Das Strafgericht Version: v1.0
Wann immer sie die Augen schloß, geschah das Gleiche: Die Dunkelheit hinter den Lidern ...
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Das Strafgericht Version: v1.0
Wann immer sie die Augen schloß, geschah das Gleiche: Die Dunkelheit hinter den Lidern geriet in brodelnde Be wegung und krümmte sich zu einem langen Tunnel, von dessen Ende ein kaltes, gefräßiges Licht auf sie zuraste … Jedesmal riß Beth MacKinsay in dem spartanisch einge richteten Zimmer der koptischen Mission die Augen weit auf. Aber ein Entkommen auf Dauer gab es nicht. Spätes tens im Schlaf kam das Schreckliche über sie, erstickte die Gedanken, die die blonde Reporterin bewegten, seit sie hier erwacht war, und ersetzte sie durch andere, fremdarti ge Gedankenmuster. Muster, die nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Um gebung auszuhöhlen und zu verändern begannen …
Was bisher geschah Duncan Luther und George Romano sind in einem schier unendlichen Korridor unter der Wüstenstadt Uruk unterwegs. Seine Türen führen in vergangene Epo chen, und als sie eine davon durchschreiten, finden sie sich im alten Ägypten wie der, wo der junge Pharao Echnaton von der Vampirin Nofretete mittels Lilien kelch zum Blutsauger gemacht wird. Dies ist notwendig, um eine große Gefahr zu bannen: den Nexius, ein amorphes Monstrum, das einst dem Kelch entsprang. Echnaton läßt eine unterirdische Pyra mide bauen, in welcher der Nexius eingeschlossen wird. In der zweiten Epoche erfahren Luther und Romano von einer »Dunklen Ar che«, die dazu diente, auch das Vampirgeschlecht die Sintflut überleben zu las sen. Mit einem Schlangenstab wurden an Bord die menschlichen Opfer getötet – derselbe Stab, der Lilith vor kurzem in die Hände fiel, dann aber von der Tokioter Vampirsippe geraubt wurde. Als Luther und Romano bei Bau der Dunklen Arche ums Leben kommen, finden sie sich in Uruk wieder – am Ende des Korridors! Felidae langt im Uruk der Gegenwart an, wo das LICHT ihr eine Vision schickt: Landru wird noch vor Lilith hier einteffen und deren Mission gefährden! So wird es notwendig, ein Ablenkungsmanöver zu starten. Lilith erhält den Auftrag, den Nexius zu befreien! Was niemand weiß: Der Grabräuber El-Ammein wurde auf die unterirdische Pyramide aufmerksam und ist dabei, sie zu öffnen. Landru eilt nach Ägypten, um dies zu verhindern. Er kommt zu spät: Die amorphe Masse ist erwacht und wütet gnadenlos unter den Eindringlingen. Aber nicht sie allein hat die Jahrtausende überdauert! Bei ihr ist eine junge Frau: Nofretete, die damals zusammen mit dem Nexius eingeschlossen wurde. Sie ist es auch, die Liliths Plan letztlich vereitelt. Der Halbvampirin gelingt es zwar, den Eingang hinter Landru zu schließen und den Erzfeind in der Pyramide einzuschließen, doch Nofretete kennt eine Möglichkeit zur Flucht. Mit knapper Not können sie und Landru den Nexius wieder in seinen unterirdischen Kerker bannen. Landru läßt Nofretete in der Obhut der Kairoer Vampirsippe zurück. Was er nicht weiß: In ihr lebt ein Teil des Nexius, der eine Symbiose mit der Köni gin einging …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter des Menschen Sean Lancaster und der Vampirin Creanna. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist vor der Zeit erwacht. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Bastard sehen, bis sie sich ihrer wahren Bestimmung bewußt wird. Der Symbiont – Ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, ob wohl es fast jede Form annehmen kann. Der Symbiont ernährt sich von Vam pirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Der Scout – Ein magisches Tattoo in Liliths linker Hand, das sie vom Kör per lösen und durch dessen Augen sie sehen kann. Doch was man dem Scout zufügt, spürt auch sie. Landru – Mächtigster der alten Vampire. Seit 268 Jahren jagt er dem Lilien kelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, der ihm damals von Felidae ge stohlen wurde. Felidae – Vampirin im Auftrag einer geheimnisvollen Macht, die Liliths Geburt in die Wege leitete und damit einen Plan verfolgt, der die Welt der Menschen und Vampire verändern wird. Beth MacKinsey – Gleichgeschlechtlich veranlagt, hat sich die Journalistin in Lilith verliebt und ist zur Zeit deren einzige Gefährtin im Kampf gegen die Vampire. Die Vampire – Noch kennt niemand ihre wahre Herkunft, doch sie leben seit Urzeiten neben den Menschen in Sippen zusammen. Um einen neuen Vampir zu schaffen, muß ein Menschenkind schwarzes Blut aus dem Lilien kelch trinken. Der Kodex verbietet Vampiren, sich gegenseitig umzubringen. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser ihm nicht ebenbürtig, sondern eine Kreatur, die dem Vampir be dingungslos gehorcht. Ihrerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmen dem Alter immer lichtempfindlicher.
Schwester Christine spürte Beklemmung in der Kehle, während sie die heruntergebrannte Kerze auf dem Nachtschränkchen durch eine neue ersetzte, deren Schein den Raum flackernd erhellte. Die Frau im Bett schien zu schlafen. Aber ihre bloße Nähe genüg te, um die Missionsschwester aus tiefstem Herzen zu beunruhigen – nicht erst seit heute, sondern bereits seit dem Tag ihrer Einquartie rung. Was Pater Greorgius sich dabei gedacht haben mochte, entzog sich immer mehr dem Verständnis der hageren Frau, die ihr silbergrau es, eng an der Kopfhaut anliegendes Haar in der Mitte gescheitelt und hinten von einer Holzspange zusammengehalten trug. Schwester Christine war ein Mensch, der normalerweise auch noch so großem Elend eine mutmachende Perspektive abgewinnen konnte. Hier, bei diesem Überfallopfer, versagte diese Kunst – und nie mand bedauerte das mehr als sie selbst. Obwohl Pater Greorgius ihr den Namen der bildhübschen Frau genannt hatte, war sie ihr wäh rend ihres Aufenthalts immer noch nicht nähergerückt. »Schwester …« Die Stimme ließ Pater Greorgius’ rechte Hand zusammenzucken. Nein …, dachte sie, als könnte sie den Ruf noch ungeschehen ma chen. Langsam, fast abweisend, wandte sie den Kopf. »Ich wußte nicht, daß Sie wach sind …« »Bin ich das?« Die Töne, die sich aus dem Mund der knabenhaft schlanken Frau quälten, waren brüchig wie uralter Papyrus. Und genau das ist es, dachte die Missionsschwester, was jede persönliche Annäherung schon im Keim erstickt: ihre Unart, Gespräche ins Absurde zu zie
hen … »Brauchen Sie etwas?« Beth MacKinsay schwieg kurz. Ihre Augen standen unnatürlich weit auf, als wollte sie sie mit Gewalt offenhalten. »Ja«, sagte sie, als erforderte dieses knappe Wort ihre ganze Konzentration. Und nach einer längeren Pause, in der sie sich weitere Sätze zurechtlegte, fügte sie hinzu: »Wir haben uns noch nie richtig miteinander unterhalten. Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich ein wenig – zu mir zu set zen?« Schwester Christine war überrascht – mehr als das. Nicht zuletzt aus Neugierde, die sich als stärker erwies als das Unbehagen, willig te sie ein. Sie zog den abgewetzten Stuhl heran, der sonst nutzlos herum stand, weil die Kranke keine Besuche erhielt, und setzte sich neben das Kopfende des Bettes. Dabei streifte ihr Blick kurz das große kop tische Kreuz an der Wand, und sie blinzelte irritiert, weil etwas da mit nicht stimmte. Aber sie fand nicht heraus, was es war. Ihre Augen schweiften zurück zu der europäisch wirkenden Frau, die sich auf Englisch verständigte. »Ich habe nie bemerkt«, sagte die Missionsschwester, »daß Sie das Bedürfnis haben, mit jemandem zu reden.« Beth MacKinsays schweißglänzendes Gesicht wirkte leer wie eine Schultafel, von der jemand mit einem feuchten Schwamm alles ent fernt hatte, was an Bedeutungsvollem daraufgestanden hatte. In gewisser Weise vermittelte es einen jungfräulichen, formbaren Eindruck, der aber nicht in Einklang zu bringen war mit dem, was sich in ihren Augen spiegelte. Dort nisteten die Unerklärlichkeiten, die auch Schwester Christine verunsicherten. »Ich wußte es auch nicht – bis eben.«
Nicht zum erstenmal stellte sich die Missionsschwester die Frage, ob es nicht eine höchst einfache Erklärung für das bizarre Gebaren dieser Frau gab – ob sie nicht schlicht … verrückt war …? Jeder Versuch, den Pater zu bewegen, in diesem speziellen Fall einen Arzt oder die Behörden einzuschalten, war gescheitert. Der Missionsleiter umging das Problem mit sich ständig ändernden Ausflüchten. Aus einem Grund, den die Schwester noch nicht her ausgefunden hatte, sträubte er sich dagegen, Beth MacKinsay mit anderen Personen zusammenzuführen. Die Außenkontakte der seltsamen Kranken beschränkten sich auf die regelmäßigen Besuche des Paters – und die Versorgungen, die Christine bei ihr versah, wozu – natürlich – auch die tägliche Wasch prozedur gehörte. »Worüber wollen Sie reden? Erinnern Sie sich wieder an die Um stände, unter denen Sie hierher gelangten? Der Überfall …« »Ich hatte sie nie vergessen«, sagte Beth MacKinsay. »Nein?« »Nein.« »Sie sind körperlich wieder völlig gesund«, sagte die Missions schwester, obwohl der Pater ihr verboten hatte, dieses Thema anzu schneiden. »Die Schnittverletzungen an Ihrem Hals sind gut ver heilt. Der Blutverlust müßte längst ausgeglichen sein. Die Kost, die Sie erhalten, ist genau darauf abgestimmt. Wenn es Ihnen immer noch nicht möglich ist, das Bett zu verlassen, muß dies andere, psy chische Gründe haben …« »Sie haben recht.« Selbst das Lächeln, das auf dem starren Gesicht entstand, blieb maskenhaft nichtssagend. »Der Grund ist: Ich warte.« Schwester Christines Blick irrte kurz zu dem Kruzifix über dem Bett. Die Haltung des Gekreuzigten schien ihr anders als die vielen
Male, die sie schon früher zu ihm aufgesehen hatte. Sie hatte das Ge fühl, daß das Leid, das sich in das Gesicht unter der Dornenkrone gegraben hatte, größer geworden war … »Sie warten …? Worauf?« »Sie wissen, daß ich nicht aus eigenem Antrieb hierher kam? Al lein hätte ich es gar nicht bis hierher geschafft …« »Der Pater erwähnte es flüchtig. Eine andere Frau …« »So ist es.« »Eine Freundin?« Das Zögern entging Schwester Christine nicht. »Ich dachte es … Nein: Ich weiß es! Sie ist der einzige Mensch, den ich habe! Sie muß verhindert sein, sonst wäre sie längst zurückge kommen und hätte mich …« Beth MacKinsay verstummte, räusper te sich und lächelte noch verlorener. »Sie wird kommen – sie muß, bevor ich …« »Bevor Sie?« Plötzlich hatte die Missionsschwester das Gefühl, als würde eine Art Schleier vor dem Blick der Kranken zerreißen. Für wenige Mo mente entstieg den Augen ein lautloser Hilfeschrei, der selbst in Worte gefaßt nicht intensiver hätte sein können. Auf ihrem Körper bildete sich eine Gänsehaut, noch mehr, als die Frage kam: »Würden Sie mir – einen Gefallen tun?« »Welchen?« Schwester Christine hatte nur noch den Wunsch, dieses Zimmer zu verlassen. Sofort … »Könnten Sie das – Kreuz von der Wand nehmen?« Irgendwo in der einfach gestrickten Frau, die ihr Leben in den Dienst reiner Nächstenliebe gestellt hatte, zerriß eine Saite, von de ren Vorhandensein sie vorher nichts geahnt hatte. Sie rang um Fas
sung. »Das Kreuz … abnehmen? Deckt es sich nicht mit Ihrem Glau ben – oder haben Sie gar keinen?« Die Pupillen der Patientin irrten hektisch hin und her. »Bitte, tun Sie mir den Gefallen! Ich fühle mich so unerträglich … beobachtet.« »Ich müßte mit Pater Greorgius reden …« »Nein! Bitte – holen Sie es dort herunter!« Beth MacKinsay bäumte sich im Bett auf und reckte die Arme nach oben, als wollte sie das Symbol nötigenfalls selbst herunterreißen – aber dazu kam es nicht, weil sie auf halbem Weg wieder entkräftet zurücksank. Die Beklemmung in Schwester Christine, eine Art von Mitleid, die sie nicht gutheißen konnte, veranlaßte sie, aufzustehen und die Fin ger um das mehr als armlange Kruzifix zu legen. Dabei kam sie dem Gesicht der Heilandfigur so nahe, daß sie glaubte, Atem aus dem schmerzverzerrten Mund strömen zu fühlen … Doch der Versuch, das Symbol zu entfernen, scheiterte. Obwohl es nur an seinem oberen Ende an einem Haken hing, schien das Kreuz buchstäblich über seine gesamte Auflagefläche an der weißgestri chenen, glatten und ansonsten schmucklosen Wand zu kleben. »Tut mir leid, es geht nicht …« Es tat ihr kein bißchen leid. Das Achselzucken war ebenso geheu chelt wie die Worte, mit der sie sich für etwas entschuldigte, was sich – wäre es gelungen – ihrem eigenen Verständnis entzogen hätte und kaum zu entschuldigen gewesen wäre. Pater Greorgius hätte sie für verrückt erklärt! Hätte er? Die Missionsschwester glaubte immer noch, den Atem des Ge kreuzigten auf ihrer Wange zu fühlen. Ohne die eigenen Bewegun gen sicher kontrollieren zu können, trat sie ihren Rückzug aus dem Zimmer an. »Ich werde mit dem Pater sprechen«, stammelte sie noch einmal.
»Er wird …« … mich davonjagen! Sie ersparte es sich, ihre wahren Befürchtungen auszusprechen. Den Blick der Kranken mied sie. Als sie draußen die Tür hinter sich im Rücken spürte und sich fest dagegen lehnte, überkam sie ein na menloses Grauen. Wie Espenlaub zitternd wankte sie zur Kammer des Paters. Sie wollte ihn bitten, eine andere Schwester zu beauftragen, sich künftig um die sonderbare Kranke zu kümmern. Ihr selbst – so glaubte sie fest – fehlte die nötige Nervenstärke dazu … Als sie mit den Knöcheln der geballten Faust gegen das Türholz klopfen wollte, hielt sie aus einem vagen Gefühl heraus inne. Fast ebenso unmotiviert bückte sie sich und ging auf die Knie, so daß sie durch das Schlüsselloch sehen konnte. Etwas Derartiges hatte sie noch nie getan (und wieder riß eine un bekannte, hoffnungslos überspannte Saite in ihr …). Es steckte kein Schlüssel. Die Sicht war frei. Was Schwester Christine in dieser Nacht sah, ließ ihr Weltbild in Trümmer zerfallen. Nur mit äußerster Mühe gelang es ihr, den Schrei, der schon in ihrer Kehle steckte, zu unterdrücken. Er hätte sie unweigerlich verraten. Ihr wurde erst heiß, dann kalt. Und als sie sich schließlich aufrich tete, um in ihre eigene Kammer zu flüchten, spürte sie wieder den Atem des toten Stückes Holz, des Mundes unter der Dornenkrone, in ihrem Gesicht. Er begleitete sie überallhin, auch an den kommenden Tagen. Manchmal fühlte sie ihn auf ihrer Wange, dann durch den Stoff der Robe hindurch auf den Höfen ihrer Brüste – oder in dem gekräusel ten Haardreieck südlich ihres Nabels. Und irgendwann konnte sie ihm nicht mehr widerstehen …
* Türkei Durch die schlafende Stadt, vorbei an ihren ahnungslosen Bewoh nern, streifte ein schreckliches Tier. Die Fenster der Häuser waren finster in dieser Zeit zwischen Mitternacht und Morgen, und der wolkenverhangene Himmel war so zerrissen wie die Seele jenes Ge schöpfes, das verzweifelt nach einem Ausweg aus seinem Dilemma suchte. Dieses Tier, gefangen in sich selbst, war ich … Als ich an einem Wirtshaus vorbeikam, hörte ich polternden Lärm und Geschrei hinter den hölzernen Läden, von denen die Farbe blät terte. Sie waren ebenso verschlossen wie die verschrammte Tür, ge gen die oft getreten worden war, um Einlaß zu erzwingen. Ich verbarg mich hinter einem mächtigen Eukalyptusstamm, an den ein klappriges Fahrrad gelehnt stand. Die Nacht war lau. Es hatte geregnet, und wann immer die Wol ken aufrissen, gewann der Himmel dahinter eine Klarheit, die mir die eigene Konfusion um so schmerzlicher bewußt machte. Ich litt wie ein Hund. Ich litt, weil ich so närrisch war, mich meinem wahren Wesen zu widersetzen. Die Tür des Wirtshauses wurde aufgerissen, und eine Gestalt tau melte, von derben Flüchen begleitet, ins Freie. Ihr wurde noch ein Tritt mitgegeben, woraufhin sie armerudernd die wenigen Stufen hinabstolperte und auf den gepflasterten Gehsteig stürzte. Drinnen beruhigte sich der Lärm. Die Tür wurde zugeschlagen,
das Lichtviereck erlosch, und der Gefallene rappelte sich mühsam wieder auf. Seine geballte Faust drohte sinnlos in Richtung des wie der dunklen Gebäudes, wo der Sperrstunde ein Schnippchen ge schlagen wurde und wo es zu einem Streit gekommen war, der ver mutlich beim ersten Hahnenschrei schon wieder vergessen sein würde. Der Fremde lief mir genau in die Arme. Ihm gehörte der Draht esel, und obwohl er kaum in der Lage sein würde, ihn zu besteigen, hegte er offenbar genau diese Absicht. Eine Straßenlampe streute trübe Helligkeit, aber mehr als meine schattenhaften Umrisse konnte der Betrunkene nicht erkennen, als ich seinen schon nach dem Fahrrad ausgestreckten Arm nieder schlug und mir jedes desillusionierende Detail seines geschundenen Körpers einprägte. Er hatte tüchtig Prügel bezogen. Sein Gesicht war aufgequollen von Alkohol und Schlägen. Aus der Unterlippe rann ein Blutfaden, dessen Spur sich hinter dem schmutzigen Hemdkragen verlor. Während ich ihn packte, wuchsen meine Zähne und meine Gier. Das Fahrrad stürzte zu Boden. Der Mann riß die Augen auf, als er mich fühlte. Sie waren so rot wie die eines Albinos. Der Druck des alkoholisierten Blutes hatte etliche Äderchen darin zerplatzen las sen. »Still!« knurrte ich. Mehr war nicht nötig. Es genügte, seinen bereits zum Schrei geöff neten Mund zu schließen. Sein Gesicht verfiel, als sich jeder eigene Wille daraus verabschiedete. Ich stand nahe davor – doch ich konnte es nicht. ICH WOLLTE ES NICHT! Mit einem kehligen Schrei stieß ich den Hypnotisierten von mir. Er fiel, und diesmal erhob er sich nicht wieder.
Zitternd ließ ich von ihm ab. Mein Körper flüchtete in eine andere Metamorphose. Als Fledermaus hob ich mich zurück in die Lüfte, aus denen ich gekommen war. Aber ich wußte nicht mehr, wohin. Ich sehnte das Licht des neuen Tages herbei, wie ich es noch nie zuvor getan hatte. Ich versprach mir Linderung davon, aber natürlich würde ich enttäuscht werden. Seit meinem ägyptischen Abenteuer wußte ich, daß die Vergan genheit schreckliche Irrtümer wie den Nexius* geboren hatte – aber schon früher, noch in Tokio, hatte ich erkennen müssen, daß der wohl größte Irrtum ich selbst war! Ich war nicht nur ein Zwitter, was meine genetische Struktur – halb Mensch, halb Vampir – anging, sondern auch meine ethische Beschaffenheit: Halb ›gut‹, halb ›böse‹ … gab es das? Jedenfalls war ich offenkundig nicht böse genug, um die mir zugedachte Aufgabe so zu erfüllen, wie es mir in grauer Vergangenheit bestimmt worden war: Im Jahre 1727 war in Llandrinwyth, Wales, ein Mädchen geboren und von der Vampirin Felidae geraubt worden. Bei der Kelchtaufe hatte es den Namen Creanna erhalten – was ›die Schöne, die Häßli che‹ bedeutete. Viele Jahre später zeugte Creanna verbotenerweise ein Kind mit einem Menschen – mich! Der Prophezeiung nach sollte dadurch das Ende vampirischer Herrschaft über die Menschen herbeigeführt werden. Diese Prophe zeiung konnte sich aber nur erfüllen, wenn ich mir meiner Bestim mung in voller Tragweite bewußt wurde – und sie akzeptierte. Hundert Jahre hatte ich in einem hermetisch versiegelten Haus in Sydney heranreifen sollen, um nach diesem Jahrhundert der Gefan genschaft und sorgfältigen Vorbereitung den Kampf gegen die heimlichen Unterdrücker der Menschen aufzunehmen. Durch eine *siehe VAMPIRA 42, 43
Verkettung widriger Umstände war ich jedoch zwei Jahre vor Ab lauf dieser Frist erwacht, und höchstwahrscheinlich fehlten mir des halb die grundlegenden Einsichten über Art und Umfang meiner Aufgabe. In knapp drei Monaten würde das Datum erreicht sein, zu dem ich den schützenden Hort in Sydney tatsächlich hätte aufgeben sollen, und die Frage, die ich mir immer häufiger stellte, war: Als was hätte ich die Mauern meines Jahrhundertkerkers verlassen? Noch in Tokio hatte ich von der ›Agrippa‹ erfahren, einem ›Schlüssel‹, den ich dort suchen und finden sollte, wo mein ärgster Widersacher, Landru, vor fast dreizehn Jahrhunderten Licht und Dunkel dieser Welt erblickt hatte: im Berg Ararat. Irgendwo dort gab es einen mystischen, versteckten Ort, dem einst das Geschlecht der Kelchhüter entsprungen war, das dafür gesorgt hatte, daß sich vampirisches Leben auf der Erde verbreitete, um das menschliche zu geißeln … Seit Tagen versuchte ich, der verzweifelten Gier in mir Herr zu werden – dem Durst nach Blut –, aber je mehr ich mich dagegen stemmte, desto unbezähmbarer wurde das in meine Wiege gelegte Verlangen. Ich wußte nicht, ob mir mein Verfolger, dieses Monstrum aus drei erlei Mensch, noch immer auf den Fersen war, um all jene zu töten, die ich mit meinem Keim infiziert hatte.* Aber ich nahm dies als schlimmstmöglichen Fall an … Seit Beth in der Kairoer Mission zurückgeblieben war, um ihre Wunden auszukurieren, steckte ich in einer grausamen Zwickmüh le. Obwohl auch Beth meinen Keim trug, war sie als einzige von dem Monstrum verschont geblieben, weshalb ich mich, seit mir die Kon sequenz meines Blutdurstes bewußt geworden war, nur noch von *siehe VAMPIRA 39: ›Liliths Opfer‹
ihrem Blut ernährte. Nun stand es mir nicht mehr zur Verfügung. Meine Schwäche wuchs von Stunde zu Stunde. Die beschwerliche Reise über Ankara hierher hatte letzte Kraftreserven aufgebraucht. In diesem Zustand konnte ich es nicht wagen, dorthin aufzubrechen, wo unbekannte Gefahren und jenes Ding auf mich warteten, von dem ich nicht einmal wußte, was es darstellte! Die Agrippa … Meine Gedanken zerfaserten. Wenn ich nicht bald Blut saugen konnte, würden Fältchen in meinem Gesicht wuchern und nie mehr verschwinden. Mein Verstand würde sich trüben, die bereits jetzt spürbare Verwirrtheit überhand nehmen, bis ich mich am Ende vor lauter widernatürlichem Verzicht womöglich in das verwandeln würde, was ich eigentlich mit allen Mitteln bekämpfte: eine blut rünstige Bestie, die im Rausch jeden tötete, der ihr begegnete …
* Stunden später Es war nur ein holpriger Karrenweg, der die Verbindung zwischen Dogubayazit und dem Gehöft der Familie Gordion herstellte. Erdek Çannakale bangte um seinen motorisierten Untersatz. Die ausgeleierten Stoßdämpfer schienen jedes Schlagloch mit dem Ver sprechen zu begrüßen, den geflickschusterten Wagen in seine mor schen Einzelteile zu zerlegen. Nur ein Wunder hatte dies bislang verhütet. Aber jede Glückssträhne, das wußte auch der junge Land arzt, fand irgendwann ihr jähes Ende, und er verspürte nicht die ge ringste Lust, die restliche Wegstrecke zu Fuß zurückzulegen.
Immer wieder redete er seinem Auto wie einem lebendigen Wesen zu und tätschelte das Lenkrad. Das Scheinwerferlicht tastete über die schmale Fahrbahn, die sich durch das kahle Hochland schlängel te. In der Ferne wuchs der Büyük Agri Dagi in die finstere Nacht empor. Wie so häufig war der legendenumwobene Berg Noahs in dichten Nebel gehüllt, aus dem nur die schneebedeckte Spitze her ausragte. Die nächtliche Fahrt war nicht ganz gefahrlos. In letzter Zeit häuf ten sich die Überfälle marodierender Banden, die sich aus desillusio nierten kurdischen Widerstandskämpfern zusammensetzten. Hier und da kam es zu Scharmützeln mit der Regierungsarmee; die Not leidenden waren – wie so oft – die Zivilisten, die sich eigentlich aus allem heraushalten wollten … Erdek Çannakale verwarf die düsteren Gedanken an den Terror, der den Menschen seines Landes aufgezwungen wurde. Es gab auch Sonnenseiten. Er war in Dogubayazit geboren und aufgewachsen. Nur sein Studium hatte ihn ins westliche Ausland geführt, nach Deutschland, aber nach dem Diplom war er in seine Heimat zurück gekehrt, um den hier lebenden Menschen – im positiven Sinn – heimzuzahlen, was sie ihm seit seiner frühesten Kindheit an Gebor genheit und Selbstvertrauen geschenkt hatten. Im Ausland hätte er sehr viel mehr Geld gewinnen können, aber nicht halb so viel Anse hen. Çannakale ging in seinem Beruf auf, und das spürten die überwie gend einfachen Leute. So war es auch nicht ungewöhnlich, daß er sich noch spät am Abend in seinen Wagen gesetzt hatte, um zum Be sitz der Gordions zu gelangen und in aller Herrgottsfrühe die Be schneidungshochzeit an Ayas, dem jüngsten Sproß der Bauernfami lie, vorzunehmen. Er wollte noch einmal in aller Ruhe und unter vier Augen mit dem Jungen sprechen, um seine verständlichen Ängste auszuräumen. Von den Eltern war eine solche Einstimmung,
das wußte Çannakale aus Erfahrung, nicht zu erwarten … Ein Radio gab es nicht, deshalb pfiff der junge Arzt, um wach zu bleiben, eine einfache Melodie. Die Müdigkeit drückte bleiern auf sein Gehirn. So matt und ausgelaugt wie heute fühlte er sich selten. Er hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. Seine Augen brannten vor Überanstrengung, und vor ein paar Minuten hatte er sogar gemeint, ohnmächtig zu werden, als ein kurzer Schwindel ihm die Kontrolle über den Körper entzogen hatte. Es beunruhigte ihn jedoch nicht wirklich. Irgendwie wußte er, daß keine besorgniserregende Ursache dahintersteckte … Çannakale war eine stattliche Erscheinung: dunkelhaarig, schnauzbärtig und mit kühl abwägenden, eisgrauen Augen, die Bli cke automatisch auf sich zogen; mehr noch als die fast aristokratisch geschnittenen Züge mit der kühn vorspringenden, schnabelartig ge krümmten Nase. Obwohl er verwegen aussah und eine gute Partie gewesen wäre, war er noch Junggeselle. Sein Beruf – jedenfalls seine Auffassung desselben – ließ kaum Spielraum für Freizeit; zumindest jetzt noch nicht. In ein paar Jahren mochte dies anders aussehen … Çannakale bremste hart, als direkt vor seiner Windschutzscheibe ein riesiger Schatten vorbeiglitt. Etwas patschte noch wie nasses Le der gegen das Glas – dann verschwand der Schemen aus dem Blick feld. Çannakale stemmte sich gegen das Lenkrad und wurde kurz in den Sitz gepreßt. Da die Geschwindigkeit nicht sehr hoch gewesen war, passierte nichts weiter. Mit laufendem Motor stand der Wagen mitten auf dem festgestampften lehmigen Boden, und das Licht der Scheinwerfer verlor sich schon nach wenigen Metern im Ungewis sen. Çannakale kurbelte das Seitenfenster auf und streckte den Kopf
ins Freie. Nach Sonnenuntergang wurde es in dieser Höhenlage schnell empfindlich kühl, zumal ein ewiger Wind für schnellen Temperaturaustausch sorgte. Über dem Arzt türmte sich die Dunkelheit wie ein trutziges Gebir ge, das selbst den Ararat zur Zwergengröße schrumpfen ließ. Bei Tag und guter Sicht konnte man den Ishak-Pasa-Palast erspähen, der sich adlerhorstartig über der steinigen Steppe erhob und Erinne rungen an die alte Karawanenstraße wachhielt, auf der einst der Handel von Indien über Persien bis hin zum Schwarzen Meer abge laufen war. Das Geschlecht der Cildiroglu hatte hier seit dem späten 17. Jahrhundert residiert – in einem Traumschloß wie aus Tausend undeiner Nacht … Çannakale versuchte zu erkennen, wohin der unheimliche Vogel, der ihn erschreckt hatte, verschwunden war – wenn es ein Vogel ge wesen war. Die Nacht war ungewöhnlich still. Aber kein Flügelschlag drang an sein Gehör, und so setzte er die Fahrt nach kurzer Unterbrechung wieder fort. Die Scheibe ließ er unten, obwohl dies vielleicht unvor sichtig war, aber die kalt hereinströmende Luft tat ihm gut, und er ließ noch einmal Revue passieren, was ihm dieser Tag abverlangt hatte. Immer wieder kamen seine Gedanken ins Stocken, und endlich tauchten vor ihm die Lichter des Anwesens auf, zu dem er unter wegs war. Wenig später rollte sein Wagen auf den Hof der Gordions, wo schon ein Dutzend andere Fahrzeuge parkten, manche besser, man che noch schlechter in Schuß als seines. Laute Musik und Stimmen gewirr wehten ihm entgegen. Nichts Ungewöhnliches. Wie die Hochzeit zwischen Mann und Frau war auch die Aufnahme eines Jungen in die Männergesellschaft ein heiliger Brauch.
Çannakale rechnete nicht damit, daß auch der Priester, der die Ze remonie leiten würde, bereits angereist war. Er nahm die Tasche, in der sich neben frischer Wäsche auch seine gereinigten Instrumente befanden, vom Rücksitz und stieg aus. Noch bevor er die Tür des niedrigen, aber weiträumigen Hauses erreichte, wurde sie aufgerissen, und Salman Gordion, Ayas’ Vater, trat ihm entgegen. Er war zehn Jahre älter als Çannakale und von untersetzter Statur. Männer wie er besaßen erfahrungsgemäß Kräfte wie ein Stier. Sie in irgendeiner unbedachten Weise herauszufor dern, war nicht ratsam. »Haben Sie sich verletzt?« fragte Salman mit Blick auf den Ver band, mit dem Çannakales linkes Handgelenk umwickelt war. »Nicht der Rede wert.« »Ich hatte Sie früher erwartet. Ayas hat sich gerade hingelegt. Ich habe es ihm geraten, damit er morgen ausgeruht ist«, sagte der Mann, dessen scharlachrote Gesichtsfarbe von der Aufregung rühr te, die ihn befallen hatte, als ginge es um sein Stückchen Haut … »Natürlich«, sagte Çannakale. »Es tut mir leid. Ich kam nicht frü her weg. Ein dringender Notfall … Ich werde morgen gleich nach dem Aufstehen mit ihm sprechen …« Salman Gordion nickte und drehte sich um. Der Arzt folgte ihm ins Hausinnere, wo im Verbindungsgang zum Nebengebäude ein verschüchterter Junge auftauchte. Obwohl Çannakale ihn zum ers ten Mal sah, wußte er sofort, daß dies der Junge war, um den es ging. »Du solltest doch …« Salman Gordion verstummte schulterzu ckend. Er wußte selbst, daß es schwer war, bei diesem Lärm an Schlaf zu denken. Die Augen des barfüßigen Jungen im langen Nachthemd hingen ängstlich an der Tasche, die der Arzt in seiner Hand hielt.
»Leg dich wieder hin«, sagte Salman Gordion, an ihn gewandt. »Du schläfst heute nacht, wie besprochen, bei deinen Schwestern. Der Doktor bekommt dein Zimmer …« Ayas nickte. Er wirkte blaß und zerbrechlich. Auf seine schmalen Schultern schien eine unsichtbare Last zu drücken. Die traditionelle Musik und die Gesänge perlten von ihm ab wie Regen von einem Wachstuch. Çannakale bemerkte die Distanz zwischen Vater und Sohn – etwas anderes hatte er auch nicht erwartet. Wahrscheinlich stand der Jun ge seiner Mutter näher, aber auch sie würde ihm in dieser Situation kaum helfen. Çannakale folgte Vater und Sohn, und als er seine Tasche auf das Bett der kleinen Kammer stellte, irrten seine Gedanken zwanzig Jah re zurück. Damals hatte er einen festlichen Anzug und eine rote Schärpe getragen, nachdem die kalte Klinge ihn in den ›mannhaften‹ Stand erhoben hatte … »Sie sind natürlich herzlich eingeladen, noch mit uns zu feiern«, sagte Salman Gordion. »Aber wenn Sie sich lieber ausruhen wollen – Sie sehen sehr müde aus …« Sein Arm wies zum Bett, vor dem Çannakale stand. Salman Gordion schien viel zuviel Aufhebens um eine Sache gemacht zu werden, bei der er selbst überhaupt keinen Beistand erhalten hatte. »Sie haben recht. Aber ich möchte mich noch kurz mit Ihrem Sohn bekanntmachen. Danach gehen er und ich gleich schlafen. Ich bin wirklich etwas erschöpft …« Salman Gordion zögerte. Doch dann winkte er seinen neben der Tür wartenden Sohn herbei und verabschiedete sich mit einem letz ten strengen Blick. »Setz dich zu mir«, sagte Çannakale so normal wie möglich. »Du weißt, wer ich bin und warum ich hier bin?«
Ayas nickte. »Erzähl mir ein wenig über dich. Du kannst mir auch Fragen stel len; ich werde versuchen, sie zu beantworten …« Draußen kratzte etwas gegen die Fensterscheibe. Çannakale zuckte zusammen. Der Anflug einer verschütteten Er innerung stieg in ihm auf. Er strauchelte und sank schwer auf Ayas’ Erwachsenenbett. »Ich glaube … ich bin wirklich etwas … überarbeitet …« Zu spät begriff er, daß dieses Eingeständnis nicht gerade zu Ayas’ Beruhigung beitrug. Eine zitternde Hand konnte viel Unheil anrich ten. Vor nicht allzu langer Zeit hatten Barbiere, keine Ärzte, den Be schneidungsakt vorgenommen, und nicht selten war es dabei zu be dauerlichen Mißbildungen gekommen … »Vielleicht sollten wir unser Gespräch doch … auf morgen verta gen …« Es tat ihm in der Seele weh, den Jungen so wegzuschicken. Aber er wußte sich nicht anders zu helfen. Wie gebannt hing sein Blick an den Augen, die nur er zu sehen schien und die draußen aus der Nacht zu ihm hereinstarrten – und die genau wußten, was sie von ihm wollten … Çannakale rieb sich nervös das verbundene Handgelenk. Als der Junge endlich gegangen war, stand er auf und öffnete das Fenster. Eine Stimme sagte: »Bitte mich herein!« Diesem Wunsch konnte er, wie schon einmal, nicht widerstehen. Er half der wunderschönen Frau, die sein Blut getrunken hatte, in die Kammer, und sie dankte es ihm, indem sie zärtlich über die Stel le seines Armes streichelte, wo der Quell, der ihren Durst gestillt hatte, unter einer Binde verborgen lag. »Wir hatten denselben Weg«, sagte sie, »auch wenn der meine
mich noch weiterführen wird. Hilf mir, daß ich die Kraft dazu habe … Tust du das?« Ohne zu überlegen, begann Çannakale, seinen Verband zu entfer nen. »Nein«, bremste sie ihn, nachdem sie einen Blick auf die geöffnete und wieder vernähte Pulsader geworfen hatte, »nicht du. Hörst du, wie sie feiern? Ich hatte lange keinen Spaß mehr …« Er verstand nicht, was sie meinte. Er verstand kein einziges Wort, aber wieder, wie schon einmal, tat er genau, was sie von ihm erwartete …
* »Ismin ne?« fragte der onyxäugige Jüngling, der auf mir lag und die Tränen der Erregung aus meinen Augen küßte. »Ismin Lilith«, antwortete ich heiser. »Und du?« »Selçuk …« Seine Stimme vibrierte. Die Lippen nahmen Abschied von meinem Gesicht, um sich den blanken Stellen meines Busens zuzuwenden. Er küßte eine nicht vom Mimikrykleid überzogene Brustspitze und spielte mit der Zunge daran. Zwischendurch saugte er wie ein Baby, und jedesmal durchpulste es mich wie ein elektrischer Strom. Dies war ein fremdes Land und er ein Fremder. In seinen Augen las ich, was er im Grunde seines Herzens von mir hielt, doch ich überging es. In Dogubayazit hatte ich doch noch Linderung für mei ne Qualen gefunden. Ein Schild mit der Aufschrift: Erdek Çannakale Doktor
hatte eine ebenso einfache wie zufriedenstellende Möglichkeit er öffnet, an den Saft zu gelangen, der mir Jugend und Stärke schenkte, ohne daß mein Keim übertragen wurde. Licht in den Fenstern eines Hauses hatte mich angelockt, und bevor ich klopfte, hatte ich mir bereits ein genaues Bild des Mannes machen können, der sich hinter dem Namen auf dem Türschild verbarg. Er hatte mir Haus und Ader geöffnet, mehrere Becher gefüllt, die ich in seinem Beisein trank, und anschließend noch die Ruhe und Kraft besessen, seine eigene Wunde zu versorgen. Als er die bevor stehende Beschneidungshochzeit erwähnte, hatte ich entschieden, ihn gehen zu lassen und ihm zu folgen. Und nun war ich hier – dem Versteck der Agrippa zum Greifen nah. Mächtig, fast erdrückend, erhob sich jener Berg, zu dessen Fuß der Besitz der Familie Gordion lag, in der Dunkelheit … »Lilith …« Es erregte mich, wie Selçuk meinen Namen aussprach. Und noch mehr das Bewußtsein, daß es einen wie unbeteiligt neben dem Bett sitzenden Zuschauer gab, der uns bei unserem Tun beobachtete. Selçuk störte sich nicht an ihm, dafür hatte ich gesorgt. Er war einer von Ayas’ älteren Cousins, den ich unauffällig hierher in die Kam mer gelockt hatte … In meinem Schoß sammelte sich die Nässe, und ich konnte es kaum noch erwarten, daß er mich endlich nahm und ich zu meinem Trunk kam. Meine Hand glitt verlangend zu seiner Männlichkeit. Ich um schloß den Schaft und streichelte die samtene Wölbung. Er war be schnitten, wie der Knabe, dem zu Ehren dieses Fest stattfand, und ohne mich länger nur Selçuks Willkür zu ergeben, übernahm nun ich die Initiative und tauchte tief hinab. Mit tiefen Seufzern liebkoste ich sein warmes, dunkel durchblute
tes Glied. Indes beschäftigte er sich mit meinen Brüsten und schob fast beiläufig einen Finger an den Maschen des Symbionten vorbei in mein Geschlecht. Ich ließ ihm das Vergnügen, bis meine Beherr schung endgültig dahin war. Ich drehte ihn auf den Rücken und schwang mich in den Sattel dieses feurigen Hengstes. Wie er mich pfählte, war selbst für eine Halbvampirin überaus be glückend. Ich stieß leise Schreie aus, und dies spornte ihn zu noch heftigeren Stößen an. Ich wehrte mich nicht gegen die Gefühle, die er in mir schürte. Als er kam, krallten sich seine Finger in meine festen Pobacken. Er bäumte sich mir ein letztes Mal entgegen, und ich beugte mich nach vorn, um meinen Busen auf seinen sich wölbenden und senkenden Brustkorb zu pressen. Der Galopp seines Herzens war schuld, daß in meiner Vorstellung ein Bild entstand, dem ich eigentlich hatte entfliehen wollen. Selçuk bemerkte kaum, wie ich über ihm innehielt. Er hatte genug mit sich zu tun. Mit dem genußvollen Ausklingen seiner Begierden. Ich aber kauerte auf ihm und ließ mich von den Beben, die sein Herz aussandte, tragen. Ich hockte auf seinen schmalen Lenden und glaubte – durch die gebräunte Haut hindurch – auf das verhei ßungsvolle Netz der Kanäle blicken zu können, das seinen Körper durchzog. Dunkle, reißende Ströme … Als ich mich kaum noch beherrschen konnte, gab ich Erdek Çan nakale das Zeichen, einzuschreiten. Er brachte die saubere Auffang schale und führte einen daumenlangen Schnitt entlang von Selçuks Pulsader über dem rechten Handgelenk aus. Im Gesicht des Mannes, auf dem ich immer noch kauerte und dem ich die Schweißtröpfchen aus dem starren Gesicht streichelte, zuckte kein Muskel. Tapfer ertrug er, was ihn vor meinen Zähnen bewahr te.
Er wehrte sich nicht. Sein Wille war – wie der des Arztes – blo ckiert, und sein aufgewühltes Blut rann so lange in den bereitgestell ten Behälter, wie der Arzt meinte es vertreten zu können. Bevor der Blutverlust bedrohliche Ausmaße annahm, wurde er ge stoppt. Fast ein Liter dümpelte bereits in der Schale, die ich – wäh rend Çannakale den Schnitt sorgfältig vernähte – an meine dürsten den Lippen führte. Der ungewohnte metallische Beigeschmack mischte sich mit vertrautem Bouquet. Wie häufig stellte sich der höchste Genuß erst bei den letzten Tropfen ein, und so entschied ich, noch einen weiteren Spender zur Ader zu bitten, bevor ich mich an jenen Ort aufmachte, an dem mich ungewisse Gefahren erwarte ten. Bevor ich aber dazu kam, krachte irgendwo ein Schuß, und plötz lich befand ich mich in einem Tollhaus. Mein Verlangen nach Blut wurde auf eine Weise erfüllt, die ich nie gewollt hatte. Von nebenan hörte ich den Aufschrei eines Kindes, der von unbe schreiblichem Entsetzen gefärbt war und abrupt wieder abbrach. Letztlich gab dies den Ausschlag, Çannakale stehenzulassen, Selçuk zu vergessen und mich der Orgie purer Gewalt zu stellen. Noch aber wußte ich nicht, wer sie entfesselt hatte …
* Ayas hatte wachgelegen und kein Auge zugetan. Alle Gedanken drehten sich um den morgigen Tag, an dem ihm die kalte Klinge, die keine Mädchen mochte, wehtun würde. Als er die Stimme seines Cousins aus dem Zimmer hörte, das er dem Arzt überlassen hatte, glaubte er zunächst, daß Selçuk ihn be suchte. Doch dann hörte er nur ihn und eine unbekannte Frauen
stimme, und er lag die ganze Zeit nur ganz still, um durch die Fülle der anderen durch das Haus geisternden Stimmen zu verstehen, was unmittelbar nebenan geschah. Beunruhigt stellte er fest, daß es das sein mußte, was er manchmal bei seinen Eltern belauschte. Es fielen kaum Worte; dafür gab es an dere, unmißverständliche Geräusche. Das Knarren eines Bettes (sei nes Bettes), Stöhnen … Er war so darauf fixiert, daß er erst spät bemerkte, was in diesem Zimmer geschah. Seine Schwestern waren noch nicht zu Bett gegangen. Er war al lein … … aber das änderte sich. Es ging ganz schnell. Glas zersplitterte. Das Fenster wurde aufgerissen, und eine geschmeidige Gestalt hangelte sich von draußen herein. Gleichzeitig ging es wie ein Don nerschlag durch das Haus. Ayas verkroch sich tiefer unter der Bettdecke, ohne zu begreifen, was um ihn herum eigentlich geschah. Erst als sich eine Hand in sein Haar grub und ihn grob emporriß, schüttelte er einen Teil sei ner Lähmung ab, trat um sich und begann gellend zu schreien. Aus dem dunklen Zimmer antwortete ein wahnsinniges Kichern. Sein Kopf wurde noch weiter in den Nacken gerissen. Etwas drückte gegen seine Kehle und fuhr wie eine höllenheiße Lavaspur darüber. Ayas wurde mit einem Mal müde, todmüde – und atmete aus. Aus …
*
Ich brauchte nur Sekunden, um die Lage zu begreifen. Erneut dröhnte von dort, wo sich die Feiernden versammelt hat ten, ein Schuß. Das einsam gelegene Haus wurde überfallen! Offenbar hatte es je mand gezielt auf die Geschenke abgesehen, die Ayas anläßlich sei nes Beschneidungsfestes erhalten sollte. Ob ihr Wert die Brutalität rechtfertigte, mit der die Bande vorging, wagte ich zu bezweifeln. Aber es waren schon Menschen wegen weniger – sogar in reicheren Ländern – umgebracht worden … Seltsam lallende Stimmen schnarrten Befehle, in die sich immer wieder die Schreie derer mischten, denen skrupellos Schmerz zuge fügt wurde. Meine Hand lag bereits auf der Klinke zum Nebenzimmer, aber nachdem ich die Tür aufgestoßen hatte, stand ich eine unbestimm bare Weile nur da und starrte auf das unglaubliche Bild, das sich mir bot. Ein heruntergekommener Kerl stierte mir entgegen. Er trug die zerfledderten Reste einer Tarnkleidung, wie sie von Untergrund kämpfern bevorzugt wurde. Offenbar rasierte er hin und wieder sein Gesicht, aber der Gegenstand, mit dem er es tat, konnte nicht so scharf sein wie das blutglänzende Messer, das er in der Hand hielt. Er grinste mich an, und in diesem Moment beschloß ich, ihn zu tö ten. Ich würde nicht abwarten, ob das Monstrum aus dreierlei Mensch ihn fand und strafte. Ich wollte es tun. Der Raum, in dem zwei Betten standen, lag im Dunkel. Dennoch blieb meinen Augen kein Detail erspart. Meine einzige Hoffnung war, daß auch für den Jungen, der mit gläsernem Blick auf einem der Betten lag und ins Nichts starrte, alles so schnell gegangen war,
daß er nicht hatte leiden müssen … Ohne daß es mir bewußt wurde, betrat ich das Kinderzimmer. Aus dem Gang fiel ein Hauch von Helligkeit, die den Schlächter vor mir erkennen ließ, daß sich ihm eine Frau näherte. Nur eine schwache Frau – kein Grund zur Besorgnis … Er schürzte die Lippen. Seine Pupillen waren unnatürlich vergrö ßert, unheimlich sein Blick … … aber das war nichts gegen den Blick, mit dem ich auf ihn zug litt. Das Messer in seiner Hand hielt mich nicht auf. Auch nicht der Re volver in seinem Gürtel. Mit vier, fünf Schritten hatte ihn etwas erreicht, was Felidae gefal len hätte. Etwas, das zu schnell für seinen wie in Zeitlupe dahintröpfelnden Verstand handelte. Etwas, dessen Klauen sich um seine Handgelen ke schlossen, sie drehte, bis häßliche Töne aus dem dämpfenden Mantel seines Fleisches drangen und ein Schrei aus seiner Brust floh, der mich so wenig rührte wie der Schrei des Jungen ihn. Sein Messer fiel zu Boden. Ich brauchte es nicht. Noch nie hatte ich mich hemmungsloser dem in mir schlummern den Ungeheuer überlassen. Ich spießte den feigen Mörder förmlich auf den scharfen Nägeln meiner Klauen auf. Ich durchbohrte seine Arme und hob ihn meinen Zähnen entgegen, die sich, wie mein gan zer Körper, verwandelt hatten. Als ich seine Halsschlagader zerfetzte, veränderten sich seine moordunklen Pupillen, und es schien, als schrumpften sie auf Steck nadelkopfgröße. Wahrscheinlich starb er viel zu rasch.
Aber ich konnte mich nicht bezähmen. Ich trank ohne wirklichen Durst – nur aus dem Wunsch heraus, den sinnlosen Tod eines Kin des zu sühnen. Wäre ich bei Verstand gewesen, hätte ich gewußt, daß diese Denk weise mindestens ebenso sinnentleert war … Aber ich kam erst wieder zu mir, als um mich herum Licht auf flammte und eine holprige Stimme hinter mir rief: »Keine falsche Bewegung! Bleib – stehen! Bei der geringsten Dummheit puste ich dir das Hirn aus dem Schädel – wer immer du bist …!«
* Ich öffnete meine Umklammerung und ließ den Leichnam zu Boden sinken. Er schlug dumpf auf, und allmählich begriff ich, was ich ge tan hatte. Es war ein Begreifen ohne Reue, denn ich hatte nicht ver gessen, welche Tat vorausgegangen war … »Du wirst die Finger vom Abzug lassen!« sagte ich, während ich mich umdrehte. Über meinen Kopf hinweg peitschte eine Kugel. Sie schlug ein Loch in die Decke. Breitbeinig stand der Schütze zwischen dem Türrahmen. Er hatte nicht auf meinen Hypnoseversuch reagiert, und seine Au gen rieten ab, es noch einmal zu versuchen. Er hatte dieselben un heimlich starrenden Pupillen wie sein Komplize. Ich sah, wie er zitterte, und fragte mich, ob der Schuß seiner War nung nur Nachdruck verleihen sollte – oder ob er mich schlicht ver fehlt hatte. »Ganz ruhig«, sagte ich. »Ich tue, was du sagst!« Schon hob ich die Arme. Es blieb ihm verborgen, wie ich das Fle
dermaus-Tattoo in meiner linken Hand aktivierte und den Scout entsandte. Nach einer Sekunde hatte ich mich auf die veränderte doppelte Sehweise eingestellt. Von da an nahm ich meine Umgebung über zusätzliche ›Sinne‹ wahr. Als zweite Maßnahme beendete ich die Metamorphose, die meine Züge entstellte. Dem Äußeren, das sich unter der Bestie hervorschäl te, würde er weniger Vorbehalte entgegenbringen. Nur das Blut auf meinen Lippen konnte ich nicht ungeschehen machen. Es störte die vermeintliche Unschuld. »Wer – bist du? Was hast du mit ihm – getan?« Er fuchtelte mit der Waffe. Der Scout befand sich bereits außerhalb seines Blickfelds. Ich ließ mich auf kein Gespräch ein, sondern spielte das Spiel. »Hinter dir!« Der Kerl in der offenstehenden Tür wirkte keinen Deut sympathi scher als sein Kumpan, auch nicht, als er den Kopf schüttelte und heiser zu lachen begann. Natürlich war es der älteste Bluff der Welt. Aber dann traf ihn mein magischer Sendbote genau zwischen die Schulterblätter, und das machte den Trick plötzlich unglaublich neu und effektiv. Der Räuber fuhr herum, und noch ehe er die schwerfällige Bewe gung vollenden konnte, hatte ich ihn erreicht. Er reagierte in allem auffallend verzögert, so daß ich ihn unter dem Einfluß eines Rauschmittels vermutete. Alkohol war es nicht, aber irgendeine andere harte Droge, mit der sich die Bande offenbar gemeinschaftlich vor dem Überfall aufgeputscht hatte. Dadurch wurde die Überreaktion des Scheusals, das den Jungen
getötet hatte, nicht entschuldigt. Aber ich ahnte jetzt, warum meine hypnotischen Kräfte versagten. Der Verstand der Bande war bereits gefesselt … Der Schrei, als ich seinen Arm brach, um ihm die Waffe zu entwin den, gellte durch das ganze Haus, und ich machte mir keine Illusio nen über die Folgen. Wuchtig schleuderte ich den Kopf des Kerls gegen die Wand. Während er bewußtlos zusammenbrach, hörte ich näherkommende Stimmen und Schritte. Der Scout kehrte noch einmal in den Flur zu rück, um mir zu zeigen, wie viele der Mordgesellen auf mich zuka men. Nur kurz schwankte ich in der Frage, ob ich mich ihnen stellen oder vernünftigerweise auf meine ureigenen Angelegenheiten kon zentrieren sollte. Die bis an die Zähne bewaffnete Horde ließ keinen großen Entscheidungsspielraum – zumal ich kaum einen entdeckte, der nicht bis unter die Schädeldecke mit Drogen vollgepumpt war. Mein Tattoo kehrte in die Haut zurück, und ich verwandelte mich in ein geflügeltes Tier, das der Übermacht durch das geborstene Fenster entfloh, noch verfolgt von Schüssen, die aber ihr Ziel nicht fanden …
* Es war wie ein kalter Sog, in den ich geriet, je höher ich auf ledernen Schwingen in die stumme Nacht hinaufstieg. Die Geschehnisse im Hause Gordion entrückten meinem Bewußtsein, und ich ließ dies zu, weil ich dem Bild des Kindes, das mit durchschnittener Kehle dagelegen hatte, um jeden Preis entrinnen wollte. Näher und näher kam der schneebedeckte Gipfel. Noch vor ein,
zwei Jahrhunderten hätte es kaum jemand gewagt, diesen Berg zu ersteigen – war er doch ein in vielen Bereichen den Blicken entzoge ner, sagenumwobener Ort gewesen. Die Zeiten hatten sich geändert, und doch wahrte der Große Ara rat noch heute seine größten Geheimnisse. Nicht nur die Heimstatt der Hüter, sondern auch das, was ihn auch aus Menschensicht ver klärte: Der Bibel zufolge sollte sich Noahs Arche nach der Sintflut hier wieder auf den Boden herabgesenkt haben … Beth hatte mir von den kürzlich betriebenen Anstrengungen einer amerikanischen Forschergruppe berichtet, Spuren der Arche Noah hier im ewigen Eis zu finden. Presseberichten zufolge wollte diese Gruppe, die sich Projekt von Bora genannt hatte, das biblische Ge fährt in genau 4500 Meter Höhe am Nordhang des Bergriesen geor tet haben – als rechtwinklige Struktur unter der Gletscherdecke. Li neare Frakturen im Eis sollten der Beweis sein, daß unter dem Glet scher ein von Menschenhand erbautes Objekt verborgen sei. Angeb lich hatte der entdeckte Gegenstand Ausmaße von 150 auf 25 Meter, was der im Buch Genesis angegebenen Grundfläche der Arche Noah entsprochen hätte. Noch in Tokio hatte meine Freundin weitere Nachforschungen be trieben und von einem früheren Militärexperten und Luftbildfoto grafen namens Edward Crawford erfahren, der schon Jahre zuvor eine sumerische Inschrift auf einem Fels des Ararat gefunden haben wollte, die angeblich von Noahs Mission berichtete. Immer wieder war darin der Begriff ›Tewah‹ erwähnt worden – ein Wort, das auch im Hebräischen vorkam und ›Kasten‹ bedeutete. Crawford vertrat die Auffassung, daß damit die Arche gemeint sein müßte, und ver mutlich hatte er recht. Daß wir uns überhaupt für Sintflut und Arche zu interessieren be gonnen hatten, lag an den beiden Artefakten, die ich in Rumänien gefunden hatte. Aber selbst heute, nach dem Verlust der beiden
Überbleibsel der grauen Vergangenheit, hatte sich der Vorhang der Geheimnisse kaum gelüftet. Noch im Dunkel der Nacht erreichte ich jene Öffnung in der südli chen Flanke des Berges, die schon Felidae vor mehr als zweieinhalb Jahrhunderten benutzt hatte. Sie war gerade groß genug, um mich ungehindert in meiner Fledermausgestalt eindringen zu lassen. Dahinter verstärkte sich sofort der unerklärliche ›Magnetismus‹, der mich schon draußen im Flug wie ein Peilstrahl eingefangen hat te und mir als verläßlicher Lotse diente. Nach kurzem waagerechten Verlauf fiel der enge Schacht unvermittelt fast senkrecht in die Tiefe ab, und ich erreichte jenes domartige Gewölbe, in dem nichts ande res als ein eherner, kubusförmiger Altar stand – ein Klotz, von des sen Platte einst der Lilienkelch gestohlen worden war … Ich fand alles, wie ich es in Sydney durch Felidaes Augen erblickt hatte: Ein finsteres, höhlenartiges Reich, wie dem Kegel eines Vul kans nachempfunden. Viele Gänge führten – aus dem Bergesinnern heraus – hierher. Als ich mich zurückverwandelte, bemächtigte sich die besondere Atmosphäre dieses Ortes meiner. Wie ein Schlag ging es durch Kör per und Seele. Und dann, ehe ich Umschau halten konnte, krümmte ich mich unter einem lange nicht mehr verspürten, ganz charakteris tischen Schmerz: Tausend nadelspitze, widerhakende Zähne bissen sich in meine Haut. Für einen Wimpernschlag senkte sich etwas dem Tode Ähnli ches über mich …! Der Symbiont! Ganz offenbar setzte der Dom auch dem Mimikrywesen zu, das sich reflexartig zusammenzog und jeden meiner Atemzüge zur Qual machte. Meine Versuche, beruhigend auf den Symbionten einzuwir ken, fruchteten erst nach einer guten Weile. Dann aber lockerte sich
das Band um meine Brust wieder. Ich atmete befreit durch. Aber ein Rest Beklemmung blieb, und keine Sekunde fühlte ich mich wirklich wohl an diesem Ort, von dem ich gerne gewußt hätte, wer ihn erschaffen hatte – weil es sich um dieselbe Macht handelte, der auch ich meine Existenz verdankte. Leicht benommen setzte ich Fuß vor Fuß und begann meine Su che. Keiner meiner Schritte erzeugte einen Klang, und so verlor ich bald jedes Gefühl für meine Umgebung. Diesem geheimen Ort haf tete Unmögliches an, und mein (vielleicht zu unreifer) Verstand kam nicht damit zurecht. Die Agrippa … Ich wollte die Agrippa finden und damit unver züglich nach Kairo zurückkehren, Beth in der Mission abholen und dann … Wollte ich das? Was war meine Bestimmung? Hatte ich nie mehr als ein gehorsames Werkzeug ohne eigene Interessen werden sollen …? Plötzlich war ich überzeugt, daß – wenn es einen solchen Ort über haupt gab – ich hier die Antworten auf alle offenen Fragen um mei ne Aufgabe, den Sinn und den Zweck meiner Existenz erhalten konnte … »Ist hier jemand?« Meine Stimme gab mir Halt. Es tat gut, sie in die Stille einbrechen zu lassen, auch wenn ich keine Antwort erwartete. Nirgends war auch nur eine einzige Menschenseele zu entdecken, obwohl meine Augen die Dunkelheit mühelos durchdrangen. Alle Gänge, die ins Felsmassiv hineinführten, waren verschlossen von etwas, das wie geronnene Schwärze aussah, und davon ausgenommen waren nur die beiden Schächte, durch die einst Landru und Felidae ihren ›Ge burtskammern‹ entschlüpft waren.
Auch hinter den versiegelten Toren mußten solche Kammern lie gen, und in jeder von ihnen … Drei! Meine Gedanken gerieten ins Stocken, als mir bewußt wurde, daß es eigentlich drei offene Zugän ge hätte geben müssen – mindestens. Seit geraumer Zeit wußte ich von einem dritten Hüter: Harlorki, der den Nexius, jenes fehlgeschlagene Kelchexperiment, in der Epo che Echnatons in die umgedrehte Pyramide verbannt hatte. War das Tor zu seiner Geburtsstätte im nachhinein wieder versie gelt worden – und wenn ja, von wem und warum, wenn dies bei den anderen nicht geschehen war? Und noch etwas widersprach dem Verständnis, das sich in mir ge formt hatte: Von den Schluchten und Abgründen, über denen sich einst Felidaes mörderischer Kampf mit Landru abgespielt hatte, war nirgends auch nur die geringste Spur zu entdecken. Der Boden, auf dem ich stand, war makellos glatt und bot den Schritten sicheren Halt. Mein Ruf blieb unerwidert, und ich lief, um endlich die Initiative zu ergreifen, auf einen der Stollen zu, vor dem sich eine pech schwarze Barriere erhob. Ich berührte sie und empfand … nichts. Es war, als gäbe es das Hindernis gar nicht, jedenfalls nicht fühlbar, und doch kamen meine Hände nicht über den Punkt hinaus, wo die kompakte Schwärze be gann! Es war aussichtslos. Niemand hatte mir erklärt, wie die Tore zu öffnen waren. Die Verschlüsse hielten seit Jahrtausenden. Offenbar hatten nicht einmal Landru oder Felidae sie überwinden können. Mein schweifender Blick fand nichts, von dem ich hätte glauben können, es handele sich um die Agrippa, ohne die ich den Korridor nahe Uruk nicht betreten durfte. Als einzige Erhebung innerhalb des Doms gab es den Altarstein – und dieser war leer.
Wo anders als hinter einem der unzugänglichen Tore sollte der ge heimnisvolle Schlüssel also liegen? »Verdammt!« Ich hieb mit der bloßen Faust gegen die Sperre. Sinnlos … Im selben Moment kam mir die Idee, wie ich wenigstens hinter die Kulissen blicken konnte …
* Ich erweckte das Tattoo. Aber ich scheute davor zurück, den Scout direkt durch die Schwärze des Tores zu lenken. Doch dann erwies sich der scheinbar natürlich gewachsene Fels daneben als undurch lässig, woraufhin ich den Schemen nun doch zu der geronnenen Schwärze steuerte. Es war ein Fehler. Ein tödlicher Fehler! Auch der Scout scheiterte an der Barriere. Wie in einem klebrigen Spinnennetz blieb er in dem Vorhang stecken. Ich konnte ihn weder zurückrufen noch weiterbewegen. Statt dessen wankte ich unter ei nem jähen Schwächeanfall. Mir war, als saugte die Schwärze über den Scout alle Kraft aus mir heraus – alle Vitalität und Lebensener gie. Der Fledermaus-Schemen hing zum Greifen nah vor mir, aber ich vermochte nicht einmal mehr einen Arm zu heben. Ich meinte zu spüren, wie sich die imaginären Zähne des Symbionten noch tiefer in mein Fleisch bissen, und vor mir begann die lebende Tätowierung im Takt meines erlahmenden Herzens zu pulsieren. Mit jedem Schlag wurde der Scout durchscheinender, und als es aussah, als würde er von der Schwärze völlig erstickt und zum Erlöschen ge
bracht, glaubte auch ich mich dem Tode nah. Doch dann – erlosch nicht das Tattoo und auch nicht ich, sondern der Vorhang vor dem Stollen, und wie ein Blitz zuckte der darin ge fesselte Schemen zurück in meine offene Hand! Und alles, was der Bruch der Barriere an Kraft erfordert hatte, kehrte mit ihm in mich zurück. Ich bäumte mich auf, straffte mich. Die Schwäche verflog. Ich betrat den Gang, der nach kurzer Strecke vor einer Tür endete, die sich kaum von dem umgebenden Fels unterschied, aber mühelos zu öffnen war. Dahinter wartete ein … jungfräuliches Wesen, schlafend, wie es schien. Zwischen seinen leicht gespreizten Beinen lag ein falsches Gesicht, eine Maske aus Fleisch und Blut, anders strukturiert als das Gesicht des Schläfers, der asexuell auf mich wirkte, obwohl er Ge schlechtsmerkmale besaß. Ein seltsam zeitloser Mann lag vor mir. Ich bemühte mich nicht, sein Alter zu schätzen, denn es hätte nichts über die wahre Zahl von Jahren ausgesagt, die er bereits in dieser Stasiskammer wartete – auf ein Signal, das nie mehr erfolgen würde, denn die Linie der Hüter, die einander alle tausend Jahre ablösten, war unterbrochen. Schuld daran war nicht Landru – wie er es einmal selbst von sich geglaubt hatte. Schuld war das, was all dies hier irgendwann er schaffen hatte. Fröstelnd wurde mir klar, woran mich dies alles hier – den schla fenden Hüter eingeschlossen – erinnerte: An ein Spielzeug, dessen der Besitzer der Möglichkeiten, die es bot, überdrüssig geworden war … Du bist verrückt! Diesen Vorwurf mußte ich mir gefallen lassen, denn er entsprang meinem Innersten, das sich dagegen wehrte, selbst nur ein Spielball oder Werkzeug zu sein.
Und plötzlich wußte ich, welche Assoziation der Schläfer zu mei nen Füßen mir noch ins Gedächtnis rief: Meinen Einbruch bei Salem Enterprises in Sydney! Dort war ich Zeugin von Heraks Versuch ge worden, einen neuen Vampirtypus aus der Retorte zu erschaffen. Der Schläfer ähnelte dem geklonten Neutrum, das in einem der dor tigen Zuchtbehälter geschwommen hatte … Auch wenn der geschlossene Mund es nicht erkennen ließ: Dieses noch so formbar erscheinende Wesen war ein Vampir und damit mein natürlicher Feind! Ich mußte es mir gewaltsam in Erinnerung rufen, um meine Skru pel beiseite zu schieben und einen Versuch zu unternehmen, den Schläfer aufzuwecken. Er fühlte sich weder warm noch kalt an. Seine Temperatur schien bis auf die kleinste Schwankung meinen Händen angepaßt. Und das feste, straffe Fleisch dieses perfekt modellierten Athleten erregte mich nicht im geringsten. Er besaß keinen wirklichen Eros, keine Ausstrahlung und keine Verlockung – zumindest nicht in diesem stur-ignoranten Zustand. Einen Herzschlag, und sei er auch noch so verlangsamt, konnte ich nicht in ihm erspüren. Sein Blut war schwarz. Obwohl mein Symbiont sich von solchem Stoff ernährte, bediente ich mich seiner, um zu versuchen, den fremdartigen Organismus des Schläfers ›in Gang‹ zu bringen. Meh rere haarfeine Ableger bohrten sich folgsam in den starren Leib. Kurze Zeit später begann sich die Brust des Mannes tatsächlich zu heben und zu senken, füllte Atem die Lungen, Sauerstoff das Hirn. Und schließlich öffneten sich die Augen …
*
Er starrte zur Decke. Lange. Dann sah er mich an. »Du weißt«, fragte ich, »wer du bist?« Er schwieg. Dann öffnete er den Mund. Langsam … Aber es kam kein Ton heraus, und auch die stummen Lippenbe wegungen ergaben keinen Sinn. Dafür sagte der hohle Mund der Maske zwischen seinen Beinen laut und verständlich: »Stell mir deine Fragen!« Meine Verblüffung war so groß, daß sie sich auf den Symbionten übertrug. Seine Medusenfäden schnellten aus dem anderen Körper zurück, und bevor ich es verhindern konnte, nahm das um eine Identität ringende Wesen das Heft des Handelns in die eigenen Hände. Es geschah wohl unbewußt, aber das machte keinen Unter schied. Ruckartig setzte sich der Mann auf, in dessen Auge nicht einmal der Funke eines Ichs zu erkennen war. Seine Hände stießen vor und gruben sich in das Gewebe der ›Maske‹, die sich der Form nach per fekt auf sein Gesicht hätte stülpen und es verbergen können … … aber dazu kam es nicht. Beide Hände tauchten in den hohlen, falschen Mund – und ein kurzer Ausbruch sinnloser Kraft genügte, das Gewebe entzwei zu reißen! Die Maske starb, ehe sie ein einziges weiteres Wort an mich rich ten konnte. Das darin befindliche Blut war rot, und es träufelte auf den Boden, wo es etwas ebenso Faszinierendes wie Gefährliches auslöste, das beinahe auch mich mit ins Verderben riß.
Alles ging zeitrafferschnell. Nur durch einen schnellen Sprung in den Korridor hinaus konnte ich mich retten, denn der Boden unter der blutenden Maske büßte rapide seine Festigkeit ein und verwan delte sich in einen verschlingenden Sumpf, dem der gerade erweck te Hüter zum Opfer fiel! Als ich mich am Boden abgerollt und wieder der Stasiskammer zugewandt hatte, steckte die bedauernswerte, identitätslose Kreatur bereits bis zur Brust im morastig gewordenen Stein, der ihn Sekun den später bereits vollständig verschluckt hatte. Nichts von ihm blieb übrig, und ich konnte nicht fassen, daß ein wenig Blut der Auslöser für dieses Unheil gewesen sein sollte. Deutlich war die Grenze zwischen verändertem und unveränder tem Boden zu erkennen. Dort, wo die tödliche Falle begann und der Erweckte versunken war, schimmerte eine holzähnliche Maserung – während die Umgebung immer noch wie glattpolierter Stein aussah. Ich wagte nicht, mich zu nähern, sondern verließ den Stollen und kehrte in das Domgewölbe zurück, entschlossen, das nächste finste re Tor zu öffnen. Ich hoffte einen weiteren Schläfer zu finden – und eine weitere Maske, auf die ich besser achtgeben wollte, damit sie mir Rede und Antwort stehen konnte …
* Das Sesam-öffne-dich spielte sich genau wie beim erstenmal ab. Mein entsandtes Tattoo badete mich in Schwäche, brachte aber die Barriere zum Zusammenbruch, als wäre es der einzige rechtmäßige Schlüssel dazu, und kehrte anschließend mit aller aufgewendeten Kraft wieder in mich zurück.
Als ich weiterging, glaubte ich zu wissen, was mich erwartete. Aber da irrte ich. Hinter diesem Tor war alles anders. Hier hatte sich – das wurde auf den ersten Blick klar – vor langer Zeit eine Tragödie abgespielt! Als ich die greisenhafte, mumifizierte Gestalt vor mir liegen sah, mußte ich im ersten Moment an Marsha denken … jenes Waisen kind, das mein Vater Anfang des Jahrhunderts ins Haus an der Pad dington Street gebracht und das dort bis ins hohe Alter über meinen Schlaf und meine Träume gewacht hatte – erst recht, nachdem mein Vater von Landru ermordet worden war …* In meiner Kehle bildete sich ein Kloß. Vielleicht löste die Erkennt nis, was Zeit und Zerfall – insbesondere der Zerfall einer Frau – an einem lebendigen Körper anzurichten vermochten, die Tiefe meines Schauders aus. Vorsichtig drang ich tiefer in den Raum; näher zu der Gestalt, de ren Anblick mich eigentlich hätte veranlassen müssen, auf dem Ab satz kehrt zu machen. Doch ich suchte nach einem dieser grotesken, vom sonstigen Kör per losgelöst existierenden ›Gesichter‹ – nach einer Maske, die ja nicht unbedingt das Schicksal derer, für die sie bestimmt gewesen war, geteilt haben mußte … Die Beine der Toten schlossen eng aneinandergepreßt, und als ich mich niederbeugte, um sie auseinanderzuzwingen und zu sehen, ob sich darunter verbarg, was ich suchte, stockte ich plötzlich. Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Es hing in erster Linie mit dem seltsamen Belag zusammen, der die mumifizierte Haut der Toten befallen hatte und der an einen wuchernden Pilz erinnerte … *siehe VAMPIRA 1: ›Das Erwachen‹
Schimmel … Alles in mir sträubte sich, diese schwach leuchtende … Kruste zu berühren. Noch während ich mit mir kämpfte, kam Bewegung in die ver meintlich Tote …
* Als sich ihr Bewußtsein wie aus den versprengten Splittern eines Kaleido skops endlich wieder zusammengesetzt hatte, spürte sie sofort die Verände rung ihrer Umgebung. Sie spürte die andere Person, die bei ihr war – und für eine nicht meßba re Spanne flüchtete sie sich in den Wunsch, daß, wenn sie die Augen auf schlug, alles wie früher sein würde. Alles. Der schreckliche Traum würde beendet, ihr Körper wieder schön und stark sein wie einst. Hohe Wesen würden sie umgeben, und die Katastro phe … hätte nie stattgefunden … Nie! Sie öffnete die Augen.
* Der Arm der Mumie streckte sich nach mir aus, und obwohl in der mühsamen Bewegung keine wirkliche Bedrohung lag, sie eher Mit leid weckte, wich ich erschrocken zurück. »Wer – bist du?«
Die Stimme aus dem vertrockneten Mumienmund klang absurd vital – als ob sie irrtümlich in den falschen Körper gesteckt worden wäre. Und die Sprache, derer sie sich bediente, wurde von mir ver standen, ohne daß ich hätte sagen können, was für eine Sprache es war. »Lilith.« Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, hatte ich mit gleichem Zungenschlag geantwortet. »Und – du …?« fuhr ich fort. Sie richtete sich mühsam auf und schien mehr an ihrem eigenen Erscheinungsbild als an dem meinen interessiert zu sein. Was sie sah, entsetzte sie. »Schade. Ich hatte schon gehofft …« Auch mit Fortdauer der Begegnung wich nicht der Widerwille, den ihr Äußeres in mir entfachte. Aber ebenso unzweifelhaft, wie sie sich äußerlich von dem Hüter unterschied, der auf so grauenvolle Weise vom Boden verschlungen worden war, tat sie es auch inner lich. Ich spürte, daß ein starker Charakter sie beseelte … Und plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, daß Vampire zwangsläufig einer Seele entbehrten. »Lilith …«, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Kann es sein, daß ich diesen Namen schon einmal gehört habe?« Sofort horchte ich auf. »Wo gehört?« Halb aufgerichtet starrte sie zu mir. »Ich erinnere mich nicht … Er innerst du dich?« »Woran?« »Wie du hierher gelangen konntest.« »Natürlich.« Sie schwieg kurz. In die rissige, faltenüberzogene Haut ihres Ge sichts prägte sich Unverständnis. »Ich dachte nicht, daß je jemand in
dieses Grab gelangen könnte …« »Grab?« »Ist es das nicht?« »Nein«, sagte ich und wiederholte noch einmal meine Frage, wer sie war. »Ein Stern …« Die Grimasse, die sie schnitt, schien der Absicht zu entspringen, ein Lächeln zu formen. »Ein erloschener Stern.« Ich nickte. »Manche Sterne haben Namen …« »Auch ich hatte einen.« »Welchen?« Sie zögerte. »Ich bin alt. Ich war es schon, als ich mich niederlegte … Wieviel Zeit ist seither vergangen – weißt du es?« »Wann hast du dich niedergelegt?« »Als alle es taten. Als der Purpur uns zwang …« »Der Purpur?« Ich kannte nur ein Ding, das mit dieser Farbe in. Zusammenhang gebracht wurde. »Der Kelch?« »Du kennst ihn?« »Ja«, sagte ich. »Bist du Freund oder Feind?« »Du siehst nicht aus, als wäre dies für dich noch von Belang …« Hinterher schämte ich mich wegen dieser Direktheit. Aber das leidende Wesen blieb gefaßt. »Vielleicht … Aber es geht nicht nur um mich, auch um die anderen …« »Welche anderen?« »Die sich mit mir niederlegten.« »Die … Hüter?« »Was ist ein Hüter? Nennst du uns Hohe Wesen so?« Ich riskierte es, vielleicht einen Fehler zu begehen, und fragte:
»Sagt dir der Begriff ›Agrippa‹ etwas?« »Nein. Was soll das sein?« »Das hoffte ich hier zu erfahren. Mir wurde gesagt, daß ich sie hier fände …« »Wer sagte das?« Daß auch sie durstig nach Wissen war, konnte ihr niemand ver denken. Aber ihre Fragen machten zugleich klar, wie überaus kom pliziert die Pfade waren, denen ich seit meinem Erwachen folgte. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich ihr schwerlich erklären kön nen, auf wessen Ratschlag ich hierher gefunden hatte. (Ein Monstrum aus dreierlei Mensch …) »Du hast mir immer noch nicht deinen Namen gesagt.« Sie versuchte sich vollends zu erheben und kam wankend zum Stehen. Dabei zeigte sich, daß unter ihr keine Maske begraben lag. »Ich habe ihn vergessen.« Ihre Stimme verriet, daß dies nicht die Wahrheit war – und auch, daß der Grund für die Lüge Scham war. Der Busen der vergreisten Gestalt hing faltig und schlaff herab. Auch ihn überzog eine schwach leuchtende Schicht. (Leichenlicht.) Ich gab vor, mich zum Gehen wenden zu wollen. »Halt!« rief sie mir nach. »Wohin willst du?« »Ich kam, die Agrippa zu finden. Du weißt nicht, was das ist, und verrätst mir auch nichts über dich … Warum also sollte ich bleiben?« Sie reagierte anders als erwartet. »Weil ich es dir befehle!« keuchte sie, und kurz irrlichterte ein Aus druck über ihre Züge, der die Bereitschaft entfachte, das Geschöpf, das hinter der uralten Frau hervorschimmerte, zu fürchten … Doch bevor dieses Gefühl entflammen konnte, war es auch schon
wieder erloschen. »Befehlen – du?« Ich drehte ihr den Rücken zu. »Halt!« rief sie mir nach. »Wohin willst du?« »Ich kam, die Agrippa zu finden. Du weißt nicht, was das ist, und ver rätst mir auch nichts über dich … Warum sollte ich bleiben?« Sie reagierte anders als erwartet. »Weil ich es dir befehle!« keuchte sie, und kurz irrlichterte ein Ausdruck über ihre Züge, der die Bereitschaft ent fachte, das Geschöpf, das hinter der uralten Frau hervorschimmerte, zu fürchten … »Halt!« rief sie mir nach. »Wohin willst du?« »Ich kam, die Agrippa zu finden. Du weißt nicht, was das ist und verrätst mir auch nichts über dich … Warum sollte ich bleiben?« Sie reagierte anders als erwartet. »Weil ich es dir befehle …« ETWAS STIMMTE NICHT. Ich stand draußen im Stollen und wußte nicht, wie ich dort hinge langt war. Einen Wimpernschlag zuvor hatte ich noch mit der Grei sin gestritten … Ich kehrte in die Kammer zurück. Die nackte Hüterin sah mich aus großen spröden Augen an und klagte: »Nicht einmal die Zeit gehorcht mir mehr … Wo sind die an deren? Weißt du, was aus ihnen geworden ist? Ist es ihnen auch er gangen wie mir, oder …?« Sie verstummte und sank zurück auf ihr Lager. »Töte mich!« bat sie. »Bist du nicht deshalb gekommen?« Ohne Erwiderung ließ ich sie stehen. Ich war gewillt, sie wieder aufzusuchen. Aber erst nachdem ich gefunden hatte, was ich benötig te.
»Du sagtest, du kennst den Kelch«, rief sie mir nach, als ich den ersten Schritt wieder hinaus in den Dom setzte. »Kennst du auch die … Schlange? Die Schlange ist schuld an meinem Schicksal. Ich wur de gestraft, weil ich …« Mehr verstand ich nicht. Ich war weiter bis zum nächsten versie gelten Tor gegangen. Der Scout öffnete es. In der Kammer hinter dem Stollen fand ich einen männlichen Hüter und – was mich mehr interessierte – eine intakte Maske. Ohne den Schläfer zu wecken, eignete ich mir das falsche Gesicht zu seinen Füßen an und ertappte mich dabei, daß ich damit zu der Mumiengestalt zurückkehrte. »Du weißt, was das ist?« Die Maske fühlte sich warm an. Jeden Moment wartete ich auf eine Ansprache aus ihrem zungenlosen, hohlen Mund. »Nein.« »Jedes … Hohe Wesen besitzt ein solches Ding!« »Wem hast du es gestohlen?« »Ich habe es entliehen«, widersprach ich, »um es zu befragen.« »Du hast einen der Meinen bestohlen«, bewies sie Hartnäckigkeit. »Wahrscheinlich mußtest du ihm etwas antun, um dich in den Be sitz –« Sie wurde unterbrochen. Nicht von mir – von der Maske. »Setz mich auf!« Sie meinte mich. Aber mich fror bei dem Gedanken, meinen Kör per – und sei es nur ein Teil davon – mit noch einem Monstrum zu teilen. Die hautenge Nähe des Symbionten war bereits mehr, als ich zu manchen Zeiten meinte ertragen zu können. »Warum?«
»Ich will prüfen, ob du legitimiert bist.« »Legitimiert wofür?« »Daß ich dir diene.« »Du brauchst mir nicht zu dienen. Mich interessiert nur, wo ich die Agrippa finde. Ihretwegen bin ich gekommen.« »Erst muß ich dich prüfen«, sagte die Maske stereotyp. »Du kennst die Agrippa?« »Erst muß ich …« »… mich prüfen. Ich hab’s verstanden.« Mein Blick begegnete den spröden Augen der Mumie, in denen ich nur das Scheitern des Ver suchs las, diesem morbiden Dialog zu folgen. »Wie würdest du meine Berechtigung prüfen?« fragte ich die Mas ke. »Stülpe mich über dein Gesicht!« »Und dann?« »Tu es!« Plötzlich entstand Bewegung hinter mir. Als ich mich umwandte, krächzte die immer noch namenlose Mu mie mit einer Stimme, die endlich so alt war wie der Mund, dem sie entwich: »Daß ich dich noch einmal wiedersehe …! Du …« Der Rest erstickte unter Tränen. Der Hüter, von dem ich mir die Maske geborgt hatte, mußte er wacht sein, nachdem ich ihn verlassen hatte. Steif wie ein Roboter – und ebenso zielstrebig – bewegte er sich auf mich zu. Die Greisin, die den Eindruck erweckte, als würde sie ihn kennen, beachtete er nicht. Das machte sie wütend. »Was ist mit dir …? Wie kannst du …?«
Sie tappte auf ihn zu, während ich ihm, das ›Gesicht‹ in der Hand, auszuweichen suchte. Ich beschloß, daß sie es unter sich ausmachen sollten. Ohne große Mühe gelang es mir, aus der Kammer zu entkommen und zurück in das Domgewölbe zu eilen. Und dort setzte ich die Maske auf …
* Die nun auch vergreiste Stimme der Hohen Frau versagte, und die Verzweiflung lähmte kurzzeitig jede Tatkraft. Sie sah, wie das nack te edle Wesen, dem keinerlei Alterung anzumerken war, ihr den Rücken kehrte und sich an die Fersen der Fremden heften wollte. Auch ich, dachte die Greisin, war einmal schön wie sie. Ewig jung und wunderschön. Wie lange ist das her? Warum hat die Zeit sich gegen mich verschworen? Wie lange lie gen wir schon in diesem Grab? Wie mag es draußen aussehen? Draußen … Und wonach sucht diese Fremde, deren Name mir so vertraut erscheint? »Bleib!« krächzte sie dem Hohen Mann hinterher. »Wieso mißach test du mich? Es ist wahr: Ich bin uralt und häßlich geworden, unan sehnlich, gewiß – aber ich bin immer noch ich …!« Einen Moment schien er ihre Worte tatsächlich zu überdenken. Sein hölzerner Gang geriet ins Stocken. Sie holte ihn ein und verstellte ihm den Weg. »Warum verleugnest du mich? Und was ist mit deinen Augen? Du starrst durch mich hindurch, als gäbe es mich nicht … Aber ich bin so wirklich wie du! Wo sind die anderen? WAS IST GESCHEHEN, NACHDEM WIR UNS NIEDERLEGTEN?«
Er öffnete den Mund, blieb aber stumm wie ein Fisch. Seine Atem züge füllten sich mit keinem Wort und die stumpfen Augen mit kei nem Erkennen. Nach einer Weile setzte er sich wieder in Bewegung, als gäbe es kein Hindernis. Doch die, mit der er einst die Geschicke der Welt regiert hatte, stand ihm im Weg und war nicht bereit zu weichen. Als er mit ihr zusammenprallte, bohrten sich ihre gespreizten, vom Gift des Todes ummantelten Finger in sein Fleisch. Blut floß und netzte den Boden – wie damals …
* EINE GESCHICHTE In der tizianroten Abenddämmerung der Wüste sah Uruk wie ein Wohnort seltsamer Tiere aus, die sich hier Behausungen errichtet hatten. Die Gassen und Plätze wirkten wie zufällig angelegt und waren voller verängstigter Menschen, von denen jeder anders mit seiner Furcht umging. Die Verbrechen häuften sich. Mord war an der Tagesordnung, und häufig blickten die Bewohner der Stadt zum Tempelbezirk, als erhofften sie sich von dort Hilfe gegen das Un nennbare, das seit vielen Monden in der Luft lag. Eine vergebliche Hoffnung. Gegen die Gewalt, die im Anzug war, konnten selbst Hohe Wesen wie Anum, Enlil, Harlorkis, Adad, Ea, Landru, Sin und all die ande ren nichts ausrichten. Im Blut der Kinder, das sie tranken, lag kein Trost mehr, seit ihr Seher den Untergang allen Lebens auf der Erde prophezeit und Anum dies von der Kraft in Uruks weißem Tempel
bestätigt wurde. Jenseits der Berge, bei Susa, schuftete einer der Unantastbaren mit seiner Familie, um das Menschenvolk vor der völligen Vernichtung zu bewahren. Nach den Auskünften des Sehers sollte diese Hand voll Menschen die Urzelle einer neuen Menschheit nach der erträn kenden Flut verkörpern. Und die Vorzeichen der Katastrophe, von deren Ausmaß der Großteil der Bevölkerung nichts ahnte, verdich teten sich täglich … Anum stand, unsichtbar für die Menschen der Stadt, auf einem Balkon des Tempels und spähte in die Richtung, in die Ischtar gerit ten war. Dorthin, wo eine genaue Kopie von Noes Arche entstand … Er wußte nicht warum, aber seit die schöne Ischtar fort war, dach te er ununterbrochen an sie, die ihm von den Hohen Frauen näher stand als jede andere. Das Gefühl, daß er sie mit dem Auftrag, den er ihr erteilt hatte, einem unabschätzbaren Risiko aussetzte, wurde immer stärker, bis er nach Enlil und Adad rief. Enlils zarte Gestalt täuschte über das darin schlummernde Wesen hinweg. Adad war aus anderem Holze geschnitzt: Bei ihm schien das Böse aus jeder Pore seiner Haut zu atmen. In seinen Augen tob ten ständige Unwetter, die sich mit denen messen konnten, die bald die Erde heimsuchen würden. Anum verriet nichts von seiner wahren Sorge, sondern sagte nur: »Folgt Ischtar. Helft ihr, den Bau voranzutreiben! Fordert weitere Unterstützung an, wenn es nötig ist! Die Tage sind gezählt …« Nachdem die beiden gegangen waren, zog sich Anum in den Tem pel zurück, der wie ausgestorben war, weil kaum noch jemand seine Zeit in der Eingeschlossenheit zubringen wollte, die ihnen bald auf unbestimmbare Zeit ohnehin drohen würde. Bei Anum verhielt es sich anders: Er wollte so lange wie möglich hierbleiben. Öfter als jemals zuvor suchte er die tiefste Kammer des
Tempels auf, zu der nur er Zugang hatte und wo ihn die Nähe ihrer Mutter streichelte, die keiner von ihnen je zu Gesicht bekommen hatte. Der Raum war versiegelt, obwohl die Tür hinein offen schien. Dunkelheit waberte in der Öffnung zwischen den Steinquadern. Ein Vorhang, den zu durchschreiten jeder Sterbliche mit einem schrecklichen Tod bezahlt hätte. Für Anum stellte es sich nicht anders dar, als durchstieße er eine hauchdünne schwarze Haut, die sich hinter ihm wieder schloß. In der Kammer erwartete ihn statt Finsternis strahlend helles LICHT. Die Helligkeit, deren Ursprung nicht auszumachen war, durch drang Anum und gestattete ihm Blicke auf sein eigenes, schattenhaf tes Skelett und die sich träge bewegenden Organe. Nur zwei Dinge, hier trotzten der Helligkeit. (Bis vor Stunden wa ren es noch drei gewesen. Nun aber hatte Ischtar einen der Gegen stände mitgenommen.) Anum blieb vor ihnen stehen und gab sich eine Weile nur den tröstenden Empfindungen hin, die seinen Geist umströmten. Er wußte nicht, warum er der einzige war, der hierher kommen durfte. Er wußte nicht einmal, woher er und die anderen seiner Art kamen. Manchmal schien es ihm, als wären sie immer dagewesen – aber was das anging, versagte die Erinnerung. Selbst wenn er die Augen schloß, blieb es so hell wie vorher. Er kniete nieder und versuchte, ob er den Kelch jetzt berühren konnte – bei den vorherigen Versuchen war er gescheitert, und auch als sich seine Finger diesmal darauf zubewegten, durchdrangen sie das einem Blütenkelch nachempfundene Gefäß, als handelte es sich um eine bloße Fata Morgana.
Dasselbe geschah, als Anum sich dem Ei zuwandte … Falls es ein Ei war. (Der Gedanke an ein Ding, aus dem vielleicht etwas schlüp fen konnte, beunruhigte ihn auf eine tiefgründige Weise – zumal er nicht einmal den Hauch eines Verdachts hegte, was dies sein könnte …) Es war in etwa so groß wie seine beiden Hände, wenn er sie als Halbschalen gegeneinanderpreßte. Die Oberfläche machte einen ma kellos glatten Anschein; das Material selbst, aus dem es beschaffen war, war undefinierbar. Es erinnerte mehr an Stein als an Metall, und auch der Kelch bestand daraus … Anum zog die Hände zurück. Es war sinnlos, sich zu bemühen, wenn es noch nicht an der Zeit war. Mit der Opferschlange hatte es sich ebenso verhalten. Solange es den Tempel gab, hatte sie bei diesen beiden Gegenständen gele gen, und jedesmal, wenn Anum gekommen war, hatte er den Drang verspürt, sich jedes einzelnen davon zu bemächtigen. Nach unzähligen Versuchen war es ihm bei dem Stab, den er Ischt ar anvertraut hatte, gelungen. Plötzlich hatte er ihn fühlen und auf heben können – und zugleich alles um die Bedeutung dieses Werk zeugs gewußt … Auch die Stunde der beiden anderen Dinge würde kommen. Ohne Enttäuschung, eher gestärkt vom Fluidum dieses Ortes, kehrte Anum an die Oberfläche zurück, wo die Sonne inzwischen hinter den westlichen Himmelstoren versunken war. Uruk erbebte unter Orgien der Gewalt, aber einen Grund einzuschreiten gab es nicht. So oder so würde alles zu Ende gehen …
*
Die Betriebsamkeit auf der Baustelle erinnerte an einen perfekt orga nisierten Ameisenstaat. Herbeigeschleifte Stämme wurden aus ihren Rinden geschält, zu Bohlen zerschnitten, über Feuerstellen gebogen, in Pech getaucht, getrocknet und in die Lücken des hölzernen Skeletts eingepaßt, das sich wie eine Festung in den düster gefärbten Himmel vor dem Za gros-Gebirge erhob. Auch nach dem Tod des Sehers gingen die Arbeiten voran. Das Begonnene schritt seiner Vollendung entgegen, als könnte nichts es mehr gefährden … Ischtar trieb ihren Gefangenen in den Schatten des mächtigen Schiffes, das hier – fernab jeden Meeres oder Flusses – im Staub der Wüste entstand, als hätte die fiebernde Sonne allen, die an seinem Bau mitwirkten, vor langer Zeit schon den Verstand weggebrannt. Die hellen Haare von Ischtars Gefangenem wehten im Wind. Sein Körper zeigte unübersehbare Spuren von Entbehrung; die fremdar tige, zuvor nie gesehene Kleidung war an vielen Stellen zerrissen, die sichtbare Haut aufgeschürft und von der unbarmherzigen Sonne gerötet. Er mußte Schmerzen empfinden, aber seine Augen offenbarten nur eine trostlose Leere. Über den Verbleib seines Begleiters hatte er keine Angaben machen wollen, und nun war Ischtar fest entschlos sen, Anums Befehl zu befolgen. Barmherzigkeit war ihr fremd. Das einzige, was sie hatte zögern lassen, war der Gefallen, den sie an diesem Exoten gefunden hatte. Er entsprach so gar nicht dem Männerbild dieser Zeit, und sein Gerede von der Zukunft und den Merkmalen der dort lebenden Vampire hatte ein übriges dazu beige
tragen, daß sie vorübergehend einen Narren an ihm gefressen hatte.* Vorbei … Sie zerrte an der Kette, die mit seinen Fußfesseln verbunden war, und weidete sich an den Lauten der Qual, die seiner Kehle entflo hen, ohne daß der Schmerz bis in die Leere seiner Augen drang. Als sie ihm vor Tagen ihre Gunst hatte erweisen und ihn nach al len Regeln der Kunst verführen wollen, hatte er schon ihren Zorn er regt, weil er ihren Reizen – wie noch kein Mann davor – widerstan den hatte … Sie schritten die Rampe hinauf und gelangten anschließend über mehrere abwärts führende Treppen an stumpfsinnig schuftenden, mageren Gestalten vorbei in eine bereits fertiggestellte Kammer auf der voll verschalten unteren Ebene. »Du weißt, was dich erwartet?« fragte Ischtar. »Der Tod …« »Nergal«, bestätigte Ischtar, ohne das Gefühl zu verlieren, daß ihre Worte gar nicht richtig in sein Bewußtsein drangen. »Der Herr der Unterwelt wird dich in seine Arme schließen! Vielleicht überrascht es dich, wenn ich dir sage, daß du nach meinem Willen noch hättest weiterleben dürfen. Doch Anum bestimmte anders.« »Fahr zur Hölle!« Der Mann, dem Khorsabad der Händler den Na men Dang-K’n verliehen hatte, knirschte mit den Zähnen. Es war der erste Temperamentsausbruch überhaupt, seit sie ihn draußen unter der sengenden Sonne neben den verlassenen Ketten seines Gefährten gefunden hatte. Ischtar stieß ihn zu Boden und öffnete das von Anum erhaltene mitgebrachte Kästchen. *Wer’s noch nicht gemerkt hat: Das ist Duncan Luther! Siehe VAMPIRA 40: ›Die Dunkle Arche‹
Im nächsten Moment schien die Angst vor dem, was ihm blühte, doch noch in Dang-K’ns Verstand zu sickern. Er ging in die Knie. Die Fassade seines Gleichmuts bröckelte. Ein verachtenswertes Wimmern brach über seine aufgesprungenen Lippen. Ischtar senkte den Blick. »Jetzt enttäuschst du mich wirklich …!« Sie verstummte, als sie begriff, daß nicht Angst, sondern ein un heimliches Phänomen sich seiner bemächtigt hatte: Sein kompletter Unterkörper, von der Hüfte bis zu den Zehen und einschließlich der sonderbaren Kleidung, wurden mit einem Schlag … unsichtbar! Ischtar umfaßte den Stab mit dem Schlangenkopf fester. »Was für ein Zauber ist das?« fauchte sie, während sie sich über Dang-K’n beugte. »Hör auf damit, oder …« Noch in der Ausholbewegung der Faust, die den Schlangenstab umklammert hielt, geschah das, worauf Anum sie (unzureichend, wie sich jetzt herausstellte) vorbereitet hatte: Das Werkzeug in ihrer Hand verwandelte sich. Aus dem Schaft bohrten sich Drähte in ihren Handballen und von dort aus, wie eine glühende Sonde, weiter durch Arm, Schulter und Brust … bis tief hinab in ihre Eingeweide! Erst dort kam der Vorstoß zum Stillstand. In Ischtars Augen aber zündete eine schattenhafte Explosion – und ein übermächtiges Ver langen befiel sie. Ein Verlangen nach … Herzen! »Anum trug mir auf«, keuchte Ischtar, »die Opferschlange an dir zu erproben. Ich dachte, es wäre nur ein Ding, doch nun spüre ich …« Ihre Stimme stockte, als der Schmerz einem Gefühl nie erlebter, bizarrer Lust wich. »Auf den Rücken, damit ich das herausreißen kann, was uns während der Fahrt speisen soll. Dein Herz …!« Ihr flackernder Blick suchte seine Brust, doch Dang-K’ns unerklär liche Auflösung schritt schnell voran und näherte sich bereits jenem
Bereich, auf den Ischtars ganze Begierde fixiert war … Bis sie endlich erkannte, daß er nicht einfach unsichtbar wurde, sondern tatsächlich verschwand, verlor sie wertvolle Zeit. Dann aber hieb sie die Opferschlange auf ihn hinab, um doch noch … Sie meinte die Erschütterung zu spüren, mit der sich die hohlen Metallzähne des aufgerissenen Schlangenrachens in Dang-K’ns Fleisch bohrten. Dann ging ein furchtbarerer Schlag durch ihren Körper, und sie verlor das Bewußtsein – während der Mann aus der Zukunft sich endgültig unter ihr verflüchtigte …
* Als sie wieder zu sich kam, strichen Enlil und Adad um sie herum. Ischtar hörte, wie sie sich unterhielten, war aber nicht fähig, sich ih nen bemerkbar zu machen. »… Augen offen …«, wehte es gespenstisch an ihr Gehör. Die Wirklichkeit – oder das, was sie einmal dafür gehalten hatte – schien ihr plötzlich als ein allzu leicht verletzbarer Stoff. Eine hauch dünne Trennschicht, hinter der eine Unzahl möglicher Entwicklun gen lauerte und wo Geschöpfe wie sie vielleicht gar keinen Platz hatten. Sie lag auf dem Rücken unweit der Stelle, wo Dang-K’n sich zu letzt aufgehalten hatte. Ihr Gesichtsfeld war zu eingeengt, um sicher zu sagen, ob er vollends verschwunden war. Aber die Unterhaltung, deren Zeugin sie wurde, sprach dafür. »… leere Ketten …« Ischtar fragte sich, ob das, was sie gerade zu erleben glaubte, viel leicht eine besonders perverse Abart des Todes war, den die Men
schen kannten. Sie war gelähmt, als hätte etwas ihr Rückgrat durch trennt und das Sprachzentrum ihres Gehirns ausgelöscht. Der Wunsch, das Herz ihres Gefangenen mit den Zähnen des Opferstabs zu durchbohren und auf eine nie erlebte Weise daraus zu trinken, war nicht nur erloschen – er widerte sie regelrecht an. Ihre Gedanken schweiften kurz zu Dang-K’ns abstruser Behaup tung, Hohe Wesen wie sie könnten in der Zukunft durch den Bruch ihres Rückgrats nicht nur getötet werden, sondern würden als Folge sogar zu Staub zerfallen. Es war nur eine der Wirrheiten, mit deren Schilderung er ihre Neugierde geweckt hatte. Vergeblich wartete sie darauf, daß Gefühl in ihren tauben Körper zurückkehrte. »… nach Uruk«, hörte sie Enlil sagen. »Anum wird sich ihrer an nehmen!« Sie packten Ischtar an Armen und Beinen. Ihr Kinn berührte ihr Brustbein, und sie blickte auf ihre Faust, die den Schlangenstab im mer noch umschloß. Ischtar spürte eine große Leere in sich – und etwas, das sie nicht einzuordnen vermochte. Es war früher nicht dagewesen. An den willenlosen Sklaven vorbei wurde sie zu einem bereitste henden Fuhrwerk und den weiten Weg zurück nach Uruk gebracht. In der Nacht kam sie dort an. Der Mond leuchtete am Himmel, als Enlil und Adad sie die Stufen hinauf zum Tempel trugen. Adad kam ihnen entgegen. Auch Ea und Landru. Sie alle wirkten geschockt und ratlos. Endlich hörte sie Anum, und als er sich ihr näherte, sah sie ihn auch. Seine Augen funkelten, als wäre Schamasch, die Sonne, in sie ge fahren. Oben an der Decke, zu der sie starrte, stand Ischtars Name neben seinem zu lesen.
»In diesem Zustand fandet ihr sie?« hörte sie ihn fragen. »In einer der vollendeten Schiffskammern. Arbeiter stießen auf sie und benachrichtigten uns, kurz nachdem wir eintrafen. Vor ihr am Boden lagen Ketten, die ihr persönliches Siegel trugen. Man hat be obachtet, wie Ischtar mit einem der Fremdlinge in die Arche ging – wahrscheinlich um dort das von dir befohlene Ritual vorzunehmen.« »Nur mit einem?« fragte Anum. »An der Stelle im Freien, wo sie beide zuvor untergebracht waren, lagen ebenfalls ungeöffnete leere Ketten!« »Fandet ihr Blut? Vielleicht haben sie sich die Hände abgehackt, um freizukommen.« »Nein. Aber ein Sklave will gesehen haben, wie einer von ihnen …« Adad stockte ob des Unglaublichen. »Nun, er behauptet … der Fremde habe sich aufgelöst. Wir nahmen ihn ins Verhör. Er glaubt an das, was er uns schilderte.« »Warum habt ihr es nicht selbst überprüft?« Enlil ergriff das Wort, nachdem Adad zögerte, die Schwäche ein zugestehen. »Der Versuch, in der Zeit zurückzugehen, scheiterte …« Anum ersparte ihm weitere Einzelheiten. Er wußte aus eigener Er fahrung, daß das Beschreiten des Wegs von Tag zu Tag schwieriger geworden und inzwischen fast unmöglich war. Hilf mir, dachte Ischtar, als sie glaubte, ihre Blicke würden sich be gegnen. Aber Anum zeigte keine Reaktion. »Könnte es«, fragte Landru aus dem Hintergrund, »mit dem Stab zusammenhängen?« Ja, schrie Ischtar ohne Stimme. JA! Nehmt ihn mir ab! Trennt ihn aus meinem Gedärm …! »Ich kümmere mich um sie«, sagte Anum, ohne Landrus Einwand
zu beachten. »Geht jetzt! Laßt uns allein!« Der Raum leerte sich. Es wurde still. Und plötzlich – sie wußte nicht, wie ihr geschah – wurde Ischtar von der absurden, nie zuvor erlebten Angst befallen, mit dem Ho hen Mann Anum alleingelassen zu werden. Aber verhindern konnte sie es nicht …
* »Du siehst mich an, als könntest du jedes Wort verstehen … Gib mir ein Zeichen, wenn ich recht habe!« Ischtar suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit, seiner Aufforde rung zu entsprechen. Doch ihre Pupillen blieben starr und wie ein gefroren in ihren Augenhöhlen. Die Lider widersetzten sich eben falls. Jeder Nerv und jeder Muskel schien abgetötet. Ohnmächtig und doch bei Sinnen lag sie dort, wo Adad und Enlil sie abgelegt hatten. Anum hob sie auf und trug sie, als besäße sie kein Gewicht, in sei ne Gemächer, wo seine Magie ein Lager entstehen ließ, auf das er sie bettete. Nachdem er sich auf den Rand gesetzt hatte, kümmerte er sich um den Stab in ihrer Hand. »Wenn sie tatsächlich Schuld trägt …« Mehr sagte er nicht. Seine Finger berührten den Kopf der Schlange … … und augenblicklich erlangte Ischtar ihr Körpergefühl und ihre Freiheit zurück! Die leiseste Berührung, mit der Anum den Stab anfaßte, genügte,
um den unseligen Bann, in dem sie schwebte, zu lösen! Was in ihr war, schnellte in den Stab zurück – Ischtars Finger spreizten sich, und mit einem dumpfen Geräusch prallte die Opfer schlange auf den Boden neben der Erhöhung, auf der sie lag. Ein Seufzer rann über ihre Lippen, in die das Gefühl zurückström te. Der Knoten in ihrer Zunge löste sich, und Worte, die zunächst keinen Sinn ergaben, sprudelten aus ihr hervor. Zitternd versuchte sie sich aufzurichten. Wann hatte sie je gezit tert? »Kannst du mir jetzt sagen, was geschehen ist?« fragte Anum, während er sich vorbeugte und den Stab aufhob. »Nein!« stieß sie hervor. »Nicht anfassen! Er …« Sie schilderte mühsam, was sich zugetragen hatte. Nach und nach gewann ihre Stimme an Sicherheit, und sie schloß mit den Worten: »Dang-K’n verschwand, als hätten ihn die Planken aufgesogen …« Anum schwieg lange, ehe er etwas dazu sagte. »Glaubst du immer noch, daß er aus der Zukunft kam, wie er es behauptete?« fragte er schließlich. »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Kannst du mir sagen, was dieser Stab mit mir angestellt hat?« »Es war nicht der Stab. Er würde sich nie gegen uns wenden!« Was das anging, hegte Ischtar mehr als leise Zweifel. »Was sollte es dann gewesen sein, was mich auf diese unheimliche Weise lähm te?« »Ich bin überzeugt, der Fremde trägt die Schuld daran. Sein Be gleiter, der zuerst verschwand, war weder lebendig noch tot. Und auch dieser Dang-K’n selbst war anders als die Menschen, die wir kennen. Offenbar vertrug sich dies nicht mit der Magie der Opfer schlange … Doch du bist noch einmal davongekommen, und es gibt
dringendere Angelegenheiten, als sich weiter damit zu belasten! Es kann nicht mehr lange dauern, bis sich die Schleusen des Himmels öffnen, wie der Seher es prophezeite. Dann müssen wir – ebenso wie der Unantastbare jenseits der Berge – gerüstet sein! Ruhe dich aus. Ich lasse dir die Sorte Knaben bringen, die du so liebst. Sobald du wieder bei Kräften bist, wirst du mit allen anderen, die noch hier weilen, zum Gebirge zurückkehren!« »Und du?« »Ich muß noch bleiben.« »Warum?« »Die Zeit ist noch nicht reif für mich«, wich er aus. Dann strich er beinahe zärtlich über die einem Schlangenschädel nachempfundene Spitze des Stabs. »Ich hoffe, er hat unter dem Vorfall nicht gelitten …« Ischtar schwieg – erzürnt darüber, daß ihm der Zustand dieses Dings offenbar mehr Sorgen bereitete als der ihre. »Du kannst hierbleiben oder dich in deine eigenen Räume zurück ziehen …« Anum wandte sich zum Gehen. Ischtar wollte noch etwas sagen. Doch sie preßte die Lippen zu sammen und sah ihm nach, wie er auf den Korridor hinaustrat. Ein Korridor, der von hier bis in die ferne Zukunft führt, in die Zeit nach dem Weltuntergang … erinnerte sie sich an Dang-K’ns Worte. Er hatte versucht, durch eine feste Wand im Hause Khorsabads zu entkommen, aber alle Versuche Ischtars, darin ein Tor – welcher Art auch immer – zu entdecken, waren fehlgeschlagen. Sie beschloß, nicht länger daran zu denken, sondern sich der Zu kunft zu widmen, die unentrinnbar und mit Riesenschritten auf sie zukam. Anum hatte recht, daß sie sich dafür in den Vollbesitz ihrer
Kräfte bringen mußte. Ausruhen … Aber die Ruhe, die sie suchte, fand sie nicht. Ihre Hand, die den Stab gehalten hatte, verhinderte es, weil sie immer heftiger zu schmerzen begann. Ischtar war noch wach, als draußen die Sonne in den östlichen To ren des Himmels erschien und es wieder einmal zu regnen begann. Der eine Unterschied zu all den Tagen davor war, daß die fetten Tropfen aus einem unwirklich klaren, völlig wolkenfreien Himmel herabfielen. Der zweite, daß dieser gerade begonnene Regen nicht mehr auf hörte …
* Die letzten Tage der Menschheit brachen an. Und eng verflochten damit war zwangsläufig auch das Schicksal der Hohen Wesen, die ohne das Blut der Sterblichen nicht zu existieren vermochten. Har lorkis, der Hermaphrodit, reiste als Späher nach Susa, um den Stand des dortigen Unternehmens zu ermitteln. Er kehrte mit der schlech ten Nachricht zurück, daß der Unantastbare und seine Familie be reits begonnen hatten, Tiere und Pflanzen in die vollendete Arche zu verladen! Ein untrügliches Zeichen, wie spät es auf der Weltenuhr inzwi schen war … Anum blieb allein in Uruks weißem Tempel zurück und sah sich fortan veranlaßt, öfter denn je zuvor in die tiefsten Bereiche hinab zusteigen, um im LICHT, das ihn durchdrang, die Hände nach Kelch und Ei auszustrecken.
Jedesmal vergebens. Weder das eine noch das andere war zu greifen, und doch wußte er mit jeder Faser seines Seins, daß beides gebraucht wurde, um dem Untergang zu trotzen. In der sechsten Nacht, die er allein in den Mauern über dem Ost teil der Stadt zubrachte und dem Fall des Regens lauschte, der von Stunde zu Stunde heftiger zu werden schien, bot sich ihm von den Zinnen des Tempels ein bemerkenswertes Schauspiel von anrühren dem Grauen. An mehreren Stellen Uruks war Feuer ausgebrochen, und trotz des wolkenbruchartigen Regens fanden die Flammen immer neue Nahrung. Selbst an durchnäßtem Stein und panisch durcheinander hastenden Menschen schienen sie Gefallen zu finden. Lebendige Fackeln wälzten sich auf überschwemmten Straßen, aber niemandem, der einmal Feuer gefangen hatte, gelang es, diesen Brand wieder zu löschen. Anum konnte sich der düsteren Faszination dieser Bilder nicht entziehen. Er war so davon angetan, daß er den spontanen Ent schluß faßte, sich dies aus nächster Nähe anzusehen. Furcht um das eigene Leben hegte er nicht. Also verzichtete er auf Tiara und sonsti ge Statussymbole und mischte sich unerkannt unter die Gemeinsten der Gemeinen. Die ganze Nacht hindurch wandelte er zwischen Bränden, für die es keine Erklärung gab außer der einen, daß auch hier der Wille des sen wütete, der all dies dereinst erschaffen hatte. Nur wer es entworfen hatte, konnte es auch wieder verwerfen. Die gleiche zwingende Logik garantierte Anum seine Unverletz lichkeit. Denn er und die anderen Hohen Wesen entsprangen ande rem Willen, anderem Geschick … Wo immer er Menschen begegnete, die noch nicht Opfer der Flam
men geworden waren, unterwarf er sie sich und erteilte ihnen Befeh le, worauf sie Hals über Kopf die Stadt verließen. Ob überhaupt noch Bedarf an ihnen bestand, wußte er nicht. Es würde sich zeigen, und schließlich war es gleichgültig, ob sie hier oder viele Stunden entfernt krepierten … Ohne es bewußt darauf angelegt zu haben, stand Anum plötzlich vor der Tür des Händlers, aus dessen Besitz Ischtar die beiden Son derlinge erworben hatte, die sich schließlich auf rätselhafte Weise wieder davonstehlen konnten. Khorsabads Haus war unversehrt. Anum klopfte gegen das von innen verriegelte Tor, wartete aber nicht ab, ob ihm geöffnet würde, sondern setzte sein Feuer in das triefende Holz, das sich augenblicklich in Asche auflöste. Dahinter starrte er in die angstgeweiteten Augen eines Riesen, den er dank Ischtars Bericht sofort einzuschätzen wußte: Es war der stumme, loyale Diener des Händlers. Beide hatten Ischtars Zorn überlebt – aber nun würde sie bald ein anderer Zorn fressen, so daß auch Anum keine Veranlassung sah, dies vorwegzunehmen. Er zwang den Stummen lediglich, ihn dorthin zu führen, wo schon Ischtar erfolglos nach einem Zugang in einen Stollen gesucht hatte, der vom Jetzt ins Künftige – und wieder zurück – führen sollte. Anum versprach sich nicht viel davon, und doch tastete auch er jede Handbreit der stabilen Ziegelmauer ab, aus der jener Dang-K’n und sein Begleiter herausgetreten sein sollten. Einmal meinte Anum kurz etwas fühlen zu können, was seiner ei genen, geschwächten Fähigkeit, den Stundenlauf zu beeinflussen, ähnlich schien – aber als er dem nachgehen wollte, verlor sich das ohnehin ziemlich vage Gefühl … Weder enttäuscht noch zufrieden verließ er das Gebäude. Bevor er
ging, konnte er sich nicht verkneifen, noch einen kleinen, sich schnell ausweitenden Brand zu setzen, der Khorsabad hinaus in die Arme der gewaltbereiten Menge treiben würde. Auch Anum wurde dorthin getrieben. Er wütete unter einer Grup pe bewaffneter Männer, die nicht wußten, wie ihnen geschah, als er im Handumdrehen einen nach dem anderen aussaugte, bis sie tot niederfielen. Bäche von Regenwasser umspülten ihre auskühlenden Leiber, die dalagen wie öde Inseln in einem stetig anschwellenden Strom. Gesättigt, aber immer noch unzufrieden drang der Hohe Mann in ein anderes Haus ein und nahm sich eine Sterbliche, auf die er schon lange ein Auge geworfen hatte. Sie kauerte, schlotternd vor Angst, in der dunkelsten Ecke des hin tersten Raumes. Ein Mann war bei ihr und umarmte sie. Als Anum eintrat, sprang er auf und zog ein Schwert hinter seinem Rücken hervor. »Verschwinde!« Das schöne Eheweib schrie auf, als Anum ihren Beschützer zwang, die Klinge in den eigenen Hals zu stoßen. Der Hohe Mann sprang vor, zerrte sie vom Boden hoch und nahm sie noch im Stehen von hinten. Sie schrie wie von Sinnen, bis er ihr – gnädig gestimmt – Lust sug gerierte. Danach veränderte sich ihre Stimme, und auch sie selbst wurde brünstig, als wäre sie nicht vom Sterben und Niedergang ei ner ganzen Welt umgeben. Anum erwürgte sie auf seinem Höhepunkt, und nachdem auch dieses Begehren gestillt war, suchte er den Palast des Stadtkönigs auf. Er brauchte sich nicht mehr um Enmergu zu kümmern. Die ›Marionette der Götter‹ war bereits vom Mob gelyncht worden. Auch der Palast brannte.
Im Morgengrauen kehrte Anum in den Tempel zurück. Die Stufen, von denen der Regen wie von einem System künstlicher Wasserfälle herabsprang, waren übersät mit den Leichen von Menschen, die ver sucht hatten, in den gesicherten Bezirk vorzudringen. Anum beachtete sie kaum. In den zurückliegenden Stunden hatte er ein Ventil für den inne ren Druck gefunden, der sich über lange Zeit in ihm hatte anstauen können. Er gedachte der anderen Hohen Wesen, die sicher voller Ungeduld auf ihn warteten, aber er selbst war mit einemmal die Ruhe selbst, und in dieser Verfassung eilte er hinab in die Tiefen des Tempels, durch den Vorhang aus Schwärze – hinein ins LICHT. Noch bevor er den Arm ausstreckte, wußte er, daß es heute gelin gen würde: An diesem rauchgeschwärzten Morgen blieb der Kelch nicht länger Spuk, nicht länger narrendes Trugbild, sondern er ließ sich – wie selbstverständlich – mit den Fingern umschließen! Anum hob ihn auf und wußte um seine Bedeutung. Ein Schauder durchströmte ihn, als er Kenntnis von der Vorse hung erhielt, die in diesem Kleinod schlummerte. Ohne den Kelch loszulassen, griff er mit der freien Hand nach dem eiförmigen Gebilde und hob auch dieses auf. Irritiert stellte er je doch fest, daß ihm dessen Sinn und Zweck auch jetzt verborgen blieb. Er kam nicht dazu, diesem Umstand näher auf den Grund zu ge hen. Das LICHT, das die Kammer seit einer Ewigkeit erhellt hatte, er losch. Es stürzte in sich zusammen, und der Punkt, in dem es ver schwand, lag genau im Zentrum des Gefäßes, das Anum in seiner Rechten hielt. Finsternis senkte sich wie ein Vorbote der Flut über ihn, bis ein neuer, anderer Funke den Ort erhellte.
Strahlender Purpur leuchtete Anums Umgebung aus und strei chelte seinen straffen Körper, dessen Haut ihn einzuatmen schien. Noch in derselben Stunde verließ Anum Tempel und Stadt. Er trotzte den Stürmen, die ihn daran zu hindern versuchten, das Za gros-Gebirge zu erreichen. Die einzigen Gegenstände, die er bei sich trug, waren der Kelch und jenes Ding, das sein Geheimnis immer noch wahrte und von dem er nur wußte, daß er es um jeden Preis mit an Bord der Arche nehmen mußte. Die Baustelle wirkte verlassen, als er eintraf. Unterwegs hatte er den Zug der Menschen überholt, die Uruk, seinem Befehl gehor chend, verlassen hatten. Als er nun die Rampe zur verschlossenen Arche hinaufstieg, be merkte er das Fehlen des letzten schützenden Anstrichs, der nötig war, um zu verhindern, daß sich das Holz mit Wasser vollsog. Wie der unförmige Kasten jetzt dastand, würde er nie auf dem Wellenkamm der Flut schwimmen, sondern wie ein Stein am Grund des entstehenden Meeres kleben. Ein nasses, elendes Grab für alles, was sich darin verkrochen hatte … Es war Enlil, der ihm auf sein Klopfen hin öffnete, und seine Mie ne verriet, daß er genau um die fatalen Versäumnisse wußte. Aber die ersten Worte, mit denen er Anum empfing, hatten damit nichts zu tun. »Gut, daß du kommst …! Ischtar … Wir fürchten, sie hat den Ver stand verloren …«
*
»Mach auf! Mach sofort auf …!« Ischtar kroch tiefer unter den Lumpenberg. Sie erkannte Anums Stimme sofort, aber sie war nicht gewillt, ihn einzulassen. Aasge ruch lag über dem Raum. »Geh!« rief sie. »Laß mich allein! Laßt mich alle allein …!« »Enlil sagte schon, daß es dir nicht gut geht. Was ist passiert?« Ja, dachte Ischtar, was …? »Wo warst du so lange? Warum bist du nicht früher gekommen?« Sie räusperte sich. »Die Arbeiten mußten eingestellt werden. Die Stürme wurden zu übermächtig. Es geht zu Ende. Unser Plan ist ge scheitert. Die einzige Möglichkeit, die vielleicht noch bliebe, wäre, zur anderen Gebirgsseite zu gelangen und uns bei Noe einzunisten. Sein Werk ist vollendet. Er hatte höheren Beistand, der uns versagt wurde. Wir sind der Schmutz, der Abschaum der Schöpfung. Die Wasser werden uns hinwegspülen …« »Sei still! Enlil hatte recht …« Ischtar tauchte mit ihrem Gesicht aus den Lumpen. »Womit?« Sie erhielt keine Antwort. Statt dessen änderte sich alles. Durch die Ritzen der Tür sickerte purpurner Schein in Ischtars Versteck. Der seltsame Schimmer kroch bis unter die Lumpen. Als er ihre Haut berührte, stand Ischtar auf und schob die Riegel zurück. Der Purpur erlosch. Anum trat ein. In der Hand hielt er ein Trinkgefäß, und hinter ihm stand Enlil, ein straußeneigroßes Gebilde in der Hand, in dem sich die an Bord herr schende Düsternis brach. Als Ischtar nackt vor ihm stand, weiteten sich seine Augen, was sie früher als Kompliment aufgefaßt hätte. In dieser Situation jedoch
wußte sie, daß der Preis dafür zu hoch war. Der Preis, den sie zu zahlen hatte … »Davon«, richtete Anum die Stimme an Enlil, »hast du mir nichts erzählt!« Er wandte den Kopf nur halb, als könnte sein Blick nicht völlig von Ischtar loslassen. Von der Häßlichkeit, die wie ein Egel an der ganzen Länge ihres Armes klebte. »Weil ich es nicht wußte …« Enlil wirkte ebenso schockiert wie der Hohe Mann Anum. »Sie hauste seit drei Tagen in dieser Kammer und ließ niemanden zu sich. Nun sehe auch ich, warum …« Seine Geste umfaßte nicht nur ihren wie mit leuchtendem Schimmel über zogenen Arm, sondern schloß auch die verwesenden Leichen derer mit ein, die gewiß nicht freiwillig mit in Ischtars Exil gegangen wa ren. Aus den Kleidern ihrer Opfer hatte sie ein ›Nest‹ gebaut … »Närrin!« zürnte Anum. »Warum hast du es verheimlicht? Warum läßt du dir nicht helfen?« Ischtar schlug die Augen nieder. »Mir ist nicht zu helfen. Außer dem …« Anum blickte fragend. »Es tut nicht einmal mehr weh«, sagte sie, weiterhin den Blick mei dend, von dem sie fürchtete, durchschaut zu werden. »Du lügst!« »Nein – aber selbst wenn … Es spielt keine Rolle! Laßt mich! Laßt mich in Frieden darauf warten, wie es weitergeht … Ich möchte er fahren, wie es ist, wenn es mich vollständig bedeckt … Falls mir noch soviel Zeit bleibt.« »Ist das die Hand, die den Stab hielt?« fragte Anum fast im Flüs terton, als wollte er Enlil weiteren Schrecken ersparen. »Ja.« Ischtar gab sich keine Mühe, ihre Stimme zu senken. »Kannst du es ungeschehen machen?«
Anum schüttelte schweigend den Kopf. Als er sich brüsk abwand te, fragte Enlil: »Und weiter? Wie sollen wir damit umgehen?« »Wir akzeptieren ihren Willen: Sie bleibt unter Verschluß. Nur mit einem Unterschied …« »Welchem?« »Ich schließe ab, und nur ich werde den Schlüssel zu ihr verwalten …!«
* Nachdem er Ischtar verlassen hatte, tat Anum, was der Kelch in sei ner Hand ihn hieß: Er stieg in den Bauch der Arche hinab, welche in fünf Stockwerke unterteilt war, vorbei an eingepferchten, zum Schweigen gebrachten Menschen, die zuvor am Bau des Schiffes mitgewirkt hatten. Daneben stapelten sich ihre Essensvorräte, in der Hauptsache Getreide, denn Korn war nahrhaft und beanspruchte dennoch nur geringen Platz. Futter für das Futter, dachte Anum ohne Sarkasmus, denn die Men schen waren wichtig. Ohne sie würde es auch für die Hohen Wesen keine Zukunft geben. Die Natur – oder wer auch immer – hatte es eingerichtet, daß die Menschen ohne ihre ›Götter‹ ausgekommen wären – umgekehrt aber nicht. Wir brauchen euch, dachte Anum, während seine Blicke über die trächtigen Frauen streiften, die schweigend zwischen Männern und Halbwüchsigen saßen und von denen so manche schon jetzt erkenn bar die Frucht in sich trug, die die Versorgung der Hohen Wesen auch in Zukunft sichern würde. Es wäre ein fataler Fehler gewesen, sich nur auf Noes Gelingen zu verlassen … Die schwangeren Frauen nahmen eine Sonderstellung ein. Sie
wurden gut behandelt und waren schon während des Archenbaus geschont worden. Ihr Überleben zu sichern – und damit das ihrer Herren – war Anums vorrangiges Bestreben, weshalb Ischtars per sönliches Schicksal auch schnell in den Hintergrund rückte. Überall hing Dunst. Die Luft an Bord war stickig, was nicht nur an den Ausdünstungen und Fäkalien lag, sondern auch an der Nässe, die sich überall durch die Spalten und Risse der Außenwand drück te, weil die Stürme die Gerüste weggerissen hatten. Auf der dritten Ebene fand Anum den Platz, den er suchte. Hier, etwa im Zentrum der Arche, lag ein größerer Raum, der zum Auf enthalt und für Versammlungen der Hohen Wesen vorgesehen war. Als Anum ihn betrat, erwarteten ihn die anderen bereits wie Zerr bilder dessen, was sie stets ausgezeichnet hatte. In ihren Zügen las er die nackte Sorge ums Überleben. »Wie wird es weitergehen?« Diese Frage bildete das zentrale Thema ihrer Zusammenkunft, und letztlich war es unerheblich, daß Harlorkis sie formulierte – je des andere der Hohen Wesen hätte sie mit gleichem Wortlaut vor tragen können, denn sie alle fühlten sich jetzt schon wie zu Lebzei ten begraben … Anum sah den Zeitpunkt gekommen, sie in das einzuweihen, was er bei seinem letzten Gang ins LICHT erfahren hatte. »Wir werden diese schlimme Zeit der Prüfung überstehen«, sagte er. »Wir sind dazu bestimmt, ähnlich wie der Unantastbare mit sei ner Familie jenseits der Berge, die Urzelle eines neuen Geschlechts zu bilden – so wurde es mir versprochen!« Er hielt inne. Sein schweifender Blick zählte achtzehn Augenpaare, die an seinen Lippen hingen und jedes seiner Worte begierig in sich aufsogen. Er verkörperte ihre Hoffnung. Nur Ischtar fehlte. »Wie sollen wir die Flut, die alle Länder ertränken wird, überste
hen?« ereiferte sich Landru. »Du siehst selbst, wie es um diesen Bau bestellt ist. Überall sickert das Wasser durch. In der untersten Ebene kann man bis zu den Knien darin waten. Ein paar der Menschen dort sind bereits an Krankheit gestorben. Das Fieber wird nach und nach alle hinwegraffen, aber so lange wird es nicht dauern, bis Sturm und Wasser uns alle verschlingen. Dieses Schiff wird nie auf den tobenden Wellen schwimmen, die der Seher weissagte …!« Anum wartete, bis Landrus Worte verklungen waren. Dann gab er Enlil ein Zeichen, und dieser trat zu ihm. In der einen Hand hielt er die Opferschlange, in der anderen das straußeneigroße Gebilde, das Anum mit dem Kelch zusammen nach hier gerettet hatte. Um diese drei Dinge, die auf dem Boden abgelegt wurden, schar ten sich nun die Hohen Männer und Frauen. Es gab niemanden, der sich ihrer Faszination zu entziehen vermochte. »Was Ischtar widerfuhr«, ergriff Anum neuerlich das Wort, »war nicht die Schuld der Schlange. Der Stab ist ein Geschenk – eines von dreien, die in meine Obhut übergeben wurden, um den Neuanfang nach dem bevorstehenden Ende zu ermöglichen! Wir müssen be stimmte Rituale einhalten, damit die Mächte, denen wir entstam men, uns während der dunklen Tage gewogen bleiben. Während dieser Zeit wird das Blut nicht mehr direkt durch unsere Kehlen rin nen. Wen es dürstet, der muß die Schlange nehmen. Sie wird ihn speisen, wenn er sie in das Herz eines Menschen schlägt – sie wird sich nehmen, was ihr gehört, und geben, was uns gebührt …« Er begegnete nur betretenen Blicken, die er jedoch nicht beachtete. »Was ist mit – Ischtar?« fragte Sin. Seine Stimme klang belegt. »Was uns verboten ist, kannst du ihr nicht gestatten. Wird auch sie die Schlange respektieren?« »Sie muß – oder sie wird jämmerlich zugrunde gehen«, sagte Anum mit fester Stimme – und fuhr fort, ohne Sin die Gelegenheit
zu einem weiteren Einwand zu geben. »Nach der Katastrophe wird die Welt anders beschaffen sein als davor«, gab er die eigene Er kenntnis an sie weiter. »Wir werden uns dem Wandel fügen müssen – nicht nur der Veränderung dort draußen, sondern auch unserer ei genen. So wie wir jetzt sind, würden wir keine Überlebensnische im neuen Plan der Schöpfung finden!« »Was heißt das?« fragte Schamasch nervös. »Wer sollte uns an der erneuten Herrschaft hindern? Du glaubst doch nicht …« »Ich glaube nicht«, unterbrach ihn Anum, »ich weiß! Ich sagte auch nicht, daß wir nicht mehr herrschen werden … Es geschieht nur in anderer Weise als bisher!« »Wie?« Anum zögerte. Dann sagte er: »Indem wir uns Helfer erschaffen – und Nachkom men.« Eine der Hohen Frauen schrie auf und preßte die Hände bestürzt gegen das Bauchfell. Ihr Gesicht verzerrte sich, und sie rief: »Du meinst – wir müßten dann tun, was diese … Tiere tun? Gebären …?« Andere aufgebrachte Stimmen fielen ein, und Anum mußte war ten, bis sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten. Holz knarrte in den Verstrebungen, und der Atem Hunderter Menschen, denen stillschweigende Duldsamkeit befohlen war, wurde vom Brausen des Sturms draußen übertönt. »Nein«, antwortete Anum. »Des Menschen Fruchtbarkeit ist uns auch in Zukunft nicht gegeben. Ein anderes Mittel der Vermehrung wurde uns geschenkt. Nie wird es soweit kommen, daß eine Hohe Frau unter Schmerzen gebiert – und falls dieser Frevel doch einmal geschähe, würde die Strafe unvorstellbar sein! Nein …« Er zeigte auf den Kelch, der auf einer der Planken stand. »Dieses Gefäß ist der Schlüssel. Wir werden damit die wiedergeborene Welt bereisen und
uns Menschenkinder aussuchen, die wir für geeignet halten, vom wahren, dunklen Blut durchströmt zu werden. Ein jeder von uns wird diese Aufgabe für eine bestimmte Zahl von Jahren erfüllen – und sein Amt dann an den nächsten weitergeben. Aber stets müssen wir abwägen zwischen Notwendigkeit und Überfluß! Nie darf die Zahl unserer Nachkommen so hoch werden, daß die Grundlage un seres Lebens in Gefahr gerät – und nie so gering, daß es Menschen gelänge, Kontrolle über uns auszuüben, uns zu verfolgen und zu vernichten!« Anum mußte noch viele Fragen über sich ergehen lassen. Er beant wortete sie, so gut es ihm möglich war. Nur als jemand wissen wollte, welche Bedeutung dem dritten Ge schenk der Mächte zukam, mußte er seinen Mangel an Kenntnis ein gestehen. Er wußte nur, daß das Ei zu hüten war wie ihre Augäpfel – oder wie Schlange und Kelch. Enlil schließlich war es, der Anums Visionen insgesamt wieder in Frage stellte, indem er an den desolaten Zustand der Arche erinner te. »Mit diesem Gefährt wird uns keine Zukunft offenstehen – egal wie sie aussehen mag!« Noch bevor Anum widersprechen konnte, erfolgte die erste gewal tige Eruption des Kelchs. Eine nachtschwarze, amorphe Masse quoll daraus hervor, wälzte sich wie ein lebendes Wesen über die Planken und versickerte in den hauchfeinen Ritzen der Bootswand, um sich von außen über den Rumpf der Arche zu legen. Dies war die Geburt des Symbionten.
*
IM DUNKLEN DOM Gegenwart Ich wankte unter der visuellen Kraft, die mir nach Aufsetzen der Hütermaske zuteil wurde. Durch ihre eigentlich leeren Augenhöh len betrachtet, bot sich das Innere des Gewölbes plötzlich verändert dar! Die Finsternis, die mir schon zuvor wenig Mühe bereitet hatte, wich nun vollständig. Alles schien in blendend helles Licht getaucht, das sogar in die umgebenden Wände eindrang und dort eine ›Mase rung‹ enthüllte, die an fein verästelte Arterien eines uralten, verstei nerten Organismus erinnerte … Alles war in unwirkliche Helligkeit gebadet – vor der ich jedoch nicht die Augen zu schließen vermochte. Angestrengt starrte ich durch die beiden Löcher und hielt die Maske fest gegen meine Wan gen gepreßt. Hätte ich das Gefühl gehabt, daß sie versuchte, sich meiner zu be mächtigen, hätte ich sie sofort weggezogen. Aber ihr Einfluß be schränkte sich – zumindest noch – auf die Betrachtung meiner Um gebung. Der Dom war nicht länger dunkel – aber immer noch so leer wie zuvor. Außer dem kubischen Altarstein erhob sich nichts aus der spiegelglatten Bodenfläche. Aber dieser Altar war unter dem kalten Licht durchscheinend geworden. Und die Transparenz verriet, daß etwas in ihm eingeschlossen war wie in einem Bernsteinblock! Ich ging darauf zu, um nähere Details zu erkunden. Aber alles, was ich sah, war ein eiförmiges Ding, groß wie zwei
Männerfäuste, das nicht von der Transparenz erfaßt wurde und da durch wie ein kohleschwarzer Schatten erkennbar wurde. Von der ersten Sekunde an hielt ich es für möglich – nein, wahr scheinlich –, daß dieses Ei das war, wonach ich suchte. Ich löste die Hände von der Maske, die weiter an meinem Gesicht haftete, als hätte sie begonnen, damit zu verwachsen (ich wehrte mich nicht da gegen, obwohl die maskulinen Züge mich noch mehr zum Zwitter machten als zuvor). Als ich den Quader prüfte, in den das ›Ei‹ einge lassen war, schwand meine Hoffnung, ihm ohne Werkzeug beikom men zu können. Er war massiv und tonnenschwer, so daß er sich nicht einmal unter äußerster Anstrengung auch nur millimeterweit verschieben oder anheben ließ! Bei den Versuchen, die ich dennoch unternahm, vergaß ich alles andere um mich herum. Ob ich wollte oder nicht: Wieder einmal wurde mir klar, daß ich mehr fremd- als selbstbestimmt war. Auch wenn ich mich sträubte, der Vollstrecker einer Macht zu sein, die mich über ihre wahren Zie le im Ungewissen ließ, konnte ich auch hier nicht anders, als mit ganzem Verstand nach einer Lösung zu suchen, wie dem Objekt im Stein doch beizukommen wäre … Aber je angestrengter ich darüber grübelte, desto weniger fiel mir ein. Und plötzlich fühlte ich mich von hinten gepackt und herumgeris sen. Ich war zu überrascht, um mich sofort zu wehren. Und dieser Mo ment genügte der abscheulich anzusehenden Gestalt, ihre Klaue in die Maske vor meinem Gesicht zu bohren und sie mir herunterzu reißen. Bestürzter als über diesen Akt als solchen war ich über die Konse quenz, die ich fürchtete.
Denn als die Maske mir zu Füßen geschleudert wurde, besudelte ihr Blut den Boden, und dieser Boden … … veränderte sich, wie schon einmal geschehen. Nur daß ich diesmal nicht mehr zurückweichen konnte.
* Ischtars Verstand trübte sich zusehends. Wie ein Tümpel, der mit ei nem Stock aufgerührt wurde – oder als griffe das Gift, das ihre Kör perhülle von außen fraß, nun auch auf ihren Geist über … Sie verstand nicht, warum Enlil sie nicht erkannt hatte. Ihre Erinnerung an alles, was dazu geführt hatte, daß sie sich hier zur Ruhe betteten, war zurückgekehrt. Der Hohe Mann Enlil – An ums Günstling – hatte jedoch keinerlei Zeichen des Wiedererken nens offenbart, und ihre Wut darüber hatte sie zu einer Tat hingeris sen, die ihr auch jetzt noch in den Knochen steckte: Sie hatte ihn … getötet? In ihrer verrückten Rage hatte sie ihn am Kopf gepackt, daran ge zerrt – und plötzlich war er in sich zusammengesunken und … zer fallen … Beinahe noch nachhaltiger als diese Tat an sich schockierte Ischtar der Umstand, daß Enlil damit exakt so gestorben war, wie der selt same Fremdling Dang-K’n es beschrieben hatte: Hohe Wesen, die der Bruch ihres Genicks zu Staub vergehen läßt … WAS, UM ALLES IN DER WELT, WAR GESCHEHEN? Warum erfüllte sich nicht, was Anum ihnen versprochen hatte? ›Wir werden wieder herrschen – nur anders als zuvor …‹ Hatte er sie bewußt getäuscht? Oder waren Dinge geschehen, von
denen auch er nichts ahnen konnte – weil er selbst betrogen worden war? Ischtar schluchzte qualvoll und verstümmelte die Maske, die sie vom Gesicht der schwarzhaarigen Fremden namens Lilith gerissen hatte, noch ärger. »Wer bist du?« schrie sie der Unbekannten ins Gesicht. »Was hast du hier verloren? Ich kenne dich nicht! Du bist keine von uns. Du …« Sie verstummte, als in den grünen Augen ihres Gegenüber Entset zen aufloderte – nicht direkt wegen ihrer Tat, sondern weil das Blut, das aus der Maske tropfte, den Boden aufzuweichen begann und in einen saugenden Schlund verwandelte. Einen Schlund, der Ischtar verschmähte, nicht aber Lilith, die so jung und schön war, wie Ischtar es nie mehr sein würde … »Da hast du deine Strafe!« keuchte sie – und schleppte sich ein Stück weit fort, ohne eine Erklärung zu finden, warum dieses Blut den Boden aufweichte, während Enlils es nicht getan hatte. Lag es daran, daß das Blut der Maske rot war …? Die Fremde versuchte noch, nach ihr zu greifen. Aber zu spät. Ischtar taumelte von ihr fort, und der Boden umschlang bereits Li liths Beine bis zu den Knien. Lautlos sank sie tiefer. Unaufhaltsam. »Deine Strafe …«, brabbelte Ischtar, deren Verstand wieder zu zer splittern drohte, wie damals, unmittelbar nach dem Schließen der Arche. Als die amorphe Masse aus dem Kelch des Rumpf des Schif fes umschmiegte und in Schutz nahm gegen die Wasser des Unter gangs …
* EINE GESCHICHTE Das Schiff aus Stein Die stete Geräuschkulisse, die vom Atem so vieler eingepferchter Menschen erzeugt wurde, setzte von einem Moment zum anderen aus – ebenso das Sturmgeheul und das Rauschen der Wasser, die aus Himmel und Boden brachen. Augenblicke davor hatte es noch geschienen, als müßte die Arche unter dem Druck, der von draußen auf sie wirkte, wie ein Karten haus zusammenbrechen. Nun hatte die Stille in ihrer Absolutheit eine Farbe: Purpur kam erneut durch die Ritzen von Ischtars Kammertür ge krochen und erreichte sie unter ihrem Berg aus Lumpen. Und wieder war es, als verschmähte er sie nach kurzer Prüfung … Ischtars unerklärliches Gefühl des Ausgeschlossenseins steigerte sich zur Unerträglichkeit, so daß sie schließlich ihr ›Nest‹ verließ und – den Blick auf die Veränderungen ihres Körpers meidend – zur Tür ging, die Anum bei seinem Abschied eigenhändig verschlossen hatte. Nun aber genügte der geringste Druck ihrer schwärenden Hand, um sie zu öffnen! Indes breitete sich der Entzündungsherd auf immer weitere Berei che ihres Körpers aus. Ihre Selbstheilungskräfte und die Magie, die sie einmal traumhaft leicht beherrscht hatte, versagten, und daß nicht einmal Anum ihr zu helfen wußte, sagte genug …
Ischtar trat hinaus auf den Korridor. Die Luft war von einer kristallenen, mit der Stille harmonierenden Klarheit. Obwohl es ihr körperlich elend ging, waren Ischtars Sinne geschärft wie selten zuvor. Sie hätte das geringste Geräusch – und wäre es aus dem fernsten Winkel des Schiffes gedrungen – wahrge nommen. Aber es gab kein Geräusch. Nicht einmal sie selbst schien Töne zu verursachen. Sie bewegte sich durch die Stille eines gigantischen Grabes … Nein! dachte sie. Der Tod hatte damit nichts zu tun. Die fragile Stille erinnerte mehr an die Ruhe zwischen zwei Atemzügen – jener flüchtige Moment, da alles im Einklang zueinander zu stehen schi en. Nur ich nicht …, dachte Ischtar. Als sie den ersten Menschenpferch erreichte, wurde die Situation noch unwirklicher: Männer, Frauen und Kinder kauerten wie Figu ren aus purpurgefärbtem Lehm am Boden. Jede Gestik, jede Mimik war in der Bewegung erstarrt. Ischtar untersuchte sie nicht näher. Schneller eilte sie dem Ort ent gegen, wo die Hohen Wesen ihre Zusammenkünfte hatten abhalten wollen. Und als sie dort ankam, fand sie die Ihren in ebensolcher Er starrung wie die Menschen an Bord, so daß sie nun sicher wußte, al lein davon ausgenommen zu sein. Für jeden sonst war der Fluß der Zeit ins Stocken geraten! Ischtar trat in den Kreis der Hohen Männer und Frauen, die drei Gegenstände umstanden: Die Opferschlange, die Ischtar mit Krank heit geschlagen hatte, der Kelch, den Anum bei seinem letzten Be such in der Hand gehalten hatte – und ein eiförmiges Gebilde, mit dem Ischtar nichts weiter anzufangen wußte. Anum stand da, als hätte er gerade zu bedeutungsvollen Worten
angehoben. Seine Lippen waren geöffnet und entblößten die schrecklichen Zähne, die einen berückenden Kontrast zur Aristokra tie seiner Züge bildeten. Er wirkte selbst in der Erstarrung erhaben. Ischtar wollte sich ihm nähern, doch in diesem Moment fiel der Bann. Der Purpur erlosch nicht einfach, er schien in den am Boden ste henden Kelch zurückzukriechen. Und dann starrten alle Augen auf Ischtar, die sich wieder ihres Makels bewußt wurde …
* »… egal wie sie aussehen mag«, sagte Enlil. Sein Blick flackerte kurz, dann rief er, wie von einem unsichtbaren Pfeil getroffen: »Wie kommt sie hierher?« Alle Augen richteten sich auf Ischtar. Aber dann sagte Ea: »Es ist so … still geworden!« Tatsächlich erreichten die von draußen dringenden Sturmge räusche ihre Ohren nur noch stark gedämpft. Auch das Ächzen der Holzkonstruktion, das Aneinanderreihen der Bretter und Balken hatte aufgehört, und der Atem der Menschenfracht war deutlicher zu vernehmen als je zuvor … »Die Feuchtigkeit …« Adad blickte sich um und hielt die Nase wie witternd in die Luft. »Die Nässe … Sie ist verschwunden! Alles ist trocken! Ich verstehe nicht …« Ischtar sagte: »Hört auf, mich so anzustarren! Ich habe erlebt, was geschah, während ihr nur …« Sie preßte die Lippen zusammen. Aber Anums Blick forderte sie auf, weiterzusprechen. »Was willst du gesehen haben? Und wie
konntest du mein Türsiegel brechen?« Ischtar berichtete, was sie beobachtet hatte. Es war schwer in Wor te zu fassen – und noch spürbar schwerer fiel es den anderen, ihr Glauben zu schenken. »Sie lügt!« »Warum sollte sie?« Anum wiegte zweifelnd den Kopf, ohne daß er tatsächlich gewillt schien, Partei für sie zu ergreifen. Plötzlich beugte er sich vor und hob den Kelch, als könnte dieser ihm Rede und Antwort stehen. Aber offenbar war dies nicht der Fall. »Geht!« wandte er sich an die anderen. »Untersucht das Schiff und stellt fest, ob der Kelch es tatsächlich gegen die Fluten gewappnet hat!« »Und sie?« warf Landru ein. Er zeigte auf Ischtar. »Ich – traue ihr nicht mehr …« Die Blicke der meisten anderen verrieten, daß es ihnen ähnlich er ging. Aber Anum wollte nichts davon wissen. »Sie ist eine von uns!« »Laß nur«, mischte sich Ischtar ein. »Siehst du nicht, daß sie mich fürchten? Daß sie Angst vor dem Unbekannten haben, das in mir steckt?« Die sie umgebenden Hohen Wesen senkten den Blick. Niemand erwiderte etwas. Bis Anum schließlich sagte: »Geht jetzt! Ich spreche mit ihr. Danach werde ich entscheiden!« Und als er allein mit Ischtar war, sagte er: »Du hattest recht!« »Womit?« fragte sie bitter. »Daß sie mich fürchten?« »Auch damit. Aber in erster Linie mit dem, was du mir über die Zukunft sagtest … Du erinnerst dich?« »Du meinst, was Dang-K’n mir verriet?« »Ja.« »Wie kommst du zu dieser Erkenntnis? Und was daran ist wahr?
Er sagte vieles …« »Alles! Alles, was er preisgab, stimmt …« Ischtar gab einen undefinierbaren Laut von sich. »Warum hast du dann befohlen, ihn zu töten? Früher oder später hätten wir den Kor ridor, von dem er sprach, gefunden! Er wäre unsere Rettung gewe sen! Wir …« »Wir hätten ihn nie gefunden!« widersprach Anum. »Ich war noch einmal in Khorsabads Haus. Dort gibt es nichts, was uns zugänglich wäre. Und es wäre auch nicht das, was uns bestimmt ist! Als ich dir befahl, ihn und den anderen zu töten, wußte ich von alledem noch nichts. Ich erfuhr es erst, als ich diesen Kelch hier aus den Tiefen des Tempels barg. Als er mir offenbarte, was mit uns geschehen wird. Mit dem Schiff. Und mit den sieben Ungeborenen …« »Den sieben Ungeborenen?« Anum ging nicht darauf ein. Er machte eine wegwerfende Geste. Dann zeigte er auf Ischtars Blöße. »Ich wünschte, ich könnte dir hel fen. Aber es entzieht sich meiner Gabe. Ich habe es schon versucht …« Ischtar sah ihn ausdruckslos an. Sie versuchte sich die Schmerzen, die sie empfand, nicht anmerken zu lassen. Dann erzählte er ihr, was er den anderen bereits kundgetan hatte. Als er auf das Gebot zu sprechen kam, Menschenblut nur über die Opferschlange zu trinken, lachte Ischtar böse auf. »Du weißt, daß ich diesen Stab nie wieder an mich heranlassen werde! Und du müßtest dir denken können, daß auch die anderen sich ihm verweigern werden!« »Wie kommst du darauf?« »Kannst du dir das nicht denken? Weil sie sich fürchten, so zu werden wie ich …!«
* Die Flut schwoll an. Bald gab es im weiten Umkreis kein Stück Land mehr – von den Gebirgshöhen abgesehen –, das frei von reißenden Wassern war. Da es keinen Kontakt zur anderen Seite des Gebirges gab, wußte niemand, wie es dem anderen – Noes – Schiff erging. Die Dunkle Ar che jedenfalls zeigte sich selbst gegen schrecklichste Gewalten gefeit, nachdem die schwarze Masse aus dem Kelch sie schützte. Sie hob sich vom Erdboden, ohne daß ein einziger Tropfen in ihr Inneres ge langte. Sie schwamm so sicher und unanfechtbar, als wäre sie un sinkbar. Der Respekt, den die anderen Anum entgegenbrachten, wuchs, denn nur ihm allein war es zu verdanken, daß der magische Kelch rechtzeitig an Bord gelangt war. Dennoch trat ein, was Ischtar pro phezeit hatte: Als es darum ging, sich an das Gebot zu halten, die Opferschlange heranzuziehen, um den Durst zu löschen, weigerte sich einer nach dem anderen standhaft. Niemand wollte sich mit dem infizieren, was die schöne Ischtar zunehmend in einen Ausbund an Häßlich keit verwandelte! Nicht einmal Anums Appelle änderten etwas daran, und so sah er sich genötigt, eine Vorbildfunktion einzunehmen. Er ließ gleich zwei Menschen zu sich kommen und auf den Rücken legen. Er wählte sie blind und opferte sie, wie es ihm aufgetragen worden war. Was ge nau sich aus dem Stab in seine Hand und von dort in seinen Leib bohrte, überprüfte er nicht. Als er die Zähne der Schlange in das Herz des Menschen schlug, spürte er, wie sie sein Blut heraussaug ten und ihm einen Teil davon zuführten.
Er wußte nicht, was mit dem Blutzoll geschah, den sie zu entrich ten hatten. Es war nicht wichtig. Mit dem zweiten Opfer verfuhr er ebenso, und danach war er mehr gesättigt als jemals zuvor. Die Schlange gab ihn frei, und er sah in die angespannten Gesich ter der anderen. Nur Ischtar war nicht anwesend. Niemand sollte sie gerade jetzt als mahnendes Beispiel vor Augen haben … »Nun?« fragte er. Doch obwohl der Hunger bereits in ihnen bohrte, verzichteten sie, es ihm nachzutun. Anums Unbehagen wuchs. Er wußte von allen am besten, daß die Opferschlange ein fester Bestandteil jenes Plans war, der ihre Zu kunft sichern sollte. Wenn sie sich dem verweigerten, drohte ihnen eine Strafe, die keine Gnade kennen würde. Aber alles Zureden half nichts. Aus den Antworten der anderen hörte er heraus, daß sie abwarten wollten. Abwarten, wie es ihm in den nächsten Stunden und Tagen erging …
* Anum besuchte Ischtar immer häufiger in ihrer Kammer, in der sie sich die meiste Zeit aufhielt, auch ohne daß sie neu verschlossen wurde. Bei diesen Besuchen fand er Anzeichen, daß sie sich seinem Befehl widersetzte und sich, wann immer ihr dürstete, der Menschen an Bord bediente. Aber diese Anzeichen fand er auch bei den anderen, obwohl sie es – zur Rede gestellt – leugneten! Sicher war, daß sie auch nach einem
halben Monat, den sie, von der Außenwelt abgeschnitten, in der Ar che zubrachten, die Schlange noch immer verweigerten. Einzig Anum nahm sie immer wieder zur Hand, aber jedesmal wurde seine Beklemmung stärker. Er spürte, daß die Verweigerung der anderen nicht mehr lange gut gehen konnte. Und dann erhielt er den Beweis. Mitten hinein in die unnatürliche Ruhe erfolgte eine Warnung. Die schwarze Masse zog sich von den Bordwänden zurück, und zwischen allen Planken sickerte plötzlich Wasser ins Innere! Groß war das Wehklagen der Hohen Wesen im Angesicht ihres Untergangs, doch Anum beschwichtigte sie: »Ich glaube nicht, daß wir schon jetzt verdammt sind, aber ihr müßt euch besinnen – au genblicklich! Versteht es als Warnung! Ihr habt die Wahl zwischen sicherem Untergang – und der Gewißheit, daß der Stab euch kein Haar krümmt! Seht mich an! Ischtar hatte Pech, aber das lag nicht an der Schlange, sondern an dem von ihr gewählten Opfer! Dieser Fremdling hat sie vergiftet. Zahlt den Tribut, der uns abverlangt wird! Hört auf, wider das Verbot zu handeln und Blut ohne die Schlange zu trinken, oder dieses Schiff wird in Kürze sinken! WOLLT IHR DAS?« Sie umstanden ihn wie vom Donner gerührt. Und dann war es Enlil, der aus ihrem Kreis hervortrat und sich den Stab erbat. Als er ihn bebend in ein beliebiges Menschenherz schlug, nahm die schwarze Kelchsubstanz ihren Platz an der Bordwand wieder ein. Nacheinander weihte ein jeder den Stab – alle bis auf Ischtar, doch dies blieb ohne Folgen. Die Arche behütete sie wieder uneingeschränkt, und am 50. Tag der Fahrt über das Meer, das die Welt bedeckte und bereits alles rei
ne und unreine Leben darauf ertränkt hatte, meldete Schamasch: »Es ist geschehen, Anum! Die Frau, von der du sprachst, hat geboren: Sieben Kinder, so wie du es beschrieben hattest! Willst du sie sehen …?«
* Es war kein hübsches Weib. Der Kelch hatte sie aus anderen Grün den auserkoren unter allen, die sich an Bord befanden und von eines Mannes Saat erfüllt waren. Ihre schweren Brüste platzten schier vor Milch, als Anum ihr ge genübertrat, und ihre Bälger wälzten sich plärrend im Stroh, die Na belschnüre bereits durchtrennt. Beistand hatte die Gebärende von ihrem Mann erhalten, der nun stumm wieder abseits kauerte und teilnahmslos auf die Siebenlinge starrte, deren Haut Falten warf wie ein viel zu großes Gewand. Auch dieses Detail hatte der Kelch Anum prophezeit, und den noch blickte er fasziniert auf die Kinder, die erst noch in ihre Häute hineinwachsen mußten. Das würde geschehen. Bald schon … Für ein Weib, das eine solche Zahl von Kindern in sich getragen und unter Schmerzen herausgepreßt hatte, wirkte die Frau unglaub lich gefaßt – und unglaublich stark. Sie wurde gebraucht, die nim mersatte Brut zu säugen. Doch mangelte es ihr an Gefühlen, wie sie Menschen – zumal Mütter – ihren Sprößlingen wohl normalerweise entgegenbrachten. Mit ähnlich kühler Neugierde wie Anum schaute sie auf die sich windenden Neugeborenen. »Du kennst die Aufgabe, die auf sie wartet?« fragte er.
»Ja«, antwortete sie. »Sie werden den Ort finden, von dem aus sie die SCHRIFT beginnen. Meine Kinder haben die dafür nötige Gabe. Sie werden dafür sorgen, daß ihr Werk ewig fortgeführt wird. Ihre Namen sollen sein: Artor, Isis, Onan …« »Ich weiß«, unterbrach Anum sie. »Nähre sie gut, denn sie müssen bereit sein, noch bevor die Arche sich wieder auf das Land nieder senkt!« Mit diesen Worten – und einem letzten Blick auf die Säuglinge, die beunruhigend erwachsene Augen besaßen – ließ er sie allein. Achtzig Tage später waren aus ihnen vollentwickelte Knaben und Mädchen geworden, deren Mutter nun ihr Leben aushauchte. Am Ende hatte sie nur noch aus Haut und Knochen bestanden. Der Regen wurde schwächer und hörte schließlich ganz auf. Der Wasserspiegel sank weiter, und schließlich legten sie an den Flanken eines Gebirges an, das auch das Ziel der anderen Arche war. Sie be gegneten einander jedoch nie, denn das Schiff der Hohen Wesen an kerte nicht am, sondern im Fels. Ein riesiges Loch nahm es auf, als wäre es eigens dafür erschaffen worden …
* Noch immer war eine hohe Zahl von Menschen am Leben, doch hat ten die Hohen Wesen Gefallen an der Opferschlange gefunden, und ihr Durst war eher größer geworden denn geringer, so daß sich ab sehen ließ, wann der letzte Sterbliche sein Leben ausgehaucht haben und dieser Nahrungsquell versiegt sein würde … Anum wurde in diesen Tagen nie ohne den Kelch gesehen, in den die schützende Schicht, die den Bootsrumpf abgedichtet hatte, zu
rückgeflossen war. Anum schien Zwiesprache mit dem Gefäß zu halten. Draußen in der Finsternis des Berginnern flossen die letzten Wasser ab, so daß die Luke geöffnet werden konnte. Frische, würzi ge Luft strömte herein, und in dieser Finsternis, nur erhellt vom Pur pur des Kelches, verkündete Anum den letzten und wohl auch wichtigsten Teil des Überlebensplans, der für sie entworfen worden war. »Ein jeder«, sagte er, »kann sich vorstellen, wann unser Menschen vorrat aufgebraucht wäre, würden wir so weitermachen wie bisher! Wir haben die Flut überlebt, doch das Unheil schwebt weiter über uns! Es gibt nur einen Weg, es zu überlisten – den Weg, den das LICHT uns schenkte …!« »Das LICHT?« fragte Ischtar aus den Lumpen heraus, die Anum ihr am Ort ihrer Versammlungen aufzuhäufen gestattet hatte. Seit langem hatte niemand sie mehr zu Gesicht bekommen, und ihre Stimme klang wie eh und je, so daß sich mancher im Selbstbetrug sonnte, sie sähe auch wieder so aus, wie sie sich einst unter die Sterblichen gemischt und sie mit ihrem Eros verführt hatte. »Die Macht, die uns erschuf! Ohne sie wären wir längst dem fei gen Attentat zum Opfer gefallen …!« »Was erwartet sie?« fragte Ischtar. »Daß wir uns bescheiden? Sparsam mit dem guten Blute umgehen?« Die Ironie, ausgerechnet sie dies sagen zu hören, obwohl inzwi schen jeder wußte, daß sie sich nicht an die vorgeschriebene Ord nung des Trinkens hielt, hätte größer nicht sein können. Doch Anum verblüffte sie und alle anderen Zuhörer, indem er sagte: »Nein! Im Gegenteil! Wir werden sie alle der Schlange opfern – bis auf die sieben Kinder!« »Töten?« rief Enlil heiser. »Aber warum haben wir dann –?«
»Ich habe es selbst erst erfahren, als wir hier im Berg vor Anker gingen!« sagte Anum. »Ich bin nur die STIMME des Kelchs. Zu ent scheiden hat er! Zweifelt ihr schon wieder? Wähnt ihr euch in Si cherheit, nur weil auch jenseits der Arche wieder Boden unter den Füßen ist …? Dann wärt ihr größere Narren, als ich zu glauben ver mag!« »Warum sollen wir uns selbst unserer letzten Nahrung berauben?« fragte Ea. »Welcher Sinn steckt dahinter?« »Das LICHT«, erwiderte Anum, »hat uns nicht bis zu diesem Punkt geführt, um uns nun doch noch im Stich zu lassen!« »Und was geschieht mit den Kindern?« warf Landru ein. »Sie werden uns verlassen und den anderen, den dunklen Keim der neuen Menschheit bilden, neben Noes Nachkommen.« Anum schwieg, und sein Blick verriet, daß er dazu nicht mehr sagen konn te oder wollte. Dann straffte er sich und fuhr fort: »Und nun … tötet! Folgt mir von Kammer zu Kammer, von Deck zu Deck! Ein jeder wird noch einmal in Blut baden!« So geschah es. Nur Ischtar verkroch sich noch tiefer in ihren Lumpen, und nie mand wußte, was sie wirklich über das von Anum geforderte Vor haben dachte. Jeder Hohe Mann und jede Hohe Frau tötete in diesen Stunden maßlos. Wer die Opferschlange schließlich aus der Hand und an den nächsten weitergab, blieb am Ort seiner Tat zurück, beteiligte sich nicht mehr an der Wanderung durch das Schiff. Bewegungslos ver harrte er dort, wo die Schlange ihn wieder freigegeben hatte. Am Ende war nur noch Anum übrig, der die Zeit genutzt hatte, die sieben Knaben und Mädchen aus der Arche und ins Freie zu führen. Er tötete den Rest des ›Menschenvorrats‹ – bis auf einen ein zigen Mann, den er vor den Berg aus Lumpen führte, in dem sich
Ischtar noch immer verbarg, als wollte sie darin und nirgends sonst sterben. »Komm heraus!« sagte Anum. »Warum sollte ich? Ich gehorche dir nicht mehr – schon lange nicht mehr …« »Ich weiß. Aber jetzt wirst du es tun! Ich will, daß auch du uns in die Zukunft begleitest! Du gehörst zu uns – was immer dir wider fuhr. Vielleicht kann ich dir später helfen!« »Es wird kein Später geben.« »Doch, es wird! Sobald dieser Mann hier fällt, erfolgt der letzte Schritt! Wir werden uns niederlegen und eine lange, lange Zeit schlafen! Draußen wird die Welt wieder zu blühen beginnen. Noes Familie und auch unsere Brut werden sich genügend mehren und in alle Winde zerstreuen. Wenn dies geschehen ist, werden wir erwa chen und unser Erbe antreten …« Eine Weile herrschte Stille unter den Lumpen. Dann fragte Ischtar: »Glaubst du an das, was du sagst?« »Ja!« »Und glaubst du auch, daß du … meinen Anblick verkraftest?« »Ich habe keinen Zweifel!« »Nein!« sagte Ischtar. »Das will ich nicht! Du hast schon mehr von mir gesehen als alle anderen – bewahre in deinem Gedächtnis eine Ischtar, an der es noch ein winziges Stück unversehrter Schönheit gab … Geh fort von hier! Ich verspreche, daß ich es tun werde – ich verspreche es …« »Du mußt es tun«, bekräftigte Anum noch einmal, ehe er den Stab vor dem Verurteilten auf den Boden legte und ging. Lange sah es aus, als geriete der Berg aus Lumpen nicht in Bewe gung. Doch dann kroch das, was aus Ischtar geworden war, darun
ter hervor. Ungerührt starrte der Mann ihr entgegen. Der Zwang um seinen Willen ließ nicht einmal Ekel nach außen dringen. Und mit demsel ben scheinbaren Gleichmut starb er. Die Schlange in Ischtars Faust beendete seine Existenz. Als sich die ›Drähte‹ aus dem faulen Fleisch der Hohen Frau lösten, war der Funke des Zaubers auch auf sie übergesprungen. Erst ließ sie den Stab fallen. Dann fiel sie selbst. Und überall in der Arche sanken die andere Hohen Wesen wie schlafend auf die Planken, deren Holz sich zu verändern begann. Der Berg, in dessen Bauch sie steckten, schien zu bersten – so hörte es sich an. Das von Blut getränkte Holz veränderte und formte sich neu. Überall, wo die Arche den umliegenden Fels berührte, bildeten sich Verbindungen, für die Ewigkeit geschaffen. Nichts blieb, wie es war. Holz wurde zu Stein – und Hohe Wesen zu künftigen Hütern. Wenn die Zeit reif war, würden sie erwachen und vampirisches Leben in jeden Winkel der wiedererwachten Welt tragen, ein jeder tausend Jahre lang, im Dienste des Kelchs, der bereits darauf warte te, von dem Altar genommen zu werden, der sich unter dem ge heimnisvollen Gefäß geformt hatte …
* IM DUNKLEN DOM Jetzt Noch während ich einsank und die mumienhafte Hüterin sich in Si
cherheit brachte, durchzuckte mich das Bewußtsein, wie widersin nig es war, daß ich gerade jetzt sterben sollte, wo ich endlich eine Spur zur Agrippa gefunden hatte! Rasend schnell trieb mich mein Gewicht tiefer. Nabel, Brust, Hals … Überall umschloß mich zäher Brei, der sich gleich über meinem Kopf schließen mußte. Dann würde ich sterben. Ich überlegte, ob der Symbiont mir helfen konnte. Aber er hätte uns beide gerettet, wenn er es denn vermocht hätte. Doch offensicht lich gelang es ihm nicht einmal, sich allein davonzustehlen …! Mein Kinn tauchte in den unheimlichen Sumpf. Dann mein Mund … Hilflos preßte ich die Lippen zusammen, nahm einen letzten tiefen Atemzug durch die Nase, ehe auch sie versank, und zwängte die Arme in die Höhe. Der eben noch so nah scheinende Altar war in unerreichbare Ferne gerückt! Dann schwappte der Morast über meine Augen. Um weiterhin se hen zu können, aktivierte ich – mehr instinktiv denn gewollt – das Tattoo, das aus meiner Hand hervorbrach. Meine Lungen schmerzten. Die Luft staute sich darin, weil sie nicht einmal mehr zu entweichen in der Lage war! Mein Schädel drohte zu zerspringen, während ich mich des Scouts ein letztes Mal bediente. Durch seine Augen sah ich, wie er auf den diorit-schwarzen Kubus zuglitt, als könnte ich ihm, noch bevor ich starb, entlocken, was er in sich verwahrte. Die Agrippa …? Mit schwindendem Bewußtsein verfolgte ich, wie das Tattoo in den Altarstein eindrang – und erlosch! Zugleich veränderte sich der mich wie Treibsand umhüllende und erstickende Boden …
* Ischtar stemmte sich gegen eines der verschlossenen Tore. Das Inter esse an der hinter ihr versinkenden Lilith schwand, zumal sie das ungeklärte Schicksal der anderen nicht zur Ruhe kommen ließ. Was war aus Ea, Sin, Landru und Adad geworden? Was aus Scha masch und … Anum? Lagen sie auch schlafend in einer Kammer am Ende eines der un zugänglichen Stollen und warteten darauf, erweckt zu werden? Von wem? Die Mauer aus Schwärze widerstand. Ischtar war nicht in der Lage, sie zu durchbrechen. Das Gift der Schlange, Dang-K’ns Gift, dachte sie, hat mich mit Alter und Schwäche geschlagen! Ich bin nur erwacht, um zu sterben … Mit hängenden Schultern wandte sie sich ab. Außer jenem Stollen, aus dem sie selbst gekommen war, und je nem, in dem sie Enlil gefunden hatte, gab es noch zwei andere, die nicht versperrt waren. Einem von ihnen wandte sie sich zu. Als sie sich umdrehte, sah sie von Lilith nur noch die hochgereckten Arme. Es war zu spät, sie zu befragen, ob sie auch die anderen Stollen geöffnet hatte – und wenn ja, wie. Ischtar gestand sich ein, daß es ein Fehler gewesen war, nicht ein mal den Versuch zu unternehmen, Lilith zu retten. Gemeinsam mit ihr hätte sie ergründen können, was vorgefallen war, nachdem sie die Opferschlange fallen gelassen und sich niedergelegt hatte. Ischtar taumelte in den nächstgelegensten der offenen Stollen hin ein. So entging ihr, was hinter ihr geschah …
* Meine Arme wühlten plötzlich in einer nachgiebigen, spröden Mas se, die hörbar zersplitterte und brach, und statt des ›Sumpfs‹ um wirbelte mich plötzlich knochentrockener Staub! Der unter wenigen Tropfen Blut aufgeweichte Boden des Doms gewann wieder an Sta bilität, auch wenn es nur die Festigkeit von morschem Holz war … Holz? Ich hörte auf, mir Fragen zu stellen. Ich vollführte Bewegungen, als würde ich schwimmen. Atemholen und Husten wurden ein und dasselbe – aber wenigstens konnte ich wieder Luft schöpfen! Mein Kopf ragte bereits über das Bodenniveau, und als ich den Rand zu fassen bekam, wo übergangslos immer noch massives Fels gestein zu finden war, ›schwamm‹ ich mich vollends frei und zog mich aus dem unter mir knisternden Loch. Erst als ich zu dem entstandenen Krater zurückblickte, sah ich, daß die Masse, in der ich fast verschwunden wäre, tatsächlich wie uraltes, vermodertes Holz aussah – und daß der Übergang zum Bo den, auf den ich mich gerettet hatte, so schleichend erfolgte, daß es in mir den Verdacht weckte, auch der Stein könnte … Absurd! Das Knistern wurde lauter. Und spätestens als sich seismische Er schütterungen durch meinen Körper pflanzten, begriff ich, daß nicht nur die Masse im Krater knisterte und rumorte, sondern der kom plette Dom in Bewegung geraten war. Irgend etwas hatte ich ausgelöst. Wodurch, ahnte ich erst, als mein Blick den Altar suchte, der ver schwunden war.
Unwillkürlich hob ich meine Hand, um zu sehen, ob der Scout in den Wirrnissen unbemerkt zurückgekehrt war. Er war es nicht. Meine Haut war frei von jenem Tattoo, das mir von Felidae verlie hen worden war, und selbst unter äußerster Konzentration gelang mir kein Kontakt zu dem entsandten Schemen … Auch der schwarze Kubus war verschwunden. Dort, wo er sich er hoben hatte, lag nun ein Gebilde von Größe und Form eines Strau ßeneis … eben jene Struktur, die ich durch die Augen der Hütermas ke wahrgenommen hatte und von der ich seither glaubte, es müßte sich um die gesuchte ›Agrippa‹ handeln! Während ich mich erhob, hielt ich Ausschau nach der erweckten Greisin, fand sie jedoch nirgends. Dafür wurden die Erschütterun gen des Berges heftiger und rieten mir, das Innere des Berges schnellstmöglich zu verlassen. Mich ritt jedoch der Teufel. Vielleicht war ich auch zum erstenmal wirklich bei Verstand. Wenn nicht hier, wo sonst sollte ich je in die Lage gelangen, eigene Bedingungen zu diktieren und meine Interes sen zu vertreten? Meine Hände berührten die keineswegs glatte, sondern schroffe und wie von unzähligen Mikrometeoriten zerklüftete Oberfläche des ›Eies‹. Ich wollte es hochheben und die Drohung hinausschrei en, daß ich dieses Ding am Boden zerschmettern würde, falls ich nicht hier, auf der Stelle, Antwort auf all meine Fragen und Befürch tungen erhielt. Wahrscheinlich hätte ich längst Gewißheit erlangen können – wenn ich damals in Sydney aus dem Lilienkelch getrunken hätte, den Felidae mir reichte. Aber das hätte gleichzeitig bedeutet, meine Menschlichkeit aufzugeben. Dies konnte und wollte ich nicht, selbst wenn meine menschlichen Skrupel nur dem unvollständigen ›Pro
gramm‹ zu verdanken waren, das zwei Jahre zu früh unterbrochen worden war. Ich wollte endlich wissen, worin die Bestimmung be stand, die bei Uruk auf mich wartete – jenseits des ›Korridors‹, den Duncan Luther mir vorausgeeilt war … Es kam anders. Meine Drohung verpuffte, noch ehe ich sie aussprechen konnte. Die Beben verebbten, als hielte der Ararat noch einmal den Atem an. Und dann verwandelte sich das Ei in meiner Hand in eine ball große Sonne, deren Hitze mich beinahe röstete. Viel fehlte nicht, und die Haut hätte sich von meinem Körper geschält … Ich prallte davor zurück. Wollte fliehen. Doch zwei Schlangen schossen rechts und links von mir aus dem Boden, umwickelten meine Arme und verankerten sich mit ihren zuschnappenden Zähnen oberhalb der Handgelenke in meinem Fleisch! Und dann zogen sie mich hinab auf die Knie … Die Sonnenglut brannte in meinem Gesicht, als wollte sie das Blut in meinen Lippen zum Sieden bringen, Haare, Wimpern und Brauen verschmoren! Das schreckliche Licht brannte mir seine Antwort auf meine läster lichen Gedanken wie ein Menetekel in die Netzhäute: DU BIST NICHT FREI! schrie es. DU WARST ES NIE! Und dann entließen die Schlangenzähne ihr Gift des Gehorsams. Der Dämon Schmerz begann in mir zu toben …
* Die Kammer war leer, und insgeheim hatte Ischtar es auch befürch tet. Wer von den Hohen Männern und Frauen mochte darin geruht
haben? Vielleicht Anum selbst? Was war dann aus ihm geworden? Hatte er diesen Ort, der mehr einem Gefängnis als einer Zuflucht glich, verlassen? Ischtar verlor das Gleichgewicht und stürzte, als der Boden zu wanken begann. Ein ohrenbetäubender Lärm setzte ein – und seltsa merweise galt Ischtars erster Gedanke der Frau, die draußen im Ge wölbe gestorben war. Lilith … Ihr Name erschien Ischtar immer noch so vertraut, obwohl sie ihr vorher nie bewußt begegnet war. Mühsam kam sie wieder auf die Beine. Sie stützte sich an den Stol lenwänden ab und kehrte zum Ausgang des Schachtes zurück, von wo sie das Gewölbe überblicken konnte. Neben ihr riß ein neues Beben einen tiefen Spalt in den Fels, so daß Ischtar voller Furcht unter den hohen Dom flüchtete. Im Laufen ent deckte sie Lilith. Sie hatte sich offenbar aus dem Phänomen befreit, das versucht hatte, sie zu verschlingen! Verblüfft beobachtete Ischtar, wie die junge Frau in grotesker Ver beugung am Boden kniete und die Arme seitlich abgespreizt hatte, als hielte etwas sie fest. Vor ihr lag – fast unkenntlich – jenes einst mals makellos glatte Ding, das Anum damals zusammen mit dem Schlangenstab und dem Kelch aus Uruks Tempel mitgebracht hatte … Wieder erzitterte das Gewölbe. Erste Steine brachen aus der Decke und regneten zu Boden. Ischtar blieb unversehrt. Sie wunderte sich über die Gelassenheit, mit der sie die unaufhaltsamen Auflösungserscheinungen ihrer Um gebung beobachtete. Während sie weitertaumelte, dachte sie: Ich hätte nicht auf ihn hören sollen! Nein! Ich hätte das Nest aus Lumpen nie verlassen dürfen …
* Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten. Ich war nie frei gewesen – und würde es nie sein! Sobald ich mir dies eingestand und akzeptierte, würde sich die Qual, die mich marterte, verflüchtigen. Ich mußte mich nur selbst verleugnen … Aus den Augenwinkeln – vorbei an der künstlichen Sonne – be merkte ich eine Bewegung, die mich kurz von der Folter ablenkte. Ich sah die mumienhafte Hüterin auf mich zukommen. Weder die Hitze noch die mich kettenden Schlangen schienen sie zu schrecken. ›Bleib stehen!‹ wollte ich ihr zurufen. Warum sollte noch jemand wegen meines ketzerischen Erpressungsversuchs in Gefahr geraten? In diesen Momenten vergaß ich sogar, daß die Schläfer des Doms meine potentiellen Feinde waren – Vampire …! Plötzlich durchpulste mich Schmerz von solcher Wucht, daß ich fast das Bewußtsein verloren und somit verpaßt hätte, wie die von Aussatz befallene Gestalt mich erreichte. Aber ich sah sie. Sie wankte auf mich zu, stolperte erst durch eine der Schlangen – und dann mitten durch den glühenden Sonnenball, der vor mir schwebte! Beides schien nur Luft für sie zu sein! Für sie? Im Moment, als ich den Betrug durchschaute, verlor er die Macht über mich. Ich sprengte die Ketten, die nur in meiner Vorstellung existiert hatten. Der Feuerball verblaßte, und ich sah wieder die Agrippa, nach der ich nur die Hand auszustrecken brauchte.
Neben mir wurde die Erweckte von einem schweren Felsbrocken, der aus der Decke fiel, getroffen und gefällt. Sie hatte sich gerade selbst nach dem eiförmigen Gebilde bücken wollen. Ein letzter Blick ihrer Augen traf mich bis ins Mark. Dann begann sie wie das mor sche Holz, in dem ich versunken war, zu zerfallen …
* Als ich die Agrippa unweit des Hauses Gordion aus meinen Fleder mausfängen löste und mich erschöpft in meine wahre Gestalt zu rückverwandelte, konnte ich immer noch kaum glauben, was sich im Gebirge zugetragen hatte. Durch Steinhagel hindurch war ich entkommen, und während ich zurückblickte, glaubte ich fernes Grollen zu hören und die Ausläu fer von noch ferneren Beben unter meinen Sohlen zu fühlen. Zu sehen war nichts. Nichts, was auf den Untergang eines geradezu mystischen Ortes hingedeutet hätte. Ich hatte allen Respekt vor dem LICHT verloren. Wenn es nicht mehr zu bieten hatte als gauklerische Illusionen, konnte ich getrost den Weg einschlagen, den ich für richtig hielt. Und nichts anderes würde ich tun. Zumal ich nun auch die rätsel hafte Agrippa besaß. Mit diesem Druckmittel sollte es gelingen, mir Respekt zu verschaffen. Ich wollte selbst entscheiden, ob sich die Ziele des LICHTS auch mit meinen eigenen deckten … Zuversichtlich nahm ich die Agrippa und ging damit auf die be klemmend stillen Häuser des Gehöfts zu. Ich fürchtete zu wissen, welches Bild mich dort erwartete. Aber als der Schrei die Stille zerriß, begriff ich nur zögerlich, daß
es mein Schrei war. Erst als ich mich bereits am Boden im Dreck wälzte, weil ein unsichtbares Eisen in meinen Leib getrieben wurde, dämmerte mir, daß ich die Macht des LICHTS unterschätzt hatte. Und auch seine Reichweite. Die Agrippa entglitt meinen Händen. Ich schrie noch, als sie kamen … ENDE
Sklavin des Lichts von Timothy Stahl Als Lilith Eden in die Türkei aufbrach, um die Agrippa zu finden, ließ sie Beth MacKinsey in einer Kairoer Missionsstation zurück. Hier sollte die verletzte Freundin versorgt werden – geschützt durch die zahlreichen heiligen Symbole, die in allen Zimmern hingen und ein wirksames Mittel gegen die hiesige Vampirsippe darstellten. Lilith konnte nicht ahnen, daß ein Teil des LICHTs auf Beth über gegangen war. Eine Kraft, die nun auf die Kreuze und Insignien rea giert! Die Mission im Herzen Kairos wird zu einem Hort des Wahnsinns. Dinge geschehen, die sich jeder Logik entziehen; Menschen verän dern sich auf furchtbare Weise. Und mit Beth selbst geht der er schreckendste Wandel vor. Was wird Lilith vorfinden, wenn sie zurückkehrt?