Feststellung, daß er alle Furcht vor dem Tode verloren hatte. Am liebsten hätte er sich in einen Winkel verkrochen, um dort für immer liegenzubleiben. Unwillkürlich dachte er an die Tiere, die gehetzt und verwundet genau so handeln, wie er es jetzt gerne getan hätte. In seiner zerschundenen Hand klopfte unablässig ein heißer Schmerz, und bei dem Gedanken, wieder nach oben zu müssen, kroch er näher an Bonifacio heran. Sachte, kaum spürbar, strich ihm der Landarbeiter über die gebrochenen Finger. „Wir müssen uns auf alles gefaßt machen“, hörte ihn Pablo flüstern. Und nach einer Pause sagte er weich; „Das mit der Hand hättest du mir gleich sagen können.“ Kurze Zeit später holte man Pablo wieder zu dem Dicken. „Morgen wird dein Freund Taga Marin gehängt“, begrüßte er den Jungen lächelnd. Enttäuscht darüber, daß Taga noch lebte, senkte Pablo den Kopf. „Ihr habt das Glück, das ganze mit ansehen zu dürfen“, tat der Dicke freundlich. „Er hat euch alle ins Unglück gestürzt. Nun ja“, fügte er väterlich hinzu, „wenn du alles sagst, wird
sich die Geschichte einrenken lassen.“ Unter den gesenkten Augenlidern blinzelte Pablo zu dem Dicken hinüber. Er sah den weißen, schwammigen Hals, und die Fingernägel seiner gesunden Hand gruben sich tief in die Handfläche. „Was hat Taga damit zu tun, wenn uns Don Ascasso das Wasser stiehlt?!“ Blitzschnell sprang der Mann hinter dem Schreibtisch auf. Mit einem Sprung durch das halbe Zimmer stand er vor Pablo. Keuchend vor Wut riß er die Pistole aus der Tasche. „Also los“, japste er, „wer gab dir den Befehl, den Wächter zu erschießen?“ Für einige Sekunden standen sich die beiden gegenüber. Plötzlich hob Pablo die Faust und schlug seinem Gegner in das verhaßte Gesicht. Soll er nur abdrücken, dachte er. Der Dicke taumelte zurück. Mit maßlosem Staunen schaute er auf Pablo. Dann duckte er sich und brüllte kurz auf. Im selben Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und Pablo sah die beiden anderen. Gemeinsam fielen die drei über den Jungen her. Furcht, Haß und Enttäuschung klatschten in schweren Schlägen auf ihn nieder. Zum zweitenmal konnte sich Pablo nicht erinnern, wie er in die Kellerzelle gekommen war. V Durch den, vergitterten Schacht fiel dünnes Licht in die Zelle. Noch jung und zögernd verdrängte es die Dunkelheit, die sie von allen Seiten umlauerte. Es mochte gegen fünf Uhr sein, und um sechs sollte Taga sterben. Don Ascasso war in solchen Sachen ein peinlich genauer Mann. Verbrecher wurden immer um diese Zeit gerichtet, und so sollte es bleiben. Mit lautem Schlag wurde der Zellenriegel zurückgeschlagen. „Raus!“ sagte der Posten kurz, als er die Tür öffnete.
Wie vom flackernden Licht bewegte Schatten schwankten die Gefangenen durch das Gewölbe, stolperten die Treppen hinauf und standen blinzelnd auf dem Hof. Eine heftige Erregung befiel Pablo, als er an das Kommende dachte. Er hätte gern mit Manuel, einem Städter, den er im Keller kennengelernt hatte, einige Wort gewechselt, doch die Abteilung Marokkaner, die vor ihnen Aufstellung genommen hatte, paßte scharf auf. Außer ihren Gewehren trugen sie kurze Knüppel. In seiner verletzten Hand begann wieder das heiße Klopfen. Sicher staute sich das Blut. Pablo hob sie auf Brusthöhe, und der Schmerz ließ nach. Seine Gedanken kehrten wieder zu Taga zurück. An allem Gemeinen und Schmutzigen, was geschieht, sind die Granden schuld, hatte Marin oft zu ihm gesagt. Er hatte diese Worte gut behalten und wunderte sich, daß Taga deswegen in dicken Büchern gelesen hatte, um es herauszufinden, wo es doch überall zu sehen war. In seiner Einfalt ahnte Pablo nicht, daß Millionen hochentwickelter Menschen diesen einfachen Gedankengang nicht begriffen, und würde es ihm jemand gesagt, haben, er hätte es nicht geglaubt. Pablo sah, wie sich die Eingangstür des Schlosses öffnete. Zuerst erschien Don Ascasso und einige Schritte hinter ihm Gonzales, der Aufseher. Neugierig musterte Don Ascasso die Gefangenen. „Ihr werdet jetzt die neue Ordnung General Francos kennenlernen!“ Er räusperte sich, bog den Kopf zurück und betonte, dabei jeden einzelnen musternd: „Wer seine Taten bereut, kann nachher zu mir kommen.“ Damit er welche hat, die für ihn arbeiten, dachte Pablo höhnisch. Der Grande gab dem Aufseher einen Wink.
In Begleitung einiger Marokkaner ging Gonzales in den Keller und kam mit Taga zurück. Im ersten Augenblick erkannte Pablo seinen Freund und Lehrer nicht wieder. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als ihm klar wurde, daß der Mann, der dort kam, Taga war. Marins Gesicht war nur noch ein blauer, unkenntlicher Fleischklumpen. Das eine Auge fehlte. An seiner Stelle befand sich ein schmaler, blutiger Riß. Um den Hals trug er einen Strick, dessen Ende auf dem Boden schleifte. Ein marokkanischer Offizier gab mit hoher Kinderstimme einen Befehl, und seine Soldaten nahmen Taga in die Mitte. „Schließt euch an!“ schrie Gonzales den Gefangenen zu. Langsam marschierte der Zug durch das Dorf. Zusammen mit einigen alten Leuten bemerkte Pablo Teresa. Als sie Taga sah, senkte sie den Blick. Gustavo, ein greiser Pächter, der etwas abseits stand, trug über der Brust ein breites Band mit den Farben Francos. Auch diese Gruppe schloß sich an. „Alle sollen die neue Ordnung Francos kennenlernen“, murmelte Pablo. Endlich erreichten sie die Richtstätte, einen mit Oliven bewachsenen Hügel, der das Dorf gegen die Saharawinde schützte. Taga stand schon einige Minuten, mit dem Strick um den Hals, auf einer Kiste, als der Dicke und Don Ascasso erschienen. Taga wollte etwas sagen, doch er brachte es nur bis zu einem Gurgeln. Aber Taga gab sich nicht geschlagen. Sein gesundes Auge ruhte spöttisch auf Gustavo, der dösend geradeaus starrte. Plötzlich schien Gustavo zu erwachen. Nervös nestelten seine Hände an dem farbigen Band. Noch einmal wandte Taga seinen Kopf nach Pablo und nickte ihm zu. Pablo nickte zurück. Diese stumme Antwort hob sein Ziel, Wasserbauingenieur zu
werden, für eine gewisse Zeit auf. Die Erkenntnis, daß er vorerst keine Dämme und Talsperren bauen würde, war nicht das Produkt langer Überlegungen, sondern ein schlagartiger Durchbruch seines Schmerzes um Taga und alle anderen, die für die Freiheit seiner Heimat gefallen waren. Taga hatte bis zum letzten Wort recht gehabt, als er sagte: „Du mußt Offizier werden.“ Und innerlich fügte Pablo hinzu: Was nützt mir mein Wunsch, Ingenieur zu werden, so lange es in Spanien Granden und ausländische Eindringlinge gibt, für die ich weniger bin als ein Mulus? So kam es, daß die Ereignisse seinem Denken eine neue Richtung aufzwangen. Er wollte lernen, wie man Tausende Männer, Herzen und Hirne gegen die Feinde seines Volkes führte. Und zum zweitenmal nickte Pablo Taga zu. Ja, ich will Offizier werden und wenn möglich, einer der besten schwor er bei sich. Erst wenn der letzte Gegner vertrieben war, konnte er wieder daran denken, sein Ingenieur Studium aufzunehmen. Ein scharfer Befehl ließ Pablo zusammenzucken. Im gleichen Augenblick wurde Taga von der Kiste heruntergestoßen. Erst jetzt begriff Pablo ganz, daß es zu allem, was er sich vorgenommen hatte, zu spät war. Plötzlich trat Gustavo in das freie Viereck. Sein Gang war merkwürdig jung und elastisch. Furchtlos und hochaufgerichtet ging er auf den schaukelnden Toten zu. Mit zitternden Händen versuchte er, dessen Gesicht zu streicheln, aber es hing zu hoch. Dann drehte sich der Alte mit einer schnellen Bewegung um. Alle Demut war aus seinen verschleierten Augen gewichen. Mit einer Gebärde des Abscheus riß er die Schleife von der Schulter und trat sie in den Schmutz. „Ihr Mörder!“ schrie er, seinen Arm gegen Don Ascasso und den Dicken ausstreckend, „Für jeden, den ihr erschlagt, werden
Tausende meines Volkes gegen euch aufstehen!“ Ein Kolbenhieb warf Gustavo zu Boden. „Bringt sie zurück!“ keuchte Don Ascasso mit einer Geste auf die Gefangenen. Unter den Kolbenhieben der Marokkaner trieb man sie in den Keller zurück. Schwer atmend standen sich die Gefangenen gegenüber. Trotzdem sie schon seit Tagen ohne Essen waren, war eine freudige Kraft in ihren Herzen. „Ach, Taga und Gustavo“, sagte jemand, und in seiner Stimme schwangen Stolz und Zuversicht. Nach einer Weile merkten sie, daß der Wirt fehlte. „Er ist mit dem Aufseher ins Schloß gegangen“, sagte Manuel. „Bereut noch jemand? Ich kann klopfen.“ Niemand meldete sich. VI Noch am selben Tage zogen die Truppen, die das Dorf besetzt hielten, ab. Nur eine kleine Wache blieb zurück. Von einem Hügel, unweit der Straße, sah Jakinto den Lastwagen nach. Staub wirbelte auf. Wie ein grauer Schleier hüllte er die Autokolonne ein. „Möge euch die Sierra zu Staub zerschmettern!“ schrie der Schäfer den Abziehenden nach. Gegen Abend trieb er die Herde in eine nahe Schlucht. „Laßt sie nicht durch“, sagte er zu den beiden Hunden, die sich vor den schmalen Eingang legten. Dann hing er den buntgeflickten Überwurf über die Schultern und ging zu seiner kleinen aus Feldsteinen gebauten Hütte. In dem einzigen Raum, der gleichzeitig als Küche und Schlafzimmer diente, löste der Schäfer einen Stein aus der Wand und entnahm einer Blechdose einen Revolver.
Jakinto wußte genau, was er, tat. Er wußte auch, daß dieser Abend der letzte in seinem Leben war. Sein Blick musterte die grauen Hänge, welche sich steil und unerwartet von dem hügeligen Gelände trennten. Dort kam er nicht hinüber, die alten Knochen taten es nicht mehr. Sein Blick kehrte wieder zu seiner näheren Umgebung zurück. Bei einem alten ausgehöhlten Olivenbaum blieb er stehen. Sie hatten sich schon gekannt, als beide noch jung und stark waren. Zärtlich streichelte er die graue Rinde. An seinem Stamm hatte einst Marie gelehnt. Aber das war lange her, und Jakinto ging weiter. Auf dem Hügel sah er durch die Baumzweige den Galgen und den Toten. Den Sombrero vor die Brust gepreßt, beugte Jakinto tief den Rücken. Ächzend richtete er sich wieder auf. Mit Tagas Tod war das Kettenglied zwischen gestern und heute gewaltsam gesprengt worden. Alle hatte er sie aus dem Nichts herausgerissen und in ihre Seelen die Macht der Empörung und der Hoffnung gesenkt. Zum erstenmal war Jakinto Mitbesitzer der Herde gewesen. Mit der Rückkehr des Granden war alles vorbei. Doch jetzt konnte er das Neue, das nur einmal in sein Leben getreten war, nicht mehr vergessen. Wie ein Sturm war es über ihn hereingebrochen. Noch bis vor wenigen Tagen waren ihm die besten Weideplätze für seine Herde nicht mehr gut genug gewesen. Bis zu den Hängen, in deren Schatten die Kräuter saftiger wuchsen, hatte er die Herde getrieben, und die Tiere wurden fett und blieben gesund. Sogar die Nächte hatte er dort verbracht; denn es war nicht gut, die Schafe mit vollen Bälgen zu treiben. Auch das war vorbei. Für wen sollte er sich jetzt noch abrakkern? Er wußte, daß das Neue wieder auferstehen würde, zu viele
hatten es gleich ihm erlebt. Schmerzlich erkannte er, daß sein Alter ihm keine Zeit mehr ließ, auf die Zukunft zu hoffen. Der Schäfer warf den Kopf in den Nacken. Von den Marokkanern wußte er, daß zwölf Gefangene bei Don Ascasso im Keller saßen. Dann sollten wenigstens die zwölf für diese Zukunft leben und kämpfen, und Jakinto war entschlossen, Gonzales zu töten. Der Aufseher war ein treuer Knecht des Granden, und als solcher besaß er den Schlüssel zu der Kammer. Der Schäfer spuckte weit aus. Treue Knechte waren ihm zuwider. Auf seinem langen Lebensweg hatte er erfahren, daß sie ihre Treue zum Herrn täglich und stündlich durch Verrat an ihren Mitknechten erkaufen mußten. „Senior“, sagte Jakinto, als er vor dem Aufseher stand, „eine Seuche ist ausgebrochen.“ „Was“, schrie der Aufseher, auf den Schäfer zukommend, „wie ist das möglich?“ Jakinto machte sich so klein er konnte. „Ich weiß es nicht“, antwortete er demütig. „Die Tiere legen sich hin und stehen nicht mehr auf. Selbst die Hunde bringen sie nicht mehr hoch.“ „Eine Seuche“, jammerte der Aufseher, „gerade jetzt, wo wir das Fleisch zu guten Preisen an die Intendantur verkaufen können. Du Lump hast dich während meiner Abwesenheit herumgetrieben, statt die Herde zu pflegen! Komm, gehen wir.“ „Wirst dich wundern, alter Schuft!“ wiederholte der Aufseher mehrere Male, während sie zur Herde gingen. Ein betrunkener Legionär schaute den beiden mit blödem Grinsen nach. „Schlag ihn tot, bei der heiligen Madonna, schlag ihn tot“, lallte er. „Wo sind die kranken Tiere?“ fragte Gonzales, als sie die Schlucht erreicht hatten. Sein Blick glitt über die Herde hinweg, die behaglich wiederkäuend sich gelagert hatte.
„Na“, herrschte er den Schäfer an. „Wird’s bald?!“ „Senior“, begann der Alte, sich aufrichtend, „würden Sie für ein altes Tier zwölf junge, kräftige geben?“ Das Gesicht des Aufsehers färbte sich dunkel vor Wut. „Du Idiot“, sagte er und hob gegen den Schäfer die Faust. „Senior“, entgegnete Jakinto ruhig, „wer erlaubt Ihnen, einen alten Mann zu duzen, der Ihr Vater sein könnte. Und dann bin ich kein Idiot; denn ich möchte auf diesen Handel eingehen.“ Gonzales blieb wie angewurzelt stehen. „Du verkommenes Luder“, keuchte er. Mit einer raschen Bewegung schlug Jakinto den Überwurf zurück, und der Aufseher sah in die Mündung eines Revolvers. „Legen Sie die Schlüssel zur Zelle der Gefangenen neben sich.“ Jakintos Stimme war scharf und befehlend. Gonzales kannte die Gesetze des Bürgerkrieges. Ohne zu zögern, griff er in die Tasche und warf den Schlüssel vor sich hin. „Machen Sie keinen Unsinn, Senior Martinez“, stammelte er. Auf seiner Stirn stand dicker Schweiß. „Ich mußte ja alles tun. Die Granden, die Schufte, verlangten es ja.“ Jakinto nickte eifrig. „Ich mache Ihnen ja auch keinen Vorwurf“, entgegnete er höflich. „Nur sollen Sie wissen, was von Ihnen die Granden verlangten, verlangt von mir mein Volk.“ Die Hoffnung in Gonzales Augen erlosch. Die kräftige Gestalt sank in sich zusammen. Langsam ging der Aufseher in die Knie und rutschte auf den Schäfer zu. Jakinto schoß zweimal kurz hintereinander. Die steilen Lehmwände sogen den Knall auf, und Gonzales kollerte zur Seite. Erschöpft ließ sich Jakinto nieder. Der schwerste Teil seines Vorhabens lag hinter ihm. Er kannte die Legionäre. In der Nähe der Front würde sich niemand nachts außerhalb des Dorfes aufhalten, und im Kellergewölbe waren nur dann eine oder
mehrere Personen, wenn ein Gefangener zum Verhör geführt wurde. Geduldig wartete der Schäfer, bis es völlig dunkel war und begab sich wieder zum Schloß. Durch das Mauerpförtchen betrat er den Hof, ging auf die Kellertür zu und drückte eine der kleinen Scheiben ein. Dann griff er durch die Öffnung, zog den inneren Riegel zurück und ging in das Gewölbe hinab. Leise vor sich hinfluchend, suchte er mit aufgeregten Händen den Lichtschalter; dann fiel ihm ein, daß das Licht draußen bemerkt werden könnte, und er tappte im Dunkeln weiter. Lauschend ging Jakinto von Tür zu Tür, bis ihm endlich ein kurzer, trockner Husten verriet, wo sich die Gefangenen befanden. Als er die Tür öffnete, befiel ihn plötzlich eine heftige Erregung. „Kommt heraus, Companeros“, sagte er mit bebender Stimme, „kommt heraus, Genossen, der alte Jakinto holt euch.“ Endlich schienen die Gefangenen begriffen zu haben. „Es ist wirklich Jakinto!“ Befriedigt vernahm der Schäfer Pablos überraschten Ausruf. Die Gefangenen drängten sich an Jakinto heran. „Wollt ihr den alten Jakinto umbringen?“ protestierte er. „Macht, daß ihr herauskommt, es könnte jemand kommen.“ Schnell und geräuschlos verließen sie das Gewölbe. Außerhalb der Mauer blieben sie einen Augenblick lauschend stehen. Von der Wachstube scholl gedämpft das Gejohle der Legionäre zu ihnen herüber. Einer plötzlichen Eingebung folgend, suchte Pablo das Gesicht des Landarbeiters, Obwohl der Mond noch nicht aufgegangen war, gab der sternübersäte Himmel so viel Licht, daß er Bonifacios strenge, ausgemergelte Züge gut erkennen konnte. Er gewahrte in ihnen dieselbe lauernde Gespanntheit, die ihn selbst beherrschte. „Wie wäre es?“ fragte Pablo, den Landarbeiter leicht am Är-
mel zupfend und in die Richtung deutend, aus der der grölende Gesang kam. Bonifacio schob den Kopf vor, und Pablo sah eine Reihe mattschimmernder Zähne, Dann ging der Landarbeiter einige Schritte vor und blieb lauschend stehen. „Komm, wir müssen gehen.“ Bonifacio drehte sich rasch um. „Wir haben seit vier Tagen nichts gegessen und sind zu schwach.“ In zwei Gruppen geteilt, begaben sich die Männer zur Schlucht. Schnaufend ließen sie sich am Rande des Hügeleinschnittes nieder. Jakinto entfernte sich und kam in einigen Minuten mit Brot und Wein zurück. Während die Männer gierig das Brot hinunterschlangen, musterte Jakinto jeden einzelnen von ihnen. „Companieros“, begann er mit leiser, singender Stimme, „Pablo wird die Hälfte von euch ins Gebirge führen, bis zu der Stelle, wo das Wasser aus dem Felsen springt. In zwei Stunden könnt ihr dort sein. Mit dem Rest werde ich die Herde abstechen.“ Das schmatzende Kauen der Männer hörte plötzlich auf. „Ich weiß“, fuhr Jakinto beschwichtigend fort, „es ist eine Sünde, junge gesunde Tiere zu töten. Aber bedenkt, das Fleisch unserer Herde soll die verfluchten Eindringlinge sättigen, damit ihr Dasein angenehm wird, und sie bereit sind, das Leben unseres Volkes auszulöschen.“ „So ist es“, sagte jemand, und Jakinto nickte befriedigt. „Wenn die Arbeit hier getan ist“, fuhr er fort, „werde ich die anderen bis zur Quelle geleiten, von da aus müßt ihr alleine weiter.“ Die Männer waren plötzlich satt. Einige steckten den Rest des Brotes zu sich. Pablo warf seinen Teil den Hunden vor. „Und was wird aus Ihnen, Companero Martinez?“ fragte er.
Jakinto zog den Überwurf fester um sich. Es wurde kalt, und er fröstelte. „Compamieros“, des Schäfers Stimme klang fest und ruhig, „ich habe noch einige Schüsse in meinem Revolver, und einer genügt für mich.“ Bedrückt schwiegen die Männer. Sie kannten die Sierra, und Jakinto bei einem der Bauern unterzubringen, war auch nicht möglich. Sie wußten aus Erfahrung, daß jede Hütte von Marokkanern und Legionären untersucht werden würde. Pablo stand auf. „Wir wollen gehen“, sagte er. Die üblichen Fußwege vermeidend, führte er die fünf bis zum Wasserfall. Auf einer Felsplatte, von der aus sie das Tal überschauen konnten, ließen sie sich nieder. Posten aufzustellen, erübrigte sich. Niemand, außer Verfolgten, würde es einfallen, nachts im Gebirge herumzulaufen. Auf dem Bauche liegend, starrte Pablo vom Rande des Plateaus hinab zum Dorf. Eines Tages würde er zurückkehren, und dieser Tag würde der letzte für Don Ascasso sein. Bei dem eintönigen Brausen des in die Tiefe stürzenden Wassers grübelte Pablo vor sich hin, bis Jakinto mit den anderen kam. Keuchend ließ sich Jakinto auf einem Felsblock nieder, und nachdem er sich erholt hatte, wandte er sich den Männern zu. „Ihr müßt jetzt gehen.“ Manuel war der erste, der sich von Jakinto verabschiedete. „Du hast unserem Volk zwölf Söhne geschenkt; nie werden wir unseren Vater vergessen“, sagte er im Namen aller. Dann ging einer nach dem anderen auf den Schäfer zu. Pablo war der letzte, der sich von ihm verabschiedete. Die Gestalt des Schäfers überragte ihn um Haupteslänge. In dünnen, farblosen Strähnen fiel dem Alten das Haar seitlich ins Gesicht. „Ich werde dich nie vergessen“, stammelte Pablo.
„Es ist gut“, erwiderte Jakinto. „Morgen wirst du bei den Kämpfenden sein“, fuhr er nach kurzer Pause fort, „Du bist jung und hast noch einen langen Weg vor dir. Lerne erkennen, was deinem Volke nützt und handle danach. Nur so wirst du auch in der tiefsten Knechtschaft frei sein.“ Pablo gedachte noch dieser Worte, als er gemeinsam mit seinen Kameraden an einer steilen Wand hing. Sie kletterten neben- oder schräg übereinander; denn manchmal löste sich beim Greifen ein Stein. Von Pablos linker Hand konnte nur der Daumen greifen. Obwohl sich der Junge die größte Mühe gab, stieß er mit den gebrochenen Fingern immer wieder gegen die harte Wand, und Schmerz und Erschöpfung machten ihn schwindeln. Verzweifelt schaute er nach oben. Er sah nur die graue Wand in der grauen Morgendämmerung. Sein Kopf, seine Beine, der ganze Körper wurden gefühllos, sogar die linke Hand schmerzte nicht mehr. Er sah den Rand des Abgrundes schwach aufleuchten, die Sonne ging auf. Plötzlich hörte er einen entfernten dumpfen Knall unter sich. Die Granithänge hallten ihn wider und warfen ihn weit über die Kletternden. „Jakinto!“ schrie der Landarbeiter und Pablo spürte, daß er wieder stark wurde. Deutlich sah er nun die winzigen Vorsprünge und Einschnitte, an denen sein Leben hing. Mit wilder Verbissenheit griff er zu und stieg höher und höher. Er war der jüngste von den zwölf Söhnen. Durfte er seinem Vater Schande bereiten? Wenige Stunden später befanden sich die zwölf in den neuen Stellungen der Verteidiger, und schon am anderen Morgen brachte ein Lastwagen, der Lebensmittel und Munition beförderte, Pablo zur Offiziersschule.
Im Vorzimmer zum eigentlichen Hörsaal empfing ihn der Schulungsleiter. „Bevor du Offizier wirst, mußt du wissen, was eine Waffe ist“, wandte er sich an den Jungen. Pablo war verblüfft. Wollte der Schulungsleiter ihn zum Narren halten? Eine Waffe war ein Gewehr, eine Kanone und was es sonst noch alles gab. „Dreh dich um“, sagte der Schulungsleiter. Pablo gehorchte. In großen Buchstaben stand auf der gegenüberliegenden Wand: Eine Waffe ist: Die Liebe zu seinem Volk! Eine Waffe ist: Wer lieber stehend stirbt, als auf den Knien weiterlebt! Eine Waffe ist: Lernen! Lernen! Um zu siegen!