1.
Der Sumpf von Nopral barg ein Geheimnis. Jedesmal, wenn bei Vollmond ein Gewitter in Richtung der Heiligen Berge zo...
11 downloads
657 Views
555KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
1.
Der Sumpf von Nopral barg ein Geheimnis. Jedesmal, wenn bei Vollmond ein Gewitter in Richtung der Heiligen Berge zog, stieg eine leuchtende Gasblase aus dem Morast und schwebte eine Zeitlang in der Luft. Im Innern der Gasblase waren die Umrisse eines verkrüppelten Männchens zu erkennen, das einen Knüppel über dem Kopf schwang. Nach einiger Zeit zerplatzte die Blase, das Männchen stürzte schreiend in den Sumpf und ertrank. Immer, wenn sich dieser Spuk ereignete, gab es ein paar Monde später Krieg. Oberpriester Gulas vom Stamm der Kinder des Vogelgottes Kal hockte auf einem umgestürzten Baumstamm am Ufer des Sumpfes und lauschte auf das Grollen des sich entfernenden Gewitters. Trotz des Platzregens, der sich über das Land am Fluß Karmah-Li ergossen hatte, war die Luft schwül und drückend. Über dem Sumpf tanzten Irrlichter. Vor wenigen Augenblicken hatte Gulas eine Gasblase aufsteigen und zerplatzen sehen. Auch das Männchen, von dem die Legende berichtete, glaubte er gesehen zu haben, aber es war denkbar, daß er ein Opfer seiner Phantasie geworden war.
Das Meckern der beiden Ziegen schreckte Gulas aus seinen Gedanken. Es wurde Zeit, daß er zu den Hütten zurückkehrte und den Höhepunkt des Opferfestes vorbereitete. Wie alle Kinder Kals war auch Oberpriester Gulas klein und fahlhäutig. Seine roten, etwas hervorstehenden Augen bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu den langen weißen Haaren, die ihm bis über die Schultern hingen. Gulas stand auf und ging zum Gebüsch, wo er die beiden Ziegen festgebunden hatte. Die Tiere waren ängstlich und nervös; Donner und Blitze hatten sie aufgeschreckt. Gulas band die Ziegen los und führte sie auf den mit Steinen ausgelegten Pfad, der vom Flußufer am Sumpf vorbei bis zu den Hütten des Stammes führte. Trotz des heftigen Gewitters war der Vollmond immer wolkenfrei geblieben. Gulas‘ Fackel war erloschen, aber die hellen Steine des Weges reflektierten das Mondlicht und zeigten dem Oberpriester den Weg. Gulas wußte, daß das heutige Opferfest für sein Volk entscheidend sein würde. Solange er sich erinnern konnte, waren dem Vogelgott Kal Menschenopfer dargebracht worden. Nun war Kal zwölf mal zwölf Monde lang nicht erschienen. Gulas hielt Menschenopfer für sinnlos. Wenn es Kal überhaupt noch gab, würde er sich auch mit dem Blut
zweier Ziegen begnügen. Gulas hatte ein nüchternes Verhältnis zum obersten Gott seines Volkes. Bisher hatte Kal immer nur Opfer von seinen Kindern verlangt, war aber niemals bereit gewesen, irgend etwas Gutes für sie zu tun. Auf einen solchen Gott konnte der Stamm verzichten. Trotzdem fühlte Gulas ein leichtes Unbehagen, als er sich den ersten Hütten näherte und die Fackeln auf dem Opferplatz brennen sah. Die Kinder Kals hatten sich vollzählig versammelt, niemand schlief in dieser Nacht. Der Oberpriester blieb stehen. Er wurde noch nicht vom Licht der Fackeln erfaßt, konnte also auch von keinem der Anwesenden gesehen werden. Er beobachtete die drei Gestalten rund um den Opferstein. Da war Argmir, ein alter, blinder Mann mit nur einem Arm, der immer noch daran glaubte, daß er sein Gesicht nur mit dem Blut der Opfer zu tränken brauchte, um wieder sehen zu können. Der zweite Mann war Gorvan, größer als alle anderen Bewohner des Dorfes und als einziger mit der Stimme des Donners ausgerüstet. Die Kinder Kals, einschließlich ihres Oberpriesters, sprachen mit Fistelstimmen. Nivan, den dritten Mann am Opferstein, beobachtete Gulas mit Mißtrauen und Sorge. Der junge Priester war ein Fanatiker. Seit Monden hielt Nivan leidenschaftliche Reden und sprach von einer
notwendig gewordenen Erneuerung des Kultes. Keine dieser Reden war frei von Angriffen gegen den Oberpriester, der nach Nivans Ansicht nicht streng genug war und die Gesetze Kals mißachtete. Nivan hatte ein paar Anhänger, aber die große Masse des Volkes hatte längst erkannt, daß das Leben unter Oberpriester Gulas angenehmer war als zu Lebzeiten anderer Stammesführer. Unter Gulas war das Leben im Dorf im Laufe der Zeit immer freier geworden. Diesmal wollte Gulas einen weiteren revolutionären Schritt wagen und das Menschenopfer abschaffen. Anstelle eines Mitglieds der Kinder Kals sollten zwei Ziegen auf dem Opferstein verbluten. Nivan würde protestieren, dessen war Gulas gewiß, aber die Gläubigen würden in ihrer Erleichterung hinter dem Oberpriester stehen. Gulas setzte sich wieder in Bewegung. Am Rande des freien Platzes war sein Vogelkleid auf einen Pfahl gesteckt worden. Es war ein mit bunten Vogelfedern beklebter Leinensack, den er sich über den Körper ziehen mußte. Die Legende berichtete, daß vor langer Zeit der Vogelgott Kal am Fluß Karmah-Li erschienen war und den blutigen Kult begründet hatte. Gulas umklammerte den Strick, an dem er die Ziegen führte, etwas fester und schritt entschlossen durch die sich für ihn öffnende Gasse fahlhäutiger
Menschen. Die leisen Gesänge der Kinder Kals verstummten; alle Blicke waren auf Gulas gerichtet, der in seinem Vogelkleid langsam auf den Opferstein zuging und die beiden Ziegen hinter sich herzog. Argmir stand wie versteinert da; er schien zu spüren, daß etwas Ungewöhnliches geschah. Sein ausdrucksloses Gesicht sah im Licht der Fackeln kalkweiß aus. »Ziegen!« platzte Nivan heraus. »Du bringst uns Ziegen.« Er zitterte vor Erregung, seine Augen wurden feucht, und zum erstenmal empfand Gulas die Leidenschaft dieses Mannes als etwas Abstoßendes, Ekelerregendes. Der Oberpriester antwortete nicht. Er band die Ziegen an den Pfahl, den man neben dem Opferstein in den Boden gerammt hatte. Der Kreis der Kinder Kals zog sich enger zusammen, und gleichzeitig schien sich etwas wie eine unsichtbare Fessel auf Gulas‘ Brust zu legen. »Kal wird uns dafür strafen«, prophezeite Nivan. »Der Frevel, den du diesmal begehst, wird Verderben für die Kinder des Vogelgottes bringen.« Jedes Geräusch erstarb. Sogar die kaum spürbare Bewegung der Luft schien aufzuhören. Es war, als würde Gulas, Nivan, Gorvan und Argmir von einem Zuschauerring toter Wesen umgeben.
Gulas und Nivan sahen sich an. Gulas erkannte unversöhnlichen Haß in den Augen des anderen. Hier und jetzt mußte die Entscheidung fallen! dachte Gulas. Hier würde sich das Schicksal seines Volkes entscheiden. Sie befanden sich am Anfang des Weges, der aus der Barbarei in ein besseres und freieres Leben führte. Die Zeit schien stillzustehen. Dann, mit dem Knacken einer abbrennenden Fackel, kam alles wieder in Bewegung; es war, als hätte ein unsichtbarer Mechanismus nach einem Augenblick der Ruhe seine Arbeit wieder aufgenommen. Gulas streckte die Hand aus, und Gorvan reichte ihm das große Messer, mit dem er die Ziegen töten würde. Argmir tastete mit der einen Hand über den Opferstein, als könnte er kaum erwarten, das Blut zu spüren. Gulas zog eines der beiden Tiere zum Stein und hob das Messer. In diesem Augenblick ertönte ein heiseres Krächzen. Es kam aus der Luft. Ein Stöhnen ging durch die Reihen der Dorfbewohner. Zunächst noch unsichtbar, aber wie eine drohende Wolke für jeden der Anwesenden spürbar, senkte sich
etwas Unheimliches auf den freien Platz zwischen den Hütten herab. Gorvan sank zu Boden und verbarg sein Gesicht in den Händen. Das Messer klirrte auf den Opferstein. Eine der Ziegen riß sich los und rannte davon. Ein großer, schwarzer Vogel wurde über dem freien Platz sichtbar. Er bewegte träge seine mächtigen Schwingen, dann begann er mit krächzender Stimme zu sprechen. »Ich bin der Abgesandte des Vogelgottes. Kal ist bestürzt über den Frevel seiner Kinder.« Nivan bückte sich und ergriff das Messer, das Gulas‘ Händen entglitten war. Obwohl der Oberpriester genau voraussah, was nun geschehen würde, bewegte er sich nicht. Der Schock, den das plötzliche Auftauchen des Boten in ihn ausgelöst hatte, saß zu tief. »Unser Gott verflucht uns seinetwegen!« schrie Nivan mit sich überschlagender Stimme. »Es gibt nur noch eine Möglichkeit, Kal zu versöhnen.« Er stieß das Messer in Gulas‘ Körper, zog es wieder hervor und stieß abermals zu. Gulas stand noch immer da; eine übermächtige Kraft schien ihn auf den Beinen zu halten. Blut lief über sein Federkleid und färbte es dunkel. Argmir fing die Tropfen auf, die sich von den
Federspitzen lösten und schmierte sie sich gierig ins Gesicht. Eine schreckliche Furcht breitete sich in Gulas aus. Er sah das Ende seines Volkes in einer deutlichen Vision. Seine Gedanken hörten auf, kontinuierlich zu arbeiten. Die Umgebung begann sich um ihn zu drehen. Er fiel vornüber, genau auf den Opferstein. »Ja«, krächzte das Ding in der Luft. »Kal wird euch verzeihen, wenn ihr den Verräter opfert.« Nivan stieß einen unartikulierten Schrei aus. Er riß Gulas das blutverschmierte Federgewand vom Körper und zog es sich selbst über den Kopf. Gorvan begann mit tiefer Stimme zu singen. Die Zuschauer am Rande des freien Platzes antworteten. Der schwarze Vogel landete auf dem Pfahl neben dem Opferstein. Es kam wie ein Rausch über die Kinder Kals. Ihr Gott hatte einen Boten geschickt. Kal war unzufrieden mit seinen Kindern, aber er würde ihnen verzeihen, wenn sie ihm ein Opfer brachten. Gulas lebte noch immer. Er hörte die Stimmen von Gorvan und Nivan, dazwischen das Stöhnen von Argmir, der sich neben dem Stein am Boden wälzte. »Kal hat einen Auftrag für seine Kinder!« krächzte der Vogelbote. »Bewaffnet euch und zieht zum Tal der Drachen. Tötet die Drachen und alle Yttis, die mit ihnen leben. Kal wird euch bei diesem Feldzug
beschützen.« »Ja!« rief Nivan. »Wir werden tun, was Kal von uns verlangt.« Der Vogel, ein Sendbote des Balamiters Cnossos, breitete die Schwingen aus. »Fertigt Helme aus Krampin an. Diese Helme müßt ihr tragen, wenn ihr zum Tal der Drachen aufbrecht. Es ist wichtig, daß ihr solche Metallhelme tragt, damit man euch nicht vorzeitig entdeckt.« Nivan kletterte auf den Opferstein. »Ich werde mein Volk ins Tal der Drachen führen, wie Kal es von uns verlangt.« Gulas spürte den Fuß des jungen Priesters in seinem Nacken. Er starb gedemütigt und verzweifelt, ohne jede Hoffnung in seinem Bewußtsein. Von den fernen Himmelsbergen ertönte ein Grollen. Das Gewitter kam noch einmal zurück. Manchmal, wenn Sonne, Mond und Jupiter in einer besonderen Stellung zueinander stehen, läßt die Intensität kosmischer Schwerkraftlinien auf der Erde nach. Die Drachen in ihrem Tal nahe den Himmelsbergen werden bei dieser Gelegenheit von einer seltsamen Erregung ergriffen. Sie versammeln sich rund um eine heiße Quelle und verfallen in Trance. Ihre Gedanken sprechen zueinander ...
Der Traum des blauen Drachen Gur Eine Stadt senkte sich aus dem Himmel auf die Erde herab. Flammen und Rauch schlugen aus röhrenförmigen Öffnungen der Stadt aus Metall. Das riesige Gebilde kam von einer langen Reise zurück, und in seinem Innern befanden sich Drachen. Die Erinnerung war so übermächtig, daß Gur im Zustand vollkommener Trance leise röchelte. Gur lag so nahe bei der heißen Quelle, daß das Ende seines Schwanzes in der brodelnden Flüssigkeit hing. Um Gur herum lagerten die anderen neunundfünfzig Drachen, die in diesem Tal lebten. Die Stadt aus Metall, von der Gur träumte, landete auf einem großen freien Platz. Tore öffneten sich. Drachen kamen heraus. Sie konnten nicht fliegen, und ihre Haut war grün. Sie redeten zueinander wie Yttis oder Menschen, sie schienen nicht in der Lage zu sein, sich mit ihren Gedanken zu verständigen. Die Stadt aus Metall lag am Rande einer noch größeren Stadt, wie Gur sie bisher nur in seinen Träumen gesehen hatte. Zusammen mit den Drachen waren kleine Wesen aus der Stadt herausgekommen. Sie hockten in den Ohren der Drachen und redeten ab und zu auf sie ein. Die kleinen Wesen waren die Berater der Drachen und
begleiteten ihre mächtigen Freunde auf allen langen Reisen. Obwohl sie nicht fliegen konnten und sich mit Lauten verständigten, waren die Drachen in Gurs Traum mächtiger als das Volk, dem Gur angehörte. Die Drachen in Gurs Traum konnten mühelos Feuer speien, und sie hatten keine Schwierigkeiten mit ihren Gelegen. Auf ihren langen Reisen besuchten die Drachen viele Welten. Es waren stolze und unabhängige Wesen, die überall anerkannt wurden. Gurs Sehnsucht nach einem solchen Leben wurde sogar während des Traumes übermächtig. Er öffnete die Augen, ohne jedoch zu erwachen, und bewegte den Kopf hin und her. Um Gur herum lagen die anderen Drachen. Sie alle standen während des Trancezustands in Gedankenverbindung. Allein dieses Kollektiv war in der Lage sich zu erinnern. Auch während des Traumes arbeitete Gurs Bewußtsein fehlerlos und unbestechlich, so daß der Drache sich über die gegenwärtige Situation seines Volkes im klaren war. Viele Drachen aus Gurs Volk mußten getrocknete und zerriebene Kräuter schlucken, bevor sie überhaupt Feuer speien konnten. Die davon betroffenen Drachen litten sehr unter diesem Gebrechen und gaben ihr Versagen nur ungern preis.
Auch das Ausbrüten von Eiern wurde immer schwieriger. Die Schalen der Eier wurden von Generation zu Generation dicker und härter, so daß sie von den Eltern zum Zeitpunkt des Ausschlüpfens zertrümmert werden mußten. Die Gefahr, daß nach einigen Generationen nicht mehr genügend Platz für die Frucht in den Eiern sein würde, ließ die Drachen sorgenvoll in die Zukunft sehen. Je länger Gurs Traum andauerte, desto stärker vermischten sich Vergangenheit und Gegenwart in seinen Gedanken. Beherrschend blieb jedoch immer das Bild einer fliegenden Stadt aus Metall: eines Drachenschiffs! Eines Tages, so träumte Gur, würde ein solches Schiff auf der Erde landen. Er empfing die Gedanken der anderen und gab seine eigenen Impulse weiter. Die sechzig Drachen, die im Gebiet der Himmelsberge lebten, fühlten sich in diesem Zustand wie ein Wesen, obwohl jeder von ihnen die Träume anders erlebte. So angenehm die Träume auch waren, sie erinnerten die Drachen an ihren Niedergang und ließen sie verzweifeln. Gur wußte, daß sein Volk nicht allein in Träumen weiterleben durfte -es mußte früher oder später zu einer Renaissance der Drachen kommen, wenn sie nicht untergehen wollten. Gur träumte von Atlantis, einer großen Insel auf
dieser Welt, auf der sich einst eine mächtige Zivilisation ausgebreitet hatte. Atlantis existierte nicht mehr, aber überall auf dieser Welt gab es noch Spuren dieser Zivilisation. Während der blaue Drache Gur träumte, war er sich der Tatsache bewußt, daß er fast alles vergessen würde, sobald er erwachte. Zurück blieben nur vage Erinnerungen. Deshalb klammerte sich Gur an seinen Traum. Keiner der Yttis im Tal hätte gewagt, die Drachen in diesem Zustand zu stören. Sogar die Herden, die von den Yttis bewacht wurden, schienen zu spüren, daß dieser Vorgang Stille erforderte. Gurs Traum war der Traum von einem mächtigen Gebilde aus Metall, das durch den kalten Leerraum von Welt zu Welt flog. In seinen Träumen befand Gur sich oft an Bord der Metallstadt. Seine Rasseerinnerung ließ ihn alles genau sehen und verstehen, was es an Bord gab. Jedesmal, wenn Gur erwachte, fühlte er sich niedergeschlagen, denn er hatte das Gefühl, etwas Kostbares verloren zu haben. Gur vergaß fast alles, wovon er träumte, aber das Bild eines majestätisch auf die Erde herabschwebenden Drachenschiffs erlosch nie in seinem Bewußtsein.
2.
Groof-Marn trieb den Jungstier vor sich her und achtete darauf, daß das Tier nicht die von Arnt-Ta angelegten Beete zertrampelte. Arnt-Ta lag unter einem Krampobaum mit weitausladenden Ästen und döste. Doch Groof-Marn ließ sich durch das Verhalten der sterilen Alten nicht täuschen. Sie beobachtete ihn unter halbgeschlossenen Lidern mit großer Aufmerksamkeit. Die Sache mit den Beeten hatte die Bewohner des Tales in zwei Lager gespalten. Die jüngeren Drachen hielten den Anbau von Knollengemüse am Rand der heißen Quellen für eine verrückte Idee, während die vierzig sterilen Alten offenbar nicht durch den Gedanken erschreckt wurden, irgendwann einmal ausschließlich als Vegetarier leben zu müssen. Hinter Arnt-Tas Experiment verbarg sich zweifellos die unterschwellige Furcht, daß die Drachen eines Tages ihre Herden verlieren könnten. Als er den Stier jenseits des bepflanzten Gebiets wußte, blieb Groof-Marn stehen und blickte in Richtung der Alten. Arnt-Ta war zweifellos einmal eine Schönheit gewesen, aber ihre ehemaligen Schönheitsattribute hatten sich jetzt eher ins Gegenteil verkehrt und signalisierten Alter und Sterilität.
»Ich grüße dich!« grunzte Groof-Marn artig. Im allgemeinen bedienten sich die Drachen untereinander der Gedankensprache, doch Groof-Marn hatte nicht vor, ein intensives Gespräch mit der Alten zu beginnen. Deshalb beschränkte er sich auf diese unverbindlichen Worte. Arnt-Ta antwortete nicht. Groof-Marn wollte sich wieder seiner Arbeit zuwenden, als auf der anderen Seite der Beete hinter einer Gruppe von Praskobüschen ein paar Yttis auftauchen, die vier Jungkühe an Stricken hinter sich herzogen. Es waren zweifellos prächtige, gut ernährte Kühe mit prallen Bäuchen und glänzenden Augen. Trotzdem kam die Reaktion seines Jungstiers für Groof-Marn völlig überraschend. Der Stier streckte seinen Schwanz in die Höhe und stürmte los. Da er nicht vernunftbegabt war, entging ihm die Bedeutung der Beete zwischen ihm und dem Ziel seiner Wünsche völlig. Bevor Groof-Marn irgend etwas unternehmen konnte, trampelte der Stier durch die Beete. Die vier Kühe reagierten auf die Annäherung des Verehrers mit Gelassenheit. Mit hängenden Köpfen trotteten sie hinter den Yttis her. Da er sich anscheinend mißachtet fühlte, blieb der Bulle stehen und drehte sich ein paarmal im Kreis,
wobei er heftig schnaubte und mit den Hufen scharrte. Groof-Marn sah zu, wie Dutzende von gerade erblühten Knollenpflanzen unter den Hufen des Bullen zerstampft wurden, dann empfing er einen heftigen Gedankenimpuls von Arnt-Ta: »Bring ihn weg! Bring ihn doch endlich weg!« Auf diese unmißverständliche Art und Weise zu einer Rettungsaktion angespornt, wälzte sich Groof-Marn nun seinerseits in die Beete, um den Bullen zurückzuholen. Groof-Marn war viermal so groß wie der Stier, und entsprechend verheerend waren die Folgen seines gutgemeinten Einsatzes. Nach mehrminütigen vergeblichen Versuchen gelang es Groof-Marn endlich, sein Schwanzende um das eine Horn des Bullen zu schlingen und das Tier auf diese Weise davonzuziehen. Die Beete sahen jetzt wie ein Schlachtfeld aus. Der Bulle brüllte wütend und rannte, kaum daß er von Groof-Marn losgelassen wurde, in Richtung einer Herde davon. Groof-Marns Aktion war von ununterbrochenen Flüchen und Beschimpfungen der Alten begleitet worden. Staub war in Groof-Marns Nase gestiegen, und er nieste heftig. »Meine Beete!« dachte Arnt-Ta fassungslos. »Du hast meine Beete zerstört, du tolpatschiger Wüstling.«
Groof-Marn suchte nach Gedanken der Entschuldigung, aber angesichts des unbeschreiblichen Zornes der Alten blieb sein Gehirn so leer wie ein hohler Kürbis. Angelockt durch den Lärm, näherten sich jetzt vier weitere Drachen den verwüsteten Beeten. Einer davon war Krotsch, Arnt-Tas ehemaliger Gemahl. Groof-Marn wußte genau, daß Krotsch Pflanzenstauta schluckte, um Feuer speien zu können, aber er hätte sich gehütet, auch nur andeutungsweise darüber zu sprechen. Außerdem galt Krotsch als sehr eitel, obwohl offensichtlich war, daß er zu den sterilen Drachen gehörte, gab er vor, noch zeugungsfähig zu sein und spielte sich bei allen Gelegenheiten gegenüber den Weibchen als ritterlicher Beschützer auf. Die drei anderen Drachen waren Vert-cha, Lartsch und Merg-chi. Krotsch war ein brauner Drachen mit einem ungewöhnlich hohen Rückenkamm. Er postierte sich vor den zerstörten Beeten, und obwohl offensichtlich war, was sich hier ereignet hatte, fragte er drohend: »Was ist passiert?« Groof-Marn wollte eine Erklärung abgeben, aber er kam überhaupt nicht dazu, eigene Gedanken zu entwickeln. Die Impulse Arnt-tas sprudelten förmlich über. »Ah!« machte Krotsch streng.
Seine Blicke richteten sich auf Groof-Marn. »Wir werden Gur von dieser Angelegenheit unterrichten«, dachte er. »Er soll entscheiden, ob du noch frei über eine Herde verfügen kannst.« Er näherte sich Arnt-Ta und rieb sich an ihrer Seite. Groof-Marn fand dieses Gehabe geradezu abstoßend, aber die Alte senkte den Kopf und kicherte wie ein junges Weibchen. »Er wird das wieder in Ordnung bringen«, versicherte Krotsch. »Er muß die Beete neu anlegen.« Groof-Marn nieste abermals. »Dazu habe ich keine Lust«, dachte er störrisch. Merg-chi, einer der drei im Tal lebenden Jungdrachen, bemerkte spöttisch: »Vielleicht hilft dir eines der anderen Männchen.« Da es im Tal zwölf zeugungsfähige Männchen (zu denen auch Groof-Marn gehörte), aber nur fünf zeugungsfähige Weibchen gab, war das Verhältnis der Männchen untereinander klar: Sie rivalisierten in jeder nur denkbaren Situation. Es war ausgeschlossen, daß eines der anderen Männchen Groof-Marn bei der Instandsetzung der Beete helfen würde. Sie würden im Gegenteil Groof-Marn verhöhnen. Merg-chi wußte das natürlich. Inzwischen fuhr Krotsch fort, seiner ehemaligen Gefährtin den Hof zu machen. In seiner Erregung beging er den Fehler, Feuer speien zu wollen, aber es
kam nur ein bißchen weißer Dampf aus seinem Rachen. Die anderen sahen höflich weg, aber Arnt-Ta wurde durch diese mißlungene Gunstbezeigung völlig ernüchtert. Sie versetzte Krotsch einen Hieb. »Verschwinde!« forderte sie ihn auf. »Ich möchte jetzt allein sein.« Krotsch sah sich um, aber keiner der Zuschauer wagte Heiterkeit zu zeigen. »Ich gehe«, erklärte Krotsch würdevoll. »Aber ich werde bald zurückkommen und mich davon überzeugen, ob Groof-Marn den Schaden wiedergutgemacht hat.« Er ging davon. Vert-cha, eines der zeugungsfähigen Weibchen sah Groof-Marn nachdenklich an. Sie lebte schon seit ein paar Monden mit Lartsch zusammen, aber Groof-Marn hoffte seit langem, daß er letztlich ihre Gunst gewinnen konnte. Er befürchtete, daß er durch diesen Zwischenfall einen Rückschlag erlitten hatte. »Du solltest besser auf deine Tiere aufpassen«, bemerkte Lartsch schadenfroh. Er rieb sich demonstrativ an Vert-cha und ging mit ihr davon. Merg-chi breitete die Schwingen aus und flog in Richtung der Berge davon. Er würde das Tal jedoch
nicht ohne Begleitung eines älteren Drachen verlassen. Schweigend machten sich Arnt-Ta und Groof-Marn an die Aufräumungsarbeiten. Nach einiger Zeit tauchte Gur auf, der Anführer der im Tal lebenden Drachen. Trotz seines hohen Alters wirkte er noch kräftig und beeindruckend. Die Art, wie er den Kopf hielt und sich bewegte, forderte auch den Jungen Respekt ab. Gur konnte ohne Schwierigkeiten Feuer speien, und er war bis ins hohe Alter zeugungsfähig geblieben. Gur sah eine Zeitlang zu. Weder Arnt-Ta noch Groof-Marn hätten das Gespräch eröffnet; gegenüber dem alten Drachen wäre das unhöflich gewesen. Auf dem Rücken Gurs hockte sein Lieblingsytti Grissan. Grissan wurde von Gur verwöhnt. Er brauchte nicht bei den Herden zu arbeiten und wurde von Gur verpflegt. Zweifellos war Grissan intelligenter als alle anderen Schneebestien. »Wir könnten rund um die Beete Büsche pflanzen«, schlug Gur schließlich vor. »Dadurch würde verhindert, daß frei herumlaufende Tiere etwas zerstören.« »Dazu ist es jetzt zu spät«, antwortete Arnt-Ta störrisch. »Wir pflanzen neue Knollengewächse«, dachte Groof-Marn verlegen. »Sie werden schnell aufwachsen.«
Gurs Verhalten bewies Groof-Marn, daß ihr Anführer geistesabwesend war. Vielleicht beschäftigte er sich in Gedanken mit Hotch, Hot-cha und Hot-chi, die noch immer nicht von ihrem zweiten Ausflug nach Urgor zurückgekehrt waren. Gur erteilte Groof-Marn auch keinen Verweis, sondern entfernte sich wieder. Wahrscheinlich zog er sich in die Höhlen am nördlichen Hang zurück, denn es war jetzt später Nachmittag und Zeit für eine Ruhepause. Der Platz, an dem Arnt-Ta ihre Beete eingerichtet hatte, lag etwa in der Mitte des Tales. Das Tal war nahezu kreisförmig, lediglich im Süden gab es eine über den Kessel hinausreichende Schlucht. Es gab Hunderte von heißen Quellen und dadurch bedingt eine fast üppige Vegetation. Das Tal lag südlich der Hindquelle, fast genau in der Mitte der beiden Heiligen Seen. Die Himmelsberge, die sich wie eine Wand im Hintergrund erhoben, wurden im Westen vom Nan-Gan und im Osten vom höchsten Himmelsberg überhaupt, vom Kaarmun begrenzt. Im Tal lebten sechzig Drachen mit ihren Herden und außerdem etwa dreihundert Yttis. Die Yttis waren Jäger und Viehzüchter und lebten in kleinen Stammesgruppen in unzugänglichen Gegenden der Himmelsberge. Sie erinnerten in ihrem Aussehen an Riesenaffen, und ihre Körper waren von weißem Fell
geschützt. Die Yttis waren ebenso wie die Drachen vom Aussterben bedroht. Völlig grundlos wurden ihnen dämonische Kräfte zugeschrieben, man hielt sie für Unglücksbringer und Menschenfresser. Die Yttis kannten das Feuer und verständigten sich untereinander mit Lauten. Auch die Drachen und die Yttis sprachen zueinander in einfachen Worten. Von den Stämmen in den Ebenen wurden die Yttis als Schneebestien bezeichnet und erbarmungslos gejagt. Die Yttis lebten mit den Drachen friedlich zusammen und hüteten die Tiere ihrer großen Freunde. Obwohl das Leben im Tal in der Regel äußerst friedlich verlief, konnte es einen Drachen wie Groof-Marn nicht befriedigen. Der Niedergang des Volkes ließ sich nicht aufhalten, und Groof-Marn glaubte nicht, daß es bei anderen Drachenstämmen auf der Erde besser aussah. Groof-Marn war sicher, daß sich auch Gur über all diese Probleme Gedanken machte, aber der Anführer sah offensichtlich keinen Ausweg. Im Grunde genommen warteten sie alle auf ein Wunder, überlegte Groof-Marn. Es war sicher kein Zufall, daß die Drachen sich ausgerechnet mit den Yttis verbündet hatten. Beide Völker hatten ähnliche Sorgen. »Du grübelst, statt zu arbeiten!« warf ihm Arnt-Ta
vor, aber ihre Gedanken wirkten nicht besonders streng. »Ich weiß auch, was dich beschäftigt.« »Ja«, brummte Groof-Marn unwillig. Seine Unhöflichkeit vermochte ihre Gedankenflut jedoch nicht einzudämmen. »Ich kenne deine Sorgen. Unser aller Schicksal ist vorgezeichnet. Der Lauf der Dinge läßt sich nicht beeinflussen. Das werden bald alle Drachen erkennen.« »Daran glaube ich nicht«, gab Groof-Marn beinahe heftig zurück. »Ich. finde es falsch, daß sich viele Altdrachen in ihr Schicksal ergeben, anstatt mit den Jungen für eine bessere Zukunft zu kämpfen.« »Die Weisheit des Alters läßt dich viele Dinge anders sehen.« »Das glaube ich nicht«, dachte Groof-Marn hitzig. »Es ist nicht die Weisheit, sondern die Trägheit, die dich diesen Standpunkt einnehmen läßt.« Er war zu weit gegangen, aber die Alte schien ihm nicht böse zu sein. Groof-Marn war froh, als sie ihre Arbeit beendet hatten und er Arnt-Ta verlassen konnte. Er erhob sich in die Luft und kreiste eine Zeitlang über dem Tal. Als er höher stieg, wurde die Luft dünner und kälter, aber er nahm das hin und genoß den herrlichen Blick hinüber zu den Himmelsbergen und hinab in die Ebenen. Das Tal unter ihm sah wie eine mit Pflanzen
bewachsene Schüssel aus. Es war, das konnte man aus dieser Höhe deutlich erkennen, ein abgeschlossener und sicherer Zufluchtsort. Dabei, dachte Groof-Marn, hatten die Drachen aufgrund ihrer Stärke und Intelligenz keinen Gegner zu fürchten. Hinzu kam noch ihre Fähigkeit, Gedanken und Emotionen anderer Wesen begreifen zu können, so daß sie über Angriffsabsichten eventueller Gegner frühzeitig informiert waren. Wahrscheinlich waren die Drachen die mächtigsten Wesen dieser Welt, überlegte Groof-Marn weiter. Und was nutzte ihnen das? In ein paar Generationen würde es nur noch wenig Drachen geben. Wenn sie ihre Probleme nicht lösen konnten, würde ihr Volk in absehbarer Zeit ausgestorben sein. Von hier oben sah die Welt klein und bedeutungslos aus, aber Groof-Marn ließ sich davon nicht täuschen. Er mußte ins Tal zurückkehren und die Sorgen der anderen teilen. Natürlich hätte er das Tal verlassen und sich einem anderen Stamm anschließen können, doch eine Lösung hätte das für ihn nicht bedeutet. Groof-Marn hielt auch nicht viel von jenen Drachen, die irgendwo auf dieser Welt als Einzelgänger hausten und sich nur noch ihren Meditationen widmeten. Groof-Marn besaß noch immer den Optimismus der Jugend. Vielleicht gaben die Träume eines Tages eine
Antwort auf alle Fragen. Jedesmal, wenn er im Kreis der anderen in Trance verfiel, glaubte Groof-Marn der Lösung ganz nahe zu sein. Dieser Eindruck hielt auch nach dem Erwachen noch einige Zeit an. Unten im Tal löste sich ein dunkler Punkt, der schnell an Größe gewann. Es war ein anderer Drache, der sich Groof-Marn näherte. Wenig später erkannte Groof-Marn Ga-vok, einen braunen Alten. Groof-Marn mochte Ga-vok nicht. Ga-vok war immer mürrisch und rechthaberisch. Er versuchte stets die Jüngeren zu bevormunden. Die Gedanken des Alten erreichten ihn. »Komm zurück! Es ist zu gefährlich, hier oben zu fliegen.« Groof-Marn lachte ihn aus. »Ich weiß, daß Gur solche Flüge gestattet, aber das ist noch kein Grund, diese Erlaubnis in solcher Weise auszunutzen«, fuhr Ga-vok fort. »Es geht auch nicht um deine persönliche Sicherheit – die ist mir fast gleichgültig, sondern um das Wohl des Stammes. Gegner können uns sehen und aus unseren Flugbahnen Rückschlüsse auf unseren Standort schließen. Das solltest du einsehen.« Groof-Marn war zu müde, um sich mit Ga-vok zu streiten. Er schwebte ins Tal hinab und steuerte den Nordhang an, wo sich seine Schlafhöhle befand.
Eine Zeitlang lauschte er noch den Gedanken der Yttis unten bei den Herden, dann schlief er ein.
3.
Nivan, der neue Oberpriester vom Stamme der Kinder Kals, hatte in den letzten Tagen erheblich an Gewicht verloren. Die fahlgelbe Haut des jungen Mannes spannte sich wie Pergament über dem knochigen Körper. Nivan aß wenig und schlief kaum noch. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen und glänzten wie im Fieber. Nivan wurde von einem inneren Feuer verzehrt. Er hielt sich für den bevorzugten Sohn des Vogelgottes und wartete darauf, daß er sich früher oder später in einen großen Vogel verwandeln würde. Bisher hatte er jedoch noch keine Anzeichen einer Metamorphose an sich feststellen können. Nivan hatte einhundertfünfzig Männer ausgewählt, die am Feldzug in das Tal der Drachen teilnehmen würden. Die Kinder Kals erkannten ihn jener schrecklichen Gewitternacht vorbehaltlos als Oberpriester und Anführer an. Niemand hätte ihm zu widersprechen gewagt. Auch der starke Gorvan, Gulas‘ bester Freund, hatte den Ergebenheitsschwur geleistet.
In den Gehirnen der Stammesmitglieder war das Bild des schwarzen Vogels, der krächzend auf den Opferstein herabgeflattert war, noch zu frisch, um irgendwelche widersprüchliche Ideen wach werden zu lassen. So konnte Nivan sicher sein, daß alle seine Befehle schnell und gründlich ausgeführt wurden. Die Produktion der schützenden Helme war abgeschlossen worden. Nivan hatte zehn Helme mehr herstellen lassen, denn es konnte passieren, daß sie während ihres Marsches in Richtung der Himmelsberge einige dieser wichtigen Schutzvorrichtungen verloren. Nivan schärfte den Männern immer wieder ein, daß sie diese Helme ständig tragen mußten. Deshalb legte er auch besonders großen Wert auf eine haltbare Befestigung. Die Drachen waren in der Lage, die die Annäherung eines jeden Wesens zu spüren, das keine Schutzvorrichtung trug. Nivan hatte einfache Helme fertigen lassen, die mit einem Leinenband unter dem Kinn festgebunden werden konnten. Der neue Oberpriester zweifelte keinen Augenblick daran, daß der geplante Feldzug von Erfolg gekrönt sein würde. Der Vogelgott würde sie als unsichtbarer Beschützer begleiten. Um sich der Unterstützung des Vogelgottes endgültig zu versichern, hatte Nivan vor ein paar Tagen ein zusätzliches Opferfest veranstaltet.
Zwei junge Stammesmitglieder waren auf dem Stein inmitten des Dorfes verblutet. Ihre Leichen hatte Nivan in die Äste eines hohen Baumes binden lassen, als Fressen für die Vögel. Nivan stand auf dem Opferstein und sah zu, wie die letzten Vorbereitungen zum Aufbruch getroffen wurden. Die Männer füllten ihre Köcher mit Pfeilen und schärften ihre Schwerter. Sie alle würden mit großer Begeisterung in den Kampf ziehen, denn sie hatten die Botschaft des Vogelgottes gehört. »Beeilt euch!« schrie Nivan mit seiner schrillen Stimme. »Wir wollen unterwegs sein, bevor die Sonne über den Baumwipfeln sichtbar wird.« Es war ein ungewöhnlich kühler Morgen. Vom Fluß zogen Nebelschwaden über das Land. Aus dem nahen Sumpf klangen unheimliche Geräusche an Nivans Gehör. Er kümmerte sich nicht darum. Nivan hatte erst einmal in seinem Leben einen Drachen gesehen. Damals war er noch ein Junge gewesen, und das riesige Wesen hatte mit ausgebreiteten Schwingen das Dorf überflogen. Nivan erinnerte sich noch genau, wie er schreiend vor Angst in eine Hütte geflüchtet war und Trost bei seiner Mutter gesucht hatte. Die Angst vor den Drachen hatte ihn seither begleitet.
Sein Fanatismus half ihm jetzt, diese Angst zu vergessen. Er sprang vom Opferstein hinab und untersuchte die Ausrüstung einzelner Krieger. Es gab nichts zu beanstanden. Nivan schätzte, daß sie sechs Tage unterwegs sein würden, da sie keine Reittiere besaßen und die gesamte Strecke marschieren mußten. Der Oberpriester ahnte, daß es unterwegs zu Zwischenfällen kommen und er ein Dutzend seiner Krieger verlieren würde, bevor sie das Ziel erreichten. Doch diese Verluste hatte Nivan einkalkuliert. Die älteren Männer, die die Krieger begleiten würden, hatten Nivan vor den verschiedensten Gefahren gewarnt. Sie kannten den Weg und wußten, was ihnen alles zustoßen konnte, Nivan hatte drei schnellfüßige Männer als Späher ausgewählt. Sie sollten der kleinen Armee vorauseilen und vor möglichen Gefahren warnen. Die Späher kannten ebenfalls den Weg zu den Himmelsbergen. Das Tal der Drachen war nur zwei alten Stammesmitgliedern bekannt. Die Kinder Kals, die den Feldzug nicht mitmachen würden, hatten sich vor den Hütten versammelt und sahen den Kriegern bei den Vorbereitungen zu. Nivan hatte bereits einen Stellvertreter ernannt, einen alten Mann, der während Nivans Abwesenheit
dafür sorgen würde, daß niemand die Verehrung Kals vernachlässigte. Nivan rief Gorvan zu sich. Unterschwellig empfand er Neid, wenn er Gorvans muskulösen Körper sah. »Ich sehe, daß alle fertig sind!« stellte Nivan fest. »Deshalb wird es Zeit, daß wir die Späher losschicken.« »Ich erledige das«, erklärte Gorvan bereitwillig. Die Art, wie der große Mann seinen Helm trug, mißfiel dem Oberpriester. Gorvan hatte seinen Helm verwegen nach hinten geschoben, so daß ihm das volle Haar in die Stirn fiel. Als Gorvan die drei Späher weggeschickt hatte, kam er zu Nivan, um weitere Befehle zu empfangen. »Du mußt deinen Helm richtig aufsetzen!« befahl er. Gorvan rückte den Helm zurecht, aber Nivan entging das Zögern des anderen nicht. Dank seiner persönlichen Stärke war Gorvan selbstbewußter als alle anderen. Von ihm würde am ehesten Widerstand zu erwarten sein. Nivan überlegte, wie er Gorvan während des Feldzugs loswerden konnte. Bestimmt würde sich eine Möglichkeit dazu ergeben. Der Oberpriester schob sein Schwert in den Gürtel und band seinen Helm fest. Dann hob er einen Arm. »Folgt mir!« rief er.
An der Spitze der Gruppe marschierte er aus dem Dorf. Die beiden Wegkundigen und Gorvan blieben dicht hinter ihm. Auf der Lichtung in der Nähe des Dorfes hielt die Armee noch einmal an. Nivan hielt eine kurze Ansprache und erflehte den Segen und die Hilfe des Vogelgottes. Damit war der Abschied vom Dorf vorbei. Die Söhne Kals drangen nacheinander in den Buschwald jenseits des Flusses ein. Am ersten Tag kamen sie gut voran. Unmittelbar vor Sonnenuntergang kamen die Späher zurück und berichteten, daß sie einen idealen Lagerplatz für die Nacht gefunden hätten. Nivan kannte die Mentalität seiner Stammesgenossen genau. Sie würden in der Nacht weitermarschieren, wenn er es von ihnen im Namen Kals verlangte. Doch er kannte auch die Furcht seiner Männer vor der Dunkelheit. Nivans Armee schlug ihr Lager in einem kleinen Tal zwischen einigen Birken auf. Nivan ließ Holz sammeln und zwei große Feuer anzünden. Die Männer durften ihre Helme nicht abnehmen, sie würden auch damit schlafen. Nivan Gorvan und Pergit, einer der Späher, stiegen auf den höchsten Hügel in der Umgebung und beobachteten das Land. Bisher hatten sie nur Vögel, Insekten und ein paar kleinere Pelztiere gesehen.
»Ich bin sicher, daß wir von Kriegern anderer Stämme beobachtet werden«, sagte Pergrit. »Ein paarmal haben wir braunhäutige Gestalten zwischen den Büschen gesehen.« »Ich glaube nicht, daß uns jemand angreifen wird«, erwiderte Nivan. »Jeder kann sehen, daß wir weiterziehen. Wir haben weder Frauen noch Kinder bei uns.« »Trotzdem sollten wir starke Wachen aufstellen«, schlug Gorvan vor. »Das werden wir tun«, stimmte Nivan zu. Die Sonne war inzwischen untergegangen. Die Luft kühlte schnell ab. Die drei Männer kehrten ins Tal zurück, wo sich die Krieger inzwischen für die Nacht einzurichten begannen. Nivan suchte sich einen Platz in der Nähe eines Feuers und breitete seine beiden Felle auf dem Boden aus. Ein Krieger brachte ihm einen Becher mit heißem Tee und| einige Brocken getrocknetes Fleisch.! Um die Wachen brauchte Nivan sich nicht zu kümmern, das würde Gorvan übernehmen. Nivan trank, das Fleisch verschmähte er. Dann ließ er sich auf den Rücken sinken und starrte in den Himmel, der allmählich dunkler wurde. Die ersten Sterne waren zu sehen. Obwohl der Oberpriester ruhig auf den Fellen lag, war sein Inneres aufgewühlt. Er konnte die Ankunft seiner Armee im Tal der Drachen
kaum abwarten. Sie würden die Drachen überraschen und töten. Diese mächtigen Wesen waren die richtigen Opfer für Kal. Nivan hörte das Prasseln des Feuers und die Stimmen der Männer. Er würde in dieser Nacht keinen Schlaf finden. Als es völlig dunkel war, stand Nivan auf und machte einen Rundgang durch das Lager. Die meisten Männer waren vom Tagesmarsch so erschöpft, daß sie sich bereits in ihre Felle eingerollt hatten und eingeschlafen waren. Nivan kontrollierte, daß sie alle noch ihre Helme aufhatten. Außerhalb des Lagers stieß Nivan auf die erste Wache. Die drei Männer trugen Fackeln. Nivan gab sich zu erkennen. »Du solltest nicht weitergehen, Oberpriester«, sagte einer der Wächter. Nivan mißachtete die Warnung. Er brauchte sich nicht zu fürchten. Kal würde ihn beschützen. Er zündete eine Fackel an und ging bis zum schmalen Bach auf der anderen Seite des Tales. Er ließ sich am Ufer nieder und tauchte sein Gesicht in das kühle Wasser. Das erfrischte ihn. Als er sich aufrichtete, hörte er ein merkwürdiges Geräusch. Zunächst glaubte er, daß es das Gurgeln des Wassers war, doch dann, als er konzentriert lauschte,
hörte es sich eher wie das Schnauben eines großen Tieres an. Nivan packte die Fackel und hob sie hoch über den Kopf. Soweit er sehen konnte, war das Bachufer verlassen. Nivan zog sein Schwert aus dem Gürtel und wanderte langsam am Bach entlang. Sein Vertrauen in Kals Macht war so groß, daß er sich immer weiter vom Lager entfernte. Plötzlich geriet ein großes weißes Tier in den Lichtkreis der Fackel. Es stand am Bach und hatte jetzt aufmerksam den Kopf gehoben. Zunächst glaubte Nivan, daß es sich um ein Pferd handelte, doch dann sah er, daß aus der Stirn des Tieres ein langes spitzes Horn ragte. Nivan hatte niemals zuvor ein solches Wesen gesehen oder auch nur von dessen Existenz gehört. Das Tier senkte den Kopf und schnaubte. Es war schön, aber gleichzeitig unwirklich. Vielleicht handelte es sich um eine Gottheit oder um einen Dämon. Götter und Dämonen konnten in den verschiedensten Gestalten auftreten. Nivan war stehengeblieben, doch dann dachte er an den Vogelgott Kal, der mächtiger war als alle Dämonen, und ging weiter. Das Tier warf den Kopf zurück und blähte die Nüstern. Aus seinen Blicken sprachen Wachsamkeit
und Intelligenz. Als Nivan noch näher kam, warf sich das Wesen zurück und galoppierte davon. Nivan begann zu rennen, aber er konnte dieses schnelle Tier nicht einholen. Schwer atmend blieb der Oberpriester stehen. Er würde diese gespenstische Begegnung nicht so schnell vergessen, dessen war er sicher. Instinktiv ahnte er, daß er etwas Besonderes gesehen hatte, aber die Zusammenhänge blieben unklar. Nivan hatte sich so weit vom Lager entfernt, daß er die Feuer nicht mehr sehen konnte. Er brauchte jedoch nur am Bach entlang zurückzugehen, um das Lager wiederzufinden. Wenig später sah er die beiden großen Feuer. Als er sich dem Lager näherte, kam ihm ein Mann entgegen. Nivan erkannte ihn sofort. »Warum schläfst du nicht, Gorvan?« »Einige Männer fürchten sich, weil du nicht im Lager bist«, erklärte Gorvan. »Du solltest zu ihnen von Kal sprechen, damit sie sich beruhigen.« Nivan registrierte, daß Gorvan verächtlich von diesen Männern sprach. Gorvan selbst schien auf Zuspruch verzichten zu können, er vertraute in diesem fremden Land auf seine Stärke. »Die Worte Kals sind für jeden wichtig«, sagte Nivan. Er stand noch so unter dem Eindruck seines Erlebnisses, daß sein Ärger auf Gorvan schnell wieder
verflog. Sie kehrten gemeinsam ins Lager zurück, und Novan hielt für jene, die nicht schlafen konnten, eine Rede. Gegen Morgen zogen Nebelschwaden ins Tal, und Nivan, der die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, fröstelte, und rückte näher an das erlöschende Feuer. Die Söhne Kals erwachten nacheinander und streckten ihre Glieder. »Überprüft den Sitz eurer Helme!« befahl Nivan. »Wir brechen auf, sobald wir gegessen und getrunken haben.« Die Späher wurden losgeschickt. Nivan beriet mit den älteren Männern, die den Weg kannten. »Wir kommen in der Nähe der Kalmyr-Quelle vorbei«, sagte Tavgran. »Auch wenn unsere Trinkwasservorräte reichlich sind, sollten wir das Wasser aus dieser Quelle trinken. Es klärt die Gedanken und verleiht Kraft.« »Nur Kal kann die wirkliche Kraft verleihen!« rief Nivan aus. Trotzdem stimmte er einem kurzen Besuch der Quelle zu, denn er wollte alles tun, um seine Krieger bei guter Laune zu halten und sie mutig zu machen. Ein Kampf gegen die Drachen war trotz der Unterstützung Kals ein gefährliches Unternehmen.
Schon bald nach ihrem Aufbruch erreichte Nivans Armee ein sumpfiges Dschungelgebiet und kam nur noch langsam voran. Manchmal mußten sich die Männer mit ihren Schwertern einen Weg durch das dichte Unterholz bahnen. Die Belästigung durch Insekten wurde immer schlimmer. Nivan schickte Gorvan zum Ende des Zuges, damit niemand zurückbleiben konnte. Die Gesichter der Männer waren schweißbedeckt, obwohl es noch früh am Morgen war. Der Schweißgeruch lockte immer neue Schwärme von Fliegen an. Wenn Nivan über sein Gesicht strich, zerdrückte er Dutzende dieser winzigen Peiniger. Als der Oberpriester sich umdrehte, sah er, daß einer der Männer den Helm abnehmen wollte, um sich ein wenig Erleichterung vor der großen Hitze zu verschaffen. Mit wenigen Schritten war Nivan bei dem Krieger. Er riß das Schwert aus dem Gürtel und setzte die Spitze an den Hals des Mannes. »Wer seinen Helm abnimmt, wird im Namen Kals sterben!« schrie er. Hastig band der Mann den Helm wieder fest. Nivan stieg auf einen kleinen Erdhügel und wandte sich an die Söhne Kals. »Alles wäre umsonst, wenn einer von euch versagt. Jeder muß seinen Nachbarn beobachten. Wer schwach
wird, muß zurückbleiben. Ich werde ihn nach unserer Rückkehr für Kal opfern.« Es schien, als hätte diese nachdrückliche Warnung neue Kräfte bei den Söhnen Kals freigemacht, denn die Gruppe kam jetzt schneller voran. Als die Sonne am höchsten stand, stieß einer der drei Späher zu der kleinen Armee und berichtete, daß die Kalmyr-Quelle in der Nähe lag. Nivan wußte, daß die Männer eine Rast brauchten und ließ sie vom Späher zu der Quelle führen. Mitten im Dschungel lag eine Lichtung, auf der lediglich ein paar hohe Bäume standen. Der Boden bestand aus trockenem Lehm und zeigte keine Spuren pflanzlichen Lebens. Das Wasser der Kalmyr-Quelle sprudelte aus einem granitfarbenen Stein und versickerte in den zahlreichen Rissen und Spalten am Boden. Die Männer lagerten im Schatten der Bäume und tranken das Wasser der Kalmyr-Quelle. Rund um die Quelle gab es zahlreiche Spuren, die auf den Besuch anderer Stämme hinwiesen. Nivan ließ deshalb Wachen aufstellen, denn er wollte nicht überrascht werden. Der Genuß des eiskalten Quellwassers rief bei vielen Männern eine völlig andere Wirkung hervor, als Nivan erwartet hatte. Die Betroffenen klagten über Übelkeit und mußten sich übergeben. Nivan befürchtete schon,
daß er auf diese Weise einen Tag verlieren würde, doch die Söhne Kals erholten sich schnell wieder. Als Nivan bereits wieder an Aufbruch dachte, schleppten zwei Wächter einen braunhäutigen Fremden zu ihm, den sie in der Nähe der Quelle aufgegriffen hatten. Der Mann war klein und schmutzig, er trug lediglich ein Tuch um die Hüften. Seine nackten Füße waren von Narben übersät. Er hatte einen Tragsack auf den Schultern. Nivan nahm den Tragsack an sich und öffnete den Bund, dann schüttete er den Inhalt auf den Boden. Es waren zwei kopfgroße Dracheneier. Der Fremde stieß einen bestürzten Laut aus. »Woher hast du sie?« fragte Nivan drohend. Der Mann schüttelte den Kopf, er verstand Nivans Sprache nicht. Nivan verdächtigte ihn jedoch, daß er diese Verständnislosigkeit nur vortäuschte und schlug ihm ein paarmal ins Gesicht. Der Mann schrie und ließ sich auf den Boden sinken, aber kein vernünftiges Wort kam über seine Lippen. Nivan hatte noch nie in seinem Leben ein Drachenei gesehen, aber er mußte von Erzählungen der alten Männer, wie sie aussahen. Deshalb war ein Irrtum ausgeschlossen. Nivan hob eines der Eier auf und wog es in den Händen. Er fragte sich, ob im Innern der Schale noch Leben war.
Der braunhäutige Fremde bat mit Handzeichen um eine Rückgabe der beiden Eier. Nivan lachte nur. Er ging zum Quellfelsen, um eines der Eier aufzuschlagen, doch sein Versuch mißlang. Die Schale erwies sich als zu hart. Nivan legte ein Ei. auf den Felsen und zog das Schwert. Er schwang es hoch über den Kopf und ließ es dann auf das Ei hinabsausen. Es gab ein klirrendes Geräusch, aber das Ei hielt stand. Nivans Augen suchten Gorvan. »Versuch du es!« befahl er dem großen Mann. Gorvan packte sein Schwert. Er konzentrierte sich, bevor er zu einem gewaltigen Hieb ausholte. Das Ei zersprang, und die Schalenstücke fielen in den Schlamm rund um die Quelle. »Es ist leer!« rief Nivan enttäuscht. Der braunhäutige Fremde schrie. Sein Gesicht war vor Furcht entstellt. Die Zerstörung des Dracheneis schien ihn zu entsetzen. Nivan beachtete ihn nicht. »Nun das zweite!« befahl er Gorvan. Auch das andere Ei war leer. Nivan untersuchte die Schalenstücke, aber er fand nicht einmal die Spur von Leben. Wahrscheinlich waren die Eier uralt und längst ausgetrocknet. Nivan wunderte sich über die Dicke der Eierschale. Der Fremde, der einen Augenblick unbeachtet blieb, riß einem der Krieger das Schwert aus dem Gürtel und
rammte es sich in die Brust. Er fiel schreiend zu Boden. Zwei Männer hoben ihn hoch und wollten die Waffe wieder herausziehen, doch Nivan hinderte sie daran. »Er wird verbluten, wenn wir das Schwert nicht in der Wunde lassen«, sagte der Oberpriester. »Ich werde noch einmal mit ihm sprechen. Vielleicht wird er jetzt antworten.« Er wandte sich an den Unbekannten. »Woher kommst du und wer bist du?« Der Fremde sah ihn an. Seine Lippen bewegten sich, aber Nivan konnte nicht hören, was der Mann sagte. Blutiger Schaum trat auf die Lippen des Fremden. Wenige Augenblicke später war er tot. Der Zwischenfall hatte Nivan beunruhigt, obwohl es für seine innere Unruhe kein Erklärung gab. »Wir verlassen diesen Platz!« entschied er. »Wir sollten den Toten begraben«, schlug Gorvan vor, doch der Oberpriester lehnte dieses Ansinnen ab. Nivan wollte diesen unheimlichen Platz so schnell wie möglich verlassen. Manchmal, wenn Sonne, Mond und Jupiter in einer besonderen Stellung zueinander stehen, läßt die Intensität kosmischer Schwerkraftlinien auf der Erde nach. Die Drachen in ihrem Tal nahe den Himmelsbergen Werden bei dieser Gelegenheit von einer seltsamen Erregung ergriffen. Sie versammeln sich rund um eine heiße Quelle und verfallen in
Trance. Ihre Gedanken sprechen zueinander ... Der Traum des braunen Drachen Ga-vok Das kleine Wesen sah aus wie die Karikatur eines Menschen. Sein Gesicht war faltig und wurde von einer Knollennase beherrscht. In seinem Traum sah Ga-vok, daß der kleine Troll auf einem Sonnenstrahl quer über einen großen freien Platz segelte und sich dabei einem Drachen näherte. Das Männchen landete auf dem Kopf des Drachen und sah sich um. Nach einer Weile kroch es in die Ohrenöffnung des Drachen und sprach zu ihm. Der Drache hörte ernsthaft zu, denn der Troll war sein Berater. In seinem Traum erinnerte sich Ga-vok daran, daß die Trolle ein Nomadenvolk waren. Die Zwerge lebten an Bord der Drachenschiffe und nahmen oft an den langen Reisen teil. Ga-vok spürte die Zufriedenheit der anderen Drachen, die um die heiße Quelle herumlagen und seine Gedanken empfingen. Der Traum Ga-voks von den Trollen war ein seltenes Ereignis, so daß alle Drachen ihn hingebungsvoll genossen. Ga-vok war ein vom Leben enttäuschter und daher verbitterter Drache, der nicht so schnell ins Träumen kam wie seine Artgenossen. Dafür waren seine Gedankenbilder klar
und logisch. Die Trolle konnten auch Wunder vollbringen, obwohl ihre Fähigkeit in dieser Richtung gewissen Schranken unterworfen war. Die Drachen in Ga-voks Traum schätzten sich glücklich, von den Trollen beraten zu werden, obwohl sie die Ratschläge nicht immer befolgten. Solange Ga-vok träumte, war er sich darüber im klaren, daß die Yttis bei seinem Volk die Rolle der Drachenberater übernommen hatten. Natürlich war ein Ytti nicht mit einem Troll zu vergleichen, aber auch die Drachen in den Träumen entsprachen ja nicht der Realität. Ga-vok träumte von einem Drachen, der Berge getrockneten Grases verschlang. Keiner der Drachen, die in Ga-voks Träumen erschienen, war Fleischfresser. Ga-vok träumte, daß Trolle und Drachen auch ein gutes Verhältnis zu den Menschen hatten. In dieser Traumwelt war alles anders als in Wirklichkeit. Irgendwann in fernster Vergangenheit mußte diese Welt einmal so ausgesehen haben wie in den Träumen der Drachen. Solange sie träumten und ihre Gedanken miteinander verbanden, konnten sie sich erinnern. Sobald sie jedoch aus ihrer Trance erwachten, vergaßen sie bis auf ein paar bruchstückhafte Erinnerungen alles. Das Rassegedächtnis der Drachen funktionierte nur während der Träume.
Wie alle Drachen war sich auch Ga-vok trotz der angenehmen Erinnerungen besonders während eines Traumes der gefährlichen Situation seines Volkes bewußt. Er schöpfte Kraft aus seinen Träumen, aber jedesmal, wenn er daraus erwachte, empfand er auch den Untergang der Drachen als nah und unabwendbar. So, wie der blaue Gur aus seinen Träumen das Bild eines Drachenschiffs in die Wirklichkeit rettete, behielt Ga-vok das Bild eines Trolls, der auf einem Sonnenstrahl segelte, in seinem Bewußtsein ...
4.
Eine dicht über dem Horizont, stehende Ansammlung schwarzer Wolkenstreifen ließ die aufgehende Sonne aussehen wie eine in Scheiben geschnittene Frucht. Minutenlang kämpfte die Sonne scheinbar aussichtslos mit den Resten der Nacht, dann stieg sie zu voller Größe am Himmel empor. Das Tal der Drachen war erfüllt vom Gebrüll der durstigen und hungrigen Tiere, die von den Yttis auf die Weiden getrieben wurden. Von seinem Platz vor den Höhlen aus konnte Groof-Marn das Ineinanderfließen der braunen und weißen Körper beobachten. Die Betriebsamkeit unten
im Tal, die jeden Morgen aufs neue begann, ließ Groof-Marn immer wieder die Sorgen und Nöte seines Volkes vergessen. Groof-Marn klickte zur Seite und sah drei sterile Alte, die träge den Hang hinabschwebten, um in den heißen Quellen ihr Morgenbad zu nehmen. Auf der anderen Seite des Tales hatten die Yttis wie jeden Morgen ein großes Feuer angezündet. Im Gegensatz zu den Drachen verschmähten die Schneebestien rohes Fleisch. Bevor sie aßen, brieten sie ihre Mahlzeiten in den Flammen. Das Panorama, das sich unter Groof-Marn ausbreitete, vermittelte den Eindruck vollkommenen Friedens. Trotzdem hatte Groof-Marn das Gefühl einer unsichtbaren Drohung. Hinter den Bergen schien sich eine Gefahr zusammenzuballen. Groof-Marn schüttelte diese düsteren Gedanken von sich ab, breitete die Schwingen aus und erhob sich in die Luft. In weiten Spiralen flog er zu den Quellen hinab. Er fand die Quelle, in der er jeden Morgen zu baden pflegte, von Targor besetzt. Targor war ein steriler Alter mit fast völlig weißer Haut. Er hockte auf seinem Hinterteil, peitschte mit dem Schwanz und schaufelte mit den Vorderpranken Morast auf seinen Körper. Dabei grunzte er vor Vergnügen, prustete, wenn Schlamm in seine Nüstern
geriet und riß den Rachen auf, um die kühle Morgenluft tief einzuatmen. Groof-Marn umrundete die Quelle dreimal, weil er annahm, daß Targor dann schon reagieren und das Bad räumen würde. Doch Targor schenkte dem Jüngeren keine Beachtung. »Guten Morgen!« dachte Groof-Marn höflich. »Wie ich sehe, hast du dein Bad beendet. Es freut mich, daß es dir in meiner Quelle gefallen hat.« Targor hob überrascht den Kopf und starrte Groof-Marn an. »Du täuschst dich«, entgegnete er abweisend. »Ich habe gerade erst mit meinem Bad begonnen und möchte es in Ruhe beenden.« Groof-Marn scharrte ein bißchen im grasbewachsenen Boden, aber das war im Augenblick das einzige Anzeichen für seinen zunehmenden Ärger. Targor dagegen ließ sich vornüber kippen und platschte mit dem Oberkörper in den brodelnden Schlamm. Dann tauchte er mit dem Kopf unter, drehte sich ein paarmal um die eigene Achse und tauchte wieder auf. Er schüttelte sich voller Wohlbehagen und ließ sich auf den Rücken fallen. »Es ist meine Quelle«, dachte Groof-Marn. »Ich möchte jetzt mein Bad nehmen.« Targor hob eine Pranke und deutete lässig auf einen Tümpel in unmittelbarer Nähe, in dem nicht einmal ein
junger Ytti Platz gefunden hätte. »Du kannst dort baden!« Groof-Marn blickte an sich herab und verglich seine Proportionen mit den Ausmaßen der empfohlenen Quelle. Er fand, daß er dort bestenfalls seine Schwanzspitze benetzen konnte und wurde noch ärgerlicher über die Unverschämtheit und Selbstsucht Targors. »Meine Quelle«, erreichten ihn Targors Gedankenimpulse, »ist in der vergangenen Nacht versiegt, und ich habe mich entschlossen, von nun an diese zu benutzen.« »Aber das ist meine Quelle!« erklärte Groof-Marn mit jenem letzten Quentchen Selbstbeherrschung, das ihn schon in vielen anderen Situationen ausgezeichnet hatte. Targor stülpte sich einen Morastfladen über den Schädel und ließ ihn genießerisch über den Nacken laufen. »Es ist eine Frage der angeborenen Höflichkeit«, meinte er gelassen. »Als Jüngerer wirst du mir diese Quelle wohl zur Verfügung stellen.« »Nein!« rief Groof-Marn. »Du wirst doch nicht daran denken, einen alten Drachen gewaltsam aus dieser Quelle zu jagen?« dachte Targor voller Abscheu. »Ich denke pausenlos daran!« versicherte
Groof-Marn. Sie starrten sich an, und nach einer Weile senkte Targor den Kopf und wälzte sich aus der Quelle. »Es gibt noch viele freie Badeplätze im Tal«, versuchte Groof-Marn ihn zu trösten. Targor wälzte sich im Gras, um seinen Körper von Schlamm zu reinigen. Er antwortete nicht, wahrscheinlich war er beleidigt. Groof-Marn stampfte in seine Quelle und ließ sich darin nieder. Kaum hatte er mit der Reinigungsprozedur begonnen, als ein dritter Drachen neben der Quelle auftauchte. Es war Vert-cha. Der Anblick des begehrten Weibchens ließ das Blut in Groof-Marns Kopf steigen; er nahm eine stolze Haltung ein und spie Feuer. Vert-cha beachtete ihn jedoch überhaupt nicht, sondern wandte sich an den im Gras dösenden Targor.‘ »Du hast mir versprochen, daß ich deine neue Quelle benutzen dürfte, von der du mir soviel erzählt hast.« Targor blickte in alle Richtungen, als wollte er sich nach einem geeigneten Versteck umsehen, in dem er seinen riesigen Körper verbergen konnte. Seine Gedanken verwirrten sich. »Keine Ausflüchte!« dachte Vert-cha. »Ich möchte jetzt diese Quelle sehen und ihre Vorzüge genießen.« »Ich bin einer der Vorzüge dieser Quelle«, konnte
Groof-Marn sich in diesem Augenblick nicht zurückhalten zu denken.»Komm nur zu mir herein, Vert-cha.« Sie warf nur einen Blick nach hinten und wandte sich dann voller Abscheu wieder Targor zu. »Teilst du etwa deine Quelle mit diesem Drachen?« wollte sie wissen. »Nicht ... nicht direkt«, gab Targor zögernd zurück. »Wir müssen uns noch über die ... die Besitzverhältnisse klarwerden.« Inzwischen hatte sich Groof-Marn so an der Schönheit des Weibchens berauscht, daß er aus der Quelle kam und sich Vert-cha näherte. »Ich räume die Quelle für dich«, dachte er entzückt. Vert-cha nahm die Quelle in Augenschein, bog geziert ihren Hals zurück und senkte behutsam ein Bein in den Morast. »Es geht«, dachte sie gnädig. »Die Temperatur ist nicht unangenehm. Außerdem ist die Quelle geräumig und hat einen weichen Lehmuntergrund.« »Ja«, platzte Targor heraus. »Ich habe dir ja mitgeteilt, daß es eine wunderbare Quelle ist.« »Aber es ist meine Quelle!« empörte sich Groof-Marn. »Ich habe sie Vert-cha geschenkt.« »Danke!« dachte Vert-cha. »Ich nehme dein Geschenk an.« Sie begann sich im Schlamm zu wälzen.
Groof-Marn und Targor sahen ihr zu, bis Targor, dessen Gefühle aufgrund seines hohen Alters schneller abkühlten als die Groof-Marns, sich an den Jüngeren wandte und dachte: »Ich befürchte, jetzt muß sich jeder von uns beiden eine neue Quelle suchen.« An dem Tag, an dem Groof-Marn sich eine neue Quelle suchen mußte, erlosch das Feuer der Yttis. Gur, der vor seiner Höhle döste, wurde von Grissan geweckt und unterrichtet. »Flammen erloschen!« rief der Ytti. »Bedeutet Unheil!« »Zündet das Feuer wieder an«, dachte Gur schlaftrunken. Endlich hob er den Kopf, und es fiel ihm ein, daß der Ytti seine Gedanken ja nicht verstehen konnte. Umgekehrt war der alte Drache jedoch in der Lage, die Gefühle des Schneemenschen zu verstehen. Als er sich auf sie konzentrierte, erschrak er. Grissan war außer sich vor Furcht. »Jedes Feuer kann einmal erlöschen!« dachte Gur. Laut sagte er: »Wieder anzünden! Alles in Ordnung.« Doch so leicht war Grissan nicht zu beruhigen. Er zeigte ins Tal hinab, wo sich die dreihundert Yttis um die Feuerstelle versammelt hatten und einen seltsamen Tanz vollführten. Für Wesen, die das Feuermachen erst seit ein paar
Generationen beherrschten, mußten Flammen und Wärme eine besondere Bedeutung haben, überlegte Gur. Trotzdem kam ihm die Reaktion der Yttis übertrieben vor. »Tal verlassen!« kreischte Grissan. »Alle Yttis.« Das ermunterte Gur endgültig. Er rief Ga-vok und Foncha mit Gedankenimpulsen zu sich. Ga-vok und Foncha galten als die im Umgang mit den Yttis erfahrensten Drachen. Gur schilderte ihnen, was geschehen war. »Sie haben ihr Feuer ausgehen lassen«, dachte er. »Das ist sicher nicht ungewöhnlich, aber sie nehmen es sehr tragisch. Sie wollen das Tal verlassen. Natürlich können wir sie ziehen lassen und neue Yttis anwerben. Das wird nicht einfach sein. Außerdem bin ich sicher, daß Grissans Stamm früher oder später zurückkehren würde.« »Auch wenn nur ein paar wegblieben, müßten wir uns um die Herden kümmern«, meinte Ga-vok mürrisch. »Keiner von uns hat besondere Lust dazu. Deshalb sollten wir versuchen, die Schneebestien zu beruhigen und zum Bleiben zu veranlassen.« Seine Gedanken fanden die Zustimmung Gurs und Fonchas. Grissan kletterte auf den Rücken des blauen Drachen, dann begaben sich alle vier hinab ins Tal, um die erloschene Feuerstelle zu besichtigen.
Gur konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Er nahm an, daß die Yttis gegen ihre sonstige Gewohnheit feuchtes Holz benutzt hatten, obwohl er sich nicht erinnern konnte, eine besonders starke Rauchentwicklung beobachtet zu haben. Gur kannte die Dämonenfurcht der Yttis. Er mußte diese Furcht respektieren. Die drei Drachen versuchten die Yttis zu beruhigen, indem sie ununterbrochen freundliche Laute ausstießen. Grissan, der durch sein ständiges Zusammensein mit Gur viel von den Drachen angenommen hatte, hob schließlich zwei Feuerhölzer in die Höhe. Das war für die anderen . Schneemenschen ein entscheidendes Signal. Zunächst zögernd, dann mit immer größerem Eifer, begannen sie ein neues Feuer zu entfachen. »Das wäre erledigt!« dachte Foncha zufrieden. »Wir sollten die Yttis trotzdem noch eine Zeitlang beobachten«, schlug Gur vor. »Sie sind verängstigt. Der kleinste Anlaß genügt, sie in die Flucht zu schlagen.« Die drei alten Drachen blieben in der Nähe der Yttis. Gegen Abend wurde Gur unruhig. Er konnte sich seinen Zustand nicht erklären. Er ertappte sich dabei, daß er immer wieder in Richtung der großen Ebene blickte. Obwohl er sich eine Zeitlang konzentrierte, konnte er keine fremdartigen oder feindlichen
Gedankenimpulse spüren. Alles war in Ordnung. Gur beobachtete Ga-vok und Foncha, um an ihnen eventuell ebenfalls Anzeichen von Nervosität festzustellen. Doch die beiden anderen wirkten völlig normal. So kam Gur auch nicht auf die Idee, die Gedanken von Ga-vok und Foncha zu durchforschen.
5.
Am dritten Tag fiel einer der drei Späher von Nivans Armee dem Anschlag eines unbekannten Stammes zum Opfer. Gorvan fand den Toten zwischen ein paar Büschen und rief Nivan zu sich. »Es ist besser, wenn wir ihn den anderen nicht zeigen«, schlug Gorvan vor. Als Nivan die Leiche sah, verstand er die Worte des großen Mannes. Unbekannte hatten den Leib des Spähers aufgeschlitzt und mit Steinen gefüllt. »Es ist eine Warnung Kals, daß wir unsere Aufgabe noch ernster nehmen müssen«, sagte Nivan. »Es ist das Werk eines hier in diesem Gebiet lebenden Stammes«, versetzte Gorvan. »Wir müssen die beiden anderen Späher warnen, sobald sie
zurückkehren.« Sie waren vor zwei Stunden aufgebrochen und befanden sich jetzt in einer weiten grasbewachsenen Ebene mit mehreren von Buschwäldern umsäumten Seen. Obwohl die Sonne schon vor Stunden aufgegangen war, wollte sich der graugelbe Dunst über dem Boden nicht auflösen. Stellenweise waren die Schwaden so dicht, daß sie den Männern die Sicht versperrten. Kein Luftzug war zu spüren. Im nassen Gras wimmelte es von braunen und schwarzen Kröten, deren Gequake die Männer begleitete. »Ein unheimliches Land«, sagte Nivan schaudernd. »Ich bin froh, wenn wir diese Ebene hinter uns haben.« »Es gibt nur diesen Weg zum Tal der Drachen«, erwiderte Gorvan. Sie kehrten zu der Gruppe zurück. Beide schwiegen über den Tod des Spähers, aber die Söhne Kals merkten, daß etwas vorgefallen war, denn Nivan ließ die Flanken seiner kleinen Armee jetzt doppelt scharf bewachen. Er wollte nicht in einen Hinterhalt geraten. Eine Stunde später stießen sie auf den völlig erschöpften Pergrit. »Am Ufer des Sees vor uns lagert ein Stamm braunhäutiger Menschen«, berichtete der Späher. »Sie entdeckten und verfolgten mich, so daß ich ihnen nur mit Mühe entkommen konnte.« »Wieviel sind es?« wollte Nivan wissen.
»Etwa dreihundert«, gab Pergrit zurück. »Sie verfügen über mehrere Wagen mit Zugtieren und ein paar Dutzend Pferde.« Nivan verzog das Gesicht. »Wir werden diesen See umgehen. Kal hat uns nicht in dieses Land geschickt, damit wir Krieg gegen einen fremden Stamm führen. Unser Ziel ist das Tal der Drachen.« »Wir könnten Pferde und Wagen gut brauchen«, gab Gorvan zu bedenken. »Ein Überfall würde sich vielleicht lohnen. Wir könnten den Stamm am See überraschen und überwältigen.« »Nein!« lehnte Nivan scharf ab. »Wir erfüllen den Auftrag Kals.« Er sah die Enttäuschung in Gorvans Gesicht. »Wir ändern unsere Richtung!« entschied er. »Pergrit wird uns so weit um den See herum führen, daß wir keinen Kontakt mit den Fremden bekommen.« Er verbot den Kriegern, miteinander zu sprechen, und forderte sie auf, ihre Schwerter mit Fellen und Lappen zu umwickeln, damit sie nicht klirrten. Am späten Nachmittag hob der an der Spitze marschierende Pergrit den rechten Arm. »Wir sind jetzt außer Hörweite«, teilte er Nivan mit. »Du mußt zum See und feststellen, ob dort alles ruhig geblieben ist«, ordnete Nivan an. »Er ist viel zu erschöpft für diese Aufgabe!«
protestierte Gorvan. »Ich werde an seiner Stelle gehen.« Er wartete keine weiteren Einwände des Oberpriesters ata, sondern ging davon. Wenig später hatten ihn die Dunstwolken verschluckt. Nivan starrte mit brennenden Augen auf die Stelle, an der sein stärkster Krieger verschwunden war. »Gorvan stellt sich gegen Kals Befehle, denn Kal spricht durch meinen Mund«, sagte er zu Pergrit. »Kal befiehlt, daß du ihm folgen und ihn töten sollst.« Pergrit öffnete den Mund, Aber er war viel zu überrascht, um auch nur einen Ton herauszubringen. »Du kennst Kals Befehle!« herrschte Nivan den Späher an. »Dir wird es leichtfallen, Gorvan zu überraschen und ihn zu töten. Sobald du das erledigt hast, beobachtest du den Stamm am See und kehrst zu uns zurück.« Pergrit ging mit gesenktem Kopf davon. Er erinnerte sich noch genau, was mit Gulas geschehen war. Nivan besaß eine besondere Beziehung zum Vogelgott, daran bestanden keine Zweifel. Und hatte nicht Nivan behauptet, daß er sich selbst in einen großen mächtigen Vogel verwandeln würde, sobald alle Drachen getötet waren? Der Späher wollte nicht ein ähnliches Schicksal wie Gulas erleiden, deshalb folgte er Gorvan. Pergrit schätzte Gorvan. Er respektierte die Gelassenheit und die Stärke des großen Mannes. Im offenen Kampf
würde er gegen Gorvan keine Chance haben, Deshalb mußte er sich ihm heimlich nähern und von hinten niederschlagen. Pergrit kannte die ungefähre Richtung, die Gorvan eingeschlagen hatte. Die Sinne des Spähers waren durch das ständige Leben in freier Natur geschärft. Er konnte einzelne Geräusche unterscheiden und deuten wie kein zweiter Mann vom Stamme der Kinder Kals. Schon wenig später hatte er Gorvans Spur gefunden. Der große Mann bewegte sich etwa sechzig Schritte vor ihm durch das feuchte Gras und verursachte dabei eine Menge Lärm. Anders Pergrit, dessen Bewegungen unhörbar blieben. Ab und zu tauchte Gorvans Gestalt schattenhaft im Dunst auf. Pergrit lief geduckt und bückte sich jedesmal dicht an den Boden hinab, wenn Gorvan stehenblieb. Pergrit machte sich Sorgen, daß die Wächter, die der am See lagernde Stamm ausgeschickt hatte, Gorvan hören würden, noch bevor dieser sie entdeckt hatte. Anderseits konnten ihm die Fremden vielleicht die Ermordung Gorvans abnehmen. Pergrit war sich der Zwiespältigkeit seiner Gedanken bewußt. Er wünschte plötzlich, es hätte eine Möglichkeit für ihn gegeben, zum Dorf seines Volkes zurückzukehren. Doch das durfte er auf keinen Fall riskieren. Die Rache Kals hätte
ihn getroffen, und er wäre auf dem Opferstein verblutet. Plötzlich hörte Pergrit Geräusche, die ihn aus seinen Gedanken aufschreckten. Sie kamen aus Richtung des Sees. Warum blieb Gorvan nicht stehen? Hörte er den Lärm nicht? Die Geräusche wurden lauter. Pergrit hörte jetzt deutlich Hufschläge auf dem weichen Boden. Zwei, nein, drei Pferde waren unterwegs. Pergrit war sicher, daß Reiter auf ihren Rücken saßen. Jetzt war auch Gorvan aufmerksam geworden, doch es war schon zu spät. Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich drei gedrungene Pferdekörper aus dem Dunst auf. Die Reiter hatten sich tief nach vorn gebeugt und trieben die Tiere an. Jeder der Reiter hielt in der freien Hand ein Schwert, in der anderen die Zügel. Sie hatten Gorvan längst gesehen. Pergrit warf sich auf den Boden, denn er war sicher, daß man ihn noch nicht entdeckt hatte. Die Aufmerksamkeit der Reiter galt ausschließlich Gorvan. Wahrscheinlich handelte es sich um Männer, die zunächst Pergrit gesucht hatten und nun auf Gorvan gestoßen waren. Gorvan hatte sein Schwert gezogen und stand breitbeinig da. Er machte keinen Fluchtversuch, denn
er wußte genau, daß er keine Chance hatte, den schnellen Pferden zu entkommen. Die drei Reiter stießen jetzt heisere Schreie aus, anscheinend um sich und ihre Tiere anzufeuern. Der an der Spitze reitende Mann hatte Gorvan erreicht und hieb mit seiner Waffe auf ihn ein. Gorvan verteidigte sich geschickt, aber bevor er den ersten Angreifer vom Pferd reißen konnte, waren die beiden anderen zur Stelle und drangen ebenfalls auf Gorvan ein. Pergrit sah den großen Mann zu Boden gehen. Gleichzeitig sprangen zwei der Fremden vom Pferd und stürzten mit erhobenem Schwert auf Gorvan zu. Der dritte Reiter trieb sein Pferd auf den am Boden Liegenden zu, die Absicht dieses Angreifers war unverkennbar. Pergrit vergaß, was Nivan ihm eingeschärft hatte. Er sprang auf die Beine und stieß einen wilden Schrei aus. Das lenkte die Angreifer einen Augenblick ab und gab Gorvan Gelegenheit, wieder auf die Beine zu kommen. Pergrit rannte los und riß sein Schwert heraus. Er sah, daß Gorvan einen der Fremden niederstach. Dann stolperte Gorvan. Er erhielt einen Schlag mit dem flachen Schwert gegen den Kopf und sank endgültig zu Boden.
Die beiden Männer wandte sich jetzt Pergrit zu. Sie waren klein, aber muskulös. Was Pergrit besonders auffiel, waren ihre knochigen Gesichter mit den schwarzen Augen darin. Das Haar der beiden war schwarz und ölig. Sie hatten es mit einem Band im Nacken zusammengebunden. Pergrit parierte den ersten Hieb. Er war nicht sehr stark, aber er konnte sein Schwert geschickt führen. Schon sein erster Ausfall gelang. Er brachte einem seiner Gegner eine tiefe Wunde an der Hüfte bei. Der zweite Mann drehte sich um und rannte davon, ohne sich um seine beiden Begleiter oder die Pferde zu kümmern. Der Verletzte lag still am Boden. Er zuckte nur kurz zusammen, als Pergrit ihm den tödlichen Schlag versetzte. Danach trat Pergrit zu Gorvan. Der große Mann war bewußtlos. An seiner rechten Schläfe entdeckte Pergrit eine aufgeplatzte Beule. Der Späher setzte die Spitze seines Schwertes an Gorvans Hals. Da schlug Gorvan die Augen auf. Die beiden Männer sahen sich an. »Nivan hat dir befohlen, mir zu folgen und mich zu töten«, erriet Gorvan. Pergrit schluckte. Seine Hand, die das Schwert hielt, zitterte leicht.
»Ja«, gab er zögernd zu. »Warum hast du mir geholfen?« fragte Gorvan irritiert. »In meinem eigenen Interesse!« Gorvan schielte zur Schwertspitze an seinem Hals hinab. »Du gewinnst nichts, wenn du mich jetzt tötest.« »Es ist Kals Befehl!« »Es ist Nivans Befehl«, versetzte Gorvan ruhig. »Du kannst zu den Kriegern zurückkehren und berichten, daß du mich gefunden und getötet hast. Ich verspreche dir, niemals wieder zum Stamm oder ins Dorf zurückzukehren.« »Kal wird es wissen!« sagte Pergrit. Trotzdem stach der Späher nicht zu. Er hatte schon immer Sympathie für Gorvan empfunden und brachte es nicht fertig, ihn kaltblütig zu töten. Gorvan packte die Schwertspitze und drückte sie zur Seite. Dann stand er auf. »Geh jetzt!« sagte er zu Pergrit. »Was wirst du tun?« Gorvan zögerte. »Ich weiß es nicht. Ich werde versuchen, weiter westlich einen Stamm zu finden, dem ich mich anschließen kann.« Pergrit drehte sich um und ging davon. Als er noch einmal zurückblickte, war Gorvan bereits
verschwunden. Der Späher beschleunigte seine Gangart und erreichte wenig später Nivans Armee. Er begab sich sofort zum Oberpriester. »Gorvan ist tot«, berichtete er. »Die Reiter des fremden Stammes nahmen mir meine Aufgabe ab.« Nivan sah ihn mißtrauisch an. »Hast du dich davon überzeugt, daß er tot ist?« »Ich habe gesehen, wie er von sechs Schwertern durchbohrt wurde. Das übersteht niemand.« Nivan atmete auf. »Es ist besser, wenn wir dieses Gebiet so schnell wie möglich verlassen«, schlug Pergrit vor. »Die Reiter des unbekannten Stammes sind noch immer unterwegs. Die werden uns aufspüren, wenn wir uns nicht zurückziehen.« Nivan nickte und hielt eine kurze Ansprache an die Krieger. Er teilte ihnen mit, daß Gorvan von Fremden getötet worden war. »Es war Kals Wille«, erklärte er, als er die Unruhe unter den Männern erkannte. »Gorvan zweifelte an Kals Macht. Wir werden auch ohne ihn ins Tal der Drachen vordringen und diese Wesen vernichten.« Pergrit, der neben dem Oberpriester stand, fühlte plötzlich Bedenken, ob Kals Macht ausreichen würde, um den Kriegern zum Sieg über die Drachen zu verhelfen. Er verbannte diese Gedanken aus seinem Bewußtsein, denn er fürchtete die Strafe des
Vogelgotts. Er war froh, als Nivan ihm befahl, den Söhnen Kals vorauszugehen und die Beobachtung der Umgebung zu übernehmen. Die ständige Wachsamkeit, die diese Aufgabe erforderte, würde verhindern, daß er über Kal oder Nivan nachdachte. Er rannte durch das nasse Gras davon. Nachdem Pergrit verschwunden war, begann Gorvan mit der Verfolgung der kleinen Armee. Er wußte, daß er damit das Versprechen brach, daß er dem Späher gegeben hatte. Da er sich jedoch mit seinem Volk verbunden fühlte, wollte er die Krieger nicht ihrem Schicksal überlassen. Er hatte keine klare Vorstellung davon, auf welche Weise er den Söhnen Kals helfen konnte, aber er wollte es auf jeden Fall versuchen. Vielleicht gerieten seine Stammesgenossen irgendwo in einen Hinterhalt. Andererseits war sich Gorvan darüber im klaren, daß er nicht zum Stamm zurückkehren konnte, solange Nivan noch am Leben war. Nach den letzten Vorfällen zweifelte Gorvan immer mehr daran, daß Kal eine gute Gottheit war. Kal schien ein Dämon zu sein, der nur erschien, um Tod und Verderben zu verbreiten. Gorvan fragte sich, warum die Söhne Kals gegen die mächtigen Drachen kämpfen sollten. Bisher war es
noch nie zu Zusammenstößen zwischen den Kindern Kals und den Drachen gekommen. Die Drachen hielten sich fast ausschließlich in ihrem Gebiet auf und griffen niemand an. Wenn Kal ihre Ausrottung befahl, mußte er persönliche Gründe dafür haben. Gorvan blieb unwillkürlich stehen und sah sich um. Wenn Kal ein so mächtiger Gott war, wie er vorgegeben hatte, mußte er Gorvans Gedanken registrieren und den Krieger bestrafen. Doch es geschah nichts. Gorvan starrte in den Nebel. »Wo bist du, Kal?« stieß er hervor. Er zog sein Schwert und blickte sich angriffslustig um. »Zeige dich, damit ich dir entgegentreten kann.« Erschrocken über seinen eigenen Mut begann Gorvan zu zittern. Aber Kal erschien nicht. Der große Mann stieß ein wildes Gelächter aus und schob die Waffe wieder in den Gürtel. Dann begann er mit der Verfolgung von Nivans Armee. Manchmal, wenn Sonne, Mond und Jupiter in einer besonderen Stellung zueinander stehen, läßt die Intensität kosmischer Schwerkraftlinien auf der Erde nach. Die Drachen in ihrem Tal nahe den Himmelsbergen werden bei dieser Gelegenheit von einer seltsamen Erregung ergriffen. Sie versammeln sich rund um eine heiße Quelle und verfallen in
Trance. Ihre Gedanken sprechen zueinander ... Der Traum des weißen Drachen Groof-Marn Aus dieser großen Höhe sahen die Kanäle von Muon wie silberne Schnüre aus. Jedesmal, wenn Groof-Marn die Landung eines Drachenschiffs im Traum erlebte, sah er sich selbst vor den Beobachtungsluken des Schiffes stehen und auf Atlantis hinabblicken. Seltsamerweise war die Stadt nicht unmittelbar an der Küste entstanden. Im Traum wußte Groof-Marn, daß es noch Städte auf anderen Welten gab, aber er träumte immer nur von Muon auf Atlantis. Im Traum wußte Groof-Marn auch, daß Atlantis nicht mehr existierte. Die Insel war einer schrecklichen Katastrophe zum Opfer gefallen. Groof-Marn war sich darüber im klaren, daß er auf der Welt lebte, auf der sich diese Katastrophe ereignet hatte. Während seines Traums war Groof-Marn mit den anderen Drachen verbunden. Ihre Gedanken bestätigten ihm, was er vermutete. Alles, was Groof-Marn von seinem Traum in die Realität rettete, war der Anblick einer Stadt aus großer Höhe. Sobald er erwacht war, konnte Groof-Marn sich nicht mehr an den Namen der Stadt erinnern. Er vergaß auch ihre Bedeutung. In seinem Traum jedoch bewegte er sich durch die Straßen der Stadt, sah Drachen, Raumfahrer, Zyklopen,
Einhörner, Elfen, Trolle und Vampire. Muon sprudelte über vor Leben. Die Vorstellung, daß diese Stadt untergegangen war, bereitete Groof-Marn psychische Schmerzen. Auch nach dem Erwachen war er sich eine Zeitlang eines großen Verlusts bewußt, ohne daß er dieses Gefühl hätte erklären können. Groof-Marn sah Atlanter, die die Aufzucht von Jungdrachen übernahmen. Er sah einen Tafelberg, auf dem die Goldene Fee lebte. Diese Traumwelt war bizarr und unvorstellbar schön, aber sie hatte irgendwann einmal existiert. Die Katastrophe hatte nicht nur das Ende von Atlantis bedeutet, sondern die gesamte Welt in Mitleidenschaft gezogen. Alles hatte sich verändert. Auch bei den Drachen war es zu Mutationen gekommen. Groof-Marn konnte die Traumwelt verstehen, er sah sie in all ihrer Vollkommenheit. Die Welt jedoch, in der er lebte, blieb ihm auch in seinen Träumen verschlossen. Er erkannte keine Zusammenhänge. Den anderen Drachen erging es nicht besser. Das Wissen von der alten Welt existierte tief im Bewußtsein der Drachen weiter, aber über die neue Welt wußten sie so gut wie nichts. Ihr Begriffvermögen war auf die eigene Umgebung und auf das eigene Volk beschränkt. Im Traum entschlossen sich Groof-Marn und die
anderen Drachen jedesmal, irgend etwas Entscheidendes zu tun, um das Ende ihres Volkes abzuwenden, doch nach dem Erwachen wußten sie nichts mehr von diesem Entschluß. Alles, woran der weiße Drache Groof-Marn sich nach dem Erwachen erinnerte, war diese wunderbare, von Kanälen durchzogene Stadt auf der längst untergegangenen Insel Atlantis.
6.
Groof-Marn hockte neben dem Feuer und briet sich einen halben Ochsen. Er drehte den Spieß langsam, damit das Fleisch gleichmäßig bräunte und schön knusprig wurde. Der Duft, der in Groof-Marns Nüstern stieg, ließ ihn hungrig schlucken. Fett tropfte ins Feuer und ließ die Flammen auflodern. Behaglichkeit breitete sich in Groof-Marn aus. So dazusitzen, die Wärme des Feuers auf der Haut zu spüren und den verlockenden Duft des Fleisches zu riechen, löste Zufriedenheit in dem Drachen aus. Er konnte sich nichts Schöneres vorstellen. Überall im Tal und vor den Höhlen brannten jetzt Feuer. Die Drachen waren dabei, sich ihre Tagesmahlzeit zuzubereiten.
Groof-Marn hörte ein Geräusch und blickte auf. Hectvor und Bernt-cha, zwei alte Drachen, näherten sich der Feuerstelle. Vom Duft des Bratens angelockt, blieben sie stehen und sahen eine Weile zu. »Hm!« machte Hectvor schließlich genießerisch. »Ein ganz besonderer Braten.« »Ja«, stimmten Bernt-chas Gedanken zu. »Groof-Marn kann sich glücklich schätzen, daß er einen solchen Braten auf seinem Spieß stecken hat.« Groof-Marn beachtete die Gedanken der alten Drachen nicht, sondern drehte geruhsam den Spieß. Die Störung war ihm unangenehm. Er hatte gern in Ruhe gegessen. Außerdem hatte er Vert-cha zum Essen eingeladen. »Es ist ein ziemlich großer Ochse«, drangen Hectvors Gedanken in Groof-Marns Bewußtsein. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Groof-Marn so gefräßig ist und ihn allein verspeisen wird.« »Es ist nur ein halber Ochse!« korrigierte Groof-Marn bestürzt, denn die Konsequenzen aus Hectvors Gedanken blieben ihm nicht verborgen. »Die Hälfte eines ziemlich kleinen Ochsen.« »Trotzdem sieht die Hälfte sehr groß aus«, meinte Bernt-cha nachdenklich. »Fast wie ein ganzer Ochse. Ich habe schon ganze Ochsen gesehen, die nur halb so groß waren wie diese Hälfte.« Groof-Marn drehte den Spieß jetzt schneller,. er
machte einen verbissenen Eindruck und sah nicht mehr zufrieden aus. Hectvor und Bernt-cha sahen abwechselnd den Braten und Groof-Marn an, aber die Einladung, auf die sie offensichtlich warteten, erfolgte nicht. Die beiden Alten rückten näher an das Feuer heran. »Es wird noch sehr lange dauern, bis der Braten durch ist!« dachte Groof-Marn. »Das stört uns nicht«, gab Hectvor zurück. »Wir wollten nur einen gemeinsamen Bummel durch das Tal machen und die Herden besichtigen. Wir haben nichts zu versäumen, nicht wahr, Bernt-cha?« »Ja, wir haben Zeit!« Groof-Marn streute Gewürz auf seinen halben Ochsen und ließ sich dann wieder zurücksinken. »Ich glaube«, dachte Hectvor nach einiger Zeit, »daß man jetzt einmal versuchen sollte, ob das Fleisch durchgebraten ist. Es bekommt an verschiedenen Stellen bereits eine schwarze Kruste. Verbranntes Fleisch ist ungenießbar.« »Ich mag verbranntes Fleisch!« verkündete Groof-Marn mit Nachdruck. »Ich bin geradezu verrückt danach. Solange ich lebe, habe ich nichts anderes gegessen als schönes verbranntes Fleisch.« »Die Ochsenhälfte wird noch verbrennen!« warnte Bernt-cha. »Ich esse nur verbrannte Ochsenhälften«, erwiderte
Groof-Marn. Sie starrten alle drei die Ochsenhälfte an, die immer dunkler wurde. Rauchsäulen stiegen vom Fleisch empor. »Ich glaube«, dachte Hectvor, »daß man die Ochsenhälfte jetzt vom Spieß nehmen sollte. Wir werden dir dabei helfen.« Er wälzte sich auf die Feuerstelle zu, gefolgt von Bernt-cha, die bereits gierig den Atem aus den Nüstern stieß und den Rachen weit geöffnet hatte. Groof-Marn trat Hectvor in den Weg. Die beiden Drachen prallten aufeinander. Dabei stieß Hectvor den Bratenspieß um. Der halbe Ochse fiel ins Feuer und begann zu brennen. Bernt-cha, die dies beobachtete, ging um die beiden Männchen herum, um den Braten zu retten. Sie kam jedoch nicht heran, denn die Flammen schlugen jetzt meterhoch und taten ihr weh. Groof-Marn und Hectvor ließen voneinander ab und betrachteten mit gemischten Gefühlen die brennende Ochsenhälfte. »Ihr Narren!« schalt Bernt-cha. »Ihr habt den Spieß umgestoßen. Jetzt verbrennt das gute Fleisch.« »Groof-Marn ißt gern verbranntes Fleisch«, erinnerte Hectvor gelassen. Er berührte Bernt-cha sanft an der Schulter und ging mit ihr davon. Groof-Marn suchte einen großen Ast und zog die Ochsenhälfte damit aus dem Feuer. Sie war bereits so
verkohlt, daß sie auseinanderbrach, als er sie hochhob, um sie zu untersuchen. Er warf sie ins Feuer zurück und blickte trübsinnig in die aufwirbelnden Flammen. In diesem Augenblick erblickte er Vert-cha, die sich von den Höhlen aus seiner Feuerstelle näherte. Vor Scham wäre Groof-Marn am liebsten im Boden versunken. Er hatte Vert-cha zum Essen eingeladen, aber seine Ochsenhälfte war verbrannt. Vert-cha kam heran und schnüffelte. »Es riecht nicht gut«, stellte sie fest. »Wie nach verbranntem Fleisch.« »Ja«, dachte Groof-Marn niedergeschlagen. »Das ist der Geruch verbrannten Fleisches.« »Und wo«, dachte sie fragend, »ist die saftige Ochsenhälfte, die wir gemeinsam verspeisen wollten?« Groof-Marn deutete auf einen schwarzen Klumpen im Feuer und senkte den Kopf. »Du hast sie verdorben«, stellte Vert-cha fest. »Ich frage mich, was dir überhaupt gelingt.« »Das frage ich mich auch«, dachte Groof-Marn. Er wagte nicht, das junge Weibchen anzusehen. Wahrscheinlich würde er ihre Gunst niemals gewinnen. »Ich habe noch ein paar getrocknete Früchte«, dachte er schließlich. »Wenn du damit zufrieden ...« Seine Gedanken erstarben, als er sah, daß sie den Hals
hob und ihn ansah. »Groof-Marn!« dachte sie. »Was soll das alles? Warum gibst du dir soviel Mühe, mich zu beeindrucken?« »Darüber kann man nicht denken!« antwortete er. »Und warum nicht?« »Ich bin schüchtern«, gestand Groof-Marn. Sie sahen sich an. Plötzlich wurde Groof-Marn von einer Welle der Zuneigung überflutet. Er näherte sich Vert-cha und berührte sie zärtlich am Hals. Zu seiner Überraschung wich sie nicht zurück, sondern erwiderte seine Geste. Das machte ihm Mut. Er holte tief Atem und eine gewaltige Feuersäule stieg aus seinem Rachen. »Ich speie Feuer für dich!« dachte er. Sie blickte hinauf zu den Höhlen. »Doch nicht vor allen anderen Drachen!« dachte sie. »laßt uns in meine Höhle gehen.« Groof-Marn war so beglückt, daß er ein paar unkontrollierte Schritte machte und dabei ins Feuer tappte. Er schrie auf, als die Flammen seine Pranken verbrannten. Dann stand er neben Vert-cha. Sie hoben beide vom Boden ab und flogen zu den Höhlen hinauf. Als Groof-Marn erwachte, war draußen dunkle Nacht. Im Innern von Vert-chas Höhle brannte eine Fackel.
Das Weibchen lag neben dem niedergebrannten Feuer und hatte den Kopf am Boden liegen. Seine Augen waren geschlossen. Groof-Marn wußte nicht, was ihn geweckt hatte: Ein unbestimmbares Geräusch oder das Gefühl, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Leise, damit er Vert-cha nicht aufweckte, begab er sich zum Höhlenausgang. In der Nachbarschaft war alles still. Auch unten im Tal, wo die Feuer der Yttis brannten, regte sich nichts. Trotzdem wurde Groof-Marn seine innere Unruhe nicht los. Er hockte sich vor den Höhlenausgang und wartete, daß irgend etwas geschehen würde. Es blieb alles still. Eine Zeitlang blieb Groof-Marn sitzen, dann hörte er Vert-cha sich im Höhleninnern regen. Sie streckte den Hals heraus. »Ich dachte, du hättest mich verlassen«, kamen ihre Gedanken. »Nein«, gab er zärtlich zurück. »Ich bleibe bei dir.« »Warum bist du nicht in der Höhle und schläfst?« wollte sie wissen. »Ich bringe jede Nacht ein paar Stunden im Freien zu«, erklärte er ausweichend. »Das erfrischt mich.« Sie kam vollständig heraus und hockte sich neben ihn. »Ich fühle, daß du bedrückt bist, Groof-Marn.« Er konnte seine geheimen Gedanken nicht länger
vor ihr verbergen. »Ich spüre eine Drohung in unmittelbarer Nähe«, gestand er. »Ich kann dieses Gefühl nicht erklären, und es gibt auch keine sichtbaren oder hörbaren Anhaltspunkte für eine Gefahr.« »Du bist übermüdet!« »Möglich«, schränkte Groof-Marn ein. »Aber die Sache beschäftigt mich. Vielleicht sollte ich einmal mit Gur darüber sprechen. Er hat oft eine Erklärung für ungewöhnliche Ereignisse.« »Warum willst du mitten in der Nacht zu ihm gehen?« Er zögerte. Vert-cha hatte recht. Er konnte auch bis morgen warten. Noch einmal richtete er seine Sinne über die Grenzen des Tales hinaus, konnte aber keine feindlichen Gedanken aufspüren. »Es scheint tatsächlich eine Täuschung zu sein«, dachte er und folgte Vert-cha ins Innere der Höhle. Er fachte das Feuer wieder an und erneuerte die Fackel. Seine Geschäftigkeit blieb Vert-cha nicht verborgen. »Du suchst Ablenkung!« »Ich glaube nicht, daß ich noch einmal einschlafen werde.« Sie kam zu ihm und strich ihm über den Kopf. »Wie kannst du nur jetzt über Probleme nachdenken?« »Du hast recht«, dachte er verlegen. »Ich habe
wirklich Besseres zu tun.« Er zog sie neben sich auf den Boden. Er vermochte sich jedoch nicht auf seine Gefährtin zu .konzentrieren. Immer wieder lauschte er nach draußen und konzentrierte seine Sinne auf ungewohnte Gedanken. Es schien jedoch alles unverändert zu sein. Groof-Marn wartete, bis Vert-cha eingeschlafen war, dann schlich er abermals aus der Höhle. Er kroch an den anderen Höhlen vorbei, bis er die Behausung des alten Gur erreichte. Zu seiner Überraschung fand er den Anführer des Stammes vor der Höhle. »Groof-Marn!« dachte Gur überrascht, als er die Gedanken des Ankömmlings spürte. »Warum bist du nicht in deiner Höhle und schläfst?« »Ich war bei Vert-cha«, berichtete Groof-Marn. »Aber irgend etwas läßt mich nicht schlafen. Ich spüre, daß uns etwas bedroht, ohne sagen zu können, was es ist.« Gur ließ sich mit einer Antwort viel Zeit. Er schien erst gründlich nachzudenken. »Auch ich spüre, daß etwas geschehen ist«, erklärte er. »Deshalb sitze ich hier draußen und beobachte das Tal und die Umgebung.« Unwillkürlich hielt der Jüngere den Atem an. Er war also mit seinen Befürchtungen nicht allein. Gur, der erfahrene Drache, spürte ebenfalls die Gefahr.
»Was sollen wir tun?« fragte Groof-Marn alarmiert. »Vorläufig nichts!« entgegnete Gur. »Da wir die Gefahr nicht kennen, die wir instinktiv spüren, haben wir vorläufig auch keine Chance, gegen sie anzugehen.« Groof-Marn dachte hastig: »Wir sollten alle anderen wecken und informieren.« »Nein!« Die Gedanken waren ablehnend. »Was sollten wir ihnen mitteilen? Wir würden nur für Unruhe sorgen. Früher oder später werden es alle merken.« »Warum spüren sie es nicht schon jetzt?« »Das liegt an der unterschiedlichen Sensibilität«, erklärte der Anführer der Drachen. »Ich bin jedoch überzeugt davon, daß auch andere Drachen schon etwas gemerkt haben, aber sie schweigen noch.« Groof-Marn war enttäuscht. Er hatte gehofft, daß Gur etwas unternehmen würde, wenn er sich auch nicht vorstellen konnte, was sie jetzt tun sollten. Gur war erfahren. Darauf mußten alle anderen vertrauen. »Ich habe Vert-cha zu meiner Gefährtin gewonnen«, dachte Groof-Marn scheinbar zusammenhangslos. Die Gedanken des Alten verrieten Belustigung. »Jetzt befürchtest du, daß irgend etwas dein junges Glück zerstören könnte.« Groof-Marn brummte zustimmend. »Es ist schade, daß Hot-cha, Hotch und Hot-chi
nicht hier sind«, dachte Gur. »In entscheidenden Situationen sollte ein Volk immer zusammen sein.« Groof-Marn wußte, daß Hotch der besondere Favorit des Alten war. Eines Tages, wenn Gur zu alt sein würde, sollte Hotch die Drachen anführen. Groof-Marn war Hotchs Freund, er konnte verstehen, daß Gur Hotch zum Nachfolger erwählt hatte. Außerdem wurde Hotch von allen anderen Drachen ebenfalls akzeptiert. »Wenn Hotch etwas zustoßen sollte, wirst du mein Nachfolger werden«, dachte Gur unvermittelt. Groof-Marn war so überrascht, daß er keinen Gedanken fassen konnte. Damit hatte er nicht gerechnet. Er überlegte, wie Gur ausgerechnet auf ihn verfallen war. Gur erklärte es ihm: »Vielleicht brauchen die Drachen einmal einen Anführer, der ungewöhnliche Wege geht, um sein Volk zu retten. Hotch ist ein solcher Drache. Du kommst ihm am nächsten.« »Ich bin weder so stark noch so klug wie er!« »Du bist viel jünger als er, du wirst dich also noch ändern.« »Ich habe immer das Gefühl, daß sich alle anderen über mich lustig machen.« »Das ist richtig«, stimmte Gur zu. »Aber die Stunde deiner Bewährung wird kommen. Du wirst den anderen beweisen, daß du längst erwachsen geworden
bist. Hattest du denn damit gerechnet, daß Vert-cha dich erhören würde?« »Nein!« »Sie besitzt die Intuition des echten Weibchens und täuscht sich nicht.« Gur versetzte dem Drachen an seiner Seite einen freundschaftlichen Hieb. »Jetzt hast du bewiesen, daß du große Sensibilität besitzt, genau wie Hotch oder ich.« Sollte ich wirklich anders sein, als ich immer geglaubt habe? fragte sich Groof-Marn. Er hatte plötzlich das Gefühl, daß eine Phase seines Lebens an ihm vorbeigegangen war, ohne daß er es gemerkt hatte. Er sah sich selbst noch als jugendlich-verspieltes Mitglied des Stammes, während Gur ihn bereits als vollwertiges Männchen einstufte. Groof-Marn wußte nicht, ob er über diese Entwicklung stolz oder traurig sein sollte. Auf eine bestimmte Weise bereitete es ihm jedoch innere Freude, daß er gleichwertig an der Seite Gurs sitzen und diskutieren konnte. Gur überlegte alle Gedanken, er gab nichts von sich, was er zuvor nicht gründlich überlegt hätte. »Es gibt zu wenig Drachen wie Hotch und dich«, dachte Gur traurig. »Wenn alle Jungdrachen so wären, hätte unser Volk vielleicht wieder eine Chance.« Er wandte sich ab und kehrte in seine Höhle zurück. Noch einmal erreichten seine Gedanken den jungen
Drachen. »Ich glaube nicht, daß in dieser Nacht etwas geschehen wird. Warten wir ab. Es ist wichtig, daß wir aufmerksam bleiben.« Groof-Marn kam sich ein wenig verloren vor, aber er sah ein, daß der alte Drache recht hatte. Er verließ den Platz vor Gurs Höhle und kehrte zu Vert-cha zurück. Sie schlief noch. Groof-Marn ließ sich neben dem Feuer nieder und wurde wenig später von der Müdigkeit überwältigt. 7.
Hinter der Hügelkette, die sich nur undeutlich in der Abenddämmerung abzeichnete, lag das Tal der Drachen. Nivan stand auf einem Stein und beobachtete die Umgebung. Schneller als erwartet, waren sie am Ziel angekommen. Der Oberpriester würde jedoch erst in der nächsten Nacht den Befehl zum Angriff geben, denn er wollte, daß seine Krieger ausgeruht in den schweren Kampf gingen. Acht Krieger, Gorvan eingeschlossen, hatten das Ziel nicht erreicht. Der Oberpriester war mit dem bisherigen Verlauf des Unternehmens sehr zufrieden. Die Söhne Kals lagerten am Rande eines Waldes.
Nivan hatte verboten, ein Feuer anzuzünden, denn er wollte durch nichts die Aufmerksamkeit der Drachen erwecken. Bei Tagesbeginn würde er mit den Kriegern in den Wald zurückkehren. Am nächsten Abend würden sie dann aufbrechen und die Hügelkette an der flachsten Stelle übersteigen. Nivan rechnete damit, daß sie um Mitternacht im Tal sein würden. Das war eine günstige Zeit für den Überfall. Nivan rief Pergrit und Oskort zu sieh. »Kal hat uns beigestanden«, sagte der Oberpriester. »Die Krieger sollen sich in der kommenden Nacht und am darauffolgenden Tag ruhig verhalten und sich ausruhen. Jeder muß darauf achten, daß sein Helm nicht verrutscht. Wenn nur einer der Männer seinen Helm verliert, werden die Drachen fühlen, daß wir in der Nähe sind.« Oskort ging davon, um die Befehle des Oberpriesters an die Männer weiterzugeben. »Sobald der Kampf vorüber ist, werden wir ein großes Fest feiern und Kal ein Opfer bringen«, sagte Nivan zu Pergrit. »Der Sieg über die Drachen kann nur durch ein Menschenopfer gefeiert werden. Kal wird mit seinen Söhnen zufrieden sein.« In der Nähe des Oberpriesters fühlte Pergrit sich unbehaglich. Das hatte sich noch verschlimmert, seit er Gorvans Entkommen ermöglicht hatte. Pergrit fürchtete jedesmal, daß Kal Nivan einen Wink geben und den Verrat entlarven würde.
Trotzdem wagte der Späher einen Einwand. »Noch haben wir die Drachen nicht besiegt. Es sind mächtige Wesen und uns an Körperkraft weit überlegen.« Nivan sah ihn böse an. »Zweifelst du an Kals Macht? Der Vogelgott kann jeden Kampf beeinflussen.« »Auch die Drachen haben Götter«, erinnerte Pergrit. »Es gibt keinen stärkeren Gott als Kal«, rief Nivan. »Er wird uns zum Sieg führen und mich danach in einen großen bunten Vogel verwandeln, damit ich ihm ähnlich bin.« Pergrit schwieg. Er war froh, daß Nivan zu meditieren begann und ihm dadurch ermöglichte, sich zurückzuziehen. Pergrit suchte sich einen Platz abseits von den anderen. Er war nicht wortkarg, aber an diesem Abend lag ihm nichts an langen Gesprächen. Pergrit sah, daß sich überall Gruppen zusammengefunden hatten. Angesichts des bevorstehenden Kampfes dachte keiner der Männer an Schlaf. Die Krieger waren erregt. Viele von ihnen wären bereit gewesen, den Kampf sofort zu beginnen. Sie glaubten an Kals Macht. Nivan hatte den Söhnen Kals immer wieder erklärt, daß sie keine Niederlage zu fürchten brauchten. Obwohl auch Pergrit mit Kals Hilfe rechnete, fürchtete er die Auseinandersetzung mit den starken
Drachen. Der Späher fragte sich, ob Schwerter und vergiftete Pfeile Waffen waren, mit denen man einen Drachen töten konnte. Nach Aussage Kals hielten sich im Tal etwa sechzig Drachen auf. Viele von ihnen waren angeblich alt und kampfunfähig. Trotzdem gab Pergrit sich keinen Illusionen hin. Ein einzelner kampfstarker Drache konnte unter Umständen Nivans gesamte Armee vernichten. Alles hing davon ab, ob es den Söhnen Kals gelingen würde, den Überraschungseffekt entscheidend zu nutzen. Sie mußten über die Hälfte der Drachen töten, bevor der Gegner sich formierte und an eine Verteidigung dachte. Das war die einzige Chance der Krieger. Pergrit wälzte sich auf den Rücken und starrte in den dunklen Himmel. Er sehnte sich nach der Geborgenheit seines Dorfes und wünschte, sie hätten diesen Feldzug niemals begonnen. Allmählich wurde es ruhiger im Lager. Die Krieger rollten sich in ihre Felle. Pergrit bedauerte, daß sie auf das gewohnte Feuer verzichten mußten. Auch in einem fremden Land schuf eine Feuerstelle immer eine behagliche Atmosphäre. Als ringsum die letzten Stimmen verstummt waren und das Schnarchen der Männer eins wurde mit dem Lärmen der Nachttiere, lag der Späher immer noch wach.
Plötzlich sah er ein helles Licht am Himmel. Es bewegte sich langsam von Westen nach Osten und wurde dabei immer heller und größer. Pergrit richtete sich auf. Das war kein Meteor und auch kein Komet. Pergrits Herz begann heftiger zu schlagen. Er wollte die anderen wecken und alarmieren, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Obwohl die unheimliche Erscheinung immer größer wurde, reichte ihre Leuchtkraft offenbar nicht aus, um das Land unter ihr zu erhellen. Inmitten des leuchtenden Gebildes glaubte Pergrit jetzt eine achteckige Form zu erkennen, aber er war nicht sicher, ob ihm nicht seine Phantasie einen Streich spielte. Pergrit brachte keinen Ton über die Lippen. Er stand bolzengerade neben seinen Fellen und starrte zu der Erscheinung hinauf. Pergrits Überraschung verwandelte sich in Angst, als er beobachtete, daß das Gebilde seinen Flug unterbrach und ruhig am Himmel stehen blieb. Es ähnelte jetzt einem kleinen Mond. Keiner der anderen Krieger war wach. Niemand außer Pergrit schien den Vorgang zu beobachten. Dann begann sich der leuchtende Ball aufzulösen. Acht kleinere Leuchtkörper trennten sich vom Zentrum und bildeten einen gleichmäßigen Kreis. Der große Ball in der Mitte wurde transparent. In seinem Innern
glaubte Pergrit die Umrisse einer riesigen Gestalt zu erkennen. Das Bild war jedoch so verschwommen, daß auch eine Täuschung möglich war. Pergrit wagte kaum noch zu atmen. Die Angst bannte ihn unbeweglich an den einmal eingenommenen Platz. Der große Ball sank jetzt langsam herab, die acht kleineren blieben zurück. Pergrit sah, daß die Erscheinung jetzt genau über dem Tal der Drachen schwebte. War es Kal, der in dieser Gestalt auftrat, um die Drachen zu erschrecken? Pergrit glaubte es nicht. Viel wahrscheinlicher erschien ihm, daß es sich um einen Gott der Drachen handelte, der gekommen war, um seine Schützlinge zu warnen. Pergrit fragte sich, wie die Drachen auf dieses Ereignis reagierten. Schliefen sie, oder beobachteten sie den Vorgang ebenfalls? Pergrit setzte sich spontan in Bewegung. Als er sich dessen bewußt wurde, hatte er das Lager bereits hinter sich gelassen. Er bewegte sich auf die Hügel zu, die zwischen ihm und dem Tal der Drachen lagen. Er handelte wie unter einem hypnotischen Zwang. Das Ding, was immer es war und sosehr es ihn ängstigte, übte eine unerklärliche Verlockung aus. Pergrit begann zu rennen, stolperte, stürzte, raffte
sich wieder auf und rannte weiter. Schließlich war er so außer Atem, daß er eine Pause einlegen mußte. Der transparente Ball war wieder zur Ruhe gekommen, aber er war jetzt so tief gesunken, daß Pergrit Einzelheiten erkennen konnte. Im Innern der Kugel befand sich etwas Lebendiges. Es war ein riesiges Ding, vielleicht dreimal so groß wie Pergrits Hütte am Fluß Karmah-Li. Es war eingehüllt in Licht, deshalb waren nur die Konturen zu erkennen. Ab und zu sah Pergrit ganz deutlich mächtige Pranken oder Teile eines schuppenbewehrten Körpers. Das Wesen schien ein Drache zu sein. Pergrit stand vor einem Rätsel. Er hatte gehört, daß Drachen fliegen konnten, aber er hatte nicht geahnt, daß dies in dieser Form geschehen könnte. Inzwischen hatte der Späher den Fuß der Hügelkette erreicht und mit dem Anstieg begonnen. Pergrit war so fasziniert, daß er den eigentlichen Grund seines Hierseins längst vergessen hatte. Sogar der Helm auf seinem Kopf war ihm gleichgültig, er hätte wahrscheinlich überhaupt nicht reagiert, wenn sich das Band unter seinem Kinn gelockert hätte. »Pergrit!« Der Anruf kam so unerwartet, daß der Späher zusammenzuckte. Pergrits Gedanken, die sich ausschließlich mit dem Wesen in der Leuchtkugel beschäftigt hatten, kehrten in die Realität zurück. Es
war wie die Rückkehr aus einer fremden Welt. Der Späher fuhr herum. Trotz der Dunkelheit konnte er eine große Gestalt erkennen, die auf ihn zukam. »Pergrit!« Die Stimme kam ihm bekannt vor. Dann erinnerte er sich. »Gorvan!« »Ich habe gesehen, wie du das Lager verlassen hast und bin dir gefolgt«, sagte der große Mann. »Ich halte es für besser, wenn wir jetzt zusammenbleiben.« Pergrit war wie benommen, er fand nur schwer in die Wirklichkeit zurück. Allmählich begriff er, daß Gorvan den Kriegern bis in dieses Gebiet gefolgt war. Damit hatte der große Mann nicht nur sich, sondern auch Pergrit in Gefahr gebracht. Seltsamerweise konnte Pergrit keinen Ärger darüber empfinden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt fühlte er sogar Erleichterung über Gorvans Nähe. »Ich will dich nicht in Schwierigkeilen bringen«, fuhr Gorvan fort. »Ich war sehr vorsichtig, als ich euch folgte.« Pergrit blickte zu der Kugel mit dem großen Wesen darin hinauf. »Was ist das?« Gorvan verstand sofort. »Es sieht aus wie ein Drache, aber ich weiß nicht, ob
es einer ist. Ich habe so etwas noch nie gesehen und auch nie davon gehört, daß solche Wesen existieren. Die Drachen fliegen mit ihren Schwingen, aber dieses Wesen befindet sich im Innern eine leuchtenden Kugel, die über den Himmel zu schweben vermag.« Gorvans sachliche Art, ein Problem zu betrachten, half Pergrit über die schlimmste Angst hinweg. »Ich bin plötzlich losgelaufen«, sprudelte Pergrit hervor. »Ich konnte nicht anders. Diese Leuchtkugel zog mich an.« »Das kann ich verstehen«, meinte Gorvan. Pergrit blickte in die Ebene hinab. »Warum merken die anderen nichts davon?« »Vieles an diesem Ereignis ist rätselhaft«, versetzte Gorvan. Er räusperte sich durchdringend. »Wenn dieses Wesen dort oben jedoch ein Drache ist, sollte Nivan mit seinen Kriegern umkehren, bevor es zu spät ist.« »Ein Gott der Drachen!« sagte der Späher dumpf. »Ich bin sicher, daß es ein Gott der Drachen ist.« »Oder Kal«, sagte Gorvan. »In neuer Gestalt.« Pergrit war erstaunt, daß ausgerechnet Gorvan eine solche Vermutung äußerte. »Wir gehen weiter«, schlug Gorvan vor. »Was wird mit uns geschehen?« fragte Pergrit ängstlich. »Das weiß ich nicht!« gab Gonvan zurück. Seine
Stimme klang fest. »Da wir unserem Schicksal nicht entgehen können, ist es gleichgültig, ob wir hierbleiben oder weiter den Hang hinaufsteigen. Ich möchte so nahe wie möglich an dieses Ding heran, um vielleicht doch noch zu ergründen, woher es kommt und was es ist.« Pergrit bewunderte den Mut des anderen. »Du trägst noch immer deinen Helm!« stellte er fest. »Ich bin kein Verräter!« erwiderte Gorvan stolz. »Nivan wollte mich ermorden lassen, aber deshalb würde ich niemals mein Volk verraten.« Sie kletterten weiter den Hang hinauf. Es bereitete dem geschmeidigen Pergrit keine Mühe, an der Seite des großen Mannes zu bleiben. Im Innern der Leuchtkugel hatte sich nichts verändert. Das Wesen, das wie ein riesiger Drache aussah, tobte darin herum. Die acht kleineren Kugeln standen unverändert hoch oben am Himmel Pergrit hatte das Gefühl, daß sie trotz aller Bemühungen nicht näher an die unheimliche Erscheinung herankamen. Die Entfernung zur Kugel schien sich nicht zu verringern. Plötzlich zerbarst der strahlende Ball. Ein abstoßend aussehendes Wesen, das aus seinem Körperinnern heraus leuchtete, schwebte über dem Tal. Manchmal, wenn Sonne, Mond und Jupiter in einer
besonderen Stellung zueinander stehen, läßt die Intensität kosmischer Schwerkraftlinien auf der Erde nach. Die Drachen in ihrem Tal nahe den Himmelsbergen werden bei dieser Gelegenheit von einer seltsamen Erregung ergriffen. Sie versammeln sich rund um eine heiße Quelle und verfallen in Trance. Ihre Gedanken sprechen zueinander ... Der Traum des grünen Drachen Hotch In der Luft sah das Wesen wie ein großer Geier aus, aber als es sich langsam auf Muon herabsenkte, teilte es sich plötzlich in ein gutes Dutzend kleinere Vögel, die alle in die verschiedensten Richtungen davonflogen. Ein paar dieser Vögel landeten auf dem Boden und verwandelten sich in Schlangen. In seinem Traum schrie Hotch vor Entsetzen lautlos auf. Er war sich bewußt, daß er soeben den Balamiter Cnossos beobachtet hatte. Mit Cnossos‘ Auftauchen auf Atlantis hatte das Unheil begonnen. Solange er träumte, konnte Hotch sich in allen Einzelheiten daran erinnern. Er sah, daß Cnossos noch viele andere Gestalten annahm. Die Verwandlungskünste des Balamiters waren unerschöpflich. Solange er träumte, wußte Hotch,, daß Cnossos nach wie vor auf dieser Welt lebte und sich ein mächtiges Reich geschaffen hatte. Die
Kinder des Balamiters lebten überall auf der Erde. Es gab unzählige Stämme, die Cnossos in verschiedenen Formen als Gottheit verehrten. In seinem Traum erinnerte Hotch sich an die Dimensionsbrücke und an Explosionen, die Atlantis schließlich zerstört hatten. Hotch begriff, daß es zahlreiche Parallelwelten gab. Cnossos kam von Balam. Nach seinem Auftauchen hatte er sich als Wissenschaftler ausgegeben. Trotz aller Warnungen vernünftiger Atlanter hatte er sein Projekt realisieren können. Hotch erinnerte sich, daß unmittelbar vor der Katastrophe fast alle raumfahrenden Wesen von Atlantis geflohen waren. Jene, die ihre Schiffe nicht rechtzeitig erreicht hatten, waren über die gesamte Welt verstreut worden und im Verlauf mehrerer Generationen mutiert. Das traf auch für die Drachen zu. In seinem Traum fragte sich Hotch, warum seit der Katastrophe kein Schiff mehr auf dieser Welt gelandet war. Er vermutete, daß die raumfahrenden Völker die Erde zum Sperrbezirk erklärt hatten. Viele fürchteten wahrscheinlich eine Wiederholung der Katastrophe. Inzwischen war die Erde wahrscheinlich längst vergessen worden. Hotch hatte es besonders schwer, seine Traumwelt den anderen Drachen begreiflich zu machen.
Unbewußt sträubten sie sich gegen die niederschmetternden Gedanken. Hotch wußte, daß er nur ein Fragment der Kollektiverinnerung in seinem Bewußtsein trug. Irgendwann nach seinem Tod würde ein anderer Drache diesen Teil der Drachengeschichte übernehmen. Dabei war Hotch sich darüber im klaren, daß die Erinnerung von Generation zu Generation schwächer wurde. Vielleicht, dachte der grüne Hotch in seinem Traum, war es gut, daß die Drachen allmählich ihre stolze Vergangenheit vergessen konnten. Die Erinnerung an die alten Drachen machte das unwürdige Schicksal der neuen Drachen besonders deutlich. So war es nicht erstaunlich, daß Hotch beinahe erleichtert darüber war, daß er mit dem Erwachen alles vergessen haben würde. Nur das Bild des großen Vogels, der sich in mehrere kleinere Vögel verwandelte, blieb unauslöschbar in seinem Bewußtsein haften. Im Wachzustand wußte er jedoch kaum etwas mit dieser Vision anzufangen. Bald würde Hotch den alten Gur als Anführer des kleinen Drachenvolkes im Tal bei den Himmelsbergen ablösen. Hotch war fest entschlossen, den weiteren Niedergang seines Volkes zu verhindern, obwohl er nicht wußte, wie er dabei vorgehen sollte. Im Grunde genommen rechnete er mit einem Wunder.
Irgend etwas war in seinem Traum, eine versteckte Hoffnung, die Hotch Mut machte. Dieser Hinweis, den er sich vielleicht nur einredete, gab ihm die Kraft, sich immer wieder mit den anderen um eine Quelle zu versammeln und zu träumen. Er ertrug seinen schlimmen Traum. Manchmal zog er sich nach dem Erwachen stundenlang in seine Höhle zurück, weil er unfähig war, mit einem anderen Drachen Gedanken auszutauschen. Die Artgenossen Hotchs respektierten seinen Wunsch nach Abgeschlossenheit. In seinem Traum war Hotch sich darüber im klaren, daß sie Cnossos vernichten mußten, wenn die Erde keine Welt dunkler Mächte werden sollte. Der Balamiter hatte mit der systematischen Zerstörung alles Schönen und Guten begonnen. Wenn sich ihm niemand in den Weg stellte, würde er sein schreckliches Werk bald vollenden. Hotchs Traum war realistischer als die der anderen Drachen. In keinem Drachentraum vermischten sich Phantasie und Wirklichkeit so stark wie bei Hotch. Eines Tages, so hoffte Hotch in seinem Traum, würde er erwachen und noch alles wissen, was ihm bei der Rettung der Drachen dienlich sein konnte.
8.
Die drei Drachen flogen hoch über dem Land. Es war unmittelbar vor Sonnenuntergang. Hotch, der an der Spitze flog, blickte in die Richtung zurück, aus der sie kamen. Dort lag Urgor. Doch Hotchs Gedanken waren bei den Drachen im Tal bei den Himmelsbergen. Er hatte ein ungutes Gefühl. »Woran denkst du?« fragte Hot-cha, die genau spürte, daß ihr Gefährte sich Sorgen machte. Hotch schickte ihr einen zärtlichen Gedanken. »Wir sind übermüdet.« Er beobachtete das Land unter sich. Noch vor Anbruch der Dunkelheit wollte er einen Rastplatz suchen. Hot-cha und er mußten Rücksicht auf den kleinen Hot-chi nehmen, der nicht die ganze Nacht durchfliegen konnte. Wäre Hotch allein gewesen, hätte er nicht gezögert, ohne Pause bis zum Tal der Drachen zu fliegen. »Ich bin nicht müde!« meldete sich Hot-chi. »Warum soll ich immer schuld sein, wenn wir eine Rast machen? Ich hoffe, daß ich nicht mehr lange bevormundet werde, weil ich sonst künftige Ausflüge ohne eure Begleitung durchführen müßte.« Hotch verspürte wenig Neigung, sich mit Hot-chi in eine längere Diskussion einzulassen. Der altkluge Jungdrache würde niemals zugeben, daß man
seinetwegen eine Pause einlegen mußte. »Wir gehen tiefer!« entschied Hotch. Er schoß auf das Land hinab. Der Flugwind brauste in seinen Ohren. Für Hotch war es immer wieder ein berauschendes Erlebnis, sich aus großer Höhe bis dicht über die Planetenoberfläche absacken zu lassen und dann den Flug wieder zu stabilisieren. Unter ihnen lag ein großes Waldgebiet. Hotch konnte keine Anzeichen intelligenten Lebens entdecken, obwohl er sicher war, daß sich im Wald Menschen aufhielten. Er entdeckte eine Lichtung, die groß genug war, um Hot-cha, Hot-chi und ihm als Schlafplatz zu dienen. »Wir übernachten dort unten auf der Lichtung!« dachte Hotch. »Bei Tagesanbruch fliegen wir dann weiter, so daß wir gegen Mittag unser Tal erreichen werden.« Hotch landete zuerst und sah sich nach möglichen Gefahren um. Es war jedoch alles still. Sie hatten sogar Glück, denn ganz in der Nähe der Lichtung entdeckten sie eine kleine Quelle, aus der sie trinken konnten. »Ich werde die ganze Nacht über nicht schlafen können, weil ich noch so munter bin!« behauptete Hot-chi. Hotch sah ihn ausdruckslos an. »Ausgezeichnet, dann übernimmst du die erste Wache!«
Hot-chi sah sich um und schluckte. »Ich bin kein guter Wächter«, meinte er. »Ich kann mich nicht auf diese Aufgabe konzentrieren. Drachen von meiner Intelligenz sollten mit wichtigeren Aufgaben betraut werden.« »Und woran dachtest du?« wollte Hotch wissen. »Meditieren«, entgegnete der Jungdrache. »Solange einer von euch Wache hält und der andere schläft, werde ich nachdenken.« »Worüber?« fragte Hotch. »Über alle anliegenden Probleme. Wenn ich genügend Zeit habe, werde ich viele Lösungen finden.« Hotch seufzte. »Dann werden Hot-cha und ich abwechselnd Wache halten, und du wirst meditieren.« »Ich fange sofort damit an«, verkündete Hot-chi. Er legte sich flach auf den Boden und war wenige Augenblicke später eingeschlafen. »Ich fürchte, viel wird bei seinen Meditationen nicht herauskommen«, dachte Hotch. »Nein«, stimmte Hot-cha zu. »Trotzdem bin ich froh, daß er so schnell eingeschlafen ist. Im Gegensatz zu uns scheint er sich keine Sorgen zu machen.« »Auch ich bin voller Unruhe«, gestand Hotch. »Ich werde das Gefühl nicht los, daß im Tal irgend etwas passiert ist.« »Ich lausche schon die ganze Zeit auf starke
Gedankenimpulse, aber ich glaube, wir sind noch zu weit entfernt, um die anderen hören zu können.« Hotch ließ sich neben seiner Gefährtin nieder. »Wir werden früh aufbrechen.« »Ich glaube, daß ich nicht schlafen kann«, dachte das Weibchen. »Du solltest es immerhin versuchen. Wir haben anstrengende Tage hinter uns. Vielleicht brauchen wir all unsere Kraft, wenn wir ins Tal zurückkommen.« Eine Zeitlang lagen sie nebeneinander und hingen ihren Gedanken nach. Hot-chi zuckte immer wieder zusammen und seufzte. Er schien zu träumen. Für einen Drachen seines Alters hatte er in den vergangenen Tagen viel erlebt. Hotch begab sich zur Quelle, um zu trinken. Als er zurückkam, war auch Hot-cha eingeschlafen. Der große grüne Drache hockte sich an den Rand der Lichtung und wachte über dem Schlaf seiner beiden Begleiter. Wie auf ein geheimes Signal kamen alle Drachen gleichzeitig aus ihren Höhlen und sahen die leuchtende Kugel über dem Tal schweben. Kaum, daß sie ihre Höhlen verlassen hatten, zerplatzte die Kugel und gab einen häßlichen Drachen frei, der aufgebläht und fluoreszierend am Nachthimmel hing.
Groof-Marn wußte nicht, was ihn geweckt hatte, aber er ahnte, daß es mit diesem Ding zusammenhing. War das die Erklärung für die Unruhe, die er schon seit Tagen spürte? Seltsamerweise löste der gespenstische Anblick über dem Tal keine Panik aus. Die Drachen richteten ihre fragenden Gedanken an Gur. »Dieser Drache ist ein Produkt unseres Kollektivbewußtseins«, dachte Gur beruhigend. »Wir haben ihn unbewußt mit unserer Gedankenkraft erschaffen. Es ist eine deutliche Warnung vor einer nahen Gefahr. Ich habe etwas Ähnliches schon einmal erlebt.« Groof-Marn kam sich plötzlich sehr einsam vor, obwohl er mit den Gedanken der anderen verbunden war. Die Nachtluft erschien ihm kalt. Hinter den schattenhaft sichtbaren Hügeln zwischen dem Tal und der Ebene lauerte eine unheimliche Gefahr. Groof-Marns Gedanken wurden vom Verhalten des Monstrums am Himmel abgelenkt. Es sank ins Tal herab. Groof-Marn hörte die Yttis schreien. Der leuchtende Drache landete auf dem Boden. Er schien nur aus einer brüchigen Außenhülle zu bestehen, ‚die beim leichten Aufprall bereits in sich zusammenfiel. Der Klumpen leuchtender grüner Materie, der dabei entstand, bewegte sich weiterhin auf
den verkrüppelten Beinen und begann nur allmählich zu zerfallen. Kleinere Fetzen lösten sich aus dem Körper und verglühten am Boden. Groof-Marn konnte sich nicht vorstellen, daß er unbewußt mitgeholfen hatte, dieses Ding zu erschaffen. »Wir brauchen dieses Gebilde nicht zu fürchten«, empfing er Gurs Gedanken. »Es ist nichts als eine Inkarnation unserer unbewußten Ängste. Wir sind gewohnt, den Grund einer sich nähernden Gefahr zu erkennen. Diesmal jedoch spüren wir nur Unbewußt, daß etwas nicht in Ordnung ist. Deshalb hat das Unterbewußtsein eines jeden einzelnen von uns anders als sonst üblich reagiert.« Die letzten Fragmente des unheimlichen Drachen erloschen. Die Yttis beruhigten sich wieder. »Wir sollten diese Warnung ernst nehmen«, meinte Gur. »Wir werden überall Wachen aufstellen. Natürlich kann es sein, daß es eine unsichtbare Gefahr ist, die uns bedroht, vielleicht eine unbekannte Krankheit. Dann hilft es uns wenig, unser Tal zu bewachen. Trotzdem dürfen wir kein Risiko eingehen.« Er bestimmte vier Drachen, die vor den Höhlen und unten im Tal wachen sollten. »Die anderen werden beruhigter schlafen, wenn sie wissen, daß jemand aufpaßt«, dachte Gur. »Ich denke, daß wir in unsere Höhlen zurückkehren können. Es
wird jetzt nichts mehr passieren.« Das Vertrauen der Drachen in ihren Anführer war so groß, daß niemand einen Einwand erhob. Alle spürten unbewußt, daß Gurs Erklärungen der Wahrheit entsprachen. Groof-Marn begab sich mit Argtor, einem blauen Alten, ins Tal hinab. »Wenn wir die innere Kraft haben, solche Gebilde zu schaffen, müssen wir auch unser Volk retten können«, dachte Groof-Marn unvermittelt. »Es kommt nicht darauf an, wieviel innere Kraft jemand hat«, antwortete Argtor weise. »Viel wichtiger erscheint mir, ob man auch dazu in der Lage ist, diese Kraft bewußt und zweckentsprechend einzusetzen.« »Du glaubst, daß wir Drachen das nicht können?« »Nein!« »Aber wir könnten es lernen.« Argtors Gedanken wurden abweisend. Er hatte offensichtlich keine Lust, sich darüber mit Groof-Marn zu unterhalten. Groof-Marn hielt das für Interesselosigkeit, die er bei alten Drachen schon oft festgestellt hatte. Er allein, daß wußte Groof-Marn, konnte die unbewußte Kraft nicht begreifen und nutzbar machen. Sie wanderten Seite an Seite im Tal auf und ab. Argtors Gedanken blieben verschlossen. Die Yttis hatten sich wieder um ihre Feuerstellen
versammelt und schliefen. Auch die Herden waren ruhig. Groof-Marn fragte sich, warum die Tiere durch das Auftauchen des leuchtenden Drachen nicht erschreckt worden waren. Groof-Marn überlegte, ob er sich mit ein paar anderen Jungdrachen zusammenschließen sollte. Vor allem mußte er mit Hotch gelegentlich über diesen Vorgang sprechen. Der Rest der Nacht verlief ruhig. Groof-Marn war froh, als Argtor und er zu den Höhlen zurückkehren konnten. Als er sich in seiner Höhle niederlegen wollte, um noch ein bißchen zu schlafen, kam Vert-cha zu ihm herein. »Ich habe eine Idee«, dachte sie. »Hier im Tal gefällt es mir nicht mehr. Die Zwischenfälle häufen sich.« Er wußte nicht, worauf sie hinauswollte, aber seine Müdigkeit machte ihn nervös und reizbar. »Es ist überhaupt noch nichts passiert!« erwiderte er. »Trotzdem sollten wir wegziehen. Nur wir beide, Groof-Marn. Wir sollten uns ein anderes Drachenvolk suchen, dem wir uns anschließen können.« Obwohl Groof-Marn wußte, daß junge Weibchen oft unberechenbar waren, machte ihn Vert-chas Vorschlag zornig. Die Idee kam ihm fast wie Verrat vor. Auch Groof-Marn hatte schon daran gedacht, das Tal zu verlassen, aber nur zusammen mit seinem gesamten Volk.
»Ich werde nicht gehen!« dachte er. »Ich kenne ein junges Männchen, das mich sofort begleiten würde!« forderte sie ihn heraus. Er richtete sich auf. Sein Zorn war jetzt so groß, daß er Mühe hatte, seine Gedanken unter Kontrolle zu halten. Er wollte Vert-cha als Gefährtin nicht verlieren, aber er war nicht bereit, sich von ihr unterdrücken zu lassen. »Wenn du gehen willst, mußt du gehen. Gur wird deine Entscheidung akzeptieren.« Er hob den Kopf und spie eine Feuersäule gegen die Decke. »Ich werde dich nicht begleiten.« Sie kroch beleidigt aus der Höhle, aber Groof-Marn war sicher, daß sie das Tal nicht verlassen würde. Er schlief ein. Als er erwachte, stand die Sonne bereits am höchsten Punkt ihrer Bahn. Gur lag draußen auf dem Plateau vor den Höhlen und sonnte sich. Sein alter Körper entwickelte ein großes Wärmebedürfnis. »Ich glaube nicht, daß es Sinn hat, auch in den kommenden Nächten Wachen aufzustellen«, dachte er, als Groof-Marn ins Freie kam. »Es gibt keine konkrete Gefahr. Die Warnung hängt mit dem Gesamtzustand unseres Volkes zusammen.« »Ich habe keine Erfahrung, um das beurteilen zu können«, dachte der junge Drache. Gur zeigte eine Spur von Erheiterung.
»Instinkt ist manchmal mehr als Erfahrung.« Groof-Marn sah sich nach Vert-cha um und entdeckte sie wenig später unten im Tal bei den heißen Quellen. Sie war allein, aber sie beachtete ihren Gefährten nicht. Groof-Marn ließ sie in Ruhe. Sie würde schon wieder zur Besinnung kommen. Groof-Marn half beim Auftrieb der Herden, aber er vermochte sich nicht richtig auf die Arbeit zu konzentrieren. Den ganzen Tag über blieb er innerlich aufgewühlt und nachdenklich.
9.
Von ihrem Lager zwischen den Felsen konnten Pergrit und Gorvan den Platz sehen, wo die Krieger Kals im Verlauf der Nacht gelagert hatten. Nach Sonnenaufgang hatte Nivan die Männer in den Wald zurückgezogen, damit sie nicht entdeckt wurden. »Ich bin sicher, daß er dich schon vermißt«, sagte Gorvan, der die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, aber keine Müdigkeit zu kennen schien. »Wenn du klug bist, kehrst du nicht mehr zu ihm zurück.« Pergrit blickte nachdenklich zum Hügel hinauf. »Ich frage mich, was in der vergangenen Nacht im Tal der Drachen passiert ist. Wir haben nur sehen
können, daß der leuchtende Drache hinter der Hügelkette verschwand und die acht Lichter am Himmel erloschen.« »Auf jeden Fall ist es ein schlechtes Zeichen!« meinte Gorvan. »Mit Kal hatte diese Erscheinung nichts zu tun. Nivan wird eine Niederlage erleiden.« »Du spottest Kal!« warnte Pergrit. Gorvan zuckte mit den Schultern. Er merkte deutlich, daß der Späher unschlüssig war. »Wie willst du Nivan deine lange Abwesenheit erklären? Hast du etwa vor, ihm von dem leuchtenden Drachen zu erzählen?« »Warum nicht? Vielleicht hat er ihn selbst gesehen!« »Nein!« sagte Gorvan bestimmt. »Nur du und ich haben diese Erscheinung beobachtet – und wahrscheinlich die Drachen.« Der Späher schnallte seinen Gürtel um und rückte das Schwert zurecht. Gorvan verzog mißbilligend das Gesicht. »Das bedeutet Aufbruch!« »Ja«, bestätigte Pergrit. »Ich kehre zu den Söhnen Kals zurück und begleite sie, wenn sie in der kommenden Nacht über die Hügel steigen.« Gorvan nickte traurig. »Ich bleibe hier und werde in der Nähe sein, wenn der Kampf beginnt. Zwar glaube ich nicht, daß ich eingreifen kann, aber vielleicht kann ich einem
Mitglied unseres Stammes helfen.« Pergrit verabschiedete sich und begann mit dem Abstieg. Als er noch einmal zurückblickte, war Gorvan bereits zwischen den Felsen verschwunden. Pergrit hatte das Gefühl, daß er den großen Mann nicht wiedersehen würde. Vielleicht wäre es klüger gewesen, bei Gorvan zu bleiben, doch es war sinnlos, jetzt noch darüber nachzugrübeln. Der Späher würde sein langes Fernbleiben mit ausgedehnten Beobachtungen erklären. Über den leuchtenden Drachen wollte Pergrit mit dem Oberpriester nicht sprechen, es sei denn, Novan würde zu erkennen geben, daß er die Erscheinung beobachtet hatte. Bevor er das Lager erreichte, traf Pergrit mit einem anderen Mitglied seines Stammes zusammen, das von Nivan als Späher eingesetzt worden war. Der Mann hieß Orgmor. Er galt als feig und verschlagen. Bei den von Nivan Veranstalteten Opferfesten hatte Orgmor sich als besonders grausam erwiesen. »Ich soll die Umgebung beobachten und nach dir Ausschau halten«, sagte Orgmor anstelle einer Begrüßung. Er sah Pergrit aus zusammengekniffenen Augen an. »Du kommst von den Hügeln?« Pergrit gähnte. »Ich war die ganze Nacht unterwegs und bin müde. Ich werde Nivan berichten.«
»Er mißbilligt dein Verhalten!« »Ich bin als Späher für die Sicherheit der Krieger mitverantwortlich«, sagte Pergrit. »Deshalb muß ich darauf achten, daß wir in keinen Hinterhalt geraten. Ich habe mich überall im Bergland umgesehen. Dort gibt es keine unbekannten Stämme. Wir werden auf keine Fremden stoßen, wenn wir ins Tal der Drachen marschieren.« Damit ließ er Orgmor stehen und ging weiter. Zu seiner Überraschung machte Nivan ihm keine Vorwürfe. Der Oberpriester war mit seinen Gedanken bereits beim bevorstehenden Angriff. Pergrits Bericht, daß die Hänge frei von fremden Stämmen waren, nahm Nivan zum Anlaß, eine wilde Rede an die Krieger zu halten. Pergrit stellte fest, daß der Oberpriester die Söhne Kals aufgeputscht hatte. Im Lager herrschte große Aufregung. Fast alle Männer waren auf den Beinen und stießen Kampfrufe aus. Obwohl er sich dagegen wehrte, wurde Pergrit von der allgemeinen Erregung angesteckt. »Unser Triumph wird vollkommen sein!« schrie Nivan mit schriller Stimme. »Kal hat sich mir in der vergangenen Nacht noch einmal gezeigt und uns den Sieg über den Gegner versprochen. Ihr kennt alle Pergrits Bericht. Die Hänge zwischen uns und dem Tal sind frei. Wir werden unser Ziel unangefochten erreichen.«
Die Krieger bildeten einen Halbkreis um den Oberpriester. Pergrit mußte zugeben, daß Nivan die Männer beeindrucken konnte. Nivan glaubte fest an den bevorstehenden Triumph. »Nach dem Sieg werde ich in Drachenblut baden!« rief er aus. »Dann wird meine Verwandlung beginnen, und ich werde als großer bunter Vogel an Kals Seite über das Land fliegen.« Die Augen des Oberpriesters glühten. Er befand sich in einem tranceähnlichen Zustand. Kal hätte sich keinen besseren Oberpriester wünschen können! dachte Pergrit unwillkürlich. Nivan schrie auf die Krieger ein, bis ihm vor Erschöpfung die Stimme versagte. Solange noch Tag war, mußten alle Männer ihre Bogen und Pfeile überprüfen. »Wir brechen auf, sobald es dunkel geworden ist!« kündigte Nivan an. Obwohl noch genügend Zeit war, verliefen die letzten Vorbereitungen hektisch. Einer der Männer verletzte sich an einem Giftpfeil und war wenige Augenblicke später tot. Nivan ließ ihn in den Wipfel eines Baumes binden. Nach Sonnenuntergang rief Nivan alle Späher und die besten Krieger zu einer Beratung zusammen. »Pergrit wird uns über die Hügelkette führen, denn er kennt den besten Weg.« Nivan hatte seine Blicke in
Richtung des Drachentals gerichtet. »Sobald wir die Anhöhe erreicht haben, teilen wir uns in zehn Gruppen, damit wir gleichzeitig möglichst viele Drachen angreifen können. Schärft den Kriegern ein, daß sie mit ihren Pfeilen in die geöffneten Rachen der Drachen schießen sollen.« »Was geschieht mit den Yttis, die angeblich mit den Drachen zusammenleben?« wollte ein Späher wissen. »Wir töten sie ebenfalls!« befahl Nivan. »Sie sind Freunde und Verbündete der Drachen und aus diesem Grund Gegner Kals. Schießt auf alles, was sich im Tal bewegt.« »Werden wir genügend sehen?« wollte einer der Krieger wissen. Nivan blickte zum Himmel. »Es gibt eine klare Nacht. Trotzdem wird jede Gruppe ein paar Fackeln mitführen, die bei Bedarf angezündet werden.« Pergrit wunderte sich darüber, mit welcher Sachlichkeit Nivan seinen Angriffsplan entwickelte. Bei allem fanatischem Eifer hatte der Oberpriester offenbar nicht vergessen, daß es neben Kals Hilfe nicht zuletzt auch auf die Fähigkeit der Krieger ankam. Wenn die Überraschung mißlang, mußten die Söhne Kals eine Niederlage einkalkulieren. »Ruht euch jetzt noch ein wenig aus!« befahl Nivan. »Wir werden all unsere Kräfte brauchen, wenn wir die
Drachen besiegen wollen.« War da nicht ein Unterton der Unsicherheit in Nivans Stimme? fragte sich Pergrit. Er vermochte es nicht zu entscheiden. Er schlug in der Nähe eines Baumes sein Lager auf und wartete darauf, daß es dunkel wurde. Früher als Pergrit erwartet hatte, weckte Nivan die wenigen Schlafenden und formierte die kleine Armee für den Abmarsch. »Macht so wenig Lärm wie möglich!« befahl der Oberpriester. »Bindet die Helme fest und sorgt dafür, daß eure Waffen jederzeit einsatzbereit sind.« Die Krieger wußten längst, worauf es ankam, denn Nivan hatte ihnen die wichtigsten Befehle in den letzten Tagen immer wieder eingeschärft. Die Stimmung hatte sich in den letzten Stunden noch verbessert. Die Männer summten leise vor sich hin und tauschten lustige Bemerkungen aus. Sie glaubten, daß sie die Drachen mit Hilfe Kals schlagen würden, ohne große eigene Verluste zu erleiden. Die kleine Armee verließ den Wald und marschierte auf die Hügelkette zu. Bei Sonnenuntergang war Wind aufgekommen, der sich jetzt noch verstärkt hatte. Pergrit empfand die Abkühlung als angenehm. Als sie das Geröllfeld vor der ersten Anhöhe erreichten, mußte Nivan seine Krieger ermahnen,
keinen Lärm zu machen. Der Himmel war wolkenlos, das Licht der Sterne reichte aus, daß sich die Männer orientieren konnten. Zunächst war der Aufstieg problemlos, denn der Hügel stieg nur sanft an. Dann jedoch wurde das Land felsig. Die Söhne Kals mußten Felsformationen überklettern und kamen nur noch langsam voran. Nivan schickte seine besten Krieger an die Flanken und in den Rücken der Armee, damit sie darauf achteten, daß niemand zurückblieb. Ein Mann brach sich das Bein und mußte zurückgelassen werden. Pergrit blickte immer wieder zum Hügelkamm hinauf. Er erinnerte sich, was er während der vergangenen Nacht in diesem Gebiet erlebt hatte. Fast erschien ihm dieses Ereignis unwirklich, und er begann sich zu fragen, ob nicht alles ein schlimmer Traum gewesen war. Dann dachte er an Gorvan. Der große Mann war irgendwo in der Nähe, um seine Stammesgenossen zu beobachten. Am Himmel über dem Tal glaubte Pergrit den Widerschein mehrerer Feuer zu sehen. War das das erste Zeichen der im Tal lebenden Drachen? Der Späher hatte plötzlich das Gefühl, daß sie etwas, völlig Unsinniges taten. Zwischen den Söhnen Kals und den Drachen war es noch nie zu Streitigkeiten
gekommen. Die Drachen lebten zurückgezogen in ihrem Tal und kümmerten sich kaum um die in ihrer Nachbarschaft lebenden Menschen. Pergrit hatte noch nie davon gehört, daß die Drachen ihr Tal verlassen hätten, um einen der Stämme im Gebiet der Himmelsberge zu überfallen. Wenn wirklich ab und zu Raubzüge der Drachen stattfanden, dann in einem fremden Land, fernab von Pergrits Heimat. Aber selbst daran wollte der Späher nicht glauben. Pergrit und zwei kräftige Krieger erreichten die Anhöhe als erste. Der Späher konnte ins Tal der Drachen blicken. Er sah einige große Feuer, um die sich zahlreiche Yttis versammelt hatten. Plünderte von Fackeln markierten das Gebiet, wo sich das Vieh der Drachen aufhielt. Die Drachen selbst waren nicht zu sehen. »Wo sind sie?« murmelte der Mann an Pergrits Seite. Der Späher ließ seine Blicke über den gegenüberliegenden Talhang wandern und entdeckte die Höhlen, deren Eingänge teilweise von Fackeln erhellt wurden. »Dort drüben!« sagte er. Der Krieger stieß einen dumpfen Laut der Enttäuschung aus. »Wir müssen das gesamte Tal durchqueren!«
»Ja«, bestätigte Pergrit. »Sie schlafen dort drüben in den Höhlen. Wenn wir sie angreifen wollen, müssen wir durch das Tal ziehen.« »Warum wandern wir nicht auf dem Hügelkamm rund um das Tal?« fragte der zweite Krieger. »Darüber würde die Nacht vergehen!« erwiderte Pergrit. Er wartete, bis Nivan neben ihm stand und erklärte ihm die Lage. »Wie wären erbärmliche Feiglinge, wollten wir uns durch solche Schwierigkeiten aufhalten lassen«, sagte Nivan. »Kal prüft unseren Mut. Wir stoßen ins Tal hinab und töten alle Yttis, danach greifen wir die Drachen an.« »Die Yttis werden Lärm machen«, prophezeite Pergrit. »Ich halte es für besser, wenn wir sie unbehelligt lassen und zunächst einmal die Drachen angreifen.« »Nein!« lehnte Nivan ab. »Kal berät mich. Er spricht durch meinen Mund, deshalb werden wir seinen Willen befolgen.« Pergrit protestierte nicht, denn er wollte Nivans Zorn nicht herausfordern. Er hielt den Plan des Oberpriesters für gefährlich und undurchführbar. Im Tal, so schätzte Pergrit, hielten sich etwa dreihundert Schneebestien auf. Vielleicht konnten die Söhne Kals die Hälfte von ihnen bei einem Überraschungsangriff
töten, aber die anderen würden Lärm schlagen. Nivan setzte den Kriegern seinen Plan auseinander. Es gab keinen Widerspruch. Die Söhne Kals hatten gelernt, Nivans Ideen zu akzeptieren. »Sammelt euch!« rief Nivan mit gedämpfter Stimme. »Legt Pfeile in eure Bogen. Wir stürmen jetzt ins Tal hinab.« Pergrit konnte das drohende Unheil jetzt beinahe körperlich fühlen. Erfragte sich, warum es den anderen nicht ebenso erging. »Fertig?« fragte Nivan. Zustimmende Rufe von allen Seiten. »Vorwärts!« rief der Oberpriester. Mit Entsetzen begriff Pergrit, daß Nivan auf jede strategische Vorbereitung verzichtete. Er kam nicht einmal auf den Gedanken, die Männer eine erfolgversprechende Angriffsformationen bilden zu lassen. Hinter Pergrit sprangen die Männer hoch und begannen mit dem Abstieg. Der Späher setzte sich ebenfalls in Bewegung. Der Boden unter seinen Füßen war weich und nachgiebig. Pergrit konnte seinen Körper leicht im Gleichgewicht halten und kam schnell voran. In einer Hand hielt er den Bogen und drei Pfeile, mit der anderen Hand fing er sich ab, wenn er hinzufallen drohte. Sie rutschten mehr als sie gingen und machten dabei
mehr Lärm, als Pergrits Ansicht nach zu verantworten war. Irgendwo aus der Dunkelheit kam Nivans Stimme: »Beeilt euch!« Pergrit warf einen sehnsüchtigen Blick zurück. Warum war er nicht oben auf der Anhöhe geblieben? Als sie die Hälfte des Hanges überwunden hatten, wurde der Untergrund ebener. Die Söhne Kals begannen zu rennen. Die Feuer der Yttis waren nur noch ein paar hundert Schritte entfernt. Pergrit hörte das Brüllen der Tiere, die von den Drachen im Tal gehalten wurden. Er fragte sich, ob das normal war. Die Krieger handelten instinktiv richtig, indem sie einen Kreis um das erste Feuer bildeten. Sie machten die Bogen schußbereit. Pergrit sah einen großen Ytti von seinem Lager aufstehen und die Arme heben. Beinahe im gleichen Augenblick bohrte sich ein vergifteter Pfeil in die Brust des Wesens. Der Ytti sank zurück und fiel in die Flammen. Im Lager der Yttis brach Panik aus. Die Schneebestien sprangen auf und rannten durcheinander. Ein Pfeilregen ging auf sie nieder und tötete über die Hälfte von ihnen.
Das Geschrei der Überlebenden gellte in Pergrits Ohren. Auch er hatte geschossen. Nun zog er sein Schwert und stürmte auf die Feuerstelle zu. Um ihn herum waren andere Krieger, die mit ihren Waffen auf die wehrlosen Yttis einhieben. Auch bei den anderen Feuerstellen wurde jetzt gekämpft. Es ging alles so schnell, daß dem Späher kaum Zeit zur Besinnung blieb. Plötzlich ertönte ein Brüllen. Pergrit hob den Kopf und blickte zu den Höhlen der Drachen hinauf. Vor den hellen Höhleneingängen zeichneten sich die Umrisse eines riesigen Wesens ab. Ein Drache! Er war noch größer als das Monstrum, das Pergrit in der vergangenen Nacht gesehen hatte. Der Späher duckte sich unwillkürlich. Dann sah er die Schatten einiger anderen Drachen, die sich auf dem Plateau oben vor den Höhlen versammelten. »Die Drachen!« schrie Pergrit. »Die Drachen!« Der Lärm um ihn herum schien zu ersterben. Die wenigen Yttis, die den heimtückischen Überfall überlebt hatten, flohen panikartig in alle Richtungen. »Kals Stunde ist gekommen!« Wie ein Gespenst tauchte Nivan plötzlich neben dem großen Feuer auf. Sein Helm war in den Nacken gerutscht, Arme und
Beine waren blutverschmiert. »Wir werden die Drachen schlagen. Legt neue Pfeile in eure Bogen. Zielt in die Rachen unserer Gegner.« Wildes Geheul antwortete ihm. Die Krieger waren wie berauscht. Der leichte Sieg über die Yttis hatte sie tollkühn werden lassen. Einer der Drachen oben am Hang spie Feuer. Eine Flammensäule, die fast bis ins Tal hinabreichte, entstand. Das Geschrei der Krieger erstarb. »Laßt euch nicht einschüchtern!« schrie der Oberpriester. »Kal wird einen schützenden Mantel um euch legen. Das Feuer kann euch nichts anhaben.« Er riß sein Schwert heraus und schüttelte es drohend. »Folgt mir!« rief er. »Wir gehen ihnen entgegen.« Er setzte sich an die Spitze der kleinen Armee und rannte los. Die Krieger folgten ihm. Pergrit schaffte es, an Nivans Seite zu kommen. »Wir sollten Deckungsmöglichkeiten suchen!« schrie er Nivan zu. »Aus sicheren Verstecken können wir die Drachen gut unter Beschuß nehmen.« »Kein Krieger Kals versteckt sich vor einem Drachen!« gab Nivan zurück. »Wir werden sie schlagen.« »Sie werden uns töten!« prophezeite Pergrit, der jetzt genau sah, was sich ereignen würde. In seiner
Verzweiflung schreckte er auch nicht davor zurück, Nivan zu widersprechen. Der Oberpriester schlug mit dem Schwert nach ihm. Nur mit einem Sprung konnte Pergrit sich in Sicherheit bringen. »Du bist ein Feind Kals!« schrie Nivan. »Ich verbanne dich aus unserem Stamm.« Pergrit ließ sich zurückfallen und rannte in der Masse der Krieger weiter. Oben löste sich ein großer Drache vom Plateau und segelte mit ausgebreiteten Schwingen auf die Söhne Kals zu. Sofort kam der Angriff der Krieger zum Stillstand. »Zündet Fackeln an!« befahl Nivan. »Wir wollen sehen, wer sich in unsere Nähe wagt.« Einzelne Fackeln flammten auf. In ihrem Licht sah Pergrit jetzt die angstverzerrten Gesichter der Männer. »Kal schützt uns!« schrie Nivan. In diesen Augenblicken entwickelte er sich zum erstenmal zu einer echten Führungspersönlichkeit. Er hatte eine Fackel angezündet und schwang sie über dem Kopf, damit die anderen sehen konnten, wie er den Drachen entgegenlief. Nur die Hälfte aller Krieger war ihm bisher gefolgt, die anderen standen noch in der Nähe der Feuerstellen. Der Anblick ihres Oberpriesters ließ jedoch auch die Ängstlicheren ihren Mut wiederfinden.
Wenig später wurde Nivan von einer Horde heulender Krieger begleitet. Der Drache erreichte die Vorhut der Armee und warf sich auf sie. Mit zwei mächtigen Schwingschlägen tötete er sechs Männer und verwundete achtzehn. Nur mit Mühe konnten sich die Söhne Kals vor den peitschenden Schlägen des Schwanzes in Sicherheit bringen. Der Drache schlug mit seinen Pranken auf die Männer ein. »Schießt!« schrie Nivan. »Verteilt euch!« Im Ungewissen Licht konnte Pergrit sehen, daß der Drache seinen Rachen aufriß. Der Späher hatte den Bogen gespannt und nur auf diesen Moment gewartet. Der Pfeil schnellte von der Sehne und bohrte sich in den Schlund des Riesen. Gleichzeitig mit Pergrit hatten ein Dutzend andere Krieger die Übersicht behalten und auf diesen günstigen Moment für einen Angriff gewartet. Der Drache wurde von mehreren giftigen Pfeilen gleichzeitig getroffen. Trotzdem wälzte er sich herum und schlug auf die Angreifer ein. »Aufpassen!« rief jemand. »Da kommt der nächste.« Pergrit legte beinahe mechanisch den nächsten Pfeil in den Bogen. Vielleicht konnten sie ein paar Drachen töten, aber im Endeffekt würden sie diesen mächtigen Wesen
unterliegen. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für ein Wunder Kals gewesen, aber Pergrit bezweifelte, daß es dazu kommen würde. Groof-Marn hockte auf dem Plateau und blinzelte verschlafen. Unten im Tal wimmelte es von Fremden. Es waren kleine Menschen, die die Yttis überfallen und zum größten Teil getötet hatten. Inzwischen war Gur ins Tal hinabgeflogen, um den Angriff zurückzuschlagen. Groof-Marn überlegte, warum sie die Gedanken der Angreifer nicht früh genug gespürt hatten. Ein noch so schwaches Signal hätte genügt, das Blutbad unter den Schneebestien zu verhindern. Vert-cha drängte sich an seine Seite. »Warum fliegst du nicht hinab und hilfst ihm?« »Er hat es verboten!« dachte Groof-Marn. »Gur will den Angriff allein zurückschlagen. Auf diese Weise will er verhindern, daß viele von uns gefährdet werden.« »Alle Männchen sind gleich!« dachte sie wütend. Groof-Marn antwortete nicht. Er sah sich um. Bis auf ein paar Jungdrachen, die einen besonders festen Schlaf hatten und für Gedankenimpulse nicht so empfänglich waren, hatten alle Drachen ihre Höhlen verlassen und sich auf dem Plateau versammelt. Sie versuchten die Dunkelheit mit ihren Blicken zu
durchdringen. Unten am Hang kämpfte Gur gegen die Eindringlinge. Er hatte es mit über hundert Angreifern zu tun, von denen einige Fackeln entzündet hatten. Groof-Marn konnte nur tote Yttis sehen. Wenn ein paar Schneebestien den Angriff überlebt hatten, waren sie inzwischen aus dem Tal verschwunden. Groof-Marn ahnte, daß dieser Kampf auf jeden Fall das Ende einer Ära sein würde. Es gehörte zu den Angewohnheiten der Drachen, jeden Platz, an dem sie einmal angegriffen worden waren, zu meiden. Das bedeutete, daß sie das Tal früher oder später für immer verlassen würden. Das Geschrei der Fremden wurde immer wilder. Groof-Marn empfing einen Gedanken Argtors. »Ich folge Gur!« Niemand unter den Drachen erhob einen Einwand. Argtor war so alt wie Gur und galt als einer der besten Freunde des Anführers. Niemand wunderte sich, daß ausgerechnet Argtor sich dem Befehl des Blauen widersetzte. Argtor schwebte ins Tal hinab. In diesem Augenblick empfing Groof-Marn einen schmerzlichen Gedanken des alten Gur. Er wußte, daß alle anderen Drachen diesen Impuls ebenfalls wahrnahmen. Der Gedanke war sehr intensiv. Groof-Marn zuckte zusammen. »Er stirbt!« dachte Vert-cha erbittert. »Sie haben ihn
mit ihren Pfeilen getroffen und vergiftet. Er könnte weiterleben, wenn ihr ihn ins Tal begleitet hättet.« Groof-Marn reagierte nicht auf diesen Vorwurf, denn er fühlte sich nicht davon betroffen. Gur hatte seine Befehle erteilt, und alle anderen hatten sie respektiert. Gurs telepathischer Hilfeschrei wurde wiederholt, diesmal mit großer Eindringlichkeit. Es war wie ein Signal für die noch auf dem Plateau versammelten Drachen. Sie hoben ab und schwebten ins Tal hinab. Ihren Augen bot sich ein schrecklicher Anblick. Gur torkelte zwischen den Feuerstellen der Yttis herum. Er war von mehreren Dutzend Pfeilen im Rachen getroffen worden. Das Gift begann seine Wirkung zu tun.. Groof-Marn sah, daß Gur und der inzwischen eingetroffene Argtor die Angreifer bis auf wenige Ausnahmen getötet hatten. »Ich sterbe«, dachte Gur völlig außer sich. Es war nicht die Furcht vor dem Tod, sondern die Sorge um sein Volk, die ihn verzweifeln ließ. »Ich muß euch alle zurücklassen.« Die Gedanken der anderen Drachen konzentrierten sich auf ihren Anführer. Gur hielt einen der kleinen Menschen zwischen den Klauen fest. Das Wesen lebte noch. Es zappelte und
versuchte vergeblich, sich aus dem Griff des Drachen zu befreien. Der wütende Argtor war dabei, die letzten Fremden zu töten. Der Angriff war schnell abgeschlagen worden. Aber auch Argtor wies zahlreiche Pfeilwunden auf. Groof-Marn wußte, daß sie Gur nicht trösten oder ihm helfen konnten. Ihr Anführer würde mit dem Gedanken sterben, daß er diesen Angriff auf sein Volk vereitelt hatte. Er würde aber auch wissen, daß damit keines der Probleme gelöst war, mit denen die Drachen sich auseinanderzusetzen hatten. »Lebt wohl!« erreichten Gurs Gedanken den jungen Groof-Marn. Es war so schnell gegangen, daß Pergrit die katastrophale Niederlage seines Stammes in ihrem vollem Umfang nur langsam begriff. Er war von einem Schwanzhieb des großen Drachen getroffen und zwischen einen Holzstapel geschleudert worden. Hier lag er nun auf dem Rücken, unfähig sich zu bewegen, und wartete auf den Tod. Von seinem Platz aus konnte er sehen, daß der große Drache, den sie mit ihren Pfeilen sehr oft getroffen hatten, Nivan in seinen Klauen hielt. Nivan lebte noch, aber er konnte sich nicht befreien. Plötzlich hob der große Drache vom Boden ab, ohne
Nivan loszulassen. Wenige Augenblicke später konnte Pergrit ihn nicht mehr sehen. Dann jedoch hörte er ein Pfeifen in der Luft, Nivans Aufschrei und einen Aufprall, der den Boden erschütterte. Pergrit erriet, was geschehen war. Der Drache mit Nivan in den Klauen hatte sich aus großer Höhe auf die Felsen gestürzt. Wahrscheinlich hatte er gewußt, daß die Wirkung des Pfeilgifts ihn früher oder später töten würde. Nivan hatte er mit in den Tod genommen. Bis auf das Prasseln der Flammen war es jetzt unheimlich still im Tal. Pergrit hatte schon davon gehört, daß die Drachen sich einer Art Gedankensprache bedienter!, aber er hatte es bis zu diesem Zeitpunkt immer bezweifelt. Der Späher hob mit großer Anstrengung den Kopf. Rund um das Feuer lagen die toten Yttis und die Leichen der Krieger. Niemand schien den kurzen Kampf überlebt zu haben. Die Drachen waren bereits damit beschäftigt, die toten Körper wegzutragen. Pergrit wußte, daß sie früher oder später auch ihn finden und endgültig töten würden. Was Pergrit immer befürchtet hatte, war eingetroffen. Kal hatte sich als schlechter Gott erwiesen. Die Söhne Kals hatten nur einen, bestenfalls
zwei Drachen töten können, dann war ihre Armee aufgerieben worden. Von Kal war keine Hilfe gekommen. Die Drachen und ihre Götter hatten sich als mächtiger erwiesen. Pergrit hörte ein Geräusch. Der Kopf eines Drachen erschien über ihm. Pergrit schloß die Augen und wartete auf den tödlichen Schlag. Groof-Marn sah den fahlhäutigen Menschen zwischen den Holzstämmen liegen und erkannte, daß das Wesen noch lebte. Es schien jedoch schwer verletzt zu sein. Groof-Marns erster Impuls war, diesen Mann zu töten, und er hob auch die Pranken zum tödlichen Schlag. Dann jedoch ließ er sie wieder sinken und dachte nach. Vielleicht war eine noch größere und besser ausgerüstete Armee hierher unterwegs. War es nicht denkbar, daß sie es nur mit der Vorhut zu tun hatten? Am Ende war alles nur ein Ablenkungsmanöver. Groof-Marn benutzte die Sprache der Yttis, als er sich wieder an den Fremden wandte. »Du verletzt?« Das Wesen schlug die Augen auf. Im Licht der Fackeln sah Groof-Marn ein von Erschöpfung, Angst und Schmerzen gezeichnetes Gesicht. »Ja«, flüsterte der Mann kaum hörbar. »Im Rücken. Ich werde sterben. Du brauchst mich nicht
umzubringen.« Groof-Marn war von diesen Worten beeindruckt. Er konnte den Krieger nur schwer verstehen, aber der Sinn der Worte entging ihm nicht. Er wollte wieder etwas sagen, als sich ein anderer Drache an seine Seite schob. Es war Ga-vok. »Der Mann lebt noch!« stellte Ga-vok unbarmherzig fest. Bevor Groof-Marn irgend etwas tun konnte, warf sich der Braune auf den Verletzten und tötete ihn. Groof-Marn wich betroffen zurück. »Warum hast du das getan?« klagten seine Gedanken. »Er war völlig hilflos und hätte uns nicht schaden können.« »Wir werden erst Ruhe haben, wenn alle Menschen tot sind«, erwiderte Gavok grimmig. »Nicht nur die Mitglieder dieses Stammes, die uns angegriffen haben, sondern alle Menschen auf der Erde.« Der Haß und der Zorn, die aus Ga-voks Gedanken sprachen, trafen Groof-Marn. Er hatte immer geglaubt, die Drachen würden einmal zu allen Menschen ein gutes Verhältnis haben. Ga-voks Gedanken signalisierten erstmals eine andere Zukunft. »Trotzdem hättest du den Verletzten nicht zu töten brauchen«, beharrte Groof-Marn auf seinem Standpunkt. »Wir hätten wichtige Informationen von ihm bekommen.«
»Er hätte uns doch nur belogen«, behauptete der Alte. »Siehst du nicht den Helm aus Metall auf seinem Kopf? Sie tragen alle einen solchen Helm. Auf diese Weise können sie ihre Gedanken vor uns verbergen. Du erkennst daran, wie verschlagen sie sind. Sicher beherrschen sie noch andere Tricks.« Groof-Marn beobachtete Ga-vok und erkannte, daß dieser seine unversöhnliche Haltung so schnell nicht wieder ändern würde. Er ging zu den anderen Drachen zurück, während Ga-vok den toten Fremden wegschaffte. Ein paar Drachen waren damit beschäftigt, den toten Gur in eine große Quelle zu ziehen, die sein Grab sein würde. Argtor ging es schlecht. Es war zu befürchten, daß sein alter Körper das Pfeilgift nicht mehr ausscheiden konnte. »Solange Hotch nicht zurück ist, werden Ga-vok und Groof-Marn unsere Anführer sein«, sagte einer der alten Drachen. »So hat es Gur bestimmt.« Der Gedanke, zusammen mit dem grimmigen Ga-vok die Führungsspitze des Drachenvolkes zu bilden, benagte Groof-Marn wenig, aber er erhob keine Einwände, da sonst Ga-vok alleiniger Anführer geworden wäre. Groof-Marn wollte dem alten Braunen jedoch nicht alle Entscheidungen überlassen. Er hoffte, daß Hotch, der als vernünftig und ausgeglichen bekannt war, bald zurückkehren würde.
Von den Yttis waren nur noch Jekko, Atta und Okka bei den Drachen. Alle anderen waren tot oder geflohen. Das bedeutete, daß die Drachen sich in den nächsten Tagen selbst um ihr Vieh kümmern mußten. »Wir wollen die Spuren des Kampfes beseitigen!« entschied Groof-Marn. Er ergriff sofort die Initiative, um Ga-vok zuvorzukommen. »Danach berufen wir eine Versammlung ein, bei der jeder seine Vorschläge machen kann.« Niemand erhob einen Einwand, auch Ga-vok nicht. Groof-Marn war jedoch sicher, daß der Alte bei der Versammlung nicht schweigen würde. Solange das Bild des sterbenden Gur noch frisch im Bewußtsein der Drachen stand, würden Ga-voks Rachegedanken auf fruchtbaren Boden fallen. Der telepathische Notschrei des alten Drachen Gur war so intensiv, daß er auch von Hotch, Hot-cha und Hot-chi empfangen wurde. Die beiden Älteren richteten sich sofort auf, während der Jungdrache zunächst einmal nur verschlafen den Kopf hob. »Das war Gur!« dachte Hotch erschrocken. »Er scheint in großer Not zu sein. Sein Ruf drang vom Tal bei den Himmelsbergen bis hierher zu unserem Lager.« »Wir müssen sofort aufbrechen«, gab seine Gefährtin zurück. Jetzt erwachte auch Hot-chi endgültig.
»Wer hat meinen alten Freund Gur angegriffen?« fragte er benommen. »Das wissen wir nicht«, dachte Hotch. »Aber wir können jetzt keine Rücksicht mehr darauf nehmen, daß du noch müde und erschöpft bist. Wir brechen sofort auf und fliegen zum Tal. Ich hoffe, daß wir es bei Tagesanbruch erreicht haben werden.« »Ich hatte sowieso nicht vor, eine Pause zu machen«, protestierte Hot-chi. »Außerdem fühle ich mich ausgezeichnet.« »Ein Nachtflug ist nicht ungefährlich«, erinnerte Hotch. »Deshalb werden wir so fliegen, wie ich es bestimme. Hot-chi, du wirst zwischen Hot-cha und mir fliegen. Sollten Hot-cha oder ich zurückbleiben, wirst du in jedem Fall weiterfliegen. Das gilt auch für den Fall, daß Hot-cha und ich gleichzeitig in Schwierigkeiten verwickelt werden. Hast du das begriffen?« »Ich bin ja nicht dumm!« »Gut! Dann brechen wir auf.« Die beiden großen Drachen hoben vom Boden ab und kreisten über der Lichtung, bis Hot-chi zu ihnen aufgeschlossen hatte. Hotch und seine Gefährtin nahmen den Jungdrachen in die Mitte. Hotch schlug den direkten Weg zum Tal der Drachen ein. Die Tatsache, daß er nur den Todesruf des alten Gur vernommen hatte, ließ ihn um das Schicksal
der anderen Drachen bangen. Wenn der erfahrene Gur umgekommen war, mußte man auch um das Leben der anderen fürchten. Hot-cha versuchte ihren Gefährten zu trösten. »Wir wollen keine Rückschlüsse ziehen, solange wir nicht wissen, was geschehen ist.« »Es lag schon lange etwas in der Luft«, meinte Hotch. »Es wird Zeit, daß wir unser Volk in eine andere Gegend führen. Im Tal bei den Himmelsbergen werden wir die Lösungen, nach denen wir suchen, nicht mehr finden.« »Was sollen wir tun, wenn es zu einer Katastrophe gekommen ist?« erkundigte sich der Jungdrache. »Dann müssen wir uns ein anderes Volk suchen«, antwortete Hotch. Bei Tagesanbruch befand Gorvan sich noch immer an seinem Beobachtungsplatz hoch oben in den Felsen. Er hatte den Untergang von Nivans Armee in der vergangenen Nacht miterlebt, ohne eingreifen zu können. Obwohl er keine Einzelheiten erkannt hatte, war ihm die Bedeutung der schnell aufeinanderfolgenden Ereignisse klargeworden. Die Söhne Kals hatten nie eine Chance gehabt. Sie hatten einen, vielleicht sogar zwei Drachen getötet und waren dann vernichtet worden. Gorvan war der letzte Überlebende von Nivans
Armee. Der große Mann wagte noch immer nicht, sich zu bewegen, denn er fürchtete die Aufmerksamkeit der Drachen zu erregen. Sie würden ihn wahrscheinlich töten, sobald sie ihn entdeckt hatten. Die Drachen hatten sich unten im Tal versammelt. Sie schienen miteinander zu reden. Gorvan konnte nur drei Yttis entdecken. Der Krieger sah keine Leichen unten im Tal, offenbar waren diese in der vergangenen Nacht von den Drachen weggeschafft worden. Gorvan warf einen letzten Blick ins Tal. Allmählich löste sich die Starre aus seinem Körper, er konnte wieder vernünftig denken. So tragisch das Ende der kleinen Armee war: Nivan, der böse Geist des Stammes, hatte dabei den Tod gefunden. Vielleicht, so hoffte Gorvan, konnte er sich bis zu seinem Dorf durchschlagen. Er würde den Wartenden von der Niederlage Nivans und von Kals gebrochener Macht berichten. Gorvan überlegte, ob er in der Lage sein würde, seinen Stamm in ein anderes Land zu führen. Im Dorf lebten jetzt nur Frauen, Kinder und schwache ältere Menschen, deshalb würden sie den starken Gorvan als Anführer anerkennen. Gorvan kroch zwischen den Felsen auf die andere Seite der Anhöhe. Als er sicher sein konnte, daß die Drachen ihn nicht
mehr sehen konnten, richtete er sich auf und begann mit dem Abstieg in die Ebene. Der Weg zurück ins Dorf würde voller Gefahren sein, aber Gorvan war überzeugt davon, daß er es schaffen konnte. Er blickte häufig zurück, aber es war kein Drache zu sehen. Gegen Mittag erreichte Gorvan den Wald, wo die Armee Nivans vor ihrem entscheidenden Marsch gelagert hatte. Gorvan fand noch ein paar Habseligkeiten. Er sammelte sie ein und suchte sich ein Versteck, wo er eine Zeitlang ausruhen konnte. An eine Verfolgung durch die Drachen glaubte er nicht mehr. Die mächtigen Wesen wußten wahrscheinlich nicht, daß es noch einen Überlebenden gab. Es war eine Ironie des Schicksals, aber Gorvan verdankte sein Leben nicht zuletzt den Entscheidungen jenes Mannes, der sein größter Feind gewesen war. Manchmal, wenn Sonne, Mond und Jupiter in einer besonderen Stellung zueinander stehen, läßt die Intensität kosmischer Schwerkraftlinien auf der Erde nach. Die Drachen in ihrem Tal nahe den Himmelsbergen werden bei dieser Gelegenheit von einer seltsamen Erregung ergriffen. Sie versammeln sich rund um eine heiße Quelle und verfallen in Trance. Ihre Gedanken sprechen zueinander ...
Der Traum des jungen Drachen Hot-chi In seinem Traum erlebte Hot-chi ein paar Tage im Haus eines Atlanters. Wenn er träumte, war Hot-chi ebenfalls ein junger Drache. Er wurde von einem Bürger Muons aufgezogen. Hot-chis Eltern waren zu einer langen Reise unterwegs; sie würden ihn erst abholen, wenn er dem Kindesalter entwachsen war. Der Atlanter war ein großer, breitschultriger Mann. Er behandelte den jungen Drachen mit zurückhaltender Freundlichkeit. In einem Zimmer des Hauses gab es eine wassergefüllte Mulde, in der Hot-chi baden konnte. Ab und zu brachte der Atlanter köstliche Früchte mit nach Hause. Er kaufte sie auf dem Markt der Sternfahrer und Zyklopen. Der Atlanter, bei dem Hot-chi wohnte, lebte zurückgezogen und bekam wenig Besuch. Im Garten des Hauses konnte der junge Drache sich austoben. Oft unterhielten sich Hot-chi und der Atlanter. Sie sprachen davon, daß Hot-chi eines Tages das Haus verlassen und an Bord eines Drachenschiffs gehen würde. Hot-chi würde einen eigenen Drachenberater haben und seinen Freund in Muon allmählich vergessen. Während er das alles träumte, war Hot-chi sich der Tatsache bewußt, daß seine Jugend völlig anders
verlaufen war. Das Ei, aus dem er entschlüpft war, hatte gewaltsam zertrümmert werden müssen. Hot-chi hatte in seiner Jugend bisher nicht viel Entbehrungen auf sich nehmen müssen, aber sein Bewußtsein war von den traurigen Gedanken der älteren Drachen erfüllt. Wie alle Drachen spürte auch Hot-chi die Drohung des Untergangs aller Drachen. Aufgrund seiner Jugend träumte Hot-chi unkomplizierter als die älteren Drachen. Er konnte sich auch an nichts mehr erinnern, wenn er erwachte. Vielleicht war das der Grund für Hot-chis Optimismus und Lustigkeit. Oft gelang es dem jungen Drachen, seine älteren Freunde aufzuheitern. Solange er träumte, fühlte Hot-chi Verständnis für die anderen, sobald er jedoch erwachte und Neigung zu seinen Spielereien verspürte, entstand oft eine Kluft zwischen ihm und den Älteren.
10.
Die Erleichterung drohte Hotch zu überwältigen, als er die Gedanken der Drachen im Tal empfing. In seine Erleichterung mischten sich jedoch schnell Trauer und
Bestürzung, als er erfuhr, daß der alte Gur und Argtor bei einem heimtückischen Überfall ums Leben gekommen waren. Hotch, Hot-cha und Hot-chi landeten im Tal. Die Drachen hatten sich rund um die heißen Quellen versammelt. »Wir sind erleichtert, daß du zurück bist, Hotch«, dachte Groof-Marn zur Begrüßung. »Jetzt können Ga-vok und ich die Führung an dich übertragen.« Hotch wußte, daß er eine schwere Bürde übernahm. Er konnte sich jedoch nicht dagegen sträuben. Er war von Gur als dessen Nachfolger bestimmt worden. Die noch bevorstehende Wahl würde Gurs Vorschlag bestätigen. Sollte Hotch etwas geschehen, würden Ga-vok und Groof-Marn Anführer des kleinen Drachenvolkes werden. Groof-Marn war noch zu jung, um ohne den Rat eines Alten regieren zu können. Doch Hotch hoffte, daß er ein so hohes Alter wie Gur erreichen würde. Er wollte ein guter und gerechter Anführer sein. »Was ist geschehen?« fragten Hotchs Gedanken. Er ließ sich von Ga-vok und Groof-Marn berichten. »Die Angreifer mußten doch wissen, daß sie keine Chance haben würden«, dachte Hot-cha erstaunt. »Trotzdem haben sie den Überfall riskiert. Ich befürchte, es steckt mehr hinter diesem feigen Angriff,
als wir jetzt noch ahnen.« »Das vermute ich auch!« stimmte Hotch zu. Hotch hatte damit gerechnet, daß der unerwartete Überfall bei seinen Freunden Rachegefühle auslösen würde. Die massive Forderung Ga-voks versetzte ihm jedoch einen Schock. Er lauschte auf die Gedanken der anderen Drachen und stellte fest, daß sie mit wenigen Ausnahmen bereit waren, sich Ga-voks Forderung anzuschließen. Hotch wußte, daß er jetzt sehr behutsam vorgehen mußte. Ein allgemeiner Feldzug gegen die Menschen konnte nicht das Ziel der Drachen sein. Nach seinen Erlebnissen in Urgor hatte Hotch völlig andere Pläne gehabt. Ihm schwebte eine zukünftige Zusammenarbeit zwischen Drachen und Menschen vor. Das konnte er den anderen jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht gestehen. Er wäre nur auf Verständnislosigkeit gestoßen. Der Schmerz und die Trauer um Gurs Verlust waren noch zu frisch. Hotch war jedoch entschlossen, einen überstürzten Rachefeldzug zu verhindern. »Ich glaube nicht, daß wir alle Menschen für diesen Angriff verantwortlich machen dürfen«, dachte er eindringlich. »Vielleicht waren die Krieger, die uns überfallen haben, von Dämonen aufgehetzt und nicht Herr ihrer Sinne. Die Ausführung des Angriffs läßt mich solche Hintergründe vermuten.«
»Es geht um unsere Sicherheit!« dachte Ga-vok eindringlich. »Dessen bin ich mir bewußt«, dachte Hotch gelassen. Er durfte sich jetzt nicht aus der Ruhe bringen lassen. Er war der neue Anführer. Wenn er keine schwerwiegenden Fehler beging, würden die Drachen letztlich seine Entscheidungen akzeptieren. »Wir können nicht hier im Tal bleiben, denn ein ähnlicher Angriff kann sich jederzeit wiederholen. Es gibt irgendwo in diesem Gebiet einen Feind. Deshalb werden wir uns einen neuen Lebensraum suchen.« Er spürte, daß seine Gedanken bei vielen Drachen auf Ablehnung stießen. Da erhielt er unerwartete Hilfe von Groof-Marn. »Hotch hat völlig recht. Wir können nicht gegen einen Feind kämpfen, den wir nicht kennen. Außerdem entspricht das nicht unseren Gewohnheiten. Wir haben viele Probleme, die wir in Ruhe und Frieden vielleicht lösen können. Solange wir Kriege führen, können wir nicht nachdenken.« »Und wohin«, fragte Foncha, »sollen wir uns wenden?« »Westwärts!« erwiderte Hotch. »Im Westen soll es viele große Drachenvölker geben. Sie leben sicher nicht ohne Grund dort.« »Es ist nichts anderes als eine Flucht«, mischte Ga-vok sich erneut ein. »Auch ich bin dafür, daß wir
Boten ausschicken, um die anderen Drachenvölker zu alarmieren. Alle Drachen sollen sich zusammenschließen. Ich bin überzeugt davon, daß allein die Menschen an unseren Problemen schuld sind.« »Das läßt sich durch nichts beweisen!« dachte Hot-chi heftig. Erschrocken über seinen eigenen Mut zog er sich in eine Quelle zurück und nieste heftig. Ga-vok beachtete den Gedankeneinwand des Jungdrachen nicht. Es lag unter seiner Würde, darauf zu reagieren. Hot-cha jedoch griff den Gedanken des Jüngeren auf. »Wir können nicht vom Verhalten einiger Krieger auf alle Menschen schließen.« »Aber der Angriff ist der Beweis für die bösen Absichten dieser Wesen«, dachte Ga-vok. Hotch begriff, daß er die unversöhnliche Haltung des Braunen im Augenblick nicht ändern konnte. Ga-vok würde auf seiner Forderung beharren, sich aber andererseits einem Mehrheitsbeschluß nicht widersetzen. »Gur und ich haben oft zusammen nachgedacht«, berichtete Hotch den anderen Drachen. »Er und ich saßen oft nächtelang vor den Höhlen. Ich kenne alle Gedanken, die unseren toten Anführer bewegten. Er hätte einen Angriff auf die Menschen bestimmt
abgelehnt. Deshalb bitte ich um euer Vertrauen. Bestätigt mich als Nachfolger von Gur, dann werde ich unser Volk in einen neuen und sicheren Lebensraum führen.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Sollte ich scheitern, wird Ga-vok der Anführer unseres Volkes werden. Dann kann er seine Pläne verwirklichen.« Der unerbittliche Braune zeigte sich von diesen Gedanken beeindruckt. »Wenn Hotch bestätigt wird, kann er auf meine Unterstützung zählen!« dachte er. »Ich werde meine Pläne zugunsten unseres neuen Anführers zurückstellen.« Das gab den Ausschlag. Auch die Drachen, die mit Ga-vok sympathisiert hatten, stellten sich jetzt auf Hotchs Seite. Nur ein paar unversöhnliche Alte wollten Ga-vok dazu überreden, Hotch die Führung des Volkes streitig zu machen. Doch bei aller Verbissenheit war Ga-vok ein Drache, der sich nach den Traditionen seines Volkes richtete. »Gur hat Hotch als Nachfolger auserwählt. Er wußte sicher, warum er das getan hat. Wir müssen Gurs Wahl respektieren.« Hotch bedankte sich und sicherte Ga-vok zu, daß er immer damit rechnen konnte, im Rat der Drachen eine einflußreiche Stimme zu haben. »Was wird mit unserem Vieh, wenn wir das Tal
verlassen?« wollte der praktisch veranlagte Lartsch wissen. »Wir lassen es zurück!« »Und die drei Yttis, die noch zu uns gehören?« fragte Vert-cha. »Sie können uns begleiten!« entschied Hotch. Damit war die Diskussion vorläufig abgeschlossen. Die Wahl Hotchs zum Nachfolger Gurs war nur noch eine Formsache. Hotch wurde einstimmig bestätigt. »Ich weiß, daß ich eine große Verantwortung auf mich genommen habe«, dachte Hotch, nachdem sich der telepathische Beifall der anderen gelegt hatte. »Ich verspreche jedoch, daß ich mich für alle Drachen einsetzen werde, auch für jene, die meinen Plänen nicht in jeder Beziehung zustimmen können.« Danach berichtete Hotch den anderen von seinen Erlebnissen in Urgor und von seinem Zusammentreffen mit den Weisen der Berge. Seine Erlebnisse machten Hotch Mut, die Freundschaft der Menschen zu suchen. »Wir können die Menschen bei ihren Lebensgewohnheiten beobachten«, schlug Hot-cha vor. »Dabei werden wir viel lernen.« Ihre Gedanken fanden Zustimmung. Schließlich gab Hotch den Befehl, alles für den baldigen Aufbruch vorzubereiten. Er wollte keine Zeit
mehr verlieren. Das Leben der Drachen im Tal gehörte bereits der Vergangenheit an. Im Tal kehrte Abschiedsstimmung ein. »Ich freue mich schon auf den Flug«, meldeten sich Hot-chis Gedanken. »Wir werden fremde Länder sehen und neue Menschen kennenlernen. Vielleicht gibt es in der Fremde auch Stämme wie die Yttis, die uns helfen können, neue Viehherden aufzuziehen.« »Wir werden sehen«, dachte Hotch zurückhaltend. Er wollte vermeiden, daß es zu großen Illusionen kam. Sie waren genauso gefährlich wie eine völlige Ablehnung von Hotchs Ideen. »Ich bewundere deine Sicherheit!« dachte Hot-cha. Der neue Anführer der Drachen bog den langen Hals zurück. »So sicher bin ich gar nicht«, gestand er seiner Gefährtin. »Ich lasse mich in erster Linie von dem Gefühl leiten, daß irgend etwas geschehen muß.« »Du wirst ein würdiger Nachfolger Gurs sein!« »Ich hoffe es!« Am späten Nachmittag war alles für den Aufbruch vorbereitet. Ein paar ältere Drachen machten den Vorschlag, noch eine Nacht im Tal zu verbringen, doch Hotch erinnerte sie an mögliche Gefahren. Die Mehrheit war mit ihm einer Meinung. Auch Ga-vok meinte, daß man, da man nun einmal den Entschluß gefaßt hätte das Tal zu verlassen, sofort
aufbrechen sollte. »Fertig?« fragten Hotchs Gedanken. Er hatte ein letztes Bad in einer der heißen Quellen genommen und fühlte sich frisch und unternehmungslustig. Zustimmende Gedanken drangen in sein Bewußtsein. »Dann starten wir!« »Blickt noch einmal hinab!« empfahl ihnen Hotch. »Wahrscheinlich werden wir dieses Tal, in dem unser Volk solange gelebt hat, niemals wiedersehen.« Sie drehten sieben Runden, dann änderte der an der Spitze fliegende Hotch die Richtung. Er beschleunigte den Schwingenschlag und richtete den Kopf nach Westen.
11.
Der einsame Mann, der dem Flußlauf folgte, kniete nieder und schöpfte mit den hohlen Händen Wasser in sein Gesicht. Nachdem er sich erfrischt hatte, zog er eine Wurzel aus seinem Pfeilköcher und begann darauf zu kauen. Das Gesicht des Mannes blieb trotz der Reinigungsprozedur von Blut verkrustet. Auch am Körper des Mannes waren mehrere Wunden zu
erkennen. Während des Marsches hatte Gorvan den Vogelgott Kal mehrfach verdammt. Kal hatte die Krieger ins Verderben geschickt. Gorvan wünschte, Gulas wäre noch am Leben gewesen. Der von Nivan ermordete Oberpriester hatte versucht, sein Volk von der Barbarei zu befreien. Gorvan würde sein Dorf erreichen und den Söhnen Kals vom Verrat des Vogelgottes erzählen. Am Abend entdeckte Gorvan das Licht eines Lagerfeuers, und er hielt direkt darauf zu. Zwischen einigen Bäumen hatte sich Ergmur niedergelassen. Ergmur war ein dicker Händler aus dem Süden, der auch den Stamm Gorvans regelmäßig besuchte. Der Händler hatte seine beiden Packtiere entladen und saß neben dem Feuer. Gorvan wunderte sich über den Leichtsinn des Mannes. Kam Ergmur nicht auf den Gedanken, daß ihn jemand überfallen könnte? Gorvan trat an das Feuer. Der Händler stand auf und blickte ihn aus aufgerissenen Augen an. »Wer ... wer bist du?« Gorvan blickte an sich herab. Er hatte sich seit dem Aufbruch aus dem Dorf tatsächlich sehr verändert. »Jetzt erkenne ich dich!« stieß Ergmur hervor. »Du
bist Gorvan von den Söhnen Kals.« »Ja«, sagte Gorvan mit rauher Stimme. »Ich bin zurück auf dem Weg in unser Dorf. Gibst du mir zu essen und zu trinken?« »Natürlich!« versicherte Ergmur. »Woher kommst du?« »Vom Tal der Drachen«, entgegnete Gorvan. »Alle anderen Krieger sind tot.« Er nahm einen Becher aus der Hand des Händlers in Empfang und trank hastig. »Im Dorf hat man dir sicher erzählt, daß uns Kal zu einem Feldzug gegen die Drachen losgeschickt hat.« Der Händler senkte den Kopf. »Nein«, sagte er stockend. Gorvan spürte, daß etwas nicht in Ordnung war. Er trat auf Ergmur zu und ergriff ihn am Arm. »Du verheimlichst mir irgend etwas. Was ist geschehen?« Der Händler riß sich los; »Laß mich in Ruhe!« sagte er abweisend. Gorvan sah ihn noch einen Augenblick an, dann schleuderte er den Becher ins Feuer und stürmte davon. Er rannte fast den gesamten Weg bis zum Dorf, bis die Luft in seinen Lungen stach und er farbige Kreise vor den Augen sah. Plötzlich stieg ihm Brandgeruch in die Nase. Er trat zwischen den Bäumen hervor auf die
Lichtung, wo früher die Hütten seines Stammes gestanden hatten. Doch da war jetzt nur noch ein schwarzer leerer Platz. Die Hütten waren niedergebrannt. Ein dumpfer Laut kam aus Gorvans Brust. Er trat auf die Brandstelle und rief. Niemand antwortete ihm. Es war niemand mehr da. Entweder waren alle tot oder geflohen. Das Dorf war während der Abwesenheit der Krieger überfallen worden. »Das ist Kals Werk!« schrie Gorvan, den der Schmerz überwältigte. »Ich verdamme den Vogelgott.« Er hörte Hufgetrappel. Ergmur kam auf einem seiner Packtiere herangeritten und sprang neben Gorvan aus dem Sattel. »Ich hätte dir diesen Anblick gern erspart«, sagte der Händler. »Von den Kindern Kals lebt niemand mehr – außer dir. In Abwesenheit der Männer wurde das Dorf überfallen und alle Bewohner getötet.« Gorvan sank zu Boden. Er wußte nicht, was er tun sollte. »Ich habe Mitleid mit dir«, sagte Ergmur. »Du kannst mich begleiten, bis du eine neue Heimat gefunden hast. Händler werden selten angegriffen, denn sie sind auch als Überbringer wichtiger Nachrichten willkommen.« Gorvan richtete sich wieder auf, aber er beachtete
Ergmur nicht. Er suchte und fand den steinernen Pfad, der zum Sumpf führte. Langsam ging er in diese Richtung davon. Ergmur schwang sich auf sein Reittier und trieb es an. Als er den Sumpf erreichte, war Gorvan bereits hineingewatet und bis zu den Hüften darin versunken. »Du bist wahnsinnig!« kreischte der Händler. »Komm zurück!«. Doch Gorvan hörte nicht. Er versank immer tiefer im Morast, ohne einen Laut von sich zu geben. Schließlich verschwand auch sein Kopf in der braunen Masse. Ergmur wandte sein Pferd und ritt davon. Auf späteren Reisen mied er das Gebiet am Fluß Karmah-Li. ENDE Nach dem Tode des alten Gur hat das Geschwader der Drachen beschlossen, das Tal in den Himmelsbergen, das durch den heimtückischen Angriff der Söhne Kals entweiht wurde, zu verlassen. Hotch, der mächtige Grüne, führt das Geschwader und sucht einen neuen Lebensplatz für die HERREN DER LÜFTE ... HERREN DER LÜFTE so lautet auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes. Autor des Romans ist Hans Kneifel.