Seewölfe 340 1
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Seewölfe 340 1
Davis J.Harbord 1.
Es war schon ein Witz, was sich Old Donegal Daniel O'Flynn an diesem Vormittag des 17. April 1593 mal wieder geleistet hatte - und das, ohne er vorher ein Kribbeln in seinem Holzbein gespürt hatte, was sonst meistens seinen düsteren Prophezeiungen vorauszugehen pflegte. Der Himmel war heiter, und ebenso aus heiterem Himmel heraus hatte Old Donegal den Arm in die Luft gestoßen und düster verkündet, er sähe Sturmzeichen am Horizont aufziehen - dräuende Wolken, wie er sich ausdrückte, die gleich schwarzen Rössern des Unheils dahinjagten, und auf denen Nachtreiter säßen! Und da war Hasard der Kragen geplatzt. Er hatte nach dem Kutscher gebrüllt, damit der sich um „Mister O'Flynn“ kümmere, weil der am Überschnappen sei. Und als Medizin hatte er dem Kutscher empfohlen, dem Alten eine Vollnarkose zu verpassen mit dem Holzhammer, mit dem er sonst das Fleisch weichklopfe. Es gab ja gewisse Gemüter an Bord Smoky gehörte zu ihnen -, bei denen Old Donegals Spinnereien auf fruchtbaren Boden fielen. Je schauriger die Zukunftsdeutungen, desto wohliger war das Gruseln bei diesen gewissen Gemütern. Da war Hasards Vorschlag mit dem Holzhammer zwar drastisch, jedoch auch bestens geeignet, einerseits Old Donegal vierkant zu bremsen und andererseits den Lachmuskeln der Arwenacks einen kräftigen Anreiz zu geben. Beides klappte hervorragend. Old O'Flynn brachte keinen Piep mehr heraus und schnitt eine Miene, als habe er eine Qualle in einem Stück verschluckt, und die Arwenacks ließen Lachsalven über die Decks der „Isabella IX.“ dröhnen. Der einzige, der nicht mitlachte und vermutlich zur Zeit den Eindruck haben mußte, unter die Irren gefallen zu sein, war ein Mann namens Ase Thorgeyr, ein blondmähniger, einäugiger Riese, der es in der letzten Nacht geschafft hatte, sich in
Das Thule des Wikingers
Stavanger heimlich als blinder Passagier an Bord der „Isabella“ zu schleichen und unter der Jollenpersenning zu verstecken. Dort hatte ihn vor knapp einer Viertelstunde Plymmie, die Bordhündin, „erschnüffelt“ und erneut bewiesen, daß sie mit einer hervorragenden Nase ausgestattet war. Dieser Riese Ase Thorgeyr war ein besonderes Kaliber, zumal er bereits mit Ed Carberry aneinandergeraten war. In einem wüsten Schlagabtausch hatten sie ausprobiert, wessen Fäuste die härteren wären. Nun, sie schienen gleichwertige Kämpfer zu sein, und das wollte bei Carberry etwas heißen. Mit blinden Passagieren das so eine Sache. Sie sind Fremdlinge und das umso mehr, je enger die Gemeinschaft einer Crew ist. Der Entdeckung durch Plymmie war der fürchterliche Schlagabtausch mit Carberry gefolgt, bei dem sich die beiden Kämpfer regelrecht ineinander¬ verkrallt hatten_ Er Hasard hatte die beiden Kampfhähne voneinander getrennt. Da hatten die Seewölfe noch nicht gewußt, wer dieser einäugige Riese war. Aber sie hatten entschieden, ihn mit nach Island ihrem jetzigen Ziel - zu nehmen, statt nach Stavanger zurückzusegeln oder den Mann auf den Shetland-Inseln oder den Färöern auszusetzen. Diese Entscheidung entsprach ihrer ehrlichen Achtung, die sie für einen echten Kämpfer empfanden. Der Mann hatte auch Carberry spontan die Hand zur Versöhnung hingehalten, eine Geste, die für sich sprach, dafür harten die Seewölfe ein Gespür. Soweit war das alles in Ordnung. Daß es sich bei dem aber um den verschollenen Bruder der Gotlinde Thorgeyr handelte, hatte den Seewölfen nun doch die Sprache verschlagen - bis auf Old O’Flynn, der wohl meinte, die Anwesenheit dieses Mannes an Bord der „Isabella- mit „dräuenden Wolken“ vergleichen zu müssen, ganz abgesehen von den „schwarzen Rössern des Unheils“, auf denen „Nachtreiter' säßen. Gotlinde Thorgeyr!
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Wegen dieser Frau segelten die Seewölfe und in ihrer Begleitung die Mannen Arne von Manteuffels auf der „Wappen von Kolberg“ nach Island, wo Unvorstellbares geschehen war, wie die Seewölfe von Eike und dem Boston-Mann erfahren hatten. Thorfin Njal, der Wikinger und Kapitän des Viermasters „Eiliger Drache über den Wassern“, hatte zwar sein Traumziel Thule nicht gefunden, dafür aber jene Frau namens Gotlinde Thorgeyr, Herrscherin über den Thorgeyr-Hof und den Isa-Fjord an der Nordwestküste Islands. Bei dieser Frau war er vor Anker gegangen, und zwar für immer, wie er seinen Mannen verkündet hatte. Er wollte seine Gotlinde heiraten und für immer in Island auf dem Thorgeyr-Hof bleiben. Bei seiner Crew allerdings war er auf Unverständnis und schroffe Ablehnung gestoßen, als er verkündet hatte, seine Mannen sollten gleich ihm auf Island bleiben und am IsaFjord siedeln. Daß sie mit ihm und seiner Gotlinde auch noch gegen neidische Nachbarn kämpfen sollten, hatte allem die Krone aufgesetzt, aber dazu auch sein Wille, „Eiliger Drache über den Wassern“ in seinem Besitz zu behalten. Der andere Eigner dieses legendenumwobenen Viermasters war SiriTong, die Rote Korsarin. Diese Tatsache war für Hasard Motivation genug, dem Hilferuf der Crew, den ihm Eike und der Boston-Mann überbracht hatten, zu folgen. Sollte der Wikinger ruhig mit seiner Gotlinde glücklich werden - das war seine Privatangelegenheit. Aber er hatte nicht das Recht, seine Männer zu zwingen, auf Island zu bleiben. Und er hatte nicht das Recht, Siri-Tongs Anteil an dem Viermaster für sich zu vereinnahmen. Das war - hol's der Teufel - ein ziemlich dicker Hund, den er sich da leistete. Darum also segelten sie nach Island, und es konnte durchaus sein, daß Hasard dort auf einen sehr grimmigen und total vernagelten Thorfin Njal stieß, dem er in taube Ohren predigen würde, wenn er ihm vorhielt, ziemlich selbstherrlich mit der Crew und dem Miteigentum Siri-Tongs umzuspringen. So ging das a nun wirklich
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nicht. Für Hasard war es das typische Zeichen, wie und Männer werden konnten, wenn sie in Liebe entflammt waren. Und nun stand hier auf der Kuhl der „Isabella“ ein blinder Passagier namens Ase Thorgeyr, Bruder der Gotlinde Thorgeyr vom Isa-Fjord, und Hasard war im Gegensatz zu Old O'Flynn fast geneigt, an Wunder zu glauben - nicht an „dräuende Wolken“. Denn blitzartig war ihm etwas klargeworden: Dieser Mann war ein Geschenk, das er für seine Mission gar nicht hoch genug einschätzen konnte. Im Kartenspiel nannte man das einen Joker eine Trumpfkarte, die man auf den Tisch knallen konnte, um das Spiel zu gewinnen. Von diesen Zusammenhängen wußte der Riese natürlich nichts, und darum war er auch so verwundert über die Reaktionen der Männer, die ihn umstanden. Hasard ließ ihn nicht lange im unklaren, nachdem das Gelächter verebbt war. Durch Stenmark ließ er dem Riesen sagen, daß er sich kein besseres Schiff für die Reise nach Island hätte aussuchen können, denn sie hätten die Absicht, den Isa-Fjord anzulaufen. Jetzt war es an dem Riesen, verdutzt dreinzuschauen. Offenbar glaubte er, sich verhört zu haben. Auf seine Frage wiederholte Stenmark, daß sie tatsächlich den Isa-Fjord ansteuern wollten, insbesondere den Ort Isafjord, wo ja der Hof der Thorgeyrs läge. Das haute den blondmähnigen Riesen nun doch um, und sofort wurde sein hartes Gesicht mit dem gekerbten eckigen Kinn mißtrauisch. Das gleiche Mißtrauen funkelte in seinem gesunden, linken blauen Auge. Und es klang wie ein Knurren, als er fragte: „Was wollt ihr da?“ Stenmark grinste ihn an. „Deine Schwester Gotlinde will einen Mann heiraten, den wir sehr gut kennen und bisher als Freund bezeichneten. Nur sind da einige Umstände, die uns bestimmten, nach Island zu segeln -nicht um die Hochzeit unseres Freundes zu verhindern, aber um einige Dinge klarzustellen, die mit seinem Schiff
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und seiner Mannschaft zusammenhängen. Unser Freund ist der Kapitän und Miteigner eines Viermasters. Jetzt beansprucht er dieses Schiff für sich und verlangt, seine Crew solle ebenfalls in Island bleiben und am Isa-Fjord siedeln, was die Crew aber ablehnte. Diese beiden Männer dort“, Stenmark deutete auf Eike und den Boston-Mann, „gehören zu der Crew und baten unseren Kapitän in dieser Sache um Hilfe.“ Eike, der diesem Dialog folgen konnte, nickte und sagte: „Ja, genauso ist es.“ Er grinste schief. „Außerdem scheint deine Schwester in Schwierigkeiten zu stecken, was ihre Nachbarn betrifft ...“ „Etwa mit den Grettirs?“ unterbrach ihn der Riese erregt. Eike zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich doch nicht, Ase Thorgeyr. Ehrlich gesagt, uns interessiert auch nicht, wer wen im Isa-Fjord befehdet, das ist nicht unsere Sache. Unser Kapitän war auf der Suche nach Thule, und da haben wir hinter ihm gestanden. Aber Island und der Isa-Fjord können uns gestohlen bleiben, das ist nicht unser Bier. Wir wollen zurück in die Karibik, wo wir Freie sind - keine Hofknechte einer Gotlinde Thorgeyr, damit du klar siehst.“ „Wie heißt euer Kapitän?“ fragte der Riese aufmerksam. „Thorfin Njal“, erwiderte Eike. „Man nennt ihn auch den Wikinger.“ Der Riese starrte ihn perplex an. „Etwa jener Wikinger, der auf einem Schiff fährt, das man den Schwarzen Segler nennt?“ „Genau der!“ platzte Eike heraus, jetzt ebenfalls verblüfft. „Kennst du ihn?“ Unter den Arwenacks ging das Gemurmel um, denn Stenmark hatte alles mitübersetzt. Diese Geschichte schien immer verrückter zu werden. „Kennen wäre zuviel gesagt“, erwiderte der Riese, „aber ich habe viel über ihn gehört, denn ich war auch unten in der Karibik.“ Er lachte grimmig. „Mein rechtes Auge muß da irgendwo herumschwimmen. Fast ein Jahr lag ich auf Leben und Tod und da wurde mir klar, daß es an der Zeit wäre, nach Island zurückzukehren, um
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mich um den Hof zu kümmern. Ein spanischer Handelssegler nahm mich mit nach Sevilla Von dort zog ich nordwärts, teils mit Küstenseglern, teils zu Fuß - bis ich über Frankreich und Holland in Stauanger landete. Wer segelt schon nach Island!“ Er ruckte plötzlich zu Stenmark herum, als sei ihm etwas eingefallen. Und er fragte: „Seid ihr etwa jene Männer, die man die Seewölfe nennt?“ „Stimmt-, sagte Stenmark. Ein Lächeln huschte über das harte Gesicht des Riesen. „Da bin ich ja auf einem feinen Schiff gelandet. Schade, daß wir uns nicht früher kennengelernt haben.“ Stenmark lächelte zurück. „Richtig, das ist ein feines Schiff, wahrscheinlich das feinste, auf dem wir je gesegelt sind. Es ist unser neuntes. Aber genug davon. Du willst also den Thorgeyr-Hof übernehmen, wenn ich das richtig verstanden habe?“ Der Riese nickte. „Das habe ich vor. Auf den Hof gehört ein Mann.“ Hasard schaltete sich ein, nachdem Stenmark gedolmetscht hatte. Er sagte: „Das sehe ich auch. so, auf den Hof gehört ein Mann - nur sitzt jetzt bereits Thorfin Njal dort und hält sich wahrscheinlich für den Herren. Frag Ase Thorgeyr, was er darüber denkt, Sten!“ Grimmig erklärte der Riese, nach- dem Stenmark ihn gefragt hatte: „Thorfin Njal muß verschwinden, da gibt's überhaupt nichts. Da meine beiden älteren Brüder in einer Fehde gefallen sind, bin ich jetzt der rechtmäßige Erbe und Herr im Isa-Fjord. Daran ist nicht zu deuteln.“ Vorsichtig sagte Hasard: „Da könnte Gotlinde Thorgeyr anderer Ansicht sein, zumal Ase Thorgeyr seit vier Jahren verschollen war und sie annehmen mußte, daß er nicht mehr lebt. Als geborene Thorgeyr und einzige Überlebende der Sippe hat sie den Hof seit vier Jahren geführt und sich ein Anrecht auf den Besitz erworben. Und der Mann an ihrer Seite, Thorfin Njal, könnte dieses Anrecht jetzt verteidigen. Ich sage: könnte, denn das sind ja Spekulationen, aber wir müssen auch mit einer solchen Tatsache rechnen. Was meint Ase dazu?“
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Die Miene des Riesen wurde noch grimmiger, als er Hasards Einwand hörte. „Nichts da“, erwiderte er. „Nach altem norwegischem Recht erbt der älteste Sohn den Besitz. Stirbt er, ist der nächste an der Reihe - und so fort. Erst der Tod der Söhne räumt den Schwestern das Recht ein, den Besitz zu übernehmen. Und bei ihnen gilt die gleiche Reihenfolge wie bei den Brüdern. Sollte Gotlinde dieses Recht ignorieren oder nicht mehr anerkennen, werde ich sie und ihren Mann befehden und davonjagen!“ Hasard seufzte. Dieser Nordmann sah ganz so aus, um das, was er sagte, in die Tat umzusetzen. „Geht das bis zum Totschlag?“ fragte er. „Ja, auch das“, übersetzte Stenmark und fügte etwas leiser hinzu: „Bei uns in Schweden ist das ähnlich, Sir. Das sind dann die sogenannten Familienfehden.“ „In denen sich eine Sippe selbst ausrottet, wie?“ fragte Hasard erbittert. „So kann es sein“, sagte Stenmark verhalten. Er zuckte mit den breiten Schultern. „Die Leute aus dem Norden sind eben so, und ich schätze, daß jene, die nach Island auswanderten, noch verbissener an diesen alten Rechten festhalten. Du siehst es an diesem Brocken hier vor uns, Sir. Der gehört zu dieser Sorte, die keinen Schritt von den alten Gesetzen abweicht, auch wenn es um Tod und Leben geht, wobei der Tod diese Kerle überhaupt nicht schreckt. Das war schon bei den Wikingern so, wie du weißt.“ Hasard fluchte vor sich hin, und der Riese fragte Stenmark, warum sein Kapitän so wütend sei. „Was für eine Frage, Ase Thorgeyr!“ schnaubte Stenmark. „Unser Kapitän - und übrigens wir alle haben etwas dagegen, wenn man sich in einer Familie gegenseitig an die Gurgel geht und einer den anderen abmurkst - der Bruder die Schwester, deren Mann den Bruder und so weiter und so fort ...“ Ase Thorgeyr wollte auffahren, aber Stenmark bölkte ihn an: „Halt's Maul, jetzt rede ich, verstanden? Ohne daß ich jetzt unseren Kapitän zu fragen brauche, weiß ich bereits, was er tun wird: nämlich
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verhindern, dich auf deine Schwester loszulassen! Und noch etwas, mein Freund: Da treibst du dich vier Jahre irgendwo herum, und weil dir ein Auge ausgeschlagen wurde, besinnst du dich auf einmal, daß du dich um den Hof der Thorgeyrs kümmern müßtest. In den ganzen vier Jahren hast du das nicht getan und vorher offenbar auch nicht. Und jetzt tauchst du plötzlich auf und verlangst, daß deine Schwester zu verschwinden hätte, weil dir laut altem norwegischem Recht der Hof zustehe. Dieses Recht hast du nach meiner Auffassung in diesen vier Jahren längst verspielt, auch wenn du - wie du sagst - ein Jahr auf der Schnauze gelegen hast. Nein, Ase Thorgeyr, so einfach ist das nicht, und wenn ich deine, Schwester wäre, dann würde ich dich zum Teufel schicken!“ Jetzt hatte Eike mitübersetzt, und Hasard war das Fluchen vergangen, als er seinen Stenmark loslegen hörte. „Gut, Sten, sehr gut“, sagte er, „gib's diesem Ochsen zwischen die Hörner. Du hast mir aus der Seele gesprochen. Und jetzt teil ihm auch gleich mit, daß ich ihn in Ketten legen werde, wenn er im IsaFjord den wilden Mann spielen will. Sag ihm, so hätten wir nicht gewettet, und wir würden verhindern, daß es zu Mord und Totschlag kommt. Ah, und noch etwas: Sag ihm, er habe sich unseren Gesetzen zu beugen, solange er sich an Bord der ‚Isabella` befände, wobei ich mir das Recht herausnehmen werde, ihn hier solange schmoren zu lassen, bis er sich abgekühlt hat und einverstanden erklärt, mich als neutralen Vermittler in dieser verdammten Angelegenheit zu akzeptieren.“ Der Riese, der nach Stenmarks harten Worten zunächst hatte aufbrausen wollen, dann aber geschwiegen und weiter zugehört hatte, vernahm jetzt genauso schweigsam das, was ihm der Kapitän androhte. Das waren schon ziemliche Brocken, die er da zu verdauen hatte. So hart und kompromißlos hatte bisher kaum jemand gewagt, mit ihm zu sprechen. Andererseits spürte der Riese, daß ihm auf diesem Schiff Persönlichkeiten
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gegenüberstanden, das war eine ausgesuchte Mannschaft von eisenharten Kerlen, solchen, wie sie ihm bisher nur vereinzelt begegnet waren. Die wußten, was sie wollten. Und sie redeten nicht lange um den heißen Brei herum, sondern sagten klipp und klar und frei heraus ihre Meinung. Ja, da war wohl was Wahres an dem, was sie sagten und wie sie es sagten. Sie urteilten sachlich und hielten ihm vor, sich um nichts gekümmert zu haben. In diesen letzten vier Jahren hatte Gotlinde den Hof bewirtschaftet, allein, ohne Mann -und sie hatte den Besitz der Thorgeyr-Sippe gewahrt. Sie war nicht davongelaufen oder hatte - wie er - erklärt, sich die Welt anschauen zu müssen. Nachdenklich nickte der Riese und sagte mit seiner tiefen Stimme: „In Ordnung, ich bin einverstanden, daß der Kapitän in dieser Sache vermittelt. Ich - ich beuge mich seinem Rat.“ Hasard atmete auf, als er von Stenmark die Worte Ase Thorgeyrs hörte. Offenbar war dieser Turm von Mann doch kein sturer Ochse, dem es um das altnordische Recht ging, um die Fehde und das zu Unheil führende Prinzip der Blutrache. Lächelnd nickte er dem Riesen zu. „Gut, Ase Thorgeyr, sehr gut. Ich verspreche dir, gerecht und sachlich zu vermitteln, wenn es soweit ist. Ich werde versuchen, daß wir zu einer friedlichen Regelung gelangen. alles andere wäre ungut und würde niemanden glücklich werden lassen. Nun, wir werden sehen. Ich schätze, daß wir mit deiner Rückkehr nach Island einen guten Trumpf in den Händen haben. Wir werden ihn auszuspielen wissen.“ Die Männer grinsten. Sie kannten ja ihren Kapitän, der schien schon wieder einen Kurs abgesteckt zu haben, der zum Ziel führte. Nur Old O'Flynn murmelte: „Wehe, wehe ...“ Er verstummte, weil ihn Plymmie ankläffte, was sie noch nie getan hatte. Aber vielleicht fühlte sie sich durch den Tonfall seiner Wehe-Verkündung gereizt und wußte nicht anders zu reagieren.
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Und erbittert erklärte der Alte: „Sogar die Hunde werden schon gegen mich aufgehetzt!“ „Ich seh nur einen Hund“, sagte Ferris Tucker. „Oder sprichst du von Geisterhunden, Mister O'Flynn, die uns gewöhnlichen Sterblichen nicht die Ehre geben, sichtbar zu werden?“ Er grinste Old Donegal freundlich an. „Ich hab auch nicht gesehen, daß hier jemand die gute Plymmie gegen dich aufhetzt. Du bist also mal wieder herrlich am Spinnen, mein Alter. Kribbelt's im Holzbeinchen? Sind die Holzwürmerchen bei der Arbeit?“ „Mister Tucker“, sagte Old O'Flynn mit Würde, „du wirst von Tag zu Tag alberner. Und deine Witze sind so dämlich, daß sogar meine Holzwürmerchen das große Gähnen kriegen und in einen Tiefschlaf verfallen.“ „Hoffentlich schnarchen sie nicht“, sagte Ferris Tucker. Old O'Flynn äußerte sich mit einem „Phhf!“ Darauf drehte er dem Schiffszimmermann den Rücken zu, was seine Verachtung ausdrücken sollte, stelzte zum Leeschanzkleid und widmete sich dem Anblick der See, die im ewigen Gleichmaß von Westen heranrollte. Ferris Tucker hätte gern noch ein bißchen weiter herumgestänkert und Old Donegal so ordentlich in Rage gebracht, was auch stets der allgemeinen Heiterkeit diente, aber wenn der Alte auf die See hinausträumte -das wußte Ferris -, dann reagierte er auf nichts mehr. So stand der üblichen Bordroutine nichts mehr im Wege - bis auf den Vorfall mit der Raubmöwe, aber wegen der hatte Old Donegal bestimmt nicht sein „Wehe, wehe“ von sich gegeben. Kurz zuvor hatte Mac Pellew einen Abfallkübel nach Lee ausgekippt, und wie immer balgten sich ein paar Möwen zeternd und kreischend um die Essensreste, die achteraus trieben. Nicht so ein Prachtexemplar von rotbräunlicher Raubmöwe, die im eleganten Segelflug die „Isabella“ umkreiste und mit schiefgeneigtem Kopf
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auf die Luvnock der Vorbramrah hinunteräugte. Dort hockte Sir John, der AracangaPapagei, und war hingebungsvoll damit beschäftigt, sein Gefieder zu putzen. Mit Sicherheit hatte die Raubmöwe noch nie in ihrem Dasein ein solches Vogelexemplar gesehen. Zu vermuten ist ferner, daß die Buntheit von Sir Johns Federkleid das Interesse der Raubmöwe erregte - und damit auch die Freßlust. Bei einer Länge von gut einem halben Yard war die Raubmöwe ein Goliath gegenüber dem kleinen Sir John, der zwar eine große Klappe und einen scharfen Schnabel zum Nüssezerhacken hatte, aber mitnichten für ein Duell mit einer Raubmöwe geeignet war. Für so etwas hatte ihn der Schöpfer aller Dinge nicht ausgerüstet - logisch, denn die göttliche Vorsehung hatte allerlei gefiedertes Getier geschaffen - „ein jegliches nach seiner Art“, was bedeutete, daß die einen über und auf dem Wasser zu Hause waren und die anderen auf und über dem Land, Sir Johns Artgenossen jedoch im Urwald im fernen Südamerika. Die „Isabella“ und mit ihr die „Wappen von Kolberg“ kreuzten nach Westen auf und lagen zur Zeit auf dem Schlag über Steuerbordbug. Somit wehte also der Wind Von schräg Backbord voraus, und Sir John hockte seiner Gewohnheit entsprechend mit dem Rücken zum Wind auf der Rah. Eigentlich hatte er überhaupt keine Chance, denn die Raubmöwe glitt aus dem Sektor von Backbord voraus auf Sir John zu, von hinten und in schräg nach unten gerichteter Flugbahn. Der einzige, der das Unheil herannahen sah, war Arwenack, der Bordschimpanse. Er saß zu diesem Zeitpunkt im Vormars und handelte in Bruchteilen von Sekunden, nämlich in jenen Zeitbruchteilen, in denen die Distanz zwischen der Raubmöwe und Sir John in tödlicher Weise zusammenschrumpfte. Arwenacks Reaktion war merkwürdig, aber richtig. Er warnte seinen FreundFeind Sir John erst gar nicht, sondern schnellte aus dem Mars hoch und hing mit
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einem Riesensatz plötzlich an den Leebrassen des Bramsegels, was zur Folge hatte, daß die Bramrah jäh und kräftig angeruckt wurde. Was er in seinem Affenverstand beabsichtigt hatte, das erreichte er auch. Sir John flatterte, von dem plötzlichen Ruck erschreckt, kreischend und krakeelend hoch, und die Raubmöwe schoß unter ihm durch. Jetzt war der Teufel los. Die Raubmöwe schwang herum, um sich ihre Beute doch noch zu schnappen, aber Sir John kurvte bereits abwärts, während Arwenack jetzt auf der Vormarsrah herumtobte. Plymmie kläffte lauthals, die Raubmöwe stieß ihre schrillen Schreie aus, Sir John schimpfte unflätig, und Arwenack ließ seine Affenlaute vernehmen, jenes Keckern, wenn er wütend war. Das war vielleicht ein Krach! Sir John bewies taktisches Geschick, indem er kreuz und quer durchs Rigg sauste und die engsten Passagen wählte, wo ihm die Raubmöwe allenfalls mit angelegten Flügeln folgen konnte. Und so passierte es. Sir John schoß quer über die Kühl und fegte dann durch die Webeleinen der Großwanten an Steuerbord - die Raubmöwe hinterher, und die blieb in dem Gitterwerk hängen, während Sir John bereits zu Carberry kurvte und auf dessen Schulter landete. Noch bevor die Seewölfe irgendwie reagieren konnten, rasten Plymmie und Arwenack heran - Plymmie sprang, von den Kuhlplanken hoch und schnappte nach der zappelnden Raubmöwe, Arwenack rutschte wie der Blitz an den Steuerbordgroßwanten abwärts, griff einmal kurz zu, rupfte das Federkleid und landete in einer wirbelnden Federwolke auf der Kuhl. Da rutschte die Raubmöwe durch die Webeleinen, fing sich flatternd, wobei wiederum Federn davonflogen, und strich dicht über der See taumelnd ab, sichtlich angeschlagen.
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„Affenarsch!“ krakeelte Sir John hinter ihr her. „Lumpenpack! Fier weg, das Ding ...“ Er war schier am Überschnappen, der gute Sir John, schlug wie verrückt mit den Flügeln, die dem Profos um die Ohren klatschten, und stieß den Kopf auf und nieder. Richtig tückische Augen hatte er dabei. Und Plymmie war drauf und dran, sich über das Schanzkleid zu stürzen, um den „Gegner“ zu verfolgen. Sie kläffte und jiepte sich die Seele aus dem Leib. Hasard und Philip junior stürzten zu ihr, um sie zurückzuhalten. In einem halben Jahr würde Plymmie glatt über das Schanzkleid springen, das stand mal fest. Arwenack betrommelte seinen Bauch, hüpfte auf der Kuhl herum und fletschte die Zähne. Die Seewölfe holten tief Luft und lösten sich aus ihrer Verblüffung. „So was“, murmelte Big Old Shane kopfschüttelnd. Was er damit ausdrücken wollte, war die Tatsache. daß diese „Schlacht“ ausschließlich von den Bordtieren der „Isabella“ geschlagen worden war. Gemeinsam hatten sie den „Feind“ in die Flucht gejagt und ihn dabei kräftig gerupft_ Allerdings - um ein Haar wäre Sir Johns Papageienleben jäh zu Ende gewesen. Nur Arwenacks blitzschnelle Reaktion hatte ihn davor bewahrt, den Seemannstod zu sterben - letzteres natürlich sinnbildlich. Wahrscheinlich wären andere Möwen hinter der Raubmöwe hergejagt, um ihr die Beute zu entreißen, die so schön bunt war. Von Sir John wäre da nicht viel übriggeblieben... 2. Der Isa-Fjord - von den Isländern Isafjardardjüp genannt - verläuft in Nordwest - Südost-Richtung und greift tief in die Nordwesthalbinsel Westfjorde. An seiner südlichen Flanke zweigen weitere kleinere Fjorde ab, so der Skutulsfjord, an dem Isafjord liegt. Die „Isabella IX.“ und die ..Wappen von Kolberg“ unter Hasards Vetter Arne von
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Manteuffel liefen am 25. April 1593 in den Isa-Fjord ein. Der Boston-Mann hatte das Ruder auf der „Isabella“ übernommen, um beide Schiffe sicher in den Fjord zu geleiten, denn so ganz gefahrlos war das Fjordgewässer keineswegs. Da war mit Unterwasserklippen zu rechnen, aber auch mit Stromkabbelungen, hervorgerufen von Gebirgsflüssen und Bächen, die wild in den Fjord schossen und Verwirbelungen bildeten. Das war schon eine grandiose Landschaft, die sich den Augen der Seewölfe darbot Bergzacken, die noch mit Schnee bedeckt waren, dazwischen Gletscher, Steilwände, Kliffs und zu den Ufern hin mächtige Geröllhalden von Basaltgestein. Und immer wieder zweigten Seitentäler vom Fjord ab, die von Schotterterrassen flankiert waren. Im Fjord trieben noch Eisschollen da und dort, letzte Reste des nördlichen Treibeises. Big Old Shane auf dem Achterdeck der „Isabella“ räusperte sich vernehmlich und sagte: „Wenn ihr mich fragt, dann ist hier der Arsch der Welt!“ Und er fügte mit einem Blick zum Boston-Mann, der gequält grinste, hinzu: „Hier könnten mich nicht mal drei Gotlindes festhalten.“ Ferris Tucker nickte tiefsinnig. „Du sagst es“, murmelte er. Hasard lächelte amüsiert und schwieg. Dann schaute er zur Kuhl hinunter, wo Ase Thorgeyr am Steuerbordschanzkleid stand - ein Mann, der heimkehrte in das Land seiner Väter, das er vor vier Jahren verlassen hatte. Hasard sah, wie sich der Riese verstohlen über das gesunde linke Auge wischte - eine Gebärde, die fast hilflos wirkte bei diesem Klotz von Mann, der so hart erschien wie das Gestein dieses Landes. Schau einer an, dachte Hasard, da hat er also doch eine weiche Stelle, und er schämt sich, das zu zeigen. Plötzlich hoben alle Arwenacks die Köpfe und lauschten. Waren da nicht gerade Schußdetonationen zu hören gewesen? Von irgendwo voraus? Der Wind stand in den Isa-Fjord, das mochte dämpfend wirken und solche
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Geräusche auch verzerren. Aber dann hörten sie es doch wieder. Nein, für Kanonendonner waren diese Geräusche zu schwach, das klang eher nach Musketenfeuer -mit vielen Echos, die von überall zurückgeworfen wurden. Dadurch wurde es noch schwieriger, eindeutig die Richtung zu bestimmen, von der aus die Geräusche an ihre Ohren drangen. Hasard drehte sich zu Ben Brighton um und sagte: „Ben, laß die Drehbassen besetzen und schußklar machen - für alle Fälle. Al soll auch Musketen verteilen.“ „Aye, aye, Sir“, sagte Ben Brighton, und Al Conroy, der für die Waffen verantwortlich war, zeigte bereits klar. „Ed!“ rief Hasard zur Kuhl hinunter. „Laß die Bram- und Marssegel bergen, wir laufen zuviel Fahrt!“. Auch Ed Carberry zeigte verstanden. Hasard spähte zurück zur „Wappen von Kolberg“ und stellte fest, daß auch Arne von Manteuffel entsprechend reagiert hatte. Die Bram- und Marssegel waren in knapp sieben Minuten aufgetucht. Beide Schiffe liefen jetzt nur noch mit Fock, Großsegel und Besan. Die beiden Blinde-Segel waren ohnehin nicht gesetzt worden. Eike tauchte neben Hasard auf und sagte: „Nach meiner Schätzung müßten wir den Skutulsfjord in einer guten Viertelstunde erreicht haben.“ Hasard nickte und fragte: „Wie verläuft er?“ „In Nord-Süd-Richtung“, erwiderte Eike. „Bei Westwind wie jetzt ist er nahezu abgedeckt.“ Er grinste etwas. „Ein Flautenloch. Da brauchst du nur bei Sturm aus Norden die Ohren anzulegen - wenn überhaupt.“ „Hm-hm“, murmelte Hasard. „Ist da genug Platz zum Manövrieren?“ „Der reicht dicke.“ „Und wie ist der Ankergrund?“ Eike verzog das Gesicht. „Ziemlich murksig, Steinschutt und Geröll. Wir haben beim ,Eiligen Drachen' Leinen an Land verfahren und um Felsen belegt.“ „Danke, Eike.“ Hasard gab Order, Leinen aus der Taulast an Deck zu mannen und
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ließ auch Arne durch Zuruf entsprechend unterrichten. Die Schußlaute wurden jetzt deutlicher. Es mußte sich tatsächlich um Musketen handeln. Von einem Stakkato konnte da nicht die Rede sein. Das kleckerte so dahin, wurde jedoch von den Echos vervielfältigt. „Möchte wissen, was sich da abspielt“, sagte Big Old Shane und warf Old Donegal einen schiefen Blick zu. Der starrte nämlich mit verkniffener Miene voraus. Den eisgrauen Kopf hatte er lauernd vorgereckt -wie ein alter Habicht, der nach einer Maus ausspäht. Aber jetzt wandte er den Kopf und starrte Big Old Shane an. „Was sich da abspielt, fragst du?“ sagte er dumpf. „Da wird geschossen, jawohl, scharf geschossen wird da.“ „Nein, so was“, sagte Big Old Shane. „Bist du dir ganz sicher?“ „Absolut.“ „Könnte da nicht ein Elch gehustet haben? Oder zwei Elche?“ fragte Big Old Shane mit steinerner Miene. Hasard und Ben Brighton drehten sich weg, um ihr Grinsen nicht zu zeigen. Eike biß sich auf die Lippen. Ferris Tucker betrachtete seine Stiefelspitzen. „Elche?“ fauchte Old O'Flynn. „Du hörst wohl schlecht? Elche schießen nicht. Und die haben auch nicht gehustet! So ein Quatsch, verdammt noch mal!“ „Aber vielleicht haben sie Winde rausgelassen“, sagte Big Old Shane sehr sachlich. „Ich hab das mal gehört - auf eine Meile Entfernung. Da fliegt dir glatt der Hut weg von dem Luftzug. Und das riecht auch, wenn so ein Elch einen rausdonnert ...“ Old O'Flynn wollte aus der Haut fahren, aber Old Shane hob schnell die Hand: „Still mal! Jetzt donnert's wieder - wie damals bei den Elchen. Die hatten, glaub ich, zuviel frisches Gras gefressen ...“ „Ich seh in diesem verdammten Fjord kein frisches Gras!“ brüllte Old O'Flynn. „Na ja“, sagte Old Shane, „kann auch grüner Spinat gewesen sein. Man kann sich
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ja mal irren, nicht?“ Er beäugte Old O'Flynn. „Was regst du dich denn so auf?“ „Ich reg mich ja gar nicht auf!“ blaffte Old Donegal. „Aber da vorn wird irgendwo geschossen, da freß ich mein Holzbein!“ „Aha.“ Old Shane deutete auf die beiden achteren Drehbassen. die Al Conroy gerade überprüft hatte. „Was meinst du wohl, warum Hasard befohlen hat, die Dinger feuerbereit zu machen? Und warum Al Musketen verteilt hat, he?“ „Wie? Davon weiß ich nichts. Ich hab mich auf die Musketenschüsse konzentriert.“ „Alterchen!“ sagte Old Shane und drohte mit dem Finger. „Ich glaube, du bist nicht mehr ganz an Deck, wenn du solche Befehle überhörst. Kann man mit dir eigentlich noch rechnen? Oder hast du Ohrensausen?“ „Ich doch nicht!“ sagte Old Donegal empört. „Und ich verbitte mir, mit ‚Alterchen' angeredet zu werden -und das noch von einem alten Sack, wie du einer bist, von einem, der von Elch-Winden faselt, wenn scharf geschossen wird. Und dann fuhr er Old Shane an: „Du brauchst gar nicht so dämlich zu grinsen!“ „Ich find's aber heute so lustig“, sagte Old Shane und grinste weiter. „Vor allem, wenn du etwas feststellst, was bei uns seit mindestens zehn Minuten klar ist - nämlich Musketenfeuer. Dementsprechend -für alle Fälle, verstehst du? - wurden unsere Drehbassen besetzt und die Musketen verteilt, sehr richtig nach dem Prinzip, daß man nicht mit Kanonen nach Spatzen schießt. Kannst du mir noch folgen, mein Alterchen? Denn Musketenfeuer unterscheidet sich sehr deutlich von dem dumpfen Grollen schwerer Pfünderstücke, besonders in einem Fjord wie diesem. Das mit den Elchen kannst du vergessen. Ich glaube auch, daß es hier gar keine gibt nicht in dieser trostlosen Landschaft. Aber Lachse und Forellen dürften sich hier tummeln, wenn ich mir die Bäche und Flüßchen betrachte, die hier in den Fjord stürzen. Na, alles klar, Mister O'Flynn?“
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Old Donegal reagierte auf die Belehrungen Old Shanes sehr vulgär. Er sagte kurz und knapp: „Scheiße!“ „Dann ist das also geregelt“, sagte Old Shane gemütlich. „Jetzt bin ich aber wirklich gespannt, wer hier auf wen mit Musketen ballert. Was meinst du, Mister O'Flynn?“ „Ich sag überhaupt nichts mehr“, knurrte Old Donegal. „Allenfalls möchte ich bemerken, daß ich hier bestimmt nicht siedeln würde.“ „Ich stelle fest“, erklärte Big Old Shane, „daß wir beide in diesem Falle endlich einmal der gleichen Meinung sind. Wenn wir uns allerdings nunmehr in unseren guten alten Thorfin Njal versuchen hineinzudenken und zu versetzen, dann muß seine Gotlinde wahrhaftig entweder ein Superprachtweib sein oder Wunder vollbringen können. Was meinst du?“ „Das Weib ist des Teufels“, sagte Old Donegal düster. „Anders ist das nicht zu erklären.“ „Na, ich laß mich überraschen“, sagte Old Shane. Damit war diese Diskussion beendet, denn jetzt rief Eike: „Etwa tausend Yards voraus an Steuerbord ragt eine Felsnase, in drei Zacken abfallend, in den Fjord vor! Direkt dahinter zweigt der Skutulsfjord ab!“ Elke strahlte. „Wir haben es geschafft.“ „Abwarten“, brummte Hasard. „Wo liegt in dem Skutulsfjord der Thorgeyr-Hof?“ „Von der Einfahrt her gesehen an Steuerbord auf einem Hügelsattel“, erwiderte Eike. „Entfernung von der Einfahrt?“ „Etwa sechshundert Yards, Sir.“ Hasard nickte und ließ das GroßGroßsegel bergen. Auf der „Wappen von Kolberg“ folgten sie seinem Beispiel. Der Boston-Mann legte etwas Ruder nach Backbord, um in einem Bogen in den Skutulsfjord zu steuern und die Felsnase nicht zu hart zu runden. Als er dann nach Steuerbord drehte, mußten die Fock und der Besan heruntergeholt werden. Das Musketenfeuer stammte aus Skutulsfjord, das war jetzt eindeutig herauszuhören. Zu sehen war noch nichts,
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weil die felsigen Fjordwände hundert bis zweihundert Yards in den Himmel ragten. Und dann zeigte der Bugspriet der „Isabella“ in den Skutulsfjord, der sich nach Süden erstreckte und öffnete. Vom Großmars meldete Luke Morgan: „Backbord voraus ,Eiliger Drache über den Wassern`! Steuerbord voraus auf einem Hügel ein umwalltes Gehöft! Weiter dahinter, eine knappe Meile entfernt, Steganlagen mit mehreren Fischerbooten und drei Schaluppen sowie ein paar Hütten und Häuser!“ Hasard zeigte verstanden. Im selben Moment ging das Gebrüll los auf dem Schwarzen Segler. Sie hatten die einlaufende „Isabella“ entdeckt, turnten wie die Affen in den Wanten hoch, rissen sich die Mützen von den Köpfen und winkten und jubelten. „Die Isabella!“ „Eike und der Boston-Mann haben es geschafft!“ „Hurrraahh! Die Seewölfe!“ „Unsere Freunde sind da!“ Die Arwenacks grinsten, winkten zurück und waren ein bißchen gerührt über den jubelnden Empfang. „Männer!“ röhrte Edwin Carberry. „Begrüßen wir diese Rübenschweine mit einem dreifachen Arwenack-ho!“ So donnerte ein dreimaliges „Arwenackho!“ durch den Fjord und rollte als Echo weiter. Da waren die Musketenschüsse längst verstummt. Da und dort rings um den Thorgeyr-Hof hatten sich hastig aus Deckungen heraus oder hinter Felsbrocken Köpfe gezeigt und waren wieder weggetaucht. Eike sagte: „Da belagern irgendwelche Kerle den Thorgeyr-Hof.“ „Scheint mir auch so“, sagte Hasard und verstummte, weil vom Hof her eine ihm nur zu bekannte Stimme aufdröhnte, in der ebenfalls Jubel mitklang. „Hasard - du Teufelsbraten!“ brüllte Thorfin Njal mit einer Stimme, daß die Fjordwände zu wackeln schienen. „Willkommen auf Island und dem Thorgeyr-Hof! Ich würde meinem alten
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Freund, dem Seewolf, ja gern die Hände schütteln, aber hier hängen ein paar Zecken herum, die meinen, den Hof vereinnahmen zu können! Kannst du sie mal wegpusten? Dann haben wir sie in der Zange, diese Hurenböcke!“ Der Boston-Mann und Eike fluchten. Kaum waren die Seewölfe in diesem verdammten Fjord erschienen, da sollten sie auch bereits nach der Meinung Thorfin Njals ins Gefecht gehen. Hasard brüllte zurück: „Deine Zecken müssen nicht unbedingt meine Zecken sein, Thorfin Njal! Ist das dein Hof, von dem du sprichst? Ich dachte, dein Besitz läge auf einer Insel in der Karibik. Oder gilt das nicht mehr? Dann solltest du die Suppe, die du dir eingebrockt hast, auch selbst auslöffeln. Was meinst du dazu?“ Thorfin Njals gebrüllte Antwort ging in dem Johlen und Beifallsgegröl seiner Mannen auf dem Schwarzen Segler unter. Jawohl, da hatte es der Seewolf ihrem Kapitän vierkant zwischen die Hörner seines Kupferhelms gegeben. Endlich! Endlich war einer da, der gleich den richtigen Text sprach, hart und deutlich. Unter dem Jubeln und Brüllen der Kerle vom Schwarzen Segler ging die „Isabella“ hinter dem Viermaster in den Wind, der hier kaum noch spürbar war, Fock und Besan wurden geborgen, gleichzeitig ließ Hasard den Buganker fallen, der sich irgendwo zwischen dem Unterwassergeröll verfing und die Galeone festhielt. Hinter der „Isabella“ fuhr Arne von Manteuffel das gleiche Manöver. „Ed!“ rief Hasard zur Kuhl hinunter. „Setzt die große Jolle aus und verfahrt eine Achterleine zum Land!“ „Aye, aye, Sir!“ brüllte der Profos. „Und mit der kleinen Jolle möchte ich zum Schwarzen Segler übersetzen!“ rief Hasard. „Bringt sie auch zu Wasser. Aber laßt euch Zeit, hier eilt nichts!“ „Verstanden, Sir!“ rief Carberry zurück. Tatsächlich wurde an Land nicht mehr geschossen. Jene „Zecken“, von denen der Wikinger gesprochen hatte, schienen abwarten zu wollen, was sich weiter tat. Daß sich ihre Lage mit dem Auftauchen
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dieser beiden Galeonen verändert hatte. mußte auch ihnen klar geworden sein. Von der Unterhaltung der beiden Kapitäne hatten sie vermutlich nichts verstanden - es sei denn, einer von ihnen kannte sich mit der englischen Sprache aus. „Luke!“ rief Hasard zum Großmars hoch. „Paß auf, was die Kerle, die den Hof belagern. so treiben. Versuche auch festzustellen, wie viele es sind!“ „Aye, aye, Sir!“ rief Luke zurück. Hasard wandte sich zu Eike um. „Was schätzt du, wie viele Verteidiger auf dem Hof sind?“ Eike überlegte und sagte: „Gotlinde hatte so an die zwölf Knechte und noch ein paar Schafhirten.“ Er schaute zum BostonMann. „Was meinst du?“ „Müßte stimmen“, sagte der Boston-Mann. Luke Morgan meldete sich aus dem Großmars. „Bis jetzt habe ich fünfzehn Kerle gezählt. Sir. Aber wahrscheinlich sind's mehr. Da sind ein paar Deckungen, die ich nicht überblicken kann.“ „Danke, Luke!“ Hasard schaute zur Kuhl, wo Ase Thorgeyr erregt auf Stenmark einredete. „Was will er, Sten?“ „Er meint, wir müßten sofort angreifen und die Kerle vertreiben“, erwiderte Stenmark. „Müssen wir nicht! Sag ihm das, Sten“, knurrte Hasard. „Solange die Kerle in ihren Deckungen bleiben und nicht zum Sturm ansetzen, spielt sich hier gar nichts ab. Außerdem soll der Wikinger ruhig ein bisschen schmoren, damit er begreift, daß wir keine Lust haben, nach seiner Pfeife zu tanzen. Vor allem will ich vermeiden, daß wir hier ein Massaker anrichten. Das gibt nur böses Blut.“ „Alles klar, Sir.“ Stenmark nahm den Riesen ins Gebet und erklärte ihm, daß sein Kapitän zunächst neutral zu bleiben wünsche. So ganz schien das Ase Thorgeyr nicht einsehen zu wollen. Ihm juckte es wohl in den Fäusten, was durchaus verständlich war - angesichts des belagerten ThorgeyrBesitzes. Aber Stenmark wußte den Riesen richtig zu nehmen und erinnerte ihn auch daran, daß er sich Kapitän Killigrew habe unterordnen wollen.
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Inzwischen war die kleine Jolle ausgesetzt und Carberry meldete sie klar zum Ablegen. Hasard übergab Ben Brighton das Kommando und sagte: „Wir üben vornehme Zurückhaltung, Ben. Ich will mir erst einen Überblick verschaffen. Laß nur feuern, wenn die Kerle tatsächlich versuchen sollten, den Hof zu stürmen was ich aber nicht glaube. Mir scheint das eher so eine Art Geplänkel zu sein. Falls was passieren sollte, können wir uns auch durch Zurufe verständigen. Noch Fragen?“ „Alles klar, Sir“, erwiderte Ben Brighton ruhig, wie es seiner Art entsprach. Hasard ließ Eike und den Boston-Mann in die Jolle abentern und nahm als Bootsgäste noch Sam Roskill und Bob Grey mit. Fünf Minuten später wurden sie auf der Kuhl des Schwarzen Seglers freudig empfangen und von den Kerls umringt, die direkt erleichtert aussahen. Jetzt würde alles gut werden. Sie schienen ein grenzenloses Vertrauen zu dem Geschick und der Tüchtigkeit Philip Hasard Killigrews zu haben. Der würde ihren Kapitän schon auf Trab bringen. Hasard schüttelte Hände und blickte in grinsende Gesichter. Da waren Arne. Olig und der Stör - zusammen ¬mit Eike bildeten sie den harten Kern der Crew -, Juan, der Bootsmann, Bill, the Deadhead, der bullige Mann mit dem goldenen, handtellergroßen Totenkopf, den er an einer Halskette trug, Mike Kaibuk, das Schandmaul, Cookie, das schmierige Köchlein, Tammy, der Kreole, Barry Winston, der stämmige Glatzkopf, dem das linke Ohr fehlte -und wie sie alle hießen. Das war schon eine wilde Bande, die samt ihrem eigenartigen Viermaster in dieser gottverlassenen Ecke der Welt des Nordens merkwürdig fehl am Platze wirkte. „Nun erzählt mal“, sagte Hasard, als das Palaver allmählich verstummte. „Hat euer Kapitän überhaupt mitgekriegt, daß Eike und der Boston-Mann aufgebrochen waren, um mich zu suchen?“ Arne, einer der vier Wikinger, übernahm die Antworten. Er sagte: „Hat er nicht.“ Es klang ziemlich erbittert. „Er hat sich um
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uns überhaupt nicht mehr gekümmert. Erst als gestern hier das Theater losging, hat er sich wieder an uns erinnert. Da hat er zu uns rübergebrüllt, wir sollten einen Trupp landen und über die Kerle herfallen, die den Hof belagerten und mit Musketen beschossen.“ „Und?“ Arne zuckte mit den Schultern. „Wir hatten beschlossen, nicht einzugreifen. Was geht uns dieser Thorgeyr-Hof an? Wäre unser Schiff angegriffen worden, dann hätten die Kerle Zunder gekriegt. Aber so!“ Arne hob wieder die Schultern und ließ sie sinken. „Er hat getobt und gedroht, uns alle eigenhändig wegen Befehlsverweigerung an die Rah zu knüpfen. Wir hätten zu gehorchen, und es wäre eine Schweinerei, ihn im Stich zu lassen. Feiglinge wären wir, Deserteure, Scheißkerle, Lumpenhunde! O ja, er hat uns beschimpft und beleidigt und verflucht. Schließlich hat er verlangt, wir sollten die Kerle mit Musketen und Drehbassen unter Feuer nehmen. Aber auch das haben wir nicht getan. Dann hatte Bill, the Deadhead, die Idee, ihn zu erpressen - oder andersherum, nämlich etwas zu fordern: daß wir bereit wären, einzugreifen, aber dann müßte er versprechen, uns den Schwarzen Segler zu überlassen, um in die Karibik zurückkehren zu können ...“ Arne verstummte und biß sich auf die Lippen. „Weiter!“ drängte Hasard. Fast unhörbar murmelte Arne: „Als Bill das zum Hof hinüberschrie, hat der Kapitän auf ihn geschossen!“ Er senkte den Kopf, als schäme er sich, das berichten zu müssen. Hasard blickte ihn betroffen an. Das war eine böse, bitterböse Sache, die einmal mehr bewies, wie sehr sich Thorfin Njal verrannt hatte. Dabei war der Vorschlag Bills keine Forderung und schon gar keine Erpressung gewesen, sondern eine Möglichkeit, auf gütlichem Wege eine Regelung zu finden. Jetzt war diese verdammte Angelegenheit noch verfahrener. Da hatte also dieser verrückte Wikinger auf einen Mann seiner Crew geschossen,
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auf einen guten Mann, der ihm bisher immer die Treue gehalten hatte. Dabei hatte dieser Mann einen durchaus brauchbaren Weg gefunden, dieses Schlamassel zu beenden. Blei gegen Diplomatie! Thorfin Njal mußte seine Sinne nicht mehr beisammen haben, wenn er auf einen Mann seiner Crew schoß. Arne sagte: „Wir waren heute schon drauf und dran, die Segel zu setzen und abzuhauen. Wir taten es nicht, weil Eike und der Boston-Mann noch nicht zurückgekehrt waren. Wären sie ohne euch hier wieder aufgetaucht, dann hätte sie unser Kapitän vermutlich totgeschlagen.“ Arne reckte sich. „Was wirst du tun, Sir? Mit unserem Kapitän sprechen? Wir glauben alle, daß er auf dich hören wird, auch wenn es so aussieht, als sei er übergeschnappt.“ Sie blickten ihn alle erwartungsvoll an, schon jetzt davon überzeugt, daß er die Karre aus dem Dreck ziehen würde. Hasard sagte ruhig und langsam: „Der Zufall hat uns einen Trumpf in die Hände gespielt. Wahrscheinlich ist es der einzige Trumpf. den wir überhaupt haben, aber ich werde ihn so lange wie möglich zurückhalten.“ Er schwieg einen Moment und sah die Männer der Reihe nach an. deren Augen an seinen Lippen hingen. „Wir haben den verschollenen Bruder der. Gotlinde Thorgeyr drüben an Bord der ‚Isabella' - Ase Thorgeyr!“ Erstaunte und verblüffte Ausrufe wurden laut. Hasard hob die Hand, und die Männer verstummten wieder. Hasard lächelte verhalten. „Wenn es nach Ase Thorgeyr ginge“, sagte er, „würde er seine Schwester und euren Kapitän mit Gewalt an die Luft setzen, falls sie nicht freiwillig ihm den Hof überlassen sollten, der ihm nach der Familientradition und nach altem nordischem Recht zusteht. Ich habe ihn überreden können, mich als Vermittler zu akzeptieren, wobei ich einen Streit zwischen den Geschwistern und Thorfin Njal vermeiden möchte. Sehr viel wird
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davon abhängen, ob sich Gotlinde Thorgeyr darauf versteift, den Hof behalten zu wollen, weil sie vielleicht der Ansicht ist, ihr Bruder habe keine Besitzansprüche mehr anzumelden, da er sich ja vier Jahre lang nicht um den Hof gekümmert hat. Andererseits ist vorstellbar, daß sie vielleicht froh ist, die Verantwortung für den Thorgeyr-Besitz los zu sein. Meiner Meinung nach ist die künftige Besitzfrage eine Sache, die ausschließlich und allein die beiden Geschwister etwas angeht. Thorfin Njal dürfte sich nicht hineinmischen und auch keine Partei ergreifen - er ist kein Thorgeyr. Das sind alles so Punkte, die abgeklärt werden müssen. Eins möchte ich euch jetzt schon sagen: Nach meinem Empfinden habt ihr euch richtig verhalten. Denn um eine Sache kommt Thorfin Njal nicht herum - und da werde ich ihn auch packen. Er hat nicht das Recht, den Schwarzen Segler für sich zu beanspruchen und euch damit hier im Isa-Fjord an die Kette zu legen. Wenn er sich entscheidet, auf Island zu bleiben, um hier mit seiner Gotlinde zu leben, dann ist das seine persönliche Angelegenheit, die zu respektieren ist. Das entbindet ihn freilich nicht von seiner Verantwortung für euch und den Schwarzen Segler, der ja letztlich auch Besitz der Roten Korsarin ist. Hier muß er also Farbe bekennen und kann nicht mit dem Kopf durch die Wand. Euch Meuterei, Feigheit oder Befehlsverweigerung vorzuwerfen, ist Unsinn. Er selbst hat sich ins Unrecht gesetzt, und das wird er von mir auch zu hören kriegen. Seine Gotlinde zu lieben, das kann ich ihm allerdings nicht verbieten - und will es auch gar nicht, weil ich dazu kein Recht habe. Aber die anderen Dinge werden wir regeln. Verhaltet euch weiterhin neutral wie bisher und laßt euch nicht provozieren. Habt ihr eine Ahnung, was das für Kerle sind, die den Hof belagern?“ „Nein“, erwiderte Arne. „Aber vermutlich sind es jene Nachbarn der Thorgeyrs, die schon immer gehofft hatten, eines Tages den Besitz zu vereinnahmen. Wir wissen
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nur, dass es da ein paar Neidhammel geben soll, die der Meinung sind, es sei nicht rechtens, wenn eine Frau mehr Besitz und damit mehr Macht habe als sie alle zusammen. Dann hat sich herumgesprochen, daß jetzt ein Mann Gotlinde Thorgeyr zur Seite stehe, und das paßt den Leuten nicht. Vielleicht sahen sie ihre Felle, die sie unter sich bereits verteilt hatten, jetzt plötzlich davonschwimmen, und darum rückten sie an. Die sind hier alle ziemlich verbohrt. Wir waren mal hinten im Ort in Isafjord. Da leben ein paar Fischer und Kleinbauern, oder sie sind beides zusammen. Einige müssen an Gotlinde Thorgeyr Pacht bezahlen für irgendwelches mickriges Grasland, auf denen allenfalls Schafe weiden können. Hühner halten sie auch. Na ja, wir wurden als fremde Eindringlinge betrachtet und muffig von der Seite angesehen – etwa so: Was wollt ihr denn noch hier, wo wir selbst schon auf dem Zahnfleisch kauen! Verglichen mit der Karibik und unserer Schlangeninsel ist das hier ein Jammertal mit harten Wintern und kalten Sommern. Trostlos, jedenfalls für unsereinen. Haben euch Eike und der Boston-Mann erzählt, daß wir hier siedeln sollten?“ Hasard nickte. „Das haben sie, und ich verstehe, daß ihr das abgelehnt habt. Vergeßt es. Wenn hier alle Stricke reißen, segelt ihr mit uns in die Karibik zurück. Darauf könnt ihr euch verlassen.“ „Danke, Sir“, sagte Arne und fragte neugierig: „Was ist das für eine Galeone, die euch hierher begleitet hat?“ Hasard lächelte. „Sie gehört meinem deutschen Vetter Arne von Manteuffel, einem Sohn meines Vaterbruders aus Kolberg an der Ostsee. Ihr werdet Arne und seine Leute noch kennenlernen. Sie passen zu uns und wollen mit in die Karibik. Eike und der Boston-Mann mögen euch das erzählen. Ich setze jetzt wieder zur ‚Isabella' über. Vorderhand werden wir euren Kapitän noch zappeln lassen. Ihr tut überhaupt nichts und wartet ab. Wir von der ,Isabella' werden nur etwas unternehmen, wenn es eurem Kapitän tatsächlich an den Kragen gehen sollte.
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Aber vorerst scheint an Land Waffenruhe zu herrschen. Alles soweit klar?“ Arne sagte: „Alles klar, Sir. Fein, daß du da bist!“ Hasard grinste die Männer an. „Was meint ihr, was wir gelacht haben, als uns Eike und der Boston-Mann erzählten, daß euer Kapitän hier den verliebten Kater spielt?“ Er zwinkerte die Männer an. „Seid ihr denn sonst mit seiner Gotlinde einverstanden?“ Dieses Mal war es der Stör, der antwortete. Er verdrehte die Augen und sagte: „Ein prächtiges Weib, Sir, alles, was recht ist. Wenn der Kapitän sie nicht umgarnt hätte, dann hätte ich mich angepirscht ...“ „Du halbes Hemd!“ fauchte Olig. „Gotlinde hätte dich am steifen Arm verhungern lassen! Wenn einer bei ihr Chancen gehabt hätte, dann wäre ich das gewesen - ich meine natürlich außer dem Kapitän!“ Arne fühlte sich daraufhin bemüßigt, ebenfalls kundzutun, daß er bei Gotlinde nicht ganz chancenlos sei, und alle drei regten sich mächtig auf, als auch Mike Kaibuk das Maul aufriß und glattweg erklärte, Gotlinde hätte ihm feurige Blicke zugeworfen. Hasard enterte mit Sam Roskill und Bob Grey lachend ab. 3. Thorfin Njal starrte finster durch das Fenster, das den Blick auf den Fjord freigab, wo die drei Schiffe lagen - „Eiliger Drache über den Wassern“, die „Isabella“ und ein drittes, fremdes Schiff. Drei Schiffe! Sie brauchten nur gemeinsam eine Breitseite in das Gelände rings um den Hof zu feuern, und schon wäre der ganze Spuk beendet gewesen. „Ich verstehe das nicht“, murmelte Thorfin Njal. Gotlinde Thorgeyr blickte zu ihm hinüber. Sie stand an der Feuerstelle, wo ein Kessel über dem Feuer hing. Ein riesiger Rauchfang wölbte sich über dem Feuer. In dem Kessel brodelte eine Suppe.
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„Was verstehst du nicht?“ fragte die rotblonde Frau. Sie hatte ein ebenmäßiges, klares Gesicht, eine gerade Nase, volle Lippen, ein festes Kinn. Breitschultrig war sie, mit schmalen Hüften und langen Beinen, eine Riesin, die den Kopf sehr gerade hielt. Gelassen rührte sie in der Suppe. „Ich weiß nicht, wie er den Weg hierher gefunden hat“, murmelte Thorfin Njal. „Aber jetzt ist er hier -und kämpft nicht. Er denkt gar nicht daran. Erst ist er zu diesen Verrätern gepullt, hat mit den Kerlen gesprochen, aber nichts passiert. Dann kehrt er zur ,Isabella' zurück - und wieder passiert nichts. Sie tun alle so, als ginge sie das nichts an. Warum sind sie dann hier?“ Die grünlichen Augen der Frau blickten nachdenklich zu dem riesigen Mann, der sich bücken mußte, um durch das Fenster zu schauen. „Wiederhole mir noch einmal genau, was er dir zugerufen hat“, sagte sie ruhig. Thorfin Njal wandte den mächtigen Schädel. Seinen Kupferhelm hatte er abgesetzt - ein Anblick, der besonders Edwin Carberry und Ferris Tucker entzückt hätte, denn solange sie den Wikinger kannten, hatten sie ihn noch nie barhäuptig gesehen. Wildes rotgraues Haar wucherte in Wirbeln auf dem Schädel. Sein hartes, wettergegerbtes Gesicht wurde weich, als er die Frau anschaute und sich ihre Blicke trafen. Leise wiederholte er die Worte Hasards. Sie lauschte und prägte sich die Worte ein. Als er verstummte, nickte sie und sagte: „Er hat recht, dein Freund, den du den Seewolf nennst.“ Er wollte aufbrausen, besann sich aber. Etwas hielt ihn zurück. War es der Ausdruck in den grünlichen Augen, in denen sich das Herdfeuer widerspiegelte? „Wie meinst du das?“ fragte er. „Ich weiß zu wenig von dir, Thorfin Njal“, sagte sie. „Eins weiß ich aber sehr genau. Daß du nämlich sehr dickköpfig bist. Als ich dich über deine Männer ausfragte, hast du nur geflucht und erklärt, das seien Meuterer, Strolche, Feiglinge und noch Schlimmeres. Nur bedachtest du bei diesen
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Äußerungen nicht, daß du von deinen Männern gesprochen hast, nämlich als Kapitän dieser Männer. Du hast vergessen, daß man einen Kapitän nach seinen Männern beurteilt. Wenn er ein guter Kapitän ist, dann hat er auch gute Männer. Du hast dich selbst beschimpft, Thorfin Njal, als du deine Männer als minderwertige Subjekte darstelltest. Ist dir das noch nicht klargeworden?“ Der Riese senkte den Kopf und knurrte: „Weiter! Was noch?“ „Sieh mich an!“ sagte sie scharf. „Ich spreche nicht zu einem Mann, der mir nicht in die Augen schaut!“ Thorfin Njal zuckte zusammen und ruckte den Kopf hoch. Jetzt erschien ein gefährliches Glimmen in seinen hellen Augen. „Gut so“, sagte die Frau. „Ich werde nur einen Mann heiraten, der mir nicht ausweicht. Und bisher bist du ausgewichen, Thorfin Njal. Jetzt kannst du es nicht mehr. Einer deiner Freunde, von denen du gesprochen hast, liegt dort draußen mit seinem Schiff. Er hat dich gefragt, ob es dein Hof sei, für den er kämpfen solle. Und er hat gesagt, dein Besitz läge auf einer Insel in der Karibik. Was ist das für ein Besitz?“ Er knurrte wie ein gereizter Wolf. „Was hat das alles mit uns zu tun? Ich hin hier und werde nicht mehr dorthin zurückkehren. Ich habe Thule gesucht hier ist es.“ „Hier ist kein Thule“, sagte sie troff. „Du bist ein Träumer, Thorfin Njal. Und du läufst herum wie unsere Ahnen vor vielen hundert Jahren. Nur ein Langschiff segelst du nicht, sondern einen merkwürdig gebauten Viermaster. Ist es richtig, daß dieses Schiff nur zu einem Teil gehört?“ „Ja“, sagte er unwillig. „Wem gehört es noch?“ Thorfin Njals Stirnadern schwollen an. „Du fragst sehr viel“, sagte er mit verhaltener Wut. „Ich bin nicht gewohnt, ausgefragt zu werden!“ „So?“ Sie lächelte sanft. „Aber du solltest dich daran gewöhnen. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die von ihren Männern als
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Dienerin oder Bettgenossin betrachtet werden und sich seinem Willen unterzuordnen haben. Das hat Björn Grettir auch gedacht ...“ „Ich bring den Kerl um!“ knurrte Thorfin Njal wild, und jetzt entlud sich seine Wut. „Was bildet der sich ein, dieser Lump? Er hat nicht das Recht, ein Auge auf dich zu werfen! Dabei schielt er nur nach deinem Hof, dieser Galgenstrick! Ich werde ihn zum Teufel jagen, ihn und seine ganze verdammte Sippe, die dort draußen herumschleicht. Sie haben hier nichts zu suchen.“ Sie lächelte wieder. „Björn Grettir hat um mich geworben, wie das hier üblich ist. Auch Egil Torleiv hat das getan. Und Torkel der Schwarze ...“ „Mistkerl!“ stieß er hervor. „Und Thorfin Njal“, fügte sie hinzu, „der den Beinamen ,der Wikinger` führt, in Felle gekleidet ist und einen Kupferhelm trägt. Ein starker, wilder Mann, der mir gut gefällt, besser als alle anderen, das muß ich schon sagen. Nur ist er so dickschädelig wie ein Ochse, beantwortet keine Fragen und beschimpft seine Männer und Freunde.“ Sie summte vor sich hin und rührte in der Suppe. Draußen krachte ein Schuß. Die Bleikugel raste oben durch den Giebel und ploppte in die Grassoden, mit denen das Dach abgedeckt war. Ein Erdbrocken löste sich und fiel auf die Basaltplatten der Halle. „Sie fangen wieder an“, knurrte Thorfin Njal und ging zu einem Fenster, das nach Westen wies. „Aber sie werden sich die Zähne ausbeißen.“ „Ruf Winge und seine Männer herein“, sagte Gotlinde Thorgeyr gelassen. „Die Suppe ist fertig.“ Sie hakte den Kessel von der Kette und trug ihn mühelos zu dem Langtisch, der an der Südfront der Halle stand. Dort waren bereits hölzerne Kummen aufgereiht, daneben lagen Löffel. Thorfin Njal polterte durch eine Bohlentür, die zum Stall führte. Draußen auf dem Hof pfiff er leise. Gotlinde Thorgeyr füllte die Kummen. Dann schnitt sie Brotscheiben von einem Rundlaib. Winge erschien mit den Knechten. Winge
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war der Verwalter des Thorgeyr-Hofes, ein zäher alter Kerl mit einem Gesicht voller Runen. Er diente schon auf dem Hof, als Gotlinde und ihre Brüder noch in der Wiege lagen. Thorfin Njal blieb solange draußen bei der anderen Hälfte der Knechte, die um den Hof verteilt hinter Deckungen lagen oder hockten. Sie grinsten dem Riesen zu, dem es gelungen war, ihre Herrin im Sturm zu erobern. Irgendwie schienen sie froh zu sein, jetzt einen Mann an Gotlinde Thorgeyrs Seite zu wissen. Thorfin Njal wiederum wußte, daß ihn diese Männer respektierten und ihm vertrauten. Er konnte sich auf sie verlassen. Fast waren sie ihm bereits näher als die Männer seiner Crew, die sich geweigert hatten, ihm zur Seite zu stehen. Überallhin waren sie ihm bisher gefolgt, durch Himmel und Hölle, durch dick und dünn. Nur jetzt nicht. Grübelnd blieb Thorfin Njal an dem Steinwall stehen, der die Westseite des Hofes abschirmte. Hier wachte Snorre, der für die Schafherde des Hofes verantwortlich war, ein säbelbeiniger Gnom, fast so alt wie Winge und ebenso zäh. Snorre deutete mit dem Kopf zum Fjord. ,,Freunde von dir, Thorfin?“ Der Wikinger nickte. „Feine Schiffe“, sagte Snorre und fügte bedächtig hinzu: „Aber sie tun nichts.“ Thorfin preßte die Lippen zusammen. Dann reckte er sich und brüllte über den Steinwall: „Björn Grettir, hörst du mich?“ Als Antwort pfiffen ihm zwei Kugeln um die Ohren. Thorfin Njal dachte gar nicht daran, in Deckung zu gehen. Er brüllte: „Wenn du ein Mann bist, Björn Grettir, dann stell dich mir zum Zweikampf! Oder bist du ein Feigling?“ Jenseits des Hügels, auf dem der Hof lag, erklang hinter Basaltfelsen höhnisches Gelächter, dann wölkte Pulverdampf auf, und Kugeln zirpten heran! Eine prallte gegen den Steinwall, Splitter flogen nach allen Seiten, die Kugel jaulte schrill in den Himmel.
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„Ich würde den Kopf runternehmen“, sagte Snorre grinsend. „Könnte sonst sein, daß Gotlinde nichts mehr von dir hat.“ Fluchend ging Thorfin Njal in Deckung. Blut lief von seiner Stirn, wo ihn ein Steinsplitter geritzt hatte. „Ein Zweikampf wäre nicht schlecht“, meinte Snorre, „und es ehrt dich auch, daß du Björn Grettir herausgefordert hast. Aber ich hätte dir gleich sagen können, daß er auf einen Zweikampf pfeift - nicht, weil er feige ist. Aber er ist ein gerissener Hund, der sich sagt, daß er nichts mehr vom Leben hat, wenn ihm jemand den Kopf abschlägt. Und er möchte doch gern den Hof und Gotlinde haben - mit eigenem Kopf, versteht sich, nicht ohne.“ Thorfin Njal wischte sich das Blut von der Stirn und fluchte weiter. So ganz nebenbei sagte Snorre: „Übrigens, sie haben dein Boot durchsiebt, Thorfin. Es ist am Steg abgeblubbert.“ Der Wikinger fuhr herum und schaute zu dem kleinen Landesteg unterhalb des Hügels. Die Vorleine war noch zu sehen. Das war aber auch alles. Sie zeigte steif und fast senkrecht nach unten. Ein Wunder, daß sie noch nicht gebrochen war. Das Boot hing an ihr auf und nieder, Bug oben, Heck unten. Die beiden Riemen waren an Land getrieben. „Jetzt kannst du nicht mehr zu deinem Schiff“, sagte Snorre, „es sei denn, wir flicken deinen Kahn, oder Gotlinde gibt dir unsere Jolle. Aber die steht zur Zeit in der Scheune und würde wohl auch Wasser ziehen, wenn wir sie einsetzten, weil das Holz zu ausgetrocknet ist. War ja auch ein langer Winter, nicht?“ Thorfin Njal erwiderte nichts. Er kaute auf seiner Unterlippe herum, schnitt ein finsteres Gesicht und wußte nicht, wie's weitergehen sollte. Winge und Snorre hatten heute morgen einen Gegenangriff vorgeschlagen, aber das hatte er abgelehnt, weil er nicht wollte, daß einer von Gotlindes Leuten verletzt oder gar getötet würde. Auch Gotlinde war nicht dafür gewesen. Jetzt fiel ihm bei diesen Gedanken ein, daß diese gleiche Rücksichtnahme eigentlich
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auch für seine Männer und die Seewölfe zu gelten hatte -dennoch hatte er sie, ohne lange zu überlegen, aufgefordert, für den Hof zu kämpfen. Sie hatten ihn kalt abfahren lassen. Deine Zecken müssen nicht unbedingt meine Zecken sein! Das hatte ihm der Seewolf zugebrüllt. Thorfin Njal knirschte mit den Zähnen, und es klang, als raspele eine Feile über Eisen. „Ist was?“ fragte Snorre. „Nein“, knurrte Thorfin Njal. „Dann ist es ja gut“, sagte Snorre und fand, daß der Riese zur Zeit nicht sehr gesprächig war. Dafür hatte er bisher umso mehr geflucht. Um ihn aufzuheitern, sagte er: „Wann feiern wir denn Hochzeit?“ „Weiß ich nicht.“ Snorre zog die Augenbrauen hoch und sah noch gnomenhafter aus. „Und ich dachte, wir könnten bald mal ein Faß austrinken“, murmelte er. „und einen Hammel am Spieß braten.“ Thorfin Njal knurrte etwas Unverständliches. Snorre runzelte die Stirn. „Was Wiegst du?“ „Nichts“, brummelte Thorfin Njal. Snorre grinste. „Magst du einen Schnaps?“ „Hast du einen?“ „Klar.“ Snorre griff unter seine Schaffelljacke und zauberte eine Kruke hervor. Er entkorkte sie, schnüffelte an der Öffnung, und Thorfin Njal sah, wie die Nasenflügel des Gnoms bebten und wackelten. Der Gnom kippte einen, ächzte und schmatzte und reichte ihm die Kruke. „Ein Wacholderschnaps“, sagte Snorre, „wir nennen ihn ,Schwarzer Tod'!“ „Hm, feiner Name.“ Thorfin Njal trank und stieß ein Zischen aus. Er war allerlei gewohnt, aber dieses Zeug war so scharf wie sein Messerchen. Es zerriß ihm schier die Gurgel und den Magen, aber gleich darauf spürte er eine herrliche Hitze in seinem Inneren. Gleichzeitig blitzte ein Gedanke durch seinen Kopf und befreite ihn von der Trübseligkeit, die wie eine fette Kröte in ihm gebrütet hatte. Daß er daran nicht früher gedacht hatte!
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„Wir müssen die Kruke aussaufen“, sagte er grinsend. „Jetzt gleich?“ Snorre schielte zu ihm hoch. „Jetzt gleich.“ Thorfin Njal nickte. In fünf Minuten hatten sie die Kruke leer und rote Gesichter. Snorre wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Und nun?“ Thorfin Njal fletschte die Zähne und hatte glühende Augen. „Hol aus der Waffenkammer Lunte und ein kleines Pulverfaß“, sagte er. „Ich bin in der Schmiede. Beeil dich!“ Snorre nickte nur und eilte auf seinen Säbelbeinen davon. Thorfin Njal ging zur Schmiede, die Kruke in der Rechten. Verdammt, er brauchte noch mehr Kruken oder Flaschen, wenn er den Kerlen richtig einheizen wollte. Saxe war in der Schmiede, ein Kerl so groß und breit wie ein Faß. Er war der Schmied vom Thorgeyr-Hof und bewachte zur Zeit die Ostseite - von der Schmiede aus, die auch auf dieser Seite des Hofes lag. Er hockte auf einem Schemel am Ostfenster, die Muskete quer über den mächtigen Schenkeln. Als Thorfin Njal in die Schmiede stampfte, wandte er den Kopf, entdeckte die Kruke und grinste 'durch das rote Bartgestrüpp, das auf seinem Gesicht wucherte. „Das ist doch Snorres Kruke, eh?“ sagte er. „Ja, aber leer.“ Saxes Grinsen erlosch. Er wischte sich über den Mund und sagte: „Mächtig trocken heute. Das Wasser schmeckt auch nicht mehr so wie früher.“ „Brennt Snorre den Schnaps selber?“ fragte Thorfin Njal. „Schon seit Urzeiten“, sagte Saxe. „Aber das Rezept verrät er nicht. Außerdem ist er ein Geizkragen, was den Schnaps betrifft. Den rückt er nur zu Feiertagen raus, der Hundesohn.“ „Heute ist einer“, sagte Thorfin Njal grimmig. „Wo hat er den Schnaps?“ „Unter seiner Hütte, aber unter Verschluß.“ „Ich brauche die Kruken“, sagte Thorfin Njal.
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„Ah!“ Das rote Bartgestrüpp teilte sich wieder zu einem Grinsen. „Das ist eine Botschaft, die ich gern vernehme. Was ist denn heute für ein Feiertag?“ Thorfin Njal grinste zu der Kiste hinüber, die, wie er wußte, die Eisen- und Metallabfälle enthielt, die in der Schmiede abfielen. Krumme und rostige Nägel waren auch darunter, ferner Eisenspäne und Reste von Hufeisen für die kleinwüchsigen, aber zähen Islandpferde, von denen etwa zwanzig in dem Stall nebenan standen. Vor einer Woche hatte sich der ganze Hof halb totgelacht, als er das größte von ihnen bestiegen hatte. Er hätte stehend reiten müssen - was nicht gegangen wäre, weil er dann mit dem Pony hätte mitgehen müssen. Aber als er sich gesetzt hatte, da hatte er die Knie ans Kinn ziehen müssen. Thorfin Njal sagte: „Wir feiern den Tod des ‚Schwarzen Todes', den ich über die Grettir-Sippe ausgießen werde!“ Saxe riß die Augen auf, helle Augen von einem metallischen Grau. Er wollte protestieren, daß der „Schwarze Tod“ der Grettir-Sippe zuteil werden sollte, was er für eine reine Verschwendung hielt, aber da stieß der säbelbeinige Gnom die Tür zur Schmiede auf. In den Armen hielt er ein kleines Pulverfaß, um seinen Hals baumelte eine lange Lunte. So walzte er in die Schmiede, setzte das Pulverfaß ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der eigene „Schwarze Tod“ schien ihm sehr zuzusetzen. Sein Kopf glühte. „Snorre“, sagte Thorfin Njal, „hol noch drei Kruken vom ,Schwarzen Tod'!“ „Drei?“ Snorre keuchte. „Mann, die schaffen wir nie! Das geht nicht! Und wo soll das hinführen? Die Grettirs belagern unseren Hof ...“ „Eben“, sagte Thorfin Njal, zauberte eine Goldmünze aus seinem Brustfell und hielt es Snorre hin. „Ich bezahl auch, Snorre. Ein Thorfin Njal bleibt niemandem etwas schuldig.“ Snorre schielte auf die Goldmünze, schluckte etwas und sagte empört: „Nein! Kommt nicht in Frage. Ich schenk dir die drei Kruken, wenn du mir versprichst, Gotlinde unter die Haube zu bringen. Wir
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brauchen Nachwuchs auf diesem Hof, verdammt noch mal! Oder? Was sagst du?“ fuhr er Saxe an. „Klar brauchen wir Nachwuchs“, sagte Saxe. Sein Bartgestrüpp sah aus, als sei es quergepflügt worden. Es sträubte sich erschreckend in die Breite. Snorre entschwand wie ein Geist und tauchte Minuten später mit drei Kruken auf. Dabei hatte er ganz vergessen, daß ihm Thorfin Njal noch gar nichts versprochen hatte. Er war viel zu aufgeregt. „Einen sauberen Eimer brauche ich“, sagte Thorfin Njal. Saxe holte einen, einen Holzeimer. So ganz sauber war der nicht, aber Thorfin Njal übersah das. Er entkorkte die drei Kruken und entleerte den „Schwarzen Tod“ in den Holzeimer. Snorre schwitzte, wie noch nie in seinem langen Leben. Saxe strich sich immer wieder über die Lippen, die noch trockener geworden waren. Seine hellen Augen hatten jetzt die Farbe von Schiefer. Thorfin Njal trank aus dem Holzeimer, reichte ihn Saxe, der am Lechzen gewesen war und jetzt kräftig kübelte, dann zischte und anschließend wie eine Robbe grunzte. Darauf setzte Snorre den Eimer an und genoß seinen „Schwarzen Tod“, dessen Rezept so geheim war. Thorfin Njal war indessen damit beschäftigt, die Kruken nacheinander über der Torfglut der Schmiedeesse auszutrocknen. Dann nahm er Maß an den Kruken und schnippelte vier Stücke Lunten von der langen Lunte ab, jedes Stück etwa eine Handbreite länger als die Kruken. Die vier Lunten steckte er in die vier Kruken und baute sie der Reihe nach auf dem Boden neben dem Pulverfaß auf. Snorre und Saxe schauten ihm zu, hatten Stielaugen, und weil ihnen noch nicht dämmerte, was der Riese dort trieb, stärkten sie sich abwechselnd aus dem Holzeimer. „Jetzt brauche ich einen Trichter mit einer Tülle, die in die Krukenöffnung paßt“,
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sagte Thorfin Njal und sah sich suchend in der Schmiede um. „Hab ich“, sagte Saxe, ging zu einer Kiste, kramte in ihr herum und fischte einen Trichter heraus, einen mit einer schmalen, lang auslaufenden Tülle, die zwar etwas verbogen war, aber er richtete sie gerade. „Willst du da etwa den Schnaps wieder durchgießen?“ fragte er misstrauisch. „Nein, Pulver.“ „In die Kruken?“ „In die Kruken“, sagte Thorfin Njal grinsend. „Das werden nämlich Wurfbomben, zur Hälfte mit Pulver gefüllt, zur anderen Hälfte mit Nägeln, Eisenspänen und dem Zeug aus der Abfallkiste. Die Krukenöffnung, wo die Lunte rausschaut, verdämmen wir mit Pech. Kapiert?“ Jetzt endlich hatten sie begriffen, sie staunten nicht schlecht, diese n Kerle der Gotlinde Thorgeyr. Dann kicherten sie und boxten sich gegenseitig in die Rippen. Das war mal ein Spaß! Und vorher mußte man die Kruken aussaufen! Genial! War das ein Feiertag? Jawohl, das war einer! Einer, bei dem es blitzen und krachen würde, wenn der „Schwarze Tod“ der Grettir-Bande um die Ohren flog. Ein Teufelsbraten war dieser Riese! Der hatte Ideen, der wußte, wie man der Großmutter des Gehörnten in den Hintern zwickte und das Höllenfeuer zum Prasseln brachte. Juchhu und heißassa - es lebe der „Schwarze Tod“! Eine emsige Betriebsamkeit entwickelten sie, füllten Pulver durch den Trichter in die Kruken, schütteten Eisenzeug hinterher, gurgelten zwischendurch aus dem Eimer, verdämmten mit erwärmtem und damit weichem Pech die Krukenhälse, so daß die Lunten nicht herausrutschen konnten. Thorfin Njal nahm ein Stück Lunte von der gleichen Länge wie in den Kruken, entzündete sie und zählte vor sich hin, während die Lunte bis zu jenem Punkt abbrannte, wo die Pulverladung begann. Das hatte der Wikinger vorher genau abgemessen. Bei „fünfzehn“ würde die Pulverladung gezündet werden!
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Thorfin Njal nickte zufrieden und erklärte: „Man kann natürlich die Wirkung verstärken, indem man geballte Ladungen herstellt, das heißt, zwei oder drei Kruken zusammenbindet. Flaschen gehen natürlich auch, die durch das zerplatzende Glas eigentlich noch gefährlicher sind. So, dann wollen wir mal. Nehmt eine Öllampe mit, aber bereits entzündet, damit wir nicht erst Feuer schlagen müssen.“ Das geschah, aber bevor sie die Schmiede verließen, ging noch einmal der Holzeimer reihum. Saxe hatte jetzt auch ein rotes Gesicht, was aber unter seinem ebenfalls roten Gestrüpp nicht so auffiel. Da schneite jedoch Winge in die Schmiede, um zu sagen, daß er jetzt wieder mit seinen Leuten die Wache übernähme und sie jetzt essen könnten, aber er klappte den Mund wieder zu und schnupperte. Außerdem sah er die vier Kruken. Na, die kannte er. „Ich auch“, sagte er. Snorre reichte ihm den Holzeimer. Außerdem hatte er Schluckauf und schielte ein bißchen. „Ihr sauft also schon aus Eimern“, sagte Winge entrüstet, was ihn aber nicht hinderte, solches auch zu tun, und zwar ziemlich ausgiebig. Auch er ächzte und schmatzte, und dann fragte er, ob heute ein besonderer Feiertag wäre, weil Snorre seinen Schnaps rausgerückt hätte. Snorre und Saxe grinsten wie kleine Teufelchen und taten sehr geheimnisvoll, und Saxe deutete an, gleich werde Thorfin Njal das Tor zur Hölle ein bißchen aufstoßen, was Snorre mit einem Rülpser bekräftigte. „Aha“, sagte Winge und war genauso schlau wie zuvor. Dafür süffelte er noch einen, um den richtigen Ausgleich herzustellen. Thorfin Njal mußte auch noch mal einen süffeln, ebenso Snorre und Saxe. Sie ächzten und schmatzten zu viert. Gotlinde erschien in der Schmiede, verwundert darüber, daß die abgelösten Posten noch nicht in der Halle aufgetaucht waren, um ihr Süppchen zu löffeln. Sonst hatten's die Kerle damit immer ziemlich
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eilig. Und die neuen Kummen waren bereits gefüllt. Mit einem Blick übersah sie, was hier im Gange war - noch dazu mittels eines Holzeimers. Der „Schwarze Tod“ hatte auch einen sehr eigenen Duft und war von daher gar nicht zu verkennen, auch wenn das Zeug in dem Holzeimer wie klares Wasser aussah. Da war also nichts mehr zu vertuschen. Thorfin Njal empfing einen vernichtenden Blick aus den grünlichen Augen, einen Blick, der so scharf und klar wie der „Schwarze Tod“ selber war. „Habt ihr nichts anderes zu tun, als zu saufen?“ fragte sie eisig, und ihr Blick flammte über die vier Männer weg. Winge, Snorre und Saxe senkten die Köpfe, deren Ohren jetzt die Farbe von überreif en Tomaten hatten. Thorfin Njal indessen holte tief Luft und lachte dröhnend. Er lachte so laut, daß ein paar Hufeisen zu klingeln anfingen, die fertig zum Beschlag über einer Halterung hingen. Gotlinde stand da wie eine Rachegöttin. Ein Rot der Empörung hatte ihr ebenmäßiges Gesicht überzogen. Aber Thorfin Njal empfand das alles nichts weiter als komisch. Noch während er nach seinem dröhnenden Lachen nach Luft schnappte, stieß er hervor: „Die Frage war falsch, Gotlinde! Sie mußte lauten, warum wir die Kruken geleert haben. Denn ich brauche die leeren Kruken, um sie mit etwas anderem zu füllen. Und was ich mit den Kruken tun werde, das zeige ich dir jetzt!“ Er stopfte sich drei Kruken unter den Waffengurt, nahm die vierte in die Rechte, nickte Saxe und Snorre zu, ihm mit der Öllampe zu folgen, und stampfte nach draußen, vorbei an Gotlinde, deren Miene anzusehen war, daß sie den Wikinger für völlig übergeschnappt hielt. Sie schaute Winge fragend an, aber der schüttelte verständnislos den Kopf. Und Saxe und Snorre waren schon wieder am Grinsen, als sie dem Riesen mit der brennenden Öllampe folgten. An der westlichen Steinmauer brüllte Thorfin Njal: „Björn Grettir, du räudige
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Schafsnase, bist du noch da?“ Und er duckte lauernd. und lauschend den Kopf. Etwa siebzig Yards von der Steinmauer entfernt, im Geröllfeld einer Steinlawine, erklang hinter zwei mannshohen Basaltblöcken eine etwas schrille, keifende Stimme. Sie schrie: „Natürlich bin ich noch da, du stinkende Fellwanze! Und ich werde auch noch da sein, wenn du in deinen stinkenden Fellen längst ¬vermoderst. Aber da werde ich im Bett des ThorgeyrWeibes liegen und was anderes zu tun haben!“ Wildes Gelächter folgte dieser Erwiderung - von all den Stellen, wo die Grettir-Leute in Deckung lagen. Gotlinde Thorgeyr lehnte an einer Ecke der Schmiede. Ein zweites Mal war ihr Gesicht rot geworden, flammend rot. Sie zitterte vor Wut, und Winge hatte Mühe, sie zurückzuhalten. Er lenkte sie ab und zischte: „Schau, was er da tut!“ Ja, was tat er? Fast sah es so aus, als habe er Deckung gesucht vor den Kugeln, die wieder über den Hof pfiffen und zirpten. Aber das täuschte. Er hatte die drei Kruken unten an die Mauer gestellt und hielt jetzt die vierte Kruke an die Öllampe, die Saxe in der Hand hatte. An der Kruke sprühte etwas auf. Thorfin Njal schien zu zählen, wog die Kruke in der Hand, bog sich zurück, seine Rechte mit der Kruke schwang nach hinten, sein ganzer riesiger Leib war wie eine Sehne gespannt, schnellte vor, sein rechter Arm peitschte nach vorn bis in Kopfhöhe und entließ das Wurfgeschoß. In einem mächtigen Bogen torkelte the Kruke durch die Luft, Funken sprühten nach allen Seiten, die Kruke senkte sich genau über den beiden Basaltbrocken, fiel und platzte plötzlich in einer grellen Explosion auseinander, noch bevor sie hinter den Blöcken verschwand. Bruchteile von Sekunden später gellten hinter den beiden Blöcken Schreie auf. Eine Gestalt taumelte hervor, brüllend, die
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Hände über den Kopf geschlagen, zusammenbrechend , eine andere Gestalt stob davon wie ein Kaninchen, schlug Haken und verschwand zwischen anderen Felsen. Eine dritte Gestalt zeigte - - kurz hinter den beiden Blöcken sackte wieder zurück. Und Thorfin Njal warf die zweite Kruke nicht zu den beiden Basaltblöcken, sondern weiter nach links, wo sie grölend gelacht hatten, als Björn Grettir seine Zote über die Herrin des Thorgeyr-Hofes hinausgeschrien hatte. Das war die Antwort auf das wiehernde Gelächter. Ein greller Blitz wie zuvor, rollender Donner zwischen den Felsen -und Schreie, die verkündeten, daß Eisensplitter ihr Ziel gefunden hatten. Und schon zerkrachte über dem dritten Nest der Belagerer die nächste Bombenkruke, weiter südlich, wo Wacholdergestrüpp wucherte, hinter dem sich die Grettir-Leute eingegraben hatten in der irrigen Meinung, dort nie von Musketenkugeln getroffen zu werden. Aber das war kein direkter Beschuß, vor dem man nur den Kopf wegzunehmen brauchte. Nein, die Hölle raste von oben nieder, zerplatzte noch in der Luft und verstreute ihr glühendes Verderben über die dort liegenden Leiber. Drei von vier Kerlen zuckten hoch, zwar auch getroffen, aber noch in der Lage, in wilder Flucht davonzustürmen. Der vierte Kerl rührte sich nicht mehr. Die vierte Kruke war nicht mehr nötig. Die Kerle im Osten des Thorgeyr-Hofes stoben in wilder Panik zwischen die Hügel. Thorfin Njal drehte sich grinsend zu der Herrin des Hofes um, die vierte Kruke noch in der Pranke. Gotlinde Thorgeyr löste sich von der Ecke der Schmiede, von wo aus sie alles verfolgt hatte, ging zum Haupthaus und sagte über die Schulter: „Die Suppe wird kalt, Thorfin Njal!“ 4.
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„Belagerer treten die Flucht an!“ verkündete Luke Morgan aus dem Großmars. Die Meldung war überflüssig, gehörte aber zum Bord-Ritual. Denn sie hatten alle zugeschaut, was sich da drüben im und um den Thorgeyr-Hof abspielte. Der erste Wurf des Wikingers über eine Distanz von siebzig Yards war schon sehenswert gewesen. „Na also“, hatte Ferris Tucker gebrummt, „wenigstens das kann er noch, der alte Höllenhund!“ „Und das ohne Helm“, hatte Big Old Shane grinsend gesagt. Und verblüfft hatte Ferris Tucker erwidert: „Richtig, das ist es! Irgendwas war mir doch an ihm aufgefallen, was nicht stimmte. Mann! Thorfin Njal ohne Helm! Gibt's denn das?“ „Es geschehen noch Zeichen und Wunder“, hatte Old O'Flynn daraufhin verkündet und seine Miene eines Sehers aufgesetzt, der weit hinter die Horizonte schauen kann. „Zeichen und Wunder, eh?“ hatte Big Old Shane gesagt. „Da scheint mir eher eine Lady namens Gotlinde dahinterzustecken. Möchtest du als Frau einen Mann haben, der Tag und Nacht mit einem Topf auf der Rübe herumläuft?“ „Weiß ich nicht“, hatte Old O'Flynn gebrummt, „bin ja nicht Gotlinde.“ „Da hast du allerdings recht“, hatte Big Old Shane gesagt, „sonst wäre Thorfin Njal vielleicht ja auf dich reingefallen, und wir hätten gar nicht erst nach Island zu segeln brauchen!“ Das war mal wieder ein feiner Dialog - und so logisch. Trotz der ganzen verdwarsten Situation konnten die Arwenacks immer noch grinsen, aber sie spitzten auch die Lippen, und der Kieker ging reihum, weil jeder einen Blick auf Gotlinde Thorgeyr werfen wollte, die an der Schmiede zu sehen war, von wo aus sie verfolgte, wie der Riese in prächtiger Aktion war. Und so mancher hatte durch die Zähne gepfiffen. Ho-ho ! Und schau einer an! Und da laust mich doch ein kleines Äffchen!
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Am längsten hatte Smoky durch den Kieker gestiert, bis ihm Carberry die Pranke vors Okular gehalten hatte. Aber da hatte er weiter gestiert und gesagt: „Oh, jetzt ist Nacht!“ „Du Affenarsch!“ Carberry entriß ihm den Kieker. „Wenn du Weiber siehst, muß bei dir auch gleich Nacht sein, was, wie?“ Smoky war noch ganz hingerissen. „Also, da würd' ich doch glatt auch in Island bleiben“, sagte er entzückt. „Untersteh dich“, sagte Carberry und peilte durch den Kieker. Und dann sagte er gar nichts mehr, sondern war nur noch am Peilen. „Na?“ fragte Smoky neugierig. „Ist das was?“ Carberry blieb stumm und still. Nur der Kieker bewegte sich, mal ein bißchen tiefer, mal wieder ein bißchen höher. Carberry schien anatomische Studien zu betreiben. Er stellte sich sogar auf die Zehenspitzen, als gewähre ihm der erhöhte Blickwinkel bessere Einsichten. „He-he!“ Smoky stieß den Profos an. „Laß das!“ knurrte der Profos. „Ich will nicht gestört werden!“ „Aber mir den Kieker wegnehmen, wie?“ fauchte Smoky. „Maul halten!“ „Das ist doch die Höhe!“ Smoky hämmerte wütend die rechte Faust in die linke Handfläche und blickte sich empört um. „Habt ihr das mitgekriegt, Leute? Und schaut mal, wie der am Glotzen ist! Der kriecht ja durch den Kieker! Der ...“ „Still mal“, sagte der Profos. „Oh, schade, jetzt geht sie wieder rein, nein, sie schreitet ...“ Und er schritt mit, nach links, immer den Kieker vorm Auge. Offenbar wollte er Gotlinde wenigstens symbolisch begleiten. Und so stieg er Blacky auf die Füße. Und der brüllte ihn an, er möge, verdammt noch mal, seine „Themse-Kähne“ gefälligst woanders hinsetzen, was wiederum Carberry in Harnisch brachte, weil Blacky seine, des Profos, Stiefel als „Themse-Kähne“ bezeichnet hatte. Da war Gotlinde auch bereits im Haus verschwunden.
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„Und was hast du?“ brüllte Carberry zurück. „Käse-Quanten, jawohl! Und ich stell meine Stiefel hin, wo es mir passt, verstanden, du abgetakelte Filzlaus?“ Blacky hüpfte auf einem Beim herum und schrie: „Sperr doch deine Klüsen auf und paß auf, wo du hinlatscht mit deinen elenden Särgen! Aber Weiber begaffen und anderen die Füße zu Mus quetschen, das kannst du….“ „Ich kann noch mehr!“ blaffte der Profos wütend. „Und ich habe nicht Weiber begafft, sondern die Frau des Wikingers in Augenschein genommen, nachdem Smoky sie eine halbe Stunde lang angestiert hat. Und was der kann, kann ich schon lange und noch besser!“ Smoky brasste auf und schrie: „Ich habe nicht gestiert – ich doch nicht! Ich heiß ja nicht Carberry und steig anderen Leuten auf den Füßen rum, weil ich vor lauter Stieren nicht mehr sehe, wo’s längstgeht!“ Mac Pellew stelzte mit grämlicher Miene durch die wildgewordene Dreiergruppe, die ihm den Weg zum Schanzkleid verbaut, wo er einen Abfallkübel entleeren wollte. „Was schreit ihr denn so?“ sagte er. „Da kann man ja richtig verstört werden, kann man. Immer diese Brüllerei. Das ist bald nicht mehr zu Aushalten…. Was knetest du dauernd an deinen Füßen rum, Blacky?“ „Luv an, Mister Pellew!“ knurrte Carberry. „Laß dich nicht aufhalten!“ Mac Pellew würdigte ihn keines Blickes, sondern starrte Blacky an. Und der sagte: „Dieser Ackergaul von Profos ist mir auf die Zehen gestiegen.“ Er stieß zischend die Luft aus. „Mann, das schmerzt bis hier oben!“ Er tippte an seinen Kopf. „Stell dich bloß nicht so an, Mister Blacky“, knurrte Carberry. Blackys Augen wurden tückisch. „Dir schmeiß ich mal bei Gelegenheit den Buganker auf deine Torfkähne, Profos. Und wenn du dann am Jubeln bist, werde ich dir auch sagen, du sollst dich nicht so anstellen.“ „Es ist üblich“, sagte Mac Pellew belehrend, „daß man aufpaßt, wo man
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hintritt. Dafür hat man seine Augen. Aber dein linkes hat ja in letzter Zeit ziemlich gelitten, Mister Carberry. Man sieht's immer noch. Wahrscheinlich ist dadurch auch dein rechtes Auge überanstrengt, so daß man von einer temporären Sehbehinderung sprechen muß ...“ „So ein Quatsch!“ fauchte Smoky. „Er ist Blacky auf die Zehen gestiegen, als er das linke Auge zugekniffen hatte und mit dem rechten Auge durch den Kieker die Gotlinde beglotzte, verdammt noch mal. Am liebsten wäre er gleich durch den Kieker zu ihr hingekrochen, dieser - dieser Lustmolch!“ „Aha!“ sagte Mac Pellew. „Das ist natürlich etwas anderes. Aber das kenn ich bei ihm. Wenn der schon mit dem Kieker nach den Weibern peilt, mußt du aus dem Kinken treten, weil er dann unberechenbar wird - temporär unberechenbar, wie wir in der Medizin sagen ...“ Er brach ab, weil er sah, daß Hasard das Achterdeck verließ und zur Kuhl abenterte. „Ed!“ rief Hasard. „Zwei Mann in die kleine Jolle! Ich möchte dem Wikinger einen Besuch abstatte!“ „Aye, Sir!“ Carberry reckte den mächtigen Brustkasten. „Dafür bin ich der richtige Mann, wenn's recht ist. Und vielleicht sollten wir - äh -Smoky mitnehmen, der hat sich vorhin genau den Anleger unterhalb des Hofes durch den Kieker angesehen.“ Carberry räusperte sich. „So?“ Hasard betrachtete die beiden, die so eifrig taten. „Und ich dachte schon, ihr hättet beide mit dem Kieker woanders hingepeilt.“ „Ich hab die Gegend ausgekundschaftet“, sagte Carberry hastig und ohne rot zu werden. „Können Smoky und ich abentern, Sir?“ „Ich bitte darum.“ Die beiden hatten es sehr eilig, dem spöttischen Blick Hasards zu entgehen, der genau mitgekriegt hatte, daß die beiden Kampfhähne mal wieder aneinandergeraten waren -und auch, weswegen! Aber jetzt mimten sie Brüderschaft nach dem Motto: üb immer
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Treu und Redlichkeit. Ein Herz und eine Seele waren sie, diese Halunken. Hasard sah sich um und ging noch einmal zu Ase Thorgeyr, der neben Stenmark stand und sehnsüchtig zum Hof schaute. „Ich taste mal vor, Sten“, sagte Hasard. „Ase soll sich noch gedulden und wissen, daß er unser Trumpf ist. Erklär ihm das. Und dann soll er sich nicht zu offen zeigen. Ich will nicht, daß er vorzeitig erkannt wird. Das könnte sonst alles vermasseln.“ Stenmark nickte. „Alles klar, Sir. Ich sag's ihm und paß schon auf ihn auf.“ „Danke, Sten.“ Hasard enterte in die kleine Jolle ab. „Dann mal los, ihr beiden Stegund Gegend-Auskundschafter. Hoffentlich kriegt Gotlinde keinen Schreck, wenn sie dich sieht, Ed.“ „Mich? Wieso, Sir?“ „Dein linkes Auge sieht noch ziemlich wüst aus.“ „Ach so - äh -, vielleicht könntest du ihr sagen, daß ich das im Kampf erlitten habe, Sir.“ „Das könnte ich natürlich. Und was sag ich wegen deines Bürstenhaarschnitts?“ „Sieht der auch so schlimm aus?“ fragte Carberry entsetzt. „Na ja, ein bißchen ungewöhnlich. Ich werde sagen, du hättest eine schwere Kopfverletzung gehabt, und um die zu behandeln, hätten deine Haare abgeschoren werden müssen.“ Carberry strahlte. „Das ist sehr gut, Sir. Dann weiß sie gleich, daß ich ein - äh - ein ...“ Er verhaspelte sich. „Daß du ein tapferer Krieger bist, wie?“ „Genau, Sir. Das ist das richtige Wort, Sir, vielen Dank, Sir. Aber vergiß nicht zu sagen, daß auch Smoky ein tapferer Krieger ist, Sir. Nicht, Smoky?“ Sie rissen beide die Riemen durch, als gelte es, die Jolle zum Fliegen zu bringen. „Daß du dabei auch an mich denkst, Mister Carberry“. sagte Smoky, während sie beide im Takt auf und ab schwangen, „werde ich dir nie vergessen.“ „Sachte, Leute“, sagte Hasard, „wir wollen doch nicht den Steg untermangeln.“
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„Wir müssen Gotlinde aber zeigen, was wir für gute Puller sind“, sagte Carberry. „Nicht, Smoky?“ „Du sagst es.“ Hasard seufzte verhalten. Die beiden waren total aus dem Häuschen. Da hatten sie eine Gotlinde Thorgeyr durch das Spektiv betrachtet und führten sich auf, als gelte es, auf eigene Brautschau zu gehen. Und auf dem Hof würden sie wie Gockel herumspazieren und so tun, als sei es ein Klacks, die Sterne vom Himmel zu pflücken. Es war Carberry, dem es gelang, einen Riemen zu zerbrechen. Das passierte, als sie beide die Riemen zum nächsten Schlag aus dem Wasser rissen. Da war bei Carberry plötzlich das Blatt gebrochen. Er segelte samt dem Riemenschaft rücklings über die dritte Ducht hinter ihm - sie saßen beide auf der zweiten Ducht der vierduchtigen Jolle - und knallte mit dem Hinterkopf auf die vierte Ducht. Dort wurden seine Augen glasig, das heißt, er strich die Flagge. Da er an Backbord gesessen hatte und Smoky an Steuerbord bereits wieder den Riemen durchs Wasser peitschte - so schnell konnte er nun auch nicht reagieren -, kurvte die Jolle wild nach Backbord, und Hasard mußte mit der Pinne Gegenruder geben. Die Jolle beschrieb eine Schlangenlinie, achteraus schwamm das Ruderblatt auf. das Carberry mal so eben abgebrochen hatte. „Auf Riemen!“ brüllte Hasard Smoky an und steuerte die auslaufende Jolle an den Steg, auf dessen anderer Seite ein Boot an der Vorleine senkrecht im Wasser hing. Den Seewölfen an Bord der „Isabella“ standen die Haare zu Berge. Da hatte ihr Profos doch glatt einen Riemen abgebrochen beim Rucksen - ein Ereignis, das üblicherweise gefeiert wurde, wenn das jemand schaffte: Und Carberry hatte es geschafft, Carberry, dieses muskelbepackte Ungetüm, dieser Brecher in allen Lebenslagen. Nur lag er jetzt über den Duchten und rührte sich nicht mehr.
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„Die düsteren Zeichen mehren sich, Männer der ‚Isabella'!“ klagte Old O'Flynn. „Halt's Maul!“ knurrte ihn Ben Brighton an und schrie nach dem Kutscher. Aber da hatte Smoky die Jolle bereits am Steg vertäut und wuchtete gemeinsam mit Hasard den Profos aus dem Boot. Sie schleppten ihn an Land, legten ihn dort nieder, und Smoky holte hastig ein Ölfaß aus der Jolle, während Hasard den Kopf des Profos untersuchte. Was der Kutscher auch getan hätte, tat Hasard: Der Profos wurde mit klarem Fjordwasser, dem das Salz nicht fehlte, gewissermaßen getauft. Und da bewegte der Profos den Kopf wieder. Vom Hof eilten Männer herbei - allen voran Gotlinde und der Wikinger. Und der Wikinger hing sich den mächtigen Profos einfach über die Schulter und zog mit ihm ab. Und Gotlinde hielt dem Profos den Kopf, it der nicht so schlackerte, während sie seitlich neben dem Wikinger herschritt. Die Männer an Bord der „Isabella“ ächzten und waren von Neid erfüllt. Und Ferris Tucker sagte erbost: „Dieser verdammte Profos! Das hat der extra so hingefummelt, damit ihm Gotlinde jetzt das Köpfchen hält und womöglich an ihren Busen drückt!“ Ben Brighton, in Abwesenheit Hasards¬ stellvertretender Kapitän der „Isabella“, fuhr herum und sagte scharf: „Mister Tucker, das möchte ich überhört haben! Reißt euch gefälligst zusammen, oder, bei Gott, ich stopf euch die Schandschnauzen!“ Wenn der sonst so ruhige Ben Brighton derart in Rage geriet, dann wollte das was heißen. „Ich hab's nicht so gemeint“, murmelte Ferris Tucker. Als Antwort spuckte Ben Brighton nur wütend über Bord, was er sonst nie tat. Der Kutscher rief von der Kuhl herauf: „Was ist, Mister Brighton, Sir? Soll ich rüberpullen und nach Ed sehen?“ „Wohl nicht mehr nötig, Kutscher. Danke!“ rief Ben Brighton zurück. Dann erinnerte er sich an die Anordnungen
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Hasards, die er ihm gegeben hatte, bevor er zur Kuhl abgeentert war, und rief zum Mars hoch: „Luke, Marswache beendet! Kutscher - in einer Stunde Backen und Banken! Matt, Gary, Jan und Piet - ihr übernehmt die erste Ankerwache! Paßt auf, was sich an Land tut, ich möchte über alles gewahrschaut werden. Die übrigen Männer klaren das Schiff auf, danach Hafenroutine!“ „Aye, aye, Sir!“ klang es zurück. Von der „Wappen von Kolberg“ wurde Arne von Manteuffel zur „Isabella“ gepullt. Er wollte mit Ben Brighton ein Schwätzchen halten und sich informieren. * Da schien nun der Profos Edwin Carberry zum Helden des Tages zu werden zumindest, was die Zuwendung und Aufmerksamkeit der Hausherrin ihm gegenüber betraf. Denn sie beorderte, bevor Thorfin Njal überhaupt Gelegenheit hatte, die drei Männer vorzustellen, Saxe in die Schmiede, damit er den gewissen Holzeimer holte. Und Thorfin Njal empfing den Befehl, den verletzten Mann auf ein Bärenfell vor dem Kamin zu betten und ein anderes Fell, sauber zusammengelegt - bitte vorsichtig! - unter dessen Kopf zu schieben. Und Gunnhild, die den Mägden vorstand, wurde angepfiffen, nicht so dämlich zu glotzen, sondern saubere Leinentücher, die Wundsalbe und eine Schüssel Quellwasser zu holen. Diese Gotlinde Thorgeyr wußte sehr genau, was sie wollte. Hasard beobachtete das alles und schaute sich um. Smoky hatte glühende Ohren und stand da, als habe er Eiswasser in den Stiefeln. Hasard lächelte vor sich hin, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an einen mächtigen Holzpfeiler, dessen oberer Teil mit geschnitzten Drachenköpfen versehen war. Das war schon sehr behaglich hier, behaglich und von jener Gediegenheit, die verriet, daß die Not auf diesem Hof ein
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unbekannter Fremder war, seit Jahrzehnten und wohl seit Jahrhunderten. An den Balkenwänden hingen alte Waffen, Speere waren darunter, und Langschwerter von der Sorte, wie sie der Wikinger mit sich führte. Auch Langbogen entdeckte Hasard, mächtige Dinger, die Batuti und Big Old Shane fasziniert hätten. Auf Borden standen kupferne Kannen in allen Größen, Humpen und Zinnteller. Ringsum an den Wänden waren schmiedeeiserne Halterungen für Fackeln und wuchtige Kienspäne, mit denen die Kaminhalle bei Dunkelheit erleuchtet wurde. Den Boden bedeckten da und dort Felle, Seehund- und Fuchsfelle waren darunter. Der Boden bestand aus Basaltplatten, die in unregelmäßigen Mustern zusammengefügt waren. An der Südfront der Halle stand ein Langtisch mit klotzigen Scherenbeinen. An seinen Schmalseiten waren zwei geschnitzte Lehnstühle, an den beiden Längsseiten standen Bänke mit wuchtigen Keilen an den Stützwangen und einer mindestens dreifingerdicken, durchgehenden Sitzplatte. Inzwischen hatte Thorfin Njal den Profos auf dem Fell gebettet und ihm ein anderes Fell unter den Kopf geschoben. Gotlinde kniete neben ihm und untersuchte mit flinken Fingern Carberrys Hinterkopf. Da war eine Platzwunde, ganz abgesehen von der Schwellung, die sich bildete. Carberry grunzte ein bißchen, blinkerte mit den Augen. stierte zu Gotlinde hoch, schloß die Augen wieder, riß sie erneut auf - und fuhr hoch. Thorfin Njal drückte ihn wieder nach unten, grinste breit und sagte mit seiner Baßstimme: „Bleib schön liegen, du altes Rübenschwein. Prächtig siehst du aus. Daß du dir deinen Schädel gestoßen hast, haben wir gesehen. Aber links dein Auge -wer hat dir denn da was draufgedonnert?“ „Das - das war - äh ...“ Carberry verschluckte sich. Hasard löste sich von dem Holzpfeiler und sagte schnell: „Bei einem Kampf hat's ihn erwischt.“ „Jawohl - bei einem Kampf“, sagte Carberry und linste voller Verwirrung zu
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Gotlinde hoch. „Ich - ich bin ganz in Ordnung, Madam. Carberry ist mein Name, Edwin Carberry, Profos der ‚Isabella'. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“ Er reichte ihr seine rechte Pranke, schüttelte ihre Hand und ließ sie nicht mehr los. Thorfin Njal übersetzte hastig. „Hab schon viel von Ihnen gehört ...“ schwadronierte Carberry weiter und wurde von Hasard unterbrochen. Ziemlich scharf sagte er: „Ed, du redest zuviel!“ „... schuldigung, Sir“, murmelte Carberry betreten. Er hatte gemerkt, daß er sich vergaloppiert hatte. „Ich -ich meine, daß der Wikinger schon immer von einer Frau wie Ihnen geschwärmt hat.“ Und er schüttelte ihr weiter die Hand. Mit der linken Hand deutete er zu Hasard. „Das ist mein Kapitän, Madam. Sir Philip. Hasard Killigrew.“ Seine Linke schwenkte zu Smoky. „Und das ist Smoky, Madam, auch so ein - äh -Kämpfer wie ich – äh – unser Decksältester.“ Smoky zelebrierte einen Kratzfuß und fegte dabei ein Fell zur Seite, das über die Basaltplatten schlitterte und Gunnhild, die mit Leinentüchern über dem Arm und einem Tablett auf beiden Händen gerade die Halle betrat, zwischen die Beine fuhr. Gunnhild quiekte höchst erschrocken, stolperte voraus und wurde von Smoky abgefangen, der sie schlicht umarmte und sich dafür das Quellwasser in die Hose gießen ließ. Erst dann krachte die Schüssel auf die Basaltplatten und zerbarst. Neben den Splittern landete auch die Dose mit der Wundsalbe, der ein gleiches Schicksal beschieden war. Die Salbe hatte eine graugrüne Färbung und sah aus wie das, was Kühe zu verdauen pflegen. Smoky und Gunnhild gingen sogleich in die Knie, stießen mit den Köpfen zusammen und fummelten gemeinsam in den Scherben und der Salbe herum. „Ver-verzeihung!“ stotterte Smoky mit hochrotem Kopf und völlig durchgedreht. Gunnhild hauchte auch etwas, was Smoky zwar nicht verstand, aber doch dahin deutete, daß ihm verziehen wurde, was ihn
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noch mehr in Verwirrung setzte, weil Gunnhild durchaus mit Gotlinde konkurrieren konnte. Jedenfalls fand das Smoky, als er sie umarmt hatte, war das auch zu spüren gewesen. Was? Na, daß er keinen Besenstiel umarmt hatte. Aye, aye, Sir, richtig knackig war das... Durch die Halle dröhnte das Gelächter des Wikingers. Hasard konnte nur seufzen. Carberry lachte auch - und wenn der lachte, mußte man damit rechnen, daß eine Wand umkippte oder die Decke einstürzte. Zum Glück war die Halle von solider und fester Bauart. Gotlinde war im ersten Moment sehr erzürnt gewesen, aber dann lächelte¬ sie ebenfalls. Smoky verschmierte inzwischen die graugrüne Salbe über die Basaltplatten, und Gunnhild bohnerte mit den sauberen Leinentüchern drüber weg. Daß sie dabei in enger Tuchfühlung herumrutschten, war wohl keine Absicht. Aber sie schauten sich dabei immer wieder an, doch das durfte man nicht so eng auslegen. Vielleicht wollten sie sich vergewissern, ob der andere noch da sei. Die Platten erhielten von der graugrünen Salbe einen satten Glanz. Smoky sammelte die Scherben aufs Tablett und genoß Gunnhilds unmittelbare Nähe. Gunnhild erschien es nicht anders zu ergehen. Gotlinde beendete das traute Beisammensein, da sie fand, daß nunmehr genug geputzt, gewischt, gebohnert und eingesammelt sei. Schließlich war der Patient ja noch gar nicht versorgt worden. Gunnhild wurde also erneut losgeschickt, um die erforderlichen Utensilien zu holen. Smoky wollte ihr auf dem Fuße folgen, aber da wurde er von Hasard zurückgepfiffen, dem keineswegs entgangen war, daß da zwei Turteltauben auf den Platten herumgekrochen waren. Das fehlte noch, sich hier neue Komplikationen einzuhandeln! Inzwischen war Saxe auch mit dem Holzeimer erschienen, und Carberry durfte einen Kräftigungsschluck zu sich nehmen, den er -ähnlich wie die anderen vorher zischend, gurgelnd und ächzend hinter sich
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brachte, wobei Thorfin Njal erklärte, daß dieses Gesöff „Schwarzer Tod“ genannt werde und ein Geheimrezept von Saxe, dem Schmied, sei. Gunnhild kehrte schneller zurück als beim ersten Mal, was schon wieder bezeichnend war, und ihren ersten Blick schenkte sie auch Smoky, wie Hasard grimmig feststellte. Es war ein sehr schmelzender Blick, der den bulligen Decksältesten traf. Und Gunnhild schien auch keineswegs zu stören, daß Smoky mit seiner nassen Hose alles andere als flott wirkte, ganz abgesehen davon, daß er sich die graugrüne Salbe zum Teil auch ins Gesicht geschmiert hatte. Dazu grinste er dämlich, und Hasard fand ganz im Gegensatz zu Gunnhild, daß sein Decksältester eher als Clown, denn als begehrenswerter Liebhaber anzusprechen war. Immerhin war er jetzt Kavalier genug, Gunnhild das Tablett abzunehmen. Vorsichtig balancierte er es zu Gotlinde und stellte es auf einen Hocker an ihrer Seite. Jetzt war Carberry derjenige, der verzückt grinste. Den Kutscher oder Mac Pellew hätte er in seiner rauhbautzigen Art angefahren, gefälligst die Finger von ihm zu lassen. Üblicherweise hätte er die Verletzung auch mit einer Handbewegung abgetan. Dem war in diesem Falle nicht so. Von behutsamer Frauenhand verarztet zu werden, das genoß der alte Halunke, zumal er sich aus dem Holzeimer stärken durfte. Er quasselte auch eine Menge dummes Zeug, was der Wikinger aber nicht alles übersetzte. Es waren Komplimente für „Madam“, und Thorfin Njal fand wohl, daß Carberry ein bißchen zuviel Süßholz raspelte. Vielleicht argwöhnte er in dem Profos auch einen Nebenbuhler, denn seine Miene wurde immer finsterer. Zum Glück arbeitete Gotlinde schnell und geschickt. Zum Schluß erhielt Carberry einen Kopfverband und sah damit mal wieder prächtig aus. Zu Smokys Leidwesen verschwand Gunnhild, da sie nicht mehr gebraucht wurde. Auch Saxe zog sich zurück. Ihren drei Gästen kredenzte Gotlinde ein dunkles Bier.
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Und dann kam der Wikinger zur Sache. 5. Sie saßen an dem Langtisch, und Thorfin Njal sagte finster: „Hier wird wohl verschiedenes zu klären sein - zum Beispiel die Frage, warum mein alter Freund, der Seewolf, mir die Hilfe verweigerte, um die ich ihn bat?“ „Wie war das?“ sagte Hasard ruhig. „Ich wurde von dir aufgefordert, die ,Zecken wegzupusten', die offenbar diesen Hof hier ‚vereinnahmen' wollten, wie du dich ausdrücktest. Ist es dein Hof?“ „Nein, noch nicht.“ „Was heißt das?“ „Wenn ich Gotlinde heirate, wird er mir mit gehören. Ist doch klar.“ „Für mich nicht“, sagte Hasard. „Im übrigen ist das Zukunftsmusik, denn bevor du heiratest, wirst du einige Dinge zu regeln haben, die du im übrigen längst hättest regeln sollen.“ „Welche Dinge?“ fragte Thorfin Njal schroff. In Hasards eisblaue Augen trat ein harter Schimmer. „Wie ich von deiner Crew hörte, hast du die Absicht, den Schwarzen Segler hierzubehalten. Stimmt das?“ „Stimmt!“ schnappte Thorfin Njal. „Ich brauche hier ein Schiff!“ Hasard zog die Augenbrauen hoch. „Als Bauer und Schafzüchter?“ „Das ist meine Sache!“ „Nein, ist es nicht, Thorfin Njal, denn der Schwarze Segler gehört zu gleichen Teilen Siri-Tong. So, und hier fangen die Dinge an, die du zu regeln hast, bevor du heiratest. Wenn du das Schiff hierbehältst, betrügst du Siri-Tong um ihren Anteil ...“ Thorfin Njal brauste auf. „Wie sprichst du' denn mit mir? Ich habe noch niemanden betrogen!“ „Du bist bereits kräftig dabei - und das schon eine ganze Weile. Du betrügst dich selbst, du betrügst deine Crew, und du betrügst Siri-Tong. Wahrscheinlich betrügst du auch deine zukünftige Frau, indem du ihr verschweigst, daß das Schiff, mit dem du Thule suchen wolltest, zu
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gleichen Teilen auch noch einem anderen Partner gehört, einem weiblichen Partner, wohlgemerkt!“ Thorfin Njals Rechte fuhr zum Langschwert. „Hüte deine Zunge, Seewolf!“ brüllte er. „Ich lasse mich von dir nicht beleidigen, nicht auf meinem Hof ...“ „Es ist noch nicht dein Hof“, sagte Hasard kalt. „Nimm das endlich zur Kenntnis. Falls du weiter die Absicht hast, mich anzubrüllen, können wir die Unterredung beenden. Ich diskutiere nicht mit Männern, die sich nicht beherrschen können. Was du als Beleidigung auffaßt, ist nichts weiter als die Wahrheit, die du offenbar nicht mehr verträgst. Ich wiederhole: Deine Absicht, den Schwarzen Segler für dich zu behalten, fasse ich als Betrug und Treuebruch an Siri-Tong auf, es sei denn, du schlägst eine Lösung vor, die vernünftig und annehmbar ist.“ „Was geht dich das eigentlich an?“ knurrte Thorfin Njal. „Niemand hat dich gerufen!“ „Doch, und zwar deine Crew, Thorfin Njal“, sagte Hasard eisig. „Im übrigen fühle ich mich berechtigt, die Interessen Siri-Tongs zu vertreten. Über deine Crew sprechen wir noch. Ich will jetzt wissen, wie du die Sache mit dem Schwarzen Segler zu regeln gedenkst. Du hattest genügend Zeit, dafür eine Lösung zu finden, denn dieses Problem wurde, wie ich weiß, bereits von deiner Crew angesprochen - mit Recht, so meine ich. Entscheidungen, die dieses Schiff betreffen, gehen auch die Crew etwas an, die seit vielen Jahren auf diesem Schiff lebt, es instand hält, auf und mit ihm gekämpft und geblutet und sich dadurch nach meiner Auffassung auch ein moralisches Besitzecht erworben hat.“ „Das wird ja immer schöner!“ fauchte Thorfin Njal. „Diese Feiglinge? Ein Besitzrecht? Daß ich nicht lache! Meuterer haben kein Besitzrecht!“ „Du scheinst nicht mehr ganz bei Trost zu sein, Thorfin Njal“, sagte Hasard trocken. „Kein Mann dieser Crew hat gemeutert. Offenbar bist du nicht mehr in der Lage, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Es geht
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um das Schiff. Du hast erklärt, du würdest nicht mehr in die Karibik zurückkehren, und folglich bliebe auch das Schiff hier zu deiner Verfügung. Darauf hat deine Crew erwidert, da habe wohl der andere Schiffseigner, nämlich Siri-Tong, auch noch ein Wörtchen mitzureden. Wer das Meuterei nennt, scheint nicht zu wissen, wovon er spricht - und er leugnet die Wahrheit, die ihm offenbar auch unangenehm ist. Du hast daraufhin deine Crew beschimpft und angebrüllt, ja, du hast sogar verlangt, deine Männer sollten sich hier am Isa-Fjord ansiedeln und für Gotlinde Thorgeyr den Hof verteidigen und gegen irgendwelche Nachbarn kämpfen. Das haben sie abgelehnt, und auch das ist keine Meuterei, denn du kannst ihnen nicht befehlen, gegen Leute zu kämpfen, die sie gar nicht kennen, die sie nie zuvor gesehen haben, die sie überhaupt nichts angehen. Das ist ausschließlich die Sache der Gotlinde Thorgeyr und -da du sie liebst - auch deine. Es ist also eure persönliche Sache. Die Männer deiner Crew sind weder deine noch Gotlinde Thorgeyrs Knechte oder Leibeigene oder Sklaven, über die man beliebig verfügen kann. Es sind Männer, die sich dir bisher freiwillig untergeordnet haben - freiwillig! Wenn du von deinem Kurs, nämlich Thule zu finden, abgehst und plötzlich erklärst, hier heiraten und einen Hof übernehmen zu wollen, dann haben diese Männer das Recht, ihre freiwillige Bindung zu dir aufzukündigen, denn was du beabsichtigst, hat mit euren gemeinsamen Zielen nichts mehr zu tun. Sie wollen wieder in die Karibik zurück, wo sie alle ihre Heimat gefunden haben. Sie hätten es längst tun können -in irgendeiner Nacht, in der du mal wieder nicht an Bord warst. Aber sie haben gewartet und gewartet und gehofft, daß ihr Kapitän eine klare und saubere Entscheidung treffen würde, eine ehrliche Entscheidung. Aber stattdessen wurden sie beschimpft und verflucht, ja, du hast sogar auf einen Mann deiner Crew geschossen. Du hast dich ins Unrecht gesetzt, Thorfin
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Njal, nicht deine Crew. Begreifst du das nicht? Oder willst du das nicht begreifen?“ „Du hättest Prediger werden sollen, Philip Hasard Killigrew“, knurrte Thorfin Njal. Hasard stand auf. Sein Gesicht war zu Stein geworden. Eisig sagte er: „Ich gebe dir bis morgen abend eine Frist, darüber nachzudenken, wie du die Sache mit dem Schwarzen Segler regeln willst.“ „Und dann?“ fragte der Wikinger lauernd. „Das hängt davon ab, wie du dich entscheidest.“ „Du hast mir keine Fristen zu stellen, und ich pflege meine Entscheidungen auch nicht umzustoßen“, sagte Thorfin Njal grollend. „Das Schiff bleibt hier - basta!“ „Und deine Crew?“ „Die soll bleiben, wo der Pfeffer wächst. Mit Feiglingen und Meuterern will ich nichts mehr zu tun haben!“ Hasard lächelte verächtlich. Carberry stand langsam auf, ebenso Smoky, ihrer beiden Mienen waren seltsam verkantet. Carberry sagte: „Bei Gott, Thorfin Njal, du bist der schäbigste Kapitän, der mir je begegnet ist!“ Thorfin Njal fuhr von der Bank hoch. „Nimm dich in acht, Profos!“ zischte er. Carberry blickte zu Hasard. „Sir, darf ich diesem Lumpen was aufs Maul schlagen?“ „Nein“, sagte Hasard scharf. Erst jetzt und sehr gelassen ergriff Gotlinde Thorgeyr das Wort und sagte etwas zu Thorfin Njal, dessen Gesicht dunkelrot wurde. Wütend sagte er zu Hasard: „Ihr sollt euch wieder setzen. Gotlinde möchte wissen, warum ihr gehen wolltet.“ Hasard blickte ihn kalt an. „Dann sag's ihr, Thorfin Njal. Oder bist du zu feige? Wir können auch Stenmark holen, der ihr genau übersetzen wird, um was es hier geht. Bei dir bin ich mir nicht mehr sicher. ob du noch bei der Wahrheit bleibst!“ „Das ist eine Beleidigung!“ brüllte Thorfin Njal. Hasard zuckte mit den Schultern und erwiderte kühl: „Wenn du brüllst, weiß ich immer, daß ich recht habe.“ Er wandte sich zu Carberry und Smoky. „Holt Stenmark.“
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„Hiergeblieben!“ donnerte Thorfin Njal, als die beiden zur Tür gingen. Carberry drehte sich noch einmal um und knurrte: „Halt's Maul, Wikinger! Von Affenärschen wie dir nehmen wir keine Befehle entgegen!“ Und damit verschwanden sie. Gotlindes Stimme war sehr scharf, als sie jetzt etwas zu Thorfin Njal sagte. Hasard hätte etwas darum gegeben, die norwegische Sprache zu verstehen und zu sprechen. Die fremden Sprachen - das waren immer wieder die Barrieren, an denen sich Menschen stießen. Hasard war sich klar darüber, daß dieser Disput anders verlaufen wäre, wenn ihn Gotlinde verstanden hätte. Aber sie hatte nur dem Ton der Stimme lauschen und die Mienen der Männer betrachten können. Was sie sich wohl gedacht hatte? Ob sie wußte, wie sehr sich dieser Mann, den sie liebte, bereits verrannt hatte? Was Thorfin Njal hier zum besten gegeben hatte, war ein Stück aus dem Tollhaus. Als normal war es jedenfalls nicht mehr zu bezeichnen. Hasard fragte sich, wie sich jetzt wohl Siri-Tong verhalten hätte, wenn sie an seiner Stelle wäre. Die Beleidigungen Thorfin Njals gegen die Crew des Schwarzen Seglers hätte sie nicht hingenommen. Wahrscheinlich hätte sie den Degen gezogen, den sie so meisterhaft zu führen verstand, und den Riesen vor der Degenspitze herumtanzen lassen, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Thorfin Njal unterbrach Hasards Gedanken. Noch immer wütend, sagte er: „Sie wollte wissen, warum du die beiden Männer weggeschickt hast.“ „Und was hast du erwidert?“ „Daß sie einen Dolmetscher holen.“ „So? Ist das alles?“ „Was denn noch?“ Spöttisch sagte Hasard: „Den Grund, warum ich mich auf dich als Dolmetscher nicht verlassen möchte, hast du also verschwiegen.“ Thorfin Njal fluchte wild, was Hasard bewies, daß er recht hatte. Für sein Fluchen steckte der Wikinger auch prompt einen Verweis ein – von der großen, rotblonden
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Frau, die wieder etwas sagte, was Hasard zwar nicht verstand, jedoch den Wikinger veranlaßte, abrupt mit dem Fluchen aufzuhören. Wie ein trotziges Kind ließ er sich auf die Bank zurücksinken und starrte bockig vor sich hin. 6. Ohne alle diese Komplikationen mit dem Schwarzen Segler und der Crew hätte Hasard diese Situation eher als Witz betrachtet, und zwar deswegen, weil sich der Wikinger so verrückt aufführte und dabei fast komisch wirkte. Zweifellos hatte er eine starke und tiefe Zuneigung zu dieser Frau, die tatsächlich eine faszinierende Persönlichkeit war, wie man sie selten antraf. Da war nicht nur der frauliche Reiz, den sie aus. Nein, diese Gotlinde Thorgeyr hatte etwas Königliches, das mit Worten nicht zu beschreiben war. Sie war warmherzig und stolz zugleich. Solche Frauen konnten Männer verund auch beherrschen. Sie waren dominierende Persönlichkeiten. Auch die königliche Lissy war eine solche Frau. Wahrscheinlich lag der Schlüssel zu dem Verhalten des Wikingers darin, daß er Angst hatte, sie zu verlieren. Vielleicht hatte er ihr mit seinem Schwarzen Segler und dessen Crew hartgesottener, wilder Kerle imponieren wollen und großartig erklärt, er werde mit „seinen“ Männern schon dafür sorgen, daß der Besitz der Thorgeyrs von keinem Nachbarn mehr angetastet würde. Und dann hatte er sich zutiefst verletzt gefühlt, als die Crew nicht bereit gewesen war, eine solche Rolle zu übernehmen. So mußte es sein. Thorfin Njal war nicht mehr in der Lage, seine persönlichen Belange von denen der Crew zu trennen. In diesem Verhalten verbarg sich eine gewisse Selbstherrlichkeit, von der bisher jedenfalls nie etwas bei dem Wikinger zu spüren gewesen war. Aber wenn er diese Selbstherrlichkeit plötzlich hervorkehrte, dann mußte das darauf beruhen, daß er Gotlinde Thorgeyr hatte imponieren
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wollen. Nur schien sie nicht darauf hereinzufallen. Jetzt forderte sie den Wikinger auf, Hasard nachzuschenken. Der Riese gehorchte muffig und schien seinen Freund. den Seewolf, zum Teufel zu wünschen. Dafür lächelte Gotlinde Thorgeyr Hasard an, als bäte sie ihn um Verzeihung für diesen ungehobelten Klotz, der herumfluchte und seine Gäste ziemlich rüde behandelt hatte. Hasard lächelte zurück, was Thorfin Njal wiederum registrierte und seine schlechte Laune keineswegs verbesserte. Hasard hob den Humpen und sagte zu Thorfin Njal: „Ich möchte diesen Schluck auf das Wohl der Herrin des ThorgeyrHofes trinken. Erklär ihr das bitte.“ Thorfin Njal tat es, aber seinem Tonfall war zu entnehmen, daß er solche Höflichkeiten für Firlefanz hielt. Nicht so Gotlinde Thorgeyr. Sie bedankte sich mit einem lächelnden Kopfnicken, als Hasard ihr zutrank. Erst dann setzte er sich wieder. Thorfin Njal schob seinen Humpen mißmutig auf der Tischplatte hin und her und muffelte weiter. Hasard sagte: „Du hast dich sehr verändert, mein Freund, seit wir Seite an Seite vor der bretonischen Küste gegen Lucio do Velho, Grammont und Genossen kämpften.“ „Interessiert mich nicht“, brummelte der Wikinger. „Ah! Was interessiert dich denn überhaupt noch?“ „Ich will meine Ruhe haben“, lautete die merkwürdige Antwort des Wikingers. „Auf Kosten deiner Crew, wie?“ „Fängst du schon wieder an?“ sagte der Wikinger wütend. „Einer muß dir ja die Wahrheit sagen“, erwiderte Hasard, „solange, bis du sie kapierst.“ „Rutsch mir doch den Buckel runter!“ knurrte der Wikinger. „Weißt du was? Am besten, du trollst dich. Ich hab keine Lust mehr, mir deine Predigten anzuhören.“ „Gotlinde Thorgeyr scheint anderer Ansicht zu sein. Sie möchte einiges wissen, und da stehe ich ihr gern zur Verfügung. Du kannst ja gehen und solange draußen Holz hacken oder mit
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Wurf bomben nach bösen Nachbarn werfen. Oder wie wär's, wenn du dich mal wieder um das Schiff kümmern würdest? Wie ich hörte, hast du dich dort schon lange nicht mehr sehen lassen. Ein merkwürdiges Verhalten für jemanden, der das Schiff für sich beansprucht. Wie gesagt“, Hasard grinste impertinent, „ich unterhalte mich auch gern allein mit Gotlinde Thorgeyr.“ Thorfin Njal schien zu überlegen, ob er Hasard über den Tisch weg anspringen sollte. Seine Pranken öffneten und schlossen sich krampfhaft, er atmete keuchend, seine Augen schossen Blitze, sein rotgrauer Bart zitterte. Hasard lehnte sich zurück und trank genüßlich. Das Bier war dunkel und würzig, ein köstlicher Trunk. „Thorfin Njal!“ sagte Gotlinde streng und musterte ihn scharf. Der Wikinger zuckte zusammen und beschäftigte sich wieder mit seinem Humpen - bis Carberry und Smoky Stenmark brachten, den blonden Riesen mit den hellen Augen. „Der Dolmetscher!“ blaffte Thorfin Njal. „Stenmark heißt der Kerl.“ Das war die Vorstellung, und sie hätte ruppiger nicht ausfallen können. Stenmark warf ihm nur einen Blick aus schmalen Augen zu und verbeugte sich leicht vor Gotlinde Thorgeyr. „Ich stehe gern zur Verfügung“, sagte er zu ihr. „Danke“, sagte Gotlinde Thorgeyr. „Bitte, setzen Sie sich. Ein Bier?“ „Gern, Madam.“ Stenmark setzte sich auf die Bank neben Hasard. Auch Carberry und Smoky nahmen Platz - zu viert saßen sie jetzt dem Wikinger gegenüber, denn Gotlinde Thorgeyr saß auf dem geschnitzten Stuhl an der Stirnseite des Tisches. Thorfin Njal schenkte aus einer Kruke Bier in einen Humpen und schob ihn Stenmark zu. Seine Miene war jetzt verbissen. Offenbar schwante ihm, daß jetzt die Stunde der Wahrheit schlug. Hasard eröffnete die Partie jetzt über Stenmark.
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„Madam“, sagte er. „Sie wollten wissen, warum wir zu gehen wünschten. Nun, ich hatte unserem alten Freund Thorfin Njal eine Frist gestellt, darüber nachzudenken, was mit dem Viermaster da draußen im Fjord geschehen solle, über den ich hörte, daß unser Freund die Absicht habe, ihn hierzubehalten. Er scheint vergessen zu haben, daß dieses Schiff nicht ihm allein gehört. Also muß, wenn unser Freund für immer hierbleiben will, eine vernünftige Regelung getroffen werden. Das gleiche gilt für die Crew, von der ich erfuhr, daß sie nicht die Absicht habe, hier zu siedeln. Unser Freund scheint das nicht einzusehen. Darum wurde er wohl auch so hitzig. Ich hielt es daher für besser, zu gehen, damit unser Freund in Ruhe über diese Dinge nachdenken kann - obwohl er das schon seit Wochen hätte tun können.“ Stenmark übersetzte, und Gotlinde Thorgeyr hörte aufmerksam zu. „Ich habe verstanden“, sagte sie jetzt. „Sind Sie der andere Teilhaber an dem Viermaster, Kapitän Killigrew?“ Hasard schaute sie erstaunt an. „Ich? Aber nein. Der andere Teilhaber ist eine Frau, eine sehr gute Freundin von mir, die in der Karibik lebt. Wußten Sie das nicht?“ „Nein!“ Das klang wie ein Schuß, und die Kugel war der Blick, den Gotlinde Thorgeyr aus ihren grünlichen Augen auf den Wikinger abschoß. Solche Blicke konnten durchaus die Durchschlagskraft einer Kugel haben, und der Wikinger zuckte auch zusammen. „Das hat mir Thorfin Njal bisher verschwiegen. Was ist das für eine Frau, Thorfin Njal? Antworte! Und jetzt weich mir nicht aus! Ich will das wissen!“ Ach herrje! dachte Hasard. Da hab ja was angerichtet! Und schlagartig wurde ihm klar, warum Thorfin Njal die Existenz eines weiblichen Teilhabers am Schwarzen Segler verschwiegen hatte: Er hatte befürchtet, daß Gotlinde Thorgeyr mißtrauisch werden würde, vielleicht sogar eifersüchtig. Und wie sie jetzt reagiert hatte, bewies, daß der Wikinger mit seinen Befürchtungen durchaus recht gehabt hatte. Dabei war das alles geradezu lächerlich!
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Allerdings ging diese groteske Situation zu Lasten des Wikingers, der sich bisher darum herumgedrückt hatte, etwas über die Rote Korsarin zu erzählen. Jetzt erhielt er die Quittung und zwar mit einer Schärfe, die Hasard einigen Respekt abnötigte. Verdammt, diese Gotlinde Thorgeyr konnte ganz schön zubeißen! Der Wikinger schwitzte Blut und Wasser, hatte einen knallroten Kopf und kriegte keinen Ton hervor. Hilfesuchend starrte er zu Hasard. Aber der ließ ihn zappeln und dachte gar nicht daran, für ihn einzuspringen. Du hast dir die Suppe eingebrockt, Thorfin Njal, dachte er, und nun löffele sie aus. Und laß sie dir gut schmecken! Aber dem Wikinger schmeckte gar nichts mehr. Und ein Mauseloch wäre ihm gerade recht gewesen, um verschwinden zu können. „Thorfin Njal!“ Gotlinde Thorgeyrs Stimme war leise, aber nichtsdestoweniger messerscharf. „Bist du ein Fisch, der nicht sprechen kann?“ „Ich ...“ setzte der Wikinger an und verstummte wieder. „Ja? Ich höre.“ „Ich - ich bin kein Fisch“, sagte der Wikinger wütend. „Und ob du einer bist!“ höhnte Gotlinde Thorgeyr. „Ein sturer Wal bist du, der in seinem eigenen Tran erstickt!“ Carberry und Smoky grinsten breit, als sie Stenmarks Übersetzung hörten. Es war das Grinsen der Schadenfreude, die ja bekanntlich die schönste Freude sein soll. Nach allem, was sich dieser in Liebe entflammte Riese in letzter Zeit geleistet hatte, gönnten sie ihm, daß er Zunder kriegte. Gotlinde Thorgeyr war dafür genau richtig. Thorfin Njal, der das schadenfrohe Grinsen sah, wurde richtig rappelig. Und so polterte er los: „Was das für eine Frau ist? Na eben eine Frau wie jede andere auch, verdammt noch mal!“ „Ist sie hübsch?“ schnappte Gotlinde Thorgeyr. „Wie?“ fragte der Wikinger etwas verblüfft.
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„Ob sie hübsch ist, habe ich gefragt!“ „Nicht so hübsch wie du“, erklärte der Wikinger. „Wie heißt sie?“ „Siri-Tong.“ Sie runzelte die Stirn. „Siri-Tong? Ist sie keine Nordländerin?“ „Nein, kann man nicht sagen. Sie ist die Tochter einer Chinesin und eines Engländers.“ „Also ein Mischweib!“ sagte Gotlinde Thorgeyr verächtlich, denn sie konnte sich nach ihrer althergebrachten Auffassung nicht vorstellen, daß ein Kind aus einer solchen Verbindung etwas Gutes sein sollte. „Und mit diesem Mischweib hast du dich in der Karibik herumgetrieben?“ Thorfin Njal brauste auf und hämmerte die Faust auf den schweren Tisch, daß es nur so krachte. „Du hast eine sehr spitze Zunge, Gotlinde Thorgeyr!“ tobte er. „Dabei kennst du die Rote Korsarin nicht einmal ...“ „Rote Korsarin?“ unterbrach sie ihn wild. „Was ist das denn jetzt wieder?“ Hasard schaltete sich ein und sagte ruhig: „Entschuldigung, Madam, wenn ich mich einmische. Ich erklärte vorhin, daß die Teilhaberin an dem Viermaster eine sehr gute Freundin von mir sei. Ich darf hinzufügen, daß sie eine Frau ohne Fehl und Tadel ist. Von ihr als einem Mischweib zu sprechen, ist nicht richtig, und ich muß diesen Ausdruck zurückweisen. Der Beiname ,Rote Korsarin' ist ein Kriegsname, unter dem Siri-Tong in der Karibik bekannt und allerdings auch gefürchtet ist -gefürchtet von den Halsabschneidern und Schnapphähnen, die dort ihr Unwesen treiben. Der Wikinger, Siri-Tong, ein gewisser Jean Ribault, ein Karl von Hutten oder auch ich -wir sind Freibeuter, die aus diesen oder jenen Gründen die Heimat verlassen haben. Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß wohl auch Ihre Vorfahren, die Wikinger, auf Beutefahrt gingen und sogar in fremden Ländern Reiche gründeten. Etwas Ähnliches taten wir in der Karibik, in der Größe natürlich nicht mit jenen
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Gründungen der Wikinger vergleichbar. Aber wir haben uns ein winziges, kleines Reich geschaffen - auf einer Insel in der Karibik. Dort leben nur Freie -Menschen aus aller Herren Länder, niemandem untertan, es sei denn unseren eigenen Gesetzen.“ „Und es geht allen gut?“ fragte Gotlinde Thorgeyr neugierig. Ihre Wut schien verraucht zu sein. „Das kann man getrost bejahen“, erwiderte Hasard lächelnd. „Allerdings haben wir auch Neider - so wie Sie hier -, und zwar jenes Gesindel, von dem ich sprach. Um unsere Insel vor Schaden zu bewahren, brauchen wir kampfstarke Schiffe - wie zum Beispiel den Viermaster dort draußen, dessen Crew wiederum auch eine neue Heimat auf der Insel gefunden hat. Dies dürfte mit der Grund sein, warum die Crew sich weigert, hier im Isa-Fjord zu siedeln, wie sich das unser Freund Thorfin Njal offenbar vorgestellt hat. Daß er nicht mehr zu unserer Insel zurückkehren möchte, sondern für immer hierbleiben will, ist seine eigene Entscheidung, die wir alle zu respektieren haben, obwohl uns das nicht leicht fällt, zumal er ein sehr guter Kapitän ist und ein immer verläßlicher Bundesgenosse und Waffengefährte war eben ein getreuer Freund, der immer bereit war, sich mit Leib und Leben für den anderen einzusetzen.“ Hasard schaute nachdenklich vor sich hin, musterte den Wikinger dann kurz und fuhr fort: „Das soll nun alles vorbei sein. Nun gut, wir müssen das hinnehmen. Er durchtrennt die alten Bindungen, um eine neue einzugehen. Dagegen ist nichts einzuwenden, denn es ist sein eigener, freimütiger Entschluß. Umso mehr aber muß die Trennung von uns sauber vollzogen werden. Das heißt, er darf seine Crew nicht zwingen, hierzubleiben, und er weiß auch sehr genau, daß der Viermaster in der Karibik gebraucht wird - wo er hingehört, zumal dieses Schiff ursprünglich auch der Besitz Siri-Tongs war, bis er später Teilhaber wurde. Schiff und Crew - diese beiden Probleme müssen zufriedenstellend geregelt werden. Darum
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bin ich hier. Lassen Sie mich noch etwas Wichtiges hinzufügen, Madam. Die Männer der Crew des Viermasters hatten mich gebeten, ihre Interessen zu vertreten, als sie erkennen mußten, daß ihr Kapitän für sie nicht mehr zu sprechen war. Sie wandten sich an mich, weil sie zu mir Vertrauen haben, aber auch hofften, ich könnte ihren Kapitän irgendwie umstimmen. Diese Hoffnung ist verständlich, denn sie möchten ihren Kapitän zurückhaben, mit dem sie seit Jahren Gemeinsames verbindet. Dieser Kapitän hat sie in den letzten Wochen leider sehr enttäuscht. Nun, ich habe den Männern gesagt, daß ich den Teufel tun werde, ihren Kapitän von einer Heirat zurückzuhalten. Denn das ist seine ureigene, persönliche Angelegenheit.“ Hasard lächelte. „Ich schätze, daß er eine gute Wahl getroffen hat. Deswegen aber auch sollte das andere Problem geklärt werden, und zwar bald, denn die Männer haben lange genug gewartet. Und sie sind nicht - das möchte ich noch einmal betonen -seine Vasallen, sondern Freie, die bisher freiwillig unter seinem Kommando ihren Dienst getan haben.“ Der Wikinger saß still und stumm und starrte mit gesenktem Kopf auf die Tischplatte. „Ich danke Ihnen, Kapitän Killigrew“, sagte Gotlinde Thorgeyr und gab ihm spontan die Hand. „Das alles habe ich nicht gewußt, sondern nur geahnt. Fragen über diese Dinge ist Thorfin Njal bisher ausgewichen. Damit ist es jetzt vorbei. Sie haben ein Recht, von ihm eine Entscheidung zu verlangen. Und ich stimme Ihnen sogar zu, daß man diesen Männern das Schiff nicht wegnehmen darf, nachdem es der Kapitän verlassen hat. Das Schiff gehört wieder zurück in die Karibik. Das ist meine Meinung.“ Mit grollender Stimme sagte Thorfin Njal. „Darüber habe ich zu entscheiden, nicht du!“ „Ich habe nicht entschieden, sondern lediglich meine Meinung gesagt, Thorfin Njal“, entgegnete Gotlinde Thorgeyr scharf. „Und ich wiederhole noch einmal,
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daß ich Kapitän Killigrew in allen Punkten zustimme. Und damit du Gelegenheit hast, ebenfalls darüber nachzudenken, um eine gute Entscheidung zu treffen, wirst du den Hof verlassen und auf dein Schiff zurückkehren!“ „Was soll ich?“ fragte der Wikinger entgeistert. „Du hast genau verstanden, was ich gesagt habe“, erwiderte Gotlinde Thorgeyr. „Bevor ich bereit bin, dich zu heiraten, verlange ich von dir, daß diese Dinge geregelt werden, und zwar so geregelt werden, daß ich mich deiner nicht zu schämen brauche. Ich will keinen Mann, der seine Partnerin um ihren Anteil betrügt ...“ Der Wikinger fuhr hoch, aber sie herrschte ihn an: „Jetzt rede ich, Thorfin Njal! Du hattest seit Wochen Gelegenheit, mit mir über diese Dinge zu sprechen, aber du hast es nicht getan. Und, jetzt will ich dir noch etwas sagen: Ich habe keine Lust, das Schicksal deiner Partnerin zu teilen und eines Tages vielleicht um diesen, meinen Hof betrogen zu werden. Denn in dieser Erwartung müßte ich leben, wenn du den Viermaster für dich behältst. Wer einmal betrügt, der betrügt immer! Bis morgen mittag möchte ich hören, wie du dich entschieden hast. Da deine Jolle kaputtgeschossen wurde, wird Kapitän Killigrew so freundlich sein, dich zu dem Viermaster zu bringen. Dort wird er dich auch morgen mittag wieder abholen. Mehr habe ich nicht zu sagen.“ „Du schickst mich weg?“ sagte der Wikinger fassungslos. „Richtig. Hier hockst du ja nur herum mit deinem muffigen Gesicht und weichst allen Entscheidungen aus, wie du das bisher getan hast. Mit Herumtrödeln kannst du mir nicht imponieren, Thorfin Njal. Ich brauche einen Mann, der über seinen Schatten zu springen vermag und Entscheidungen nicht ausweicht -sonst soll er sich zum Teufel scheren!“ „Und wenn die Grettirs wieder angreifen?“ „Das laß nur meine Sorge sein“, erwiderte Gotlinde Thorgeyr kurz angebunden. So kriegte Thorfin Njal den Stuhl also vor die Tür gesetzt, und es sah gar nicht gut
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aus für ihn. Dies um so mehr, weil er sich selbst in Zugzwang gesetzt hatte, wobei Gotlinde mehr oder weniger deutlich zu erkennen gegeben hatte, was sie von ihm erwartete, nämlich einen Verzicht auf den Schwarzen Segler. Anders ausgedrückt: Wenn er ihn behalten wollte, würde sie nie und nimmer seine Frau werden. So einfach war das. Hasard staunte, und seine Hochachtung vor dieser Frau wuchs. Sie brachte die Härte auf, ihre Liebe aufs Spiel zu setzen, wenn Thorfin Njal auf dem Besitz des Schwarzen Seglers beharrte. Aber das entsprach ihrer gradlinigen Art. Lieber verzichtete sie auf den Mann, auch wenn es sie schmerzen würde. Hasard, Carberry und Smoky, standen auf, auch Stenmark, der alles getreulich übersetzt hatte. Etwas schwerfällig erhob sich darauf Thorfin Njal, der jetzt den Eindruck erweckte, als sei er mit dem Schädel gegen eine Wand geprallt. Er warf Gotlinde Thorgeyr, die kerzengerade auf dem geschnitzten Stuhl saß, einen Blick zu, als wolle er noch etwas sagen - es war ein etwas hilfloser Blick, wie Hasard zu bemerken glaubte -, aber dann wandte er sich zur Tür und ging schweigend hinaus. Hasard nickte Carberry und Smoky zu, ihm zu folgen. Sie verbeugten sich stumm vor der Hausherrin, die ihnen zulächelte, und verließen ebenfalls den Raum. Hasard sagte über Stenmark: „Ich habe noch eine kurze Frage, Madam. Sie lautet: Würden Sie bereit sein, den Thorgeyr-Hof zu verlassen und Thorfin Njal in die Karibik begleiten?“ Sie blickte Hasard nachdenklich an und sagte dann: „Sie meinen, ich sollte den Hof aufgeben, Kapitän Killigrew?“ „Das würde die Konsequenz sein“, erwiderte Hasard. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sagte verhalten: „Merkwürdig, darüber habe ich nie nachgedacht, seit ich Thorfin Njal kennenlernte.“ Sie nickte. „Richtig, man sagt, eine Frau solle ihrem Mann folgen, wohin er auch geht oder zu gehen wünscht. Aber er will ja nicht mehr zurück.
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Den Hof aufgeben? Ich habe um ihn gekämpft und immer gehofft, einen Mann an meiner Seite zu haben. Und jetzt meinte ich, ihn gefunden zu haben.“ Sie schaute Hasard offen an. „Ihre Frage hat mich überrascht, Kapitän Killigrew. Ich kann sie nicht klar beantworten. Lassen Sie mich darüber nachdenken - so wie Thorfin Njal jetzt nachdenken muß. Ja?“ „Einverstanden.“ Hasard lächelte, verbeugte sich leicht und wollte mit Stenmark gehen, aber Gotlinde Thorgeyr hielt sie noch einmal zurück. Sie sagte: „Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Kapitän Killigrew. Ich glaube, Thorfin Njal kann sich keinen besseren Freund als Sie wünschen. Sie haben mir mehr über ihn erzählt, als Sie ahnen. Er ist ein guter Kämpfer, nicht wahr?“ Hasards Augen waren bei dieser Frage schmal geworden. Fast böse sagte er: „Sie meinen, er tauge nicht dazu, der Herr dieses Hofes zu sein, weil Kampf die Erfüllung seines Lebens bedeutet?“ Sie wurde etwas rot, reckte aber den Kopf und erwiderte: „Als Frau. vielleicht auch einmal als Mutter, muß ich mir über so etwas ebenfalls klar sein. Bitte verstehen Sie das. Könnte es nicht sein, daß er eines Tages ausbricht, weil ihn die See ruft? Weil er sich hier unbefriedigt fühlt zwischen Schafherden, etwas Ackerbau und Einsamkeit? Das heißt, daß er ein Leben leben muß, das so völlig anders ist als sein bisheriges Leben? Darum fragte ich.“ Hasard nickte und sagte: „Ihre Überlegungen sind richtig, Madam. Aber ich kann und darf Ihnen auf Ihre Fragen keine Antwort geben. Sie entscheiden über Ihr und sein Leben, nicht ich. Er ist, wenn ich von den letzten Geschehnissen absehe, der beste Kapitän, den ich je kennenlernte. Über seine Tauglichkeit als Herr eines Landbesitzes kann ich nicht urteilen. Ich kann nur sagen daß er ein guter Mann ist. Aber da, sage ich ebenfalls als Mann. Wieweit er für eine Ehe taugt“, Hasard lächelte darüber steht mir kein Urteil zu.“ „Danke, Kapitän Killigrew.“ Sie lächelte ebenfalls. „Sie scheinen mir neben anderen
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Vorzügen auch ein sehr kluger Mann zu sein.“ Hasard räusperte sich, deutete noch eine Verbeugung an und verließ mit Stenmark die Kaminhalle. 7. Dieser 25. April war ein ereignisreicher Tag gewesen. Jetzt ging es den Abend zu. Thorfin Njal, Carberry und Smoky standen auf dem kleinen Steg unterhalb des Hofes und warteten auf Hasard und Stenmark. Carberry starrte den Wikinger an, räusperte sich und sagte: „Du hast deinen Helm vergessen, Mister Njal!“ „Wie?“ fragte der Wikinger geistesabwesend. Smoky grinste schon wieder, und Carberry wiederholte seinen Hin weis. Jetzt kapierte der Wikinger und knurrte: „Ich geh nicht noch mal zurück.“ Dabei kratzte er sich am Kopf, und das war nun wirklich sehenswert - eben weil der Helm fehlte, an dem der Wikinger nach alter Gewohnheit, aber völlig unangebracht herumzukratzen pflegte. Die Arwenacks hatten nie ergründen können, was dieses idiotische Helmkratzen für einen Sinn haben sollte. Mit der Zeit hatten sie es als eine Marotte des Wikingers hingenommen. Aber jetzt fehlte der Helm, und das war nun auch wieder nicht richtig. Carberry und Smoky sahen dem Kratzen entgeistert zu, und Carberry murmelte verstört: „Jetzt kratzt er sich richtig. Verstehst du das, Smoky?“ Smoky sagte, daß er das auch nicht verstünde. Und überhaupt, er blicke sowieso nicht mehr durch, und vielleicht sei der Wikinger nicht mehr ganz dicht im Kopf, weil der Helm fehle. Auch Carberry bedachte das, indem er den Wikinger mißtrauisch betrachtete. Der kratzte sich immer noch am Kopf. Daß der nicht den Helm vermißte! Das gab's doch gar nicht. Mann, hatte der einen mächtigen Schädel! Jetzt sah man das erst richtig. Von daher begriff man erst, was dieser Kupferhelm mit den beiden geschwungenen Hörnern
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für ein mächtiges Ding sein mußte, eine Art Suppenkessel war das, ein Suppenkessel, aus dem eine Crew satt werden konnte, jawohl! Vorsichtig sagte Smoky: „Das Ding hat auf der Kaminbank gelegen. Ob ich noch mal zurückgehe und es hole? Was meinst du, Ed?“ Der Profos schüttelte den Kopf und sagte: „Lieber nicht. Vielleicht hat er ja noch einen Ersatzhelm auf dem Schwarzen Segler.“ Schade, dachte Smoky, denn er hatte gehofft, bei dieser Gelegenheit Gunnhild noch einmal zu treffen. Sie starrten beide wieder auf den Wikinger. Dem Dialog hatte er gar nicht zugehört. Völlig geistesabwesend war der. Aber mit der Kratzerei hörte er auf. „Sie hat mich weggeschickt“, sagte er dumpf. „Ja“, sagte Carberry lahm. Und Smoky sagte: „So ist es. Aber morgen siehst du sie ja wieder.“ „Ja, morgen siehst du sie wieder“, bestätigte auch der Profos. Thorfin Njal seufzte tief. Es klang wie das Schnaufen eines alten Schlachtrosses. Carberry und Smoky seufzten auch, weil sie entdeckten, daß der Wikinger großen Kummer hatte. Und der Kummer war ansteckend. Wenn man es so herum betrachtete, also aus der Sicht des Wikingers, dann war das schon sehr hart, von der Liebsten weggeschickt zu sein. Richtig tragisch war das. Ein tragisches Schicksal. So seufzten sie zu dritt und blickten betrübt drein. „Jaja“, sagte der Profos tiefsinnig. „Da hast du recht“, sagte Smoky und nickte bedeutungsvoll. Als Hasard mit Stenmark zum Steg hinunterging und sie die drei Unglücksraben sahen, sagte Stenmark verwundert: „Was ist denn mit denen los? Stehen da, als warteten sie auf eine Trauerfeier oder seien zum Sargtragen bestellt!“
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Hasard grinste. „Nicht ganz so schlimm. Den Wikinger hat der große Schmerz gepackt, und Ed und Smoky leiden mit.“ „Verrückt“, murmelte Stenmark. „Da seid ihr ja“, sagte Carberry fast ein bißchen erlöst, als Hasard und Stenmark den Steg betraten. „Ja, da sind wir.“ Hasard grinste immer noch. „Wollt ihr hier weitertrauern, oder können wir jetzt ablegen?“ „Hopp-hopp!“ sagte Carberry. Bitte dieses Mal ohne Riemenbruch“, sagte Hasard. „Smoky und Sten pullen, Ed, du setzt dich vorn auf die Bugducht und spielst Galionsfigur, Thorfin kommt zu mir auf die Achterducht.“ Sie besetzten die Jolle, wie es Hasard angeordnet hatte, und Carberry stieß sie mit einem Bootshaken vom Steg. Stenmark und Smoky pullten los. Hasard nahm Kurs auf den Schwarzen Segler. Der Wikinger blickte über die Schulter zurück, dann drehte er den Kopf wieder voraus. „Sonst hat sie mir immer von oben aus nachgewinkt“, sagte er undeutlich. Er senkte den mächtigen Schädel. „Jetzt ist alles vorbei.“ „Nichts ist vorbei“, sagte Hasard. „Es fängt erst an.“ „Sie hat mich weggeschickt“, murmelte der Wikinger. Na, das hatten Smoky und Carberry ja bereits schon mal gehört. Offenbar fiel dem Wikinger nicht viel Neues ein. „Na und?“ sagte Hasard. „Sie gibt dir Gelegenheit, über bestimmte Dinge nachzudenken. Das ist alles. Übrigens ist sie eine feine Frau, Thorfin.“ „Sie hat mich aber weggeschickt.“ „Das sagtest du bereits.“ „Sie liebt mich nicht mehr.“ Thorfin Njal seufzte wieder wie ein schnaufendes Schlachtroß. „Wer sagt das denn?“ fragte Hasard verblüfft und belustigt zugleich. Der Wikinger hämmerte die Faust an seine Brust. „Ich spüre es hier drinnen!“ „Aha!“ Hasard verbiß sich das Grinsen. „Was spürst du denn da so?“
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„Es schmerzt“, sagte der Wikinger mit dumpfer Stimme. „Wird schon wieder werden“, sagte Hasard und klopfte dem Wikinger tröstend auf die Schulter. „Wo hast du denn deinen Helm gelassen, mein Alter?“ „Den trag ich nicht mehr.“ „Warum nicht?“ Hasard sah, wie Carberry vorn im Bug den Kopf reckte und die Ohren spitzte. Auch Smoky lauschte mit Andacht. Um Stenmarks Lippen zuckte es verdächtig. „Sie mag das nicht“, murmelte der Wikinger. „Wenn ich im Haus wär, brauchte ich nichts auf dem Kopf, hat sie gesagt.“ Carberry vorn tauchte weg und schien die Bodenbretter der Jolle anzuröcheln. Smoky krebste auf einmal mit seinem Riemen herum, das heißt, sein Riemenblatt schnitt unter, und so konnte er die Gelegenheit zum Fluchen ausnutzen, weil er sonst lauthals losgeprustet hätte. Und Stenmark hatte eine verzerrte Miene, weil er eisern die Kinnladen zusammenpreßte. Hasard verlegte sich aufs Husten, um seinen Lachkrampf zu entgehen. Der Wikinger merkte von alledem nichts. Er war viel zu sehr in seine schmerzerfüllten Gedanken versponnen. Zum Glück näherten sie sich jetzt dem Schwarzen Segler, wo die Kerls über das Schanzkleid peilten und bereits eine Jakobsleiter ausgebracht hatten. Da brachte also Hasard ihren Kapitän zurück - und alle vier Seewölfe waren am Grimassenschneiden, nur der Kapitän saß auf der Achterducht mit einer Miene, als habe er Zahnschmerzen. Und Arne war es, der fassungslos sagte: „Er hat keinen Helm auf.“ „... keinen Helm auf“, wiederholte der Stör, wie es seine Art war, aber keiner bölkte ihn wie sonst meistens deswegen an, sondern alle waren viel zu verblüfft ob des Anblicks ihres helmlosen Kapitäns mit der Trauermiene. Da mußte ja allerlei passiert sein! „Auf Riemen!“ sagte Hasard. „Ed, nimm die Jakobsleiter wahr!“ „Aye, Sir!“
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Die Riemen polterten binnenbords. Hasard steuerte die auslaufende Jolle im Bogen an die Jakobsleiter, die der Profos ergriff und nach achtern durchreichte. Smoky hielt sie fest. Hasard schaute zum Schanzkleid h, über das sich die Mannen des „Eiliger Drache über den Wassern“, beugten, unter ihnen die vier Wikinger, der Boston-Mann und Bill, the Deadhead. Morgen mittag hole ich euren Kapitän¬ wieder ab!“ rief er hoch. „Bis dahin stört ihn nicht, er hat über einige Dinge nachzudenken!“ Er blinkerte mit dem rechten Auge. Arne zeigte verstanden und blinkerte zurück. „Dann bis morgen“, sagte Hasard zu Thorfin Njal. „Wir werden pünktlich zur Stelle sein. Vergiß nicht, recht tief und gründlich nachzudenken, mein Alter!“ „Ist gut“, brummelte der Wikinger, erhob sich von der Ducht und hangelte schwerfällig an der Jakobsleiter hoch. Daß der Riese in sich gekehrt war nicht mehr herumtobte, fluchte brüllte, wertete Hasard als aus gutes Zeichen. Er hob die Rechte mit ausgestrecktem Daumen, den Mannen da oben anzudeuten, die Sache mit ihrem Kapitän gar t so schlecht stünde. Sie grinsten erleichtert, und Hasard hörte, daß Arne den Kapitän willkommen hieß und dann fragte, ob er vielleicht Appetit auf einen feinen Rum hätte. Der Kapitän bejahte das. Hoffentlich besäuft er sich nicht, dachte Hasard, als sie mit der Jolle ablegten, um zur „Isabella“ zurückzukehren. Immerhin aber hatte die Crew ihrem Kapitän eine Brücke gebaut, und der Kapitän hatte das Rumangebot dankend angenommen. Die Fronten hatten sich nicht noch mehr versteift, sondern wieder einander genähert, und auch das war als ein Erfolg zu werten. * Es kam alles ganz anders. Am frühen Morgen des nächsten Tages wurde Hasard von der Deckswache
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gewahrschaut, daß am Steg des ThorgeyrHofes zwei alte Kerle stünden, winkten und riefen und sich ziemlich erregt gebärdeten. Hasard stieg eilends in seine Klamotten und sauste an Deck. Die beiden „alten Kerle“ waren Winge und Snorre. Als sie Hasard entdeckten, winkten sie noch heftiger und schienen ihm etwas Wichtiges mitteilen zu wollen. Hasard zeigte klar und ließ Stenmark rufen. Eine Bootscrew enterte sofort ab: Smoky, Sam Roskill, Gary Andrews und Paddy Rogers. Kaum war die Jolle am Steg vertäut und Hasard, gefolgt von Stenmark, auf den Steg gesprungen, da schnatterten Winge und Snorre auch schon los, und Stenmarks Gesicht wurde ernst. Dann übersetzte er: „Gotlinde Thorgeyr und Gunnhild sind heute morgen zu einem Bach südlich des Thorgeyr-Hofes gegangen, um dort wie üblich Wäsche zu spülen. Zum Frühstück hätten sie zurück sein müssen, weil das auch von ihnen gerichtet wird. Daraufhin ist Snorre zu der Waschstelle gegangen, um nachzuschauen, wo die beiden bleiben. Aber Gotlinde und Gunnhild waren verschwunden, nur die Wäschekörbe standen noch da. Snorre sagt, am Bach wären Spuren gewesen, als sei dort gekämpft worden.“ „Verdammt!“ Hasard starrte Stenmark an. „Eine Entführung, wie?“ „Sieht so aus.“ „Die Grettir-Leute?“. Stenmark nickte. „Winge meint, sie müßten es gewesen sein. Björn Grettir scheint Gotlinde schon seit langem nachzustellen, aber sie hat ihm bisher immer wieder die kalte Schulter gezeigt. Mit dem Auftauchen des Wikingers hat Grettir wohl seine Felle restlos davonschwimmen sehen und sich offenbar entschlossen, auf diese Weise zuzuschlagen. Das ist die Ansicht von Winge und Snorre. Sie sind ziemlich wütend und haben eben erklärt, Gotlinde und der Wikinger hätten schon vor ein paar Wochen heiraten können, dann wären wenigstens klare Verhältnisse geschaffen worden. Aber Gotlinde habe das immer
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wieder hinausgeschoben, wohl auch, um Thorfin Njal ein bißchen zappeln zu lassen.“ „Hm. Ich möchte wissen, was dieser Björn Grettir für ein Kerl ist. Frag sie mal, Sten.“ Die Antwort war nicht gerade beruhigend. Nach Winge und Snorre war Björn Grettir für jede Schandtat gut. „Ein notorischer Raufbold, Schürzenjäger und Faulenzer“, sagte Stenmark. „Mit dem Besitz des Thorgeyr-Hofes könnte er die Hände in den Schoß legen und brauchte überhaupt nichts mehr zu tun. Winge und Snorre fragen, was du unternehmen willst. Sie möchten auch, daß der Wikinger benachrichtigt wird.“ Hasard überlegte einen Moment und nickte. „Wird er auch.“ Er wandte sich zu Smoky : „Holt Arne von Manteuffel, Ase und den Wikinger her, Smoky. Beeilt euch! Ihr habt ja gehört, was passiert ist. Macht aber Ase noch nicht mit dem Wikinger bekannt, klar?“ „Alles klar, Sir.“ Smoky rauschte mit der Jolle ab. „Du bringst Ase schon ins Spiel, Sir?“ fragte Stenmark verhalten. „Ich muß es, Sten“, erwiderte Hasard. „Gotlinde ist entführt worden. Das geht in erste Linie den leiblichen Bruder an, nicht ihren zukünftigen Mann. Jetzt ist Ase der nähere Verwandte. Außerdem scheint der Thorgeyr-Hof mit im Spiel zu sein, auf den dieser Grettir erpicht ist. Da können wir Ase unmöglich ausklammern und weiter warten lassen. Die Situation ist zu ernst.“ „Du hast recht“, sagte Stenmark. „Hoffentlich gehen sich Ase und der Wikinger nicht gegenseitig an die Gurgel, denn für den Wikinger fängt jetzt das große Erwachen an.“ Nachdenklich sagte Hasard: „Vielleicht ist das sogar gut. Sie werden sich in einer gemeinsamen Aufgabe finden müssen, nämlich in der Aufgabe, Gotlinde und Gunnhild zu befreien. Ich glaube nicht, daß sie sich in die Haare geraten. Die Befreiung Gotlindes ist wichtiger.“ Indessen ging die Jolle bei der „Isabella“ längsseits, und Minuten später enterte Ase Thorgeyr ab. Smoky informierte ihn kurz,
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und zwar über Nils Larsen, der die norwegische Sprache etwas beherrschte. Dann wurde Arne von Manteuffel abgeholt - und zuletzt Thorfin Njal. Den hatten seine Mannen bereits gewahrschaut, daß da etwas im Busch sei. Dieses Mal zeigte er keine Schwerfälligkeit, als Smoky zu ihm hinaufrief, Kapitän Killigrew erwarte ihn auf dem Steg. Er enterte wie ein Affe an der Jakobsleiter ab. „Was ist los?“ fragte er Smoky. „Scheint so, daß Gotlinde und Gunnhild entführt worden sind“, erwiderte Smoky. Der Wikinger stieß einen ellenlangen Fluch aus und krachte auf die Achterducht, daß die Jolle vorn hochstieg. „Vorwärts!“ röhrte er. Sie stießen die Jolle ab und pullten wieder an. Thorfin Njal fand erst jetzt Zeit. die beiden Männer zu betrachten, die gleich ihm auf der Achterducht saßen. Der eine war einäugig und bediente die Pinne. Na ja, schien ein neuer Kerl von der „Isabella“ zu sein. Und der andere? Der Wikinger kriegte Stielaugen. Der Mann lächelte ihn freundlich an, und es war das Lächeln des Seewolfes - nur stand der Seewolf mit Stenmark auf dem Steg, hol's der Teufel. Der Wikinger drehte ein bißchen durch. „Was wird hier gespielt?“ knurrte er Smoky an. „Nichts wird gespielt“, knurrte Smoky zurück. „Gunnhild und Gotlinde sind entführt worden.“ „Von wem?“ „Das weiß ich doch nicht. Ich war nicht dabei, sapperlot!“ Smoky zog wütend den Riemen durch. „Denn wenn ich dabei gewesen wär, wär's nicht passiert.“ „Das ist es ja!“ brüllte der Wikinger Smoky an. „Wenn sie mich nicht weggeschickt hätte, wär's auch nicht passiert!“ „Das ist doch nicht meine Schuld!“ bölkte Smoky zurück. „Hab ich dich vielleicht weggeschickt, he?“ „Wo ist es passiert?“
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„Am Bach, wo immer die Wäsche gespült wird.“ „Und? Und?“ tobte der Wikinger. „Wer hat die Verfolgung aufgenommen?“ „Jetzt halt aber die Luft an!“ fauchte Smoky. „Wir haben's doch en erst erfahren, verdammt noch mal! Und hör auf, mich anzubrüllen, ich bin nicht schwerhörig!“ Aber der Wikinger, einmal in Fahrt - und auch in Sorge um seine :Gotlinde -, war nicht zu bremsen. „Schweinerei!“ schrie er. „Warum bin ich nicht als erster alarmiert worden? Könnt ihr nicht schneller pullen? Ihr schlaft ja ein!“ Smoky war drauf und dran, den Riemen aus der Rundsel zu reißen dem Wikinger um die Ohren zuschlagen. Zum Glück steuerte Ase Thorgeyr die Jolle in diesem Moment an den Steg. Die Riemen wurden eingenommen. Der Wikinger führte sich auf wie ein gereizter Bulle. Er stieg nicht auf den Steg, sondern sprang einfach auf der anderen Seite der Jolle ins Wasser, das ihm bis an die Hüften reichte, watete schnaubend und fluchend ah Land und stürmte zum Thorgeyr-Hof hoch. „Mir nach!“ brüllte er. „Hiergeblieben!“ donnerte Hasard hinter ihm her. Der Wikinger stoppte, wirbelte herum und brüllte: „Hast du hier das Kommando, Seewolf ?“ „Nein!“ schrie Hasard zurück. „Und du erst recht nicht, Thorfin Njal! Das Kommando hat Ase Thorgeyr, der Bruder Gotlinde Thorgeyrs! Wenn dir das nicht paßt, kannst du gleich zum Schwarzen Segler zurückschwimmen!“ Der Wikinger stand da und glotzte. Dann setzte er sich langsam in Bewegung zurück zum Steg, wo Ase Thorgeyr, der nach Arne von Manteuffel die Jolle verlassen hatte, gerade die Vorleine an einem Pfosten belegte und sich dann zu seiner vollen Größe aufrichtete. Winge und Snorre schrien auf, Sekunden später hingen die beiden alten Kerle dem Riesen am Hals und waren fast am Heulen.
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„Junge!“ quetschte Winge heraus. „Junge, bist du's wirklich?“ Ja, er war's, zwar einäugig, aber sonst in einem Stück - Ase Thorgeyr, der letzte männliche Sproß der Sippe, ein harter, wilder Kerl, der ausgezogen war, um gleich seinen Ahnen hinter die Horizonte zu schauen. Aber er hatte zurückgefunden. Für immer? Snorre schneuzte sich die Nase. „Ase!“ sagte er mit erstickter Stimme. „Du Himmelhund! Bleibst du jetzt bei uns?“ Ase Thorgeyr grinste ein bißchen. „Wollt ihr mich wieder los sein ?“ „Wo denkst du hin?“ sagte Snorre erschrocken. Der Wikinger stampfte heran, schnaufend, ächzend, völlige Ratlosigkeit im Gesicht. Aus den Riemensandalen, die er nach Wikingerart um die Waden gewickelt hatte, troff das Wasser. Er sah tatsächlich aus wie ein begossener Pudel. „Wie - was ...“ stotterte er, starrte zu Hasard, zu Ase Thorgeyr, zu Arne von Manteuffel. „Das ist Arne von Manteuffel“, sagte Hasard, „Sohn meines Vaterbruders aus Kolberg an der Ostsee. Er wird uns in die Karibik begleiten.“ „Ich - äh - hm ...“ Thorfin Njal kratzte sich am Kopf, zauste seinen Bart und räusperte sich die Kehle frei. Hasard ließ ihm keine Zeit, alle diese Neuigkeiten zu verdauen. Er setzte gleich nach und fragte: „Hast du dich entschieden, Thorfin Njal? Was ist mit dem Schwarzen Segler?“ Fast mechanisch sagte der Wikinger: „Ich verzichte auf ihn. Die Crew soll ihn zu Siri-Tong in die Karibik zurückbringen!“ Ja, zusammen mit dir und Gotlinde, dachte Hasard. Aber er atmete auf. Das war die Antwort, die er von Thorfin Njal erhofft und erwartet hatte, genau wie Gotlinde. Endlich war diese verdammte Angelegenheit aus dem Wege geräumt. Nur Gotlinde Thorgeyr fehlte. Im gewissen Sinne hatte sich die Sache nun wieder zugespitzt und verlangte neue Entscheidungen, die hier an Ort und Stelle
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getroffen werden mußten, wobei es selbstverständlich war, daß Ase Thorgeyr das Kommando übernahm. Bevor sich Hasard an ihn wenden konnte, drang klapperndes Hufgeräusch an seine Ohren. Auch die anderen hörten es und drehten sich um. Ein Kerl auf einem Pony ritt auf sie zu, ein schmieriger, buckliger Gnom, der wie ein Fabelwesen auf dem Tier hockte, breit grinste und dabei sein Gebiß zeigte schwarze Zahnstummel, die den Kerl noch übler aussehen ließen. „Das ist Gulle“, knurrte Winge, „einer der Knechte vom Grettir-Hof und eine genauso miese Ratte wie Björn Grettir selbst.“ Der Gnom namens Gulle zügelte das Pony, sein Grinsen verschwand, tückisch starrte er Winge an - die anderen Männer interessierten ihn nicht. „Ich soll dir was bestellen, Winge“, sagte er. „Von Björn Grettir, verstehst du?“ „Von wem sonst?“ sagte Winge verächtlich. „Du selbst hättest mir nichts zu bestellen, du Mistkäfer!“ „Dein großes Maul wird dir Björn Grettir schon noch stopfen!“ zischte der Gnom. „Dir - und dem da auch!“ Er deutete auf Snorre. „Und dann wird er euch vom Thorgeyr-Hof prügeln wie räudige Köter. Der Hof gehört ihm nämlich jetzt schon, damit du das weißt!“ „Wieso?“ schnappte Winge. „Weil er Gotlinde Thorgeyr in seiner Gewalt hat, du Dummkopf“, sagte der Gnom höhnisch, „darum! Ihr habt nichts mehr zu melden, verstanden? Und wer von euch das Maul aufreißt, kriegt es mit Björn Grettir zu tun. Ihr habt alle zu kuschen, sonst gibt's was mit der Peitsche, die Björn Grettir extra geflochten hat, um euch beizubringen, wer der neue Herr ist. Er wird so großzügig sein, euch als Sklaven zu behalten. Aber wenn ihr aufmuckt, baumelt ihr am Hoftor als Fraß für die Möwen.“ Der Gnom kicherte. Winge und Snorre waren drauf und dran, den Kerl vom Pony zu reißen. Auch der Wikinger sah aus, als würde er gleich explodieren. Nur Ase Thorgeyr blieb völlig ruhig.
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„Sonst noch was?“ fragte er. Gulle streifte ihn mit einem gleichgültigen Blick - er kannte den Riesen offenbar nicht - und sagte wieder zu Winge gewandt: „Der Fremde, der sich seit einigen Wochen auf dem Hof eingenistet hat, soll mit seinen Schiff wieder verschwinden, ebenso die beiden Schiffe, die gestern hier erschienen sind. Wenn aber die Befehle Björn Grettirs mißachtet werden, wird er der schönen Gotlinde die Kehle durchschneiden, aber vorher noch mit ihr seinen Spaß haben.“ Der Gnom grinste und zeigte seine schadhaften Zähne. „Mir dürft ihr auch nichts tun, sonst geht's Gotlinde an den Kragen. Das gilt auch für den Fall, daß ihr denkt, ihr könntet Gotlinde befreien - krggs!“ Er säbelte sich mit der Handkante über die Gurgel. „Und schon ist sie hin, die Schöne, Stolze! Aber es gibt ja genug Weiber hier. Die Gunnhild haben wir auch, das leckere Täubchen. An den Weibern werden wir alle viel Spaß haben, das hat uns Björn Grettir schon versprochen ...“ „Ist das alles?“ knurrte Winge. „Du stinkst nämlich wie ein vergammelter Fisch, Gulle Gullson!“ Der Gnom fluchte unflätig und funkelte Winge wütend an. „Das sag ich alles Björn Grettir!“ Zeterte er. „Damit er dir gleich ordentlich das Fell gerbt, wenn wir den Hof übernehmen. Die drei Schiffe sollen bis heute abend aus dem Isa-Fjord verschwunden sein. Und bildet euch bloß nicht ein, ihr könntet den Grettir-Hof überfallen. Dort ist Gotlinde nicht. Björn Grettir hat sie in ein Versteck gebracht. Das findet ihr nie, ihr Tölpel, und wenn ihr die ganze Insel auf den Kopf stellt. Hast du das alles verstanden, du blöder Hund?“ „Hau ab, du Stinktier!“ fauchte Winge. „Wenn Gotlinde oder Gunnhild auch nur ein Härchen gekrümmt wird, erlebt ihr die Hölle, ihr Mistkerle, allen voran die Ratte Grettir. Und wenn es das letzte ist, was ich tue. Sag ihm das!“ „Alles sag ich ihm, alles!“ kreischte der Gnom. „Auch daß du Björn Grettir eine Ratte genannt hast!“ Er riß sein Pony herum und galoppierte davon.
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„Dieser Giftzwerg!“ tobte Thorfin Njal und wollte dem Gnom nachstürmen. Hasard hielt ihn fest. „Du hast nicht aufgepaßt, Thorfin sagte er scharf. „Als dieser Gulle von dem Versteck sprach, das niemand finden würde, hat Ase Thorgeyr verächtlich gelächelt. Also scheint er darüber etwas zu wissen.“ Hasard schaute den Riesen an. „Stimmt's, Ase?“ 8. Ase Thorgeyr nickte nachdenklich. „Ja, stimmt. Als der Kerl von dem Versteck sprach, fiel mir etwas ein. Das, woran ich denke, liegt lange zurück. Björn Grettir und wir Söhne vom Thorgeyr-Hof waren noch Jungen. Winge und Snorre werden sich erinnern. Damals wurden ständig Schafe aus unseren Herden gestohlen. Wir hatten die Grettirs in Verdacht, konnten sie aber nie erwischen oder ihnen den Diebstahl beweisen. Eines Tages waren wieder fünf Schafe verschwunden. Meine beiden Brüder und ich suchten die Weiden dieser Herde in den Bergen ab, und wir entdeckten ein paar Spuren, die der Schafdieb hinterlassen und vergessen hatte, zu verwischen. Wir verfolgten sie mit den Hunden und brauchten fast einen ganzen Tag, weil die fünf Schafe sehr häufig in den Bächen weitergetrieben worden waren. Gegen Abend hatten wir die Spuren wieder verloren und wollten aufgeben. Wir standen an einem Wasserfall. Trotz des Rauschens hörten wir ganz schwach das Blöken eines Schafes - direkt hinter dem Wasserfall. Wir sprangen hindurch und stießen auf eine Höhle. Dort fanden wir unsere fünf Schafe und erwischten Björn Grettir. Wir prügelten ihn halbtot und hätten ihn wohl auch umgebracht, aber er winselte um Gnade und versprach uns, nie wieder Schafe zu stehlen. Tatsächlich hörten die Schafdiebstähle dann auf.“ Winge und Snorre nickten. Winge sagte: „Ihr habt aber nie darüber gesprochen. Warum?“ Ase Thorgeyr lächelte schwach. „Vor dem Thing wäre er als Schafdieb zum Tode
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verurteilt worden -zumindest hätte man ihn geächtet und in die Odádahraun gejagt, in die Wüste der Missetäter und Gesetzlosen wie Grettir, von dem ihre Sippe abstammt. Wir hatten ihn durchgeprügelt und hielten die Sache damit für erledigt. Außerdem glaubten wir an sein Versprechen, wie Jungen eben an so etwas glauben.“ „Scheiße“, sagte Winge und spuckte seitlich ins Wasser, das sanft an den Steg gluckerte. „Ein feines Versprechen! Heute morgen hat er deine Schwester entführt – wie er seinerzeit die Schafe geklaut hat. Diese Grettir-Bastarde können nicht aus ihrer Haut, die müssen stehlen! Als Knirpse waren's Schafe oder Hühner, jetzt holen sie sich Frauen, wie's ihnen gerade paßt. Du hast ja gehört, was dieser stinkende Gulle Gullson gesagt hat.“ „Jawohl!“ knurrte Snorre. „Die muß man totschlagen, diese Grettir-Böcke! Das hätten wir damals wissen sollen. Dann wäre das heute nicht passiert!“ Ase Thorgeyr blieb gelassen. Er sagte: „Björn Grettir hat einen Fehler begangen. Meine beiden Brüder sind tot, das weiß er. Daß ich aber lebe, weiß er nicht. Er hat gedacht, jetzt kenne niemand mehr von uns das Versteck, das ihr tatsächlich nie gefunden hättet, auch wenn ihr die Insel auf den Kopf stellen würdet, wie Gulle Gullson gesagt hat. Wer ahnt schon, daß sich hinter einem Wasserfall eine tiefe Höhle verbirgt! Aber gerade darum bin ich mir fast sicher, daß er Gotlinde dort versteckt hat. Gunnhild wird auch dort sein. Ich werde sie befreien, sehr einfach.“ Er wechselte den Blick zu Stenmark, der alles bisher mitübersetzt hatte. „Du hast einen guten Kapitän“, sagte er. „Und ich möchte, daß er mich mit dir auf diesem Weg begleitet. Fragst du ihn?“ Stenmark tat es, und Hasard nickte. „Selbstverständlich“, sagte er. Ase Thorgeyr bedankte sich, war aber noch nicht zufrieden und sagte zu Stenmark: „Euer Bordhund hat eine gute Nase bewiesen, als er mich in der Jolle fand. Darf er uns auch begleiten - mit den beiden Jungen des Kapitäns?“
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Stenmark kannte seinen Kapitän und konnte sich im ersten Moment ein Lächeln nicht verkneifen, als er diese Frage des Riesen hörte. Na, die ganze Crew der „Isabella“ kannte das Problem, das schlicht darauf beruhte, daß Philip Hasard Killigrew ständig versuchte, seine beiden Söhne davor zu bewahren, sich in Gefahr zu begehen. Dabei hatten diese beiden kleinen Kerle stets ein besonderes Geschick entwickelt, solchen Gefahren zu entgehen oder mit der ihr eigenen Schlitzohrigkeit und Frechheit zu begegnen - und diese Gefahren zu bewältigen. Nur Vater Hasard kriegte nicht so richtig mit, daß seine beiden Sprößlinge bereits wieder ein Stückchen älter, reifer und noch gewitzter geworden waren und durchaus dem begegnen konnten, was er für gefährlich hielt. Darum fragte Stenmark vorsichtig: „Muß das sein mit Plymmie und den beiden Jungen?“ „Warum nicht?“ fragte der Riese erstaunt. „Als meine Brüder und ich damals den Schafdieb verfolgten, waren wir nicht älter als' die beiden Jungen. Und wir wußten nicht, daß dieser Dieb kein erwachsener Mann war. Und wäre er es gewesen, hätten wir ihn auch gestellt und verprügelt. Na gut, aber der Hund gehört zu diesen beiden Jungen, nicht wahr? Und er ist ein guter Spürhund, also wäre ich froh, wenn er dabei sein könnte. Er - und die beiden, die ihn erziehen, versorgen und seine Freunde sind. Sag das dem Kapitän, wenn er Bedenken haben sollte.“ „In Ordnung, Ase.“ Stenmark räusperte sich und berichtete seinem Kapitän von dem Wunsch Ases. „Was?“ schnappte Hasard. „Die beiden auch? Und wenn Kugeln fliegen?“ „Erstens“, sagte Stenmark, „trifft nicht jede Kugel, wie du weißt, Sir. Und zweitens können wir die beiden Kerlchen ja vor dem Wasserfall bereits in Deckung gehen lassen. Und drittens haben die drei Thorgeyr-Söhne damals einen Schafdieb verfolgt, von dem sie keineswegs wussten, daß er wie sie ein Junge war. Was hätte
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deren Vater gesagt? Gesorgt hätte er sich auch, genau wie du es jetzt tust. Aber er hätte gesagt: Verdammt noch mal, es geht um unsere Schafe! Seht zu, daß ihr die wieder herbringt, und es interessiert mich ich einen Dreck, wie ihr das schafft! Jetzt aber, Sir, sind zwei Frauen entführt worden und befinden sich in der Gewalt eines Kerls, den Winge als Ratte bezeichnete. Sollen da deine beiden Söhne vielleicht in die Ecke gestellt werden, damit sie nicht mitkriegen, daß es Mistkerle wie diesen Grettir gibt? Nein, sie sollen es erfahren, damit sie begreifen, daß diese Welt kein Schlaraffenland ist, in der sie vor sich hin träumen können.“ Stenmark redete sich in Rage und fügte hinzu: „Viertens, Sir, bin ich mit dabei und verspreche¬ dir, auf die beiden aufzupassen. Und ich schätze, daß du dich auf mich verlassen kannst!“ „Schon kapiert, Sten!“ Hasard sandte den Kopf und rief: „Smoky! Pullt zur ‚Isabella' und holt Plymmie sowie die beiden Jungen. Sag Ben, die Crew soll sich in Gefechtsbereitschaft halten. Informier ihn kurz, was bisher passiert ist. Er soll auch Thorfin Njals und Arnes Männern Bescheid geben!“ „Aye, aye, Sir!“ rief Smoky und hatte längst vergessen, daß er dem Wikinger den Riemen hatte um die Ohren hauen wollen. Aber er hatte nicht vergessen, daß es bei der Entführung Gotlindes auch um Gunnhild ging, die bei ihm einiges in Flammen gesetzt hatte. Und darum fügte er hinzu: „Sir, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Vielleicht sollte ich euch begleiten, wenn ihr zu Wasserfall aufbrecht?“ „Zu viele Köche verderben den Brei!“ rief Hasard zurück und hatte Lachfältchen in den Augenwinkeln. „Natürlich werde ich mich um Gunnhild kümmern, wenn das deine Sorge ist!“ Daß dich der Teufel hole, Sir! dachte Smoky erbittert und brüllte die Jollencrew an, gefälligst nicht so dämlich zu grinsen, sondern – hopp-hopp! - die Riemen zu bewegen und die Scheißjolle in Bewegung zu setzen.
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„Meint ihr“, schrie er, „ich möchte an diesem verdammten Steg Wurzeln schlagen?“ Sam Roskill grinste ihn an. „Hier nicht, aber vielleicht woanders, eh? Ist Gunnhildchen eigentlich hübsch?“ „Das geht dich einen Dreck an, Mister Roskill!“ fauchte Smoky. „Holt durch die Riemen, ihr faulen Säcke!“ Die Jolle entfernte sich. Und schon tobte der Wikinger wieder los und erklärte, daß es seine Pflicht sei, Gotlinde und Gunnhild zu befreien und den Grettir-Bastarden was aufs Haupt zu schlagen. Folglich werde er den Trupp zu dem Wasserfall begleiten, das sei ja wohl selbstverständlich. Bevor Hasard etwas darauf erwidern konnte, sagte Ase Thorgeyr ruhig: „Du bist mir zu unbeherrscht, Thorfin Njal, und du bist mir zu laut. Das sind keine guten Eigenschaften, wenn man jemanden befreien will, vor allem dann nicht, wenn der Gegner ein listiger Fuchs ist. Genau das ist Björn Grettir. Gestern hattest du ihn zum Zweikampf aufgefordert. Das war dumm von dir. Einen Björn Grettir muß man stellen, nicht auffordern. Dein Angriff mit den Wurfbomben war zwar gut, hat aber nicht Björn Grettir getroffen. Er blieb am Leben und konnte die beiden Frauen rauben. Du solltest lernen, einem Gegner nicht nur mit Kraft und Ungestüm zu begegnen. Vielleicht hast du bisher damit immer Erfolg gehabt, aber hier versagt deine Methode, weil die Grettirs aus dem Hinterhalt zuschlagen und den offenen Kampf nur annehmen, wenn sie in der Überzahl oder im Vorteil sind.“ Das trug der Riese alles sehr gelassen und ohne Schärfe vor und nahm damit dem Tadel, den er aussprach, die Spitze. Thorfin Njal hörte zu und kaute verbissen auf seiner Unterlippe. Da hatte er allerlei zu schlucken, weiß Gott, und Hasard rechnete damit, daß gleich der ganz große Krach beginnen würde. Er blieb aus. Denn Ase Thorgeyr sagte lächelnd: „Ich brauche dich für eine andere Aufgabe, Thorfin Njal, und da hast du ja schon
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gezeigt, daß man dir nicht auf der Nase herumtanzen kann. Ich möchte dich bitten, den Hof abzuschirmen, wenn wir weg sind. Es könnte sein, daß Björn Grettir plant, den Hof zu besetzen - auch wenn die drei Schiffe noch im Fjord liegen sollten. Wir müssen jedenfalls mit einer solchen Aktion rechnen und dementsprechend vorbeugen. Ich stelle mir vor, daß vielleicht einige deiner Männer oder Freiwillige von Kapitän Killigrew und Kapitän von Manteuffel bereits im Umkreis vor dem Hof Posten beziehen und niemanden heranlassen. Winge und Snorre könnten die Männer einweisen, denn sie kennen die Stellen, von denen aus der Hof gut abzusichern ist. Darf ich dir diese Aufgabe anvertrauen, Thorfin Njal?“ Donnerwetter! dachte Hasard erstaunt. Da entpuppt sich dieser Ase Thorgeyr auch noch als ein Mann mit diplomatischem Geschick! Denn Thorfin Njal sagte begeistert zu, und seine Verbissenheit war im Nu verflogen. Da hatte also Ase seinem zukünftigen Schwager geschickt eine Brücke gebaut und trotz seiner vorherigen Kritik zu erkennen gegeben, daß er bereit sei, dem Wikinger zu vertrauen. Gut so, dachte Hasard. Wenn wir jetzt auch noch die beiden Frauen aus der Gewalt des Björn Grettir befreien, dann dürfte die Zukunft schon rosiger aussehen. Da würde dann alles von Gotlinde Thorgeyr abhängen - was den Wikinger betraf. Denn jetzt war sie ihrer Sorge enthoben, den Thorgeyr-Besitz aufgeben zu müssen, wenn sie den Wikinger in die Karibik begleitete. Ase Thorgeyr war zurückgekehrt und würde den Hof übernehmen. Diese Überraschung stand Gotlinde noch bevor. * Sie hatten Plymmie. die junge Wolfshündin, an einer Wolljacke Gotlinde Thorgeyrs schnüffeln lassen und die Wolljacke auch mitgenommen. Bereits bei der Waschstelle an dem Bach knappe fünf Gehminuten südlich des
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Thorgeyr-Hofes - stellte sich heraus, daß Björn Grettir wieder seine alten Tricks benutzt hatte. Plymmie, die Nase am Boden. schnürte bachaufwärts, kehrte jedoch nach etwa hundert Yards wieder zurück, wechselte durch den Bach und nahm sich die andere Seite vor. Hasard und Philip junior folgten ihr mit der Wolljacke. Ase, Hasard und Stenmark blieben jenseits des Baches mit ihnen auf gleicher Höhe. Nach rund siebzig Yards hatte Plymmie Erfolg. Bis dort hin waren die Kerle mit ihrer Beute den Bach hochgewatet, hatten ihn dort verlassen und waren ohne sichtbare Spuren weitergezogen, denn von dieser Stelle an trat nackter Fels zutage. auf dem die Abdrücke menschlicher Füße nicht mehr zu sehen waren. Aber Plymmie konnte ja mit ihrer Nase „sehen'', und sie hatte eine ausgezeichnete Nase. Außerdem war die Hundelady ausgesprochen intelligent, aber auch konzentriert, denn sie ließ sich von ihrer Aufgabe auch nicht ablenken, als sie eine Maus aufstöberte, die erschreckt und fiepend davonsauste. Ase Thorgeyr nickte anerkennend. Diese junge Hündin zeigte eine beachtliche Disziplin, eine Eigenschaft, die man nicht hoch genug bewerten konnte. Sein Entschluß, Plymmie mitzunehmen, war spontan gewesen. Es konnte ja durchaus sein, daß Björn Grettir in all den Jahren ein neues, ebenso sicheres Versteck wie das alte entdeckt und dort die beiden Frauen hingebracht hatte. Darum war es gut, einen Hund mit einer feinen Spürnase dabei zu haben. In spätestens einer halben Stunde würde sich herausstellen, ob Björn Grettir die alte Höhle gewählt hatte, denn da würde Plymmie nach Südwesten abbiegen müssen - wieder hinüber über den Bach, den sie an dieser Stelle endgültig verlassen würden. Plymmie blieb unbeirrbar auf der unsichtbaren Fährte, die am linken Bachufer entlangführte - bis auf extreme Windungen, die von den Frauenräubern abgekürzt worden waren. Ständig ging es
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bergan. Sie durchquerten Steinbrüche, überstiegen Terrassen oder kletterten durch ein Geröllfeld. Hasard, Stenmark und Ase hatten Musketen mitgenommen, die schußbereit waren. In ihren Gurten steckten Pistolen. Auf Blankwaffen - außer Messern - hatten sie verzichtet. Sie waren zu unbequem und hinderlich bei der Kletterei in die felsige Bergwildnis. Wie Ase Thorgeyr vorausgesehen hatte, stoppte Plymmie an jener Stelle, wo es am Bach direkt nicht mehr weiterging - es sei denn hart nach links, also nach Osten, oder nach rechts über den Bach weg nach Südwesten. Ein etwa drei Yards hoher Wasserfall rauschte an dieser Stelle an den Steilfelsen nach unten und versperre samt der Felswand den weiteren Anstieg. Im Bachbrett unterhalb des Wasserfalls lagen verstreut rund- oder plattgeschliffene Basaltbrocken, über die man zur rechten Bachseite überwechseln konnte. Ase Thorgeyr blieb abwartend stehen und blickte zur anderen Seite hinüber, wo Plymmie herumschnüffelte, nach links abbog, wieder zurückkehrte und hart am Bach abstoppte. Sie schaute auf, äußerte sich mit einem leisen „Wuff!“ - und sprang auf eine Basaltplatte im Bach. Von dort setzte sie gleich weiter über und landete Sekunden später auf der rechten Bachseite, wo sie sich schwanzwedelnd zu den Zwillingen umdrehte, ein weiteres „Wuff!“ von sich gab und damit andeutete, man möge ihr getrost folgen. Und schon schnüffelte sie wieder den Boden ab, entdeckte, was sie suchte -und wandte sich nach Südwesten! „Jetzt bin ich mir sicher“, sagte Ase Thorgeyr. „Grettir hat Gotlinde und Gunnhild in die Höhle gebracht, von der ich gesprochen habe. Das steht jetzt fest. Die Höhle liegt von hier aus gesehen in südwestlicher Richtung.“ „Noch weit?“ fragte Hasard. „Eine gute halbe Stunde“, erwiderte Ase Thorgeyr. „Plymmie und die Jungen sollten jetzt hinter uns bleiben. Ich kenne ja den Weg.“
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Hasard nickte erleichtert und sah zu, wie seine beiden Söhne leichtfüßig über den Bach sprangen. Plymmie hatte inzwischen gestoppt, saß auf den Hinterpfoten und schien sich zu fragen, warum es nicht weiterginge. Mit spitz aufgerichteten Ohren schaute sie aufmerksam zurück und hechelte ein bißchen. „Was ist los, Dad?“ fragte Philip junior. „Plymmie hat doch die Spur, oder?“ „Hat sie“, sagte Vater Hasard. „Ase weiß jetzt, daß wir auf dem richtigen Weg sind und wird uns führen. Ruft Plymmie zurück, ihr bleibt jetzt hinter uns. In einer guten halben Stunde sind wir am Ziel. Von nun an wird nicht mehr gequasselt, dafür aber umso mehr aufgepaßt. Wenn ich euch zuwinke, geht ihr in Deckung. Alles klar?“ „Alles klar!“ Philip pfiff leise. Plymmie sprang auf und trottete zu ihm. „Braver Hund“, sagte Philip und streichelte Plymmie. „Du bleibst jetzt bei Fuß, verstanden, meine Alte?“ Die „Alte“ hob die rechte Pfote und ließ sie sich schütteln. Offenbar sollte das ihr Einverständnis ausdrücken. Vater Hasard stellte mal wieder fest, daß er von den Erziehungsmethoden seiner Herren Söhne gegenüber Plymmie herzlich wenig wußte. Warum Philip die Lady „meine Alte“ nannte, war ihm ebenfalls unerfindlich, so alt war sie ja weiß Gott nicht, die junge Miß, die sie seit ihrer Liegezeit im Hafen von Abo an Bord hatten. Ase Thorgeyr nickte den beiden Jungen lächelnd zu und setzte sich in Marsch. Hasard folgte ihm, dann Stenmark und hinter ihm die beiden Jungen und Plymmie, die sie zwischen sich genommen hatten. Der Anstieg wurde jetzt steiler, wobei sie teilweise an den Geröllhängen traversieren mußten. Ase Thorgeyr bewegte sich behende und dennoch vorsichtig, um keine Steine ins Rollen zu bringen. Immer wieder verhielt er und lauschte, wobei gleichzeitig sein eines Auge aufmerksam den weiteren Anstieg absuchte. Einmal sahen sie weit unter sich den Fjord liegen. Die drei Schiffe dort wirkten wie
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Spielzeuge. Von hier aus würde auch Björn Grettir beobachten können, ob die drei Schiffe den Fjord verlassen hatten, wie das von ihm verlangt worden war. Nach Ase Thorgeyrs Meinung hätte hier ein Posten stehen müssen mit dem Auftrag, den Fjord zu beobachten und Björn Grettir zu melden, wenn sich etwas mit den Schiffen tat. Ase hatte sich daher besonders vorsichtig zu dieser Stelle hochgepirscht und eine Weile gelauert, ob sich dort etwas rührte. Aber der Platz war leer gewesen. Björn Grettir mußte sich seiner Sache sehr sicher sein, allzu sicher. Es ging jetzt auf den Mittag zu. Ein selten blauer Himmel spannte sich über Island. In dieser Höhe von über fünfhundert Yards lagen an den Nordhängen noch ziemliche Schneemassen, die erst langsam wegtauten. Die Sicht ringsum war gestochen scharf. Ase verließ nun die bisher eingehaltene Südwestrichtung und bog nach Westen ab. Flüsternd erklärte er Stenmark, der zu Hasard aufgerückt war, daß er einen Weg kenne, der nicht direkt auf den Wasserfall zuführe, wo er einen Posten vermute, sondern von der Westseite dort einmünde. Man könne sich durch eine Schlucht anpirschen, die vom Wasserfall aus kaum einzusehen wäre. Geröllbrocken in der Schlucht würden auch gute Deckungsmöglichkeiten bieten. Knapp zehn Minuten später hörten sie bereits das Rauschen des Wasserfalls und brauchten sich nicht mehr lautlos zu bewegen. Es klang wie das ständige Branden der See, die gegen eine Steilküste unablässig anrennt. Sie erreichten die Schlucht, von der Ase gesprochen hatte. Der Boden war schlüpfrig. Von den Schluchtwänden links und rechts tropfte Wasser, da und dort in den Spalten hingen Eiszapfen. Eine empfindliche Kühle herrschte hier. Einen völligen Durchblick gewährte die Schlucht nicht. Sie bog nach Süden ab, dann wieder nach Osten. Erst dort an einer Felsecke verhielt Ase Thorgeyr und spähte voraus. Dann winkte er Hasard und
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Stenmark zu und grinste dabei. Sie schlossen zu ihm auf. Da sahen sie es auch - den Talkessel mit den zerklüfteten Felsen ringsum. Nur an der Südseite, auf welche die Schlucht zuführte, stieg steil und fast glatt im Gestein der Felsen in den Himmel. Und von dort oben schoß das Wasser hinunter, prallte unten in eine Art Wanne und floß als schäumender Bach durch eine¬ Rinne nach Norden in das Tal. Seitlich des Wasserfalls, der an die zwanzig Yards hoch sein mochte, saß mit dem Rücken zu ihnen ein Kerl auf einem Stein. Wie es den Anschein hatte, schlief der Kerl. Jedenfalls hatte er den Kopf gesenkt, und es war unwahrscheinlich, daß er sich in dieser Haltung der Betrachtung seiner Stiefel hingab - solange stierte man nicht nach unten. Und so interessant waren die Stiefel auch nicht. „Ich übernehme ihn“, sagte Ase Thorgeyr. Hasard nickte. „Und dann?“ „Sten wird ihn fesseln“, erwiderte Ase. Sein linkes Auge funkelte Hasard unternehmungslustig an. „Und wir beiden dringen seitlich durch den Wasserfall in die Höhle ein. Das wird eine nasse und glitschige Kletterpartie, weil die Höhle etwa vier Yards über dem Boden liegt. Man muß da auf einem Sims entlang balancieren. Wenn man abrutscht, saust man in die Wanne hinunter und kann sich das Genick brechen. Der Einstieg von der anderen Seite ist besser und leichter, aber auch dort könnte ein Posten sein - oder jemand verläßt gerade die Höhle, und der nimmt natürlich die leichtere Seite. Und von unserer Seite wird keiner einen Besuch erwarten, deswegen neigen wir von hier ein.“ „Einverstanden“, sagte Hasard. „Sten bleibt also zur Sicherung außerhalb des Wasserfalls. Was soll er tun, wenn einer flieht?“ „Laufenlassen“, sagte Ase Thorgeyr lakonisch, „natürlich mit Ausnahme Björn Grettirs. Der darf nicht entwischen,“ „Was hast du mit ihm vor, Ase?“ fragte Hasard. „Wenn er sich ergibt, schleppe ich
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vor den Thing und klage ihn wegen Frauenraubs an“, sagte Ase Thorgeyr. „Und wenn er sich nicht ergibt?“ „Weiß ich nicht“, sagte Ase grimmig. „Das hängt dann vom Kampf ab. Hast du Einwände, Kapitän Killigrew?“ „Nein.“ Hasard drehte sich zu seinen beiden Söhnen um. „Ihr bleibt hier und seid unsere Reserve, das heißt, ihr habt Sten zu decken, falls er in Bedrängnis gerät. Solltet ihr ihm nicht mehr helfen können, saust ihr ab hinunter zum Thorgeyr-Hof und alarmiert den Wikinger. Hier habt ihr meine Muskete und die Pistole. Die andere behalte ich. Alles klar?“ „Aye, aye, Sir.“ Sie nahmen die Waffen entgegen und sahen trotzig und entschlossen aus. Die drei Männer huschten los, immer bemüht, hinter den Felsbrocken Deckung zu haben. Der Mann auf dem Stein hatte sich nicht gerührt und blieb weiter in den Anblick seiner Stiefel versunken. Es ging fast zu leicht. Stenmark und Hasard blieben etwas zurück. Ase Thorgeyr erreichte den Kerl, spähte kurz zum Wasserfall, packte dann seine Pistole am Lauf und schlug dem Mann den Griff an den Kopf. Den zusammensackenden Kerl hievte er am Kragen wieder hoch und trug ihn mit drei langen Sprüngen hinter den Felsen, wo Stenmark lauerte. Eine Minute später war der Kerl gefesselt. Stenmark benutzte dessen Gürtel und den schmierigen Wollschal, den der Mann um den Hals getragen hatte. Ase ließ seine Muskete bei Stenmark zurück, nickte Hasard zu und lief los, jetzt dicht an der südlichen Felswand entlang. Hasard folgte ihm und entdeckte erst jetzt, aus dieser Sicht, daß sich beim Wasserfall der obere Teil der Felswand über den unteren Teil vorneigte - Folge des vielleicht seit Jahrtausenden niederstürzenden Wassers, das den Felsen mehr und mehr wegpoliert hatte, bis der obere Teil den unteren wie ein Dach überragte.
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Hier war der Spruch sinnbildlich geworden, der Hasard in diesem Moment einfiel: Steter Tropfen höhlt den Stein. Das betraf auch die Wanne vor dem Südfelsen, wie Hasard jetzt sah. Ein fast halbkreisförmiger kristallklarer Teich hatte sich dort gebildet - kristallklar natürlich nur ringsum außen. Zur Mitte hin brodelte und kochte das Wasser. Lange Schatten zuckten dort hin und her. Hasard riß die Augen auf. Lachse! Und was für welche! Er mußte sich von diesem Bild losreißen. Ase klomm zu dem Sims hoch, der sich wie eine langgezogene Treppenstufe zum Wasserfall hinzog. Offenbar war dort eine härtere Gesteinsschicht, die bisher der ständigen Abtragung getrotzt hatte. Denn unter dem Sims war das Gestein wieder ausgehöhlt. Hoffentlich hält die Treppenstufe, dachte Hasard, als er sich zu dem Sims hochzog und Ase folgte, der sich bereits eng an den Felsen gepreßt weitertastete, den Bauch dem Felsen zugekehrt, die Hände erhoben, um griffige Stellen zum Festhalten zu finden. Hasard tat es ihm nach. Gischt wehte heran, dann feine Wasserschleier, von denen er übersprüht wurde. Ase Thorgeyr triefte bereits. Sein Haar war klitschnaß, Wasser lief an ihm hinunter. Er wandte Hasard den Kopf zu und grinste. Die Dusche, eiskalt, schien ihm zu behagen. Vielleicht dachte er an den Tag damals, als er mit seinen Brüdern durch diesen Wasservorhang in die Höhle eingedrungen war. Na ja, dachte Hasard, wenn's ein bißchen wärmer wäre, hätte ich nichts dagegen. Außerdem wurden die Pistolen unbrauchbar. Bei der feuchten Dusche, der sie mehr und mehr ausgesetzt waren, spielte sich mit den Schußwaffen nichts mehr ab. Die hätte man vorher in Öllappen wickeln müssen, verdammt noch mal. Daran hätte dieser Riese denken können! Hasard fluchte vor sich hin, das hörte hier sowieso niemand. Dieser Wasserfall war ohrenbetäubend. Zur Verständigung hätte
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man sich gegenseitig was in die Ohren brüllen müssen. Das eiskalte Wasser lief Hasard oben in den Kragen, von dort ins Hemd und in die Hose. Ein Genuß war das nicht, denn bald würde es in den Stiefeln stehen. Eiswasser in den Stiefeln! Das war so etwas, was Hasard ganz besonders liebte. Da konnte man so richtig fröhlich werden, Himmel, Arsch und Wasserfall! Und plötzlich wurde es trockener. Ganz trocken nicht, aber immerhin, das eiskalte Übersprühen des Genicks hörte auf. Merkwürdigerweise klang jetzt auch das Geräusch des niederstürzenden Wassers gedämpfter. Ja, hier beschrieb der Sims einen Bogen nach innen und entfernte sich von dem Sprühregen und dem Wasserfall. Leider wurde er auch schmäler, nicht mehr fußbreit, man mußte die Füße ausscheren und in dieser Stellung weiterwatscheln, Schritt um Schritt, wobei das längst keine Schritte mehr waren, sondern ein seitliches Weiterrutschen. Und da öffnete sich die Höhle. Hasard sah, wie Ase nach links sprang, um ihm Platz zu machen. Gleichzeitig lauerte Ase in geduckter Haltung in die Höhle. Hasard setzte neben ihm auf, wischte sich über das triefende Gesicht und erstarrte. Ganz hinten in der Höhle lehnten Gotlinde und Gunnhild halbnackt an der feuchten Felswand. Vor ihnen stand ein Kerl, ein Bulle mit einem dementsprechenden Nacken, breiten Schultern und kurzen Beinen. In der Rechten schwang er eine Peitsche. Wiederum hinter ihm hockten zwei Kerle auf kurzen Baumstumpen und sahen zu. Sie schienen viel Spaß zu haben, weil sie sich auf die Schenkel klatschten und die Köpfe hochwarfen wie Leute, die vor Lachen bersten. Hasard reagierte schneller als Ase Thorgeyr. Als er sah, daß Gunnhild aufschrie, weil sie die beiden Gestalten vorn in der Höhle entdeckt hatte, sprang er mit drei langen Sätzen vor, griff nach links und rechts in die Haare der beiden Kerle und donnerte deren Schädel gegeneinander.
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In diesem Augenblick wirbelte der Bulle herum. Das Grinsen in seinem wüsten Gesicht verlosch wie eine Kerzenflamme. jähe Wut flammte in der Visage auf - und schon zischte die Peitsche über Hasard weg, der sich gedankenschnell abgeduckt hatte. Gleichzeitig warf er sich vor, prallte auf den Bauch und riß einen Schemel um. Als er hochschnellte, raste der Bulle an ihm vorbei, stolperte über den Schemel und rannte gegen Ase Thorgeyr, der ihm die Faust in die Magengrube hämmerte. Für einen Moment herrschte ein totales Durcheinander, denn einer der beiden Kerle, deren Schädel Hasard gegeneinander geschlagen hatte, fuhr hoch und geriet zwischen Ase und den Bullen, der Björn Grettir sein mußte. Er empfing einen Fausthieb – von wem, das konnte Hasard nicht erkennen - und sackte seitlich weg. Gleichzeitig aber flog Björn Grettir durch die Höhle - Richtung Waserfall. Ihn mußte ein Tritt Ase Thorgeyrs erwischt haben. Der gellende Schrei Björn Grettirs war nicht zu überhören. Er raste wie ein Geschoß durch den Wasservorhang. Dann war er weg. Ase Thorgeyr fegte nach rechts aus der Höhle. Der zweite Kerl, der soviel Spaß gehabt hatte, schnellte hoch und sprang Hasard an. Sekunden später mochte er gegen die Wand der Höhle und rutschte mit glasigen Augen in sich zusammen, am Kinn getroffen von Hasards rechter Faust. Das war also geschafft. Hasard drehte sich aufatmend zu den beiden Frauen um. Aber da lief Gotlinde bereits an ihm vorbei und nahm den Weg nach rechts aus der Höhle, den auch Ase Thorgeyr gewählt hatte. Gunnhild warf sich eine Decke über den nackten Oberkörper, bibberte und sank an Hasards Brust. Hasard dachte an Smoky und klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. Die beiden Kerle rührten sich nicht mehr. An ihnen vorbei führte er Gunnhild aus der Höhle. Der Weg rechts war ein Kinderspiel
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gegen den Einstieg von links. Fast trocken gelangten sie nach draußen. Dort hing Gotlinde schluchzend am Hals des Riesen, der ihr Bruder war. Stenmark war dabei, einen leblosen Körper am Rand der Wanne aus dem Wasser zu fischen. Als er ihn über den Rand zog, sah Hasard, daß der Kopf des Mannes zur Seite rutschte, als fehle ihm der Halt. Björn Grettir hatte sich das Genick gebrochen. Von der Schlucht stürmten die beiden Jungen heran, Plymmie vornweg. Ja, es war geschafft... * Hasard wurde Trauzeuge. Das war am nächsten Tag - dem 27. April 1593. Da platzte der Thorgeyr-Hof aus allen Fugen, denn nicht nur die Mannen der drei Schiffe feierten diesen Tag, sondern auch die Nachbarn strömten zusammen, jene, die aufatmeten, daß Björn Grettir, der ärgste Wüterich in diesem Teil des Landes, den Weg in die Hölle angetreten hatte. Außerdem wollten sie den zurückgekehrten Ase Thorgeyr sehen. Es wurde ein Fest, von dem die Enkel noch sprechen würden. Im Hof der Thorgeyrs waren Feuer entzündet worden, über denen sich Spießbraten drehten. Bierfässer wurden angezapft. Snorre hatte seinen Geiz vergessen und schleppte seine Kruken mit dem „Schwarzen Tod“ an, die reihum gingen. Ase Thorgeyr übernahm als neuer Herr des Thorgeyr-Hofes die Zeremonie der Trauung und gab seine Schwester Gotlinde in die Hand Thorfin Njals. Musikanten spielten auf. Das Lachen und Singen der Gäste dröhnte über den Fjord und das war eine andere Musik als die Musketenschüsse. Ja, Gotlinde würde an der Seite des Wikingers mit in die Karibik segeln. Alles hatte sich zum Guten gewendet. Thule würde ein Traum bleiben. Thorfin Njal hatte ein anderes Thule gefunden, verkörpert von einer großen, rotblonden Frau mit grünlichen Augen.
Das Thule des Wikingers
Um die Mittagsstunde des nächsten Tages gingen die drei Schiffe ankerauf und fuhren die Leinen ein, mit denen sie gleichzeitig an Land vertäut gewesen waren. Da brausten noch einmal donnernde Rufe durch die Stille des Fjordes. Dieses Mal stand keine Gotlinde am Steg und winkte zum Abschied - andere winkten: Ase Thorgeyr, Snorre, Winge, Saxe, das Gesinde, die Nachbarn - ja, und Gunnhild. Smoky schneuzte sich ein ums andere Mal, schniefte und stöhnte und winkte mit einem knallroten Halstuch. „Sie - sie liebt mich“, sagte er zu Carberry, der neben ihm stand. „Ist ja gut“, sagte der Profos friedlich. „Ich lieb sie auch“, sagte Smoky mit gequetschter Stimme. Der Profos runzelte die Stirn. „Warum sagst du das jetzt erst?“ „Ich hab's eben erst gemerkt“, sagte Smoky düster. „So was braucht eben seine Zeit, nicht?“ „Weiß ich nicht“, brummte der Profos. „Und was ist jetzt? Willst du lieber hierbleiben? Oder soll ich Hasard fragen, ob wir Gunnhild mit in die Karibik nehmen?“ Der Profos wurde wütend. „Mann, das hättest du dir aber auch früher überlegen können. Dann hätte euch Ase gestern auch gleich getraut.“ „Da wußte ich das doch noch, nicht“, sagte Smoky kläglich. „Reiß dich zusammen, Kerl!“ schnauzte der Profos. „Wenn man was nicht weiß, hat man selbst schuld, verdammt noch mal!“ „Vielleicht - vielleicht kriegt sie ein ! Kind von mir“, flüsterte Smoky. Der Profos zuckte zusammen, dann raufte er sich die Haare, darauf nahm er seine Finger zu Hilfe und begann sie abzuzählen. Bei neun hörte er auf und sagte bedeutungsvoll: „Januar!“ „Wie?“ „Im Januar kommt sie nieder.“ Carberry nickte wichtig. „Wieso?“ Smoky stierte ein bißchen blöde. „Wenn sie ein Kind von dir kriegt“. sagte der Profos. „muß man von jetzt an neun Monate dazurechnen. Das ist nun mal so, verstehst du? Du hast auch neun Monate
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gebraucht, bis du da warst. Ich auch. wenn ich mich richtig erinnere.“ Der Profos räusperte sich. „Das dauert überall neun Monate, klar?“ „Dann - dann muß ich im Januar zu ihr hin“, sagte Smoky hoffnungsvoll. „Klar mußt du hin“, sagte der Profos energisch. „Ich werde den Kapitän dann bitten, daß er dir dafür frei gibt ...“ „Hurrraaa!“ brüllte Smoky, kletterte aufs Schanzkleid und winkte wie verrückt. „Gunnhild! Im Januar siehst du deinen
Das Thule des Wikingers
Smoky wieder - deinen Schnucki-Smoky ...“ Carberry packte ihn an der Hose und zerrte ihn vom Schanzkleid. „Idiot!“ knurrte er. „Sie versteht dich doch gar nicht. Oder hast du ihr in einer Nacht Englisch beigebracht?“ „Englisch nicht“, sagte Smoky. „Na also!“ Die drei Schiffe segelten in den Isa-Fjord, gingen auf Westkurs und steuerten dem Atlantik entgegen...
ENDE