Achim Hiltrop präsentiert
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Achim Hiltrop präsentiert
Folge 1: Das Totenschiff auf der Themse An einem düsteren Novembermorgen des Jahres 1876 kehrte Colin Mirth in seine Heimat England zurück. Ein dichter Nebel hatte sich wie ein Leichentuch über London gelegt. Obwohl die Sonne schon hoch am Himmel stehen mußte, war es finster und kalt in den Straßen der Stadt. Durch die undurchbringlichen Nebelschwaden, die aus der Themse aufstiegen und sich mit den rußigen Rauchwolken aus unzähligen Schornsteinen zu einem alles erstickenden grauen Schleier vereinigt hatten, konnte man kaum die Hand vor den Augen sehen. Die Droschke, die Colin durch die menschenleeren Straßen kutschierte, fuhr entsprechend langsam. Schemenhaft konnte er Westminster Abbey auf der rechten Straßenseite erkennen, und obwohl er nur einige hundert Yards von Big Ben entfernt sein konnte, hörte er das Glockenspiel der gewaltigen Turmuhr wie aus weiter Ferne. Wenige Minuten später kam die Kutsche zum Stillstand, und der Kutscher öffnete ihm die Tür. "Wir sind da, Sir. Whitehall Street, Nummer vier." Colin setzte seinen Hut auf und stieg aus. Fröstelnd klappte er das Revers seines Mantels hoch. "Scotland Yard", murmelte er und ließ den Anblick des düsteren Gebäudes einen Moment auf sich einwirken. "Ja, Sir." Colin nickte entschlossen, holte sein Gepäck aus dem Inneren der Droschke und ließ eine Handvoll Münzen in die aufgehaltene Hand des Kutschers klimpern. "Oh, Sir... danke, Sir!" Der Mann verbeugte sich tief. "Milord sind zu gütig." Colin schulterte seine Reisetasche und öffnete die schwere Eichentür des Gebäudes. * "Nehmen Sie doch Platz, Mister Mirth." Inspector William Pryce deutete auf einen der beiden Stühle, die gegenüber von seinem Schreibtisch standen. Der andere war bereits von einem untersetzten kleinen Polizisten in Beschlag genommen worden, dessen buschiger Schnauzbart sich bei Colins Eintreten in der Karikatur eines Lächelns bewegt hatte. Colin bedankte sich und nahm Platz. "Tee?" fragte Pryce. "Nein, danke", lehnte Colin ab, "Tee bekommt mir nicht, Sir." "Wie befremdlich", bemerkte der Polizist, der neben ihm saß und seinen Schnurrbart zwirbelte. Pryce kam Colins Antwort zuvor. "Ich fürchte, Sie beide sind sich noch nicht vorgestellt worden. Commander Colin Mirth vom Secret Service – Sergeant Archibald Moore, Scotland Yard." "Angenehm, Commander." Moore reichte Colin die Hand. "Sehr erfreut, Sergeant." Colin erwiderte Moores festen Händedruck.
Colin Mirth "Oder vielleicht hätte ich sagen sollen 'bisher beim Secret Service', denn genau hier liegt der Anlaß für unser Gespräch", fuhr Pryce fort. "Ich kann es kaum erwarten, von Ihnen ins Bild gesetzt zu werden, Inspector Pryce", sagte Colin mit einem leicht irritierten Unterton. "Ich habe viele Jahre für den Secret Service im Ausland verbracht und verstehe nicht, warum ich so plötzlich zurück nach England zitiert wurde. Noch weniger verstehe ich, warum ich mich bei Ihnen melden sollte und nicht bei meinen eigentlichen Vorgesetzten. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Sir..." "Oh, nicht der Rede wert", winkte Pryce ab. "Ich denke, ich kann alles zu Ihrer Zufriedenheit erklären." Er zog eine dicke Akte aus einer Schreibtischschublade hervor, legte sie vor sich hin und begann darin zu blättern. "Sie sind in der Tat viel herumgekommen, Mister Mirth. Die Vereinigten Staaten von Amerika, Japan, Indien, Ägypten, Europa... Sie haben so ziemlich das gesamte Commonwealth gesehen, was?" Colin bemerkte den erstaunten Seitenblick, den ihm Archibald Moore zuwarf. Er lächelte nonchalant. "Meine Vorgesetzten sind in allen Fällen mit meiner Arbeit zufrieden gewesen." "Daran habe ich nicht gezweifelt, Mister Mirth." "Worin genau bestand Ihre Arbeit, Commander Mirth?" fragte Moore neugierig. Colins Mundwinkel zuckten nach oben. Er hob den Finger an die Lippen. "Secret Service, Sergeant." "Mister Mirth ist im Auftrag der Königin unterwegs gewesen, um dort zu ermitteln, wo normale Kriminologen wie unsereins nicht weiterkommen, Sergeant", klärte Pryce seinen Untergebenen auf. Moore runzelte die Stirn. "Sie meinen doch nicht etwa..." "Er ist ein Geisterjäger", sagte Pryce. Colin zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Wenn Sie es so nennen wollen." "Ein Geisterjäger", wiederholte Moore ungläubig. "Ein Spezialist in paranormaler Physik und Psychologie", korrigierte Colin die Bemerkung des Polizisten, "ich versichere Ihnen, mein Beruf ist seriös." "Wie auch immer", wandte Pryce verdrossen ein, "der Secret Service hat aufgrund einer internen Umorganisation das Ressort Paranormale Phänomene schließen müssen. Sie, Commander Mirth, sind mit sofortiger Wirkung Scotland Yard unterstellt. Ich bin Ihr neuer Vorgesetzter." Colin lächelte höflich. "Ich werde mich bemühen, Ihnen nicht über Gebühr zur Last zu fallen, Sir." "Ich bitte darum. Wir prüfen derzeit, mit welchem Dienstrang Sie überhaupt in den Polizeidienst übernommen werden, Commander. Es gibt bislang keinen Präzedenzfall." Pryce deutete auf Sergeant Moore. "Da Sie die letzten dreizehn Jahre im Ausland verbracht haben, hielt ich es für richtig, Ihnen für die erste Zeit einen erfahrenen Begleiter an die Seite zu stellen. Sergeant Moore wird Ihnen mit Rat und Tat behilflich sein, um Ihnen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern. " "Mit Verlaub, Sir..." Colin gestattete sich einen kurzen skeptischen Blick auf den korpulenten Polizisten neben ihn. "Nichts zu danken, Commander. Das ist doch das Mindeste, was ich für einen Heimkehrer tun kann, der so lange in der Fremde war." Pryces Tonfall ließ erkennen, daß er keine Widerrede duldete. Colin seufzte leise. "Also schön. Vielen Dank jedenfalls." Sergeant Moore stand auf und wandte sich zum Gehen. Colin fing seinen Blick auf und erhob sich ebenfalls. Die Audienz war beendet; Pryce war in die Lektüre von Colins Akte vertieft. Seite 2
Colin Mirth "Ach, und... Commander?" rief Pryce hinter ihnen her, als Colin schon beinahe die Tür hinter sich geschlossen hatte. Colin drehte sich um. "Ja, Sir?" Pryce ließ die Akte kopfschüttelnd in seiner Schreibtischschublade verschwinden. "Es wird das Beste sein, Sie gewöhnen sich an anständige Polizeiarbeit. Je schneller, desto besser. In unserer Stadt gibt es keine Gespenster, die Sie jagen könnten." Colin nickte. "Ja, Sir." * "Sie dürfen es Mister Pryce nicht übel nehmen, Commander", sagte Moore, als er Colin in sein neues Büro führte. "Der Inspector ist ein sehr realistisch denkender Mann. An Geister und Gespenster glaubt er nicht, und für ihn ist der einzige Mensch, der jemals über den Tod hinaus noch gelebt hat, unser Heiland Jesus Christus." Colin gähnte verhalten. "Ja, so etwas dachte ich mir." "Ich sehe das ganz anders", fuhr Moore im Plauderton fort, "wie heißt es doch so schön, 'es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt'." "Hamlet, erster Akt, fünfte Szene", antwortete Colin wie aus der Pistole geschossen. "Ich jedenfalls bin schon gespannt darauf, mit Ihnen zusammen zu arbeiten", sagte Moore und öffnete die Tür des Büros. Colin stieß einen leisen Pfiff aus. Das Büro war recht geräumig, verfügte über große Fenster und bot genügend Platz für zwei Schreibtische. Was ihn aber verblüffte, war die Tatsache, daß eine unsichtbare Grenze mitten durch den Raum zu gehen schien, welche das Büro säuberlich in zwei Hälften teilte. Während die eine Hälfte des Büros makellos sauber und aufgeräumt war, hatte in der anderen Hälfte des Zimmers offenbar seit Monaten niemand mehr geputzt. Die Fensterscheiben waren blind, Spinnweben hingen in den Ecken, und eine dicke Staubschicht lag auf dem Schreibtisch und dem dazugehörigen Stuhl. Moore hüstelte verlegen. "Das da... äh... ist übrigens Ihre Hälfte des Büros. Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, aufzuräumen." Colin warf dem Sergeant einen gequälten Blick zu. "Was Sie nicht sagen." "Soll ich... soll ich Ihnen helfen?" Moore schien der Moment außerordentlich peinlich zu sein. "Lassen Sie nur", winkte Colin ab. Er stellte seine Reisetasche auf den Boden, wo sie eine kleine Staubwolke aufwirbelte. "Tja... ich geh' dann mal eben in die Teeküche", entschuldigte sich Moore und beeilte sich, das Büro zu verlassen. "Sind Sie sicher, daß Sie keinen Tee möchten, Commander Mirth?" "Danke, nicht nötig." "Bin gleich wieder da." Moore schlenderte den langen Korridor zu dem kleinen Aufenthaltsraum hinab, wo ein riesiger Samovar aus Messing auf einem Tischchen in der Ecke auf ihn wartete. Drei Minuten später kehrte er mit einer großen, dampfenden Tasse zurück. Er legte seine fleischige Hand auf die Türklinke, öffnete die Tür zu seinem Büro – und erstarrte mitten in der Bewegung. Das Zimmer – das ganze Zimmer – war sauber. Nirgendwo lag auch nur ein einziges Stäubchen. Die Fenster waren klar wie am ersten Tag. Die Spinnweben waren verschwunden, und Moore hätte schwören können, daß es irgendwie nach frischer Farbe roch. Selbst das Gaslicht über Colin Mirths Schreibtisch, welches seit Monaten kaputt gewesen war, brannte wieder. Seite 3
Colin Mirth "Was ist denn hier passiert?" fragte er stockend. Colin Mirth saß regungslos an seinem aufgeräumten Schreibtisch, die Hände auf der Tischplatte gefaltet. "Was soll denn hier passiert sein? Ich habe Staub gewischt, ehe ich Platz nahm, wieso?" "Aber Sie..." Moore stutzte. Sein neuer Kollege saß ganz ruhig da. Er ist nicht mal aus der Puste, ging es ihm durch den Kopf. "Aber ich..." Er sah verwirrt auf seine Taschenuhr und verschüttete dabei beinahe seinen Tee. Ich war doch wirklich nur ein paar Minuten fort... "Wollen Sie den ganzen Nachmittag dort in der Tür stehen und zusehen, wie Ihr Tee kalt wird?" grinste Colin. "Äh, nein." Moore ging mit schweren Schritten zu seinem Schreibtisch und ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Eine Weile saßen sich die beiden Männer stumm gegenüber und versuchten, den Blicken des jeweiligen Gegenübers auszuweichen. Dann räusperte sich Moore. "Haben Sie eigentlich schon eine Unterkunft in London, Commander Mirth?" Colin nickte. "Ich habe ein Zimmer bei einer Cousine meiner Mutter. Das wird genügen, bis ich etwas Eigenes gefunden habe." Moore rührte seinen Tee um und nippte vorsichtig daran. "Schöne Gegend?" "Belgravia." "Ooh... Belgravia", machte Moore anerkennend. "Eine schöne Gegend, in der Tat." "Obwohl ganz London bei diesem Wetter gleich aussieht", meinte Colin mit einem Blick aus dem Fenster. "Falls es Sie tröstet, Commander Mirth, es gibt Stellen in dieser Stadt, die sind so finster, daß selbst an einem sonnigen Sommertag weder Licht noch Wärme dort einkehren", sagte Moore mit einem unheilvollen Unterton. "Klingt verlockend", erwiderte Colin schmunzelnd, "Sie dürfen auf keinen Fall versäumen, mir diese Fleckchen zu zeigen, wenn Sie mich wieder an das Leben in London gewöhnen wollen." Moore setzte seine Tasse ab. "Was der Inspector vorhin sagte... daß Sie an Fällen gearbeitet haben, in denen die normale Kriminalistik versagt... stimmt das?" Colin nickte müde. "Ja, das stimmt. Solchen Sachen bin ich in den vergangenen Jahren nachgegangen." Moore senkte die Stimme, als er fortfuhr. "Dann schickt Sie vielleicht der Himmel. Ich habe da seit geraumer Zeit einen Fall, in dem ich beim besten Willen nicht weiterkomme. Hätten Sie Interesse, mal einen Blick dort hinein zu werfen?" Colin zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Pryce sagte, ich sollte mich an den Gedanken gewöhnen, ein Polizist zu sein. Meinetwegen können wir gleich damit anfangen. Worum geht es denn?" Moore sprang auf und begann, in seinen Unterlagen nach der entsprechenden Akte zu suchen. * Moore hatte nicht zuviel versprochen, dachte Colin nach einer Weile. Der Fall war in der Tat ein ungelöstes Rätsel. Vor genau einem Jahr, genauer gesagt am 16. November des Jahres 1875, hatte alles angefangen. Elsie Lancaster, eine Prostituierte aus Soho, war eines Nachts spurlos verschwunden. Die einzige Zeugenaussage, die Moore hatte aufnehmen können, war die von Emma Fairweather gewesen, einem anderen Straßenmädchen aus der Gegend. Leider hatte sich die Aussage von Miss Fairweather als unbrauchbar erwiesen, da die Seite 4
Colin Mirth junge Dame zugegeben hatte, zum fraglichen Zeitpunkt beträchtliche Mengen Gin konsumiert zu haben. Wenige Monate später hatte es einen ähnlichen Fall gegeben. Patrick O'Malley, ein irischer Dockarbeiter, war zuletzt in der Nähe des Towers gesehen worden. Wenige Sekunden später war er wie vom Erdboden verschluckt. Einer seiner Arbeitskollegen, Henry Parker, hatte zwar eine Aussage gemacht, aber auch die war aufgrund der Tatsache, daß Mister Parker im alkoholisierten Zustand angetroffen worden war, wertlos. "Er hat natürlich beteuert, er habe sich erst nach dem Vorfall betrunken und sei vorher nüchtern gewesen, der arme Teufel", sagte Moore kopfschüttelnd, "aber ich stand wieder vor dem gleichen Problem. Nicht nur, daß die einzigen Zeugen in beiden Fällen der untersten sozialen Klasse entstammten, Commander, sie waren auch noch sternhagelvoll. Daher mußte ich leider in beiden Fällen die Zeugenaussagen verwerfen und Miss Lancaster und Mister O'Malley offiziell als vermißt melden." "Was genau haben Miss Fairweather und Mister Parker denn nun ausgesagt?" hakte Colin nach. "Das ist ja das Verrückte", Moore zwirbelte nachdenklich seinen Schnurrbart und nippte an seinem kalt gewordenen Tee, "die Aussagen stimmten in einigen wesentlichen Punkten überein. Sowohl Miss Fairweather als auch Mister Parker haben ausgesagt, daß sich die beiden Vermißten kurz vor ihrem Verschwinden am Ufer der Themse aufgehalten haben. Beide berichten auch davon, daß im fraglichen Moment ein mysteriöses Schiff auf dem Fluß vorbeigekommen sei." Colin horchte auf. "Ein Schiff?" "Ein... äh... Dreimaster. Ein ziemlich altes Segelschiff, welches auch übereinstimmend als relativ verwahrlost bezeichnet wird." "Beide haben das berichtet?" vergewisserte sich Colin, "und trotzdem wurden beide Aussagen verworfen?" Moore zuckte hilflos mit den Schultern. "Was hätte ich tun sollen? Ich hatte bereits angefangen, mich nach dem Halter eines solchen Schiffes zu erkundigen, als mich der Inspector darauf aufmerksam machte, daß die Zeugenaussagen vor Gericht nicht glaubwürdig genug wären. Womit er zweifelsfrei Recht hat." Colin kratzte sich nachdenklich am Kinn. "Trotzdem..." "Oh, es kommt noch besser, Commander", Moore lachte trocken, "es gab im Sommer diesen Jahres noch einen dritten Fall. Und diesmal handelte es sich um ein Mitglied der Oberschicht, was die Sache noch delikater macht." Colin runzelte die Stirn. "Alle drei sind menschliche Wesen, Sergeant Moore. Ein Tod ist so erschütternd wie der andere." "Aber nicht jeder Verlust wiegt gleich schwer", entgegnete Moore mit einem matten Lächeln, "man merkt Ihnen an, daß Sie lange nicht in England waren, Commander. Sie werden schon noch herausfinden, was ich meine." "Was ist also mit dem dritten Fall?" fragte Colin. "Vier Monate nach dem Verschwinden von Mister O'Malley traf es Lord Percy Waltham. Seine Frau, Lady Elizabeth Waltham, gab zu Protokoll, ihr Gatte wäre im Dunkeln hinab ans Ufer der Themse gegangen, um sich... nun ja... um sich zu erleichtern. Im nächsten Moment sei dann ein großes Segelschiff, das sich in einem beklagenswerten Zustand befunden habe, vorbeigekommen. Eine vermummte Gestalt sei gekommen und habe ihren Gatten verschleppt. Es gab einen ziemlichen Skandal damals, das kann ich Ihnen sagen. Die Lebensversicherung für Lord Waltham hat bis heute nicht gezahlt, und –" "Lagen eigentlich immer vier Monate zwischen den Vorfällen?" unterbrach Colin die Ausführungen des Sergeants. Seite 5
Colin Mirth Moore stutzte und fing an, in den Unterlagen zu blättern. "Jetzt, wo Sie es sagen... äh, ja, ziemlich genau vier Monate. Warum fragen Sie?" Colin verschränkte die Arme vor der Brust. "Ach nichts. Nur so ein Gedanke." Der Sergeant reckte sich und sah auf die Uhr. "Gute Güte, ist es schon so spät? Wir sollten allmählich nach Hause gehen! Oder... sagen Sie, Commander, hätten Sie noch Lust auf ein Gläschen unten im Red Lion?" Colin stand auf und schulterte seine Reisetasche. "Vielen Dank, Sergeant, aber ich werde in Belgravia sicher schon erwartet. Wie wäre es mit morgen abend?" "Ich nehme Sie beim Wort", strahlte Moore. * Das Hausmädchen öffnete, als Colin den Klingelzug bediente. Sie sah ihn mürrisch durch die halbgeöffnete Tür an. "Sie wünschen?" fragte sie. "Guten Abend. Mein Name ist Colin Mirth. Ich bin bei Lady Phoebe angemeldet", sagte Colin und verkniff sich ein Grinsen. Phoebe Carmichael schien einen enormen Verschleiß an Bediensteten zu haben. Bei jedem seiner Besuche öffnete ihm ein anderes junges Ding die Tür. "Commander Mirth!" Das Gesicht des Hausmädchens hellte sich auf. "Treten Sie doch ein, Lady Phoebe erwartet Sie bereits." Colin nahm den Hut ab, zog den Mantel aus und reichte ihr erst das eine, dann das andere. Er folgte der jungen Frau in einen behaglich eingerichteten Salon, in dem ein wärmendes Kaminfeuer prasselte. "Wenn Sie mir Ihr Gepäck geben möchten", sagte sie, "ich habe bereits oben im Zimmer des jungen Herrn alles vorbereitet." "Danke schön." Erst als sie ging, erlaubte er sich einen zweiten Blick auf das Hausmädchen. Sie mochte vielleicht Ende zwanzig sein, hatte ein rosiges Gesicht voller Sommersprossen und dunkelbraune Haare, die sie unter einer weißen Spitzenhaube zu einem adretten Knoten hochgesteckt hatte. "Colin, mein Junge!" Phoebe betrat den Salon durch eine andere Tür und kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. "Laß dich mal ansehen." "Tante Phoebe", sagte Colin lächelnd, nachdem er sich aus ihrer Umarmung gelöst und ihre Wangen geküßt hatte, "du siehst großartig aus. Wie geht es dir?" Phoebe nahm auf einem geblümten Sofa Platz und bedeutete Colin, sich neben sie zu setzen. "Du weißt doch, Colin, hier in Belgravia ändert sich nie etwas. Es ist immer dasselbe, seit Jahrhunderten. Und manchmal fühle ich mich, als gehörte ich seit Anfang an dazu." Colin schmunzelte. Phoebe und seine Mutter waren zwar nur Cousinen, aber zusammen aufgewachsen und einander nahe wie Zwillingsschwestern. Für ihn war seine 'Tante Phoebe' immer ein ruhiger Pol inmitten der chaotischen Hauptstadt gewesen. Er hatte es nie versäumt, sie zu besuchen, wenn er in der Stadt gewesen war. Phoebe Carmichael war bereits jung verwitwet und hatte sich seitdem die Zeit damit vertrieben, Kolumnen für die Times zu schreiben. Ihre Zugehörigkeit zur besseren Gesellschaft hatte ihr dabei manch eine verschlossene Tür geöffnet. Inzwischen war aus der attraktiven Frau, die Colin aus seinen Kindertagen in Erinnerung hatte, eine rüstige betagte Dame geworden. "Dein Mädchen sagte mir, in sei wieder in Peters Zimmer einquartiert", sagte Colin. Peter Carmichael, Phoebes Sohn, war Offizier in der königlichen Marine. Er konnte sich kaum daran erinnern, wann er Peter zuletzt gesehen hatte. Immer, wenn er in
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Colin Mirth London war, befand sich Peter irgendwo am anderen Ende des Commonwealth – und umgekehrt. "Wie immer", Phoebe nickte, "er wird sicherlich nichts dagegen haben. Vor Anfang nächsten Jahres wird er kaum wieder hier sein." "Ich weiß deine Gastfreundschaft zu schätzen", lächelte Colin, "aber ich werde dir nicht lange zur Last fallen, Tante Phoebe." Phoebe verzog mißbilligend das Gesicht. "Mußt du etwa wieder fort zu einem deiner gräßlichen, unheimlichen Einsätze? Du weißt, daß deine Mutter davon alles andere als begeistert ist, und ich bin es genau so wenig." "Nein, diesmal nicht", winkte Colin ab, "ich bleibe bis auf Weiteres in London und werde mir eine Wohnung suchen. Ich bin zu Scotland Yard versetzt worden." "Zu Scotland Yard", wiederholte Phoebe ehrfürchtig, "das ist ja wundervoll, Colin! Nun wirst du endlich ein richtiger Polizeibeamter." "Der Secret Service war auch nicht so schlecht..." Phoebe schnitt ihm das Wort ab. "Darauf müssen wir anstoßen. Sherry?" Colin hob beschwichtigend die Hände. "Sicher, Tante Phoebe. Laß mich bitte nur kurz in mein Zimmer gehen. Ich wollte mich etwas frisch machen." "Einverstanden", Phoebe erhob sich und läutete nach ihrer Angestellten. Während Phoebe der jungen Frau, die sie Colin als Margret vorgestellt hatte, letzte Instruktionen für das Abendessen gab, stieg er die Treppe hinauf, welche in die erste Etage führte. Er fand Peters Zimmer exakt so vor, wie er es bei seinem letzten Londonaufenthalt verlassen hatte. Margret hatte seine Tasche bereits ausgepackt und seine Kleidung im Kleiderschrank verstaut. Sorfältig schloß er die Tür hinter sich ab, dann setzte er sich aufs Bett und streckte sich. Der Tag war lang geworden; die nächtliche Überfahrt von Calais nach Dover, die Zugfahrt nach London und letztlich sein erster Arbeitstag bei der städtischen Polizei steckten ihm in den Knochen. Er war froh, wenn er der Tag vorbei war und er sich mit einem schmackhaften Abendessen und ein paar Gläsern Sherry im Magen in Peters Bett fallen lassen konnte. Nachdenklich knöpfte er sein Hemd auf und zog ein verkorktes blaues Glasfläschen hervor, welches er an einer silbernen Kette um den Hals trug. "Das war ein langer Tag, was?" Er gähnte verhalten. Die winzige blaue Phiole schien bei seinen Worten von innen heraus zu leuchten. * Als Archibald Moore am nächsten Morgen das Büro betrat, saß Colin bereits an seinem Schreibtisch. "Guten Morgen, Commander!" Moore strahlte übers ganze Gesicht. Was lesen Sie denn da Schönes?" Colin sah von den Akten auf, in die er vertieft gewesen war. "Vermißtenmeldungen, Sergeant." Moore hängte seinen Mantel und seinen Hut auf den Kleiderständer und trat neben Colin. "Vermißtenmeldungen, sagten Sie?" "Ja. Wir hatten doch gestern abend festgestellt, daß die drei uns bekannten Fälle exakt vier Monate auseinander lagen, richtig? Also habe ich versucht, die Serie in die Vergangenheit zu extrapolieren", erklärte Colin. "Und?" Moore zwirbelte seinen Schnurrbart. "Sind Sie etwa fündig geworden?" "Nicht in allen Fällen. Hier, bitte... Juli 1876: Lord Percy Waltham. März 1876: Mister Patrick O'Malley. November 1875... Miss Elsie Lancaster. Dann eine Lücke... aber im März 1875 verschwand Mister Thomas Brown, ein Anwaltsgehilfe aus York, hier bei Seite 7
Colin Mirth uns in London. Im November 1874 traf es Miss Katherine Macmillan, ebenfalls ein Straßenmädchen wie Miss Lancaster." "Miss Lancaster war also nicht der erste Fall", stellte Moore fest. "Da es vorher offenbar eine längere Pause gegeben hatte, habe ich seinerzeit keinen Zusammenhang zu den früheren Vorfällen gesehen. Und um ganz ehrlich zu sein, sehe ich den auch jetzt noch nicht." Colin stellte einige kurze Berechnungen im Kopf an und griff dann zu einem anderen, deutlich älteren Aktenordner, den er sich aus dem Archiv hatte geben lassen. "Dachte ich's mir doch... Sergeant Moore, die Reihe läßt sich bis in die sechziger Jahre hinein fortsetzen. Alle vier Monate verschwindet in London ein Mensch spurlos." Moore setzte sich an seinen Schreibtisch und schüttelte sanft den Kopf. "Ihr beruflicher Ehrgeiz in Ehren, Commander, aber mit Verlaub gesagt – beinahe täglich verschwindet in London ein Mensch spurlos. Ich bin noch nicht davon überzeugt, daß wir es mit einem Serientäter zu tun haben. Selbst wenn die von Ihnen bemerkten Lücken in der Reihe erklärlich sind – es könnte in den fraglichen Monaten jemanden aus dem Ausland getroffen haben, oder einen Landstreicher, den niemand vermißt..." "Und bedenken Sie, Sergeant, alle Vermißten sind in der Nähe der Themse verschwunden. Und es gibt auch noch mehr Sichtungen von einem mysteriösen Schiff, das zur jeweiligen Tatzeit in unmittelbarer Nähe des Tatorts war", sagte Colin mit Nachdruck. Moore kratzte sich am Kinn. "Ach ja, dieses Schiff... ich hatte damals schon angefangen, mich zu erkundigen." "Ich habe Ihren Bericht gelesen." Colin nickte ernst. "Wenn das Schiff tatsächlich etwas mit dem Verschwinden dieser Leute zu tun hat, Commander, dann bedeutet das, daß die Vermißten an Bord dieses Schiffes die Stadt verlassen haben, oder vielleicht sogar das Land", rekapitulierte Moore. "Das Schiff verläßt London exakt alle vier Monate, wie nach einem präzisen Fahrplan." "Und jedes Mal, wenn das Schiff in London ablegt, nehmen sie jemanden mit", ergänzte Colin. "So, als würden sie jemanden schanghaien." Eine Weile lang saßen sich Moore und Colin nachdenklich gegenüber. Plötzlich öffnete sich die Tür, und Inspector Pryce steckte den Kopf herein. "Guten Morgen, Gentlemen. Was machen Sie heute Schönes?" "Ich gewöhne mich an anständige Polizeiarbeit, Sir", antwortete Colin und deutete auf die staubigen Aktenordner auf seinem Schreibtisch. "Schön, schön." Pryce lächelte dünn und schloß die Tür hinter sich. Moore grinste. "Er mag Sie, Commander. Wie wäre es mit einem Tee?" * "Ich verstehe das nicht", murmelte Colin, als er und Moore die Hafenmeisterei am späten Nachmittag wieder verließen, "so ein Schiff muß doch auffallen!" "Dreimaster, schlechter Zustand, regelmäßig in London..." brummte Moore, "mir wäre so ein Schiff bestimmt aufgefallen." Colin blieb stehen und sah in den trüben Novemberhimmel auf. "Ich traue mich kaum, es auszusprechen, Sergeant Moore, aber ich habe ein merkwürdiges Gefühl." "Ich auch, Commander. Es nennt sich Durst." Moore deutete auf ein nahegelegenes Gebäude, dessen verblichenes Namensschild es als einen Pub namens The Anchor auswies. "Wollen wir?" Colin sah auf die Uhr. "Jetzt?" Moore zuckte mit den Schultern. "Wollen Sie lieber den ganzen Weg zurück nach Whitehall? In ein paar Minuten ist ohnehin Dienstschluß, also kommen Sie schon." Seite 8
Colin Mirth "Wie Sie meinen." Der Pub war dunkel und schon so früh am Abend gut besucht. Die hölzerne Einrichtung war im Laufe der Jahre unter der Einwirkung von Lampenruß und Tabakqualm beinahe schwarz geworden. Colin und Sergeant Moore fanden einen Platz an der Theke und orderten zwei Pints. Kurz darauf stellte ihnen der Barkeeper zwei randvoll gefüllte Gläser auf die Theke. "So", machte Moore gedehnt und bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall, "Sie waren schon überall in der Welt, wie Pryce sagte?" "Praktisch überall." Colin nippte an seinem Bier. Er hatte seit Jahren kein vernünftiges englisches Bitter mehr getrunken und seufzte wohlig. "China auch?" "Auch dort." "Ich habe gehört, dort sei alles ziemlich groß." Colin lächelte bei dem Gedanken an seinen letzten Abend in Peking. "Alles, abgesehen von den Menschen. Die sind eher klein." Moore nickte eifrig. "Und Japan?" Colin nahm einen großen Schluck. "Über Japan möchte ich nicht so gerne reden", sagte er ausweichend. Der Polizist runzelte die Stirn. "Warum denn nicht?" Es verging eine Weile, ehe Colin ihm antwortete. "Es hat mit einem von diesen paranormalen Phänomenen zu tun, Sergeant. Ich glaube nicht, daß Mister Pryce es schätzen würde, wenn ich Ihnen den Kopf mit meinen Gespenstergeschichten vollstopfe." Moore senkte die Stimme. "Sie haben ein Gespenst gejagt? In Japan?" "Am Hofe des Kaisers, ja. Ich war bei seiner Krönung in Edo. Wenn ich nicht erfolgreich gewesen wäre, wäre er heute nicht Kaiser von Japan, und Edo hieße heute nicht Tokyo", brummte Colin und spülte die Erinnerung an dieses Abenteuer mit einem weiteren Schluck Bier herunter. "Bitte entschuldigen Sie meine Neugier", murmelte Moore verlegen, "ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Und ich werde auch dem Inspector gegenüber Ihre Äußerungen mit keinem Wort erwähnen, Commander Mirth." Colin antwortete nicht. Er war mit seinen Gedanken woanders. "Wissen Sie, ich war noch nie fort von London. Na schön, einmal waren wir in Southend, meine Frau und ich. Aber seit Mrs. Moore nicht mehr unter uns ist, bin ich gar nicht mehr gereist..." "Sergeant!" Colins Kopf ruckte herum. Er sah Moore plötzlich mit anderen Augen; zunächst hatte er ihn unterschätzt, ihn für einen schwerfälligen und engstirnigen Polizisten gehalten, den Pryce auf ihn angesetzt hatte, um ihm auf die Finger schauen zu können. Nun aber schien eine Veränderung mit ihm vorgegangen zu sein. Vor Colin stand ein Mann, der früh verwitwet war, der nach einem Sinn in seinem Leben suchte, und der einen Freund brauchte, mit dem er nach der Arbeit für ein paar Drinks in den nächsten Pub verschwinden konnte. Vermutlich war er auch bei Inspector Pryce noch nicht einmal besonders beliebt und hatte deshalb die undankbare Aufgabe zugewiesen bekommen, mit dem geheimnisvollen Geisterjäger zusammen zu arbeiten. So gesehen saßen sie beide im gleichen Boot – sie waren Außenseiter im Kader von Scotland Yard. Colin tadelte sich selbst dafür, daß er in den letzten beiden Tagen so schroff zu Moore gewesen war. "Entschuldigen Sie, Sergeant. Ich hatte ja keine Ahnung..." "Es ist schon so lange her", Moore zuckte mit den Achseln, "und es sollte Sie auch eigentlich gar nicht interessieren."
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Colin Mirth "Doch", sagte Colin ruhig und bestellte mit einer stummen Geste noch zwei Gläser, "erzählen Sie mir von ihr." Moore lächelte, während sein Blick sich nach innen zu richten schien. "Sie war zauberhaft. Wir haben uns im British Museum kennengelernt. Wir standen beide vor dem gleichen Bild, Ellie und ich." "Hmm", machte Colin. "Wir haben geheiratet, haben unsere Flitterwochen in Southend verbracht, und dann ist sie gestorben." Moore sah traurig in sein Glas. "Lungenentzündung. Hat sie sich in Southend geholt." Colin war sprachlos. "Das ist tragisch", sagte er nach einer Weile. Moore lachte heiser. "Dabei wollte ich gar nicht ans Meer." Während der nächsten beiden Drinks sprach keiner der Männer. Dann hielt Colin es nicht mehr länger aus. "Sergeant, mir ist da etwas eingefallen, das mit dem Schiff zu tun hat." "So?" Moore zwirbelte seinen Schnurrbart. "Ein Segelschiff, das alle vier Monate wie nach einem festen Fahrplan nach London kommt, aber bei der Hafenbehörde nicht gemeldet ist", überlegte Colin, "das könnte unter Umständen—" "Wird wohl eins von den alten Postschiffen gewesen sein", brummte der Mann neben ihm. Colin und Moore drehten sich um und nahmen erst jetzt den alten Seemann wahr, der unmittelbar neben ihnen an der Theke stand. Der Mann mochte an die sechzig Jahre alt sein; in seinem wettergegerbten Gesicht fehlte das rechte Auge und mindestens die Hälfte der Zähne, und seine Kleidung sah aus, als wäre sie seit Monaten nicht gewaschen worden. "Was sagten Sie da gerade, Sir?" fragte Colin verblüfft. Der Seemann deutete auf sein leeres Glas. "Wie wäre es mit einem kleinen Bierchen für einen durstigen Matrosen? Mit trockenem Mund kann ich so schlecht reden." Wenige Augenblicke später hatte Moore ein frisches Bier vom Barkeeper ergattert, das dieser eigentlich für einen anderen Gast gezapft hatte. Er schob es zu dem Veteranen hinüber. "Für Sie, Sir." "Gott segne Sie." Der Mann nahm einen großen Schluck. "Wir sprachen von den alten Postschiffen, Gentlemen. Schöne große Dreimaster. Sind regelmäßig in die Neue Welt gefahren. Damals, vor den Dampfschiffen." Colin und Moore wechselten einen Blick. "Das klingt ja interessant", bemerkte Colin, "und wie sah der Fahrplan dieser Postschiffe so aus?" "Hmm." Der Seemann kratzte sich an seinem faltigen, mit Bartstoppeln übersäten Kinn. "Die sind von London über Brest und Lissabon bis nach New York und wieder zurück nach Europa. Je nach Seegang und Wind, so sechs bis acht Wochen pro Strecke." "Sechs bis acht Wochen pro Strecke", echote Colin, "also waren die Schiffe etwa alle drei Monate hier, kann das sein?" "Meinetwegen auch vier", brummte der Seemann und trank sein Glas leer. Moore hob verblüfft die Augenbrauen. "Da haben wir unseren Dreimaster", sagte er leise, "eins von den alten Postschiffen also." "Aber", wandte der alte Seemann ein, "diese Schiffe verkehren ja schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Jetzt, wo es diese neumodischen Dampfschiffe gibt, die die Strecke in einem Bruchteil der Zeit schaffen. Pah!" Er spuckte auf den Boden.
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Colin Mirth "Ist Ihnen zufällig eine Begebenheit geläufig, bei der der Kapitän eines solchen Postschiffs jemanden gegen seinen Willen an Bord verschleppt hat?" fragte Colin unvermittelt. Der Seemann lachte höhnisch. "Das kam damals doch ständig vor! Wenn sich wieder einer von der Besatzung in den Spelunken am Hafen betrunken hatte, wurde er natürlich vom Kapitän und seinen Helfern an Bord geschleppt, ob er wollte oder nicht. Wenn sich herausstellte, daß ein Schiff ohne vollzählige Besatzung losgefahren war, gab es immer Ärger mit der Reederei, darum waren die Kapitäne immer darauf bedacht, alle Mann an Bord zu haben, wenn die Reise los ging." Colin strahlte über das ganze Gesicht. Er kramte in seiner Manteltasche nach ein paar Münzen und drückte sie dem Mann in die Hand. "Hier. Sie haben uns sehr geholfen, guter Mann. Schönen Abend noch." Moore hatte seine Gedanken kaum geordnet, da griff Colin bereits nach seinem Arm und führte ihn hinaus auf die Straße. Es war bereits Nacht, und das Licht der Gaslaternen konnte nur schwer gegen den dichten Nebel ankämpfen, der sich über die Stadt gelegt hatte. "Warum die Eile, Commander? In ein paar Minuten hätte der Pub ohnehin geschlossen", protestierte Moore, der ein halbvolles Glas Bier auf der Theke zurückgelassen hatte. "Wir haben des Rätsels Lösung, Sergeant!" Colin grinste triumphierend. "Mein Verdacht war richtig, das hat mir der gute Mann dort gerade bestätigt. Wenn ich mich nicht täusche, haben wir es hier mit einer Geistererscheinung zu tun." Moore runzelte die Stirn. "Ich weiß nicht recht, Commander... ich meine, ein Geisterschiff? Mitten in London?" Colin ging einige Schritte dozierend auf und ab. "Geister, mein lieber Sergeant Moore, sind in den meisten Fällen die Seelen von Verstorbenen, welche einfach keine Ruhe finden. Sie glauben, irgend eine Aufgabe zu Lebzeiten nicht vollendet zu haben, und sie sind so besessen von dem Gedanken, ihre Arbeit zu Ende zu bringen, daß sie darüber ganz vergessen, daß sie längst tot sind. Sie können nicht zurück zu den Lebenden und nicht vorwärts, wo ihre endgültige Erlösung liegt. Für immer gefangen in einem Schattenreich zwischen hier und dort, wiederholen diese Geister ihre letzte Tätigkeit in einer endlosen Schleife immer wieder, sinnvoll oder nicht. Können Sie mir bis hierher folgen?" Moore wackelte verunsichert mit dem Kopf. "Im Falle dieses... dieses Geisterschiffs bedeutet das also?" Colin blieb abrupt stehen. "Auf der letzten Fahrt des Kapitäns ist ihm ein Besatzungsmitglied in London abhanden gekommen. Und nun fährt er die Themse auf und ab und nimmt immer jemanden mit an Bord." "Alle vier Monate", hauchte Moore. "Für immer auf der Suche nach dem einen Mann, der ihm damals gefehlt hat", ergänzte Colin und zuckte traurig mit den Schultern, "und er wird ihn nie finden. Statt dessen wird er alle vier Monate einen anderen Unschuldigen mit sich ins Schattenreich ziehen." "Das müssen wir verhindern", sagte Moore entschlossen. "Das werden wir auch", sagte Colin zuversichtlich, "wir haben beinahe alle Stücke des Puzzles beisammen. Bevor wir jedoch die Konfrontation mit dem Geist suchen, möchte ich wissen, mit wem wir es zu tun haben." *
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Colin Mirth Am nächsten Morgen trafen sich Sergeant Moore und Colin Mirth vor dem Gebäude der London Times. Moore wies sich gegenüber dem Pförtner als Polizeibeamter aus, und kurz darauf wurden Sie von einem Assistenten des Herausgebers empfangen. Einige Minuten später schloß Ihnen der Mann, der sich als Bernhard Hastings vorgestellt hatte, das im Kellergeschoß untergebrachte Archiv auf. "Bitte sehr, Gentlemen", sagte Hastings, während er behutsam eine Reihe von Kerzen anzündete, "hier haben wir sie. Von der Erstausgabe des Daily Universal Register vom ersten Januar 1785 bis zur gestrigen Ausgabe der Times, hier finden Sie alles, was in den letzten einundneunzig Jahren in London und der Welt vorgefallen ist. Was genau suchen Sie?" Colin ließ den Schein seiner Lampe über die endlosen Reihen von Ordnern wandern. Da die Ausgaben ausschließlich chronologisch und nicht thematisch sortiert waren, stand ihm vermutlich eine endlose Suche bevor – es sei denn, sie bekamen unverhofft Hilfe. "Postschiffe", antwortete Moore, "alles über Postschiffe. Vor allem wüßten wir gerne, ob mal eines davon untergegangen ist." Hastings kratzte sich am Kopf. "Mit Verlaub, Gentlemen, wäre es nicht einfacher gewesen, diese Frage an die Herren von Lloyd's heranzutragen? Wenn irgendwo ein Schiff untergegangen ist, war es doch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei denen versichert. Ich meine ja nur, ehe Sie sich die ganze Mühe machen, unser Archiv zu durchsuchen..." "Wir kommen zurecht", sagte Colin bestimmt. Hastings hatte natürlich nicht unrecht; die Archive des großen Versicherungshauses hätten sie möglicherweise sehr schnell auf die richtige Spur gebracht. Andererseits aber war der Zugriff auf die Unterlagen von Lloyd's mit deutlich mehr Formularen verbunden als der Einblick in die Archive einer Zeitung wie der Times, wie Moore ihm mehrfach versichert hatte, so daß der Zeitvorteil dadurch wieder aufgehoben wurde. "Möchten Sie vielleicht noch einen Tee, ehe Sie sich an die Arbeit machen?" fragte Hastings höflich. Moores rundes Gesicht strahlte. "Gerne. Sie auch, Commander?" Colin schüttelte nur stumm den Kopf. "Wie Sie meinen. Warten Sie, Mister Hastings, ich komme schnell mit, dann müssen Sie wenigstens nicht zweimal laufen!" Nachdem die Tür sich hinter Moore und Hastings geschlossen hatte, knöpfte Colin sein Hemd auf und zog die kleine blaue Phiole an ihrer silbernen Kette hervor. "Dann wollen wir uns mal auf die Suche machen, mein Freund", sagte er fröhlich. * Als Sergeant Moore mit seiner Teetasse zurückkehrte, blieb er wie angewurzelt vor der Tür des Archivs stehen. Die Tür war in ein seltsames blaues Leuchten getaucht, so als ob sich in dem dahinterliegenden Raum eine starke Lichtquelle befinden würde, deren Lichtschein durch die Ritzen des Türrahmens und das Schlüsselloch nach draußen drang. Entsetzt ließ Moore die Tasse fallen, die daraufhin klirrend auf dem Steinfußboden zerbrach. Er zog seinen Trommelrevolver aus der Manteltasche, griff beherzt nach dem Türknauf und riß die Tür auf. Colin saß seelenruhig an einem Pult in der Ecke des Raums und hatte einen mächtigen ledergebundenen Ordner vor sich aufgeschlagen liegen. "Stimmt etwas nicht, Sergeant?" fragte er mit einem mißtrauischen Blick auf die Waffe, die Moore in der zitternden Hand hielt. Seite 12
Colin Mirth "Ich weiß nicht recht", sagte Moore unsicher und ließ den Revolver sinken. "Ich sah ein blaues Licht und ich dachte..." "Ein blaues Licht?" fragte Colin amüsiert. "Kommen Sie, Sergeant, sehen Sie etwa schon am hellichten Tage Gespenster?" Moore stutzte. "Haben Sie denn gar nichts bemerkt?" fragte er nervös, während er die Waffe wieder in seiner Manteltasche verschwinden ließ. Colin schüttelte den Kopf. "Ich bin in der Zwischenzeit fündig geworden. Hier, bitte. Da ist unser Schiff." Er deutete auf das vergilbte Papier in dem schweren ledernen Ordner. "Was Sie nicht sagen", staunte Moore, "wie haben Sie das so schnell gefunden, unter all den tausenden von Ausgaben? Lernt man das beim Secret Service?" Colin ging nicht auf die Frage ein. "Hier, sehen Sie mal. 'Untergang des Postschiffes Saint Mary vor Brest. Schwere Stürme vor der französischen Atlantikküste'. Das war in 1799, Sergeant." Moore überflog den Artikel, auf den Colin ihn hingewiesen hatte. "Und Lloyd's hat sich geweigert, die Versicherungssumme zu bezahlen, weil Captain Trevelyan mit einer unvollständigen Crew unterwegs war. Sie haben damit argumentiert, daß der fehlende Matrose das Schiff hätte retten können, wenn er auf seinem Posten gewesen wäre." "Da haben wir's. Unser Geist heißt also Captain Trevelyan, und sein Geisterschiff ist die Saint Mary", faßte Colin die neuen Erkenntnisse zusammen, "und er hat ein schlechtes Gewissen, weil er einen Mann zu wenig an Bord hatte." "Und alle vier Monate holt er jemanden zu sich", sagte Moore dumpf, "es ist verrückt, aber es klingt plausibel. Ich bin mal gespannt, was Inspector Pryce dazu sagen wird." Colin lachte trocken. "Ich bitte Sie, Sergeant! Sie wollen mit dieser Geschichte doch nicht ernsthaft zum Inspector gehen, Sergeant?" "Was sollen wir denn sonst tun?" fragte Moore. Colin dachte einen Moment nach. "Die letzte Vermißtenmeldung, die wir einwandfrei Captain Trevelyan und der Saint Mary zuordnen können, stammt vom Juli diesen Jahres", sagte er, "und da Trevelyans Geist alle vier Monate zurück nach London kommt, könnte es praktisch jede Nacht wieder so weit sein." "Oder er war schon da, und..." Moore verzog das Gesicht. "Nein, das hätte ich gemerkt. Wenn es in den letzten Tagen Vermißtenmeldungen gegeben hätte, die zu meinem ungelösten Fall gepaßt hätten, wäre mir das von Inspector Pryce mitgeteilt worden." "Gehen wir für einen Moment davon aus, daß Trevelyans Geist erst in einer der nächsten Nächte zuschlagen wird", fuhr Colin fort, "dann wäre es das Beste, wenn wir beide uns in den nächsten Nächten an der Themse aufhalten werden; entweder, um einem unschuldigen Opfer zur Hilfe eilen zu können, oder um selbst von Trevelyan an Bord geholt zu werden." "Und dann?" fragte Moore, der bei dem Gedanken an die Begegnung mit einem Geisterschiff eine Gänsehaut bekam. "Dann machen wir dem Spuk ein Ende", sagte Colin entschlossen. * "Was, bitte, ist das denn?" fragte Colin schmunzelnd, als er Sergeant Moore nach Einbruch der Dämmerung am vereinbarten Treffpunkt in der Nähe der Waterloo Bridge traf. Moore sah verständnislos an sich herab. "Wieso? Was meinen Sie, Commander?" "Das Kruzifix." Seite 13
Colin Mirth "Ach so." Moore faßte nervös an seine Brust, wo ein großes silbernes Kruzifix an einer langen Kette baumelte. "Ich habe mich ein wenig vorbereitet, Commander. Wenn man einem Geist gegenübertritt, muß man doch entsprechend gewappnet sein, oder nicht?" "Und Sie meinen, ein Kruzifix wird Captain Trevelyans Geist beeindrucken?" Colin grinste breit. "Etwa nicht?" fragte Moore verunsichert. "Sergeant, bedenken Sie bitte, daß Geister sich nicht einmal an die gängigen Naturgesetze halten. Was veranlaßt Sie also zu der Annahme, daß die von Menschen erfundenen Insignien der Kirche eine Wirkung auf einen Geist haben könnten?" "Nun..." Moore rang nach Worten. "Weil diese Geister doch schließlich auch mal Menschen waren, könnten sie ja immerhin darauf reagieren." Colin schüttelte mit einem müden Lächeln den Kopf. "Und wenn der Geist zu Lebzeiten kein Christ war, sondern ein Moslem oder ein Jude, was dann?" Moore sah ratlos auf das Kruzifix in seiner Hand. "Tja... jetzt haben Sie mich verwirrt, Commander. Darf ich mich erkundigen, womit Sie üblicherweise einem paranormalen Phänomen zu Leibe rücken?" Colin grinste breit. "Die Navajo-Indianer in der nordamerikanischen Prärie haben eine Möglichkeit entwickelt, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Wußten Sie das, Sergeant?" "Äh, nein." Moore war nun endgültig verwirrt. "Was hat das jetzt mit Captain Trevelyan und der Saint Mary zu tun?" Colin seufzte. * Zwei Nächte vergingen, in denen Sergeant Moore und Colin Mirth ruhelos am Ufer der Themse auf und ab patroullierten, ohne daß etwas geschah. Colin nutzte die nächtlichen Spaziergänge, um sich von Moore über aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen in England informieren zu lassen. Im Gegenzug fütterte er dem Polizisten amüsante Anekdoten von seinen vielen Auslandsaufenthalten, wobei er den Inhalt seiner Arbeit möglichst ausklammerte. "Es gab Wissenschaftler wie diesen Italiener Galvani, die glauben, daß Vorgänge im menschlichen Körper mit Elektrizität erklärt werden können", erzählte Colin eines Nachts im Plauderton, "was übrigens auch eine Möglichkeit wäre, einen Geist zu definieren. Stellen Sie sich vor, die Seele eines Menschen wäre nichts weiter als eines von diesen elektrischen oder magnetischen Feldern, über die Faraday sprach—" "Was ist das?" unterbrach ihn Moore, der seit geraumer Zeit den Ausführungen seines Partners schon nicht mehr zugehört hatte. Colins Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Sergeants – und richtig, dort draußen in der nebligen Nacht näherte sich ihnen ein grünlich schimmerndes Licht auf der Themse. "In der Tat", bemerkte Colin. Er holte ein kleines Messingteleskop aus seiner Manteltasche, zog es auseinander und sah hindurch. "Sergeant Moore, unser Geisterschiff ist da. Ziemlich pünktlich, möchte ich meinen." Moore fröstelte. "Ja... und jetzt? Was können wir denn schon ausrichten? Wir haben kein Boot und kaum Waffen!" "Für beides gibt es Abhilfe." Colin steckte das Teleskop wieder weg, kramte ein wenig in den Tiefen seines Mantels herum und förderte eine kleine verkorkte Glasflasche zu Tage, die von innen heraus bläulich leuchtete. "Wir bekämpfen Feuer mit Feuer."
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Colin Mirth Moore sah gespannt zu, wie Colin den Korken von der Flasche nahm. Ein heller blauer Lichtstrahl stieg in den Himmel und wurde zu einer leuchtenden Wolke, welche sich dann plötzlich zu verdichten schien und die Umrisse eines Menschen annahm. "Sergeant Archibald Moore – Abdul. Abdul, das ist Sergeant Archibald Moore von Scotland Yard", stellte Colin die beiden einander in aller Ruhe vor. Die Augen des Polizisten drohten aus den Höhlen zu treten, als er die blau glühende Gestalt fassungslos betrachtete. "Abdul?" "Abdul ist ein sogenannter Flaschengeist", erklärte Colin, "ich habe ihn vor drei Jahren in Ägypten gefunden." Moores Gesicht war kreideweiß. Der Flaschengeist war gut und gerne zweieinhalb Meter groß. Seine blaue Haut schien noch immer von innen heraus zu leuchten, ebenso wie die glühenden roten Augen, die den Sergeant durchdringend anstarrten. "Ist das der Polizist, von dem Ihr gesprochen habt, Efendi?" fragte Abdul und kraulte sich nachdenklich den schmalen Kinnbart. Moore hatte unwillkürlich damit begonnen, seinen Schnurrbart zu zwirbeln. Verdutzt ließ er die Hand wieder sinken. "Richtig, Abdul." Colin nickte und zeigte auf das Geisterschiff, das sich Ihnen inzwischen weiter genähert hatte. "Abdul, ich möchte dich um einen Gefallen bitten..." "Jederzeit, Efendi." "Du!" Moores Stimme zitterte erregt. "Du warst das! Du hast das Büro aufgeräumt, als ich draußen war. Und du hast auch im Archiv die richtige Zeitung gefunden!" Abdul verneigte sich höflich. "Ich weiß nicht, was Ihr habt, Efendi", sagte er dann zu Colin. "Auf mich macht er eigentlich einen recht intelligenten Eindruck." "Auf mich ja auch", beeilte sich Colin zu sagen, während er Moore ein entschuldigendes Lächeln schenkte. "Abdul, ich möchte, daß du uns zu dem Schiff da bringst." "Sehr wohl, Efendi." Ehe Moore protestieren konnte, hatte Abdul die beiden Männer unter seine mächtigen Arme genommen, Anlauf genommen und einen gewaltigen Sprung in Richtung des Geisterschiffes getan. Polternd landete Abdul auf den Decksplanken. Er ließ Colin und Moore los und machte bereits Anstalten, sich wieder in Luft aufzulösen, als Colin ihn mit einer Geste zurückhielt. "Warte noch", sagte er warnend, "wir wissen noch nicht, was kommt." Moore und Colin begannen, das Schiff systematisch abzusuchen. Es schien jedoch auf den ersten Blick völlig verlassen zu sein. Alles an Bord strahlte ein kränkliches grünes Leuchten aus, als wäre das Schiff im Moment seines Untergangs von Elmsfeuer eingehüllt gewesen, welches nun für alle Zeiten weiterglühte. "Nichts", sagte Colin nach einer Weile, "niemand an Bord." "Efendi?" Abdul tauchte aus dem Laderaum wieder auf. "Könnt Ihr mal bitte kurz schauen, Efendi?" Colin drehte sich um. Wenige Schritte von ihm entfernt befand sich eine vergitterte Luke, durch die man hinab in den Boden des Laderaums sehen konnte. Was er sah, bestärkte seine schlimmsten Befürchtungen. "Allmächtiger!" Moore trat neben ihn und sah hinab auf den Berg von Leichen, die sich in unterschiedlichen Stadien der Verwesung befanden. "Sind das etwa..." "Lord Percy Waltham, Mister Patrick O'Malley, Miss Elsie Lancaster, Mister Thomas Brown und all die anderen Unglücklichen, die Captain Trevelyan zu sich geholt hat. Ja, das sind sie", sagte Colin dumpf. "Höre ich da meinen Namen?" rief eine rauhe Stimme hinter ihnen.
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Colin Mirth Colin wirbelte herum. Das Achterdeck war in dichten Nebel gehüllt, doch von dort war die Stimme gekommen. Und jetzt sah er auch Captain Trevelyans Geist nähertreten, der genau wie der Rest des Schiffes ein fahles grünes Leuchten verbreitete. "Bist du das etwa, Davies? Bist du endlich da?" Colin stemmte die Hände in die Hüften. "Mister Davies wird nicht mehr kommen, Captain Trevelyan. Er ist vermutlich seit Jahrzehnten tot. Genau wie Sie." "Was reden Sie da, junger Mann!" Trevelyans Geist kam drohend näher. Er beäugte den jungen Mann skeptisch. "Du bist doch Davies! Ich erkenne dich doch. Marsch, ab in die Wanten mit dir, du Nichtsnutz." Colin blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. "Nein, Captain. Es ist vorbei." "Auf meinem Schiff gebe ich die Befehle!" Trevelyans Stimme überschlug sich. "Sie sind verhaftet", rief Moore , der sich plötzlich wieder auf seine Eigenschaft als Polizeibeamter besonnen hatte, und richtete die Mündung seines Dienstrevolvers auf den Geist. Trevelyans Augen funkelten böse. Auf eine schnelle Handbewegung des Geistes hin verschwand die vergitterte Luke über dem Laderaum. Im nächsten Moment fühlte sich Moore wie von einer unsichtbaren Hand emporgehoben und in die Tiefe geschleudert. Mit einem markerschütternden Schrei verschwand er in dem Berg aus Leichen und Leichenteilen. Colin schüttelte mißbilligend den Kopf. "Captain Trevelyan, zum letzten Mal, hören Sie mir zu. Sie müssen nicht mehr wiederkehren. Sie dürfen nicht mehr wiederkehren." Der Captain sah ihn wütend an. "Ich kann nicht ohne Davies in See stechen. Ich muß ihn finden, verstehen Sie denn nicht? Ich darf nicht auslaufen, wenn die Mannschaft nicht vollzählig ist..." Colin zuckte mit den Achseln. "Ich geb's auf", seufzte er und wandte sich mit einem mitleidigen Lächeln an den Flaschengeist, "er gehört dir, Abdul." "Sehr wohl, Effendi." Im gleichen Augenblick verschwammen Abduls Konturen, und wie ein blauer Blitz schoß er auf Captain Trevelyan zu. Die beiden geisterhaften Gestalten verschmolzen in einem grellen Lichtschein, und für einen Moment sah es so aus, als ob das Gespenst des Captains die Gesichtszüge des Flaschengeists angenommen hätte. Dann verschwand Trevelyan in einem Funkenregen, und lediglich Abduls leuchtend blauer Körper blieb triumphierend grinsend zurück. Sekunden später verlor Colin plötzlich den Boden unter den Füßen, als sich die Saint Mary um ihn herum in Nebelschwaden auflöste. * "Das war absolut widerwärtig", rief Sergeant Moore, als er prustend aus dem Wasser auftauchte. Mühsam und schnaufend zog er sich an der ihm entgegengestreckten Hand hoch, bis er erschöpft neben Colin auf der Uferbestigung der Themse saß. "Aber wir haben es geschafft", versuchte Colin ihn aufzumuntern. "Trevelyan wird nicht zurückkommen." "Das will ich schwer hoffen", schnaubte Moore und schauderte. "Mein Bedarf an paranormalen Phänomenen ist für's Erste gedeckt, Commander." "Wem sagen Sie das", grinste Colin. "Wo ist eigentlich Ihr Freund Abdul geblieben?" Moore blickte sich suchend um. "Hier." Colin deutete auf die kleine gläserne Phiole, die bereits wieder fest verschlossen an einer Kette um seinen Hals hing.
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Colin Mirth "Höchst bemerkenswert", sagte Moore bewundernd. Er fischte eine flache Metallflasche aus der Innentasche seines Jacketts bot sie Colin an. "Scotch?" "Gerne." Es war empfindlich kalt geworden. Vereinzelt tanzten Schneeflocken in der Luft... und wir sitzen hier triefnaß in der Kälte, dachte Colin, während er einen wärmenden Schluck aus der Flasche nahm. "Ich denke, es wird das Beste sein, wir gehen jetzt nach Hause und ziehen uns was Warmes an, ehe wir uns noch den Tod holen." Moore nahm seinen Flachmann dankend wieder an sich und genehmigte sich einen goßen Schluck. "Ich denke, Sie haben recht, Commander", sagte er dann, während die Kälte in seinen Körper kroch und seine Zähne klappern ließ. "Und ich denke, wir sollten die Ereignisse dieser Nacht nicht an den Inspector berichten." Colin stand auf und reckte sich. "Und ich denke, wir werden noch richtig gute Freunde werden, mein lieber Sergeant." Demnächst: "Nächtliche Schreie in Mansfield Manor"
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