Das Sein der Dauer
Herausgegeben von Andreas Speer David Wirmer
Walter de Gruyter
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Das Sein der Dauer
Herausgegeben von Andreas Speer David Wirmer
Walter de Gruyter
Das Sein der Dauer
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Miscellanea Mediaevalia Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln Herausgegeben von Andreas Speer
Band 34
Das Sein der Dauer
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Das Sein der Dauer Herausgegeben von Andreas Speer und David Wirmer
Walter de Gruyter · Berlin · New York
ISSN 0544-4128 ISBN 978-3-11-020309-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ” Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Satz: META Systems GmbH, Wustermark Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co GmbH, Göttingen
Vorwort Wer sich mit einem Forschungsgegenstand beschäftigt, der sich bereits in seiner spezifischen Gegenstandsbestimmung als historisch ausweist, steht gegenwärtig unter einem besonderen Legitimationszwang. Doch nicht im Bemühen um Rechtfertigung widmete sich die 35. Kölner Mediaevistentagung, die vom 12. bis 15. September 2006 stattfand, einem Thema, das nur auf den ersten Blick als durchweg historiographisch bestimmt werden kann. Im Mittelpunkt dieses Bandes, der die Themenstellung der 35. Kölner Mediaevistentagung aufgreift, stehen deshalb auch nicht methodische oder metatheoretische Fragen. Gegenstand ist vielmehr das Sein der Dauer in seiner ganzen phänomenalen Breite und damit das Feld des Historischen in seiner besonderen zeitlichen Struktur. Diese Fragestellung ist nicht neu, sie begleitet die historische Arbeit kontinuierlich. Und doch hatten wir im Vorfeld der letzten Mediaevistentagung den Eindruck gewonnen, daß insbesondere hinsichtlich der Dimension Dauer noch nicht alles gesagt sei – etwa in Hinblick auf epistemische Zusammenhänge. Daß sich das Mittelalter für dergleichen Überlegungen und Analysen offensichtlich besonders eignet oder hierzu sogar herausfordert, zeigen einige der bekanntesten Vertreter der Annales-Schule, die in fachlicher Hinsicht Mediävisten waren: Marc Bloch, Georges Duby und Jacques Le Goff. Auch wenn das Thema der 35. Kölner Mediaevistentagung und dieses Buches in mancher Hinsicht von Fernand Braudel inspiriert ist, so sind wir doch der Überzeugung, nicht eine vergangene, gar abgeschlossene Debatte zu neuem Leben zu erwecken. Vielmehr stellt sich die Frage nach dem Sein der Dauer neu, und sie wird – davon sind wir überzeugt – in den vorliegenden Beiträgen auf neue Weise gestellt. Dabei zeigt sich zugleich die bleibende Aktualität historischer Arbeit. Denn die Frage, in welchem Ausmaß unsere Rede von Vergangenem von der Art der Konzeptualisierung abhängt, eröffnet zugleich den Blick auf die Konstruktionsweisen der Gegenwart, steht doch diese in einem geschichtlichen Kontext – nicht nur der Ereignisse und Konjunkturen, sondern auch der langen Dauer. Die in sechs Sektionen zusammengefaßten 28 Beiträge dieses Bandes wollen die überaus anregenden Diskussionen während der 35. Kölner Mediaevistentagung und des vorgelagerten Internationalen Workshops zur Historiographie der Philosophie im Mittelalter aufgreifen und weiterführen. Bezüglich des Workshops, der im Rahmen des von den Lehrstühlen für mittelalterlicher Philosophie an den Universitäten Bari, Köln, Leuven und Sofia getragenen InterLink-Projektes ,Soggetto e statuto della filosofia nel Medioevo. Nuove prospettive di ricerca
VI
Vorwort
nell’edizione critica dei testi e nelle metodologie di indagine storiografico‘ stattfand, sei auf den Tagungsbericht von Stefan Nottelmann im 48. Heft des ,Bulletin de philosophie me´die´vale‘ hingewiesen. An beiden Veranstaltungen nahmen erneut an die zweihundertfünfzig Mediävisten der verschiedensten Disziplinen aus mehr als zwei Dutzend Ländern teil. Die Kölner Mediaevistengung konnte damit abermals die Tradition als mediävistische Biennale fortsetzen, die auch im Zeitalter des World Wide Web ein unverzichtbarer Ort der persönlichen Begegnung und des fachlichen Meinungsaustausches ist. Daß wir dieses Konzept wiederum in dem geplanten Rahmen haben umsetzen können, dafür gilt – auch im Namen aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer der 35. Kölner Mediaevistentagung – unser besonderer Dank der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Otto Wolff-Stiftung, der Kölner Pensionskasse und der Universität zu Köln. Herzlich gedankt sei ferner dem Rektor der Kölner Universität Prof. Dr. Axel Freimuth, der die bewährte Tradition fortsetzte und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kölner Mediaevistentagung zu einem abendlichen Empfang in den Alten Senatssaal der Universität zu Köln bat, und dem ersten Prorektor Prof. Dr. Horst Schellhaaß für seine freundlichen Begrüßungsworte. Ein besonderer Akzent wurde durch den Besuch der Ausstellung ,Zum Sterben schön! Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute‘ im Museum Schnütgen gesetzt. Für diese Möglichkeit und für die persönliche Führung durch die Ausstellung sei der Direktorin Prof. Dr. Hiltrud Westermann-Angerhausen sehr herzlich gedankt. Die Vorbereitung und Durchführung der 35. Kölner Mediaevistentagung lagen wie stets in den bewährten Händen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Thomas-Instituts. Das gilt auch für die redaktionellen Arbeiten an diesem Band der Miscellanea Mediaevalia, die von allen Beteiligten mit großer Sorgfalt und Umsicht besorgt wurden. Namentlich gedankt sei Aiko Wolter für die sorgfältige Erstellung des Namenregisters. Nicht zuletzt gilt der herzliche Dank der Herausgeber dem Verlag Walter de Gruyter, namentlich Frau Dr. Gertrud Grünkorn, Frau Annelies Aurich und Herrn Christoph Schirmer, für die auch dieses Mal wieder exzellente Zusammenarbeit und die wie stets großzügige Ausstattung des Bandes. Am Ende dieses Vorwortes steht ein In memoriam. Es gilt Michel Lemoine, einem großen Gelehrten, liebenswürdigen Kollegen und langjährigen Freund der Kölner Mediaevistentagungen, der auf der 35. Mediaevistentagung einen seiner letzten Vorträge hielt, den wir in diesem Band der Miscellanea Mediaevalia als seinen letzten Aufsatz veröffentlichen. Michel Lemoine sei dieser Band in besonderer Weise gewidmet. Köln, im März 2008
Andreas Speer David Wirmer
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Speer (Köln) Das Sein der Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Das Mittelalter: Historiographische (Re-)Konstruktionen Otto Gerhard Oexle (Göttingen) Die Dauer des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nora Berend (Cambridge) Frontiers of Christendom: the Endurance of Medieval and Modern Constructs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Hentschel ( Gießen) Die Dauern der mittelalterlichen Musikgeschichte aus der Sicht des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Henrik Wels (Berlin/Würzburg) Warten als das Sein der Dauer oder Beckett und das Mittelalter . . . .
3
27
41 59
II. Ontologie und Semantik der Dauer Pasquale Porro (Bari) The Duration of Being. A Scholastic Debate (and Its Own Duration) 75 Christoph Kann (Düsseldorf) ,Incipit ‘/,desinit ‘ und die Semantik der Dauer in der mittelalterlichen Logik 89 Krystyna Krauze-B£achowicz (Warschau) ,Lasting‘ in and Lasting of Speculative Grammar . . . . . . . . . . . . . 111 Daniel A. Di Liscia (München) Walter Burley, Paulus Venetus und die Tradition ,De instanti‘ (mit dem ,Tractatus de instanti‘ des Paulus Venetus nach Hs. Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, II. IV. 553, foll. 68va-69va) . . . . . . . . . . . . . . 123 Sven Knebel (Berlin) Präliminarien zur scholastischen Ontologie der Vergangenheit: praeteritio 151
VIII
Inhaltsverzeichnis
III. Kosmologische Entwürfe von Zeit und Dauer Nadja Germann (Freiburg i. Br.) Zwischen veritas naturae und fides historiae. Zeit und Dauer bei Abbo von Fleury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michel Lemoine † (Paris) La dure´e dans la ,Cosmographie‘ de Bernard Silvestre . . . . . . . . . . Marc-Aeilko Aris (München) Das Sein der Dauer und die Ordnung der Zeit: Nikolaus von Kues über den Jüngsten Tag und die Tage zuvor . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietrich Lohrmann (Aachen) Motus continuus und motus perpetuus in der mittelalterlichen Technik und Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Ventarola (Köln) Bewegung im Buch der Natur: Entzug und Rekonstruktion der Dauer bei Johannes Buridanus und Francesco Petrarca . . . . . . . . . . . . . .
171 196
211
224
244
IV. Identitäten und Kontinuitäten Petra Schulte (Köln) Wann endet die Ewigkeit? Wortbruch, Instabilität und das Postulat der Dauer im französischen Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sebastian Lalla (Berlin) Wie lange dauert die Hölle? Ewigkeit und aevum bei Alexander von Hales Bernd Roling (Münster) Der Fall des Frater Albericus: Dante, Inferno, Gesang 33, und die Kontinuität von Person und Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Godman (Rom) The Moral Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
287 307
320 338
V. HistorischeKonzeptionen und historiographische Konzepte von Dauer Hans-Joachim Schmidt (Fribourg) Die Illusion der Dauer - Konzepte der Herrscher für ihre Nachfolger 349 Marie Bla´ hova´ (Prag) Herrschergenealogie als Modell der Dauer des ,politischen Körpers‘ des Herrschers im mittelalterlichen Böhmen . . . . . . . . . . . . . . . . 380
Inhaltsverzeichnis
Wolf-Friedrich Sch‰ufele (Marburg) Die Kontinuität der Kirche. Oppositionelle Konzeptionen im Hochund Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . J¸rgen Miethke (Heidelberg) Die Geltung päpstlicher Dekretalen und die ,Reform an Haupt und Gliedern‘ auf den Konzilien des 15. Jahrhunderts. Über Anspruch und Dauer päpstlicher Pfründregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut G. Walther ( Jena) Mundus non generabitur et corrumpetur, sed dispositiones ipsius. Zum Umgang der gelehrten Juristen mit dem Problem von Vergänglichkeit und Dauer Adam Fija£kowski (Warschau/Berlin) Die ,voces variae animantium‘ in der Unterrichtstradition des Mittelalters und der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
398
414
432
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VI. Poetologische und ästhetische Konzeptionen von Zeit und Dauer Jens Pfeiffer (Berlin) ,Zeit‘ als Moment einer poetologischen Fiktionalitäts-Reflexion im Hohen Minnesang. Zu Walthers von der Vogelweide ,Lange swıˆgen des haˆt ich gedaˆht‘ und Heinrichs von Morungen ,Mir ist geschehen als einem kindelıˆne‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Stark (Bonn) Die Dauer im ,Myste`re de la Passion‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrizia Procopio (Berlin) „como falcone che per paicX a mosso sia“: Gleichnishafte Zeitdarstellung in ,De arte saltandi et choreas ducendi‘ von Domenico da Piacenza Antonia Sahaydachny (New York) The Pictorial Representation of Timeless Reality in the Mozarabic Illuminations of the Beatus Commentary to the Apocalypse in Spain (ca. AD 900-1100) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
473 495
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Verzeichnis der Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 Verzeichnis der Frühdrucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
Das Sein der Dauer Andreas Speer (Köln) I. Im allgemeinen nehmen wir Geschichte vornehmlich in ihrer Ereignisstruktur wahr. Diese Einstellung ist nicht erst unserer beschleunigten, globalisierten Gegenwart geschuldet. Sie gilt zudem unabhängig von dem jeweiligen Gegenstand und dem gewählten Aspekt der historischen Betrachtung, gleich ob Real- oder Ideengeschichte, Institutionen- oder Wirkungsgeschichte - man könnte diese Aufzählung von Feldern des Historischen beinahe endlos vermehren. Denn es sind vor allem die singulären historischen Ereignisse und nicht abstrakte Gesetzmäßigkeiten, die für den Bereich des Historischen kennzeichnend zu sein scheinen. Auch mittelfristige Veränderungen und Konjunkturen werden zumeist anhand von Ereignissen wahrgenommen und artikuliert: sei es in Form der Verdichtung von Ereignissen zu signifikanten konjunkturellen Abfolgen oder als Momente reflexiver Vergewisserung im Hinblick auf mittel- und längerfristige Ereignisfolgen. Gegenüber einer solchen ereignis- und konjunkturorientierten Sicht historischer Zusammenhänge hat Fernand Braudel auf die Bedeutung der ,longue dure´e‘ hingewiesen, auf ,die Geschichte der langen und sehr langen Dauer‘ 1, die eine gleichsam unbewegte Geschichte vorführt, eine fast außerhalb der Zeit liegende, dem Unbelebten benachbarte Geschichte, eine träge dahinfließende Geschichte der langsamen Wandlungen, beharrlich wiederkehrenden Dinge und immer wieder neu beginnenden Kreisläufe, eine Geschichte des Menschen in seinen Beziehungen zum umgebenden Milieu 2. Damit hat Braudel nicht nur die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Geschwindigkeiten und Dauern von Geschichte und auf deren konstitutives Verhältnis zu den Objekten geschichtlicher Betrachtung gelenkt, sondern auch auf die Anwesenheit eines den übrigen Modi des Geschichtlichen und somit auch allen Formen von Historizität und historiographischer oder geschichtsphilosophischer (aber auch geschichtstheolo1
2
F. Braudel, Geschichte und Sozialwissenschaften. Die lange Dauer, in: id., Schriften zur Geschichte, vol. 1, Stuttgart 1992, 49-87, hier 52 (frz.: Histoire et sciences sociales. La longue dure´e, in: Annales E.S.C., Nr. 4. Oktober-Dezember 1958, De´bats et Combats, 725-753). F. Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 voll., Frankfurt a. M. 1990, hier vol. 1, 20 (frz.: La Me´diterrane´e et le monde me´diterrane´en a` l’e´poque de Philippe II, Paris 1949, 41979).
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Andreas Speer
gischer) Reflexion zugrundeliegenden Moments, das nur selten selbst in das Bewußtsein des Historikers tritt und zum Gegenstand der Analyse gemacht wird. Mit dieser Einsicht in die zeitliche Struktur der Geschichte - der kurzen Zeit der Ereignisse, der zyklischen Zeit der Konjunkturen sowie der langen Dauer verbindet Braudel eine Umkehrung des historischen Blicks und der historischen Arbeit, die in der Zerlegung der vergangenen Zeit besteht - je nach den ,mehr oder weniger exklusiven Standpunkten für die eine oder andere der chronologischen Realitäten‘ 3. Die Umkehr des historischen Blicks hat auch eine Umkehrung der Erzählrichtung zur Folge, die Braudel paradigmatisch in seiner bahnbrechenden Schrift ,La Me´diterrane´e et le monde me´diterrane´en a` l’e´poque de Philippe II‘ vorgenommen hat 4: beginnend mit der Darstellung des Raumes, seiner Geographie und seines Klimas - nicht als ,nutzlose geographische Einführung‘ an der Schwelle der eigentlichen Darstellung, ,die man rasch vorzeigt und von der dann nie mehr die Rede ist‘ 5, sondern als das erste, der gesamten Erzählung zugrundeliegende historische Rezitativ, oberhalb dessen sich eine Geschichte der langsamen Rhythmen ausmachen läßt, der kollektiven Schicksale und Gesamtbewegungen, der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, Strukturen und Konjunkturen, kurz einer Geschichte im Maßstab des Menschen, der mit der Ereignisgeschichte der kurzen Zeit eine Geschichte im Maßstab des Individuums folgt, eine ,Geschichte kurzer, rascher und nervöser Schwankungen‘ 6. Diese kurze Zeit - obgleich zumeist im Blickfeld des Historikers - beschreibt Braudel als die ,kapriziöseste, die irreführendste Form der Dauer‘; demgegenüber präsentiere sich die lange Dauer ,als eine beschwerliche, komplizierte Person, als ein noch unbeschriebenes Blatt‘ 7. II. Doch gilt das, was Braudel im Jahre 1949 schrieb, auch noch heute? Haben nicht die Arbeiten der Annales-Schule und die an diese anschließenden methodischen und metatheoretischen Debatten, die mit Beginn der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts merklich abflauten und durch andere Fragestellungen abgelöst wurden 8, dem unbeschriebenen Blatt, der komplizierten Person ,longue dure´e‘ einige Konturen verleihen können? Es gab durchaus warnende Stimmen aus dem Kollegenkreis, als wir bei den Vorüberlegungen zur Themenstellung 3 4
5 6 7 8
Braudel, Die lange Dauer (nt. 1), 52. Zuerst erschienen 1949; in deutscher Übersetzung nach der vierten, durchgesehenen und berichtigten Auflage von 1979 erschienen (cf. nt. 2). Cf. P. Burke, Offene Geschichte. Die Schule der ,Annales‘, Berlin 1991, 38-43. Braudel, Das Mittelmeer (nt. 2), vol. 1, 20. Ibid. Braudel, Die lange Dauer (nt. 1), 54 und 61. Siehe hierzu den Überblick in P. Burke, Offene Geschichte (nt. 4), 43-52.
Das Sein der Dauer
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der 35. Kölner Mediaevistentagung, die auch die Themenstellung dieses Bandes ist, auf Fernand Braudel gestoßen sind. Doch nicht die Aktualität - oder sollte man sagen Konjunktur - einer Forschungsdebatte stand im Vordergrund. Vielmehr lag ein wesentlicher Einwand in der deutlichen Engführung, die Braudel bezüglich des Verständnisses der ,longue dure´e‘ vornimmt, indem er vor allem mit Bezug auf die sehr lange Dauer im Grunde nur vorreflexive Konstanten wie etwa klimatologische und landschaftliche Faktoren gelten läßt. Doch hat es Geschichte nicht eher mit dem ,techneˆ on‘ als mit dem ,physei on‘ zu tun, mit Kultur statt mit Natur? Daß ein solches Konzept von langer Dauer zudem gerade für die Philosophie, die der Sache nach als ein reflexiver epistemischer Modus bestimmt werden muß, ein erhebliches Problem darstellt, muß nicht eigens betont werden. Doch gerade in der philosophischen Mediävistik hatte der Begriff der ,longue dure´e‘ in den letzten Jahren vermehrt Eingang gefunden, insbesondere zur Beschreibung epistemischer Phänomene, die aus der Perspektive der Konjunktur oder des Ereignisses nicht zureichend analysiert werden können. Darunter fallen etwa die Versuche, im Anschluß an Michel Foucault anstelle einer Ideengeschichte die Serien der tatsächlichen Formierung der Diskurse und die diesen innewohnenden Ansprüche, Ordnungen und Taxonomien unter den Stichworten der Archäologie und der Genealogie zu untersuchen 9. Der von Foucault geforderte weitgehende Verzicht auf das Wie und Warum zugunsten des Daß und der Erfassung des Was eines Diskurses führt an Braudels Verständnis von Dauer heran, öffnet dieses historische Rezitativ zugleich auf das gesamte Feld der Episteme. Umgekehrt ermöglicht die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Geschwindigkeiten synchroner Entwicklungen das Aufbrechen der diachronen Linearität einer - zumeist als Fortschritt - gedeuteten Entwicklung. An die Stelle einer wie auch immer gearteten Mathesissturktur treten - wie bei Michel Serres oder Gilles Deleuze - neue Formen einer Kartographie des Wissens 10. Diese Möglichkeit der Öffnung auf Phänomene der Beständigkeit und des Fortlebens deutet Braudel in einem programmatischen Aufsatz von 1958, in dem er den Wissenschaften vom Menschen nachgeht, selbst an 11. Dort nennt 9
10
11
Cf. M. Foucault, Les mots et les choses. Une arche´ologie des sciences humaines, Paris 1966 (dt.: Die Ordnung der Dinge, Fankfurt a. M. 1971); id., L’ache´ologie du savoir, Paris 1969 (dt.: Archeologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973). Ferner L. M. de Rijk, La philosophie au ˆ ge, Paris 1991, 27-32; id., moyen aˆge, Leiden 1985, 25-64; A. de Libera, Penser au Moyen A L’art des ge´ne´ralite´s. The´ories de l’abstraction, Paris 1999, 5-15 und 617-624; W. Goris, Absolute Beginners. Der Mittelalterliche Beitrag zu einem Ausgang vom Unbedingten (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 93), Leiden-Boston 2007. Cf. M. Serres, Atlas, Paris 1994 (dt. Berlin 2005); G. Deleuze/F. Guattari, Rhizome. Introduction, Paris 1976 (dt.: Rhizom, Berlin 1977); E. Holenstein, Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens, Zürich 22004; siehe zu dieser Frage auch den Bericht von S. Nottelmann über den Workshop zur Historiographie der Philosophie im Mittelalter, der am Vortag der 35. Kölner Mediaevistentagung stattfand, in: Bulletin de philosophie me´die´vale 48 (2006), 301-317, besonders 313-317. Braudel, Die lange Dauer (nt. 1), 49 sq.
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er beispielhaft das von Ernst Robert Curtius beschriebene ,kulturelle System‘ der lateinischen Kultur, von dem die Geisteseliten bis zum Aufkommen der nationalen Literaturen zehrten und das in diesen weiterlebte, ferner die im Abendland auch über das 14. Jahrhundert fortlebende Kreuzzugsidee als eine Einstellung von langer Dauer, die Einführung des geometrischen Bildraumes in der Malerei und schließlich die naturwissenschaftlichen Weltbilder, die sich, obgleich mit Mängeln behaftet, durchweg über Jahrhunderte gehalten haben, bevor sie abgelöst wurden 12. In diesem Sinne sind nicht nur geographische Formationen, sondern auch geistige Rahmen als ,Langzeitgefängnisse‘ zu betrachten, deren Strukturen nur schwer aufzubrechen sind 13. Daß das Potential der von Braudel aufgeworfenen Frage nach der Dauer und ihren Modi der kurzen, zyklischen und langsamen Zeit noch nicht ausgeschöpft ist, daß Fragen offen geblieben und neue hinzugekommen sind, zeigt auch das gegenwärtige Forschungsinteresse an Prozessen der Rezeption, konstruktiven Transformation und Vermittlung von Wissen. Der hierbei verwandte Rezeptionsbegriff erstreckt sich wie der Wissensbegriff über das Textverstehen hinaus auf die der Erkenntnis und den Wissenschaften, der Sprache und medialen Repräsentation sowie den institutionellen und soziologischen Bedingungen zugrundeliegenden Ordnungsstrukturen und Gegenständen des Wissens. Rezeptionsprozesse sind allerdings nur unter der Bedingung denkbar, daß sie auf ein tradiertes Wissen zurückgreifen, das auch durch seine Assimilation nicht einfach verschwindet, sondern als Referenzpunkt weiter verfügbar bleibt. Denn selbst die bewußte oder unbewußte Ablehnung etablierter kultureller Wissensformationen bleibt diesen letztlich durch die kontrastive Gegenüberstellung verpflichtet. In einem solchen Tableau bilden also Kontinuität und Persistenz die Hintergrundfolie für den Wandel 14. Die Diachronien und Synchronien der Rezeptions- und Transformationsprozesse eröffnen einen Blick auf die Konstitutions- und Ausschlußmechanismen, die kulturell wirksam werden und die epistemischen Bedingungen insbesondere des Wissensdiskurses bis in die Gegenwart hinein bestimmen. Geradezu als Musterfall kann die Generierung der Idee eines ,medium aevum‘ gelten und dessen negative Umdeutung zu einer vermeintlich dunklen Zwischenzeit, die uns von den Ursprüngen abschneidet 15. Die Hinwendung zu diesen vermeintlich 12 13 14
15
Op. cit., 58 sqq. Op. cit., 58. Cf. D Boschung/S. Wittekind (eds.), Persistenz und Rezeption. Weiterverwendung, Wiederverwendung und Neuinterpretation antiker Werke im Mittelalter, Wiesbaden 2008. Den Urspung und die Wirkungsgeschichte dieser Polemik von Petrarca über die Dunkelmännerbriefe, die nicht nur in der Neuzeit, sondern auch in der Gegenwart zu einem gern wiederholten Topos wird, hat bereits L. Varga, Das Schlagwort vom ,finsteren Mittelalter‘, Baden-WienLeipzig-Brünn 1932, eingehend untersucht. Ferner K. Arnold, Das ,finstere‘ Mittelalter. Zur Genese und Phänomenologie eines Fehlurteils, in: Saeculum 32 (1981), 287-301. Zur Entstehung der Rede vom ,finsteren Mittelalter‘ siehe ferner T. E. Mommsen, Petrarch’s Conception of the ,Dark Ages‘, in: Speculum 17 (1942), 226-242 (dt. Der Begriff des ,finsteren Mittelalters‘ bei Petrarca, in: A. Buck [ed.], Zu Begriff und Problem der Renaissance, Darmstadt 1969, 151-179).
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verschütteten Ursprüngen, das Einrücken in einen die dunkle Zwischenzeit überdauernden übergreifenden Ursprungszusammenhang einer idealisierten Antikenkonstruktion hat bekanntlich Konjunktur gemacht und bestimmt ungeachtet seiner umfassenden Dekonstruktion noch heute weithin das Mittelalterbild - man sollte besser sagen: das Mittelalterklischee 16. III. Halten wir also fest: Es geht nicht um Vergangenheit, wenn von Dauer die Rede ist, sondern um Präsenz. In diesem Sinne ist vom Sein der Dauer die Rede, nicht im Sinne einer Wesensontologie. Was die Dauer ist, muß in ihren Präsenzmodi aufgesucht und beschrieben werden. Denn es ist allein die Dauer, welche die Geschichte mit der Gegenwart verbindet. Nur was in irgendeiner Weise präsent ist, sei es als bereits abgeschlossenes, sei es als ein noch unausgesetztes Phänomen, ist geeignet, den Status eines historischen Objekts zu erlangen. Verschiedenen Objekten ist aber eine je bestimmte Dauer eigentümlich. Ein Unterschied der Dauer jedoch generiert je spezifische historische Objekte. In dieser Hinsicht stellen Konjunktur und Ereignis nicht nur eigene Präsenzformen der Geschichte dar, sondern müssen als Formen der Dauer angesehen werden. Denn auch das positive Datum tritt nur als ein reflektiertes Ereignis in unser Bewußtsein und wird auf diese Weise zum Teil der Geschichte, die ihrerseits nur als reflektierte in unser Bewußtsein eintritt. Diese Präsenz im Modus der ,distentio animi‘ aber ist als Dauer zu bestimmen. Die Dauer umfängt - oder besser unterfängt - mithin die übrigen Präsenzformen; sie liegt diesen zugrunde als deren ,subiectum‘, aber auch als der eigentliche Träger jener Positivitäten, die den materiellen Ausgangspunkt jeder historischen Arbeit bilden. Damit sind wir bereits bei einigen weiterführenden Überlegungen und Fragen angelangt, die der 35. Kölner Mediaevistentagung vorangestellt waren, deren Beiträge in diesem Band versammelt sind. 1. Unter den Präsenzformen von Geschichte gilt die besondere Aufmerksamkeit der Dauer. Doch wie läßt sich Dauer erfassen? Bei dieser Frage geht es vor allem um die direkten wie auch um die indirekten beziehungsweise mittelbaren und um die vorreflexiven Formen der Dauer (im Sinne der Braudelschen Milieus) und um ihr Verhältnis zueinander. Diese Problematik tritt verschärft zutage, wenn die mittelalterlichen Wahrnehmungsweisen solcher Dauern mit denen der heutigen Mediävistik nicht zwangsläufig ineinsfallen. Möglicherweise wird aber gerade im Auseinanderdriften von mittelalterlicher Selbstwahrnehmung und mediävistischer Analyse etwas vom Sein der Dauer selbst greifbar. Denn die Mög16
Cf. A. Zimmermann, ,Finsteres Mittelalter‘. Bemerkungen zu einem Schlagwort, in: A. Speer (ed.), Die Bibliotheca Amploniana. Ihre Bedeutung im Spannungsfeld von Aristotelismus, Nominalismus und Humanismus (Miscellanea Mediaevalia 23), Berlin-New York 1995, 1-15.
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Andreas Speer
lichkeit derartig abweichender Perzeption und Reflexion von Dauer verweist auf eine Varianz der zugrundeliegenden Ontologien. 2. Die faktische Inkongruenz der Wahrnehmungsweisen, die sich nicht auf eine natürliche Evidenz berufen können, macht es erforderlich, diese Wahrnehmungsweisen in der Differenz ihrer unterschiedlichen Konstitution zu analysieren. Jener Inkongruenz liegt wiederum eine den Dingen oder genauer: den historischen Geschehen, immanente Dauer zugrunde, die nicht immer für sich thematisch werden muß und besondere methodische Verfahren verlangt, um sichtbar gemacht zu werden. Was Dauer ist, zeigt sich nicht in der Heraufbeschwörung einer Wesensidentität, sondern gerade in der Differenz und in der Abweichung, in der Verweigerung der methodischen Kontrolle und eines definitorischen Erfassens. 3. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, inwiefern ,Dauer‘ als ein Charakteristikum des Mittelalters anzusehen ist. Die Vorstellung eines über etwa ein Millenium in sich weitgehend homogenen Zeitraumes mit einer statischen Ordnungsvorstellung und allenfalls langsamen Veränderungen zählt zu der wirkmächtigsten Epochencharakteristik des sogenannten Mittelalters und hat gleichermaßen Anlaß zu einer romantisierenden wie zu einer kritischen Sicht gegeben, welche die langsame Zeit des Mittelalters der beschleunigten neuen Zeit gegenüberstellt 17. 4. Welche Formen der Dauer aber sind es, die das Mittelalter mit den nachfolgenden Zeiten bis hin zur Gegenwart verbinden? Zu diesem Zweck müssen die Phänomene der Dauer in ihren unterschiedlichen Erscheinungsweisen aufgesucht werden. Hierbei gilt das eigentliche Augenmerk nicht allein den reflexiven Formen historischer Bewußtheit, sondern den Abfolgen und Serien in ihrer beschreibbaren Faktizität, etwa Lebensformen sowie kulturellen und sozialen Konstanten. 5. Schließlich gehört das Verhältnis der direkten und der mittelbaren Formen der Dauer zu einer Thematisierung der Dauer, die sich explizit mit den Formen der Historizität und Geschichtlichkeit im Mittelalter befaßt. Die Aufmerksamkeit hat also zum einen den Formen des Bewußtseins um das Aufreißen von historischen Räumen, zum anderen der Reflexion der verschiedenen geschichtlichen Zeiten und ihrer unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu gelten. Auf dies Weise werden Phänomene der Dauer, wie sie im Mittelalter begegnen, mit Blick auf 17
Vgl. Art. ,Ordo (Ordines)‘, in: Lexikon des Mittelalters, vol. 6, München 1993, 1436-1441, besonders 1436; Art. ,Ordnung‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 6, Basel 1984, 1249-1310, besonders 1254-1257; ferner H. Krings, Ordo. Philosophisch-historische Grundlegung einer abendländischen Idee, 2. durchges. Aufl., Hamburg 1982.
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ihre variable Präsenz in Wahrnehmung und Reflexion thematisiert. Zugleich kommt das historische Material in seiner Vielfalt zu Wort. 6. Diese Fragen erfordern einen interdisziplinären Zugang, der sich auf die gesamte Breite mediävistischer Disziplinen erstreckt und auch den Blick über die Mediävistik hinaus nicht scheut. Hierbei geht es nicht um metatheoretische Fragen, sondern darum, wie ein methodischer Austausch real vollzogen werden kann, so daß neue Sichtweisen eröffnet werden können. So hat Fernand Braudel neben dem Strukturalismus vor allem die Bedeutung der Sozialwissenschaften hervorgehoben und für seine Untersuchungen fruchtbar gemacht 18. Den umgreifenden Rahmen aber bilden die Wissenschaften vom Menschen, die Braudel in einer Krise sieht. Denn sie werden gewissermaßen von ihren eigenen Fortschritten erdrückt, von der Anhäufung neuer Erkenntnisse und der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit, die erst noch vernünftig organisiert werden müsse. Auch hierbei gebe es unterschiedliche Geschwindigkeiten, doch alle Disziplinen seien gleichermaßen durch die agileren unter ihnen betroffen und befänden sich zugleich in einer Auseinandersetzung mit den beharrenden 19. IV. Zu diesem spannungsreichen Bild, das in der Tat nichts an Aktualität verloren hat, wenn auch einige Parameter sich verschoben haben und neue Herausforderungen zu konstatieren sind, hofft der vorliegende Band einen hinreichend lebendigen Beitrag zu leisten. Dies geschieht in sechs Themenfeldern, die unterschiedliche methodische Zugänge eröffnen. 1. Am Anfang steht die Auseinandersetzung mit den historiographischen Konstruktionen und Rekonstruktionen des Mittelalters, mit seiner Dauer, die auf bemerkenswerte Weise von der Einstellung zum Mittelalter und den damit einhergehenden Epochenmodellen abhängt. Hierbei kommt dem Christentum - sowohl in räumlicher wie in zeitlicher Hinsicht - eine wichtige Rolle zu, auch in der poetologischen Persistenz zentraler Leitideen. Es fällt zudem auf, in welchem Maße die Fortdauer des Mittelalters zur Selbstdefinition der jeweiligen Gegenwart gehört und in Form einer Gedächtnisgeschichte präsent gehalten wird. Allein in dieser Konstruktion hat das Mittelalter seine Realität.
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Insbesondere verweist Braudel auf die ,anthropologie structurale‘ von Claude Le´vi-Strauss; siehe Braudel, Die lange Dauer (nt. 1), 49 sqq. und 68-80, zur Bedeutung der Soziologie, ibid., 80-87. Siehe ferner F. Braudel, Geschichte und Soziologie, in: id., Schriften zur Geschichte, vol. 1 (nt. 1), 99-121. Braudel, Die lange Dauer (nt. 1), 49. Vgl. hierzu auch F. Braudel, Einheit und Verschiedenheit der Wissenschaften vom Menschen, in: id., Schriften zur Geschichte, vol. 1 (nt. 1), 88-98.
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Andreas Speer
2. Die enge Verbindung von Sein und Dauer eröffnet den Blick auf die Ontologie und Semantik der Dauer in den scholastischen Debatten und ihrer ,longue dure´e‘. Diese Debatten spielen sich vor allem in verschiedenen Bereichen der Logik, der spekulativen Grammatik sowie der Metaphysik und Naturphilosophie ab. Hierbei ist eine Verschiebung unserer Fragestellung festzustellen: vom Sein der Dauer zur Dauer des Seienden. Es ist nicht zuletzt die semantische Analyse, die den Ausgangspunkt für die systematischen Fragestellungen der Dauer des Seienden, des Augenblicks und der Vergangenheit bildet. 3. Von hier aus ist der Blick auf die kosmologischen Entwürfe von Zeit und Dauer naheliegend. Doch die kosmologische Leitthematik eröffnet zwei unterschiedliche systematische Perspektiven: eine mathematisch-physikalische und eine kosmologisch-heilsgeschichtliche Lesart. Beide Lektüren stehen jedoch nicht im Widerspruch zueinander, sondern befruchten einander auch dann, wenn sie nicht affirmativ aufeinander bezogen sind, sondern unterschiedliche Leserichtungen markieren. 4. Die eschatologische Perspektive geht einher mit der Vorstellung übernatürlicher Dauer. Diese spezifische Aktzentuierung hat auch Auswirkungen auf das Verständnis von Kontinuität und Identität, sofern dieses Dauer, Dauerhaftigkeit und Fortdauer impliziert. Dies zeigt sich in Kontexten von Schuld und Sühne und in eschatologischer Perspektive ebenso wie in der Frage der politischen und moralischen Verantwortung. Wie lange gilt ein Versprechen? Was begründet - im Moment einer Entscheidung und darüber hinaus - die moralische Verantwortlichkeit für mein Handeln - möglicherweise über mein diesseitiges Leben hinaus - und wie lange dauert diese Verantwortung? 5. Einen phänomenologisch breiten Raum nehmen historische Konzeptionen und historiographische Konzepte von Dauer ein, am Beispiel der Herrschaftslegitimation, aber auch im gelehrten juristischen und sprachphilosophischen Diskurs. Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei den Konstruktionen von Dauer als Instrument der Herrschaft. Dies zeigt sich insbesondere mit Bezug auf die Kontinuität und Genealogie von Herrschaft sowie im Widerstreit von Reform und Beharrung. 6. Den Abschluß der sechs Themenfelder bilden poetologische und ästhetische Konzeptionen von Zeit und Dauer in Literatur, Musik und bildender Kunst. Hier nun weitet sich die Kategorie der Dauer in den Bereich des Fiktionalen und Gleichnishaften, der poetologischen Reflexion, der dichterischen und piktoralen Darstellung. * * * * * Diese Varianz und Bandbreite der Themen, Fragestellungen und methodischen Zugänge zeigt die Möglichkeit der Öffnung des Konzepts der ,longue
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dure´e‘, von der im Verlauf dieser einführenden Überlegungen die Rede war. Hierbei ist die Kategorie der Dauer - wie dies so oft geschieht - der Ausgangsintuition Fernand Braudels entwachsen, eine gleichsam unbewegte Geschichte vorzuführen. Doch diese Erweiterung zur Frage nach dem Sein der Dauer in seinen verschiedenen Präsenzformen war bereits bei Braudel selbst angelegt und in den Horizont der umgreifenden Frage nach den Wissenschaften vom Menschen gestellt worden und ihrer Krise, die aus ihren Fortschritten und der unterschiedlichen Agilität der Agenten folgt. Doch sieht Braudel in dieser Krise zugleich eine Chance, indem er sie als Agon, als Wettstreit über die Grenzen zu den Nachbarwissenschaften, aber auch über die eigenen Grenzen und über mögliche Grenzüberschreitungen begreift. Denn „hinter diesen Streitigkeiten und Weigerungen verbirgt sich auch ein Interesse. Der Wunsch, sich gegen die anderen zu behaupten, bedeutet notwendig auch aufkeimende Neugier“ 20. Ein solches Interesse, eine derartige Neugier leiten auch diesen Band: das Interesse am Sein der Dauer.
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Braudel, Die lange Dauer (nt. 1), 50.
I. Das Mittelalter: Historiographische (Re-)Konstruktionen
Die Dauer des Mittelalters Otto Gerhard Oexle (Göttingen) I. Im August 2006 brachte der ,Spiegel‘ eine Titelgeschichte über „Der Deutschen Reich“ mit dem Untertitel „Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation: gegründet 962 - untergegangen 1806“ und dazu ein famoses Titelbild mit den mittelalterlichen Reichsinsignien im Vordergrund und, als Hintergrund, eine Collage realer und fiktiver Portraits vorwiegend mittelalterlicher Herrscher 1. Ist dies die Dauer des Mittelalters, - in Entsprechung etwa zu dem, was der franzöˆ ge“ nennt, „le Moyen A ˆ ge sische Mediävist Jacques Le Goff „le long Moyen A profond“ 2, das in der Spätantike, im zweiten oder dritten Jahrhundert einsetzt und mit dem Beginn der Moderne, mit Aufklärung, Revolution und Industrialisierung endet? Aber was ,ist‘ überhaupt das ,Mittelalter‘? Ist das Mittelalter ein ,Ding‘, über dessen ,Wesen‘ gestritten werden kann, wie der Artikel ,Mittelalter‘ im ,Lexikon des Mittelalters‘ referiert 3? Dahingehend, daß sich zum Beispiel im Hinblick auf die Dauer des Mittelalters „unterschiedliche Stichjahre“ - so lesen wir da - ergeben, „je nachdem, wie man das Wesen des Mittelalters bestimmt“: wenn man die „ungeteilte Christlichkeit“ des Okzidents als bestimmenden Faktor wähle, so drängten sich die sogenannte Konstantinische Wende und das Reformationsjahr 1517 als Begrenzungen auf; wenn man politische Ordnungen zugrundelege, dann ergebe sich das Ende des 1
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Der Spiegel, n. 32 vom 7. August 2006. Zum folgenden bereits O. G. Oexle, Mittelalterforschung in der sich ständig wandelnden Moderne, in: H.-W. Goetz/J. Jarnut (eds.), Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung (Mittelalterstudien 1), München 2003, 227-252, und die unten, nt. 41, genannten Titel. ˆ ge. Temps, travail et culture en Occident. 18 Essais, Paris Cf. J. Le Goff, Pour un autre Moyen A ˆ ge?, Paris 2003; id., Un long Moyen A ˆ ge, Paris 1977, 10 sq.; id., L’Europe est-elle ne´e au Moyen A 2004. Zu den neueren Debatten über ,Mittelalter‘: P. von Moos, Gefahren des Mittelalterbegriffs. Diagnostische und präventive Aspekte, in: J. Heinzle (ed.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Leipzig 1994, 33-63. E. Pitz, Art. ,Mittelalter‘, in: Lexikon des Mittelalters, vol. 6, München-Zürich 1993, coll. 684687. Hier auch die folgenden Zitate.
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weströmischen Kaisertums 476 und der Feldzug König Karls VIII. von Frankreich nach Italien 1494 als Begrenzung; wenn man die „geschlossene kontinentale Gemeinschaft der romanisch-germanischen Völker“ als „Wesen des Mittelalters“ bestimme, dann beginne das Mittelalter in den Jahren um 635/650, „in denen die Araber das Mittelmeer zur Grenze Europas machten, als Ende aber die Entdeckung Amerikas im Jahr 1492“. Und wenn man, mit dem protestantischen Kirchenhistoriker Ernst Troeltsch, den mittelalterlichen Charakter von Luthers und Calvins „Altprotestantismus“ akzentuiere, so zeichne sich für das Ende des Mittelalters der Übergangszeitraum vom 14. bis zum 17. Jahrhundert ab. Und so weiter. II. Aber gibt es überhaupt ein ,Wesen‘ des Mittelalters? Mit dieser Frage kommt - ob wir das wollen oder nicht - die Philosophie ins Spiel. Denn hier geht es um die Frage, welche Beschaffenheit ein Gegenstand der geschichtswissenschaftlichen, ja, der wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt hat. Historiker freilich sind sich über die Beschaffenheit der Gegenstände ihrer Erkenntnis oft in erstaunlicher Weise im unklaren. Eine außerordentlich große Rolle spielt dabei noch immer die Erinnerung an einen Historiker des 19. Jahrhunderts, der in relativ jungen Jahren in einem Frühwerk das ,Sagen, wie es eigentlich gewesen‘ als Ziel der historischen Erkenntnis bezeichnet hat. Da dieses ,Sagen, wie es eigentlich gewesen‘ auch der Alltagsauffassung von wissenschaftlicher Erkenntnis entspricht, ist diese Position unter Historikern auch heute noch immer sehr verbreitet. Denn sie ergibt sich gewissermaßen von selbst und scheint, in angenehmster Weise, keiner besonderen Begründung zu bedürfen. Oder, mit den jüngst geäußerten Worten eines prominenten deutschen Mittelalterhistorikers: es gebe doch einfach die historischen Tatsachen, und zwar gebe es sie ganz ,unabhängig vom Beobachter‘ 4. Wenn dem so wäre, dann wäre ,Geschichte‘ tatsächlich ein ,Ding‘, das als Gesamtheit der Tatsachen der Vergangenheit Zug um Zug bekannt gemacht wird, im Aufbau aus den Stück um Stück und immer besser erkannten Teilen zum Ganzen 5. Auch die radikale Gegenposition zu einer solchen Auffassung kennen wir: es ist dies der Fiktionalismus, der im Zeichen der sogenannten Postmoderne 4
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Cf. W. Paravicini, Zwischen Bewunderung und Verachtung. Französische und deutsche Mediävistik seit dem letzten Kriege, in: P. Moraw/R. Schieffer (eds.), Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen 62), Ostfildern 2005, 193, nt. 110. Cf. O. G. Oexle, ,Der Teil und das Ganze‘ als Problem geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis. Ein historisch-typologischer Versuch, in: id., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 116), Göttingen 1996, 216-240, 226.
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Verbreitung fand und noch immer findet. Wenn es mit dem ,Sagen, wie es eigentlich gewesen‘ nicht recht funktioniert, dann sei - so meinen andere alle Erkenntnis nur eine Fiktion. Der Historiker sei dann, so wird gesagt - ich zitiere einen bekannten Rechtshistoriker unserer Tage -, „nur eine gelehrte und sich auf ältere Texte und Zeichen stützende Spezies der Gattung ,Dichter/ Schriftsteller‘ “, und hinter den sogenannten ,Tatsachen‘ stecke dann „nichts anderes […] als sprachliche Botschaften, denen gegenwärtig aus pragmatischen Gründen allgemein Glauben geschenkt wird“ 6, - heute so und morgen wieder anders. Aber, so eine weitere Position, die in unseren Tagen vehement und wiederum von einem prominenten Mediävisten vertreten wird: Zum Glück gebe es noch die Neurowissenschaften und die Hirnforschung. Und mit der Hilfe der neurowissenschaftlichen Hirnforschung werde es auch den Historikern noch gelingen, „die Wahrheit zu erkennen, nämlich [zu erkennen], was eigentlich gewesen“ 7. Es ist das Elend solcher Diskussionen, daß die hier vertretenen Positionen nicht auf soliden Kenntnissen der Theorie der historischen Erkenntnis beruhen; und außerdem fehlt die Einsicht in den Sachverhalt, daß diese Auseinandersetzungen durch und durch historisch bedingt und historisch vermittelt sind, daß hier über Positionen gestritten wird, die tief aus dem 19. Jahrhundert kommen. Man kann diese Kontroversen von heute deshalb besser beurteilen, wenn man einen Schritt zurücktritt und sich die historische Gewordenheit dieser Auseinandersetzungen vor Augen führt 8. Man sieht dann nämlich deutlich, was diese Positionen leisten - und mehr noch, was sie nicht leisten und auch gar nicht leisten können. Ich lasse die Verknüpfung ,fiktionalistischer‘ Positionen von heute mit den Angriffen Friedrich Nietzsches gegen die Rankeaner wie gegen die szientistische Naturwissenschaft seiner Zeit 9 beiseite und ebenso die Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts und die von heute über den naturwissenschaftlichen Szientismus 10. 6
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M. Stolleis, Rechtsgeschichte als Kunstprodukt. Zur Entbehrlichkeit von ,Begriff‘ und ,Tatsache‘, Baden-Baden 1997, 16, 27. Zu diesen Kontroversen: O. G. Oexle, Im Archiv der Fiktionen, in: R. M. Kiesow/D. Simon (eds.), Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt-New York 2000, 87-103. J. Fried, Geschichte und Gehirn. Irritationen der Geschichtswissenschaft durch Gedächtniskritik, in: Ch. Geyer (ed.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt a. M. 2004, 111-133, das Zitat hier 112. Cf. id., Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004. Cf. O. G. Oexle, Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft. Momente einer Problemgeschichte, in: id. (ed.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit Gegensatz - Komplementarität? (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 6), Göttingen 1998, 99-151. Ibid., 124 sqq. Ibid., 111 sqq.; O. G. Oexle, Als ein Nachwort: Die Komplementarität des Wissens und der Wissenschaften, in: S. Schweizer/J. Stabenow (eds.), Bauen als Kunst und historische Praxis. Architektur und Stadtraum im Gespräch zwischen Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaft, vol. 2 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 26, 2), Göttingen 2006, 493-524, hier 503 sqq.
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Hier nur einige Bemerkungen über das ,Sagen, wie es eigentlich gewesen‘. Die populäre Devise stammt bekanntlich von Leopold von Ranke, aus dem Jahr 1824 11. Begründet war sie auf dem bald danach, in Rankes Berliner Antrittsvorlesung von 1836, explizit erhobenen Anspruch, daß das Wissen der Historiker „gleichsam ein Teil des göttlichen Wissens“ ist und daß die Historiker „eben nach diesem [Wissen] […] mit Hülfe der Geschichte vorzudringen [suchen]“ 12. Das ist nichts anderes als die Begründung von wissenschaftlichem Wissen durch einen ,metaphysischen, objektiven Idealismus‘ 13, in diesem Fall gegründet auf die Überzeugungen eines gläubigen Protestanten des frühen 19. Jahrhunderts, der durch seinen Glauben die ,Ideen Gottes‘ kennt und sie deshalb in der Geschichte wiederfindet 14. Es ist dies ein sehr altes Modell der Begründung von Erkenntnis als Ideenerkenntnis und als Wesenserkenntnis. Daß die Begründung von Wissenschaft auf einem solchen Wege nicht möglich ist, hat freilich schon der spätmittelalterliche Nominalismus eines Wilhelm von Ockham erwiesen 15; den Rankeanern und Neo-Rankeanern des 19. Jahrhunderts und denen von heute ist das freilich offenbar nie klar geworden. Dieser Art der Begründung von wahrer Erkenntnis (,wie es eigentlich gewesen‘) korrespondiert konsequent Rankes Wunsch, den er in einem ebenso berühmten Diktum von 1860 aussprach: „Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen“ 16. Das ,Sagen, wie es eigentlich gewesen‘ und das ,Auslöschen des Selbst‘ in der Erkenntnis entsprechen sich ganz und gar. Auf der anderen Seite steht freilich nicht der fragwürdige Szientismus und der absurde Fiktionalismus von heute, sondern Rankes Antipode von damals, und das ist der Historiker Johann Gustav Droysen, der Verfasser der ersten systematischen Theorie der historischen Erkenntnis (,Historik‘) 17, in seiner Epi11
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Der Text findet sich bei: W. Hardtwig (ed.), Über das Studium der Geschichte, München 1990, 45. Zitiert nach Hardtwig, Über das Studium der Geschichte (nt. 11), 52. So J. Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (Münchener Universitätsschriften. Juristische Fakultät. Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 58), Ebelsbach 1984, 240. Cf. die Äußerungen Rankes in seinem ,Politischen Gespräch‘ von 1836 über die Staaten als geistige ,Wesenheiten‘ und ,Gedanken Gottes‘. Leopold von Ranke, Die großen Mächte. Politisches Gespräch, herausgeg., komm. und mit einem Nachwort vers. von U. Muhlack, Frankfurt a. M.-Leipzig 1995, 95 et passim. Cf. dazu G. Mensching, Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter, Stuttgart 1992; J. Goldstein, Nominalismus und Moderne. Zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham, FreiburgMünchen 1998. Cf. auch D. Perler, Zweifel und Gewißheit. Skeptische Debatten im Mittelalter (Philosophische Abhandlungen 92), Frankfurt a. M. 2006. L. von Ranke, Englische Geschichte, vol. 2, 1860, zitiert nach: Sämtliche Werke, Zweite Gesamtausgabe, vol. 15, Leipzig 1877, 103. J. G. Droysen, Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/58) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). Die Texte sind gesammelt in: J. G. Droysen, Historik, Textausgabe
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stemologie ein genuiner Kantianer, wie er selbst von sich sagte. Bei Droysen finden wir - in beiden Hinsichten - die entgegengesetzten Auffassungen, nämlich: „daß die Tatsachen überhaupt nicht sprechen außer durch den Mund dessen, der sie aufgefaßt und verstanden hat, [und] daß die Tatsachen gar nicht als solche vorliegen, sondern entweder in Überresten, in denen wir sie als die bewirkenden Ursachen wiedererkennen, oder in der Form von Erinnerungen, d. h. Auffassungen, die ja schon die subjektiven Momente, die man dem Historiker verbietet, in hohem Maß an sich tragen.“ 18
Dies hat Droysen in seiner ,Historik‘ philosophisch und epistemologisch vollkommen richtig feststellt. Daraus ergibt sich dann eine Konsequenz, die Rankes Maxime vom Auslöschen des ,Selbst‘ des Historikers ebenso kontradiktorisch entgegengesetzt ist, nämlich, so Droysen schon 1857: „Die historische Forschung setzt die Reflexion voraus, daß auch der Inhalt unseres Ich ein vermittelter, gewordener, ein historisches Resultat ist.“ 19 Ich werde darauf zurückkommen. Diese Aussage ist um so bemerkenswerter, als nicht Ranke, sondern vielmehr Droysen es war, der als erster die historische Erkenntnis, der als erster die ,Wissenschaft der Geschichte‘ als eine empirische Wissenschaft, nämlich als „das Ergebnis empirischen Wahrnehmens, Erfahrens und Forschens“ 20 und somit auch als Forschung definiert hat. Gegenstand dieser empirischen Arbeit ist allerdings - wie Droysen betont - nicht ,die Vergangenheit‘ (die ja vergangen ist), sondern vielmehr das historische Material. Historische Erkenntnis ist demnach also nicht eine Abbildung vergangener Wirklichkeit, irgendeiner ,Vergangenheit‘, ist nicht eine Erkenntnis, ,wie es eigentlich gewesen‘, historische Erkenntnis ist vielmehr ein Konstrukt, freilich (wie man sogleich hinzufügen muß) kein willkürliches, sondern ein empirisches, ein durch empirische Forschung am historischen Material gewonnenes. Der in den aktuellen Debatten deutscher Historiker, und auch der Mediävisten, beliebte Kontrast von ,wie es eigentlich gewesen‘ einerseits (sei es durch einen ,metaphysischen Idealismus‘ im Sinn von Ranke oder mit Hilfe der Hirnforschung) und einem desperaten Fiktionalismus andererseits ist also hier bereits mit einer dritten, vom Kritizismus eines Immanuel Kant bestimmten Position beiseitegelegt, wobei schon Droysen seine Position in der Auseinandersetzung nicht nur mit Ranke, sondern auch mit dem naturwissenschaftlichen Szientismus seiner Zeit (bei Rudolf von Virchow, bei Hermann von Helmholtz) 21 entwickelt hat, - ein
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von P. Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977. Dazu U. Barrelmeyer, Geschichtliche Wirklichkeit als Problem. Untersuchungen zu geschichtstheoretischen Begründungen historischen Wissens bei Johann Gustav Droysen, Georg Simmel und Max Weber (Beiträge zur Geschichte der Soziologie 9), Münster 1997, 32 sqq.; Oexle, Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft (nt. 8), 114 sqq. J. G. Droysen, Historik (nt. 17), 218. Ibid., 425. Ibid., 421. Cf. Oexle, Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft (nt. 8), 107 sqq.
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Szientismus, wie er uns heute in Gestalt der übergriffigen, epistemologisch im Blick auf ihre Ansprüche oft jedoch nur unzureichend begründeten Hirnforschung und Neurowissenschaft erneut entgegentritt. Was also ist historisches Wissen, wenn es weder Abbildung vergangener Wirklichkeit noch bloße Fiktion ist? Es ist, wie Droysen sagt, eine ,Repräsentation‘ der vergangenen Wirklichkeit 22. III. Aber wie steht es mit der Dauer des Mittelalters? Es irritiert mich immer wieder aufs neue, zu sehen, daß eine der wichtigsten und schon seit zwei Jahrzehnten vorliegenden Reflexionen zur Mittelalterwissenschaft, die allerdings von einem Neuzeithistoriker stammt, wohl eben deshalb von Mediävisten bisher überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden ist. Ich meine den Essay mit dem Titel ,Moderne Sozialgeschichte und historische Zeiten‘, den Reinhart Koselleck vor genau zwanzig Jahren veröffentlicht hat 23. Koselleck stellte hier die Frage, wie ein ,spezifisch historisches Zeitverständnis‘ in der Neuzeit entstehen konnte, wie es möglich war, ,Geschichte‘ nicht nach naturalen, nach metaphysischen und religiösen Vorgaben, sondern immanent, also ,aus dem Verlauf der Geschichte selber‘ abzuleiten. Ein ,erster Schritt‘, den man in dieser Richtung unternahm, erfolgte im 18. Jahrhundert, nämlich „aus den historischen Ereignissen selbst so etwas wie eine geschichtsimmanente Gliederung zu gewinnen“. Und dieser erste Schritt war ,die Erfindung des Mittelalters‘. Seit dem 18. Jahrhundert hat sich dieser ,erste Schritt‘ wirklich ,eingebürgert‘, das heißt, ist das ,Mittelalter‘ als ,Periodenbegriff‘ Wirklichkeit geworden. Darauf folgte dann im 19. Jahrhundert die ,Renaissance‘ als ,Nachfolgebegriff‘. Die ,Erfindung des Mittelalters‘ war erst im 18. Jahrhundert, in der Aufklärung überhaupt möglich, eben weil es das Programm der Aufklärung war, „die geschichtliche Zeit nach Kriterien zu ordnen, die sich erst aus der Erkenntnis der Geschichte selbst ableiten ließen“. Es waren zwei zentrale Zeitkategorien, so erläutert Koselleck weiter, die hier eine Rolle spielten: der Begriff der ,neuen Zeit‘ und der Begriff des ,Fortschritts‘. Die ,neue Zeit‘ war eine unmittelbare Erfahrung der Aufklärung. Und: „Die neue Zeit war identisch mit dem Fortschritt. Denn der Fortschritt ist es, der die Differenz zwischen der bisherigen Vergangenheit und der kommenden Zukunft auf einen einzigen Begriff gebracht hat.“ Mit anderen Worten: „Fortschritt ist die erste genuin geschichtliche Zeitbestimmung, die ihren Sinn nicht mehr aus 22 23
Cf. Oexle, Im Archiv der Fiktionen (nt. 6), 94 sq. R. Koselleck, Moderne Sozialgeschichte und historische Zeiten, in: P. Rossi (ed.), Theorie der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1987, 173-190. Die folgenden Zitate hier 177 sqq.
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anderen Erfahrungsbereichen, etwa der Theologie oder des mythischen Vorwissens bezogen hat. Fortschritt wurde vielmehr erst entdeckbar, als man daran ging, geschichtliche Zeit selbst zu reflektieren.“ ,Fortschritt‘ ist ein ,reflexiver Begriff‘, und das heißt: „Fortschritt kann sich nur ereignen, wenn die Menschen darauf bedacht sind, ihn auch zu wollen und zu planen.“ Und: eben mit der Entdeckung des Fortschritts ist verbunden ,die Entdeckung der geschichtlichen Welt‘. „Die historische und die fortschrittliche Weltsicht“ - so Koselleck „sind gemeinsamen Ursprungs. Sie ergänzen einander wie ein Janusgesicht.“ Noch einmal, mit anderen, aber immer noch mit Kosellecks Worten: „Die Geschichte als moderne Wissenschaft entsteht dort, wo der Traditionsbruch Vergangenheit und Zukunft qualitativ auseinandergelegt hat.“ Seitdem wird es nötig, „eigene Methoden zu entwickeln, die uns die Andersartigkeit der Vergangenheit erkennen lehren“. Und mehr noch: „Seitdem ist es möglich, daß sich die Wahrheit der Geschichte mit sich ändernder Zeit selber ändert, daß historische Wahrheit jeweils überholbar ist. Seitdem gehört es zur historischen Methode, einen Standpunkt definieren zu müssen, von dem aus Urteile gefällt werden können. Seitdem ist nicht mehr der Augenzeuge der authentische Kronzeuge eines Ereignisses, sondern er wird hinterfragt aus der jeweils fortgeschrittenen Perspektive, in die die Vergangenheit getaucht wird. Seitdem schließlich ist das Axiom der Einmaligkeit aller Geschichte und ihrer Individualität erst denkbar geworden.“
Man kann dies die ,Verzeitlichung der Geschichte‘ nennen, die die Grundlage von moderner Geschichte und zugleich die Voraussetzung von Geschichte als Wissenschaft geworden ist. Dies also ist der konstitutive Hintergrund für die Erfindung des Mittelalters. Oder, anders gesagt: die Erfindung des Mittelalters ist das Medium, in dem sich die Erfahrung der Modernität und zugleich die Entstehung einer modernen Wissenschaft von der Geschichte vollzogen hat. Mancher wird nun fragen: Wo bleibt denn da der traditionellerweise akzentuierte Zusammenhang von Renaissancebewußtsein und Mittelalterkonzeption, wo bleibt der Begriff der media aetas, des medium aevum in seiner Bedeutung bei den Humanisten 24? Dies wird durch Kosellecks Überlegungen nicht weggenommen, - aber es verliert erheblich an Bedeutung. Entscheidend wird jetzt die geschichtsphilosophische Aufladung des Mittelalterbegriffs im 18. Jahrhundert und deren Bedingung: die Verknüpfung mit den Schlüsselbegriffen von ,neuer Zeit‘ und ,Fortschritt‘ - und damit die enge konstitutive Verknüpfung von ,Mittelalter‘ und ,Moderne‘, und zugleich mit der Genese von ,Geschichte‘ als Wissenschaft.
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Cf. dazu J. Voss, Das Mittelalter im historischen Denken Frankreichs. Untersuchungen zur Geschichte des Mittelalterbegriffes und der Mittelalterbewertung von der zweiten Hälfte des 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Universität Mannheim 3), München 1972.
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IV. Was bedeutet das für unser Thema, die Frage nach der Dauer des Mittelalters? (1) Erstens: Der konstitutive Zusammenhang von Moderne und Mittelalter, von Mittelalter und Moderne läßt sich aus der Sicht der Geschichte der historischen Erkenntnis im wissenschaftlichen Sinne gut belegen. Es ist das 18. Jahrhundert, in dem Geschichte als Wissenschaft sich zu entfalten beginnt. Zum Beispiel bei Montesquieu 25, der in seinem Buch über den ,Geist der Gesetze‘ (,De l’esprit des lois‘, 1748) über die Genese des Feudalismus reflektiert und zwar in einer neuen Form der empirischen Bearbeitung von historischem Material, das in der Vielfalt seiner Gattungsformen hier erstmals eine umfassende Berücksichtigung findet: in der Benutzung nicht nur von Annalen, Chroniken und Biographien, sondern auch von Kapitularien, Volksrechten und sogar von Hagiographie. Und mehr noch: In der Einleitung zu ,De l’esprit des lois‘ hat Montesquieu sein Verfahren der Gewinnung historischer Erkenntnis selbst ausführlich beschrieben. Montesquieu bezieht dabei Position in dem bis heute fundamentalen Wissenschaftsstreit der Frühmoderne, nämlich dem Streit zwischen Empiristen und Rationalisten 26. Da geht es um die Frage, ob Erkenntnis unmittelbar durch die Sinnenerfahrung und allein dadurch konstituiert wird (so die empiristische These, zum Beispiel bei John Locke) oder ob es Bedingungen empirischer Erkenntnis gibt, die selbst nicht empirisch sind (so die rationalistische Position, zum Beispiel bei Pascal 27, Leibniz 28 und Kant 29). Auch Montesquieu gibt sich in seinem Buch als ein Vertreter ,rationalistischer‘ Positionen zu erkennen. Das Verfahren der historischen Erkenntnis ist, so erläutert er, ein ständiges Hin- und Herschreiten des erkennenden Geistes zwischen seinen Entwürfen und der Überprüfung dieser Entwürfe am Material. Es geht also um eine durch Material gestützte und anhand des Materials fortschreitende Hypothesenerkenntnis, die jedoch niemals an ein Ende kommt. Immer wieder weist Montesquieu auf das Hin und Her des Denkens zwischen seinen Entwürfen und deren Überprüfung hin, ein Prozeß intellektueller Arbeit, den Montesquieu, wie er rückblickend schreibt, im Fall seines Buches zwanzig Jahre an25 26
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Zum folgenden Oexle, Der Teil und das Ganze (nt. 5), 234 sqq. Cf. G. Gawlick (ed.), Empirismus (Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung 4), Stuttgart 1985; R. Specht (ed.), Rationalismus (Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung 5), Stuttgart 1984. Cf. O. G. Oexle, Christina von Schweden, der Grand Conde´ und die Revolution der Wissenschaft im 17. Jahrhundert, in: G. Stedman/M. Zimmermann (eds.), Höfe - Salons - Akademien. Kulturtransfer und Gender im Europa der Frühen Neuzeit, Hildesheim 2007, 145-186. G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Nouveaux essais sur l’entendement humain, herausgeg. und übers. von W. von Engelhardt und H. H. Holz, vol. 1, Frankfurt a. M. 1961, 99 sq., 102 sq.: „Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, excipe: nisi intellectus ipse.“ Cf. O. Höffe, Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 2003; V. Gerhardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002.
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dauern ließ. Dann mußte er abgebrochen werden, - wenn das Buch über den Geist der Gesetze noch veröffentlicht werden sollte. Man könnte einen ähnlichen Durchbruch der historischen Erkenntnis auch bei den Göttinger Historikern der Aufklärung finden, worauf ich hier nicht näher eingehen kann. Nur auf Arnold Heeren sei hingewiesen 30, den letzten der Göttinger Historiker der Aufklärung, und die Art seiner Darstellung von Geschichte, zum Beispiel in seinem ,Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems‘ von 1809. Heeren verzichtet hier auf eine durchlaufende, narrative Darstellung des Themas (etwa in dem von Ranke anderthalb Jahrzehnte danach gewählten Vorgehen). Statt dessen gibt Heeren, Kapitel für Kapitel, Hinweise zu den Quellen und Quellensammlungen, jeweils geordnet nach Gattungen, sowie zu historischen Darstellungen, also zu dem, was wir die Sekundärliteratur nennen. Darauf folgen, als eigentlicher Text, fortlaufend numerierte knappe Skizzierungen des Gegenstands- und Problemfeldes, um das es jeweils geht. Dies ist eine Art der historischen Darstellung, die dem Entwurfscharakter und der Fragmentarität historischer Erkenntnis (und überhaupt wissenschaftlicher Erkenntnis) vollkommen entspricht und die dem heutigen Leser außerordentlich modern erscheint. Denn danach folgt dann bei Heeren gewissermaßen eine leere Seite und auf dieser steht oben ,Sapere aude‘, der Wahlspruch der Aufklärung 31. Das heißt: Geneigter Leser, nun mache dich selbst an die Arbeit, fange an, selbst zu denken - mit den Mitteln, die dir hier an die Hand gegeben wurden. Freilich wurde diese Art der Konzipierung von Geschichte in der Folge verdrängt durch die ganz anders geartete Geschichtsschreibung Rankes. Denn bei Ranke treffen wir dann den allwissenden Geschichtserzähler, der - gestützt auf sein Wissen von den Ideen Gottes - den Leser an die Hand nimmt und ihm zeigt, ,wie es eigentlich gewesen‘, übrigens auf der Grundlage einer bemerkenswerten Reduzierung des Quellenmaterials 32, nämlich in der Reduzierung auf erzählende Quellen. Von der empirischen Breite des Materials, mit dem ein Montesquieu arbeitete - und übrigens auch die Göttinger Historiker des 18. Jahrhunderts - ist Ranke weit entfernt. (2) Zweitens: Historische Epochen sind also nicht ,Dinge‘ aus der Vergangenheit. Aber wenn sie keine solchen ,Dinge‘ sind, so sind sie deswegen doch keine Fiktionen. Epochen wie ,Antike‘, ,Mittelalter‘, ,Renaissance‘, ,Reformation‘, ,Frühe Neuzeit‘ usw. sind empirisch entstandene, also auf historisches Material gestützte Denkstrukturen. Sie sind Zuschreibungen, ,Sinnformationen‘, mit denen - so haben jüngst die beiden Kunsthistoriker Bernd Carque´ und Stefan 30
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Zum folgenden O. G. Oexle, Aufklärung und Historismus. Zur Geschichtswissenschaft in Göttingen um 1800, in: A. Middeldorf-Kosegarten (ed.), Johann Dominicus Fiorillo. Kunstgeschichte und die romantische Bewegung um 1800, Göttingen 1997, 28-56, hier 46 sq. Cf. I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1783), in: id., Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, ed. J. Zehbe, Göttingen 1967, 55. O. G. Oexle, Was ist eine historische Quelle?, in: Die Musikforschung 57 (2004), 332-350, 335 f.
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Schweizer formuliert - „die geschichtliche Zeit zu mentalen Bildern gedeuteter Geschichte“ geordnet und als solche vermittelt wird 33. Gerade dies aber wird in der Praxis der Historiker meist anders gehandhabt. Am Beispiel ,Mittelalter‘ und den Debatten über dessen ,Wesen‘ haben wir das bereits gesehen, am Beispiel ,Renaissance‘ ließe sich das ebenso demonstrieren 34. (3) Drittens, und das ist entscheidend: Von allen diesen Epochenimaginationen kommt derjenigen vom ,Mittelalter‘ eine in singulärer Weise zentrale Bedeutung zu 35. Das liegt an der soeben mit Hilfe der Überlegungen von Reinhart Koselleck skizzierten wechselseitigen Verschränkung von Mittelalter und Moderne: Die Moderne konstituiert das Mittelalter, das Mittelalter ist aber auch immer wieder aufs neue das Phänomen, das Medium, in dem die Moderne als ,die Moderne‘ definiert wird. Die Frage nach der Dauer des Mittelalters läßt sich also dahingehend beantworten, daß es ein Mittelalter gibt, solange es eine Moderne geben wird. V. Ich möchte an dieser Stelle zwei Klärungen treffen. Zum einen geht es hier nicht bloß um ,Rezeption‘, also nicht um die schon längst und vielseitig betriebene ,Mittelalter-Rezeption‘ 36, nicht bloß um das, was die Franzosen ,Le Moyen ˆ ge apre`s le Moyen A ˆ ge‘ nennen. Und zwar deshalb nicht, weil der Begriff A der Rezeption genau jene Vorstellung der Dinglichkeit eines Rezeptionsinhalts impliziert, der hier ausgeschlossen sein soll. In einem solchen Sinne sprechen wir nämlich vom Römischen Recht und von der Rechtsrezeption des 11. und 12. Jahrhunderts, sprechen wir von Aristoteles und von der Aristotelesrezeption der Scholastik. Aber gerade diese Vorstellung ist dem Thema ,Die Moderne und ihr Mittelalter‘ 37 nicht angemessen. 33
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B. Carque´/S. Schweizer, Epochenimaginationen - Bilder gedeuteter Geschichte, in: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft 2002, 747-752. Cf. U. Muhlack, Mittelalter und Humanismus - Eine Epochengrenze, in: B. Schlieben e. a. (eds.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004, 51-74. Dazu bereits O. G. Oexle, Bilder gedeuteter Geschichte. Eine Einführung, in: id./A. Petneki/ L. Zygner (eds.), Bilder gedeuteter Geschichte. Das Mittelalter in der Kunst und Architektur der Moderne, 2 voll. (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 23), Göttingen 2004, hier vol. 1, 9-30. Über die Epochenimaginationen von ,Antike‘: E. S. Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 18401945, Berlin 2004. Cf. e. g. P. Wapnewski (ed.), Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion (Germanistische Symposien. Berichtsbände 6), Stuttgart 1986; R. R. Grimm (ed.), Mittelalter-Rezeption. Zur Rezeptionsgeschichte der romanischen Literaturen des Mittelalters in der Neuzeit (Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Begleitreihe 2), Heidelberg 1991. Dazu O. G. Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte, in: P. Segl (ed.), Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt, Sigmaringen 1997, 307-364.
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Zum anderen geht es nicht darum, die Mittelalter-Forschung in eine Erforschung von Meinungen über das Mittelalter aufzulösen oder gar das Mittelalter als eine bloße ,Erfindung‘, eine bloße ,Konstruktion‘, einen bloßen ,Mythos‘, gar eine bloße Ideologie zu bezeichnen 38. Es geht vielmehr darum, für die Mittelalterforschung eine zusätzliche Dimension zu gewinnen, nämlich mit der Frage nach den Bedingungen, den historisch-epistemologischen Bedingungen, nach der Tragweite und nach den Grenzen unseres Forschens und Sprechens vom Mittelalter. Es geht um die Ermittlung der Bedingungen jener Sinnzuschreibungen und Deutungen, aus denen die Epochenrepräsentation hervorgeht, die wir ,Mittelalter‘ nennen. Diese zusätzliche Fragestellung kann allerdings nicht ein beliebiges Feierabendvergnügen von ,Mittelalterhistorikern‘ sein, das man wahrnehmen oder auch lassen kann. Sie muß vielmehr ein integrierender Bestandteil aller historischen Forschung über das Mittelalter werden. Davon ist die Mediävistik im ganzen noch weit entfernt, - allerdings in bezeichnenden nationalen Unterschieden, zum Beispiel zwischen französischen und deutschen Mediävisten. Das liegt ohne Zweifel daran, daß französische Historiker in anderen epistemologischen Traditionen stehen als die deutschen, eher in der eines Montesquieu als der eines Ranke. Man kann dies an den Aussagen führender französischer Historiker von heute deutlich erkennen 39. Demzufolge sind auch französische Historiker eher bereit als deutsche, den kulturellen und auch den persönlichen Bedingungen ihrer historischen und auch ihrer Mittelalterforschung nachzugehen und diese offenzulegen, wie wir das in der spezifisch französischen Tradition der sogenannten Ego-Histoire erkennen können 40.
VI. Ich setze meine Überlegungen fort mit einer Erläuterung der These von der Zentralität der Vorstellung vom Mittelalter für die Moderne. Diese These läßt
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ˆ ge‘, in: J. Le Goff/J.-C. Schmitt (eds.), Dictionnaire So Ch. Amalvi in seinem Artikel ,Moyen A ˆ ge raisonne´ de l’Occident me´die´val, Paris 1999, 790-805, mit der These (790): „Le Moyen A n’existe pas. Cette periode […] est une fabrication, une construction, un mythe, c’est-a`-dire un ensemble de repre´sentations et d’images en perpe´tuel mouvement, largement diffuse´es dans la socie´te´, de ge´ne´ration en ge´ne´ration, en particulier dans le cas de la France par les instituteurs, les ,Hussards noirs‘ de la Re´publique, pour donner a` la communaute´ nationale une identite´ culturelle, sociale et politique forte.“ R. Chartier, Au bord de la falaise. L’histoire entre certitudes et inquie´tude, Paris 1998; J. Le ˆ ge, Paris 2003. ` la recherche du Moyen A Goff, A Cf. die beiden Beiträge von G. Duby, Le plaisir de l’historien, und von J. Le Goff, L’appetit de l’histoire, in: P. Nora (ed.), Essais d’ego-histoire, Paris 1987, 109-138, 173-239. Cf. O. G. Oexle, Das Andere, die Unterschiede, das Ganze. Jacques Le Goffs Bild des europäischen Mittelalters, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 17 (1990), 141-158; id., Georges Duby (1919-1996), in: L. Raphael (ed.), Klassiker der Geschichtswissenschaft, vol. 2: Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis, München 2006, 135-149.
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sich in mehreren Hinsichten begründen 41. Zum einen mit der Vielheit der Wissenschaften, die immer wieder auf das Mittelalter verweisen, - auch außerhalb der Geschichtswissenschaft: die Theologien, die Rechtswissenschaft, die Ökonomie, die Soziologie, die Politikwissenschaft. Sie alle arbeiten gerne mit dem Begriff des ,Mittelalters‘, und sei es auch nur, um, im Kontrastverfahren also, mit diesem Begriff die Andersartigkeit der von ihnen hauptsächlich erörterten Gegenstände darzulegen 42. Zum anderen läßt sich die Wichtigkeit der Vorstellung vom Mittelalter für die Moderne nachweisen in der zentralen Bedeutung, die das Imaginarium der Moderne dem Mittelalter auch in der gesamten Lebenswelt der Moderne zuweist, nämlich in den vielen Bereichen, in denen in oft überraschender Weise die Reflexion über die Moderne als Reflexion über das Mittelalter in Erscheinung tritt: in der Literatur, in der Kunst, in der Architektur, im Film 43. Davon wird noch die Rede sein. Sodann tritt die enge wechselseitige Konstituierung von Mittelalter und Moderne besonders drastisch in der Vielzahl der Vorstellungen vom Mittelalter zutage, die die Moderne - wie für keine andere Epoche - hervorgebracht hat; und schließlich darin, in welchem Maß diese vielen Konzipierungen sich widersprechen. Auch das läßt sich in dieser Weise von keiner anderen Epoche sagen, und auch hierin zeigt sich also, daß das Mittelalter einen besonderen, 41
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Cf. Oexle, Mittelalterforschung in der sich ständig wandelnden Moderne (nt. 1); id., Das Bild der Moderne vom Mittelalter und die moderne Mittelalterforschung, in: Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), 1-22; id., Das entzweite Mittelalter, in: G. Althoff (ed.), Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, Darmstadt 1992, 7-28, 168-177; id., Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwörungen der Weimarer Republik und danach, in: id., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, 137-162; id., „Die Statik ist ein Grundzug des mittelalterlichen Bewußtseins“. Die Wahrnehmung sozialen Wandels im Denken des Mittelalters und das Problem ihrer Deutung, in: J. Miethke und K. Schreiner (ed.), Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, 45-70; id., Das Mittelalter als Waffe. Ernst H. Kantorowicz’ „Kaiser Friedrich der Zweite“ in den politischen Kontroversen der Weimarer Republik, in: id., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus (nt. 5), 163-215; id., Die Moderne und ihr Mittelalter (nt. 37); id., Feudalismus, Verfassung und Politik im Deutschen Kaiserreich, 1868-1920, in: N. Fryde/P. Monnet/O. G. Oexle (eds.), Die Gegenwart des Feudalismus (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 173), Göttingen 2002, 211-246. Ein Beispiel: O. G. Oexle, Luhmanns Mittelalter, in: Rechtshistorisches Journal 10 (1991), 5366. Dazu Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter (nt. 37), passim, sowie die Beiträge in den Bänden: Oexle e.a., Bilder gedeuteter Geschichte (nt. 35) und B. Carque´ e.a. (eds.), Visualisierung und Imagination. Materielle Relikte des Mittelalters in bildlichen Darstellungen der Neuzeit und Moderne, 2 voll. (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 25), Göttingen 2006. Über Visualisierungen des Mittelalters in den historischen Festzügen des 19. Jahrhunderts cf. e. g.: S. Schweizer, Geschichtsdeutung und Geschichtsbilder. Visuelle Erinnerungs- und Geschichtskultur in Kassel 1866-1914 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 22), Göttingen 2004. Zur Architektur: O. G. Oexle, Die gotische Kathedrale als Repräsentation der Moderne, in: id./M. A. Bojcov (eds.), Bilder der Macht in Mittelalter und Neuzeit. Byzanz - Okzident Rußland (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 226), Göttingen 2007, 631-674.
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einen signifikant singulären Status im Denken der Moderne einnimmt. Auf diese Vielzahl von sich widersprechenden Auffassungen des Mittelalters in der Moderne und die Art der Kontraste und Gegensätze zwischen ihnen will ich im folgenden - im Sinne einer Typologie - einen Blick werfen. Das erste und das zweite dieser Deutungsmuster sind am weitesten verbreitet. Sie sind in kontradiktorischer Weise gegensätzlich und stehen eben deshalb in einem engen Bezug zueinander. Ich habe im Hinblick darauf an anderer Stelle vom ,entzweiten Mittelalter‘ gesprochen 44. Dieser Sachverhalt ist eine Folge der oben erörterten konstitutiven Problemkonstellation von Mittelalter und Moderne im Zeichen der Reflexion über Fortschritt 45. (1) In der ersten Deutung gilt das Mittelalter als das ein für allemal und glücklich Überwundene. Es ist das, was wir, erfreulicherweise, hinter uns haben. Das war die Auffassung der Aufklärer des 18. Jahrhunderts. Der aktuellste Repräsentant dieser Mittelalterauffassung ist aber nach wie vor Jacob Burckhardt mit seinem berühmten, immer wieder als Referenz beschworenen Buch über die Kultur der Renaissance von 1860. Hier wird der Einheitskultur des Mittelalters, welche eine Bindung und Fesselung des Menschen bedeutet haben soll, vor allem durch seine kirchlichen Bindungen und die Bindungen in Gemeinschaften, die Überwindung dieser Bindungen in der Renaissance gegenübergestellt, also in der Emanzipation des Individuums, welche nach Burckhardts Auffassung den Beginn der Moderne und die Genese des modernen Menschen bedeutet. (2) Mit dieser Deutung ist, zweitens, die ihr genau entgegengesetzte eng verbunden, wonach das Mittelalter nicht das ein für allemal und glücklich Überwundene ist, sondern vielmehr das unglücklicherweise Verlorene: eine Zeit der Ganzheit, der Einheit, der Ordnung und der Gemeinschaft. Dies ist das Mittelalter der Romantik. Es ist aber auch das Mittelalter eines modernen soziologischen Denkmusters, des Theorems vom absoluten Gegensatz zwischen mittelalterlicher ,Gemeinschaft‘ und moderner ,Gesellschaft‘, das erstmals der Soziologe Ferdinand Tönnies 1887 in seinem Buch ,Gemeinschaft und Gesellschaft‘ präsentiert hat. Auch hier geht es also um die Bewertung des Fortschritts. Aber Tönnies kehrt 1887 die Deutung Jacob Burckhardts von 1860 um: Der Fortschritt der Moderne ist ein vermeintlicher, in Wahrheit ist er ein fataler Verlust. Denn die Auflösung der mittelalterlichen Gemeinschaft, so Tönnies, führte in der Moderne zwar zur Emanzipation des Individuums, führte aber auch zur Freisetzung seiner nunmehr unbeschränkt waltenden und zunehmend destruktiven Individualinteressen, und dies ist, so Tönnies 1887, das entscheidende Verhängnis der okzidentalen Geschichte und wird zum Untergang eben dieser dadurch konstituierten modernen Gesellschaft führen. Die Folgen des Theorems von Tönnies sind seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und bis in unsere Tage 44 45
Oexle, Das entzweite Mittelalter (nt. 41). Im einzelnen Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter (nt. 41).
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unübersehbar 46. Der Rechtshistoriker Oliver Lepsius hat 1994 zu diesem Thema im Blick auf die Zeit nach 1918 und die zunehmende Akzeptanz des Nationalsozialismus gerade bei Intellektuellen und Universitätsprofessoren unter dem Titel ,Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung‘ eine faszinierende Analyse vorgelegt 47. Die ,gegensatzaufhebenden Begriffe‘, das sind eben jene Begriffe, in denen das in der Moderne angeblich so fatal Getrennte - Geist und Macht, Sein und Sollen, Staat und Volk, Wert und Wirklichkeit - wieder zusammen-gedacht wird, zum Beispiel im Begriff der Gemeinschaft. Und dieser ist vom Mittelalter her konzipiert. In der Evozierung von ,Gemeinschaft‘ gegen die als desaströs empfundene Moderne und Gegenwart wird das verlorene Mittelalter beschworen. Beide Mittelalterdeutungen sind bis zum heutigen Tage ineinander verklammert, und sie alimentieren nicht nur immer wieder das Denken von Historikern, sondern - ich wiederhole es - in wechselnden Varianten und in zuweilen durchaus unterhaltsamen Gemengelagen auch das Denken und Deuten von Soziologen, Politologen und Ökonomen, und zwar so, daß den betreffenden Akteuren ganz offensichtlich nicht klar ist, wie stark diese tradierten Deutungsmuster auf ihre aktuellen Darlegungen zur Lage der Gesellschaft von heute einwirken. Illuminierend sind oft auch die Inhalte und die Verwendungen des Begriffs der Renaissance 48. Es geht bei den beiden Deutungsmustern des entzweiten Mittelalters um Fortschritts- oder Verfallsgeschichten der gedeuteten Moderne, die mit Mittelalterdeutungen begründet werden und deshalb zugleich Mittelalterdeutungen hervorbringen. Wir finden sie in großer Zahl auch bei den Historikern der Frühen Neuzeit, die mit kontrastiven Bestimmungen des angeblich ganz anders gearteten ,Wesens‘ des Mittelalters sich die Arbeit erleichtern. Zum Beispiel mit der Rede von der Befreiung des Menschen aus ,klerikaler Vormundschaft‘ und aus der ,Dominanz des Glaubens‘ durch Renaissance und Humanismus und von der ,entscheidenden Formierungsphase der modernen Wissenschaft‘, die in der Mitte des 15. Jahrhunderts eingesetzt habe; dies sind Zitate aus einem jüngst erschienenen, repräsentativen, von Frühneuzeithistorikern geschriebenen Sammelwerk über die Entstehung der ,modernen Wissensgesellschaft‘ 49. Aber wo bleiben dann die laikale ritterlich-höfische Kultur des Hochmittelalters und die 46 47
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Ibid., 320 sqq. O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1994. Dazu die Beispiele bei Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter (nt. 41), 307 sqq., 329 sqq., 358 sqq. Cf. Muhlack, Mittelalter und Humanismus (nt. 34) und die Beispiele bei M. Matthiesen/ M. Staub, Pro Patria vivere - Mars und Clio im Exil, in: M. Staub (ed.), Gegenwarten der Renaissance, vol. 1 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 20), Göttingen 2004, 13-34. R. van Dülmen/S. Rauschenbach (eds.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln-Weimar-Wien 2004, hier die Einleitung der Herausgeber (1) und der Beitrag von H.-J. Goertz, Von der Kleriker- zur Laienkultur. Glaube und Wissen in der Reformationszeit, bes. 39-64, der allerdings (64) feststellt, daß „der Übergang von der Priesterzur Laienkultur […] kein linearer, zielstrebig in die Moderne verlaufender Säkularisierungspro-
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,Rationalität‘ der Scholastik, wo bleibt vor allem die Entstehung der Rechtswissenschaft in allen ihren auch die Moderne bis heute prägenden Formen 50, wo bleibt die neue Wissenschaft, die mit dem Stichwort des spätmittelalterlichen ,Nominalismus‘ 51 bezeichnet wird? Wir finden solche Deutungsmuster aber auch in der Mediävistik selbst, zum Beispiel in der inzwischen abgeflauten Debatte über Statik und Dynamik im Mittelalter, über das angeblich statische oder archaische Frühmittelalter und die dieses beendende sogenannte dynamische Aufbruchsepoche des Hochmittelalters 52. Vergleichbar sind die anhaltenden Kontroversen über den Durchbruch von Individualität im Mittelalter. Fand dieser im 11., 12. oder im 13. Jahrhundert oder gar noch später statt, oder ist die Durchsetzung von Individualität überhaupt jenes nach wie vor grundlegende Kennzeichen, welches einst schon Jacob Burckhardt zur spezifischen Differenz von Mittelalter und Neuzeit (Moderne) erklärt hatte 53? Hierher gehören auch die stets das Mittelalter mit umfassenden Fortschritts- und Verfallsgeschichten der Neuzeithistoriker sowie die der Sozialwissenschaftler und des historischen Denkens im Ganzen, das über diese Problematik untergründig, aber wirkungsvoll gesteuert wird. Zu nennen wären hier zum Beispiel die Geschichten vom fortschreitenden Prozeß der Zivilisation oder von der zunehmenden Rationalisierung (Überschrift: ,Vom magischen zum rationalen Weltbild‘), oder aber umgekehrt, in der Aufrechnung der Kosten der Modernisierung, die Geschichten vom zunehmenden Werteverfall (Überschrift: ,Von der christlichen Weltordnung zum Relativismus‘). Eine Verfallsgeschichte ist auch die von der Überwältigung des Individuums durch gesellschaftliche und staatliche Mächte, also die Geschichte des Gangs von der angeblichen Ursprünglichkeit des Menschen im Mittelalter zur neuzeitlichen und modernen Sozialdisziplinierung. Aufschlußreiche Analysen über diese Gegenwart des Mittelalters in den Diskursen der Moderne bietet das Buch des Kirchenhistorikers und Religionswissenschaftlers Arnold Angenendt über ,Liturgik und Historik‘, der gezeigt hat, wie seit 1900 das Thema der Religion in einer Vielzahl von Disziplinen,
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51 52
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zeß“ war und daß „die Explosion des Wissens“ erst im 17. Jahrhundert erfolgt sei. Den Einspruch gegen die Hauptthese des Bandes hatte bereits zuvor J. Fried, Die Aktualität des Mittelalters. Gegen die Überheblichkeit unserer Wissensgesellschaft, Stuttgart 2002, formuliert. Die klassische Darstellung dieses Prozesses und aller seiner Konsequenzen bietet nach wie vor: F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 21967. Cf. die unter nt. 15 genannten Titel. Die Einwände gegen diese Deutungsmuster formulierte A. Angenendt, Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, Stuttgart-Berlin-Köln 1990, 23 sqq., besonders 43 sqq. Zur Debatte cf. die Thesen des Mediävisten A. J. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München 1980, bes. 338 sqq.; id., Das Individuum im europäischen Mittelalter, München 1994. Von seiten der Neueren Geschichte die Beiträge des Bandes R. van Dülmen (ed.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln-Weimar-Wien 2001. Einspruch gegen die Kategorien dieser Diskussion bei O. G. Oexle, „Die Statik ist ein Grundzug des mittelalterlichen Bewußtseins“ (nt. 41), und id., Memoria als Kultur, in: id. (ed.), Memoria als Kultur (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), Göttingen 1995, 9-78, hier 48 sqq.
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von der Geschichtswissenschaft, der Religionsgeschichte, der Religionssoziologie und vergleichenden Religionswissenschaft bis zu den Theologien, neu in Erscheinung trat und wie es dabei gerade die Frage nach dem Mittelalter war, welche die Debatten über Objektivität und Subjektivismus, über Ordnung und Zerfall in der Moderne und in der Gegenwart der Autoren des 20. Jahrhunderts steuerte 54. (3) Dazu kommt, drittens, die Idee vom ,Neuen Mittelalter‘ als eine ganz eigenständige geschichtsphilosophische Idee 55. Sie stammt von Novalis, der sie in seiner Rede ,Die Christenheit oder Europa‘ von 1799 erstmals vertreten hat. Bei dieser dritten Deutung des Mittelalters und der Moderne ist an die Stelle der in der Aufklärung durchgesetzten, wertbezogenen, nämlich Blüte, Verfall und Wiederaufstieg bezeichnenden Trias von ,Antike - Mittelalter - Moderne‘, die gleichartig konstruierte, inhaltlich aber in anderer Weise wertbezogene Trias von ,Mittelalter - Moderne - Neuem Mittelalter‘ getreten. Dabei sollte das ,Neue Mittelalter‘ im Sinne von Novalis nicht etwa die Wiederkehr des gewesenen Mittelalters als einer Zeit der Einheit und Gemeinschaft sein, es sollte vielmehr die eigentliche, die ,gute‘, die endlich von ,Einheit‘, ,Gemeinschaft‘ und ,Ganzheit‘ geprägte Moderne sein. Auch dieser Gedanke hat in Deutschland vor allem seit dem Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend Resonanz gefunden - also nach dem Zusammenbruch des Fortschrittsdenkens in den 1870er Jahren und seit der Jahrhundertwende. Höhepunkte hatte er zum Beispiel in den Debatten der Kunsthistoriker zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die Notwendigkeit einer neuen Gotik (die man im Expressionismus zu sehen glaubte) 56, in der Literatur zum Beispiel in Hermann Hesses Roman ,Das Glasperlenspiel‘, dessen Handlung in dem inzwischen eingetretenen ,Neuen Mittelalter‘ situiert ist 57, oder in den Erwartungen, die gerade Intellektuelle und Universitätsprofessoren 1933 mit der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten verbanden. Der Führer bringe das Neue Mittelalter, so ließ sich der prominente Kunsthistoriker Wilhelm Pinder in diversen Äußerungen von 1933 und 1934 vernehmen 58. (4) Viertens, in allen diesen Beschwörungen des Mittelalters in der Moderne, seien sie affirmativ oder negativ, erscheint das Mittelalter als eine ,Einheitskultur‘ 59. Eben davon wendet sich eine vierte Auffassung des Mittelalters in der 54 55 56
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A. Angenendt, Liturgik und Historik (Quaestiones disputatae 189), Freiburg-Basel-Wien 2001. Zum folgenden Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter (nt. 41), 326 sqq. und 348 sqq. M. Bushart, Der Geist der Gotik und die expressionistische Kunst. Kunstgeschichte und Theorie 1911-1925, München 1990. Darüber Oexle, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne (nt. 41), 151 sq. Ibid., 156 sqq. Die Vorstellung von der mittelalterlichen ,Einheitskultur‘, nämlich als einer von der ,katholischen Kirche‘ vollkommen beherrschten Kultur, vertritt erneut wieder A. Guerreau, L’Avenir d’un passe´ ˆ ge au XXIe sie`cle?, Paris 2001, 28 sqq. Gegen die Auffassung incertain. Quelle histoire du Moyen A von der ,Einheitskultur‘ des Mittelalters: O. G. Oexle, Das Menschenbild der Historiker, in: Das Bild des Menschen in den Wissenschaften, Gerda Henkel Stiftung (ed.), München 2002, 245-269.
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Moderne ab, die - und so hat es Max Weber immer wieder formuliert - das Mittelalter gerade nicht als eine ,Einheitskultur‘ sieht. Es war eines der zentralen Themen Max Webers, die kontrastreiche Varietät von Gegensätzen, die Differenzierung und Vielfalt in Staat und Gesellschaft, in Wirtschaft und Religion des Mittelalters herauszuarbeiten und die eben aus diesen Gegensätzen resultierende Dynamik zu akzentuieren, aus der sich dann eine Moderne entwickelt hat. Es ist hier nicht der Ort, um näher auf Max Weber als Mittelalterhistoriker einzugehen, der seine Auffassungen in seiner sogenannten Herrschaftssoziologie, Rechtssoziologie, Religionssoziologie und Musiksoziologie in vielfältiger Weise dargestellt hat. Erinnert sei besonders an den unvollendeten, erst postum publizierten und seit etwa einem Jahrzehnt erneut und sehr kontrovers diskutierten Text ,Die Stadt‘ 60. Ich erinnere auch an Webers Forschungen über Feudalismus und Vasallität 61 und über das Mönchtum 62, zum Beispiel über die Zisterzienser, bei denen Weber erstmals das entdeckte, was er die ,innerweltliche Askese‘ nannte, und über deren Bedeutung sogar für die Geschichte der Musik im Okzident er erstaunliche Befunde in Erfahrung brachte. Noch einmal: Gerade auf der Vielfalt und Differenzierung der mittelalterlichen Gesellschaft beruht, das hat Weber immer wieder zu zeigen versucht, deren Dynamik und eben damit auch die Konstituierung einer Moderne als Konsequenz dieses okzidentalen Mittelalters, eben weil es keine ,Einheitskultur‘ war. (5) Mit dem soeben Gesagten hängt ein fünfter Typus der Reflexion über das Mittelalter in der Moderne und also der Dauer des Mittelalters zusammen. Es geht dabei nicht um aufklärerische Ablehnung oder romantische Aneignung des Mittelalters und auch nicht um die Hoffnung auf ein ,Neues Mittelalter‘, noch um eine geschichtswissenschaftliche Reflexion der Konstituierung moderner Gesellschaft durch die kulturelle Vielfalt und Dynamik des Mittelalters. Hier geht es vielmehr darum, daß das Mittelalter mit seinen kulturellen Hervorbringungen als ein Medium verstanden wird, in dem man über die Moderne produktiv nachdenken, die Moderne produktiv formen kann. Man kann dieses Phänomen in der Kunst und Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts verfolgen. Etwa bei den englischen Präraffaeliten, die den wich60
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Dazu O. G. Oexle, Kulturwissenschaftliche Reflexionen über soziale Gruppen in der mittelalterlichen Gesellschaft: Tönnies, Simmel, Durkheim und Max Weber, in: Ch. Meier (ed.), Die okzidentale Stadt nach Max Weber. Zum Problem der Zugehörigkeit in Antike und Mittelalter (Historische Zeitschrift. Beiheft N.F. 17), München 1994, 115-159; id., Max Weber und die okzidentale Stadt, in: A. Cordes/J. Rückert/R. Schulze (eds.), Stadt - Gemeinde - Genossenschaft. Festschrift für Gerhard Dilcher zum 70. Geburtstag, Berlin 2003, 375-388. O. G. Oexle, Priester - Krieger - Bürger. Formen der Herrschaft in Max Webers ,Mittelalter‘, in: E. Hanke/W. J. Mommsen (eds.), Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zu Entstehung und Wirkung, Tübingen 2001, 203-222; id., Feudalismus, Verfassung und Politik im Deutschen Kaiserreich (nt. 41), 235 sqq. O. G. Oexle, Max Weber und das Mönchtum, in: H. Lehmann/J. M. Oue´draogo (eds.), Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 194), Göttingen 2003, 311-334.
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tigsten Beitrag Englands zur Kunst der Moderne darstellen, also zum Beispiel bei Millais oder Morris. Hier waren mittelalterliche Darstellungsformen, Interieurs und Personen das Medium, in dem spezifische Probleme der Moderne dargestellt und reflektiert werden: die soziale Frage oder die Probleme von Sexualität und Ehe. Die mittelalterlichen Elemente der Darstellung - etwa in der Inspiration durch die hochmittelalterliche Literatur (in den Themen) oder die Kunst der Gotik (in der formalen Gestaltung) - wurden benutzt, um Probleme zur Sprache zu bringen, über die sonst so nicht gesprochen werden konnte 63. Ähnliches gilt für einen Künstler des 20. Jahrhunderts wie Otto Dix, den man der sogenannten ,Neuen Sachlichkeit‘ zurechnet, der aber seine fulminantesten Bilder - etwa die berühmten Darstellungen der Schrecken des Grabenkriegs in Flandern seit 1915 - nur dadurch darzustellen vermochte, daß er sie in der Bildsprache der deutschen Kunst der Zeit um 1500 zum Ausdruck brachte 64. Dieselbe Verknüpfung von Mittelalter und Moderne zeigt der von den Fotografen des ausgehenden 19. Jahrhunderts hergestellte Zusammenhang von mittelalterlicher Kathedralenkonstruktion und moderner Eisenkonstruktion, zum Beispiel beim Eiffelturm sowie bei zahlreichen Industriebauten 65. Man könnte derartige Verknüpfungen auch im Blick auf das 20. Jahrhundert vertiefend erörtern, etwa im Blick auf das ,Bauhaus‘, dessen Manifest 1919 den unmittelbaren Anschluß an den Kathedralenbau und die mittelalterlichen Bauhütten proklamierte 66. Oder im Blick auf das Architekturwerk eines Ludwig Mies van der Rohe in Deutschland und, seit 1938, in den USA. Im Fall des Architekten Mies van der Rohe (1886-1969) wissen wir aus seinen eigenen Notizbüchern und Leseexzerpten, welche Bedeutung seine Reflexion über Mittelalter und Kathedralengotik für sein Selbstverständnis als Architekt der Moderne und für seine eigenen Bauten gehabt hat 67. Freilich nicht so, daß Mies van der Rohe für den Bau neuer Kathedralen in irgendeinem neugotischen Stil eingetreten wäre. Dies gerade nicht. Er plädierte vielmehr für eine neue, konsequent moderne Architektur, aber aus dem ,Geist der Gotik‘. Gerade in der unmittelbaren, gleichzeitigen Beschäftigung mit den Kathedralbauten des Mittelalters und dem sie fundierenden Denken - und die Zeugnisse dieser Beschäftigung liegen in Mies van der Rohes Aufzeichnungen, Briefen und Reden aus den 1920er Jahren vor - schuf er eines der wichtigsten 63
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Dazu O. G. Oexle, Vom ,Staat‘ zur ,Kultur‘ des Mittelalters. Problemgeschichten und Paradigmenwechsel in der deutschen Mittelalterforschung, in: N. Fryde e. a. (eds.), Die Deutung der mittelalterlichen Gesellschaft in der Moderne (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 217), Göttingen 2006, 15-60, hier 20 sqq. E. Karcher, Otto Dix 1891-1969, Köln 1992; H.-J. Buderer, Neue Sachlichkeit, MünchenNew York 1994/96, 46 sqq. Darüber B. Carque´, Epistemische Dinge. Zur bildlichen Aneignung mittelalterlicher Artefakte in der Moderne, in: Oexle e. a., Bilder gedeuteter Geschichte (nt. 35), vol. 1, 55-162, hier 52 sqq. Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter (nt. 41), 337 sq. O. G. Oexle, Die gotische Kathedrale als Repräsentation der Moderne, in: O. G. Oexle/M. A. Bojcov (eds.), Bilder der Macht in Mittelalter und Neuzeit. Byzanz - Okzident - Rußland (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 226), Göttingen 2007, 631-674, hier 655 sqq.
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Werke, eine der Inkunabeln einer radikal modernen Baukunst, nämlich den (heute nur noch als Rekonstruktion erhaltenen) deutschen Pavillon zur Weltausstellung von Barcelona 1929. Und noch 1960 gab van der Rohe seiner Hoffnung auf eine Baukunst Ausdruck, „die die Gotik beerbte. Sie ist unsere größte Hoffnung.“ Was er damit meinte, zeigt sein letztes Werk, die Nationalgalerie (West) am Kulturforum in Berlin, erbaut in den 1960er Jahren. Auch dies ist eine Antwort auf die Frage nach der Dauer des Mittelalters.
VII. Ich schließe meine Überlegungen über die Dauer des Mittelalters mit einigen Hinweisen zu dem, was man neuerdings als ,Gedächtnisgeschichte‘ 68 bezeichnet, also zu einer ,Gedächtnisgeschichte des Mittelalters‘ 69. Den Begriff der ,Gedächtnisgeschichte‘ prägte der Ägyptologe Jan Assmann, der in seinem Buch ,Moses der Ägypter‘ von 1998 die Ziele von Gedächtnisgeschichte erläutert hat. Assmann wollte mit seinem Buch die ,Geschichte einer europäischen Erinnerung Ägyptens‘ darstellen. Im Unterschied zu Geschichte ,im eigentlichen Sinne‘ gehe es, so Assmann, bei ,Gedächtnisgeschichte‘ nicht um die Vergangenheit als solche, sondern nur um die Vergangenheit, ,wie sie erinnert wird‘. Den Begriff der ,Gedächtnisgeschichte‘ halte ich für sehr fruchtbar und plädiere für eine ,Gedächtnisgeschichte des Mittelalters‘ als gemeinsame Aufgabe der Vertreter aller Wissenschaften, die mit dem Mittelalter befaßt sind, allerdings mit der Einschränkung, daß die von Assmann vorgeschlagene Unterscheidung von ,Geschichte im eigentlichen Sinne‘ und ,Geschichte wie sie erinnert wird‘, nicht durchführbar ist. Denn alle ,Geschichte‘ ist Erinnerung. Es ist auch kein Zweifel daran möglich, daß die Dimension ,Gedächtnisgeschichte‘ erhebliche Zumutungen enthält; darüber sollte man sich im klaren sein. Sie mutet dem Historiker einiges zu, insofern er nun auch seinen eigenen Zeithorizont, seine eigene Gegenwart, ja sogar sich selbst und die sozialen und kulturellen Bedingungen seiner eigenen Erkenntnis als konstitutive Bedingungen seiner Erkenntnis begreifen und (zumindest sich selbst) erläutern muß. Dazu bedarf es des Willens zur Selbsthistorisierung und der Einsicht in deren Notwendigkeit, entsprechend der oben zitierten Forderung Johann Gustav Droysens von 1857. Eben dies wird meist dezidiert abgelehnt, und eben deshalb gibt es, gerade auf mediävistischer Seite, heftige Einsprüche gegen den ganzen ,Erinnerungskult‘, gibt es die intensive Erwartung, daß dieser Spuk bald vorbei sein 68
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Dazu O. G. Oexle, Geschichte, Gedächtnis, Gedächtnisgeschichte. Ein Blick auf das Œuvre von Claude Simon, in: D. Hein/K. Hildebrand/A. Schulz (eds.), Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall zum 70. Geburtstag, München 2006, 359-376. Dazu bereits Oexle, Mittelalterforschung in der sich ständig wandelnden Moderne (nt. 1), 232 sqq.
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möge; gefordert wird statt dessen die ,Rettung‘ der Geschichtswissenschaft vor der Erinnerungskultur, und zwar zugunsten der ,Rettung der Tatsache‘ 70. So äußerte sich unlängst ein prominenter Vertreter der Mittelalterforschung. ,Gedächtnisgeschichte‘ versus ,Rettung der Geschichtswissenschaft vor der Erinnerungskultur‘ zwecks ,Rettung der Tatsache‘ - deutlicher läßt sich nicht aussprechen, daß sich hier zwei gegensätzliche Auffassungen von Geschichtswissenschaft gegenüberstehen. Im Gegensatz dazu hat unlängst der Zeithistoriker Dan Diner davon gesprochen, daß seit einiger Zeit das geschichtswissenschaftliche Paradigma ,Gesellschaft‘ von dem geschichtswissenschaftlichen Paradigma ,Gedächtnis‘ abgelöst worden sei 71. Er könnte recht haben. Denn von seiten unserer ,Lebenswelt‘ wird dieser Vorgang ja auch unaufhörlich stimuliert und illuminiert, unter anderem durch die Tatsache, daß seit der welthistorischen Wende von 1989/91 ganze versunkene Kontinente historischer Erinnerung wieder aufgetaucht sind, deren Integration in das gewohnte Bild von der Geschichte, nämlich der uns vertrauten Geschichte, sich als außerordentlich mühsam und gleichwohl als unabdingbar erweist und uns noch lange beschäftigen wird 72. An eine Gedächtnisgeschichte des Mittelalters haben die Mediävisten sich noch kaum gewagt, sie haben, so denke ich, das als Aufgabe noch zu wenig erkannt. Ich erinnere noch einmal an das ,Lexikon des Mittelalters‘. Es ist ohne jeden Zweifel ganz unentbehrlich, aber genau dieser Frage weicht es neun Bände lang konsequent aus. Die Aufgabe einer Gedächtnisgeschichte des Mittelalters ist selbstverständlich sehr viel schwieriger als die einer Gedächtnisgeschichte Ägyptens im Sinne Jan Assmanns, weil sie nicht nur die Reflexion über ein weit entferntes ,Anderes‘, sondern auch und vor allem die Reflexion über ein nahes ,Eigenes‘, weil sie deshalb die Selbstreflexion über das ,Eigene‘ enthalten muß und weil sie demzufolge vor allem die eigene Gegenwart als Bedingung der Möglichkeit historischer Erkenntnis und der Reflexion darüber zu reflektieren hätte. Dazu ein Beispiel. Vor kurzem gab es in Paderborn die bemerkenswerte Ausstellung ,Canossa Erschütterung der Welt‘ zu sehen 73. Sie bestand aus drei Sektionen. In der ersten ging es um bildliche und dingliche Repräsentationen des Ereignisses selbst. Die zweite zeigte, sehr eindrucksvoll präsentiert, Kunst der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts (ein Bezug zu ,Canossa‘ war hier freilich nicht zu erkennen). Der dritte Teil präsentierte drittklassige Malerei der 1870er Jahre. Man sah da immer wieder den König im Hemd mit seinen frierenden Mannen, während vom Söller der Burg Papst Gregor und an seiner Seite die Markgräfin Mathilde die Szene mit Ingrimm und Häme betrachten. Das fand bei den Besuchern der 70 71
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Dazu Oexle, Geschichte, Gedächtnis, Gedächtnisgeschichte (nt. 68), 360 sq. D. Diner, Von ,Gesellschaft‘ zu ,Gedächtnis‘. Über historische Paradigmenwechsel, in: id., Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003, 7-15, hier 7 sq. In dieser Perspektive sei hingewiesen auf das Buch von T. Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München-Wien 2006. Dazu der umfangreiche, zweibändige Ausstellungskatalog: Ch. Stiegemann/M. Wemhoff (eds.), Canossa 1077 - Die Erschütterung der Welt, München 2006.
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Ausstellung wenig Interesse, und es war ja auch in der Tat nicht interessant, zumindest nicht in der Form, in der es hier präsentiert wurde. Ein gedächtnisgeschichtlich orientiertes Konzept der Ausstellung hätte das Ganze gerade umgedreht. Lag doch eine ,Erschütterung der Welt‘ in den fulminanten, Schlag auf Schlag erfolgenden politischen Ereignissen der Jahre 1870/ 71 74, die sich in den 1860er Jahren bereits ankündigten: das 1. Vatikanische Konzil mit der umstrittenen, dramatischen, folgenreichen Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des Papstes im Juli 1870, die Eroberung Roms durch italienische Truppen im September 1870, das Ende des seit über tausend Jahren bestehenden Kirchenstaates, die Entstehung eines neuen Nationalstaates, nämlich Italiens, in Europa, der deutsch-französische Krieg und sein Ergebnis, die Kaiserproklamation vom Januar 1871 und das Bismarck-Reich, ein zweiter neuer europäischer Nationalstaat also, sowie dessen sofort nach der Reichsgründung einsetzende innenpolitische Konflikte, die als erstes den sogenannten Kulturkampf provozierten. In diesem Zusammenhang (die näheren Umstände und Anlässe lasse ich beiseite) fiel dann im Mai 1872 im Reichstag Bismarcks berühmtes, fortan unendlich oft zitiertes Wort: „Nach Canossa gehen wir nicht.“ Und jetzt wird ,Canossa‘ recht eigentlich zum Schlüsselereignis, zum historischen Großereignis, in der Malerei und Literatur, in Gedichten und Dramen, sowie in den Debatten und Kontroversen der Historiker. Ein signifikanter Fall für Gedächtnisgeschichte. Es war - gewiß nicht allein, aber doch ganz wesentlich - die ,Erschütterung der europäischen Welt‘ der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die ,Canossa‘ hervorgebracht hat. Und wenn man sich dann, am Beginn des 21. Jahrhunderts, klarmacht, daß das Bismarck-Reich längst untergegangen ist und daß die konfessionellen Auseinandersetzungen durch die Erfahrungen des Nationalsozialismus und mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland politisch weitgehend bedeutungslos geworden sind, so muß man sich doch auch fragen, welche Bedeutung ,Canossa‘ heute eigentlich noch hat. Es geht, wohlbemerkt, nicht um die Infragestellung der puren Faktizität des Ereignisses ,Canossa‘, wohl aber geht es um dessen historische Bedeutung. Es geht um eine Frage der Sinnzuschreibung. Und deshalb könnte man dann, als Ergebnis einer solchen gedächtnisgeschichtlichen Reflexion, auch zu dem Ergebnis kommen, daß ,Canossa‘ als historische Tatsache nicht ausreicht, eine solche Ausstellung zu tragen, oder zumindest, daß man eine solche Ausstellung hätte anders konzipieren müssen. Noch einmal: Worin liegen, ganz generell, die Anforderungen, ja, Zumutungen, aber auch die Chancen einer Gedächtnisgeschichte des Mittelalters? Dazu drei Überlegungen. Die Anforderungen und Zumutungen liegen - ich erinnere noch einmal daran - in der Nötigung zur Selbstreflexion des Historikers, nämlich, gemäß der Forderung Droysens, sich bewußt zu sein, daß auch der ,Inhalt des Ich‘ des erkennenden Historikers ,ein gewordener, ein historisch vermittel74
Zum folgenden cf. O. G. Oexle, Canossa, in: E. FrancX ois/H. Schulze (eds.), Deutsche Erinnerungsorte, vol. 1, München 2001, 56-67.
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ter‘ ist. Die Anforderungen liegen sodann darin, die Vielheit der Bereiche der Lebenswelt, oder besser, der vielen Lebenswelten zu erfassen, die gedächtnisgeschichtlich jeweils von Bedeutung sind. Zum Beispiel die Musik eines Richard Wagner 75, die Mittelalter-Imaginationen der Bühnenbilder der Grand Ope´ra des 19. Jahrhunderts, über die die Kunsthistorikerin Andrea von Hülsen-Esch soeben eine Studie vorgelegt hat 76, die großen Kathedralen-Projekte des 19. Jahrhunderts 77, die Faszination der Kunsttheorie des frühen 20. Jahrhunderts durch die ,Gotik‘ und die Reflexionen über den Expressionismus als die neue Gotik 78, die Debatten von Historikern und Theologen über das ,objektive‘ Mittelalter und seinen ,subjektivistischen Verfall‘, über ,romanische‘ Ordnung und ,gotische‘ Auflösung, über die ,Ordnung‘ der Scholastik und deren ,Zersetzung‘ durch den Nominalismus 79, die öffentlichen Festzüge des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, mit deren umfassender, das heißt historischer und kunsthistorischer Analyse der Kunsthistoriker Stefan Schweizer soeben begonnen hat 80, die lange Reihe der Mittelalterromane von den Werken der Romantiker bis zu jenen signifikanten Mittelalterromanen, die keineswegs zufällig in der Krise der Weimarer Republik 1929/30 erschienen 81 (Werner Bergengruen, Gertrud von Le Fort, Hermann Hesse und andere), und bis zu der fundamentalen kritischen Analyse des deutschen Mediävalismus in Thomas Manns ,Doktor Faustus‘ von 1947, und so fort. Ich erinnere an die Filme eines Fritz Lang (,Die Nibelungen‘, ,Metropolis‘) 82, die gerade deshalb vom Mittelalter handeln, weil sie sich so intensiv mit der Moderne auseinandersetzen. Diese Vielheit der Bereiche erfordert somit, drittens, die Kooperation einer entsprechenden Vielheit von Einzelwissenschaften, die, bei aller Disziplinierung, das heißt, bei aller Reflexion auf das, was sie spezifisch zu einem solchen Unternehmen beitragen könnten, sich doch zugleich nicht nur eine interdisziplinäre, sondern eine transdisziplinäre Betrachtensweise 83 anzueignen hätten, dies aber - um es noch einmal zu sagen - bei gleichzeitiger strenger Disziplinierung, also der Besinnung auf das spezifisch Eigene, das sie jeweils leisten können. Das betrifft alle, Philosophen, Historiker, Literaturwissenschaftler, Archäologen, Theologen, Kunsthistoriker, Musikwissenschaftler. Eine weitere Herausforderung liegt, viertens, darin, daß bei einem solchen Unternehmen auch jene 75
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H. G. Walther, Abschied von der Geschichte und Mythenzauber. Das Mittelalter des 19. Jahrhunderts in Richard Wagners ,Ring des Nibelungen‘, in: Segl (ed.), Mittelalter und Moderne (nt. 37), 253-278. A. von Hülsen-Esch, Mittelalterphantasien zwischen Himmel und Hölle. Über die Bühnenbilder der Grand Ope´ra, Düsseldorf 2003. Cf. nt. 67. Cf. nt. 56. Cf. nt. 15 und nt. 54. Schweizer, Geschichtsdeutung und Geschichtsbilder (nt. 43). Cf. Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter (nt. 41), 343 sq. Ibid., 338. Zur Frage der Transdisziplinarität cf. Oexle, Mittelalterforschung in der sich ständig wandelnden Moderne (nt. 1), 242 sqq.
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Wissenschaften einbezogen werden müßten, die mit dem Thema von Mittelalter und Moderne, freilich mit einem zumeist unreflektierten Imaginarium vom Mittelalter hantieren, zum Beispiel die Philosophie, die Soziologie, die Politologie, die Nationalökonomie und die Rechtswissenschaften. Es wäre schließlich, fünftens, auf die Konsequenzen der Vielheit der nationalen Kulturen zu achten, von ihrer Konstituierung im 19. Jahrhundert bis heute. Welches sind - so wäre zum Beispiel zu fragen - die kulturellen und historischen Bedingungen der Wahrnehmungen und Deutungen von ,Feudalismus‘ in England, in Frankreich, in Deutschland, und wie haben sie sich auf die Mittelalterforschung in den drei Ländern ausgewirkt? Denn die englischen Konzeptionen von ,Feudalismus‘ haben ihre Wurzeln im 17., die französischen im 18., die deutschen im 19. Jahrhundert. Dementsprechend sind die Erörterungen von ,Feudalismus‘ als historischem Phänomen in den drei Ländern sehr unterschiedlich. Was bedeutet das für die Erkenntnis dessen, was ,Feudalismus‘ ist 84? Oder, in analoger, vergleichender Fragestellung: Wie sieht das Bild der mittelalterlichen Gesellschaft in der Moderne in Deutschland, in Frankreich, Großbritannien und in Polen aus? Von welchen spezifischen nationalen Gegebenheiten aus ist dieses Bild im 19. und 20. Jahrhundert konzipiert und verbreitet worden 85? Und detaillierter noch wäre zum Beispiel zu fragen, was die deutschen Nazarener von den englischen Präraffaeliten in ihrer Reflexion über das Mittelalter und die Moderne unterscheidet und was beide verbindet. Was hat die deutsche Neuscholastik des 19. und 20. Jahrhundert mit der Theologie des Franzosen Jacques Maritain gemeinsam, und was trennt beide voneinander? Wie ist das Bild der gotischen Kathedrale in der französischen Literatur der Moderne (von Victor Hugo über Joris-Karl Huysmans bis zu Charles Pe´guy) konzipiert, im Gegensatz zur deutschen, und wie stellt sich in den beiden Ländern die Verknüpfung von Kathedralenliteratur, Darstellung von mittelalterlichen Kathedralen in der Kunst und Kathedralenrestaurierungen im 19. Jahrhundert dar? Wie unterscheidet sich die historische Architektur, zum Beispiel die ,gotische‘ des 19. Jahrhunderts, in ihren bestimmten Zwecken gewidmeten Bauten - Rathäuser, Bahnhöfe, Gefängnisse, Bierbrauereien - in England von den äquivalenten Bauten in Frankreich oder Deutschland? Gibt es analoge Momente zwischen der Architektur des Historismus im westlichen Europa und in Rußland 86? Wie wurde und wird ein und derselbe mittelalterliche ,Gegenstand‘, zum Beispiel die Stadt des Spätmittelalters, in den historisch bedingten Wahrnehmungen des kulturellen Gedächtnisses verschiedener europäischer Länder in der Moderne aufgenommen und demzufolge auch in den diversen historischen Fächern erörtert 87? 84 85 86
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Dazu Fryde e.a., Die Gegenwart des Feudalismus (nt. 41). Fryde e. a., Die Deutung der mittelalterlichen Gesellschaft in der Moderne (nt. 63). Cf. A. Pavlova, Die Nationalidee in der Architektur der russischen Kathedralen und Münster des 19. Jahrhunderts, in: Oexle/Bojcov (eds.), Bilder der Macht in Mittelalter und Neuzeit (nt. 67), 613-629. Cf. P. Monnet/O. G. Oexle (ed.), Stadt und Recht im Mittelalter/La ville et le droit au Moyen ˆ ge (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 174), Göttingen 2003. Über A
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Mit diesen letzten Hinweisen bin ich von der Erörterung der Zumutungen bereits zur Erörterung der Chancen und Erkenntnisgewinne übergegangen. Ich plädiere mit Entschiedenheit dafür, diese Chancen zu nutzen. Sie liegen in der Entwicklung integrierender und komparatistischer Fragestellungen auf einer zweiten Ebene, die - davon bin ich überzeugt - die Erörterung der historischen ,Sachen‘ und ,Tatsachen‘ nicht eliminieren oder auch nur einschränken, sondern vielmehr vertiefen wird. Und dies bedeutet zugleich, daß wir in der Lage sein werden, die Bedingungen der Gegenwart der Geschichte, auch im Blick auf die Dauer des Mittelalters, besser zu begreifen und: besser zu begründen.
die Forschungsprofile der französischen und der deutschen Mittelalterforschung generell die Beiträge in dem Band: J.-C. Schmitt/O. G. Oexle (eds.), Les tendances actuelles de l’histoire du ˆ ge, Paris 2002. Zur entsprechenden Kooperation mit der russischen Mediävistik cf. O. Moyen A G. Oexle/J. L. Bessmertnyj (eds.), Das Individuum und die Seinen. Individualität in der okzidentalen und in der russischen Kultur in Mittelalter und früher Neuzeit (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 163), Göttingen 2001; Oexle/Bojcov (eds.), Bilder der Macht in Mittelalter und Neuzeit (nt. 67). Zur Kooperation mit der englischen Mediävistik: J. Canning/O. G. Oexle (eds.), Political Thought and the Realities of Power in the Middle Ages/ Politisches Denken und die Wirklichkeit der Macht im Mittelalter (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 147), Göttingen 1998.
Frontiers of Christendom: the Endurance of Medieval and Modern Constructs Nora Berend (Cambridge) The idea of ,Christendom‘ as a unified whole which needs to be defended has existed for centuries. If we open a newspaper these days, we can encounter claims that our civilisation, which is frequently explicitly equated with a Christian civilisation, has to be defended against representatives of fundamentalist Islam who wish to destroy it. Recently Chris Smith, the former Culture Secretary of the UK and Richard Koch published a book, in which they claimed that Christianity was one of the six factors that made western civilisation great, uniting and inspiring its population 1. The frontiers of Christendom and their defence is still on the agenda, or one should say returned to the agenda, yet again taking on a new meaning. As I shall argue, the longevity of the construct of the defence of Christendom is based on the possibility of filling it repeatedly with new meanings. During the Middle Ages, the birth of the concept of a territorial Christendom that had to be defended was based on the combination of two distinct interests: papal and royal ones. ,Christianitas‘ initially meant a set of beliefs and only gradually acquired social, communal, and territorial meanings, and came to designate a collectivity of people whose unity was not only spiritual but also temporal and geographical. Popes from the time of the Investiture controversy onwards promoted the idea of Christendom as a territorial unit under papal leadership; this papal leadership of Christendom was central to ideas of papal power. The fullest expressions of these ideas were formulated in the thirteenth century. Christendom itself was to have a duration coextensive with the duration of the world itself, and eventually it was to encompass all of humanity. But it was the royal appropriation of the idea of a territorial Christendom that led to its great success: by the end of the medieval and in the early modern period, a multitude of rulers vied with each other to claim the title of defender of Christendom. Whereas in papal letters kings played a role in defending Christendom as the secular arm in the service of the church, defending the frontiers of Christendom became an argument in medieval royal ideology in order to gain privileges from the papacy. I use ,frontiers‘ here in their modern sense, having written about medieval notions of frontiers and criticizing the misuse of the 1
R. Koch/C. Smith, Suicide of the West, London 2006.
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word elsewhere 2. I make no claim that medieval popes and kings necessarily used the word ,frontier‘ (although sometimes they did), nor do I draw on notions of a Turnerian frontier society. What I wish to convey is the idea that Christendom was understood as one unit that could be and that had to be defended against attack. Raids and possible conquest threatening individual areas were interpreted in this light; according to the rhetoric emanating from royal courts, one was not simply defending a country when fighting against the enemy, but the whole of Christendom through its constituent part. My research focused on the example of Hungary, Poland and Iberia 3. The neighbours of Hungary and Poland were ,pagans‘ (that is, they were seen as having no religion by medieval Christians), various nomadic peoples who held animistic beliefs; those of the Christian kingdoms of Iberia were Muslims. By the thirteenth century, warfare between Christians and their non-Christian neighbours was depicted in religious terms. In the thirteenth and fourteenth centuries, kings of all three areas formulated the claim that the defence of Christendom depended on them alone. The Mongols overran Hungary and Poland in 1241-42. They defeated the armies gathered to meet them in both polities, killed many of the inhabitants and devastated large areas. They withdrew of their own accord and were widely regarded as invincible and likely to return. Prior to the Mongol invasion, the papacy had already encouraged missions to convert the pagans and warfare to subjugate them in areas adjacent to Hungary and Poland 4. During the invasion the idea emerged that the Mongols were enemies of all Christian lands, but a planned crusade did not finally materialize from other countries. After the invasion, however, and amidst fears of the Mongols’ return, the notion that Christians from all over Christendom would have to help in case of a new onslaught was often repeated. Popes themselves propagated the view that the Mongols were a common enemy of all Christians, and not simply the adversaries of the areas in the direct line of attack. For example, the First Council of Lyon (1245) decided to grant aid for the countries most exposed to Mongol attack and encouraged them to block all roads leading into their territories 5. In 1247 Pope Innocent IV declared in a letter to Hungary that the Mongol danger touched all Christians and was therefore a common cause 6. Similarly, the pope acknowl2
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N. Berend, At the Gate of Christendom: Jews, Muslims and ,Pagans‘ in Medieval Hungary c. 1000-c. 1300, Cambridge 2001, 6-17; N. Berend, Preface, in: D. Abulafia/N. Berend (eds.), Medieval Frontiers: Concepts and Practices, Aldershot 2002, X-XV. A more detailed analysis in N. Berend, De´fense de la Chre´tiente´ et naissance d’une identite´: ˆ ge, in: Annales HSS 58, 5 (2003), 1009Hongrie, Pologne et pe´ninsule Ibe´rique au Moyen A 1027. E. g. I. Sułkowska-Kuras´/S. Kuras´ (eds.), Bullarium Poloniae, vol. 1, 1000-1342, Rome 1982, nn. 129, 140, 185, 255, 256, 258, 260, 343; A. Theiner, Vetera Monumenta Historica Hungariam Sacram Illustrantia I 1216-1352, Rome 1859, nn. 154, 167. J. Alberigo [e. a.] (eds.), Conciliorum Œcumenicorum Decreta, Bologna 1973, 297. Theiner, Vetera Monumenta Historica Hungariam (nt. 4), n. 379.
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edged that as the Mongols could reach other Christian lands through Poland, therefore the danger affected all Christendom 7. Iberia was the scene of warfare for centuries. War did not follow religious lines: Christians fought against Christians as well as against Muslims. Over time, however, Iberian warfare came to be cast in a religious guise. It was presented as a fight between Christians and Muslims, even though realities always remained more ambiguous, including both alliances crossing religious boundaries, and continued in-fighting between Christians (and between Muslims). Historians debate exactly when warfare became the Reconquista, that is, when Christians came to be motivated by the view that the Muslims, having conquered Christian lands, had to be driven out from the Peninsula. The most convincing explanation is that different elements of this interpretation of history emerged at different times. Thus King Alfonso III of Leo´n was portrayed as the heir of the Visigoths in the late ninth century; but religion started to become the primary justification only over the late eleventh and twelfth centuries. Certainly by the thirteenth century the ideology of the Reconquista was fully formed 8. It was not simply of local importance; the notion of the Reconquista was intertwined with papal ideas of Christendom and crusade. Popes encouraged the Iberian fight with grants of privileges that were often (though not always) identical to those received by crusaders going to the Holy Land 9. Popes saw Iberian warfare as more than a local war; for them, war in Iberia was a part of the fight between Christians and unbelievers for the ,dilatatio‘ of the faith. Pope Urban II talked of Tarragona as the ,wall and rampart‘ of the Christian people against Muslims in 1089 10. Later on, popes frequently referred to warfare against Muslims in Iberia as the protection of the Christian people or of Christianity 11. Honorius III also described these wars as an effort to extend the frontiers of Christians 12. Rulers of all three polities took up this rhetoric and turned it to their own advantage. They used the argument of defending Christendom in order to press the pope for privileges. King Be´la IV of Hungary maintained in a mid-thirteenth century letter to the pope that if Hungary were occupied by the ,Tartars‘ (Mongols), it would be ,an open gate‘ for them towards other regions inhabited by Catholics 13. The king claimed that the Mongols would certainly return because 7
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A. Theiner, Vetera Monumenta Poloniae et Lithuaniae gentiumque finitimarum historiam illustrantia I 1217-1409, Rome 1860, n. 107. R. A. Fletcher, Reconquest and Crusade in Spain c. 1050-1150, in: Transactions of the Royal Historical Society, 5th series, 37 (1987), 31-47; P. Linehan, History and the Historians of Medieval Spain, Oxford 1993, esp. chap. 4. E. g. A. MacKay, Spain in the Middle Ages: From Frontier to Empire 1000-1500, London 1977, 33-34. D. Mansilla, La documentacio´n pontificia hasta Inocencio III (965-1216), Rome 1955, 47: „in murum et antemurale christicole populi.“ Mansilla, La documentacio´n pontifica hasta Inocencio III (nt. 10), 147-149, 201. D. Mansilla, La documentacio´n pontificia de Honorio III (1216-1227), Rome 1965, 124. Theiner, Vetera Monumenta Historica Hungariam (nt. 4), n. 440. For a more detailed analysis of this letter, see N. Berend, Hungary, ,the Gate of Christendom‘, in: Abulafia/Berend (eds.),
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they intended to conquer the whole of Christendom once they established their base in Hungary. Be´la complained that at the time of the invasion the pope and Christian kings, including his neighbours, did not help Hungary; instead of aid, he received only words from them. This, the king argued, justified the royal policy of dynastic marriages with non-Catholics like princes of Kievan Rus’ and even with the Cumans, who were a pagan nomadic people. Although these were non-Catholics, and according to papal statements the only legitimate approach towards them would have been attempts at conversion, they were potential allies against the Mongols. Be´la therefore questioned the legitimacy of the papal point of view and expressed his own alternative policy. He even threatened the pope that if necessary he would make an alliance with the Mongols themselves, if that safeguarded his country from a new attack. The fact that Be´la’s son and heir was married to a Cuman woman gave weight to his threat of a possible future marriage alliance between another one of his children and the Mongols. Be´la emphasized the fragility of the kingdom, stating that the population of Hungary would be unable and unwilling to resist another Mongol attack. Hungary was the gate of Christendom. Here the invaders could be stopped, if the king received the help and concessions he had asked for. But if the pope did not grant such aid, Hungary would be an open gate, through which the enemy would subjugate all of Christendom. Be´la’s demands included financial aid as well as royal control over ecclesiastics, and he did not fail to use this argument in conflicts with the papacy during the rest of his reign. Although he justified all of his demands by reference to the necessity of making Hungary strong enough to provide defence against the Mongols, in fact he was striving for royal control over the revenues and personnel of the church in Hungary. For example, he argued that the pope had to approve the king’s candidate to be the next archbishop of Hungary. The interests of the king were depicted as being crucial for the sake of political stability, and Hungary’s strength as crucial for the safety of Christendom in its entirety, that Hungary defended. Be´la could play on fears concerning the return of the Mongols; fears that the popes shared. Yet in order to exploit these fears fully, the royal letter disguised or misrepresented some aspects of reality. Although the Mongols clearly devastated large parts of the country and traumatised the survivors, recovery was fairly fast as shown by the king’s military successes against his neighbours and the large number of newly established towns and castles. Moreover, the king’s complaint that he had to rely on pagans to defend the church masked the fact that it was not because of a lack of reliable Christian warriors that Be´la admitted the pagan Cumans. For all his rhetoric concerning the defence of Christendom, Be´la pursued a pragmatic policy of settling and relying on pagan nomad Cumans in order to build royal power. He deployed their warriors against Christian neighbours and tried to use them to break the power of his own nobles. He was Medieval Frontiers (nt. 2), 195-215, and Berend, At the Gate of Christendom (nt. 2), 163171.
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hoping to benefit both from the presence of the Cumans, and from the concessions he wished to receive from the papacy. Although the Mongol invasion of Poland coincided with that of Hungary, and its effects, as well as reactions to it, were similar in Poland and in Hungary, there were no attempts in mid-thirteenth century Poland to press the popes for privileges based on the argument of being Christendom’s defender. In fact, a similar rhetoric with similar aims only developed in the fourteenth century. The reason for this difference lay in the nature of rulership. Whereas King Be´la IV of Hungary was trying to centralize his power, Poland was fragmented into many principalities. It is no coincidence that it was Władysław Łokietek - who reunited Poland and was crowned king in 1320 - who started using the argument of defence against Mongols and other pagans in order to justify his coronation as well as the incorporation of Halicz-Vladimir 14. Kazimierz the Great who succeeded him as king of a unified Poland (13331370) and further consolidated royal power, started using the ideology of Christendom’s defence in the same way as Be´la had. He wrote to the pope that infidel Mongols, Ruthenes and Lithuanians attacked the kingdom, the defence of which was also the defence of the Church’s honour. Poland, he asserted, was on the furthest frontiers of Christendom, therefore it was the most exposed to attacks; but through it the danger could reach further west, and so the defence of Poland was the defence of all the faithful 15. While in letters to the pope, pagans appeared exclusively as enemies, in fact Polish rulers sometimes had allies among the neighbouring non-Christian peoples and made use of pagan auxiliaries (including Mongols), often in battles against Christian neighbours. The two thirteenth-century Iberian kings whose spectacular conquests enlarged Christian territories in Iberia, Fernando III of Castile and Jaime I of Aragon, both resorted to the ideology of being Christendom’s defenders. From the late twelfth century on rulers had recourse to the argument that they were champions of the Christian cause; the notion became a set piece of Iberian royal discourse 16. Fernando III explicitly equated the defence of his kingdom with the defence of Christendom: the Order of Calatrava merited his donations for their services in the defence of the kingdom and of Christendom 17. In both the Hungarian and Polish case, rulers demanded concessions from the popes in order to defend their territories. Iberia was to some extent different. Although 14
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I. Zakrzewski/F. Piekosin´ski (eds.), Codex diplomaticus Maioris Poloniae (984-1444), 5 voll., Poznan´ 1877-1908, vol. 2, Poznan´ 1878, n. 1013; J. Ptas´nik (ed.), Monumenta Poloniae Vaticana, vol. 1, Cracow 1913, n. 83. I. Sułkowska-Kuras´/S. Kuras´, Bullarium Poloniae, vol. 2, 1342-1378, Rome 1985, nn. 106, 607; Theiner, Vetera Monumenta Poloniae (nt. 7), nn. 604, 713; P. W. Knoll, Poland as ,antemurale Christianitatis‘ in the Late Middle Ages, in: The Catholic Historical Review 60, 3 (1974), 381401. P. Linehan, The Spanish Church and the Papacy in the Thirteenth Century, Cambridge 1971, 103-112, 208-209, 323; Linehan, History and the Historians (nt. 8), 289, 292-296, 305-310. J. Gonzalez, Reinado y Diplomas de Fernando III, Cordoba 1986, 3 voll., vol. 2, n. 115.
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arguments of Muslim revolts and attacks from North Africa that might endanger the reconquest and thus Christendom were sometimes used by Iberian kings, their main reference point was victorious expansion and the promise of further Christian conquests. By the middle of the thirteenth century, most of the Peninsula came under Christian dominion. Popes celebrated Christian victories. For example, Pope Urban II in 1088 praised King Alfonso VI for having liberated the church of Toledo from Muslims; similarly in 1255, Pope Alexander IV exulted over the extension of Christian cult by King Fernando III 18. Iberian kings could capitalize on such recognition. At the same time, there is plenty of evidence for peaceful interaction with and royal employment of Muslims. As in the case of Hungary and Poland, rhetoric directed towards the popes only focused on one side of reality. The ,Estoria de Espan˜a‘, a chronicle composed during the late thirteenth and fourteenth centuries, shows how the religious reference-point was emphasized especially in relations with the outside world, while often other arguments were deployed for domestic consumption. It gives a fictitious account of two speeches delivered by King Alfonso VIII of Castile on the eve of the Battle of Las Navas de Tolosa (1212), which was celebrated as one of the greatest Christian victories over the Muslims. Alfonso is presented speaking separately first to those coming from various parts of the Iberian peninsula, and then to the ,ultramontans‘: Italians, Germans and French. To the first, he says „we are all Spaniards“, emphasizing that the war is necessary in order to regain lands unjustly taken by Muslims. Christians have to take revenge for past defeats. To those who came from outside the Peninsula, however, Alfonso says that „we are all one in Christianity and the Church“. All the faithful had been harmed by Muslim victories; revenge will honour all of Christendom 19. We can thus see the adaptation of the anti-Muslim rhetoric and the emphasis placed on a common Christian cause towards those who come from outside Iberia. Hungarian, Polish and Iberian rulers used the argument that they defended Christendom in order to persuade the popes to grant their requests, which were similar in all three cases. They all demanded financial aid, which most often meant the use of ecclesiastical revenues within the kingdom, and control over ecclesiastical nominations or elections in their kingdom. In other words, they were striving to achieve aims that were central for other rulers as well in the thirteenth and fourteenth centuries, a period of growing monarchical power. Their goal was similar to Philip the Fair’s for example; yet the way they fought 18
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Mansilla, La documentacio´n pontificia hasta Inocencio III (nt. 10), 40; I. Rodriguez de Lama, La documentacio´n pontificia de Alejandro IV (1254-1261), Rome 1976, 92. R. Mene´ndez Pidal (ed.), Primera Cro´nica General de Espan˜a, Madrid 1955, 2 voll., 693, chapter 1013: „1. ,Amigos, todos nos somos espannoles, et entraronnos los moros la tierra por fuercX a’ ,me ayudedes a tomar uengancX a et emienda del mal que e tomado yo et la cristiandad’ 2. ,predicoles en razon de la eglesia de Cristo et de la cristiandad, diziendoles como en la cristiandad et en la eglesia todos eramos unos, et como ell su danno alcancX aua a todos: que otrossi la su emienda et la su uengancX a onrra et pro serie de toda la cristiandad et de la eglesia‘.“
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for it was different. They could use the notion formulated and advocated by the papacy of a territorial Christendom that had to be defended and expanded, and turn it to their own advantage by claiming to be kings over kingdoms crucial in the defence or expansion of Christendom. Therefore the kings of Hungary, Poland and the Iberian kingdoms could base their claims on papal ideas themselves. This does not mean that all rulers were equally successful in receiving papal approval for their wishes. In fact, although Be´la’s letters triggered papal anxiety, his requests were not accepted. A series of papal letters attests to the fear of a possible Mongol alliance, yet none gave a free hand to the king over ecclesiastical resources and personnel 20. Pope Alexander IV even reprimanded the king, putting the ultimate blame on him and his people: a true Christian king, the pope argued, would pray to God and be willing to sacrifice all rather than contemplate an alliance with the infidel 21. Iberian rulers also failed at times, for example to receive papal dispensation for a marriage within the forbidden degrees of kinship 22. In other cases these arguments brought spectacular results. Kazimierz received papal authorization to retain part of the ecclesiastical revenues, theoretically in order to use them in the defence of the kingdom 23. Iberian kings also received, and increasingly appropriated, the use of ecclesiastical revenues. Their demands were always based on a justification that such aid was needed for defence and expansion, but the actual use of these revenues was often in pursuit of other aims. Soon these ecclesiastical contributions (tercias) became simply a part of royal revenues. These rulers also intervened in ecclesiastical elections and strove to control ecclesiastics in their kingdom 24. The argument of merits stored up in Christendom’s defence cropped up in other contexts as well. Thus Jaime I of Aragon told his confessor, when the latter was reluctant to absolve him of the sin of adultery, that God would surely forgive him his extra-marital relations, Jaime having served God so well through the reconquest of Murcia 25. The later Middle Ages also provided opportunities for similar rhetoric. During the wars with the Ottomans, the defence of Christendom became a crucial issue along the changing frontiers with the Ottomans as well as in Italy. Such a notion could be adopted and adapted to local situations, as shown by the case of the Albanian national hero, Scanderbeg (1403-68) and his family. Gjon Castrioti, Scanderbeg’s father, was a chieftain in Albania who made the family’s fortune 20 21 22 23
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Theiner, Vetera Monumenta Historica Hungariam (nt. 4), nn. 454, 483-484. Theiner, Vetera Monumenta Historica Hungariam (nt. 4), n. 454. Linehan, History and the Historians (nt. 8), 255-267. Sułkowska-Kuras´/Kuras´, Bullarium Poloniae, vol. 2 (nt. 15), n. 106; Theiner, Vetera Monumenta Poloniae (nt. 7), n. 604. There are numerous examples, see e. g. Linehan, The Spanish Church and the Papacy (nt. 16), 103-112; A. Rodriguez Lopez, La consolidacio´n territorial de la monarquı´a feudal castellana: Expansio´n y fronteras durante el reinado de Fernando III, Madrid 1994, 127-128, 133. J. Bruguera (ed.), Llibre dels Fets del Rei en Jaume, vol. 2, Barcelona 1991, 296, chap. 392.
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after the Serbian kingdom of Stefan Dusˇan collapsed, extending the family lands to the point of the Castrioti becoming one of the leading families. In 1409 Gjon wrote to the Venetians that one of his sons was taken hostage and the Ottomans put pressure on him to allow them access to his lands in order to attack Venetian possessions in Albania 26. He asked that Venice give him a private allowance, hire his unemployed soldiers, and take him under Venetian political protection. He cited religious reasons as well as affection for Venice as the backdrop of his communication, and also threatened the Venetians that should they be unable to do anything for him, he would be justified if he had to give in to the Ottomans whose superior strength would force him to obey. Ottoman power at this point was weak (indeed there was a civil war after the collapse of Timur’s empire) and posed no real threat to the Venetians, who declined to give Gjon what he asked for. The real context for Gjon’s letter was not religious warfare, but rivalry and war between various local families in Albania, with both Venice and the Ottomans as the potential allies of one Albanian chieftain against another. Gjon then tried to gain leverage with Venice by sending one of his sons into Serbian service against Venice and writing to the Venetians that he had been forced to do so and hoped for Venetian payments to himself. Therefore we can see that the point of reference, filling the role of the enemy of Gjon and hence of the Venetians could be either the Ottomans or the Serbians, supporting Gjon’s argument in order to wrest privileges from Venice. Despite the rhetoric, this was not an instance of fighting for a Christian cause as such. In 1428 Gjon wrote again to the Venetians, relating that the Ottomans were pressing him for help against Venice (who held Thessaloniki, coveted by the Ottomans) 27. He asked for material help and an assurance that if one of his sons, who became a Muslim, should attack Venice at the Sultan’s orders, he himself would not be held responsible. So it is clear that in fact the family tried to assure its own position in both camps: the eldest son married a Muslim woman, while the father tried to gain special status with Venice. In this instance, the Venetians gave some trade concessions to Gjon. Despite being such a master at political manoeuvres, Gjon was finally subjugated by the revived Ottoman power. His youngest son, Gjerj, better known as Iskender Bey or Scanderbeg, i. e. the Lord Alexander, received some of the family lands back from the Ottomans; perhaps he converted to Islam, and certainly he accepted subjection to the Ottomans in a political bargain for local power. He possessed lands in Albania given to him by the Ottomans, and was presumably an ally of the Ottomans, giving them military help at Nisˇ in 1443. But when the Ottomans were defeated by the Hungarians there, he repudiated Ottoman overlordship, wanting to restitute his family’s wealth and power. He thus invited Ottoman reprisal. A religious cause was definitely not his guiding principle: the family supported both branches of Christianity, and one of his brothers was a Muslim. This was a family ready for 26 27
H. Hodgkinson, Scanderbeg, London 1999, 41. Hodgkinson, Scanderbeg (nt. 26), 46-47.
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every eventuality, used to having negotiations with all. After his defection from the Ottomans, Gjerj’s first concern was safety, and that led him to ally with those Christian powers that were waging war against the Ottomans. The Muslims in Albania either escaped or were given the choice between baptism and death; Scanderbeg consolidated his military and political power, and built a coalition with his brothers-in-law. His alliance with the Catholic church became firm because in any case he could have no hope in further negotiations with the Ottomans. Eventually, when faced with an Ottoman army seeking to punish his disobedience, Scanderbeg was victorious: Christian powers congratulated him, and he came to be seen as a warrior for Christendom. Pope Eugenius IV gave thanks to God for raising up another defender for Christendom, Nicholas V later called him an athlete of the true faith 28. He had to face many further Ottoman attacks, because Albania was both in the way of expansion and was insubordinate. His technique of guerilla warfare brought victories against the attacking armies. Yet at the same time some Albanian chieftains and even members of Scanderbeg’s own family made alliances with the Ottomans, so even at that point war was not a clear-cut religious issue. A past spent in the defence of Christendom became part of nationalist rhetoric in eastern and central Europe in the modern era. It was especially used as a compensatory device for backwardness, both to evoke past glory and to cast that past in a self-sacrificial form in order to explain present backwardness. In the nineteenth and twentieth centuries people in about a dozen different countries held the view that their country or nation has defended the West against a variety of different enemies (pagans or infidel, barbarians, tyrants or political enemies) for centuries, and thereby ensured peaceful and unhindered economic and political development for the West. As a result, their own country remained backward economically and perhaps also politically. However, when in turn their country needed help, it was completely abandoned and ignored by an ungrateful West. Variations of this idea, or, I would argue, ideology, developed in a range of countries on the Balkans, in Eastern and Central Europe and in Spain. This view is still present in varying degrees among these populations, while it has been debunked as a myth by some historians. The notion of having defended Europe for centuries played a key role in modern national histories. This ideology was perhaps most pervasive in Poland until very recently, when Janusz Tazbir wrote a book about the myth of Poland as the rampart (przedmurze) of Europe 29. As he showed, nineteenth-century writers, despite their wide-ranging political views, all expressed in very similar terms the notion that while Poland had, for centuries, defended Europe, so that European society, culture and life could develop, Europe has abandoned Poland 30. 28 29 30
Hodgkinson, Scanderbeg (nt. 26), 76 J. Tazbir, Poland as the Rampart of Christian Europe: Myths and historical reality, Warsaw 1983. Tazbir, Poland as the Rampart of Christian Europe (nt. 29), 109-145. All the quotations from modern Polish sources that I use here are from this section of the book.
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„Europe repays with ingratitude The moans of our brothers for her salvation When she forgets that Poland as its strong rampart Repelled the Eastern storms from the rest of the world,“ -
Thus an early nineteenth-century preacher. „Poland was the rampart against the Asian hosts“ and due to this „in the womb of Europe, human rights, religion, arts and knowledge of various kinds useful in social life could be preserved“. Therefore Europe was indebted to Poland and should repay her by restoring Polish independence - thus an early nineteenth-century left wing author, Andrzej Horodyski. As another member of the intellectual elite put it: „Separating Europe from Asia, Poland […] served Europe as a rampart […] and for a thousand years [they] have fought incessantly with hordes of Tatars, Turks, Kalmyks and Cossacks pushing their way toward Europe. They never admitted them into Europe, always stemming them at the Dniester, Dvina, Bug, and Vistula.“
Thanks to these efforts by Poland, other European nations could develop. And, a final example from the early nineteenth century: „Like the ocean against the bulwark of the Pyrenees, The infidel hordes were scattered by our swords. O, proud Vienna, you would not stand today if one Hundred years ago Sarmatian swords had not shielded you.“
By the early nineteenth century, Poland’s inability to defend itself independently fostered the use of Poland’s past as a political argument. Writers accused Europe of ingratitude, repaying Poland for her self-sacrifice by partitioning the country, and expressed the expectation that Europe should help in return for Poland’s earlier services. Partitioning was a crime against „a nation which had saved civilization and Christendom from the Tatars at Legnica, from the Ottomans at Hotin and Vienna, and for so many years had protected it from the Muscovite rabble“. This view of Polish history became very popular; but it entailed rewriting the past. The fact that during most of the seventeenth century Poland avoided hostilities with the Ottomans and in fact even used Tatar military aid against Christian opponents was written out of this version of history. Poland was also represented as always engaged in defence, rather than offensives or wars of conquest; and finally, Poland was seen as unique, the only bastion of Christendom and defender of European civilization. The meaning of the rampart of Christendom was also flexible: during the nineteenth century as political conflicts grew between Poland and Russia, as well as between Poland and Germany, anti-Russian and anti-German interpretations of the rampart ideology also appeared. Thus Poland has allegedly protected Europe against schismatics (orthodox Russia) and despotism, and its defeat of the Teutonic Knights was the defence of Europe against German aggression. Poland was ,the shield of civilization‘ as well as of the ,free peoples of Europe‘ against barbarians from the east and north. According to this view of history, Poland’s heroic past was also
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directly responsible for a troubled present. As a result of defending Europe, Poland could not participate in the great epochs of European civilization. Thus it fell behind in economic, industrial, and political development. This was the theory of ,civilizational youngness‘, put forth as an explanation for every problem Poland encountered. As Karol Sienkiewicz, an e´migre´ author put it in 1860: „We bore the burden of centuries of invasions by barbarian peoples […] at the cost of our own advances in civilization.“ These views pervaded not just history writing but historical novels, paintings and poetry: they became the substructure of Polish culture. The idea of the rampart was also intertwined with Catholicism: the Polish national mission was to defend Catholic Europe. In the late nineteenth century socialist critics in Poland attacked the idea of the Polish rampart as clerical propaganda: „No one asks for our help, neither civilization, nor Christendom […] let us abandon the deceptive thought that we are […] the indispensable dam holding back the wave of Asiatic barbarism.“ Instead, they blamed the gentry as the most destructive influence on the development of Poland. Yet this attack did not lead to the demise of the rampart ideology; rather, the main difference between its various proponents remained one of interpretation. While some thought that Poland’s role as the rampart of Europe was proof of the grace of God, for others it was a trap with tragic consequences. In the twentieth century, both Catholics and Marxists referred to Poland as the rampart of Europe, and the idea infiltrated Polish consciousness to such an extent that Poland’s uniqueness in this respect is a commonplace for the Poles themselves. How better to illustrate the influence of the myth of Poland’s uniqueness than by reference to Tazbir’s work? He has done the most to show that Poland as the rampart of Europe is a myth. He highlighted how Poland was very far from being the only one to be in the path of Mongol, Ottoman and other attacks in the medieval and early modern periods. Yet even he failed to see that Poland was also not unique in creating the myth of the rampart in the modern age: „The tradition of the rampart of Christendom played hardly any role in the development of […] Hungarian […] historical consciousness in the 19th century. And in the next century, none of the historians […] dreamed of connecting later history with the fact that for a certain time their nation […] played the role of an antemurale.“ 31
Nothing could be further from the truth, as the Hungarian example demonstrates 32. Nineteenth-century historiography maintained that Hungary had been the shield and rampart of Christian Europe against first the Mongols in the thirteenth century, then the Ottomans from fifteenth- through the seventeenth centuries. It became a commonplace view that Hungary stopped these attackers 31 32
Tazbir, Poland as the Rampart of Christian Europe (nt. 29), 148. For an overview and bibliography cf. S. Csernus, La Hongrie, le rempart de la chre´tiente´, naissance et e´panouissement de l’ide´e d’une mission collective, in: C. Delsol/M. Maslowski/J. Nowicki (eds.), Mythes et symboles politiques en Europe Centrale, Paris 2002, 107-124.
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at the price of sacrificing herself: the Mongol devastation and the Ottoman rule for 150 years over a large part of Hungary were seen as main turning points. This interpretation of the past came to be part of the curriculum in elementary schools and many generations grew up learning it as a self-evident fact. Hungary’s role in the defence of Europe was also presented as a particularly glorious aspect of national history. Only in the 1930s did studies about the history of the idea itself begin to appear, and even these were cautious investigations, as the issue went to the heart of Hungarian national consciousness. The most influential early twentieth century interpretation of Hungarian history stated that before the Ottoman conquest Hungarian social and economic development was along the same lines as that of Western Europe; it was because Hungary was the shield of Christian Europe that the country fell behind and entered the modern age as a backward country, agricultural rather than industrialized, and lacking a middle-class 33. The peace treaty of Trianon after the First World War, which entailed the loss of large areas regarded by Hungarians as part of the national territory, was interpreted as an injustice perpetrated by a Western Europe ungrateful for the protection Hungary had provided for centuries. Whereas in Poland the national grievance was connected to the eighteenth-century partitions, in Hungary it centred on World War I. As a result of these losses, national history, infused with myths, became more precious: it showed that in the past, the country was powerful and played a heroic role. Both in Poland and in Hungary, the modern political situation engendered the birth and perpetuation of the myth of Europe’s rampart. Also, in both countries it was an integral part of the myth to emphasize the unique fate of the country in question. So Hungarians also saw themselves as having been the only rampart of Christendom and the only ones to be mistreated by an ungrateful Europe that forgot about Hungary’s sufferings. Modern myths relating to Iberia’s role on the frontier have been more complex. The historiographical tradition has been analyzed by Peter Linehan, and there is now a steadily growing literature on the topic 34. A Spanish consciousness based on a sense of messianic destiny for the monarchy (later transferred to the Spanish nation) linked to religiosity and military ability started to emerge beginning in the sixteenth century. The Reyes Cato´licos manifested what later came to be seen as the ,essence‘ of Spanish national character, the military defence of the faith and the Church. In the seventeenth century Spanish writers berated the French for their alliance with the Ottomans and claimed that the faith of Spaniards was superior, proven by warfare against Islam. The mythic identity of Spaniards as pure Christians was propagated for centuries, despite the fact that until the sixteenth century Jews and Muslims were parts of Iberian 33 34
B. Ho´man/Gy. Szekfu˝, Magyar Törte´net, 5 voll., Budapest 21935, vol. 3, 101-113, 498-499. P. Linehan, History and the Historians (nt. 8); E. Mitre Fernandez [e. a.], Fronteras y Fronterizos en la Historia, Valladolid 1997.
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society. Spanish character was understood to have been formed through centuries of Christian Reconquest. The significance of the frontiers separating Christians from others and defining Spanish identity only started to be questioned in twentieth-century historiography; official national identity was vested in xenophobe nationalism for even longer. The mission or destiny that was the core idea behind nineteenth and much of twentieth century Spanish nationalism resembles the Polish and Hungarian one in some ways: the defence of Europe against attackers, in this case Muslims. Yet the Spanish version of the myth was more triumphalist, emphasizing Spanish successes. The historical figure of the adventurer and warlord El Cid (Rodrigo Diaz de Vivar), who in reality had opportunistically switched sides between Christians and Muslims, came to be seen as the typical frontiersman in the twentieth century in his reincarnation as a tireless Christian hero who never ceased to fight the Muslims (unless they offered and kept the peace), even leading a battle after death, his corpse tied to his horse in order to make sure that his men fight in the belief that he is still alive. The film with Charlton Heston, based on this version of the Cid legend became very popular; its advisor was one of the leading Spanish medievalists. Ironically, in the Spanish Civil War both sides provided impetus to reinforce this myth. Francoist ideology quickly appropriated the role of being the continuator of the Spanish national mission. Yet even on the Republican side, as the words of Ay Carmela remind us, reference to fighting against the Moors was used to designate the anti-Francoist war. An in-depth questioning of the Christian myth only started after the fall of Franco. In the late twentieth century, the demystification of the Reconquista began. However, this historiographical change itself also led to an emphasis on the uniqueness of Spain, even if the connotation of ,uniqueness‘ now became negative: Spain has recently been castigated as being responsible for the first European colony and the start of colonialism, and the Reconquista was branded as having had a negative influence on Spanish history, causing the country’s backwardness. Thus, while some historians now try to demonstrate that there was nothing distinctive about Spanish medieval society compared to that of other European countries, others reinterpret the idea of Spanish uniqueness 35. And what of Scanderbeg? Later legend turned him into a hero who fought for the cause of Christendom: based on a sixteenth-century life, his story was transformed into one of a boy taken as hostage by the Ottomans with his three brothers, and they were all made to convert to Islam. According to this story, he was the only male child of the family to survive, and he became a favourite of the Sultan and a general in his army. Nevertheless he reverted to Christianity at the age of forty when the Ottomans were defeated at Nisˇ and „proclaimed 35
T. Ruiz, Expansion et changement: la conqueˆte de Se´ville et la socie´te´ castillane 1248-1350, in: Annales ESC 34, 3 (1979), 548-565; J. Torro´, Je´rusalem ou Valence: la premie`re colonie d’Occident, in: Annales HSS 55, 5 (2000), 983-1008.
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himself an avenger of his family and country“, becoming the athlete of Christendom. This story became popular in his own country in the period when Albania was under Ottoman rule (which lasted until 1912), with no real power of its own; and Scanderbeg’s popularity as a national hero has continued to the present day. Nineteenth- and twentieth-century nationalism in all four countries used the medieval past as a key reference point of national history. These countries were portrayed as the champion of Europe, of Christendom, of civilization, and of freedom in the medieval period. These notions developed and gained in strength when the real power of the countries in question was nonexistent or weak; the glorious past was compensation for a dire present. In present times, Christian culture is evoked again as a value-laden framework for western civilisation that has to be defended against its detractors. We can note some variation of the vocabulary over time. There has been a change from using primarily ,Christendom‘ in the Middle Ages to primarily using the term ,Europe‘ in modern times. Yet throughout the modern period and even today, Europe is often equated with a Christian entity in such rhetoric. The equation goes back to the thirteenth and fourteenth centuries when ,Europe‘ became a synonym of Christendom 36. Christendom, however, was never a unified whole with clearly defined frontiers that could be defended either against military attacks or against the penetration of different cultural values. Divisions between Christian rulers notoriously handicapped defence against both great medieval incursions, the Mongols and the Ottomans. Trade, negotiations and alliances cut across lines of religious adhesion. Nor was there a unified Christian culture; from the very beginning a variety of influences inflected this culture, and local variations developed as Christianity spread. While rhetoric for specific purposes stressed confrontation along religious lines, reality included peaceful dealings, intermarriage and alliances irrespective of religious adherence 37. If the defence of Christendom has never been such a clear-cut reality, why has the formulation endured for so long? Because it was always possible to fill the framework provided by the notion of ,the defence of Christendom‘ with a new political meaning that fit the day. To evoke the need to defend the frontiers of Christendom, was in the Middle Ages, and still is now, part of a rhetoric of power. Medieval kings and modern governments made use of the rhetoric for their own ends; in between it has also permeated popular sentiment.
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D. Hay, Europe: The Emergence of an Idea, Edinburgh 21968; A. Paravicini Bagliani, Il papato medievale e il concetto di Europa, in: G. Ortalli (ed.), Storia d’Europa, vol. 3, Il Medioevo (secoli V-XV), Torino 1994, 819-845. N. Housley, Frontier Societies and Crusading in the Late Middle Ages, in: B. Arbel (ed.), Intercultural contacts in the Medieval Mediterranean, London 1996, 104-119.
Die Dauern der mittelalterlichen Musikgeschichte aus Sicht des 19. Jahrhunderts Frank Hentschel (Gießen) Sich mit der Konstruktion von mittelalterlichen Zeitdauern durch die Musikgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zu befassen, setzt die Einbeziehung dreier Perspektiven oder Sehepunkte (Martin Chladenius) voraus: des mittelalterlichen, desjenigen der Musikhistoriker des vorletzten Jahrhunderts und den des aktuellen Autors. Und dies ist bereits eine weitreichende Vereinfachung, denn die Formulierung suggeriert, es gäbe jeweils ,den‘ Sehepunkt ,des‘ Mittelalters und den ,des‘ 19. Jahrhunderts (womit, nebenbei sei es bemerkt, bereits zwei Dauern konstruiert werden). Doch diese Vereinfachung soll in Kauf genommen werden, um überhaupt die Möglichkeit zu eröffnen, Schneisen ins Dickicht von Perspektiven und Konstruktionen von Dauern zu schlagen. Historische Dauern werden mit Hilfe von ebenfalls zeitlichen Kategorien geschaffen, die in unterschiedlichem Verhältnis zur Dauer selbst stehen. Zu ihnen gehören Brüche innerhalb des historisch betrachteten Zeitraums, Entwicklungen, Distanzen zwischen Objekt und Betrachter sowie Konstanten. Sie sind im Einzelnen schwer auseinanderzuhalten und bei der Konstruktion von Dauern zumeist ineinander verschränkt. Die Gliederung des folgenden Beitrags richtet sich daher nach inhaltlichen Elementen anstatt nach solchen systematischen Kategorien. I. Die Dauer des Christentums Das Mittelalter ist eine historiographische Konstruktion, die nicht nur selbst eine Dauer darstellt, sondern zugleich einerseits unterschiedliche Dauern in sich enthält, sich also aus sich überlagernden, längeren und kürzeren Dauern zusammensetzt, und sich andererseits von längeren Dauern abhebt. Eine solche längere Dauer wäre beispielsweise das Konzept der Schriftkultur als Konstante oder die Idee des Zivilisationsprozesses als Entwicklung. Diese längeren Dauern sind für Historiker oft besonders wichtig, doch mit Blick auf den spezifischen Umgang mit dem Mittelalter besitzen sie natürlich geringere Aussagekraft. Das Gleiche gilt nicht für längere Dauern, deren Anfang oder Ende mit der Dauer des Mittelalters zusammenfällt. In diesem Sinne ist das Christentum für die Dauer des Mittelalters konstitutiv. Denn der Anfang des Christentums und jener des Mittelalters fallen - für die Musikhistoriker des 19. Jahrhunderts -
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zusammen; und dabei handelt es sich um ein Ereignis von herausragender Bedeutung. Der Beginn der mittelalterlichen Musik ist zugleich der Beginn der christlichen Musik, damit aber der Beginn der ,abendländischen‘, ,europäischen‘, ,modernen‘ oder ,romantischen‘ Musik. Kein Bruch wird in den Musikgeschichten derart akzentuiert und derart mit Bedeutung aufgeladen wie derjenige, der durch die Entstehung des Christentums begründet zu sein schien. Die Historiker nutzen sämtliche ihnen zur Verfügung stehenden Mittel wie Rhetorik, Narration, Selektion und Ausblendung, Suggestion und Imagination, um diesen Bruch gehörig in Szene zu setzen. Der Grund für dieses Vorgehen ist offenbar in einem Element der Identitätsstiftung zu suchen, der die Geschichtsschreibung diente. Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts verstand sich als wesentlich christlich und entwarf daher den Hauptabschnitt der Musikgeschichte als eine historische Einheit, zu deren wesentlichen Merkmalen die Christlichkeit gehörte. Die musikgeschichtliche Variante von Johann Gustav Droysens Diktum: „Wir leben innerhalb der christlichen Welt, sind Christen zunächst, weil wir in dieselbe hineingeboren sind“ 1, lautete bei Paul Frank: „Unsere heutige Musik wurzelt durchaus im Boden des Christentums“ 2. Raphael Georg Kiesewetters Werk trug daher den opulenten Titel: ,Geschichte der europäisch-abendländischen oder unserer heutigen Musik. Darstellung ihres Ursprungs, ihres Wachstums und ihrer stufenweisen Entwicklung, von dem ersten Jahrhundert des Christentums bis auf unsere Zeit‘ 3. Im Umgang mit den Personalpronomina kam die Einheits- und Identitätsstiftung überdeutlich zum Ausdruck: Die europäisch-abendländische Musik galt als Ganzheit, gehörte der eigenen, ,unserer‘ Kultur an und war christlich. In der Restauration des Gregorianischen Chorals im 19. Jahrhundert reflektiert sich diese konstruierte Kontinuität auch realgeschichtlich. Um die Einheit und Selbständigkeit dieses Konstrukts zu unterstreichen, wurde der Beginn der christlichen Musik, insbesondere von Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als radikaler Bruch mit heidnischen sowie jüdischen Traditionen geschildert. Kiesewetter erläuterte daher, die griechische Musik habe zugrunde gehen müssen, damit die moderne Musik habe entstehen können. Die ,neue Musik‘ konnte nur in dem Maße gedeihen, in dem „sie sich von den ihr aufgedrungenen griechischen Systemen zu entfernen anfing“ 4. Die im Schutz der Katakomben abgehaltenen Zeremonien der ersten Christen nutzte Kiesewetter, um ein wirkungsvolles Bild für die Exklusion und Exklusivität ihrer Musik zu entwerfen. Die ,neue Musik‘ sei „unbeachtet, in niederen Hütten, ja in verborgenen Höhlen, entstanden: Es gestaltete sich in den Versammlungen 1 2
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J. G. Droysen, Historik (1857), Textausgabe von P. Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, 42. P. Frank, Geschichte der Tonkunst. Ein Handbüchlein für Musiker und Musikfreunde in übersichtlicher, leichtfaßlicher Darstellung (1863), Leipzig 21870, 5. R. G. Kiesewetter, Geschichte der europäisch-abendländischen oder unserer heutigen Musik…, zweite Aufl., Leipzig 1846, Nachdruck Vaduz 1986. Ibid., 1.
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der ersten Christen - meist armer, ungelehrter, in den sublimen Kenntnissen griechischer Musik schon zumal gar nicht eingeweihter schlichter Leute - ein höchst einfacher, kunst- und regelloser Naturgesang“ 5. Die Vorstellung, daß die Musik der Christen als naturwüchsiger Gesang nicht so sehr ungebildeter als vielmehr von der griechischen Musik unverbildeter Menschen entstanden sei, konnte sich auf keinerlei Quellen stützen, machte aber gerade dadurch deutlich, daß sie einer Motivation folgte, die an das Material herangetragen wurde. Kiesewetter suchte seine Behauptung durch Zusatztheorien zu stützen: Selbst wenn die Christen Kenntnis von der griechischen Musik besessen hätten, so sei ihre „Abscheu gegen alles, was an Heidentum erinnern konnte, […] zu groß, als daß sie Gesänge aus den Tempeln oder Theatern zugelassen hätten; ebenso wollten sie von dem Judentume sich durchaus sondern […]; und überhaupt war es ihnen ganz eigentlich darum zu tun, eine von den Weisen jedes anderen Kultus verschiedene, ihnen eigene Art des Gesanges zu stiften“ 6. Ein anderer Autor einer großen Musikgeschichte, Gustav Schilling, griff diese Argumente auf und baute sie mit derselben Intention aus, doch ließ sich diese Konstruktion nicht lange aufrechterhalten. Zu wenig überzeugend war es, daß inmitten einer Kultur mit zahlreichen Musiken eine Musik ohne Bezug auf Traditionen, gleichsam aus dem Nichts, habe auftauchen können. August Wilhelm Ambros machte auf diesen Mangel aufmerksam 7, und dennoch fanden die Musikhistoriker Wege, an dem von Kiesewetter und Schilling so effektvoll ausgemalten Geschichtsbild festzuhalten, indem sie behaupteten, erst seit dem Christentum besitze die Musik wahren Kunstcharakter und erst durch das Christentum habe sich Innerlichkeit verbreiten können, die eine Voraussetzung für Musik im modernen Sinne sei 8. Der Beginn des Mittelalters fiel daher mit dem Beginn einer langen Dauer zusammen: der Dauer des Christentums, das ein Element der bürgerlichen Identität des 19. Jahrhunderts darstellte. Bruch (mit der Vergangenheit) als Mittel der Exklusion, nämlich der Exklusion von Heidentum und Judentum, und Kontinuität (zur Gegenwart hin) als Mittel der Einheitsbildung griffen hier ineinander; gemeinsam konstituierten sie eine Dauer, innerhalb deren das Mittelalter angesiedelt war. Alles, was sich im Mittelalter an Brüchen und Entwicklungen abspielte, spielte sich vor diesem Hintergrund einer christlichen Kontinuität ab, die mit den Konzepten ,Europa‘ und ,Abendland‘ zusammenfiel. Der musikhistorische Bruch besaß zwei Facetten: Zum einen mußten in die Vergangenheit weisende Wurzeln ausgeblendet werden; zum anderen mußten in die Zukunft weisende Elemente an der Musik der Christen, das heißt am Choral, herausgearbeitet werden. Zwei solcher Elemente wurden gefunden, die den 5 6 7
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Ibid., 2. Ibid. Cf. A. W. Ambros, Geschichte der Musik, Bd. 2 (1864), zweite, verbesserte Aufl., Leipzig 1880, 7-11. Belege in meinem Buch Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776-1871, Frankfurt a. M.-New York 2006, 483-485.
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Choral auszeichnen und zugleich Voraussetzungen für die Entwicklung der Musik bis in die Gegenwart darstellen sollten: Erstens habe der Choral die Melodie von ihrer Anbindung an das Wort gelöst, das heißt die Entstehung einer rein musikalischen Melodik bewirkt, die nicht mehr an rhythmische Vorgaben der Sprache gebunden war. „Die Befreiung der Melodie von den Fesseln der Metrik zeriss das Band, welches bis dahin die christliche Musik noch mit der antiken verknüpft hatte, und emanzipierte die Tonkunst faktisch von der Wortdichtung“, schrieb Ambros 9. Zweitens sei der polyphone Tonsatz, der als das herausragende Charakteristikum der europäisch-abendländischen Musik galt, „aus dem Gregorianischen Gesange (wie ein reichverzweigter Baum voll Blätter, Blüte und Frucht aus dem Samenkorne)“ aufgesproßt 10. Damit wurden die Grundlagen der modernen Musik, die Selbständigkeit der Melodik, ohne die keine Instrumentalmusik, keine beethovenschen Symphonien denkbar waren, und die Mehrstimmigkeit, ohne die dem 19. Jahrhundert keine Kunstmusik denkbar schien, in der Musik des frühen Christentums verwurzelt und eine rein musikalische Dauer konstruiert, die mit der religiösen freilich genau korrespondierte. II. Die Dauer des Nationalen Als Pseudo-Odo im frühen 10. Jahrhundert von antiqui und moderni schrieb, meinte er offensichtlich Heiden und Christen 11. Besonders aufschlußreich ist, daß es Ps.-Odo um die Rechtfertigung einer Wissenschaft ging, die nicht nur ihren Ursprung bei den Heiden hatte (ab antiquis inventa), sondern auch als über9
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Ambros, Geschichte der Musik (nt. 7), 61; weitere Belege in meinem eben zitierten Buch (nt. 8), 292 sq. Ambros, Geschichte der Musik (nt. 7), IX. Dieses Motiv war in dieser Ausdrücklichkeit nicht so weit verbreitet wie das erstgenannte, doch wurde es beispielsweise von Moritz Carrie`re aufgegriffen und mittels einer Analogie fortgeführt: „Gerade so“ - wie der Gregorianische Choral neben Palestrina - „steht die einfache Basilika neben dem reichen gotischen Dom als sein Keim und zugleich in eigentümlicher Vollendung; gerade so ist die sittliche Wahrheit in den biblischen Büchern so klar und voll ausgesprochen, daß alle Philosophie in ihrer Entwicklung wieder zu jener hinführt, in ihr einmündet“ (96). Karl Christian Friedrich Krause, Darstellungen aus der Geschichte der Musik nebst vorbereitenden Lehren aus der Theorie der Musik (1827), zweite und verbesserte Aufl., ed. August Wünsche, Leipzig 1911, knüpfte die Entstehung der Mehrstimmigkeit ebenfalls an das Christentum, doch bezog er sich nicht auf den Choral als Keimzelle, sondern stellte den Zusammenhang, ein wenig kryptisch, über die Ideengeschichte her: „Die Liebe der Freundschaft und der Ehe wurde in der Liebe Gottes rein und verklärt; so wurde die Musik zuerst vielstimmig, und im höheren Sinne poetische Darstellung des Gemütslebens als die Kunst, geweiht der Liebe zu Gott und zu allen guten und schönen endlichen Wesen […] Dieser Aufschluß, diese Wiedergeburt der Herzen durch das Christentum, - die Religion der reinen, freien, gottseligen Liebe, - vermochte es, die Harmonie zu erwecken“ (56). Zur Verwendung der Begriffe antiqui und moderni im Mittelalter siehe auch A. Zimmermann (ed.), Antiqui und moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 9), Berlin 1974, hier insbesondere die Beiträge von E. Gössmann und W. Hartmann.
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aus kompliziert galt. Der Autor hob daher die Bedeutung der Disziplin hervor und sicherte diese Feststellung durch Verweis auf das Urteil der Kirchenväter: Wenn diese „die von den Heiden (pagani) überlieferte Disziplin (ars) als müßig erachtet hätten, hätten sie ihre notwendigen Regeln niemals mit der Autorität der heiligen Kirche bekräftigt“ 12. Dieser Gedankengang besitzt eine direkte Parallele zu Kiesewetters musikhistorischem Anliegen, die Kontinuität zwischen heidnischer und christlicher Musik aufzuheben. Auch bei Ps.-Odo wurde Tradition insofern zum Problem, als sie eine Kontinuität zwischen Heidentum und Christentum herstellte. Nur dadurch daß die Kirchenväter die Übernahme des heidnischen Wissens mit kirchlicher Autorität ausstatteten, ließ sie sich legitimieren. Antiqui konnten griechische oder römische Autoren sein, doch das Merkmal, das ihnen gemeinsam war und sie von Ps.-Odo trennte, war die Abwesenheit des christlichen Glaubens. Daß eine Abwesenheit als konstitutives Merkmal fungieren konnte, zeigt, daß auch hier eine Identitätsstiftung im Spiel war, der es genügte, die anderen vom Eigenen abzugrenzen. Daß das Kriterium von Exbzw. Inklusion die Zugehörigkeit zum Christentum war, bedeutet nichts Geringeres, als daß die von den Musikhistorikern des 19. Jahrhunderts konstruierte Kontinuität ein Element fortschrieb, das in der Tat bereits im mittelalterlichen Bewußtsein vorhanden war - wenn man einmal das nicht unerhebliche Problem ausblendet, inwieweit das Christentum mittelalterlicher Kleriker und jenes bürgerlicher Historiker des 19. Jahrhunderts überhaupt dasselbe Christentum war. Ganz anders verhielt es sich mit der Dauer des Nationalen. Die Nationen, deren historische Kontinuität nichts als Rückprojektion und Wunschtraum war, existierten im Mittelalter weder real- noch ideengeschichtlich in einem dem 19. Jahrhundert vergleichbaren Sinne. Musikhistoriker mußten daher keine geringen Manipulationen an den Quellen vornehmen. Nationen und die angeblich zugehörigen Nationalcharaktere gehörten zu den zentralen Ordnungs- und Strukturierungskriterien der Musikgeschichte. Das Deutsche galt dabei als schwerfällig und derb, dafür aber als aufrichtig und ehrlich und insbesondere als innerlich und tief. Ihm wurde ,dialektisch‘ das Äußerliche, bloß Elegante und Oberflächliche entgegengesetzt, das insbesondere Italien repräsentierte 13. Um diesem Modell eine historische Tiefendimension zu verleihen, wurde es mit dem Germanischen einerseits und dem Romanischen andererseits zusammengeführt. Charakteristisch hierfür war, daß die Terminologie mindestens unscharf blieb. 12
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Regulae domni Oddonis super abacum, in: M. Gerbert (ed.), Scriptores ecclesiastici de musica sacra, St. Blasien 1784 [Nachdruck Hildesheim (e. a.) 1990], vol. 1, 296-302, hier 296: „Si quis notitiam abaci habere desiderat, necesse est, ut in consideratione numeri studeat. Haec ars non a modernis, sed ab antiquis inventa, ideo a multis negligitur, quia numerorum perplexione valde implicatur, ut maiorum relatione didicimus. Huius artis inventorem Pythagoram habemus. Cuius studium itaque in quibusdam est necessarium, ut absque ipsius peritia vix aliquis arithmeticae perfectionem adtingat, et calculationis, id est, computi argumenta comprehendat. Quodsi hanc artem a paganis traditam sancti doctores otiosam sensissent, numquam regulas sanctae Ecclesiae necessarias illius auctoritate firmassent.“ Belege nochmals in Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik (nt. 8), 340-356.
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Schon Friedrich Wilhelm Marpurg wußte 1759, daß nach der Sintflut „vielleicht kein einziges“ Volk gewesen sei, „welches nächst den Egyptiern, sich sofort mit größerem Fleiße auf die Musik zu legen anfing, als die Deutschen und Gallier, ob sie schon ungleich später als die Egyptier, Griechen und Lateiner solche methodisch zu treiben angefangen haben“ 14. Was sich hinter dem mysteriösen Begriff des ,Deutschen‘ in Zeiten kurz nach der Sintflut verbergen mochte, blieb freilich offen. Auch Ambros bemühte sich, wesentliche Bestandteile des deutschen Nationalcharakters bereits in den fernsten Ursprüngen zu finden. Zwar hob er den gänzlichen Mangel an Kultur der Germanen hervor. „Aber“, fuhr er dann fort, „diese blonden Riesen mit den unwirsch blickenden blauen Augen waren sittenrein, Menschen voll frischer Urkraft eines tüchtigen Volkscharakters, grundehrlich, goldtreu, voll Ehrfurcht für das Heilige und trotz der rauen Außenseite von großer Gemütstiefe, die sich in einzelnen zarten Zügen, wie ihrer Achtung vor den Frauen, äußerte“ 15. Als Ambros auf den Minnesang zu sprechen kam, differenzierte er einerseits zwischen dem ,Geist‘, der sowohl in Frankreich, Italien und Spanien die Troubadours als auch in Deutschland den Minnesang hervorgebracht hatte, und andererseits der jeweiligen Ausgestaltung, in der sich dieser Geist in der Musik gemäß den romanischen beziehungsweise den germanischen Völkern niederschlug. Damit hob er einerseits die Abgrenzung des ,Abendlandes‘ von anderen Teilen der Welt hervor und führte andererseits eine Binnendifferenzierung ein, deren Ergebnis ihm sogar ,wesentlich‘ erschien. „Das Naturgefühl der deutschen Minnesänger für Frühling, Blumen, Vogelsang gestaltet sich weit inniger und zarter“, meinte er und fügte hinzu: „Der Frauendienst der Troubadours nimmt auch wohl die Färbung leidenschaftlicher Erregung oder auch bloßer Galanterie an. Die Minne dagegen ist der reine Nachklang des Marienkultes, ob es gleich an Beispielen einer mehr irdisch sinnlichen Richtung auch hier nicht fehlt“ 16. Um trotz aller offensichtlichen Unterschiedlichkeit der unter dem Begriff des Germanischen oder Deutschen zu versammelnden Musik die lange Dauer des Nationalcharakters konstatieren zu können, bediente sich Ambros des Konzepts des Familienzuges. „Alle diese Melodien“, schrieb er beispielsweise über eine Liedersammlung aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, „sind altdeutsch und treuherzig und dabei etwas ungeschlacht; die Züge aber, welche das deutsche Volkslied bis auf die neuste Zeit behalten hat, sind darin nicht zu verkennen, wie man im Bildnis des längst begrabenen Ahnherrn den Familienzug seiner noch lebenden Urenkel herausfinden mag“ 17. Die Derbheit und Schwerfälligkeit der Deutschen sollte sich in ihrer Ungeschicklichkeit im Gesang widerspiegeln. Geschichtsschreiber des ersten und 14
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F. W. Marpurg, Kritische Einleitung in die Geschichte und Lehrsätze der alten und neuen Musik, Berlin 1759, 6. Ambros, Geschichte der Musik (nt. 7), 26. Ibid., 246. Ibid., 280.
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zweiten vorchristlichen Jahrhunderts, Polybios, Diodor und Livius, wurden von August Reißmann als Gewährsmänner dafür herangezogen, daß die ,Deutschen‘ ungeschickte Sänger gewesen seien. Zwar schrieb er zunächst von Germanen und Galliern, auf die sich die genannten Quellen bezogen, nicht von Deutschen, schloß aber sogleich das Zeugnis Eckehards an, dem zufolge es „keinem Volk, den Gregorianischen Gesang zu erlernen, so schwer wurde als gerade den Deutschen“ 18. Mit ,Eckehard‘ bezog sich Reißmann offenbar auf die ,Casus Sancti Galli‘ von Ekkehard IV. (10.-11. Jh.). Darin jedoch ist nur von ecclesiae cisalpinae die Rede 19. Möglicherweise hatte Reißmann die berühmtere Stelle im Bericht des Johannes Diaconus (9. Jh.) im Sinn, auf die auch Ekkehard anspielte. Johannes hatte von Germani seu Galli gesprochen, doch war dies als Sammelbezeichnung für die unmittelbar jenseits der Alpen liegenden Völkerschaften aufzufassen, wie es das ,seu‘ signalisiert und wie es weit mehr den historischen Gegebenheiten entsprach 20. Den Vorwurf der Gesangsunfähigkeit bezog Reißmann in einem selbstauferlegten Stereotyp auf seine eigene Nation, identifizierte dabei die Germanen mit den Deutschen, blendete die Gallier ganz aus und schränkte so das Stereotyp auf die Deutschen ein. Damit war die bekannte mythische Kontinuität zwischen Germanen und Deutschen hergestellt und die Existenz eines deutschen Volkes mit eigenem Volkscharakter spätestens ins 10. Jahrhundert verlegt, obwohl der Quelle nicht der leiseste Hinweis darauf zu entnehmen war 21. Während die Dauer des Christlichen das Mittelalter insgesamt betraf, bezog sich die Dauer des Nationalen nur auf einzelne Gemeinschaften innerhalb des Mittelalters. Zwar kümmerten sich deutsche Musikhistoriker hauptsächlich um die Dauer des Deutschen, doch ist anzunehmen, daß sie von derselben Dauer der übrigen Nationen ausgingen. Der Gemeinsamkeit des Nationalen und des Christlichen, nämlich aufgrund ihrer jeweiligen Dauer eine Konstante darzustellen, die das gesamte Mittelalter durchzog, entsprach die Gemeinsamkeit in der Intention, mit der diese beiden Dauern konstruiert wurden: Beide dienten der Stiftung der bürgerlichen Identität. Die Entstehung der beiden Dauern stellt sich jedoch in den Geschichtserzählungen unterschiedlich dar. Das Aufkommen des Christentums wird als eine 18 19
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A. Reißmann, Allgemeine Geschichte der Musik, vol. 1, München 1863, 96; cf. 88, 93. Ekkehard IV., Casus Sancti Galli, ed. G. H. Pertz (Monumenta Germaniae Historica 2. Scriptores 2), Hannover 1829, 102; in der neuen Ausgabe Ekkehard IV., St. Galler Klostergeschichten, ed. H. F. Haefele (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 10), Darmstadt 1980, 106. S. Gregorii Magni Vita, in: Sancti Gregorii Papae I Opera omnia, ed. J.-P. Migne (Patrologia Latina 75), Paris 1862, col. 90 sq. Zum Ursprung dieses Mythos siehe K. F. Werner, Artikel ,Volk, Nation III-V‘, in: O. Brunner [e. a.] (eds.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischen Sprache in Deutschland, vol. 7, Stuttgart 1978, 171-281, hier 243; zur Bedeutung des Topos in der damaligen Altertumswissenschaft: I. Wiwjorra, Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006.
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plötzliche und umfassende Erleuchtung geschildert. Anstatt die allmähliche Ausweitung und Verbreitung einer anfangs kleinen Sekte zu verfolgen, wird über dem Einbruch einer neuen, christlichen Zeit alles andere ausgeblendet; die zunächst weiterhin existierenden nichtchristlichen Musiken werden - wie nichtchristliche kulturelle Elemente überhaupt - vollständig ausgeblendet und so der Eindruck erzeugt, mit einem Mal seien das Abendland und die christliche Kultur da gewesen. Demgegenüber wurde dem Nationalen ganz untergründig eine historische Tiefendimension verliehen, deren genauer Anfang völlig im Unklaren bleibt, um seine quasi zeitlose Existenz zu suggerieren. In Bezug auf vormittelalterliche Zeit ist allerdings kaum je von den europäischen Nationen die Rede, so daß ihr Beginn latent ebenfalls mit dem Beginn des Mittelalters zusammenfällt. III. Die Dauer des Mittelalters Die beiden beschriebenen Dauern bildeten mit Blick auf das Mittelalter eine Hintergrundschicht. Sie stellten Konstanten dar, vor deren Hintergrund sich das Mittelalter als eine eigene Dauer abgrenzte. Konstitutiv für das Konzept des Mittelalters waren beide insofern, als sie in ihm enthalten waren und wichtige Ingredienzien bereitstellten; doch Faktoren, die die Dauer des Mittelalters hinreichend definieren konnten, waren sie - mit Ausnahme der Entstehung des Christentums als Beginn des Mittelalters - nicht, denn ihre Kontinuität erstreckte sich bis in die Gegenwart der Autoren. Zur Abgrenzung einer Epoche war hingegen die Konstruktion von Brüchen oder Zäsuren erforderlich, die das Mittelalter mit einem Anfang und einem Ende versahen. Zwischen ihnen durfte es ebenfalls Änderungen geben, doch mußte insbesondere für eine gewisse Einheitlichkeit gesorgt werden, die die Rede von einer Epoche, von ,dem‘ Mittelalter rechtfertigte. Bei der Suche nach solchen Kriterien fällt allerdings auf, daß man als Historiker des 21. Jahrhunderts Gefahr läuft, in die Geschichtswerke des 19. Jahrhunderts hineinzulesen, was in ihnen nicht enthalten ist: Der Begriff des Mittelalters und überhaupt das Konzept der Epoche spielen in den Musikgeschichten des 19. Jahrhunderts eine vergleichsweise geringe Rolle. Im Mittelpunkt steht geschichtsleitend eine musikalische Entwicklungsidee, die mit dem kulturgeschichtlichen Zivilisationsprozeß koordiniert ist. Dennoch läßt sich zeigen, daß die Zeit zwischen der Entstehung oder Verbreitung des Christentums und dem vermeintlichen Anbruch einer neuen Zeit, für die der Name ,Renaissance‘ allerdings wiederum eher nur beiläufig Verwendung fand, als eine Einheit, also als eine relativ geschlossene geschichtliche Dauer begriffen wurde. Für die Konstruktion dieser Dauer war eine selbst wesentlich auf Zeitlichkeit bezogene Strategie der Historiker verantwortlich; aber das zeitliche Moment dieser Strategie hat nur indirekt mit Dauer zu tun, nämlich insofern es die Vorstellung einer Dauer erzeugt, anstatt sie zu konstatieren oder zu erörtern. Ich meine die Suggestion von Distanzen, von Nähe und Ferne oder von Vertrautheit
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und Fremdheit. Zwar wurde das Hereinbrechen des Christentums als eines der größten weltgeschichtlichen Ereignisse geschildert und inszeniert, doch im Übrigen war die Evokation von großer Entfernung und Fremdartigkeit wesentlich für die Konstitution der mittelalterlichen Dauer. Zentral hierfür waren zwei komplementäre Strategien: Zum einen wurde der Beginn einer neuen Zeit nach dem Mittelalter (oder einer Dauer, die genau dadurch als ,Mittelalter‘ erschien) akzentuiert (a); und zum anderen wurden die Erzeugnisse des Mittelalters als kulturell unterentwickelt, ja barbarisch dargestellt (b). Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ist die Rede vom finsteren Mittelalter bekannt, der sich Albert Zimmermann immer wieder kritisch gewidmet hat 22. a) Bei Gustav Schilling schält sich die neue Zeit eher allmählich aus der Geschichte der Musik heraus. Doch seine Musikgeschichte teilt sich in zwei Teile, deren erster als ,Vorgeschichte‘ betitelt ist und deren zweiter sich entsprechend ,Eigentliche Geschichte‘ nennt 23. Was in der Erzählung hauptsächlich als allmählicher Prozeß erscheint, erhält dadurch viel stärker die Bedeutung eines Bruchs. Dies wird zusätzlich dadurch unterstrichen, daß Schilling die gesamte Musikgeschichte in eine ,antik-klassische‘ und eine ,moderne‘ Periode einteilte. Das eigentlich musikhistorische Ereignis, das diesen Bruch markierte, war die Entstehung der Oper in Florenz kurz vor 1600 24. In der antik-klassischen Musik habe sich im Laufe der Zeit zwar ein Gleichgewicht zwischen Sinnlichkeit und Geist eingestellt, doch sei der Geist nur in seiner allgemeinen Gestalt zum Ausdruck gelangt. Die moderne Musik hingegen kennzeichne, daß der Geist in ihr einen höheren Grad an Bestimmtheit besitze: „Nehmen wir das anerkannt vollendetste alte klassische Kunstwerk her“, erläuterte Schilling, „wohl weht ein klarer, aber noch kein deutlicher Geist in ihm, und deshalb ist auch seine äußere Gestalt noch keineswegs eine nach einem bestimmten einzelnen Maßstab geformte, eine charakteristisch spezielle oder bedeutsame, sondern nur eine allgemein, geistig totale.“ 25 Zu den Voraussetzungen dieses Entwicklungsschritts gehörten die volle Ausbildung des Kontrapunkts, die Emanzipation der Musik - im Gefolge der Reformation insbesondere jene von der Kirche -, die allgemeine kulturelle Versittlichung sowie insbesondere die Verwirklichung subjektiven Ausdrucks. Sie waren am Ende der antik-klassischen Periode erreicht 26. Deshalb waren das Aufkommen eines dramatischen Stils, die Entstehung von Melodik und einer reinen Instrumentalmusik so wichtig 27. Mittelalterliche Musik konstituierte sich 22
23
24 25 26 27
Cf. e. g. A. Zimmermann, Finsteres Mittelalter. Bemerkungen zu einem Schlagwort, in: A. Speer (ed.), Die Bibliotheca Amploniana. Ihre Bedeutung im Spannungsfeld von Aristotelismus, Nominalismus und Humanismus, Berlin-New York 1995, 1-15. G. Schilling, Geschichte der heutigen modernen Musik. In ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Welt- und Völkergeschichte, Karlsruhe 1841, 33 beziehungsweise 265. Cf. ibid., 252-264. Ibid., 16. Cf. ibid., 432-435. Cf. ibid., 264, 277 und 433.
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in der Vorstellung des Historikers also insbesondere dadurch, daß in ihr das Element des Individuellen und Subjektiven fehlte. Mittelalterliche Musik, die in diesem Sinne freilich bis zum Ende des 16. Jahrhunderts dauerte, war insofern wesentlich durch eine Negation bestimmt. Franz Brendel knüpfte so deutlich an Schilling an, daß man versucht sein könnte, ihm einen Plagiatvorwurf zu machen, obwohl seine Musikgeschichte viel bekannter geworden ist als diejenige seines Vorgängers. Brendel beschrieb daher denselben Einschnitt, sprach allerdings statt von antik-klassisch und modern vom erhabenen und vom schönen Stil 28. Auch diese Begriffe waren indes bei Schilling angelegt gewesen 29. Brendel steigerte gegenüber dem viel konservativeren Schilling bloß die politischen Untertöne seiner Musikgeschichte und unterstrich rhetorisch den Anbruch einer neuen Zeit, indem er formulierte: „Ein frischer Frühlingshauch, ein Hauch des freien, sich allen Fesseln der Autorität entwindenden Geistes durchzog die Welt.“ 30 Einer ganz anderen - an Jacob Burckhardt angelehnten - Sprache bediente sich Ambros, der dennoch letztlich denselben Kerngedanken äußerte. Denn auch ihm galt die Durchsetzung von Individualität als das Hauptmerkmal einer neuen Zeit 31. Allerdings setzte er, der auch den Begriff des Mittelalters viel stärker als Epochenbegriff verwandte, den Bruch deutlich früher an. „Das fünfzehnte Jahrhundert, zugleich Abschluß des Mittelalters und Anfang der Neuzeit“, schrieb er, „bezeichnet in der Geschichte einen geistig sehr erregten Moment, und gerade in dieses Jahrhundert fällt auch eine höchst merkwürdige Entwicklung der Musik.“ 32 Hauptsächlich mit Hilfe rhetorischer Mittel evozierte Ambros den Eindruck eines Neuanbruchs: „Es hat dieses ganze Jahrhundert etwas Jünglinghaftes mit seinem Glauben an jenes mit unendlicher Begeisterung gesuchte Ideal, welches die Renaissance in dem Leben und den Werken der antiken Welt zu finden meinte“, schrieb er etwa oder auch: „Es ist in diesen Arbeiten [Dufays und seiner ,niederländischen‘ Zeitgenossen], bei noch knospenhaft unentwickelten Formen, eine eigentümliche Holdseligkeit, etwas, das an Rosenwangen und Blauaugen aufblühender Mädchen erinnert“. Zur rhetorischen Suggestion trat ein ästhetisches Werturteil hinzu, das einen qualitativen Bruch signalisierte, der in keiner Weise belegbar war. Erst jetzt trete eine „vollständig ausgebildete Kunst hervor“ 33. Die wonnigen Bilder von Jünglingen und gesunden Mädchen erzeugen ein Gefühl von Vertrautheit und Nähe, das die neue Zeit in enge Nachbarschaft 28
29
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Cf. F. Brendel, Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich von den ersten christlichen Zeiten an bis auf die Gegenwart. 25 Vorlesungen, sechste, neu durchgesehene und vermehrte Aufl., ed. F. Stade, Leipzig 1878, 58. Cf. e. g. Schilling, Geschichte der heutigen modernen Musik (nt. 23), 17 (Erhabenheit) und 577 (Schönheit). Brendel, Geschichte der Musik (nt. 28), 62. Ambros, Geschichte der Musik (nt. 7), 14. A. W. Ambros, Geschichte der Musik, Bd. 3 (1868), zweite, verbesserte Aufl., Leipzig 1881, 4. Ambros, Geschichte der Musik (nt. 7), 414.
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zur Gegenwart rückt. Die Jünglinge und Mädchen stehen für eine Frühphase, den Frühling (Knospe) wahrer, ,gesunder‘ Musik, von der die Musik früherer, kindlicher Zeiten offenbar getrennt ist. Insofern verbirgt sich hinter Ambros’ Metaphorik eine ähnliche Einteilung in Vorgeschichte und eigentliche Geschichte, wie Schilling sie explizit konstatiert hatte. b) Komplementär zu dieser Erzähltaktik wurde die mittelalterliche Musik selbst in einer Weise geschildert, die einen Eindruck von Distanz und Fremdartigkeit erzeugte. Wieder war Ambros der wortgewandteste Autor. Viel mehr durch sprachliche Mittel als durch inhaltliche Argumente stellte er das Mittelalter als eine Zeit dar, die kulturgeschichtlich weitgehend stagnierte und in der eigenen, eingeschränkten Fantasiewelt gefangen blieb: „In düstere Hörsäle und einengende Mauern gebannt, wurde die mit aller unbeholfenen Gründlichkeit und ehrenwerten Schwerfälligkeit in mühsamer Arbeit und in grübelndem Forschen betriebene spekulative Musik selbst dunkel, düster und tiefsinnig, voll mystischer Beziehungen, an Himmel und Erde anknüpfend und doch in einem im Grunde ganz engen Kreis sich bewegend.“ 34
Hieran war so ziemlich alles erdichtet: daß die Hörsäle düster, die Mauern einengend gewesen seien, was weit mehr eine psychologische als eine architektonische Bemerkung war, aber auch, daß mittelalterliche Menschen unbeholfen und schwerfällig, daß ihre Theorien grüblerisch gewesen seien, und vollends, daß sich das mittelalterliche Denken letztlich in einem engen Kreis bewegt habe. Bemerkenswert an dem zitierten Passus ist insbesondere, daß ein großer Teil der Charakterisierung der mittelalterlichen Musiktheorie in dem Zitat über die rhetorisch wirkungsvolle Beschreibung der vermeintlichen Rahmenbedingungen statt über eine Darstellung der Sache selbst erfolgte. Die Beschreibung der mittelalterlichen Musik ist durchzogen von ästhetischen Werturteilen, die eine Atmosphäre hervorrufen, die das Mittelalter in große Distanz rücken. So meinte Arrey von Dommer zu einer Adam de la Halle zugeschriebenen Chanson: „Die Melodie gehört ungefähr dem Jahre 1280 an und ist schon recht angenehm; die Harmonie ist freilich so kindlich, daß sie jedem Urteil unseres Gehörs sich entzieht, und kaum höher steht sie in einem reichlich mit Quinten und Oktaven gewürzten Motettus und Rondellus desselben Komponisten.“ 35 Ambros galten mehrtextige Motetten des 13. Jahrhunderts als ,barbarisch‘ 36, ihre Harmonie als ,horribel‘ 37, obwohl solche Urteile natürlich in direktem Gegensatz zu den Zeugnissen des Mittelalters standen. Daß die Fremdartigkeit dabei nicht als Ausdruck des Anderen, sondern als Ausdruck des Unterentwickelten betrachtet wurde, verhinderte jedes tieferge34 35
36 37
Ibid., 120. A. v. Dommer, Handbuch der Musikgeschichte von den ersten Anfängen bis zum Tode Beethovens in gemeinfasslicher Darstellung (1868), zweite, verbesserte Aufl., Leipzig 1878, 67. Ambros, Geschichte der Musik (nt. 7), 331. Ibid., 341.
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hende Verständnis. Von hier aus erhalten die Bilder des Vertrauten ihre eigentliche Bedeutung: Erst in der neuen Zeit nach dem Mittelalter wird erkennbar, daß die Produkte der fernen Zeit die Anfänge ,unserer‘ Musik waren. Das Mittelalter selbst wird dargestellt, als wäre es von diesem Punkt fast kategorisch abgetrennt; aber die Mittel, die diese historische Aussage suggerieren, waren rein rhetorischer Natur. Dommer meinte, das frühe Quarten- und Quintenorganum sei „bezüglich seiner Geltung als Mehrstimmigkeit völlig wertlos und nicht einmal der Keim“ einer Mehrstimmigkeit zu nennen 38. Dommer vermochte auch keinen Sinn in der Solmisation zu sehen und bezeichnete sie deshalb „als Pönitenz aller Lernenden und ein Kreuz der Singknaben“ 39. Eine solche sarkastische Nutzung von Begriffen, die insbesondere den auf Buße bezogenen religiösen Praktiken des vermeintlichen mittelalterlichen Klosterlebens entstammten, gehörte zu den weit verbreiteten Stilmitteln. In ihnen wird die ästhetische Beschreibung und Beurteilung mit Konnotationen einer als übertrieben geltenden Religiosität angereichert und das Urteil so zum Teil erst nahegelegt. So schrieb auch Kiesewetter: „Das Organum müsste schon Hucbald aufgegeben haben, wenn er selbst es jemals mit eigenen (leiblichen) Ohren zu hören bekommen hätte; was aber vermutlich der Obere seines Klosters bei der Probe schon nach dem ersten Versett verhindert hätte, da unter den Pönitenzen und Kasteiungen eine so empfindliche in den Ordensregeln nicht gemeint sein konnte.“ 40 Derartige Humorigkeit ist wohl eher als Ratlosigkeit und völliges Unverständnis zu deuten, das sich in einer Übersprungshandlung - dem Lachen - einen Ausweg sucht, anstatt das Andersartige als solches in den Blick zu nehmen. Dasselbe Phänomen läßt sich bei Ambros nachweisen: „Das erhöhende Kreuz“, also das musikalische Vorzeichen #, „wäre für die ganze Musik das Zeichen der Erlösung geworden.“ 41 So wird das Mittelalter mit Hilfe literarischer Verfahren in weite Ferne gerückt, und der Eindruck der Distanz wird unter anderem durch die Anreicherung von Elementen des Unterentwickelten, religiös Verkrusteten und Düsteren erzeugt, die zugleich ein bestimmtes Bild des Mittelalters entstehen lassen sollen. Bemerkenswert an all dem ist die Tatsache, daß kein Musikhistoriker sich bemühte, Verständnis für die Musik des Mittelalters aufzubringen. Dieses Bemühen wandte man erst auf eine spätere Zeit an, auch wenn diese erstens unterschiedlich bestimmt und ihr Beginn zweitens nicht bei jedem Autor in gleichem Maße als Bruch konstruiert wurde. Die Gründe für diese Sichtweise sind vielschichtig und hängen mit mehreren Denkmustern zusammen, die sich seit der Aufklärung herausgeschält haben: insbesondere dem kulturgeschichtlichen Entwicklungsmodell und dem daraus abgeleiteten Superioritätsdenken sowie der 38 39 40 41
Dommer, Handbuch der Musikgeschichte (nt. 35), 46. Ibid., 51. Kiesewetter, Geschichte der europäisch-abendländischen oder unserer heutigen Musik (nt. 3), 18. Ambros, Geschichte der Musik (nt. 7), 185.
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Deutung von Geschichte als religiösem und politischem Emanzipationsprozeß. Weshalb vielfach ein so klarer Bruch konstruiert wurde, läßt sich daraus freilich nicht ableiten. Speziell für Musikhistoriker mag die in der Tat radikale Fremdartigkeit der mittelalterlichen Musik eine Rolle gespielt haben, die es unmöglich machte, vor dem Hintergrund des gewohnten musikalischen Systems einen Sinn in den Werken des Mittelalters zu entdecken. Doch allein kann dieser Faktor für die Erklärung nicht ausreichen, weil er keine Antwort auf die Frage geben kann, warum der Versuch, das Fremde aus sich heraus zu verstehen, gar nicht erst unternommen wurde. IV. Musikalisch-technische Zäsuren Anders als die Menschen der Aufklärung oder der Postmoderne haben sich die Menschen des Mittelalters ihren Namen nicht selbst gegeben. Dennoch gingen sie mit Selbstverständlichkeit von Veränderungen und Wandlungen in der Geschichte, hier der Geschichte der Musik, aus. Für Jacobus von Lüttich war es in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts klar, daß sich im Laufe der Zeit der Gebrauch der verwendeten Konsonanzen wandelt, nämlich ausweitet: „Die modernen Sänger aber engen das Wort ,Konsonanz‘ nicht so ein, beschränken es nicht so. […] Da sich nämlich die musica allmählich ausgeweitet hat, was Wunder, daß das Wort ,Konsonanz‘ sich verschoben hat? Am Anfang nämlich, da die Menschen nur der einfachen und gemäßigten musica sich bedienten, bedienten sie sich der vier Konsonanzen und der vier Saiten. Nun aber, seit sich die musica bezüglich der Saiten, der Instrumente und Modi, der Konsonanzen und Gesänge, sehr ausgeweitet hat, was Wunder, daß das Wort ,Konsonanz‘ auf mehr Töne und Mischungen als damals ausgedehnt wird? Die Bedeutungen irgendwelcher Wörter pflegen nämlich gemäß der Verschiedenheit der Zeiten erweitert und verändert zu werden.“ 42
In eine ähnliche Richtung dürfte auch eine, in ihrem Kontext allerdings etwas kryptisch bleibende Aussage des Johannes de Muris aus derselben Zeit weisen: „Denn vielleicht“, so konstatierte er, „stößt uns im Laufe der Zeit zu, was auch den Alten bereits zugestoßen ist, die das Ziel der musica zu besitzen glaubten. Doch niemand sage, wir hätten Endstand und unveränderliches Ziel der musica berührt.“ 43 42
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Jacobi Leodiensis Specvlvm mvsicae, 7 voll., ed. R. Bragard (Corpus scriptorum de musica 3), [s. l.] 1955-1973, l. 2, c. 10, 32 sq., 26-28: „Moderni autem cantores nomen consonantiae non sic *arctant+, non sic restringunt. De pluribus sonis tam aequalibus quam inaequalibus, de ipsorum mixtionibus tam suavibus auditui quam non, ipsum verificant, et non omnino sine ratione, si vera sunt quae diximus. Cum enim musica paulative sit augmentata, quid mirum si consonantiae nomen sit dilatatum? In principio enim, cum sola musica simplici et modesta uterentur homines, consonantiis quattuor et quattuor chordis utebantur. Nunc autem, ampliata multum musica in chordis, in instrumentis, in modis, in consonantiis et cantibus, quid mirum si consonantiae nomen ad plures sonos et mixtiones quam tunc sit extensum? Solent enim nominum aliquorum significata secundum diversitatem temporem ampliari et immutari.“ Johannis de Mvris Notitia artis mvsicæ et Compendivm mvsicæ practicæ, ed. U. Michels (Corpus scriptorum de musica 17), [s. l.] 1972, l. 2, c. 14, 106 sq., 5 : „Forte enim per temporis spatium nobis
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Beide Autoren sind vermutlich aufgrund einer historischen Konstellation zu den zitierten Feststellungen veranlaßt worden, die selbst Zeugnis ablegt von dem mittelalterlichen Bewußtsein historischer Veränderungen: Sie befanden sich inmitten einer Diskussion um Neuerungen rhythmischer und notationstechnischer Natur, die zu den Schlagworten ars antiqua und ars nova geführt hat. Wie immer die Begriffe und der Streit im Einzelnen zu interpretieren sein mögen, ist doch jedenfalls so viel klar, daß es um die Thematisierung von Veränderung, Veralten und Erneuern ging 44. Mit größter Selbstverständlichkeit konstatierte auch Johannes Boen (ebenfalls 14. Jh.), daß „gemäß der Verschiedenheit der Zeiten und Gegenden allmählich viele Neuheiten und viel Ungehörtes entstehen können, so wie vielleicht die Ausführung des Kommas und dreier kleiner semitonia und vieles Ähnliche, das, wenigstens bislang, nicht gehört ist, im Laufe der Zeit durch neue Instrumente und Fähigkeiten der Stimmen später gehört werden wird, wie es auch vor Pythagoras keine solche Feinheit im Gesang gab, wie sie heute gebräuchlich ist“ 45.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sich Autoren des Mittelalters nur deswegen nicht häufiger über historische Veränderlichkeit ausgebreitet haben, weil der Sachverhalt zu selbstverständlich war. Schon Boethius schilderte, Nikomachos folgend, die Entstehung des Tonsystems hintergründig als einen historischen Prozeß, indem er sie mittels der allmählichen Hinzufügung einzelner Saiten als Erweiterung eines ursprünglich bloß viersaitigen zu einem schließlich fünfzehnsaitigen Instrument versinnbildlichte 46. Musikgeschichten existierten im Mittelalter jedoch nicht; den stärksten historiographischen Einschlag hat vielleicht der Traktat des Anonymus 4 (nach 1272), der sich zwar nur auf das 13. Jahrhundert bezieht, aber gerade deswegen den Eindruck rasanter Entwicklungen erweckt: In Bezug auf unterschiedliche musikalische Elemente wurden als Markierungspunkte das tempus Leonis, das tempus Perotini Magni, das tempus magistri Roberti de Sabilone und schließlich das tempus
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accidet, quod iam accidit et antiquis, qui finem habere crediderunt musicae. Nemo tamen dicat nos statum musicae et finem eius immutabilem tetigisse.“ Siehe zu den Zitaten von Jacobus und Johannes auch mein Buch Sinnlichkeit und Vernunft in der mittelalterlichen Musiktheorie. Strategien der Konsonanzwertung und der Gegenstand der musica sonora um 1300, Stuttgart 2000 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 47), c. 4. Siehe dazu M. Haas, Studien zur mittelalterlichen Musiklehre I: Eine Übersicht über die Musiklehre im Kontext der Philosophie des 13. und frühen 14. Jahrhunderts, in: Forum musicologicum 3 (1982), 323-456, hier 385-390. W. Frobenius (ed.), Johannes Boens Musica und seine Konsonanzlehre (Freiburger Schriften zur Musikwissenschaft 2), Stuttgart 1971, pars 2, 45, 25 sq.: „[…] secundum diversitatem temporis et regionum multa nova et inaudita poterunt suboriri, sicut forte pronuntiatio commatis et trium semitoniorum minorum ac multorum similium, que, licet hactenus non audita sunt, forte tractu temporis per nova instrumenta et vocum habilitates posterius audientur, sicut nec ante Pitagoram fuit tanta subtilitas in cantu, quanta hodiernis temporibus est in usu“; cf. auch pars 4, 76, 162-164). Cf. Boethius, De institutione musica libri quinque, ed. G. Friedlein, Leipzig 1867 [Nachdruck Frankfurt a. M. 1966], l. 1, c. 20.
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magistri Franconis primi et alterius magistri Franconis de Colonia genannt 47. Offensichtlich gingen die mittelalterlichen Musiktheoretiker von einer sehr viel höheren historischen Geschwindigkeit ihrer Zeit aus als die Musikhistoriker des 19. Jahrhunderts 48. Doch auch die Musikhistoriker des 19. Jahrhunderts schilderten das Mittelalter, sofern sie es überhaupt als Epoche schilderten, als eine Phase, die in sich zugleich Entwicklungen und Brüche aufwies. Die wesentlichen Elemente, die diese Veränderungen definierten, waren Mehrstimmigkeit, Rhythmik und Notation. Daß diese Entwicklungen und Brüche nicht als Epochenschwellen begriffen wurden, dürfte mehrere Gründe haben. Zum einen war die Annahme, beim Mittelalter handele es sich um eine Epocheneinheit, von anderen historischen Disziplinen vorgegeben, an die sich die Musikhistoriker anschlossen. Zum anderen überlagerten die im vorigen Abschnitt erörterten, Distanz schaffenden Faktoren die als intern mittelalterlich dargestellten Veränderungen. Drittens wurde die Einheitlichkeit des Mittelalters dadurch gewahrt, daß historische Wandlungen innerhalb des Mittelalters zu keiner wesentlichen ästhetischen Aufwertung der Musik führten. Die Musik des Mittelalters wurde allen Veränderungen zum Trotz als unterentwickelt, als Vorgeschichte zur eigentlichen Musik beschrieben. Das erste sichere Zeugnis für die Existenz von Mehrstimmigkeit entstammt dem 9. Jahrhundert. Es findet sich in der ,Musica enchiriadis‘, die man im 19. Jahrhundert Hucbald zuschrieb. Doch die Interpretation dieses Zeugnisses reichte von der Annahme, Hucbald habe die Mehrstimmigkeit erfunden 49, bis hin zur Annahme, in ihm schlage sich nur eine Praxis theoretisch nieder, die bereits jahrhundertealt war 50. Man bezog sich hierbei auf das Organum, in dem Choralmelodien in parallelen Quarten oder Quinten vorgetragen wurden. Ambros nannte es ,die eigentümlichste Erscheinung dieser Epoche‘ 51, womit er vermutlich das ganze Mittelalter im Auge hatte. Für die Abgrenzung der mittelalterlichen Musik als einer Einheit war das Erreichen eines bestimmten satztechnischen Zustandes hingegen viel wichtiger als ihre Entstehung. Die Erlangung des angeblich voll ausgebildeten Kontrapunktes galt entweder als Ziel der mittelalterlichen Musik: Schilling ließ darin seine Vorgeschichte kulminieren 52; oder sie galt - und so wurde es meistens gesehen - als Beginn der neuen Zeit 53. 47
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F. Reckow (ed.), Der Musiktraktat des Anonymus 4 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 4-5), 2 voll., Wiesbaden 1967, vol. 1, 46. Derartige Hinweise sind bislang noch nicht systematisch ausgewertet worden, obwohl dies zum Verständnis des historischen Denkens im Mittelalter beitragen und gegebenenfalls eine Modifizierung von Reinhart Kosellecks Verzeitlichungstheorie nach sich ziehen könnte. Cf. Kiesewetter, Geschichte der europäisch-abendländischen oder unserer heutigen Musik (nt. 3), 13. Cf. Reißmann, Allgemeine Geschichte der Musik (nt. 18), 103 sq. Ambros, Geschichte der Musik (nt. 7), 122. Schilling, Geschichte der heutigen modernen Musik (nt. 23), 177 (Kapitelüberschrift); natürlich war die Entwicklung der Harmonik damit nicht abgeschlossen (cf. e. g. 249). Cf. Ambros, Geschichte der Musik (nt. 7), 398; Brendel, Geschichte der Musik (nt. 28), 22; Dommer, Handbuch der Musikgeschichte (nt. 35), 72 sq.
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Der Rede von einem ,ausgebildeten Kontrapunkt‘ oder einem ,reinen Satz‘ liegt ein ästhetisches Urteil zugrunde, das sich nicht belegen ließ und das allenfalls im Vergleich zum zeitgenössischen Tonsatz durch Merkmale der Ähnlichkeit oder Fremdheit plausibel erschien. Sie trug wesentlich dazu bei, den vorhin angesprochenen Umschlag einer substanziell fernen und unterentwickelten in eine vertrautere, verwandte Zeit zu suggerieren. Dementsprechend bestand das Verfahren, Wandlungen der mittelalterlichen Harmonik zu beschreiben, ohne den Anbruch einer neuen Zeit konstatieren zu müssen, darin, der mittelalterlichen Musik trotz der beschriebenen Wandlungen konstant den Charakter des Fremdartigen und Rohen zu verleihen. Eine der euphorischsten Beschreibungen des Wandels, den das Organum zur Zeit Guidos von Arezzo erfahren haben sollte, findet sich - wenn auch nur bezogen auf ein einziges Beispiel - bei Ambros: „So weit auch noch dieses letzte Beispiel von Schönheit entfernt ist, es macht neben dem heulenden Quartenorganum und den anderen verworren summenden Beispielen, wo die Töne im Finstern aufeinander stoßen, wie es kommen mag, doch den Eindruck wie ein Gesicht mit annähernd menschlichen Zügen unter gorgoneischen Fratzen. Daß Guido die reine Quintenfolge wenigstens allzu hart findet, ist gegen Hucbald jedenfalls ein Fortschritt; auch das günstige Zeugnis, daß hier zum ersten Male der Terz erteilt wird, mag bemerkt werden.“ 54
Brendel konstatierte einen vorsichtigen Fortschritt 55; andere Autoren sahen gar keine Verbesserung, obwohl sie die Veränderungen feststellten 56. Uneinheitlich war die Einschätzung der Bedeutung, die der Erfindung der Notenlinien durch Guido von Arezzo beizumessen war. Während Guido selbst seine Erfindung als eine Neuerung von großem pädagogischen Wert angepriesen hatte 57, wurde sie von keinem der Musikhistoriker, die die pädagogische Ausrichtung der Zeugnisse ohnehin in aller Regel übersahen oder mißverstanden, als substanzieller Einschnitt der mittelalterlichen Musikgeschichte gedeutet. Als solcher erschien den Musikhistorikern allein die Entstehung einer rhythmisch differenzierten und eindeutig notierten, mehr als bloß zweistimmigen Polyphonie um 1200. Sie wurde aber grundsätzlich eher als Anbahnung der später eintretenden neuen Zeit, das heißt als wichtiger Schritt zum erwähnten Ziel, dem ausgebildeten Kontrapunkt beziehungsweise dem reinen Satz, beschrieben und nicht so sehr als ein selbst grundlegend neues Phänomen, das eine neue Dauer hätte begründen können. Dieser Eindruck wird zum einen Teil durch die bloße Kürze der Darstellungen erweckt, die damit gerechtfertigt wurde, daß zu
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Ambros, Geschichte der Musik (nt. 7), 165. Brendel, Geschichte der Musik (nt. 28), 14. Cf. Kiesewetter, Geschichte der europäisch-abendländischen oder unserer heutigen Musik (nt. 3), 25; Dommer, Handbuch der Musikgeschichte (nt. 35), 55. Cf. Guido Aretinus, Prologus in antiphonarium, ed. J. Smits van Waesberghe (Divitiae musicae artis. Series A 3), Buren 1975, 64 sq.
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wenige Nachrichten bekannt seien 58, zum anderen Teil damit, daß auch die Musik dieser Phase als barbarisch bezeichnet und damit in ihrer künstlerischen Bedeutung stark eingeschränkt wurde 59. Mit ihrer Auffassung, der reine Tonsatz habe sich erst im 15. Jahrhundert herausgebildet, hätten sich die Autoren auf ein inzwischen berühmtes Diktum des 1477 schreibenden Johannes Tinctoris stützen können 60: „Und wenn man sich auf Selbstgesehenes und -gehörtes verlassen darf, so habe ich einmal einige altertümliche Lieder unbekannter Autoren (die man apokryph nennt) in Händen gehabt, die so ungereimt, so fad komponiert waren, daß sie die Ohren mehr beleidigen als ergötzen, so daß (worüber ich mich nicht genug wundern kann) außer dem, was innerhalb der letzten 40 Jahre komponiert worden ist, sich nichts Komponiertes erhalten hat, was von den Gelehrten für schätzenswert befunden wird. In der gegenwärtigen Zeit jedoch florieren (ganz zu schweigen von den unzähligen Chorsängern, die überaus schön vortragen) unendlich viele Komponisten, sei es dank himmlischen Einflusses, sei es dank unermüdlicher Übung.“ 61
Doch diese Aussage ist überaus schwer deutbar und in ihrer Art im Mittelalter singulär; sie zeichnet sich insbesondere dadurch aus, daß sie ältere Musik mittels eines ästhetischen Urteils abwertet und damit neben der inhaltlichen auch eine strukturelle Gemeinsamkeit mit den Musikgeschichten des 19. Jahrhunderts aufweist. Vielleicht ist das eigentlich Besondere an dem Zitat darin zu sehen, daß sich Tinctoris explizit konkreten alten Quellen zuwandte. Bei ihm macht sich ein historiographisches Interesse bemerkbar, das die Autoren des Mittelalters nicht zeigten, auch wenn sie ein klares Bewußtsein von geschichtlichen Veränderungen besaßen. Das Staunen von Tinctoris resultiert dabei aus zwei methodischen Elementen, die er mit den Musikhistorikern des 19. Jahrhunderts teilt: Er wendet wie selbstverständlich seine satztechnischen Maßstäbe und Hörgewohnheiten auf die Musik vergangener Zeit an, und er bewertet die alte Musik ästhetisch. * Man kann sagen, daß sich ,das‘ Mittelalter in den Augen der Musikhistoriker des 19. Jahrhunderts als ein Komplex aus Schichten zusammensetzte, die unter58
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Cf. Brendel, Geschichte der Musik (nt. 28), 14; Dommer, Handbuch der Musikgeschichte (nt. 35), 62. Siehe nochmals nt. 35 und 36. Siehe dazu zuletzt R. C. Wegman, Johannes Tinctoris and the „New Art“, in: Music & Letters 84 (2003), 171-188. Johannes Tinctoris, Liber de arte contrapuncti, ed. A. Seay (Corpus scriptorum de musica 22), [Rom] 1978, vol. 2, Liber primus, Prol., 12, 14-16: „Et si visa auditaque referre liceat nonnulla vetusta carmina ignotae auctoritatis quae apocrypha dicuntur in manibus aliquando habui, adeo inepte, adeo insulse composita ut multo potius aures offendebant quam delectabant. Neque quod satis admirari nequeo quippiam compositum nisi citra annos quadraginta extat quod auditu dignum ab eruditis existimetur. Hac vero tempestate, ut praeteream innumeros concentores venustissime pronuntiantes, nescio an virtute cuiusdam caelestis influxus an vehementia assiduae exercitationis infiniti florent compositores.“ Die Übersetzung folgt weitgehend M.
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schiedliche Dauern besaßen. Einerseits wurden Dauern angenommen, die das Mittelalter zur Gegenwart hin transzendierten wie die Dauer des Christentums und des Nationalen, wobei allein die Dauer des Christentums mit dem Beginn des Mittelalters klar zusammenfiel, daher aber auch für die Konstitution dieser Zeit als einer epochenartigen Einheit besonders wichtig war. Brüche, Änderungen, Umdeutungen innerhalb der Glaubensgeschichte wurden - abgesehen von der Reformation, die aber mehr sozialgeschichtlich betrachtet wurde - kaum thematisiert. Der Eindruck einer grundlegenden identitätsstiftenden Konstante scheint hierbei die wesentliche motivierende Rolle gespielt zu haben. Das Mittelalter wurde in den Musikgeschichten des 19. Jahrhunderts nicht sehr deutlich als eine Epoche umrissen, doch diente mittels rhetorischer und erzähltechnischer Strategien einerseits die Schaffung einer Atmosphäre des Düsteren, Verschrobenen und Unterentwickelten, und andererseits die Evokation einer späteren, leuchtenderen, weniger fremdartigen Zeit der Erzeugung des Eindrucks, es habe eine relativ einheitliche Dauer des Mittelalters gegeben. Das heißt jedoch nicht, diese Dauer sei ohne Brüche und Änderungen beschrieben worden; doch die Änderungen wurden so geschildert, daß nicht der Eindruck eines qualitativen, epochenartigen Wandels entstehen konnte. Außer in Bezug auf die christliche Identität stimmten die Konstruktionen von Dauern zwischen mittelalterlichen Musiktheoretikern und Musikhistorikern des 19. Jahrhunderts nicht miteinander überein. Mittelalterliche Autoren zeigten immer wieder ein Bewußtsein von historischen Änderungen, widmeten diesen jedoch keine besondere Aufmerksamkeit und beschrieben sie vor allem nicht als einen Prozeß der Verbesserung (wohl als einen solchen der Ausweitung) und sahen überhaupt von ästhetischen Wertungen weitgehend ab. Für die Musikhistoriker des 19. Jahrhunderts war das ästhetische Werturteil hingegen von konstitutiver Funktion bei der Erzeugung von Dauern.
Zimmermann, Johannes Tinctoris und der Beginn der Neuzeit, in: Funkkolleg Musikgeschichte. Studienbegleitbrief 3 (1987), 11-53, hier 45 sq.
Warten als das Sein der Dauer oder Beckett und das Mittelalter Henrik Wels (Berlin/Würzburg) „Omnia in mensura et numero et pondere disposuisti “ - „Du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht angeordnet“ (Weish 11,21), dieser aus dem Buch der Weisheit stammende Satz ist nicht nur für das mittelalterliche Verständnis und die mittelalterliche Vorliebe für Zahlensymbolik und Zahlenkomposition grundlegend 1, sondern findet auch in dem Werk Samuel Becketts die ein oder andere Bestätigung. Und wenn Isidor von Sevilla in seinen ,Etymologiae‘ im Hinblick auf diesen Satz schreibt: „Ratio numerorum contemnenda non est.“ - „Die ratio, das Wesen der Zahlen ist nicht zu verachten“ 2, so hat Beckett diese ratio stets geachtet und literarisch mit ihr gespielt. Macht Beckett in seinen Werken einen Rechenfehler oder begeht er in der Permutation einer Serie eine Auslassung, so sind diese stets kalkuliert. In einer der wenigen theoretischen, literaturgeschichtlichen Arbeiten Becketts, einem Essay über das Verhältnis: „Dante … Bruno. Vico … Joyce“, dient Beckett das gemeinsame Interesse für die Bedeutung der Zahlen zum Vergleich zwischen Dante und Joyce und zu einigen Nachfragen bezüglich des Zahlenverständnisses von Joyce: „Der Tod Beatrices regte zu nichts geringerem als einem höchst komplizierten Gedicht an, das von der Bedeutung der Zahl 3 in ihrem Leben handelt. Dante sollte sein Leben lang von dieser Zahl besessen sein. Daher wurde das Poem in drei aus 33 Canti bestehenden Cantiche eingeteilt und in Terzinen geschrieben. Warum, scheint James Joyce zu sagen, sollte ein Tisch vier Beine haben und ein Pferd vier, und warum sollte es vier Jahreszeiten und vier Evangelien und vier Provinzen in Irland geben? Warum zwölf Gesetzestafeln und zwölf Apostel und zwölf Monate und zwölf napoleonische Marschälle und in Florenz zwölf Männer namens Ottolenghi? Warum sollte der Waffenstillstand um die 11. Stunde des elften Tages des elften Monats gefeiert werden? Er [ Joyce] kann es Ihnen nicht sagen, denn er ist nicht Gott, der Allmächtige, aber in tausend Jahren wird er es Ihnen sagen, und in der Zwischenzeit muß er sich damit begnügen zu wissen, warum Pferde nicht fünf Beine haben oder drei. Es ist ihm [ Joyce] bewußt, daß Dinge mit einem gemeinsamen numerischen Merkmal zu einer sehr bedeutenden Beziehung untereinander neigen.“ 3
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Cf. E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, 101984, 493 sq. Isidorus Hispalensis episcopus, Etymologiarum sive originum libri XX, ed. W. M. Lindsay, Oxford 1911 [Nachdruck 1962], vol. 1, l. 3, c. 4, n. 1. Samuel Beckett, Dante … Bruno. Vico … Joyce (1929), in: id., Auswahl in einem Band, übers. von E. und E. Tophoven, Frankfurt a. M. 1967, 27-28.
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Gerade in diesem Sinne verbindet ein gemeinsames numerisches Merkmal Beckett selbst mit Dante, ein Merkmal, auf welches Beckett sowohl verschlüsselt als auch unverschlüsselt immer wieder mit einem ironischen Lächeln hingewiesen hat. Soweit die Interpreten und Kommentatoren der ,Göttlichen Komödie‘ dies nachrechnen konnten, begann Dante seine Höllenreise am Abend des Karfreitags im Jahre 1300 4. Beckett wurde an einem Karfreitag, dem 13. April 1906, geboren 5. „Du wurdest an einem Karfreitag nach langen Wehen geboren.“ 6 „Du sahst das Licht der Welt und schriest am Abend des Tages, an dem Christus in der Dunkelheit um die neunte Stunde schrie und starb.“ 7 So spricht die erinnernde Stimme zu dem im Dunkeln liegenden Ich noch in einem der letzten Werke Becketts mit dem Titel ,Gesellschaft‘. Zahlensymbolisch könnte man also wohl sagen, die ,Göttliche Komödie‘ sei Beckett in die Wiege gelegt worden. Doch „weh dem, der Symbole sieht!“ 8, wie der letzte Satz der Addenda zu Bekketts Roman ,Watt‘ warnt. Und gewiß ist es auch nicht von zahlensymbolischer Bedeutung, wenn in dem Jahr von Becketts 100. Geburtstag sein Verhältnis zu der in 100 Gesängen komponierten ,Göttlichen Komödie‘ und deren Wirkung auf sein eigenes Werk zum Thema wird, wohl aber ein gemeinsames numerisches Merkmal. Im vierten Gesang des Purgatoriums begegnet Dante dem florentinischen Flöten- oder Instrumentenbauer Belacqua: „Wir gingen hin und sahn, wo er gelegen, Im Schatten Seelen, kauernd hinterm Stein, Wie man es in der Welt sieht bei den Trägen. Und einer, der mir müde schien zu sein, Umschlang die Kniee, steckend in die Leere Dazwischen tief sein Angesicht hinein. ,Mein süßer Herr‘, sagt ich sodann [also Dante zu Vergil], ,o kehre Zu ihm dich hin: er sieht sich träger an, Als wenn die Trägheit seine Schwester wäre.‘ “ 9 4
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Cf. K. Vossler, Dante als religiöser Dichter, in: id., Südliche Romania, Leipzig 1950, 79: „Durch eine ähnliche sinnreiche Meisterung astronomischer und mathematischer Begriffe im Dienste der religiösen Dichtung hat Dante die Zeit seiner Jenseitsreise bestimmt. Es steht annähernd fest, daß er den Beginn seiner Wanderung am Karfreitagsmorgen des Jahres 1300, seinen Eintritt in die Hölle am Abend dieses Tages erfolgen läßt, seinen Aufstieg zum Läuterungsberg in der Frühe des Ostersonntags und seinen zeitlosen Flug durch die Himmel wiederum drei Tage später. Die christliche Symbolik dieses Fahrplans ist durchsichtig genug.“ Cf. J. Knowlson, Samuel Beckett. Eine Biographie, übers. von W. Held, Frankfurt a. M. 2001, 17-19. Samuel Beckett, Company - Gesellschaft - Compagnie, Englische Originalfassung, deutsche Übertragung von E. Tophoven, französische Übertragung von S. Beckett, Frankfurt a. M. 1981, 57. Ibid., 95. Samuel Beckett, Watt, deutsch von E. Tophoven, Frankfurt a. M. 1970, 311. Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, übertragen von W. G. Hertz, Frankfurt a. M. 1955, 159-160 (Purgatorium IV, 103-111). Der italienische Text lautet nach Dantis Alagherii Opera omnia, vol. 1, Leipzig 1921, 155: „La` ci traemmo; ed ivi eran persone / Che si stavano all’ombra
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Daraufhin identifiziert Dante die sitzende Gestalt und fährt fort: „Sein träges Wesen und sein kurzes Wort Bewegten meinen Mund zum Lächeln leise: ,Belaqua‘, sprach ich, ,nicht mehr dauert fort Mein Schmerz um dich! Warum stockt deine Reise An diesem Platz? Erwartest du Eskorte? Fielst du zurück in deine alte Weise?‘ Und er: ,O Bruder, warum ziehn vom Orte? Mich ließe doch nicht zu der Qual Genuß Der Engel Gottes, sitzend an der Pforte, Da sich der Himmel draußen drehen muß, So oft er sich im Leben mir gewendet, Weil ich die guten Seufzer schob zum Schluß.‘ “ 10
Der ob seiner Trägheit in Florenz berüchtigte Belacqua muß also eben so lange vor dem Purgatorium warten, wie er zu Lebzeiten keine Reue zeigte, also noch einmal so lange, wie er auf Erden weilte, da er erst in den letzten Atemzügen liegend Seufzer der Reue ausstieß. Erst dann wird er ins Fegefeuer eingelassen, um sich von seinen Sünden reinigen zu dürfen, eine Reinigung, die in Belacquas Fall sicher nicht von kurzer Dauer sein dürfte. Die Sünde, die ihm diese Buße bescherte, war die Trägheit oder lateinisch die acedia. Der frühe Kommentator der ,Göttlichen Komödie‘, Benvenuto da Imola, berichtet, daß Dante einst in Florenz an dem Laden Belacquas vorbeigegangen sei und ihm, da er ihn sitzend und nichtstuend vorfand, seine Säumigkeit und Faulheit vorgeworfen habe. Darauf hätte der Flötenbauer nur schnippisch mit dem aristotelischen Diktum „sedendo et quiescendo anima efficitur prudens“, „sitzend und ruhend wird die Seele weise“, geantwortet. Diese Episode hatte Belacqua für Dante zum Inbegriff der Trägheit werden lassen. Sowohl die Passage der ,Göttlichen Komödie‘ als auch die kluge Wendung aus Benvenutos Bericht haben es Beckett von Anfang an angetan. Bereits in seinem ersten Erzählwerk, ,Dream of Fair to Middling Women‘, welches jedoch erst posthum veröffentlicht wurde, spielt Bekkett auf die Episode an: „Ob er im Ladeninnern hockte und mit großer Sorgfalt die Köpfe und Hälse von Lauten und Zithern schnitzte und ziselierte oder in der Ladentür die Sticheleien berühmter Dichter hinnahm, oder auf die Straße herauskam, um ein bißchen zu singen und zu tanzen (aliquando etiam pulsabat) [ein Zitat aus Benvenutos Glosse], so über-
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dietro al sasso, / Com’uom per negligenza a star si pone. // Ed un di lor che mi sembrava lasso, / Sedeva ed abbracciava le ginocchia, / Tenendo il viso giu` tra esse basso. // O dolce Signor mio, diss’io, adocchia / Colui che mostra se` piu` negligente, / Che se pigrizia fosse sua sirocchia.“ Ibid., 160 (Purgatorium IV, 121-132). Der italienische Text lautet nach op. cit., 155: „Gli atti suoi pigri, e le corte parole / Mosson le labbra mie un poco a riso; / Poi cominciai: Belacqua, a me non duole // Di te omai; ma dimmi, perche` assiso / Quiritta sei ? attendi tu iscorta, / O pur lo modo usato t’hai ripriso ? // Ed ei : Frate, l’andare in su che porta ? / Che` non mi lascerebbe ire ai martiri / L’uccel di Dio che siede in sulla porta. // Prima convien che tanto il ciel m’aggiri / Di fuor da essa, quanto fece in vita, / Perch’io indugiai al fine i buon sospiri.“
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tölpelte und verleugnete er doch immer dabei seine angeborene Trägheit, versagte sich der Dünung seiner Trägheit, hielt sich heraus, weigerte sich, hinabgezogen und ausgelöscht zu werden. […] Manchmal spricht er von sich […] als ,sedendo et quiescendo‘ mit der Betonung auf et und keinem Denkanschluß an den gewitzten Geist. Im Ladeninnern hockend war er nicht für sich […] den Spötteleien beklommener Dichter ausgesetzt. ,Wenn Dasitzen Weisesein heißt, dann ist kein Mensch weiser als Ihr.‘ Billige Stichelei in diesem Stil.“ 11
Der Protagonist der meisten Erzählungen aus Becketts erstem, 1934 veröffentlichtem Erzählungsband ,More pricks than kicks‘ trägt dann genauso wie der Protagonist des eben erwähnten Erstlingswerks den Namen Belacqua. Gleich in der ersten Geschichte mit dem Titel ,Dante und der Hummer‘ ist er mit der schweren Lektüre und noch schwierigeren Auslegung des ersten Mondcantos befaßt. „Es war Vormittag, und Belacqua hatte sich im ersten Mondcanto festgelesen. Bis zum Hals steckte er darin, er konnte weder vor noch zurück. Die glückselige Beatrice war zugegen, Dante desgleichen, und sie erklärte ihm die Flecken auf dem Mond.“ 12 Mit diesen Worten beginnt Becketts erstes publiziertes Erzählwerk. Bei Dante sitzt Belacqua in einer sehr speziellen Haltung vor dem Purgatorium. „Und einer, der mir ganz schien zu ermatten, / Schlang sitzend sich um beide Kniee die Hände, / Die zwischen sich gesenkt das Antlitz hatten“, lautet die Beschreibung dieses Sitzens in der Übersetzung Richard Zoozmanns 13. Eine so in sich versunken sitzende Figur wird immer wieder im Werk Becketts auftauchen, und zumeist ist diese Haltung Zeichen einer gewissen, vor allem körperlichen Trägheit. Nach einem weit verbreiteten Florileg, welches diese Definition Bernhard von Clairvaux zuschreibt, ist acedia eine „gewisse Betäubung des Geistes, durch die dieser es versäumt, Gutes zu beginnen, oder einen Widerwillen dagegen entwickelt, solches zu vollenden“ 14. Dies gilt für die meisten Figuren Becketts. Wenn acedia jedoch in einer weiteren, ebenfalls Bernhard zugeschriebenen Blüte dieses Florilegs als eine „Ermattung und Schlaffheit des Geistes“ bestimmt wird, „aufgrund deren der Geist weder lesen mag, noch es ihn erfreut zu beten, und Meditationen ihn nicht beruhigen können“ 15, dann mag dies zwar auch für Becketts Figuren zutreffen, jedoch gereicht ihnen das nicht zur Sünde,
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Samuel Beckett, Traum von mehr bis minder schönen Frauen, übersetzt von W. Held, Frankfurt a. M. 1998, 162-163. Cf. auch J. Fletcher, Die Kunst des Samuel Beckett, Frankfurt a. M. 1969, 134. Samuel Beckett, Mehr Prügel als Flügel, aus dem Englischen von C. Enzensberger, Frankfurt a. M. 1989, 7. Dante, Werke, Italienisch-Deutsch, ed. E. Laaths, Darmstadt 1963, 211. Bernard von Clairvaux, zitiert nach Thomas Hybernicus, Flores doctorum pene omnium, tam graecorum, quam latinorum, qui tum in Theologia, tum in Philosophia hactenus claruerunt, Tyrnaviae 1746, 17, s. v. ,acedia‘: „Acedia, est quidam animi torpor, quo quis negligit aliqua bona inchoare, aut fastidit perficere.“ Op. cit., 17: „Acedia, est animi quidam languor, quum legere non libet, orare non delectat, meditationes solicite non sentiuntur.“
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sondern hat den vermeintlich ,positiven‘ Effekt, daß sie um so klarer ihren inneren Stimmen lauschen und sich Reflektionen über die geistigen und körperlichen Voraussetzungen ihres Denkens hingeben können. Insofern einer körperlichen Trägheit bei Beckett zumeist eine extreme geistige Regsamkeit und Reflektion korrespondiert, nimmt Beckett das aristotelische Diktum „sedendo et quiescendo anima efficitur prudens“, mit dem Belacqua versucht hatte, Dantes Vorwürfe beiseite zu wischen, was ihm jedoch nur Dantes Spott eingetragen hatte, ernst und macht es zur Bedingung der Möglichkeit eines bestimmten geistigen Seins. „O homo imprudens! Millia millium ministrant ei, & decies centena millia adsistunt ei; & tu sedere praesumis?“, soll Bernhard, ebenfalls nach diesem Florileg, ausgerufen haben 16. Dieser in eine rhetorische Frage verwobene Vorwurf, ein Mensch, der es vorziehe, nur herumzusitzen, während die ganze Schöpfung ihm diene und auf ihn ausgerichtet sei, sei ein dummer Mensch, erhält von Belacqua/Beckett die genau entgegengesetzte Antwort: Gerade dieser Mensch, der sich dem Bewußtsein seines eigenen Denkens hingibt, ist ein weiser Mensch. Die Herkunft des bisher als aristotelisches Diktum bezeichneten Satzes über den Zusammenhang von Ruhe, Sitzen und Denken ist nicht ganz eindeutig. Aristotelisch ist er insofern, als er auf eine Stelle im siebten Buch der ,Physik‘ zurückgeht, an der Aristoteles über die Generierung von Wissen spricht. Nach einer modernen Übersetzung lautet die Stelle: „Der Erwerb des Wissens von Anfang an ist kein Entstehen und auch keine Eigenschaftsveränderung; wir sprechen doch davon, daß durch Findung von Ruhe und Halt der Geist begreife und denke.“ 17 Die in der Marietti-Ausgabe der Werke des Thomas von Aquin abgedruckte mittelalterliche Übersetzung dieser Stelle heißt dann: „Quae autem ex principio acceptio scientiae, non est generatio neque alteratio. In quietari enim et residere 16
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Ibid. Ähnliche Aussprüche wie die hier nach den ,Flores doctorum‘ des Thomas Hybernicus zitierten und ebenda Bernhard von Clairvaux zugewiesenen finden sich zahllos in den Handbüchern und Florilegien des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, so daß den hier zitierten Sätzen eine Art Stellvertreterfunktion zukommt. Um die Gelegenheit zu nutzen, auf einige dieser äußerst nützlichen Werke hinzuweisen, verweise ich auf die seit dem 17. Jahrhundert in unzähligen Auflagen gedruckte ,Aurifodina universalis‘ des Robert von Cambray, cf. Robertus Cameracensis, Aurifodina universalis scientiarum divinarum atque humanarum ex fontibus aureis sanctorum patrum, conciliorum, doctorum, nec non paganorum fere ducentorum tam in theologia, quam in philosophia …, editio nova, Parisiis 1888, 24-27, s. v. ,acedia, et pigritia‘. Ebenso nützlich ist das lange Zeit den unterschiedlichsten Autoren zugeschriebene und nicht weniger häufig aufgelegte ,Compendium theologiae veritatis‘ des Hugo Ripelin von Straßburg. Hier findet sich im dritten Buch, c. 18, der mit vielen Zitaten angereicherte Abschnitt ,De acedia‘; cf. Compendium totius theologicae veritatis VII libris digestum accurateque cum veteribus et approbatis exemplaribus collatum per fratrem Joannem de Combis, denuo ed. Fr. Ephrem, Abbas Beatae Mariae de Trappa de Monte Olivarum, Rixhemii 1878, 181-184. Dieser Text findet sich auch in: Bonaventura, Opera omnia, vol. 7, Venetiis 1755, 94-95. Auch der gelehrte Köcher von Autoritätenzitaten, der sich unter dem entsprechenden lateinischen Titel ,Pharetra‘ in den Werken Bonaventuras findet, bietet umfangreiches Material ,De Accidia‘, cf. Bonaventura, Opera omnia, vol. 7, Venetiis 1755, 300-301. Aristoteles, Physik, Vorlesung über Natur. Zweiter Halbband, übers. von H. G. Zekl, Hamburg 1988, 125 (VII. 3, 247b9-12).
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anima sciens fit et prudens.“ 18 Die lateinische, in der Juntiner Ausgabe der ,Opera Aristotelis cum Averrois commentariis‘ von 1562 abgedruckte Übersetzung der Stelle lautet: „et quod tale est intelligere et acquirere cognitionem in principio non est generatio, neque alteratio. homo enim fit sciens et intelligens, quando anima eius quiescit, et firmatur.“ 19 Die bis ins 17. Jahrhundert weitverbreiteten ,Auctoritates Aristotelis‘, die Jacqueline Hamesse dankenswerterweise ediert hat, bieten bisher die vom Wortbestand nächste Variante dieser Stelle: „In quiescendo et cedendo, scilicet mundanis anima fit sciens et prudens.“ 20 Mit der Setzung des Gerundiums ,cedendo‘, also des Abscheidens und der Abkehr, und der nachfolgenden Präzisierung ,scilicet mundanis‘ wird die geläufige Interpretation der Stelle, wie sie etwa Thomas in seinem Physikkommentar gibt 21, hier in die Aussage selbst mithereingenommen. Indem sich die Seele vom Weltlichen abwendet, kann sie weise und klug werden. An den Stellen, an denen Thomas von Aquin diese Aussage aus dem siebten Buch der ,Physik‘ des Aristoteles als Argument zitiert, findet sie dann jedoch die Form, in der sie im Mittelalter ihre größte Verbreitung erfährt: „in quiescendo et sedendo, anima fit sapiens et prudens“ 22 heißt es im Kommentar zum ersten Buch ,De anima‘. In der Prima secundae der ,Summa theologiae‘, quaestio 33, art. 3, steht unter explizitem Verweis auf das siebte Buch der ,Physik‘: „in sedendo et quiescendo fit anima sciens et prudens.“ In derselben Form findet sich der Ausspruch auch in dem durch Petrus de Alvernia fortgesetzten Kommentar zur ,Politik‘ des Aristoteles: „Sedendo enim et quiescendo fit anima sciens et prudens.“ 23 Das Sitzen und Ruhen freilich wird an all diesen Stellen als Ruhe von körperlicher Bewegung und Abkehr von der Irritation durch sinnliche Affekte verstanden. In diesem Sinne greift Dante selbst in seinem politischen Traktat ,Über die Monarchie‘ diesen Zusammenhang auf. Nachdem er die eigentliche Aufgabe des gesamten Menschengeschlechts dahingehend bestimmt hat, daß diese darin bestünde, immer die gesamte Potenz des möglichen Intellekts zu aktuieren, stellt er fest, daß es sich im Ganzen verhalte wie in den einzelnen Teilen, also wie es bei den je einzelnen Menschen der Fall ist. Beim einzelnen Menschen aber sei es so, daß er sitzend und ruhend durch Klugheit und Weisheit vervollkommnet werde („sedendo et quiescendo prudentia et sapientia ipse perficitur“). Daraus folgert 18
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Thomas de Aquino, In octo libros Physicorum Aristotelis expositio, ed. P. M. Maggio`lo, TurinRom 1965, 473. Aristotelis Opera cum Averrois commentariis, Venetiis: apud Junctas 1562, vol. 4, fol. 327rC. Auctoritates Aristotelis, Un Florile`ge me´die´val, e´tude historique et e´dition critique par J. Hamesse (Philosophes me´die´vaux 17), Louvain-Paris 1974, 155, n. 189. Cf. Thomas, In libros Physicorum (nt. 18), 475b (l. 7, lect. 6): „Quidquid enim advenit alicui per solam quietationem et residentiam aliquarum perturbationum vel motionum, non advenit per generationem et alterationem: sed scientia, quae est cognitio speculativa, et prudentia, quae est ratio practica, adveniunt animae per quietationem et residentiam corporalium motionum et sensibilium passionum: non ergo scientia et prudentia adveniunt animae per generationem vel alterationem.“ Thomas de Aquino, In Aristotelis librum De anima commentarium, ed. M. Pirotta, Turin 1959, 33a (l. 1, lect. 8). Thomas de Aquino/Petrus de Alvernia, In octo libros Politicorum Aristotelis expositio, ed. R. Spiazzi, Turin-Rom 1966, 371b (l. 7, lect. 7).
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Dante, daß eben auch das gesamte Menschengeschlecht durch Ruhe und Frieden seiner Aufgabe, der vollständigen Aktuierung des Intellekts, am besten gewachsen sei 24. Für Murphy, Molloy und die anderen Romanfiguren Becketts ist dagegen die notwendig und beinahe zwanghaft aus der Ruhe folgende Aktuierung ihrer je eigenen intellektuellen Möglichkeiten ein nicht beendbares, endloses sich im Kreis Drehen ihres Geistes. Stellvertretend für die meisten mittelalterlichen Kommentatoren dieser Aristotelesstelle sei hier kurz Walter Burley zitiert. In seinem Kommentar zum siebten Buch der ,Physik‘ schreibt er: „Wie nämlich durch körperliche Bewegung und aufgrund der Verwirrung durch körperliche Leidenschaften der Mensch das Wissen, das er hat, nicht benutzen kann, wie das Beispiel der Betrunkenen, Schlafenden und Kranken zeigt, so kann der Mensch wegen körperlicher Bewegung und der Verwirrung durch Leidenschaften auch nicht Wissen von Neuem erwerben, sondern Wissen über Neues wird eher aufgrund von körperlicher Ruhe und durch die Zurücksetzung [residentia] körperlicher Leidenschaften erworben.“ 25
In Becketts erstem Roman, ,Murphy‘, findet sich eine klare Versinnbildlichung dieses Zusammenhangs von körperlicher und seelischer Ruhe mit der reinen Reflektion des Bewußtseins. Bereits der erste Satz des Romans stellt mittels einer Anspielung auf den biblischen ,Liber Ecclesiastes‘ die Nichtigkeit eines praktischen, auf Handlung und Erwerb ausgerichteten Weltwissens vor Augen: „Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.“ 26 Murphy, der Protagonist der Romans, der sich von allem Weltlichen soweit wie möglich abkehren will, um in der Reinheit seines Geistes zu existieren, sitzt zu diesem Zweck in einer Kammer in einem Schaukelstuhl. „Er saß nackt in seinem Schaukelstuhl aus rohem, garantiert unzerbrechlichem Teakholz, das nachts nicht knarrte und gegen Würmer und Witterungsschäden gefeit war. Er gehörte ihm, er verließ ihn nie.“ 27 Um seine Bewegungsmöglichkeit noch weiter einzuschränken und so seine Konzentration zu steigern, bindet sich Murphy selbst an den Schaukelstuhl fest. „Sieben Schals hielten ihn fest. Zwei fesselten die Schien24
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Cf. Dante Alagherius, De monarchia libri III, ed. L. Bertalot, Friedrichsdorf 1918, 14-15 (I, 4): „Satis igitur declaratum est, quod proprium opus humani generis totaliter accepti est actuare semper totam potentiam intellectus possibilis, per prius ad speculandum, et secundario propter hoc ad operandum per suam extensionem. Et quia quemadmodum est in parte, sic est in toto, et in homine particulari contingit, quod sedendo et quiescendo prudentia et sapientia ipse perficitur, patet quod genus humanum in quiete sive tranquillitate pacis ad proprium suum opus, quod fere divinum est iuxta illud ,Minuisti eum paulo minus ab angelis‘, liberrime atque facillime se habet.“ Gualterius Burlaeus, Super Aristotelis libros de physica auscultatione lucidissima commentaria, Venetiis 1589, col. 888: „Sicut enim propter motum corporalem, et propter perturbationem corporalium passionum non potest homo uti scientia quam habet, ut patet de ebrijs, et dormientibus, et infirmis, ita propter motum corporalem, et propter perturbationem passionum non potest homo de novo acquirere scientiam, sed magis acquiritur scientia de novo propter quietationem a motibus corporalibus, et per residentiam passionum sensibilium. ergo, etc.“ Samuel Beckett, Murphy, übers. von E. Tophoven, Hamburg 1959, 5. Op. cit., 5.
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beine an die Stuhlkufen, einer seine Oberschenkel an den Sitz, zwei die Brust und den Bauch an die Rückenlehne und einer seine Handgelenke an die hintere Querstange. Es waren nur äußerst begrenzte örtliche Bewegungen möglich.“ 28 Zwar werden am Anfang sieben Schals genannt, die Murphy in dem Schaukelstuhl halten, in der genauen Beschreibung ihrer Verwendung finden sich dann aber nur sechs aufgezählt: zwei an den Füßen, einer über beide Oberschenkel, einer über die Brust, einer über den Bauch und einer um die Handgelenke. Daß es sich an einer solch exponierten Stelle und bei Becketts Genauigkeit um ein schlichtes Vergessen handelt, ist sehr unwahrscheinlich. Und warum sieben Schals und nicht sechs oder acht? Die Siebenzahl ist ein numerisches Merkmal, das den sieben Todsünden korrespondiert. Durch Murphys fast völlige Bewegungslosigkeit sind sechs der sieben Todsünden im Wortsinn gebunden, Murphy kann sich keiner von ihnen schuldig machen. Aber auch die siebte Sünde, die er in eben jenem Moment und in seinem ganzen Leben begeht, fesselt ihn an den Schaukelstuhl. Es ist die Sünde der acedia, der Trägheit, der sich Murphy ekstatisch hingibt. Also fesseln ihn wahrhaft und wirklich sieben Schals an den Schaukelstuhl. Murphys Trägheit wird denn auch mehrfach betont. Sein ehemaliger pythagoreischer Lehrer sagt über ihn: „Als ich ihn zum letzten Mal sah, […] sparte er für eine eiserne Lunge für den Fall, daß er keine Lust mehr hätte zu atmen.“ 29 Seine Geliebte Celia, um deretwillen er schließlich doch sehr widerwillig die Aufnahme einer Tätigkeit in Betracht zieht, muß sich über ihn sagen, „daß jemand, der nur träge wäre, von der Aussicht auf eine Beschäftigung nicht derart erschüttert werden könnte“ 30. Und tatsächlich ist Murphy, „dem man nicht erst zu sagen brauchte, daß ein Atheist, der die Gottheit verhöhnt, nicht alberner sein könnte als Murphy bei der Rechtfertigung seines Nichtstuns“ 31, nicht nur träge, sondern die Trägheit ist bei ihm die Voraussetzung eines reinen geistigen Seins. So gibt er auf Celias Bemerkung, sie sei, was sie tue, die Antwort: „Nein […] Du tust, was Du bist, Du tust einen Bruchteil von dem, was du bist, Du erleidest einen kläglichen Abfluß Deines Seins ins Tun.“ 32 Im sechsten Kapitel des Romans wird schließlich die von Beckett vormals mehrfach versprochene Rechtfertigung des Ausdrucks ,Murphys Geist‘ versucht. Das Kapitel ist mit dem Satz „Amor intellectualis quo Murphy se ipsum amat“ überschrieben, einer Verschmelzung der 35. und 36. Proposition aus dem fünften Teil von Spinozas ,Ethik‘. In bezug auf den Geist, der mehr oder weniger eine Art mundus intelligibilis gegenüber dem mundus sensibilis der körperlichen Dinge darstellt, heißt es: „Murphys Geist stellte sich sich selbst als eine große hohle Kugel vor, die hermetisch vom äußeren Universum abgeschlossen war. Dies 28 29 30 31 32
Ibid. Op. cit., Op. cit., Op. cit., Op. cit.,
31. 21. 26. 25.
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bedeutete keine Verarmung, da er nichts ausschloß, was er nicht selbst enthielt.“ 33 Im Fortgang des Kapitels werden dann verschiedene, sich aus Descartes’ Zwei-Substanzen-Lehre ergebende Probleme eines commercium mentis et corporis erörtert. Damit Murphys Geist in dieser Kugel - eine Anspielung auf Leibnizens fensterlose Monade - ruhen kann, nur sich selbst liebend und von sich selbst geliebt 34, ohne Affektionen von außen, ist eine maximale Trägheit seines Körpers vonnöten. Doch bei der Suche nach diesem vermeintlichen Idealzustand hindert Murphy seine Liebe zu Celia, die ihn zu verlassen droht, falls er sich nicht nach Arbeit umsieht. Mit der Einforderung eines astrologischen Gutachtens, welches Celia besorgen muß, und Murphys dahingehender Interpretation dieses Gutachtens, daß bis „Sonntag, dem 4. Oktober 1936, jedwedem Unternehmen Murphys ein Maximum an Erfolgsaussichten fehlen“ 35 würde, versucht Murphy zwar, sich dem Verlangen Celias nicht kampflos zu ergeben, muß sich dann letztlich aber doch auf die Suche begeben. - Das erfolgverheißende Datum des 4. 10. 1936 ist übrigens eine Permutation der Ziffern, die in anderer Zusammenstellung Becketts Geburtstag, den 13. 4. 1906, ergeben. Als erstes bewirbt sich Murphy in einer Drogerie. Doch dort stößt seine Bewerbung auf alles andere als auf Interesse. „ ,Der intelligent?‘ sagte der Drogist. ,Macht mir niemand weis.‘ […] ,Sieht mir nicht menschlich genug aus‘, sagte das älteste Ausschußprodukt der Drogisten, ,nicht menschlich genug.‘ Murphy war diese Einstellung, ein mit Ekel verbrämter Spott, zu vertraut, um noch einen unangebrachten Versuch der Meinungsbeeinflussung zu machen. Sie drückte sich manchmal mehr und manchmal weniger urban aus. Ihre Formen waren ebenso verschiedenartig wie die Grade der Drogistenmentalität, aber ihr Inhalt war stets: ,Du Irrationaler!‘ “ 36
Sollte die Trägheit, die extreme Suche nach geistiger Abgeschlossenheit und Autonomie, etwa zu einem Verlust der Menschlichkeit oder dessen, was das Menschsein vor allen Dingen auszeichnet, des Denkvermögens oder der Rationalität, geführt haben? Nach mittelalterlicher Theorie scheint genau das die Wirkung der acedia zu sein. In seinem 1510/11 in Paris erschienenen ,Liber de sapiente‘ unterteilt Carolus Bovillus die Menschen in vier Stufen oder Grade. „Es gibt nämlich vier Stufen der natürlichen Dinge, nämlich die subsistierenden, die lebenden, die fühlenden und die vernunftbegabten oder des Denkens fähigen Dinge. Die menschliche Art schließt jedoch alle Stufen in sich selbst ein und unterteilt und erkennt sich in vier Ordnungen.“ 37 Der Mensch, der alle vier 33 34
35 36 37
Op. cit., 64. Cf. Dante, Die göttliche Komödie (nt. 9), 420 (Paradies 33, 124-126): „O ewiges Licht, das du in dir nur Ruh, / Nur dich verstehst und nur von die verstanden, / Dich liebst verstehend und dir lächelst zu!“ Beckett, Murphy (nt. 26), 46. Op. cit., 47. Carolus Bovillus, Liber de sapiente, ed. R. Klibansky, in: E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Darmstadt 1963, 299-412, hier 303: „Cum enim naturalium
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Seinsstufen unter sich begreift und durch fleißiges Studieren die ihm eigene Stufe des Erkennens möglichst umfassend ausschöpft, ist der homo sapiens. Jedoch können ihn die Sünden von seinem Platz an der Spitze der Schöpfung auch wieder die Treppe herabführen. Die luxuria oder maßlose Vorliebe für schändliche Begierden (immoderatus fede libidinis amor) setzt den Menschen auf eine Stufe mit den Tieren 38. Gula oder das ungezügelte Verlangen nach körperlicher Speisung (corporee alimonie irrepressa aviditas) wirft den Menschen von seinem eigentlichen Platz auf die dritte Stufe hinab und macht ihn den Pflanzen ähnlich 39. „Ferner wirft die äußerste Trägheit, die acedia, den Menschen auf die unterste und letzte Stufe zurück und macht ihn den Mineralien ähnlich.“ 40 Marginal wird hier angemerkt, daß er dann träge wie ein Stein sei (piger ut lapis). Der Text fährt fort: „Wie nämlich Mineralien, die auf der letzten Stufe sitzen, nichts anderes haben als das Sein selbst, und es ihnen eignet, keine natürliche Tätigkeit auszuüben oder von sich aus bewegt zu werden, so sind auch diejenigen, die die monströse Mißgeburt der Trägheit bedrückt, beinahe völlig von unablässigem Schlaf betäubt. Von jeder Tätigkeit und Handlung nehmen sie Abstand, unbeweglich wie Steine verharren sie, gleichsam als hätte ihnen Mutter Natur schlichtes Sein ohne irgendeine besondere Kraft oder die Fähigkeit zu lobenswertem Tun geschenkt. Indem sie keine ihrer natürlichen Kräfte ausüben, verharren sie selbst in der Ratio völlig irrational, im Sinn unsinnlich, im Leben entseelt, abgestorben und unfruchtbar, schließlich sind sie selbst in der Substanz untätig, müßig und lethargisch.“ 41
Das abgebildete Schema (Abb. 1) macht diesen sündhaften Seinsverlust überdeutlich 42. Daß der so abgestufte und heruntergekommene Mensch in der Stellung Belacquas kauert, verweist auf eine beachtenswerte ikonographische Tradition der acedia, die lohnenswerter Gegenstand einer eigenen Untersuchung wäre. Der in dieser Haltung vor dem Purgatorium wartende Belacqua war - anders als dies Bovillus zuließe - immerhin so schlau, Dante zu entgegnen: „sedendo et
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rerum quattuor sint gradus: subsistentium, viventium, sensibilium et rationalium, cunctos tamen gradus humana species in semet involvit seque distinguit atque dispescit in ordines quattuor.“ Cf. op. cit., 305: „Efficit quippe Luxuries et immoderatus fede libidinis amor Hominem haud bestiis absimilem illumque ab humana sede in brutorum animantium gradum infeliciter exturbat, quandoquidem nil prestantius brutis animantibus adsit quam profusio sueque speciei quattuor.“ Cf. ibid.: „Gula sive corporee alimonie irrepressa aviditas hunc a primo propriove loco dejicit in tertium plantisque persimilem efficit, que licet totius sensationis et voluptatis probentur expertes, officia tamen alimentationis exercent.“ Ibid.: „Porro extrema Acedia Hominem in imum ultimumque gradum extrudit facitque mineralibus persimilem.“ Ibid.: „Sicut enim mineralia, que in extremo sedent gradu, haud aliud aliquid habent quam ipsum Esse nullaque naturali operatione exerceri aut per seipsa dimoveri illis indultum est: ita et quoscunque portentosum Acedie monstrum obsederit, assiduo ferme somno consopescunt, ab actu omni et operatione remittuntur, immoti ut lapides perstant, tanquam si simplex Esse sine ulla preclara vi atque laudabilium operationum facultate Natura mater illis esset elargita. Perseverant quippe isti plus quam omnes in Nature muneribus ingrate nullam naturalium suarum virium exercentes: in ipsa Ratione penitus irrationabiles, in Sensu insensibiles, in Vita examines, emortui, infecundi; in ipsa denique Substantia ociosi, desides, torpentes.“ Cf. op. cit., 306.
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Abb. 1: Carolus Bovillus, Liber de sapiente, ed. R. Klibansky, in: E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig-Berlin 1927 [Nachdruck Darmstadt 1963], 299412, Abbildung 306.
quiescendo fit anima sapiens et prudens“. Bovillus unterscheidet den törichten vom weisen Menschen wie folgt: „Weise ist der zielgerichtete Mensch, das heißt der dem Ziel nach wohleingerichtete und vollkommene Mensch. Der Törichte aber ist ziellos, unvollendet und unvollkommen. Denn dieser zeigt deutlich, daß er Anfang ohne Ziel, Fähigkeit und Können ohne Objekt ist und ein Vermögen besitzt, welches nicht wirkt; jener aber beweist, daß er ein mit dem Ziel verbundener Anfang ist, daß er eine vom Objekt kaum getrennte Fähigkeit besitzt und daß das Vermögen, welches er in sich trägt, zum Wirken, zum Gebrauch und Nutzen da ist.“ 43
Die in ihrem Bewußtsein gefangenen beckettschen Figuren möchten zwar enden, sind sich aber bewußt, nicht mehr enden zu können, und so tragen sie die Last der Dauer weiterhin, bewegen sich im Kreis, liegen oder kauern in der Dunkelheit oder verharren bis auf die Köpfe eingegraben in Erde, Sand oder 43
Op. cit., 319: „Sapiens finitus Homo est, id est fine compositus atque perfectus. Insipiens vero infinitus est, inconsummatus, imperfectus. Nempe hic principium sine fine, potentiam sine obiecto, vim sine operatione se esse palam ostendit; ille autem principium fini coniunctum, potentiam minime ab obiecto separatam et vim in actu, usu et opere se continentem esse demonstrat.“
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Urnen. Der Protagonist aus Becketts nachfolgendem Roman ,Molloy‘ kann sich ob eines steifen Knies nicht mehr in Belacquas Haltung auf den Boden setzen. Für ihn gilt: „Aber, wenn man sich auf die Erde setzt, muß man es im Schneidersitz oder in Fötusstellung tun, das sind für einen Anfänger sozusagen die einzig möglichen Stellungen.“ 44 Also entschließt er sich, sich auf den Rücken zu legen, und kaum liegt er, wird sein „Wissen um folgende Erkenntnis“ erweitert: Äußere Einschränkung führt zu einer größeren Entfaltung der verbliebenen Möglichkeiten. Da er weder stehen noch sitzen kann, probiert er die horizontalen Lagen aus. „Man probiert sie aus wie nie zuvor und erlebt dabei unerwartete Wonnen. Kurz, sie erweisen sich als unerschöpflich. […] Das sind die Vorteile einer örtlichen und schmerzlosen Paralyse. Und es sollte mich nicht wundern, wenn die großen klassischen Paralysen ähnliche und vielleicht sogar noch erstaunlichere Befriedigungen gewährten. Endlich in Wahrheit außerstande sein, sich zu rühren, das muß fabelhaft sein. Mir vergeht der Verstand, wenn ich nur daran denke. Und dazu eine vollständige Aphasie! Und vielleicht völlige Taubheit! Und möglicherweise eine Lähmung der Netzhaut! Und wahrscheinlich Verlust des Gedächtnisses! Und gerade noch ein Überrest von Gehirn, um jubeln zu können! Und um den Tod wie eine Auferstehung zu fürchten.“ 45
Die immer weiter nach unten führende Abstufung in der vermeintlichen Hierarchie des Seins ist die Voraussetzung, um sich aus dem Gespinst falscher Erwartungen und Hoffnungen zu befreien und sich auf sich selbst zu konzentrieren. Nachdem Moran, das Alter ego von Molloy, seine Suche nach Molloy aufgegeben hat und von seinem Sohn verlassen allein im Wald zurückbleibt, kommt er zu dem Schluß: „Ich war unfähig zu handeln oder vielleicht endlich stark genug, um nicht mehr zu handeln. Denn ich war ruhig, ich wußte, daß alles im Begriff war, zu enden oder wiederaufzuflackern, es war mir gleich, und es war mir gleich, auf welche Weise, ich brauchte nur zu warten.“ 46 Hoffnungen und Erwartungen dienen ihm nur noch, um sie ob ihrer Trughaftigkeit in seinem Bewußtsein zu vernichten. „Und ich belustigte mich sogar damit, ab und zu kindliche Hoffnungen in mir groß werden zu lassen, um sie besser vernichten zu können, […] Ja, ich ließ sie in mir groß werden, anwachsen, strahlen und tausend hübsche kleine Bilder hervorzaubern, und dann fegte ich sie angewidert weg, ich reinigte mich von ihnen und betrachtete mit Genugtuung die Leere, die sie beschmutzt hatten.“ 47 Er wartet, ohne auf etwas zu warten. In einem seiner letzten Werke, dem 1980 erschienen ,Company‘ (deutsch: ,Gesellschaft‘), welches Beckett schon wieder auf Englisch schreibt, da ihm das Französische zu vertraut ist, nimmt er Abschied von Belacquas Warten. Die Stimme sagt jetzt zu dem im Dunkeln liegenden Du, zu dem Geist oder Bewußt44 45 46 47
Samuel Beckett, Molloy, deutsch von E. Franzen, Frankfurt a. M. 1975, 162. Op. cit., 162-163. Op. cit., 188. Ibid.
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sein, welches in Murphys von der Außenwelt abgeschnittener fensterloser Kugel ruht: „So wartete, daß er geläutert werde, der alte Lautenspieler, der Dante einst ein erstes Viertel-Lächeln abgewann und nun vielleicht endlich mit irgendeiner Schar Glückseliger Loblieder singt. Dem hier jedenfalls Ade. Der Ort ist fensterlos.“ 48 Damit ist geschehen, was Murphy sich noch wünschte: „In diesem Augenblick hätte Murphy seine Hoffnung auf das Vorfegefeuer gerne für fünf Minuten in seinem Schaukelstuhl hergegeben und auf den Schutz des BelacquaFelsens sowie die lange embryonale Ruhe verzichtet.“ 49 Nach Berkeley, den Beckett häufiger mit seinem Satz ,esse est percipi‘ - ,Sein ist wahrgenommen werden‘ zitiert, existiert eine vom Wahrnehmen und Denken unabhängige Außenwelt nicht, das Sein der Dinge liegt in ihrem Wahrgenommenwerden. Für Beckett ist das Bewußtsein kein Anhängsel, kein Appendix des Seins, sondern Sein hängt dem Bewußtsein notwendig an und kann insofern weder beendet noch ausgelöscht werden. Das intransitive Warten, das nichts mehr erwartet, weil auch seine zeitliche Indizierung dem Bewußtsein nachgeordnet ist, ist insofern das Sein der Dauer. Jedes Warten, das ein Warten auf eine potentielle Erfüllung ist, und sei es auf den Tod, ist potentiell auch beendbar. Ein in seinem Wesen unabschließbares, intransitives Warten schließt ein Weggehen, ein Heraustreten oder eine Beendigung aus. So sagt in ,Warten auf Godot‘ Estragon mehrmals zu Wladimir: „Komm wir gehen!“, woraufhin Wladimir nur entgegnet: „Wir können nicht.“ Auf Estragons Frage: „Warum nicht?“ fällt Wladimirs Antwort eindeutig aus: „Wir warten auf Godot.“ 50 Weggehen geht nicht, wenn das Sein niemals dem Bewußtsein entfliehen kann, sondern dieses immer schon voraussetzt, um sein zu können. In Becketts mit ,Film‘ betitelten Filmentwurf von 1965 heißt es nach dem von Berkeley genommenen Motto ,esse est percipi ‘: „Wenn alle Wahrnehmung anderer - tierische, menschliche und göttliche - aufgehoben ist, behält einen die Selbstwahrnehmung im Sein. Die Suche nach dem NichtSein durch Flucht vor der Wahrnehmung anderer scheitert an der Unausbleiblichkeit der Selbstwahrnehmung. Das obige will keinen Wahrheitswert haben und wird nur als strukturelles dramatisches Hilfsmittel betrachtet.“ 51
In der Erzählung oder vielmehr Bildbeschreibung ,Der Verwaiser‘, die Beckett 1970 veröffentlicht hat, und in der ein Zylinder beschrieben wird, in dem sich 200 nackte Körper befinden, werden die Menschen in vier Gruppen eingeteilt. Die vierte Gruppe entspricht den von Bovillus als töricht beschriebenen Menschen, die kein Worumwillen, kein Ziel, kein Objekt des Wartens und der Suche mehr kennen. Sie heißen Nichtsucher und sitzen in der Haltung des wartenden Belacquas am unteren Rand des Zylinders, nur das sie eben auf nichts mehr 48 49 50
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Beckett, Company (nt. 6), 105. Beckett, Murphy (nt. 26), 47. Samuel Beckett, Warten auf Godot, in: id., Dramatische Dichtungen in drei Sprachen, Frankfurt a. M. 1981, 19, 103, 165, 179 sq. Samuel Beckett, Film, in: id., Auswahl in einem Band (nt. 3), 339.
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warten. „Viertens diejenigen, die nicht suchen oder Nichtsucher, die größtenteils an der Wand in der Haltung sitzen, die Dante ein seltenes mattes Lächeln entriß.“ 52 Ist diese Schar von Nichtsuchern am Anfang noch klein, so würde, falls „diese Vorstellung und deren Folgen beibehalten wird“ 53, wie Beckett mehrfach betont, ihre Anzahl wachsen, bis es, wenn der letzte Platz und Haltung gefunden hat, „in demselben Moment finster wird, in dem die Temperatur in der Nähe von Null zur Ruhe kommt“ 54. Dabei handelt es sich freilich um eine physikalische Entropie, der die für Beckett ungewöhnliche literarische Form einer reinen Zustandsbeschreibung entspricht. Das Bewußtsein der sitzenden Nichtsucher wird nicht zum Thema. Dafür gelten noch immer Becketts Worte vom Ende des letzten Romans seiner Trilogie, ,Der Namenlose‘: „Man muß weitermachen, ich kann nicht weitermachen, man muß weitermachen, ich werde also weitermachen, man muß Worte sagen, solange es welche gibt, […] da wo ich bin, ich weiß nicht, ich werde es nie wissen, im Schweigen weiß man nicht, man muß weitermachen, ich werde weitermachen.“ 55
Die Intransivität des Wartens Belacquas stellt genauso wie Friedrich Nietzsches Konzept von der Ewigen Wiederkehr als dem Sein alles Werdens 56 wenn auch in völlig anderer Form - die radikale Entteleologisierung der Metaphysik dar.
52
53 54 55
56
Samuel Beckett, Le de´peupleur - Der Verwaiser, deutsche Übertr. von E. Tophoven, Frankfurt a. M. 1972, 21. Op. cit., 25. Op. cit., 131. Samuel Beckett, Der Namenlose, in: id., Drei Romane: Molloy - Malone stirbt - Der Namenlose, Frankfurt a. M. [s. a. ], 542. Cf. G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Frankfurt a. M. 1985, 55-56.
II. Ontologie und Semantik der Dauer
The Duration of Being. A Scholastic Debate (and Its Own Duration) Pasquale Porro (Bari) In the opening pages of ,L’arche´ologie du savoir‘ Michel Foucault underlines an unusual asymmetry (or, perhaps better in this case, a-synchrony) between two conflicting phenomena in recent historiography: on the one hand, in the field of general history, or history tout court, a growing, almost exclusive, attention for the long periods of material civilisation, for constant, stable structures; on the other hand, in the fields of the history of ideas, history of science and of philosophy, an ever-greater sensitivity toward phenomena of rupture, differences and discontinuities 1. Actually, Foucault himself considered this divarication as a mere surface effect, determined by a single fundamental transformation: the questioning of the document and its (re)conversion into a monument 2. Beyond Foucault’s belief in a profound reconciliation, such an a-synchrony seems inevitably to pose diverse problems, especially when it meets with another delicate question: that of the distinction between the reconstruction of erudite culture and that of popular culture (,histoire des mentalite´s‘, history of attitudes, history of collective psychology). Keeping to the theme that most interests us here: how should notions belonging equally to material culture and intellectual, philosophical culture, such as time and duration, be considered? Should we concentrate our attention on transformations taking place over long periods i. e. a hypothetical, generically ,medieval‘ conception of time and duration, as distinct from ancient and contemporary conceptions - or should we record as accurately as possible the differences and discontinuities within this same period? And is it possible to bridge the gap or establish connections between these two approaches? Over 40 years ago - that is, even before Foucault’s ,L’arche´ologie du savoir‘ - Jacques Le Goff attempted as much: from the perspective of ,longue dure´e‘ and material civilisation, the late Middle Ages were characterised by a process of secularisation of time (for which he coined the well-known formula of the passage from the ,Time of the Church‘ to the ,Time of the Merchant‘), due mainly to pressure from economic structures and practices, and especially 1
2
M. Foucault, L’arche´ologie du savoir (Bibliothe`que des Sciences Humaines), Paris 1969, esp. 913. Foucault, L’arche´ologie du savoir (nt. 1), esp. 13-15.
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from the needs of the new merchant class. For Le Goff, this transition was not only ,reflected‘ in erudite culture, but was indeed ,produced‘ with the concurrence and contribution of Scholastic Masters. His well-known essay of 1960, ˆ ge: Temps de l’E´glise et temps du marchand‘, ends with entitled ,Au Moyen A an explicit affirmation in this regard: „Peut-eˆtre a-y-il une liaison plus e´troite qu’on le croit et qu’ils ne le pensaient sans aucune doute eux-meˆmes entre les lecX ons des maıˆtres d’Oxford et de Paris et les entreprises des marchands de Geˆnes, de Venise, de Lübeck, au de´clin du Moyen Age. C’est peut-eˆtre sous leur action conjugue´e que le temps se brise et que le temps des marchands se libe`re du temps biblique que l’E´glise ne sait pas maintenir dans son ambivalence fondamentale.“ 3
The plausibility of this connection was taken up by many other historians (including historians of philosophy), in positing, for example, a relation between Ockham’s de-reification, or de-substantialisation, of time and the de-sacralisation, or secularisation, of time that supposedly takes place in the 14th century 4. Yet this theory is based on an implicit assumption: the conviction that the notions of tempus and duratio, as used by Scholastic Masters, coincide with our own contemporary use of the word ,time‘ in the sense of temporality; that is, as the mark of a given ontological condition or as the determination of a given mode of historical existence. It seems to me that this presupposition may now be called in doubt, or at least partially rethought, both from a methodological perspective and in terms of doctrinal content. As for the former aspect, one could pose for the Middle Ages the same question that Paul Veyne raised with regard to a similar sociological axiom: „[…] on voit citer avec e´loge le sociologe`me suivant : ,Le rationalisme mathe´matique du XVIIIe sie`cle, soutenu par le capitalisme mercantile et le de´veloppement du cre´dit, conduit a` concevoir l’espace et le temps comme des milieux homoge`nes et infinis.’ Quelle intrigue saura nous mener, sans accroc, de la lettre de cre´dit au calcul infinite´simal?“ 5
In the absence of a complete explicative series (which is inevitably, pace Foucault, a documentary series too), a nexus of this type (like that between gothic cathedrals and Scholastic summae) is simply the result of speculation based on 3
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ˆ ge: Temps de l’E´glise et temps du marchand, in: Annales E.S.C. 15 J. Le Goff, Au Moyen A (1960), 417-433, reprinted in: id., Pour un autre Moyen Aˆge. Temps, travail et culture en Occident: 18 essais (Bibliothe`que des Histoires), Paris 1977, 46-65, here 64-65. Cf. also Le temps du travail dans la crise du XIVe sie`cle: du temps me´die´val au temps moderne, in: Le ˆ ge 69 (1963), 597-613, reprinted in: id., Pour un autre Moyen A ˆ ge, 91-107. Moyen A Cf. for instance T. Suarez-Nani, Tempo ed essere nell’autunno del medioevo. Il ,De tempore‘ di Nicola di Strasburgo e il dibattito sulla natura ed il senso del tempo agli inizi del XIV secolo. Con una prefazione di R. Imbach (Bochumer Studien zur Philosophie 13), Amsterdam 1989, esp. 214-230 (Tempo e societa`). P. Veyne, Comment on e´crit l’histoire (Points histoire), Paris 1996 (1e`re e´dition 1971), 152.
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free and arbitrary combinations. As far as doctrinal content is concerned, I hope that I have been able to demonstrate on other occasions that the Scholastic concept of tempus does not only have little or nothing to do with the idea of temporality in general, but is even inappropriate or inadequate when used to express the normal duration of things 6. In other words, the nexus between time and duration in general is actually less obvious and direct for Scholastic Masters than might at first appear. This non-coincidence - between tempus and duratio is linked to the particular medieval reception of the Aristotelian definition of time, which enjoyed a virtually undisputed ascendancy after the translation and diffusion of the ,Physics‘. For the Scholastic Masters time was „the number of motion with respect to [a] before and [an] after“ („numerus motus secundum prius et posterius“) 7. The sense of this formulation was often understood in different ways; nevertheless, beyond the different individual interpretations, it is perhaps worth recalling briefly the main characteristics ascribed to time, which were more or less commonly shared between the second half of the 13th and the beginning of the 14th century. a) Time is a passio or a property of motion. This relation must be taken in the strictest sense: time is inconceivable without motion; and, above all, it is not the measure of beings in motion (except by extension), but is rather the measure of motion itself. In the same way, time is the measure of rest, or stasis, only per 6
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Cf. P. Porro, Forme e modelli di durata nel pensiero medievale. L’aevum, il tempo discreto, la categoria ,quando‘ (Ancient and Medieval Philosophy I/16), Leuven 1996; id., Un tempo per le cose. Il problema della durata dell’essere sostanziale nella recezione scolastica di Aristotele, in: L. Ruggiu (ed.), Il tempo in questione. Paradigmi della temporalita` nel pensiero occidentale, Milano 1997, 142-154; id., Il vocabolario filosofico medievale del tempo e della durata, in: R. Capasso/P. Piccari (eds.), Il tempo nel Medioevo. Rappresentazioni storiche e concezioni filosofiche. Atti del Convegno Internazionale di Roma, 26-28 novembre 1998, Roma 2000, 63-102; id., Tempo e aevum in Enrico di Gand e Giovanni Duns Scoto, in: G. Alliney/L. Cova (eds.), Tempus, aevum, aeternitas. La concettualizzazione del tempo nel pensiero tardomedievale. Atti del Colloquio Internazionale (Trieste, 4-6 marzo 1999), Firenze 2000, 89-129; id., Angelic Measures: aevum and Discrete Time, in: P. Porro (ed.), The Medieval Concept of Time. Studies on the Scholastic Debate and Its Reception in Early Modern Philosophy (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 75), Leiden-Köln 2001, 131-159; id., ,Aevum‘, in C. Gauvˆ ge, Paris 2002, 12-14; id., ,Zeit‘ ard/A. de Libera/M. Zink (eds.), Dictionnaire du Moyen A (III. Mittelalter), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 12 (W-Z), Basel 2004, 1209-1219. Aristoteles, Phys. IV. 11, 219b1-2; Aristoteles Latinus, Physica - Translatio Vetus (Aristoteles Latinus VII/1), ed. F. Bossier/J. Brams, Leiden-New York 1990, IV, 11, 175, 16-17: „hoc enim est tempus: numerus motus secundum prius et posterius“. On the reception of this definition in Arabic and Scholastic Thought cf. A. Mansion, La the´orie aristote´licienne du temps chez les pe´ripate´ticiens me´die´vaux, in: Revue Ne´oscolastique de Philosophie 36 (1934), 275-307; A. Maier, Das Zeitproblem, in: ead., Metaphysische Hintergründe der spätscholastischen Naturphilosophie (Storia e Letteratura 52), Roma 1955, 47-137; U. R. Jeck, Aristoteles contra Augustinum. Zur Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele bei den antiken Aristoteleskommentatoren, im arabischen Aristotelismus und im 13. Jahrhundert (Bochumer Studien zur Philosophie 21), Amsterdam-Philadelphia 1994.
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accidens, since rest may be understood, in the Aristotelian sense, as the privation of motion 8. This means that the state of rest of a thing (res) may be measured by time only through the measuring of a concomitant motion or - as was common in the 14th century - through the mental calculation of an imagined motion. b) Time is number; nevertheless it is not numerus numerans, the mathematical number with which one counts, but numerus numeratus, the number present in all numbered, or counted, realities 9. Indeed, numerus numeratus must be taken as similar to a predicative concept, indicating a group of numbered things; in other words, a quantity. In this sense, time is simply the successive quantity inherent in motion. c) Precisely because time is numerus numeratus and not numerus numerans, it is not a discrete quantity (like mathematical numbers), but a continuous one. What is numbered is, indeed, motion (with which time coincides in its material aspect), and motion is always continuous, since the extension (magnitudo) in which it takes place is, in the Aristotelian sense, continuous. So we have a double derivation: time takes its continuity from motion, which in turn takes its continuity from extension 10. 8
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Cf., for instance, Thomas Aquinas, In octo libros Physicorum Aristotelis expositio IV, lect. 20, ed. P. Maggio`lo, Torino-Roma 1965, 298, n. 608: „Unde manifestum est quod quiescens est in tempore, et mensuratur tempore non inquantum est quiescens sed inquantum est mobile. Et propter hoc […] tempus est mensura motus per se, quietis autem per accidens“; Rogerus Bacon, Quaestiones super libros octo Physicorum IV, ed. F. M. Delorme/R. Steele, Oxford 1935, 283: „[…] dico quod tantum mensurantur [scil. quies et quiescens] per accidens, scilicet in quantum concomitantur motum vel moventia, et ita motus et movens mensurantur tempore per se, quies et quiescens per accidens; set quiescens duplex: aut concomitans mobile, et hoc mensuratur tempore, aut non concomitans, et istud mensuratur eternitate“; cf. also the so-called Anonymous of Zimmermann (A. Zimmermann, Ein Kommentar zur Physik des Aristoteles an der Pariser Artistenfakultät um 1273, Berlin 1968, 85): „[…] quiescens secundum quod quiescens dicitur esse in tempore per accidens, scilicet in quantum mobile. Quiescens enim est, quod non movetur, natum tamen moveri. Sed hoc non sufficit, quia sic motus eius tantum mensuraretur tempore et non quies. Ideo dicendum, quod quies est in tempore per accidens ut per motum, quia est privatio motus. Privatio enim cognoscitur per habitum. Similiter quantitas quietis determinatur et mensuratur tempore, quia privatur motu. Unde tempore mensuratur quantum privatur in quiescente de motu“; Ioannes de Ianduno, Quaestiones super VIII libros Physicorum IV, q. 25, Venetiis 1551, fol. 71v: „[…] quies mensuratur tempore per accidens, inquantum motus aliquis qui est dum quies est mensuratur tempore; et tantam quantitatem intelligimus esse quietis quanta quantitas motus, quo existente est illa quies.“ Aristoteles, Phys. IV. 11, 219b5-9; Aristoteles Latinus, Physica - Translatio Vetus IV, 11, ed. Bossier/Brams (nt. 7), 175, 21-176, 3: „Quoniam autem numerus est dupliciter (et namque quod numeratur et numerabile [et] numerum dicimus et quo numeramus quidem) - tempus autem est quod numeratur et non quo numeramus; est autem alterum quo numeramus et quod numeratur.“ Aristoteles, Phys., IV. 11, 219a10-19; Aristoteles Latinus, Physica - Translatio Vetus IV, 11, ed. Bossier/Brams (nt. 7), 174, 8-11: „Quoniam quod movetur movetur ex quodam in quoddam et cum magnitudo continua est, sequetur magnitudinem motus; propter id enim quod magnitudo continua, et motus erit continuus.“ Cf. also Thomas Aquinas, In Phys. IV, lect. 17, ed. Maggio`lo (nt. 8), 282, n. 576: „Quia ergo motus secundum locum, est secundum magnitudinem ex quodam in quiddam et omnis magnitudo est continua; oportet quod motus consequatur magnitudinem in continuitate, ut, quia magnitudo continua est, et motus continuus sit. Et per consequens etiam tempus continuum est: quia quantus est motus primus, tantum
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d) Since time is continuous, it is not composed of instants 11; that is, it is not the result of the sum of different instants, but is made from the instant, in the same way that the line is not composed of points, but is made from the flow of one point. In other words, each portion of time, no matter how small, though infinitely divisible, can never be broken down into instants. Similarly, given any two instants, it is always possible to find a portion of intermediate time. e) Though every motion has a natural, and hence temporal, succession, there do not exist as many times as there are motions, but a single time for all simultaneous movements and for all those that have the same duration 12. This Aristotelian principle was actually one of the most debated in the Scholastic period, and it was given many different explanations, which it will not be possible to numerate here. Suffice it to recall the most classical solution: the distinction proposed by Averroes between that for which time is passio or accidens (the first motion), and that for which time is only the measure (all other motions) 13. As with (almost all) accidents, even time can derive its unicity from that of the primary subject to which it inheres, and this motion can, in turn, be used as the measure of all other motions. Following Aristotle, this primary subject was for long identified with celestial motion, or more precisely, with the motion of the primum mobile. A choice which, nevertheless, has at least a couple of disadvantages: First, the identification of the primum mobile itself, which was made to coincide with the
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videtur fieri tempus.“ One might object that a before and an after can be in extension only with respect to time, and thus the Aristotelian postulate of the continuity of time relies on a kind of vicious circle. The Scholastic Masters are well aware of this possible objection, but generally reject it; see, for instance, Thomas Aquinas, In Phys. IV, lect. 17, ed. Maggio`lo (nt. 8), 283, n. 580: „Si quis autem obiiciat contra praedictam definitionem, quod prius et posterius tempore determinantur, et sic definitio est circularis, dicendum est quod prius et posterius ponuntur in definitione temporis, secundum quod causantur in motu ex magnitudine, et non secundum quod mensurantur ex tempore“; in fact, „magnitudo est quantitas positionem habens: de ratione autem positionis est prius et posterius: unde ex ipsa positione, locus habet prius et posterius“ (n. 577). For a discussion of this peculiar aspect of Aristotle’s doctrine of time see D. Corish, Aristotle’s Derivation of Temporal Order from that of Movement and Space, in: Phronesis 21 (1976), 241-251; G. E. L. Owen, Aristotle on Time, in: J. Barnes/M. Schofield/R. Sorabji (eds.), Articles on Aristole, vol. 3 (Metaphysics), London 1979, 140-158. Aristoteles, Phys. IV. 10, 218a6-8; Aristoteles Latinus, Physica - Translatio Vetus IV, 10, ed. Bossier/Brams (nt. 7), 170, 21-24: „Ipsum autem nunc non est pars; mensurat enim pars et componi oportet totum ex partibus, tempus autem non videtur componi ex ipsis nunc.“ Aristoteles, Phys. IV. 14, 223b3-4; Aristoteles Latinus, Physica - Translatio Vetus IV, 10, ed. Bossier/Brams, 189, 9-11: „Omne namque tempus unum similiter et simul est; specie autem et hec non simul.“ As Albert the Great summarizes: „Refertur enim tempus ad primum mobile et ad motum eius sicut ad subiectum et numeratum, ad alios autem motus sicut numerus extrinsecus ad numerata solum et in illis non est sicut in subiecto et ideo non multiplicatur multiplicatione eorum“ (Albertus Magnus, In Phys. IV, tract. 3, c. 17, ed. P. Hoßfeld, Münster 1987, 292, 11-16). This solution comes mainly from Averroes: cf. Maier, Das Zeitproblem (nt. 7) esp. 92-137; Jeck, Aristoteles contra Augustinum (nt. 7); Porro, Forme e modelli di durata (nt. 6), esp. 36-46.
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eighth sphere in the common Aristotelian-Ptolemaic synthesis, dominant until the end of the 13th century; and later, with the ninth and even tenth sphere, when these were introduced in order to justify the phenomena of the precession of the equinoxes and trepidation 14. Second, the idea of a close causal connection (at least in the natural order) between celestial motion and all other inferior motions. According to this hypothesis, no sublunar motion would be possible without celestial motion. Already towards the end of the 13th century this model began to be abandoned, for while it seemed adequate to explain the motus ad formam - that is, the processes of generation and corruption - it was scarcely comprehensible in reference to other types of motion, especially local motion, which constituted the proper subject of time. Thus, in the 14th century a more conventional type of orientation was adopted: common extrinsic time was that of the primum mobile, since it was the best known and the most regular; every inferior motion nevertheless possessed its own intrinsic time, which was independent of the former. The unicity of time was thereby reduced to the unicity of extrinsic time. Taken together, these five elements define the more general features of the essential Scholastic conception of time, as elaborated on the basis of Aristotle’s ,Physics‘. Nevertheless, this conception reveals certain anomalies, which it is perhaps worth mentioning here. a) In the first place, the postulate of the continuity of time, which was never questioned, is ill-suited to the theory of the non-eternity of the world. It seems hardly necessary to recall that for Aristotle, if motion is eternal, time is eternal too. And the principle of continuity plays an important, albeit implicit, role here: if indeed motion is always continuous, then it cannot have a beginning. For this reason, according to another Aristotelian principle, almost unanimously accepted by Scholastic Masters, it is impossible to have a mutation which is not preceded by a motion - and this in itself renders the notion of a beginning of time and the world problematic. Yet creation is postulated as a mutatio (or a mutatum esse), not preceded by any movement: indeed, the theory to the contrary was part of the list of articles condemned by Bishop Tempier in Paris in 1277 15. In other words, even though Scholastic theologians openly contest the rational plausibility of the possibility of an eternal creation, they nevertheless speculate along the lines of the Aristotelian definition of time, which originates, and is collocated, within a doctrinal framework based on the theory of the eternity of the world. b) In the second place, not all changes are continuous; indeed, in the strict sense, only local motion is continuous, in that the extension in which it takes place is continuous. The most obvious example of non-continuous motion is to 14 15
Cf. Porro, Forme e modelli di durata (nt. 6), esp. 39-40, nt. 75. Cf., for instance, art. 217 (in the numeration of the ,Chartularium Universitatis Parisiensis‘; 187 in the numeration of Mandonnet and Hissette): „Quod creatio non debet dici mutatio ad esse - Error,
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be found in the processes of generation and corruption, which prescind from any reference to extension, and in which the transition from one form to another comes about instantaneously: there will always be a first instant in which wine is no longer wine, but vinegar, and so on 16. So within what limit can these motions, which constitute a large part of perceptible changes, be said to be measured by time? There is, however, a whole other category of motions which do not occur in relation to extension, and these are interior, or mental, movements. Here the authority of Augustine - who is almost always sacrificed to the advantage of Aristotle regarding the general definition of time - remains untarnished. Unlike God, all spiritual creatures possess a form of temporal mutability. The soul, for example, changes over time, since it remembers what it had forgotten, wants that which it did not want, learns that which it did not know 17. Such events are undoubtedly successive, though not necessarily continuous, since they are independent of both space and celestial motion. Certainly, one could say that while the soul is conjoined with the body it is subject to the same conditions: like the body, the soul is under the influence of celestial motion and therefore can be said to be measured by its time. But then what can be said of angels and their operations? Angels think, have acts of volition, even move from one place to another, yet without being bound by extension or subordinate to celestial motion. Indeed, an angel can reach different points of physical space in different instants - as some, including Aquinas, concede - without necessarily crossing the intermediate points. It is clear that a motion of this kind is anything but continuous. There are further examples - perhaps not as suggestive as the one regarding angels, though very significant epistemologically - in which it seems impossible to apply the normal continuous time of the Aristotelian tradition. The most important of these are certainly the propagation of light and the motion in a void. In both cases there is (at least in appearance) an instantaneous change, which as such defies the norm of the infinite divisibility of the continuum. c) In the third and final place, not all beings are de facto successive or subject to motion. The heavenly bodies, for example, move locally, and in this sense they are undoubtedly measured by continuous time, but their substantial essence is incorruptible and invariable. The same is true for angels, indeed even more
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si intelligatur de omni modo mutationis.“ Cf. R. Hissette, Enqueˆte sur les 219 articles condamne´s a` Paris le 7 mars 1277 (Philosophes Me´die´vaux 22), Louvain-Paris 1977, esp. 277-280. On the medieval debates on the instant of change see, for instance, N. Kretzmann, Incipit/ Desinit, in: P. K. Machamer/R. G. Turnbull (eds.), Motion and Time, Space and Matter, Columbus 1976, 101-136; A. de Libera, La proble´matique de l’ « instant du changement » au XIIIe sie`cle: contribution a` l’histoire des « sophismata physicalia », in: S. Caroti (ed.), Studies in Medieval Natural Philosophy (Biblioteca di Nuncius. Studi e Testi 1), Firenze 1989, 43-93. Cf., for instance, Augustinus, De Genesi ad litteram, VIII, 20 [39], ed. J. Zycha (CSEL 28/1), 258, 25-259, 25 (PL 34, 388).
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so. Yet where there is no succession, there is no time. Moreover, one cannot even maintain that such realities are measured by eternity, since for the Scholastic Masters eternity is an exclusive attribute of God, which coincides with His very being and does not denote duration in the strict sense. Eternity is not infinite duration, but the single, indivisible, absolutely unextended instant, in which self-subsisting being is enclosed. In order to compensate for these lacunae, the Scholastic tradition elaborated at least two other forms of duration that were completely foreign to the Aristotelian lexicon (and to the whole of ancient philosophy in general): aevum and discrete, or angelic, time 18. The two concepts must not be confused: the former represents the measure of the substantial being of angels and heavenly bodies; the latter, the measure of angelic operations. Aevum thus indicates the duration of that being which, though invariable, indivisible and permanent, is not self-subsisting, since it is received from or participates in something other than itself. For this reason, such a being is actually incorruptible, but potentially defectible. Indeed, angels could hypothetically fall back into nothingness by divine decree. Discrete time, on the other hand, is time that measures the succession of acts of intellection and volition of angels (and of separate souls): each of these acts in itself has an instantaneous and indivisible nature, while their succession (precisely because it is a succession) is temporal. Unlike common (continuous) time, discrete time is unfettered by cosmological parameters and freed from any reference to continuous extension; above all, it is really composed of instants: not an infinitely divisible quantity, therefore, but a successive whole that can be broken down into its constitutive elements, that is, into instants. Perhaps the most curious aspect in this regard is that each one of these instants has its own permanence and its own duration, since an angel can remain in a single operation completely at will. So, it was commonly held that a single instant of discrete time could co-exist with a longer span of our time 19. And if the syntagma ,permanent instant‘ might seem like a mere oxymoron (since in-stans literally means non-stans), there is actually more: what defined the instant for Scholastic Masters was not its infinitesimal nature, but its indivisibility. There is, however, another fundamental aspect of the Aristotelian doctrine of time that created not a few problems for medieval interpreters, and it is the one which interests us most here: the Aristotelian-Scholastic concept of time does not cover the duration of the being of generable and corruptible substances the being, in short, of common sublunar things. Again, as the number of mo18
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Cf. Porro, Forme e modelli di durata (nt. 6); id., Angelic Measures (nt. 6); id., Il vocabolario filosofico medievale (nt. 6). Cf. P. Porro, Ancora sulle polemiche tra Egidio Romano e Enrico di Gand: due questioni sul tempo angelico, in: Medioevo 14 (1988), 107-148; id. Forme e modelli di durata (nt. 6), esp. 314-347.
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tion, time is not the measure of things as such, but of things as mobile, so that even in rest they can be measured only in that they are potentially mobile 20. Taking the Aristotelian definition in its strictest sense, this means that not only angels, heavenly bodies and mental operations, but even the things of this world are not in time. So then, what expresses their duration? And what is their appropriate measure? There are at least three possible replies to these questions in Scholastic production. a) Up to the second half of the 13th century the dominant model - as expounded, for instance, in Aquinas - was that according to which the nature of physical sublunar entities, even when not actually in motion, is nevertheless represented by motility. In this sense, one can say that the being of generable and corruptible substances is measured by time, not secundum se, but secundum accidens; that is, in an indirect and secondary way, since the fact of potentially being in motion is a property of such substances. Naturally, the idea that all sublunar substances are subject to the influence of celestial motion and that all that moves beneath the vault of heaven is measured by the time of the primum mobile has an important role here. With the progressive weakening of the causal chain between the primum mobile and inferior motions, as already mentioned, this kind of approach loses one of its most important theoretical presuppositions. Its definitive crisis, however, is signalled by the fact that, even in Aristotelian terms, it seems quite strange that in the same substance the duration of a secondary act (movement, or in general, operations) can be taken as the accidental measure of the duration of the first act (substantial being). And again, can the whole duration of existence be considered as merely a case of the privation of movement? b) second model, elaborated between the end of the 13th and the first decades of the 14th century, is based instead on an extension of the concept of aevum to the case of generable and corruptible substances; that is, to the common things of this world. While aevum is indeed the measure of permanent being, the substantial being of common sublunar realities is also of this type: though it is subject to adversity and the alteration of its forms, while it is under a single given form, it is stable and invariable. The first to propose such a solution seems to have been Henry of Ghent. Disputing explicitly with Bonaventure in q. 11 of Quodlibet 5, Henry affirms that the being of sublunar substances is already „in facto esse“, „nullo autem modo in continuo fieri “ 21; in other words, it is already a complete and stable being, not characterised by a continuous flux. In a strict sense, only time and motion are characterised by the succession of parts. All other accidents - and substances 20 21
See above, nt. 8. Henricus de Gandavo, Quodl. V, q. 11, Parisiis 1518, I, fol. 169rK-L.
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even more so - simultaneously possess all the essential parts, and so are not subject to flux or succession. This theory implies the recognition of a fundamental ontological stability in all the entities of this world. Yet could one not object that all created beings, since they come from nothing, tend continuously towards nothing; in other words, that they are contingent and precarious? For Henry, these two elements - the idea of contingency and the idea of precariousness as flux and constant becoming - must in reality be carefully separated. All creatures are contingent in that if God’s conserving act were to cease, they would fall back into nothingness, though this does not mean that they do not possess their own stable being: „sic non est verum quod creatura continue tendit in non esse, immo quia esse suum consistit in simplici, simul totum et in instanti deserente suo conservatore cadit in non esse sicut et simul procedit in esse“ 22. For this reason in q. 13 of the same Quodlibet V Henry explicitly denies that time can express the duration of the being of creaturely things: „Sciendum igitur quod tempore proprie per se et primo non mensuratur nisi motus habens partes defluentes et non mobile, nisi inquantum est in motu“ 23. Though one cannot appeal to time, one can have recourse to aevum, which expresses the stable and indivisible duration of the being of those substances that are only potentially corruptible. The case of sublunar substances, the things of this earth, is thus compared to that of angels and heavenly bodies: „Substantia autem earum quae non recipit impressiones aliquas quibus habeat necessitatem corrumpendi, non nisi aevo mensuratur, ita quod si non dicamus proprie tempore mensurari nisi illa quae succedunt secundum partes penes partes temporis et motus quae solummodo per se dicuntur tempore mensurari, non solum substantiae spirituales et caelestia corpora, sed etiam generabilia et corruptibilia inquantum esse suum habent simul aevo debent dici mensurari, licet alia consideratione tempore mensurari dicuntur.“ 24
The model sketched by Henry is anything but an isolated or whimsical exception; indeed, its success is linked especially to Duns Scotus and his school 25, though still in the 14th century it is attested outside the Franciscan ambient too: for example, in the Dominican John of Naples and the Carmelite John Baconthorpe 26. 22 23 24 25
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Henricus de Gandavo, Quodl. V, q. 11 (nt. 21), fol. 170vS. Henricus de Gandavo, Quodl. V, q. 13 (nt. 21), fol. 173vR. Henricus de Gandavo, Quodl. V, q. 13 (nt. 21), fol. 174rS. Ioannes Duns Scotus, In II Sent. (Ordinatio), dist. 2, p. 1, q. 4, ed. Vaticana, 235, n. 180: „Si tamen concedatur […] omnem talem formam, dum manet, habere exsistentiam variabilem, et exsistentiam non tantum variatam sed etiam variabilem mensurari tempore, — tunc bene est ponendum aliqua permanentia non mensurari aevo, illa scilicet secundum quorum formas potest esse motus; bene tamen concedendum est substantias generabiles et corruptibiles per se mensurari aevo, licet per accidens — hoc est secundum qualitatem naturalem consequentem eas — mensurentur tempore.“ Cf. also Lectura (In II Sent., dist. 2, p. 1, q. 4, ed. Vaticana, 150, n. 155): „Dico igitur quod soli fluxui repugnat mensurari aevo, quia soli fluxui repugnat partes habere simul et simul exsistere; sed quodlibet aliud, quod potest esse non variatum in sua exsistentia, sed habet exsistentiam non variabilem dum est, sive diu duret sive non, mensuratur aevo.“ Cf. Ioannes de Neapoli, Quaestiones variae Parisiis disputatae, q. 32, Neapoli 1618, esp. 279; Ioannes Baconthorpe, In II Sent., dist. 2, q. 2, a. 1, p. 4, Cremonae 1618, esp. 470-471.
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c) The third model adduces, instead, the notion of discrete time, or better, that of the instant of discrete time. Supporters of this approach do not contest the fact that the being of generable and corruptible substances is permanent in its own way (and, as such, cannot be measured by continuous time), although they deny that aevum can function as its appropriate measure. The being of aeveternal realities is not naturally destined to corruption (so that an angel need not necessarily cease to be in order to make room for another); the being of all sublunar substances, on the other hand, is stable, permanent and indivisible just as long as it is under a given substantial form, but it is destined to corruption due to the natural alteration of substantial forms on this earth. A tree has the same stable and permanent being as long as it has the substantial form of a tree, but sooner or later it will begin to decay, something which does not happen, in strictly natural terms, to angels and heavenly bodies. And to use a slightly more gruesome example, I possess a stable and permanent being as long as I am alive, but one day I shall die and turn to dust and ashes; on the contrary, this does not happen (at least for medieval Masters) either to the sun or to angels. For this reason, the instant of discrete time seemed better suited than aevum to indicate the limited stability of generable and corruptible things. Just as angelic operations are in themselves indivisible and permanent, but are nevertheless destined to follow one another, the substantial being of earthly things is stable and permanent while it has a given form, but is destined to decay because of the natural and ineluctible succession of forms. This type of solution was adopted especially by Dominican Masters, such as Hervaeus of Ne´dellec (Hervaeus Natalis) and Durandus of St PourcX ain in the first decades of the 14th century (which demonstrates, by the way, that Aquinas’ position was considered unsatisfactory even within his own Order) 27. It enjoyed a long life, however, and even reappears at the dawn of the modern age in the ,Disputationes Metaphysicae‘ by Francisco Sua´rez 28. Thus, while the first of these options (which we still find in Aquinas) is closer to the system of the ,Physics‘, the other two appeal to notions which do not originate in Aristotle, but come instead from the theological lexicon. The most interesting aspect is the fact that such notions deriving from theology (or better, angelology), elaborated in order to fill the Aristotelian silence surrounding the duration of spiritual creatures, were then applied in order to remedy another, even more embarrassing, absence: the lack of an appropriate measure and duration for the being of normal sublunar things.
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Hervaeus Natalis, In II Sent., dist. 2, q. 1, art. 2, Parisiis 1647, esp. 202C-203A; Quodl. II, q. 12, Venetiis 1513, esp. 57va-58va; Durandus de Sancto Porciano, In II Sent., dist. 2, q. 6, Venetiis 1571, esp. 134vb-135rb. Durandus and Hervaeus disagree, however, on the possibility of finding one extrinsic discrete time that could be assumed as the common measure for all other times of the same type (a possibility accepted by Hervaeus, but rejected by Durandus). F. Sua´rez, Disputationes Metaphysicae, L, sect. 7, ed. S. Ra´bade Romeo/S. Caballero Sa´nchez/ A. Puigcerver Zano´n, VII, Madrid 1966, esp. 209-212.
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We are now in a position to verify that the development of this debate reveals elements not easily reconcilable with the theory of a close correspondence between transformations of the concept of time on the level of material culture and those within a philosophical-scientific context: a) In the first place, no matter how surprising it may seem, for most Scholastic Masters, time does not express, strictly speaking, the duration of being of sublunar entities. b) In the second place - and in this case, too, contrary to a common notion which is still widespread - the way in which Scholastic Masters between the 13th and 14th century understand the ontology of duration has little to do with the contingency or precariousness of things of this world. From this perspective, the commonplace that people in the Middle Ages were ,obsessed‘ by the temporal nature of things should perhaps be rethought. We need to recognise that in the Scholastic lexicon the term tempus has a very limited meaning, and is not imbued with the metaphysical significance all too often attributed to it. Time, at least in the late Middle Ages, does not coincide with what is now usually indicated by the word ,temporality‘. Yet the ,temporality‘ of things (when it does not simply mean the non-eternity of the world) is not a fact that was taken for granted in the medieval period. Being-in-time was not a synonym of contingency, since at least from the end of the 13th century, time was no longer considered as the proper measure of the being of things. And so, as mentioned above, many Scholastic Masters substituted the Aristotelian concept of time with concepts borrowed from angelology that expressed, instead, the permanence and stability of substantial being. c) This recourse to forms of duration borrowed from the theological lexicon shows that, at least in philosophical discussions, the 14th century witnessed not so much a secularisation as a ,theologisation‘ of the concepts of time and duration 29. Nor was the hierarchical opposition between the duration of incorrupti29
One could object that other authoritative Scholastic Masters of the 14th century, such as William of Ockham, deny any reality to aevum, in contrast to Henry of Ghent and John Duns Scotus. Thus, one could maintain that Ockham’s de-reification of time fits perfectly with the general process of secularization of time as described by Le Goff. This is partially true: Scholastic thought can never be reduced to a single trend. Nevertheless, it is perhaps important to note that Ockham’s de-substantialisation of time is none other than a new form of the ontological reduction of time to motion, just as in the Averroistic interpretation of Aristotle. Cf., for instance, Guilelmus de Ockham, Quaestiones in libros Physicorum Aristotelis, q. 47, ed. S. Brown (Opera Philosophica 6), St. Bonaventure-New York 1984, 524, 10-16: „,tempus‘ solum habet definitionem exprimentem quid nominis qualis potest esse nominum, verborum, adverbiorum etc. Et causa est quia ,tempus‘ non significat aliquam rem unam totaliter distinctam a rebus permanentibus cuius esse possit exprimi per definitionem. Sed hoc nomen ,tempus‘ significat primum motum caeli continuum et uniformem, et consignificat animam et actum animae per quem numerat prius et posterius in motu“; q. 39, ed. Brown, 500, 13-17: „Et ideo ista propositio ,tempus est‘ non est absolute concedenda sicut ista ,homo est‘, ,albedo est‘, sed debet resolvi in aliam propositionem, quia per illam propositionem ,tempus est‘ nihil aliud est intelligendum nisi quod aliquid movetur, unde potest anima cognoscere quantum aliquod aliud mobile movetur.“ In this sense, Anneliese Maier was probably right when she commented: „Die Wandlung, die
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ble and sublunar entities an absolute one, as it is often supposed. The dividing line is actually much more fluid than it might at first appear, and the clearest proof of this is the fact that measures originally elaborated to express the incorruptible or indivisible duration of separate substances then were applied, without any particular modification, to generable and corruptible substances too. d) Finally, the debate itself has its own ,longue dure´e‘, which coincides on the whole not so much with general, or material, history as with the intrinsic vicissitudes of the assimilation/rejection of Aristotelianism between the late Middle Ages and the modern period. Not by chance, such discussions continued up to Sua´rez 30, Molina 31 and even Descartes 32, leading some historians to glimpse in the Scholastic concept of aevum the conceptual form closest to Newton’s notion of absolute time 33. In conclusion, the general tendency in medieval philosophical and theological discussions on time does not, therefore, seem to begin with the recognition of a presumed general temporality for things (taken as precariousness in the time of the Church or as a variable in economic transactions in the time of the merchant), but, on the contrary, with the quest for a notion that can express the duration of things irrespective of motion. For 13th and 14th century Masters,
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in der Auffassung von Bewegung und Zeit mit Wilhelm Ockham kam, hat hierin keine Änderung gebracht und hat überhaupt auf unser Problem wenig Einfluss gehabt. Ockham hält grundsätzlich an der averroistischen Formel fest und modifiziert sie nur, insofern er die einzelnen tempora intrinseca mit den entsprechenden Bewegungen (und letzten Endes mit den entsprechenden mobilia) identifiziert“ (Das Zeitproblem [nt. 7], 129). Insofar as the reduction of time to motion leads to the suppression of time itself, the doctrine of time in Ockham and his followers was useless in the field of physics and the natural sciences („Denn ohne einen Zeitbegriff kann man keine Physik treiben“, 133). Interestingly enough, Maier too (like Ariotti, see below, nt. 33) seems to find the roots of the modern theory of an absolute time in the field of theological discussions. Cf. above, nt. 28. Cf., for instance, P. Porro, Esistenza e durata. Le tesi di Molina sulla distinzione di essenza e esistenza e il dibattito scolastico sulla categoria ,quando‘, in: A. Lamacchia (ed.), La filosofia nel Siglo de Oro. Studi sul tardo Rinascimento spagnolo, Bari 1995, 349-413. For example, in his correspondence with Arnauld; in a letter (n. 657) of 4 June, 1648, Descartes explicitly rejects the late Scholastic distinction between successive and permanent duration: „Quae proponuntur de duratione et tempore, nituntur opinione scholarum, a qua valde dissentio: quod scilicet duratio motus sit alterius naturae, quam duratio rerum non motarum […].“ And in a later letter (n. 665, 29 July, 1648), he seems to return to the Averroistic principle according to which we can perceive the successive duration of permanent things on the basis of the mutability of our own soul: „Non aliter intelligo durationem successivam rerum quae moventur, vel etiam ipsius motus, quam rerum non motarum; prius enim et posterius durationis cujuscunque mihi innotescit per prius et posterius durationis successivae, quam in cogitatione mea, cui res aliae coexistunt, deprehendo.“ I quote from the new edition: R. Descartes, Tutte le lettere 1619-1650. Testo francese, latino, olandese, ed. G. Belgioioso, Milano 2005, here 2257 (= AT V, 193) and 2580 (= AT V, 223). P. Ariotti, Celestial Reductionism of Time. On the Scholastic Conception of Time from Albert the Great and Thomas Aquinas to the End of the 16th Century, in: Studi Internazionali di Filosofia 4 (1972), 91-120, esp. 113.
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in the final analysis, the real problem is neither the Augustinian one of redeeming things from time, nor that of liberating time itself from the social control of the Church, but the much more basic one of finding a time and a duration for common, everyday things.
,Incipit ‘/,desinit ‘ und die Semantik der Dauer in der mittelalterlichen Logik Christoph Kann (Düsseldorf)
I. Einleitung Als Dauer bezeichnen wir das Fortbestehen der Dinge in der Zeit. Descartes stellt in seinen ,Meditationes‘ III, 45, fest, an den körperlichen Dingen in klarer und deutlicher Weise außer den geometrischen Eigenschaften auch Substanz, Zahl und Dauer (duratio) erkennen zu können. ,Dauer‘ oder ,dauern‘ meint außerdem die zeitliche Erstreckung eines Vorgangs oder Zustands. Insofern ist ,Dauer‘ ein Grundbegriff geschichtlichen Verstehens, aber auch ein Grundbegriff der Kennzeichnung von Vorgängen und Zuständen im Binnenbereich unserer geschichtlichen Gegenwart. Wie können wir die Dauer oder das Dauern von Dingen und Vorgängen sowie Zuständen näher bestimmen? Unter der Dauer, die wir im Sinne Descartes’ den körperlichen Dingen zuschreiben (obwohl eine Redeweise wie ,das Ding x dauert‘ gewiß unüblich ist), verstehen wir ein zeitliches Fortbestehen, für das wir prinzipiell erste und letzte Zeitpunkte angeben können. Unter der Dauer eines Vorgangs oder Zustands (eine Redeweise wie ,der Vorgang oder der Zustand x dauert‘ ist allgemein üblich) verstehen wir, daß er ein bestimmtes Zeitintervall ausfüllt, für welches wir ebenfalls prinzipiell einen ersten und einen letzten Zeitpunkt angeben können. In diesem Sinne dauert ein Vorgang oder ein Zustand, nachdem er angefangen hat und bis er aufhört, und Entsprechendes gilt für die Dauer der Dinge in der Zeit. Dies läßt sich veranschaulichen, indem wir auf eine Linie als geometrisches Zeitmodell zurückgreifen und dort Anfangs- sowie Endpunkte von Vorgängen oder Zuständen markieren. Konnotiert also unsere Rede von Dauer ein Anfangen und Aufhören? Tatsächlich scheint eine Erklärung von ,Dauer‘ oder ,dauern‘ kaum ohne die Verben ,anfangen‘ und ,aufhören‘ auszukommen. Zumindest wird man dann, wenn es um die nähere Bestimmung respektive die zeitliche Eingrenzung der Dauer eines Gegenstands, Vorgangs oder Zustands geht, auf jene Verben zurückgreifen. Welche Rolle spielt umgekehrt die Dauer oder das Dauern für das Anfangen und Aufhören? ,Anfangen‘ und ,aufhören‘, ,incipere‘ und ,desinere‘, bilden in der Philosophie des Mittelalters, speziell in der Logik, den Gegenstand ausführlicher Untersuchungen, unter anderem im Kontext der sogenannten synkategorematischen oder mitbezeichnenden Sprachzeichen (syncategoremata). Das Verb ,dauern‘ respektive ein entsprechendes lateinisches Verb
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ist dagegen kein eigenständiger Untersuchungsgegenstand der mittelalterlichen Logik, soweit sie mir bekannt ist. Jedoch begegnet uns in logischen Untersuchungen zu den Synkategoremata ,incipit ‘ und ,desinit ‘ an zentraler Stelle der auch aus naturphilosophischen sowie naturwissenschaftlichen Untersuchungen des Mittelalters geläufige Begriff ,permanentia‘, Beständiges, Verbleibendes, und sein Gegenbegriff ,successiva‘, Abfolgendes, Fortschreitendes. Permanentia und successiva bilden eine vollständig disjunkte Einteilung alles Seienden. Die Verbindung mit permanentia und successiva beeinflusst aus Sicht der logischen Analyse die Mitbezeichnung oder Konsignifikation der synkategorematischen Verben ,incipit ‘ und ,desinit ‘, denen gelegentlich auch unabhängig von jener Verbindung die Mitbezeichnung einer Dauer zugeschrieben wird. In welchen Hinsichten und in welchen Grenzen - so lautet daher hier meine Leitfrage - leisten die mittelalterlichen Analysen von ,incipit ‘/,desinit ‘ einen Beitrag zu dem, was als Semantik der Dauer zu bezeichnen wäre? II. ,Incipit ‘/,desinit ‘ im Kontext der Synkateg oremata Um den systematischen Ort der logischen Analyse von ,incipit ‘/,desinit ‘ zu klären, wenden wir uns zunächst der Frage zu, was Synkategoremata sind. Der Terminus ,syncategorema‘, der wohl erstmals an einer oft zitierten Stelle bei dem spätantiken Grammatiker Priscian nachzuweisen und durch ihn in die lateinische Terminologie eingeführt worden ist 1, steht im Mittelalter einerseits für diejenige Wortklasse, der ,incipit ‘ und ,desinit ‘ zugerechnet werden, und anderseits für das literarische Genus, deren Gegenstand diese Wortklasse bildet, nämlich die Synkategoremata-Traktate besonders des 13. Jahrhunderts. Unter einem Synkategorema versteht man einen sprachlichen Ausdruck, der, wie ,omnis‘, ,nisi ‘, ,vel ‘ etc., erst in Verbindung mit kategorematischen Wörtern (categoremata), das heißt im allgemeinen mindestens mit einem Nomen und einem Verb, eine vollständige Bezeichnungsfunktion ausübt, für sich allein aber nichts oder nichts Bestimmtes bezeichnet. Die aus Nomen und Verb als ihren einzigen wesentlichen Konstituenten bestehende wahrheitsfähige Aussage bildet bekanntlich bereits das Thema von Aristoteles’ ,De interpretatione‘ 1-5. Neben ihrer Einsetzbarkeit als Außenglieder einer solchen Aussage hebt Aristoteles als weitere Begründung für die besondere Stellung von Nomen und Verb hervor, daß sie für sich allein ausgesagt etwas bezeichnen 2. Diese semantische Begründung für die Sonderstellung von Nomen und Verb ergänzt Aristoteles an gleicher Stelle durch das als epistemologisch zu kennzeichnende Charakteristikum, wonach jene als einzige 1
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Priscianus, Institutiones grammaticae II, 15, in: Grammatici Latini, vol. 2, ed. H. Keil, Leipzig 1855, 54, 5-7. Cf. N. Kretzmann, Syncategoremata, exponibilia, sophismata, in: N. Kretzmann/ A. Kenny/J. Pinborg (eds.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, Cambridge 1982, 211-245, hier 211, nt. 3. Aristoteles, De interpretatione 3, 16b19-21.
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Wortarten das Denken des Sprechers ebenso wie des Hörers zum Stehen bringen, das heißt zur Ankunft bei dem Verständnis einer selbständigen semantischen Einheit. Ein solches für Nomen und Verb charakteristisches Zum-StehenBringen oder Ankommen-Lassen ist bei einem synkategorematischen Ausdruck nicht gegeben 3. Ein einfaches Beispiel ist die Aussage ,omnis homo est animal ‘, in der die Kategoremata ,homo‘ und ,animal ‘ selbständig etwas bezeichnen, die Synkategoremata ,omnis‘ und ,est ‘ aber nur durch Einbettung in den Satzzusammenhang eine Signifikation, genauer: eine Konsignifikation, erhalten. Die mittelalterliche Logik geht bei ihrer Behandlung der Synkategoremata von den genannten antiken Vorgaben aus: (1) der wortklassifikatorischen Abgrenzung von den über die Subjekt- oder Prädikatfunktion in der Aussage charakterisierten Nomen und Verben, (2) der semantischen Bestimmung über das Fehlen einer eigenständigen Bezeichnungsfunktion, die die Synkategoremata als semantisch defizitär ausweist, und (3) der Charakterisierung der den Synkategoremata eigenen unselbständigen Bezeichnungsfunktion als Konsignifikation (consignificatio). Der Begriff der Konsignifikation spielt in unterschiedlichsten Definitionen der Synkategoremata eine Rolle, ohne aber eine eindeutige Bestimmung derselben oder ihre präzise Abgrenzung gegenüber den Kategoremata leisten zu können. So wird den Synkategoremata als nur mitbezeichnenden Sprachzeichen gelegentlich eine unbestimmte oder infinite Signifikation, eine zeitweilige Signifikation, eine Signifikation lediglich im Bereich der Mentalsprache, eine nicht aktuelle, aber doch virtuelle Signifikation etc. zugeschrieben 4. Beachtenswert ist hier die Mehrdeutigkeit des Begriffs ,consignificatio‘, mit dem beispielsweise Wilhelm von Sherwood nicht nur die mitbezeichnenden Synkategoremata charakterisiert, sondern auch zwei Eigenschaften der selbständig bezeichnenden Verben: einerseits ihre kopulative Funktion, das heißt die Mitbezeichnung der Synthesis von Subjekt und Prädikat, andererseits ihre Mitbezeichnung der Zeit 5. Die Mehrdeutigkeit von ,consignificatio‘ war den mittelalterlichen Autoren bewußt und wird unter anderem bei Wilhelm von Conches, Robert Bacon und Nicolaus von Paris mit der Zielsetzung erörtert, eine für die Synkategoremata spezifische Weise der Konsignifikation zu ermitteln 6. 3
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Cf. Ch. Kann, Synkategoremata bei William of Sherwood, in: M. C. Pacheco/J. F. Meirinhos (eds.), Intellect et imagination dans la Philosophie Me´die´vale. Actes du XI. Congre`s International de Philosophie Me´die´vale de la S.I.E.P.M., Porto du 26 au 31 aouˆt 2002, vol. 4 (Mediaevalia. Textos e estudos 23), Porto 2004, 41-52, hier 50 sq. Cf. P. V. Spade, The semantics of terms, in: N. Kretzmann/A. Kenny/J. Pinborg (eds.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, Cambridge 1982, 188-196, hier 190 sq. Cf. Wilhelm von Sherwood, Introductiones in logicam, edd. H. Brands/Ch. Kann, Hamburg 1995, 12 sq., 162 sqq., 172 sqq.; diese Mehrdeutigkeit von ,consignificatio‘ ist allerdings nicht erst im 13. Jahrhundert anzutreffen, sondern kommt spätestens seit dem 12. Jahrhundert vor. Bereits der griechische Vorläuferbegriff ,prosseˆmeinein‘ weist bei Aristoteles, De interpretatione 3, 16b6 und 16b24; 10, 20a13, ein entsprechend breites Bedeutungsspektrum auf. Cf. S. Meier-Oeser, Art. ,Synkategorem; synkategorematisch; synsemantisch‘, in: J. Ritter/ K. Gründer (eds.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 10, Basel 1998, 787-799, hier 788 sq.
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In der mittelalterlichen Logik treten die Synkategoremata ab dem 12. Jahrhundert verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Zur Zeit des Übergangs vom 12. zum 13. Jahrhundert werden sie in eigenen Traktaten behandelt, zum Beispiel in den ,Sincategoreumata Monacensia‘ oder in den ,Syncategoremata‘ des Robert Bacon 7. Die wohl bedeutendsten Beiträge des Genres, die Traktate des Petrus Hispanus, des Wilhelm von Sherwood, des Nicolaus von Paris und des Heinrich von Gent, stammen aus dem 13. Jahrhundert. Seit dem 14. Jahrhundert verlagert sich die Behandlung der Synkategoremata von den eigenständigen Abhandlungen in die umfassenden Logikkompendien, in die Sophismata-Literatur und gelegentlich in die Traktate ,De confusionibus‘, im späteren 15. und frühen 16. Jahrhundert auch in die Exponibilia-Traktate 8. Zugleich ändert sich allmählich die Untersuchungsperspektive. Schon im 12. Jahrhundert geht es im Unterschied zu der antiken Grammatiktradition weniger um eine Theorie der Redeteile als vielmehr um die Klärung der Bezeichnungsfunktion sprachlicher Ausdrücke in aus logischer Sicht analysebedürftigen Aussagen, wobei man sich unter anderem in der beschriebenen Weise um eine Klärung des Begriffs der Mitbezeichnung bemüht. In der Hochscholastik ist die Beschäftigung mit Synkategoremata nicht mehr wortklassifikatorisch oder grammatisch motiviert, sondern besonders dadurch, daß diese Wörter Fehlschlußpotential in sich bergen und daher Aussagen analysebedürftig erscheinen lassen. In unserem Beispiel ,omnis homo est animal ‘ liegt auf den ersten Blick kein Analysebedarf vor. Im Fall der Aussage ,omne animal fuit in Archa Noe‘ ist bereits zu klären, daß ,omne‘ hier auf alle einzelnen Arten und nicht auf alle einzelnen Exemplare der Arten verweist. Wohl kurz vor der Mitte des 12. Jahrhunderts wurden die ,Sophistici Elenchi‘ des Aristoteles neu entdeckt und rezipiert. Man behandelt dann, etwa in der ,Ars Emmerana‘, Ausdrücke als termini sophistici, die zum üblichen Bestand der Synkategoremata gehören: ,solum‘, ,tantum‘, ,praeter‘ und ,nisi ‘. Durch diese kann, wie wir in der ,Ars Emmerana‘ lesen, eine Konversion verhindert werden, denn die Aussage „aliquid preter Socratem est homo“ kann nicht korrekt konvertiert werden in „homo est aliquid preter Socratem“ 9. Schon hier deutet sich die weitere Entwicklungsrichtung an: Spätestens im 14. Jahrhundert geht es weniger um die traditionelle Frage, ob und in welcher Weise Synkategoremata durch die mit ihnen verbundenen Kategoremata eine Bezeichnungsfunktion erlangen. Vor allem im Kontext der Sophismata-Literatur tritt die Frage in den Vordergrund, wie die Synkategoremata ihrerseits die kontextuelle Bedeutung der mit ihnen verbundenen Termini oder sogar den ganzen Satzzusammenhang beeinflussen. Nunmehr geht es also weni7
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Diese Traktate sind teilediert respektive ediert in: H. A. G. Braakhuis, De 13de eeuwse Tractaten over syncategorematische Termen, voll. 1-2, Meppel 1979. Zur historischen Entwicklung der Lehre von den Synkategoremata cf. Kretzmann, Syncategoremata (nt. 1), 215; R. Kirchhoff, Die Syncategoremata des Wilhelm von Sherwood. Kommentar und historische Einordnung, Leiden-New York-Köln 2008 (im Druck); Meier-Oeser, Synkategorem (nt. 6). Cf. L. M. de Rijk, Logica Modernorum, vol. 2, 1, Assen 1967, 157, 30-158, 2.
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ger um ihre Signifikation, um ihre Semantik - oder besser: ihr semantisches Defizit -, als um ihr officium, um ihre logisch-syntaktische Funktion, und damit um die Synkategoremata als dictiones officiales. Das erwähnte Fehlschlußpotential der Synkategoremata spielt allerdings bereits in Fehlschlußtraktaten des 12. Jahrhunderts, in denen auch auf ,incipit ‘/,desinit ‘ eingegangen wird, eine nicht unwesentliche Rolle. Fehlschlüsse beruhen hier darauf, daß mit dem Gebrauch der genannten Verben ein verdeckter Bezug auf Zeiten, die von der durch jene Verben selbst angezeigten Zeit abweichen, verbunden ist. Entsprechende Beispiele aus den ,Fallaciae Parvipontanae‘ lauten „omnis homo est albus; et nullus desinit esse albus; ergo omnis homo erit albus“ und „omnis homo est albus; et nullus homo desinit esse albus; ergo omnis erit albus“ 10. Natürlich behandeln die mittelalterlichen Logiker nicht alle Synkategoremata. Vielmehr konzentrieren sich die Autoren zunehmend auf für die logische Form oder für die Wahrheitsbedingungen von Aussagen wesentliche Ausdrücke. Damit ist die ursprüngliche grammatische Unterscheidung, wonach Nomen und Verben als Kategoremata, alle anderen Wörter aber als Synkategoremata angesehen werden, aus logischer Sicht strenggenommen viel zu weit 11. Andererseits ist sie aber auch zu eng, was darin zum Ausdruck kommt, daß bestimmte Verben nicht den Kategoremata, sondern den Synkategoremata zugerechnet werden, was insbesondere für die hier zu betrachtenden Verben ,incipit ‘ und ,desinit ‘ gilt. Repräsentativ für das 13. Jahrhundert ist die Sammlung der von Sherwood behandelten Synkategoremata und ihre Gruppierung: (1) quantitative oder distributive Zeichen: ,omnis‘, ,uterque‘, ,nullus‘, ,infinita‘ etc.; (2) exzeptive und exklusive Zeichen: ,praeter‘, ,solum‘, ,tantum‘, ,nisi ‘ etc.; (3) affirmative und negative Zeichen: ,est ‘, ,non‘; (4) modale Zeichen: ,necessario‘, ,contingenter‘ etc.; (5) Junktoren: ,si ‘, ,et ‘, ,vel ‘; (6) und schließlich die genannten Verben ,incipit ‘ und ,desinit ‘. Mit welcher Berechtigung sind eigentlich ,incipit ‘ und ,desinit ‘ den Synkategoremata zuzurechnen? Diese Frage wurde bereits im 13. Jahrhundert diskutiert. Einerseits gehören Wörter wie ,incipit ‘ und ,desinit ‘ zu den Verben, und Verben unter die Synkategoremata zu fassen steht im Gegensatz zu der bis Abaelard gültigen Auffassung, nach der Synkategoremata gerne mit den sogenannten indeclinabilia identifiziert wurden 12. Andererseits aber verlangen Verben wie ,incipit ‘ und ,desinit ‘ (oder auch ,differt ‘ und das bei Nicolaus von Paris ebenfalls den Synkategorema zugerechnete ,vult ‘) üblicherweise eine Ergänzung, die zwar im Sprachgebrauch oft unterschlagen werden kann, aber nur, weil sie implizit respektive durch den Zusammenhang klar ist; zudem implizieren ,incipit ‘ und ,desinit ‘ (ebenso wie ,differt ‘) das synkategorematische Wort ,non‘ und werden deshalb selbst den Synkategoremata zugerechnet 13. Die implizite Negation erzeugt aller10 11 12
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Cf. L. M. de Rijk, Logica Modernorum, vol. 1, Assen 1962, 563, 3-5 und 564, 9-11. Cf. Kann, Synkategoremata (nt. 3), 49. Cf. Kirchhoff, Die Syncategoremata des Wilhelm von Sherwood (nt. 8), Teil 1, c. 2.3, und Teil 2, c. 2.1. Cf. N. Kretzmann, Syncategoremata (nt. 1), 212 sq. Ein besonders häufig als Grenzfall behandeltes Wort ist ,est ‘, das als Existenzprädikator (e. g. in ,Deus est ‘) ein Kategorema darstellt, in
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dings Schwierigkeiten, wenn man den Prädikaten von Aussagen mit ,incipit ‘ und ,desinit ‘ eine Suppositionsart zuweisen will. Denn analysiert (exponitur) wird eine Aussage wie ,Sortes incipit esse albus‘ durch die Konjunktion von zwei unterschiedlichen Expositionsaussagen, einer affirmativen (,Sortes est albus‘) und einer negativen (,Sortes non fuit albus‘), während aber alle Suppositionsarten durch das Zurückgehen oder Absteigen (descensus) auf Expositionsaussagen von einheitlicher Qualität definiert sind. Nicht zuletzt deshalb meint Wilhelm von Ockham, der innerhalb seiner Suppositionstheorie den Verben ,incipit ‘ und ,desinit ‘ ein eigenes Kapitel widmet, daß dem Prädikat von ,incipit ‘- und ,desinit ‘-Aussagen eine eigene Suppositionsart zukommen müsse, für die wir aber keinen Namen haben 14. Mit der auf das officium der Synkategoremata konzentrierten Untersuchungsperspektive nehmen die mittelalterlichen Autoren vorwiegend logisch-syntaktische Analysen vor, was auch für den Zugang zu den Verben ,incipit ‘ und ,desinit ‘ gilt. Nur ausnahmsweise finden sich daneben semantisch zu nennende Reflexionen. Anregungen für die Untersuchung von ,incipit ‘/,desinit ‘ gehen allerdings auch von der Rezeption der aristotelischen ,Physik‘ aus, in der die Verben ,anfangen‘ (archein) und ,aufhören‘ (pauesthai ) neben anderen Ausdrücken des Beginnens und Endens im Kontext des Begriffs des Wandels (metaboleˆ ) von Bedeutung sind 15. Wie angedeutet haben aber schon vor der Aristotelesrezeption auf ,incipit ‘/,desinit ‘ bezogene logische Untersuchungen stattgefunden, bis sich dann aus der Erforschung der aristotelischen ,Physik‘ zu Beginn des 13. Jahrhunderts zusätzliche Impulse ergaben 16. Der Einfluß dieses Werks wird bereits in den
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seiner kopulativen Funktion (e. g. in ,homo est animal ‘) nach verbreiteter Ansicht dagegen als Synkategorema fungiert. Wilhelm von Ockham, Summa Logicae, edd. Ph. Boehner/G. Ga´l/St. Brown, St. BonaventureNew York 1974, I, 75; II, 19; cf. L. O. Nielsen, Thomas Bradwardine’s Treatise on ,Incipit‘ and ˆ ge Grec et Latin 42, ,Desinit‘. Edition and Introduction, in: Cahiers De L’Institut Du Moyen-A Kopenhagen 1982, 31. Aristoteles, Physik, II. 1, 193a28 sqq.; VI. 5, 236a7 sqq.; VI. 6, 237a11 sqq.; VIII. 7, 261b15 sqq.; VIII. 8, 262a6 sqq. Zum Begriff des Wandels im Kontext der aristotelischen Zeitkonzeption cf. H. Westermann, Art. ,Zeit‘, II. Antike. - B. Platon bis Boethius, in: J. Ritter/K. Gründer/G. Gabriel (eds.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 12, Basel 2004, 1196-1207. Cf. N. Kretzmann, Incipit/Desinit, in: P. K. Machamer/R. G. Turnbull (eds.), Motion and Time, Space and Matter, Columbus (Ohio) 1976, 101-136; Kretzmann betont gegen Auffassungen, die einseitig das Studium der aristotelischen ,Physik‘ als Quelle betonen, für das 13. Jahrhundert „a hybrid physical and logical approach to the problems of beginning and ceasing“ (ibid., 109). Für einige Logiker des 14. Jahrhunderts konstatiert Kretzmann die Ausrichtung eines sich von physikalischen Aspekten lösenden ,purely logical approach‘, der sich wiederum in die Tendenzen zur Fortsetzung einer ,technical analysis‘ nach Art des 13. Jahrhunderts ( Johannes Venator Anglicus) einerseits und einem ,ordinary language approach‘ (Wilhelm von Ockham) andererseits differenzieren lasse (ibid., 117). Eine der Analyse von Anfangen und Aufhören gewidmete ,physical phase‘, beginnend mit Walter Burley, und eine korrespondierende ,logical phase‘, beginnend mit Wilhelm von Sherwood, unterscheidet bereits C. Wilson, William Heytesbury. Medieval Logic and the Rise of Mathematical Physics, Madison 1960, 29-56, hier 31 sqq. Kretzmanns Befund dreier Zugangsweisen kehrt in modifizierter Form bei Murdoch wieder, der ebenfalls von drei (allerdings nicht streng abgrenzbaren) Phasen - einer logischen, einer physikalischen und einer integrierten - ausgeht; cf. J. Murdoch, The Analytic Character of Late Medieval
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,Abstractiones‘ des Richardus Sophista deutlich, der verschiedene Analysen (expositiones) für ,incipit ‘ und ,desinit ‘ annimmt, ohne diese aber explizit mit der aristotelischen Unterscheidung von res permanentes und successivae respektive permanentia und successiva, von Beständigem und Abfolgendem, in Verbindung zu bringen. Für die Behandlung unserer Verben in den Synkategoremata-Traktaten ist eine bestimmte Form der Veränderung oder des Wandels von Interesse, nämlich der Wandel von einem Zustand in einen ihm kontradiktorisch entgegengesetzten Zustand. Typische Beispiele für diese Art der Veränderung oder des Wandels, die auch in den Synkategoremata-Traktaten begegnen, sind der Übergang von Weißsein zu Nicht-Weißsein (und umgekehrt), aber auch der Wandel von Existenz zu Nichtexistenz (und umgekehrt). Alle diese Arten des Wandels vollziehen sich nach Auffassung des Aristoteles punktuell, zu einem konkreten Zeitpunkt 17. Ein Problem, mit dem sich Aristoteles im Hinblick auf den Anfang und das Ende eines Wandels auseinandersetzt, ist dabei die Vereinbarkeit der Annahme fester Zeitpunkte, die mit dem Wandel zu identifizieren sind, und der von ihm vertretenen Auffassung eines zeitlichen Kontinuums. Vor diesem Problem der exakten Bestimmung von Anfang und Ende eines Wandels stehen auch die mittelalterlichen Logiker bei ihrer Analyse von ,incipit ‘ und ,desinit ‘. III. ,Incipit ‘/,desinit ‘ und ihre Expositionen bei Petr us Hispanus Besonders ausführliche Überlegungen, die die logische Analyse mit der aristotelischen Zeitlehre verbinden und geeignet sind, die Verben ,incipit ‘ und ,desinit ‘ auf ihren Beitrag zu einer Semantik der Dauer hin zu befragen, finden sich in den ,Syncategoreumata‘ des Petrus Hispanus 18. Das Verständnis der Semantik sowie der logischen Eigenschaften von ,incipit ‘ und ,desinit ‘ im Satzzusammenhang ist voraussetzungsreich. Hispanus behandelt vor der eigentlichen Sophismata-Analyse die Frage der Mehrdeutigkeit des Zeitbegriffs (,tempus‘ im Sinne der Wesensbestimmung von Zeit einerseits und im Sinne der Zeitstufe einer Verbform andererseits), die Frage der Anfangs- und Endlosigkeit von Bewegung (veranlaßt durch die aristotelische ,Physik‘ IV. 11, 219b16-18), die Frage nach einer exakten Bestimmung des Unendlichen (infinitum), sowie die Fragen nach
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Learning: Natural Philosophy without Nature, in: L. D. Roberts (ed.), Approaches to Nature in the Middle Ages (Medieval & Renaissance Texts & Studies 16), Binghamton (N.Y.) 1982, 171213, hier 187-191, 196. Eine ausführliche Übersicht über die Tradition bedeutender ,incipit ‘/ ,desinit ‘-Analysen als Vorgeschichte der entsprechenden Abhandlung Thomas Bradwardines bietet Nielsen, Thomas Bradwardine’s Treatise (nt. 14), 6-43. Aristoteles, Physik VI. 5, 235b31 sqq. Peter of Spain, Syncategoreumata. First Critical Edition with an Introduction & Indexes by L. M. de Rijk with an English Translation by J. Spruyt (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 30), Leiden-New York-Köln 1992, VI, 248 sqq. Besondere Würdigung erfährt Hispanus’ Beitrag auch bei Murdoch, The Analytic Character (nt. 16), 189, und bei Nielsen, Thomas Bradwardine’s Treatise (nt. 14), 17-22.
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Anfang und Ende von Zeit (tempus) und Vermögen (potentia). Vor allem aber geht Hispanus darauf ein, wie sich die Verbindung von ,incipit ‘ und ,desinit ‘ mit permanentes und successiva auf die logische Analyse jener Verben auswirkt. Dieser von zahlreichen ,incipit ‘/,desinit ‘-Interpreten in ähnlicher Systematik erörterte Gesichtspunkt verdient auch für die hier verfolgte Perspektive einer Semantik der Dauer besondere Beachtung. Petrus Hispanus unterscheidet res permanentes respektive permanentia und res successivae respektive successiva in fünf Hinsichten 19. (1) Der erste Unterschied von permanentia und successiva liegt demnach darin, daß Dinge beständig genannt werden, deren Sein ein vollständiges ist, wie ein Mensch, ein Stein, ein Stück Holz 20, die Luft, die Erde - also offenbar alle Dinge der materiellen Welt. Sukzessiv dagegen werden Dinge genannt, deren Sein nicht in dieser Weise ein vollständiges ist, sondern in einer Abfolge besteht, so wie Bewegung und Zeit. (2) Den zweiten Unterschied beschreibt Hispanus komplementär zu dem ersten, nunmehr aber aus der Perspektive der Teile der permanentia und successiva. Diese existieren im ersten Fall gleichzeitig, im zweiten Fall nacheinander. So existieren Teile eines Menschen oder der Luft gleichzeitig, nicht nacheinander, während Zeitabschnitte und Bewegungsphasen (von etwas) nie gleichzeitig existieren, sondern aufeinander folgen. (3) Der dritte Unterschied besteht darin, daß permanentia natürlicher Weise gleichsam früher sind als successiva und daß entsprechend successiva gleichsam später sind als permanentia. Beständiges ist Ursache (causa) des Abfolgenden. Hier wird also eine Unterscheidung hinsichtlich der metaphysischontologischen Priorität getroffen, die besagt: Nur wenn Beständiges, Verbleibendes, existiert, können an ihm Zeit und Bewegung vorkommen und festgestellt werden. (4) Der vierte Unterschied ist der, daß permanentia ihre Begrenzungen in sich selbst haben, nicht aber successiva, die ihre Begrenzungen in den dauernden Dingen haben, an denen sie vorkommen. (5) Der fünfte Unterschied liegt darin, daß permanentia am Beginn und am Ende ihres Bestehens, ihrer Dauer, existieren, wie für Hispanus an Substanzen (Stein) und dauernden Akzidenzien (Weißsein, Schwarzsein) evident ist, während successiva weder an ihrem Anfang noch an ihrem Ende existieren 21. Zum Verständnis von (4) und (5), bei denen es um die Bestimmung von Grenzzeitpunkten geht, muß die aristotelische Auffassung zum Augenblick des Wandels oder Wechsels berücksichtigt werden, die die mittelalterlichen Autoren 19 20
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Peter of Spain, Syncategoreumata (nt. 18), 250. Die Übersetzung von Spruyt (cf. nt. 18), 251, gibt ,lignum‘ mit „a line“ wieder; richtig müßte es „a piece of wood“ heißen. N. Strobach, The Moment of Change. A Systematic History in the Philosophy of Space and Time, Dordrecht-Boston-London 1998, 87-90, problematisiert die Tatsache, daß im Rahmen der Unterscheidung von res permanens und res successiva das Wort ,res‘ unterschiedliche Bedeutungen aufweist und daß unter die res permanentes sowohl Dinge als auch Zustände fallen. In dieser Hinsicht weist auch die Textüberlieferung der ,Syncategoreumata‘ des Petrus Hispanus auf Unsicherheiten hin (cf. nt. 28). Strobach schlägt vor, die problematische Ding-Zustands-Ontologie durch eine Ontologie aus zwei Eigenschaftstypen (,p-properties‘ und ,s-properties‘) zu ersetzen.
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im wesentlichen ,Physik‘ VI entnehmen 22. Als Beispiel kann die Aussage ,Sortes currit ‘ dienen. Während Sokrates eine res permanens darstellt, deren Sein ein vollständiges ist, bezeichnet die Aussage ,Sortes currit ‘ den Vorgang des Laufens (des Sokrates als Zugrundeliegendem) und damit eine res successiva. Nehmen wir nun den Fall an, daß Sokrates zunächst steht, dann läuft, was die Aussage ,Sortes currit ‘ zum Ausdruck bringt, und anschließend wieder steht. Am Anfang und am Ende des Laufens des Sokrates sind zwei besondere Zeitpunkte zu fixieren, der Grenzzeitpunkt, der den Ausgangszustand des Stillstehens von dem Vorgang des Laufens trennt (t1), und der Grenzzeitpunkt, der den Vorgang des Laufens von dem erneuten Zustand des Stillstehens trennt (t2). Entsprechend sind zwei Raumpunkte l1 und l2 zu unterscheiden, an denen sich Sokrates am Anfang und am Ende seines Laufens befindet. Man kann nun die Fragen stellen, ob sich Sokrates zu t1 noch an l1 befindet oder sich schon ein Stück von l1 entfernt hat und ob er sich zu t2 schon an l2 befindet oder noch ein Stück von l2 entfernt ist. Achten wir zunächst auf t2, so ist aus aristotelischer Perspektive festzustellen, daß sich Sokrates zu t2 bereits an l2 befindet. Denn wäre Sokrates zu t2 noch von l2 entfernt, so müßte man - unter der Voraussetzung einer dichten Zeit und eines kontinuierlichen Raums - eine kurze Zeitspanne annehmen, die er braucht, um l2 zu erreichen. Insofern aber könnte t2 entgegen der Voraussetzung nicht der Grenzzeitpunkt sein. Entsprechend ist anzunehmen, daß Sokrates zu t1 noch an l1 ist, da auch t1 anderenfalls nicht Grenzzeitpunkt sein könnte. Ordnet man in dieser Weise die Grenzzeitpunkte t1 und t2 dem Ausgangs- und dem Endzustand zu, so sind sie nicht dem Vorgang des Laufens des Sokrates im Sinne einer res successiva zuzuordnen, sondern als letzter respektive erster Zeitpunkt des Ausgangs- und Endzustands zu begreifen. Ist nun t1 als letzter Zeitpunkt der Nichtexistenz einer res successiva zu begreifen, dann kann t1 nicht zugleich als erster Zeitpunkt der Existenz dieser res successiva gelten. Hieraus ergibt sich für die an der aristotelischen Tradition orientierten hochund spätmittelalterlichen Denker die auch von Petrus Hispanus vertretene Standardauffassung, daß es weder einen ersten noch einen letzten Zeitpunkt einer Bewegung gibt 23. Hispanus vertritt also die Auffassung, daß für permanentia ein erster und ein letzter Moment ihrer Existenz angebbar ist, das heißt daß sie intrinsische Grenzen haben, während die successiva Zeit und Bewegung extrinsische Grenzen haben. Demnach gehört, wenn ein zeitlicher Wandel oder Wechsel zum Abschluß gekommen ist, der Zeitpunkt, zu dem dieser Wandel abgeschlossen ist, nicht selbst zu der Phase des Wandels, sondern ist ihm äußerlich. Und wenn ein zeitlicher Wandel oder Wechsel beginnt, dann gehört der Zeitpunkt, zu dem dieser Wandel beginnt, nicht selbst zu der Phase des Wandels, wie Hispanus pointiert bemerkt: „[…] res successive non sunt in sui principio sed post principium.“ 24 22 23 24
Cf. nt. 15. Cf. Kretzmann, Incipit/Desinit (nt. 16), 102 sq. Petrus Hispanus, Syncategoreumata (nt. 18), 254; cf. 262.
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Komplementär dazu stellt Hispanus fest, daß successiva am zeitlichen Endpunkt ihres Wandels nicht existieren: Bewegung war also an ihrem Anfang nicht und wird an ihrem Ende nicht sein. Was bedeuten nun die Verben ,incipit ‘ und ,desinit ‘ in Verbindung mit permanentia und successiva? Ihre Bedeutungen (rationes) variieren, wie Hispanus durch Exposition von Beispielen zeigt 25. (1) Das Beispiel für ,incipit ‘ in Kombination mit permanentia ist ,incipit esse albus‘. Die Exposition lautet „est albus et ante hoc non fuit albus“. Die Expositionsaussagen behaupten das Gegenwärtige (positio praesentis) und schließen das Vergangene aus (privatio preteriti ). Hispanus nennt zusätzlich die Version ,nunc primo est ‘. (2) Das Beispiel für ,incipit ‘ in Kombination mit successiva ist ,incipit moveri ‘. Die Exposition lautet „non movetur sed post hoc movebitur“. Die Expositionsaussagen schließen das Gegenwärtige aus - denn ,incipit ‘ verweist bei successiva auf einen Anfangspunkt als extrinische Grenze - und behaupten das Zukünftige. Hispanus nennt zusätzlich die Version ,nunc primo erit ‘ 26. (3) Das Beispiel für ,desinit ‘ in Kombination mit permanentia ist ,desinit esse albus‘. Die Exposition lautet „est albus et de cetero non erit albus“. Die Expositionsaussagen behaupten das Gegenwärtige und schließen das Zukünftige aus 27. Hispanus nennt zusätzlich die Version ,nunc ultimo est ‘. 25
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Op. cit., 252. Betont sei, daß die entsprechenden Expositionen bei den einzelnen Autoren dieser Tradition erheblich variieren, was insbesondere daran liegt, daß die Auffassungen hinsichtlich der intrinsischen und extrinsischen Grenzen von Zuständen oder Vorgängen auseinandergehen. In der vorliegenden Untersuchung geht es nicht um diese Divergenzen, sondern um die formale Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Expositionen, aus Konjunktionen affirmativer respektive negativer Aussagen über Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges zu bestehen. Die Edition von L. M. de Rijk (cf. nt. 18), 252, enthält hier ,nunc primo est ‘. Diese Version wird meines Erachtens dem Erfordernis der privatio praesentis nicht gerecht und würde auch den Unterschied zu Fall (1), ,incipit ‘ in Kombination mit permanentia, verdecken; außerdem bietet der Variantenapparat die Lesart ,erit ‘ (anstatt ,est ‘) an, so daß der lateinische Satz ,nunc primo erit ‘ und die Übersetzung „it will be now for the first time“ lauten muß. Dem entspricht auch das Beispiel bei Kretzmann, Incipit/Desinit (nt. 16), 111: „A motion begins to be: A motion now is not, and immediately after this it will be.“ Für Fall (2) präsentiert Kretzmann, Incipit/Desinit (nt. 16), 111, die abweichende Exposition „A man ceases to be: A man now is not, and immediately before this he was.“ Diese Version entnimmt er dem seiner Untersuchung als Appendix A (ibid., 122-128) angefügten ,incipit ‘/ ,desinit ‘-Kapitel aus einem Frühdruck des ,Tractatus syncategorematum‘ von 1489, das erheblich von dem entsprechenden Kapitel in de Rijks kritischer Edition (cf. nt. 18) auf der Basis von sieben Manuskripten des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts abweicht, aber lange als Referenztext für die Interpretation von Hispanus’ Synkategoremata-Lehre benutzt wurde; cf. e. g. Nielsen, Thomas Bradwardine’s Treatise (nt. 14), 17-22. Kretzmann vergleicht das FrühdruckKapitel unter anderem hinsichtlich des Falles (2) mit dem Traktat ,De exponibilibus‘ (,Tractatus exponibilium‘), der bis zu de Rijks entschiedenem Einspruch (Introduction, in: Peter of Spain, Tractatus, Assen 1972, LIV-LV) ebenfalls Petrus Hispanus zugeschrieben wurde; cf. Wilson, William Heytesbury (nt. 16), 39 sq. Entsprechend kennzeichnet Kretzmann ,De exponibilibus‘ als ,pseudo-Peter‘ und seinen (unzuverlässigen) Appendix-Text als ,Peter‘. Bemerkenswert ist
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(4) Das Beispiel für ,desinit ‘ in Kombination mit successiva ist ,desinit currere‘. Die Exposition lautet „non currit sed ante hoc cucurrit “. Die Expositionsaussagen schließen das Gegenwärtige aus - denn ,desinit ‘ verweist bei successiva auf einen Endpunkt als extrinische Grenze - und behaupten das Vergangene. Hispanus nennt zusätzlich die Version ,nunc ultimo fuit ‘. Da durch ,incipit ‘ und ,desinit ‘, wie Hispanus sagt, verschiedene Zeitstufen erkannt werden (diversa tempora intelligantur) - die Expositionsaussagen betreffen Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges - ergibt sich die Frage, ob diese Zeitstufen gleichrangig verstanden werden oder jeweils eine von ihnen vorrangig und die andere nachrangig. Nach Hispanus lassen die Verben ,incipit ‘ und ,desinit ‘ bei permanentia immer in erster Linie ein Behaupten (positio) von Gegenwärtigem und in zweiter Linie ein Ausschließen (privatio) von Vergangenem (bei ,incipit ‘) respektive von Zukünftigem (bei ,desinit ‘) erkennen, weil permanentia am Anfang und am Ende ihres Seins in allen ihren Teilen existieren, während vor ihrem Anfang und nach ihrem Ende nichts von ihnen existiert 28. Bei successiva hingegen lassen die Verben ,incipit ‘ und ,desinit ‘ in erster Linie ein Behaupten von Zukünftigem (bei ,incipit ‘) respektive von Vergangenem (bei ,desinit ‘) erkennen und in zweiter Linie ein Ausschließen von Gegenwärtigem, weil successiva nicht zugleich in allen ihren Teilen und somit auch nicht an ihrem Anfang und an ihrem Ende existieren. Wie verhält sich die Unterscheidung von permanentia und successiva zu unserem Ausgangsbegriff der Dauer? Achtet man auf die Wortbedeutungen, dann kann man sagen, daß Dauer den permanentia zu- und den successiva abzusprechen ist. Zum lexikalischen Bedeutungsspektrum von ,permanere‘ gehört unter anderem ,fortdauern‘, während weder ,succedere‘ noch ,successivus‘ lexikalische Bedeutungen im Sinne von ,dauern‘ oder ,dauerhaft‘ aufweisen. ,Dauern‘ kann sogar insofern Gegenbegriff zu ,succedere‘, ,abfolgen‘, sein, als den successiva die Eigenschaft des Beständigen, Verbleibenden, Dauerhaften fehlt. Aber sind nicht andererseits gerade die successiva Bewegung und Zeit unter dem Begriff der Dauer zu fassen, insofern wir ihnen üblicherweise eine Dauer im Sinne temporaler Extension zusprechen? Unser Begriff der Dauer respektive unser Sprachgebrauch von ,Dauer‘ und ,dauern‘ ist offenbar nicht auf das Dauern im Sinne der lexikali-
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hier, daß die ,Peter‘-Version im Fall (2) von de Rijks kritischer Hispanus-Edition abweicht, während die ,pseudo-Peter‘-Version aus ,De exponibilibus‘ exakt dieser Hispanus-Edition entspricht. Dem ,incipit ‘/,desinit ‘-Kapitel aus dem Frühdruck des ,Tractatus syncategorematum‘ von 1489 (cf. nt. 27), 123, ist eine Differenzierung der permanentia zu entnehmen, nach der diese entweder in einem unteilbaren Moment oder aber in einer (durativen) Zeitspanne entstehen, während derer sie ihrer Farbintensität (Weiße, Schwärze) oder ihrer Ausdehnung (Länge, Breite) nach wachsen. Anstatt dieser Differenzierung der permanentia wird im Text von de Rijks kritischer Edition (cf. nt. 18), 251, eine anwachsende Qualität oder Quantität als res successiva an einer ihr zugrundeliegenden res permanens aufgefaßt.
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schen Bedeutung von ,manere‘ oder ,permanere‘ zu beschränken. Unser Begriff der Dauer erfaßt neben der Kontinuität des Beständigen, Verbleibenden ebenso die Kontinuität des Abfolgenden, Fortschreitenden, die Kontinuität der zeitlichen Erstreckung eines Vorgangs oder Zustands, die Kontinuität des Verlaufs von Zeit und Bewegung. Ähnlich wie etwa der griechische Begriff ,kineˆsis‘ aus heutiger Sicht Verschiedenes umfasst, nämlich Veränderung und Bewegung, so findet unser Begriff der Dauer gleichermaßen Anwendung auf dasjenige, was wir als permanentia respektive als successiva im Sinne der exemplarischen Analyse des Petrus Hispanus unterscheiden. Allerdings gilt auch im Mittelalter die Auffassung des Petrus Hispanus zu der Unterscheidung von permanentia und successiva respektive zu dem diesbezüglichen Zeitverständnis nicht als alternativlos. Kontroversen um die Unterscheidung von permanentia und successiva werden gelegentlich als Grund dafür genannt, daß Ockham sich gänzlich von ihr distanziert 29. Drei Positionen, die unter anderem hinsichtlich der Frage der Zuordnung der Zeit unter die permanentia oder die successiva divergieren, stellt Nicolaus von Oresme in seinem Kommentar zur aristotelischen ,Physik‘ einander gegenüber 30: (1) Die Zeit ist keine res successiva, sondern eine res permanens, das heißt etwas Beständiges, in ihrem Sein Verharrendes. (2) Die Zeit ist eine res successiva non permanens, und zwar eine Bewegung (motus) - sei sie ein Erleiden (passio) oder eine nachfolgende (das heißt eine durch das erkennende Subjekt nachvollzogene) Dauer (duratio consequens). (3) Die Zeit ist weder eine Substanz noch ein (einer Substanz) inhärierendes Akzidens, sondern die Dauer der Dinge (duratio rerum), die nicht durch Kategoremata, sondern nur durch Adverbien oder Synkategoremata, die von Kategoremata abgeleitet sind, in eigentlicher Weise bezeichnet oder ausgedrückt werden kann 31. Oresme, der die drei Positionen ausführlich analysiert und kritisiert, versteht seinerseits unter der Zeit eine duratio rerum successiva, die er als der Bewegung
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Wilhelm von Ockham, Summa Logicae (nt. 14), II, 19; 310; cf. N. Strobach, Die Analyse von ,Anfangen‘ und ,Aufhören‘ und das Wort ,unmittelbar‘ (immediate) in der mittelalterlichen Logik, in: G. Leibold/W. Löffler (eds.), Entwicklungslinien mittelalterlicher Philosophie (Vorträge des V. Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie, Innsbruck, 1.-4. Februar 1998, Teil 2), Wien 1999, 193-207, hier 196. Cf. S. Kirschner, Nicolaus Oresmes Kommentar zur Physik des Aristoteles. Kommentar mit Edition der Quaestionen zu Buch 3 und 4 der aristotelischen Physik sowie von vier Quaestionen zu Buch 5, Stuttgart 1997, 368 sqq. (Text Oresme), 146 sqq. (Einleitung Kirschner). Oresme greift hier auf die für die Logik und den vorliegenden Zusammenhang zentrale Unterscheidung von Kategoremata und Synkategoremata zurück, allerdings nur in allgemeiner, unspezifischer Weise. Die von ihm exemplarisch genannten Synkategoremata ,prius‘, ,posterius‘ und ,ante‘ (op. cit., 373, 87 sqq.) werden in den Synkategoremata-Traktaten der Logiker nicht eigens thematisiert.
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(motus) vorgeordnet und von ihr und dem Beweglichen unabhängig betrachtet 32. Diese Auffassung kann, obwohl sie denen des Petrus Johannes Olivi, Gerardus Odonis und H ø asdai Crescas ähnlich ist, als Außenseiterposition gelten 33. Für den vorliegenden Kontext bleibt festzuhalten, daß der von Oresme (und anderen ,Physik‘-Kommentatoren) ausführlich diskutierte aristotelische Zeitbegriff bei Petrus Hispanus und anderen Logikern jener Tradition ohne nähere Analyse vorausgesetzt wird, daß Hispanus’ Behandlung der Zeit als zentrales Beispiel für successiva nicht unumstritten ist und daß die spätscholastische Naturphilosophie und Physik respektive Metaphysik mit einem Begriff der Dauer (duratio) arbeitet, der in den repräsentativen Logiktraktaten und ihren Analysen von ,incipit ‘/,desinit ‘ sowie ,permanentia‘/,successiva‘ keine nennenswerte Rolle spielt. IV. ,Incipit ‘/,desinit ‘ zwischen Grenzzeitpunkt und Dauer Die mittelalterlichen Analysen von ,incipit ‘/,desinit ‘, insofern sie auf die Grenzzeitpunkte eines Vorgangs oder Zustands referieren, stellen eindeutig die Sukzessivität, die Distinktion der Zeitstufen, gegenüber der Dauer in den Vordergrund. Die Konzentration auf das sukzessive Moment verdankt sich dem Zeitverständnis des Aristoteles, wie es bereits durch die bekannte Definition der Zeit als die „Meßzahl von Bewegung hinsichtlich des ,davor‘ und ,danach‘ “ angezeigt wird 34. Dieses sukzessive Moment betont Koch durch die Feststellung, daß Aristoteles die Zeit als „doppelt abhängig - sowohl von der Bewegung als auch von einem zählenden Geist - betrachtet“ 35. Indessen wird man die These Wielands, daß die griechische Philosophie, „keinen eigenständigen Begriff der Dauer“ hervorgebracht habe und daß ein solcher erst im Hochmittelalter in Form des Ausdrucks ,duratio‘, wie ihn Thomas von Aquin (als Oberbegriff für ,tempus‘ und ,aeternitas‘) verwendet, gebildet worden sei 36, abschwächen müssen, denn sonst würde man einerseits den bei Aristoteles für die Bezeichnung des dauerhaften Bestandes von etwas gebräuchlichen Begriff ,soˆteˆria‘ (lat. ,conservatio‘) ebenso wie den in der Frühscholastik unter anderem bei Johannes Scotus Eriugena vorkommenden Begriff ,mora‘ vernachlässigen. Der aristotelische Begriff ,soˆteˆria‘ bezeichnet den dauerhaften Bestand so unterschiedlicher Entitäten wie körperlicher Organe, politischer Verfassungen oder Abstrakta (Wahrheit); 32
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Cf. Nicolaus Oresme, Kommentar zur Physik (nt. 30), 371-376. Kirschner weist in seiner Einleitung (ibid., 144) darauf hin, daß Oresmes Auffassung derjenigen Newtons gleicht, für den die „absolute, echte und mathematische Zeit“ (tempus absolutum, verum, et mathematicum) von äußeren Dingen unabhängig ist und auch als Dauer (duratio) bezeichnet wird. Cf. op. cit., 143, 151. Aristoteles, Physik IV. 11, 219b1 sq. (Übers. hier und im folgenden H. G. Zekl). A. F. Koch, Art. ,chronos/Zeit‘, in: O. Höffe (ed.), Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 107111, hier 110. W. Wieland, Art. ,Dauer‘, in: J. Ritter (ed.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 2, Basel 1972, 26 sq., hier 26.
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dabei meint er nicht etwa nur die Beständigkeit im Sinne von Beharrlichkeit und Stabilität, sondern bringt auch zeitliche Dauer zum Ausdruck und kann sogar im Sinne des Begriffs der Ewigkeit Verwendung finden 37. ,Mora‘ zielt auf die Dauer als solche, also nicht auf die sukzessive Quantität der Bewegung, und scheint gerade deshalb bei Johannes Scotus Eriugena als Gegenbegriff zu ,motus‘ Verwendung zu finden, wobei allerdings ,motus‘ eindeutig im Mittelpunkt der Erörterungen steht 38. Auch in der aristotelischen Zeitanalyse zeigt sich der Gedanke der temporalen Dauer von dem der Sukzessivität, wie er sich in der mittelalterlichen ,incipit ‘/,desinit ‘-Analyse wiederfindet, überlagert. Dies wird dadurch bestätigt, daß einerseits der Begriff ,soˆteˆria‘ wenigstens in der theoretischen Philosophie des Aristoteles eine Randfunktion einnimmt und andererseits in der mittelalterlichen Tradition der Begriff ,mora‘ wohl vor allem in der Zeit bis zum 12. Jahrhundert, also vor der Aristoteles-Rezeption, vorkommt 39. Ausnahmsweise findet ,mora‘ übrigens auch in einem Logiktraktat Verwendung, nämlich in dem ,Compendium Logicae Porretanum‘, in dem unter anderem eine Unterscheidung von Zeit als Quantität (tempus quantitas) und Zeit als Wann (tempus quando) vorgenommen wird 40. Tempus quantitas steht für die Dauer eines Dings in einem bestimmten Zustand, das heißt die Zeitspanne, in der sich eine Eigenschaft an einem Subjekt hält - „mora qua tenetur proprietas in subiecto“ - im Gegensatz zum tempus quando als derjenigen Zeit, die Gegenstand von quandoFragen und von Antworten mittels entsprechender Adverbien der Zeit ist. Die Expositionen von ,incipit ‘/,desinit ‘ bei Hispanus sagen zwar auch die präsentische Eigenschaft des Weißseins an dem Subjekt Sokrates aus, aber nur unter dem Gesichtspunkt der Sukzessivität und nicht der Dauer. Die Dauer im Sinne einer „mora qua tenetur proprietas in subiecto“ kommt dort und in anderen Expositionen dieses Typs kaum zum Ausdruck. Findet sich denn, so ist zu fragen, in den ,incipit ‘/,desinit ‘-Analysen des 13. und 14. Jahrhunderts keine eigentliche Berücksichtigung dessen, was wir Dauer nennen? Das anhand von Petrus Hispanus exemplarisch vorgestellte Expositionsverfahren begegnet uns im 14. Jahrhundert unter anderem bei Wilhelm von Ockham, der aber, wie erwähnt, die Unterscheidung von permanentia und successiva aufgibt, so daß für ,incipit ‘ und ,desinit ‘ nur noch je eine Expositionsweise verbleibt. Ockham behandelt ,incipit ‘/,desinit ‘ an zwei Stellen seiner ,Summa Logicae‘: in der Suppositionstheorie und in der Aussagenlehre 41. Wenn Ockham 37 38
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Aristoteles, Metaphysik XIV. 4, 1091b16-18. Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae V (PL 122, 890A): „Est enim tempus morarum vel motuum certa et naturalis dimensio.“ Cf. ibid., 507A-B. Cf. P. Porro, Art. ,Zeit‘, III. Mittelalter. - A. Mittelalterliche Scholastik; arabische Philosophie. 1. Hochmittelalter, in: Ritter/Gründer/Gabriel (eds.), Historisches Wörterbuch, vol. 12 (nt. 15), 1209-1220, hier 1210 sq. Compendium Logicae Porretanum, edd. S. Ebbesen/K. M. Fredborg/L.O. Nielsen, in: Cahiers ˆ ge Grec et Latin 46, Kopenhagen 1983, III. 20; 45. De L’Institut Du Moyen-A Wilhelm von Ockham, Summa Logicae (nt. 14), I, 75, II, 19; 231-233, 310-316. Eine ausführliche Darstellung von Ockhams ,incipit ‘/,desinit ‘-Behandlung unter besonderer Berücksichtigung
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,incipit ‘/,desinit ‘ im Kontext der Äquivalenzen von Aussagen diskutiert, ist das von dem beschriebenen Expositionsverfahren her durchaus plausibel. Ockham sagt - insoweit übereinstimmend mit Hispanus und anderen -, daß eine Aussage mit ,incipit ‘ oder ,desinit ‘ mit einer kopulativen Aussage äquivalent sei, das heißt mit einer Konjunktion zweier Expositionsaussagen 42. Sein Beispiel entspricht weitgehend dem uns schon geläufigen Standardbeispiel ,Sortes incipit esse albus‘, das nach seiner Darstellung durch die Konjunktion „Sortes est albus, et Sortes non fuit immediate ante albus“ zu exponieren ist. Die Einfügung ,immediate ante‘ findet Ockham wichtig, denn die zweite Expositionsaussage wäre in der einfachen, generalisierenden Form ,Sortes non fuit albus‘ unzureichend. Der Grund ist offensichtlich: Die Ausgangsaussage ,Sortes incipit esse albus‘ könnte wahr und die Aussage ,Sortes non fuit albus‘ zugleich falsch und damit als Expositionsaussage untauglich sein. Wenn nämlich Sokrates erst weiß und dann schwarz und schließlich wieder weiß wird, dann ist irgendwann die Aussage ,Sortes incipit esse albus‘ wahr und dennoch die Aussage ,Sortes non fuit albus‘ falsch, da er nach der Voraussetzung schon einmal weiß war, nur eben nicht unmittelbar zuvor. Ebenso sagen wir üblicherweise ,Der Baum beginnt zu blühen‘, obwohl er zuvor schon, nämlich im vergangenen Jahr, geblüht hat. Deshalb dürfen wir auch hier nicht exponieren ,Der Baum blüht, und er hat nicht geblüht‘. Wir können aber korrekt exponieren ,Der Baum blüht, und unmittelbar vorher hat er nicht geblüht‘ 43. Für die Analyse der Verben ,incipit ‘ und ,desinit ‘ ist zudem von Bedeutung, daß Ockham an gleicher Stelle jeweils eine enge und eine weite Verwendung (stricte und large) unterscheidet. Die bisher referierte Exposition (also unser Sokrates-Beispiel und unser Baum-Beispiel) betrifft ,incipit ‘ in der engen oder stricteVerwendung. In der weiten oder large-Verwendung, die Ockham auch als improprie bezeichnet, wird ,incipit ‘ anders exponiert, nämlich durch „sic est, et non diu ante fuit “. Entsprechend wäre unser Beispiel ,Sortes incipit esse albus‘ durch ,Sortes est albus, et non diu ante fuit albus‘ zu exponieren. Diese Auslegung von ,incipit ‘ soll (ebenso wie die entsprechende weite Auslegung von ,desinit ‘) dem üblichen Sprachgebrauch gerecht werden, wonach wir etwa sagen, daß ein Baum anfängt zu blühen, wenn er jetzt blüht und nicht bereits seit langem blüht, aber durchaus schon gestern geblüht haben kann. Hierdurch macht Ockham klar, daß wir vom Anfangen nicht nur als ausdehnungslosem Zeitpunkt eines Beginns, sondern durchaus auch im Sinne der Anfangsphase von etwas sprechen. Sein Verständnis der intrinsischen Grenzen von Vorgängen respektive Zuständen geht also nicht von ausdehnungslosen Zeitpunkten aus, sondern davon, daß ein Moment (in-
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der Ockham-Kritik des Thomas Bradwardine bietet Nielsen, Thomas Bradwardine’s Treatise (nt. 14), 30-41. Wilhelm von Ockham, Summa Logicae (nt. 14), 310 sq. Zu einer differenzierten Interpretation des im 14. Jahrhundert eigenen Analysen unterzogenen Wortes ,immediate‘ (ausgehend von Paulus Venetus) cf. in Ansätzen Wilson, William Heytesbury (nt. 16), 42-44, und ausführlich Strobach, Die Analyse von ,Anfangen‘ und ,Aufhören‘ (nt. 29), 202-205.
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stans), etwa der des Anfangens oder des Aufhörens, ein zeitliches Kontinuum darstellt, das allerdings als beliebig kurz angenommen werden kann. Indessen liest Ockham die Verwendung von ,incipit ‘ im Sinne einer Anfangsphase nicht nur dem allgemeinen Sprachgebrauch ab, auf den er gerne verweist, indem er vom usus loquendi redet, sondern kann sich hier wiederum auf die aristotelische ,Physik‘ berufen, wo uns dieselbe Doppelbedeutung, die er für ,incipit ‘ annimmt, für das Wort ,jetzt‘ (nyn) vor Augen geführt wird: Das Jetzt, wie Aristoteles nominalisierend die augenblickliche Gegenwart nennt, „bildet den Zusammenhang von Zeit […]; es hält ja die vergangene und zukünftige Zeit zusammen. Und es ist auch die Grenze von Zeit, stellt es doch des einen Anfang, des anderen Ende dar […]. Das ist der eine Wortgebrauch von ,Jetzt‘. Ein anderer liegt dann vor, wenn eine diesem ( Jetzt) benachbarte Zeitspanne vorliegt: ,Er wird jetzt (gleich) kommen‘, (so sagt man) weil er heute kommen wird. ,Er ist jetzt (gerade) gekommen‘, - weil er heute angelangt ist.“ 44 Aristoteles unterscheidet also zwischen dem Jetzt als Grenzzeitpunkt und dem Jetzt als einem mit diesem Grenzzeitpunkt verbundenen kurzen Zeitraum. Als Grenzzeitpunkt hat das Jetzt eine verbindende und eine trennende Funktion - es ist (aktuelle) Verbindung im Sinne der einheitlichen, gemeinsamen Grenze einer endenden und einer beginnenden Zeit und (potentielle) Trennung im Sinne des Endes einer vergehenden und des Anfangs einer kommenden Zeit. Das Jetzt im Sinne eines kurzen Zeitraums oder einer zeitlichen Extension ist für Aristoteles von untergeordneter Bedeutung. Entsprechend tendieren die Interpreten dazu, die Zweitbedeutung von ,jetzt‘ aus der Betrachtung auszuklammern 45. Werden dagegen beide Bedeutungen gemeinsam thematisiert, dann gelegentlich unter Betonung der aristotelischen Äußerungen, wonach dem Jetzt als kurzem Zeitraum eine von dem Jetzt als Grenzzeitpunkt abgeleitete Bedeutung zukommt, insofern ein Jetzt als Zeitraum immer auf ein Jetzt als Zeitpunkt im Sinne eines ersten Jetzt angewiesen sei 46. Darüber hinaus findet sich die Unterscheidung des Jetzt im Sinne eines unausgedehnten Grenzzeitpunkts als ,metaphysical present‘ im Gegensatz zu dem Jetzt im Sinne eines kurzen Zeitraums als ,psychological present‘ 47. Indessen steht für Aristoteles selbst offenbar eine andere Akzentuierung jenes Unterschieds im Vordergrund, da er auf die divergierenden Gebrauchsweisen von ,jetzt‘ im Kontext der Analyse der Gebrauchsweisen weiterer Zeitadverbien (,einmal‘, ,eben‘, ,gerade‘, ,vormals‘, ,plötzlich‘) hinweist. Erst im nachfolgenden Kapitel gibt Aristoteles, programmatisch das Thema wechselnd, Hinweise auf die als psychologisch zu charakterisierende Frage, „wie sich denn die Zeit zum 44
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Aristoteles, Physik IV.13, 222a10-22. Im Sinne des ausgedehnten, dauernden Jetzt will Aristoteles auch das Adverb ,eˆdeˆ ‘ (gerade) verstanden wissen, das sowohl bevorstehende als auch vergangene Zeitteile meint, die dem unteilbaren Jetzt benachbart sind. Ebenso steht für Aristoteles das Adverb ,arti ‘ (gerade, vor kurzem) für „den dem gegenwärtigen Jetzt naheliegenden Teil der vergangenen Zeit“; Physik IV. 13, 222b7-14. Cf. W. Wieland, Die aristotelische Physik, Göttingen 1962, 323, nt. 6. Cf. Strobach, The Moment of Change (nt. 21), 49 sq. Ibid.
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Bewußtsein verhält“ 48. Auch lassen sich in seiner ,Physik‘, soweit ich sehe, keine Hinweise darauf finden, daß er ,jetzt‘ in der Verwendung für einen kurzen Zeitraum in einem psychologischen Sinn verstanden wissen will. Seine Differenzierung von ,jetzt‘ ist in erster Linie semantischer Art - sie zielt auf das, was Ockham als usus loquendi bezeichnet. Auf Aristoteles kann Ockham sich also berufen, wenn er eine zweifache Bedeutung von ,nunc‘ unterscheidet, die erste für etwas Unteilbares (pro indivisibili ), einen Zeitpunkt, und die zweite für einen kurzen, der Gegenwart nahen Zeitraum (pro tempore parvo, propinquo praesenti ) 49. Ockham ist allerdings nicht der einzige Autor des 14. Jahrhunderts, der der traditionellen Expositionsweise von ,incipit ‘- und ,desinit ‘-Aussagen in der Weise begegnet, daß er sich von der permanentia/successiva-Unterscheidung distanziert und neben jener traditionellen eine zusätzliche, im weiten Sinn (large) verstandene Expositionsweise annimmt. Auch Albert von Sachsen unterscheidet eine enge und eine weite Expositionsweise und favorisiert die zweite, am allgemeinen Sprachgebrauch orientierte 50. Zugleich hält Albert für die Analyse von Sophismata an der uns von Petrus Hispanus’ ,Syncategoreumata‘ und dem Traktat ,De exponibilibus‘ her bekannten klassisch zu nennenden Expositionsweise fest, die er nicht nur wegen ihrer Gebräuchlichkeit unter den Gelehrten, sondern auch als präzises Analyseinstrument würdigt. In diesem Sinn listet Albert zunächst die von Petrus Hispanus her geläufigen Expositionen (1) bis (4) auf und stellt dann - ähnlich wie Wilhelm von Ockham - ein reduziertes Expositionsmodell vor, das die Differenzierung unterschiedlicher ,incipit ‘- und ,desinit ‘-Expositionen im Hinblick auf permanentia und successiva aufgibt. Schließlich geht er auf diejenige Auslegung von ,incipit ‘- und ,desinit ‘-Aussagen ein, die Ockham als eine large-Verwendung jener Verben einführt, und die auch Albert selbst ausdrücklich mit dem usus loquendi in Verbindung bringt. Sowohl für Vergangenheits- als auch für Zukunftsbezüge stellt die Sprache Adverbien zur Verfügung, die entweder kurze Zeiträume (,nuper‘, ,statim‘, ,modo‘, ,nunc‘) als auch lange Zeiträume (,diu‘, ,olim‘, ,quondam‘) bezeichnen. Von diesem Befund und der Feststellung, daß solche Adverbien in bestimmten Verben impliziert sind, geht Albert wiederum zu den Verben ,incipit ‘ und ,desinit ‘ über, die Adverbien implizieren, welche einen kurzen Zeitraum mitbezeichnen, und nennt Beispiele für entsprechende Expositionen: „Sortes incipit 48 49
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Aristoteles, Physik IV. 14, 223a15 sqq. Wilhelm von Ockham, Summa Logicae (nt. 14), II, 19; 311, 30 sq. Zu einer vergleichbaren Differenzierung von ,instans‘ cf. Nicolaus Oresme, Kommentar zur Physik (nt. 30), 389 sqq., 154 (Einleitung Kirschner). Den durch das erweiterte ,nunc‘ bezeichneten kurzen Zeitraum bei Ockham setzt Wilson, William Heytesbury (nt. 16), 41, mit dem ,specious present‘ bei William James gleich. Von einem ,trügerischen Jetzt‘ spricht James in Principles of Psychology, New YorkLondon 1890, 573, insofern, als wir üblicherweise ein instantanes Jetzt im Sinne eines unteilbaren, isolierten Zeitpunkts annehmen, obwohl wir es tatsächlich mit einem unscharf begrenzten kurzen Zeitraum und seinen inneren Bezügen auf Vergangenes und Zukünftiges zu tun haben. Albert von Sachsen, Sophismata, Paris 1502 [Nachdruck Hildesheim-New York 1975], Einleitung zu Sophismata CXV sqq., de incipit et desinit (ohne Seitenzählung).
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esse; id est Sortes modo est, et non est diu quod non erat “; „Sortes desinit esse; id est Sortes modo est, et statim post hoc non erit.“ Entsprechend ist aus dem allgemeinen Sprachgebrauch (ex communi modo et usu loquendi ) für ,incipere esse‘ die Paraphrase „sicut de novo esse vel noviter esse“ und für ,desinere esse‘ die Paraphrase ,cessare esse‘ oder ,statim post non esse‘ abzulesen. Albert betont im Gegensatz zu Ockham, daß er diese Expositionsweise als eigentliche (propria) ansieht, weil sie mit dem allgemeinen Sprachgebrauch übereinstimmt. Wird nun nach dieser Expositionsweise Zuständen oder Vorgängen des Anfangens und Aufhörens Dauer zugeschrieben, dann kann sich die Frage stellen, wie viel Zeit jeweils dafür erforderlich ist, daß etwas anfängt oder aufhört. Albert stellt hierzu fest, daß die Phase des Anfangens oder Aufhörens gemäß der Dauer und der Zeitspanne der Dinge (secundum durationem rerum et periodum) zu verstehen ist. Nach gängigem Sprachgebrauch sagen wir etwa, daß die Anfangsphase eines Gemeinwesens (civitas) länger dauert als die Anfangsphase einer Hausgemeinschaft (domus). Generell gilt, daß die Länge der Anfangsphasen von Dingen sich proportional zu der jeweiligen Dauer der Dinge (durationes rerum) verhält. Da die Lebenszeit eines Menschen länger ist als die eines Hundes, so ein weiteres Beispiel Alberts, befindet sich jener auch länger im Anfangsstadium seines Seins (diutius incipit esse). Damit unterscheidet Albert für ,incipit ‘- und ,desinit ‘-Aussagen drei mögliche Expositionsweisen. Gegen die dritte bringt er lediglich vor, daß sie ungebräuchlich (inusitata) sei und deshalb bei seiner nachfolgenden Analyse von Sophismata nicht zur Anwendung komme. Gegen die zweite Weise bringt er vor, daß sie dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht gerecht werde, da sie darauf hinauslaufe, das Anfangen oder Aufhören von etwas mit dem Sein respektive der Existenz einer Sache hinsichtlich ihrer Dauer gleichzusetzen. Denn läßt man die Unterscheidung von permanentia und successiva fallen, dann ist Sokrates nicht mehr als res permanens zu klassifizieren, sondern dem Bereich der entstehenden und vergehenden Dinge (res generabilia und corruptibilia) zuzurechnen, für die gilt, daß sie so lange sind, wie sie zu sein beginnen. So müßte die Aussage ,Sortes incipit esse‘ zugestanden werden, auch wenn Sokrates bereits hundert Jahre existiert habe und immer noch existierte; denn nach der Exposition müßte gelten, daß Sokrates jetzt existierte und unmittelbar davor (ante hoc) nicht, wobei man mit ,hoc‘ genau auf die Zeit zeigt, die er existierte, nämlich hundert Jahre. Nach allgemeinem Sprachgebrauch heißt ,anfangen zu sein‘ aber soviel wie ,von neuem sein‘, und ,von neuem sein‘ heißt eben nicht, lange gewesen zu sein. Entsprechendes zeigt sich bei der Exposition von ,desinit ‘, zum Beispiel anhand der Aussage ,Adam desinit esse‘, die hier durch „Adam nunc non est, et immediate ante hoc Adam erat “ zu exponieren wäre. Wenn man mit ,hoc‘ auf die (durch ,nunc‘ bezeichnete) gesamte Zeit zeigt, die Adam nicht existierte, nachdem er existiert hatte, wäre es nach Albert sogar auf ewig 51 wahr zu sagen, daß Adam aufhört
51
Die Ausgabe Paris 1502 (cf. nt. 50) enthält hier ,imperpetuum‘, aber ich nehme an, daß es richtig ,in perpetuum‘ heißen muß.
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zu sein, was wiederum dem usus loquendi widerspricht, wonach ,aufhören zu sein‘ so viel bedeutet wie ,von neuem nicht sein‘ oder ,vom Sein ablassen‘. Für die dann folgende Analyse von Sophismata greift Albert, wie gesagt, wieder auf die erstgenannte, etablierte Expositionsweise zurück. Wenn er aber anmerkt, daß wir uns mittels jener etablierten Expositionsweise präziser ausdrücken und uns unteilbare Zeitpunkte (instantia indivisibilia) vorstellen können, obwohl es solche tatsächlich gar nicht gebe, zeigt sich die Tragweite einer neuen, kritischen Auffassung, die wissenschaftlich exakten Annahmen letztlich nur noch den Status von Fiktionen zubilligt. Der Astronom stellt sich, so Albert, zahlreiche Kreisbahnen am Himmel vor, die es dort tatsächlich nicht gibt. Der Geometer stellt sich unteilbare Punkte vor, die ebenfalls nicht existieren. Die Annahme solcher fiktionaler Entitäten ermöglicht oder erleichtert den wissenschaftlichen Austausch, weshalb nach Albert die Annahme entsprechender puncta und instantia legitim ist. Wer aber von der tatsächlichen Existenz dieser puncta und instantia ausgeht, begeht den Fehler der antiqui, die verkannt hätten, daß man sich mit Termini für unteilbare Zeit- und Raumpunkte auf nur der Vorstellung nach (secundum imaginationem) existierende Entitäten beziehe 52. Angesichts der Zweitbedeutung von ,nunc‘, sowie der zusätzlichen, über Petrus Hispanus’ Modell hinausgehenden Expositionsweisen Ockhams und Alberts, kann man sagen, daß sich das Verb ,incipit ‘ (und analog ,desinit ‘), insofern es auf ein erweitertes Jetzt verweist, dem subsumieren läßt, was wir - hypothetisch - als Semantik der Dauer bezeichnet haben. Damit hat sich freilich unsere Untersuchungsperspektive von der Ausgangsfrage nach einer durch ,incipit ‘ und ,desinit ‘ eingerahmten Dauer auf die Frage nach einer durch jene Verben selbst mitbezeichneten Dauer verschoben. In dieser Hinsicht ist auf eine weitere Differenzierung zu verweisen, die sich in Wilhelm von Sherwoods ,Syncategoremata‘ findet. Sherwood referiert die Lehrmeinung, daß ,incipit ‘ und ,desinit ‘ manchmal die Existenz an einer zeitlichen Grenze (existentia in termino) benennen und manchmal den Weg zu dieser Grenze (via ad terminum) 53, was sich wiederum anhand des Beispiels ,Sortes incipit esse albus‘ erläutern läßt. Im ersten Fall bezeichnet die Aussage, daß sich Sokrates am Anfang des Weißseins befindet, und dies ist der Standardfall, der auch bei Petrus Hispanus vorausgesetzt ist. Im zweiten Fall bezeichnet die Aussage, daß Sokrates in Bewegung (in motu) und auf dem Weg zum Weißsein ist, was im Deutschen einfach mit ,Sokrates wird weiß‘ wiederzugeben wäre 54. Die Auslegung im Sinne des ,via ad terminum‘ bedeutet also 52
53
54
Zu dieser Kritik an der Annahme der Existenz von indivisibilia, die sich auch bei Autoren wie Wilhelm von Ockham, Thomas Bradwardine, William Heytesbury und Nicolaus Oresme findet, cf. Murdoch, The Analytic Character (nt. 16), 176-181. Wilhelm von Sherwood, Syncategoremata, ed. J. R. O’Donnell, in: Medieval Studies 3 (1941), 46-93, hier 76. Eine kritische Neuedition dieses Werks mit deutscher Übersetzung und Kommentar von Ch. Kann und R. Kirchhoff ist in Vorbereitung. Obwohl sich Sherwood hier nicht explizit auf Aristoteles bezieht, ist wiederum ein Rückgriff auf Physik V. 1, 224b13-16, anzunehmen, wo Aristoteles den Zustand des Weißseins von dem Prozeß des Weißwerdens unterscheidet.
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die Gleichsetzung von ,incipere‘ mit einem bestimmten Sinn von ,werden‘, und dieses Werden ist von zeitlicher Dauer. In der deutschen Grammatik unterscheidet man ,sein‘, ,bleiben‘ und ,werden‘ als sogenannte Kopulaverben 55, die stets unter Rückgriff auf die zeitliche Ausdehnung des durch sie Bezeichneten beschrieben werden und Dauer konnotieren. ,Sein‘ heißt hier ,eine Eigenschaft haben, sich in einem Zustand befinden‘; ,bleiben‘ heißt ,in einem Zustand verharren‘; und ,werden‘ heißt ,in einen Zustand gelangen‘, eben das, was Sherwood mit ,incipit ‘ im Sinne von ,via ad terminum‘ anspricht. Nicht nur der Anfangsmoment des Weißseins, auch das Stadium des Weißwerdens kann demnach durch ,incipit ‘ ausgedrückt werden. Alles spricht dafür, daß ,desinit ‘ analog verstanden werden kann. Daß diese Analogisierung von ,incipere‘ und dem Kopulaverb ,werden‘ den Intentionen der mittelalterlichen Logiker nicht widerspricht (während ,desinit ‘ offenbar keinem Kopulaverb oder ähnlichem korrespondiert), wird dadurch bestätigt, daß etwa Ockham dem Verb ,fit ‘ und weiteren von ,fieri ‘ abgeleiteten Formen (,factus est ‘, ,factum est ‘) ein auf die Behandlung von ,incipit ‘/,desinit ‘ unmittelbar folgendes kurzes Kapitel widmet, in dem er die exemplarische Aussage ,Sortes fit albus‘ durch „Sortes est albus, et non semper fuit albus“ exponiert 56. Die Auffassung, daß die Verben ,anfangen‘ und ,aufhören‘ eine eigene Durativität ausdrücken (können), ist allerdings nicht unstrittig. So reduziert im 20. Jahrhundert Gilbert Ryle ,anfangen‘ und ,aufhören‘, sowie zahlreiche andere Verben auf die Bezeichnung von Grenzzeitpunkten 57. Ryle beruft sich auf Aristoteles, ,Metaphysik‘ IX. 6, 7-10, und das Beispiel, daß man im gleichen Augenblick, in dem man sagen kann ,Ich sehe es‘ auch schon sagen könne ,Ich habe es gesehen‘, und generalisiert: „[…] es gibt viele Verben, zu deren Aufgaben es gehört, einen Endpunkt, das Erreichthaben von etwas zu markieren. Wenn man etwas gefunden hat, ist mit dem Suchen Schluß; wenn man einen Wettlauf gewinnt, ist der Wettlauf zuende. Andere Verben markieren einen Beginn: wenn man ein Schiff vom Stapel läßt, beginnt die Geschichte seiner Fahrten; wenn man ein College gründet, heißt das, daß es von nun an existiert.“ 58 Wie plausibel sind Ryles Beispiele? Bedeutet die Gründung eines College wirklich nur, daß es von nun an im Sinne eines exakt markierten Beginns existiert, und nicht etwa einen mehr oder weniger komplexen Vorgang, innerhalb dessen man den Beginn der Existenz tatsächlich nur konventionell oder symbolisch fixieren kann? Und sagt Ryle zu den Verben, die einen Endpunkt markieren, 55
56 57 58
Cf. P. Eisenberg, Grundriß der deutschen Grammatik, Band 2: Der Satz, Stuttgart-Weimar 1999. Die Kopulaverben nehmen eine Zwischenstellung zwischen den Hilfsverben und den Vollverben ein. Sie verbinden das Subjekt des Satzes mit einem substantivischen oder adjektivischen Prädikatsnomen in einer nicht flektierten Form. Zusammen mit diesem Prädikatsnomen bilden sie das Prädikat eines Satzes. Zum historischen Hintergrund und zur Bedeutungsanalyse der Kopulaverben cf. H. Stettberger, Zur Semantik der sogenannten Kopulaverben. Eine begriffsdefinitorische Herleitung und Untersuchung der Verben sein, werden und bleiben vom kognitiv-linguistischen Standpunkt aus, Frankfurt a. M. 1993. Wilhelm von Ockham, Summa Logicae (nt. 14), II, 20; 316 sq. G. Ryle, Begriffskonflikte, Göttingen 1970, 129 sqq. Op. cit., 129.
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nicht selbst, daß dieses zu ihren Aufgaben - im Plural - gehört, so daß jene Verben neben dem Markieren eines Endpunktes auch noch andere Aufgaben haben müssen? „Anfang und Ende“, fügt Ryle an, „können nun aber nicht selber wieder einen Anfang oder ein Ende, geschweige denn eine Mitte haben.“ Träfe dies zu, könnte man kaum sinnvoll von Anfangsphasen oder Endphasen von Vorgängen sprechen. Bemerkenswert an Ryles Auffassung ist jedenfalls, daß er die sogenannte negative Eigenschaft, nicht für Vorgänge oder Zustände zu stehen, über ,anfangen‘ und ,aufhören‘ hinaus in eine offene Aufzählung (,finden‘, ,sehen‘, ,entdecken‘) von sogenannten „Verben des Anfangens und Beendens“ münden läßt 59. Fälle, die Aristoteles und Wilhelm von Ockham von zwei Verwendungsweisen von ,nyn‘ respektive ,nunc‘ und William von Sherwood von ,incipit ‘ im Sinne einer via ad terminum reden läßt, bleiben damit ebenso wie die von Ockham und Albert vorgeschlagene zusätzliche Expositionsweise im Sinne eines usus loquendi bei Ryle unberücksichtigt.
V. Fazit Die mittelalterliche Logik gibt Hinweise darauf, daß mit der Aristotelesrezeption das sukzessive Zeitverständnis gegenüber dem kontinuierlichen Zeitverständnis dominiert. Die mittelalterlichen Logiker, die sich unter dem Einfluß der aristotelischen ,Physik‘ mit ,incipit ‘ und ,desinit ‘ beschäftigen, thematisieren nicht die Dauer oder sogar das Sein der Dauer, leisten aber hierzu einen indirekten Beitrag. Ein Beitrag zu dem Thema der Dauer ist bereits darin zu sehen, daß zahlreiche Autoren das Seiende in permanentia, Beständiges, und successiva, Abfolgendes, einteilen und die Bedeutungsunterschiede, die ,incipit ‘ und ,desinit ‘ in Verbindung mit diesen beiden Seinskategorien aufweisen, durch Exposition transparent machen. Unser heutiger Begriff der Dauer geht indessen nicht in der Dichotomie von Beständigem und Abfolgendem in dem Sinne auf, daß er dem einen oder anderen ausschließlich zuzuweisen wäre. Vielmehr könnten die beiden Seinskategorien auch als verschiedene Kategorien oder Typen von Dauerndem gelten. Die mittelalterliche Analyse, die ,incipit ‘ und ,desinit ‘ zwar komplementär betrachtet, aber doch jeweils separat analysiert, gelangt nicht zu einer Analyse von Anfangen und Aufhören als Einrahmung eines Zeitintervalls oder einer Dauer. Das durch ,incipit ‘/,desinit ‘ eingerahmte Zeitintervall, welches man als erstes mit dem Begriff der Dauer assoziieren mag, wird nicht eigens thematisiert, ist es doch für die semantische Analyse dieser Verben prima facie unerheblich. Analysiert werden ,incipit ‘ und ,desinit ‘ als Grenzzeitpunkte respektive Wechselpunkte von Zuständen oder Vorgängen, die als solche und in ihrer zeitlichen Extension zunächst nicht in den Blick geraten. Über das Sein der Dauer oder die Dauer des Seins - ist damit also wenig gesagt. Wenn allerdings Aussa59
Op. cit., 130 sq.
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gen mit ,incipit ‘ und ,desinit ‘ in der logischen Analyse durch Aussagen exponiert werden, die ,incipit ‘ und ,desinit ‘ in einfache Konjunktionen des Typs ,ist und war nicht‘, ,ist nicht und wird sein‘, ,ist und wird nicht sein‘ und ,ist nicht und war‘ aufgehen läßt, scheint die eigentliche Semantik dieser Verben aus dem Blick zu geraten. Ist ,aufhören zu tun‘, so kann man fragen, nicht etwas anderes, Weitergehendes als ,tun und künftig nicht tun‘, und ist ,anfangen zu tun‘ nicht etwas Zusätzliches, das den Übergang von ,nicht tun‘ zu ,tun‘ ausmacht 60? Muß nicht die zu der inchoativen (zum Beispiel von nun an sein) und der terminativen (zum Beispiel noch nicht respektive nicht mehr sein) Dimension hinzutretende durative Bedeutung berücksichtigt werden? Verlieren ,incipit ‘ und ,desinit ‘ dann, wenn man sie nur in der Sukzession von Sein und Nichtsein aufgehen läßt, nicht ihren lexikalischen Wert und werden semantisch neutralisiert? Dies wiederum paßt zu der scholastischen Klassifikation der beiden Verben als Synkategoremata, insofern ihnen dabei eine eigenständige Bezeichnungsfunktion abgesprochen wird. Andererseits wird das natürliche Bewußtsein Anfangen und Aufhören nicht ohne weiteres auf einen ausdehnungslosen Zeitpunkt reduzieren, zumindest dann nicht, wenn neben plötzlichen, momentanen Zustandswechseln auch allmähliche, graduelle Zustandswechsel in Betracht gezogen werden sollen. Und hier findet man wenigstens im Randbereich der logischen Analysen des 13. und 14. Jahrhunderts Ansätze und Beispiele, die dem Anfangen und Aufhören selbst eine eigene Ausdehnung im Sinne eines extensiven Jetzt-Begriffs oder einer Anfangs- und Aufhörensphase zuschreiben, die wir, den einschlägigen Terminus des Mittelalters aufnehmend, als Mitbezeichnung oder Konsignifikation der Dauer bezeichnen können. Bei Ockham und Albert tritt jene Konsignifikation der Dauer exemplarisch in den Vordergrund und wird durch eigene Expositionsweisen transparent gemacht. Dabei verdient der schon von Kretzmann als Ergebnis einer Ausdifferenzierung des ,logical approach‘ (im Gegensatz zum ,physical approach‘) der ,incipit ‘/,desinit ‘-Analyse registrierte ,ordinary language approach‘ 61 im 14. Jahrhundert besondere Beachtung. Indessen fällt auf, daß mit Ryle ein Hauptvertreter der ordinary-language-philosophy des 20. Jahrhunderts jene die Dauer betonende Auslegung von ,anfangen‘ und ,aufhören‘ zurückweist, die von Ockham und Albert speziell unter Hinweis auf den usus loquendi zur Geltung gebracht wird. Die Frage, ob bei Ryle hier ein Zweifel an der logisch zuverlässigen Darstellungsfunktion der Alltagssprache sichtbar wird, die ihn sogar mit der klassischen, anhand von Hispanus exemplarisch vorgestellten Expositionsweise von ,incipit ‘/,desinit ‘ sympathisieren lassen könnte, ist an dieser Stelle nicht zu entscheiden. Festzuhalten bleibt, daß es nicht zuletzt die zusätzlichen Expositionen von ,incipit ‘/,desinit ‘ im 14. Jahrhundert sind, die als Beitrag zu einer - zumindest unterschwellig vorhandenen - Semantik der Dauer in der mittelalterlichen Logik zur Geltung zu bringen sind 62. 60
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Dieser Gesichtspunkt scheint mir auch durch die Überlegung von Kretzmann, Incipit/Desinit (nt. 16), 131, nt. 1, gestützt, wonach ,desinit ‘ besser mit ,cease‘ als mit ,stop‘ wiederzugeben ist. Cf. nt. 16. Ich danke R. Kirchhoff und M. Helfberend für ihre kritische Durchsicht des Manuskripts.
,Lasting‘ in and Lasting of Speculative Grammar * Krystyna Krauze-B£achowicz (Warschau) I. T he Historical Context The set of concepts used by medieval speculative grammarians - both early pre-modists and later modists - was of mixed grammatical, philosophical and theological origins. Their influence on modist grammar until 1280 was examined by L. G. Kelly in his ,The Mirror of Grammar‘ 1. This influence can be seen in grammar in the discussion of the nature of lasting or duration that developed mainly with respect to the difference between noun and verb. In Donatus’ description of verb, its signification through tense (cum tempore) constitutes one of the main differences between noun and verb. According to Priscian a noun was supposed to denote substance and a verb to denote activity or passivity of the subject. In accordance with Priscianic tradition and thanks to Boethius’ interpretation of Aristotle, the image of a noun denoting a substance and a verb denoting an accident became very popular in the Middle Ages and was an incentive to produce the so called ,kinematic‘ model of noun-verb composition: a noun denoted stability that was specific of a substance, whereas a verb denoted movement occurring in the subject. Early 13th century theological discussions juxtaposed movement and stability by means of the terms actus and habitus. Substance needed to have certain permanentia and habitus to allow its act to come out of it (actus egredit ex substantia) 2. Thus, when explaining grammatical categories in terms of modi significandi, modists would say that a noun denoted per modum habitus et permanentis representing the referent as permanently durable. Modus actus of a verb was constructed in opposition to modus habitus et permanentis. Still, the concept of actus, considered by theologians, immediately revealed the division of acts into permanent ones, attributed to God, and those related to change - successio. With time, modus actus was replaced by modus motus et fluxus and modus fieri in speculative grammar. The change of terminology forced gram*
1
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I would like to express my gratitude to the Kosciuszko Foundation for the financial support and to Marek Gensler and Janice Bell for the linguistic revision of this paper. L. G. Kelly, The Mirror of Grammar: Theology, philosophy and the Modistae, AmsterdamPhiladelphia 2002, 67-77, 103-122. Cf. L. G. Kelly, Time and Verb in Grammatica Speculativa, in: S. Auroux [e. a.] (eds.), Mate´riaux pour une histoire des the´ories linguistiques. Essays toward a History of Linguistic Theories, Lille 1984, 173-180, here 177.
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Krystyna Krauze-Błachowicz
marians to explain the usage of verbs that should express movement and change in the case of such expressions as ,God is‘, ,God understands‘, etc. In addition to the juxtaposition of a noun and a verb, there was another opposition in grammar, the discussion of which involved some questions about the nature of time and duration. This was the opposition between tense and time, both expressed by the same term tempus in Latin. The aforementioned issues persisted not only in the modist grammar shortly after the period described by Kelly, e. g. in Thomas of Erfurt, but also in late post-modist grammatical works of the 15th century. To the latter period belong commentaries on Donatus, taking over the achievements of modist grammar and combining, at times, in astonishing fashion the tradition of modi significandi with equally strong conceptualist influences. Such commentaries were used, for instance, in 15th century Cracow, both in church schools and at the University.
II. Post-Modist Sources The texts considered in this paper are samples of this kind of literature and include primarily those known in Cracow: (1) The anonymous commentary on Donatus, Ms. Krako´w, Biblioteka Jagiellon´ska, BJ 2461 (ff. 1r-109r.), which combined conceptualism with modist grammar. The commentary was written in Leipzig in the period from 1445 to 1448. It appeared in Cracow at the end of the 1460s at the latest 3. (2) The lecture by Clement of Ge˛bice, held in 1464 in St. Stephen’s church school and preserved in Ms. Krako´w, Biblioteka Jagiellon´ska, BJ 1945 (ff. 198r-313r), which demonstrates many elements in common with the aforementioned text. Clement became Master of Arts at Cracow University in 1462 and for many years was a professor of the Faculty of Arts, Dean of the Faculty and member of Collegium Maius 4. (3) A commentary by John of Glogovia, who was a professor of the Faculty for many years. John enrolled at the University in 1462 and became its regent master in 1468. As part of his curriculum at the Faculty of Arts, he repeatedly commented on Donatus. The edition (the manuscripts have perished) of his commentary ,Declaratio Donati minoris‘, first published in 1500, when he was still lecturing, may be the effect of such teaching 5. John of Glogovia lectured in the years when the glory of Buridan’s tradition was waning and the realist standpoint in philosophy was becoming fashionable again. At the same time, this was the period when Cracow witnessed a resurgence of interest in the classical modist approach. In John’s 3 4
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Cf. M. Markowski, Logika (Dzieje filozofii s´redniowiecznej w Polsce I), Wrocław 1975, 125. Cf. M. Zwiercan, The Description of the Ms. BJ 1945, unpublished typescript, Krako´w 1969, 14-16. This commentary had numerous printed editions starting from 1500, cf. K. Estreicher, Bibliografia Polska XVII, Krako´w 1899, 175-177. In this paper I refer to the edition: Donati minoris de octo partibus orationis declaratio, Lipsiae 1506.
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work one can find traces of the impact of all three currents 6. (4) At the time John of Glogovia’s commentary was printed, Cracow had long known the commentary of Versor ,Super Donatum‘ (its oldest printed copy in Jagiellonian Library dates from 1494); accordingly, this work is also taken into consideration here 7. With these texts I would like to show how late followers of Modism known in Cracow coped (or failed to cope) with a couple of the aforementioned problems raised by their predecessors. I am going to follow the lines set out by L. G. Kelly for the earlier history of grammar.
III. T he Opposition between Noun and Verb The interpretation of the combination of a noun and a verb as a combination both of substance and accident and of substance and act, described by Kelly as a kinematic model sui generis, continued in Versor’s commentary and, probably following Versor, in John of Glogovia, too 8. However, both were much more attached to the set: substance and accident or subject and accident 9. In line with this model, an opposition occurred in the language of modes of signifying.
1. The Noun As I have mentioned, for modists, a noun signified usually through the mode of substance, habitus, rest and permanence. In the early 14th century, in a very consistent manner, Thomas of Erfurt supported the mode of entity (modus entis). Explaining his modus entis by means of older concepts, Thomas of Erfurt completely ignored modus quietis. As is known, of all modists, it was Thomas of Erfurt who exerted the greatest influence on grammarians in Northern and Central Europe. Most of the authors I have analysed, however, did not follow Thomas of Erfurt in this case. On the contrary, they supported modus habitus, 6
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For information about John of Glogovia, see: M. Zwiercan, Jan z Głogowa, in: Polski Słownik Biograficzny X, Krako´w 1963, 450-452. In this paper I use the copy: Ioannes Versor, Commentum super Donatum, Argentinae 1491. Ioannes Versor, Commentum (nt. 7), a3r: „Pars orationis […] significat […] aut substantiam aut actum egredientem a substantia“; Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), L5v: „Suppositum enim debet significare rem unde egreditur actus verbi “; [Anonymi Commentum super Donatum], Ms. Krako´w, Biblioteka Jagiellon´ska, BJ 2461, 76r: „Sed verbum autem per modum fluxus et fieri, id est significat per modum, ut ab aliquo ente fluit aliquis actus vel ut in aliqua entitate sit aliquis modus agendi.“ Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), B6r: „verbum significat accidens, nomen autem et pronomen substantiam, modo accidens est post substantiam, sicut effectus post suam causam“; C1v: „verbum significat accidens, nomen substantiam“; Versor, Commentum (nt. 7), d5r-d5v: „verbum autem significat accidens, quod nomen significat substantiam quae est per se stans et permanens, verbum autem significat accidens scilicet agere et pati.“
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quietis et permanentiae 10. It was only John of Glogovia, fascinated with Thomas of Erfurt, who used modus entis; and even he applied modus habitus and permanentiae more willingly 11.
2. The Verb The most specialised grammarians of the 13th century liked modus fluxus et fieri. Kelly claims that modists came to use modus fieri out of their predilection for abstraction. In particular, the two Danes, Martin and Boethius, used exclusively modus fieri in opposition to the permanence expressed by habitus and quies 12. Thomas of Erfurt persisted in using modus esse. Although John of Glogovia extensively cited Thomas, he used the terms modus fluxus et fieri, applying modus esse only once. Modus esse appears only once in the anonymous author of the commentary contained in Ms. BJ 2461 13.
IV. Semantics of Modes 1. Mode of Permanence and Permanent Being What was the semantic counterpart of modes? On the one hand, for grammarians to demonstrate the specificity of their own science was a point of honour. They strove to describe phenomena grammatice loquendo rather than realiter. On the other hand, wishing grammar to constitute a science in the proper sense, they claimed that their modes of signifying corresponded to the properties of the external world. Thus, its description sneaked into their theories of modes regardless of their doctrinal orientations and so the mode of permanence of nouns was seen as caused by the stability and permanence of substances. With respect to things signified (res significatae) by nouns, John of Glogovia said the same thing as the author of the commentary contained in Ms. BJ 2461; in any case, both used a cliche´ coming from a common stock of modistic quotations, which had originally been taken from Boethius of Dacia: „through mode of habit and rest or mode of permanence words signify things as they are 10
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Cf. Thomas of Erfurt, Grammatica speculativa, ed. and transl. G.L. Bursill-Hall, London 1972, 152: „Modus entis est modus habitus et permanentis“; Krako´w, BJ 2461 (nt. 8), 20v: „per modum habitus et quietis seu per modum permanentiae est significare rem ut in facto est “; Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), L5r: „nomen adiectivum significat substantiam et accidens per modum habitus et quietis et permanentiae“; L5v: „significare per modum entis est significare per modum habitus et permanentiae.“ Cf. Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), C3r, J2v. Cf. Kelly, Mirror (nt. 1), 112. Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), K6r: „sic in grammatica tempus consequitur modum esse, fluxus et succesionis“; Krako´w, BJ 2461 (nt. 8), 78r: „significant […] verbum per modum esse et fieri.“
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completed (in facto esse) and not in the state of becoming and flux.“ 14 The author of Ms. BJ 2461 described the properties of substance qua permanent being in the following way: „a permanent being is one whose parts are together at precisely and exactely the same time.“ 15 This way he explicitly introduced something that was only implicitly assumed in classical modistic grammars, i. e. a cliche´ known from commentaries on Book IV of the ,Physics‘. Looking at the commentary on the ,Physics‘ by John of Glogovia, we can find the same definition of a permanent being as above. In addition, it contains an indication that a subject is such a being (subiectum communiter dicimus ens permanens est, cui non repugnat habere omnes partes suas simul) and the statement that the being in question is permanent, not because it always lasts in time, but rather because its permanence consists in its integrity 16. John of Glogovia refers to this statement in his grammar 17. 2. Modus essentialis fluxus et fieri and its Semantic Equivalent Anonymous BJ 2461 and John of Glogovia say in their grammar and ,Physics‘ commentary, respectively, that a thing signified by a verb is a thing in fluxu et successione, i. e. a successive entity, parts of which succeed one another at very short time intervals 18. 14
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Krako´w, BJ 2461 (nt. 8), 20v: „per modum habitus et quietis seu per modum permanentiae est significare rem ut in facto est et non in fieri et fluxu“ (all translations of Latin texts are by the author except for quotations from Thomas of Erfurt’s Grammatica (nt. 10) translated by G. L. Bursill-Hall). Cf. Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), C3r: „significare autem per modum habitus et permanentiae est significare rem in facto esse et non in fieri “; Boethius Dacus, Modi Significandi sive Quaestiones super Priscianum Maiorem, eds. J. Pinborg/H. Roos/ P. J. Jensen (Corpus Philosophorum Danicorum Medii Aevi 4), Hauniae 1969, 100, 36-37: „modus significandi per modum habitus et ut in facto esse sive per modum permanentiae idem sunt.“ Krako´w, BJ 2461 (nt. 8), 19r: „Pro replicatione nota, quod esse est duplex, scilicet esse succesivum et esse permanens. Esse permanens est cuius partes sunt simul in eodem tempore praecise et adequate, ut homo, lapis, lignum. Sed esse successivum est cuius una pars alteri succedit sine magno intervallo temporis.“ Ioannes de Glogovia, Quaestiones in Physicam, Ms. Krako´w, Biblioteka Jagiellon´ska, BJ 2017, 164v: „Sunt entia quae sunt entia permanentia et sunt entia successiva. Entia permanentia sunt quae requiruntur simultaneitatem partium, si partes habent, ut subiectum communiter dicimus ens permanens est, cui non repugnat habere omnes partes suas simul. Ens non dicitur permanens in proposito, quia semper manet, sed dicitur permanens, quia ei non repugnat partes suas habere simul.“ Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), K6v: „Modo rei successivae repugnat habere omnes partes suas simul. Et sic, quando arguitur: ,illud non est cuius partes non sunt, sed partes temporis non sunt ‘, maior est vera de rebus permanentibus et non successivis.“ Krako´w, BJ 2461 (nt. 8), 76r: „Antiqui posuerunt differentiam inter nomen et verbum dicentes, quod nomen significat per modum habitus, verbum vere per modum fluxus et successionis. Quod si bene intelligitur, non est falsum“; 19r: „esse successivum est cuius una pars alteri succedit sine magno intervallo temporis“; Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), J4r: „Verbum enim significat significatum suum sub fluxu et succesione, ut patet ex eius modo significandi materiali “; id., Quaestiones (nt. 16): „Ens autem successivum est, quod non requirit simultatem partium, sed requirit eas quodam ordine, sic quod unum debet succedere alio, quia esse successivorum est ipsorum fieri. Quando enim sunt, tunc sunt. Postquam autem completa sunt, non habent esse.“
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3. Modus accidentalis temporis 3.1. Tense and Time The essential mode of a verb’s signifying was to reflect motion and change. Consequently, „as in the real world time (tempus) accompanies the motion of the heavens (motus coeli ), i. e., measure accompanies the thing measured and a property occurs with the subject, so tense (tempus) in grammar follows its essential modus of being, flux and succession“ 19. This is how John of Glogovia developed Thomas of Erfurt’s statement 20. Although the term tempus stands for both tense and time, grammarians stressed the difference between the two meanings. Versor said that the tense of grammarians was different from the time of logicians and natural philosophers, taking up a motif appearing before in Boethius of Dacia and Michael of Marbais 21. According to Versor tense was neither a measure of the age of the world, which was a view of time put forth by natural philosophers, nor a form of continuous quantity (species continuae quantitatis), as it was seen by logicians 22. This motif was taken up by John of Glogovia, though in a much simplified way 23. Tense is a grammatical property of a verb, an accidental mode of signification of a verb which accompanies its essential mode. Through it, a verb does not signify real time (tempus reale, tempus existens realiter extra animam), but signifies its object under the difference of real time 24. 19
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Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), K6r: „Sicut in natura tempus consequitur motum coeli sicut mensura mensuratum et passio subiectum, sic in grammatica tempus consequitur modum esse, fluxus et succesionis.“ Cf. Thomas of Erfurt, Grammatica (nt. 10): 236-238: „sicut in re extra, tempus consequitur ipsum modum esse, sicut mensura mensuratum; sic modus temporis secundum esse rationis consequitur modum esse, qui est modus fluxus et successionis.“ See Michael de Marbasio, Summa de modis significandi, ed. L. G. Kelly, Stuttgart-Bad Canstatt 1995, 94-95: „[…] duplex est tempus. Est enim quoddam tempus *quod est continua quantitas. Et tale tempus+ est mensura motus per se et quietis per accidens, ut patet quarto Physicorum. […] *Et huiusmodi tempus non est de consideratione grammatici, sed potius philosophi naturalis.+ Aliud autem est tempus quod est quidam modus significandi datus alicui voci ad designandum diversas partes temporis realis“; Boethius Dacus, Modi (nt. 14), 200: „[…] licet tempus consideretur a logico, tamen nihil prohibet ipsum considerari a grammatico et esse modum accidentalem verbi, quia tempus, quod est quantitas continua, quod consideratur a logico uno modo et a philosopho naturali alio modo, et tempus, quod est modus significandi accidentalis verbi, quod consideratur a grammatico, hoc est tempus aequivoce dictum“; cf. Kelly, Time and Verb (nt. 2), 173. Ioannes Versor, Commentum (nt. 7), e6v: „Alio modo sic diffinitur tempus: est spatium, quod cum mundo incepit et cum mundo finietur, si mundo sit daturus finis. Et adhuc capitur duobus modis. Uno modo, quantum ad esse reale, scilicet ut est passio eius realis et hoc modo considerare de tempore pertinet ad physicum. Alio modo, quantum ad esse dicibile sive praedicabile et hoc modo de tempore determinare pertinet ad logicum. Nam hoc modo tempus est species quantitatis continuae.“ Cf. Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), K6v: „considerare tempus quoad esse pertinet ad naturalem philosophum, sed quoad significare vel consignificare pertinet ad grammaticum.“ Cf. Krako´w, BJ 2461 (nt 8), 88r: „tempus est proprietas accidentaliter verbo conveniens prout habet modum significandi sub aliqua differentia temporis realis extra animam existentis“; Clemens de Gambycze, [Commentum in Donatum minorem], Ms. Krako´w, Biblioteka Jagiellon´ska, BJ 1945, 276r: „tempus est proprietas significandi suam rem sub aliqua differentia temporis realiter extra animam“; Ioannes Versor, Commentum (nt. 7), e6r: „Et sic tempus de quo est hic ad propositum est modus significandi datus verbo“;
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3.2. Semantic Aspects of Division of Tenses Theoretical statements about the separateness of grammar from other sciences did not prevent grammarians from speaking of division of tenses by analogy with the divisions of real time. This was the practice of classical modists, and the authors considered here did not depart from it, either, and this even includes the conceptualist author of Ms. BJ 2461. They wrote that three grammatical tenses, the present, the past and the future, were three different modes of signifying, but as such they depended on the distinction occurring within the real time existing outside of the mind 25. 3.2.1. The Present For centuries the duration of the present posed the greatest difficulty. We may guess that the works of old modists mirrored two Aristotelian senses of ,now‘, mentioned in ,Physics‘ IV, 222a. The concept of indivisible instant (instans) emerged in the language of the 13th-century grammarians alongside the concept of ordinary present tense, i. e., the present of action (praesens actionis) of Nicolas of Paris, which just as the other two tenses, the future and the past, corresponded to divisible time 26. The three tenses fall within the concept of tempus in communi. The present tense understood as tempus in communi seems to take root in Albert the Great’s concept of nunc acceptum vulgariter 27. In the 15th century, a similar understanding can be seen in Versor, who spoke of tempus vulgaris (ordinary time): „We understand here the present time as close and direct and ordinary time. The present is not taken here to be an indivisible ,now‘, as it would thereby be neither time, nor a part of time.“ 28 It was a very useful concept for one who wanted to keep all the tenses within the frame of the
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Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), K6r: „Tempus […] est proprietas verbi attributa verbo ea ratione, qua ipsum significat significatum suum sub aliqua differentia temporis realis“; ibid.: „Auctor modorum significandi sic definitur tempus: tempus est modus significandi accidentalis verbi quo mediante verbum circa rem modum temporis consignificat.“ Krako´w, BJ 2461 (nt 8), 88r: „tempus verbi est verbum significans suum significatum sub aliqua differentia temporis realis extra animam existentis et sunt tres differentiae temporis: praesens praeteritum et futurum“; Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), K6r: „Sequitur corrolarie primo quod recte tempus dicitur esse accidens verbi. Patet, quod verbum significat actionem vel passionem, sed omnis actio et passio mensurant tempore, ut dicitur IV Physicorum. Sequitur corrollarie secundo, quod tempus in verbo tantum est triplex. Patet: verbum significat actionem vel passionem, sed omnis actio aut habet fieri in tempore praesenti, aut facta est in praeterito, aut erit in futuro.“ Cf. Kelly, Mirror (nt. 1), 120. Cf. ibid., 119. Ioannes Versor, Commentum (nt. 7), e6r: „Hic autem capitur praesens tempus pro tempore immediato et propinquo et vulgari et non accipitur praesens tempus pro nunc indivisibili, quia hoc modo non esset tempus nec etiam pars temporis, sed aliquid ipsius ut principium et finis ipsius et recapitulatio partium eius“; e6v: „Contra praedicta arguitur primo sic: de tempore nihil habemus nisi nunc, quia quod fuit non est, neque etiam quod erit. Sed nunc non est tempus, sed indivisibile quoddam, ergo nullus est tempus et per praesens verbo non
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mode of flux and change. But when one started asking whether the present tense can be divided into subordinate parts, the negative answer was supported with the argument about the indivisibility of the present 29. Such a two-sided attitude of Versor allows one to understand why, in a similar context, John of Glogovia offers the following comment: „the present time is divisible per se (secundum se), since it is continuous; still, it is considered as if it were indivisible.“ 30 Old modist texts also echoed theological solutions that introduced two types of nunc: nunc temporis, the flowing present, and nunc aeternitatis, which was the permanent present 31. In their considerations, the modists dealt with an old problem concerning the type of duration of the present tense applied to such statements as ,God is‘, ,God understands‘, or ,God creates‘. The answer had been given by Thomas of Erfurt - the principal authority for 15th century authors: „It must be said that although the being of God and of intelligences may not be successive in terms of the succession of time, they are however successive in terms of the succession of eternity; and although eternity may, according to Boethius, be a total simultaneity and a perfect possession, yet because we understand from the standpoint of lesser beings, therefore, in this instance we imagine succession and the duration of eternity in terms of different spaces of time.“ 32 Our authors did not follow Thomas’ solutions slavishly, however. It should be borne in mind that for them the discussion unfolds in the context, in which the ,mode of signifying‘ of time explains Donatus’ original statement „verbum significat cum tempore“. Thus, it may be argued that if a verb signifies cum tempore, it signifies its object as a being in tempore. With regard to verbs relating to God, the discussion by the authors in question focused on the quotation from Book IV, 221b of Aristotle’s ,Physics‘: „things which are always are not in time“ (sempiterna non sunt in tempore). Clement of Ge˛bice argued that when a grammarian spoke of time he referred to the duration of things (duratio rei ), without paying attention to whether the subject of such duration was in motion or not. Understood in this way, ,God is‘ is true, since it means that God has duration (habet durationem). As Clement said, Aristotle had something else in mind in Book IV of his ,Physics‘: he meant proper time, i. e. time as a measure. Thus, for Aristotle the sentence ,God is‘ would have to be false, for it would state that God is merely in time, taken commensurately (commensurative) 33.
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accidit tempus. […] Ad argumenta in oppositum. Ad primum dicitur, quod in permanentia de tempore nihil habemus nisi nunc. Tamen in successione habemus tempus praesens, preteritum et futurum, et hoc sufficit ad esse temporis quod est ens successivum et non permanens.“ Cf. ibid.: „Praesens autem est indivisibile ideo nec praesens nec futurum potest dividi sicut praeteritum.“ Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), K6r: „Sequitur corrolarie tertio, quod praesens tempus non dividitur propter eius continuitatem. Licet enim tempus praesens secundum se est divisibile, quia est continuum, tamen consideratur indivisibiliter. Et sic non dividitur propter eius continuitatem.“ Cf. Kelly, Mirror (nt. 1), 119. Thomas of Erfurt, Grammatica (nt. 10), 211. Clemens de Gambycze, Commentum (nt. 24), 260r: „verbum non significat cum tempore. Argumentum probatur, quia si significaret cum tempore, tunc illa esset falsa ,Deus est ‘. Argumentum probatur, quia si*c+
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John of Glogovia, following Clement’s opinion as well as contemporary commentaries on the ,Physics‘, asserted that God is not in time commensurative, but persists in it coexistenter, i. e., as long as time is 34. Such a solution permits true statements about God in the present tense. Within the scope of a commentary on the ,Physics‘, such an argument was rather weak 35. In grammar, it had to suffice. Apart from ,God is‘, John of Glogovia introduced the problem of ,God creates‘, which he solved using the method of Thomas of Erfurt, that is by saying that we imagine God’s action as successive 36.
3.2.2. The Future Thomas of Erfurt focused only on three divisions of tenses and time, without going into any further details. However, the grammatical tradition of Donatus and Priscian made it necessary for his followers to consider five tenses, as a result of the triple division of the past tense. The latter division gave rise to the question as to why the future tense could not be divided in the same way as the past tense was. The original answer came from Priscian, who said that the future is uncertain 37. Of the older modists, it was only Michael of Marbais who addressed the issue of uncertainty of the future, but only in the context of cogni-
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significaret, quod Deus esset in praesenti tempore, sed hoc est falsum. Probatur, quia Deus omnino *non+ est in tempore igitur non est in praesenti tempore. Argumentum probatur, quia nullum aeternum est in tempore, sed Deus est aeternus, igitur Deus non est in tempore. Maior probatur per Philosophum quarto Physicorum dicentem aeterna et sempiterna non esse in tempore. […] Nota, de primo intelligitur, quod Philosophus quarto Physicorum aliter sumit tempus, quam ponitur in littera, quia tempus in proposito non est aliud nisi duratio rei non curando, an sit cum motu vel sine motu. Et sic illa est vera ,Deus est ‘, quia significat, quod Deus habet durationem. Sed Philosophus capit tempus proprie scilicet pro mensura motus. Et secundum hoc, illa propositio est falsa, quia tantum predicat Deus est in praesenti tempore commensurative, licet bene sit vera capiendo tempus communiter, ut dictum est.“ Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), J3v: „Arguitur quarto: verbum non significat cum tempore. Probatur in ista propositione ,Deus est ‘. Probatur, quia si significaret cum tempore, tunc significaret Deum esse in praesenti tempore. Sed hoc est falsum. Probatur: aeterna non sunt in tempore, sed Deus est aeternus, ergo. Maior est Aristotelis IV Physicorum. Tempus enim est mensura rerum corruptibilium. Minor est nota. Dico, quod licet aeterna non sunt in tempore commensurative, tamen coexistenter, quod sunt quando tempus est.“ Cf. Benedictus Hesse, Quaestiones super octo libros Physicorum Aristotelis, ed. S. Wielgus, Wrocław 1984, 482: „Item sempiterna non sunt in tempore coexistenter. Argumentum probatur: Si essent in tempore coexistenter, maxime quod essent, quando tempus esset.“ Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), J3v: „Arguitur octavo: Aliquod est verbum, quod non significat cum tempore. Probatur de isto verbo ,creo‘. Creatio enim fit in instanti. Probatur: creare soli Deo convenit. Deus autem agit in instanti. Actiones enim divinae non mensurantur tempore, ut dicitur IV Physicorum. Dico: licet creatio secundum se non fit in tempore, sed quoad modum apprehendendi nostrum nos imaginamur, quod fiat successive et sub tempore.“ Priscianus, Institutionum grammaticarum libri I-XII, ed. M. Hertz, in: Grammatici Latini, vol. 2, ed. H. Keil, Leipzig 1855, 405: „Romani considerata futuri natura, quae omnino incerta est, simplici in eo voce utuntur nec finiunt spatium futuri.“
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tive order 38. In contrast to the present and the past: „We have no determined truth as to the future contingents, as the Philosopher claimed in his book ,On interpretation‘.“ 39 However, Michael took no position on the possibility of there being several future tenses in grammar. By contrast, the authors discussed here became involved in a dispute on this subject. The anonymous author of BJ 2461 claimed that nothing prevented one from speaking of the nearer and further, perfect and imperfect future tenses. When grammarians refused to do so, they were only following their whims, or an entrenched custom (beneplacitum grammaticorum) 40. John Versor and John of Glogovia exhibited a traditional view here: the future could not be divided, because of uncertainty, of which Aristotle speaks in the aforementioned place in his ,On interpretation‘ 41.
3.2.3. The Past The case of the past is different. All grammarians, both older and later, would say that we are certain about it. Due to this certainty, it was possible for them to speak of it in terms of a greater or lesser distance from the present and in terms of aspect. In modist grammars by Boethius of Dacia and Michael of Marbais, a „theologian’s sense that tenses could represent actions in various stages of completion becomes a play of potency and act“ 42. According to Michael of Marbais, praeteritum imperfectum was a tense under which the ,act of a verb‘ came about only in part, while its second part was yet to happen, i. e. it still persisted. Praeteritum perfectum was a tense of a verb the act of which had taken place. Such a past was not very much distant from the present. Praeteritum plusquamperfectum of a verb was an accomplished act, most distant from the present. An important element of the description was the remark that the name plus-quam-perfectum does not mean that an act earlier than the praeteritum perfectum 38 39 40
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Cf. Kelly, Mirror (nt. 1), 121. Michael de Marbasio, Summa (nt. 21), 97; cf. Aristoteles, De interpretatione 2, 16b20-25. Krako´w, BJ 2461 (nt. 3), 88v: „secundum artem bene possunt esse plura tempora quam tria, quia […] sicut praeteritum est divisibile […] et sic etiam futurum potest dividi in futurum perfectum et imperfectum etc. […] ita quod esset futurum, quod non multum distaret a praesenti nunc, et illud diceremus futurum imperfectum, et aliquod, quod plus distaret a praesenti nunc, et tale vocaremus futurum perfectum, et quod nunc maxime distaret a praesenti nunc, hoc diceremus futurum plusquamperfectum. Sed tamen usus non admittit talia triplicia futura cuius rationem quidam assignant istam, quia tempus futurum est incertum, quemadmodum etiam patet per Philosophum primo Perihermeniarum dicentem: ,de futuris contingentibus non est determinata veritas‘. […] Sed tamen illa responsio videtur non valere, quia quamvis nemo scit alia futura, tamen contingit concipere et ergo alii dicunt, quod illius non est vera ratio nisi beneplacitum grammaticorum.“ Ioannes Versor, Commentum (nt. 7), e6v: „Similiter etiam omne futurum est incertum et indeterminatum, quia est remotum quoad humanam naturam sive cognitionem, ut dicitur primo Perihermeneias: ,De contingentibus non est determinata veritas‘“; Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), K6r: „Sequitur corrolarie quarto, quod futurum tempus non dividitur propter eius incertitudinem. Dicitur enim primo Perihermeneiarum: ,De futuris contingentibus non est determinata veritas‘.“ Kelly, Mirror (nt. 1), 121.
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act is more accomplished than the latter. In fact, there can be no grades of accomplishment 43. Compared with the refinement of Michael’s distinctions, the description of the past by 15th-century grammarians is quite banal. Versor came closest to the description given above 44. The conceptualist text from Ms. BJ 2461 classified past tenses only in terms of the distance from the present tense and mistakenly described praeteritum imperfectum as corresponding to the past least distant from the present 45. This mistake was repeated by John of Glogovia. He, in turn, paid more attention to aspect; he did so, however, so ineptly that with regard to plusquamperfectum he wrote that a verb in the pluperfect tense signified its significatum as more perfectly accomplished and most distant from the present: „significat significatum suum plus quam perfecte completum remotissime distans a praesenti.“ 46 Indeed, it is a pity that the scholar had not read the Summa by Michael of Marbais, already available at Cracow University in his time.
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Michael de Marbasio, Summa (nt. 21), 95-96: „Vide etiam, quod realiter loquendo triplex est praeteritio. Quaedam enim est qua actus dicitur praeteritus imperfecte, tamen ita quod una pars eius praeterit, et alia est fienda. Et talis actus significatur per praeteritum imperfectum. Alia est praeteritio, qua actus praeteritus dicitur et completus, ita tamen quod ista praeteritio non multum remota est a praesenti; et talis habet significari per praeteritum perfectum. Nam alia est praeteritio, qua actus dicitur praeteritus et completus perfecte, ita quod ista praeteritio multum remota est a praesenti. Et talis habet significari per praeteritum plusquamperfectum eo quod significat actum magis perfectum quam praeteritum perfectum, - illi enim quod est perfectum in termino perfectionis non est possibilis aliqua additio; […] - sed dicitur praeteritum plusquamperfectum quia significat actum completum valde remotum a praesenti “; cf. Boethius Dacus, Modi (nt. 14), 198-199: „Contingit etiam actum verbi esse praeteritum perfecte ita quod quaelibet pars eius perfecta est et nulla pars eius est fienda, ita tamen quod praeteritio huius multum remota est a praesenti; et sic actus verbi designatur per praeteritum plusquamperfectum; non quia aliquid esse possit ultra perfectum - perfectum enim est in termino, et ultra terminum nihil esse potest […] propter hoc dicitur praeteritum plusquamperfectum, quia esse praeteritum et habere praeteritionem multum distantem a praesenti, plus est quam habere perfectionem in suis partibus et praeteritionem simpliciter et sine omni additione.“ Ioannes Versor, Commentum (nt. 7), e6v: „Unde praeteritum imperfectum est quod significat actum suum certum et imperfectum, ut patet in hac oratione: ,Ego scribebam dummodo vocasti me‘. Ille actus: scribere, est certus et nondum perfectus. Sed praeteritum perfectum significat rem suam sive actum ex toto perfectum sive peractum, quod tamen non multum distat a praesenti tempore. Praeteritum vero plusquamperfectum est quod significat actum suum perfectum complete praeteritum et multum distat a praesenti tempore. […] Praeteritum […] est tripliciter, quia vel talis actus est inceptus et nondum finitus, et sic praeteritum imperfectum, vel est penitus perfectus et non multum distat a praesenti et sic est praeteritum perfectum, vel est multum distans a praesenti et sic est praeteritum plusquamperfectum.“ Krako´w, BJ 2461 (nt 8), 88v: „Praeteritum imperfectum est verbum significans suum significatum sub ratione temporis praeteriti non maxime distantis a praesenti nunc. Sed praeteritum perfectum est verbum significans sub differentia temporis praeteriti medium modum distantis a tempore praesenti. Sed praeteritum plusquamperfectum est verbum significans suum significatum sub differentia temporis praeteriti valde remote distantis a praesenti.“ Ioannes de Glogovia, Declaratio (nt. 5), K6r: „Illud verbum dicit praeteriti imperfecti temporis, quod significat significatum suum verbale prout est incomplete perfectum modicum distans a praesenti, ut ,legebam‘. Sed illud dicitur praeteriti plusquamperfecti temporis, quod significat significatum suum, ut est plus quam perfecte completum remotissime distans a praesenti, ut ,legeram‘. Illud autem verbum dicitur praeteriti perfecti temporis quod significat significatum suum ut est perfecte completum remote distans a praesenti, ut ,legi ‘.“
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Krystyna Krauze-Błachowicz
V. Conclusion This short survey of problems is a contribution to the history of the long lasting grammatical debate on the modes of signifying the duration of being as well as a contribution to the history of teaching of Grammar in Cracow. It can be seen that the authors of the 15th century texts known in Cracow used the mode of permanence and mode of flux to express properties of reality cosignified by nouns and verbs respectively. These authors were definitely more explicit in justifying their opinions concerning the permanence of being than the old modists, whose implicit assumptions have been discovered thanks to the invaluable research of L. G. Kelly. Direct sources for the anonymous BJ 2461 author, Clement of Ge˛bice and John of Glogovia are not theological but philosophical, and can be identified as contemporary commentaries on the fourth book of the ,Physics‘, notwithstanding the fact that commentaries on the ,Physics‘ themselves were influenced by theological considerations. John of Glogovia’s method seems to follow the pattern of Anonymous BJ 2461 and Clement of Ge˛bice, or of some other texts belonging to the same tradition. Like John Versor, John of Glogovia was attached to the concept of divisibility of the present, which is co-signified by verbs in present tense. According to Clement of Ge˛bice, all tenses including present tense signified duration. With such concepts of the present tense, they explained how present tensed verbs applied to timeless God. Clement of Ge˛bice’s solution is that such a verb expresses timeless duration. John of Glogovia gives two solutions: a) one originating in the commentaries on the ,Physics‘ b) and one following Thomas of Erfurt. Thomas of Erfurt was very parsimonious concerning the division of tenses. BJ 2461 preserved a more exhaustive exposition of earlier modists but supplied a very simplified interpretation of the problem. The anonymous commentary contained in Ms. BJ 2461 or some other text of a similar academic tradition might well have been a source for the two Polish scholars. It can be seen that Thomas of Erfurt, regardless of his unquestionable authority for all the authors mentioned, did not exert such an influence as has been usually claimed, at least in some issues. There were some other modist patterns that endured through the 14th and 15th centuries. And in case of John of Glogovia they turned out to be stronger than the actual writings of Thomas of Erfurt or Michael of Marbais propagated in Cracow in the fourth quarter of the 15th century.
Walter Burley, Paulus Venetus und die Tradition ,De instanti‘ (mit dem ,Tractatus de instanti‘ des Paulus Venetus nach Hs. Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, II. IV. 553, foll. 68va-69va ) Daniel A. Di Liscia (München) Einführ ung Die Analyse des ersten und letzten Augenblickes (de primo et ultimo instanti ) gehört zu denjenigen Themenkreisen, die uns im Spätmittelalter sowohl im Rahmen der Logik als auch der Naturphilosophie sehr häufig begegnen. Es geht kurz gesagt - um die Grenze eines zeitlichen Kontinuums, das heißt um das Beginnen und um das Enden der Zeit oder eines Vorgangs, der direkt oder stillschweigend mit der Zeit zusammenhängt. Hier sind der Vorstellungskraft kaum Grenzen gesetzt worden. Für die Scholastik ist darunter genauso die Wahrheit einer Aussage zu berücksichtigen wie der Anfang der Welt. Eines meiner Lieblingsbeispiele - eines dieser Beispiele, die den praktisch orientierten Humanisten aus dem Häuschen bringen könnten - gibt Paulus Venetus, um den es in dem folgenden Beitrag geht, in seiner ,Summa philosophiae naturalis‘: „[…] und ich nehme an, daß Sokrates vom Turm herunterfällt und daß er in der Mitte des Weges zu sein aufhört. Dann beginnt er in diesem Augenblick, eine Leiche zu sein, die sich bewegt und früher nicht bewegte.“ 1 Dieses Beispiel wird gegen eine Behauptung angeführt, die sich nicht mehr so trivial anhört: „Alles, was sich bewegt, hat sich früher bewegt und wird sich später bewegen.“ 2 Ohne Paulus’ Analyse an dieser Stelle weiter verfolgen zu müssen, ist es deutlich genug, daß hier ein weites Feld zur Spekulation geboten wird, in dem die aristotelische Bewegungs- und Zeittheorie und deren Kern: die Theorie des Kontinuums, im Mittelpunkt stehen. Der Ruf von Paulus Venetus, oder Paolo Nicoletto († 1429), in der spätscholastischen Philosophie scheint kaum mit dem irgendeines anderen Autors der Zeit vergleichbar zu sein. Nicht nur in Italien, sondern auch in Frankreich und Spanien, im Kreis der ,Pariser Terministen‘ von John Maior bis hin zu Domingo
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Paulus Venetus, Summa philosophie naturalis, Venedig 1503 [Nachdruck Hildesheim-New York 1974], Liber Physicorum, c. 38, fol. 21rb: „[…] et pono quod Sortes cadat de turri et quod in medio vie desinat esse. Tunc in instanti illo incipit esse cadaver quod movetur et prius non movebatur.“ Ibid.: „Tertia conclusio. Omne quod movetur prius movebatur et posterius movebitur.“
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Daniel A. Di Liscia
de Soto, und noch später in der Aristoteleskommentierung des 17. Jahrhunderts, fanden seine Ansichten Achtung und Anerkennung 3. Paulus Venetus’ Beitrag im Bereich der Theorie der Zeitgrenzen, wie originell er auch immer sein mag, hat auch ein ,Früher‘ und ein ,Später‘. Dank der Arbeit von Curtis Wilson und anderen sind uns die Hauptmomente dieser geistesgeschichtlichen Entwicklung verhältnismäßig gut bekannt. Wir wissen, daß die Beschäftigung mit dieser Thematik schon im 13. Jahrhundert begonnen hat, daß sie sich im Kontext der Oxford-Calculatores des 14. Jahrhunderts intensiviert hat und, auf diesem Boden fußend, große Verbreitung in der Universitätsausbildung des 15. und noch zum Teil des 16. Jahrhunderts erfahren hat 4. Die zwei grundlegenden Werke in diesem Kontext, die die größte Tragweite hatten und zum ,Kern‘ der ersten Oxfordtradition gehörten, sind die ,Quaestio de primo et ultimo instanti‘ von Walter Burley (= QdI ) und der vierte Teil der ,Regulae solvendi sophismata‘, der allerdings ,De incipit et desinit‘ betitelt ist, von William Heytesbury. Andere Texte, wie zum Beispiel die verschiedenen SophismataSammlungen, insbesondere die von Richard Kilvington und die von Heytesbury selbst, haben sicherlich zu einer weiten Verbreitung dieser Thematik beigetragen. Als Paulus Venetus diese Denkrichtung in Oxford direkt kennenlernen konnte, war diese nicht mehr neu: eine Verschulung scheint schon eingesetzt zu haben, und zwar mit einigen der typischen Merkmale von Wiederholung, Mangel an Kreativität und an innerer Kritik 5. Die folgende Arbeit ist Paulus Venetus’ Aufnahme der Thematik des ersten und letzten Augenblicks gewidmet. Der Umfang seiner Schriften und die Häufigkeit, mit der er sich mit dieser Fragen beschäftigte, zwingen mich, auf eine allgemeine Darstellung zu verzichten und mich auf einen Text, der in der Forschung bisher kaum berücksichtigt wurde, zu beschränken 6. Im Folgenden werde ich mich vor allem auf eine kurze Abhandlung ,De primo et ultimo instanti‘ beziehen, die bisher nur in einer Handschrift bekannt ist und Paulus 3
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Cf. etwa D. A. Di Liscia, Die fallenden Körper und die Rätsel des Domingo de Soto, in: M. Segre/E. Knobloch (eds.), Der ungebändigte Galilei. Beiträge zu einem Symposion (Sudhoffs Archiv. Beihefte 44), Suttgart 2001, 9-21, hier 13-15. Für weitere bibliographische und biographische Angaben siehe Ch. H. Lohr, Medieval Latin Aristotle Commentaries. Authors: Narcissus-Richardus, in: Traditio 28 (1972), 281-396, hier 314-320. Cf. C. Wilson, Wiliam Heytesbury. Medieval Logic and the Rise of Mathematical Physics, Madison 1960, insbesondere Kapitel 2 (29-56). In seiner Darstellung der ,Regule‘ von Heytesbury lieferte Wilson einen kurzen Überblick über die Thematik des ersten und letzten Augenblicks im Spätmittelalter. Dieser Überblick dürfte gemessen am heutigen Wissensstand etwas überholt sein. Einen durchdachten Überblick über die Oxford-Calculatores findet man in E. D. Sylla, The Oxford Calculators, in: N. Kretzmann/A. Kenny/J. Pinborg (eds.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, Cambridge 1982, 540-563. Wie Bottin mit Verweis auf B. Nardi berichtet, ist Paulus Venetus’ Aufenthalt in Oxford ab 1390 belegbar; cf. F. Bottin, Logica e filosofia naturale nelle opere die Paolo Veneto, in: A. Poppi (ed.), Scienza e Filosofia all’ Universita` di Padova nel Quattrocento, Padova 1983, 85. Meine Kenntnis über die Existenz dieses Textes verdanke ich der Arbeit von Bottin, Logica e filosofia naturale (nt. 5).
Walter Burley, Paulus Venetus und die Tradition ,De instanti‘
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Venetus zugeschrieben wird. Dabei werde ich gelegentlich - insbesondere bei der Frage der Verfasserschaft, auf die ich im ersten Abschnitt eingehe - einige der anderen Schriften von Paulus Venetus heranziehen, ohne mich auf ihre Auslegung länger einlassen zu wollen. Im zweiten Abschnitt möchte ich mich auf einige ausgewählte Fragen, die den Inhalt des Textes betreffen, beziehen, welcher - das darf ich schon voranschicken - im großen und ganzen auf Burleys gleichnamige Quästion zurückgeht. Den thematischen Rahmen dieses Bandes berücksichtigend, werde ich hier vor allem einige ontologische Fragen in den Blick nehmen, die der Unterscheidung von res successiva und res permanens zugrunde liegen. Im letzten Abschnitt sollen einige Bemerkungen über die Aufnahme dieser Thematik in Italien eingeschlossen werden. Diese Bemerkungen sind nicht die schon allgemein bekannten Auskünfte, die man in der Literatur findet, sondern ergeben sich direkt aus dieser Handschrift. Im Anschluß daran gebe ich daher eine möglichst genaue und vollständige Beschreibung der Handschrift (Anhang 1) und eine Edition des Textes (Anhang 2), so daß der Leser die vorhergehenden Ausführungen nachvollziehen und eventuell verbessern kann.
I. Die Frag e der Verfasserschaft Der hier präsentierte ,Tractatus de primo et ultimo instanti‘ (= TdI ) ist bisher nur in einer Handschrift bekannt: Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, II. IV. 553, foll. 68va-69va. Auch wenn die Zuschreibung an Paulus Venetus aus dem Explicit dieser Abschrift eindeutig hervorgeht und ihr nach meinem Kenntnisstand von keiner anderen Abschrift widersprochen werden kann, ist Paulus Venetus’ Verfasserschaft als zweifelhaft angesehen worden, und zwar nicht ganz zu Unrecht. Der Hauptgrund für einen solchen Zweifel liegt hauptsächlich in der äußerst engen Verbindung dieses Textes mit der QdI von Burley, so daß man diese Zuschreibung umso mehr abschwächen kann, desto näher der Text von Paulus Venetus der Quästion von Burley kommt 7. Die formalen Aspekte des Textes sprechen eher für eine Verfasserschaft von Paulus Venetus. Dieser TdI geht zweifellos auf die Quästion von Burley zurück - er basiert eindeutig auf dieser und ist an vielen Stellen mit ihr sogar wörtlich identisch - aber er stellt trotzdem kein wahlloses Fragment von ihr dar. Wie wir später sehen werden, ist der kurze Text logisch und planmäßig aufgebaut: die wichtigsten Stellen von Burleys Quästion wurden herausgenommen, zusammengefaßt und umgearbeitet 8. 7
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Vielleicht handelt es sich um eine reportatio, worauf Bottin (op. cit., 89 und 97) schon hingewiesen hat. Es ist sehr schwer, ein Kernstück von ,genuiner Eigenlehre des Paulus Venetus‘ zu identifizieren. Er will ja selbst das aufnehmen und vermitteln, was er für wertvoll in seiner Zeit befindet, so daß eine strenge Anwendung des Originalitätsprinzips für eine Entscheidung in Fragen der Zuschreibung nicht geeignet ist.
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Daniel A. Di Liscia
Für die Frage der Zuschreibung ist außerdem von Bedeutung, wie TdI zu anderen Werken von Paulus Venetus inhaltlich steht. Diesbezüglich ein kurzer Blick auf sechs seiner Werke: In seiner ,Logica parva‘ geht Paulus Venetus auf die Analyse der Termini ,incipit ‘ und ,desinit ‘ ein, welche er, nach den üblichen logischen und sprachphilosophischen Methoden ,exponiert‘. Hier lehnt er sich an die logische Tradition Heytesburys an 9. Einen ähnlichen Ansatz findet man in der ,Logica magna‘, dort jedoch mit einer ausführlicheren Behandlung von Aussagen der Zeitlogik 10. In seiner ,Sophismata‘-Sammlung geht er auf einige Sonderfälle ein, bei denen die Frage der Zeitgrenzen unmittelbar mit einbezogen ist 11. Mit mehreren Sonderfällen, die er jedoch systematisch ordnet, beschäftigt er sich auch in dem logischen Text ,Opus de quadratura‘. So ist hier vor allem auffällig, daß dieser Text sowohl vom Beginnen und Enden als auch von dem ersten und letzten Augenblick handelt, jedoch in unterschiedlichen Kapiteln 12. Paulus Venetus’ ,Summa philosophiae naturalis‘ (1408), die bekanntlich eine Reihe von anderen Ergebnissen und Ansätzen der englischen Calculatores vermittelt, kombiniert den logisch-sprachphilosophischen Ansatz Heytesburys mit dem naturphilosophisch-ontologischen Ansatz Burleys. Er benutzt hier die Unterscheidung zwischen permanenten und sukzessiven Dingen, die Burley eingehend behandelt, und gibt ihr eine gewisse originelle Färbung 13. Am ausführlichsten ist Paulus’ ,Expositio physicorum‘, ein monumentales Werk, das nur ein Jahr nach der ,Summa naturalis‘ entstanden sein soll 14. Direkt mit unserer Problematik verbunden ist natürlich der Kommentar zum achten Buch der ,Physik‘, wo eine Einbeziehung der Frage nach dem ersten und letzten Augenblick für eine Kommentierung der einschlägigen Stelle des Aristoteles naheliegt. Es sei darauf hingewiesen, daß zumindest eine Ausgabe eines Physikkommentars Burleys (Venedig 1501) an dieser Stelle den vollen Text seiner ,Quaestio de instanti‘ überliefert 15. 9
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Paulus Venetus, Logica [parva], Venedig 1472 [Nachdruck Hildesheim-New York 1970], 110 (meine Hervorhebungen): „ ,Incipit ‘ dupliciter exponitur. Primo modo per positionem de presenti et remotionem de preterito. 2∞ modo per remotionem de presenti et positionem de futuro. Verbi gratia: Sor incipit esse albus primo modo sic exponitur: ,Sor nunc est albus et non immediate ante hoc instans presens fuit albus.‘ 2∞ modo sic exponitur: ,Sor nunc non est albus et immediate post hoc instans presens erit albus.‘ ,Desinit ‘ vero exponitur modo opposito dupliciter. Primo modo per remotionem de presenti et positionem de preterito, ut Sor desinit esse albus sic exponitur: ,Sor nunc non est albus et immediate ante instans presens fuit albus.‘ Ergo Sor desinit esse albus. Secundo modo per positionem de presenti et remotionem de futuro, ut ,Sor nunc est albus et non immediate post instans presens erit albus, ergo Sor desinit esse albus.‘ “ Im Anschluß daran gibt Paulus vier Konklusionen an. Cf. Pauli Veneti Logica Magna II. 3, ed. A. Broadie (Classical and Medieval Logic Texts 7), Oxford 1990, c. 2: De propositionibus temporalibus, 9-19. Sophysmata magistri Pauli Veneti, Venedig 1493. Siehe etwa foll. 32rb-33ra „Deus erit in quolibet instanti non existens“ und foll. 42vb-43va „Tu incipis esse in hoc instanti “. Paulus Venetus, Opus aureum de quadratura sive dubia, Venedig 1493: „cap. de incipit und desinit “ (foll. 13vb-14rb ) und anschließend „cap. de primo et ultimo instanti “ (fol. 14rb-vb ). Cf. unten, Abschnitt II.3. Cf. Bottin, Logica e filosofia naturale (nt. 5), 88. Walter Burley, In physicam Aristotelis expositio et quaestiones, Venedig 1501 [Nachdruck Hildesheim-New York 1972), foll. 257ra-259vb. Erwähnt in: J. Weisheipl, Repertorium Merton-
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Ähnlich ist der Fall bei Thomas de Wyltons Physikkommentar, der vor dieser Quästion entstanden sein soll: er enthält auch eine dazu passende Quästion 16. In Paulus Venetus’ ,Expositio‘ hat offenbar der Ansatz Burleys, den er allerdings mit der üblichen Exposition der Termini im Stil Heytesburys ergänzt, die Überhand. Interessant ist die Tatsache, daß Paulus die Regel von Burleys Quästion nicht bloß wiederholt, sondern an seine Kommentierung des Aristoteles anpaßt. In Wirklichkeit - so meint er - gibt schon Aristoteles selbst zwei Regeln für die permanentia und zwei für die successiva, welche von Bedeutung für seine Widerlegung der Zenon-Argumente seien 17. Vom Ansatz her kann man also sagen, daß diese sechs Werke der Zuschreibung des TdI an Paulus Venetus nicht widersprechen, sondern sie eher stärken. Besondere Bedeutung ist in diesem Sinne der Tatsache beizumessen, daß Paulus Venetus beide Ansätze im Rahmen der Naturphilosophie benutzt, etwas, das in TdI am Anfang zum Vorschein kommt. Mit der ,Expositio‘ zur ,Physik‘ ergibt sich jedoch eine inhaltliche Schwierigkeit, die man folgendermaßen zusammenfassen könnte: Burleys QdI enthält einige Stellen, die mehr oder weniger direkt mit seiner Theorie der Sukzession der Formen zusammenhängen 18. Da der TdI sicherlich aus der QdI von Burley entstanden ist, sind auch dort einige solcher Stellen vorhanden 19. Nun ist es so,
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ense, in: Medieval Studies 31 (1969), 174-224, hier 205. Zu den Physikkommentaren von Burley cf. R. Wood, Walter Burley’s Physics Commentaries, in: Franciscan Studies 44 (1984), 275-327. Edition und Analyse dieser Quästion in C. Trifogli, Thomas Wylton’s Question ,An contingit dare ultimum rei permanentis in esse‘, in: Mediaeval Philosophy and Theology 4 (1995), 91141. Paulus Venetus, Expositio physicorum, Venedig 1409 [datiert im Kolophon]: „[372vb ] Ex ista conclusione Aristoteles solvit rationes Zenonis probantes impossibilitatem motus ad formam […]. [373ra ] Notandum quod ex probatione huius conclusionis colliguntur due regule a Philosopho de rebus permanentibus quod ad earum desitionem quarum prima est hec: Rei permanentis habentis non-esse post esse non datur ultimum instans. […] Secunda regula: rei permanentis habentis non-esse post esse datur primum instans sui non-esse. […] [374ra ] Notandum quod ex isto loco accipiuntur due regule rerum successivarum quarum prima est ista: non est dare primum nec ultimum instans in quo res successiva habet esse […]. Secunda regula: necesse est dare primum et ultimum instans in quo res successiva non habet esse. Patet quoniam res successiva incipit et desinit esse et non per positionem de presenti, igitur per remotionem et per consequens datur instans in quo non est talis motus et immediate post illud instans erit talis motus et hoc est ultimum in quo non in inceptione datur etiam instans in quod huiusmodi motus non est et immediate ante illud instans fuit et hoc est primum instans in quo talis motus non est et hoc in sua desinitione“ (Hervorhebungen von mir). Ich numeriere mit dem Anfang in ,aii‘ = 1r (Praefatio) und durchgehend; Buch VIII: foll. 330ra392vb. Diese Theorie wird von Burley in seinem in Italien sehr verbreiteten Traktat ,De intensione et remissione formarum‘ (gedruckt in Venedig 1496, foll. 2ra-15vb ) ausführlich behandelt. Siehe darüber A. Maier, Zwei Grundprobleme der scholastischen Naturphilosophie. Das Problem der intensiven Grösse. Die Impetustheorie, Roma 31968, 66-68 und insbesondere 315-352; E. D. Sylla, Medieval Concepts of the Latitude of Forms: The Oxford Calculators, in: Archives d’hiˆ ge 40 (1973), 223-283, hier 233-238. stoire doctrinale et litte´raire du Moyen A Vergleiche die Stelle in Burleys ,De instanti‘ (H. Shapiro/Ch. Shapiro, De primo et ultimo instanti des Walter Burley, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 47 (1965), 157-173, hier 165, Abschnitte 6 und 7) mit der Stelle bei Paulus Venetus in Anhang 2, ll. 23-32.
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daß Paulus Venetus diese Theorie nicht vertritt; noch mehr: in seiner ,Expositio physicorum‘, für die allerdings Burley eine der wichtigsten Quellen ist, zeigt sich Paulus Venetus dieser Theorie gegenüber sehr kritisch 20. Aus inhaltlichen Gründen könnte das natürlich ein Argument gegen Paulus’ Verfasserschaft von TdI sein. Ich bin jedoch der Meinung, daß dies keinen starken Grund zur Ablehnung von Paulus Venetus’ Verfasserschaft darstellt. Denn falls die entsprechende Stelle in der Quästion von Burley wirklich einen solchen Kompromiss mit seiner Sukzessionstheorie voraussetzt, ist deren Aufnahme im TdI von Paulus Venetus nicht besonders bedeutsam. Mir erscheint es sehr wahrscheinlich, daß sich Paulus Venetus in diesem kurzen Traktat an Burleys QdI orientiert, und zwar mit der Absicht, eine gut handhabbare, deutlichere, schulmäßige Version dieses wichtigen Textes zu geben, was ihm auch ziemlich gut gelungen ist. Mit diesem Vorbehalt steht dann nichts im Wege, die kurze Abhandlung als ein Werk des Paulus Venetus anzusehen. II. Zum Inhalt von Walter Burleys und Paulus Venetus’ ,De instanti‘ Paulus Venetus’ ,De instanti‘ beginnt mit einem einleitenden Abschnitt (den ich Prohemium genannt habe), in dem die Termini für die Grenzbestimmung eines zeitlichen Kontinuums präsentiert werden. An zweiter Stelle wird die zugrundeliegende Ontologie knapp behandelt und schließlich wird eine Reihe von Regeln geliefert, die eine effektive Behandlung aller Schwierigkeiten anstreben, in denen die beginnenden und endenden Augenblicke mit einbezogen sind. Verglichen mit Burleys QdI ist TdI als eine absichtlich vereinfachte Version zu betrachten: In TdI wurden alle aporetischen Momente von Burleys Quästion ausgelassen, die Beispiele auf ein Minimum vermindert und die Begründungen beziehungsweise Beweise - oft in sinnvoller Weise - zusammengefaßt und gekürzt. Das hängt auf jeden Fall mit einer didaktischen Absicht zusammen, etwas, was von Burleys Quästion sicherlich nicht gesagt werden kann und dem Charakter anderer Schriften von Paulus entspricht. 1. Die Termini für die Grenzbestimmung Das Zeitintervall des Seins kann offen oder geschlossen abgegrenzt werden, und zwar dadurch, daß die Grenzen inclusive oder exclusive festgelegt werden 21. 20
21
Paulus Venetus, Expositio physicorum (nt. 17), fol. 253ra: „Ex predictis sequitur quod quelibet qualitas tam prima quam secunda ad quem est motus per se est acquisibilis successive tam intensive quam extensive […], ita quod caliditas et frigiditas nec subito generantur secundum se et quodlibet nec subito corrumpuntur, ut dicit Burleus in su tractatu de intensione et remissione formarum, ex cuius suppositione sequuntur plura inconvenientia“ (meine Hervorhebung). Es wirkt etwas irreführend, wenn P. V. Spade, How to Start and to Stop: Walter Burley on the Instant of Transition, in: Journal of Philosophical Research 19 (1994), 193-221, hier 197,
Walter Burley, Paulus Venetus und die Tradition ,De instanti‘
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In der ersten Weise gehören der erste und der letzte Augenblick zu dem abzugrenzenden Zeitintervall: das in der Gegenwart seiende Ding wird dann zwischen seinem ,ersten Augenblick des Seins‘ (primum instans esse) und seinem ,letzten Augenblick des Seins‘ (ultimum instans esse) existieren. In der zweiten Weise wird ein Augenblick benötigt, der außerhalb des Zeitintervalls des Seins liegt. Es gibt dafür zwei Möglichkeiten: entweder ist er der letzte Augenblick des Nicht-Seins (der Vergangenheit), der unmittelbar vor dem Anfang steht (ultimum instans non-esse), oder er ist der erste Augenblick des Nicht-Seins (der Zukunft), der unmittelbar nach dem Ende folgt (primum instans non-esse) 22. Diese allgemeine Vorstellung läßt sich in der folgenden Abbildung veranschaulichen 23:
Abb. 1
Die Termini, jeweils zwei für Anfang und Ende und jeweils zwei inclusive und exclusive, werden dann ,exponiert‘, so daß der Begriff die Wahrheit einer bestimmten Aussage liefern soll. Somit wird nicht gesagt ,was etwas ist‘ und auch
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schreibt: „The vocabulary of intrinsic and extrinsic limits is of course modern vocabulary.“ Paulus Venetus, wie man sieht, benutzt diese Fachterminologie als wäre sie vollkommen selbstverständlich. Die Bezeichnungen als ,inclusive‘ und ,exclusive‘ und Äquivalentes findet man mit demselben Charakter auch in anderen Texten der Zeit, die auf Heytesbury zurückgehen, wie etwa die in der Hs. Paris, Bibl. de l’Arsenal, Lat. 522 vorkommenden ,Excerpta de uniformitate et difformitate‘ (siehe D. A. Di Liscia, Excerpta de uniformitate et difformitate: una compilacio´n fı´sico-matema´tica en Ms. Paris, Bl. de l’Arsenal, Lat. 522 hasta ahora desconocida, in: Patristica et Mediaevalia 38 (2007), 24-53, hier 48, ll. 24-47. Auch wenn nicht direkt gesagt wird, daß es sich um die drei Zeitdimensionen handelt, scheint es deutlich der Fall zu sein, daß esse die Zeitdimension der Gegenwart beinhaltet, die vorherige Zeit des non-esse die Vergangenheit, und die nachfolgende Zeit des non-esse die Zukunft (bezüglich eines bestimmten Präsens). Andernfalls scheint die ständige Verwendung von ,priora‘ und ,posteriora‘ in der Argumentation keinen Sinn zu ergeben. Diese Abbildung wurde keinem Text entnommen, sondern von mir an dieser Stelle nur der Deutlichkeit halber eingeführt. Ähnliche Abbildungen findet man unter anderem in J. E. Murdoch, The Analytic Character of Late Medieval Learning: Natural Philosophy without Nature, in: L. D. Roberts (ed.), Approaches to Nature in the Middle Ages. Papers of the Tenth Annual Conference of the Center for Medieval and Early Renaissance Studies, Binghamton-New York 1982, 171-213, hier 185-186; L. O. Nielsen, Three Logical Treatises adscribed to Thomas ˆ ge Grec et Latin, 8-10. Bradwardine, in: Cahiers de L’Institut du Moyen-A
130
Daniel A. Di Liscia
nicht ,was das Wort bedeutet‘, sondern komplexe Termini werden in eine Aussage verwandelt, welche - das ist der springende Punkt - in Deduktionsketten benutzt werden kann und deren Wahrheitswert feststellbar ist. Diese Begrifflichkeit läßt sich folgendermaßen tabellarisch überblicken: Grenze
Termini
Aussagen
Inclusive
primum instans esse ultimum instans esse
1: res nunc est et immediate ante hoc non fuit 2: res nunc est et immediate post hoc non erit
Exclusive
primum instans non-esse ultimum instans non-esse
3: res nunc non est et immediate ante hoc fuit 4: res nunc non est et immediate post hoc erit
2. Die zugrundeliegende Ontologie Nach der Exposition der Termini wird an zweiter Stelle die Ontologie präsentiert, die den nachher folgenden Sätzen (propositiones) zugrunde liegt. Kurz gesagt: Die Grenzbestimmung gilt nicht undifferenziert, sondern nur mit Rücksicht darauf, was abgegrenzt werden soll. (Eine nennenswerte Sonderstellung haben vier solcher Sätze, die ich als ,allgemeine Abgrenzungsregeln‘ bezeichnen werde.) Die verschiedenen Dinge (res), welche die Ontologie bilden und denen Grenzen gesetzt werden, werden wie gewöhnlich durch distinctiones oder differentiae präsentiert. Die gebotene Klassifizierung der Dinge ist äußerst umfassend, erstens wegen einer typischen Anwendung des Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten und zweitens, weil der Begriff ,Ding‘ (res) im weitesten Sinne gefaßt wird. So kommt es, daß die Zeit und Sokrates (das heißt ,Sortes‘ oder ,Sor‘) ,Dinge‘ sind; aber eine Eigenschaft von Sokrates wie ,klug‘ oder ,schnell‘ ist auch ein Ding. Die Negation einer Eigenschaft, ,nicht-schwarz‘, ist auch ein Ding. Die Wahrheit einer Aussage ist ein Ding. Und wenn die Aussage nicht zutrifft, heißt es nicht, daß es die in der Aussage abgebildete Tatsache nicht gibt, sondern: dieses Ding, die Wahrheit der Aussage, ,habet non-esse‘(!). Paulus Venetus ist in TdI, wie gesagt, nicht originell. Mit Auslassung einiger Erklärungen und Beispiele folgt er der Einteilung von Burleys QdI 24. Wenn das nicht sofort ersichtlich ist, dann deshalb, weil die Einteilung bei Burley selbst vielleicht nicht deutlich genug ist und Anlaß zu einigen Interpretationsproblemen gegeben hat 25. 24
25
Viele Glieder dieser Einteilung sind auch in anderen Texten zu finden. Cf. etwa Trifogli, Thomas Wylton’s Question (nt. 16), 110-121. P. Feltrin und M. Parodi, die meiner Ansicht nach diese Einteilung von Burley mißverstanden haben, halten sich in ihrem langen Aufsatz an die Shapiro/Shapiro-Ausgabe, welche ihrer Meinung nach „non presenta problemi eccessivi per la comprensione del regionamento complessivo dell’autore“; cf. P. Feltrin/M. Parodi, Il problema del primo e ultimo istante in Walter Burley, in: Medioevo 9 (1983), 137-178, hier 149, nt. 25. Zur Einteilung siehe ibid., 161-162.
Walter Burley, Paulus Venetus und die Tradition ,De instanti‘
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1. Permanentia 1.1. per unum instans durans 1.2. per tempus durans 1.2.1. a re successiva dependens 1.2.2. a re successiva non dependens 1.2.2.1. forma positiva 1.2.2.1.1. in latitudine consistens 1.2.2.1.2. in forma indivisibili consistens 1.2.2.2. forma privativa 1.2.2.2.1. privatio successivi 1.2.2.2.2. privatio permanentis 1.2.2.2.2.1 in indivisibili consistens 1.2.2.2.2.2 in divisibili (vel latitudine) consistens 2. Successiva
Die Hauptunterscheidung erfolgt also zwischen res permanens und res successiva. Diese Einteilung begegnet schon in einer Reihe von Texten - meistens logischen Inhaltes - des 13. und sogar des 12. Jahrhunderts und ist deshalb in der Fachliteratur gut bekannt 26. Jedoch ist sie deshalb noch nicht selbstverständlich oder unproblematisch. Bei den Permanenten (permanentia) existieren - so heißt es tatsächlich in vielen Texten - alle ihre Teile gleichzeitig; bei den Sukzessiven (successiva) ist das nicht der Fall. Gewöhnliche Beispiele für die erste Art sind Dinge wie ,der Mensch‘ oder die Farbe ,weiß‘, für die zweite Art die Zeit und die verschiedenen Formen von Bewegungen. Norman Kretzmann interpretiert diese ,basic permanent/successive distinction‘ so, daß bei den Permanenten die Teile in einer und derselben Zeit vorkommen, während bei den Sukzessiven die Teile in verschiedenen Zeiten vorkommen, was für die von ihm untersuchten Texte grundsätzlich richtig zu sein scheint 27. Während Kretzmann sich hauptsächlich auf logische Autoren vor dem 14. Jahrhundert konzentriert, fokussiert Paul Vincent Spade Burleys QdI. In seiner denkanregenden Arbeit gibt Spade jedoch eine etwas andere Interpretation von Permanenten und Sukzessiven. Er ist der Meinung, daß diese Unterscheidung „roughly the distinction between an object and a process“ widerspiegelt 28. Er erwähnt zwar die Tatsache, daß Burley von Teilen eines Dinges spricht, welche zusammen existieren oder nicht, aber bei Spades Formulierung tritt dieser zentrale Aspekt eher in den Hintergrund. 26
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Cf. A. Tabarroni, ,Incipit‘ and ,desinit‘ in a thirtheenth-century sophismata-collection, in: Cahiers ˆ ge Grec et Latin 59 (1989), 61-111; A. de Libera, Le sophisma de L’Institut du Moyen-A anonyme ,Sor desinit esse non desinendo esse’ du Cod. Parisinus 16135, in: ibid., 113-120; S. Ebbesen, Three 13th-century Sophismata about Beginning and Ceasing“, in: ibid., 121-180. Während der Text von Petrus de Alvernia (ibid., 157-180) in seinem Inhalt mehr an der Naturphilosophie orientiert ist, sind die anderen hauptsächlich logisch-sprachphilosophischen Inhalts. N. Kretzmann, Incipit/Desinit, in: P. K. Machamer/R. G. Turnbull (eds.), Motion and Time, Space and Matter. Interrelations in the History of Philosophy and Science, Columbus 1976, 101-136, hier 110. Spade, How to Start and to Stop (nt. 21), 199.
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Nach Spade wäre die Unterscheidung vielmehr so zu verstehen, daß Sukzessive nur in einer Zeitspanne existieren können, während Permanente nicht nur in einer Zeitspanne sondern auch in einem Augenblick existieren können 29. Ich möchte, um diese Idee anschaulich zu machen, diese Auslegung im folgenden kurz darstellen und diskutieren: Sei eine Zeitspanne Dt mit dem Anfangsaugenblick i i und mit dem Endaugenblick if . Bezeichnen wir außerdem mit ix irgendeinen beliebigen Augenblick in Dt. Dann kann r, wenn es ein permanentes Ding Pr ist, sowohl während der ganzen Zeitspanne existieren als auch in irgendeinem ihrer Augenblicke; für ein sukzessives Ding Sr bleibt nur die Zeitspanne Dt.
Abb. 2: die res permanens Pr könnte sowohl während der ganzen Zeitspanne Dt existieren als auch in den mit i gekennzeichneten Einzelintervallen von ihr. Die res successiva Sr könnte hingegen nur in der Zeitspanne Dt existieren.
Mit der Auslegung von Spade sind meiner Ansicht nach die zwei folgenden Probleme verbunden: Erstens ergibt sich für die Sukzessiven das Problem, daß sie sozusagen in einem Ganzen existieren können, aber nicht in seinen Teilen. Ich gebe schon zu, daß dieses Problem nur dann entsteht, wenn wir annehmen, daß die Augenblicke wie zum Beispiel ix entweder gar nicht existieren oder daß sie eine Wortbildung für kleinere Zeitspannen Dt sind. Dies ist eine Annahme, die mir zumindest so relevant erscheint, daß sie nicht stillschweigend eingeführt oder ausgeschlossen werden kann. In jedem Fall würde es heißen, daß die Zeit29
Op. cit., 199, Punkte (4a) und (4b). Ich zitiere nur (4b): „By contrast, if x is a successive thing then this is not possible. At no instant can x ever exist. This is not to say that x cannot exist at all, but only that it cannot do so at an instant. Successive things take time.“ Ich wünsche mir sehr, Spade keineswegs Unrecht mit meiner Interpretation getan zu haben. Eine in diesem Zusammenhang immer schwierige Frage ist nämlich, wieviel von dem, worüber wir diskutieren, mit der eigenen Sprache zusammenhängt oder mindestens mit der Sprache, in der wir schreiben. Ferner muß ich sagen, daß ich leider viele Aspekte dieser Arbeit unberücksichtigt lassen muß, insbesondere Spades Ergänzung von Burleys Theorie mittels des Kausalitätsbegriffs. Übrigens halte ich alle Verbesserungen, die Spade für den Text von Shapiro/Shapiro vorgeschlagen hat, für sinnvoll und grundsätzlich richtig.
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spanne Dt aus immer wieder teilbaren Zeitspannen Dt besteht, welche willkürlich groß oder klein sind. Wenn nun Dt aus Dt1, Dt2, Dt3, … Dtn-1, Dtn besteht und das Ding Sr in dieser Zeitspanne existiert, muß es auch in Dt3 existieren können. Diese Inklusionsbedingung wird hierbei nicht erfüllt, so daß Sr zum Beispiel in einer Woche existieren würde, aber nicht in den darin enthaltenen Tagen oder Stunden (unter der Annahme, wie gesagt, diese wären als Augenblicke aufgefaßt) 30. Zweitens geht aus der oben geschilderten Auslegung der Unterscheidung zwischen Permanenten und Sukzessiven hervor, daß das sukzessive Ding Sr ganz während der Zeitspanne Dt existieren kann. Dabei geht jedoch das Wesentliche der Sukzessiven verloren, nämlich daß sie nur zerlegt existieren können, das heißt nur ein Teil nach dem anderen. Aus diesem Grund müßte, meiner Ansicht nach, als Hauptidee die Tatsache festgehalten werden, daß diese Einteilung von dem Verhalten der Teile als Kriterium ausgeht (was in Abbildung 3 veranschaulicht wird).
Abb. 3: Die Teile des Sukzessiven Sr treten eines nach dem anderen in das Sein ein. Das sind die grau schattierten Teile. tiSr und tfSr definieren die Zeitspanne für dieses Sukzessive, t3i und t3f begrenzen die Zeitspanne für die Existenz des dritten Teils. Ein permanentes Ding Pr, das irgendwann in der Zeitspanne t3f tf Sr existieren würde, würde seine zwei Teile (karierte Vierecke) ,gleichzeitig‘ (simul ) haben.
Die Teilbarkeit, und zwar an erster Stelle der permanenten oder sukzessiven Dinge, eher als die Teilbarkeit der Zeit, ist das Hauptprinzip. Die Permanenten zerlegen sich in ihrer Existenz nicht entsprechend der Teilung der Zeit; die 30
Das setzte eine eingehende Untersuchung zum Kontinuum bei Burley voraus, die an dieser Stelle nicht durchgeführt werden kann. Siehe dazu C. G. Normore, Walter Burley on Continuity, in: N. Kretzmann (ed.), Infinity and Continuity in Ancient and Medieval Thought, IthacaLondon, 258-269.
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Sukzessiven dagegen tun dies notwendigerweise. Erlauben Sie mir nun, diese Interpretation von der Unterscheidung zwischen Permanenten und Sukzessiven um zwei weitere Bemerkungen zu ergänzen: Erstens ist es bemerkenswert, daß sowohl bei Burley als auch bei Paulus Venetus eine interessante Nuance dazukommt: Permanente sind diejenigen Dinge, denen es von ihrem Wesen her nicht widerspricht - cui non repugnat -, alle Teile gleichzeitig zu haben. Für die sukzessiven Dingen trifft dies nicht zu: von ihrem Wesen aus können sie nicht alle ihre Teile gleichzeitig haben. Diese, wie alle Zeitteile, wie die Jahre, Monate, Tage usw., bestehen aus Teilen, die nicht (auf der selben Ebene) gleichzeitig vorkommen können. Für die res successiva ist eine Überschneidung oder eine Überlappung nicht zulässig, denn für sie gilt: „est de natura sui quod habeat unam partem priorem et aliam posteriorem.“ 31 Diese Nuance ist von einem logischen Standpunkt her - den man hier immer vor Augen behalten sollte - nicht trivial. Man darf deshalb die res permanens nicht lediglich als „das Ding, das von Natur aus seine eigenen Teile gleichzeitig hat“, verstehen 32. Denn dann muß man erklären, wie dieses permanente Ding schon gleich in der nächsten Einteilung so verstanden werden kann, daß es in der Zeit dauert. Der springende Punkt ist nämlich der, daß Burley die Zeitlichkeit natürlich als wesentliche Eigenschaft der Sukzession betrachtet, sie aber nicht auf sie beschränkt 33. Es geht also nicht um Zeitlichkeit oder Nicht-Zeitlichkeit, sondern um das Verhalten der Teile in Hinblick auf die Zeit. Nach der ersten Einteilung in res successivae und permanentia folgen nur verschiedene Sorten von permanentia. In diese schließt Burley zuerst diejenigen Dinge ein, die in der Zeit (per tempus) existieren oder in instanti. So fremd es auch klingen mag, es ist eine Tatsache, daß auch ein Augenblick für Burley ,dauert‘. Beispiele hierfür sind das ,mutatum esse‘ in der Bewegung, der Augenblick selbst in der Zeit und das ,ubi in medio motus‘ 34. Aber das ist hier nicht entscheidend. Entscheidend ist die allgemeine Einteilung an dieser zweiten Stelle und die Tatsache, daß hierzu diejenigen Dinge 31
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Der Text bei Shapiro/Shapiro (nt. 19), 164, Abschnitt (1), ist auch hier falsch. Für ,unam partem priorem‘ an der zitierten Stelle enthält er ,unam per temporem‘, was natürlich sinnlos ist (und außerdem kein Latein). An vielen Stellen ist sogar die Rede von ,per tempore‘, was von einigen Forschern übernommen worden ist. Feltrin/Parodi, Il problema del primo e ultimo istante (nt. 25), 155: „la cosa che per natura possiede simultaneamente tutte le proprie parti.“ Als Beispiel von Sukzessivem geben Feltrin und Parodi „die verschiedenen Sorten von Bewegungen“ an („Sono res successivae essenzialmente i diversi tipi di movimiento“, ibid., 155); aber das trifft hier nicht zu. Daß die Bewegung als Beispiel eines successivum angegeben wird, ist für viele spätscholastische Autoren keine Seltenheit, möglicherweise auch nicht für Burley. Tatsache bleibt jedoch, daß Burley an dieser Stelle seiner QdI als Beispiele von res successivae Zeiteinheiten angibt. Shapiro/Shapiro (nt. 19), 164, Abschnitt (2). Es ist nicht eindeutig, worauf sich Burley im letzten Fall bezieht. Meiner Meinung nach hat er jedoch den sozusagen „infinitesimal kleinsten Raum“, der im Falle des motus reflexus belegt wird, im Sinne. Dieses ,ubi ‘ ist der unendlich kleine Platz, der von einem Körper eingenommen wird, der zum Beispiel nach oben geworfen wurde und von allein nach unten fallen wird. Das ist die scholastische Diskussion um die ,quies media‘ im achten Buch der aristotelischen ,Physik‘, in Verbindung mit der die Thematik des ersten und letzten Augenblicks der Bewegung behandelt wird.
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gehören, die - wie der Mensch oder der Esel - in der Zeit dauern. Das zeigt also unmißverständlich, daß Burley doch Zeit beziehungsweise Sukzession bei den permanenten Dingen mit einbezieht. Die zweite Bemerkung betrifft spezifisch Paulus Venetus. Wie ich vorangeschickt habe, gibt Paulus Venetus der Einteilung in Permanente und Sukzessive eine gewisse originelle Färbung, die in diesem Kontext sehr interessant ist. Es handelt sich um die passende Stelle seiner ,Summa naturalis‘, wo das berühmte Motto aus dem dritten Buch der ,Physik‘ „ignorato motu ignorata natura“ kommentiert werden soll. Hier führt Paulus Venetus die Einteilung in Permanente und Sukzessive ein, und zwar so, als würde sie von Aristoteles selbst stammen. Dabei macht er einige Bemerkungen, die für unsere Thematik sehr erhellend sind. Paulus hebt dabei das Phänomen der Teilbarkeit beider Arten von Dingen (entia steht hier für res) hervor und macht auf die Tatsache aufmerksam, daß sich die Teile überlappen können oder auch nicht. Sowohl Permanente als auch Sukzessive haben Teile, die andere Teile einschließen (partes includentes) und Teile, die einander nicht einschließen (partes non se invicem includentes). Bei den einschließenden Teilen ist die Gleichzeitigkeit trivialerweise gegeben (ist die Woche gegeben, sind auch ihre Tage gegeben usw.). Aber ausschließlich die Permanenten können - falls sie tatsächlich Teile haben: die Fälle von Gott und den Intelligenzen, beide unteilbar, werden durch die konditionale Formulierung gerettet - Gleichzeitigkeit der partes non includentes aufweisen 35. Das ist der Unterschied, den Paulus Venetus hier erwähnt und der meiner Ansicht nach mit meinen obigen Ausführungen zur Unterscheidung zwischen Permanenten und Sukzessiven bei Walter Burley und Paulus Venetus in Einklang steht. 3. Die Sätze und die allgemeinen ,Abgrenzungsregeln‘ Im dritten Teil von TdI werden fünfzehn Sätze dargeboten, in denen die verschiedenen Arten von anzunehmenden Grenzen für die verschiedenen, oben 35
Paulus Venetus, Summa philosophie naturalis (nt. 1), c. XVII, fol. 9rb-va: „Ostensum est paulo ante naturam esse principium motus ex quo sequitur secundum Philosophum 3∞ Physicorum ignorato motu neccesse est ignorare naturam, quia ignorata diffinitione relativi ignoratur et ipsum relativum. Ideo ad naturae noticiam oportet inquere noticiam motus. Ad quam inquerendum est notandum: primo secundum philosophum in 3∞ Physicorum quod entium quedam sunt permanentia et quedam successiva [in marg.: T. c. 58]. Entia permanentia sunt illa quarum partes manent simul non se invicem includentes ut homo et lapis, quelibet enim medietas hominis vel lapidis manet simul cum alia nec una alteram includit, sicut medietas includit unam quartam. Et intelligitur hec descriptio conditionaliter scilicet quarum partes manent simul non se invicem includentes si talia haberet partes, quod dicitur propter Deum et intelligentias que sunt permanentia, licet non habeant partes sed si haberent essent simul. Entia successiva sunt illa quarum partes non manent simul nec se invicem includentes ut motus et tempus. Nulla enim pars motus vel temporis preterita manet cum futura nec econtrario. Et notanter dico partes non se invicem includentes quia tam permanentia quam successiva habent partes se invicem includentes quarum una alteram includit et partes non se invicem includentes quarum una alteram non includit. Modo in permanentibus tam partes non se invicem includentes quam se invicem includentes manent simul. Successive autem partes non se invicem includentes nunquam sunt simul, sed bene invicem includentes, ut hora dies septimana mensis que sunt parte anni.“
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präsentierten Dinge festgelegt werden. Auf den ersten Blick scheint es sich um eine zusammenhanglose Auflistung zu handeln, als hätte man da und dort einige Stellen aus Burleys QdI herausgepickt und nacheinander geschrieben. Aber obwohl Burley hier zweifellos die Hauptquelle bleibt, sind die Sätze oder Regeln (im Text ist von propositiones die Rede) an sich sinnvoll und systematisch geordnet. Innerhalb dieser fünfzehn Sätze sind vier hervorzuheben, die ich ,allgemeine Abgrenzungsregeln‘ nennen möchte. Im Gegensatz zu Burleys QdI kommen diese nicht gleich am Anfang vor, sondern als Sätze 3-6. Vor diesen vier Regeln stehen noch zwei Sätze, die anscheinend die Logik des Systems etwas verbauen und - wenn das der Fall sein sollte - als ein Argument dafür gelten könnten, daß der Text von TdI kein ,richtiger‘ Text ist, sondern nur eine Zusammenstellung von dem Werk Burleys entnommenen Abschnitten. Die Logik der Reihenfolge ist jedoch zu retten, wenn man beachtet, daß die Sätze 1 und 2 schon im voraus die zwei ,symmetrischen‘ Fälle formulieren, bei denen entweder sowohl ein erster Augenblick als auch ein letzter gegeben sind oder keiner von beiden. In beiden Fällen handelt es sich um eine inclusive Grenzsetzung: beim ersten Satz, in dem es sich um Dinge handelt, die nur in einem Augenblick existieren, wird knapp darauf hingewiesen, daß der erste und der letzte Augenblick identisch sind. Der Satz ist also von sich selbst her klar 36. Beim zweiten geht es um die permanenten Dinge, welche in der Zeit existieren und in esse et in conservari von der einer res successiva abhängig sind. Das ist etwa im oben diskutierten Satz ,Sor currit ‘ der Fall, der weiter unten im Text (an dieser Stelle kommt ein konsistenter Selbstverweis vor) dargestellt wird: hier kann es weder einen ersten noch einen letzten Augenblick geben. Nach der Zusammenstellung beider Fälle für eine symmetrische ,inklusive‘ Abgrenzung (beide Grenzen ja oder beide Grenzen nein) folgen nun die vier allgemeinen Abgrenzungsregeln, welche gegeben und bewiesen werden. Die Wichtigkeit dieser Regeln, die schon bei Burley bewiesen werden, aber vielleicht einer früheren Herkunft sind, muß - so scheint es mir - betont werden. Es wird mit der höchsten Allgemeinheit folgendes behauptet: Reg3: Alle Dinge, die einen ersten Augenblick des Seins haben, haben daher keinen letzten Augenblick des Nicht-Seins. 36
Er ist allerdings keineswegs selbstverständlich, wenn man nicht den möglichen Einwand aus dem Weg räumt, in diesem Fall ergäbe sich der Widerspruch, daß esse und non-esse aufeinander treffen: der Fall einer Überlappung, die in keiner Weise zulässig ist. In dem Text, den der Schreiber vor Augen hatte, hieß es ausdrücklich (siehe unten, 141 ,Textus auctoris‘): „[…] quia esse et non-esse non possunt simul stare.“ Das Problem steckt schon in der aristotelisch-scholastischen Auffassung des Augenblicks, der - wie Richard Lavenham in ,De natura instantium‘ sagt - als „finis temporis preteriti et initium temporis futuri “ verstanden wird; P. Øhrstrøm, Richard Lavenham ˆ ge Grec et Latin 49 (1985), 7-23, on temporal instants, in: Cahiers de l’Institut du Moyen-A hier 17, ll. 2-3. Die Frage ist natürlich, unter welchen Umständen es sinnvoll ist zu sagen, daß der Augenblick entweder der Vergangenheit oder der Zukunft gehört (cf. Øhrstrøm, op. cit., 7).
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Reg4: Alle Dinge, die keinen ersten Augeblick des Seins haben, haben dann einen letzten Augenblick des Nicht-Seins. Reg5: Alle Dinge, die einen letzten Augenblick des Seins haben, haben daher keinen ersten Augenblick des Nicht-Seins. Reg6: Alle Dinge, die keinen letzten Augenblick des Seins haben, haben dann einen ersten Augenblick des Nicht-Seins 37. Diese Regeln legen einen logischen Rahmen für die nachher folgenden Beweise fest, die in den Sätzen 6-15 gegeben werden. Um den Umfang dieses Beitrages nicht weiter zu belasten, können wir als Beispiel nur die erste Abgrenzungsregel näher betrachten: „Alle Dinge, die einen ersten Augenblick des Seins haben, haben keinen letzten Augenblick des Nicht-Seins“ (Reg. 3 bei Paulus Venetus, Text, ll. 39-53). Die Regel erlaubt natürlich eine konditionale Formulierung: „wenn ein Ding r ein ,primum instans esse‘ (= Per) hat, dann hat dieses Ding kein ,ultimum instans non-esse‘ (= Unon-er).“ Die Regel verschafft Eindeutigkeit in den Diskussionen über die Zeitgrenze, denn äquivalenterweise besagt sie, daß man nur einen von beiden haben kann, und daß die Annahme eines ersten Augenblicks des Seins für irgendeine Entität zugleich den Ausschluß eines letzten Augenblickes des Nicht-Seins für diese Entität mit sich bringt. Per kann durch irgendeinen Augenblick b ersetzt werden, und Unon-er durch a. Da der Beweis nun indirekt läuft, sei die Annahme gemacht, daß, wenn es den Augenblick b gibt, es auch den Augenblick a gibt, wobei für a und b gilt, daß a vor b ist (Per J Unon-er ; und durch Ersetzung: b J a). Nun wird zweimal eine Fallunterscheidung angewandt: entweder a und b sind gleich oder nicht: (a = b) v (a ⫽ b). Die Augenblicke a und b können nicht gleich sein, denn dann würde in einem und demselben Augenblick ein Ding existieren und nicht existieren, was natürlich das Prinzip des Nicht-Widerspruches verletzt. Es bleibt also (a ⫽ b), bezüglich deren man fragen kann, ob sie unvermittelbar stehende Augenblicke sind oder nicht (immediata oder mediata). Mit Berufung auf die aristotelische Analyse des Kontinuums in ,Physik‘ VI wird das erstere ausgeschlossen. Da a und b nicht unmittelbar zueinander stehen, bilden sie ein Intervall, eine Zeitspanne Dt, das heißt, daß zwischen beiden Augenblicken a und b ,cadit tempus medium‘, in dem man nicht sagen kann, ob Sor ist oder nicht ist. Diese Theorie ist also mit Unbestimmtheit beladen, sie ermöglicht keine Aussage mit Anwendung des Prinzips des ausgeschlossenen Dritten. Es wird aber nicht nur behauptet sondern anschließend auch bewiesen, daß Sor in dieser Zeitspanne Dt weder ist noch nicht ist, und zwar folgendermaßen: Aus dieser allgemeinen Disjunktion folgt in jedem Fall etwas Unannehmbares. Entscheidend dafür ist, daß Dt nun mit den Augenblicken a und b stillschweigend exclusive definiert wird. Wenn also Sor in Dt existieren würde, würde daraus folgen, daß entweder Sor wäre, bevor er ist (b ist ja Per, davor gibt es nichts), was ein Widerspruch ist, 37
An manchen Stellen - wie hier - schwankt der Fachausdruck zwischen ,res habet non-esse‘ und ,res non habet esse‘.
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oder b wäre nicht Per, was man am Anfang angenommen hat. Wenn hingegen Sor in Dt nicht existieren würde, würde ähnlicherweise daraus folgen, daß Sor nach a nicht wäre, und daher nach dem Augenglick Unon-er, welcher a ist, nicht wäre. Das ist auch nicht annehmbar, denn entweder muß man ablehnen, daß a = Unon-er ist, was man am Anfang angenommen hat, oder Sor würde nach dem letzten Augenblick seines Nicht-Seins nicht sein, was auch unmöglich ist. Daher tritt Unbestimmtheit in der Zeitpanne zwischen a = Unon-er und b = Per ein, und demzufolge ist die Annahme falsch. Dementsprechend gilt ihre Verneinung, die zu beweisende Regel, daß man niemals von einem ultimum instans non-esse sprechen kann, wenn man von einem primum instans esse spricht. Durch ihre Allgemeingültigkeit und durch die Tatsache, daß sie immer wieder angewandt werden können, haben die vier allgemeinen Abgrenzungsregeln eine große heuristische Bedeutung. Ich denke, daß solche Regeln einen großen Einfluß auf jenes neue Bild des Philosophierens ausgeübt haben, das wir gewöhnlich mit der Tradition der Calculatores verbinden. Es geht jedoch dabei gar nicht oder nicht in erster Linie darum, ob tatsächlich immer eine echte calculatio, eine Berechnung, durchgeführt wird oder nicht. Das kann eventuell der Fall sein und ist es auch faktisch bei bestimmten Gebieten, so zum Beispiel wenn man Kräfte und Widerstände im Rahmen einer Abhandlung über die Bewegung oder über die Aktion und Reaktion der Qualitäten vergleicht. Aber von solchen echten Berechnungen gibt es eigentlich nur wenige, wenn überhaupt, in einigen Texten - wie eben in diesen Texten über den ersten und letzten Augenblick -, welche genauso wie die Texte über die proportionale Bewegungsanalyse zur Tradition der calculatores gehören. Der springende Punkt ist meiner Meinung nach, daß diese Art und Weise zu schreiben und zu forschen einen gewissen Automatismus ermöglicht, eine Denk- und Diskussionstechnik: Ist die Regel da (das heißt, wurde sie schon bewiesen), so kann sie immer ohne weiteres angewandt werden, so daß irgendwann aus gewissen Termini gewisse andere Termini unmittelbar hergeleitet werden können. Auf diese Weise erfährt Fachsprache eine gewaltige Stärkung; diese vier allgemeinen Abgrenzungsregeln sind imstande, Äquivalenzen zwischen Termini zu liefern, welche die Rolle von Definitionen einnehmen können. Im Verlaufe der Zeit wird das Programm der Kalkulatoren regressiv, und es entsteht wenig Neues daraus. Die Verschulung und die unkritische Verbreitung dieses Denkansatzes setzt ein. Es ist daher schon verständlich, wenn jemand nichts mehr davon hören will und über unendliche ,cavillationes‘ klagt, die keine Anwendung haben und die Kultur verderben 38. 38
Das Bild der Calculatores als ,Kulturverderber‘ ist sehr verbreitet in den humanistischen Kreisen; besonders heftig ist es bei Juan Vives, der sich oft spöttisch auf die Diskussionen über den ersten und letzten Augenblick bezieht; siehe dazu D. A. Di Liscia, Kalkulierte Ethik: Vives und die ,Zerstörer‘ der Moralphilosophie (Le Maistre, Cranston und Almain), in: S. Ebbersmeyer/ E. Keßler (eds.), Ethik - Wissenschaft oder Lebenskunst. Modelle der Normenbegründung von der Antike bis zur Frühen Neuzeit, München 2007, 75-105.
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III. Nicolaus Caritellus und die Aufnahme von ,De instanti‘ in Bologna Die Rezeption der englischen Logik und Naturphilosophie an den italienischen Universitäten ist im großen und ganzen gut bekannt 39. Zu dieser Bewegung gehört zweifellos auch die QdI von Burley selbst, welche überwiegend in italienischen oder in Italien kopierten Handschriften überliefert wird 40. Neben Padua kommt sicherlich auch Bologna eine hervorstechende Stellung in der Rezeption der neuen Ideen zu 41. Dort, wo auch eine andere Handschrift von Burleys QdI noch heute aufbewahrt wird (Biblioteca Universitaria, Cod. 921, foll. 21r-30v ) 42, hat der Schreiber des Namens Nicolaus Caritellus (oder vielleicht ,Canitellus‘) seine Abschrift von Paulus Venetus’ TdI angefertigt und datiert. Zu dieser Zeit (1460) hatte der Verfasser, wie in dem Explicit der Abschrift konstatiert wird, seinen Ruhm in der Theologie (clarissimus doctor sacre theologiae) und in der Philosophie (philosophorum princeps) schon längst gesichert. Caritellus schrieb auch die QdI Burleys ab und dazu noch andere Texte über die Logik der Trugschlüsse. Darüber hinaus überliefert die Handschrift eine Reihe von schematischen Darstellungen zur Logik, die auch mit der Thematik der fallaciae zusammenhängen und unschwer mit 39
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Cf. etwa W. J. Courtenay, The Early Stages in the Introduction of Oxford Logic into Italy, in: A. Maieru` (ed.), English Logic in Italy in the 14th and 15th Centuries. Acts of the 5th European Symposium on Medieval Logic and Semantics (Rome, 10-14 November 1980), Napoli 1982, 13-32. Dieser Band enthält auch andere wertvolle Beiträge zur Rezeption Burleys und seiner Kollegen in Italien. Cf. Weisheipl, Repertorium Mertonense (nt. 15), 205. Die Hs. Columbia Univ., Plimpton 171 foll. 7ra-10ra wurde auch in Bologna am Ende des 14. Jahrhunderts abgeschrieben: Inc.: „Incipit bonus et utilis tractatus de primo et ultimo instanti. Utrum sit dare primum […].“ Expl.: „[…] et sic patet […] compilatus a magistro Gualterio Burleo anglico […] scripta per me fratrem Matheum de Pisis ordinis Sancti Augustini Bononiae anno domini 1396 die 3 marci, valet.“ Die beiden von Weisheipl aufgelisteten Oxforder Hss. stammen eindeutig aus Italien. Die Hs. Oxford, Bodleian Library, Canon Misc. 177, foll. 11ra-14ra ist etwa um dieselbe Zeit entstanden: Inc.: „Queritur utrum sit dare primum et ultimum instans in quo res permanens habet esse […].“ Expl.: „Explicit questio subtilis compilata a magistro Gualterio Burlay de primo et ultimo instanti *scripta+ per me Donatum de Monte 1398 vel 1399 ad modum imperii, die 4 Februarii in vigilia Agate Clugis.“ Die Hs. Oxford, Bodleian Library, Canon Misc. 506, foll. 452-548, ist viel später, nach der Mitte des 15. Jahrhunderts, entstanden. Aus dem Explicit geht nur der Name des Schreibers hervor (fol. 548: „Et sic est finis huius tractatus de primo et ultimo instanti doctissimi viri Burlei scripti per me Ludovicum Ser. Angeli de Auximo.“). Dieser Schreiber ist auch verantwortlich für die davor stehenden Kopien des ,Tractatus proportionum‘ des Albert von Sachsen und des ,Liber consequentiarum‘ des Rudolph Strode. In dem Explicit dieses Textes erfahren wir, daß Ludovicus seine Kopie von Strodus 1466 angefertigt hat, als er Student an der Universität Ferrara war (fol. 444: „Finis consequentiarum Rodulfi Strodi per me Ludovicum Ser. Angeli de Auximo 1466, cum essem Ferrariae studens artibus, etc. Deo gratias.“). Für historische Kontexte cf. A. Sorbelli, Storia della Universita` di Bologna, vol. 1: Il Medioevo (Secc. XI-XV), Bologna 1940, insbesondere 105-128. Diese Kopie stammt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Für eine allgemeine Beschreibung, in der dieser Text jedoch nicht erkannt wurde, siehe L. Frati, Indice dei codici latini conservati nella R. Biblioteca Universitaria di Bologna, in: Studi italiani di filologia classica 16 (1908), 284287.
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der Bildung an der Artistenfakultät in Verbindung gebracht werden können. Einige Randglossen von Caritellus’ Hand sind in anderen Texten zur Logik, die aus der Nachfolgegeneration von Paulus Venetus stammen, gut erkennbar 43. Nicolaus Caritellus muß sich also mit dieser Thematik inhaltlich beschäftigt haben, so daß irgendeine Art von Bindung an die Universität Bologna angenommen werden darf. In der Tat schrieb Caritellus nicht nur die Texte von Burley und Paulus Venetus ab, sondern ergänzte sie auch mit einigen anderen - meiner Ansicht nach eigenen - Bemerkungen zu dieser Thematik. Die Handschrift überliefert zwischen beiden Texten über den Augenblick eine knappe Zusammenstellung der vier allgemeinen Abgrenzungsregeln, die unmißverständlich von seiner Hand stammt (fol. 67vb ):
Abb. 4: Schema zum Verständnis und zur Anwendung der vier allgemeinen Abgrenzungsregeln [nach der Hs. Florenz, Bibl. Naz. Centrale, II. IV. 553, fol. 67vb ]
Es ist offensichtlich, daß diese Graphik zu keinem richtigen Text gehört. Nicolaus Caritellus, der Schreiber, war wohl eher ein Fachmann, vielleicht ein Lehrer oder ein Student, der dadurch versuchte, die wichtigsten Ideen graphisch festzuhalten. An das Schema findet sich die folgende Ausführung (fol. 67vb ): „Notandum qualiter illa verba ,incipit‘ et ,desinit‘ habent exponi secundum diversitatem rerum permanentium vel successivarum animatarum vel inanimatarum. Notandum quod quelibet res animata desinet 44 esse per remotionem 45 de presenti et positionem de preterito, ut sit ,Hoc homo nunc non est et immediate ante hoc instans quod est presens iste homo fuit. Ergo iste homo desinit esse‘. Notandum quod quelibet res animata incipit esse per positionem de presenti et remotionem de preterito, ut sit ,iste homo nunc est et immediate ante hoc instans presens iste homo non fuit, ergo iste homo incipit esse‘. Notandum quod quelibet res inanimata permanens desinit esse per positionem de presenti et remotionem de preterito ut sit ,iste lapis non est et non immediate ante hoc instans quod est presens iste lapis fuit; ergo iste lapis desinit esse‘. 43 44 45
Zum Beispiel zum Text No 7 (siehe Anhang 1). post desinit] incipit scr. et del. Ms. post remotiones] positiones scr. et del. Ms.
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Notandum quod quelibet res inanimata successiva incipit esse per remotionem de presenti et positionem de futuro, ut sit ,ista hora nunc non est et immediate post hoc erit, ergo ista hora incipit esse‘. Notandum quod qualibet res inanimata successiva desinit esse per remotionem de presenti et positionem de preterito, ut sic ,ista hora nunc non est et immediate ante hoc instans quod est presens fuit. Ergo ista hora desinit esse‘.“
Zu der bekannten Unterscheidung zwischen res permanens und res successiva fügt er noch die Unterscheidung zwischen lebendigen und nicht lebendigen Dingen hinzu und führt dann, wie häufig, die expositio terminorum durch. Nach dieser Erklärung folgt eine Stelle (fol. 68ra ), die er als ,Text des Autors‘ betitelt: „Textus auctoris Sit a totum tempus in quo illa res habet esse et sit b primum instans ipsius temporis. Tu dicis quod b est ultimum instans non-esse rei. Contra: in b res habet esse sed res non habet esse quando habet non-esse. Ergo b non est ultimum instans non-esse rei. Maior probatur quia in toto tempore in quo illa res habet esse habet esse, tunc ultra illud quod habet esse in alio tempore et habet esse in instanti habet esse in quolibet instanti. Sed Sor per casum habet esse in toto tempore a et habet esse in instanti, quia *habet+ post b; ergo habet esse in quolibet instanti illius temporis, tunc ultra habet esse in quolibet instanti. Ergo habet esse in b instanti, quia b instans est aliquod instans istius temporis. Tunc ultra habet esse in b instanti et b instans est primum instans istius temporis, ut ponit casus. Ergo habet esse in primo instanti istius temporis; sed tu dicis contrarium. Ergo *etc.+ Minor patet, quia esse et non-esse non possunt simul stare. Consequentia probatur, quia si res habet esse in b res non habebit non-esse in b, sed si non habebit non-esse in b, b non erit aliquod instans non-esse rei. Si non erit aliquod instans non erit ultimum. Ergo b non est ultimum instans non-esse rei.“
Mir ist es leider nicht gelungen, den Verfasser dieser Stelle zu identifizieren. Aber der Kontext scheint mir der folgende zu sein: Caritellus las Burley, Paulus Venetus und Autoren über Logik und Sprachphilosophie, insbesondere über die Logik der Zeitgrenze. Er machte sich dabei Notizen und bereitete sich auf eine Diskussion mit den passenden Regeln, mit einer zusammenfassenden Version der Ontologie von Permanenten und Sukzessiven und mit einem Sonderfall aus einem bestimmten Autor vor. Anhang Editorische Vorbemerkungen: Mit * + habe ich eine Gliederung für die Hauptteile des Textes und einige Hinzufügungen vorgenommen, die die Lektüre des Textes erleichtern sollen (darunter auch die Durchnumerierung der Regeln). Analysierte Aussagen oder Termini werden mit Anführungszeichen ,…‘ gekennzeichnet und für den speziellen Fall der negativen Substantivierung des Verbs ,sein‘ wurde durchgehend ein Bindestrich eingeführt: ,non-esse‘. Buchstaben wurden für den Verweis auf
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Quellen und Zahlen für einige textkritische Bemerkungen benutzt. Da der Text nur in dieser einen Handschrift bekannt ist und diese wenig zuverlässig ist, waren mehrere Emendationen vonnöten. Diese sind mit correxi ex vermerkt.
Anhang 1: Beschreibung der Handschrift F = Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, II. IV. 553 (Magl. C1. V, num. 29) - 126 foll. 4∞, Papier - Datierung: Mitte des 15 Jh. Der größte Teil der Handschrift wurde von einem Schreiber (Nicolaus Caritellus = H2) geschrieben, der seine Arbeit an zwei Stellen datierte: Text 8: 1459 und Text 10: 1460. In diesem Zeitraum kann er auch die anderen Texte kopiert und die Anmerkungen zu den wenigen von ihm nicht kopierten Texten angebracht haben. Die Abschriften dieser letzten können etwas früher entstanden sein. - Inhaltlicher Überblick: Sammelband: Naturphilosophie - Logik. - Beschreibung in: Mazzatinti liefert nur eine allgemeine Beschreibung, bei der viele Verfasser und Texte nicht erkannt wurden 46. Außerdem wird seine Datierung des Codex (14. Jh.) durch das vom ihm übersehene Abschriftsdatum der Texten N∞ 8 und N∞ 10 (mit Namen des Schreibers) widerlegt. Da der Text N∞ 3 im Rahmen der Thomasausgabe erfasst wurde, sind auch dort einige Angaben zur Handschrift zu finden 47. - Provenienz bzw. Vorbesitzer: Die Handschrift stammt aus der Bibliothek der Familie Gaddi, wo sie die Signatur N∞ 516 hatte. Von dort wurde sie von Antonio Magliabechi übernommen und mit der Signatur Magl. C1. V, 29 versehen 48. - Schreiber/Hände: H1: 1r-41v (1r-22r; 23r; Anm. von H2). H2 (Nicolaus Caritellus: vgl. N∞ 8 und N∞ 10): 33r; 42r-51r; 52r; 65ra-70rb; 73v. H3: 64ra-vb: Anm. von H2. H3: 99ra-107ra; H4: 116ra-121ra. - Bemerkung: Numerierung an der oberen rechten Ecke. Die Handschrift enthält zwei Blätter 67. - Inhalt: 1. foll. 1r-22r: Aristoteles: Analytica posteriora (unvollständig). Inc.: „Omnis doctrina et omnis disciplina intellectiva ex pre presitenti fit cognitione [sic!] […].“ 49 Expl.: „[…] bonum autem malo contrarium est et indivisibile divisibili; est itaque bono esse quod indivisibili esse […]“ Lib. II, Cap. 6, p. 323, lin. 11 (Bekk 92a). Abschrift mit zahlreichen inhaltlichen Anmerkungen versehen. - fol. 22v: leer.
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Inventari dei manoscritti delle biblioteche d’Italia, a cura di Giuseppe Mazzatinti, Torino 1887, vol. 9, 88-89. Cf. Codices manuscripti operum Thomae de Aquino, Romae: Commissio Leonina 1967, 348. Ich bedanke mich für die Bestätigung dieser Information bei Frau Isabella Truci (Bibl. Naz. Centrale, Handschriften-Abteilung, Mitteilung vom 7. 5. 2007). Cf. Ch. H. Lohr, Latin Aristotle Commentaries, vol. 3: Index initiorum - Index finium, Firenze 1995.
Walter Burley, Paulus Venetus und die Tradition ,De instanti‘
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2. 23r: Publius Vergilius Maro: Aeneis, beginnende Verse: „Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris […] dives opum studiisque asperrima belli “ (Liber I, 1-14). - foll. 23v-32v: leer. 3. foll. 33r: Thomas von Aquin (?): De fallaciis (unvollständig). Inc.: „Quoniam lo *g+ica est rationalis scientia et ad ratiocinandum inventa […].“ Expl.: „[…] Dialectica vero disputatio etiam est ex probabilibus.“ Am Anfang von Kapitel 2 bricht diese Abschrift ab, die mit dem Text N∞ 5 zusammenhängt. Laut Corpus Thomisticum ist dieser Text als dubium zu betrachten 50. - foll. 33v-41v: leer. 4. foll. 42r-44v: Jacobus de Sancto Martino (?): Tractatus de latitudinibus formarum. Inc.: „Quia formarum latitudines multipliciter variantur: que multiplicitas difficulter discernitur nisi ad figuras geometricas consideratio referatur. Ideo premissis […]“. Expl.: „[…] Plura alia correlaria circa presentem materiam elici possent ex predictis que considerantibus facilior possunt ocurrere. Ideo ego transeo. Amen. Explicit tractatus de latitudinibus formarum scriptus Jacobus de florentia ordinis heremitarum Sancti Augustini.“ Dieser Text, der in mehr als 50 Hss. überliefert wird, wurde mehrfach während der Renaissance gedruckt. Eine halbkritische Edition von ihm hat T. Smith angefertigt. Die Frage nach dem Verfasser dieses Textes ist bislang nicht endgültig geklärt. Im allgemeinen wird die Zuschreibung zu Jacobus de Sancto Martino, die Anneliese Maier vorgeschlagen hat, angenommen 51. 5. foll. 45r-51r: Anonym: *Schemata de disputatione logica+. Inc.: „Disputatio est actus sillogisticus unius ad alterum ad propositum ostendendum […].“ Expl.: „[…] sub modo dubii “. Schematische Darstellungen über ,disputatio‘ und ,logica‘. Obwohl diese Blätter keinen durchgehenden Text enthalten, sind sie inhaltlich und historisch relevant. Sie hängen mit den Texten 3 und 6 unmittelbar zusammen und überliefern sehr wahrscheinlich die Anwendung des dem Thomas von Aquin zugeschriebenen Textes ,De fallaciis‘ im Schulbetrieb. Es könnte sich um eine Aufzeichnung des Schreibers selbst handeln. - fol. 51v: leer. 6. foll. 52r-63: Anonym: Commentum super Fallaciis Sancti Thomae de Aquino (unvollständig). Inc.: „([Rubr.]: Initium comenti super Fallaciis Sancti Thomae de Aquino). Quia logica est rationalis scientia et ad raciocinandum inventa. Iste est tractatus qui intitulatur de fallaciis Sancti Thome de Aquino et non […].“ Expl.: „[…] immo capitur etiam opinio pro scientia secundo modo dicta.“ 52 - foll. 52v-63v: leer. 7. foll. 64ra-vb: Paulus Pergulensis [Paolo de Pergula]: De sensu composito et diviso (unvollständig): Inc.: „Differt sensus compositus a diviso quia sensus compositus restringuitur ad determinandum tempus vel instans […].“ Expl.: „[…] aliter non sentient quid dicat
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Cf. *http://www.corpusthomisticum.org/dp3.html+ [15. 07. 07]. Zur Textüberlieferung und zum Nachleben dieses Textes siehe D. A. Di Liscia, Zwischen Geometrie und Naturphilosophie. Die Entwicklung der Formlatitudenlehre im deutschen Sprachraum, Wiesbaden 2008 (im Druck); T. Smith, A Critical Text and Commentary upon De latitudinibus formarum, Diss. University of Wisconsin, 1954; A. Maier, An der Grenze von Scholastik und Naturwissenschaft. Die Struktur der materiellen Substanz. Das Problem der Gravitation. Die Mathematik der Formlatituden, Rom 21952, 369-375. Erwähnt in: Codices manuscripti operum Thomae de Aquino, Romae: Commissio Leonina ad Sanctae Sabinae 1967, 348.
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in hac materia. Est finis laus Deo. Et hic est finis huius tractatus componendi ac dividendi per famosum virum magistrum Paulum Pergolensem. Iterum laus Deo. Amen.“ Cf. Maieru` 1972, 607-622. Der Text beginnt in der Mitte des sechsten Modus 53. Die zahlreichen Anmerkungen stammen von Nicolaus Caritellus’ Hand. Dieser Text wurde 1500 unter dem Titel ,Expositio de sensu composito et diviso accutissimi doctoris Pauli Pergulensis‘ in Venedig von Jakob Pentius de Leuco gedruckt, und zwar zusammen mit zwei weiteren Texten über dieselbe Thematik von Johannes Baptista Fabriano (siehe unten Text 12) und Bernardinus Petrus de Senis. foll. 65ra-67vb(bis): Walter Burley: De primo et ultimo instanti. Rubr.: „Inicium tractatus primi et ultimi instantis secundum Burleum Gualterium feliciter.“ Inc.: „Queritur utrum sit dare primum […].“ Expl.: „[…] expleta est questio de primo et ultimo instanti secundum preclarum doctorem Gualterium de Burleis scripta per me Nicolaum Caritellum dum essem studens Bononie et dum essem in domo M. militis domini Achillis de Malvitiis 1459 die xxiiij iiij mensis septembris in die veneris. Deo omnipotenti gratias.“ 54 foll. 67vb(bis)-68ra: Anonym (Nicolaus Caritellus?): Kurze Erläuterung der Thematik von De instanti, verbindet die Text 8 und 10. Siehe Abschnitt 3 in diesem Beitrag. foll. 68va-69va: Paulus Venetus (=Paolo Nicoletto): Tractatus de primo et ultimo instanti. Inc.: „([Rubr.]: *S +criptum Clarissimi doctoris Pauli Veneti feliciter incipit de primo et ultimo instanti […] *Instans+ alicuius rei […].“ Expl.: „[…] in propria videlicet deductione videri potest. Hic terminatur brevis tractatus de primo et ultimo instanti secundum clarissimum doctorem sacre theologiae et philosophorum principem doctorem magistrum Paulum Venetum Ordinis Haeremitarum Sancti Agustini. Scriptum per me Nicolaum Caritellum Bononiae in domo domini Achillis de Malvitiis. Anno 1460.“ Erwähnung: Bottins Untersuchung zu Paulus Venetus 55. Edition und Kommentar in diesem Beitrag. fol. 70r: Anonym: Kurzes Fragment über Logik oder Naturphilosophie: Inc.: „Quarum non sunt quinque. Ultra dicendum est quod ea que sunt in arte […].“ Expl.: „[…] et omnia considerata in ea ad illud reduci.“ foll. 70v-71v: leer. fol. 72r: Johannes Baptista Fabriano: Expositio de sensu composito et diviso (Fragmente). Inc.: „Termini connotati sunt termini […] Nota quod cum pluribus modis fiat sensus compositus et divisus […].“ Expl.: „[…] non habebunt virtutem super illam et sic non faciet sensum compositum.“ Der Name von Baptista Fabiano [sic] wurde am oberen linken Rand geschrieben, aber es handelt sich nicht um eine Abschrift des 1500 gedruckten Textes, sondern nur um kurze Aufzeichnungen, die diesem Text entnommen wurden 56. fol. 72v: leer. foll. 72r(bis)-73v: Gaetano da Thiene: Expositio Tractatus Hentisberi de scire et dubitare. Inc.: „Scire multis modis dicitur, scilicet communiter et proprie, magis proprie et propriissime […].“ Expl.: „[…] idem habet concedendi hoc scis esse hoc. Sed arguitur quod non quia sequeretur.“ Der Text bricht im dritten casus ab. Die ,Expositio‘ von Gaetano
M. A. Brown (ed.), Paul of Pergula. Logica and Tractatus de sensu composito et diviso, New York 1961, 149-158; Anfang: 153, l. 154. Ediert in: Shapiro/Shapiro, De primo et ultimo instanti (nt. 19); ohne diese Hs. Bottin, Logica e filosofia naturale (nt. 5). Expositio de sensu composito et diviso sacre theologie profesoris magistri Baptiste de Fabriano, Venedig 1500 (siehe oben, Text 7).
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da Thiene wurde mit dem Text von Heytesbury gedruckt, zum Beispiel in der Ausgabe Venedig 1494 57. fol. 74r-98v: leer. fol. 99ra-107ra: Anonym: Logisches Fragment. Inc.: „Ut patet ex prima conclusione sic admisso quod […]“. Expl.: „[…] et cum exponit aliquis est terminus.“ foll. 108r-115v: leer. foll. 116ra-121ra: Radulphus Strodus (= Ralph Strode): *Tractatus De consequentiis+. Inc.: „Consequentia est illatio consequentis ex antecedente. Et quia poterit aliquid inferri […].“ Expl.: „[…] concedo quod in ista propositione homo est animal per homo […].“ Der Text bricht ab. Dieser Text wurde mit Kommentaren von Alexander Sermoneta und Paolo de Pergula und Gaetano da Thiene gedruckt 58.
Anhang 2: ,Tractatus de primo et ultimo instanti Pauli Veneti‘ *S +criptum Clarissimi doctoris Pauli Veneti feliciter incipit de primo et ultimo instanti *Prohemium+
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Instans 59 alicuius rei potest dupliciter intelligi: inclusive et exclusive. Inclusivum 60 extremum bis terminis ,primum esse‘ et ,ultimum esse‘. Exclusivum extremum bis terminis ,primum non-esse‘ et ,ultimum non-esse‘. ,Primum instans esse‘ est instans in quo est verum dicere ,res nunc est et immediate ante hoc non fuit‘. ,Ultimum instans esse‘ est instans in quo est verum dicere ,res nunc est et immediate post hoc non erit‘. ,Primum instans non-esse‘ est illud in quo est verum dicere ,res nunc non est et immediate ante hoc fuit‘. ,Ultimum instans non-esse‘ est instans in quo est verum dicere ,res nunc non est et immediate post hoc erit‘. *De differentia inter permanentia et successiva+
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Nota quod differentia est inter rem permanentem et rem successivam. Res permanens est cui non repugnat ex natura rei habere omnes partes simul, huius exemplum est lapis et similia. Res successiva est cui repugnat omnes partes habere simul, ymmo ex natura rei est habere unam partem priorem et aliam posteriorem, ita quod quando prior est, non est posterior et econtrario. Huius 57
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William Heytesbury, Regule solvendi sophismata, Venedig 1494 (in dieser Ausgabe findet sich Gaetanos ,Expositio‘ auf foll. 16va-20ra; der in dieser Hs. überliefert Teil davon geht bis fol. 17va. Commentum super Consequentiis Strodi; Paulus *Pergulensis+ Dubia; Strodus, Rodulphus: Consequentiae, Venedig 1484 und 1488 (diese Ausgabe enthält auch ,Quaedam declarativa Consequentiarum Strodi‘ von Gaetano da Thiene). ante instans] il. add. F Inclusivum] correxi ex inclusive F
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exemplum est dies, mensis et hora. Res permanens quedam est durans per tempus, quedam vero per instans. Res permanens durans per tempus est duplex: quedam dependet a re successiva et per rem successivam conservatur in esse; quedam nec in esse nec in conservari dependet a re successiva. Exemplum primi est veritas huius propositionis ,Sor currit‘ et similia. Exemplum secundi est lapis, homo et similia. Res permanens non dependens in esse nec conservari a re successiva est duplex: quedam tanquam positiva ut album vel albedo, quedam tanquam privativa ut non album et non albedo. Prima res seu forma positiva est duplex: quedam consistit in latitudine, ita quod corrupto uno gradu latitudinis, exempli gratia, *hec res+ dicitur conservari sub alio gradu, ut caliditas, frigiditas et similia; et quedam consistit in forma indivisibili, ita quod quocumque apposito vel ablato non dicitur esse sub tali forma, sicut bicubicum, tricubicum, bipedalis, summus gradus, octavus gradus, quartus gradus et similia. Secunda res seu forma privativa est duplex: quedam est privatio successivi ut ,non currere‘, quedam est privatio permanentis. Et hec est duplex: quedam est privatio permanentis consistentis in indivisibili, quedam est privatio permanentis consistentis in 61 divisibili vel latitudine. *Propositiones+
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*1+ Si res 62 habet esse solum per instans *tunc+ est dare primum instans sui esse et ultimum instans sui esse. Ymmo idem est primum et ultimum instans sui esse. Ista propositio clara est. *2+ Rei permanentis per tempus durantis que in esse et *in+ conservari dependet a re successiva non est dare primum instans nec ultimum. Ergo propositio vera, antecedens et consequentia 63 patebunt infrascriptis. *3+ In quibuscumque rebus est dare primum instans esse, in eisdem non est dare ultimum instans 64 non-esse. Probatur 兩 quia si sic sit b primum instans esse et a ultimum instans non-esse, quero aut a et b sunt idem instans aut diversa. Non idem quia in eodem instanti res esset et non esset, ergo diversa. Quero tunc aut mediata aut immediata. Non secundum quia tunc instantia essent immediata, quod est contra Philosophum 6to Physicorum a. Si mediata, ergo inter a et b cadit tempus medium in quo non potest dici quod Sor est nec quod Sor non est, quod est contra primum principium. Sed quod in illo tempore *Sor+ nec sit nec non sit, probatur, quia si in illo tempore medio esset, cum illud tempus sit ante b, res esset ante quam esset, vel b non esset primum instans esse, quod est contra ypotesim. Si autem in illo medio non esset, cum illud tempus medium 61 62 63 64 a
ante in] in scr. et del. F res] correxi ex qua F ante consequentia] consequens scr. et del. F instans] correxi ex quod F Aristoteles, Physica VI, 234a5-10.
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sit post a sequitur quod post a non esset, ergo a non esset ultimum instans non esse, quod est contra ypotesim. Sed si in illo tempore medio non esset ergo post ultimum sui non-esse non esset, et sic esset dare posterius postremo, quod est impossibile. *4+ In quibuscumque rebus non est dare primum instans esse, in illis est dare ultimum instans non esse. Probatur sic: quelibet res habens esse de novo aut habet esse in instanti aut in tempore 65. Primum dari non potest ex secunda suppositione, quia divisibile esset primum instans esse, quod prima pars propositionis negat. Si in tempore, accipio totum tempus in quo illa res habet esse, et sit a, et sit primum *instans+ ipsius temporis b, tunc quero aut illa res habet esse in b aut non esse. Non est dare quod habeat esse in b, quia si hoc esset tunc b esset primum instans sui esse, quod *est+ contra primam partem propositionis. Ergo habet non-esse in b, quia continue habet esse post b quia in toto 66 a habebat esse. Ergo b est ultimum instans in quo illa res habet non esse. Ergo si non est dare primum instans in quo habet esse *tunc+ est dare ultimum instans in quo res non habet esse, et hoc loquendo de re que de novo habet esse. Unde si sit res cuius non est dare primum instans esse, tunc primum instans totius temporis adequate mensurantis suum esse est ultimum instans sui non esse, quia in illo instanti res non est et immediate post illud instans erit. Ergo illud instans est ultimum in quo res non est. *5+ In quibuscumque est dare ultimum instans esse, *in illis+ non est dare primum instans non esse. Probatur quia si est dare ultimum instans esse et primum instans non-esse *tunc+, cum inter hec duo instantia valet esse tempus medium, in quo tempore medio res esset 67 et non esset, quod est contra primum principium. Probatur quia tempus illud medium est post instans ultimum sui esse, ergo si in illo tempore esset, prius quam non esset, et sic esset dare ulterius ultimum. Nec posset dici quod in illo tempore medio non esset, quia illud tempus est ante primum instans sui non esse, et sic esset dare prius primum, quod est impossibile. *6+ 兩 In quibuscumque non est dare ultimum instans in quo res habet esse in eisdem est dare primum instans in quo res non habet esse. Probatur supposito quod res habeat finitum tempus sibi adequatum in quo habet esse, ita quod in essendo non excedit tempus illud nec exceditur ab eo. Sit igitur a ultimum instans istius temporis et sit b totum tempus. Tunc arguitur sic: aut illa res habet esse in a aut non. Non potest dici quod habeat esse, quia tunc illud instans a esset ultimum instans sui esse, quod *est+ contra primam partem propositionis. Ergo sequitur quod illa res in a instanti habet non-esse et nunquam ante a instans habebat non-esse eo quo per totum b tempus habebat esse. Ergo a est primum instans sui non esse. Ex quo patet quod non est dare ultimum instans in quo
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in instanti aut in tempore] correxi ex in tempore aut in instanti F ante quia in toto] quia in toto scr. et del. F res esset] correxi ex in res non F
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Sor habet esse, quia signato b 68 tempore durante mensurante durationem Sortis ultimum instans ipsius esse est primum instans non-esse Sortis. *7+ In rebus permanentibus in esse et conservari a re successiva non dependentibus est dare primum instans. Probatur: quelibet talis erit esse tantum per instans aut per tempus. Si primum, clara est conclusio et sic est prima propositio. Si secundum, arguitur sic: talis res processit in esse per motum et mutationem, ergo habet esse in ultimo instanti temporis mensurantis istum motum vel mutationem, quia talis res est terminus motus vel mutationis. Sic non, tunc primo habet esse terminus motus; quod patet, quia terminus motus non habet esse ante finem motus, nam habito termino cessat motus primo De generatione et corruptione b et secundo De anima c. *8+ In quibuscumque rebus permanentibus a re successiva in esse et conservari dependentibus non est dare primum instans in quo tales res habeant esse. Probatur quia si sic, *tunc+ esset dare primum instans esse rei successive, quod est contra Aristotelem 6∞ Physicorum d. Probatur consequentia in exemplo de veritate huius propositionis ,Sor currit‘ que est res permanens dependens a re successiva. Veritas huius propositionis ,Sor currit‘ nunquam est nisi quando Sortis cursus sit sed precise tunc et econtrario. Ergo si esset dare primum instans veritatis huius propositionis „Sor currit“ etiam esset dare primum instans cursus Sortis et sic rei successive, quod est impossibile. Item probatur consequentia: signata tali accipio ultimum instans talis temporis totius mensurantis istam mutationem vel motum per quem perdurat illa res, et sit illud instans a. Tunc quero aut illa res habeat esse in a aut non. Si non, ergo ad huc quod habeat oportet quod fiat aliqua ulterior mutatio per quam illa res producatur, et sic a non fuit ultimum instans temporis mensurantis totum motum per quem illa 兩 res debet produci, quod est contra suppositionem, ergo illa res habet esse in a. Et quero tunc aut illa res habuit esse a parte ante a et, quandocumque habuit esse, cessaret motus per quem illa res debuit produci in esse, quia habitis presentibus in materia cessat motus, ergo sequitur quod motus per quem illa res producitur cessat seu terminat ante a instans. Ergo a proprium fuit ultimum instans ipsius temporis, quod est contra suppositionem. *9+ Rei positive cuius perfectio consistit in indivisibili 69 est dare ultimum instans in quo talis res habet esse. Patet conclusio de summo calido etc., quia quocumque modico ablato non manet eadem res. Applicetur ergo a gradui summo caloris agentis contrarium, *tunc+ arguitur: sine medio aliquid a erit corruptum, ergo instans applicationis agentis contrarii ad a est ultimum instans in quo habet esse a. Nec potest dici quod in aliquo instanti post instans applicationis a maneat in sua perfectione, quia sequeretur quod in tempore medio inter 68 b c d 69
b] dub. F Cf. Aristoteles, De generatione et corruptione I, 324b16-17. Locus non inventus. Aristoteles, Physica VI, 236a14-15. indivisibili] correxi ex divisibili F
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instans applicationis et aliud datum, agens esset approximatum passo a motis impedientis et non agentis, quod est impossibile. Eadem conclusio est de bicubito, tricubito etc., que consistent in indivisibile quod est dare ultimum instans eorum. *10+ In quibuscumque formis est dare ultimum instans esse forme precedentis, in illis, primum instans forme sequentis non est dandum, quia sic instantia essent immediata. Unde cum sit dare ultimum instans in quo albissimum est, non est dare primum instans in quo est non albissimum. Similiter cum est dare ultimum instans in quo mobile est, in illo signato ubi non est dandum in quo sit in aliquo stante motu contrario, ut patet exercitato in hac materia. *11+ Rei positive cuius esse habet latitudinem vel gradum 70 sue perfectionis non est dare ultimum instans in quo talis res habet esse, hoc est Philosophi 8∞ Physicorum e. Probatur, quia talis res corrumpitur per alterationem; corruptio autem talis rei est finis alterationis seu in ultimo instanti temporis mensurantis alterationem. Sed in ultimo instanti alterationis est terminus alterationis primo inductus, cum sit corrupta forma precedens et sequens sit introducta. Et est dicendum quod est dare primum instans sui non-esse, quia est dare primum instans 71 in quo forma sequens habet esse, eo quod forma sequens est terminus alterationis per quem precedens corrumpitur. Ergo est dare primum instans in quo terminus alterationis habet esse. Ergo cum sit dare primum forme sequentis, sequitur quod sit dare primum instans non-esse forme precedentis, ergo non ultimum instans sicut fuit probandum. 兩 Et habet hec consequentia veritatem quando forma propter veram alterationem corrumpitur, quia si per divisionem vel aliud quemcumque modum foret, posset dari ultimum. *12+ Rei privative privantis rem successivam est dare primum instans et ultimum sui, ut non cursus etc., quia sicut non est dare primum instans motus sic est dare ultimum non-esse motus, ita quod dum „Sor incipit currere“ tunc est ultimum instans non cursus. Et a parte post est dare primum instans non cursus, quia cum non sit dare ultimum non cursus sicut nec cuiuslibet motus, ergo cum „Sor desinit currere“ est primum instans non cursus, quia tunc non est cursus et immediate ante hoc infuit non cursus quia tunc Sor currebat. *13+ Rei privative cuius privatio est rei permanentis dependentis in esse et conservari a re successiva est dare primum instans et ultimum. Probatur eodem modo sicut precedentes, ex quo res permanens ab ipsa dependet. Exemplum est de veritate huius propositionis ,Sor currit‘. *14+ Rei privative cuius privatio est rei permanentis dependentis a re successiva consistentis in latitudine non indivisibile, maxime cum per alterationem producitur, non est dare ultimum instans sed primum instans non-esse, et hoc est primum instans positivum et non est privativum, quia non est dare ultimum instans hominis sed est dare primum instans non-esse hominis. 70 e 71
gradum] correxi ex gradu F Aristoteles, Physica VIII, 263b10-15. post instans] scr. et del. il. F
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*15+ Rei privative cuius privatio est rei permanentis non dependentis a re successiva in indivisibili consistentis non est dare primum instans nec ultimum. Unde sicut albissimi vel calidissimi sub a gradu est dare primum instans et ultimum sic non albissimi seu non calidissimi non est dare primum instans nec ultimum, quia quodcumque horum daretur immediata forent instantia, vel in eodem tempore idem esset albissimum et non albissimum quorum utrumque est impossibile; hec in propria videlicet deductione videri potest 72.
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post potest] Hic terminatur brevis tractatus de primo et ultimo instanti secundum clarissimum doctorem sacre theologiae et philosophorum principem doctorem magistrum Paulum Venetum Ordinis Haeremitarum Sancti Agustini. Scriptum per me Nicolaum Caritellum Bononiae in domo domini Achillis de Malvitiis. Anno 1460 add. F
Präliminarien zur scholastischen Ontologie der Vergangenheit: praeteritio Sven K. Knebel (Berlin) Aller wohlbegründeten Kritik am Epochenklischee 1 zum Trotz fällt es uns schwer, in der Geistesgeschichte auf den Sortiermechanismus Mittelalter/Neuzeit zu verzichten. Es ist, als stünden wir immer noch unter dem Eindruck der doch längst sprichwörtlichen ,kopernikanischen Wende‘. Dabei macht man sich selten klar, daß die größte Horizonterweiterung, die wir der sogenannten Neuzeit verdanken, unsere Position nicht im Raum, sondern in der Zeit betrifft. Ich meine den unvorstellbaren Zugewinn an Vergangenheit, genauer gesagt, daran, was wir für unsere Vergangenheit zu halten geneigt sind. Der Zeitungsleser heute ist an Erfolgsmeldungen gewöhnt wie die, daß wir dem Urknall durch teleskopische Installationen inzwischen bis auf wenige hundert Millionen Jahre empirisch nahegekommen seien. „Nie zuvor, verkündeten die Hubble-Forscher stolz, habe der Mensch so weit zurück in die Vergangenheit geschaut […]“ 2 Die Entdeckung der Tiefenzeit, die Periodisierung der Erdgeschichte, war das große Thema der neuzeitlichen Geologie 3. Verglichen mit den erdgeschichtlichen Zeiträumen, mit denen wir seit dem 19. Jahrhundert habituell umgehen, schrumpfen die paar tausend Jahre unserer historischen Vergangenheit zu einer quantite´ ne´gligeable. Die historische Vergangenheit ziemlich exakt vermessen, sozusagen für den Ploetz zubereitet zu haben, war ein Ruhmestitel der Chronologie des 17. Jahrhunderts. In der damaligen Jesuitenscholastik wurde darauf gestützt die Ansicht vertreten, es sei beweisbar, daß die Welt nicht nur nicht, wie Aristoteles gelehrt hatte, ewig, sondern nicht einmal besonders alt ist: „mundum non solum non fuisse ab aeterno, sed neque eius originem esse admodum antiquam“ 4. 1630 hat der gelehrteste aller Chronologen, der französische Jesuit De´nis Petau, bei allem Zweifel an der Zuverlässigkeit der biblischen Zeitangaben, den Mut gehabt, den
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Der jüngste Beitrag zum Thema: K. Flasch, Philosophie hat Geschichte, vol. 1, Frankfurt a. M. 2003. Cf. meine Rezension in: Philosophisches Jahrbuch 112 (2005), 217-224. Der Spiegel 12/2004, 183. Cf. P. Rossi, The Dark Abyss of Time, Chicago 1984; S. J. Gould, Time’s Arrow - Time’s Cycle. Myth and Metaphor in the Discovery of Geological Time, dt. Ausg. u. d. T.: Die Entdeckung der Tiefenzeit, München-Wien 1990. Antonius Bernaldus de Quiros, Opus philosophicum, Lyon 1666, 760b. Er fährt fort: „A posteriori etiam probatur. Nam si mundus fuisset aeternus, quıˆ fieri posset, ut nullius rei, quae ante sex millia annorum in orbe fuerit, nulla sit memoria?“
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Weltanfang sogar exakt zu datieren: auf das Jahr 3984 vor Christi Geburt 5. Selbst noch auf der Schwelle zum 19. Jarhundert, mit Kant im Rücken, veranschlagt ein protestantischer Autor „die kleine Vergangenheit der kleinen Erde“ auf 6 000 Jahre 6. Der Faktor, um welchen die okzidentale Menschheit seitdem mental Vergangenheit hinzugewonnen hat, übersteigt demnach den Faktor wohl jedes meßbaren technischen Fortschritts. Insofern könnten Mediävist und Neuzeithistoriker sich geistesgeschichtlich vielleicht doch auf eine Epochenzäsur einigen. Sie würde da verlaufen, wo das am wenigsten Sinnfällige - unsere Vergangenheit - entgrenzt wurde.
I. Ein lateinisches Äquivalent für ,Verg ang enheit‘? Im Zuge solcher Überlegungen, die angedeutet zu haben hier genügen muß, stellt sich die Frage: War die Bibel das einzige Hindernis für den Zugewinn an Vergangenheit? ,Zugewinn an Vergangenheit‘ - zumindest in dieser Form, behaupte ich, würde die Scholastik noch nicht einmal verstanden haben, über den Mangel woran wir heute uns so elegant verständigen. In einem gewissen Sinn betrifft die Frage denjenigen Begriff der Dauer (dure´e), für welchen gilt: „Es geht nicht um Vergangenheit, wenn von Dauer die Rede ist, sondern um Präsenz“ (Andreas Speer). Doch der scholastische Begriff duratio war, wissen wir, weiter. Was das Sein der Dauer unter den Bedingungen der Endlichkeit betrifft, hat die Scholastik die Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sogar für so unhintergehbar gehalten 7, wie das für die seit McTaggart so genannte A-Theorie der Zeit charakteristisch ist. Gestatten Sie mir daher, bei der Vergangenheit zu bleiben. Bisweilen hat man den Eindruck, als erschöpfte sich für die philosophische Mediävistik die Relevanz eines Zeitbegriffs, welcher von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht abstrahiert, in der Epistemologie der futura contingentia. Über die Zukunft zu kurz kommt die scholastische Thematisierung der Vergangenheit. Dabei sollte man meinen, dies wäre das uns überhaupt zugänglichere Thema, und, was die Scholastik darüber zu sagen hat, wäre darum nicht weniger erforschenswert, weil es ohne die theologische Präszienzhypothese auskommt. Akut wird es jedenfalls schon aus hermeneutischen Gründen. Daß die lateinische Tradition einen mit dem unsrigen überhaupt vergleichbaren Begriff der Vergangenheit gehabt hat, kann nämlich nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. 5
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Dionysius Petavius, Opus de doctrina temporum (11630), ed. J. Hardouin, Antwerpen 170305, vol. 3, 282. Jean Paul, Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht (1801) und Titan (1802), in: Sämtliche Werke HKA I/9, Weimar 1933, 554 bzw. 104. Cf. Rodericus de Arriaga, Cursus philosophicus: Phys. disp. 15 § 36, Antwerpen 11632, 451b: „Duratio […] creaturae habet esse praesens, praeteritum, et futurum.“ Erkenntnistheoretisch: Thomas de Aquino, In I Perih. 14, 19; Quodl. XI q. 3; Summa contra gent. II, 96, 10.
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Unser Begriff der Vergangenheit ist ein Produkt erst des 19. Jahrhunderts. Davon überzeugt man sich leicht, wenn man sich das massenmediale Angebot vermeintlicher Selbstverständlichkeiten über ,die‘ Vergangenheit vergegenwärtigt und das Experiment macht, es sich ins Lateinische zu übersetzen. Es geht nicht, angefangen von der pädagogischen Anpreisung der ,lebendigen Vergangenheit‘ bis hin zur Moral der ,Vergangenheitsbewältigung‘. Der liberale Kampfbegriff, demzufolge mit der Vergangenheit, je nachdem, entweder ,gebrochen‘ werden muß oder sie nicht ,verdrängt‘ werden darf, liegt der Scholastik ebenso fern wie die Vergangenheit der romantischen Esoterik, dieser „ernste Begriff, allen bekannt, und doch von wenigen verstanden“ 8, oder, um ein hundert Jahre nach Schelling geflügeltes Wort zu zitieren, wie die Vorstellung: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ 9 Die ebenso unübersetzbare wie suggestive Frage läßt sich auch auf den Signifikanten beziehen: Wo genau dürfte die Äquivokationskritik aufhören? Herkunft und Dauer (dure´e) unserer Kategorien sind ja desto weniger sorgfältig ausgelotet, je aufdringlicher sie sind, je weiter sie abliegen von den Kunstausdrücken eines Schuljargons. Über die Geschichte des Begriffs ,Hypostasis‘ wissen wir unvergleichlich gründlicher Bescheid als über die unserer Zeitbegriffe, die wir so selbstsicher im Munde führen, und mit denen uns die Welt täglich in den Ohren liegt. In dieses Vakuum stoßen dann die - ich greife ein Wort des Berliner Philosophiehistorikers Wolfgang Hübener auf - transzendentalbelletristischen Spekulationen. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft: die Trichotomie ist unbestreitbar antikes Schulgut 10. Trotzdem ist es bemerkenswert, daß im Deutschen das Substantiv ,Vergangenheit‘ anscheinend nicht vor 1743 belegt ist. Wolff und selbst Kant kennen es nicht; eine Generation später ist es dann in aller Munde. Gesetzt den Fall, es hätte überhaupt an einem funktionalen Äquivalent dafür gefehlt, wofür eine Nationalsprache wie das Deutsche auch erst seit relativ Kurzem ,Vergangenheit‘ hat, hat das Neutrum des Partizips Perfekt Passiv von praeterire die lateinische Tradition vielleicht blockiert? Womöglich trennt uns transzendental etwas von der Scholastik, etwas in unserer kategorialen Ausstattung? Eine in Deutschland heute verbreitete Schulmeinung würde hier in der Tat Diskontinuität vermuten. Man deduziert die „vollständige Trennung von Zukunft und Vergangenheit als je eigenständiger Zeithorizonte“ aus dem Füllhorn der ,Neuzeit‘. Aus gewissen Gründen sei es erst in der Neuzeit ,erforderlich‘ geworden, „nicht mehr nur gattungsmäßig aggregierend von Künftigem und Vergangenem zu sprechen, sondern darüber hinaus Zukunft und Vergangenheit als Horizonte der Selektion zu unterscheiden“ 11. Mit demselben Recht, mit dem man ge8 9 10
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F. W. J. Schelling, Die Weltalter, in: Sämtliche Werke, Stuttgart 1856 sqq., vol. I/8, 259. Th. Mann, Joseph und seine Brüder, vol. 1 (11933), Frankfurt 1971, 5 (erster Satz). Sextus Empiricus, Adv. Math. X, 193, 197; Proclus, In Parm., ed. Cousin, 1236, 15-17; Ammonius Hermeiu, In Cat. (CAG IV/4), 93, 2-3; Augustinus, Conf. XI, 17, 22; Boetius, In De interpr., ed. II (PL 64), 456; Thomas de Aquino, De malo q. 16 a. 7. N. Luhmann, Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme (11972), in: H. M. Baumgartner/J. Rüsen (eds.),
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schichtsphilosophisch die ,Entdeckung der Zukunft‘ feiert 12, ließe sich dann auch von einer ,Entdeckung der Vergangenheit‘ sprechen. Auch das freilich wäre wieder nur eine der vielen faulen Hypothesen im Dienste der Neuzeitlegende. Nichts war, lehrt die oberflächlichste Thomaslektüre, dem an Cicero geschulten Menschenverstand des 13. Jahrhunderts geläufiger, als zeitlich einen Erfahrungsraum und einen Erwartungshorizont unterscheidend aufeinander zu beziehen 13. Lassen Sie mich trotzdem bei der Fehlanzeige etwas verweilen. II. ,Verg ang enheit‘ und praeteritio Bekanntlich haben die humanistischen Lexikographen die Bereicherung des Vokabulars durch das scholastische Latein geflissentlich ignoriert. So auch hier. In der Scholastik des 13. Jahrhunderts findet sich terminologisch die Unterscheidung zwischen praeteritum, als Oberbegriff für die Vergangenheitsformen des Verbs, und praeteritio, als Bezeichnung für das Korrelat, den modus essendi dieser grammatischen Tempora. Die Wortform praeteritio ist zwar schon älter. Seit dem 13. Jahrhundert ist das Substantiv aber nicht mehr darauf festgelegt, als nomen actionis zu fungieren. Es fungiert, uns ganz gewohnt, statisch als Gegenbegriff zu Gegenwart/Gegenwärtigkeit (praesentialitas) und Zukunft/Zukünftigkeit (futuritio) 14. Unentschieden blieb, ob Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf der Zeitachse der Früher-Später-Relation zu korrelieren sind 15 oder invers dazu, nämlich so: „Die Gegenwart einer Sache ist deren Existenz zu einer bestimmten
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Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, Frankfurt a. M. 1976, 337-387, hier 350. Ich beziehe mich auf die vulgarisierte Fassung von Reinhart Kosellecks Thesen bei L. Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999, besonders 35. Thomas de Aquino, Summa theol. I q. 22 a. 1: „[…] ex praeteritis memoratis, et praesentibus intellectis coniectamus de futuris providendis.“ Ähnlich II-IIae q. 49 a. 1 ad 3; III Sent. d. 33 q. 3 a. 1b. Dahinter steht Cicero, De inv. II, 160, ein Lieblingszitat des Thomas: Summa theol. I-IIae q. 57 a. 6 arg. 4; II-IIae q. 48 a. 1; III q. 11 a. 1 ad 3; De mem. et reminisc. 1, 1; In Metaph. I, 1, 11. Albertus Magnus, Opera omnia, ed. A. Borgnet, vol. 1: Logicae prima pars, Paris 1890, 342a (statt praeteritio liest Borgnet praeterito, ich korrigiere nach: Opera ad Logicam pertinentia, ed. Bernardinus Plumatius, Venedig 1506, 73vb ); Boethius Dacus, Modi significandi, sive Quaestiones super Priscianum Maiorem (1270/72) Q. 83, in: Opera, Kopenhagen 1969, 198; Petrus Aureoli, I Sent. dist. 38, Zeile 883-884, ed. Ch. Schabel, Peter Aureol on Divine Foreknowledge ˆ ge Grec et Latin 65 (1995), 63and Future Contingents, in: Cahiers de l’Institut du Moyen-A 212, hier 129; Siger de Cortraco, Summa modorum significandi, in: Œuvres (Les Philosophes Belges 8), ed. G. Wallerand, Löwen 1913, 91-125, hier 112. In den Wörterbüchern der frühen Neuzeit, deren Berichtszeitraum mit dem 12. Jh. schließt, fehlt das Lemma. Cf. Johann Matthias Gesner, Novus linguae et eruditionis Romanae Thesaurus, Leipzig 1749. Cf. Petrus Aureoli, II Sent. dist. 2 q. 1, Rom 1605, 33a: „[…] praeteritio non est aliud quam quaedam prioritas respectu praesentialitatis, et futuritionis“; Lucas Waddingus, Concordia Divinorum et Humanarum, vol. 1 (Imprimatur 1653), MS. BU Salamanca 156, 841v: „[…] praesentia, ut comparata ad antecedentem durationem, est futuritio: sicut eadem praesentia est praeteritio respectu durationis subsequentis.“
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Zeit. Vorher war diese Existenz futuritio, nachher wird sie praeteritio sein.“ 16 Unter dem Eindruck der aus der Prisciankommentierung übernommenen These von der Isomorphie der modi significandi und der modi essendi hat sich die Theologie um 1300 zur Interpretation schwieriger Bibelstellen (z. B. Johannesprolog) immerhin bereits veranlaßt gesehen, sich bei der Verwendung des Ausdrucks praeteritio um Genauigkeit zu bemühen. Unterschieden wird zwischen der praeteritio quoad esse, wo die Vergangenheitsform auf eine inzwischen erfolgte Veränderung abhebt, und der praeteritio circa tempus, wo sie lediglich der Datierung dient: concomitantia cum tempore praeterito 17. Während für die Deutung von Perfekt und Imperfekt natürlich auch die Unterschiede der Aktionsart relevant sind, stützt sich die Erklärung, die vom Korrelat des Plusquamperfekts gegeben wird, ausschließlich auf praeteritio in diesem chronologischen Sinn. Mit dem Plusquamperfekt, sagt Boethius von Dacien, sei eine von der Gegenwart „weit entfernte praeteritio“ gemeint 18. Die neue Kategorie war semantisch flexibel, doch innerhalb eines engen Spielraums. Sowohl über die Thomas- als auch die Scotuskommentierung, also die zwei mächtigsten Ordensschulen, wurde in der Gedächtnispsychologie das Theorem von der duplex praeteritio tradiert: Intellektuellen Informationswert hat danach nur eine Datierbarkeit, die sich auf das Erlebnis bezieht, nicht auf das Erlebte 19. Mit praeteritio konnte sowohl diese existenzbezügliche Datierbarkeit 20 als auch eine Abstraktion gemeint sein. Man konnte sagen: praeteritio temporis praeteriti 21. Es überrascht daher nicht, daß spätestens im 14. Jahrhundert explizit auch zwischen dem Vergangenen (praeteritum) und der Vergangenheit (praeteritio) 16
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Petrus Hurtadus de Mendoza, Disputationes de universa philosophia, Lyon 1617, 844: „Praesentia rei est eiusdem existentia in aliquo tempore, quae existentia in tempore praecendenti erat futuritio, in subsequenti autem erit praeteritio.“ Thomas de Sutton, Quaestiones ordinariae, q. 24 Utrum aevum habeat in se prius et posterius (ca. 1300), ed. J. Schneider, München 1977, 781, 783 sq, 789 sq. Boethius Dacus, Modi significandi (nt. 14) 198-199: „Contingit etiam actum verbi esse praeteritum perfecte, ita quod quaelibet pars eius perfecta est et nulla pars eius est fienda, ita tamen, quod praeteritio huius multum remota est a praesenti: et sic actus verbi designatur per praeteritum plusquamperfectum.“ Cf. Priscianus, Inst. Gramm. VIII, 39 und 53, in: Grammatici Latini, ed. H. Keil, vol. 2, Leipzig 1855, 405 sqq. Thomas de Aquino, Summa theol. I q. 79 a. 6 ad 2 und De veritate q. 10 a. 2c: „[…] praeteritio potest ad duo referri: scilicet ad obiectum quod cognoscitur, et ad cognitionis actum.“ Cf. Ioannes Duns Scotus, IV Ord. dist. 45 q. 3, ed. A. B. Wolter/M. McCord Adams, Memory and Intuition: A Focal Debate in Fourteenth-Century Cognitive Psychology, in: Franciscan Studies 53 (1993), 175-230. Daher Petrus Tartaretus, Lucidissima commentaria sive (ut vocant) Reportata in quartum librum Sententiarum Ioannis Duns Scoti, Venedig 1583, 419a: „Dicit [sc. Scotus] ultra, quod memoria intellectiva non requirit duplicem praeteritionem, sicut memoria sensitiva […].“ Ioannes Duns Scotus, IV Ord. dist. 45 q. 3, in: Opera omnia, Lyon 1639 [Nachdruck 1968], vol. 10, 193: „[…] memoria […] respicit conditionem determinatam pertinentem ad existentiam, utpote praeteritionem […].“ Thomas de Sutton, Quaest. ord., q. 29 Utrum aevum potuit semper fuisse cum aeternitate, ita ut non haberet initium? (nt. 17), 823. Cf. Franciscus de Mayronis, Quodl. q. 7, in: Conflatus, Venedig 1520, 239vbN.
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unterschieden worden ist. Uns begegnet diese Unterscheidung bei Peter Aureoli 22. Zwar erregte sie prompt den Argwohn der Oxforder Theologen Ockham 23 und Thomas Bradwardine 24, aber Cajetan im frühen 16. Jh. bestand nachdrücklich auf ihr: Der Ausdruck praeteritum lasse sich sowohl formaliter als auch denominative verstehen. Man könne darunter sowohl die praeteritio selber als auch die Sache verstehen, die vergangen ist. Hier wurde die Referenz des Ausdrucks praeteritum entsprechend der aristotelischen Semantik der akzidentellen Prädikate gemodelt. Praeteritio stand für so etwas wie eine akzidentelle Form. Halten wir fest: Spätestens seit Albertus Magnus ist ein funktionales Äquivalent für unser Wort ,Vergangenheit‘ bezeugt. Dieses Wort ist praeteritio. Erst unter dieser Voraussetzung lohnt es sich, über den Unterschied zwischen praeteritio und ,Vergangenheit‘ nachzudenken. Denn einen syntaktischen Unterschied gibt es. Praeteritio steht in der Regel nicht für sich. Der Ausdruck dringt auf Ergänzung durch einen genitivus subiectivus. Treffender würde praeteritio daher übersetzt mit ,die Tatsache, daß eine Sache einmal gewesen und jetzt vergangen ist‘ 25. Jener Selektionshorizont, welchen die Diskontinuitätsthese mit unserem Begriff ,Vergangenheit‘ verbindet, ist ,dem‘ Mittelalter nicht unbekannt gewesen 26, aber gerade durch praeteritio war dieser Horizont nicht angepeilt. Der scholastische Begriff der Vergangenheit hat nicht der Leerantizipation gedient. Das liegt daran, daß er ein Produkt der semantischen Reflexion auf das Wesen der propositio de praeterito war, das heißt der Frage nach den Wahrheitsbedingungen des Prädikats ,hat existiert‘ oder ,ist gewesen‘ 27. Wenn das seine innere Schranke war, so steckt natürlich die Schullogik dahinter. Doch es steckt noch mehr dahinter. Daß Cajetan das mit ,ist gewesen‘ 22
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Petrus Aureoli, II Sent. (nt. 15): „[…] dicendo, quod tempus est ipsum praeteritum, praesens, et futurum, ista, inquam, possunt accipi formaliter pro ipsa praeteritione, et futuritione; vel subiective pro eo quod praeteritum, et futurum est, quod est subiectum praeteritionis; vel possunt accipi copulative pro substrato et ista praeteritione, et futuritione […].“ Guillielmus de Ockham, Quaestiones in librum IV Sententiarum (Rep.) q. 14, ed. G. Ga´l/R. Wood, Opera theol., vol. 7, St. Bonaventure 1984, 300: „[…] praeteritio nihil dicit ultra illud quod praeteritum est, quia nec rem absolutam nec respectivam; patet inductive.“ Thomas Bradwardinus, De causa Dei, contra Pelagium, London 1618 [Nachdruck 1964], 857B: „Respondebitur forsitan, quod ex praeteritione rei praeteritae oritur quaedam relatio, qua necesse est simpliciter illam fuisse, quare impossibile est simpliciter illam non fuisse. Sed hoc reprobatum est […]“; cf. 749D. Cf. Stanislaus de Znaim, De vero et falso (ca. 1404), ed. V. Herold, Prag 1971, 56: „[…] solet dici, quod primum instans fuisse est praeteritio vel fuitio primi instantis […].“ Beispielsweise erklärt man sich (Vitalis de Furno, De rerum principio, q. 18 Utrum tempus sit aliquid extra animam? in: Ioannes Duns Scotus, Opera omnia [nt. 20], vol. 3, 168a) gegen 1300 die Divergenz der Zeittheorien des Aristoteles und Augustins daraus, daß letzterer sich unter dem praeteritum und dem futurum geometrisch zwei unverbundene Zeitstrahlen vorgestellt habe. Den für die propositio de praeterito bisweilen für gleichgültig gehaltenen (Thomas de Aquino, In II Perih. 1, 5; Ockham, Summa Logicae, Opera philos., vol. 1, St. Bonaventure 1974, 249) Unterschied zwischen den Formen fuisse und praeteritum esse bestimmt die Scholastik als den Unterschied zweier Sprachebenen, als den zwischen dem actus exercitus und dem actus signatus: Thomas de Vio Card. Caietanus, Commentaria in Primam partem Summae theologicae q. 25 a. 4, ed. Leon., vol. 4., Rom 1888, 296a; q. 79 a. 6, ed. Leon., vol. 5, Rom 1889, 272a.
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Gemeinte in abstrakter Form praeteritio nennt, geschieht nicht von ungefähr anläßlich der von Thomas von Aquin gestellten Frage, „ob Gott machen könnte, daß Vergangenes nicht gewesen ist“. Die Schulregel über die Wahrheitsfunktionalität der propositio de praeterito, daß diese nur abgeleiteterweise wahr oder falsch ist, abgeleitet von dem Wahrheitswert einer mit ihr übrigens identischen propositio de praesenti 28, ist nämlich einigermaßen banal. Definiert man die Wahrheitsbedingung der propositio de praeterito so, dann fällt unter den Tisch, daß für die Scholastik eine historische Faktenfeststellung ja unter keinen Umständen nur kontingenterweise wahr ist 29. Modal gesehen ist die propositio de praeterito allemal stärker als die entsprechende propositio de praesenti. Genau dieser Überschuß meldet sich in der Semantik von praeteritio. Insofern nun erweist sich die scholastische ,Vergangenheit‘ als eine Fernwirkung Augustins. III. Praeteritio als Unabänderlichkeit Ich spreche nicht von der berühmten Zeitabhandlung im 11. Buch der ,Confessiones‘, sondern von einer früher kaum weniger stark beachteten Stelle im 26. Buch ,Contra Faustum‘ 30. Im Zusammenhang mit dem Thema der göttlichen Präszienz geht Augustin hier auf Sätze in der grammatischen Vergangenheitsform ein. Wahre Sätze in der Vergangenheitsform beziehen sich auf etwas, das nicht mehr ist. Daraus schließt Augustin zweierlei: Erstens, daß auch Gott ein solches Ereignis nicht würde ungeschehen machen können, denn nur etwas, das ist, nicht etwas, das ohnehin nicht ist, läßt sich nichtsein machen. „Quidquid enim praeteritum est, iam non est.“ Daß Augustin als Grund für die Unabänderlichkeit des Vergangenen nichts Besseres einfällt als ausgerechnet dessen Nichtsein, wird durch die zweite Schlußfolgerung bestätigt: Unser Wissen um etwas in der Vergangenheitsform hängt davon ab, daß Gott, selbst wenn Er die Macht dazu hätte, das praeteritum nicht manipuliert. Denn ein solches Wissen ist ohne Außenhalt. Es ist nicht dadurch verifizierbar, daß wissensunabhängig etwas ist oder etwas vor sich geht, in Abhängigkeit wovon oder in Übereinstimmung womit unser Wissen wahr wäre. „[…] ideo verum est illud fuisse, quia in nostra sententia verum est, non in ea re quae iam non est. Sententia quippe qua dicimus aliquid fuisse, ideo vera est, 28
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Thomas de Aquino, Super Eth. Nic. I, 15, 9; Gualterus Burlaeus, De consequentiis, ed. N. J. Green-Pederson, in: Franciscan Studies 40 (1980), 102-166, hier 157. Cf. Ch. Kann, Die Eigenschaften der Termini. Eine Untersuchung zur Perutilis Logica Alberts von Sachsen, Leiden 1994, 258-260; A. Broadie, The Circle of John Mair, Oxford 1985, 82-88. Gualterus Burlaeus, Super artem veterem, Venedig 1497 [Nachdruck 1967], M3ra: „[…] duae regulae […]. Omnis propositio affirmativa vera de praeterito est necessaria […]. Omnis propositio negativa falsa de praeterito est impossibilis.“ Cf. Ockham, Tract. de praedestinatione et de praescientia Dei et de futuris contingentibus, in: Opera philos., vol. 2, St. Bonaventure 1978, 509. Cf. Thomas de Aquino, De aeternitate mundi, ed. Leon., vol. 43, Rom 1976, 86, l. 52; Gregorius Ariminensis, Lect. super I Sent. dist. 42-44 q. 1 art. 2, vol. 3, ed. A. Damasus Trapp/V. Marcolino, Berlin-New York 1984, 364, 367, 373 sq.
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quia illud de quo dicimus, iam non est.“ Die Gewähr für unser historisches Wissen liegt ausschließlich darin, daß Gott kein Täuschergott ist. Chrysipps modaltheoretischem Axiom, alle wahren Sätze in der Vergangenheitsform seien auch notwendig 31, gibt Augustin die Wendung, daß auch Gott den Wahrheitswert solcher Sätze nicht würde ändern können: Was einmal wahr ist, kann fortan nicht mehr falsch werden, und das unabhängig davon, schließt er, ob wir faktisch um diese Sätze wissen oder nicht. A parte post haben sie den Status ewiger Wahrheiten. „Semper enim verum erit fuisse illud quod erat, et non est.“ 32 Die Unabänderlichkeit des Gewesenen ist in dieser Tradition so hoch angesetzt, daß das Gegenteil widersprüchlich wäre 33. Augustin hat der Scholastik den Kontrast hinterlassen zwischen der Vergänglichkeit des Ereignisses und der sogar von unserem Wissen um sie unabhängigen Geltung der historischen Tatsache 34. Dieser Kontrast ist in praeteritio auf den Begriff gebracht. Praeteritio artikuliert die ontologische Differenz zwischen dem Vergangenen und seiner Vergangenheit. Das Problem war, diese ontologische Differenz im Rahmen einer aristotelischen Ontologie unterzubringen. Cajetan, wie gesagt, knüpft, indem er von praeteritio spricht, bewußt an die Semantik der akzidentellen Prädikate an. Den Sinn der von jedem scholastischen Theologen, so auch von Thomas, diskutierten Frage, „ob Gott machen könnte, daß Vergangenes nicht gewesen ist“, interpretiert der Thomaskommentator folgendermaßen: „ob Gott eine Sache, die vergangen ist, der praeteritio entkleiden kann“ 35. Nein, kann Er nicht. Gleichwohl erinnert Cajetans praeteritio an eine ablösbare Lamelle. Sie ist etwas, das sich irgendwie zwischen die vergangene Sache und den Allmächtigen schiebt, wenn nicht als akzidentelle Form, so doch als eine modale Entität, etwas in der Art der Inhärenz, von welcher die scholastische Philosophie lehrt, daß sie übernatürlicherweise dem Akzidens vorenthalten bleiben kann. Nur eben, daß diese Entität, die praeteritio, allmachtresistent ist. 31 32 33
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Cicero, De fato VII, 14. Augustinus, Contra Faustum Manichaeum XXVI, 4-5 (PL 42), 481-482. Thomas de Aquino, Summa theol. I q. 25 a. 4; De pot. q. 1 a. 3 ad 9. Genauso im 14. Jahrhundert Alphonsus Vargas Toletanus (Ch. Schabel, Theology at Paris, 1316-1345: Peter Auriol and the problem of divine foreknowledge and future contingents, Aldershot 2000, 279) und noch heute W. L. Craig, Divine Foreknowledge and Human Freedom. The Coherence of Theism: Omniscience, Leiden 1991, 91. Bonaventura, I Sent. dist. 42 art. 1 q. 3: „[…] si totus Caesar cesserit in nihil, verum est Caesarem fuisse […]“ ; Bonaventura, I Sent. d. 46 a. 1 q. 4 ad 3: „[…] esto quod Caesar omnino sit corruptus, et secundum materiam et secundum formam, adhuc tamen vera est ista „Caesar fuit“ […] esto quod nullus intelligat actu, adhuc oratio est vera scripta in pariete „Caesar fuit“ […]“; Thomas de Aquino, In Metaph. VI, 1027a30-b12, lect. 3, 9: „Hoc quod praeteritum est, iam est secundum aliquem modum. Hoc autem dico, inquantum est factum vel praeteritum. Licet enim vita Caesaris non sit nunc ut in praesenti, est tamen in praeterito. Verum enim est Caesarem vixisse.“ Caietanus, In Primam partem q. 25 a. 4, (nt. 27), 296: „In titulo [sc. Utrum Deus possit facere quod praeterita non fuerint], adverte, quod praeteritum sumitur dupliciter, sc. formaliter, et denominative; id est pro ipsa praeteritione, et pro re quae praeteriit. In proposito, quamvis utroque modo sumi possit, directe tamen et per se primo sumitur pro re quae praeteriit. Ita quod sensus quaestionis est: An Deus possit exspoliare rem quae praeteriit, a praeteritione; hoc enim est facere eam non fuisse.“
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Man sage nicht, diese Vorstellungsweise wäre Thomas selber fremd. Wenn man ein vergangenes Ereignis nimmt, z. B. Sokrates’ Herumgehen, sagt Thomas, dann entzieht dieses sich insofern Gottes Allmacht, als es dem Umstand der praeteritio untersteht. Für ,Umstand‘ sagt der junge Thomas unbefangen accidens 36. Später bedient er sich ersatzweise der Wendung facta suppositione, quod: Unter der Voraussetzung, daß Sokrates herumgelaufen ist, ist es unmöglich, daß Sokrates nicht herumgelaufen ist 37. Diese Formulierung wird in der Thomaskommentation aufgegriffen, um die spezifisch vergangenheitsbezügliche Notwendigkeit 38 vor dem Einwand in Schutz zu nehmen: Wenn es nur darum geht, daß diese Notwendigkeit nicht zu dem Schluß berechtigt, das vergangene Ereignis sei seinerzeit notwendig eingetreten, dann unterscheidet sich die Notwendigkeit, mit der das Vergangene vergangen ist, nicht von derjenigen, mit der das Zukünftige zukünftig ist 39, das heißt hier wie da würde es sich um einen Anwendungsfall der berühmten necessitas consequens handeln 40. Da auch die Spätscholastik mehrheitlich die aristotelische Asymmetrie im Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft verteidigt hat 41, nahm sie aber vielmehr an, daß das Vergangene in einem anderen Sinn als das Zukünftige nicht existiert, nämlich so, daß die Existenz, die es gehabt hat, aufgehört hat, kontingent zu sein. Die jesuitenscholastische Thomaskommentation glaubt, das der Besonderheit unserer Art der Bezugnahme auf Vergangenes entnehmen zu können. Wann immer die Rede von einem vergangenen Ereignis ist, werde normalerweise unterstellt, daß es tatsächlich vergangen ist. Gregor von 36
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Thomas de Aquino, I Sent. d. 42 q. 2 a. 2 ad 3: „[…] praeterita non fuisse potest accipi ut impossibile per accidens, et ut impossibile per se. Si enim accipiatur ipsa res, quae dicitur praeterita, ut cursus Socratis, non habet impossibilitatem nisi per accidens suum, quod est extra rationem eius, scilicet praeteritionem […]. Si autem accipiatur secundum quod stat sub hoc accidente quod est praeteritio, sic est impossibile per se: et hoc dicitur Deus facere non posse.“ Cf. Thomas de Aquino, De verit. q. 23 art. 4 ad 1. Cf. Andreas de Novocastro, Primum scriptum Sententiarum dist. 45 q. 7, Paris 1514, 218ra: .„[…] necessitas praesens respectu praeteritionis […] est necessitas secundum quam est non necessarium fuisse praeteritum.“ Neu ediert von R. L. Friedman, „Andreas de Novo Castro (fl. 1358) on Divine Omnipotence and the Nature of the Past: I Sentences, Distinction Forty-Five, Question Six“, in: Cahiers de l’Institut du Moyen-Age Grec et Latin 64 (1994), 101-150. Cf. R. Gaskin, „Peter of Ailly and Other 14th-Century Thinkers on Divine Power and the Necessity of the Past“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 79 (1997), 273-291, hier 287 sq. Cf. jedoch die Kritik an Gaskin bei Schabel, Theology (nt. 33), 229 sq, 271 sq. Anselm von Canterbury habe, merkt ein Thomaskommentator an, hinsichtlich der necessitas consequens zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keinen Unterschied gemacht: „Quantum ad istum modum necessitatis aequiparat [sc. Anselmus] futurum praeterito et praesenti contingenti “ (Petrus de Ledesma, Tractatus de divinae gratiae auxiliis, Salamanca 1611, 625b). Cf. Schabel, Theology (nt. 33), 254, 280-281; J. Schmutz, Juan Caramuel on the Year 2000: Time and Possible Worlds in Early Modern Scholasticism, in: P. Porro (ed.), The Medieval Concept of Time. Studies on the Scholastic Debate and Its Reception in Early Modern Philosophy, Leiden-Boston-Köln 2001, 399-434, hier 399 sqq. Cf. Marsilius de Inghen, Quaestiones super IV libros Sententiarum, I Sent. q. 40, Straßburg 1501 [Nachdruck 1966], D5ra (M. J. F. M. Hoenen, Marsilius von Inghen († 1396) over het goddelijke weten, Nijmegen 1989, 100): „Praeterita quandam necessitatem contraxerunt ad fuisse, quam non contraxerunt futura ad fore.“
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Valencia (1549-1603) nennt das die hypothesis praeteritionis. Bei unserer Bezugnahme auf Künftiges sei das anders; da sei das zukünftige Eintreten nicht stillschweigend unterstellt 42. Durch die hypothesis praeteritionis ändert sich modaltheoretisch der Status der zurückliegenden Ereignisse. Es ist die Aufhebungsbedingung ihrer Kontingenz und die Möglichkeitsbedingung der historischen Gewißheit 43. Selbst ein so delikater intentionaler Akt wie die Reue wäre mißverstanden, wenn man meinte, der für ihn konstitutive Irrealis gelte der Unabänderlichkeit der Vergangenheit 44. Bei Valencia hat die hypothesis praeteritionis nicht die Form einer Entität, die einem Akzidens ähnlich sieht. Sie ist die eine bestimmte Richtung der Bezugnahme konditionierende Präsumtion. Wenn der zeitphilosophische Objektivismus, die B-Theorie der Zeit, behauptet „There is in reality no such thing as being past, present or future“ 45, denn von einem bestimmten Ereignis e wahrheitsgemäß zu sagen, es sei ,vergangen‘, sei allein unter Rekurs auf die Früher-Später-Relation möglich, nicht aber unter Rekurs auf eine Eigenschaft des Ereignisses, so hat die Scholastik die Nichteliminierbarkeit des Prädikats ,vergangen sein‘ folglich auch, aber nicht nur, dadurch zu sichern gesucht, daß sie es als eine Eigenschaft des vergangenen Ereignisses („that at any such time e has the property of being past“) konstruierte. Einem hartgesottenen Thomismus, der sich im Licht der Realdistinktion von Essenz und Existenz die Tatsache, daß etwas vergangen ist, irgendwie als Akzidens oder als Modus deutete 46, konnte entgegengehalten werden, daß Vergangenes gar 42
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Gregorius de Valencia, Commentariorum theologicorum, vol. 1, Lyon 1609, 167: „[…] aliquid peculiare doceri a D. Thoma et ab aliis, cum aiunt, ad praeteritum non esse potentiam: nempe, quia cum de praeterito sermo est, communiter solet subintelligi hypothesis praeteritionis, cum qua quidem non est potentia ad praeteritum. Cum autem est sermo de futuro, non solet item subintelligi hypothesis futuritionis.“ Gerardus Odonis, I Sent. dist. 38 q. 2 art. 2, ed. Schabel, Theology (nt. 33), 161: „[…] notitia praeteritorum sub differentia praeteritionis, puta mundi creatio, cadit sub notitia certitudinis.“; Gerardus de Harderwijk, Commentum libri primi Hermenias Aristotelis, Köln 1486, 44ra (Lexicon Latinitatis Nederlandicae Medii Aevi, vol. 6, ed. O. Weijers/M. Gumbert-Hepp, Leiden 1998, s. v. praeteritio): „[…] praeterita in sua praeteritione sunt certa, futura vero contingentia […].“ Cf. Franciscus Suarez, Tractatus de Angelis 2, 12, 1, in: Opera omnia, Paris 1856-78, vol. 2, 165a: „[…] multo facilior est cognitio praeteritorum, quam futurorum, quia praeterita etiamsi libere sint facta, iam non sunt contingentia, sed necessaria, unde fit, ut homines etiam illa certo cognoscere possint.“ Ioannes de Lugo, Tractatus de virtute et sacramento poenitentiae 4, 2, 14/16 (11638), in: Disputationes scholasticae et morales, ed. J. B. Fournials, Paris 1868-69, vol. 4, 338: „[…] Voluntas […] non potest velle absolute, quod peccatum non fuerit, sed solum sub aliqua conditione […] Respondeo, sensum illius voluntatis conditionatae non esse illum „Si ego possem coniungere cum peccato praeterito negationem praeteritionis, id facerem“, sed hunc potius: „Si ego nunc haberem potentiam, ut peccatum illud non fuisset, id facerem.“ Itaque obiectum huius actus, quod volo, non est coniunctum negationis praeteritionis cum peccato praeterito, ut praeterito, seu ex suppositione, quod est praeteritum, nec conditio, sub qua fertur, est potentia ad coniungendam praeteritionem cum non-praeteritione, sed obiectum volitum est, peccatum non fuisse, quod quidem simpliciter et absolute est in materia possibili, licet ex suppositione, quod fuit, sit impossibile […]“ D. H. Mellor, Real Time II, London 1998, 2. Ioannes Wiclif, De ente praedicamentali c. 1, London 1891 [Nachdruck 1966], 8: „Sic ergo intelligendo ,accidens‘ analogice, nihil obstat concedere praeteritionem et futuritionem esse ,accidentia‘ rei secundum esse intelligibile.“; Sebastia´n Izquierdo, Pharus Scientiarum, Lyon 1659, vol. 1, 256a: „Esse rem futuram, esse praesentem, et esse praeteritam a parte rei sunt modi essendi eius diversi, idque successu temporis, cum tota
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nicht ist, folglich auch nicht als Träger solcher Bestimmungen in Betracht kommt. Aber wäre die Vergangenheit deswegen nur geistige Zutat, also etwas Fiktives? IV. Augustins Erbschaft im Suarezismus Hier soll von einer Gratwanderung die Rede sein, in der Francisco Sua´rez und seine Schule den bereits älteren Ansatz verfolgt haben, über das Vergangene als über einen Typ des Nichtseienden zu prädizieren 47. Es ist ein Irrtum zu meinen, betont Sua´rez, ,Vergangenheit‘ stünde an der vergangenen Sache für irgendeine reale Bestimmung. Durch ihre Vergangenheit ist der vergangenen Sache ontologisch nichts hinzugefügt, sondern nur etwas an ihr aufgehoben 48. Bezogen auf den Zeitpunkt, in bezug auf den sie vergangen ist, hat sie keinerlei Existenz 49. Vergangenheit ist ontologisch konstituiert durch die Negation der Sache, die einmal gewesen ist 50. Sua´rez schließt daraus, daß die Vergangenheit genausowenig ein möglicher Gegenstand der Anschauung sein kann wie die Zukunft. Daß eine vergangene Sache immerhin doch existiert hat, ist kein Einwand. Denn was bleibt davon, daß sie existiert hat? Von ihrer Seite nichts weiter als eine gedankliche Relation, die als solche mitnichten den Erkenntnisgrund
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eorum diversitas in temporis successione fundetur.“; Ioannes Bolivar, Salmantinae lecturae, vol. 1, Salamanca 1701, tract. 3 dub. 1 § 106, zitiert nach Ioannes Marin, Theologia speculativa et moralis, Venedig 1720, vol. 1, 48: „[…] cum praeteritio sit accidens supponens existentiam rei praeteritae, respicit tamquam subiectum denominabile praedicata essentialia rei, ut existentia tempore antecedenti.“ Thomas Bradwardinus, De causa Dei (nt. 24), 210B: „[…] aliquid potest dici multipliciter non esse: primo ut futurum; secundo ut praeteritum; tertio ut aliquid possibile esse, quod non erit, est, nec fuit; quarto quod simpliciter impossibile est esse et contradictionem includens, sicut Chimaera vel commensurabilitas diametri quadrati et costae.“ Die gleiche Typologie auch in der spanischen Scholastik des 17. Jahrhunderts: J. Schmutz, Science divine et me´taphysique chez Francisco Sua´rez, in: Francisco Sua´rez - Der ist der Mann. Homenaje al Profesor Salvador Castellote, Valencia 2004, 347-379, hier 355. Das non esse des Vergangenen hat das Merkmal, daß es meßbar ist: Marsilius de Inghen (?), Expositio et Quaestiones in VIII libros Physicorum, in: Ioannes Duns Scotus, Opera omnia (nt. 20), vol. 2, 297b; Andreas de Novocastro, I Sent. (nt. 38), 217ra (unkritisierter Teil eines Gegenarguments): „Praeteritio rei non magis participat formaliter et positive esse quam futuritio, et non minus nihil est.“; Paulus Soncinas, Quaestiones metaphysicales, Venedig 1588 [Nachdruck 1967], 351: „Praeterito inquantum est praeteritum non convenit aliquid aliud nisi praeteritio, quae est respectus rationis, cum sit non entis; praeteritum enim non est, sed fuit […].“ Suarez, De angelis 2, 12, 2 (nt. 43), 165a: „[…] in re praeterita praeteritio seu fuisse nihil reale est actu, nunc existens in re, quae fuit et iam non est […]. Minus existit res praeterita quam praesens, imo praeteritio non addit aliquid, sed potius tollit actualem existentiam eius; dicitur enim res praeteriisse, quae fuit et iam non est, vel quae praeterito tempori coextitit, non praesenti […].“ Suarez, Varia opuscula theologica (11599), in: Opera omnia (nt. 43), vol. 11, 329: „[…] praeteritum, ut praeteritum, nullam existentiam vel entitatem actu habet respectu illius temporis, pro quo praeteritum dicitur […].“ Suarez, Disputationes metaphysicae, disp. 50, in: Opera omnia (nt. 43), vol. 26 [Nachdruck 1965], 954b: „[…] tempus praeteritum dicit duo, scilicet tempus ipsum, et praeteritionem, quae constituitur per negationem existentiae rei, quae aliquando fuit.“
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der Tatsache abgibt, daß x vergangen ist. Umgekehrt vielmehr, diese Relation ihrerseits wäre gar nicht denkbar, wenn man nicht anderswoher, etwa aus Erzählung, um die frühere Existenz von x bereits wüßte 51. Auch für einen nicht den Bedingungen der Sinnlichkeit unterworfenen Geist gilt, daß, sofern er die Gegenwart einer Sache nicht miterlebt hat, dieser Mangel erkenntnistheoretisch durch nichts kompensierbar ist. Von sich aus wäre solch ein Geist, auch wenn x existiert hat, nicht eher imstande, davon eine Anschauung zu haben, als wenn x nie gewesen wäre 52. Den von Sua´rez urgierten Hiat zwischen Gegenwart und Vergangenheit sind wir heute gewohnt, uns durch Redensarten zu vermitteln wie zum Beispiel die, daß von der Gegenwart doch ,viele Fäden in die Vergangenheit führen‘ 53. Eine Vorstellungsweise, für die auch manche Jesuitenscholastiker zu haben gewesen wären. Jede Nachwelt, so wurde von Antonio Perez (1599-1649) und seiner Schule gelehrt, sei durch Realrelation zur Vorwelt konstituiert. Für einen Geist, der zur Erkenntnis dieser Relationen befähigt wäre, müßte daher an den gegenwärtigen Zuständen die ganze Weltgeschichte ablesbar sein 54. Im Prager Wyclifismus um 1400 war die praeteritio sogar explizit als diese Relation, als die Spur (vestigium) definiert worden, die alles Vergängliche von sich hinterläßt 55. Spuren 51
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Suarez, De Angelis (nt. 43), 2, 12, 6: „[…] quod res praeterita aliquando fuerit, non autem futura, nihil refert. Quoniam ex eo, quod res fuerit, solum relinquitur relatio rationis ex parte obiecti, quae relatio non solum non potest esse ratio cognoscendi praeteritionem rei, verum etiam nec cognosci aut fingi potest, nisi cognoscendo prius aliquo modo rei existentiam in aliquo praeterito tempore.“ Auch Cajetans an die erkenntnistheoretische Unterscheidung obiectum motivum/terminativum angelehnte Unterscheidung zwischen der praeteritio obiecti immutativa und terminativa (Caietanus, In Primam partem [nt. 27], q. 79 a. 6, 272b) geht davon aus, daß nur die praeteritio eines vorher Erkannten kausal affiziert. Suarez, De Angelis (nt. 43), 2, 12, 6: „[…] si Angelus nunquam scivit nec novit rem esse, perinde se habet ad illam, ac si nunquam fuisset: ergo ex se non magis potest cognoscere talem rem fuisse, etiamsi in re fuerit, quam si non fuisset. Probatur consequentia, quia […] ex parte obiecti perinde se habet res, postquam desiit esse, ac si nunquam fuisset […].“ Darüber helfen nur Fiktionsakte und das in diesen fundierte sogenannte moralische Sein hinweg. Cf. S. K. Knebel, Wille, Würfel und Wahrscheinlichkeit. Das System der moralischen Notwendigkeit in der Jesuitenscholastik, Hamburg 2000, 504-512. Literarische Belege: W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, vol. 1, Stuttgart 51975, xxvii; J. Wassermann, Etzel Andergast (11931), München-Frankfurt 1947, 260. Silvester Maurus, Quaestionum philosophicarum liber II continens secundam partem Logicae, Rom 1670, 280-281: „Si vero quaeratur, quo pacto propagata fuerit usque ad me relatio posterioritatis ad Iulium Caesarem, qui tanto tempore praecessit, respondeo, quod talis relatio propagata fuit eodem pacto, quo propagata fuit memoria illius. Sicut enim ipse et eius gesta reliquerunt memoriam sui, quae est quaedam relatio et posterioritas intentionalis, sic reliquerunt relationem sui, quae est quaedam memoria non-intentionalis. Hinc est, ut tota rerum praeteritarum historia descripta remaneat in natura per relationes impressas entibus, ita ut si nunc de novo poneretur intellectus, cui Deus infunderet scientiam percipiendi relationes, posset in iis legere omnia praeterita.“ Cf. Antonius Perez, In primam partem D. Thomae tractatus V, Rom 1656, 86a: „Omnis enim denominatio praesens dicit aliquam ultimam actualitatem denominationis praesentem, qua posita, vera est denominatio praesens, qua non posita, non est vera. Hinc fit, licet communiter numerentur tria tempora, scilicet futurum, praesens, et praeteritum, re vera omnem actualitatem ultimam denominationum praeteriti, praesentis, et futuri, esse praesentem, quasi una actualitas sit praesens de praesenti, alia praesens de praeterito, alia praesens de futuro: quod expresse et pulchre dixit Augustinus lib. 11∞ Confessionum cap. 20.“ Stanislaus de Znaim, De vero et falso (nt. 25), 57: „[…] res praeteribilis, postquam complet suam existentiam in tempore et temporalem, derelinquit post sese tale vestigium sui esse, et relationem quandam, quae dicitur ,praeteritio‘ vel ,fuitio‘.“
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sind das in der Gegenwart, was den Beobachter der Existenz eines früheren Ereignisses vergewissert. Von diesem Modell grenzt sich der Suarezismus nun schroff ab. Weder ist die Vergangenheit eine reale Bestimmung der vergangenen Sache noch aber auch etwas aktuell Gegebenes. Die Wahrheit der propositio de praeterito darf nicht davon abhängig gemacht werden, daß es für sie gegenwärtig eine Verifikationsinstanz gibt. Die praeteritio selber ist nichts de praesenti 56. Für den Suarezismus sind es zwei Seiten derselben Medaille, zu bestreiten, daß die Vergangenheit irgendwie Realität hat, und zu bestreiten, daß die Vergangenheit einer Sache etwas wäre, das in irgendeiner Form davon abhängig ist, daß wir dadurch um die vergangene Sache auch wissen. Es sei verfehlt, die Asymmetrie von Vergangenheit und Zukunft darein zu setzen, daß die Vergangenheit ihrem Wesen nach Spur ist. Denn was auch immer wir jetzt an Spuren haben, es ist ja nicht metaphysisch unfehlbar mit der vergangenen Existenz verknüpft 57. Insbesondere richtet sich die Ablehnung des Präsentismus gegen eine augustinisierende Verlegung der praeteritio rerum in das Gedächtnis 58. Daß x ,vergangen ist‘, bezeichnet der Suarezismus ontologisch deswegen als den Effekt nicht intrinsischer, sondern extrinsischer Denomination 59. Die Kategorie Vergangenheit - praeteritio - wird von ihm so konstruiert, daß sie präzise für den komplexen Sachverhalt steht, daß x früher existiert hat und aktuell nicht existiert 60. Dabei steht dieses ,Früher-existiert-haben‘ seinerseits nicht etwa für 56
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Rodericus de Arriaga, Disputationum theologicarum in primam partem D. Thomae, vol. 1, Lyon 1669, 215a: „[…] multi voluerunt aliquid de praesenti invenire, in quo consisteret praeteritio et futuritio et possibilitas rei. Unde distinxerunt existentiam a possibilitate […]“; Arriaga, Cursus philosophicus, Lyon 1644, 184b-185a: „[…] praeteritio nihil est de praesenti […] hoc non obstante eam veritatem […] admittis […] in propositionibus de praeterito […], quia ad veritatem propositionis solum requiritur existentia obiecti eo modo, quo per propositionem affirmatur, vel de praeterito, vel de futuro absoluto, vel conditionato […]“; Thomas Compton-Carleton, Philosophia universa, Antwerpen 1649, 580b: „Iam intelligimus praeterita et futura, etiam qua talia, licet nulla iam praeteritio eorum, aut futuritio sit actu.“ Ioannes Marin, Theologia (nt. 46), 48a (Tract. de scientia Dei disp. 6 § 16): „[…] Sed quidquid sit an detur, et quomodo detur diversitas inter praeteritum et futurum, ex eo quod res, quae extitit, relinquat vestigium sui, non sequitur, quod illud vestigium sit praeteritio: quia non est metaphysice connexum cum eo, quod res praeterierit […].“ Gegen eine These des in Salamanca lehrenden Thomisten Juan Bolivar. Hurtadus de Mendoza, De anima, disp. 9 sect. 6 subs. 1 Quid sit rem absolute esse futuram? (nt. 16), 831-835, hier 832: „Dices ab Augustino doceri […] praeteritionem rerum esse in solo intellectu […] Verum Augustinum nec cogitasse de hac sententia patet […].“ Pioniere der angegriffenen Position wären zum Beispiel Isidorus Hispalensis, Sententiarum l. 1 c. 7 n. 4 (PL 83), 548B; Aegidius Romanus, In II Sent. dist. 2 q. 1, Venedig 1581, 134a. Bernardus de Aldrete, Commentariorum ac Disputationum in primam partem D. Thomae, vol. 1, Lyon 1662, 369b: „[…] tam nihil est de praesenti rem esse praeteritam quam esse futuram, et tam extrinseca denominatio est rem esse praeteritam, quam esse futuram.“ Ignatius Franciscus Peinadus, Disputationes in III libros Aristotelis de anima. Opus posthumum, Alcala´ de Henares 1698, 390b: „[…] praeteritio formalis Adami adaequate identificatur cum extitisse antea Adamum, et non existere nunc.“ Diese Formel finde ich zuerst bei Thyrsus Gonzalez de Santalla, Disputationes in Logicam (1653), MS. BU Salamanca 1352, 199v: „[…] rem esse praeteritam nihil est aliud, quam rem extitisse antea, et non existere modo, et praeteritio, quam complexum ex existentia pro tempore antecedenti, et non existentia pro tempore praesenti.“
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eine Funktion unserer Beweismittel dafür. In der vom Suarezismus verteidigten zweiwertigen Logik steht es für etwas, womit die propositio de praeterito entweder übereinstimmt oder nicht. Je nachdem ist diese entweder wahr oder falsch, unabhängig davon, ob wir das auch wissen 61. Daß er sich durch die Prämisse von der Irrealität aller vergangenen Existenz nicht vom historischen Realismus hat abbringen lassen, ist die bleibende Leistung des suarezischen Begriffs der Vergangenheit.
V. Der historische Realismus in der Defensive Eine bleibende Leistung aus zwei Gründen. Erstens kokettiert dieser Begriff der Vergangenheit nicht entfernt damit, vielleicht doch ein Objekt der Schau zu sein. So metaphorisch ein ,Blick in die Vergangenheit‘ auch ist, dessen Teleskopie mit Hubbles Theorie über die Rotverschiebung geladen ist: der suarezische Begriff der Vergangenheit hätte sich nicht einmal für die Metapher hergegeben 62. Zweitens ist die Öffnung des Begriffs der Vergangenheit für Mythen, Erdzeitalter und Lichtjahre nur ein Aspekt unseres, nichtscholastischen, Begriffs der Vergangenheit. Ein anderer, er hängt damit nicht ohne weiteres zusammen, ist der Relativismus. Seit den Tagen Johann Gottlieb Fichtes 63 werden aus der Kritik an einem vergegenständlichenden Begriff der Vergangenheit Konsequenzen gezogen, die für den Status der historischen Tatsachen bedrohlich sind. Ein Epigone des Deutschen Idealismus, Droysen, hat als den Grundsatz seiner sehr einflußreichen Geschichtsmethodologie aufgestellt, daß sich die Vergangenheit auf das reduziert, wodurch in der Gegenwart Aussagen über die Vergangenheit 61
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Hurtadus de Mendoza, De anima (nt. 16), 843: „[…] propositio […] de praeterito […] supponit suum obiectum ita esse, vel non esse, unde sumitur regula veritatis, et falsitatis […]. Nam ab eo quod res est, propositio dicitur vera: non vero a veritate propositionis est res.“ Ganz im Einklang mit der klassischen Lehre: Thomas de Aquino, In III De anima 11, 751; De verit. q. 1 a. 5 arg. 7; Ps.-Duns Scotus, Super I Priorum Analyticorum, in: Opera omnia (nt. 20), vol. 1, 277b; Albertus de Saxonia, Quaestiones subtilissimae super libros Posteriorum I q. 11, Venedig 1497 [Nachdruck 1986], 10va. Daß die Vergangenheit nicht intuitiv erkennbar sei, betonen auch Ioannes a S. Thoma, Ars logicae (11632) p. II q. 23 a. 2, Turin 1948, 733b, 736b; William Hamilton, Of Presentative and Representative Knowledge, in: Thomas Reid, Philosophical Works, Edinburgh 1895 [Nachdruck 1983], 810b; Hamilton, Philosophy of Perception (1830), in: id., Discussions on Philosophy and Literature, Education and University Reform, London 21853, 49 sq. J. G. Fichte, Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre (1795), in: Sämtliche Werke, Berlin 1845-46 [Nachdruck 1971], vol. 1, 409: „Es ist für uns überhaupt gar keine Vergangenheit, als inwiefern sie in der Gegenwart gedacht wird. […] Die Frage: ist denn nicht wirklich eine Zeit vergangen? ist mit der: gibt es denn ein Ding an sich, oder nicht? völlig gleichartig.“ Cf. F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus (1800), (nt. 8), vol. I/3, 487: „Ob eine Vergangenheit an sich gewesen sei, diese Frage ist so transzendent als die Frage, ob ein Ding an sich sei. Die Vergangenheit ist nur durch die Gegenwart.“
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zu bewahrheiten sind 64: da hätten wir den von den Suarezianern einst bekämpften Präsentismus. Und die Semantik des Begriffs ,Vergangenheit‘ bildet einen Hauptangriffspunkt der Relativisten bis heute. Bis tief ins 19. Jahrhundert hatte sich der gesunde Menschenverstand davon überzeugt gezeigt, daß „die Vergangenheit […] fertig vor uns daliegt und wir nichts dazu oder davon wegtun können“ 65. So zu reden, wirkt auf viele inzwischen naiv. Von dem Berliner Philosophen Günter Abel wird diese Vorstellung frontal angegriffen: „[…] die Vergangenheit liegt nicht als etwas InterpretationTranszendentes vorfabriziert fertig da und wartet darauf, repräsentiert zu werden.“ Der Interpretationist halte die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit eines Satzes über die Vergangenheit „nur innerhalb eines Interpretationssystems sowie nur unter angebbaren Behauptbarkeitsbedingungen“ für sinnvoll. Zugespitzt könne man „sogar sagen, daß der Satz ,Es gibt Vergangenheit‘ ein unsinniger Satz ist“ 66. Ähnlich argumentiert der Düsseldorfer Philosoph und Philosophiehistoriker Lutz Geldsetzer: „Vergangenheit […] ist nicht mehr; also ist sie überhaupt nicht.“ Infolge einer „langen Gewöhnung an den historischen Realismus“ hätten wir es aber verlernt, aus diesem „so simplen Sachverhalt“ die fälligen Konsequenzen zu ziehen 67. Dazu würde vor allem die Einsicht gehören, daß es die „objektive Vergangenheit nicht gibt, daß sie vielmehr […] nur eine antizipatorische Leitidee sein“ kann. Diese Leitidee werde in der historiographischen Konstruktion expliziert und sei „nichts als die zusammenhängende Ausfaltung von Interpretationen noch gegenwärtiger Dokumente und Zeugnisse“ 68. Von Wahrheit im Sinne der Korrespondenz könne auf dem Gebiet historischer Aussagen nicht die Rede sein. Es sei nötig, „vom Wahrheitskriterium der Adäquation zwischen Vergangenheit und Bild dieser Vergangenheit abzukommen“. Zu ersetzen sei es durch ,das Kohärenzkriterium der Wahrheit‘, demzufolge diejenige Interpretation wahr ist, welche die größere ,Stimmigkeit‘, die überlegene ,theoretische Integrationskraft‘ besitzt 69. Vermutlich im Anschluß an schon 64
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J. G. Droysen, Grundriß der Historik (11858, 31882), in: id., Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, ed. R. Hübner, München 1937, 327. Distanziert dazu die Rankeschule: H. Diwald, Das historische Erkennen. Untersuchungen zum Geschichtsrealismus im 19. Jh., Leiden 1955, 66-69. F. Grillparzer, Studien I Zur Philosophie und Geschichte, in: Werke, Elfter Teil, ed. S. Hock, Berlin-Leipzig [etc.] [ca. 1912], 138 (Notiz von 1848). G. Abel, Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M. 1993, 127-135. Abels Patrone sind vermutlich nicht Fichte und Droysen, sondern J. Dewey, Knowledge involving the past, in: id., Realism without Monism or Dualism, The Middle Works (1899-1924) vol. 13, ed. J. A. Boydston, Southern Illinois University 1983, 40-49; M. Dummett, The Reality of the Past (1969), in: id., Truth and Other Enigmas, London 1978, 358-374. L. Geldsetzer, Wissenschaftsgeschichte im Hinblick auf Wissenschaftstheorie: Plädoyer für einen alten Geschichtsbegriff, in: Die Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte für die Wissenschaftstheorie (Studia Leibnitiana Sonderheft 6), Wiesbaden 1977, 95-121, hier 96. Geldsetzer, Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert, Meisenheim am Glan 1968, 150. Geldsetzer, Wissenschaftsgeschichte (nt. 67), 109.
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früher von Max Scheler angestellte Überlegungen ergänzt der Bonner Philosophiehistoriker Hans Michael Baumgartner das Glaubensbekenntnis des Interpretationismus durch die These, teleologisch betrachtet, indem man nämlich „frühere vergangene Ereignisse im Lichte späterer vergangener Ereignisse“ interpretiert, sei die Vergangenheit durchaus keine „in sich abgeschlossene Welt“. Man könne vielmehr sagen, wenn auch natürlich nur ,bildlich gesprochen‘, daß „die Vergangenheit […] sich ständig ausdehnt und erweitert“ 70. So wären wir denn, auch so herum, wieder bei der Idee gelandet, von der wir ausgingen: der Idee einer expansiven Vergangenheit. VI. Konklusion Was den mentalen Zugewinn an sich erstreckender Vergangenheit seit dem 17. Jahrhundert betrifft, ist die Vermutung unzutreffend, daß diesem Zugewinn eine transzendentale Veränderung zugrundeliegt. Hier reicht die Bibel als Hinderungsgrund. Auf kategorialer Ebene sind weder Vergangenheit noch Zukunft Neuzeiterwerbungen. Daß die Vergangenheit ein ,Zeitraum‘ (temporis spatium) ist 71, der „sich in jedem verfließenden Augenblick durch ihn zu vergrößern scheint“ 72, war im lateinischen Mittelalter unproblematisch 73. Ein tempus praeteritum, dem rückwärts die Unendlichkeit nicht widerstreitet, war ein zwar problematischer, jedoch nicht unzulässiger Begriff 74. Wonach man sich in der scholastischen Literatur indessen vergebens umsieht, sind Hinweise auf sich verschiebende Vergangenheitshorizonte. Anders steht es daher mit dem Begriff einer 70
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H. M. Baumgartner, Thesen zur Grundlegung einer transzendentalen Historik, in: H. M. Baumgartner/J. Rüsen, Seminar (nt. 11), 274-302, hier 281. Cf. M. Scheler, Vom Ewigen im Menschen (11921), in: Gesammelte Werke, vol. 5, Bern 1954, 33-34; W. Stern, Wertphilosophie, Leipzig 1924, 293-294. Priscianus, Inst. Gramm. VIII, 38, 39, 56 (nt. 18), 405-406, 417; Lucretius, De rer. nat. III, 855. F. W. J. Schelling, Die Weltalter (Fragmente), ed. M. Schröter, München 1946, 201. Für Schelling die Definition des vulgären Begriffs der Vergangenheit (,unmöglich die wahre Vergangenheit‘). Unter Rekurs auf Henricus de Gandavo, Quodl. III, q. 11 Utrum tempus possit esse sine anima (1278/79) (ed. U. R. Jeck, Aristoteles contra Augustinum. Zur Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele bei den antiken Aristoteleskommentatoren, im arabischen Aristotelismus und im 13. Jahrhundert, Amsterdam-Philadelphia 1994, 459-476, hier 474) erklärt Jeck, ibid. 387, die Position der Aristoteliker folgendermaßen: „Das vergangene Sein ist im Hinblick auf seine praeteritio, einen ins Deutsche kaum übersetzbaren Fachterminus, unvollendet. Oder einfacher ausgedrückt: Die Vergangenheit kann sich erweitern. Es bleibt immer noch etwas übrig, das in die Vergangenheit übergeht.“ Daß praeteritio daneben noch, wie gezeigt, eine ganz andere Bedeutung gehabt hat, steht auf einem anderen Blatt. Gebilligt von Thomas de Aquino, II Sent. dist. 1 q. 1 a. 5 ad 3 in contr.; Summa contra gent. II, 38 n. 5. Mißbilligt von Thomas de Wylton, An ista simul stent: quod motus sit aeternaliter a Deo productus, et cum hoc, quod Deus sic producit mundum libere, quod potuit ipsum non produxisse?, ed. W. Senko, in: Studia Mediewistyczne 5 (1964), 156-190, hier 178: „[…] concedo, quod toti tempori praeterito potest fieri additio ex parte post, non ex parte ante.“
Präliminarien zur scholastischen Ontologie der Vergangenheit: praeteritio
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Vergangenheit, deren extramentalen Geltungsanspruch kein Monotheismus mehr verbürgt 75. Hier zeigt sich im Licht der Verhältnisbestimmung der Begriffe praeteritio und ,Vergangenheit‘, selbst bezogen auf ihren semantischen Überschneidungsbereich, allerdings eine Tendenz zum Bruch mit dem Mittelalter. Nur müßte, wer epochenkritisch damit argumentieren wollte, die Epochenschwelle schon mutig in das 20. Jahrhundert verlegen.
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Ein eindrucksvolles Zeugnis für die anhaltende Affinität von historischem Realismus und Monotheismus ist die Meditation von H. Jonas, Vergangenheit und Wahrheit. Ein später Nachtrag zu den sogenannten Gottesbeweisen, in: id., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. 1992, 173-189.
III. Kosmologische Entwürfe von Zeit und Dauer
Zwischen veritas naturae und fides historiae. Zeit und Dauer bei Abbo von Fleury Nadja Germann (Freiburg i. Br.) I. Einleitung „Die Zuneigung zu euch, liebe Mitbrüder, drängt mich, eine Frage zu entwirren, die zwar schon lange erörtert wird, aber bislang von niemandem gelöst wurde: nämlich die [der Datierung] des Passionsjahres beziehungsweise des Jahres der Auferstehung des Herrn […]“ 1. Mit diesen Worten leitet Abbo von Fleury die letzte seiner Schriften zu Chronologie und Zeitrechnung ein, die ,Epistola secunda ad Geraldum et Vitalem‘, die kurz vor seinem Tod 1004 entstanden sein muß. Bereits in diesen Anfangsworten findet ein Grundzug seines Denkens Ausdruck, der sämtliche seiner Schriften durchzieht: Abbos wissenschaftliche Neugier, seine Bereitwilligkeit, sich mit noch offenen Forschungsfragen auseinanderzusetzen oder Widersprüche in der Literatur ,cuneo rationis scindere‘ und ,ad unguem discutere‘ 2. Dieser Haltung möchte ich unter der thematischen Perspektive von ,Zeit‘ und ,Dauer‘ anhand der quadrivialen Schriften Abbos nachgehen und dabei folgende Thesen entwickeln: (1) Abbo charakterisiert die der Zeitrechnung zugrundeliegenden astronomischen und komputistischen Zyklen als „circulos quos natura formavit “. Dieser Aspekt ist bemerkenswert mit Blick auf den Status der ratio temporum sowie des computus im Spannungsfeld von ,Natur‘ und ,Artefakt‘, da er erkennen läßt, daß der computus - anders als von der Forschung gelegentlich behauptet - von den mittelalterlichen Gelehrten nicht als menschliches Konstrukt betrachtet wurde, das die Zeit gleichsam ,von außen‘ ordnet 3. Vielmehr muß er dem Anspruch 1
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Übersetzt nach Abbo von Fleury, Epistola secunda ad Geraldum et Vitalem, zitiert nach der Handschrift Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 58rv, das Zitat fol. 58r: „Vestra caritas fratres karissimi me compellit enodare questiunculam diu quidem ventilatam sed necdum ab aliquo absolutam de anno dominicae passionis seu resurrectionis […].“ Abbo, Epistola prima ad Geraldum et Vitalem, zitiert nach derselben Handschrift Berlin, SBPK, Phill. 1833, foll. 56r-57r, die Zitate fol. 56r. Zu denken ist in diesem Zusammenhang besonders an die Einschätzung, die F. Wallis, Images of Order in the Medieval ,Computus‘, in: W. Ginsberg (ed.), Ideas of Order in the Middle Ages. Acta, vol. 15, Binghamton 1990, 45-68, vertritt, der computus sei „an activity fundamental to […] ordering the world […] which self-consciously imposes order upon time“ (ibid., 48), und zwar eine „man-made“ (ibid., 54) Ordnung.
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genügen, der ,Natur‘ zu entsprechen, also Daten zu liefern, die nicht im Widerspruch zur veritas naturae stehen. (2) Abbo verfolgt das Ziel, auf der Grundlage dieser Zyklen den chronologischen Bogen über Geburts- und Passionsjahr Christi hinaus noch zurück zu schlagen bis hin zum ersten Schöpfungstag. Der besondere Charakter dieses Bestrebens zeigt sich vor dem Hintergrund der Funktion dieser Zyklen im Rahmen der traditionellen Komputistik, die ja gerade darin besteht, das Osterfest Jahr für Jahr zu datieren. Denn damit wird deutlich, daß Abbo das Christusereignis als ein der ratio temporum von Anbeginn der Welt an inhärentes Strukturelement begreift. In geschichtsphilosophischer Hinsicht bedeutet dies eine Akzentuierung des christologischen Momentes, das zum bestimmenden Interpretament zeitlichen Geschehens wird - eine Tendenz, die sich in etwa dieser Zeit auch in anderen Bereichen der intellektuellen Kultur, zum Beispiel der Kunst, beobachten läßt 4. (3) Abbos Ausführungen über Zeit und Dauer reflektieren eine wissenschaftliche Rationalität, die sich in methodischer und argumentativer Hinsicht durch ihre Kohärenz und Sachbezogenheit auszeichnet. Diese Merkmale äußern sich vor allem in der Suche nach und Begründung von geeigneten Ausgangspunkten für die Argumentation, in der Argumentationsweise selbst und in der Anwendung von als gültig ausgemachten Prinzipien auch in anderen wissenschaftlichen Zusammenhängen. Kontur gewinnen diese Beobachtungen im Lichte der sogenannten ,Renaissance‘ im 12. Jahrhundert 5 sowie der ,Entdeckung der Natur‘ im selben Säkulum, die in jüngerer Zeit wieder verstärktes Forschungsinteresse auf sich gezogen hat 6. Sie bezeugen die Präsenz von Charakteristika, die als 4
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Wie etwa B. Kühnel, The End of Time in the Order of Things. Science and Eschatology in Early Medieval Art, Regensburg 2003, zu zeigen versucht, rückt gerade in der hier fraglichen Zeit das Kreuz - Symbol für Passion und Auferstehung Christi - nicht nur in der Ikonographie im allgemeinen, sondern selbst in komputistisch-astronomischen Figuren immer stärker in den Vordergrund, e. g. ibid., 158: „The formal link between computistical and astronomical wheel diagrams and the figure of the cross undoubtedly became bolder in the course of time. The small cross hovering over a round diagram or even the allusion to a cross by showing its ends or by making kosmos and mundus intersect in a certain way ceased to be satisfying; all-embracing, very visible, even dominating crosses took hold of the diagrams, leaving no doubt whatsoever as to who was responsible for the cosmic order.“ Der Renaissancebegriff im Zusammenhang mit dem 12. Jahrhundert geht zurück auf Ch. H. Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century, Cambridge 1927. Als Interpretament dient er in der bildungs- und philosophiegeschichtlichen Forschung bis heute, cf. beispielsweise die Sammelbände von R. L. Benson/G. Constable (eds.), Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, Oxford 1982; P. Weimar (ed.), Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert, Zürich 1981; G. Wieland (ed.), Aufbruch - Wandel - Erneuerung. Beiträge zur sogenannten Renaissance des 12. Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstadt 1995. Den Begriff der ,Entdeckung der Natur‘ prägte in erster Linie M.-D. Chenu, La the´ologie au douzie`me sie`cle, Paris 1957, besonders 21-30. An neueren Studien cf. bes. A. Speer, Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer ,scientia naturalis‘ im 12. Jahrhundert, Leiden-New York-Köln 1995.
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Signa jener ,Renaissance‘ oder ,Entdeckung‘ gelten, sich aber - wie Abbos Schriften zur Zeitthematik nahelegen - bereits erheblich früher feststellen lassen 7. Diesen drei Aspekten werde ich auf der Grundlage von Abbos Schriften zu den Osterzyklen und zur Inkarnationsära (anno domini ) nachgehen und dabei folgendermaßen verfahren: Zuerst werde ich den Zusammenhang von Osterzyklus und chronologischer Ära skizzieren. Danach gehe ich auf Abbos Kritik an Dionysius, dem Urheber der Inkarnationsära, ein und richte dabei das Augenmerk besonders auf die Grundlagen seiner Argumentation. Daraufhin analysiere ich seine Argumentationsweise und untersuche schließlich, ob und inwiefern er seine Annahmen und Methoden an zwischenzeitlich anderweitig gewonnene Einsichten anpaßt. Auf diesem Wege möchte ich vor allem seinen Naturbegriff, das Verhältnis von veritas naturae und historischer Überlieferung sowie die Sachbezogenheit seiner Argumentation schärfer konturieren. II. Zyklus und Ära Abbo setzte sich mehrfach mit der Inkarnationsära auseinander. Erstmals verwendet hatte diese Dionysius Exiguus (6. Jahrhundert), einem breiteren Publikum bekannt wurde sie durch Beda Venerabilis (7./8. Jahrhundert) beziehungsweise durch die Rezeption seiner Schriften zur Zeitthematik auf dem Kontinent im 9. Jahrhundert. Als Datierungsschema hatte sich die Inkarnationsära noch längst nicht gegen die Zählweise nach anni mundi durchgesetzt, als Abbo im letzten Viertel des 10. Jahrhunderts bereits Kritik an ihr respektive ihrem Urheber Dionysius übte. Gerichtet war seine Kritik gegen die konkrete Verknüpfung, die Dionysius zwischen der linearen Ära, gezählt von Christi Geburt, und den zyklisch strukturierten Ostertafeln etabliert hatte, also jenem Hilfsmittel, 7
Als besondere Kennzeichen der ,Renaissance des 12. Jahrhunderts‘ lassen sich die Verbegrifflichung und Universalisierung des wissenschaftlichen Denkens und die Herausbildung einer verbindlichen Methode, der Logik, anführen. Cf. W. Kluxen, Der Begriff der Wissenschaft, in: Weimar, Die Renaissance (nt. 5), 273-293, hier 278-280 und 282-284; M. Dreyer, More mathematicorum. Rezeption und Transformation der antiken Gestalten wissenschaftlichen Wissens im 12. Jahrhundert, Münster 1996, 12-14 und 82-106; G. Wieland, Symbolische und universale Vernunft. Entgrenzungen und neue Möglichkeiten, in: A. Haverkamp (ed.), Friedrich Barbarossa. Handlungsspielräume und Wirkungsweisen des staufischen Kaisers, Sigmaringen 1992, 533-549, zur Begrifflichkeit besonders 539-541. Mit Blick auf die ,Entdeckung der Natur‘ charakterisiert Speer die neue Sicht auf die Natur mit Hilfe der Interpretationsbegriffe der „Struktur, Konstitution und Eigengesetzlichkeit“, die nunmehr das Interesse der Gelehrten auf sich zögen; dieser Blickwinkel kennzeichne die Erklärung natürlicher Phänomene secundum physicam. Cf. beispielsweise Speer, Die entdeckte Natur (nt. 6), 1 und 11 (zu den Begriffen); 52-75 (zu den causae rerum und zur natura bei Adelard von Bath). Allgemein zur intellektuellen Situation sowie zum geistigen ,Aufblühen‘ im 12. Jahrhundert: P. Classen, Die geistesgeschichtliche Lage. Anstösse und Möglichkeiten, in: Weimar, Die Renaissance (nt. 5), 11-32; W. Kluxen, Wissenschaftliche Rationalität im 12. Jahrhundert. Anfang einer Epoche, in: Wieland, Aufbruch (nt. 5), 89-99.
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das der jährlichen Datierung von Ostern und der von ihm abhängigen beweglichen Feste diente 8. Der Nachvollziehbarkeit meiner weiteren Ausführungen halber werde ich hier zunächst kurz auf die Ostertafeln und das angesprochene Verknüpfungsproblem eingehen. Die Ostertafeln beruhen auf dem sogenannten Osterzyklus, der 532 Jahre umfaßt und das kleinste gemeinsame Vielfache des achtundzwanzigjährigen ,Sonnenzyklus‘ und des neunzehnjährigen Lunisolarzyklus darstellt. Alle diese Zyklen sind komputistische Hilfsmittel für die Osterfestdatierung, mittels derer die drei für die kalendarische Bestimmung des Ostertermins erforderlichen Größen korreliert werden: der auf dem Sonnenjahr basierende Kalender, der Phasenverlauf des Mondes und der Siebenerrhythmus der Wochentage 9. Um in den einzelnen Jahren die datierungsrelevanten Größen bestimmen zu können, hatte man schon früh entsprechende Hilfsgrößen eingeführt: die Konkurrenten und ,Sonnenregularen‘ für die Wochentagsbestimmung, die Epakten und ,Mondregularen‘, um zu ermitteln, in welcher Phase sich der Mond befindet, oder - in der mittelalterlichen Terminologie - um das Mondalter herauszufinden 10. In ihrer vollständigen Form umschließen die Ostertafeln die 532 Jahre eines vollständigen Osterzyklus, sind gegliedert in achtundzwanzig Lunisolarzyklen und bieten spaltenweise die dem jeweiligen Jahr korrespondierenden Hilfsgrößen und Daten wie beispielsweise die eben genannten Konkurrenten und Epakten, aber auch das Datum des Ostervollmondes sowie des Ostersonntags. Der Zusammenhang zwischen der linearen Zeitachse und den komputistisch-astronomischen Zyklen ergibt sich erst dadurch, daß eine der Spalten der Ostertafeln dazu dient, die einzelnen Zyklenjahre einem bestimmten Jahr in der chronologi8
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Zu Dionysius Exiguus und den Ostertafeln cf. besonders G. Declercq, Anno Domini. The Origins of the Christian Era, Turnhout 2000, 99-112; zur ihrer Verbreitung, besonders durch Beda Venerabilis, ibid., 150-188. Cf. auch P. Verbist, In duel met het verleden. Middeleeuwse auteurs en hun chronologische correcties op de christelijke jaartelling (ca. 990-1135), Diss. Leuven 2003, 122-125 (zu Dionysius) und 81-100 (zur älteren Tradition); insgesamt zur Inkarnationszählung ibid., 115-134. Der achtundzwanzigjährige ,Sonnenzyklus‘ ist dementsprechend das Produkt aus sieben Wochentagen und vier Jahren, da sich die Wochentage relativ zu den Kalenderdaten in Normaljahren um einen Tag verschieben, alle vier Jahre aber ein zusätzlicher Tag in den Kalender eingeschaltet wird und folglich erst nach achtundzwanzig Jahren die Wochentage wieder auf dieselben Kalenderdaten fallen. Demgegenüber umfaßt der neuzehnjährige Lunisolarzyklus die Anzahl an Jahren, nach denen Sonne und Mond relativ zueinander - von der Erde aus beobachtet - wieder dieselben Positionen einnehmen. Er bildet somit die Verschiebungen zwischen Mond- und Sonnenjahr ab, wobei das letztere das erstere um etwa elf Tage überragt. Allgemein zu den Grundlagen der mittelalterlichen Chronologie cf. die handliche Einführung von A.-D. von den Brincken, Historische Chronologie des Abendlandes. Kalenderreformen und Jahrtausendrechnungen, Stuttgart 2000. Sowohl ,technische‘ Erläuterungen als auch einen Überblick über die Geschichte des neuzehnjährigen Lunisolarzyklus, des achtundzwanzigjährigen ,Sonnenzyklus‘ sowie des 532jährigen Osterzyklus bietet A. Borst, Die karolingische Kalenderreform, Hannover 1998, 690-701 sowie 708-715; zu den verschiedenen in diesem Zusammenhang relevanten komputistischen Größen: ibid., 396-416, 482-500, 608-664 und 687-715.
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schen Ära - beispielsweise in der Ära nach Weltjahren oder nach Christi Geburt - zuzuordnen 11. Exakt an diesem Punkt, der konkreten Verknüpfung dieser beiden Größen, setzt Abbos Kritik an Dionysius an. Vier Schriften sind uns heute bekannt, in denen Abbo sich mit der Inkarnationsära beziehungsweise mit dem Zusammenhang zwischen den Zyklen und der linearen Zeitachse auseinandersetzt. Das früheste Zeugnis ist die ,Praefatio ad cyclos paschales‘, die zwischen 988 und 1000 entstand und dem Problem der von Dionysius vorgenommenen Verknüpfung zwischen den Osterzyklen und der Inkarnationsära gewidmet ist. Hierauf folgt der ,Prologus de ciclo magno paschae‘, um das Jahr 1000, in dem Abbo versucht, den ersten Tag der Welt mit dem 532jährigen Zyklus zu verbinden. Eine Kombination der in den beiden vorausgehenden Schriften erörterten Themen stellt die ,Epistola prima ad Geraldum et Vitalem‘ von 1003 dar, während die ,Epistola secunda ad Geraldum et Vitalem‘ von 1004 wieder allein auf die richtige Korrelation der Inkarnationsära mit dem Osterzyklus fokussiert ist. Im Vergleich mit der ,Praefatio‘ stellen die beiden Briefe eine Revision des älteren Korrekturvorschlags hinsichtlich der Fixierung des Geburtsjahres Jesu dar 12. Trotz seiner scharfen Kritik an Dionysius verkennt Abbo nicht dessen historische Leistung. Gleich zu Beginn seiner ,Praefatio‘ etwa bezeichnet er ihn als compositor von Ostertafeln, deren ,mira brevitas‘ er hervorhebt 13. Die Kritik selbst ist hier - wie auch später wieder in der ,Epistola prima‘ - sorgfältig vorbereitet und stützt sich auf zwei Fundamente: erstens auf eine Analyse der Konstitution der den Ostertafeln zugrunde liegenden Prinzipien, zweitens auf die historische Überlieferung, und zwar besonders auf die ,catholica fides‘. Als grundlegende Struktur der Ostertafeln macht Abbo den 532jährigen Zyklus, den annus magnus, aus, der auf dem Sonnen- und Mondlauf beruhe und folglich aus achtundzwanzig Lunisolarzyklen respektive neunzehn ,Sonnenzyklen‘ bestehe. Das entscheidende Charakteristikum des annus magnus hebt er noch vor der Einführung der 11
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Die Ostertafeln setzen sich gewöhnlich aus acht Spalten zusammen, die der Reihe nach das Jahr in einer chronologischen Ära, die Indiktion, die Mondepakten, die Wochentagskonkurrenten, das Mondzyklusjahr, den Ostersonntag sowie dessen Mondalter auflisten. Ausführlicher zu den Tafeln und ihren gängigen Spalten: Borst, Die karolingische Kalenderreform (nt. 10), 492-494. Ediert sind bislang lediglich die ,Praefatio‘ sowie die ,Epistola prima‘, cf. A. Cordoliani, Abbon de Fleury, He´riger de Lobbes et Gerland de BesancX on sur l’e`re de l’incarnation de Denys le Petit, in: Revue d’histoire eccle´siastique 44 (1949), 463-487, hier 474-476 (,Praefatio‘), 476480 (,Epistola prima‘), allerdings mit gravierenden Lesefehlern. Sie werden daher - wie auch die ,Epistola secunda‘ - nach der insgesamt sehr zuverlässigen und frühen Handschrift Berlin, SBPK, Phill. 1833 (Fleury, um 1000), foll. 45rv (,Praefatio‘), 56r-57r (,Epistola prima‘), 58rv (,Epistola secunda‘), zitiert. Der ,Prologus‘ ist nur in einem Manuskript überliefert: Bern, Burgerbibliothek, 306 (Fleury, spätes 10. Jahrhundert/Dijon, frühes 11. Jahrhundert), fol. 1r. Die Zuschreibung des Textes an Abbo gelang kürzlich überzeugend Verbist, In duel met het verleden (nt. 8), 226 sq. Zur Datierung der vier Schriften siehe ibid., 216 sq., unter Berücksichtigung der älteren Literatur und mit weiterführenden Hinweisen. Dort findet sich auch eine Übersicht über die bislang bekannten Textzeugen der betreffenden Schriften. Abbo, Praefatio (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45r ): „Dyonisius abbas genere romanus paschales circulos mira brevitate conposuit […]“.
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beiden zuletzt genannten Zyklen hervor, daß sich nämlich nur nach Ablauf dieses Großjahrs die Daten bezüglich des Mond- sowie des Sonnenlaufes insgesamt und in derselben Reihenfolge wiederholten 14. Ausdrücklich zieht er die Konsequenzen aus diesem Sachverhalt dann nach der Erwähnung der beiden zuletzt genannten Zyklen: Erst nach Ablauf von 532 Jahren stimmten die einzelnen Jahre des Osterzyklus hinsichtlich der Epakten, der Konkurrenten, der Position im jeweiligen Lunisolar- und ,Sonnenzyklus‘, des Ostervollmondes sowie des Ostersonntags und seines Mondalters wieder exakt überein 15. Damit aber entpuppt sich jedes einzelne Jahr innerhalb des Osterzyklus als eine einmalige Kombination aus einem bestimmten Jahr des Lunisolar- und einem des ,Sonnenzyklus‘, wie Abbo betont 16. Dionysius Exiguus nun hatte den annus magnus mit der chronologischen Ära verknüpft, indem er das Jahr 532 mit dem ersten Jahr des Osterzyklus identifizierte. Dasselbe Charakteristikum trifft dem eben skizzierten Zusammenhang zufolge auch auf das Jahr 1 v. Chr. zu. Wendet man sich aber vor diesem Hintergrund dem Passionsjahr - dem Jahr 34 - zu und sucht dieses in den dionysianischen Tafeln auf, so zeigt sich, daß diese Daten liefern, die nicht den synoptisch tradierten entsprechen 17. Während nämlich der Überlieferung zufolge Jesus an den 8. Kalenden des April (25. März) auferstand, nennen die Tafeln des Dionysius für das betreffende Jahr die 5. Kalenden (28. März). Diese Diskrepanz bildet den Auslöser für Abbos Kritik an Dionysius, dessen Verbindung von Ära und Zyklus Passionsdaten suggeriere, die nicht nur der catholica fides, sondern
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Abbo, Praefatio (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45r ): „[…] numquam enim nisi finito magno anno solis lunaeque compotus totus ex integro sine aliqua confusione repetitur […]“. Direkt im Anschluß an das Zitat fügt Abbo den Hinweis hinzu, Dionysius selbst habe um diesen Zusammenhang gewußt, ,ut fatetur‘ (ibid.), was seine spätere Kritik noch erheblich verschärft. Cf. Abbo, Praefatio (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45v ): „Nam et in epactis et in concurrentibus sive ciclis decemnovenali vel lunari, necnon termino paschali, ac dominica pasche cum luna ipsius diei, qualis fuit dxxxii dominice incarnationis annus, talis erit mlxiiii […].“ Noch prägnanter als in der ,Praefatio‘ kommt diese Einsicht in der ,Epistola prima‘ zum Ausdruck, cf. ibid., fol. 56r: „Ea est enim concordia duorum magnorum luminarium solis videlicet atque lune, ut infra magnum annum sive magnum cyclum […] nusquam nisi semel alter alteri conveniat, nusquam infra illud spacium nisi semel convenientia duorum luminum existat. Verbi gratia, hoc anno quartus annus solaris communicat decemnovenali xvi, quod nusquam alibi evenit in toto illo magno anno. […] numerus alicuius anni qui est in solari circulo nusquam in toto magno anno nisi semel respondeat numero cuiuslibet anni qui est in circulo decemnovenalis, utputa in primo anno primi cycli Dyonisii abbatis est nonus solaris et primus xviiii nec usquam alibi […].“ Mit dem Verweis auf die ,synoptisch tradierten‘ Daten folge ich den Formulierungen Abbos (sowie seiner Vorgänger und Nachfolger). Bekanntlich nennen weder Johannes noch die Synoptiker konkrete Daten für das letzte Abendmahl, die Kreuzigung sowie die Auferstehung, sondern bieten lediglich eine relative Chronologie. Die Übersetzung dieser relativen Chronologie in Kalenderdaten erfolgte in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten. Zu den Vorgaben der Evangelien und deren - wohl allegorisch inspirierter - Interpretation sowie der Unsicherheit bezüglich der tatsächlichen Passah-Datierung zur Zeit Jesu (und des letzten Abendmahls) siehe: Ch. W. Jones, Development of the Latin Ecclesiastical Calendar, in: id. (ed.), Bedae opera de temporibus, Cambridge (Mass.) 1943, 3-122, hier 6-8.
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außerdem den Angaben sämtlicher Kirchengelehrten widersprächen 18. Damit komme ich zum nächsten Punkt der Erörterung, den beiden Fundamenten, auf die sich Abbo bei seiner Argumentation konsequent stützt und die er in Einklang zu bringen versucht: (1.) die komputistisch-astronomischen Zyklen, und zwar namentlich den 532jährigen Osterzyklus, und (2.) die historische Überlieferung. III. Die ,Natur‘ der Zyklen Abbos Vorgehensweise in der ,Praefatio‘ läßt sich grob in zwei Teile untergliedern 19: In einem ersten Anlauf weist er die Fehlerhaftigkeit der Verknüpfung auf, die Dionysius zwischen den Zyklen und der Ära vorgenommen hatte. Hieran schließt sich ein zweiter Schritt, in dem Abbo seinen eigenen Lösungsvorschlag entwickelt. Die beiden Teile zerfallen ihrerseits wieder in mehrere Sinneinheiten. So demonstriert Abbo im ersten Part nicht nur in der bereits referierten Form anhand der Passionsdaten Christi die Diskrepanz zwischen den Synoptikern und den dionysianischen Tafeln, sondern zieht noch ein weiteres Beispiel heran, das Todesjahr seines Ordensgründers Benedikts, das vergleichbare Unstimmigkeiten zwischen der historischen Überlieferung und den Daten des Dionysius ans Licht bringt. Auf diesen Befund hin entfaltet Abbo seinen eigenen Datierungsansatz in drei Schritten. Er ermittelt zunächst diejenigen Zyklusjahre, deren Daten - wie Konkurrenten, Ostervollmond, Ostersonntag mit den historisch tradierten Angaben übereinstimmen, und zwar sowohl für das Passionsjahr als auch für das Todesjahr Benedikts 20. Daraufhin wägt er die Alternativen ab, um zu gewährleisten, daß sich alle fraglichen Daten stimmig in das chronologische Gerüst der Ostertafeln einordnen lassen. Zuletzt präsentiert er das erzielte Ergebnis in Gestalt einer korrigierten Verbindung zwischen den Zyklen und der Zeitachse 21. 18
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Abbo, Praefatio (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45v ): „Cum hec ita sint queritur de anno dominice passionis, qui a nativitate xxxiiii terminum pasche, xiiii scilicet lunam, qua deus ad immolandum traditur, dominica facit occurrere, per concurrentes et regulares eiusdem linee, licet catholica fides habeat post peractam coenam feria v traditum et xv luna feriae vi crucifixum. […] Qui [sc. Dionysius] etiam in eo ab omnibus aecclesiasticis doctoribus discrepat, quod dominum xviiii luna crucifixum demonstrat. Nam Theophilius sicut et alii xv luna crucifixum astruit, dum viii kal. apr. refert eum resurexisse a mortuis post multa que tractaverat cum suis coepiscopis de origine mundi.“ Eine kurze inhaltliche Bemerkung zur ,Praefatio‘ bereits in: Cordoliani, Abbon de Fleury (nt. 12), 465. Die aktuellste und kenntnisreichste Untersuchung der Schrift in: Verbist, In duel met het verleden (nt. 8), 218-226. Die Vorgehensweise in der ,Epistola prima‘ ist eng verwandt, allerdings zieht Abbo dort noch zusätzlich das Todesjahr Martins von Tours heran, cf. Berlin, SBPK, Phill. 1833, foll. 56v-57r, zu Martin fol. 57r. Seine Ergebnisse präsentiert Abbo nur zum Teil in den eigentlichen Schriften. Manche der Ergebnisse lassen sich ausschließlich den tabellarischen Darstellungen - den ersten beiden Lunisolarzyklen seiner revidierten Ostertafeln - im Anschluß an die Abhandlung entnehmen.
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Auffällig ist der Nachdruck, mit dem Abbo die Regelmäßigkeit in der Sukzession der einzelnen Jahre eines Zyklus, die Rekursivität der Zyklen selbst und die Einmaligkeit beziehungsweise Unverwechselbarkeit eines jeden Jahres innerhalb eines Zyklus betont 22. Das läßt zum einen erkennen, in welch hohem Maße Abbo davon überzeugt war, daß diese Annahmen tatsächlich zutreffen, und zum anderen, welches Gewicht er ihnen in seiner Argumentation beimißt. Angesichts dieser Beobachtung stellt sich somit die Frage, woraus er diese Überzeugungen ableitet. Den deutlichsten Hinweis hierauf bietet er in der ,Epistola prima‘ im Rahmen seiner Reflexionen zum Widerspruch zwischen den historisch verbürgten Passionsdaten und denen der dionysianischen Ostertafeln. In diesem Zusammenhang artikuliert er sein Befremden darüber, daß Dionysius an der Chronologie Änderungen vorgenommen und dabei die Zyklen verändert habe, die doch von der Natur geformt seien 23. Die Zyklen sind also - wie ja auch schon in der Einleitung vorweggenommen - ,natürlich‘, wobei Abbo dem Quellenbefund zufolge bemerkenswerterweise keinen Unterschied zwischen Lunisolar- und ,Sonnenzyklus‘ einerseits und dem Produkt dieser beiden circuli, dem Osterzyklus, andererseits macht. Zwar ist auch er sich im klaren darüber, daß sich der annus magnus aus achtundzwanzig Lunisolarzyklen respektive neunzehn ,Sonnenzyklen‘ zusammensetzt 24. Wie seine Ausführungen jedoch nahelegen, besitzt der Osterzyklus ihm zufolge denselben Status wie seine Konstituenten. Auch ihm liege eine ratio astronomischer Vorgänge zugrunde, und zwar diejenige, die Mond- und Sonnenlauf gemeinsam bestimme, „ad solem vel lunam pertinens“ 25. Daß unter ,ratio‘ indes weit mehr als eine bloße Rechenvorschrift zu begreifen ist, zeigt sich besonders plastisch in der ,Epistola prima‘, in der Abbo näher auf die ,concordia‘ der beiden Himmelsleuchten - des Mondes und der Sonne - eingeht. Nur ein einziges Mal im gesamten annus magnus, so erläutert er, kämen Sonne und Mond zusammen. Ihre
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Über die bereits zitierten Passagen hinaus cf. beispielsweise Abbo, Praefatio (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45rv ): „Qui annus […] in se sua per vestigia sine ulla confusione revolvitur […]. Magnus annus quingentorum xxx duorum annorum iteratur, ut paschalis ratio ad solem vel lunam pertinens inerrato repetatur.“ Wie bereits erwähnt tritt diese Überzeugung noch deutlicher in der ,Epistola prima‘ zum Vorschein, cf. neben den schon angeführten Stellen ibid., fol. 56rv: „Cuius magni hec anni natura, ut nulla praedictorum duorum luminum concordia sit, fuerit aut futura sit, que non contineatur circulo eiusdem magni anni quem Dyonisius quidem coepit, sed Beda usque ad finem perduxit. […]. Qualis itaque hic annus millesimus tertius per concurrentes et epactas, per solares, lunares necnon etiam paschales circulos, talis ille praeteriit, talis et iste futurus erit.“ Cf. Abbo, Epistola prima (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56v ): „Et quidem mirum, si vir tantae auctoritatis annis domini aliquid addidit vel subtraxit, cum ipsos circulos quos natura formavit immutaverit […].“ Cf. Abbo, Praefatio (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45r ): „Qui annus propterea […] revolvitur, quoniam circulus solaris xxviii et lunaris xviiii annis peragitur, qui dum eo tenore quo pariter coepti sunt finiuntur.“ So Abbos Charakterisierung der ,paschalis ratio‘ des Osterzyklus im soeben angeführten Zitat aus der ,Praefatio‘ (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45v, cf. nt. 22), während der Lunisolarzyklus ihm zufolge lediglich die ratio des Mondes wiedergibt: „Decemnovenalis vero manifestus in ipsis [sc. circulis Dyonisii, NG] totam lunae rationem regit “ (ibid.).
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,concordia‘ zeichne sich genau dadurch aus, daß nur nach Ablauf dieser Zeitspanne, ,illud spatium‘, eine neuerliche ,convenientia‘ der beiden stattfinde 26. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb Abbo Begriffe wie ,annus magnus‘ und ,magnus cyclus‘, ,spatium‘ und ,circulus‘ oft mit der größten Selbstverständlichkeit austauschbar verwendet. Zeiträume wie das Sonnenjahr, die neunzehn Jahre des Lunisolarzyklus oder der annus magnus sind ,Kreise‘, deren Dauer sich durch die regelmäßige concordia der betreffenden Himmelskörper bestimmt. Was aber bedeutet es in diesem Zusammenhang, wenn Abbo seine Zyklen oder Perioden als ,natürlich‘ bezeichnet? Welcher Naturbegriff liegt dieser Redeweise zugrunde? Die direktesten Aufschlüsse hierüber bietet Abbos ,Ephemerida‘, ein Figurengedicht, in dessen Zentrum der regelmäßige und geordnete Lauf von Sonne und Mond steht 27. Von besonderem Interesse für die gegenwärtige Fragestellung ist der Umstand, daß Abbo für das gleichmäßige Alternieren von Sonne und Mond eine Ursache benennt: die ,natura coeva‘ 28. Aufgrund dieser kausalen Funktion aber läßt sich die natura als ein regulatives Prinzip charakterisieren, das den Lauf der Himmelsleuchten schon lange, ,diu‘, bestimmt. Einen weiteren Hinweis auf das Alter dieses Prinzips bietet außerdem das Epitheton ,coeva‘, ,gleichalt‘, das dieses Prinzip - angesichts der Erschaffung der Himmelskörper zu Beginn der Welt - direkt mit dem Schöpfungsakt verknüpft 29. Allerdings reichen die Konnotationen dieses Attributes noch weit über diesen Aspekt hinaus, spielt es doch eine zentrale Rolle in theologischen Reflexionen und namentlich bei Augustin, wie sich exemplarisch an seinem ,Sermo CXVII‘ zeigen läßt. Im Zusammenhang mit der Frage, wie Gott-Sohn, der doch von Gott-Vater hervorgebracht sei und diesem somit in zeitlicher Hinsicht zu folgen scheine, 26
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Cf. hierzu die oben (nt. 16) bereits zitierte Textstelle (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56r ): „Ea est enim concordia duorum magnorum luminarium solis videlicet atque lune, ut […] nusquam nisi semel alter alteri conveniat, nusquam infra illud spacium nisi semel convenientia duorum luminum existat.“ Die ,Ephemerida‘ ist kritisch ediert in M. Lapidge/P. S. Baker (eds.), More Acrostic Verse by Abbo of Fleury, in: The Journal of Medieval Latin 7 (1997), 1-27, hier 12-15 (mit englischer Übersetzung). Nach derzeitigem Kenntnisstand ist sie in 33 Handschriften überliefert; siehe hierzu die Handschriftenübersicht in B. Obrist (ed.), Abbon de Fleury. Philosophie, sciences et comput autour de l’an mil. Actes des journe´es organise´es par le Centre d’histoire des sciences et des philosophies arabes et me´die´vales, Paris 2004, 239 sq. Sie wird im folgenden nach der Handschrift Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 33v, zitiert. Eine Transkription dieser Version in: N. Germann, De temporum ratione. Quadrivium und Gotteserkenntnis am Beispiel Abbos von Fleury und Hermanns von Reichenau, Leiden 2006, Abbildung 15. Abbo, Ephemerida, v. 9 (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 33v ): „Quos [sc. solem lunamque, NG] dedit alternare diu natura coeva.“ Für eine Analyse der ,Ephemerida‘ und eine detailliertere Herleitung der vorgeschlagenen Interpretation siehe Germann, De temporum ratione (nt. 27), 149-168; zum Naturbegriff besonders 158-164, sowie ead., A la recherche de la structure du temps. Abbon de Fleury et le comput, in: A. Dufour/G. Labory (eds.), Abbon de Fleury, un abbe´ de l’an mil. Actes du colloque d’Orle´ans et Saint-Benoıˆt-sur-Loire, 10-12 juin 2004 (Bibliothe`que d’histoire culturelle du Moyen Age), Turnhout 2007 (im Druck), besonders den Abschnitt „L’ordre des choses en tant qu’ordo unius: l’Ephemerida“.
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dem Vater dennoch gleichewig, coaeternus, sein könne, greift Augustin auf das Konzept der coaevitas und das Beispiel des Feuers zurück. Obwohl das Feuer die Ursache seines Scheines sei, so erklärt er, seien beide in zeitlicher Hinsicht doch untrennbar, sie seien nämlich gleichalt, coaevi. Ähnlich verhalte es sich mit Vater und Sohn im Falle der Trinität, nur gelte als Maß hier nicht die Zeit, sondern die Ewigkeit. Dies aber bedeutet, daß der Sohn seinem Vater gleichewig, coaeternus, sei, obschon er aus diesem hervorgehe wie der Schein aus dem Feuer. Augustin zufolge handelt es sich bei der coaevitas um ein ganz besonderes Beispiel, das er unter jene wenigen Phänomene rechnet, die imstande seien, ein zeitliches Abbild des ewigen Ursprungs zu vermitteln. Aufgrund ihrer similitudo aeternitatis sei sie geeignet, den Erkenntnissuchenden bis an die Erkenntnis des Ewigen heranzuführen. Im selben Kontext charakterisiert Augustin Gott-Sohn, also das verbum coaeternum, noch weiter als , forma omnium formatorum‘ und damit als die platonische Idee oder ratio schlechthin, die die gesamte Wirklichkeit durchdringt und strukturiert 30. Unter diesem Blickwinkel gewinnt Abbos natura eine beachtliche systematische Tiefe. Als ,gleichalte Natur‘ bestimmt sie die Bewegungen der Himmelsleuchten nicht nur seit Anbeginn der Zeiten, sondern ist zugleich die bestmögliche similitudo aeternitatis in der durch das göttliche verbum geschaffenen Wirklichkeit. In Anlehnung an Augustin ist sie gleichermaßen als forma (omnium formatorum) oder als ratio (rerum) anzusprechen, in der Terminologie Abbos als ordo unius 31. Unter ,Natur‘ ist bei ihm folglich nicht, respektive nicht in erster Linie, das Ganze der dem Werden und Vergehen unterworfenen Dinge im Sinne etwa von Aristoteles zu verstehen 32. Vielmehr stellt sie das maßgebliche Prinzip dar, dem gemäß die Abläufe der Himmelskörper sowie die sublunaren generationes und corruptiones stattfinden. Dies impliziert jedoch zwingend deren Regelmäßig-
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Siehe hierzu Augustinus, Sermo CXVII (PL 38, col. 661-671); zum Feuer und seinem Schein cf. ibid., col. 667: „[…] mox autem ut accendero, simul cum igne et splendor existit. Da hic mihi ignem sine splendore, et credo tibi Patrem fuisse sine Filio“; zum Verhältnis zwischen coaevitas und coaeternitas cf. ibid., col. 666-668: „[…] in aeternitate omnia stant, in tempore alia accedunt, alia succedunt […]. Si autem non invenis aeternum, et vincunt se in tempore; sufficit ut ad similitudinem inveniamus coaevum. […] hic invenimus coaeva, ibi intelligamus coaeterna. […] sed posse ex aliqua tenui et parva similitudine coaeva coaeternis [comparari]. Inveniamus itaque coaeva […]“; zur Identifikation des verbum coaeternum mit der forma omnium formatorum ibid., col. 661-663. Zur Gleichsetzung von forma mit ratio siehe Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, q. XLVI De ideis (CCSL 44A, 70-73), bes. De ideis 2, 21-30 (ibid., 71): „Ideas igitur Latine possumus uel formas uel species dicere […]. Si autem rationes eas uocemus […] a re ipsa non abhorrebit. Sunt namque ideae principales quaedam formae uel rationes rerum stabiles atque incommutabiles, quae ipsae formatae non sunt ac per hoc aeternae ac semper eodem modo sese habentes, quae diuina intelligentia continentur. Et cum ipsae neque oriantur neque intereant, secundum eas tamen formari dicitur omne quod oriri et interire potest et omne quod oritur et interit.“ Zum ordo unius cf. Abbo, Ephemerida, v. 23 (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 33v ) sowie die nt. 29 genannte Literatur. Zum Naturbegriff des Aristoteles cf. Metaphysik Δ 4, 1014b16-1015a19: ,Natur‘ ist demnach in erster Linie die Wesenheit derjenigen Dinge, die das Prinzip der Bewegung in sich selbst haben, insofern sie das sind, was sie sind.
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keit und Geordnetheit und gewährleistet zugleich ihre Erkennbarkeit für die menschliche Vernunft. IV. ,Natur‘ und ,Wahrheit‘ Aus den Konnotationen dieses Naturbegriffes bezieht die Bezeichnung der circuli caelestes als ,natürlich‘ ihre besondere Bedeutung. Es handelt sich bei diesen circuli um ,Dinge‘, die von einer ratio coaeva regelhaft gelenkt werden. Dasselbe Charakteristikum aber trifft Abbo zufolge auch auf den Osterzyklus zu. Wie bereits erwähnt wurde, unterscheidet Abbo ja nicht zwischen dem Status der gewöhnlichen circuli der Himmelskörper und jenem des Osterzyklus mit seinem direkten Bezug auf das Christusereignis. Über die bereits erzielten Ergebnisse hinausgehend läßt sich somit festhalten, daß Abbo die ratio paschalis des annus magnus mit seinem Verweis auf Tod und Auferstehung Christi in genau derselben Weise als eine Struktur begreift, die der Zeitenfolge ,natürlicherweise‘ und folglich seit Anbeginn der Welt inhäriert. Wie sich seit der Schöpfung die Umläufe von Sonne und Mond, der Planeten und des Fixsternhimmels wiederholen, so läuft die ratio paschalis mit unbeirrbarer Regelmäßigkeit ab. Quellenmäßig greifbar wird diese Konzeption besonders deutlich im ,Prologus‘, in dem Abbo der Frage nachgeht, in welchem Jahr des Osterzyklus die Welt ihren Ursprung nahm, und so die Zyklen über das Christusgeschehen hinaus noch mit der Schöpfung verknüpft 33. Diese habe sich, so Abbo, in einem Jahr mit fünfzehn Epakten ereignet, da davon auszugehen sei, daß der erste Vollmond auf die 11. Kalenden des April (22. März) gefallen sei. Außerdem sei mit sieben Konkurrenten zu rechnen, glaube man doch gemeinhin, daß der erste Sabbat an den 9. Kalenden desselben Monats (24. März) stattgefunden habe. Diese Parameter genügen laut Abbo jedoch noch nicht, um exakt ein Zyklusjahr zu identifizieren, „da sieben Konkurrenten des öfteren im Sonnenzyklus zu finden sind“. Doch sei anzunehmen, daß nur ein Schaltjahr als erstes Jahr der Welt in Frage käme, da sich dieses dadurch auszeichne, daß die ,neue Sonne‘ an den 15. Kalenden des April (18. März) von Osten her zu Beginn der ersten Nachtstunde in das Sternbild Widder eintrete. Aufgrund dieser Angaben kann Abbo in einem nächsten Schritt schlußfolgern, daß das erste Schöpfungsjahr das siebzehnte eines ,Sonnenzyklus‘ und das sechzehnte eines Lunisolarzyklus gewesen und Ostern auf die 8. Kalenden des April (25. März) gefallen sei, was - so fährt er fort - den Daten des achten Lunisolarzyklus entspräche. Und damit sei es jetzt möglich, die ganze Zyklenabfolge auszudehnen auf die Zeitspanne 33
Abbo, Prologus (Bern, BB, 306, fol. 1r ): „Sumamus ergo in origine mundi querere quis annus ciclorum solaris vel lunaris videatur fuisse“, nachdem er in den vorausgehenden Zeilen die ratio des Osterzyklus erläutert und dabei zuletzt betont hat, daß ein Zyklusjahr des annus magnus eine einmalige Kombination aus je einem bestimmten Jahr des neunzehnjährigen und einem des achtundzwanzigjährigen Zyklus ist.
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zwischen dem Beginn der Welt und dem Passionsjahr Christi. Auf der Grundlage der hebräischen Datierweise rechnet Abbo vor, daß in dieser Zeit sieben Osterzyklen abgelaufen seien und 260 Jahre übrig blieben, deren letztes folglich dem Passionsjahr entspreche 34. Damit scheint Abbo sein Ziel erreicht zu haben, einen lückenlosen und kohärenten Zusammenhang zwischen der linearen Abfolge an Jahren und der rekursiven der Zyklen von der Erschaffung der Welt bis in die Gegenwart zu etablieren. Dasselbe Anliegen verfolgt er wieder wenige Jahre später in seiner ,Epistola prima‘, in der er nicht nur versucht, die Angaben zu Christi Passion, zum Todesjahr Benedikts und zu dem Martins von Tours, sondern auch den ersten Tag der Welt sowie die seither verstrichene Zeit bis zur Passion in ein stimmiges Gesamtsystem der durch den Osterzyklus strukturierten Zeitordnung zu fassen 35. Auf die Bedeutung dieses Ansinnens mit Blick auf das sich in ihm spiegelnde Zeitverständnis hatte ich bereits in der Einleitung thesenartig hingewiesen. Es läßt erkennen, daß für Abbo das österliche Christusereignis ein der ,natürlichen‘ Zeitenfolge innewohnendes und sie seit Anbeginn der Welt bestimmendes Moment darstellt. Besonders plastisch findet dies in seiner Überlegung Ausdruck, auf welches Datum im Schöpfungsjahr denn Ostern gefallen sei. Ein solches Verständnis ist in der Geschichte der Geschichtsphilosophie sicherlich kein Novum, tritt aber im hier fraglichen Kontext nach derzeitigem Kenntnisstand erstmals bei Abbo in dieser Form in Erscheinung 36. Kommen wir nochmals zurück auf Abbos Überzeugung, die circuli caelestes seien von der ,Natur‘ geformt, und wenden uns der Frage zu, in welchem Ver34
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Bis hierhin Abbo, Prologus (Bern, BB, 306, fol. 1r ): „Etenim anno quo mundus factus est xv epactas fuit, quia tunc luna in xi o kal. apr. xv ma existit, concurrens vero vii, quia nono kal. apr. sabbatum fuisse creditur. Sed quia concurrens vii in ciclo solaris frequentius invenitur, ille tantum vii existimatur qui bissexto praetitulatur, quoniam more primi anni bissextilis sol novus ex oriens ingressus est xv o kal. apr. arietem primo puncto primae horae noctis. Quare in principio mundanae creationis fuit annus xvii us cicli solaris et xvi us cicli decennovenalis, dies vero paschae viii o kal. apr. - sicut Dionisius dclxxx o anno ab incarnatione Christi disposuit - in octavo scilicet ciclo decennovenali. Eundem ergo annum primum ponendo extendatur annorum series ab origine mundi usque ad annum dominice passionis erantque iiidcccclxxxiiii qui dividantur per dxxxii ita septies dxxxii fiunt iiidccxxiiii et supersunt cclx qui ab anno superius descripto perducuntur ad eum quo passus est Christus.“ Zur Zeitspanne zwischen Schöpfung und Inkarnation - datiert gemäß der hebraica veritas - cf. Beda, De temporum ratione, c. LXVI (CCSL 123B, 495, 971-978): „iiidcccclii. […] Iesus Christus filius Dei sextam mundi aetatem suo consecrauit aduentu.“ Cf. Abbo, Epistola prima (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56v ): „Porro ad octavum cyclorum Dyonisii revertamus in cuius anno xvi caput saeculi annotatur […] sicut in alio nostro opusculo iam diximus […]. Restat ergo invenire annum dominice incarnationis, si ab hoc primordio inchoes […].“ Selbst Beda - dessen ,De temporum ratione‘ entlang heilsgeschichtlicher Vorstellungen fortschreitet - bezieht in seine Ausführungen zu den Osterzyklen nicht die vorchristliche Zeit mit ein. Cf. hierzu op. cit., c. XLVII-LXV (CCSL 123B, 427-460). Zum ,Umfang‘ des seinem Werk vorangestellten Osterzyklus cf. op. cit., c. LXV (ibid., 469, 19-24): „Quod ut apertius clarescat placuit eundem plenario ordine circulum praesenti opusculo praeponere, sumpto exordio a quingentesimo tricesimo secundo dominicae incarnationis anno […] et perducto opere usque ad millesimum sexagesimum tertium eiusdem sacrosanctae incarnationis annum.“ Die anni mundi vor Inkarnation und Passion thematisiert er lediglich im Rahmen seiner Weltalterchronik (ibid., c. LXVI, CCSL 123B, 463-535), dort allerdings ohne Bezugnahme auf die Zyklen.
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hältnis sie zum computus stehen, und zwar namentlich zu den Ostertafeln, um die ja Abbos Überlegungen in den hier besprochenen Quellen kreisen. Wie seine Ausführungen erkennen lassen, sind die Tafeln und der computus, obwohl ihnen die ,natürliche‘ ratio temporum zugrunde liegt, selbst nicht identisch mit den circuli. Sie lassen sich am treffendsten mit Abbos eigenen Worten als ,Beschreibungen‘ bezeichnen und somit als menschliche Artefakte, die sich genau dann als gelungen erweisen, wenn sie die durch die veritas naturae und die fides historiae bezeugten Daten unverfälscht wiedergeben 37. Exemplarisch ist wieder auf den ,Prologus‘ zu verweisen, den Abbo um einen laterculus ergänzt hat. Hierbei handelt es sich um ein Gebilde, das in komprimierter Weise den Ablauf des gesamten Osterzyklus darstellt. Es umfaßt die Epakten, Konkurrenten, Schaltjahre und die übrigen erforderlichen Hilfsgrößen des kompletten Zyklus und ist in aller Regel mit mindestens einer Ära ausgestattet, die eine Verknüpfung zwischen den einzelnen Zyklenjahren und der Chronologie herstellt. In den letzten Zeilen des ,Prologus‘ erläutert Abbo den Aufbau seines laterculus und trifft dabei die für den gegenwärtigen Zusammenhang relevante Feststellung, daß er damit eine Beschreibung der ,natürlichen‘ Vorgänge liefere: Wie sich die beiden Gestirne - die Sonne und der Mond - zur gleichen Zeit bewegten, so Abbo, habe er in einem laterculus beschrieben, der aus neunzehn ,Sonnenzyklen‘ und achtundzwanzig Lunisolarzyklen bestehe 38. Vor diesem Horizont wird die Tragweite von Abbos Kritik an Dionysius deutlich. Dessen Fehler bestand nicht darin, sich schlicht verrechnet zu haben, sondern reichte erheblich weiter: Mit seinen Hinzufügungen und Subtraktionen hinsichtlich der Anzahl an Jahren seit Christi Geburt habe dieser die von der ,Natur‘ geformten Zyklen selbst verändert - so der Vorwurf Abbos. Einer der gravierendsten Irrtümer der opinio hominum aber bestehe gerade darin, von der 37
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Cf. demgegenüber die oben bereits erwähnte Position von Wallis, Images of Order (nt. 3), 48, 50 sq., 54 et passim, der zufolge der computus ein artifizielles, von Menschen kreiertes Raster darstelle, das der ,natürlichen Zeit‘ gleichsam übergestülpt werde. Cf. Abbo, Prologus (Bern, BB, 306, fol. 1r ): „Ceterum quomodo pariter currant [sc. utrumque syderis, NG] […] uno laterculo descripsimus qui habet xviiii ciclos solares et xxvii[i] ciclos decennovenales.“ Diese Differenz zwischen der ,Natur‘ und ihrer Beschreibung findet sich beispielsweise ebenfalls in der ,Epistola prima‘ wieder, in der Abbo auch terminologisch unterscheidet zwischen dem ,natürlichen‘ Zyklus - in diesem Fall dem 532jährigen -, den er als ,annus magnus‘ bezeichnet, und seinem komputistischen Pendant, das er hier ,circulus eiusdem magni anni ‘ nennt. Cf. Abbo, Epistola prima (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56r ): „Cuius magni hec anni natura, ut nulla praedictorum duorum luminum concordia sit, fuerit aut futura sit quae non contineatur circulo eiusdem magni anni, quem Dyonisius quidem coepit […].“ Ähnlich terminologisch dürfte der Wortgebrauch zu Beginn der ,Praefatio‘ sein, wo Abbo von Dionysius berichtet, dieser habe ,Kreise zusammengesetzt‘. Cf. Abbo, op. cit. (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45r ): „Dyonisius abbas […] paschales circulos […] composuit “. Von ,descriptio‘ spricht Abbo dann wieder ausdrücklich in der ,Epistola secunda‘, als er die von ihm gegenüber der dionysianischen Ära berichtigte Jahreszählung erläutert. Siehe Abbo, op. cit. (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 58v ): „Ceterum illa maior summa [sc. mxxv, NG] annorum domini in nostra moderna descriptione ad eundem annum cycli xviiii, ad eundem annum cycli solaris pervenit ad quem minor summa [sc. iiiii, NG] in descriptione veteri.“ Eine Besprechung des laterculus in: Verbist, In duel met het verleden (nt. 8), 228 sq.
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,Natur‘ abweichen zu wollen 39. Nach dem bisher Erarbeiteten bedeutet eine solche variatio naturae jedoch nichts Geringeres als den Verstoß gegen die der ratio temporum wesensmäßig inhärente göttliche Ordnung und somit gegen die ,Wahrheit‘ selbst 40. Mit Blick auf den computus und sein Verhältnis zu den Zyklen bleibt somit festzuhalten, daß seine Aufgabe darin besteht, die ,wahre‘ ratio temporum abzubilden, und zwar nicht einfach isoliert für sich, sondern in Übereinstimmung mit der fides historiae. Abbos Hauptanliegen läßt sich folglich als das Bemühen charakterisieren, ein in sich stimmiges, ,wahrheitskonformes‘ Gesamtsystem der Zeitordnung zu etablieren, ein Anliegen, das ja bereits in dem alle Zeiten übergreifenden Strukturprinzip der ratio paschalis des ,Prologus‘ seinen beredten Ausdruck fand 41. Damit ist jetzt der Punkt der Erörterung erreicht, an dem auf das zweite argumentative Fundament Abbos näher einzugehen ist, auf die fides historiae. 39
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Cf. Abbo, Epistola prima (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56v ): „Et quid mirum si vir tante auctoritatis annis domini aliquid addidit vel subtraxit, cum ipsos circulos quos natura formavit immutaverit nec ei contradicit ecclesia universalis. […] hoc […] confundit hominum opinio, dum […] nature variare conatur.“ Aus erkenntnistheoretischer Perspektive fallen an dieser Stelle mehrere Besonderheiten auf. Zum einen wird aufgrund seiner Argumentation deutlich, daß Abbo wie selbstverständlich davon ausgeht, daß die ,natürliche‘ Struktur der Zyklen von der menschlichen ratio korrekt erkannt wird. Zu vermuten ist, daß Abbo von der Isomorphie der menschlichen und der ,natürlichen‘ ratio überzeugt war, wie auch eine Stelle in seinem Kommentar zum ,Calculus‘ des Victorius nahelegt, in dem er die traditionelle Meinung vorträgt, die Kreisbahnen der Gestirne seien intelligible Objekte und nur mittels der Vernunft durchschaubar: „Unde et […] caelestes circulos […] intelligibiles dicimus, quos sola rationis subtilitate penetramus.“ In: A. M. Peden (ed.), Abbo of Fleury and Ramsey: Commentary on the Calculus of Victorius of Aquitaine, Oxford 2003, 100, § 45. Zum anderen bleibt unklar, weshalb Abbo die Zyklen mit der ,Natur‘ identifiziert, während er die Ostertafeln lediglich als deren ,Beschreibung‘ auffaßt. Schon die Charakterisierung aller dieser Zyklen gleichermaßen als ,natürlich‘ ist problematisch, handelt es sich doch um qualitativ völlig unterschiedliche Gebilde. Allein dem neunzehnjährigen Lunisolarzyklus liegt ein astronomisches Phänomen zugrunde: der Lauf von Sonne und Mond relativ zueinander und zum Tierkreis, von der Erde aus beobachtet. Der achtundzwanzigjährige ,Sonnenzyklus‘ hingegen ist ein rechnerisches Konstrukt, das die kalendarischen Besonderheiten der Wochentagszählung und des Operierens mit Schaltjahren erschließt. Ähnliches gilt in noch höherem Maße für den 532jährigen Osterzyklus, der ja, wie oben erwähnt, schlicht das kleinste gemeinsame Vielfache der beiden erstgenannten Zyklen ist. Schließlich stellt sich die Frage, aus welchem Grund die Rekonstruktion astronomischer Zyklen durch die menschliche Vernunft zuverlässiger sein sollte als die historische Überlieferung, weshalb also Abbo zu Recht letztere, nicht aber auch die komputistisch-astronomischen Zyklen hinterfragt. Hinweise hierauf habe ich bislang in keiner seiner Schriften gefunden. Wie hart Abbo um ein solches kohärentes Gesamtsystem rang, läßt sich etwa auch daran erkennen, daß er in der ,Epistola secunda‘ - um eine Alternative zu seinem ersten, fehlerhaften Korrekturvorschlag zu finden - historisch ebenfalls bezeugte, von den bisher verwendeten Daten allerdings leicht abweichende Angaben heranzieht. So datiert er Christi Passionsjahr jetzt beispielsweise auf das Jahr 33 - gegenüber 34 in der ,Praefatio‘ - und bietet eine alternative Passionschronologie. Cf. Epistola secunda (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 58r ): „Siquidem xxxiii [sc. anno, NG] iuxta evangeliorum historiam luna paschae fuit xiiii in feria v atque - ut plurimis catholicae auctoritatis viris placuit - viiii kal. apr. ipsa feria v occurrit “ (gegenüber der bisherigen Darstellung,
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V. Die Ver trauenswürdigkeit der Überliefer ung Den Ausgangspunkt der Kritik Abbos in der oben vorgestellten Passage aus der ,Praefatio‘ bildet die aufgedeckte Diskrepanz zwischen den Daten, wie sie die dionysianischen Tafeln zu Christi Passionsjahr liefern, und der ,catholica fides‘, die - wie schon erwähnt wurde - der synoptischen Tradition entspricht 42. Eine ähnliche Unstimmigkeit, so Abbo, trete hinsichtlich des Todesjahres Benedikts von Nursia auf. Auch hier lassen sich die historisch überlieferten Daten daß Benedikt 529 noch lebte und an einem Ostersamstag, an den 12. Kalenden des April (21. März) aus dem Leben schied - nicht mit denen der Tafeln in Übereinstimmung bringen 43. Zum Beleg beruft er sich in diesem Fall auf Viktor von Capua, Paulus Diaconus und die ,Miracula Cassini‘ 44. Angesichts der angeführten Quellen stellt sich die Frage, weshalb Abbo sie für geeignet hält, als Grundlage für seine Kritik an der Chronologie des Dionysius zu dienen und warum er sie wie selbstverständlich als ,gesta veracissima‘ bezeichnet. Mit Blick auf die Synoptiker verweist er knapp auf Beda Venerabilis, demzufolge die , fides evangeliorum‘ der Autorität des Dionysius vorzuziehen sei 45. Ähnlich äußert er beispielsweise in der ,Epistola prima‘, er leugne nicht die Autorität des Dionysius, veranschlage aber die der fides evangeliorum höher 46, und beruft sich ansonsten ohne besondere Begründung auf sie 47. Ein vergleichbares
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die Kreuzigung habe am Freitag, die Auferstehung aber erst am Sonntag, allerdings den 8. Kalenden des April [25. März] stattgefunden). Cf. Abbo, Praefatio (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45v ): „[…] de anno dominicae passionis […] terminum paschae […] qua deus ad immolandum traditur dominica facit occurrere per concurrentes et regulares eiusdem lineae, licet catholica fides habet post peractam coenam feria v traditum et xv luna, feria vi crucifixum.“ Cf. Abbo, Praefatio (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45v ): „Anno ab incarnatione domini dxxviiii […] sanctissimus monachorum pater Benedictus in Italia virtutibus claruit […]. Qui videlicet Benedictus pater sabbato sancto paschae ex hac vita migravit xii kal. apr. […] Requisitus vero talis annus in circulis saepius nominandi Dyonisii […] tercio in toto magno anno inveniri poterit, in tribus scilicet tantum xviiii libus ciclis, id est in iiii to, xxii o et xxvii mo. Sed dum Benedictus pater post annos domini dxxviiii […] vivens coruscavit, constat quod nec xxii o, nec xxvii mo ciclo ex hoc mundo decessit. Quia vero eius vitae mirabilis relator papa Gregorius anno ab incarnatione domini dcv obiit, certum est quod nec quarto ciclo ex huius vitae aerumnis moriens transiit […].“ Der Traktat Viktors von Capua (gest. 545), demzufolge Benedikt 529 noch lebte, ist nicht auf uns gekommen. Die andere Bezugsquelle für dieses Datum ist die ,Historia romana‘ des Paulus Diaconus (gest. 799?), den Abbo irrtümlich für einen Zeitgenossen Benedikts hält. Bei den ,Miracula Cassini‘ handelt es sich um eine Heiligenvita aus der Feder Odos von Glanfeuil (gest. ca. 868), die ,Vita sancti Mauri‘. Hierzu ausführlicher Verbist, In duel met het verleden (nt. 8), 220 sq. Darüber hinaus stützt sich Abbo noch ausdrücklich auf die , fides Niceni concilii ‘ (Praefatio, Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45v ) sowie auf Gregor von Tours (Epistola prima, ibid., fol. 57r ). Cf. Abbo, Praefatio (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45v ): „In cuius quaestionis obscuritate dominus Beda plurimum obversatus nihil lucis infudit, nisi tantum quod evangeliorum fidem huius viri [sc. Dionysii, NG] auctoritati praetulit […].“ Cf. Abbo, Epistola prima (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56v ): „Nec id dicens auctoritatem tanti viri [sc. Dionysii, NG] refello, sed […] evangeliorum fidei quadam reverentia magis assensum praebeo.“ Cf. Abbo, Epistola prima (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56v ): „[…] quando quidem iuxta evangeliorum fidem Christus luna xiiii est traditus […]“.
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Gewicht scheint für ihn die , fides Niceni concilii ‘ zu besitzen, die er in einem verwandten Zusammenhang zitiert wie bereits die Synoptiker. Beispielsweise verwehrt er sich gegen den etwaigen Vorwurf, er verurteile andere, und betont statt dessen, er stütze sich auf die , fides Niceni concilii ‘, wenn er „aus authentischen Büchern“ heraussuche, „was wahr sei“ 48. Welche historiographi und chronographi aber so zuverlässig sind, daß Abbo sogar die fides historiarum gelegentlich in einem Atemzug mit den Evangelien nennen kann, bleibt letztlich offen 49. Daß gerade in der Identifikation zweifelsfrei wahrer Quellen, von gesta veracissima, das letztlich ungelöste Hauptproblem und mithin die größte Schwäche seiner Argumentation besteht, wird an der Ambivalenz von Abbos eigenen Formulierungen ersichtlich. Im Kontrast zu solch positiven Äußerungen über die fides historiarum wie der eben zitierten sei an Abbos Beschwerde über die Wankelmütigkeit der Chronographen im ,Prologus‘ erinnert. Darüber hinaus sei exemplarisch noch auf einen weiteren Passus, diesmal in der ,Epistola prima‘ verwiesen: Die Schuld, ,culpa‘, an der chronographischen Uneinigkeit, der ,dissensio chronographorum‘, trügen die Historiographen, die die Abfolge der Herrscherjahre immer wieder anders notierten 50. Abbo unterscheidet also zwischen einer vertrauenswürdigen fides historiae und fehlerhaften historischen Berichten. Verfälscht wird die korrekte Überlieferung ihm zufolge durch die ,Meinung der Menschen‘, ,hominum opinio‘, die sich nicht damit begnüge, der fides historiae treu zu folgen 51. Wie aber die glaubwürdige fides von der fehlerhaften opinio hominum zu unterscheiden sei, erklärt Abbo nicht. Zu vermuten ist, daß er die herangezogenen Quellen in Übereinstimmung mit traditionellen Gepflogenheiten relativ zueinander gewichtet. So versteht sich für ihn die Zuverlässigkeit der Evangelien, aber auch die von Konzilsbeschlüssen in dieser Weise deute ich den Verweis auf Nikaia - von selbst. Hieran schließen sich die antiqui patres, also mindestens die vier ,klassischen‘ lateinischen Väter Hieronymus, Ambrosius, Augustinus und Gregor der Große. Bemerkenswerterweise jedoch charakterisiert er bereits deren Überlieferung nur noch als ,opinio‘ 52 und macht sie damit begrifflich ununterscheidbar von der normalen, fehlbaren Meinung aller übrigen Menschen. Unklar bleibt folglich, wo genau innerhalb der 48
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Abbo, Praefatio (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45v ): „Haec dicens non praeiudico nec damno aliorum sententias, sed ex autenticis libris quod verum est investigans qui iuxta fidem Niceni concilii assero quod nullus annus […]“; cf. auch Epistola prima (ibid., fol. 56r ): „[…] ne quid erroris aliunde irreperet, quod ad Niceni concilii inviolabilem firmitatem non pertineret.“ Cf. hierzu die oben (nt. 46) zitierte Passage, die an der fraglichen Stelle vollständig lautet: „[…] sed historiarum et evangeliorum fidei quadam reverentia magis assensum praebeo“ (Hervorhebung NG). Abbo, Epistola prima (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56v ): „[…] historiographorum magis culpa fuit qui annos imperatorum sibi succedentium aliter atque aliter scriptitarunt.“ Die ,dissensio chronographorum‘ folgt wenige Zeilen später. Diese Unsicherheit in der Identifikation zuverlässiger Quellen spiegelt sich auch in der oben (nt. 41) erwähnten Wankelmütigkeit Abbos selbst. Cf. Abbo, Epistola prima (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56v ): „[…] hoc […] confundit hominum opinio, dum […] historiae fidem non simpliciter exsequitur.“ Abbo, Epistola prima (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56v ): „Quo vero kalendario id actum sit, non evangeliorum historia, sed antiquorum patrum opinio palam fecit.“
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Vätertradition die Grenze zwischen Vertrauenswürdigkeit und Unzuverlässigkeit zu ziehen ist, weshalb etwa einem Odo von Glanfeuil in höherem Maße Glauben zu schenken ist als Dionysius Exiguus, den Abbo ja nichtsdestotrotz als Autorität, ,auctoritas‘, bezeichnet 53. Wie sich zusammenfassend festhalten läßt, sucht Abbo bei seinen Forschungen nach ,Wahrheit‘ und ist zugleich um Widerspruchsfreiheit der Grundlagen seiner Argumentation bemüht. Sowohl die veritas naturae der Zyklen als auch die Wahrheit der gesta sind Ausdruck ein und derselben Wahrheit, so daß Widersprüche zwischen ihnen Belege für die Wirksamkeit einer dritten Größe, nämlich für die Konfusion durch menschliche Meinungen darstellen. Bemerkenswerterweise sieht Abbo die Gefahr einer solchen Verwirrung nur im Bereich von Historiographie und Chronographie drohen, nicht aber auf der Seite der Zyklen. Während er feststellt, die Historiographen behaupteten zuerst das eine, dann das andere, und die Meinung der Menschen stifte Verwirrung, wenn sie der fides historiae nicht einfach folge und zugleich versuche, die ,Natur‘ zu verändern, steht die ,Natur‘ selbst für ihn außer Frage und bildet darüber hinaus sogar das Korrektiv für den historiographisch-chronologischen Bereich. Soweit zur Analyse der beiden Fundamente der Argumentation. Im folgenden möchte ich mich am Beispiel der ,Praefatio‘ und der ,Epistola prima‘ Abbos Argumentationsweise selbst zuwenden. Meine Intention besteht hierbei in erster Linie darin, den sachbezogenen Charakter seiner Argumentation transparent zu machen, und besitzt ihre Begründung in seiner Absichtsbekundung, die Untersuchungen ,von der Sache her‘ anzustellen 54. VI. „[ … ] ab re est inquirere“ Nachdem Abbo in seiner ,Praefatio‘ die Diskrepanz zwischen den Daten der dionysianischen Ostertafeln für das Passionsjahr Christi und den entsprechenden Angaben der Evangelien aufgedeckt hat, wendet er sich wie referiert dem Todesjahr Benedikts zu. Weshalb er den Gegenstand so unvermittelt wechselt, erklärt er nicht. Er dürfte damit aber wohl zweierlei bezweckt haben: Zum einen vermag er an diesem Beispiel zu zeigen, daß die Verknüpfung, die Dionysius in seinen Tafeln zwischen den Zyklen und der Ära vorgenommen hatte, nicht nur punktuell, sondern grundsätzlich fehlerhaft ist. Diesen Befund unterstreicht er in der ,Epistola prima‘ ein weiteres Mal mit Hilfe des Todesjahrs Martins von Tours, auf das er dort ja noch zusätzlich eingeht. Zum anderen dienen ihm diese thematischen Ergänzungen aber zur Verbreiterung der Quellenbasis, um sich 53
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Cf. beispielsweise seine Charakterisierung als ,vir tantae auctoritatis‘ in der Epistola prima (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56v ); wieder ibid.: „Nec […] auctoritatem tanti viri refello.“ Cf. Abbo, Epistola prima (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56v ): „Paschalem autem festivitatem […] ab re est inquirere“; ähnlich wieder wenige Zeilen danach (ibid.) die Formulierung: „[…] si annos dominicae incarnationis secus quam se res habet posuerunt “.
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überhaupt in die Lage zu versetzen, das Problem einer Lösung zuzuführen. Gerade in der Auseinandersetzung mit diesen zusätzlichen Problemfeldern kommt Abbos Vorgehensweise besonders klar zum Ausdruck, weshalb ich mich im folgenden hierauf konzentrieren möchte. Ihren Ausgang nehmen Abbos Überlegungen jeweils von historisch (glaubhaft) überlieferten Daten, die er zunächst sammelt und mit den Charakteristika der einzelnen Zyklenjahre abgleicht. Auf diese Weise eruiert er sämtliche Jahre, welche die fraglichen Merkmale aufweisen. Der nächste Schritt besteht dann darin, aus den verschiedenen Möglichkeiten die zutreffende herauszufinden, wobei es zwei Parameter zu berücksichtigen gilt: Die zur Diskussion stehenden Jahre - also das Passionsjahr, das Todesjahr Benedikts und, in der ,Epistola prima‘, das Martins von Tours - müssen erstens sinnvoll relativ zueinander in der fixen Abfolge der Zyklenjahre und zweitens stimmig bezüglich einer dementsprechend neu zu justierenden chronologischen Ära angeordnet werden. Zur Konkretisierung dieser schematischen Darstellung seiner Vorgehensweise greife ich exemplarisch auf Abbos Auseinandersetzung mit dem Todesjahr Benedikts in der ,Praefatio‘ zurück. Seinen eigenen Auskünften zufolge stieß Abbo in den bereits genannten gesta veracissima - also bei Viktor von Capua, Paulus Diaconus und in den ,Miracula Cassini‘ - auf verschiedene Informationen zum Todesjahr seines Ordensgründers: Benedikt starb an einem Ostersamstag, an den 12. Kalenden des April (21. März). Ostersonntag fiel demnach auf die 11. Kalenden (22. März) und somit auf ein außergewöhnlich frühes Datum. Eine solche Frühdatierung kommt Abbo zufolge nur dreimal innerhalb des gesamten 532jährigen Zyklus vor, nämlich im vierten, zweiundzwanzigsten und siebenundzwanzigsten cyclus decemnovenalis, und hier jeweils im sechzehnten Jahr 55. Verbindet man diese Zyklenjahre mit der dionysianischen Inkarnationsära, so ergeben sich als mögliche Todesjahre Benedikts die Jahre 414 (22. Zyklus), 509 (27.) und 604 (4.). Wie Abbo aus den genannten Quellen weiß, lebte Benedikt 529 noch, so daß als einzige Möglichkeit das Jahr 604 übrig bleibt. Da in diesem Jahr jedoch Benedikts Biograph, Gregor der Große, starb, kommt Abbo zu dem Schluß, daß auch dieses Jahr nicht dem gesuchten entspreche 56. Legt man die dionysianische Inkarnationsära zugrunde, führen somit alle vermeintlichen Möglichkeiten in die Aporie, wodurch sich Abbo in seinem negativen Urteil über die Ära des Dionysius bestätigt sieht 57. 55
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Abbo übersieht hierbei, daß auch das sechzehnte Jahr des siebzehnten Lunisolarzyklus’ als potentielles Jahr in Frage kommt. Möglicherweise ließ er es aber auch mit Bedacht beiseite, da es entweder dem Jahr 319 oder 851 entspricht - beide Varianten aber scheiden von vornherein klar aus. Für das vollständige Zitat bis hierher Abbo, Praefatio (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45v; cf. nt. 43): „Anno ab incarnatione domini dxxviiii […] in tribus scilicet tantum xviiii libus ciclis, id est in iiii to, xxii o et xxvii mo.“ Die Formulierung Abbos ist erstaunlich harsch: Gäbe es nicht zuverlässige historische Zeugnisse, würden die dionysianischen Tafeln über beide Todesdaten - Jesu wie Benedikts - Täu-
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Das Verfahren beim Entwickeln des eigenen Lösungsansatzes gleicht strukturell dem beim Ausfindigmachen des Problems, insofern Abbo wieder in denselben Schritten vorgeht: vom Sammeln verfügbarer Daten über das Verbinden dieser Daten mit möglichen Zyklenjahren bis hin zum Identifizieren in diesem Falle des zutreffenden Ergebnisses 58. Diesmal auf der Grundlage der Chronik von Eusebius und Hieronymus rekonstruiert Abbo die folgende Chronologie: Zwischen dem Passionsjahr Christi, dem Jahr 34, und dem Tod Benedikts macht er eine Zeitspanne von 497 Jahren aus - Benedikt verstarb demnach im Jahre 531 der durch Abbo nun neu justierten Inkarnationsära. Sowohl Christi Passionsjahr als auch Benedikts Todesjahr korrespondieren in dieser neuen Ära den geforderten Zyklusjahren, außerdem befinden sie sich im Einklang mit den Angaben der konsultierten historiographischen Quellen, so daß Abbos Ziel die Widerspruchsfreiheit von veritas naturae und fides historiae - erreicht scheint 59. An dieser Stelle möchte ich zentrale Aspekte der Sachbezogenheit Abbos kurz zusammenfassen. Ihr Hauptcharakteristikum besteht in der Eigenständigkeit der Argumentation Abbos, die sich einerseits auf als zuverlässig identifizierte Daten und andererseits auf eine feststehende Struktur, die naturgeformten Zyklen, stützt. Die Daten gewinnt er dabei durch eine Analyse der verfügbaren historischen Überlieferung und durch eine - wenn auch nur rudimentäre - Form von Quellenkritik, die nicht nur historiographieimmanent stattfindet, sondern auch das Abgleichen mit einem externen Maßstab, der ,Natur‘ beinhaltet. Seine wesentliche wissenschaftliche Leistung besteht somit erstens darin, fachwissenschaftliches Material aufzuspüren, das dem zur Diskussion stehenden Gegen-
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schungen verbreiten. Siehe Abbo, Praefatio (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45v ): „Quare - nisi summa fides gestorum esset - praelibatus ciclicus de utriusque, domini scilicet ac servi, transitu calumniam induceret.“ Den Ausgangspunkt seiner Reflexionen bildet dabei das aufgedeckte corpus delicti, die mißglückte Verzahnung der Zyklen mit der Inkarnationsära, die Dionysius seinerzeit dadurch herstellte, daß er den Beginn des zweiten ,nachchristlichen‘ Osterzyklus auf das Jahr 532 legte. Um zu überprüfen, ob Dionysius möglicherweise ein Fehler bei der Berechnung jenes ersten Zyklusjahres in der von ihm neugeschaffenen Ära unterlaufen ist, zieht Abbo die Chronik von Eusebius und Hieronymus heran. Mittels der dort verwendeten Olympiadenrechnung ermittelt er für den Zeitraum von Christi Geburt bis zum Beginn des betreffenden zweiten Zyklus eine Spanne von 535 Jahren. In Übereinstimmung mit der , fides Niceni concilii ‘, so betont er daraufhin, enthalte nur das dreizehnte Zyklusjahr eines cyclus decemnovenalis den erforderlichen Ostervollmond, terminus paschalis, des Passionsjahrs Christi, und nur das sechzehnte Zyklusjahr weise die bezeugten Osterdaten des Todesjahrs Benedikts auf. Denn es gelte: Damit der terminus paschalis im ersten Fall an einem Freitag stattfinde, müßten fünf Konkurrenten und sieben Regularen gegeben sein, was eben auf das dreizehnte Zyklusjahr zutreffe; damit sich im zweiten Fall der Tod seines Ordensgründers an einem Samstag ereigne, hingegen drei Konkurrenten und vier Regularen, was dem besagten sechzehnten Jahr entspricht. Cf. hierzu Abbo, Praefatio (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45v ): „Qua calumnia impulsus […] concurrentes iii cum regularibus iiii produnt “. Abbo selbst nennt im Text der ,Praefatio‘ nur das Todesjahr Benedikts. Die geglückte Einordnung dieses Jahres in den Osterzyklus läßt sich nur aufgrund der der Schrift hinzugefügten Tafeln und außerdem lediglich mittelbar erschließen: Es fällt in den letzten neunzehnjährigen Zyklus, dargestellt hat Abbo jedoch nur die ersten beiden.
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stand in sachlogischer Hinsicht adäquat ist, und zweitens dieses sachgerecht auszuwerten und damit das Problem einer selbständig entwickelten Lösung zuzuführen. Als ,sachgerecht‘ bezeichne ich diese Vorgehensweise deshalb, weil sie sich von der Eigengesetzlichkeit des behandelten Gegenstandes selbst leiten läßt. Der stichhaltigste Beleg hierfür ist der Befund, daß Abbo den Widerspruch zwischen den Historiographen nicht etwa durch den Rückgriff auf eine gewichtigere Autorität auflöst, sondern indem er konsequent von der Struktur der Zyklen her, also ,naturwissenschaftlich‘ argumentiert. Der Korrektivfunktion, die der ,Natur‘ bei Abbo eignet, möchte ich am Beispiel der ,Epistola prima‘ noch weiter nachgehen. Diese bietet sich hierfür in besonderem Maße an, da Abbo dort aufgrund einer gravierenden Einsicht seinen alten Korrekturvorschlag aus der ,Praefatio‘ verwirft und einen im Ergebnis hiervon abweichenden neuen entwickelt 60. Vermutlich bei seiner Arbeit am ,Prologus‘ war ihm aufgefallen, daß er nicht lediglich die Ära um einige Jahre verschoben, sondern statt dessen in die Struktur der ,natürlichen‘ Zyklen selbst eingegriffen, diese verändert und dadurch gegen die Hauptprämisse seiner eigenen Argumentation verstoßen hatte: gegen die veritas naturae 61. Seine vermeintliche Verbesserung entlarvte sich somit als eine scheinbare, die in Wirklichkeit die ,culpa‘ des Dionysius im Ausmaß der von ihr angerichteten ,confusio‘ noch um ein Vielfaches übertraf 62. Angesichts dessen sah Abbo sich genötigt, einen neuen Ansatz zu entwickeln, der nicht nur in sich stimmig war, sondern auch die ,wahre‘ Struktur der Zyklen unangetastet ließ.
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Es handelt sich hierbei um eine Verschiebung der dionysianischen Ära um einundzwanzig Jahre. Cf. hierzu Verbist, In duel met het verleden (nt. 8), 230-243, das Ergebnis ibid., 242 sq. Die ,Epistola prima‘ thematisierte zuvor bereits Cordoliani, Abbon de Fleury (nt. 12), 465-467, der allerdings in Anlehnung an Varin, Lettre critique d’Abbon de Fleury sur les cycles dionysiaques, in: Bulletin du comite´ historique des monuments e´crits de l’histoire de France. Histoire, science, lettres 1 (1849), 115-128, zu dem Schluß kam, es handele sich um eine Verschiebung von lediglich 20 Jahren. Grund für diese Interpretation waren Fehler bei der Lektüre der von ihm gewählten Handschrift. Cf. hierzu oben (nt. 12). Diesen Irrtum hat Verbist erkannt und richtiggestellt, op. cit., besonders 235 mit nt. 7. Demgegenüber hatte Abbo der Forschung zufolge in seiner ,Praefatio‘ eine Verschiebung der Inkarnationsära um drei Jahre vorgenommen. In diesem Sinne schon Cordoliani, op. cit.; zum gleichen Ergebnis gelangt diesmal auch Verbist, op. cit., 218-226. Beide beobachten nicht, daß Abbo einen ganz anderen neunzehnjährigen Zyklus als nunmehr ersten des annus magnus herausgriff. Cf. hierzu die nun folgenden Erläuterungen. Aufgrund seines Anliegens im ,Prologus‘ - einen chronologischen Bogen vom Schöpfungstag bis in seine Zeitgeschichte auf der Grundlage des Osterzyklus zu schlagen - stellt er weit programmatischer als in der ,Praefatio‘ den immerwährenden Charakter der Zyklenabfolge heraus: eben bereits seit Beginn der Welt. Im Rahmen seiner Ausführungen spiegelt sich denn auch eine erhöhte Sensibilität für die Einmaligkeit eines bestimmten Jahres innerhalb eines annus magnus sowie die strikte Periodizität der Wiederkehr seiner jeweiligen komputistisch-astronomischen Konstellationen. Zu vermuten ist daher, daß ihm diese Charakteristika zuvor nicht in diesem Maße deutlich waren. Immerhin hatte Dionysius - wie Abbo selbst ihm jetzt bescheinigt - an der ratio paschalis nichts verändert, so daß diese und damit die Osterfestdatierung von der Fehlerhaftigkeit der Ära unbehelligt blieb. Cf. hierzu Abbo, Epistola prima (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56v ):
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Zur Begründung dieser Interpretation muß ich zunächst nochmals kurz auf die ,Praefatio‘ und die ihr angehängten cycli decemnovenales ,wie sie sein müßten‘ zurückgreifen 63. Erst diese Zyklen machen hinsichtlich der Passion Christi sowie der gesamten Ära die vorgenommenen Modifikationen sichtbar, die Abbo im Text selbst überhaupt nicht nennt 64. Um die historisch überlieferten Daten mit den komputistisch auf der Basis der Zyklen ermittelbaren in Übereinstimmung zu bringen, ist Abbo innerhalb der Zyklenabfolge gesprungen: Statt mit dem traditionellen ersten cyclus decemnovenalis beginnt er den Osterzyklus mit dem bisherigen dreiundzwanzigsten Zyklus, dessen erstem Jahr er jetzt das Jahr 3/535 entsprechend seiner modifizierten Ära zuordnet. Folglich wird der dionysianische zweiundzwanzigste Zyklus hinfort zum letzten abbonischen. Damit korrespondiert dessen sechzehntes Jahr - das ja die überlieferten Osterdaten des Todesjahrs Benedikts aufweist - dem Inkarnationsjahr 531 der korrigierten Ära. Außerdem ist der bisherige vierundzwanzigste cyclus decemnovenalis fortan der zweite. Dieser Zyklus zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sein dreizehntes Jahr - das Jahr 34 der abbonischen Ära - exakt jene komputistischen Konstellationen bietet, die laut Überlieferung auf Christi Passion und Auferstehung zutreffen 65. Allerdings führt Abbos Neuanordnung des annus magnus auch bezüglich der Osterfestdatierung zu Veränderungen, insofern die ,neuen‘ Osterdaten von den ,traditionellen‘ abweichen. So fiele Ostern beispielsweise im ersten Jahr eines 532jährigen Zyklus nun theoretisch auf die 7. Iden (7. April) und nicht mehr auf die 3. Iden des April (11. April); im Jahr 1 abbonischer Ära hätte man es an den 4. Nonen des April (2. April) gefeiert, in der dionysianischen hingegen an
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„[…] attamen Dyonisio magis favet qui etsi annos incarnationis domini vel extendit vel contrahit procul dubio nihil officit, praesertim cum festivitati paschali nihil impedit.“ Auf die ,Praefatio‘ folgen die ersten beiden neunzehnjährigen Zyklen des gesamten Osterzyklus, ihre Überschrift lautet: „Primus ciclus Dionisii talis esse debuit secundum ordinem annorum domini “, beziehungsweise: „Secundus ciclus […]“ (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 53r ). Wie referiert, beschränkt er sich dort darauf, das ermittelte Todesjahr Benedikts (ihm zufolge das Jahr 531) zu nennen; über die geglückte Einordnung des Passionsjahrs in den 532jährigen Osterzyklus hingegen schweigt er, cf. nt. 59. Der Ostervollmond fällt in diesem Zyklusjahr auf die 9. Kalenden des April (24. März), der Ostersonntag auf die 6. Kalenden (27. März) mit Mondalter 17, die Konkurrenten sind die erforderlichen fünf. Cf. hierzu die oben (nt. 41) bereits erwähnten terminlichen Unstimmigkeiten zwischen der ,Praefatio‘ und der ,Epistola secunda‘. Genau dieser Kniff Abbos, seinen annus magnus mit dem vormaligen dreiundzwanzigsten cyclus decemnovenalis zu beginnen und dem ,neuen‘ ersten Zyklusjahr das Inkarnationsjahr 3/535 zuzuordnen, hat eine tatsächliche Korrektur um 117 Jahre zur Folge. Diese setzen sich aus sechs neunzehnjährigen Zyklen (i. e. die Zyklen dreiundzwanzig bis achtundzwanzig inklusive), also 114 Jahren plus drei weiteren (aufgrund des Beginns des ,neuen‘ ersten Zyklusjahrs im Jahr 3/535 statt -1/532) zusammen. In Wirklichkeit entspricht Abbos Jahr 3/535 somit nicht dem Jahr -1/532 des Dionysius, sondern vielmehr dessen Jahr -115/418. Anders die Interpretation von Verbist, In duel met het verleden (nt. 8), 225 sq., der für eine bloße Verschiebung der Ära um drei Jahre argumentiert und ferner der Einschätzung ist, daß Abbos erster Anlauf noch keine für das Todesjahr Benedikts passende Lösung bot.
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den 6. Kalenden (27. März). Dies aber bedeutet eine vollständige Modifizierung der ratio paschalis und somit einen Verstoß gegen die veritas naturae, von deren unbedingten Gültigkeit Abbo jedoch, wie oben herausgearbeitet, fest überzeugt war. Daß tatsächlich in der Einsicht in diese weitreichenden und für ihn unakzeptablen Konsequenzen seines eigenen Korrekturvorschlags der Beweggrund für die neuerliche Auseinandersetzung mit der Verknüpfung von Ära und Zyklen zu suchen ist, legen mehrere Besonderheiten der ,Epistola prima‘ selbst nahe. Stärker noch als in der ,Praefatio‘ betont Abbo dort, wie ja schon erwähnt, die perfekte Zyklizität des annus magnus und die Einmaligkeit jedes Zyklenjahres 66. Dabei hebt er eindringlich die Determiniertheit der Sukzession hervor: Sobald ein bestimmtes Jahr als ein konkretes Zyklusjahr innerhalb des annus magnus identifiziert wurde, stehen zwingend die komputistisch-astronomischen Daten sämtlicher folgender, aber auch aller vorausgehender Jahre, kurz der gesamten ratio temporum fest. Diesen Aspekt unterstreicht Abbo noch, indem er hier wie bereits im ,Prologus‘ die zeitenüberspannende Wirksamkeit des annus magnus als grundlegender Struktur der Zeitenfolge herausstellt und versucht, bei seinem neuen Lösungsansatz die gesamte seit der Schöpfung verstrichene Zeit zu umfassen 67. Entsprechend besteht sein Vorschlag bezüglich der Neujustierung der Ära nicht mehr in einer Verschiebung des kompletten Osterzyklus relativ zur chronologischen Ära, sondern nur noch in einer ,Umbenennung‘ der Zyklenjahre: Das dionysianische Jahr -1/532 ,heißt‘ in der abbonischen Ära zwar
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Zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes greift Abbo auf ein Beispiel zurück: Er wählt den annus praesens 1003, der das vierte Jahr eines ,Sonnenzyklus‘ und das sechzehnte eines cyclus decemnovenalis sei. Hinsichtlich sämtlicher komputistischer Bestimmungen - der Konkurrenten, Epakten, der Positionen in den einzelnen Zyklen - entspreche er exakt den Jahren 471 und 1535 sowie beliebigen zu subtrahierenden oder zu addierenden Vielfachen von 532, aber keinen anderen Jahren. Mit Hilfe dieses Beispiels zieht er den Schluß, daß der ,conversus siderum‘ somit weder für vergangene noch für zukünftige Zeiten verborgen bleibe. Cf. Abbo, Epistola prima (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56rv ): „Verbi gratia hoc anno quartus annus solaris communicat decemnovenali xvi quod nusquam alibi evenit in toto illo magno anno. […] Cuius magni hec anni natura, ut nulla praedictorum duorum luminum concordia sit, fuerit aut futura sit que non contineatur circulo eiusdem magni anni […]. Unde per singulos annos eiusdem magni cycli sic facito duplicando seu triplicando vel etiam centuplicando, et conversus siderum non latebit praeteritorum vel futurorum temporum.“ Für weitere Belege cf. nt. 16 und 22. Cf. hierzu seine Diskussion des ersten Tages der Welt und sein Bemühen, diesen diesmal ebenfalls stimmig im Gesamtsystem der Zeitenordnung einzugliedern. Wie im ,Prologus‘ schlägt Abbo, diesmal auf der chronologischen Grundlage der ,Septuaginta‘, den Bogen vom ersten Schöpfungstag bis zu Christi Geburtsjahr, das dem zweiten neunzehnjährigen Zyklus gemäß Dionysius entspreche, und zwar einem siebten ,Sonnenjahr‘ und einem achten Jahr des Lunisolarzyklus. Cf. Abbo, Epistola prima (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56v ): „Porro ad octavum cyclorum Dyonisii revertamus in cuius anno xvi caput saeculi annotatur […]. Occurrit autem huiusmodi supputatione nativitatis Christi in secundo cyclorum Dyonisii eo loco, ubi sibi communicant vii us annus solaris et viii us decemnovenalis.“ Vergleicht man Christi Geburtsjahr in den dem Brief beigefügten ,korrigierten‘ Tafeln (abbonischer Ära) mit diesen Angaben, zeigt sich, daß es Abbo trotz der Verschiebung um einundzwanzig Jahre nicht geglückt ist, auch den ersten Tag der Welt widerspruchsfrei zu integrieren.
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21/553, bleibt aber strukturell - also hinsichtlich seiner Plazierung im annus magnus - dasselbe 68. Auf der Grundlage dieser Rekonstruktion deute ich Abbos Revision seines ersten Vorschlags zur Korrektur der Inkarnationsära. Ich lese sie als die Überarbeitung eines früheren Ansatzes, die sich einem zwischenzeitlichen Erkenntnisfortschritt in wissenschaftlicher Hinsicht verdankt. Aufgrund der tieferen Einsicht in die Struktur der Zeit, die er im Zuge seiner Arbeit am ,Prologus‘ gewonnen hat, nimmt Abbo die Folgen seines ursprünglichen Lösungsvorschlags wahr und erkennt ihre Unvereinbarkeit mit einer zentralen und nach wie vor gültigen Prämisse. Hieraus zieht er die Konsequenz, die jeder Wissenschaftler ziehen würde: Er setzt sich ein weiteres Mal mit dem Problem auseinander, diesmal allerdings unter zusätzlicher Berücksichtigung der neuen Erkenntnisse. Sofern die vorgeschlagene Rekonstruktion der historischen Wirklichkeit entspricht, bietet Abbos Neuansatz wesentliche Hinweise darauf, welchen Status die ,Natur‘ im Rahmen von wissenschaftlicher Erkenntnis besitzt, und vermag die bisherigen Befunde damit um einen zentralen Aspekt zu ergänzen. Demnach zeichnet sich Abbos Sachbezogenheit wie auch seine wissenschaftliche Rationalität dadurch aus, daß er aufgrund der Einsicht, in Widerspruch zu den Prinzipien der ,Natur‘ geraten zu sein, seine bisherigen Forschungsergebnisse verwirft und nach einer neuen, ,naturgemäßen‘ Lösung sucht 69. Abbos Haltung, Forschungsfragen ,ab re […] inquirere‘ und neu hinzugewonnenes Wissen sogar zur kritischen Überarbeitung eigener älterer Arbeiten fruchtbar zu machen, ist auf den ersten Blick bemerkenswert, rechnet man um das Jahr 1000 doch gemeinhin kaum mit einer solchen Form von Wissenschaftlichkeit. Diese zeichnet sich wie herausgearbeitet durch die Bereitschaft aus, Probleme ,cuneo rationis scindere‘ und die - vermeintliche oder tatsächliche - Struktur der Wirklichkeit zum Korrektiv wissenschaftlicher Reflexionen heranzuziehen. Der Bedeutung dieses Befundes sowie der bereits zuvor erzielten Ergebnisse möchte ich in einer abschließenden Zusammenfassung nachgehen, die ich entlang der drei eingangs aufgeworfenen Thesen entwickele. VII. Schlußbemerkung en (1) Abbo unterscheidet im Bereich von Komputistik und Astronomie zwischen ,natürlichen‘ Zyklen und deren ,Beschreibungen‘. Seinem Anspruch zufolge 68
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Für die hier vorgeschlagene Interpretation spricht des weiteren Abbos vermutlich an Beda angelehnte Forderung, die Osterstruktur dürfe nicht beeinträchtigt werden, die er in der oben (nt. 62) zitierten Passage aus der ,Epistola prima‘ im Zusammenhang mit der Beobachtung artikuliert, Dionysius habe trotz aller Additionen und Subtraktionen die ratio paschalis unangetastet gelassen. Diese Beobachtung unterstreicht die Einschätzung, daß an dieser Stelle der Fehler der ,Praefatio‘ liegt, der Abbo zur Einsicht brachte, er selbst habe mit seinem Korrekturvorschlag im Grunde größeres Unheil angerichtet als Dionysius. Ein weiteres Beispiel für diese Haltung bietet die ,Epistola secunda‘, in der Abbo ausdrücklich auf seine früheren Ergebnisse - den bereits erwähnten laterculus im Anschluß an den ,Prolo-
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müssen diese Beschreibungen der ,Natur‘ entsprechen, also Daten liefern, die mit den ,natürlichen‘ übereinstimmen. Damit aber besitzt die ,Natur‘ bei Abbo einen objektiven Charakter: Sie ist eine externe, wahre und zugleich erkennbare Norm, an der wissenschaftliche Aussagen - wie chronologische Datierungen zu messen sind. Außerdem bildet sie nicht nur die letzte Instanz beim Auflösen der historiographischen Widersprüche, sondern auch den Beweggrund für Abbo, seinen eigenen Lösungsansatz zu revidieren. Mit Blick auf das Verhältnis der beiden Fundamente, auf die er seine Argumentation stützt, die veritas naturae und die fides historiae, lassen diese Beobachtungen darauf schließen, daß die veritas naturae für Abbo letztlich einen höheren Stellenwert besitzt als die fides historiae 70. (2) So bedeutsam diese Hochschätzung der ,Natur‘ in rationalitätsgeschichtlicher Hinsicht auch ist, so nahe liegt sie doch angesichts Abbos Naturbegriffs. Die natura ist bei ihm ein regulatives Prinzip, das der Wirklichkeit seit dem Beginn der Zeiten innewohnt. Sie verleiht der Zeitenfolge ihre bestimmende, zyklische Struktur, die einen besonderen Charakter besitzt. Ihrer Periodizität liegt die ratio paschalis zugrunde und somit von Anfang an der Bezug auf das österliche Christusereignis. Neben der eingangs schon erwähnten Hervorhebung des christologischen Momentes ist hieran aber eine weitere Bestimmung bemerkenswert: Abbo kennzeichnet die ratio des 532jährigen Osterzyklus nämlich außerdem als „ad solem vel lunam pertinens“ 71. Da somit die ratio paschalis und die ratio naturae ineinsfallen, werden die immer wiederkehrenden Konstellationen von Sonne und Mond selbst zu Zeichen oder Indikatoren der sich kontinuierlich vollziehenden österlichen Zeitenfolge. (3) Besondere Bedeutung ist schließlich dem dritten Aspekt beizumessen, der wissenschaftlichen Rationalität, die sich in den diskutierten Schriften äußert und deren Nähe zu Charakteristika des 12. Jahrhunderts ich eingangs postulierte. Neben der prominenten Rolle der ,Natur‘ bei der Argumentation und ihrer Korrektivfunktion ist hier in erster Linie an die Sachbezogenheit der Ausführungen Abbos zu denken. Diese zeichnen sich dadurch aus, daß die behandelten Gegenstände als Gegenstände thematisiert werden, also gemäß ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten oder sachlogischen Erfordernissen und auf der Grundlage einer strikt rationalen Gedanken- und Beweisführung. Besonders plastisch zeigte
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gus‘ - Bezug nimmt und diese als der veritas evangelii widersprechend charakterisiert (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 58r ): „[…] fugiendo errorem alterius laterculi qui de hac re veritati evangelii contradicit.“ Auszunehmen hiervon ist allerdings die Autorität der Evangelien sowie die der Konzilsbeschlüsse; inwieweit auch die Äußerungen der ersten Kirchenväter einen besonderen Status genießen, muß offen bleiben, da Abbo selbst keine diesbezüglichen Hinweise gibt und deren Äußerungen ebenfalls nur als ,opinio‘ bezeichnet. Cf. hierzu oben (nt. 51 und 52), die fragliche Textstelle lautet (verkürzt): „[…] hoc […] confundit hominum opinio […] sed antiquorum patrum opinio palam fecit […].“ Zitiert nach Abbo, Praefatio (Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 45v, cf. nt. 22 und 25).
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sich dies daran, daß Abbo die fehlerhaften Angaben einer zweifelhaften Quelle nicht einfach durch Daten einer gewichtigeren Autorität ersetzt, sondern mittels der dem Gegenstand selbst zugrunde liegenden ratio - in unserem Fall der Funktionsweise der Zyklen - eine Lösung herleitet. Wenn die vorgestellte Analyse und die hieraus gezogenen Schlußfolgerungen zutreffen, besitzt dies weiterreichende Konsequenzen für unsere historische Einordnung der ,Entdeckung der Natur‘ und des hochmittelalterlichen Rationalisierungsgeschehens. Beide Phänomene träten demnach nicht mehr oder weniger unvermittelt am Ende des 11. oder im Laufe des 12. Jahrhunderts in Erscheinung. Vielmehr legen die erzielten Befunde nahe, daß es sich bei der Beschäftigung mit den Dingen als Dingen sowie bei der Methode, die behandelten Gegenstände ,ad unguem discutere‘, um Charakteristika der wissenschaftlichen Rationalität handelt, die sich in den Reflexionen über Zeit und Dauer mindestens bis ins 10. Jahrhundert zurückverfolgen lassen 72.
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Daß Abbos Denken mit diesen Charakteristika in seiner Zeit keinen Sonderfall darstellt, sondern sich über das 11. Jahrhundert hinweg weiterverfolgen läßt, kann aus Platzgründen hier nicht herausgearbeitet werden. Lediglich exemplarisch sei in diesem Zusammenhang daher auf Gelehrte wie Hermann von Reichenau im 11. Jahrhundert verwiesen. Cf. hierzu unter rationalitätsgeschichtlichem Blickwinkel Germann, De temporum ratione (nt. 27), 177-285.
La dure´e dans la ,Cosmographie‘ de Bernard Silvestre 1 Michel Lemoine † (Paris) La ,Cosmographie‘ de Bernard Silvestre est un roman alle´gorique en vers et en prose, ce qu’on appelle un prosimetrum, dans la tradition de la ,Consolation‘ de Boe`ce et surtout des ,Noces de Philologie et Mercure‘ de Martianus Capella. Le point de de´part de l’œuvre est constitue´ par la requeˆte de Nature aupre`s de Dieu. Elle se plaint de l’e´tat de confusion et de de´sordre ou` se trouve Silva/ Yle`, la matie`re, et souhaite lui redonner forme. Noy¨s, qui est la science et la de´cision de la volonte´ divine, accepte d’aider Nature dans son entreprise. Le premier chantier est celui du me´gacosme, plus commune´ment appele´ ,macrocosme‘ dans la tradition herme´tique. Sa description occupe la premie`re partie de la ,Cosmographie‘. On assiste d’abord au re´tablissement de l’e´quilibre entre les quatre e´le´ments. Vient ensuite une pre´sentation de Dieu et des hie´rarchies ce´lestes, suivie d’un re´sume´ de l’histoire de l’humanite´ qui trouve son couronnement dans l’Incarnation. Suit une description de la cre´ation: ge´ographie, botanique, zoologie. Tout cela de´coule de la sagesse de Dieu. Bernard Silvestre conclut cette premie`re partie en expliquant ce que sont les divers types de dure´e. Une fois acheve´e la remise en ordre du me´gacosme, vient le temps de l’e´laboration du microcosme qui en est le reflet, c’est-a`-dire l’homme. Le re´sultat sera atteint au bout de recherches pre´liminaires entraıˆnant un long et e´tonnant voyage de plane`te en plane`te qui conduira Nature, aide´e par Uranie, jusqu’au bout de l’univers. L’essentiel de cette deuxie`me partie est constitue´ par une description du corps humain et de ses diverses faculte´s. 1
Note de l’e´diteur : Le tre`s regrette´ Michel Lemoine a pre´sente´ sa confe´rence lors de la 35e`me Mediaevistentagung en allemand, et il envisageait de la publier en allemand. Le travail de la traduction avait e´te´ fait par Renate Kronauer (Aachen), a` qui M. Lemoine a adresse´ dans une note les plus chaleureux remerciements. Malheureusement la mort subite de M. Lemoine n’a pas permis aux e´diteurs de revoir avec lui les quelques proble`mes textuels qui restaient, et ils se sont donc de´cide´s a` publier la version originale - en tenant compte ne´anmoins de certains changements introduits ulte´rieurement dans la traduction allemande. Cela permet par la meˆme occasion de reproduire ici les citations de la ,Cosmographie‘ dans la propre traduction de l’auteur : Bernard Silvestre, Cosmographie, intr., trad. et notes par M. Lemoine, Paris 1998. Comme M. Lemoine l’explique dans son introduction a` la traduction e´voque´e (32 sq.), celle-ci repose sur le texte latin de l’e´dition critique ine´dite d’Andre´ Vernet. Ne disposant pas de ce texte et confronte´s a` la ne´cessite´ de corriger le manuscrit de la communication de M. Lemoine, les e´diteurs se sont conforme´s a` l’e´dition suivante, qui d’ailleurs, comme le note M. Lemoine luimeˆme, ne montre que peu de diffe´rences substantielles avec celle de Vernet : Bernardus Silvestris, Cosmographia, edited with introduction and notes by Peter Dronke, Leiden 1978.
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Cet apercX u ne donne qu’une faible ide´e d’une œuvre a` la fois dense et foisonnante, ou` les descriptions re´alistes ou poe´tiques alternent avec les spe´culations me´taphysiques les plus e´leve´es, tandis que s’affairent une foule de personnages, anges, de´mons, ge´nies, esprits ce´lestes, qui sont emprunte´s aux mondes paı¨en et chre´tien et que l’auteur re´ussit a` doter d’une vie authentique. Parmi les sources de Bernard, on peut citer Cice´ron, Virgile, Horace, Ovide, Juve´nal, Martial, Lactance, Firmicus Maternus, Claudien, Maximianus, Ne´me´sius d’Eme`se, Constantin l’Africain, Manilius, Calcidius, l’Ascle´pius, Martianus Capella, Macrobe, Boe`ce, Isidore de Se´ville, Hygin, Macer Floridus, Jean Scot, et sans doute cette liste n’est-elle pas exhaustive. La ,Cosmographie‘ a connu un grand succe`s, comme le montre l’existence de nombreux manuscrits. Son influence est manifeste sur Alain de Lille, mais aussi Jean de Meung, Boccace et vraisemblablement Dante. Au XXe sie`cle, le the´ologien et romancier C. S. Lewis s’en inspire ouvertement pour e´crire le ,Silence de la Terre‘, re´cit de voyage interplane´taire ou` l’on retrouve les oyarses ou ousiarques 2. Les historiens de la pense´e ne s’accordent pas sur la signification de la ,Cosmographie‘: paganisme ou christianisme ? Les deux positions extreˆmes des interpre`tes sont celle de Curtius, qui conside`re la Cosmographie comme une œuvre paı¨enne influence´e par la pense´e herme´tiste de l’Ascle´pius, et celle de Gilson qui y voit purement et simplement un commentaire de la Gene`se. Ces deux interpre´tations semblent excessives et l’on est vraisemblablement plus pre`s de la ve´rite´ si l’on admet que l’œuvre de Bernard Silvestre, telle la ,Consolation de la Philosophie‘ de Boe`ce, se situe non pas contre le christianisme, mais en dehors d’une affirmation explicite de celui-ci. Tout au long d’un texte tisse´ de re´fe´rences paı¨ennes, quelques indices rappellent au lecteur que la re´ve´lation chre´tienne se cache sous le voile de l’alle´gorie. Le moment est venu de de´finir ce qu’est la dure´e sous toutes ses formes dans la ,Cosmographie‘. La dure´e est de´finie par Bernard Silvestre de la facX on suivante : „Tout ce qui s’e´tend dans la dure´e est, soit annuel, soit se´culaire, soit perpe´tuel, soit e´ternel.“ 3 Avant d’aller plus loin, il convient donc de rappeler ce que repre´sente „ce qui s’e´tend dans la dure´e“, c’est-a`-dire les types d’eˆtres que l’on rencontre dans la ,Cosmographie‘. Il en existe deux sortes, les eˆtres incre´e´s, appartenant au monde surnaturel, et les eˆtres cre´e´s. Dans le premier groupe, on trouve d’abord Dieu, qui apparaıˆt de`s le de´but de l’œuvre (I, i, 3). Ses attributs sont emprunte´s au ,Time´e‘ (I, i, 11). Il est aussi le Dieu trinitaire des chre´tiens, sous le nom de Tugaton (II, v, 3), „le Bien par excellence“, terme emprunte´ a` Macrobe. Vient ensuite Noy¨s, en qui E´tienne Gilson a voulu voir le Verbe divin, deuxie`me personne de la Trinite´, a` cause de la de´finition qu’en donne Bernard Silvestre : „Verbe coe´ternel et coessentiel au Pe`re“ 4. Il est plus exact de voir 2 3
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C. S. Lewis, Out of the Silent Planet, London 1938. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, iv, 10 : „Quidquid extenditur spaciis, vel annosum vel seculare, vel perpetuum vel eternum.“ E. Gilson, La Cosmogonie de Bernard Silvestre, Archives d’histoire doctrinale et litte´raire du ˆ ge 3 (1928), 12. Moyen A
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dans ce personnage fe´minin l’intellect du Dieu supreˆme et triomphant 5, en un mot, sa sagesse : „C’est la sagesse de Dieu, nourrie et engendre´e par les aliments vivants de l’e´ternite´. De la sagesse naıˆt le conseil, du conseil, la volonte´, de la volonte´ divine, la mise en œuvre de l’univers.“ 6 Noy¨s, enfin, est la providence divine (I, ii, 7, 1-2 et 8, 2). C’est elle qui cre´e l’aˆme humaine : „Cre´er la semence de l’aˆme humaine, e´tablir dans l’aˆme l’e´clat de la vitalite´ e´ternelle, ce sont la`, je le vois bien, deux œuvres re´serve´es a` mon habilete´.“ 7 Noy¨s a une fille, Nature, qui est charge´e de mettre en œuvre les intentions de sa me`re. Voici comment la de´finit Noy¨s : „Vraiment, toi aussi, Nature, bienheureuse fe´condite´ de mon sein, tu ne de´ge´ne`res ni ne de´chois de ton origine, toi, fille de la Providence, qui ne cesses de pourvoir a` l’Univers et aux choses.“ 8 Vient ensuite Silva/Yle` 9, chaos informe qui balance entre le bien et le mal : „Aussi bien Yle` est-elle de condition ambigue¨, place´e qu’elle est entre le bien et le mal ; du fait que sa malignite´ l’emporte, son penchant l’incline plutoˆt a` donner son assentiment a` celle-ci.“ 10 Mais elle est aussi un principe fe´cond : „A quoi bon pour Silva d’eˆtre la ge´nitrice, / apparue avant tout, si manque la lumie`re, / et si la nuit la comble, alors qu’elle est coupe´e / de son e´tat parfait ?“ 11 Il existe encore beaucoup d’autres personnages de rang varie´, chacun e´tant affecte´ a` une fonction spe´cifique : Uranie, Ende´lichie, Physis, qu’il ne faut pas confondre avec Nature, comme l’ont fait certains historiens, les anges, les de´mons, les ge´nies, issus tant du monde chre´tien que de la tradition ne´o-platonicienne. Il serait hors de notre sujet d’en de´crire les attributions diverses et com` coˆte´ de ces eˆtres auxquels on peut attribuer, en de´pit de leur diffe´rence plexes. A de statut, le qualificatif ge´ne´ral de ,supe´rieurs‘, on trouve les eˆtres cre´e´s. En font partie l’univers mate´riel, c’est-a`-dire les e´le´ments (I, iv, 7), la Terre et ses re´gions, enfin les eˆtres vivants, c’est-a`-dire les ve´ge´taux, les animaux, et, au premier rang, l’homme. Tous ces eˆtres, en fonction de leur statut, poursuivent leur existence selon une forme particulie`re de la dure´e. Rappelons avec Bernard Silvestre ce que sont ces diverses formes : „Tout ce qui s’e´tend dans la dure´e est, soit annuel, soit se´culaire, soit perpe´tuel, soit e´ternel. Ce qui est annuel est dissous par la vieil5
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Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, ii, 13, 1-3. Cf. E. R. Curtius, La litte´rature euroˆ ge latin, trad. J. Bre´joux, Paris 1956, 139, nt. 2. pe´enne et le Moyen A Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, iv, 5 : „Hec est dei sapientia, vivis eternitatis fomitibus vel nutrita vel genita. De sapientia consilium, voluntas de consilio nascitur, de divina mundi molitio voluntate.“ Op. cit., II, iii, 3, 1-5 : „Humane quidem sementem anime, et in anima iubar vivacitatis eterne vel facere vel fundare, utrumque subtilitati mee singulare perspitio.“ Op. cit., I, ii, 1, 3-4 : „,Vere,‘ inquit, ,et tu, Natura, uteri mei beata fecunditas, nec degeneras, nec desciscis origine que, filia Providentie, Mundo et rebus non desinis providere.‘“ Op. cit., I, i, 1-2; cf. Calcidius, In Timaeum, c. 123, in : Timaeus a Calcidio translatus commentarioque instructus, ed. J. H. Waszink (Plato Latinus 4), London-Leiden 1962, 167, 6. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, ii, 2, 1-2 : „Siquidem Yle ancipiti conditione est quadam inter bonum malumque disposita, sed preponderante malitia eius, vergit ad consensum inclinatior.“ Op. cit., I, i, 28-30 : „Quid prodest quod cuncta suo precesserit ortu/Silva parens, si lucis eget, si noctis abundat/Perfecto decisa suo ? “
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lesse, ce qui est se´culaire, par la suite du temps. Le perpe´tuel rivalise avec l’e´ternel en capacite´ de dure´e, mais du fait qu’il a commence´ a` un moment donne´, il ne pre´tend pas a` la supre´matie de l’e´ternite´.“ 12 On reconnaıˆt ici des distinctions classiques. Est e´ternel ce qui n’a ni commencement, ni fin. Est perpe´tuel ce qui a un commencement, mais pas de fin. Il existe aussi une de´finition traditionnelle portant sur les eˆtres qui ont un commencement et une fin et sont qualifie´s de ,temporels‘. Bernard Silvestre lui pre´fe`re une distinction plus pre´cise et introduit les notions d’,annuel‘ et de ,se´culaire‘. Il lui arrive meˆme d’e´voquer une dure´e horaire. On verra plus loin l’inte´reˆt que pre´sente cette pre´cision. L’e´ternel e´chappe au temps. Le perpe´tuel, l’annuel et le se´culaire, en revanche, ont e´te´ cre´e´s en tant que formes varie´es du temps. Comme le dit Bernard Silvestre, „l’univers maintient et de´veloppe les eˆtres selon un principe d’activite´ annuel pour les uns, se´culaire pour d’autres, perpe´tuel pour les derniers. L’univers et le temps, en effet, qui ont e´te´ engendre´s, se piquent d’avoir, du fait des principes qui ont re´gi leur naissance, des images proches, voire semblables“ 13. Apre`s que nous aurons examine´ plus en de´tail ces diverses formes de la dure´e, nous verrons qu’un lien les unit au-dela` de leurs spe´cificite´s. Seuls les principes e´troitement lie´s a` la vie de la divinite´ connaissent la stabilite´ de l’e´ternite´. C’est le cas de Noy¨s, la sagesse divine, de´finie comme suit par Bernard Silvestre : „A partir de cette lumie`re inaccessible [1 Tm 6,16] une splendeur rayonnante a brille´, je ne sais si je dois la dire ,image‘, ou ,visage‘ inscrit dans l’image du Pe`re. C’est la sagesse de Dieu, nourrie et engendre´e par les aliments vivants de l’e´ternite´. De la sagesse naıˆt le conseil, du conseil, la volonte´, de la volonte´ divine, la mise en œuvre de l’univers.“ 14 Cette description de la sagesse divine rejoint celle qui est donne´e de`s les premiers vers de la ,Cosmographie‘ : „Noy¨s 15, Dieu ne´ de Dieu, toi substance du Vrai, / cours [tenor] ininterrompu du conseil e´ternel.“ 16 Lorsque Noy¨s parle d’elle-meˆme, elle est encore plus pre´cise : „Quant a` moi, je suis Noy¨s, raison si profonde´ment raffine´e de 12
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Op. cit., I, iv, 10 : „Quidquid extenditur spaciis, vel annosum vel seculare, vel perpetuum vel eternum. Annosum senio, seculare dissolvitur evitate; eterno perpetuum durabilitate concertat. Sed quia quandoque ceperit, ad supremam eternitatis eminentiam non aspirat.“ Cf. Boe`ce, De consolatione philosophiae, 5, 6, 14, in : Boethius, De consolatione philosophiae. Opuscula theologica, ed. Claudio Moreschini, München-Leipzig 2000, 157; Boe`ce, De sancta trinitate, 4, in: ibid., 176. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, iv, 10 : „Mundus igitur quedam annosa, quedam seculari, quedam agitatione perpetua vel continuat, vel evolvit. Equeva namque generatione mundus et tempus quibus innascuntur principiis, eorum ymagines propinquas et simillimas emulantur.“ Cf. Platon, Time´e, 38b ; Calcidius, In Timaeum (nt. 9), c. 105 ; Johannes von Salisbury, Metalogicon, 4, 35, in : Ioannis Saresberiensis, Metalogicon, ed. J. B. Hall (Corpus Christianorum. Continuatio Medievalis 98), Turnholt 1991. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, iv, 5 : „Ex ea luce inaccessibili splendor radiatus emicuit, imago nescio dicam an vultus, patris imagine consignatus; hec est dei sapientia, vivis eternitatis fomitibus vel nutrita vel genita. De sapientia consilium, voluntas consilio nascitur, de divina mundi molitio voluntate.“ Cf. Macrobe, Commentarius in Somnium Scipionis, 1, 14, 6, in: Ambrosii Thodosii Macrobii Commentarius in Somnium Scipionis, ed. I. Willis, Leipzig 1963, 56. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, 5-6 : „Noys - deus - orta deo, substantia veri, / Consilii tenor eterni.“
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Dieu. La prime Ousia m’a enfante´e entie`rement d’elle-meˆme, comme une seconde elle-meˆme, non dans le temps, mais a` partir de cet e´ternel dont elle est constitue´e.“ 17 Preˆtons attention a` cette affirmation. Bien que Noy¨s, ainsi qu’on l’a dit plus haut, ne puisse eˆtre identifie´e avec le Verbe de Dieu, deuxie`me personne de la Trinite´, elle est, comme lui, „engendre´e, non pas cre´e´e“, selon la formule nice´enne, ce qui implique bien qu’elle existe de toute e´ternite´. Ce qui distingue l’e´ternite´ des autres formes de la dure´e, c’est qu’elle posse`de l’unite´. De ce fait, elle n’est autre que Dieu lui-meˆme : „Car l’Ousia premie`re 18, la persistance e´ternelle 19, la simplicite´ fe´conde en pluralite´, est une, par soi et en soi seule et totale nature de Dieu 20. Tout l’espace qui existe ne saurait circonscrire l’infini de son essence ou de sa majeste´. Si on veut la de´finir en l’appelant ,puissance‘, ,salut‘, ,vie‘, on ne se trompera pas.“ 21 Bernard Silvestre recourt a` l’image paı¨enne des Champs-Elyse´es pour comple´ter son e´vocation de l’e´ternite´: „Au-dessus, le repos sans limite, la se´re´nite´ perpe´tuelle, la tranquillite´ sans faille de l’e´ther. De la` vient que les eˆtres d’en-haut (superna), puisqu’ils ne migrent pas vers une situation ou une autre sous l’impulsion du changement, ne connaissent absolument aucune alte´ration de leur inte´grite´ ou de leur dignite´ propre. C’est dans cette partie du ciel, parce que sa nature est immuable, calmante, reposante, que la Gre`ce subtile a voulu situer les Champs-Elyse´es 22 et que les aˆmes bienheureuses sont reveˆtues par la lumie`re d’une douceur bienfaisante, sainte et destine´e a` durer toujours.“ 23 De meˆme que l’unite´ est le propre de la divinite´, la diversite´, a` l’inverse, de´finit la matie`re : „Ainsi donc, il y avait deux principes, l’unite´ et la diversite´ 24. La 17
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Op. cit., I, ii, 1 : „Porro Nois ego, dei ratio profundius exquisita, quam utique de se, alteram se, Usia prima genuit - non in tempore sed ex eo quo consistit eterno.“ Selon E. Maccagnolo, Il Divino e il Megacosmo. Testi filosofici e scientifici della scuola di Chartres, Milano 1980, l’Ousia n’est pas ici la matie`re, mais l’esse, conforme´ment a` l’analyse d’Augustin, De Civitate Dei, 12, 2. Cf. Ascle´pius, 41, in : Corpus Hermeticum, tom. 2 : Traite´s XIII-XVIII. Ascle´pius, edd. A. D. Nock/A.-J. Festugie`re, Paris 1945, 355, 8 sq. Cf. Ascle´pius (nt. 19), 14. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, iv, 4 : „Usya namque primaria, eviterna perseveratio, fecunda pluralitatis simplicitas, una est: sola ex se vel in se tota natura dei. Cuius quicquid loci est, nec essentie nec maiestatis infinibile circumscribit. Huiusmodi si virtutem, si salutem, si vitam diffiniendo dixeris, non errabis.“ Cf. Seneca, Quaestiones naturales, 2, 45, in : Se´ne`que, Question naturelles, tom. 1 : Livres I-III, texte e´tabli et traduit par P. Oltramare, Paris 1961. Cf. Virgile, Ge´orgiques, 1, 38 ; Macrobe, Commentarius (nt. 15), 1, 11, 8. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), II, v, 20 : „Supra: quies intermina, serenum perpetuum, tranquillitas etheris inconcussa. Unde superna, quia non ad aliud et ad aliud momento mutationis emigrant, eo ab incolumitate et decore proprio nullatenus altera*n+tur. Ea quidem in parte celi, quia natura est invariabili mulcebris, et quieta, solers Grecia campos consentit elisios, et felices animas alma sacrata et nunquam desitura lucis amenitate vestiri.“ Cf. Platon, Time´e, 36b-37b ; Calcidius, In Timaeum (nt. 9), c. 53 ; Thierry de Chartres, Tractatus de sex dierum operibus, 33-36, in : N. Haring, The Creation and Creator of the World Accordino to Thierry of Chartres and Clarenbaldus of Arras, in : Archives d’histoire doctrinale et ˆ ge 30 (1955), 137-216, e´dition 184-200, ici 195 sq. Sur tout ceci, voir litte´raire du Moyen A
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diversite´ remontait a` une antiquite´ tre`s recule´e. L’unite´ n’avait jamais commence´. Elle e´tait simple, intacte, solitaire, tirant d’elle-meˆme et trouvant en elle sa permanence, infinie et e´ternelle. L’unite´ est Dieu, la diversite´ n’est autre qu’ Yle`, elle-meˆme prive´e de forme. La de´ite´ qui enfantait pour la premie`re fois prit soin de la diversite´, mit des bornes a` celle qui n’avait pas de limites, donna des traits a` son absence de formes 25, de´ploya sa complexite´ en enfermant Yle` dans les e´le´ments, les e´le´ments dans les essences, les essences dans les qualite´s, et ces essences et ces qualite´s elles-meˆmes dans la matie`re.“ 26 Les eˆtres perpe´tuels ne connaissent pas le statut privile´gie´ de l’e´ternite´. Prenons l’exemple de la matie`re et de la forme de la matie`re, dont Bernard Silvestre nous dit que toutes deux sont perpe´tuelles (I, iv, 4). Certes, Silva/Yle` pre´existe dans l’esprit de la vitalite´ e´ternelle 27. Cependant, elle ne jouit pas de la continuite´ de Noy¨s. Du fait qu’elle balance entre le bien et le mal, elle ne connaıˆt pas la stabilite´ des principes e´ternels : „Yle` est sans repos, elle n’aurait pu se souvenir d’un jour ou` elle ait e´te´ assaillie moins intense´ment par les formes de ceux qui naissent ou les reflux de ceux qui disparaissent. E´tant sans stabilite´, capable de changer en passant d’une condition 28, d’une qualite´, d’une forme a` une autre, ce quelque chose, puisqu’il n’attend pas le verdict d’une description qui lui serait propre, s’esquive sans eˆtre connu, en alternant des visages successifs, et parce qu’il change en recevant toutes les figures, il n’est marque´ d’aucun signe particulier indiquant sa forme.“ 29 Apre`s l’e´ternite´ et la perpe´tuite´, il y a le temps. Il naıˆt du mouvement des astres et continue a` eˆtre re´gi par eux. Issu de l’e´ternite´, qui est une, il recX oit, en ` s’en e´loignant, son caracte`re propre, qui est la variation selon le nombre : „A 30 partir de ce de´but de la vie commencX ante , alors que la substance du temps, sous le ciel qui tournait, naissait aussi du mouvement des astres 31, les sie`cles
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E. Maccagnolo, Rerum universitas (Saggio sulla filosofia di Teodorico di Chartres), Firenze 1976, 35-41 et 203-209. Cf. Apule´e, De Platone et eius dogmate, 1, 5, 190, in : Apulei Platonici Madaurensis Opera quae supersunt, tom. 3 : De philosophia libri, ed. C. Moreschini, Stuttgart-Leipzig 1991, 92 ; Calcidius, In Timaeum (nt. 9), c. 304. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), II, xiii, 1 : „Erant igitur duo rerum principia: unitas et diversum. Diversum, longe retro antiquissimum. Unitas non inceperat: simplex, intacta, solitaria, ex se in se permanens, infinibilis et eterna. Unitas deus, diversum non aliud quam Yle, eaque indigens forma. Primiparens igitur deitas diversitatem excoluit, limitavit interminam, figuravit informem, explicuit obvolutam - Ylem ad elementa, elementa ad usias, usias ad qualitates, qualitates et usyas ad materiam circumscribens.“ Op. cit., I, iv, 8 ; cf. Ascle´pius (nt. 19), 14. Calcidius, In Timaeum (nt. 9), c. 308 et 325. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, ii, 5 : „Irrequieta est, nec potuit Yle meminisse quando vel nascentium formis vel occidentium refluxionibus intermissius adiretur. Illud igitur inconsistens et convertibile huius et illius conditionis, qualitatis et forme, cum proprie descriptionis iudicium non expectet, elabitur incognitum, vultus vicarios alternando, et id quod figurarum omnium susceptione convertitur, nullius sue forme signaculo specialiter insignitur.“ Cf. Platon, Time´e, 37c-38c. Augustin, Confessiones 11, 23, 29 (Augustin, Les Confessions. Livre VIII-XIII, texte de l’e´dition de M. Skutella, … traduction de E. Tre´horel et G. Bouissou (Bibliothe`que Augustinienne.
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appele´s a` se succe´der - apre`s avoir trouve´ leur point de de´part dans le principe simple de l’e´ternite´ - furent accueillis par le nombre et ses variations.“ 32 Bernard Silvestre exprime la meˆme ide´e sous une forme plus poe´tique : „Le Cre´ateur, pour laisser voir d’avance les sie`cles a` venir, signifie´s par les astres, en un seul couple a fixe´ les deux poˆles. Il a plie´ le ciel a` tourner autour d’eux. De`s lors tourner fut son lot e´ternel.“ 33
La distinction de deux formes de la temporalite´, a` savoir la dure´e se´culaire, dissoute par la suite du temps, et la dure´e annuelle, dissoute par la vieillesse, permet a` Bernard Silvestre de mettre en valeur chacune d’elles. La premie`re forme, celle du de´roulement des sie`cles, correspond au temps historique. Audela` de la belle image du ciel tournant autour d’un axe en entraıˆnant dans son mouvement la succession des sie`cles, on ne peut qu’admirer la grandiose fresque historique trace´e par l’auteur de la ,Cosmographie‘. De Phae¨ton a` Hercule, de Thale`s a` Cice´ron, de Virgile a` Ne´ron, de la Gre`ce qui enseigne a` Rome qui guerroie, c’est l’e´pope´e du monde occidental qui nous est pre´sente´ en re´sume´. Plutoˆt que d’un re´sume´, d’ailleurs, mieux vaut parler d’une re´capitulation dans l’esprit de ce que concevait Hugues de Saint-Victor quelques anne´es plus toˆt a` propos de l’histoire du salut. Certes, les e´tapes de cette fresque ne sont pas emprunte´es a` l’histoire sainte, mais au monde paı¨en. Le point culminant, cependant, en est le meˆme : l’Incarnation du Christ. Cette mise en valeur de la dure´e historique doit eˆtre signale´e comme l’un des aspects les plus marquants de l’humanisme du XIIe sie`cle. En voici un extrait. On notera combien est suggestive la simple mention d’un nom propre, parfois accompagne´ d’un qualificatif ou d’un de´tail significatif: „A l’e´cart, au-dessus des choses de la terre, la substance du ciel, e´tant meilleure, eut meilleure e´le´gance [cultus]. Car, dans les e´toiles, le ciel e´crit. Il figure en entier ce qui peut advenir par la loi du destin. D’avance il signifie a` quelle fin et par quelle manie`re un mouvement astral entraıˆne la totalite´ des sie`cles.
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Œuvres de Saint Augustin 14), [Paris] 1962, 319) dit au contraire : „J’ai entendu dire a` un homme instruit, que les mouvements du soleil, de la lune et des astres, constituaient le temps lui-meˆme ; et je ne l’ai pas admis.“ Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, iv, 3 : „Ex eo incipientis vite primordio, cum volvente celo de motu quoque siderum substantia temporis nasceretur, que successerunt secula - simplici eternitatis initiata principio - cum sua numerus varietate suscepit.“ Op. cit., I, iii, 57-60 : „Sic opifex, ut in ante queant ventura videri / Secula, sidereis significata modis, / Figit utrosque polos, circumvolubile [Lemoine: circaque volubile (note de l’e´d.)] celum / Flectit, et eternum volvere stare fuit.“ Cf. Platon, Time´e, 37d-38c.
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D’avance est existant, e´crit dans les e´toiles, l’enchaıˆnement qu’un aˆge plus durable, l’ordre du temps aussi, en son lieu de´ploiera: le sceptre de Phoron 34, et la discorde entre fre`res the´bains 35, et Phae¨ton en flammes, les eaux de Deucalion. Dans les e´toiles, Codrus le pauvre 36 et Cre´sus le riche, et Paˆris le de´bauche´, le pudique Hippolyte. La beaute´ de Priam, elle est dans les e´toiles, Turnus qui ose, Ulysse le ruse´, Hercule et sa vigueur. Ils sont dans les e´toiles, Pollux le combattant, Tiphys le naute 37, Cice´ron le rhe´teur, Thale`s le ge´ome`tre. Maro dicte 38 ses vers dans les e´toiles e´le´gamment. Myron facX onne ses statues. Et Ne´ron e´blouit le sang latin. Les astres sont note´s par la Perse, et l’Egypte enfante les arts. La savante Gre`ce s’instruit tandis que Rome engage les conflits. Platon pressent les causes de ce monde. Achille est au combat, la droite de Titus se`me l’argent ine´puisablement. Une tre`s jeune vierge enfante alors le Christ, ide´e ainsi que divine copie [specimen]. Le sie`cle a de´sormais la divinite´ vraie 39.“ 40
Le temps annuel se distingue du temps se´culaire par sa pe´riodicite´. Lui aussi est gouverne´ par les astres, ce que met en e´vidence le de´roulement des saisons : „Assure´ment, la ,voie du Soleil‘, sur laquelle l’entraıˆne son parcours circulaire annuel, n’e´tait pas uniforme, mais pre´sentait une varie´te´ de quatre couleurs. La premie`re d’entre elles 41 en partant de la sphe`re, a` la facX on de la verdoyante 34 35 36 37 38 39 40
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Cf. Platon, Time´e, 22a. Cf. Ovide, Me´tamorphoses, 9, 403 sq. Cf. Juve´nal, Satire, 3, 203. Cf. Ovide, He´roı¨des, 6, 48. ,Dicter‘ (dictare) signifie ici ,composer‘. L’histoire litte´raire de la France, Paris 1733, vol. 12, 271, exprime son ,horreur‘ devant ces vers. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, iii, 31-54 : „Terrenis excepta super, substantia celi, / Ut melior, cultu sic meliore fuit ; / Scribit enim celum stellis, totumque figurat / Quod de fatali lege venire potest. / Presignat qualique modo qualique tenore / Omnia sidereus secula motus agat. / Preiacet in stellis series quam longior etas / Explicet et spatiis temporis ordo suis : / Sceptra Phoronei, fratrum discordia Thebe, / Flamme Phetontis, Deucalionis aque ; / In stellis Codri paupertas, copia Cresi, / Incestus Paridis Ypolitique pudor ; / In stellis Priami species, audatia Turni, / Sensus Ulixeus, Herculeusque vigor ; / In stellis pugil est Pollux, et navita Tiphis, / Et Cicero rethor, et geometra Thales ; / In stellis lepidum dictat Maro, Myro [au lieu de Milo dans l’e´dition Dronke (note de l’e´d.)] figurat, / Fulgurat in Lacia nobilitate Nero ; / Astra notat Persis, Egyptus parturit artes, / Grecia docta legit, prelia Roma gerit ; / In causas rerum sentit Plato, pugnat Achilles, / Et prelarga Tyti dextera spargit opes ; / Exemplar speciemque dei virguncula Christum / Parturit, et verum secula numen habent.“ En lisant quarum (Vernet) et non quartum.
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Egypte, prenait, avec les divers bourgeons des fleurs, l’aspect de l’herbe 42 sous l’effet du renouveau printanier. Par contraste avec cette tendresse printanie`re, la seconde, bruˆle´e et consume´e de vapeurs igne´es, e´prouvait la soif que suscite l’e´te´ aride. La troisie`me pre´sentait l’apparence du jaune et du vert, dus a` la maturite´ de l’automne. La dernie`re, e´tendue elle-meˆme dans l’espace des trois signes, avait l’apparence fluctuante d’une eau que la rigueur hivernale a solidifie´e en glace ferme. Afin que l’unique parcours d’un seul astre, si souvent recommence´, procuraˆt un plus grand spectacle, il e´tait emporte´ sur un cercle quatre fois change´ graˆce au quadruple changement des visages.“ 43 Il existe une variante poe´tique de la description du phe´nome`ne des saisons : „Il aura vu aussi le monde en alternance, et la raison qui fait l’e´te´ bruˆlant, l’automne desse´chant, le printemps attie´di, l’hiver souffrant du froid. Il aura vu la cause, pour Phe´bus, de son rayonnement, ainsi que, pour sa sœur, la cause aussi du tremblement de terre, la cause enfin qui fait enfler les eaux marines, pourquoi le jour d’e´te´ en longues heures s’e´tire quand la nuit se re´duit au plus court.“ 44
Le quadruple changement qui se produit sur la voie du soleil et qui ge´ne`re les saisons du me´gacosme, a son paralle`le dans le microcosme, sous la forme des quatre aˆges de la vie humaine, qui appartient a` la dure´e annuelle : „En se de´veloppant il passait de l’enfant au jeune homme, du jeune homme a` l’homme muˆr ; apre`s l’homme muˆr, il avait reveˆtu le vieillard qui blanchit 45 tandis que la neige se meˆle a` ses cheveux. Le Soleil faisait se succe´der ces apparences varie´es, entraıˆne´ qu’il est, sur le Zodiaque fle´chi obliquement, dans un parcours circulaire passant par le haut, le milieu et le bas.“ 46 Sensible a` la fragilite´ et a` la pre´carite´ 42
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Le verbe ,herbido‘ se trouve chez Martianus Capella, De Nuptiis Philologiae et Mercurii, 1, 75, in : Martianus Capella, ed. A. Dick, addenda adiecit J. Pre´aux, Stuttgart 1969, 35, 1. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), II, v, 12 : „Profecto limes Heliacus, per quem annuo circumfertur excursu, non uniformis erat, sed quaternis varietatibus discolorus. Quarum prior e circulo, more viridantis Egypti, in diversa florum germina novamentis vernalibus herbidabat. Secunda contra veris teneritudinem ignitis vaporibus adestuans, et ambusta [au lieu de abiecta dans l’e´dition Dronke (note de l’e´d.)] ariditate sitiebat estiva. Porro tercia, ex croceo viridique confectam, autumpnali maturitate coloris speciem preferebat. Extrema, et ipsa signorum trium spatiis exporrecta, specie tenus fluctuabat instar aque quam in concretam glaciem rigor solidasset hybernus. Utque maioris esset spectaculi una unius excursio totiens alterata, per mutatum quater circulum mutatis quater vultibus ferebatur.“ Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), II, x, 39-44 : „Viderit unde vices rerum, cur estuat estas, / Siccitat autumpnus, ver tepet, alget hyemps. / Viderit unde suum Phebo iubar, unde sorori, / Unde tremit tellus, unde marina tument, / Cur longis estiva dies extenditur horis, / Parvaque contrahitur nox breviore mora.“ Cf. Horace, Odes, 1, 4, 4. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), II, v, 12 : „De puero conpubescens in iuvenem, de iuvene virum, de viro senem induerat, canis intermiscentibus albicantem. Eas igitur varietatis species alternabat, per inflexum obliquumque signiferum, altis pressis et mediis Sol itineribus circumvectus.“
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de l’existence humaine, Bernard Silvestre pre´cise que son de´roulement se produit, non seulement au rythme des anne´es et des saisons, mais aussi selon le cours des heures : „L’homme, expose´ au changement, heure apre`s heure pour des raisons fortement discordantes, s’e´coule tout entier dans son corps de´clinant. Se faisant ainsi de´faut a` lui-meˆme, il doit trouver a` l’exte´rieur sa nourriture, pour l’obtenir, trempe sa vie de sueur, conduisant, pour finir, ses journe´es au ne´ant.“ 47
On peut s’e´tonner que Bernard Silvestre renvoie au ne´ant la vie humaine, laissant a` penser qu’il refuse a` l’eˆtre humain le statut de la perpe´tuite´ que lui promet l’espe´rance chre´tienne. Telle est bien pourtant sa doctrine, comme le confirme un autre passage : „Le monde contenait, entie`res dans son eˆtre, acheve´es dans leurs forces, des semences, mais l’homme, e´tant mortel, devait, sur une autre mesure, eˆtre construit, car l’univers est un ouvrage de la perpe´tuite´, l’homme, du temps. Autre est l’esprit chez l’un et l’autre.“ 48
Si Bernard Silvestre refuse d’envisager ici pour l’homme un destin d’immortalite´, c’est qu’il s’appuie sur les seules raisons de la philosophie, qui ne reconnaıˆt que la temporalite´. On peut cependant voir une atte´nuation de ce point de vue dans l’expression ,e´preuve dernie`re‘ qui peut sugge´rer un passage vers l’au-dela` et que l’on rencontre dans un passage ou` est affirme´e la de´pendance de l’existence humaine par rapport aux astres : „Le pouvoir e´manant des rayons du double luminaire, les cinq plane`tes, l’aˆme le saura quand elle gagnera le vase de son corps. Qu’elle obtienne du ciel un beau visage, la rigueur de l’esprit, des principes de vie, apre`s avoir recX u des lois des astres les temps qu’elle vivra, ainsi que le parcours vers le moment de l’e´preuve dernie`re.“ 49 47
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Op. cit., II, xiv, 175-178 : „Longe disparibus causis mutandus in horas, / Effluit occiduo corpore totus homo. / Sic sibi deficiens, peregrinis indiget escis, / Sudat in hoc vitam denichilatque dies.“ Op. cit., II, xii, 33-38 : „Tota per esse suum, perfectaque viribus, orbis/Semina continuit, / Set neque sic mortalis homo, set longius impar / Edificandus erat. / Evi mundus opus, homo temporis : alter in illo, / Spiritus alter in hoc.“ Op. cit., II, iv, 43-48 : „Quid valeant radiis duo lumina, quinque planete, / Sentiet ingrediens vas corporis. / De celo speciem vultus, animique tenorem / Et morum causas sibi contrahet, / Legibus astrorum vivendi tempora nactus / Extremique viam discriminis.“
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Selon un proce´de´ que nous avons de´ja` rencontre´, Bernard Silvestre apporte a` ses explications l’e´clairage comple´mentaire de la poe´sie et, plus pre´cise´ment, de l’alle´gorie mythologique. C’est pour lui l’occasion de pre´senter deux personnages qui appartiennent au monde des eˆtres supe´rieurs, tout en jouant un roˆle de second plan. Voici d’abord Clotho, l’une des trois Parques : „Tout ce dont l’exacte balance avait, au moyen de justes poids, e´tabli l’e´quilibre, une femme au visage plein d’autorite´, Clotho 50, le de´ployait [explicabat] en bon ordre selon la succession des temps. Du fait qu’elle re´partit et de´roule la suite des choses, elle a revendique´ si pleinement un titre de majeste´, que tout l’espace compris entre la Lune et Saturne est appele´ l’empire de Clotho.“ 51 Vient ensuite un personnage invente´ par Bernard Silvestre, Ce´le´rite´, dont la fonction est de controˆler le bon de´roulement du temps cosmique : „Ce´le´rite´, qui suivait sans discontinuer les allers du Soleil, ordonnait les mouvements du temps en sorte que la substance d’un seul jour fuˆt produite en meˆme temps que la re´volution du firmament ; que les espaces des mois fussent acheve´s par les phases de la Lune ; que le cycle des anne´es le fuˆt par le nombre des mois ; qu’a` partir de la multitude des anne´es la suite des sie`cles fuˆt tisse´e 52.“ 53 Le temps et l’e´ternite´ sont aussi diffe´rents que Dieu peut l’eˆtre de sa cre´ature. Cette diffe´rence s’exprime par une alle´gorie qui trouve sa place dans les pre´liminaires de la cre´ation de l’homme. Noy¨s, consciente des difficulte´s de l’entreprise, confie respectivement a` ses trois auxiliaires Uranie, Physis et Nature, trois livres qui sont comme trois guides ou modes d’emploi destine´ a` l’usager dans l’embarras : „Elle est lourde assure´ment, de´licate et complique´e par de nombreux calculs, la taˆche que je vous enjoins d’exe´cuter. Cependant, si l’abondance des choses a` faire et la lourde responsabilite´ qui s’y attache faisaient, comme c’est courant, chanceler sur quelque point votre me´moire, il faudra recourir aux secours que je vous aurai donne´s 54. Je pre´sente le ,Miroir de la Providence‘ 55 a` Uranie, la ,Table du Destin‘ a` Nature et, a` toi, Physis, le ,Livre du Souvenir‘ 56. Ce triple ensemble constitue, pour dire le vrai, la connaissance des desseins de Dieu, la ve´rite´, la plus pure certitude.“ 57 50 51
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Cf. Calcidius, In Timaeum (nt. 9), c. 144. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), II, v, 9 : „Quicquid igitur statera fidelior iustis ponderibus exequasset, imperiosi vultus femina, Clotos, per ordinem successionibus temporum explicabat. Ea igitur, quod exequatam refixamque rerum seriem et distribuat et evolvat, tam plenissime sibi nomen maiestatis insumpsit, ut quicquid spacii Lunam interiacet et Saturnum Clotos imperium [au lieu de regnum Clotos dans l’e´dition Dronke (note de l’e´d.)] appelletur.“ Apule´e, De mundo 22, 338, in : Apulei Opera (nt. 25), 170, 21. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), II, v, 14 : „Celeritas, Solis iter perpetuo prosecuta, ita motus temporum hactenus ordinavit [Lemoine: motus temporis hactenus ordinabat (note de l’e´d.)], ut diei substantiam unius efficeret semel facta conversio firmamenti ; mensurna spatia lustris lunaribus conplerentur ; ex numero mensium, orbes annorum ; ex annorum multitudine, texeretur series seculorum.“ En lisant dedero (Vernet) au lieu de de Deo. Cf. Martianus Capella, De Nuptiis Philologiae et Mercurii (nt. 42), 1, 7. Selon W. Wetherbee, The Cosmographia of Bernardus Silvestris, New York-London 1973, 162, nt. 75 on peut voir la` les trois e´tapes de la Re´ve´lation, naturelle, scripturaire, chre´tienne. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), II, xi, 2-3 : „Grave quidem et subtile et difficillimis implicitum rationibus quod iniungo. [3] ,Verumtamen si, pre rerum multitudine, auctoritate et pondere, vestra,
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Le ,Livre du Souvenir‘ contient la description des diverses natures et ne concerne pas la dure´e. En revanche, le ,Miroir de la Providence‘ et la ,Table du Destin‘ portent respectivement sur les natures e´ternelles et les e´ve´nements temporels : „La diffe´rence entre le ,Miroir‘ et la ,Table‘ consistait en ceci que dans le ,Miroir‘ se trouve spe´cialement l’e´tat inflexible des natures ce´lestes, et dans la ,Table‘ le plus grand nombre possible des e´ve´nements temporels qui sont sujets au changement.“ 58 Plus pre´cise´ment, „Le ,Miroir de la Providence‘, avec sa circonfe´rence extreˆmement grande, e´tait une e´tendue sans limites, une surface bien lisse 59, une vision transparente vers l’inte´rieur aussi, une fois que des images s’y trouvaient contenues, la rouille ne pouvait les effacer, ni l’anciennete´ les de´truire, non plus que les agressions les brouiller. [La` ] vivaient les ide´es 60, vivaient les exemplaires, sans eˆtre ne´s en aucun temps, ni appele´s a` disparaıˆtre dans le temps“ 61. Quant a` la ,Table du Destin‘, elle contient principalement la description des e´ve´nements inscrits dans la temporalite´. Elle „n’est rien d’autre que la succession, inscrite dans les de´crets du Destin, des e´ve´nements qui se produisent. La` se trouvaient les traces des œuvres divines, mais en re´sume´, tandis que les faits naturels et situe´s dans le temps occupaient un espace plus e´tendu.“ 62 De´finissons maintenant ce qui rapproche et accorde le temps et l’e´ternite´. Le premier facteur d’unite´ consiste dans le fait que les donne´es inscrites dans les trois livres mentionne´s plus haut sont confie´es a` la seule Noy¨s : „Cette Noy¨s, donc, est l’intellect du Dieu supreˆme et triomphant 63, et la Nature est ne´e de sa divinite´ 64, dans laquelle se trouvent les images de la vie vraiment vivante, les notions (notio) e´ternelles, l’Univers intelligible, la connaissance pre´e´tablie 65 des
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ut solet, memoria vacillabit in aliquo, ad monimenta que dedero [cf. nt. 54 (note de l’e´d.)] fuerit [au lieu de fuerint dans l’e´dition Dronke (note de l’e´d.)] recurrendum. Providencie speculum Uranie, tabulam fati Nature, et tibi, Physi, librum recordationis exhibeo. Trina hec est, ut verum fatear, consiliorum dei noticia, veritas et purgatissima certitudo.‘“ Op. cit., II, xi, 6 : „Ea speculi tabuleque differencia, quod in speculo specialiter [au lieu de speculatur dans l’e´dition Dronke (note de l’e´d.)] status naturarum celestium indeflexus, in tabula quidem quam maxime temporales qui permutantur eventus.“ Cf. Platon, Time´e 46a ; Calcidius, In Timaeum (nt. 9), c. 239, 242, 259. Cf. Apule´e, De Platone et eius dogmate (nt. 25), 1, 6, 192 ; Calcidius, In Timaeum (nt. 9), c. 272 ; Macrobe, Commentarius (nt. 15), 1, 2, 14 ; 1, 8. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), II, xi, 4 : „Erat igitur speculum providencie, cuius magna admodum circumferencia, intermina latitudo, extersa superficies, perspicuus [au lieu de prospicuus dans l’e´dition Dronke (note de l’e´d.)] introspectus, ut quas olim contineret ymagines non rubigo deterreret, non deleret antiquitas, non turbaret incursus. Viveban ydee, vivebant exemplaria, rerum species [om. Lemoine (note de l’e´d.] nullo nata in [add. Lemoine (note de l’e´d.)] tempore, nullo in tempore desitura.“ Op. cit., II, xi, 8 : „Non igitur aliud fati tabula quam eorum que geruntur series, decretis fatalibus circumscripta. In ea divinorum quidem operum vestigia, sed summatim, naturalia et que temporis sunt porrectiore spacio tenebantur.“ Cf. Apule´e, De Platone et eius dogmate (nt. 25), 1, 12, 205 ; id., De mundo, 27, 350 ; Ascle´pius (nt. 19), 41. Cf. Ascle´pius (nt. 19), 20. Cette cognitio praefinita rappelle l’aeterna prefinitio que Thierry de Chartres identifie au Verbe divin, cf. Thierry de Chartres, Tractatus (nt. 24), 46.
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choses. Il e´tait donne´ de voir, comme dans un miroir bien net [Sg 7,26], tout ce que la volonte´ secre`te de Dieu destinerait, soit a` la ge´ne´ration, soit a` l’œuvre. La` est enregistre´, par genre, par espe`ce, par singularite´ individuelle, tout ce qu’Yle`, tout ce que l’Univers, tout ce que les e´le´ments engendrent.“ 66 Plus pre´cise´ment, c’est Noy¨s qui a la responsabilite´ des re´alite´s e´ternelles et du de´roulement du temps : „La` se trouvent trace´s par le doigt de l’ordonnateur supreˆme le tissu du temps 67, l’enchaıˆnement du Destin 68, la distribution des sie`cles 69.“ 70 Plus profonde´ment, le lien du temps avec l’e´ternite´ consiste dans le fait que le premier provient de la seconde et retourne a` elle en s’y dissolvant. Il s’e´loigne de l’unite´ et de la stabilite´ pour aller vers le nombre et le mouvement. Ces mouvements sont constitue´s par le pre´sent, le passe´, le futur : „De l’univers intelligible l’univers sensible 71 est ne´, parfait issu du parfait. La ple´nitude, celui qui engendra la posse´dait, et cette ple´nitude e´tablit une autre ple´nitude. De meˆme qu’il cre´e l’inte´grite´ a` partir de ce qui est entier, et la beaute´ a` partir de ce qui est beau, il recX oit son e´ternite´ de son mode`le e´ternel. Le temps, qui commence a` partir de l’e´ternite´, se dissout dans le sein de l’e´ternite´ 72, e´puise´ par un trop long circuit. De l’unite´ il s’e´carte vers le nombre, et de la stabilite´ vers le mouvement. Les mouvements du temps, ce sont les instants du pre´sent, le passe´ qui s’e´loigne, l’attente du futur 73.“ 74 Mais Bernard Silvestre ajoute : „S’il pouvait se faire qu’il ne chute pas dans le de´nombrable et ne de´bouche pas sur le mouvement, le temps serait identique a` l’e´ternite´. Seuls les noms qui expriment les successions introduisent une variation dans ce qui 75 ne se distingue de la dure´e illimite´e ni par la continuite´, ni par l’essence.“ 76 Ces mouvements que sont le pre´sent, le passe´, le futur, sont soumis a` la succession irre´versible, qui n’existe pas dans l’e´ternite´. En elle la circulation est 66
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Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, ii, 13 : „Ea igitur Noys summi et exsuperantissimi est dei intellectus, et ex eius divinitate nata est Natura, in qua vite viventis ymagines, notiones eterne, mundus intelligibilis, rerum cognitio prefinita. Erat igitur videre velud in tersiore speculo quicquid generationi, quicquid operi dei secretior destinaret affectus. Illic in genere, in specie, in individuali singularitate conscripta, quicquid Yle, quicquid mundus, quicquid parturiunt elementa.“ Cf. Ascle´pius (nt. 19), 39. Cf. Boe`ce, De consolatione philosophiae (nt. 12), 4, pr. 6, 4. Cf. Ascle´pius (nt. 19), 39 Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, ii, 13 : „Illic exarata supremi digito dispunctoris [au lieu de dispositoris dans l’e´dition Dronke (note de l’e´d.)] : textus temporis, fatalis series, dispositio seculorum.“ Cf. Calcidius, In Timaeum (nt. 9), c. 25, 105, 268. Cf. Apule´e, De Platone et eius dogmate (nt. 25), 1, 10. Cf. Apule´e, De mundo (nt. 25), 38, 174, 10. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, iv, 11 : „Ex mundo intelligibili mundus sensibilis perfectus natus est, ex perfecto. Plenus erat igitur qui genuit, plenumque constituit plenitudo. Sicut enim integrascit ex integro, pulcrescit ex pulcro, sic exemplari suo eternatur eterno. Ab eternitate tempus initians in eternitatis resolvitur gremium, longiore circulo fatigatum. De unitate ad numerum, de stabilitate digreditur ad momentum. Momenta temporis: presentis instantia, excursus preteriti, expectatio futuri.“ Je comprends quod comme un pronom relatif, non comme une conjonction (Maccagnolo : ,poiche´‘). Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, iv, 12 : „Si fieri possit ne decidat in numeros, ne defluat in momentum, idem tempus est quod eternum. Solis successionum nominibus variatur, quod ab evo nec continuatione nec essentia separatur.“
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possible entre ces divers moments. D’ou` la formule paradoxale : „l’e´ternite´ se meut dans le temps“ 77 qui s’e´claire par une autre affirmation : „Aussi le temps maintient-il, par des allers et des retours perpe´tuels, une continuite´ entre ces chemins. Apre`s les avoir parcourus tant et tant de fois sur les routes de l’e´ternite´, en s’efforcX ant d’aller de l’avant, il ne s’en e´carte pas, et n’y revient pas non plus. Et, parce que c’est la` ou` ils se terminent que les temps renaissent, c’est une question irre´solue de savoir ce que peut eˆtre dans le temps une ante´riorite´ 78 qui ne soit e´galement une poste´riorite´.“ 79 Notre monde, constitue´ par les objets mate´riels, est soumis au temps, mais celui-ci est lui-meˆme re´gi par l’ordre e´ternel. En ce sens, il est bien l’image de l’e´ternite´ : „L’e´ternite´, donc, mais aussi le temps, image de l’e´ternite´, se partagent le soin et la peine de la direction du monde 80. L’e´ternite´ s’est charge´e de faire vivre tant les feux astraux que l’e´ther, qui est de nature plus pure. Quant aux objets mate´riels, abaisse´s et place´s au-dessous de l’air, l’activite´ temporelle en maintient et en de´veloppe l’existence. Donc, l’univers est gouverne´ par le temps, mais le temps lui-meˆme l’est par l’ordre.“ 81 Finalement, la continuite´ du temps est un reflet des images e´ternelles, transmis par la voie hie´rarchique : „Toujours enceinte de la volonte´ divine 82, Noy¨s, de la meˆme facX on, a informe´ Ende´lichie au moyen des mode`les des images e´ternelles qu’elle porte, Ende´lichie a fait de meˆme a` l’e´gard de Nature, et Nature a informe´ 83 Imarme´ne´ de ce qu’elle doit a` l’Univers 84. Ende´lichie fournit la substance aux aˆmes ; Nature, en artisan 85, compose l’habitation de l’aˆme, c’esta`-dire le corps, a` partir de la matie`re et des qualite´s des e´le´ments simples. Imarme´ne´ 86, qui est la continuite´ du temps, mais e´tablie pour mettre de l’ordre, tisse et retisse 87 la totalite´ des choses qu’elle embrasse.“ 88 Cela explique que l’univers, 77 78 79
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Op. cit., I, iv, 12 : „Eternitas in tempore visa est conmoveri.“ ` propos de praecessio cf. Calcidius, In Timaeum (nt. 9), c. 150. A Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, iv, 11 : „Has itaque vias itu semper redituque continuat. Cumque easdem tociens et tociens itineribus eternitatis evolverit, ab illis nitens et promovens, nec digreditur nec recedit. Quod ubi finiunt inde tempora renascuntur, relinquitur ad ambiguum que nam precessio in tempore, ut non eadem et consecutio videatur.“ Cf. Boe`ce, De consolatione philosophiae (nt. 12), 5, 6, 12. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, iv, 13 : „Eternitas igitur, sed *et+ eternitatis imago tempus, in moderando mundo curam et operam partiuntur. Ignes sidereos eternitas natureque ethera purioris utraque vegetanda suscepit. Depressas et ab aere subtus declinatas materias, vel continuat vel evolvit agitatio temporalis. Mundus igitur tempore, sed tempus ordine dispensatur.“ Cf. Ascle´pius (nt. 19), 20. Informavit a ici deux sens diffe´rents : ,donner forme‘ et ,avertir‘. Cf. Boe`ce, De consolatione philosophiae (nt. 12), 4, pr. 6, 21. Cf. Macrobe, Commentarius (nt. 15), 1, 6, 63. Cf. Ascle´pius (nt. 19), 19 ; 38 ; 39. Selon Dronke (Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), 167) ces deux verbes ne sont pas synonymes, mais expriment un cycle sans fin de ge´ne´ration et de corruption. Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, iv, 14 : „Sicut enim divine voluntatis semper est pregnans, sic exemplis eternarum quas gestat imaginum Noys Endelichiam, Endelichia Naturam, Natura Imarmenen quid mundo debeat informavit. Substantiam animis Endelichia subministrat ; habitaculum anime, corpus, artifex Natura de initiorum materiis et qualitate conponit ; Imarmene, que continuatio temporis est, sed [au
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Michel Lemoine
qui est soumis au temps, e´chappe a` la destruction qui devrait eˆtre son lot : „Pour autant, l’ensemble des choses [rerum universitas], l’univers [mundus], n’est pas de´cre´pit par une vieillesse qui le prive de force, ni appele´ a` se dissoudre dans un ultime tre´pas, puisque la raison de sa permanence provient de l’artisan 89, et de la cause de l’œuvre, tous deux e´ternels, ainsi que de la matie`re, et de la forme de la matie`re, toutes deux perpe´tuelles.“ 90 On le voit, la dure´e dans la ,Cosmographie‘ peut eˆtre conside´re´e comme une dimension capitale de l’existence des divers eˆtres. Pour la de´crire, Bernard Silvestre n’e´pargne ni les ressources de la me´taphysique, ni les charmes de la poe´sie. Ici comme a` propos d’autres the`mes, il est redevable a` de nombreux auteurs appartenant souvent a` la tonalite´ herme´tiste du platonisme. L’une de ses contributions les plus saisissantes pourrait bien eˆtre son e´vocation de la dure´e historique. Ce qu’on peut appeler la re´ussite de l’œuvre tient dans l’e´clairage que se fournissent mutuellement me´gacosme et microcosme en e´vitant la se´cheresse des analyses purement philosophiques et l’impre´cision des e´vocations seulement poe´tiques.
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lieu de et dans l’e´dition Dronke (note de l’e´d.)] ad ordinem constituta, disponit, texit et retexit que conplectitur universa.“ ` propos d’opifex, cf. Platon, Time´e, 29a. A Bernardus Silvestris, Cosmographia (nt. 1), I, iv, 4 : „Rerum porro universitas, mundus, nec invalida senectute decrepitus, nec suppremo est obitu dissolvendus, cum de opifice causaque operas - utrisque sempiternis - de material formaque materie - utrisque perpetuis - ratio cesserit permanendi.“
Das Sein der Dauer und die Ordnung der Zeit: Nikolaus von Kues über den Jüngsten Tag und die Tage zuvor Marc-Aeilko Aris (München) „Wenn jemand die Geschichtsbücher liest, so findet er seit Christi Geburt nichts, was den vergangenen hundert Jahren vergleichbar wäre. Eine solche Bauund Gründungstätigkeit hat es auf der ganzen Welt noch nie gegeben. Wer hat je von einer vergleichbaren Intensivierung und Globalisierung wirtschaftlicher Prozesse gelesen. Die Erkenntnisse der Wissenschaften dringen immer tiefer in bisher verborgene Bereiche vor und die Spezialkenntnisse des einzelnen Wissenschaftlers aber auch allgemein jedes Einzelnen haben beständig zugenommen, so daß ein junger Student von 20 Jahren heute mehr Wissen beherrscht als 20 Doktoren vor hundert Jahren zusammen. Die Entwicklung neuer Sprachen und Terminologien und die Erschließung neuer Wissensräume hat die Beherrschung der Welt, in der wir leben, in einem rasanten Fortschritt auf einen Höhepunkt geführt, der als solcher die Vermutung weckt, es könne so nicht unaufhaltsam weitergehen, müsse also umgebrochen oder auf jeden Fall anders werden. Zweifellos: Bisher hat es ein solches Ausmaß an Scharfsinn, an wissenschaftlicher Erkenntnis und theoretischer Weltaneignung noch nicht gegeben, ganz zu schweigen von den Innovationen auf dem Gebiet der Medientechnologie und der Vervollkommnung der Waffen- und Warnsystemtechnik.“ Diese eindringliche Analyse stammt natürlich nicht von einem Autor des 21. Jahrhunderts und bezieht sich auch nicht auf die unmittelbar vergangenen hundert Jahre. Sie stammt, wenn auch in der Übersetzung behutsam modernisiert, von Martin Luther, der im Jahre 1522 mit diesen Überlegungen auf die Zeit seit dem Ende des Konstanzer Konzils reagiert, des Konzils, da „das Euangelium tzu Costnitz offentlich vordampt“ und „des Bapsts lugen yn aller welt fur gesetz angenommen“ worden seien 1. Was sich seitdem beobachten lasse, daß die Menschen eben ausschließlich ihr irdisches Leben gestalteten und fortentwickelten und diese Entwicklung sich zunehmend beschleunige, wertet Luther als Anzeichen des nahenden Weltendes. „Ich will niemant tzwingen noch dringen myr tzu glewben“, schreibt Luther von der Wartburg aus in der deutschen Fassung seiner Adventspostille, „Ich will myrs aber auch widderumb niemant nehmen lassen, das ich hallt, der iungst tag sey nitt ferne“. Dazu eben komme er, wenn er das, was er beobachte, den Fortschritt in irdischen Dingen, der sich nicht mehr steigern lasse, mit den Ankündigungen Jesu im Evangelium vergleiche: 1
Martin Luther, Adventspostille 1522 (WA 10 I/2), Weimar 1925, 96, 16 sq.
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Marc-Aeilko Aris
„Solch bawen und pflantzen ist nie geweßen szo gemeyn yn aller wellt. […] Wer hatt auch yhe solch kauffmanschafft geleßen, die itzt umb die welt feret, unnd alle wellt vorschlinget? […] datzu sind itzt solch scharff vorstendig leutt, die nichts vorporgen lassen, alßo auch, das itzt eyn knab von tzwentzig iaren mehr kan, denn tzuvor tzwentzig Doctores kundt haben. […] es ist vorhynn solch witze, vornunfft und vorstand ynn der Christenheytt nicht geweßen auff und ynn tzeyttlichen unnd leyplichen sachenn, ich schweyg der newen fund als buchdrucken, buchßen und ander kriegshendell. […] Da kommen erfur die sprachen und allerley weyßheytt, das man muß bekennen, das die wellt ynn den stuckenn die tzeyttlich narung […] betreffen, sey ubirauß auffs hohest kommen, daß yederman wol sihet, yederman auch sagt, es musse brechen, odder eyn anders werden.“ 2
Der Rückblick auf hundert Jahre ständig erfolgreicherer und schneller erfolgreicher Sorge ums irdische Leben läßt Luther keine andere Zukunft mehr als möglich erscheinen als die des Endes. Fortschritt und Beschleunigung sind Fortschritt und Beschleunigung aufs Ende zu. Die hundert Jahre, auf die Luther zurückblickt, sind zugleich die Jahre, die Nikolaus von Kues als erwachsener Mann durchlebt oder auf die er vorausblickt bzw. vorausblicken könnte. Der umfassende wissenschaftliche Fortschritt in der Erkenntnis und Beherrschung der irdischen Wirklichkeit, die Expansion und Internationalisierung der Handelsbeziehungen sowie die Möglichkeiten neuer Erfindungen, die Luther beklagt, sind Cusanus als mögliche und wünschenswerte Perspektiven durchaus präsent. Um des Erkenntnisfortschritts willen bestätigt am Ende des Dialogs über die Versuche mit der Waage der Orator, der Bücherleser, der von fremder Kost zehrt, dem Idiota, dem Erfahrungsforscher und Leser der Schöpfungswirklichkeit, dessen eingangs des Dialoges erhobene Behauptung, daß es nützlich wäre, die mit der Waage festgestellten Gewichtsunterschiede der Dinge in einem Buch zusammenzustellen 3. Er, so der Orator, werde nicht zögern, überall zu betreiben, daß die Meßergebnisse in den verschiedenen Ländern aufgezeichnet und zu einem Buch zusammengetragen würden, „ut ad multa nobis abscondita facilius perducamur“, damit wir leichter zu vielem, was uns verborgen ist, gelangen 4. Das Bücherwissen des Orators und das sapientialexperimentelle Wissen des Idiota finden ihre Einheit in dem Buch, das alles Wissen umfaßt und aus einer gleichsam endlosen Reihe von Erfahrungen addiert wird. Dieses Buch erbittend verweist der Idiota damit zurück auf den Anfang der drei Dialoge, der von der scheinbar unüberbrückbaren Differenz zwischen textuellem Wissen und Erfahrunsgwissen bestimmt ist, und markiert damit innerhalb des Textes die Einheit der drei Dialoge. Den weltumspannenden Handel, den Luther skeptisch beobachtet, hatte Cusanus schon 1431 in einer Predigt mit den Worten des Johannes Duns Scotus verteidigt: das eben sei eine gerechte negotiativa cummutatio, in der einem Gemeinwesen dadurch gedient werde, daß die 2 3
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Ibid., 95, 17-96, 12. Nicolaus de Cusa, Idiota de staticis experimentis, ed. L. Baur (Opera Omnia 5), Hamburg 1983, 221 (n. 161, 12 sq.) Ibid., 240 sq. (n. 195, 26 sq.).
Das Sein der Dauer und die Ordnung der Zeit
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Kaufleute Waren, die in einem Land im Überschuß vorhanden seien, dorthin brächten und verkauften, wo sie fehlten 5. Und die Vorzüge neuer Erfindungen schließlich, hier vor allem des Buchdrucks, hat Cusanus, wenigstens Giovanni Andrea dei Bussi zufolge, in Deutschland entstehen sehen und nach Italien gebracht sehen wollen 6. Trotz der zumindest verwandten Beobachtungen hinsichtlich der fortschreitend autonomen Gestaltung und Verwaltung der irdischen Wirklichkeiten teilt aber Cusanus Luthers Auffassung, daß der jüngste Tage nicht ferne sei, nicht. Ebensowenig teilt er Luthers Einschätzung, daß die beobachtete beziehungsweise für Cusanus sich andeutende Entwicklung „brechen odder eyn anders werden“ müsse. Im Gegenteil: die Erfahrungssumme, die Idiota und Orator als Buch wollen, zielt genau auf einen unabschließbar fortschreitenden Erkenntnisprozeß. Der Versuch, diese Differenz im Urteil beider zu erklären, kann sich nicht auf die kalendarische Tatsache des Zeitraums, der vor Cusanus und hinter Luther liegt, beschränken, sondern muß die Wahrnehmung von Zeiträumen als solche in den Blick nehmen. „Durationem nequaquam imaginari possumus sine successione“ - „Dauer können wir uns überhaupt nicht vorstellen ohne Aufeinanderfolge“, so Nikolaus im zweiten Buch des Globusspiels 7. In dieser Vorstellung einer Aufeinanderfolge sieht Nicolaus von Kues auch die Jahrhunderte umfaßt, die einander ablösen: „Denn ein Jahrhundert, welches das Leben eines älteren Menschen, wenn es besonders lang ist, umfaßt, folgt dem anderen Jahrhundert.“ 8 Die Wahrnehmung dieser Aufeinanderfolge, die am Leben der Menschen, die einander ablösen, ihr Muster und ihre Maßeinheit findet, impliziert mit der Wahrnehmung der Lebenszeit als eines bestimmten Zeitraums zugleich grundsätzlich die Bewußtwerdung von Zeiträumen und Geschichtlichkeit. Die im Hintergrund bestimmende Vorstellung, die dem Zeitraum als Raum begrenzter Dauer, Kontur verleiht, ist der im Lebenslauf durchmessene Zeitraum zwischen Geburt und Tod, mithin die Biographie eines Menschen. Die Zeiträume ihrerseits werden nicht nur wahrgenommen, sondern bestimmen die menschliche Erkenntnis, die sich eben im Nacheinander gedanklicher Operationen vollzieht, die einen bestimmten Zeitraum erfordern. Diese intervalla 5
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Nicolaus de Cusa, Sermo IX, in: id., Sermones I (1430-1441), ed. R. Haubst (Opera Omnia 16, 2), Hamburg 1973, 192 (n. 26, 5-11). G. A. Bussi, Prefazioni alle Edizioni di Sweynheym e Pannartz prototipografi romani, ed. M. Miglio, Mailand 1978, 4 (Ioannis Andreae episcopi Aleriensis ad Paulum II. in Epistolarum divi Hieronymi primi volumnis recognitionem epistola). Zitiert nach: K. Flasch, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Vorlesungen zur Einführung in seine Philosophie, Frankfurt 1998, 245 sq. mit nt. 92. Nicolaus de Cusa, Dialogus de ludo globi, ed. I. G. Senger (Opera Omnia 9), Hamburg 1998, 108 (Lib. II, n. 88, 3). Nicolaus de Cusa, Sermo CCXLIV, in: id. Sermones IV (1455-1463), edd. W. A. Euler/H. Schwaetzer (Opera Omnia 19, 3), Hamburg 2002, 273 (n. 30, 17-19): „Saeculum enim, quod ad vitam maximam senioris hominis se extendit, succedit saeculo.“
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temporis, die etwa, wenn man sich der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens bewußt wird, ihrer Kürze wegen nicht wahrgenommen werden 9, müssen gleichwohl immer vorausgesetzt werden, wenn die Realisierung eines punktuell, das heißt im Augenblick Erfaßten bedacht wird, sei es im Sinne der allmählich erfolgenden Bewußtwerdung, sei es im Sinne der sinnlich faßbaren Verwirklichung des Gedankens (beim Herstellen eines Kunstwerks etwa) 10. Die epistemologische Verfassung dessen, was zwar punktuell aber doch immer in der Zeit erfaßt wird, unterscheidet sich damit grundlegend von dessen ontologischer Verfassung, in der es als Wirklichsein unmittelbar von Gott her je neu ist 11. In diesem Sinne ist die novitas die Form, die allem das Wirklich-sein gibt: „Novitas igitur est forma, quae dat actuale esse omnibus.“ 12 Darin entspricht das Sein dessen, was ist (creatura), dem nunc temporis, das seinerseits nicht durch das Mittel der Aufeinanderfolge oder den Zeitfluß, sondern unmittelbar als nunc von Gott her ist 13. Cusanus bezieht sich damit implizit auf die Unterscheidung des Boethius, der das nunc temporis, das menschliche Jetzt, vom nunc permanens, dem göttlichen Jetzt unterscheidet. Nach Boethius bewirkt das menschliche Jetzt gleichsam laufend (das heißt additiv: Jetzt Jetzt Jetzt) die Zeit und damit das Immersein (sempiternitas); das göttliche Nunc dagegen bewirkt, indem es beharrt (permanens), sich nicht bewegt (neque movens) und feststehend ist (consistens), die Ewigkeit (aeternitas) 14. In dem Maße nun, in dem Cusanus das nunc temporis in einem unmittelbaren Verhältnis zum nunc stans denkt, wird der Augenblick positiv bestimmbar, eben als je neu: „[O]mne momentum temporis est novum, quia praeteritum non est nec futurum.“ 15 Am anschaulichsten hat Cusanus dieses Verhältnis zwischen nunc temporis und nunc stans in der Icona des allsehenden Gottes dargestellt, die er den Mönchen in Tegernsee zugleich mit seiner Auslegung übersendet. Der Umstand, daß alle, die das Bild im Halbkreis umstehen, sich als von ihm angeblickt erfahren, macht im Gleichnis den absoluten Grund von allem, was ist, deutlich. „Si te non viderent videntem, a te non caperent esse.“ - „Wenn sie dich nicht als Sehenden sähen, empfingen sie nicht das Sein von dir.“ 16 Dieser absolute Grund muß als zeitfrei dauernd gedacht werden, das heißt zugleich als jede successio (Aufeinanderfolge)
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Nicolaus de Cusa, Compendium, edd. B. Decker/C. Bormann (Opera Omnia 11, 3), Hamburg 1964, 9 (c. 5, n. 11, 1-9). Nicolaus de Cusa, Coniectura de ultimis diebus, ed. P. Wilpert (Opera Omnia 4), Hamburg 1959, 92 (n. 125, 1-4). Nicolaus de Cusa, Sermo CCLVII, in: id., Sermones IV (1455-1463), edd. I. Mandrella/H. D. Riemann (Opera Omnia 19, 4), Hamburg 2004, 372 (n. 16, 9-15). Ibid., 371 (n. 15, 11 sq.). Ibid., 372 (n. 16, 13-15). Boethius, De sancta trinitate, ed. C. Moreschini, München-Leipzig 2000, 176 (C. 4, l. 240245); cf. H. Schnarr, Art. ,Nunc stans‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 6, Basel 1984, coll. 989-991, hier 989. Nicolaus de Cusa, Sermo CCLVII (nt. 11), 371 (n. 15, 6 sq.). Nicolaus de Cusa, De visione Dei, ed. A. D. Riemann (Opera Omnia 6), Hamburg 2000, 36 (c. 10, n. 40, 11).
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umfassend. Was menschlicher Wahrnehmung als zeitliches Nacheinander erscheint, kann in Gott nicht in gleicher Weise nacheinander sein oder gedacht worden sein. „In aeternitate enim, in qua concipis, omnis successio temporalis in eodem nunc aeternitatis coincidit.“ - „In der Ewigkeit nämlich, in der du entwirfst [oder: denkst], fällt ja jede zeitliche Aufeinanderfolge mit dem immerselben Jetzt der Ewigkeit zusammen.“ 17 Was also nach menschlicher Zeitwahrnehmung als Vergangenes oder Zukünftiges erscheint, ist dort reine Gegenwart 18. Als solche aber ist sie, wie am Augenblick des Sehens und Gesehen-Werdens deutlich wird, jedem Zeitpunkt in der Aufeinanderfolge der Zeit gleichzeitig. Durch diese Unterscheidung zwischen nunc aeternitatis und der erst nach ihm, als explicatio aus dem nunc vergehenden Zeit wird der fluxus temporis, das heißt werden die Zeiträume als Vergangenheit und als Zukunft, in ihrem Verhältnis zur absoluten Gegenwärtigkeit Gottes verstehbar und können damit retrospektiv oder prospektiv zum Gegenstand des Nachdenkens werden. Der fluxus temporis kann daher sowohl durch eine bestimmte Ordnung des Zeitverlaufs gegliedert und durch bestimmte Ereignisse epochal abgegrenzt und damit jeweils als Raum begrenzter Dauer wahrgenommen werden, zugleich aber als dem absoluten Augenblick gleichzeitiger Augenblick in der Zeit (nunc temporis) verstanden werden. So werden mit der Bestimmung des Augenblicks zugleich die Bestimmung der vergangenen Zeit und die Bestimmung der künftigen Zeit möglich, mithin Geschichte und Zukunft als Denkformen konstituiert. Für die Erfassung der vergangenen Zeiträume stehen Cusanus die dazu erforderlichen Daten zur Verfügung, die er etwa dann nutzt, wenn er die Besitzansprüche der Kirche von Brixen aus Urkunden rekonstruiert und dabei zugleich Fehldatierungen entlarvt 19. Für die Erfassung der zukünftigen Zeiträume fehlt es an diesen Daten. Ohne diese aber kann nach Cusanus nichts Zuverlässiges über die Zukunft vorauserkannt, prognostiziert werden. Alle, die in irgendeiner Weise prognostizierend tätig werden, Ärzte zum Beispiel und Astronomen 20, sieht Cusanus daher auf die vorhandenen Daten zurückverwiesen. „Der Mensch kann nämlich Künftiges nur aufgrund der Kenntnis von Vergangenem voraussehen.“ 21 Insofern sei für den Menschen die Kenntnis von Vergangenem notwendig. Nur aufgrund dieser durch Beobachtung gewonnenen Kenntnis sei Ptolemäus in der Lage gewesen, hinsichtlich der Planetenbewegung vermutete Ge17 18 19
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Ibid., 38 (c. 10, n. 41, 19-21). Ibid., 38 (c. 10, n. 41, 21 sq.). Cf. H. J. Hallauer, Nikolaus von Kues als Rechtshistoriker, in: id., Nikolaus von Kues. Bischof von Brixen 1450-1464. Gesammelte Aufsätze, edd. E. Meuthen/J. Gelmi (Veröffentlichungen der Hofburg Brixen 1), Bozen 2002, 39-104 (zuerst erschienen in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 24 (1998), 103-170). Nicolaus de Cusa, Sermo CCLXX, in: id., Sermones IV (1455-1463), ed. H. D. Riemann (Opera Omnia 19, 6), Hamburg 2005, 489 (n. 7, 3-6). Nicolaus de Cusa, Sermo CCLIV, in: id., Sermones IV (1455-1463), edd. I. Mandrella/H. D. Riemann (Opera Omnia 19, 4), Hamburg 2004, 351 (n. 25, 1-2): „Homo enim non potest futura praevidere nisi ex scientia praeteritorum.“
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setzmäßigkeiten über die Bewegungen in der Zukunft zu entdecken 22. Die Kenntnis dessen, was vergangen und über einen längeren Zeitraum beobachtet worden ist, ermöglicht es also dem Menschen, daß er zuverlässiger hinsichtlich dessen schlußfolgern kann, was künftig geschehen werde 23. Diese Erkenntnisbedingungen, die einen längeren Beobachtungszeitraum, das heißt eine Abfolge mehrerer Generationen, erfordern, seien, so Cusanus im Anschluß an Flavius Josephus, bei den Urvätern dadurch kompensiert worden, daß sie besonders lange gelebt hätten und so im Lauf ihres eigenen Lebens die Erfahrung mehrer Generationen hätten sammeln können 24. Unbeschadet des Erkenntnisvorbehaltes, den schon der frühe Cusanus gegenüber aller messenden Beobachtung erhebt, kann die näherungsweise mögliche messende Erkenntnis dadurch präzisiert werden, daß sie Messungen über einen längeren Zeitraum vornimmt und protokolliert. Solche über einen längeren Zeitraum erfolgten Messungen machen zum Beispiel erst das Ausmaß des in der Kalenderberechnung wirksamen Irrtums erkennbar 25. Auch wenn die aus messender Beobachtung entwickelten Prognosen sich auf die Fortentwicklung natürlicher Abläufe (Krankheitsverläufe, Bewegungen der Gestirne) beziehen und deshalb aus der Gesetzmäßigkeit, der auch frühere Verläufe folgten, präkonstruiert werden können 26, gilt entsprechendes doch auch für weitergehende Zukunftsspekulationen, von denen nicht auf den ersten Blick deutlich ist, welcher Gesetzmäßigkeit sie folgen. Diesem Erkenntnismodell muß daher auch jede Überlegung verpflichtet sein, die sich auf die Frage bezieht, wann in der Zukunft mit dem Jüngsten Tag zu rechnen ist, das heißt, wann die Bedingungen erfüllt sind, die erfüllt sein müssen, daß die Wiederkunft Christi danach zu einem evangeliumsgemäß unbestimmbaren Termin eintreten kann. So oder so steht auch diese Erkenntnis unter dem Vorbehalt der Konjekturalität. Cusanus hat sich der Frage nach dem frühestmöglichen Zeitpunkt des Jüngsten Tages bis in die Mitte der 50er Jahre des 15. Jahrhunderts mehrfach gestellt und kommt bei seinen Überlegungen jeweils zu voneinander abweichenden Terminen 27. In ,Sermo XXIII‘, einer am 1. Januar 1441 zu Augsburg in lateinischer 22
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Ibid., 351 (n. 25, 2-6): „Ideo homini est necessaria scientia praeteritorum, sicut Ptholemaeus ex observantiis Abrachis et Tymocardis circa motum planetarum invenit regulas coniecturales de motibus in futuro, et ita de omnibus.“ Ibid., 351 (n. 25, 6-9): „Ideo homini est necessarium scire praeterita et ea, quae a longo tempore observata sunt, ut securius syllogizet de futuris“; cf. Nicolaus de Cusa, [Reparatio kalendarii] De correctione kalendarii, ed. V. Stegemann, Heidelberg 1955, 86, 19-23 (c. 10). Nicolaus de Cusa, Sermo CCLIV (nt. 21), 351 (n. 25, 9-13): „Et ob hoc primi fuerunt longae vitae, ut Iosephus in libro Antiquitatum refert, ut possent ex longa experientia 600 annorum motum caeli et alia inquirere, et ut posteris innotesceret eorum experientia.“ Nicolaus de Cusa, Reparatio (nt. 23), 14, 7-12 (c. 2); cf. H. G. Senger, Die Philosophie des Nikolaus von Kues vor dem Jahre 1440. Untersuchungen zur Entwicklung einer Philosophie in der Frühzeit des Nikolaus (1430-1440) (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters N.F. 3), Münster 1971, 124. Cf. nt. 20. Cf. H. G. Senger, Zur Überlieferung der Werke des Nikolaus von Kues im Mittelalter. Mitteilungen und Untersuchungen über neue Cusanus-Handschriften (Cusanus-Studien 9), Heidelberg 1972, 26-34; D. D. Sullivan, Apocalypse tamed: Cusanus and the traditions of late medieval
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Sprache gehaltenen Ansprache vor Klerikern und Gelehrten 28, ergibt sich ein Termin irgendwann jenseits des Jahres 1600 29. In der ,Coniectura de ultimis diebus‘, die er 1446 auf Wunsch eines nicht näher bezeichneten Priesters verfaßt, weil seine Überlegungen gegenüber den vorliegenden Endzeitspekulationen als neu erscheinen 30, nennt er ausdrücklich einen Zeitpunkt nach dem Zeitraum zwischen 1700 und 1734 31. Im Brixener ,Sermo CCX‘ vom 7. Dezember des Jahres 1455 ergeben sich spekulativ noch 400 Jahre weiterer Herrschaft des apokalyptischen Tieres, das er mit Mohammed gleichsetzt 32. Solche Varianz in den Terminfestlegungen bei ein- und demselben Autor unterstreicht freilich nur die Einsicht des Cusanus, die er wenige Jahre vor dem Ende seines Lebens den eigenen Spekulationen handschriftlich hinzugefügt hat: „Ista sunt verisimilia, sed non sunt nobis certa.“ 33 Für die Frage, ob Cusanus Zukunft als einen Zeitraum von unbestimmt begrenzter, und damit teilweise entgrenzter Dauer wahrnimmt und entsprechend den Zeitraum für gestaltbar und fortschrittsoffen hält, ist jedoch aufschlußreicher, wie Cusanus die Termine jeweils kalkuliert 34. Die Quelle mit dem höchsten Sicherheitsgrad, aus der Cusanus in ,Sermo XXIII‘ und in der ,Coniectura de ultimis diebus‘ sein Wissen für eine wahrscheinliche Schlußfolgerung bezieht, ist das Leben Jesu, und zwar einerseits so, wie es mit seinen wesentlichen Ereignissen, die bestimmten Jahren zugeordnet werden können, als historia vitae Christi 35 im Text der Bibel bezeugt ist 36, andererseits aber als geschichtliche Tatsache eines vollendet durchlaufenen, das heißt abgeschlossenen Menschenlebens, das als solches nach externen Kriterien eingeteilt werden kann. Das Leben Jesu selbst und dessen Stationen sind das Buch, aus dem er sein Wissen über Gegenwart und Zukunft schöpft: „Legamus igitur
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prophecy, in: Journal of Medieval History 9 (1983), 227-236; R. Haubst, Conspectus eorum, quae Nicolaus hic et alibi de aetatibus ultimisque diebus humanitatis coniecit, in: Sermones I (1430-1441), edd. R. Haubst/M. Bodewig (Opera Omnia 16, 4), Hamburg 1984, 380-383; K. Reinhardt, Christus - Richter der Lebenden und der Toten, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 23 (1996), 89-111, hier 103-107. Cf. E. Meuthen/H. Hallauer (edd.), Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues I/2, Hamburg 1983, 297 sq. (Nr. 451, 453). Cf. Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII in: id., Sermones I (1430-1441), edd. R. Haubst/M. Bodewig (Opera Omnia 16, 4), Hamburg 1984, 366 (n. 13). Cf. Nicolaus de Cusa, Coniectura (nt. 10), 100 (n. 140, 7-9): „Ego eorum scripta diligenter perquaesivi et nihil in illis de hac praemissa consideratione annotatum inveni. Quare ipsam ad preces devoti cuiusdam sacerdotis sub omni correctione scriptis mandavi.“ Cf. Nicolaus de Cusa, Coniecura (nt. 10), 97 (n. 133, 8 sq.). Cf. Nicolaus de Cusa, Sermo CCX, in: id., Sermones IV (1455-1463), edd. K. Reinhardt/W. A. Euler (Opera Omnia 19, 1), Hamburg 1996, 39 (n. 22). Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII (nt. 29), 366 (n. 13, 21 sq.). Als Quelle dienen im folgenden die zeitlich nahe beieinanderliegenden Texte Sermo XXIII aus dem Jahr 1441 und die ,Coniectura de ultimis diebus‘ (1446), die gedanklich eine Einheit bilden. Sermo CCX übernimmt lediglich eine Zeitangabe aus der Apokalypse des Johannes und hat daher nicht den Rang einer eigenständigen Kalkulation. Nicolaus de Cusa, Coniectura (nt. 10), 95 (n. 129, 8 sq.). Cf. Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII (nt. 29), 364 (n. 10, 2-9).
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ex vita Christi, quid de nostra aetate sentire debeamus.“ 37 Um das Leben Jesu im Sinne einer Entwicklung (successive) 38 ordnen zu können, wählt Cusanus die biographische Vorstellung einzelner aufeinander folgender Lebensalter (Kindheit, Jugendalter, Reifezeit, Vollendung), die sich in der Geschichte des Lebens Jesu als Wachstumsphasen ablösen 39. So kann Cusanus die Zeiträume unterscheiden, die biographisch durchlaufen werden müssen, um die Vollgestalt eines menschlichen Lebens darstellen zu können: „Sicut unus homo pergit ab initio vitae suae per aetates suas ad mortem.“ 40 Die Biographie Jesu (Christi peregrinatio) 41 wird damit zur literarischen Form und zur Denkform, in der Entwicklung als Fortschritt und als ein Phänomen, in dem Wandel und Dauer verschränkt sind, beschreibbar wird. Sie kann entsprechend dazu dienen, geschichtliche Zeiträume epochal abzugrenzen und Geschichte als natürlich fortschreitende Entwicklung zu beschreiben. Das gilt im besonderen Maß dann, wenn die Stufen der einander ablösenden Lebensalter im übertragenen und nicht mehr unmittelbar auf die Biographie Jesu beziehbaren Sinn als Stufen einer wachsenden Erkenntnisfähigkeit verstanden werden, wie Cusanus es auf dem Hintergrund der vielfach belegten Vorstellung von den Lebensaltern der Menschheit entwickelt 42. Mit diesem Verständnis, das im Vergleich der einzelnen Etappen zueinander Fortschritt erkennbar werden läßt, kann die Denkform der Biographie auf andere, als fortschreitend gedachte Entwicklungen übertragen werden: auf die Entwicklung der Menschheit 43, auf die Entwicklung der menschlichen Geschichte und Zeitalter (aetas hominum) 44, auf die eigene Entwicklung 45 und auf die Entwicklung der Christen und der Kirche 46. Immer ist die Biographie mit ihren Wachstumsphasen und Etappen die Denkform, in der Geschichte beziehungsweise geschichtliche Entwicklung als Zeitraum erfaßbar wird. Sie ist aber implizit als eine natürliche Entwicklung, die bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegt, zugleich geeignet, den erwartbaren Fortschritt innerhalb der erfaßten Zeiträume präziser zu bestimmen. Cusanus steht damit eine Denkform zur Darstellung geschichtlicher Entwicklungen zur Verfügung, die ihm erlaubt, Gesetzmäßigkeiten beziehungsweise notwendig so und nicht anders verlaufene Abfolgen in der Vergangenheit wahrzunehmen. Mit dieser Denkform gewinnt er eine sichere Grundlage, die es ihm erlaubt, auf 37 38 39
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46
Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII (nt. 29), 364 (n. 10, 1 sq.). Nicolaus de Cusa, Coniectura (nt. 10), 92 (n. 125, 2), cf. 95 (n. 129, 7). Cf. Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII (nt. 29), 363 (n. 8, 10-16); id., Coniectura (nt. 10), 92 sq. (n. 125, 4-7). Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII (nt. 29), 362 (n. 7, 4 sq.). Nicolaus des Cusa, Coniectura (nt. 10), 92 (n. 124, 6 sq.), 93 (n. 126, 1 sq.). Cf. Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII (nt. 29), 362 sq. (n. 7, 13-8, 12) mit den Anmerkungen im zweiten Apparat zu 7, 13-31. Cf. Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII (nt. 29), 362 (n. 7, 4-10). Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII (nt. 29), 363 (n. 9, 1-5). Cf. Nicolaus de Cusa, De aequalitate, ed. I. G. Senger (Opera Omnia 10, 1), Hamburg 2001, 49 (n. 37, 1-8). Cf. Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII (nt. 29), 363 (n. 9, 12-29); id., Coniectura (nt. 10), 93 (n. 125, 10 sq.).
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Grund zuverlässiger Daten, die ihm vorliegen, auf das zu schließen, was künftig möglich ist. Durch die Denkform der Biographie wird dies künftig Mögliche nicht nur als etwas Künftiges (futurum oder futura), sondern als Zeitraum, eben als Zukunft im modernen Sinne denkbar. Auf dieser erkenntnistheoretischen Grundlage ist die coniectura de ultimis diebus wissenschaftlich möglich, ohne dadurch das Axiom zu verletzen, aufgrund dessen Cusanus sich ansonsten von aller Prognostik fernhält, daß nämlich nur aufgrund sicherer Daten Vermutungen über Künftiges angestellt werden können. Jeder kann „ex evangelicis descriptionibus particularius coniecturas istas explicare“ 47, selbst wenn das Ergebnis der Übersetzung dieser Urbild-Abbild-Relation eine aenigmatica figura bleibt, eine figura freilich, die sich den Erkenntnisbedingungen in hoc mundo verdankt 48, mithin als Vorbehalt jede Form der aus Tatsachen schlußfolgernden Erkenntnis betrifft 49. In der ,Coniectura de ultimis diebus‘ bezieht Cusanus daher die Biographie (peregrinatio) Jesu auf die Entwicklung des corpus mysticum, das heißt der Kirche, in der Zeit und gewinnt damit ein tieferes Verständnis für die Geschichte der Kirche 50 sowie die Möglichkeit, den eigenen geschichtlichen Zeitpunkt präzise zu bestimmen 51. Zugleich aber öffnet er damit die Perspektive auf eine zu erwartende künftige Geschichte der Kirche, in der sich das Leben Jesu abbildlich weiter entfaltet: „[S ]equitur ecclesia ut imago veritatem.“ 52 Nikolaus setzt bei seinen Überlegungen voraus, daß sich das Leben Jesu in der geschichtlichen Verwirklichung der Kirche wiederholt. Dabei entspricht ein Lebensjahr Jesu fünfzig Jahren im Leben der Kirche 53. Mit der Biographie des Einzelnen teilt die Kirche zwar die Gewißheit des Todes und die Ungewißheit der Todesstunde (nihil certius morte, nihil incertius hora mortis) 54, zugleich realisiert sie sich aber im Modus der Lebensgeschichte Christi und der daraus ableitbaren Gesetzlichkeit, so daß das, was sie als Künftiges (futurum) zu erwarten hat, prognostizierbar wird 55. Aufgrund dieser Voraussetzungen kann der Jüngste Tag erst dann mit Gründen 47 48 49 50
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55
Nicolaus de Cusa, Coniectura (nt. 10), 96 (n. 133, 1 sq.). Nicolaus de Cusa, Coniectura (nt. 10), 91 (n. 123, 15-17); cf. ibid., 100 (n. 140,13-16). Cf. Senger, Überlieferung (nt. 27), 33 sq. Cf. Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII (nt. 29), 363 (n. 9, 12-29), 364 (n. 10, 16-11, 12); id., Coniectura (nt. 10), 92 (n. 124, 5-16), 93 (n. 126, 1 sq.). Cf. Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII (nt. 29), 366 (n. 13, 1-12); id., Coniectura (nt. 10), 94 (n. 127, 10-128, 9). Nicolaus de Cusa, Coniectura (nt. 10), 92 (n. 124, 16), 95 sq. (n. 129, 1-132, 6). Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII (nt. 29), 364 (n. 11, 1 sq.); id., Coniectura (nt. 10), 93 sq. (n. 127, 4-9). Nicolaus de Cusa, Sermo CXCIII, in: id., Sermones III, edd. S. Donati/I. Mandrella (Opera Omnia 18, 5), Hamburg 2005, 398 (n. 17, 23 sq.), hier mit einem Zitat aus den ,Sermones de tempore‘ des Johannes Herolt, der wiederum auf Bernhard von Clairvaux als seine Quelle verweist: Bernardus Claraevallensis, Sermo ad clericos de conversione, in: id., Sermones I, edd. J. Leclercq/H. Rochais (Sancti Bernardi Opera IV), Rom 1966, 90, 5 sq. Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII (nt. 29), 366 (n. 13, 13-20); id., Coniectura (nt. 10), 96 sq. (n. 133, 1-8).
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erwartet werden, wenn die Kirche den Lebensweg Jesu noch einmal durchmessen hat. Erst danach muß mit dem Jüngsten Tag gerechnet werden, ohne daß sich genau bestimmen ließe, zu welchem Termin er eintritt 56. Cusanus bestimmt daher im strengen Sinne keinen künftigen Zeitpunkt, sondern einen künftigen Zeitraum, einen Mindestzeitraum, der die Bedingung der zeitlichen Möglichkeit darstellt, daß der Tag Christi eintreten kann. Nur so kann im Verständnis des Cusanus futurologische beziehungsweise eschatologische Forschung seriös betrieben werden, und nur so unterscheidet sie sich von allen Formen jener Zukunftsspekulation, von der er sich zeitlebens energisch abgrenzt 57. Gleichwohl legt er Wert darauf, die Zuverlässigkeit seiner Berechnung durch konkordante Parallelberechnungen zu beweisen. Diese - er nennt das Buch Daniel, den Propheten Ezechiel, Pseudo-Philo und Laktanz 58 - sind gleichsam die schriftgebundenen Einzelbücher, während er, Cusanus, das Buch des Lebens Jesu liest, mithin sich auf eine Quelle bezieht, die der des Idiota, der das Buch der Natur liest, durchaus verwandt ist 59. Was die coniectura de ultimis diebus leisten kann, ist dies, aus den nota, die nur Gott bekannt sind, das heißt aus dem zuverlässigen Wissen um die Deutung dessen, was geschieht, „aenigmaticas facere coniecturas“ 60. Schon auf Grund dieses Ergebnisses kann vermutet werden, daß es Cusanus mit seiner ,Coniectura‘ in erster Linie darum ging, einen kalkulierbaren Zeitraum zu gewinnen 61. Im Vergleich zu anderen meist nur eine oder zwei Generationen umfassenden Berechnungszeiträumen, ermittelt Cusanus eine Frist bis zum Jahre 1734, groß genug, langfristige, reformatorische und politische Ziele zu formulieren und durchzusetzen. Der Blick auf den Jüngsten Tag bewirkt also bei Cusanus das Gegenteil von dem, was er bei den radikalen Eschatologen und Apokalyptikern seiner Zeit bewirkte. Ihm ging es offensichtlich nicht darum, mit Hilfe einer eschatologischen Drohung eine Erneuerung des christlichen Lebens kurz vor dem Ende zu bewirken. Er wollte vielmehr für diese Erneuerung und die sie betreibende Reform den geschichtlichen Handlungsspielraum garantieren, den sie brauchen, um nicht im Affekt, sondern in einer rechtlich gesicherten und kirchenpoltitisch überlegten Form betrieben und langfristig stabilisiert werden zu können. Unter dieser Hinsicht kann man sagen, daß der Blick in die 56 57
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Nicolaus de Cusa, Coniectura (nt. 10), 97 (n. 133, 9-13). Nicolaus de Cusa, Sermo II, in: id., Sermones I, ed. R. Haubst (Opera Omnia 16, 1), Hamburg 1970, 31 (n. 17, 9-19); id., Idiota de staticis experimentis (nt. 3), 238, 11-22 (n. 190); Sermo CCXVI, in: id., Sermones IV (1455-1463), edd. K. Reinhardt/W. A. Euler (Opera Omnia 19, 1), Hamburg 1996, 82 sq. (n. 2-3). Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII (nt. 29), 364 sq. (n. 11, 13-28); id., Coniectura (nt. 10), 98 sq. (n. 136, 1-137, 9). Cf. Nicolaus de Cusa, Sermo XXIII (nt. 29), 367 (n. 15, 1-6): „Non est igitur nobis in librorum multitudine laborandum, qui ex hominibus fabricati sunt, sed, si necessarium habemus de sensibili ascendere ad intelligibile et de extrinseco ad intrinsecum, de visibile ad spirituale, ad ,librum‘ unum ,Dei digito scriptum‘ nos convertamus.“ Nicolaus de Cusa, Coniectura de ultimis diebus (nt. 10), 100 (n. 140, 13 sq.). Cf. Reinhardt, Christus (nt. 27), 107.
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Zukunft Cusanus dazu verhilft, die Gegenwart effizienter zu gestalten. In dem Maße, in dem Cusanus bestehende Modelle endzeitlicher Prophetie durch Prognose ersetzt, entwickelt er damit zugleich das Bewußtsein von Zukunft als eines gestaltbaren Zeitraums. Im Blick auf zwei andere zukunftsorientierte Denkmuster, die Kalenderberechnung und die Heilsvorsorge, kann das Zukunftsverständnis des Cusanus noch deutlicher werden. Erstens: Für die Zuverlässigkeit dieses Zeitraums beziehungsweise des Zeitverlaufs ist entscheidend, daß die Ordnung der in diesem Zeitraum berechenbaren und geltenden Zeit mit der Wahrheit der Zeit, die im nunc aeternitatis mitumfaßt ist, übereinstimmt. Die ,Coniectura de ultimis diebus‘ des Cusanus wird daher letztlich nur verständlich, wenn sie im Zusammenhang mit der auf dem Konzil von Basel betriebenen Kalenderreform bedacht wird. Auch diese steht unter dem Vorbehalt einer immer nur näherungsweise erfolgenden zuverlässigen Messung der Zeit, da die Zeit, in der der Mensch mißt und mit der der Mensch mißt, nie der reinen praesentialitas entspricht, in der für Gott ist, was auch immer ist und sein wird 62. Darum kann eine augenblicksgenaue Wahrheit (veritas punctalis) in der Zeit- und Kalenderberechnung auch nicht erreicht werden 63. Entscheidend ist jedoch, daß auch bei der Kalenderberechnung die verlaufende Zeit und die als reiner Augenblick gedachte göttliche Zeit aufeinander bezogen werden. Zweitens: Wiewohl jede Art der Zukunftsvorhersage, wie sie in der ,Coniectura de ultimis diebus‘ versucht wird, von der Zukunftsvorsorge zu unterscheiden ist, die Cusanus für den Fall seines eigenen Todes und die Zeit danach betreibt, beziehen sich beide doch auf den bis zur Wiederkunft Christi eröffneten Zeitraum. „Da nach den Worten des Apostels wir alle vor dem Richterstuhle Christi stehen werden“, beginnt die Stiftungsurkunde für das St. Nikolaus-Hospital in Kues, „um zu empfangen (Lohn oder Strafe), je nach dem wir im leiblichen Leben Gutes oder Böses getan haben, so müssen wir dem Tage der letzten Ernte zuvor kommen durch Werke der Barmherzigkeit.“ 64 Als ein solches Werk der Barmherzigkeit stiftet Cusanus gemeinsam mit seinen Geschwistern aus dem ererbten väterlichen Vermögen „eine neue Kapelle […] mit Kreuzgang, Speisesaal, Häusern und Zellen und den anderen Gelassen, welche erforderlich sind für die Aufnahme und Beherbergung armer und notleidender abgearbeiteter Personen nach der Zahl der Jahre, welche Christus, unser Erlöser, auf Erden 62 63
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Nicolaus de Cusa, Coniectura (nt. 10), 91 (n. 123, 6 sq.). Nicolaus de Cusa, Reparatio (nt. 23), 14, 9 sq.; zum Terminus cf. Senger, Philosophie (nt. 25), 121-129. Stiftungsurkunde des St. Nikolaus-Hospitals vom 3. Dezember 1458: Bernkastel-Kues, St. Nikolaus-Hospital, Archiv U 41; G. Kortenkamp, Die Urkunden des St. Nikolaus-Hospitals in Bernkastel-Kues an der Mosel (Geschichte und Kultur des Trierer Landes 3), Trier 2004, 106-112 (Nr. 57), hier 108 sq., l. 3-5: „Quoniam, ut ait apostolus, omnes stabimus ante tribunal Cristi, recepturi prout in corpore gessimus, sive bonum fuerit sive malum, oportet nos diem messionis extreme misericordie operibus prevenire.“ Die Übersetzung ist entnommen: J. Marx, Geschichte des Armen-Hospitals zum h. Nikolaus zu Cues, Trier 1907, 53.
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zugebracht hat“ 65. Die Stiftung dient vermutlich auch zur Entschärfung des durch Optionsgeschäfte erworbenen Vermögens des Vaters 66. Mit der Stiftung des St. Nikolaus Hospitals gestaltet Cusanus die Zeit über seinen Tod hinaus, indem er die Erinnerung an ihn, hier vor allem die liturgische, bestimmt. Ähnlich hatte er auch schon durch die Stiftung einer Zelle für die Kartause Beatusberg in Koblenz die Mönche nicht nur dazu veranlaßt, ihn als Freund ihres Hauses zu bezeichnen, sondern was wichtiger war, für ihn nach seinem Tod zu beten 67. Dabei schien ihm - wie seinen Zeitgenossen - die institutionelle Verfassung dieser Gebetsgemeinschaft über die individuelle Bekanntschaft hinaus Gewähr für eine mehr als eine Generation anhaltende Gebetsverpflichtung zu bieten. Dieser Wille, die Zeit nach seinem Tod zu gestalten, wird auch aus seinem Testament offenkundig. Abweichend von der Testamentspraxis seiner Zeit befestigt er in erster Linie seine Hospitalstiftung und bedenkt darüber hinaus lediglich seine Titelkirche und Grablege mit einer stattlichen Summe 68. Folgt man der Inschrift seiner Grabplatte, fungiert er darüber hinaus als Auftraggeber seines Grabmals 69. Andere Testamente seiner Zeit verteilen dagegen das durch den Tod frei werdende Stiftungskapital im Interesse der Risikominderung auf möglichst viele Einzelstiftungen 70, während Cusanus sich auf Hospital und Grablege beschränkt, um die Memoria zu regulieren und damit kalkulierbare Zeiträume des Gebetsgedenkens zu seinen Gunsten zu gewinnen. Die wissenschaftliche Grundlegung und Sicherung dieses kalkulierten zukünftigen Zeitraums, für den Memoria bestimmt und gestaltet werden muß, leistet die ,Coniectura de ultimis diebus‘. Reinhart Koselleck hat deutlich gemacht, daß, indem das Weltende immer weiter hinausgeschoben wird, mit der Expansion des zeitlichen Spielraums sich zugleich ,Zukunft‘ als handlungs- und gestaltungsoffener Zeitraum ergibt. Diese von der eschatologischen Perspektive gereinigte Zukunft ermögliche zwei Typen von Zukunftsentwürfen: die rationale Prognostik und die Geschichtsphilosophie 71. Mit dem Versuch einer eschatologischen Prognostik aus dem Geist der Biographie steht Cusanus am Anfang einer Entwicklung, in der kalkulierende 65
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Cf. Kortenkamp, Urkunden (nt. 64), 109, 17-19: „capellam novam cum ambitu, refectorio, domibus ac cellis et aliis necessariis officinis pro hospitandis et recipiendis ac fovendis ibidem cristipauperibus et miserabilibus elaboratis personis iuxta numerum annorum Cristi salvatoris nostri in terris“; Marx, Geschichte (nt. 64), 54. Cf. den Beitrag von H.-J. Schmidt in diesem Band. Cf. Acta Cusana (nt. 28), 552 (Nr. 756, nt. 2). Bernkastel-Kues, Archiv des St. Nikolaus-Hospitals U 48A und 48B; cf. Kortenkamp, Urkunden (nt. 64), 133-140 (Nr. 74). Cf. S. Groß-Morgen, Art. ,Relief des Epitaphs für Nikolaus von Kues‘, in: M.-A. Aris (ed.), Horizonte. Nikolaus von Kues in seiner Welt, Ausstellungs-Katalog Trier 2001, 95-97. Cf. S. Groß-Morgen, Art. ,Leben in der Erinnerung‘, in: M.-A. Aris (ed.), Horizonte (nt. 69), 89 sq. Cf. R. Koselleck, Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit, in: id., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1989, 17-37, hier 28-35; sowie den Beitrag von O. G. Oexle in diesem Band.
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Prognose und erhoffter Fortschritt zu selbstverständlichen Gesten im Umgang mit der vergehenden Zeit werden. 600 Jahre nach Cusanus, in einer Gesellschaft, die, Hans Ulrich Gumbrecht zufolge, in einer immer breiter werdenden Gegenwart lebt und damit die Zukunft als Denkform zunehmend zu verlieren scheint 72, kann so die nicht geringe Bedeutung erkennbar werden, die der ,Coniectura de ultimis diebus‘ im Oeuvre des Nikolaus von Kues zukommt.
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Cf. H. U. Gumbrecht, Die Gegenwart wird (immer) breiter, in: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken 55 (2001), 769-784.
Motus continuus und motus perpetuus in der mittelalterlichen Technik und Physik Dietrich Lohrmann (Aachen) Bewegung (lat. motus, gr. kı´nesis) ist bekanntlich das zentrale Problem der aristotelischen Physik schlechthin. Für Aristoteles ist es ein sehr weiter Sammelbegriff, der keineswegs nur die Ortsveränderung betrifft, sondern viel umfassender auch qualitative und quantitative Veränderungen einbezieht. Darüber ist viel geschrieben worden 1. Ich beschränke mich hier auf einen ganz speziellen Aspekt der zirkularen Ortsbewegung im Bereich der sublunaren Welt. Die Frage für die Physik des Mittelalters lautet: Gibt es auch in diesem Bereich wie im Bereich der himmlischen Physik kontinuierliche Rotation ohne Antrieb und, wenn nicht, sind Einflüsse der Himmelsrotation oder einzelner Gestirne auf die irdische Welt denkbar, von denen auch die Technik profitieren könnte, zum Beispiel in Form eines Rades mit kontinuierlicher Bewegung? Nicht einschlägig scheint hier das Problem des Kontinuums an sich. Es betrifft mehr die Frage der Zusammensetzung der Materie, kontinuierlich oder diskontinuierlich, und führt in den Bereich des Infinitums und der Atomistik. Über diese Fragen, bei Aristoteles wie in der Scholastik, liegen wertvolle neuere Studien vor, beispielsweise die von John Murdoch. Erinnert sei auch an Wolfgang Breidert (1970), der klärend feststellt: „Die Kontinuumbetrachtungen des Aristoteles haben eine wichtige, aber doch nur eine Ancillafunktion im Zusammenhang der Physik, deren Gegenstand, wie er in den ersten Büchern genannt wird, ja die Natur als Ursprung der Bewegung ist.“ 2 Alle Bezüge zwischen Kontinuum und Infinitum im Zusammenhang der Struktur der Materie bleiben hier zunächst am Rande. I. Motus continuus in der mittelalterlichen Technik Auf das Problem des motus continuus in der mittelalterlichen Technik stieß ich bei der Editionsarbeit an Konrad Gruters Maschinenbuch für den König von 1
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J. E. Murdoch, Infinity and Continuity, in: N. Kretzmann/A. Kenny/J. Pinborg (eds.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, Cambridge 1982, 584-591, besonders 565: „an immense amount of relevant material“. W. Breidert, Das aristotelische Kontinuum in der Scholastik (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters N. F. 1), Münster 1970, 14.
Motus continuus und motus perpetuus in der mittelalterlichen Technik und Physik
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Dänemark, Norwegen und Schweden vom Jahre 1424. Eine Edition dieses Werkes ist vor kurzem erschienen 3. Sie bietet einen systematischen Traktat in drei Teilen, der sich deutlich um eine logische Abfolge der 68 dargestellten und näher erläuterten Maschinen und Apparate bemüht. Das Werk ist so in gewisser Weise noch ein scholastischer Traktat und zugleich das früheste Maschinenbuch mit vorherrschend ziviler Technik, das wir bisher aus dem westlichen Mittelalter kennen. Seine drei Hauptteile behandeln: 1. Wasserhebung, 2. Antrieb von Rädern und Mühlen, 3. Militärtechnik, die zum Teil auch im Frieden dienen kann, wie etwa Brückenbau, Bootsbau, Hilfen zum Tauchen und Steigen, Aufbrechen von Schlössern und so weiter. Der Autor war einer der frühen Studenten an der mittelalterlichen Universität Köln. In der Matrikel von 1391 erscheint er mit dem Namen „Conradus Fermentator de Werdena“ 4. Zwei Jahre später schon trat er in Rom in den Dienst des Papstes Bonifaz IX., der den jungen Mann, wie er sagt, an verschiedenen subtilen Dingen forschen und experimentieren ließ. Die Anregung eines Florentiner Hospitaliterbruders führte ihn auf das Problem der rota continui motus, den Bau eines kontinuierlich bewegten Rades. Das war ein Ziel, welches in der damaligen Welt, lange vor der definitiven Ausformulierung des Energieprinzips im 19. Jahrhundert, nicht nur in Rom erstrebt wurde. Sieben Jahre verbrachte der junge Deutsche mit derlei Experimenten am Papsthof. Wichtig ist, daß zu seinen Hauptzielen außer Rädern ohne äußeren Antrieb auch Wasserhebung ohne äußeren Krafteinsatz gehörte, außer motus continuus rotarum also auch fluxus continuus. Offensichtlich machte er sich dazu Notizen und Skizzen, die er später, 1424 in Venedig, in seinem Traktat verwenden konnte. Eingesehen hat er in der Zwischenzeit, daß seine Bemühungen um die genannten rotae trügerisch (fallaces) gewesen seien. Trotzdem zeichnet er in vier Kapiteln des definitiven Traktates (Kap. 24-27) genau auf, welche Modelle er gebaut, erprobt und immer wieder verändert hat. Künftige Liebhaber solcher Dinge, die vielleicht „subtiler“ seien als er selbst, möchten daraus entnehmen, wie weit er gelangt sei, und daran anknüpfend weiter kommen 5. Gruter gibt also die Hoffnung auf einen Erfolg nicht gänzlich auf, warnt aber vor Betrügern, Zeitverlust und Geldverschwendung. Beiläufig erfahren wir, daß die technische Lösung eines solchen Rades auch an anderen Höfen Italiens erstrebt wurde. In Mailand, so hatte ihm ein damals sehr berühmter Erbauer von Kriegsmaschinen erzählt (Dominikus von Florenz), 3
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Konrad Gruter von Werden, De machinis et rebus mechanicis. Ein Maschinenbuch aus Italien für den König von Dänemark 1393-1424, Einleitung und Edition von D. Lohrmann, H. Kranz und U. Alertz (Studi e testi 428-429), Citta` del Vaticano 2006. Die Matrikel der Universität Köln, bearbeitet von H. Keussen, (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtsforschung 8, 1), Bonn 1928, 60. Fermentator ist die frühhumanistische Namensvariante für rheinisch gruter im Sinne von Grutbierbrauer. Konrad Gruter von Werden, De machinis (nt. 3), 10 (praefatio): „pauca notare decrevi, ut in similibus delectantibus ad huiusmodi *res+ magis habeatur ingrediendi ostium apertum, necnon ubi ad ulteriora spiritus meus accedere non valuit, subtiliores spiritu inde capiant aggressum.“ Deutsche Übersetzung ibid.
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sei das mit angeblich fulminantem Erfolg geschehen, doch habe er, Gruter, das wegen abweichender Details nicht glauben können 6. In Padua und Ferrara wurde über das Thema zumindest diskutiert. Wenig später, um 1418, erwähnt ein venezianischer Experimentator und Arzt, Johannes Fontana, Räder ähnlicher Art; er habe über sie einen Traktat geschrieben und darin die trügerischen Meinungen referiert, die über sie verbreitet würden 7. Mehrfach war der Senat der Republik Venedig auch auf Mühlenbauer hereingefallen, die vorgaben, neue Antriebslösungen unabhängig von fließendem Wasser verwirklichen zu können. Das waren Leute, die sich zunächst größere Summen für ihre Versuche auszahlen ließen, um am Ende, angesichts des nicht mehr zu verbergenden Mißerfolgs, lautlos zu verschwinden 8. Gruter scheint am Anfang ehrlich an seinen Erfolg geglaubt zu haben. Fehlschläge suchte er durch genaue Beobachtung aufzuklären. Er verwendete dazu unter anderem eine perspicua membrana, eine durchsichtige Folie, durch die er erkennen konnte, daß sich Sand, Quecksilber oder Bleikügelchen in einem seiner Räder einfach nicht so bewegen wollten, wie er es von ihnen erwartet hatte. Dinge, die ihm auf den ersten Blick in ihrer Wirkung verissima erschienen waren (Kap. 24), erwiesen sich, wie er sagt, als Produkte falscher Imagination und Phantasie (Kap. 25). Bemerkenswert ist das physikalische Vokabular des Traktats: motus continuus erscheint in vier Kapiteln mit Bezug auf Räder, in einem (Kap. 7) mehrfach auch im Bezug auf den kontinuierlichen Fluss von Wasser. 6
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Konrad Gruter nahm diese Details 1404 zum Anlass, sich definitiv vom Ziel solcher Konstruktionen zu verabschieden und im weiteren nur noch funktionierende Maschinen vorzustellen (Kap. 28). Johannes Fontana, Tractatus de pisce, cane et volucre, Kap. 6, Edition durch H. Kranz, Aachen (in Arbeit): „Sed de hac rota tractatum feci, in quo plurimorum fantastice mobilitatis rote scribuntur opiniones, et fallaces multum, tamen sensibus apparentes, pro quibus, veluti alkimiste in arte sua, multi philosophi vel architecti laborantes tempus et expensas ammiserunt.“ Neben Gruters Äußerungen handelt es sich hier um das früheste Zeugnis für Kritik am Ziel des Perpetuum mobile. Kritik dieser Art - lange vor Leonardo da Vinci - enthält auch der etwa gleichzeitige Traktat, den jüngst A. Lantink-Ferguson, A Fifteenth-Century Illustrated Notebook on Rotary Mechanisms, in: Scientiarum historia 29 (2003), 3-66, besonders 51, veröffentlicht hat. Als Autor dieses neu entdeckten Traktates erweist H. Kranz, Akademische Technik im 15. Jahrhundert, in: Technikgeschichte 74 (2007), 119-147, Johannes Fontana. Vor allem die sehr spezielle Terminologie ist in dieser Hinsicht völlig eindeutig. Cf. hierzu den Katalog von R. Berveglieri, Inventori stranieri a Venezia (1474-1788). Importazione di tecnologie e circolazione di tecnici artigiani inventori. Repertorio, Venedig 1995 (ältestes erhaltenes Dokument 1486). Leonardo da Vinci notiert am Anfang des Codex Madrid I: „Ich erinnere mich, viele solche (Forscher) aus verschiedenen Ländern gesehen zu haben, die sich in ihrer kindischen Leichtgläubigkeit nach Venedig begaben, wo sie in der Hoffnung auf große Gewinne Mühlen im stehenden Wasser anlegten. Wenn es ihnen dann trotz großem Aufwand nicht gelang, eine solche Maschine in Gang zu bringen, waren sie gezwungen, sich schleunigst aus dem Machtbereich (Venedigs) auf und davon zu machen.“ Leonardo spielt mit der Doppelbedeutung von ,movere‘ im Sinne von ,in Gang bringen‘ und ,sich aus dem Staub machen‘: „non potendo movere tal machina, eran costretti a movere con gran fuga se` medesimi di tale aer.“ In: Leonardo da Vinci, Codices Madrid, vol. 4, Transkription von L. Reti, Übersetzung von G. Ineichen [e. a.], Frankfurt 1974, 2.
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Dort heißt derselbe Vorgang einmal auch motus perpetuus. Die Praefatio verwendet darüber hinaus den ebenfalls aus der aristotelischen Physik wohlbekannten Begriff des motus violentus. Es geht also nicht um das aristotelische Kontinuum an sich. Unser Thema fällt vielmehr in die Lehre von der örtlichen Bewegung. Motus continuus (secundum naturam) und motus violentus bestimmen wie in der Physik des Aristoteles das wichtigste Gliederungsprinzip des gesamten ersten Teiles von Gruters Traktat. Den pneumatischen Geräten der Kapitel eins bis sieben, die von natürlicher Bewegung handeln, sind nachfolgend in Kapitel acht bis achtzehn Pumpen gegenübergestellt, die alle den Einsatz von Kraft erfordern und somit dem motus violentus zugehören. Konrad Gruter war keineswegs der erste, der sich mit solchen Maschinen und Apparaturen beschäftigt hat, aber er ist - lange vor Leonardo da Vinci bislang der erste, von dem wir Beschreibungen und Zeichnungen mit Hinweisen auch auf die Schwierigkeiten und Fehlschläge erhalten. Daß er auf ältere Erfahrungen zurückgriff, wird schon beim Bau der ersten Rota deutlich. Der erwähnte Hospitaliterprior aus Florenz erscheint ihm als scharfsinnig und gründlich, er ist spiritu subtilis et in investigationibus sollers. Seine Anregung bezog sich insbesondere auf den Einsatz von Magneten. Diese Idee geht auf einen berühmten Physiker und Mechaniker des 13. Jahrhunderts zurück, Pierre de Maricourt. 1269 hatte er bereits beschrieben, wie ein solches Rad aussehen könne, um funktionstüchtig zu sein 9. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Rad Maricourts und dem Rad Gruters besteht darin, daß Maricourt nur einen Magneten einsetzte, Gruter hingegen gleich eine Vielzahl von ihnen. Seine Magneten sollen Stahlnadeln bis zu den Spitzen eines Kronrades hinaufziehen und sie dort fallen lassen, so dass der nächste Magnet sie zur nächsten Spitze des Kronrades weiterziehen könnte. Gruter dachte an eine Kombination von Magnetkraft und Schwerkraft. Dazu waren die Magneten jedoch nicht bereit. Sie zogen die Nadeln zwar an, ließen sie aber nicht fallen. An dem Mangel eines Schalters, der bei Elektromagneten selbstverständlich wäre, versagte seine Apparatur. Ähnlich scheiterte auch (Kap. 7) der Versuch, Wasser aus Spitzkegeln in einer dünnen Röhre mittels Druck und Verengung so weit aufsteigen zu lassen, daß es, oben angekommen, erneut in den Spitzkegel hätte fließen können, also eine Art kontinuierlichen Flusses von aufsteigendem und herabfließendem Wasser ermöglicht hätte 10. Ein erst kürzlich bekannt gewordener, anonymer, von H. Kranz jetzt dem venezianischen Arzt Johannes Fontana zugewiesener Traktat aus dem nordöstli9
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Cf. A. Kleinert, Wie funktionierte das Perpetuum mobile des Petrus Peregrinus?, in: Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin (N. T. M.) 11 (2003), 155-170. Anfangs (in Rom) scheint Gruter an diese Möglichkeit geglaubt zu haben. Seine Zeichnung weckt auch im Exemplar des Traktates für den König von Dänemark von 1424 noch die Illusion einer solchen Möglichkeit, während Kapitel 6 in einem ähnlich gelagerten Fall offen das Scheitern ausspricht. Weiteres zu hydraulischen Perpetua siehe u. a. bei F. Klemm, Perpetuum mobile. Ein „unmöglicher“ Menschheitstraum, Dortmund 1983, 25-33.
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chen Italien, entwickelt eine zu dieser Zeit bisher völlig unerwartete allgemeine Theorie des Rades. Nach Hinweisen zum Unterschied von Getrieben schlechthin und Uhrwerksgetrieben im speziellen behandelt er eingehend die Terminologie der Radformen, Radpositionen, Zahnräder und Formen der Zahnräder bis hin zu gewissen Rotationsabläufen im Rad. Er schiebt nach Aristoteles’ ,Physik‘ 7 Bemerkungen zur velocitas motus ein, kommt zu Drehpunkt und Achse und endet mit einer Übersicht über die bis dahin bekannten Radantriebe. Auf sie kommt es hier an. Er beginnt mit Mensch- und Tierantrieb, geht über zu Wind, Dampf und Rauch, danach zum Wasserantrieb, aber auch zur Wirkung von Rauch im geschlossenen Raum als Antrieb von Spielrädern und behandelt als fünften Antriebsmodus Magneträder samt der Kompaßnadel. Doch damit hat es keineswegs sein Bewenden. Nach einer weiteren ,Meinung‘, die er von den fünf Antriebsmodi deutlich trennt, die aber genügend erprobt sei, fügt der Autor hinzu, weitere Räder liefen auch mit Hilfe sich verlagernden Quecksilbers, Wassers oder Sandes. Er habe freilich eine solche Demonstration noch nicht gesehen, das Quecksilberrad könne so wie beschrieben nicht laufen, und noch schlechter stehe es bei den Modellen mit sich verlagerndem Wasser oder Sand 11. Das weitere 15. Jahrhundert kennt eine längere Reihe von Modellen dieser Art. Bereichert werden sie noch durch die neuesten Formen von Pumpen oder archimedischen Schrauben. Besonders zahlreich sind sie bei Francesco di Giorgio Martini aus Siena, von dessen zahlreichen Skizzen von Perpetua mobilia-Modellen viele in gedruckte neuzeitliche Maschinenbücher des 17. Jahrhunderts übergegangen sind 12. Auch Leonardo da Vinci kannte die Zeichnungen Francescos und hat sie deutlich und kritisch, wenn auch ohne Nennung seines Namens, beurteilt. Ich verfolge diese Entwicklung hier aber nicht und betone um so mehr, daß schon aus dem 13. Jahrhundert Zeichnungen von Rädern vorliegen, die Konrad Gruter und sein Ratgeber aus Florenz gekannt haben dürften. Von arabischen Skizzenbüchern abgesehen 13 sind dies im westlichen Kulturbereich vor allem Zeichnungen in Handschriften von zwei französischen Autoren, beide aus der Pikardie stammend, dem Architekten Villard de Honnecourt und dem gelehrten Mechaniker und Physiker Pierre de Maricourt beziehungsweise Petrus 11
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Cf. Lantink-Ferguson, A Fifteenth-Century Illustrated Notebook (nt. 7), 42-50. Den besonderen Stellenwert dieses Traktates für die terminologische Bezeichnung der Maschinenelemente wird Horst Kranz, Aachen, im Rahmen seines Editionsprojektes zu den technischen Jugendwerken des venezianischen Arztes Johannes Fontana erörtern. Cf. einstweilen Kranz, Akademische Technik (nt. 7), 124. Cf. L. Reti, Francesco di Giorgio’s Treatise on Engineering and its Plagiarists, in: Technology and Culture 4 (1963), 287-298. Siehe auch V. Marchis, Nuove dimensioni per l’energia: le macchine di Francesco di Giorgio, in: P. Galluzzi (ed.), Prima di Leonardo. Cultura delle macchine a Siena nel Rinascimento, Florenz 1991, 113-120. Am wichtigsten in unserem Zusammenhang: H. Schmeller, Beiträge zur Geschichte der Technik in der Antike und bei den Arabern (Abhandlungen zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin 6), Erlangen 1922, 16-24. Dazu T. Schiöler, Roman and Islamic Water-Lifting Wheels, Odense 1973, 56-83; F. Sezgin, Wissenschaft und Technik im Islam, vol. 5, Frankfurt a. M. 2003, 60-61.
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Peregrinus, dem kein geringerer als Roger Bacon höchstes Lob gespendet hat 14. Villard (um 1235) zeichnet ein Gewichtsperpetuum (Rad mit ungleich verteilten Hämmern), Maricourt (1269), wie schon angedeutet, ein Magnetperpetuum. Ihre Ausführung im einzelnen muß uns hier nicht beschäftigen. Wichtig ist, daß beide Autoren im zugehörigen Text bereits weit verbreitete Bemühungen um solche Konstruktionen bezeugen. „In cuius inventione multos vidi vagos ac labore multiplici fatigatos“, sagt Maricourt ganz ähnlich wie später auch Gruter und Fontana. Villard hingegen betont, daß schon vor ca. 1235 zahlreiche Bemühungen erfolgt sein müssen, ein Rad ohne Antrieb aus sich selbst laufen zu lassen, entweder mit ungleich verteilten Gewichten (Hämmern) oder mittels schnell sich verlagerndem Quecksilber 15. Problematisch bleibt seine Formulierung „se sunt maistre despute“. Besagt sie, daß Werkmeister sich bereits um 1235 lange bemüht hatten, eine solche Rotation des Rades herbeizuführen, wie später, um 1270 entsprechend einer Nachricht aus England, sich zahlreiche Uhrmacher experimentell um den Bau einer Uhrhemmung bemühten und noch nicht zum Erfolg gekommen waren 16? Oder sind gelehrte Magister in der Diskussion um Pro14
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Die Zeichnungen hat jüngst Kleinert, Wie funktionierte (nt. 9), zusammengetragen. Roger Bacons Aussagen zu Petrus Peregrinus/Pierre de Maricourt sind zusammengestellt bei H. Balmer, Beiträge zur Geschichte der Erkennnis des Erdmagnetismus, Aarau 1956, 245-247. Ergänzend hier eine Stelle des Opus tertium, ed. J. S. Brewer, in: Fratris Rogeri Bacon opera quaedam hactenus inedita, vol. 1 (Rolls Series 15, 1), London 1859, Nachdruck 1965, 34-35: „oporteret habere mathematicos optimos, qui non scirent solum ea que translata sunt et facta, sed addere ad opera eorum, quod est facile bonis mathematicis. Non sunt enim nisi duo perfecti, scilicet magister Jo(hannes) London(iensis) et magister Petrus de Maharn-curia Picardus. Et ideo oportet quod mathematici boni haberentur, qui paucissimi sunt et rari nec reputantes pretium sui; nec possit aliquis habere eos nisi dominus papa aut alius magnus princeps, et maxime illum qui melior est omnibus (Petrus de Maricourt); de quo in Minori Opere satis scripsi et scribam suo loco.“ Auf p. 43 folgt die Klärung: „radices experientiarum quas nullus Latinorum potest intellegere nisi unus, scilicet magister Petrus.“ Sehr bedenkenswert hieran, daß nach Bacons Ansicht die wahren Forscher sich unter Wert verkaufen (nec reputantes pretium sui ). Beide Modelle hat auch Gruter. Der in pikardischem Altfranzösisch geschriebene Text Villards lautet: „Maint ior se sunt maistre despute de faire torner une ruee par li seule. Ves entci com en puet faire par mailles non pers u par vif argent.“ Neufranzösisch lautet die Stelle bei A. Erlande-Brandenburg [e. a.] (eds), Carnet de Villard de Honnecourt, XIIIe sie`cle. Introduction ` de nombreuses occasions les savants ont discute´ et commentaires, Paris 1986, 121 zu fol. 5: „A de la facX on de faire tourner une roue toute seule ; voyez ici comment on peut faire avec des maillets en nombre impair ou du mercure.“ Deutsche Übersetzung bei H. R. Hahnloser, Villard de Honnecourt. Kritische Gesamtausgabe des Bauhüttenbuches, 2. Aufl. Graz 1972, 24: „Gar manchen Tag haben Meister darüber beratschlagt, wie man ein Rad machen könne, das man aus einer ungeraden Zahl von Hämmern mit Quecksilber machen kann.“ Cf. ibid., 346-348; R. Bechmann, Villard de Honnecourt. La pense´e technique au XIIIe sie`cle et sa communication, Paris 1991, 248-251. Cf. L. Thorndike, Invention of the Mechanical Clock about 1271, in: Speculum 16 (1941), 242 sq. Dazu G. Dohrn van Rossum, Geschichte der Stunde, München-Wien 1992, 89 mit 343, nt. 125. Dieser Text ist zugleich das erste Zeugnis für eine ablehnende Stellungnahme gegenüber einem in genauer Entsprechung zur Himmelsbewegung ausgerichteten Uhrenautomaten: „Nec est hoc possibile quod aliquod horologium sequatur omnino iudicium astronomie secundum veritatem.“ Die Nähe von Uhrenbau und Perpetua mobilia in dieser Phase betont D. J. de Solla Price, On the Origin of Clockwork, Perpetual Motion Devices and the Compass, in: Contributions from the
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bleme der Bewegungslehre gemeint, wobei es speziell um die Frage eines Rades mit kontinuierlicher Bewegung aus sich selbst („par li seule“) gegangen wäre? Eine Lösung dieses Problems bietet sich vielleicht an, wenn wir jetzt in einem zweiten Teil die gelehrten Diskussionen um das Problem der kontinuierlichen Bewegung im 13. und 14. Jahrhundert betrachten. II. Die Diskussion in der mittelalterlichen Natur philosophie Das Problem der kontinuierlichen Bewegung ist im 13. und 14. Jahrhundert vielfältig, umfangreich und mit vielen begrifflichen Nuancen diskutiert worden, ähnlich wie das Problem von Bewegung und Unendlichkeit, von dem John Murdoch bereits bemerkt hat, daß mit ihm ein großer Teil der theoretischen Naturphilosophie angesprochen sei 17. Ich beschränke mich deshalb zwangsläufig auf wenige vorläufige Hinweise. Bereits Aristoteles bietet in den Büchern V-VIII seiner ,Physikvorlesung‘ ein sehr reiches Reflektionsmaterial zum Begriff der kı´nesis syneche´, des motus continuus und zahlreicher untergeordneter Sonderformen solcher Bewegung wie motus circularis, motus gyrativus, motus coaeternus, motus rectus, oppositus oder reflexus. Sorgfältig definiert der Philosoph die Vorbedingungen, unter denen allein kontinuierliche Bewegung möglich ist. Buch V, 3 enthält eine Begriffsbestimmung. Buch VI ist ganz der continuitas motus und seiner Teilbarkeit gewidmet. Buch VII, 1 bringt die berühmte Formel quod omne quod movetur ab aliquo movetur, eine Formel, die wohl zu unterscheiden ist von der im Mittelalter häufigen Variante ab alio movetur. VII, 2 zeigt nämlich, daß es in der aristotelischen Physik außer Fremdbewegtem durchaus auch Selbstbewegtes gibt: aut a se ipso aut ab alio. Antriebsformen der Bewegung ab alio sind Schub, Zug, Mitnahme und Drehung, lateinisch pulsio, tractio, vectio, vertigo. Das sind, abgesehen von der Drehung, alles lineare Bewegungen. Sie erfüllen nicht die Voraussetzungen für kontinuierliche Bewegung. Es bleibt somit nur die Kreisbewegung (motus circularis). Darum geht es in Buch VIII, gewidmet der perpetuitas motus, der ständig fortdauernden Bewegung, wohl noch nicht dem motus aeternus wie später bei den christlichen Autoren. Der Begriff „Ewigkeit der Bewegung“ in manchen Aristoteles-Übersetzungen wirkt deshalb nicht glücklich. Zentral ist hier insbesondere die Vorstellung des Ersten Bewegers als Ursache für alle Bewegung. Der Physikkommentar des Albertus Magnus (um 1260) vollzieht die Gedankengänge des Aristoteles mit größter Sorgfalt nach; durch Überschriften erleichtert er den Überblick. 18 Häufig ergänzt Albert den Aristotelestext durch Ausfüh-
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Museum of History and Technology (Smithsonian Institute), Bulletin 218, Washington 1959, 82-112, besonders 106. Cf. Murdoch, Infinity (nt. 1). Die folgenden Bemerkungen stützen sich auf die Ausgabe Alberti Magni Physica, vol. 2, ed. P. Hossfeld (Alberti Magni opera omnia 4, 2), Münster 1993.
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rungen, die er dem großen Kommentar des Averroes entnimmt, so etwa die Abgrenzung des motus continuus von der gegenläufigen Bewegung, dem motus reflexus (VIII, 3, 3), insbesondere dem motus continue reflexus, der wegen des beständigen Hin und Her und der damit verbundenen Haltemomente den Bedingungen des motus continuus keineswegs entspricht. Alberts Vorstellungskraft wirkt dabei zuweilen plastischer als die des Averroes, denn nicht nur erzwingt der motus continue reflexus auch für ihn immer wieder einen Ruhepunkt, gleichzeitig führt die gegenläufige Bewegung zum Frontalzusammenstoß. Die eingetretene Ruhe fällt dann sehr schmerzhaft aus, wie jeder weiß, der so etwas auf unseren heutigen Straßen erlebt hat 19. Aufschlußreich im besonderen Maße sind Alberts Digressionen zu Buch VIII der ,Physik‘. Hier spricht der Theologe Albert mit Verwendung der Begriffe aeternitas (Ewigkeit) und duratio (Dauer), que solius dei aeterni est. Wenn gefragt werde, ob eine solche Dauer auch auf zusammenstehende oder aufeinanderfolgende Teile (partes simul stantes vel sibi succedentes) auszudehnen sei, so antwortet Albert mit einem festen Nein 20. Später wird deutlich, daß solche duratio ein Sein secundum naturam darstellt, nicht ein Sein secundum tempus 21. Wichtig ist noch Alberts Haltung zu einer berühmten Stelle der ,Meteorologie‘ des Aristoteles: „Est autem mundus ille aliquatenus necessario conjunctus cum superioribus motibus [den Himmelsbewegungen], ita ut omnis eius facultas [dy´namis] inde regatur [kybernaˆstai]: ista enim prima censenda est causa quae cuivis motui initium praebet. Deinde sempiterna est haec et finem motus in loco non consequitur.“ 22 Zu allen Zeiten hat diese Stelle als Einfallstor astrologischer Thesen gedient und die Vorstellungen einer Einwirkung himmlischer Kräfte auf irdische Bewegungen unterstützt. Die Rubrik des vierten Kapitels zum ersten Traktat Alberts über die ,Meteorologie‘ scheint dem zu entsprechen: Quod omnium motus inferiorum est causatus a motu superiorum. Alberts Kommentar grenzt das Bedeutungsspektrum des Bewegungsbegriffes jedoch ein. Gemeint sind natürliche Veränderungen, die in der Tat dem Einfluß vor allem der Sonne unterliegen wie insbesondere die Pflanzenwelt, wozu Albert die Tierwelt sowie die Entstehung der Gesteine und Metalle noch hinzunimmt: „oportet quod motus rerum quae ordinantur a natura, quae sunt in terra sicut plantae et genitura lapidum et generatio animalium et minerarum metallicarum et quae sunt similia dictis, sit factus et causatus ex motu corporum superiorum in omnibus suis alterationibus naturalibus et suis mutationibus.“ 23 Im Physikkommentar des Thomas von Aquin erscheinen die Begriffe motus continuus und motus perpetuus beziehungsweise sempiternus weniger deutlich getrennt als bei Albert. Sie sind praktisch synonym. Nichts hindert, daß eine nicht 19
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Alberti Magni Physica, VIII, 3, 3 (nt. 18), 626. Cf. Aristotelis opera cum Averrois commentariis, vol. 4, Venedig 1562, Nachdruck Frankfurt 1962, 404-405. Alberti Magni Physica, VIII, 1, 1 (nt. 18), 549. Alberti Magni Physica, VIII, 1, 12 (nt. 18), 573, 50. Aristotelis opera omnia, Graece et Latine, ed. A. F. Didot, vol. 3, Paris 1856, 552-553. Alberti Magni Meteora, ed. P. Hossfeld (Alberti Magni opera omnia 6, 1), Münster 2003, 5. Nachfolgend bezieht sich Albert auf Buch VIII der ,Physik‘ und fährt fort: „Et quia sic se habent
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konträre Bewegung wie die Kreisbewegung bleibt. Zwar ist jede Bewegung begrenzt, doch kann eine bestimmte Bewegung durch Wiederholung (per reiterationem) kontinuierlich und perpetuus werden. Potentiell perpetuierliche Bewegung hat Priorität vor der, die es nicht sein kann, denn nach Zeit und Natur steht das Dauerhafte vor dem nicht Dauerhaften. Bezogen auf unser Problem, ergänzt Thomas in Buch VI bei der von Aristoteles erwähnten Kugel (sphaera) generell: das was „innerhalb des eigenen Ortes bewegt wird“. Zu ,De caelo‘ I. 3 präzisiert er jedoch: die Bewegung eines Rades sei zusammengesetzt aus Auf- und Niedergang (ex elevatione et depressione) und deshalb nicht eigentlich circulariter. Fast scheint es, als reagiere Thomas bereits auf die fortgeschrittenen Untersuchungen eines Gerhard von Brüssel zur zusammengesetzten Bewegung des Rades, die Anfänge der modernen Kinematik 24. Robert Grosseteste ist mit Aristoteles bezüglich der perpetuitas motus nicht einverstanden. Was der Philosoph dazu an Argumenten anführe, entspreche nur seiner eigenen Intention, sei aber falsch und häretisch 25. Milder klingt zunächst, was Grosseteste in seinem ,Hexameron‘ schreibt: Griechen wie Araber als Erklärer des Aristoteles stimmten zu der Stelle de perpetuitate motus et temporis et mundi überein. Wenn Grosseteste allerdings hinzufügt, id est eorum duracione ex utraque parte (Erde und Himmel) in infinitum, verwendet er einen anderen Begriff von Dauer als Albertus Magnus. Ich vermute, daß Grossetestes Schüler beziehungsweise Bewunderer Roger Bacon diesen Gegensatz vertieft hat. Bacon ist zutiefst von den Einflüssen der Himmelskräfte auf irdische Dinge überzeugt und beruft sich dabei mehrfach auf seine Kontakte zu dem berühmten Experimentator Pierre de Maricourt, dem Autor des schon erwähnten einflußreichen Traktates über den Magneten. An einer Stelle bezeichnet er diese Einflüsse auch als continuas et perpetuas 26. Neben den zahlreichen ausführlichen Kommentaren zur ,Physik‘ des Aristoteles 27 wären in Bezug auf die Breitenwirkung außerdem noch zahlreiche Kurzfas-
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motus superiorum et inferiorum, necesse est ut dicamus quod motus inferiorum finibilium quae apparent sicut motus elementorum, proveniant ex motu superiorum sicut ex sua causa.“ Thomas von Aquin, In octo libros De physico auditu sive Physicorum Aristotelis commentaria, ed. A. M. Pirotta, Neapel 1953, lect. 19, n. 2. Hier zitiert nach der Wiedergabe des Physikkommentars im Opus Thomisticum *http://www.corpusthomisticum.org/iopera.html+, wo man den Text zahlreicher anderer Stellen für motus circularis, continuus oder ähnliches per Suchfunktion abrufen kann. Cf. M. Clagett, The ,Liber de motu‘ of Gerard of Brussels and the Origins of Kinematics in the West, in: Osiris. Commentationes de scientiarum et eruditionis historia 12 (1956), 73-175. Dazu Breidert, Das aristotelische Kontinuum (nt. 2), 54. Cf. hierzu und zum Folgenden Roberti Grosseteste episcopi Lincolniensis commentarius in VIII libros Physicorum Aristotelis, ed. R. C. Dales, Boulder (Colo.) 1963, 146-147, zu Buch VIII. Fratris Rogeri Bacon opera quaedam hactenus inedita (nt. 14), 384. Cf. C. Trifogli, Oxford Physics in the Thirteenth Century (ca. 1250-1270), Leiden-BostonKöln 2000. Ein früher englischer Physikkommentator, angeblich der früheste von allen, schreibt zu Buch VI, pars 2, 6: „Si ergo continuitas motus est a continuitate spatii, et continuitas temporis a continuitate motus, tunc continuitas motus vel temporis non dependet a mobili. Et si hoc, tunc licet ponamus mobile indivisibile et non continuum, nihilominus erit motus continuus, et similiter tempus, et non ex indivisibilibus.“ In: Richardus Rufus of Cornwall, In Physicam Aristotelis, ed. R. Wood (Auctores Britannici
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sungen zu beachten. Martin Grabmann hat diese Literaturformen 1939 unter dem Titel „Methoden des Aristotelesstudiums im Mittelalter“ vorgestellt 28. Die meisten Abbreviationen vereinfachen und verstärken zunächst die Scheidung von himmlischer und irdischer Bewegung. Sie klären damit manches, schaffen langfristig aber ein starkes Hindernis gegen die Entstehung einer einheitlichen Physik, in der für Himmel und Erde die gleichen Gesetze gelten, wie es in der neuzeitlichen Physik seit Galilei, Kepler und Newton der Fall ist. Die um 1300 entstandene ,Abbreviatio‘ des Johannes Quidort von Paris macht das sehr deutlich: Die Ortsbewegung sei den Himmelskörpern und den Dingen hienieden (istis inferioribus) gemein, sed tamen differenter, denn im Himmel ist eine solche Bewegung regularis, perpetuus et continuus nach Aristoteles, hier unten dagegen (in istis inferioribus) ist die Bewegung nur örtlich, nicht regularis nec perpetuus 29. Fünf wichtige Autoren durchbrechen in unserem Zusammenhang die strenge Scheidung von irdischer und himmlischer Physik. Der eine ist Pierre de Maricourt 1269 in seinem Magnettraktat, wenn er als Physiker fragt: Woher erhält der Magnet seine natürliche Kraft, Eisen zu bewegen? Seine Antwort lautet: Diese Kraft stammt nicht aus dem mineralischen Umfeld, in dem der Magnet gefunden wird (irdisches Umfeld), auch nicht nur von den Polen der Welt, sondern vom ganzen Himmel. Der Magnet erscheint als Schnittstelle von himmlischer und irdischer Physik 30. Unterstützt wird Maricourt bei dieser Sicht der Dinge durch Roger Bacon. Der wünscht sich einen Himmelsglobus (offenbar aus magnetisiertem Eisen), der durch die tägliche Bewegung des Himmels mitgezogen würde. Das sei eine Herausforderung für einen wirklich großen Experimentator und scheine auch machbar, da ja vieles durch die Himmelsbewegung teilweise oder ganz mitgezogen werde wie zum Beispiel Kometen oder die Meeresflut 31. Vergleichbar äußert sich Nikolaus Oresme etwa 70 Jahre später in seinem berühmten ,Livre du ciel et du monde‘, f. 46a-c. Eine Bewegung kann einen
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Medii Aevi 16), Oxford 2004, 198. Die Autorschaft des Richard Rufus wird allerdings mit guten Gründen bestritten von S. Donati, The Anonymous Commentary on the Physics in Erfurt, Cod. Amplon. Q. 312 and Richard Rufus of Cornwall, in: Recherches de the´ologie et philosophie me´die´vales 72 (2005), 232-362. Cf. dort besonders 325: „Sed motor qui non movet se per accidens, movet(ur) circulariter et non ad aliquem terminum, ut ibi acquiratur aliquid, sed in eodem semper ut ibi conservetur quod habet, et propterea perpetue.“ M. Grabmann, Methoden und Hilfsmittel des Aristotelesstudiums im Mittelalter, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 1939, Heft 5, nachgedruckt in: id., Gesammelte Akademieabhandlungen, vol. 2, Münster 1979, 1519 sqq. Cf. Grabmann, loc. cit., 1519. Petrus Peregrinus de Maricourt, Opera: Epistola de magnete, Nova compositio astrolabii particularis, ed. L. Sturlese/R. B. Thomson, Pisa 1995, 78-80: „Unde magnes virtutem naturalem quam habet recipiat?“ Deutsche Übersetzung bei Balmer, Erdmagnetismus (nt. 14), 269-271. Cf. auch Johannes von Saint-Amand, Antidotarium Nicolai, Venedig 1508, fol. 351rab, angezeigt und abgedruckt von L. Thorndike, in: Isis 36 (1946), 156-157: „in adamante est vestigium orbis.“ Roger Bacon, Epistola de experimentis mirabilibus, in: Fratris Rogeri Bacon opera quaedam hactenus inedita (nt. 14), 537. Cf. Balmer, Erdmagnetismus (nt. 14), 246-247.
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Anfang haben und trotzdem endlos fortdauern. Der Bezug auf das Rad einer Uhr (horloge) läßt keinen Zweifel, daß irdische Physik gemeint ist. Bestätigt wird das durch die weitere Angabe, ein solches Rad könne vom Uhrmacher ,artificialment ou par art‘ hergestellt werden. Deutlich allerdings am Schluß der Vorbehalt, eine solche ,perpetuite´ du mouvement‘ sei nur möglich, wenn die Vorstellung (fantaisie) der Experimentatoren sich als wahr erweisen sollte 32: „Or weul je monstrer apres que c’est chose possible, quant est de soy et a ymagynacion sanz contradiction, que aucun mouvement ait commencement et dure sanz fin. Et premierement de mouvement circulaire: je pouse [pose] que une roue de quelconque mateire soit aussi comme la roe d’une horloge et soit signee par .a. en son centre et soit appellee .a. Item soit une autre mendre roe fichiee en la premiere aussi comme en un epicicle et soit signee par .b. en son centre et soit appellee .b. Item, soit une tierce roe fichiee en la seconde et ait son centre en la circonference de la seconde, aussi comme la lune est en son epicicle, et soit signee par .c. Item soit la quart*e+ hors ces .iii. et soit ainssi dispousee que la roe .c. puisse touchier a elle et soit signee en son centre par .d. Item, je pouse que la roe .a. soit meue environ son centre et que .b. soit meue au mouvement de .a. en quoy elle est fichiee, et aveques ce que .b. soit meue de son propre mouvement environ son centre, et que .c. n’ait aucun mouvement propre mais soit meue au mouvement de .a. et au mouvement de .b. Et en ceste maniere est la lune en son epicicle. Item, je pouse *que+ la roe appellee .d. soit tellement atiutee oudispousee par contrepoys et autrement que elle soit encline a estre meue, et que elle ne soit meue jusques a tant qu’elle soit touchiee par la roe .c. et que par ce touchement soit oste´ l’empeesche32
„Als Möglichkeit aus sich selbst wie als Gedankenspiel ohne Widerspruch möchte ich nun zeigen, daß eine Bewegung einen Anfang haben und ohne Ende fortdauern kann. Erstens setze ich bei der Kreisbewegung voraus, es sei ein Rad aus beliebigem Material wie das Rad einer Uhr, in der Mitte mit .a. bezeichnet und so auch .a. genannt. Ein kleineres Rad sei an diesem ersten befestigt wie auf einem Epizykel und heiße .b. An ihm fixiere man ein drittes Rad, sein Zentrum liege auf dem Umkreis des zweiten wie der Mond auf seinem Epizykel, es heiße .c. Abseits dieser drei Räder plaziere man ein viertes, welches in das Rad .c. eingreifen kann, in seiner Mitte sei es mit .d. bezeichnet. Ferner setze ich voraus, daß Rad .a. in seiner Mitte angetrieben wird und .b. sich entsprechend zu .a. bewegt, mit dem es verbunden ist, daß aber .b. auch aus eigener Bewegung um seinen Mittelpunkt läuft, während .c. keine Eigenbewegung kennt, vielmehr sich der Bewegung von .a. und der von .b. anschließt. In dieser Weise verhält sich der Mond auf seinem Epizykel. Ebenfalls setze ich voraus, daß Rad .d. durch ein Gegengewicht und anders unterstützt oder befähigt wird, sich zu bewegen, und andererseits erst bewegt werden kann, wenn Rad .c. in es eingreift und durch diesen Kontakt die Hemmung entfällt und .d. dann eine regelmäßige Bewegung aufnimmt.
Mittelfranzösischer Text: Nicole Oresme, Le livre du ciel et du monde, ed. A. Menut/A. Demony, Madison-Milwaukee-London 1968, 200-202. Englische Übersetzung: E. Grant (ed.), Nicole Oresme and the Kinematics of Circular Motion. Tractatus de commensurabilitate et incommensurabilitate motuum celi, Madison-Milwaukee-London 1971, 38-39, nt. 59.
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ment, et que .d. commence estre meu*e+ regulierement. Et semblable chose ou pres pourroit estre faite artificialment ou par art. Item, je pouse que les .ii. mouvements de .a. et de .b. soient inconmensurables et reguliers et perpetuels. Mais telle perpetuite´ de mouvement ne porroit estre faite par art se la fantaisie d’aucuns n’estoit vraye qui ont aucune foys tempte´ et cuidie´ faire une chose appellee rota viva.“
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Etwas ähnliches könnte auf eine künstliche oder technische Weise bewerkstelligt werden. Dabei setze ich ebenfalls voraus, daß die beiden Bewegungen von .a. und .b. inkommensurabel, regelmäßig und perpetuierlich erfolgen. Eine solche perpetuierliche Bewegung würde technisch nur machbar, wenn sich die Vorstellung als wahr erweist, die manche schon mehrfach erprobt und als rota viva bezeichnet haben.“
Der vierte hier zu nennende Autor ist der Verfasser der fälschlich unter dem Namen des Marsilius von Inghen veröffentlichten ,Questiones subtilissime‘ zum achten Buch der ,Physik‘ des Aristoteles. Er fragt dort secundo, ob die Welt ewig sei und eine Bewegung ewig sein könne wie der motus celi. Drittens, ob von dem ewigen und unwandelbaren Motor eine actio nova ausgehen könne. Am Ende kommt er zu einer rota perpetua, einem Rad, das sein Motor nicht drehen könne wegen eines Hinderungsgrundes (impedimentum). Wegen der Inkommensurabilität der Himmelsbewegungen könne es aber eintreten, daß eine Sphäre oder Konjunktion näher an dieses Rad herankomme als je zuvor in der gesamten ewigen Zeit, und aus der Annäherung (approximatione) wiederum könne es geschehen, daß der Hinderungsgrund entfiele: Das Rad würde dann vom Himmelsgewölbe gezogen und würde sich drehen (moveretur) 33. Woher diese Überlegung stammt, bleibt zu prüfen. Sie muß nicht vereinzelt sein, wahrscheinlich stammt sie aus astrologischen Quellen 34. Die erwähnte Inkommensurabilität der Himmelsbewegungen war die bevorzugte, aber nach seinen eigenen Worten nicht streng nachweisbare Ansicht des Nikolaus von Oresme, der über dieses Thema einen vorzüglich zu lesenden Traktat geschrieben hat 35. Am Ende sei noch ein lesenswertes unediertes Kompendium der gesamten Philosophie des Aristoteles genannt, ein ,Tractatus utriusque philosophie‘ vom Ende des 14. Jahrhunderts. Auf dieses Werk machte erstmals 1931 Lynn Thorn33
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Questiones subtilissime Johannis Marcilii Inguen super octo libros phisycorum…, Lyon 1518, Nachdruck Frankfurt a. M. 1964, f. 71rb-va: „Tertio […] tunc posito quod esset una rota perpetua cui motor esset applicatus non potens ipsam movere propter impedimentum, et propter incommensurabilitatem motuum celestium potest provenire, quod aliqua sphera aut aliqua coniunctio esset propinquior illi rote quam unquam fuit aliqua alia toto tempore eterno; et ex approximatione posset contingere quod impedimentum removeretur et moveretur rota. […] hoc est impossibile nisi mediante motu eterno precedente.“ Cf. St. Jenks, Astrometeorology in the Middle Ages, in: Isis 74 (1983), 185-210, besonders 185, wo auf eine Stelle der ,Chronique du religieux de Saint-Denys‘ zur Zeit König Karls VI. (Chronique du religieux de Saint-Denys: contenant le re`gne de Charles VI, de 1380 a` 1422 …, vol. 1, ed. L. F. Bellaguet, Paris 1839, 394-396) verwiesen wird: Hofastrologen empfehlen einem Duellisten, seine Waffen und Rüstung unter einer besonders günstigen planetaren Konstellation herstellen zu lassen. Cf. auch L. Thorndike, History of Magic and Experimental Science, vol. 4, New York 1934, 590. Oresme, Tractatus de commensurabilitate et incommensurabilitate motuum celi (nt. 32).
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dike aufmerksam; 1974 ermittelte Evencio Beltra´n auch den Namen des Autors: Er lautet Jacobus Magni beziehungsweise Jacques Legrand. Im dritten Buch, gewidmet der Psychologie (,De anima‘), bemerkt dieser, einige nähmen an, alles Selbstbewegte sei beseelt (animatum). Dann, so wendet er ein, müßten jedoch auch die Himmel beseelt sein, quia continue et naturaliter moventur. Entsprechend müsse dann alles beseelt sein, Flüsse wie alles, was ständig lokal bewegt werde. Auch künstlich (artificiose) könne dann eine Bewegung in einer Sache verstetigt werden (perpetuari ). Selbst für den nicht sinnlichen, unbeseelten Bereich, so behaupteten viele, sei ein solcher motus perpetuus gefunden worden. Er selbst, der Autor dieses Kompendiums, habe ein Rad mit Quecksilber (argento vivo) gefüllt. Solange er es einer Wärmequelle aussetzte (corpori calido), habe das Rad sich kontinuierlich gedreht 36. Die Ergebnisse dieser vorläufigen Untersuchung lassen sich in fünf Sätzen zusammenfassen: 1. Das Problem des motus continuus, beziehungsweise eng damit verbunden des motus perpetuus, wird im 13. und 14. Jahrhundert experimentell wie theoretisch eifrig und vielfältig untersucht. 2. Theorie und Praxis, Physik und Mechanik, sind bei der Erörterung der Frage nach einem solchen motus keineswegs hermetisch getrennt, wie besonders Maricourt, Roger Bacon, Gruter und Johannes Fontana zeigen, deutlich auch Jacobus Magni. Beide Bereiche wirken aufeinander ein, stehen im Austausch. 3. Die hier erörterten Zeugnisse sind mit Sicherheit noch unvollständig. Es würde sich also lohnen, dem Thema in einer umfangreicheren Untersuchung nachzugehen. 4. Einen Bezug zur Gegenwart bieten die seit 1957 um die Erde kreisenden Erdsatelliten. Im mittelalterlichen Sinne könnten sie selbstverständlich als Repräsentanten von motus continuus herausgestellt werden. Freilich wäre es perpetuierliche Bewegung mit einem Anfang, wie bei Nikolaus von Oresme zugestanden. Über die Möglichkeit solcher Bewegung wurde eifrig gestritten. 5. In der Frage, wer mit den disputierenden Meistern bei Villard de Honnecourt gemeint sein dürfte, Mechaniker beziehungsweise Techniker oder Theoretiker, hat sich keine eindeutige Lösung ergeben. Der neu entdeckte Text des Johannes Fontana legt nahe, daß beide Gruppen, philosophi ebenso wie architecti, an der Diskussion, Planung und Konstruktion solcher Modelle beteiligt waren 37.
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Cf. den Anhang. Konrad Gruter von Werden, De machinis (nt. 3) erwähnt in seinem Kapitel 19 kurz eine andere bewegende Wirkung der Wärme, will das Thema Bewegung durch Wärme aber nicht näher behandeln. Man solle nur nicht glauben, daß er es nicht kenne. Mehr zum Antrieb durch Wärme beziehungsweise Dampf hat ein Traktat des früheren 15. Jahrhunderts: Lantink-Ferguson, A Fifteenth-Century Illustrated Notebook (nt. 7). Cf. nt. 7.
Motus continuus und motus perpetuus in der mittelalterlichen Technik und Physik
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Anhang Ein unediertes ,Compendium utriusque philosophie‘ des Jacobus Magni Diese lesenswerte Zusammenfassung der gesamten Naturphilosophie des Aristoteles behandelt unter Berücksichtigung jüngerer mittelalterlicher Autoren in Buch I Metaphysik und Universalien, in Buch II die wichtigsten Grundlagen der Physik nach den Vorsokratikern, Platon und Aristoteles, in Buch III die Psychologie, in Buch IV Fragen der neueren mittelalterlichen Physik und Alchemie, aber auch Kritik an den Modernen (Kap. 23), in Buch V die Geologie und Meteorologie, in Buch VI die Astronomie. L. Thorndike besprach dieses Kompendium noch als anonymes Werk (The Philosophical Review 40 (1931), 317-340; übernommen in: id., A History of Magic and Experimental Science, vol. 3, New York 1934, 568-584; Kapitelüberschriften ibid., 761-766). Bald darauf gab M. Grabmann, Mittelalterliches Geistesleben, vol. 2, München 1936, 404, nach Thorndike den kurzen Hinweis, daß in den naturwissenschaftlichen Teilen, die Aristoteles noch nicht abgedeckt hatte, ausführlich auf Albertus Magnus zurückgegriffen sei (Teile aus Alberts ,De mineralibus‘ sind in der Tat wörtlich übernommen). Seitdem scheint die weitere Erschließung des Werkes lange nicht mehr vorangekommen zu sein. W. Senko, Repertorium commentariorum medii aevi in Aristotelem latinorum quae in Bibliothecis publicis Parisiis asservantur, Warschau 1982, 114-116, zitiert Teile der Praefatio und notiert jeweils Incipit und Explicit der sechs Bücher. Wichtig ist vor allem die Entdeckung des Autors durch E. Beltra´n, Jacques Legrand O.E.S.A. Sa vie et son œuvre, Augustiniana 24 (1974), 132-160 und 387-414, hier 395 sq., 409. Beltra´n fand eine zweite Handschrift des Werkes, in Genua, Bibl. De Berio, CF 53, mit Widmung an Michel de Cre´ney, Bischof von Auxerre und Beichtvater König Karls VI. von Frankreich. Der Autor war dieser Handschrift zufolge Jacobus Magni/Jacques Legrand (ca. 1360-1415). Beltra´n diskutiert auch das Verhältnis des Kompendiums zu Jakob Magnis berühmterem Werk, dem ,Sophilogium‘, das der Autor, wie es scheint, unmittelbar im Anschluß an das für Studenten bestimmte Kompendium begonnen hat (cf. infra nt. 39). Ich gebe hier die bemerkenswerte Einleitung zum Gesamtwerk sowie den Anfang von Buch III mit dem überraschenden Hinweis auf ein eigenes Experiment des Autors zum Perpetuum mobile. Thorndike kommentiert: „The device is probably the same as that for perpetual motion which Drebbel showed to James I. It does not seem to our author that it might be utilised as a thermometer, or that it is not really a perpetual motion“ (Thorndike, History, 578). Die Namen der frühen griechischen Naturphilosophen, die im ersten Kapitel von Teil III angesprochen werden, sind gegenüber dem Text von Aristoteles, ,De anima‘ I leicht vermehrt. Der Autor zitiert offenbar frei, mag aber auch einen der zahlreichen Kommentare zu ,De anima‘ konsultiert haben. Andere Abweichungen sind angemerkt (nt. 42-43). Thorndike bewertet die Qualität des Werkes als „a better synthesis than such earlier compilations as Alexander Neckam’s De naturis rerum,
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Thomas of Cantimpre´’s De natura rerum, Bartholomew of England’s De proprietatibus rerum, or Vincent of Beauvais’ Speculum naturale.“ Die hier allein benutzte Handschrift Paris, Bibliothe`que nationale, ms. lat 6752, ist in ihrem Originaleinband erhalten. Sie gehörte dem Juraprofessor Jean Valin in Angers und später, 1539, dessen Großneffen Rene´ Valin. Für wertvolle Hilfe bei dieser Recherche danke ich Silvia Donati, Köln-Bonn, für Beratung bei den Anmerkungen Karl-Leo Noethlichs, Aachen.
Prefatio (f. 4r) Quia textus Aristotelis nimia prolixitate verborumque difficultate sepius inutili iuvenum proficientium studia retardant temporaque detinent nimium, ideo congruum apparet ipsius Aristotelis aliorumque philosophorum sententias summatim colligere, ut sub brevi compendio que prius extensa erant facilius comprehendantur. Verumque sicut extrahi potest ex doctrina Aristotelis, triplex est philosophia, quarum prima nuncupata est philosophia naturalis que alio nomine Phisica dicitur, que considerat res coniunctas motui ut patet 8∞ Metaphisice. Alia est philosophia dicta moralis, cuius consideratio quandoque est de virtutibus et sic vocatur Ethica, quandoque vero considerat de regimine rei p(ublice) et sic vocatur Politica, quandoque vero tractat de regimine domus sive familie et sic appellatur Yconomica. Quandoque etiam consideratur de regimine regum et principum, et sic a quibusdam vocatur Rethorica, condistinguendo tamen a Rhetorica que inter artes liberales numeratur. Et conformiter ad predicta quatuor Aristoteles libros fecit, scilicet Ethicorum, Politicorum, Yconomie et Rhetoricorum. De hac enim philosophia loquens Seneca philosophus moralis scribens ad Lucillium sic dicebat 38: „Philosophia, inquit, scilicet moralis, animam format et fabricat, vitam disponit actionesque regit atque agenda et omittenda demonstrat.“ Insuper Tertia philosophia est metaphisica, quam Aristoteles Primam philosophiam sepius commemorat, que ceteris scientiis humanis honorabilior atque communior fore perhibetur. Quia tamen metaphisica et philosophia naturalis sunt scientie speculative, philosophia autem moralis practica est, ideo videtur congruum philosophiam moralem a dictis duabus philosophiis in tractatu separare. Quapropter de ipsa nunc tractare disponens, de aliis duabus presens opusculum compegi 39. Nam considerationes phisice et metaphisice cum sint
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Seneca, Epistolae ad Lucilium 16, 3. In der Hs. Genua lautet der zweite Teil des Satzes offenbar de istis duabus philosophiis prius tractari oportet (Beltra´n, Jacques Legrand, 395). Zuerst kämen also Metaphysik und Physik, danach (nunc tractare disponens) die künftig im ,Sophiloquium‘ zu behandelnde Moralphilosophie, die der Autor
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speculative, possunt adunari, quinimo difficulter possunt ab invicem separari, quando precipue materia aliqua debet profundari. Nam cum philosophus naturalis considerat de motu locali utrum sit successivus, bene etiam congrueret investigare quid sit talis motus et utrum distinguatur a re mobili. Prima tamen consideratio pertinet philosophie naturali et secunda metaphisice. Item ad philosophiam naturalem spectat aliquo modo tractare de motu celi. De quo cum agitur, satis expediret videre, an talis motus causetur a prima causa immediate vel ab intelligentiis. Prima tamen consideratio est naturalis, secunda metaphisicalis. Unde Aristoteles in suis pluribus passibus philosophie naturalis multas metaphisicales venatur (?) conclusiones et e contrario in metaphisica phisicas sepius veritates scrutatur. Licet ergo phisica et metaphisica distinguantur, verumtamen communes ipsarum frequenter in processu mixtim notabuntur, prout materie occurenti videbuntur pertinere. Nec tamen exinde scientiarum predictarum causabitur confusio, quia quacunque visa conclusione in processu cognosci facile erit, ad quam pertineat scientiarum predictarum, his signanter attentis que capitulo primo sequenti dicentur, ubi patebit qualis sit ipsarum consideratio. Tractatum ergo presentem utriusque philosophie compendium merito nuncupavi. Ad cuius compositionem ultra ea que dicta sunt duo me concitaverunt. Primum quod plures sunt passus Aristotelis quibus sacra dogmata contradicunt. Quia ergo veritas veritati non contradicit, theologia autem pariter et philosophia scientie vere sunt, oportet dicere ergo in dictis passibus Aristotelem philosophum non fuisse, aut saltem aliter quam verba sonant intellexisse. De aliis autem philosophis parit(er) dicendum esset. Ad vitandum ergo talem controversiam declarabitur, qualiter dicti passus conformiter ad veritatem fidei intellegi debeant, quia philosophorum hebetudo in tantum crevit, ut affirmare audeant mundum eternum secundum phisicam veritatem et mundum creatum secundum theologicam. Itaque veritatem veritati contraire estimant. Quibus convenienter necesse est dicere philosophiam esse fallentem, quam tamen veritatem appellarunt, vel theologiam ipsos repudiare oportet, quam tamen in fide professi sunt. Horum ergo philosophia debet potius mentis ineptia quam philosophia vocari. Secundum motivum fuit quia plures in philosophia modernis temporibus tractant materias, de quibus Aristoteles nihil vel parum scripsit. De quibus non solum tractandum apparet, quinimo de aliis quibusdam de quibus mentionem modicam vel nullam legimus. Opus ergo presens utile apparet, cuius discisio per libros fiet. Libri quoque (in) capitula dividentur, ut moris est.
auch schon in seiner lateinischen Kurzfassung des ,Reductorium morale‘ des Pierre Bressuire angesprochen hatte (cf. S. Lefe`vre, Art. ,Jacques Legrand‘, in: G. Hasenohr/M. Zink (eds.), Dictionnaire des Lettres francX aises, Paris 1992, 733-734). Cf. auch E. Rauner, Art. ,Jacobus Magni‘, in: Lexikon des Mittelalters, vol. 5, München 1991, 259, der vermerkt, daß Magni zahlreiche seiner Exzerpte aus der antiken Literatur im ,Sophilogium‘ aus Vinzenz von Beauvais oder Johannes Gallensis (gest. 1285) übernommen habe.
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(f. 51r) Sequitur tertius liber (de Anima): Primum capitulum de inquisitione anime secundum antiquos Quidditatem anime veteres philosophi variis modis inquisiverunt. Quidam enim per motum, alii vero per cognitionem. Illi enim qui per motum animam investigarunt dixerunt omne corpus esse animatum quod per se movetur, et convenienter opinati sunt quod anima nihil erat nisi quedam virtus motiva. Huius opinionis fuit Tales Milesius, unus de septem sapientibus Atheniensium qui etiam credidit lapidem adamantinum esse animatum eo quod motum per se causabat, quia ferri naturaliter et de se dictus lapis est attractivus 40. Referunt tamen aliqui quod predicta opinio fuit ipsius Millesii, quia dicunt quod Tales in suis doctrinis potius fuit moralis quam naturalis. Verum est tamen quod in textu nove translationis 41 Tales fertur fuisse dicte opinionis. Unde antiqui animam esse virtutem motivam in tantum crediderunt, quod Minervam deam seu statuam Atheniensium quam teste Valerio Amphitriades consecravit 42 animatam putarunt eo quod per se moveri videbatur. Narrat enim Aristoteles primo de Anima, quod Philippus Didascalus Minervam statuam mercurio seu vivo argento replevit viasque statuit ligneas per quas homines Minervam adibant 43. Artificioseque sic ordinatum erat quod transeuntes suo pondere argentum vivum comprimebant et exinde Minerva movebatur. Huius opinionis fuit Democritus, Leucippus, Archelaus, Pytagoras et alii plures. Posuit enim Democritus quod anima erat quedam virtus motiva que constabat ex athomis corporibus, que quidem corpora dicebat esse figure sperice et nature ignee 44. 40
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Cf. Aristoteles, De anima I. 2, 405a19-21: „Auch Thales scheint die Seele als etwas Bewegendes aufgefaßt zu haben, wenn er sagte, der Magnet habe eine Seele, weil er das Eisen anzieht.“ Die ältere Übersetzung des Iacobus Venetus liest (Alberti Magni De Anima, ed. C. Stroick (Alberti Magni opera omnia 7, 1), Münster 1968, 23, 65 sq.): „Videtur autem et Thales, ex quibus reminiscuntur, motivum quoddam animam opinari, si vere lapidem dicit animam habere, quoniam ferrum movet.“ Gemeint die Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke, vor 1272 (Thomas von Aquin, Sentencia libri de anima (Thomae de Aquino opera omnia iussu Leonis XIII edita 45, 1), Rom-Paris 1984, 22): „Videtur autem Thales, ex quibus reminiscuntur, motiuum aliquid animam opinari, siquidem dixit lapidem animam habere, quoniam ferrum mouet.“ Valerius Maximus oder Valerius Flaccus. Ein Amphitriades (Lesung?) erscheint bei keinem von beiden. Aristoteles, De anima I. 6, 406b17-19 spricht nicht von Minerva, sondern von Aphrodite. Der Komödiendichter Philippos erkläre, Daidalos habe die hölzerne Aphrodite sich dadurch bewegen lassen, daß er ihr Quecksilber eingoß (infuso argento vivo). Die merkwürdige Holzkonstruktion als Zugang zur Statue der Minerva könnte aus einem Kommentar zu ,De anima‘ stammen oder aus den nt. 39 genannten mittelalterlichen Autoren, Vinzenz von Beauvais beziehungsweise Johannes Gallensis, denen ich hier nicht mehr nachgehe. In jedem Falle ist Quecksilber nicht komprimierbar (nächster Satz). Cf. Aristoteles, De anima I. 3, 406b20-22: Demokrit sagt, daß die unteilbaren Kugeln (Atome), die ihrer Natur nach nie in Ruhe verbleiben, den ganzen Körper mit sich ziehen. Auf das Verhältnis von Seele und Feuer nach Demokrit geht Aristoteles schon früher (I. 2, 403b31 sq.) ein.
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Cuius positionis ratio erat quia dicebat quod ex quo anima erat virtus motiva, convenienter debebat componi ex rebus maxime motivis. Et quia figura sperica ratione sue rotunditatis aptissima est ad motum, ignis etiam ratione sue levitatis valde motivus est, credidit igitur ex athomis predictis animam debere componi. Item quod videbat vitam consistere in calido, ideo animam nature ignee dixit. Alii vero non per motum, sed per viam cognitionis quidditatem anime inquisierunt. Dicebant igitur quod quia anima omnia cognoscebat seu cognoscere poterat, ideo ex principiis omnium composita erat. Unde Empedocles quia posuit quatuor elementa esse principia naturalium, ideo convenienter posuit animam constare ex quatuor elementis 45. Dyogenes vero posuit aerem principium rerum et convenienter animam ex aere factam dicit. In cuius probatione animalium inspirationem et respirationem adducebat 46. Eraclitus autem vaporem ponebat principium rerum, animam igitur ex vaporibus constare dicebat 47. Plato insuper animam ex numeris dicebat constare et in numerorum armonia conservari 48. Nam ut precedenti libro dictum est, Plato posuit unitatem principium formale rerum; principia vero materialia posuit magnum et parvum, ut dicitur primo Phi(lebi) 49. Verum est tamen quod, ut dicitur primo de Anima, Plato etiam posuit idem diversum partibile (vel?) impartibile esse principia rerum 50. Quicquid sit tamen communior narratio que de ipso habetur, est quod posuit animam in armonia numerorum consistere. Supervenerunt insuper medici dicentes animam ex sanguine constare, eo quod sanguine deficiente vitam experti sunt finiri. Huius opinionis fuit Ypocras et eius sequaces. Anaxagoras vero intellectum impassibilem et immortalem dixit, sed intellectum ab anima differre credidit 51. [Cap. 2:] De impugnatione predictarum opinionum Predictas opiniones impugnare facile est. Eadem enim motiva que in libro precedenti fiebant ad probandum quod in ponendo principia defecerunt, fieri possunt cum dicunt ex talibus principiis animam constare quia similia principia semper presupponunt. Item quicunque dicunt animam constare ex corpore vel ex corporibus, puta ex athomis vel ex elementis vel sanguine, isti convenienter habent dicere quod anima est corpus, et convenienter corpus est forma corporis. Item quia forma et suum corpus sunt simul in eodem loco, convenienter etiam duo corpora erunt simul in eodem loco. Cuius oppositum patet 4∞ Phi(lebi), 45
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Cf. Aristoteles, De anima I. 2, 404b11-12: „So läßt Empedokles die Seele aus allen Elementen bestehen.“ Cf. Aristoteles, De anima I. 2, 405a21-22. Cf. Aristoteles, De anima I. 2, 405a25-26. Cf. Aristoteles, De anima I. 3, 406b28-29. Nicht bei Aristoteles, De anima I. Cf. Aristoteles, De anima I. 3, 407a18-19. Vielleicht zu verbessern in non credidit. Nach Aristoteles, De anima I. 2, 404a25-27 setzte Anaxagoras Seele und Vernunft gleich.
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patebit etiam in processu. Ut tamen impugnationis aliquis ordo teneatur, ideo mihi apparet ostendendum, in quibus predicte opiniones defecerunt. Et ut patet ex earum recitatione, quatuor fuerunt false suppositiones in quibus suos errores fundaverunt. Supponebant enim aliqui quod omne quod per se movet vel movetur est animatum. Ex quo sequitur celos esse animatos quia continue et naturaliter movent. Item dicere tenebantur flumina esse animata quia per se et naturaliter moventur. Item oportet eos dicere omnia calida et omnia frigida esse animata, et convenienter caliditas et frigiditas sunt anime corporum. Sed contraria probat quia s(ecundum) eos omne quod per se movet aut movetur animatum est, sed omne calidum aut frigidum per se movet aut movetur. Quod patet quia omne corpus calidum corpus circumstans alterat et rarefacit, et convenienter movet non solum alterative imo localiter, quia omne quod rarefit saltem s(uas) partes localiter movet. Nam rarefactio nihil aliud est nisi partium elongatio. Similiter de corpore frigido posset argui, cuius virtus est condensare. Ex quibus sequitur quod ferrum ignitum est animatum et aqua frigida et sic de aliis. Item ex predicta suppositione sequitur quod omne corpus est animatum, quia omne corpus existens in concavo orbis Lune continue alteratur et consequenter rarefit vel condensat, licet modicum percipiamus. Sequitur igitur quod res quelibet semper localiter movetur et convenienter s(ecundum) eos quelibet res est animata. Item sequitur quod si motus artificiose in aliqua re posset perpetuari, convenienter per artem res aliqua posset animari. Et quia animare opus est nature, sequitur quod nulla arte potest animari. Item licet perpetuitatem motus non experiamur in re non sensitiva et inanimata, tamen plurium relatione fertur huiusmodi motum artificialiter inventum fuisse. Item exemplum est quod rota argento vivo repleta continue movetur, dummodo eius pars inferior corpori calido opponatur, et istud expertus fui. Cuius rationem facile est assignare, nam argentum vivum quod est inferius rarefit et ideo ratione levitatis sursum fertur et sic in infinitum. In tali tamen casu rota huiusmodi non est animata. Secunda suppositio fuit aliorum investigantium quidditatem anime per cognitionem. Supponebant enim quod nulla res poterat ab anima cognosci, nisi in anima esset aliquid cognoscende rei, quia dicebant quod cognitio fieri non poterat nisi a simili. Hec autem suppositio falsa est eo modo quo intelligebant, quod similitudo rei per quam cognoscitur res non est aliquid rei cognite, verbi gratia similitudo albedinis existentis in mente So(cra)tis non est albedo nec aliquid albedinis. Alias enim dicere oporteret quod anima esset quantitative infinita aut saltem maxima. Nam si de qualibet re quam cognoscit animus aliquid sit in anima realiter, sequitur convenienter quod in anima erunt tot partes quantitative et incomunicantes, quot sunt res que ab anima cognoscuntur. Quantumcunque tales partes essent parve, anima tamen maxima redderetur eo quod essent incommunicantes tales partes. Quia igitur anima est sign(ific)anter (?) cognitiva, est indivisibilis, predictorum igitur suppositio falsa. Item licet anima bruti sit cognitiva sensitive, inconveniens esset tamen dicere ipsam quantitatem maxi-
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mam, quod tamen dicere oporteret, ut prius arguebatur, quia simile argumentum de quacumque anima fieri potest cognitiva. Tertia suppositio fuit Anaxagore ponentis intellectum separatum distinctum ab anima. Huius autem suppositionis falsitas apparet quia intellegere actus vitalis est. Si ergo homo intelligat, oportet quod hoc fiat mediante intellectu sibi unito vitaliter, et intellectus est anima. Nam ab unione tali anima est dicta anima, et quia non sunt ponende due anime, congruum est dicere quod idem est intellectus et anima. Quarta suppositio fuit qua dicebant illud debere dici animam sine quo animal vivere non potest. Hec autem suppositio falsa est, nam totum non potest esse sine partibus nec effectus sine causa naturaliter ipsum conservante. Et tamen pars non est totum nec causa est effectus. Sicut etiam in proposito diceremus, quod vita animalis sine sanguine et simile (?) conservari non potest, et tamen anima non est sanguis neque aer, quod tamen antiqui crediderunt ut predictum est.
Bewegung im Buch der Natur: Entzug und Rekonstruktion der Dauer bei Johannes Buridanus und Francesco Petrarca * Barbara Ventarola (Köln) I. Methodische Annäher ung en an das Spätmittelalter Das Œuvre Francesco Petrarcas stellt ein besonderes Exerzierfeld für historische Forschungen - speziell auch zum Problem der Dauer - dar. Geprägt durch zahlreiche Ambivalenzen und Inkonsistenzen, ist es vor allem einer Poetik der Pluralität verpflichtet, die mit unzähligen Intertexten und Semantiken der Dauer jongliert. Mit dem unauflösbar erscheinenden Nebeneinander von transzendental überwölbtem ordo-Denken und Kontingenzbewußtsein repräsentiert es besonders gut einen jener historischen Zeiträume, in deren Betrachtung die geschichtswissenschaftliche Methodenbildung sich selbst am gründlichsten reflektieren muß: Wie läßt sich die Unordnung, die Ambivalenz und die Beschleunigung der historischen Zeit, die in Umbruchssituationen wie dem 14. Jahrhundert sichtbar werden, in eine Perspektive zumindest wissenschaftlich operabler Systematizität und Ordnung bringen? Welche Semantiken der Dauer sind zur Beschreibung solcher Situationen der Abspaltung des Alten vom Neuen und des gleichzeitigen Fortwirkens des Alten angemessen? Welche mögen die Zeitgenossen selbst besessen haben? Und wie lassen sich diese auffinden? Die derzeit wirkmächtigsten Vertreter der neueren deutschsprachigen Petrarca-Philologie schlagen ein Methoden- und Beschreibungsmodell vor, das ebenso bestechend wie problematisch ist. Bestechend ist der Lösungsvorschlag vor allem deshalb, weil er gegenüber älteren Perspektiven einen deutlich differenzierteren historischen Blick ermöglicht. Das Spätmittelalter und Petrarca werden nun nicht mehr einsinnig als fast mystische Urszenen der Emergenz moderner Selbstermächtigung angesehen, wie bei Jules Michelet und Jacob Burckhardt, den Begründern dieser Deutungstradition 1, sondern nun werden - unter Rück*
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Ich danke den Diskussionsteilnehmer/innen der 35. Kölner Mediaevistentagung für ihre kritischen Hinweise und Anregungen zu meinem Vortrag. Sie haben vielfach Eingang in meinen Aufsatz gefunden. Besonders wirkmächtig sind in diesem Zusammenhang Burckhardts Überlegungen in J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch (1860), Frankfurt a. M. 111988, geworden. Im Rahmen seiner Untersuchungen zur Renaissancekultur räumt er Petrarca einen besonderen Stellenwert ein und bezeichnet ihn gar als einen „der frühesten völlig modernen Menschen“
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griff auf die Studien Hans Blumenbergs und E´tienne Gilsons - vor allem die häufigen Paradoxien des Geschichtsverlaufs berücksichtigt 2. Die zentrale historische Prozeßfigur, mit der dies gelingt, ist das ,Gesetz der unsichtbaren Hand‘, wie es der Kuhnschen Theorie der Paradigmenwechsel zugrunde liegt und nun auf das Spätmittelalter appliziert wird. Stark vereinfacht lautet die Argumentation ungefähr folgendermaßen: Indem die spätscholastischen Voluntaristen im 13. und 14. Jahrhundert das augustinische Theologumenon des allmächtigen Gottes revitalisieren, um die Gefahren zu bannen, die aus den thomistischhochscholastischen Rationalisierungsbemühungen für das christliche Dogma erwachsen, betreiben sie, so der Grundgedanke, unwillentlich selbst die Zerrüttung des zu Bewahrenden. Denn damit brechen unweigerlich all jene Aporien auf, die dem christlichen Mittelalter von Anbeginn innewohnen und die aus dem Versuch erwachsen, die antike (platonisch-aristotelische) Ontologie der grundsätzlichen Stasis eines ewigen, da ,ungeschaffenen‘ Kosmos mit dem christlichen Kreationismus und dessen heilsgeschichtlicher Linearität zu verbinden 3. Besonders betroffen ist hierdurch die kollektive Semantik der Dauer: Hans Blumenberg beschreibt in seinem Monumentalwerk ,Die Legitimität der Neuzeit‘ eindringlich, wie ein voluntaristischer Gott, der als so allmächtig konzipiert wird, daß er jederzeit auch vernichtend in die Welt einzugreifen vermag, die Zeit zu einem zentralen Problem werden läßt, da er die Welt und das Ich in jedem Augenblick „aus dem Sein in Schein, aus der Wirklichkeit in Nichtigkeit“ überführen kann 4. Die Dauer wird also zu einer Kategorie, die letztlich weitgehend
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(ibid., 215). Dem Mittelalter weist er zugleich die unrühmliche Rolle einer Negativfolie für die eigene Emphase der Diskontinuität zu. Cf. etwa J. Küpper, Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Caldero´n: Untersuchungen zum spanischen Barockdrama; mit einer Skizze zur Evolution der Diskurse in Mittelalter, Renaissance und Manierismus, Tübingen 1990, 230-304; K. W. Hempfer, Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissance-Begriffs und die epistemologische ,Wende‘, in: id. (ed.), Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur - Philosophie - Bildende Kunst (Text und Kontext 10), Stuttgart 1993, 9-45; A. Kablitz, Petrarcas Augustinismus und die ,e´criture‘ der Ventoux-Epistel, in: Poetica 26 (1994), 31-69. Grundlegend ist auch E. Keßler, Petrarca und die Geschichte. Geschichtsschreibung, Rhetorik, Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München 1978. Speziell zu dieser Denkfigur cf. etwa J. Küpper, Mittelalterlich kosmische Ordnung und rinascimentales Bewußtsein von Kontingenz. Fernando de Rojas’ ,Celestina‘ als Inszenierung sinnfremder Faktizität (mit Bemerkungen zu Boccaccio, Petrarca, Machiavelli und Montaigne), in: G. v. Graevenitz/O. Marquard (eds.), Kontingenz (Poetik und Hermeneutik 17), München 1998, 173-223, hier 173-177. H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966, erneuerte Ausgabe 21999, Zweiter Teil, c. III, hier 181. Das oben anzitierte Konzept der annihilatio spielt bei den spätmittelalterlichen Vertretern des Allmachtstheorems eine zentrale Rolle. Cf. etwa W. v. Ockham, Sent. IV, q. 5 und Sent. I, d. 17, q. 1. Siehe hierzu auch H. Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität (Akademie der Wissenschaften und der Literatur/Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 11), Mainz 1970. Neben der Macht, die Welt und das Ich zu vernichten, wird dem Schöpfergott kraft seiner potestas absoluta auch die Möglichkeit eingeräumt, sie jederzeit umzugestalten und ihre Gesetze zu verändern. Cf. hierzu etwa W. J. Courtenay, The Dialectic of Omnipotence in the High and Late
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entzogen ist. Zugleich wird sie jedoch als eine Figur des Wartens verabsolutiert, da die heilsgeschichtlich versprochene Erlösung nach wie vor ausbleibt. Indem der Schöpfer als ein potentiell wankelmütiger deus absconditus begriffen wird, stehen sich im Spätmittelalter folglich ein grundsätzlicher Entzug der Dauer und ein Auf-Dauer-Stellen des Wartens unentschieden gegenüber. Die ,Lehre der doppelten Wahrheit‘, die trotz ihrer Verurteilung im Jahr 1277 immer mehr Zuspruch erfährt, vergrößert diese Kluft nur, da die immer vehementer betriebene Differenzierung zwischen einer göttlichen und einer innerweltlichen Wahrheitssphäre den transzendenten Gott in noch weitere Ferne entrückt 5. Genau der Versuch, das christliche Dogma zu retten, führt also letztlich zu dessen Destruktion. So bestechend diese Argumentation ist, so problematisch ist sie auch. So bietet sie zwar eine schlüssige Erklärung für die grundsätzliche Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die das Spätmittelalter prägt. Außerdem berücksichtigt sie die große Präsenz von Augustinismen in Petrarcas Texten, die in jenen Deutungen, die Petrarca zum ersten modernen Menschen stilisieren, häufig schlicht ausgeblendet werden 6. Dennoch bleibt sie insgesamt einem Systemdenken verpflichtet, das noch in der Komplexionsbestrebung allzu reduktionistisch verfährt. Indem nämlich die Figur des scheiternden Rettungsversuchs verabsolutiert wird, wird sie heimlich zur anthropologischen Konstante universalisiert. Damit wird die herkömmliche diskursanalytische Petrarca-Forschung dem Konzept der
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Middle Ages, in: T. Rudavsky, Divine Omniscience and Omnipotence in Medieval Philosophy. Islamic, Jewish and Christian Perspectives, Dordrecht [e. a.] 1985, 243-269. Freilich wird das destruktive Potential dieser Handlungsoption, die dem Schöpfer aufgrund seiner potestas absoluta zugeschrieben wird, durch die Denkfigur der potestas ordinata teilweise aufgefangen. Für eine ausführlichere Diskussion dieses Begriffspaares und seiner historischen Transformationen siehe unten, nt. 18. Letztlich ist der eingebürgerte Begriff der ,doppelten Wahrheit‘ nicht ganz korrekt, da nicht die ,Wahrheit‘ als solche ausdifferenziert wird, sondern vielmehr eine Trennung zwischen theologischer Wahrheit und philosophisch beweisbaren Aussagen vorgenommen wird. Es werden also eher verschiedene Geltungsansprüche, Wissensarten oder auch Logiken unterschieden (wie etwa der im Spätmittelalter gebräuchliche Begriff der duplex logica zeigt). Gleichwohl werde ich den Terminus aufgrund seiner Griffigkeit im folgenden beibehalten. Für eine kritische Diskussion und Relativierung dieses Syntagmas cf. etwa Keßler, Petrarca und die Geschichte (nt. 2), 136 sq.; R. Schönberger, Relation als Vergleich. Die Relationstheorie des Johannes Buridanus im Kontext seines Denkens und der Scholastik, Leiden-New York-Köln 1994, 24 sqq. Siehe neuerdings auch A. Speer, Doppelte Wahrheit? Zum epistemischen Status theologischer Argumente, in: G. Mensching (ed.), De usu rationis. Vernunft und Offenbarung im Mittelalter (Contradictio 9), Würzburg 2007, 73-90. Dies gelingt über die Annahme einer stabilen spätmittelalterlichen Allianz zwischen Nominalismus/Voluntarismus und Augustinismus, die sich stark auf die Epochendarstellung von E´tienne Gilson stützt. Cf. etwa J. Küpper, Das Schweigen der veritas. Zur Kontingenz von Pluralisierungsprozessen in der Frührenaissance (Francesco Petrarca, Secretum), in: Poetica 23 (1991), 425-475, hier 441; id., Mittelalterlich kosmische Ordnung (nt. 3), 173-177; Kablitz, Petrarcas Augustinismus (nt. 2). Gilson legt seine diesbezüglichen Überlegungen dar in E´. Gilson, La ˆ ge - des origines patristiques a` la fin du XIVe sie`cle, Paris 1944, 21947, philosophie au Moyen A 658 sqq.
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,unsichtbaren Hand‘, dessen Logik ich eingangs dargestellt habe, letztlich nicht wirklich gerecht. Denn dieses geht ja gerade von einer Vielfalt unterschiedlicher Handlungsintentionen aus. Im Bemühen, übertriebenen romantisch-postromantischen Subjektentwürfen entgegenzuwirken, verfällt das skizzierte Erklärungsmodell ins andere Extrem und vertritt implizit eine Anthropologie, die allzu ausschließlich die Ohnmacht des Einzelnen hervorkehrt und den Gedanken einer gelingenden Handlungsplanung möglicher Geschichtssubjekte allzu rigoros ausklammert. Auch ist die spätmittelalterliche Allianz zwischen Augustinismus und Nominalismus, die in dieser Argumentation immer wieder hervorgekehrt wird 7, bei näherer Betrachtung keineswegs so stabil und hegemonial, wie es zunächst den Anschein haben mag. So zeigt ein Überblick über die Diskurslandschaft der Zeit, daß sie durch eine Vielzahl verschiedener philosophischer Schulen und Traditionen geprägt ist, die ganz unterschiedliche Zuordnungen von Gottesmacht, Anthropologie, Epistemologie, Sprachtheorie und Wissenschaft vornehmen, in reger Diskussion miteinander stehen und keineswegs die benannten klaren Hegemoniestrukturen aufweisen 8. An dieser Stelle setzt mein folgender Versuch einer Neudeutung an. Am Beispiel Petrarcas möchte ich zeigen, wie sich gegenüber den skizzierten Interpretationsmustern ein neuer Blick auf den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit insgesamt (und natürlich auch auf Petrarca selbst) eröffnet, wenn man sich von den obigen Prämissen und apriorischen Einengungen freimacht und statt dessen die Vielfalt der zeitgenössischen philosophischen Diskussionen mehr berücksichtigt. Unter Rückgriff auf neuere Geschichtstheorien - und hier vor allem die Interaktionstheorie des späten Foucault und die Historische Anthropologie Richard von Duelmens 9 - möchte ich hierbei vor allem den Gedanken der 7 8
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Cf. nt. 6. Für einen Überblick über diese Vielfalt cf. etwa M. Markowski, Von den mittelalterlichen Ansätzen eines Wandels zum kopernikanischen Umbruch im Wissenschaftsverständnis, in: I. CraemerRuegenberg/A. Speer (eds.), Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter (Miscellanea Mediaevalia 22), Berlin-New York 1994, vol. 1, 79-94; N. Kretzmann/A. Kenny/J. Pinborg (eds.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. From the Rediscovery of Aristotle to the Disintegration of Scholasticism 1100-1600, Cambridge [e. a.] 1982. Wie kompliziert und verwickelt die gedankliche Situation im 14. Jahrhundert ist, zeigt sich auch an einer starken Akzeleration der aufeinanderfolgenden Dekrete, die mal die eine, mal die andere Denkströmung verbieten oder rehabilitieren. Cf. hierzu sowie zur Differenzierung zwischen philosophischen Denktraditionen und ,Schulen‘ M. J. F. M. Hoenen, Thomismus, Skotismus und Albertismus. Das Entstehen und die Bedeutung von philosophischen Schulen im späten Mittelalter, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 2 (1997), 81-103. Die benannte Allianz wird meist mit dem Pariser Universitätsmilieu in Verbindung gebracht, das zu jener Zeit ein wichtiges intellektuelles Zentrum in Europa darstellte. Dort ist die Gleichzeitigkeit von Augustinismus und via moderna in der Tat besonders auffällig. Allerdings wird gerne übersehen, daß diese Simultaneität gerade auch in Paris keineswegs zwangsläufig ein harmonisches Handin-Hand-Gehen bedeutet. Cf. etwa M. Foucault, L’usage des plaisirs (Histoire de la sexualite´ 2), Paris 1984; id., Le souci de soi (Histoire de la sexualite´ 3), Paris 1984; id., Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia, 6 Vorlesungen, gehalten im Herbst 1983 an der Universität Berkeley/Kalifornien, ed. J. Pearson, Berlin 1996; id., Das Wahrsprechen des Anderen. Zwei Vorlesungen von 1983/
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Geschichts- und Selbstmächtigkeit des Einzelnen partiell wieder integrieren und vor allem den Verhandlungen mit je vorgefundenen Diskursdispositiven nachspüren. Zu diesem Zweck (und da die Konzepte der Dauer und der Zeit bei dem betrachteten historischen Übergang eine große Rolle spielen) werde ich noch einmal Petrarcas bekannte Poetik der Zerschlagung stabiler Dauer, der varietas, der Kontingenz und Unbeständigkeit in den Blick nehmen und in einen intertextuellen Horizont stellen, der - sicherlich auch wegen der zugrundegelegten Prämissen - bislang von literaturwissenschaftlicher Seite völlig vernachlässigt wurde: in den Horizont der Philosophie von Johannes Buridanus. Buridan, von 1326 bis zu seinem Tod (um 1360) als Magister an der Pariser Universität tätig und in den Jahren 1328 und 1340/41 auch deren Kanzler, ist eine jener historischen Persönlichkeiten, denen die (Rezeptions-)Geschichte nicht sehr gut mitgespielt hat. Im 14. Jahrhundert (und auch noch im 15. und teilweise im 16. Jahrhundert) gehörte er zu den wohl wirkmächtigsten Natur-, Moral- und Sprachphilosophen seiner Zeit. Seine Werke - überwiegend Aristoteleskommentare, in denen Buridan die gesamte Bandbreite des zeitgenössischen Wissens von der Metaphysik und Himmelslehre über die Physik, die Seelenlehre, die Poetik und Rhetorik bis hin zur Ethik abhandelt - verschafften ihm schon zu Lebzeiten großen Ruhm, und vieles deutet darauf hin, daß seine Thesen von Anfang an auch außerhalb des Pariser Universitätsmilieus breit rezipiert wurden 10. Ob man deshalb schon von einem saeculum Buridani sprechen kann und
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1984, edd. U. Reuter/L. Wolfstetter/H. Kocyba/B. Heiter, Frankfurt a. M. 1988; id., Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982, edd. H. Becker/L. Wolfstetter/A. GomezMuller/R. Fornet-Betancourt, Frankfurt a. M. 1985; R. v. Duelmen, Historische Anthropologie. Entwicklung - Probleme - Aufgaben, Köln-Weimar-Wien 2000. Für einen Überblick über das umfangreiche Œuvre Buridans cf. E. Faral, Jean Buridan, maıˆtre e`s arts de l’Universite´ de Paris, in: C. Rivain (ed.), Histoire litte´raire de la France, vol. 38, Paris 1949, 462-605; B. Michael, Johannes Buridanus, Studien zu seinem Leben, seinen Werken und zur Rezeption seiner Theorien im Europa des späten Mittelalters, Diss. FU Berlin 1985. Über die Verbreitungsgeschichte des Denkens Buridans herrschen recht geteilte Meinungen. Die deutschsprachige Forschung geht überwiegend von einem eher späten, posthumen Beginn der paneuropäischen Rezeption Buridans aus. Allerdings finden sich auch hier Hinweise, die seine breitere Kenntnisnahme bereits um die Mitte des 14. Jahrhunderts nahelegen. So weist etwa Bernd Michael darauf hin, daß jene Werke Buridans, mit denen die erste Welle seines Ruhmes einsetzte, bereits zwischen 1331 und 1335 entstanden und umgehend Verbreitung fanden und daß Buridan seine dort entwickelten Thesen großenteils sein Leben lang beibehielt (Michael, op. cit., 275 sqq.). Außerdem existierten von Buridans Vorlesungen mit Sicherheit zahlreiche (leider nicht mehr erhaltene) Skripte und Mitschriften (sogenannte reporationes), die durchaus vervielfältigt und verbreitet werden konnten. Bekannt ist überdies, daß Buridan mit der Niederschrift seiner Hauptwerke, die in ihrer endgültigen Form wohl erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt (also um 1350-1360) fertiggestellt wurden, schon sehr viel früher begonnen hat und daß er sie immer wieder überarbeitete (cf. Michael, op. cit., 268 sqq.). Auf mündlichem Wege kann deren Wirkung sich also durchaus bereits vor ihrer Fertigstellung entfaltet haben. Zur komplizierten Entstehungsgeschichte der Werke Buridans cf. auch Faral, op. cit., 495. Schönberger, Relation als Vergleich (nt. 5), macht zudem darauf aufmerksam, daß von dem gewaltigen Werk Buridans nur ein kleiner Teil überliefert beziehungsweise zugänglich ist (ibid., 4). Dies verleiht
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davon, daß Buridans Wirkmacht jene Ockhams in den Schatten stellt 11, vermag ich an dieser Stelle nicht zu entscheiden. Sicher ist, daß seine heutige Unbekanntheit in keinem Verhältnis zu seinem damaligen Bekanntheitsgrad (und seiner historischen Wirkmacht) steht. Denn wenn ihm in philosophischen, universitären Fachkreisen heute durchaus ein gewisser Rang als Gegenstand von Publikationen eingeräumt wird, so ist seine Person doch, anders als etwa Wilhelm von Ockham oder Duns Scotus, bislang noch nicht im wissenschaftlichen, transdisziplinären Allgemeinwissen präsent. Von literaturwissenschaftlicher Seite wurde er beispielsweise noch gar nicht rezipiert - was sicherlich auch daran liegen mag, daß er mit seinem Rationalitätsoptimismus und seiner eigenwilligen Positionsnahme im Kontext des zeitgenössischen Augustinismus und Nominalismus einfach nicht in die bislang vorherrschenden Geschichtsbilder und impliziten Anthropologien vor allem der genannten Literaturwissenschaften paßte 12. Meine folgenden Analysen werden sich vor allem auf die ,Familiares‘ Petrarcas und hier speziell die Mont-Ventoux-Epistel, den Bienengleichnis-Brief und die Rahmung der Sammlung konzentrieren. Denn Petrarcas Poetik der unbeständigen varietas findet hier ihre wohl deutlichste Ausprägung. Ich werde diese Briefe im folgenden nacheinander in den Blick nehmen und vorführen, wie Petrarca
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nicht nur synoptischen Aussagen über Buridans Philosophie, sondern auch Mutmaßungen über die Geschichte ihrer Rezeption eine gewisse Prekarität. Denn damit öffnet sich ein blinder Fleck in der Verbreitungsgeschichte seines Denkens, ist hierdurch doch die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß just diese heute verschollenen Werke eine Wirkmacht ausgeübt haben, der man nur indirekt, etwa über auffällige Zitate oder Parallelen in den Werken anderer Autoren habhaft werden kann. Diese Möglichkeit wird von anderen, meist fremdsprachigen Forschern durchaus als gegeben angesehen. Cf. etwa J. B. Korolec, La philosophie de la liberte´ de Jean Buridan, in: Studia Mediewistyczne 15 (1974), 108-152. Siehe auch Markowski, Wissenschaftsverständnis (nt. 8), der den Beginn der breiten Popularität Buridans explizit auf die Mitte des 14. Jahrhunderts datiert und hervorhebt, daß vor allem Buridans Ethik wohl bereits sehr früh und überdies wahrscheinlich auch von einem außeruniversitären gebildeten Publikum rezipiert wurde (ibid., 89 sq.). Diese und die im folgenden von mir zu erbringenden weiteren Indizien lassen vermuten, daß man es hier mit einem Diskurs zu tun hat, der viel früher als häufig angenommen auch jenseits von Paris und Frankreich zirkulierte. Zu dieser Einschätzung cf. O. Pluta, Homo sequens rationem naturalem. Die Entwicklung einer eigenständigen Anthropologie in der Philosophie des späten Mittelalters, in: A. Zimmermann (ed.), Mensch und Natur im Mittelalter (Miscellanea mediaevalia 21), vol. 2, Berlin-New York 1992, 752-763, hier 755. Etwas vorsichtiger äußert sich B. Michael, Johannes Buridanus (nt. 10), der Buridans Wirkmacht auf eine Stufe mit jener Ockhams stellt (ibid., 322 und 392). Cf. des weiteren E. A. Moody, Buridan and the Dilemma of Nominalism, in: id., Studies in Medieval Philosophy, Science, and Logic, Los Angeles 1975, 353; E. J. Monahan, Human Liberty and Free Will According to John Buridan, in: Medieval Studies 16 (1954), 72-86, hier 86. Zur Diskussion der verschiedenen Bewertungen der historischen Wirkmacht Buridans cf. Schönberger, Relation als Vergleich (nt. 5), 4-13. Hinsichtlich der Frage, welche genauen konzeptuellen Konturen das Denken Buridans aufweist und wie er damit im Kontext der zeitgenössischen Denktraditionen zu verorten ist, herrscht in der Buridan-Forschung weitgehende Uneinigkeit. Daß Buridan einen eher gemäßigten Voluntarismus vertritt, ist unbestritten. Ob diese Tendenz der Mäßigung jedoch eher konservative oder innovative Züge trägt, wird mehr denn je mit Verve diskutiert. Im folgenden werde ich den Hergang der Debatten etwas ausführlicher schildern und eine eigene Stellungnahme versuchen.
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mit seinem Zeitgenossen Buridan dialogisiert und auf diese Weise genau mit seiner Poetik der Unbeständigkeit das Recht begründet, eigenmächtig immanente, kollektive Strukturen der Ordnung und der Dauer zu konstruieren, die nicht nur in ästhetischer, sondern auch in moralisch-ethischer Hinsicht über den augustinischen Horizont hinauswachsen. II. Die Flüchtigkeit der Seelenqualen und die Stabilität der Weltver messung: Zum Verhältnis zwischen Augustinus und Buridan in der Mont-Ventoux-Epistel, Fam. IV, 1 Die berühmte Mont-Ventoux-Epistel, die Petrarca vermutlich erst 1352/1353 verfaßte, vordatierte und nachträglich in die Briefesammlung einfügte 13, ist seit Jacob Burckhardt zum Zentraldokument der nicht abbrechenden Diskussionen um Petrarcas Modernität geworden 14. Die Ursache für diese Diskutierbarkeit liegt nicht zuletzt im Brief selbst begründet. Denn er inszeniert eine höchste Heterogenität und Unbeständigkeit des Ichs. Adressiert ist er an den Augustinermönch Dionigi di Borgo San Sepolcro, der zugleich Theologe an der Pariser Artistenfakultät war und als wesentlicher Einflußnehmer auf Petrarca gilt 15. ,Petrarca‘ 16 berichtet diesem im Gestus einer schriftlichen Beichte von seiner Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336 und scheint seinem Brief zunächst eine klare triadische Struktur zu verleihen - die anfängliche Treibkraft der jugendlichen Neugier weicht bald tiefen Gewissensqualen über die eigene sündige Weltverfallenheit, die am Ende in die Bitte münden, der Adressat möge für die Seelenruhe des Briefeschreibers beten. Doch diese Struktur wird nach dem einleitend angeführten exemplum aus den ,Historiae‘ von Livius (auf das ich gleich zurückkommen werde) gründlich unterlaufen. Denn eigentlich schwankt das Ich bis zum Schluß beständig zwischen Weltsuche und versuchter Weltabkehr hin und her. Auf der einen Seite steht der Versuch, die Welt mit dem Blick genau zu vermessen. Auf der anderen die Erinnerung an die Mahnungen Augustins, wie sündig und der Erlösung abträg13
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Zur Datierung und Entstehungsgeschichte des Briefes cf. vor allem G. Billanovich, Petrarca letterato, vol. 1, Lo scrittoio del Petrarca, Roma 1947, 193-198. Billanovichs Thesen haben sich in Forscherkreisen weitgehend durchgesetzt. Burckhardt exemplifiziert genau an diesem Brief seine oben erwähnte Deutung Petrarcas. Eine wirkmächtige alternative Lesart findet sich bei Kablitz, Petrarcas Augustinismus (nt. 2). Siehe neuerdings auch K. Stierle, Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, München-Wien 2003, 292-343; Ch. Moser, Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne, Tübingen 2006, 687-726. Dort findet sich auch eine genauere Übersicht über die wechselvolle Deutungsgeschichte der Epistel. Cf. etwa U. Dotti, Vita di Petrarca, Rom-Bari 1987, 36. Mit den Anführungszeichen markiere ich den fiktionalen Status des Briefeschreibers, der als stilisierte Instanz nicht zwangsläufig mit dem ,realen‘ Autor zusammenfallen muß. Im folgenden lasse ich diese Markierung weg.
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lich ein solches Unterfangen sei. Außerdem legt der Brief die Charakterschwächen des Briefeschreibers in einer Weise bloß, die es nicht unbedingt nachvollziehbar macht, wie man hierin das Dokument einer ungetrübten epochemachenden Selbstermächtigung über das Ich und die Welt sehen kann, wie Burckhardt und viele andere dies nach ihm taten 17. Viel eher scheint der Text genau jene Allianz zwischen Augustinismus und Nominalismus zu repräsentieren, von der ich bereits gesprochen habe und die aufgrund ihrer inneren Aporien letztlich unweigerlich in die Selbstzerrüttung des zu Bewahrenden führen muß: Die per potestas absoluta konzedierte Wankelmütigkeit und Volatilität des Schöpfers scheint in der Unbeständigkeit des Ichs ihren Widerschein zu finden, die zugleich jedoch auch, ganz augustinisch, dessen sündige Erdverfallenheit bezeugt 18. Der Versuch, die Welt allegorisch zum Zeichen des Göttlichen umzumünzen und zur eigenen christlichen Erbauung als Buch der Natur zu lesen, scheitert gründlich und fordert offenbar eine desto bedingungslosere Selbstübergabe an den Schöpfer ein 19. Wenn hier mit dem unaufgelösten Nebeneinander 17
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Besonders aussagekräftig ist hierfür jene Passage, in der Petrarca schildert, wie schwierig sich seine Suche nach einem geeigneten Reisebegleiter gestaltet (Fam. IV, 1, 4 sq.). Denn die Tatsache, daß keiner seinen allzu hohen Ansprüchen zu genügen vermag, zeugt sowohl von einer recht unverblümten superbia als auch von einer mangelnden Befähigung zur amicitia, die traditionellerweise eine gewisse Indulgenz mit sich bringt. In Fam. IV, 1, 9 sq. weist der Briefeschreiber zudem selbst explizit auf seinen Hang zur ignavia hin, wenn er berichtet, wie er aus purer Faulheit den steilen Aufstieg wieder und wieder aufschiebt und deshalb weit hinter den anderen zurückbleibt: „Hanc excusationem ignavie pretendebam, aliisque iam excelsa tenentibus, per valles errabam, cum nichilo mitior aliunde pateret accessus […].“ Ich zitiere hier und im folgenden aus Francesco Petrarca, Opere. Canzoniere - Trionfi - Familiarium Rerum Libri, con testo a fronte, ed. M. Martelli, Firenze 1992. Zu dieser Lektüre cf. besonders Kablitz, Petrarcas Augustinismus (nt. 2), der bei seiner Deutung durchaus mitberücksichtigt, daß die per potestas absoluta konzedierte göttliche Allmacht durch das Konzept der potentia ordinata (der freiwilligen Unterwerfung Gottes unter seine eigenen Gesetze) teilweise eingedämmt wird. Gegen den Gedanken, im Spätmittelalter werde die Omnipotenz Gottes weit radikaler gedacht als zuvor, könnte man einwenden, daß das Begriffspaar potestas absoluta/potestas ordinata bereits seit dem 12. Jahrhundert gebräuchlich ist. Dies zeigt etwa W. J. Courtenay, Art. ,Potentia absoluta/ordinata‘, in: J. Ritter (ed.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 7, Darmstadt 1989, coll. 1157-1162, hier 1157; sowie - etwas ausführlicher - id., Omnipotence (nt. 4). Allerdings benennt Courtenay zugleich den grundsätzlichen Bedeutungswandel, den das Begriffspaar zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert durchlaufen hat. Bezeichneten die beiden Begriffe anfangs nämlich nur zwei Weisen des Möglichen (beziehungsweise genauer: zwei Weisen der Rede über die Gottesmacht), so wurden sie bald verwendet, um verschiedene ,konkrete‘ Handlungsoptionen des Schöpfers zu unterscheiden. Damit rückt die annihilatio (beziehungsweise die jederzeitige Umgestaltung der Welt) in den Bereich des ,faktisch‘ Möglichen und wird allererst zu jenem Problem, das ich oben geschildert habe. Vor allem in seinem letztgenannten Aufsatz arbeitet Courtenay sehr gründlich (und fast zu betont) das Negativitätspotential heraus, das diese Bedeutungsverschiebung mit sich brachte. Was Courtenay, Kablitz und die meisten anderen Interpretationen dieses Begriffspaares allerdings übersehen, ist die Tatsache, daß die benannte Bedeutungsverschiebung durchaus auch ein befreiendes Potential in sich birgt. Diesem werde ich im folgenden nachgehen. Zur spätmittelalterlichen Krise der Allegorie cf. auch R. M. Durling, The Ascent of Mont Ventoux and the Crisis of Allegory, in: Italian Quarterly 18 (1974), 7-28.
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von christlicher Weltsicht und immanentem Weltzugriff die spätmittelalterliche ,Lehre der doppelten Wahrheit‘ ins Bild gesetzt wird 20, so sind es offenbar vor allem ihre Aporien, deren der Leser ansichtig wird. Die stabile transzendente Wahrheit ist nicht mehr zugänglich und liefert das Ich der Unbeständigkeit der äußerlichen Einflüsse und (sündigen) inneren Regungen aus. Aber geht der Text wirklich in dieser Lesart auf ? Oder stellt er nicht vielmehr eine subtile kritische Verhandlung mit dem augustinischen Denken dar, die sich zudem Rückversicherung bei Johannes Buridanus zu geben weiß und damit freilich mutatis mutandis - doch wieder in die ältere Deutungstradition der Selbstermächtigung verweist 21? Einen ersten Hinweis für eine solche Lesart liefert paradoxerweise die Tatsache, daß Petrarca keineswegs der erste Mensch ist, der den Berg zu bezwingen versucht, wie gerne behauptet. Der relevante Pionier ist jedoch nicht der Hirte, der den ,Alpinisten‘ bei ihrem Aufstieg begegnet und sie mit dem Hinweis davon abzubringen versucht, er selbst sei vor längerer Zeit bei seinem Versuch, die Höhe zu erklimmen, kläglich gescheitert 22. Viel interessanter ist nämlich, daß es 20 21
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Zur Diskussion des Begriffs der ,Lehre der doppelten Wahrheit‘ siehe oben, nt. 5. Geht man von den herkömmlichen (deutschsprachigen) Rezeptionsgeschichten Buridans aus, dann mutet die Annahme, Petrarca dialogisiere mit Buridan, vielleicht etwas unwahrscheinlich an. Mit meinen obigen diesbezüglichen Relativierungen ist diesem Problem teilweise entgegengewirkt. Eine weitere Plausibilisierungsgrundlage liegt in der späten Abfassung und Vordatierung des Briefes, da die Wahrscheinlichkeit, daß Petrarca bei der Niederschrift bereits Kenntnis von Buridans Werk genommen hat, hierdurch beträchtlich erhöht wird. Daß der Name Buridans bei Petrarca nie fällt, kann nicht wirklich als Problem angesehen werden, da Petrarcas Strategie der Verschleierung (auch seiner wesentlichen Impulsgeber) hierfür allzu bekannt ist. Man denke nur an Petrarcas Umgang mit Dante, der in der Forschung geradezu als ,maestro negato‘ Petrarcas gehandelt wird. Cf. M. Santagata, Per moderne carte. La biblioteca volgare del Petrarca, Bologna 1990, c. I: „Dante, il maestro negato“, 23-91. Eine Schwierigkeit bleibt allerdings bestehen, und zwar die Frage nach der Wirkrichtung des Dialogs zwischen den beiden Autoren. Wenn ich oben von einer ,Rückversicherung‘ gesprochen habe, so soll damit nicht das gängige Schema der epistemologischen Nachgängigkeit der Literatur gegenüber der Philosophie aufgerufen werden. Wahrscheinlicher ist eine willkommene Denkverwandtschaft, die durch textuelle Referenzen auf den ,offiziellen‘ Lehrdiskurs Buridans signalisiert oder abgesichert wird. Angesichts der problematischen Datierung der Werke beider Autoren sind die Wirklinien freilich schwierig zu entwirren. So könnte es durchaus auch sein, daß Buridan sich bei der Entwicklung seiner Theoreme umgekehrt wesentlich am Werk Petrarcas inspiriert hat oder - was wohl das Wahrscheinlichste ist - daß es sich hierbei um eine Interaktion beziehungsweise Wechselwirkung handelt. Diese Möglichkeit eher interaktiver, dialogischer Einflußprozesse zwischen Buridan und seinen Zeitgenossen wird auch von Korolec, Liberte´ (nt. 10), 114, sowie von Michael, Johannes Buridanus (nt. 10), 281, in Erwägung gezogen. Für die Interpretation der Sinnstruktur der MontVentoux-Epistel ist diese Tatsache allerdings nicht von kruzialer Bedeutung, wenn man von neueren Autorschaftskonzepten ausgeht. Fam. IV, 1, 7. Natürlich eröffnet die Erwähnung des Hirten unweigerlich eine allegorische Sinnebene, in der die Prekarität verklausuliert wird, die der Natur und speziell den Bergen im mittelalterlich-christlichen Horizont zugeschrieben wird. Bereits hier wird also signalisiert, daß die Mahnungen des Christentums, sich nicht an die Neugier für die immanente Welt zu verlieren, recht nonchalant in den Wind geschlagen werden. Zur mittelalterlichen Problemsemantik der (vor allem gebirgigen) Natur cf. W. Berges, Land und Unland in der mittelalterlichen Welt, in: Festschrift für H. Heimpel zum 70. Geburtstag, vol. 3 (Veröffentlichungen des Max-Planck-
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genau Johannes Buridanus war, der nicht lange vor Petrarca eine Besteigung des Mont Ventoux oder zumindest einiger seiner unmittelbaren Nachbarberge unternommen hatte, die durchaus als gelungen bezeichnet werden kann und deren Zweck überdies das empirische, ja ,naturwissenschaftliche‘ Studium der Sinnenwelt vor Ort war 23. Bereits die Tatsache, daß eine der zu jener Zeit anerkanntesten und unangefochtensten Autoritäten das Unterfangen einer wissensdurstigen Bergbesteigung ,wagt‘, nimmt ihm einen Großteil seiner moralischen Prekarität. Denn sie zeigt, daß die augustinische Verfemung der ,wissenschaftlichen‘, weltzugewandten curiositas auch in den gesellschaftlich etabliertesten spätscholastischen Kreisen keineswegs so bedingungslos akzeptiert wurde, wie in der Forschung häufig dargestellt (und wie Gilsons immer wieder aufgegriffenes Diktum der stabilen spätscholastischen Allianz zwischen Augustinismus und Nominalismus nahelegt) 24.
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Instituts für Geschichte 36, 3), Göttingen 1972, 399-439 (für diesen Literaturhinweis danke ich Bernd Michael). Einen frühen Hinweis auf diese Tatsache und einen möglichen Zusammenhang zwischen den beiden Autoren findet man bei L. Thorndike, Renaissance or Prenaissance?, in: Journal of the History of Ideas 4 (1943), 65-74, hier 71 sq. Thorndike nennt für seine Behauptung allerdings keine Quelle. In Betracht kommt hier vor allem Buridans Kommentar zu den ,Meteora‘ des Aristoteles, der den Titel ,Quaestiones super libros Meteorologicorum Aristotelis‘ trägt und auf komplexe Weise Elemente eines Textkommentars, eines Reisetagebuchs und eines wissenschaftlichen Traktats über verschiedene Erdphänomene und deren epistemologischen Status vermischt (für ihre diesbezüglichen Hinweise danke ich R. Schönberger, G. Krieger und B. Michael). In Quaest. Meteor. I, 18-20 berichtet Buridanus von seinen Reisen nach Avignon (die in den Jahren 1334 und 1345 stattfanden) und erzählt in diesem Zusammenhang, wie er die Nachbarberge des Mont-Ventoux bestieg, um von dort aus verschiedene atmosphärische Phänomene zu untersuchen, den Mont-Ventoux zumindest aus der Nähe zu betrachten und seine genaue Höhe zu schätzen; cf. Michael, Johannes Buridanus (nt. 10), 194 sq. In seiner endgültigen Form dürfte der ,Meteora‘-Kommentar zwar wohl erst um 1350 fertiggestellt worden sein, allerdings ist Petrarcas Mont-Ventoux-Epistel ja ebenfalls erst um 1353 entstanden. Angesichts der Tatsache, daß Petrarca zur Zeit der Avignonreisen Buridans in Vaucluse residierte, ist auch nicht auszuschließen, daß sich die beiden bei einer dieser Reisen möglicherweise gar persönlich begegnet sind. Doch dies muß Spekulation bleiben und ist für die folgenden Analysen auch nicht zwingend nötig. Vor allem in den Geschichtskonstruktionen Hans Blumenbergs (und den hierauf aufbauenden literaturwissenschaftlichen Studien) wird der oben benannten Problematisierung der curiositas eine zentrale Rolle im Denkhaushalt des Spätmittelalters zugeschrieben. Cf. etwa Blumenberg, Legitimität (nt. 4), 358 sqq.; Kablitz, Petrarcas Augustinismus (nt. 2); J. Küpper, Schiffsreise und Seelenflug. Zur Refunktionalisierung christlicher Bilderwelten in Petrarcas ,Canzoniere‘. Mit einem Post-Scriptum zur Singularität des Lyrikers Petrarca sowie zur epistemologischen Differenz von Literaturhistorie und Diskursarchäologie, in: Romanische Forschungen 101 (1993), 257281. Andere, speziell wissenschaftshistorische Forschungen belegen allerdings, daß diese Sicht der Dinge etwas simplifizierend ist. So lassen sich bereits im 12. Jahrhundert Tendenzen einer ,wissenschaftlich-empirischen‘ Entdeckung der Natur nachweisen (cf. etwa A. Speer, Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer „scientia naturalis“ im 12. Jahrhundert, Leiden-New York-Köln 1995), und zumal das 14. Jahrhundert verzeichnet einen nochmaligen explosiven Anstieg der Bemühungen um eine ,empirische‘ Wissenschaftlichkeit, eine Tendenz im übrigen, an der Buridan nicht unwesentlich beteiligt ist. Cf. hierzu die Beiträge in S. Caroti/P. Souffrin (eds.), La nouvelle physique du XIVe sie`cle, Firenze 1997. Der Unter-
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Überhaupt nimmt Buridan, wie bereits angedeutet, in der Landschaft der spätscholastischen Diskussionen und Denkströmungen in mehrerer Hinsicht eine besondere Stellung ein, und das erwähnte Unterfangen stellt hierfür einen sehr guten Fingerzeig dar. Mit bemerkenswerter und auch in der Forschung immer wieder hervorgekehrter Persistenz führt er nämlich vor, wie eine friedliche Koexistenz zwischen Christentum und immanenter Weltneugier und -erforschung durchaus denkbar ist 25. Diese Verbindung gelingt ihm vor allem durch eine Strategie der Mäßigung und Synthetisierung. So finden sich bei ihm zwar durchaus zahlreiche Denkfiguren, die seine Nähe zum (augustinistischen) Voluntarismus der Zeit belegen 26. Während etwa Duns Scotus oder Wilhelm von Ockham, die beiden wohl bekanntesten Vertreter des spätmittelalterlichen Voluntarismus, ihre Überlegungen zur Allmacht Gottes und den menschlichen Möglichkeiten des (auch wissenschaftlichen) Weltzugriffs jedoch bis zu einem umfassenden und teilweise destruktiven fideistischen Skeptizismus vorantreiben 27, bemüht sich Buridan eher darum, die fast ,grotesken‘ Auswüchse, die deren Argumentationen in ihrer radikalen Negativität zuweilen annehmen, abzuschwächen 28. Zu diesem Zweck wandelt er auch zentrale Konzepte Augustins - des ,Urvaters‘ des Allmachtstheorems - ab oder setzt ihnen in toto Denkfiguren entgegen, die er wesentlich aus der albertinisch-thomistischen (und antiken) Tradition über-
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schied zwischen diesen Bemühungen und jenen des 12. Jahrhundert liegt stark vereinfacht gesprochen darin, daß der ordo-Gedanke, der im 12. Jahrhundert noch aufrecht erhalten wird, allmählich durch die Konzepte der Kontingenz und der Singularität verdrängt wird. Diese Aussage könnte zunächst Irritationen hervorrufen, denn genau darin besteht ja eines der Hauptanliegen der Hochscholastik des 12. und 13. Jahrhunderts. Zu berücksichtigen ist allerdings, daß der historische Kontext nun ein anderer ist, was der vordergründigen Ähnlichkeit eine subkutane Differenzstruktur einschreibt. Denn im 14. Jahrhundert sind etwaige Konziliationsbemühungen auf den Horizont der zeitgenössischen Tendenz der dekretierten Re-Augustinisierung zu beziehen und erhalten hierdurch eine neue semantische und pragmatische Struktur. Zu Buridans ,Ockhamismus‘ cf. etwa W. J. Courtenay, Nominalism and Late Medieval Religion, in: Ch. Trinkaus/H. A. Obermann (eds.), The Pursuit of Holiness in Late Medieval and Renaissance Religion, Leiden 1974, 26-59, hier 50; id., The Reception of Ockham’s Thought in the University of Paris, in: Z. Kaluza/P. Vignaux (eds.), Preuve et raison a` l’universite´ de Paris. Logique, ontologie et the´ologie au XIVe sie`cle, Paris 1984, 43-64, hier 46; R. Paque´, Das Pariser Nominalistenstatut. Zur Entstehung des Realitätsbegriffs der neuzeitlichen Naturwissenschaft, Berlin 1970. Für eine ausführlichere Diskussion dieser Frage sowie der genannten Studien cf. Schönberger, Relation als Vergleich (nt. 5), 21 sqq. Cf. etwa Courtenay, Omnipotence (nt. 4). Zu beachten ist allerdings, daß sich bereits Ockham in verschiedenen Hinsichten (und keineswegs nur in der Behandlung des Widerspruchsgesetzes) von der radikalen fideistischen Negativität des Duns Scotus absetzt und aus der Allmacht Gottes praktische Freiheiten des Menschen (wie etwa die libertas instituendi etc.) ableitet, deren zukunftsweisende Differenz zu Augustinus manchmal etwas übersehen wird. Zur libertas instituendi unten mehr. Zu Ockhams schillerndem Umgang mit Augustinus cf. B. Ventarola, Kairos und Seelenheil. Textspiele der Entzeitlichung in Francesco Petrarcas ,Canzoniere‘, Stuttgart 2008 (im Druck), c. 3.4. Cf. hierzu etwa R. Schönberger, Eigenrecht und Relativität des Natürlichen bei Johannes Buridanus, in: Zimmermann, Mensch und Natur (nt. 11), vol. 1, Berlin-New York 1991, 216-233, hier 224. Von dort stammt auch das Zitat.
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nimmt 29. Ein besonderer Stein des Anstoßes scheint ihm hierbei Augustins Strategie zu sein, zur Stärkung der Gottesmacht den Menschen und alle seine innerweltlichen Regungen mit Schuld zu überhäufen und vor allem auch seinen Wissensdrang zu diffamieren 30. Denn er hält demgegenüber konsequent an der albertinisch-thomistischen und antiken Rationalitätsethik fest und verschmilzt sie dergestalt mit seinem gemäßigten Voluntarismus, daß daraus eine recht neuartige Lehre der natürlichen, praktischen Vernunft wird. Hierzu im folgenden mehr. Die auffällig koinzidente Erwähnung des Mont Ventoux bei Buridan und Petrarca sowie die enge (möglicherweise fiktive) zeitliche Aufeinanderfolge der ,Bergerlebnisse‘ (Buridan: 1334, Petrarca: 1336) lassen vermuten, daß Petrarcas Brief als Dialog mit Buridan gedacht ist, und liest man ihn vor diesem Denkhorizont, so erkennt man unversehens ganz neue Sinnstrukturen 31. 29
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Mit dieser Charakterisierung Buridans beziehe ich dezidiert Stellung in der nach wie vor mit Verve geführten Debatte um die Rolle, die die genannten Referenzsysteme in seinem Denken spielen, in deren Zusammenhang auch die Frage diskutiert wird, welche Aussagen hinsichtlich seiner Innovativität und historischen Position sich daraus ableiten lassen. Die diesbezüglichen Diskussionen beschränken sich bislang allerdings weitgehend auf Buridans Verhältnis zu Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Wilhelm von Ockham, Geraldus Odonis und verschiedenen Autoren der Antike (wie etwa Seneca oder Alexander von Aphrodisias) und vernachlässigen fast völlig Buridans Dialog mit Augustinus. Hierbei lassen sich vor allem zwei Positionen ausmachen. Auf der einen Seite stehen jene Forscher, die in Buridans unbestrittenem Rückgriff auf Albertus Magnus, Thomas von Aquin und die Antike einen konservativen Zug seines (vor allem ethischen) Denkens sehen und ihn geradezu als einen Rückfall hinter den Voluntarimus betrachten. Beispielhaft seien hier genannt: J. J. Walsh, Nominalism and the ,Ethics‘: Some Remarks about Buridan’s ,Commentary‘, in: Journal of the History of Philosophy 4 (1966), 1-13; id., Teleology in the Ethics of Buridan, in: Journal of the History of Philosophy 13 (1980), 265-286; Schönberger, Relation als Vergleich (nt. 5), besonders 14 sq. und 22 sqq.; id., Quod omnia appetunt? Der Begriff des Guten in der nominalistischen Metaphysik des Johannes Buridanus, in: M. Pickave´ (ed.), Die Logik des Transzendentalen, Festschrift für J. A. Aertsen zum 65. Geburtstag, Berlin-New York 2003, 395-417. Auf der anderen Seite finden sich jene Studien, die genau hierin das Neue und Zukunftsweisende Buridans verwirklicht sehen, gleichsam den Reflex eines ,proto-humanistischen‘ Anliegens. Cf. etwa Korolec, Les principes de la philosophie morale de Jean Buridan, in: Mediaevalia Philosophica Polonorum 21 (1975), 56; L.M. de Rijk, Foi chre´tienne et savoir humain. La lutte de Buridan contre les ,theologizantes‘, in: A. de Libera/A. Elamrani-Jamal/A. Galonnier (eds.), Langages et philosophie. Hommage a` J. Jolivet, Paris 1997, 393-409; R. van der Lecq, Confused Individuals and moving Trees. John Buridan on the Knowledge of Particulars, in: E. P. Bos/H. A. Krop (eds.), John Buridan: A Master of Arts. Some Aspects of his Philosophy. Acts of the second Symposion organized by the Dutch Society for medieval Philosophy, Nijmegen 1993, 1-21, hier 15; A. Vos, Buridan on Contingency and Free Will, in: Bos/Krop, op. cit., 141-155, hier 143; O. Pluta, Albert der Große und Johannes Buridanus, in: M. J. F. M. Hoenen/A. de Libera (eds.), Albertus Magnus und der Albertismus. Deutsche philosophische Kultur des Mittelalters, Leiden-New YorkKöln 1995, 91-105. Berücksichtigt man den Dialog, den Buridanus mit Augustinus führt, so erlaubt dies meines Erachtens, die letztgenannte Deutungsrichtung zu bestätigen. Dies möchte ich im folgenden, wenngleich notgedrungen etwas kursorisch, vorführen. Zu dieser Strategie Augustins cf. Ventarola, Kairos (nt. 27), c. 2.2. Der signalhafte Charakter der ,gemeinsamen‘ Erwähnung des Mont Ventoux ergibt sich aus der Außergewöhnlichkeit, die diesem Berg beziehungsweise einer Bergbesteigung im Mittelalter
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Bei genauem Besehen legt Petrarca bereits mit der rätselhaften Livius-Geschichte, mit der der Brief beginnt, eine Fährte zu Buridan. Der Briefeschreiber erzählt hier, wie König Philipp von Makedonien im Krieg versucht, zu strategischen Zwecken den Berg Hämus zu besteigen, weil er hofft, er könne von dort aus sowohl das Adriatische als auch das Schwarze Meer überblicken und sich hierdurch ein genaues Bild von der Topographie des Kriegsgebietes verschaffen. Bei den späteren Historiographen, so Petrarca, entbrennt sodann ein erbitterter Kampf, ob der von Philipp vermutete Panoramablick geographisch im Bereich des Möglichen liege oder nicht. Der Briefeschreiber zieht aus dieser Geschichte nun folgendes Fazit: Wenn die Besteigung des thessalischen Berges Hämus so leicht zu realisieren wäre wie jene des Mont Ventoux, dann hätte er sie schon längst unternommen, um den fruchtlosen Diskussionen der maßgeblichen Autoritäten durch die eigene empirische Überprüfung der geäußerten Thesen ein Ende zu setzen: „[…] michi si tam prompta montis illius experientia esset quam huius fuit, diu dubium esse non sinerem“ (Fam. IV, 1, 2). Der Bezug auf Buridan ist hier recht deutlich. Denn mit dieser Zuordnung zitiert der Briefeschreiber ein zentrales wissenschaftstheoretisches Rezept Buridans, das sich in seinem oft wiederholten Aufruf kondensiert, man solle zumal (aber nicht nur) in ,wissenschaftlichen‘ Dingen non disputatione, sed experientia vorgehen - ein Aufruf im übrigen, den Buridan genau in seinen ,Quaestiones super libros Meteorologicorum Aristotelis‘ ausgiebig umsetzt, jener Schrift also, in der er von seinen Reisen nach Avignon und seinen Bergbesteigungen um den Mont Ventoux herum berichtet 32. Gleich zu Beginn des Briefes spielt Petrarca also auf Buridan an und
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beigemessen wird. Auf die Möglichkeiten einer Rezeption Buridans durch Petrarca bin ich bereits eingegangen (cf. nt. 10 und 21). Ein weiteres Indiz, wenn nicht Signal für den benannten Dialog liegt im übrigen im Adressaten des Briefes, Petrarcas Freund Dionigi di Borgo San Sepolcro, der zur gleichen Zeit wie Buridanus als Theologe an der Pariser Artistenfakultät lehrte und den Petrarca vermutlich im Jahr 1333 kennenlernte. Denn die Tatsache, daß Dionigi und Buridan gleichzeitig an der Pariser Universität tätig waren, erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß Petrarca Letzteren (also den berühmten Pariser Kollegen und teilweisen gedanklichen Widerpart Dionigis, der damals seine erste Berühmtheitswelle erlebte), zumindest vom Hörensagen kannte. Diese Vermutung wird bestärkt, wenn man einen Blick in Fam. IV, 3 und IV, 4 wirft. Petrarca erzählt hier die verwickelte Geschichte um seine Dichterkrönung, zu der er sowohl nach Rom als auch nach Paris eingeladen wurde. Die Einladung nach Paris wurde ihm am 1. September 1340 persönlich von seinem Freund Roberto de’ Nardi überbracht, der zwischen 1336 und 1347 Kanzler der Universität von Paris war (Dotti, Vita di Petrarca (nt. 15), 79 sqq.) und dessen Kanzlerschaft zwischen Oktober 1340 und August 1341 von jener Buridans unterbrochen wurde. Buridans zweite Kanzlerschaft fiel also genau in die Zeit der Entscheidung über Petrarcas Dichterkrönung, weshalb es gar nicht unwahrscheinlich ist, daß Buridan sogar über die Einladung Petrarcas mitbefunden haben könnte. Cf. zu diesem Diktum Buridans P. Schulthess/R. Imbach, Die Philosophie im lateinischen Mittelalter. Ein Handbuch mit einem bio-bibliographischen Repertorium, Düsseldorf-Zürich 1996, 274. Es ist viel über Buridans Konzept der experientia und dessen Verhältnis zum christlichen Dogma und zum Autoritätenwissen diskutiert worden, und auch in diesem Punkt läßt sich in der neueren deutschsprachigen Philosophiegeschichte eine Tendenz feststellen, die Neuartigkeit Buridans stark zurückzunehmen. Zur Begründung wird etwa angeführt, daß die Zuordnung zwischen experientia und auctoritas bei Buridan nicht in einer schlichten Opposition aufgehe,
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stellt - wie jener - die eigene experientia und die selbständige Kritik an den Autoritäten über alles andere 33. Damit legt er, wie ich im folgenden zeigen
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sondern komplexer sei, daß Buridan sich verschiedentlich dezidiert für das Autoritätenwissen ausspreche, daß zahlreiche Denkfiguren von Autoritäten Eingang in Buridans Texte fänden (cf. etwa Schönberger, Relation als Vergleich (nt. 5), 15 und 244) und daß Buridans Konzept der experientia letztlich nicht über den aristotelischen Horizont hinausgehe (cf. etwa Michael, Johannes Buridanus (nt. 10), 195). Auf Buridans Verhältnis zu den Autoritäten sowie zum christlichen Dogma werde ich später noch etwas ausführlicher zu sprechen kommen. An dieser Stelle möchte ich nur ein paar knappe Überlegungen zu seinem Konzept der experientia anstellen: Daß Buridan mit seiner Formel non disputatione, sed experientia durchaus eine Art der empirischen Erfahrung promulgiert, die über den Aristotelischen Begriff der ,Empirie‘ hinausgeht, wird in einer Passage aus Quaest. Meteor. II, 5 besonders deutlich - und es ist sicherlich kein Zufall, daß Petrarca mit seiner ironischen Diskussion der Wahrheitskriterien der Geschichtsschreiber offenbar genau auf diese anspielt. Buridan bezeichnet die historiales hier als noch lügenhafter als die Dichter, da sie notgedrungen von Ereignissen schrieben, die sie nicht mit eigenen Augen verifiziert hätten, sondern nur vom Hörensagen kennen könnten: „Aristote dit que les poe`tes sont de grands menteurs. Je crois que les faiseurs d’histoires (historiales) le sont encore plus: car ils racontent et ils e´crivent des choses qui’ils n’ont point vues, mais qu’ils ont entendues de gens e´loigne´s dans le temps, qui l’ont belle pour mentir, comme les anciens en particulier, parce que leurs auditeurs ne sauraient les reprendre lorsqu’ils trompent“ (zitiert in der französischen Übersetzung von Faral, Jean Buridan (nt. 10), 552). Mit diesem Argument spielt Buridan sichtlich auf Aristoteles’ Verhältnisbestimmung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung in seiner ,Poetik‘ an, wobei er sie in auffälliger Weise dekontextualisiert und abwandelt. Aristoteles räumt der Dichtung gegenüber der Geschichtsschreibung genau deshalb eine größere ,Wahrheit‘ ein, weil sie nicht konkrete, geschichtliche Ereignisse, sondern allgemeine Wahrheiten vermittle: „Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt […]; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit“ (Poet. IX, 2-5, 1451b, zitiert aus der Edition von M. Fuhrmann, Stuttgart 1996, 29). Indem Buridan nun sowohl die Dichtung als auch die Geschichtsschreibung gleichermaßen als lügenhaft bezeichnet, negiert er offensichtlich beider Fähigkeit, ,wahre‘ Aussagen zu machen. Zugleich implementiert er den Passus in den Diskurs der präzisen Naturbeobachtung, den er in seinem ,Meteora‘-Kommentar ausgiebig entfaltet. Damit erzeugt er ganz neue Sinneffekte. Denn genau aus dieser kritischen Bezugnahme auf Aristoteles und die Geschichtsschreiber leitet er sein Konzept der Verifikation der Naturereignisse ab (cf. Faral, op. cit., ibid.) und verschiebt so unter der Hand den Gegenstandsbereich und die Semantik des ,Empirischen‘ gegenüber Aristoteles. Letztlich entsteht hierdurch nämlich durchaus eine Opposition zwischen der konkreten, ,experimentellen‘ Beobachtung der Natur und den Autorisierungsverfahren der Geschichtsschreibung, die sich weitgehend auf vergangene Ereignisse stützen. Und genau diese Opposition greift Petrarca offenbar auf. Wenn an dieser Stelle die Empirie und das Textwissen in eine Opposition zueinander gebracht werden, so bleibt es freilich weder bei Buridan noch bei Petrarca allein bei dieser schlichten Gegenüberstellung. Beide nämlich haben sich - auf ihre je eigene und gleichwohl affine Weise - zugleich stets um eine neue Methode der (quasi-philologischen) Textkritik verdient gemacht, bei der die Texte gleichsam selbst als ein empirisches Material kritisch betrachtet werden. Die schlichte Opposition zwischen Empirie und Textwissen ist damit aufgehoben und in eine komplexere Zuordnung überführt, deren innovativem Potential ich weiter unten etwas ausführlicher nachgehen werde. Was speziell Petrarca angeht, so scheint dieses Konzept der ,Empirie‘ mit dem Wissenskonzept zu kollidieren, das man gemeinhin in seiner berühmten ,wissenstheoretischen‘ Schrift ,De sui ipsius et multorum ignorantia‘ verwirklicht sieht. Bei einer
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werde, einen semantischen Grundstein, der im weiteren Verlauf des Briefes bei aller vordergründigen Heterogenität und bei allen Winkelzügen der Argumentation sehr konzise ausgebaut wird und den Brief ganz neu lesbar macht. Ein wesentliches Irritationsmoment des Briefes, das hierfür von zentralem Belang ist und erst jüngst in der Forschung ernst genommen wird, besteht darin, daß die Seelenqualen und das Hinundhergerissensein zwischen Weltsuche und Weltflucht bei näherer Betrachtung als gar nicht so ,echt‘ und tiefzermürbend dargestellt werden, wie man auf den ersten Blick denkt und wie der Sprecher vordergründig glauben machen möchte 34. Eigentlich wird hier vielmehr ein schlichtes Nichtwollen in Szene gesetzt. So gewinnt der Brief seine innere Struktur weniger aus einem beständigen Scheitern der Weltabkehr und der in diesem Zusammenhang geforderten Arbeit am eigenen Seelenheil, sondern es wird vielmehr heimlich signalisiert, daß diese Arbeit an sich gar nicht erst in Gang gesetzt wird. Hierfür nur einige Beispiele: Die ,endgültige‘ Abwendung von der Welt etwa findet erst statt, nachdem das Ich mit dem Blick soviel Welt in sich aufgenommen hat, daß es davon rundum gesättigt ist: „Tunc vero montem satis vidisse contentus, in me ipsum interiores oculos reflexi […]“ (Fam. IV, 1, 29). Und wenn der Sprecher durch den gesamten Brief hindurch die eigenen Sünden, wie erwähnt, mit bemerkenswerter Offenheit bloßlegt, so äußert er doch an keiner Stelle Reue darüber und macht sich nach seiner Einkehr ins eigene Ich auch ganz schlüssig nicht daran, diese ganz konkreten Sünden auszumerzen, sondern flüchtet sich statt dessen vielmehr in recht unspezifische Topoi der paränetischen Literatur 35. Mit Blick auf die Konversionsszene aus den ,Confessiones‘ Augustins, die hier sichtlich als Horizont aufgerufen wird 36, ist dies höchst prekär. Denn es bedeutet nichts anderes, als daß der Bergsteiger ,Petrarca‘ nicht einmal wirklich versucht, an der heilsfördernden Besserung des eigenen Ichs und der (laut Augustinus) hierfür erforderlichen Abkehr von seinem Interesse an der sichtbaren Sinnenwelt zu arbeiten 37. Und der Schluß des
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genaueren Re-Analyse dieser Schrift lassen sich dort jedoch Sinnstrukturen und Unterminierungen feststellen, die große Analogien zu den oben herausgearbeiteten aufweisen. Den Nachweis dieser Behauptung muß ich in diesem Rahmen allerdings schuldig bleiben. Cf. jüngst hierzu etwa Moser, Buchgestützte Subjektivität (nt. 14), 708 sqq. Moser liest diesen Hiat allerdings als (allzu wohlbekannte) Struktur der (sündigen) Selbstbetäubung, die eine schmerzhafte innere Spaltung des Ichs für dieses ertragbar machen solle. Meine Lektüre geht, wie sich zeigen wird, von anderen Prämissen aus. Die Mont-Ventoux-Epistel steht mit dieser Struktur freilich nicht alleine da. Vielmehr ist damit, wie sich etwa auch in Petrarcas ,Canzoniere‘ nachweisen läßt, ein rekurrentes Merkmal seiner Texte gegeben. Cf. hierzu Ventarola, Kairos (nt. 27), etwa c. 4.2. Ein besonders aussagekräftiges Beispiel findet sich in Fam. IV, 1, 32: „[…] in silentio cogitanti quanta mortalibus consilii esset inopia, qui, nobilissima sui parte neglecta, diffundantur in plurima et inanibus spectaculis evanescant, quod intus inveniri poterat, querentes extrinsecus; admirantique nobilitatem animi nostri, nisi sponte degenerans ab originis sue primordiis aberrasset, et que sibi dederat in honorem Deus, ipse in opprobrium convertisset.“ Cf. etwa Kablitz, Petrarcas Augustinismus (nt. 2); Moser, Buchgestützte Subjektivität (nt. 14), besonders 713 sqq. Besonders deutlich wird dies in den Sätzen, die unmittelbar auf die benannte Passage folgen. So wendet sich der Briefeschreiber auch hier keineswegs den eigenen Sünden zu, sondern for-
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Briefes, der darauf hinzudeuten scheint, daß der Sprecher sich von seinem Weltinteresse abgekehrt habe, bestätigt dies nur. Denn eigentlich bittet der Briefeschreiber den Adressaten hier nur, er möge darum beten, daß seine Gedanken irgendwann in ferner Zukunft doch noch den richtigen Weg einschlagen werden: „[…] pro quibus ora, queso, ut tandiu vagi et instabiles aliquando subsistant, […] ad unum, bonum verum, certum, stabile se convertant “ (Fam. IV, 1, 36). Die vorgebrachte Bitte um Fürbitte formuliert also letztlich nichts weiter als einen Aufschub der geforderten Arbeit am eigenen Ich, ja prekärer noch, diese wird nun an den Adressaten delegiert 38. Ist man durch die einleitende Livius-Geschichte auf Buridan aufmerksam geworden und fahndet in dessen Schriften nach möglichen Bezugspunkten für diese Textstruktur des Nichtwollens, so wird man in seiner Willenslehre, genauer: seiner Lehre der Willensfreiheit schnell fündig. Buridan entwickelt sie vor allem in Buch III und VII seiner ,Quaestiones super decem libros ethicorum Aristotelis ad nicomachum‘ (seinem Kommentar zur ,Nikomachischen Ethik‘) 39, und ein tragender Stützpfeiler dieser Lehre liegt genau im Konzept des nonvelle 40. Ich kann die Subtilitäten und argumentativen Verästelungen der Willenslehre Buridans in diesem Rahmen nicht ausführlich entwickeln. Für den Augenblick genügt es, sich auf das Konzept des non-velle zu beschränken, mit dem Buridans Willenslehre im übrigen besonders deutlich als (teilweiser) Gegenent-
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muliert vielmehr ein heimliches Selbstlob, indem er die Mühen herausstreicht, die er für den Aufstieg auf sich genommen habe (Fam. IV, 1, 33). Sodann macht er gar explizit darauf aufmerksam, wie übersteigert und unrealisierbar die Forderungen Augustins letzten Endes sind (Fam. IV, 1, 34). Auch hier ist es sinnvoll, die ,Confessiones‘ vergleichend zu Rate zu ziehen, um die Prekarität der zitierten Formulierung ganz zu ermessen. So durchzieht der benannte Suspens zwar anfangs durchaus auch den Text Augustins. Nach der besagten Konversionsszene ist er dort jedoch endgültig aufgehoben. Buridan wurde lange Zeit vor allem als Sprach- und Naturphilosoph erforscht. Erst in jüngerer Zeit setzt sich die Erkenntnis durch, daß die historische Wirkmacht, die sein Werk im Bereich des ethischen Denkens entfaltet hat, jener seiner anderen Schriften in nichts nachsteht, ja sie womöglich weit überstrahlt. So existieren von Buridans ,Quaestiones ethicorum‘, an denen er besonders in seinem letzten Lebensjahrzehnt gearbeitet hat und die er nicht mehr fertigstellen konnte, mit Abstand die meisten Manuskripte, die gegenüber seinen anderen Werken auch die größte Verbreitung erfahren haben; cf. Michael, Johannes Buridanus (nt. 10), 310 und 397 sq. Meine obigen Hinweise zur zeitlichen Situierung der Rezeption Buridans gelten besonders auch für seine Ethik. Außerdem habe ich bereits darauf hingewiesen, daß insbesondere seine ethischen Prinzipien wohl sehr früh schon (und durchaus bereits zu seinen Lebzeiten) auch von einem gebildeten außeruniversitären Publikum rezipiert wurden (cf. nt. 10). Zumal in diesem Diskursbereich teilen sich freilich die Meinungen, wenn es um die Frage nach der Innovationskraft Buridans geht. Im folgenden hierzu mehr. Zum non-velle cf. vor allem Quaest. Eth. III, q. 1. Auffällig ist, daß Buridan genau in dieser quaestio ausführlich auf die verschiedenen Möglichkeiten zu sprechen kommt, wie man von Paris nach Avignon reisen könne; cf. Johannes Buridanus, Quaestiones super decem libros ethicorum Aristotelis ad nicomachum, Paris 1513 [unveränderter Nachdruck, Frankfurt a. M. 1968], 36rb-va (im folgenden bezeichne ich diese Ausgabe als ed. Paris 1513). Stellt er damit möglicherweise selbst eine Verbindung zu Petrarca her?
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wurf zu Augustinus erkennbar wird 41. So liegt ein wesentlicher Aspekt der libertas des Menschen für Buridan genau darin begründet, daß dieser seinem Willen jederzeit befehlen kann, nicht zu wollen oder zumindest die Wollensbestrebung aufzuschieben, um die gewollte Sache (etwa bei möglichen Zweifeln an ihrer epistemologischen oder ethisch-moralischen Qualität) einer eingehenderen Prüfung zu unterziehen 42. Diese Möglichkeit etabliert er durch die Entwicklung eines mehrschrittigen Modells der Willensentscheidung, dessen Besonderheit darin besteht, daß er für jeden einzelnen Schritt zwischen einer primären und einer sekundären Willenshandlung unterscheidet, wobei der sogenannte actus secundus, der jeweils auf den primären Willensimpuls folgen muß, nötig ist, um die nächste Stufe der Entscheidung in Gang zu setzen 43. Mit dieser Einführung des actus secundus erreicht Buridan eine deutliche Komplexion gegenüber Augustins Verhältnissetzung von Wille und Intellekt. Indem er hierdurch nämlich die Möglichkeit eröffnet, in jeder Phase des Entscheidungsprozesses eine rationale Prüfung des Geschehens und eine Enthebung vom eigenen Wollen vorzunehmen, 41
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Gleichwohl gilt gerade hier, was ich oben bereits angedeutet habe, daß bislang nämlich auffallend wenig auf das Verhältnis zwischen Buridan und Augustinus eingegangen wurde. Selbst bei Korolec, dessen Studien sich ansonsten durch eine höchst erudite Berücksichtigung zahlreicher Intertexte und Kontexte auszeichnen, findet sich nicht mehr als eine knappe Erwähnung Augustins; cf. Korolec, Liberte´ (nt. 10), 115. Auch R. Saarinen, Weakness of the Will in Medieval Thought. From Augustin to Buridan, Leiden-New York-Köln 1994, 161-193, äußert sich mehr implizit als explizit über einen möglichen Zusammenhang zwischen den beiden, und das, obwohl er die beiden Namen im Titel seiner Monographie explizit nebeneinander stellt. In seiner Zusammenfassung charakterisiert er Buridans Modell zudem fast einschränkungslos als augustinistisch (ibid., 190) und scheint mir damit all jene Differenzen zu übersehen, die seine eigenen Analysen letztlich recht deutlich zutage gefördert haben. Quaest. Eth. III, q. 5 (ed. Paris 1513, 44vb ), zitiert nach Saarinen, Weakness (nt. 41), 172: „Similiter etiam dico, quod voluntas nunquam movet intellectum ad consiliandum, nisi intellectus praeiudicaverit, quod considerare illud obiectum est bonum. Nec est inconveniens, quod intellectus actus cognoscat aliquod obiectum sub una ratione, et dubitet de eo sub alia, et quod tunc iudicet bonum esse considerare ulterius circa ipsum“; Quaest. Eth. III, q. 4 (ed. Paris 1513, 44ra; ms BJ 664, 45b; ms. BJ 658, 69vb ), zitiert nach Korolec, Liberte´ (nt. 10), 123: „Secunda conclusio est quod voluntas non potest velle illud in quo nulla apparet intellectui ratio bonitatis, quia tale nullo modo esset presentatum voluntati sub ratione volibili. Et eodem modo dicendum est quod voluntas non potest nolle, licet possit non velle, illud in quo nulla apparet intellectui ratio malitiae […] sub ratione fugibilis vel refutibilis […].“ Cf. zu diesem Aufschub auch Vos, Contingency (nt. 29), der hierfür die Formulierung ,power of postponement‘ prägt (ibid., 152). Siehe insgesamt zu Buridans Konzept der Willensfreiheit, speziell zur Freiheit des Willens, über das eigene Wollen zu entscheiden, G. Krieger, Bietet ,Buridans Esel‘ den Schlüssel zum Verständnis der Philosophie des Johannes Buridanus?, in: Bos/Krop, John Buridan (nt. 29), 121-140, hier 137; id., Der Begriff der praktischen Vernunft nach Johannes Buridanus, Münster 1986; id., Libertas oppositionis - libertas finalis ordinationis. Buridans Bestimmung menschlicher Freiheit als Beitrag zur Entwicklung des neuzeitlichen Freiheitsverständnisses, in: W. Kluxen (ed.), Tradition und Innovation, XIII. Deutscher Kongreß für Philosophie, Bonn 24.-29. September 1984, Hamburg 1988, 268-280. Speziell zum actus secundus cf. besonders Quaest. Eth. III, q. 3 (ed. Paris 1513, 41ra-42rb ) und III, q. 5 (ibid., besonders 44vb ). Für eine ausführlichere Darstellung dieses Prozeßmodells verweise ich etwa auf Korolec, Liberte´ (nt. 10), 120 sq., sowie Saarinen, Weakness (nt. 41), 169 und 171 sq.
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ist Augustins zentrales Konzept des non posse non velle (als Sündenkonzept des non posse non peccare) verabschiedet und seine zirkuläre Zuordnung von Wille und Intellekt in ein Modell der gesteigerten Handlungsflexibilität und -adäquanz überführt 44. Wenn Buridan mit seiner anfänglichen Annahme eines Primats des Willens also vom gleichen Ausgangspunkt wie Augustinus ausgeht 45, so wandelt er diesen Primat doch zu einem Moment der Schuldentlastung des Menschen um 46. Wenn in Petrarcas Brief nun mit der Versenkung ins eigene Ich gar nicht wirklich eine Seelenprüfung in Gang gesetzt wird, wie ich bereits gezeigt habe, so fällt doch auf, daß eine andere Sache desto gründlicher geprüft wird: die augustinische Lehre nämlich. So werden die aufgezählten unspezifischen Topoi, die bei näherer Betrachtung allesamt Augustinus entlehnt sind, sofort zweifelnd kommentiert und von zuweilen recht ketzerischen Fragen begleitet, mit denen das Ich die Virulenz, innere Stringenz und Adäquanz der Lehre hinterfragt 47. Hier also scheint der eigentliche Herd der inszenierten Willensschwäche zu liegen: im letztlichen Zweifel an der augustinischen Moraltheologie, der im übrigen ein recht luzides Bewußtsein von der eigenen historischen Situation bezeugt, 44
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Dies wird in der Forschung so noch nicht gesehen, scheint mir jedoch ein zentraler Aspekt der buridanischen Willenslehre zu sein. Zu Augustins Konzept des non posse non peccare cf. Ventarola, Kairos (nt. 27), c. 2.2 und p. 109. Zwar betont auch Augustinus die grundsätzliche Willensfreiheit des Menschen, jedoch vornehmlich, um daraus eine Begründungskategorie für dessen unaufhebbare Schuldhaftigkeit zu machen. Denn in seinem Denkgebäude bedeutet Willensfreiheit vornehmlich die Freiheit der Entscheidung zur Sünde. Hier offenbart sich im übrigen besonders deutlich, wie geschickt Buridan zwischen Voluntarismus und rationalistischem Determinismus vermittelt: Wille und Intellekt begreift Buridanus explizit nicht als Opponenten in diesem Prozeß (wie Augustinus), sondern vielmehr als zwei kooperierende Momente desselben Geschehens (Quaest. Eth. X, q. 1, ed. Paris 1513, 204va ). Cf. hierzu auch Krieger, ,Buridans Esel‘ (nt. 42), hier 139. Die Konsequenzen dieser Zuordnung liegen auf der Hand: Indem Buridan der ratio eine wichtige Rolle im Willensprozeß zuspricht, dämmt er die Willenskontingenz und den daraus häufig abgeleiteten Fideismus des strengen Voluntarismus ein. Zugleich hebt er wieder und wieder die Freiheit des Willens hervor und wehrt so der Gefahr, umgekehrt in einen Nezessitarismus antik-aristotelischer Prägung zu verfallen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis von James J. Walsh, daß Buridan der (augustinischen) Theorie von den unbeobachtbaren Regungen des Willens sehr kritisch gegenübersteht; cf. J. J. Walsh, Is Buridan a Sceptic about Free Will?, in: Vivarium 2 (1964), 50-61, hier 54. Cf. etwa Saarinen, Weakness (nt. 41), 190. Buridans Impetus, die dem Menschen von Augustinus aufgebürdete Schuldbelastung zu verringern, ist an vielen seiner ethischen Denkfiguren ablesbar. Besonders deutlich offenbart er sich auch, wenn Buridan die Voraussetzungen aufzählt, die seiner Meinung nach gegeben sein müssen, damit der Mensch in den Genuß der Freiheit komme. Denn dort nennt er - und der Unterschied zur stoisch-augustinischen Lehre ist nicht zu übersehen - unter anderem auch die Verbürgtheit der materiellen und finanziellen Grundlagen der Existenz; cf. Quaest. Eth., ms. BJ 644, 180rb-va; ms. BJ 658, 322rb, ein ausführliches Zitat findet sich bei Korolec, Liberte´ (nt. 10), 118. Beispielhaft sei hier jene Passage aus Fam. IV, 1, 33 zitiert, die ich in nt. 37 bereits erwähnt habe: „[…] si tantum sudoris ac laboris, ut corpus celo paululum proximius fieret, subire non piguit, que crux, quis carcer, quis equuleus deberet terrere animum appropinquantem Deo, turgidumque cacumen insolentie et mortalia fata calcantem? “
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indem er nämlich genau auf die eingangs angedeuteten zeitgenössischen Virulenzprobleme dieser Lehre hinweist. Offenbar macht der Bergsteiger hier also genau von seiner - vor allem von Buridan hervorgehobenen - Möglichkeit der epistemologischen Prüfung eines (traditionell als erstrebenswert dargestellten) Sachverhalts Gebrauch, wobei dieser Sachverhalt nun mit dem augustinischen Dogma selbst zusammenfällt, und kommt hierbei (in einem mehrschrittigen Prozeß) zu Ergebnissen, die sich sichtlich gegen Augustinus kehren 48. Doch auch in Buridans Lehre der Willensschwäche selbst findet das Ich einen ,Verbündeten‘. Denn in auffälliger Weise führt Buridan, im Gegenzug zu Augustinus, auch die akrasia vor allem als eine rationale Kategorie ein. So tritt auch diese ihm zufolge insbesondere dann mit großer Wahrscheinlichkeit auf, wenn eine moralische Vorgabe nicht genügend fundiert ist, wenn der zu bessernde Zögling der ans Herz gelegten Lehre also aus Vernunftgründen nicht vorbehaltlos zustimmen kann 49. Daß genau dies für den Briefeschreiber aber zutrifft, signalisiert er bereits, als er sich das erste Mal von der Innenschau ab- und wieder der genauen topographischen Beschreibung seines Panoramablicks zuwendet und hierfür eine höchst bemerkenswerte Begründung anführt, nämlich das Argument, daß die unternommene ,Alpentour‘, also die konkrete Durchwanderung der Welt, nicht der passende Ort für eine zermürbende Seelenprüfung sei, sondern andere kognitive Leistungen und Handlungen erfordere: „De provectu meo gaudebam, imperfectum meum flebam et mutabilitatem comunem humanorum actuum miserabar; et quem in locum, quam ob causam venissem, quodammodo videbar oblitus, donec, ut omissis curis, quibus alter locus esset oportunior, respicerem et viderem que visurus adveneram“ (Fam. IV, 1, 24; Hervorhebung von mir). Der Aufschub der von Augustinus geforderten Weltabkehr, der auch am Schluß des Briefes noch beibehalten wird, wird also bereits hier mit dem Hinweis legitimiert, daß diese Lehre für die Anforderungen des täglichen Lebens eigentlich inadäquat und nicht praktikabel sei. Das Argument der Praktikabilität und Sachadäquanz aber weist erneut größte Affinitäten zu Buridans Lehre auf, die letztlich insgesamt um diesen Gedanken herum zentriert ist. Zwar behält Buridan die jenseitige Gottesschau als fernes Letztziel aller Handlungen durchaus bei 50. Dennoch betont er nicht nur in seiner 48
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Eine solche Deutung mag auf den ersten Blick vielleicht etwas weit hergeholt oder allzu kühn anmuten. Bestätigung findet sie allerdings in Petrarcas ,Canzoniere‘, in dem sich ganz ähnliche Sinnstrukturen nachweisen lassen. Cf. ausführlich hierzu Ventarola, Kairos (nt. 27), etwa c. 4.2. Quaest. Eth. VII, q. 3 und q. 6, vor allem ed. Paris 1513, 143r-143va. Zu Buridans Verhältnissetzung zwischen der akrasia und unsicheren Urteilen beziehungsweise verschiedenen Graden der Evidenz cf. etwa Vos, Contingency (nt. 29), 152 sq.; Saarinen, Weakness (nt. 41), 184 sq. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Buridan genau bei der Darstellung seiner Lehre der incontinentia vielfach auf die Thesen von 1277 anspielt (Schönberger, Relation als Vergleich [nt. 5], 319) und sich diesen gegenüber zahlreiche Freiheiten erlaubt (Faral, Jean Buridan [nt. 10], 584). Saarinen, op. cit., geht gar davon aus, daß sich Buridan in Quaest. Eth. III, qq. 1-5 insgesamt mehr mit den Pariser Thesen als mit Aristoteles auseinandersetzt (ibid., 168). Cf. hierzu etwa Walsh, Teleology (nt. 29); Schönberger, Der Begriff des Guten (nt. 29).
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Epistemologie und ,Wissenschaftslehre‘, sondern auch in seiner Ethik immer wieder, daß seine Überlegungen und dargebotenen Handlungsoptionen sich letztlich insgesamt vor allem auf die imminent anstehenden Anforderungen des praktischen Lebens im diesseitigen hic et nunc (beziehungsweise in einer nahen diesseitigen Zukunft) beschränken: Bei aller Konzession an die Allmacht Gottes hat Buridan vor allem die diesseitigen Erkenntnis-, Handlungs- und Glücksmöglichkeiten des Menschen im Blick, die dieser eigenmächtig (mit-)gestalten kann 51. Er verteidigt also die Freiheit, sich bei imminent anstehenden Anforderungen des praktischen Lebens ganz um diese zu kümmern und sich hierfür auch Rat bei möglicherweise adäquateren immanenzorientierten Lehren zu holen 52. In der älteren Terminologie würde man sagen, daß Buridan ein entschiedener Verfechter der ,Lehre der doppelten Wahrheit‘ ist, die zu jener Zeit von 51
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Bereits im Prolog seines ,Ethik‘-Kommentars signalisiert Buridan die starke Praxisbezogenheit seiner Ethik, wenn er - in deutlicher Absetzung von Aristoteles - die prudentia über die sapientia (und damit das Handeln über die reine theoretische Schau) stellt (ed. Paris 1513, 2ra ). Ganz folgerichtig wählt er für seinen Kommentar sodann vor allem jene Textstellen aus der ,Nikomachischen Ethik‘ aus, die das tätige, praktische Handeln betreffen und entwickelt ein Konzept des homo felicitabilis, das nicht nur über den mittelalterlich-christlichen sondern auch über den aristotelischen Horizont hinausgeht. Cf. hierzu sowie allgemein zum Prolog und zum ,Pragmatismus‘ Buridans etwa Korolec, Philosophie morale (nt. 29), besonders 56 sqq.; G. Krieger, Die Stellung und Bedeutung der philosophischen Ethik bei Johannes Buridanus, in: Medioevo 12 (1986), 131-195; id., ,Buridans Esel‘ (nt. 42); id., Praktische Vernunft (nt. 42), 272-277; Pluta, Albert der Große (nt. 29); Markowski, Wissenschaftsverständnis (nt. 8), 88 sq. Einige Forscher (wie etwa O. Pluta) neigen dazu, Buridans Diesseitsorientierung etwas zu stark zu prononcieren, was unweigerlich Gegenstimmen provoziert hat, so beispielsweise von Schönberger, Der Begriff des Guten (nt. 29). Diese scheinen mir allerdings ihrerseits ins andere Extrem zu verfallen, wenn sie Buridans Aussagen über die transzendente Letztorientierung seiner Ethik verabsolutieren und zum Zentrum seines (ethischen) Denkens machen. Denn eine nähere Analyse seiner Argumentationsstrukturen scheint mir durchaus die Annahme zu bestätigen, daß es ihm vor allem um die immanente Lebenspraxis geht, wenngleich nicht in der radikalen ,materialistischen‘ Weise, die ihm manchmal zugeschrieben wird. Ich muß mich hier auf ein (repräsentatives) Beispiel beschränken. So wird als Argument für Buridans Transzendenzorientierung gerne angeführt, daß er seinen Überlegungen zum immanenten Glück zumeist eine Darstellung der visio beatifica folgen lasse; cf. etwa Schönberger, op. cit., 412 sqq. Dies trifft zwar zu, doch damit ist die Argumentation Buridans noch nicht beendet. So schränkt er seine diesbezüglichen Aussagen in Quaest. Eth. III, q. 3 sichtlich wieder ein, wenn er betont, der Mensch habe (gleichwohl) stets die Freiheit, sein Wollen auf ein minderes Gut zu beschränken. Quaest. Eth. III, q. 3 (ed. Paris 44ra; ms. BJ 664, 44vb; ms. BJ 658, 68va ), zitiert nach Korolec, Liberte´ (nt. 10), 122: „Prima conclusio est quod voluntas stante casu posito non potest et pro tunc velle minus bonum. Et dixi non potest *„tunc et pro tunc“+, quia tunc voluntas potest velle minus bonum pro alio tempore in quo amplius stabit illud iudicium, et est in potestate voluntatis imperare intellectui ut desistat a consideratione illius maioris boni, et tunc poterit acceptare minus bonum.“ Damit ist die Transzendenzorientierung unübersehbar wieder relativiert, wobei Buridan sichtlich darauf achtet, nicht in einen ,dogmatischen‘ Gestus zu verfallen. Offenbar delegiert er selbst noch die Entscheidung über die Ziele des Handelns und Lebens an seine Leser. Man hat es hier mit einer Argumentationsstrategie zu tun, die in seinen Texten häufig anzutreffen ist und für die ich im folgenden noch weitere Beispiele anführen werde. Lehren, die dementsprechend vor allem aus der Antike stammen. Cf. Korolec, Liberte´ (nt. 10), 152, sowie - in seinen Schlußfolgerungen manchmal etwas zu radikal - Pluta, Anthropologie (nt. 11) und id., Albert der Große (nt. 29). Hierzu mehr bei meiner Interpretation von Fam. I, 8.
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theologischer Seite mit großem Argwohn bedacht wird. Vorsichtiger könnte man von Buridans ,Separationsmodell‘ sprechen 53. Doch mit seiner Fassung des Konzepts der praktischen Vernunft geht Buridan noch einen Schritt weiter. Anneliese Maier spricht in ihrer wirkmächtigen Darstellung der Philosophie Buridans an einer Stelle davon, daß er eigentlich eine ,Lehre der dreifachen Wahrheit‘ vertrete 54, bei der die Entscheidung der eigenen Vernunft als selbständige Größe neben das christliche Dogma und die Ansichten der Philosophen gestellt werde. Das wesentlich Neue an seinem Konzept der praktischen beziehungsweise natürlichen Vernunft liege genau darin, daß ihm zufolge dem Einzelnen kraft seines eigenen ,natürlichen Erkennens und Erschließens‘ 55 die Möglichkeit verliehen sei, allen vorgefundenen Lehren oder auch Autoritäten prüfend und kritisch gegenüberzutreten. Freilich erliegt A. Maier hier bei aller Innovationskraft ihres Buridanbildes ganz der Verführungskraft der ,grandes histoires‘ ihrer Zeit und übersieht, daß es bereits im Mittelalter (und früher) zahlreiche Ansätze gibt, Autorität und die ,Natürlichkeit‘ beziehungsweise Eigenständigkeit des menschlichen Erkennens komplexer zu denken 56. Außerdem potenzieren sich mit der gewählten Begrifflichkeit der ,dreifachen Wahrheit‘ die logischen Probleme und inneren Widersprüche, die bereits dem Konzept der ,zweifachen Wahrheit‘ innewohnen. Gleichwohl ist die starke Häufung entsprechender Denkfiguren bei Buridan so auffällig, daß sie durchaus - und nicht zuletzt auch wegen der vielfältigen neuartigen Redekontexte, in denen er sie anbringt - eine gewisse neue Qualität und Virulenz erhalten 57. 53
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So Schönberger, Relation als Vergleich (nt. 5), 305 sqq., mit einer etwas anderen argumentativen Stoßrichtung. Zur Diskussion des Konzepts der ,doppelten Wahrheit‘ siehe oben, nt. 5. A. Maier, Metaphysische Hintergründe der spätscholastischen Naturphilosophie, Rom 1955, 12. Ibid. Cf. hierzu etwa Schönberger, Relation als Vergleich (nt. 5), 253 sqq.; Speer, Die entdeckte Natur (nt. 24), 36 sqq. Auf Buridans komplexe Semantik des ,Natürlichen‘ und deren Differenz zu antiken Semantiken der ,natürlichen Vernunft‘ (speziell in der platonisch-aristotelisch-stoischen Tradition) kann ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Cf. hierzu auch unten, nt. 97. Besonders eindrücklich äußert sich Buridan über die kritische Vernunft etwa in seinen ,Quaestiones super tres libros De anima Aristotelis‘ III, q. 24 (ed. J. Lockert, Paris 1516, 24rb ). Auch zu Buridans Konzeption von Autorität sowie zu seinem Verhältnis zum tradierten ,Autoritätenwissen‘ gibt es eine rege Diskussion, die ich ebenfalls nicht ausführlich nachzeichnen kann. Gegen die oben vertretene Ansicht, Buridan plädiere dafür, sich stets kritisch mit den durch bloße Autorität ,verbürgten‘ Wissensbeständen auseinanderzusetzen, wurde in jüngerer Zeit vermehrt Kritik laut. Zur Begründung wurden hierbei häufig zwei Textstellen aus seinem ,Ethik‘-Kommentar angeführt (eine Passage aus dem Prolog und eine aus Quaest. Eth. X, q. 1), in denen er statt dessen die Programmatik seiner Schriften eindeutig als konservativ auszuweisen und sich ganz in den Horizont des autoritativ ,gefestigten‘ Wissens zu stellen scheint. Ich möchte mich auf die erstgenannte Textstelle konzentrieren, Quaest. Eth., prol. (ed. Paris 1513, 2ra ), zitiert nach Schönberger, Der Begriff des Guten (nt. 29), 398 sq.: „In hoc autem opusculo propter meam inexperientiam et ineptitudinem mei iudicii sententia et auctoritatibus doctorum antiquorum magis quam novis rationibus etiam quantumcumque mihi apparentibus adhaerebo. Pluries enim me inveni deceptum rationibus noviter emergentibus, antiquos autem sententiis nunquam, specialiter in moralibus. Propter quod in hoc opere aliqua corrigam eorum, quae alias credidi esse vera. Rationes autem in hac scientia ex actionibus humanis
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Und genau das, so dürfte nun deutlich geworden sein, wird in Petrarcas Brief in die Tat umgesetzt und ausführlich inszeniert. Mit den prüfenden Fragen und der heimlichen Kritik an Augustinus wird dessen Lehre als bloße opinio ausgewiesumuntur, quorum notitia non habetur sine experientia multa. Propter quod dicit Aristoteles sexto Ethicorum: oportet attendere expertorum et seniorum prudentum in demonstrabilibus enuntiationibus non minus demonstrationum propter habere enim experientiam visum vident principia.“ Der Eindruck des ,Konservativen‘ verflüchtigt sich, wenn man folgendes berücksichtigt: Bezeichnend ist bereits die Tatsache, daß sich Buridan bei seiner Gegenüberstellung von alt und neu keineswegs auf die zeitgenössisch gewachsenen ,älteren‘ Traditionen beruft, sondern weit zurück in die Antike greift. Damit benennt er bei näherer Betrachtung ein Vorgehen, das in dem vorfindlichen Maße erst im 14. Jahrhundert gängig wird und die Renaissance einleitet. Der programmatische Charakter des Passus tritt noch deutlicher hervor, wenn man in Rechnung stellt, daß sich Buridan in seinen Texten durchaus auch (freilich stets kritisch) an den neuen und neuesten Theorien seiner Zeit inspiriert. Die Begründung scheint hier wichtiger als die (unwahre) Tatsache an sich, und kaum zufällig legitimiert Buridan sein Vorgehen mit der handlungsorientierten Kategorie der tätigen experientia, die die antiken Autoritäten den zeitgenössischen (in ihrem Augustinismus vielfach handlungs- und neugierfeindlichen) voraus haben. Buridan spielt letztlich nicht alt gegen neu, sondern vielmehr grundsätzliche Weisen des Weltzugriffs gegeneinander aus und nimmt zugleich eine recht eindeutige Bewertung vor. Dies signalisiert er auch mit dem Aristoteleszitat, das er sodann zur Untermauerung anführt und zugleich auf subtile Weise abwandelt. Denn während Aristoteles in Nik. Eth. VI. 12, 1143b11-14 empfiehlt, den Aussagen der ,Älteren‘ auch dann Glauben zu schenken, wenn sie nicht beweisbar seien (Ethica Nicomachea. Translatio Roberti Grosseteste…, ed. R. A. Gauthier [Aristoteles Latinus 26, 1-3], Leiden-Brüssel 1973, 489 sq.: „Oportet attendere expertorum et seniorum vel prudentum indemonstrabilibus enunciacionibus […] non minus demonstracionum […].“), schränkt Buridan diese Aufforderung sichtlich auf die beweisbaren Aussagen ein und tilgt damit alle Geltungsansprüche von ,Wissen‘, die sich aus dem bloßen Faktum der institutionalisierten Autorität ergeben könnten. Daß es Buridan genau hierauf ankommt, wird in den unmittelbar folgenden Passagen des Prologs noch deutlicher. Denn genau nach diesem Zitat differenziert Buridan - in sinnfälliger Absetzung von der Tradition - verschiedene Arten der Logik aus und prägt in diesem Zusammenhang auch den Begriff der ,Morallogik‘, mit dem er die duale Opposition zwischen Rhetorik und Logik aufhebt und im nachhinein die theoretischen Grundlagen für eine Neuerung liefert, die er bereits zuvor im Wissenschaftshaushalt und universitären Lehrbetrieb seiner Zeit eingeführt hatte. Ein wesentlicher Grund für die bereits erwähnte sofortige Wirk- und Ausstrahlungskraft seiner Ethik liegt nämlich genau darin, daß er den neuen Wissenschaftszweig der ,Morallogik‘ etablierte, in dem die Argumentationsverfahren im Bereich der praktischen Philosophie beziehungsweise Ethik kritisch analysiert wurden, und daß er zur Vermittlung der hierfür benötigten Fertigkeiten auch eine ganz neue Form der Ethikvorlesung einführte, die bereits im 14. Jahrhundert an den unterschiedlichsten Universitäten zahlreiche Nachahmer fand; cf. hierzu Markowski, Wissenschaftsverständnis (nt. 8), 90. Ganz ähnliches läßt sich auch in der zweiten programmatischen Textstelle nachweisen, die gerne angeführt wird (Quaest. Eth. X, q. 1, ed. Paris 1513, 204va ). Auch hier überführt Buridan was ich nicht mehr zeigen kann - die Isotopie der unhinterfragten Autoritätenaffirmation auf subtile Weise in eine Apologie der kritisch-methodischen Überprüfung und der eigenen experientia und konkretisiert dieses Anliegen sodann in seinen weiteren Ausführungen, in denen er bezeichnenderweise zudem den großen Nutzen der Sinneswahrnehmung und der bereits erwähnten Kooperation zwischen Wille und Intellekt betont. Buridan inszeniert sich im übrigen auch selbst als eine ,Autorität‘ in diesem Sinne, etwa wenn er in der zitierten Textstelle aus dem Prolog seine eigene Fehlbarkeit hervorhebt, oder wenn er wieder und wieder Floskeln einstreut, mit denen er den Geltungsanspruch seiner Aussagen relativiert, indem er auf deren bloß konjekturalen Charakter hinweist (wie etwa die Formel ,ut credo‘ oder ,apparet mihi ‘) und damit implizit zu einer eigenständigen Überprüfung seines Denkens auffordert. Mehr hierzu unter IV.2.
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sen, die fehlerhaft ist wie alle anderen auch und somit keine Hegemonieansprüche geltend machen kann. Ein nochmaliger Blick an den Schluß des Briefes bestärkt diesen Verdacht. Denn dort betont der vom Berg zurückgekehrte Briefeschreiber, er müsse seine Erlebnisse und Anwandlungen einer augustinisch inspirierten Reue so schnell wie möglich zu Papier bringen, damit sie sich nicht ungehört verflüchtigten 58. Er weist also selbst darauf hin, daß das augustinische Denken offenbar nicht in der Lage ist, einen dauerhaften Wandel in ihm zu bewirken. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man Petrarcas Schrift ,De sui ipsius et multorum ignorantia‘ hinzuzieht, in der er sein Wissenskonzept ausführlich vorstellt. Denn dort kritisiert er die (besonders an Aristoteles inspirierten) Lehren, denen seine treulosen Freunde anhängen, vor allem mit dem Argument, sie vermöchten keine anhaltende, substantielle moralische Änderung bei den Rezipienten hervorzurufen und verfehlten deshalb den Hauptzweck aller Philosophie 59. Und genau dieser Kritikpunkt wird in der Mont-Ventoux-Epistel offenbar auf die augustinische Lehre appliziert 60. Die extreme Wandelhaftigkeit und Unbeständigkeit des Briefes, die zunächst, ganz augustinisch, die Sündenverfallenheit des Ichs zu visualisieren scheint, führt also letztlich, unter eigenwilligem Rückgriff auf Buridan, die fehlende Virulenz und handlungsleitende Macht der augustinischen Lehre selbst vor Augen. Auch sie, so wird damit signalisiert, ist keineswegs in der Lage, das Ich dauerhaft zu bessern und verdient es damit nicht, gegenüber den anderen Lehren eine Vorrangstellung einzunehmen. Die kritischen Fragen aber, mit denen das Ich die inneren Aporien dieser Lehre bloßlegt, zeigen, daß die Schuld an diesem Versagen nicht so sehr dem Ich und seiner Sündhaftigkeit als vielmehr der Lehre selbst zugewiesen wird, deren Einflußmacht mit den historischen Veränderungen des Denkens unweigerlich ins Wanken geraten muß. Das Ich inszeniert sich als selbständiger Kritiker Augustins und setzt damit Buridans Präzepte auf eine recht eigenwillige Weise um 61. Dem spätmittelalterlichen Entzug der Dauer wird der Suspens der von Augustinus eingeforderten Weltabkehr entgegengehalten 62. 58
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Fam. IV, 1, 35 sq.: „[…] solus ego in partem domus abditam perrexi, hec tibi, raptim et ex tempore, scripturus; ne, si distulissem, pro varietate locorum mutatis forsan affectibus, scribendi propositum deferveret.“ Francesco Petrarca, De sui ipsius et multorum ignorantia, ed. A. Buck, Hamburg 1993, 104: „Omnes morales, nisi fallor, Aristotilis libros legi, […] sed non - qua decuit - melior factus ad me redii.“ Das zitierte Argument wird von den spätmittelalterlichen Augustinisten häufig angewandt, um das hochscholastische Denkgebäude als praxisfern und geradezu gefährlich zu kritisieren. Damit rücken sie dieses Denken bei näherem Besehen in ein recht falsches Licht. Dasselbe gilt bei näherer Betrachtung auch für ,De ignorantia‘ selbst, was ich, wie bereits erwähnt, in diesem Rahmen leider nicht mehr vorführen kann. Die Affinitäten zwischen Petrarca und Buridan treten noch deutlicher hervor, wenn man die den Brief beschließende Bitte um Fürbitte mitberücksichtigt. Indem Petrarca die Gotteszuwendung dort nämlich nonchalant suspendiert und so zum weit entfernten Letztziel und Fernhorizont macht, setzt er genau jene Zuordnung von Theorie/(Natur-)Philosophie und Theologie um, die auch Buridan, wie bereits erwähnt, in seinen Schriften realisiert. Petrarcas Poetik des Suspenses wurde in der Forschung durchaus bereits untersucht, allerdings vor allem mit Blick auf den ,Canzoniere‘ und mit teilweise anderen Schlußfolgerungen. Cf. zuletzt hierzu G. Regn, Poetik des Aufschubs: Giovanni Colonna und die Architektur des ,Can-
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Wenn aber die Abkehr von der Welt aufgeschoben und die heilsfördernde Seelenzermarterung als unpraktisch für die Anforderungen des täglichen Lebens ausgewiesen wird, und wenn die allegorische Lektüre des Buches der Natur so heillos ins Schwanken gerät, was bleibt dann noch für ein Halt? Welche Möglichkeiten der Dauer bleiben dem Menschen? Zunächst einmal ist da die Literatur. Die bereits erwähnte Aussage des Ichs, es müsse nach seinem Abstieg alle seine Erlebnisse so schnell wie möglich aufschreiben, damit nichts davon verloren gehe, ist auch hierfür sehr aussagekräftig. Denn der Briefeschreiber läßt es ja dezidiert bei diesem Bemühen bewenden. Ihn interessiert einzig die möglichst vollständige Niederschrift seiner Erlebnisse. Damit tritt der bloße Bericht letztlich an die Leerstelle der entzogenen Stabilität und der aufgeschobenen Arbeit an sich - das Schreiben wird zum Selbstzweck. Soweit die fast einhellige Meinung der Forschung 63. Doch dabei bleibt es, wie ich meine, nicht. Denn auch der ,naturwissenschaftliche‘ Diskurs, der in der Einleitung des Briefes entfaltet und auch von dem rückblickenden Briefeschreiber nach wie vor affirmiert wird, bekommt hier seinen Platz zugewiesen 64. Denn wenn die Seelenqualen als flüchtig, folgenlos und unpraktikabel inszeniert sind, so bleibt am Ende doch die genaue topographische Beschreibung der Welt, die auch für den Leser dauerhaft festgehalten wird. Die Koordinaten seiner eigenen Aussicht vom Mont Ventoux aus dokumentiert der Briefeschreiber nämlich auf das genaueste 65 - und befindet sich auch damit in bester Nachbarschaft zum ,Meteora‘-Kommentar, in dem Buridanus genau eine solche weltvermessende Dokumentation von Naturphänomenen ausbreitet 66. Das (bereits mit der Livius-Geschichte aufgerufene) selbst verifizierte Wissen, die Weltvermessung bleibt und wird der Nachwelt - ähnlich wie in Buri-
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zoniere‘ (zu ,RVF‘ CCLXVI und CCLXIX), in: K. W. Hempfer/G. Regn (eds.), Petrarca-Lektüren. Gedenkschrift für A. Noyer-Weidner, Stuttgart 2003, 185-211. Beispielhaft sei hier noch einmal verwiesen auf Moser, Buchgestützte Subjektivität (nt. 14), vor allem 710 sqq. Moser belegt zwar, daß das Schreiben für Petrarca selbst als eine Form der Praxis konzipiert ist; gleichwohl bleibt die Kluft zwischen Schreiben und Leben in seinen Analysen implizit meist präsent. Daß die Natur bei Petrarca eine neue Eigenständigkeit erhält, zeigt Karlheinz Stierle in seinen Studien zu Petrarcas Landschaften. Cf. etwa Stierle, Francesco Petrarca (nt. 14), besonders c. IV. Allerdings begreift Stierle die Landschaft weitgehend als ästhetische Kategorie und Projektionsfläche des ,Subjekts‘ (im romantisch-postromantischen Sinne) und beraubt sie damit unter der Hand doch wieder ihrer Eigenständigkeit. Meiner Ansicht nach geht es in der Mont-VentouxEpistel eher darum, die Natur auch als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnisbemühungen zu ,emanzipieren‘. Cf. besonders Fam. IV, 1, 25 sq. Mosers Interpretation, Petrarca habe den Berg nicht bestiegen, um die Natur zu explorieren, sondern umgekehrt um Distanz von der Welt zu nehmen (cf. Moser, Buchgestützte Subjektivität [nt. 14], 705), kann ich also nicht ganz beipflichten. In dieser Struktur der Gegenüberstellung wird die Differenz zur Naturentdeckung des 12. Jahrhunderts im übrigen besonders sinnfällig. Cf. dazu etwa Faral, Jean Buridan (nt. 10), 538-559; Michael, Johannes Buridanus (nt. 10), 194 sq.
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dans ,Meteora‘-Kommentar - als gesicherte Augenzeugenschaft weitergegeben. Diese Lesart wird durch einen weiteren Befund gestützt. So ist es sicher kein Zufall, daß die auffällige schwankende Unbeständigkeit bei genauem Besehen erst in dem Moment Einzug in den Brief und die Seele des Ichs hält, als es den Versuch unternimmt, seine Weltwahrnehmung einer allegorischen Lektüre zu unterziehen: Bei der Planung und zu Beginn des Aufstieges demonstriert das (erlebende) Ich noch eine bemerkenswerte Festigkeit und Entschlußkraft. Es ruht gleichsam in seiner eigenen curiositas und läßt sich durch nichts von seinem Vorhaben der Weltexploration abbringen (die Begegnung mit dem Hirten führt dies eindrucksvoll vor und wurde wohl auch genau deshalb eingefügt). Erst als es aus Furcht vor der Mühsal und in der Hoffnung, einen möglichst leichten Aufstieg zu finden, um den Berg herumwandert statt hinaufzusteigen, erinnert es sich der Möglichkeit, die Natur im christlichen und speziell augustinischen Sinne allegorisch zu lesen 67 - und erst in dem Moment, da es eine solche Allegorese versucht, ist es um seine innere Stabilität geschehen; erst hier beginnt das ganze Elend des unbeständigen Hinundhergerissenseins. Während die Allegorie also in heillose Aporien getrieben wird und in der Zeit zerfließt, wird die ganz unallegorische Beschreibung der Weltkoordinaten als stabil ausgewiesen und bleibt dem zukünftigen Leser, etwa als praktische Anleitung für weitere geotopographische Kartographierungen der Welt bestehen. Für das wissenschaftliche Studium der Welt aber ist es laut Buridan völlig legitim, von der (hypothetischen) Prämisse des Aristoteles auszugehen, die immanente Welt sei ungeschaffen-ewig und bis in alle Zeiten stabil 68. Die Verhältnisse der Dauer sind in Petrarcas Brief also genau verkehrt. Im Unterschied zur Tradition ist es nun die christliche, speziell augustinisch eingefärbte Allegorie, die von der Zeit affiziert ist und Unbeständigkeit hervorruft, während (zumindest vorläufige) Stabilität und Dauer nur im Schreiben und in der antikisierenden, ,naturwissenschaftlichen‘ (empirischen) Weltvermessung gefunden wird 69. Petrarca inszeniert durchaus den spätmittelalterlichen Aufbruch der zentralen Zeitaporie des Christentums, ja er tut dies fast noch radikaler als viele seiner Zeitgenossen. Gleichwohl liefert er, unter Rückgriff auf Buridan, sofort mögliche Gegenmaßnahmen mit - Maßnahmen im übrigen, die er im 67 68
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Fam. IV, 1, 12. Seine diesbezüglichen Überlegungen breitet Buridan in seinem Kommentar zur aristotelischen ,Physik‘ aus, genauer in Quaest. Phys. I, q. 8-13. Er versucht hier nachzuweisen, daß die christliche These einer creatio ex nihilo wissenschaftlich unhaltbar sei. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, daß sich Buridan fast nie zu apodiktischen Aussagen hinreißen läßt. Auch hier bleibt er - wie stets - seinem Schreibduktus der epoche´ treu und streut zahlreiche Formulierungen ein, die den hypothetischen Charakter seiner Annahmen betonen. Zur Rolle des hypothetischen Wissens bei Buridan siehe auch 272. Wenn Petrarca also als Adressaten des Briefes Dionigi di Borgo San Sepolcro aufruft und sich damit in den Horizont des spätscholastischen Pariser Augustinismus einzuschreiben scheint, so zeigt sich bei näherer Betrachtung, daß er zugleich offenbar dessen Pariser Amtskollegen Buridan herbeizitiert und teilweise gegen ihn ausspielt.
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darauffolgenden Brief umgehend bestätigt und weiter entfaltet. Doch hierauf kann ich in diesem Rahmen nicht mehr ausführlich eingehen 70. III. Die Autorität der Jug end: Der verweig er te Aufschub im Bienengleichnis-Brief, Fam. I, 8 Auch der Bienengleichnis-Brief, auf den ich nun - wenngleich nur sehr kurz - eingehen möchte, ist von zahlreichen inneren Brüchen, Inkonsistenzen 70
Es ist letztlich verblüffend, daß die Petrarca-Forschung Fam. IV, 2 noch nie zur Analyse von Fam. IV, 1 hinzugenommen hat, ist der Brief doch an denselben Adressaten gerichtet. Daß diese Adressatengleichheit ein Hinweis auf eine semantische Zusammengehörigkeit der beiden Briefe sein könnte, wurde bislang noch nie als Möglichkeit in Betracht gezogen - ein Befund, der im übrigen für viele weitere Briefe der Sammlung gilt, und dies in einem Maße, daß man fast von einem rekurrenten Bedeutungsträger der Sammlung sprechen kann, der bislang fast völlig vernachlässigt wurde. (Im folgenden werde ich einige weitere Beispiele für semantisch zusammengehörige Briefe anführen.) Zieht man Fam. IV, 2 zur Analyse hinzu, so sieht man sich in der obigen Deutung bestätigt, was ich jedoch nur noch kurz andeuten kann: Paradoxerweise enthüllt sich die Zugehörigkeit dieses Briefes zum vorhergehenden genau darin, daß er eine ganz andere konzeptuelle Struktur aufweist und daß zugleich die Verhältnisse zwischen Briefeschreiber und Adressat nahezu verkehrt sind. Denn nun fungiert der Briefeschreiber, der im übrigen ohne jede innere Qual schreibt und höchste innere Festigkeit demonstriert, vielfach als Ratgeber für den Adressaten, und die Lehren, die er diesem zur Erlangung des Seelenheils ans Herz legt, stellen ein deutliches Amalgam aus antiken, hochscholastischen und buridanischen Argumenten dar: Der Weg zum Glück, den der Briefeschreiber dem Augustinermönch Dionigi di Borgo San Sepolcro vorschlägt, liegt nun in der Vernunft, der souveränen Beherrschung des Willens und der Herrschaft über das eigene Vernunftkriterium, die - ganz unaugustinisch - als durchaus mit eigener Kraft erlangbar angesehen werden. Cf. etwa Fam. IV, 2, 6, besonders den bezeichnenden Satz: „Habet tamen interdum illi eterne quiddam hec mortalis vita simillimum“, sowie Fam. IV, 2, 8. Der ,Rollentausch‘ zwischen den Kommunikationspartnern ist genau deshalb so relevant, weil Fam. IV, 1, wie bereits erwähnt, oft als Beleg dafür angeführt wird, wie sehr Petrarcas Denken durch Dionigi di Borgo San Sepolcro beeinflußt und in die Richtung des Augustinismus gelenkt wurde. Diese Ansicht ist, wie dieser Brief zeigt, entschieden zu relativieren. Während im Vorgängerbrief der naturwissenschaftliche Diskurs eine recht große Rolle einnimmt, konzentriert sich Petrarca in diesem Brief vor allem auf die gesellschaftspolitischen Dimensionen seiner Morallehre, indem er seine Ratschläge in Analogie zu den Pflichten und Rechten des politischen Herrschers entwickelt (Fam. IV, 2, 11 sqq.). Damit ist ebenfalls eine Parallele zu Buridan hergestellt, der sich vielfach auch zu Fragen der (Gesellschafts-)Politik geäußert hat. Hierzu später etwas mehr. Freilich könnte man einwenden, daß Petrarca das geäußerte Lob der Vernunft am Ende des Briefes selbst unterläuft, wenn er (wieder einmal) sein ungezügeltes Begehren nach gloria enthüllt (Fam. IV, 1, 15). Doch an anderer Stelle liefert er eine Argumentation zur Rechtfertigung dieser Ruhmessucht, die die obige Lektüre doch wieder untermauert. So gibt er in Fam. I, 2, 29 - also in einem jener nachträglich verfaßten Briefe des 1. Buches, in denen Petrarca sein Programm vorstellt (zur Entstehungsgeschichte des 1. Buches cf. nt. 71) - seinem ,Eleven‘ den Rat, wenn er seine Ruhmsucht nicht zügeln könne, so solle er sie doch maßvoll gestalten und mit einem guten Zweck verbinden, indem er in seinen ruhmfördernden Schriften zugleich ethisch sinnvolle Lehren verbreite: „[…] quodsi forte […] appetitum hunc extirpare radicitus non potes, excrescentem rationis saltem falce compesce. Parendum tempori, parendum rebus est. Denique, ut sententie mee summam brevibus expediam, virtutem cole dum vivis, famam invenies in sepulcro.“ Und genau diesen Rat setzt er in diesem und den im folgenden untersuchten Briefen selbst um, nur daß die entfalteten ethischen Lehren häufig ziemlich von der Tradition abweichen und von großer novitas sind.
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und Unbeständigkeiten des Ichs geprägt und wie die Mont-Ventoux-Epistel höchstwahrscheinlich erst nachträglich verfaßt worden (laut Billanovich wohl um das Jahr 1350/51 herum) 71. Von Interesse ist der Brief deshalb, weil Petrarca hier - im Dialog mit Senecas berühmtem Bienengleichnis aus seinem LuciliusBrief 84 - explizit die Legitimität der Dichtung in der zeitgenössischen historischen Situation der Erosion einer stabilen Wahrheit und Einheit (oder vorschichtiger: der Erosion des Zugangs zur stabilen Wahrheit) auslotet 72. Anlaß des Briefes ist die vorherige (vermutlich fiktive) Anfrage seines Adressaten, welche Möglichkeiten es gebe, auch dann literarisch tätig zu sein, wenn man nicht genügend mitzuteilen habe, wenn man also nicht vollkommen genug für den ,Beruf‘ des Dichters sei 73. Es dürfte deutlich sein, wie sehr die Vorgaben der Tradition in dieser Anfrage verkehrt sind. Denn im kanonischen mittelalterlichen Horizont ist das Schreiben (vor allem autobiographischer Art) erst dann legitimiert, wenn man durch eine gründliche Arbeit an sich einen Zustand größtmöglicher ethisch-moralischer Vollkommenheit und Wahrheitsteilhabe erlangt hat 74. Wenn ,Petrarca‘ an dieser Anfrage also keinerlei Anstoß nimmt und sich überdies vor allem auf stilistische Fragen konzentriert, so scheint er völlig in jenem (auch moralischen) Irren und jener Blindheit befangen, die in der Tradition gerne mit der Jugendlichkeit und deren fehlendem Weit- und Durchblick begründet wird. Die Jugend wird in der Tradition meist als Kategorie des epistemologischen Mangels und der fehlenden sapientia betrachtet 75. Und hierin scheint der Grund zu liegen, weshalb der Briefeschreiber die Problematik der Anfrage seines Adressaten nicht bemerkt. Aber auch diese Prekarität wird umkodiert, und den zentralen Fingerzeig hierfür liefert bezeichnenderweise der christlich-paränetische Abschnitt, der dem poetologischen Diskurs recht unvermittelt eingeschoben wird und dem Brief
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Cf. Billanovich, Petrarca letterato (nt. 13), 20 und 47-55. Billanovich vertritt die These, dies gelte für alle Briefe des ersten Buches der ,Familiares‘, das damit insgesamt einen programmatischen Status erhält. Cf. ausführlich hierzu A. Kablitz, Nachahmung und Wahrheitsanspruch. Seneca - Petrarca Montaigne, in: W. Harms/J.-D. Müller (eds.), Mediävistische Komparatistik. Festschrift für F. J. Worstbrock zum 60. Geburtstag, Stuttgart [e. a.] 1997, 95-149. Fam. I, 8, 1. Der Adressat ist Tommaso da Messina, der während Petrarcas Studienzeit an der Universität Bologna einer seiner Kommilitonen war. Besonders deutlich wird dies in der folgenden Passage aus der ,Summa theologiae‘ Thomas von Aquins. In Suppl. 64, 1 schreibt er nämlich (Thomas von Aquin, Summa Theologiae - La somma teologica, a cura dei domenicani italiani, testo latino dell’ed. leonina, Bologna 19871992, vol. 31, 391): „quia hic est ordo naturalis, ut prius aliquid in seipso perficiatur, et postmodum alteri de perfectione sua communicet.“ Cf. zu diesem Themenkomplex auch A. Kablitz, Dantes poetisches Selbstverständnis (,Convivio‘ - ,Commedia‘), in: W. Wehle (ed.), Über die Schwierigkeiten, (s)ich zu sagen. Horizonte literarischer Subjektkonstitution, Frankfurt a. M. 2001, 17-57. Und dies nicht erst seit Augustinus, bei dem die Komponente der Sündhaftigkeit allerdings einen unverhältnismäßig großen und die mittelalterliche Semantik der Jugend prägenden Raum einnimmt. Bereits der Traditionsgeber Aristoteles äußert sich in diesem (abfälligen) Sinne über die Jugend. Cf. etwa Nik. Eth. I. 1, 1095a6 sqq. und VI. 9, 1142a7 sqq.
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eine vordergründige Brüchigkeit verleiht 76. Denn die zentrale Argumentation, die Petrarca hier entwickelt, ist jene, daß man das unmöglich Realisierbare tunlichst vermeiden und sich statt dessen auf das Mögliche konzentrieren solle. In einem subtilen sprachlichen Vexierspiel, das ich hier nur andeuten kann, wird dieser Ratschlag nun erneut auf das augustinische Denken selbst zurückgebogen, das aufgrund seiner übertriebenen Forderungen letztlich nicht realisierbar ist und mit dem potentiell wankelmütigen deus absconditus in noch weitere Höhen der Nichtrealisierbarkeit entrückt 77: Zunächst perspektiviert Petrarca den Wissensdurst und die Suche nach neuen Erkenntnissen ganz kanonisch-augustinisch als Gefahr und nennt als mögliche remedia die modestia, die Gotteszuwendung und die meditatio 78. Doch genau nach der Erwähnung der meditatio findet eine Verschiebung im grammatischen Objekt der angeratenen modestia statt, die nun unversehens auf die meditatio selbst bezogen wird: „Nempe adiuvandum studio ingenium est et meditationibus sublevandum, sed minime cogendum quo non possit ascendere; alioquin, preterquamquod conatus erit irritus, sepe accidet ut dum impossibilia cupimus, possibilia negligamus“ (Fam. I, 8, 12 sq.). Da die meditatio im Mittelalter stets die Gottesschau als Letztziel hat, über deren diesseitige Unerreichbarkeit ziemliche Einigkeit besteht, heißt dies letztlich nichts anderes, als daß die maßlose, übertriebene Gottessuche augustinischer Prägung unter der Hand als paralysierende Größe charakterisiert wird - Petrarca fordert hier dazu auf, sein Streben nach der unmöglichen Gottesschau und Wahrheitserkenntnis zu mäßigen und sich statt dessen auf das Mögliche und Praktikable, sprich: auf die Anforderungen und Wissensmöglichkeiten des diesseitigen Lebens zu beschränken. Auch in diesem Brief spielt also Buridans zentrale Denkfigur der Beschränkung auf das Praktikable eine entscheidende Rolle. Ja, der soeben zitierte Satz aus Fam. I, 8, 12 sq. scheint eine geradezu mustergültige Reminiszenz an Buridans berühmtes Diktum zu sein: „in practicis sufficit supponere subiectum esse in potestate nostra.“ 79 Buridan baut diese Logik der Praktikabilität, wie bereits knapp angedeutet, dezidiert auch in seine allgemeine Epistemologie ein. Dies wird besonders sinnfällig bei seiner Differenzierung verschiedener Grade der Evidenz und Gewißheit. So unterscheidet er in der vierten quaestio des VIII. Buches seiner ,Summulae dialectices‘ zwei Arten (oder Grade) der Gewißheit (beziehungsweise Evidenz), wobei er die Letztere noch einmal unterteilt: Zunächst differenziert er zwischen der Evidenz des göttlichen Wissens, die für den Men76 77
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Fam. I, 8, 5-I, 8, 12. Denn wie soll man sich dem Gotteswillen unterwerfen, wenn man diesen Willen gar nicht kennt und dieser sich zudem jederzeit ändern kann? Fam. I, 8, 9: „Quandiu enim in cognitionem rerum ibimus, quod iter nunquam intermittere usque ad extremum spiritum debemus, novi quotidie recessus apparebunt, ad quos se ignorantia nostra non porriget. Hinc meror et indignatio et contemptus nostri “; Fam. I, 8, 12: „Nempe adiuvandum studio ingenium est et meditationibus sublevandum […].“ Freilich betont er bereits im eingeschobenen Nebensatz des ersten Zitats zugleich auf subtile Weise, wie wichtig und notwendig der Wissensdurst ist. Buridanus, Quaest. Eth. (ms. BJ 664, 9ra; ms. BJ 658, 4vb ), zitiert nach Korolec, Philosophie morale (nt. 29), 63.
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schen unerreichbar ist, und der Gewißheit beziehungsweise Evidenz im Bereich des menschlichen Wissens 80. Diese wiederum untergliedert er in die Gewißheit von Sachverhalten, die durch göttlichen Eingriff nicht geändert werden können, und Sachverhalten, die in der natürlichen, eigengesetzlichen Ordnung der Welt gewiß sind, auch wenn Gott sie jederzeit durch einen übernatürlichen Eingriff ändern könnte 81. Die Quintessenz dieser Unterscheidung (mit der Buridan durchaus an die Tradition anknüpft 82) liegt nun darin, daß er sie nutzt, um genau seine erwähnte Aufforderung zur Selbstbeschränkung zu legitimieren: Für die Epistemologie, die Wissenschaft, aber auch die Ethik (und das ist wichtig, weil diese traditionell das Letztziel aller Philosophie darstellt 83) genügt laut Buridan die dritte Art der Evidenz (also die Evidenz der kontingenten und gleichwohl gewissen Gesetzmäßigkeiten folgenden Sachverhalte der natürlichen Welt ohne göttliche Intervention), da die ersten beiden sowieso nicht zugänglich sind 84. Und in seinem Kommentar zu den ,Zweiten Analytiken‘ und zur ,Metaphysik‘ des Aristoteles geht er noch einen Schritt weiter. Denn dort betont er, daß hierfür eigentlich auch ein rein hypothetisches Wissen genüge 85. 80
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Buridanus, Summ. VIII, q. 4 (ms. Vat. pal. lat. 949 (E); ms. Krakau [!], Stradom 171 (K)), zitiert nach de Rijk, Foi chre´tienne (nt. 29), 394: „Dicimus ergo quod multi sunt diversi modi certitudinis et evidentie. Est enim certitudo et evidentia Sapientie divine, ad quam nulla notitia creata potest attingere.“ Op. cit., 395: „Est autem in genere humane cognitionis certitudo multiplex et evidentia. Quantum enim est ex parte nostra non debet dici certitudo scientie seu assensus nisi sit firmus, scilicet sine ulla formidine. Sed ex parte propositionis certitudo una est quia est propositionis sic firmiter vere quod ipsa, vel talis, per nullam potentiam potest fieri falsa. […]. Alia vero est certitudo humana ex parte propositionis quia est propositio vera et per nullam potentiam naturalem et modum agendi naturalem talis propositio potest fieri falsa, licet per potentiam divinam et supernaturalem et modo miraculoso potest fieri falsa.“ Cf. etwa die Darstellung von Ockhams Aufgliederung der verschiedenen Wissensarten bei J. P. Beckmann, Wilhelm von Ockham: Die Philosophie unter dem Anspruch strenger Wissenschaftlichkeit, in: W. Kluxen (ed.), Thomas von Aquin im philosophischen Gespräch, Freiburg-München 1975, 245-255. Cf. etwa Aristoteles, Nik. Eth. I. 2, 1095a17-20. Nach seiner Darstellung der zweiten Art der Evidenz folgert Buridan in Summ. VIII, q. 4 (ms. Vat. pal. lat. 949 (E); ms. Varsovie Stradom 171 (K)), zitiert nach de Rijk, Foi chre´tienne (nt. 29), 395: „Sed hec certitudo non requiritur ad scientias naturales vel mechanicas, vel ad artes aut prudentias“, während er über die letztere schreibt: „Et talis certitudo sufficit ad scientias naturales.“ Cf. hierzu auch van der Lecq, Confused Individuals (nt. 29), 10 sqq., sowie insgesamt zu Buridans Epistemologie L. M. de Rijk, John Buridan on Man’s Capability of Grasping the Truth, in: CraemerRuegenberg/Speer, Scientia und ars (nt. 8), 281-303. Letztlich schließt Buridan damit die Unwägbarkeiten der göttlichen potentia absoluta aus der wissenschaftlichen Naturbetrachtung aus. Doch dabei läßt er es nicht bewenden. Vielmehr finden sich andernorts bei ihm durchaus Tendenzen, die potentia absoluta auch in die Wissenschaft wieder zu integrieren. Siehe hierzu die nächste Anmerkung. Wichtig ist, daß die benannte Einschränkung keineswegs als eine Aufweichung der Bedingungen des Wissens mißverstanden werden sollte, sondern diese damit umgekehrt noch verschärft werden. Cf. Schönberger, Relation als Vergleich (nt. 5), 239. Im Vergleich zu Ockham zeigt sich dies etwa daran, daß Buridan im Bereich der Wahrnehmungslehre Ockhams Denkfigur des trügerischen Gottes beiseite schiebt und Sinnestäuschungen statt dessen mit präzisen Gesetzen der Optik zu erklären versucht. Cf. hierzu van der Lecq, Confused Individuals (nt. 29), 18 sqq. Cf. de Rijk, Foi chre´tienne (nt. 29), 400. Mit dieser Integration des ,Hypothetischen‘ in den Wissenshaushalt hat Buridan (wenngleich nur sehr vorsichtig) teil an zeitgenössischen Tenden-
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Wenn Petrarca mit der in Fam. I, 8, 12 vorgebrachten Aufforderung sichtlich auf Buridans (Wissens-)Konzept der Praktikabilität anspielt, so demonstriert er zugleich eine genaue Kenntnis von der historischen Herkunft dieser Denkfigur. So ist es kein Zufall, daß er zuvor explizit den Namen Epikurs nennt und darauf hinweist, auch der in diesem Brief so wichtige Seneca sei in gewissen Hinsichten von Epikur beeinflußt worden (Fam. IV, 1, 3 sq.). Denn der eigentliche Ursprung dieser Denkfigur ist genau Epikur 86, und nicht umsonst wird Buridan von verschiedenen Seiten als Epikureer beschimpft, freilich mit einer gewissen Verzerrung der epikureischen Lehre 87. Offenbar amalgamiert Petrarca diese Intertexte und schreibt ihnen eine positive Wertigkeit zu, was sich auch daran zeigt, daß die benannte Denkfigur bis zum Schluß nicht zurückgenommen, sondern umgekehrt vielmehr entfaltet und präzisiert wird. Denn wenn sich der Briefeschreiber nach diesem Einschub erneut stilistischen Fragen zuwendet und seinen Adressaten auffordert, sich trotz seiner Jugend und damit seiner möglichen moralischen und epistemologischen Unvollkommenheit nicht vom Schreiben abbringen zu lassen (Fam. I, 8, 17), so verbirgt sich dahinter nichts anderes als der Rat, sich mit dem momentan Realisierbaren zu begnügen - nämlich auch dann mutig zu handeln, wenn man sich im Zustand des (teilweisen) Nichtwissens befindet. Und wie um dies zu unterstreichen, gießt der Briefeschreiber diese Aufforderung im benannten Paragraphen in eine Formulierung, die recht unmißverständlich einen Text aufruft, der sicherlich als einer der bekanntesten ,Promulgatoren‘ der epikureischen Lehre im antiken Rom gelten kann: die berühmte Ode I, 4 von Horaz. So schreibt er: „Experiamur et nos, dum tempus est, dum fervet etas et viget ingenium;
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zen, neben der Empirie auch das freie Gedankenexperiment als wissenschaftliches Verfahren zu nobilitieren. Dies gelingt, indem gerade die Möglichkeitsspielräume, die sich durch die potentia absoluta eröffnen, fruchtbar gemacht werden. Ich werde diesem Themenkomplex in einer anderen Studie ausführlicher nachgehen. Epikur entwickelt sein zentrales Präzept der Selbstbeschränkung auf das Mögliche und Realisierbare dezidiert in Auseinandersetzung mit Platon, Aristoteles und der Stoa und inauguriert damit eine ,alternative‘ Denktradition, die (sowohl in der Geschichte als auch in der Forschung) allzu häufig als bloßer Hedonismus gebrandmarkt beziehungsweise mißverstanden und deshalb marginalisiert wird. Hierbei wird meist übersehen, wie sehr sich etwa auch Seneca - zumal in seinen Lucilius-Briefen - von Epikur hat beeinflussen lassen. Die benannte Denkfigur findet auch Eingang in Epikurs Epistemologie. So empfiehlt er verschiedentlich explizit, den Wissensdrang auf das Wißbare zu beschränken und geht hierbei soweit, auch die eigenmächtige Konstruktion hypothetischer Weltmodelle zu erlauben. Ausführlicher hierzu sowie zum Verhältnis Epikur Seneca und den spätmittelalterlichen Rezeptionsmöglichkeiten des Epikureismus in: Ventarola, Kairos (nt. 27), besonders c. 4.2. (Exkurs) und p. 274 sq. Der berühmteste und wohl auch früheste Kritiker Buridans, der diesen Zusammenhang herstellt, ist Johannes de Nova Domo, ein Hauptprotagonist des Pariser Albertismus, der Buridan in seiner Kampfschrift ,De universi reali‘ (1410) als einen jener epicuri litterales beschimpft, deren Denken allzu zügellos sei und die althergebrachten Traditionen mit Füßen trete. Cf. hierzu Pluta, Albert der Große (nt. 29), 91. Wie sehr die Philosophie Epikurs mit dieser Diffamierung verzerrt wird, offenbart sich, wenn man sich Epikurs Aussagen zum Verhältnis zwischen Epistemologie, Tugend, Selbstbeschränkung und Lust genauer ansieht. Für eine Apologie der epikureischen Lehre cf. Ventarola, Kairos (nt. 27), c. 4.2. (Exkurs).
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non expectemus donec frigus senectutis obrepat et estive claritati nubila hiberna succedant “ (ibid.), und zitiert damit nicht nur deren abstrakte epikureische Leitlogik, sondern auch die dort verwendete Bildlichkeit herbei 88. Auch dieser Brief weist bei näherer Betrachtung keine wirklichen inneren Brüche, sondern vielmehr eine einheitliche Sinnstruktur auf 89. Ich muß meine Analyse des Briefes hier abbrechen, hoffe jedoch, daß bereits diese wenigen Hinweise deutlich gemacht haben, wie subtil der Briefeschreiber und Ratgeber ,Petrarca‘ die Analogie zwischen Jugend und epistemologischer Defizienz nutzt, um eine Ethik und Epistemologie zu promulgieren, die große Analogien zu Epikur und Buridan aufweist und beide amalgamiert. Im Medium der Rede über die Jugendlichkeit lizenziert er so einen allgemeinen und umfassenden Gestus des verweigerten Aufschubs, der dem aufgezwungenen ontologischen Aufschub und Wahrheitsverlust entgegengesetzt wird und einen Pakt zwischen den (nichtwissenden) Menschen stiftet. Denn auch der Briefeschreiber ist ja (im fingierten Moment der Niederschrift) jugendlich-,defizient‘. Auffällig ist hierbei, daß der gesamte Brief trotz der Jugendlichkeit des Autors von einer unübersehbaren Isotopie der Ordnungsstiftung, der Maßhaltung, des Studiums und der Einwirkung auf den Leser durchzogen ist - alles Kategorien der natürlichen Vernunft (im antiken, beziehungsweise genauer: im buridani88
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Horaz’ Ode entfaltet gleich zu Beginn die Bildlichkeit des Winters, die als Metapher für das Alter und den Tod verwendet und durch die Aufforderung ergänzt wird, sich nicht aufs Warten zu verlegen und statt dessen im hic et nunc zu leben und zu handeln. Cf. etwa Carm. I, 4, 9 (Q. Horatius Flaccus, Oden und Epoden, lat./dt., ed. B. Kytzler, Stuttgart 1978, 72000, 14): „nunc decet aut viridi nitidum caput impedire myrto“; und Carm. I, 4, 15: „vitae summa brevis spem nos vetat incohare longam.“ Auch bei Buridan findet sich im übrigen eine Textstelle, in der er explizit davon abrät, das selbstverwirklichende Handeln aufzuschieben. Quaest. Eth. I, q. 18 (ed. Paris 1513, 114vb-115ra ), zitiert nach Pluta, Albert der Große (nt. 29), 103: „Ex his ergo patet, quod firmiter poterimus hominem secundum virtutem perfectam et firmatam felicitare, dum vivit, et non oportebit exspectare finem.“ Die Schlußmetapher könnte dieser Einschätzung mit ihren religiösen Konnotationen zunächst widersprechen. Petrarca kündigt seinem Adressaten - unter Verwendung einer Textstelle aus Vergils ,Georgica‘ - an, wenn er seine Ratschläge befolge, werde er einen Honig ,ernten‘, der ihm den bitteren Geschmack des Weines zu versüßen helfe; Fam. I, 8, 24: „hic anni tempore certo/ Dulcia mella premes, nec tantum dulcia quantum/Et liquida et durum Bachi domitura saporem.“ Zunächst scheint er damit an den christlichen Gehalt des zuvor eingeschobenen paränetischen Abschnitts anzuknüpfen und auf die Süße der christlichen Lehre anzuspielen, die die Bitterkeit des Lebens erträglich machen könne. Doch zwei Dinge stehen dieser Lektüre entgegen. Zunächst das explizite Resümee der vorgebrachten Ratschläge, in dem Petrarca seinem Leser abschließend noch einmal ans Herz legt, er solle stets darum bemüht sein, sich die gedanklichen Errungenschaften anderer zunutze zu machen und diese ,bienengleich‘ in Eigenes verwandeln (ibid.). Die (literarische) Produktivität ist hier ungleich wichtiger als jedwelcher christliche Gehalt. Dies wird mit der zunächst störenden Bildlichkeit bestärkt. Denn der Wein steht gemeinhin gerade für die christliche Lehre oder zumindest die ,Wahrheit‘, so daß hier letztlich genau die Quintessenz der oben entwickelten Lektüre bildhaft umgesetzt wird. Offenbar sind es der Bildlichkeit zufolge genau die eigenen gedanklichen Erzeugnisse, die Abhilfe für die bittere Wahrheit (nämlich die Tatsache des historischen Verlustes der transzendenten Wahrheitsgewißheit) zu schaffen vermögen.
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schen Sinne). Damit wird signalisiert, daß der Briefeschreiber trotz seiner ,unwissenden‘ Jugend (und damit allgemein der Mensch auch ohne Zugang zur transzendenten Wahrheit) durchaus zu einer natürlichen Ethik und Rationalität fähig ist, was Augustinus vehement verneint, Buridan jedoch ebenso nachdrücklich bejaht 90. Die Jugend bekommt hierdurch eine eigenständige Autorität zugewiesen, und der Topos der Weisheit, die nur im Alter zu erreichen sei, wird destruiert. Zugleich liefert der Brief damit die Legitimationsgrundlage für die historisch auf sich selbst gestellte Menschheit, in Zeiten des verweigerten Zugangs zur Wahrheit eigene, ,neue‘ Gesetze des Ordnungserhalts und der Dauer nach der Maßgabe der eigenen natürlichen Vernunft zu erstellen 91. Er liefert die Lizenz, auch im Zustand der Unvollkommenheit zu leben, zu handeln und zu schreiben 92. IV. Zur Gesamtstr uktur : Die doppelte Rahmung der ,Familiares‘ Ich hatte bereits darauf hingewiesen, daß im Mittelalter (nicht nur paränetisches) Schreiben (vor allem über sich selbst) zumeist erst dann als legitim be90
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So betont Buridan etwa in seinen ,Quaestiones in Metaphysicam Aristotelis‘, daß der menschliche Intellekt durchaus in der Lage sei, gewisse Irrtümer der Sinne selbsttätig zu korrigieren, wenn er deren Ursache kenne und die richtige Methode anwende; Quaest. Metaph. II, q. 1, Paris 1588 [unveränderter Nachdruck Frankfurt a. M. 1964], 8ra-9va. Cf. hierzu auch van der Lecq, Confused Individuals (nt. 29), 12 sqq. Damit wendet Buridan sich unübersehbar gegen Augustinus. Der Brief besitzt also auch einen impliziten gesellschaftspolitischen Gehalt, mit dem Petrarca, wie bereits angedeutet, große Affinitäten zu Buridan enthüllt. Zu Buridans Konzeption des Politischen cf. etwa J. Dunbabin, The Reception and Interpretation of Aristotle’s ,Politics‘, in: Kretzmann/Kenny/Pinborg, The Cambridge History (nt. 8), 723-737, hier 735 sqq. Zugleich fühlt man sich unweigerlich an Ockhams Konzept der (menschlichen) potestas instituendi erinnert, mit dem jener aus der Freiheit Gottes die Freiheit des Menschen ableitet, eine Rechtsordnung nach eigener Setzung zu etablieren. Cf. zum genannten Konzept, mit einer etwas anderen historischen Kontextualisierung, J. Miethke, Die Anfänge des säkularisierten Staates in der politischen Theorie des späteren Mittelalters, in: R. Mußgnug (ed.), Entstehung und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens, Berlin 1996, 7-43, hier 37-43. Auch in diesem Fall findet man in den Folgebriefen, die bis zum Ende des ersten Buches allesamt an denselben Adressaten gerichtet sind, eine Bestätigung der obigen Lektüre. Dazu nur ein paar Hinweise. Bei näherer Betrachtung ist deren Reihenfolge genauestens kalkuliert: Nachdem Petrarca in Fam. I, 9 sein ethisches Programm (ähnlich wie in Fam. IV, 2) noch einmal ausführlicher konturiert hat, folgen in Fam. I, 10 und I, 11 zwei sehr bezeichnende Karikaturen. Zunächst die Karikatur eines Alten, die die oben erwähnte Destruktion einer allzu selbstverständlichen hierarchischen Vormachtstellung des Alters und des von alters her Bestehenden aufgreift, und schließlich die Karikatur eines Eremiten, der als Parasit dargestellt wird, was keiner Kommentierung bedarf. (Petrarca rechtfertigt sein prekäres Unterfangen im übrigen, indem er auf einen Topos zurückgreift, der vor allem in der scholastischen Kommentarpraxis gängig ist, den Topos nämlich, daß er seine Texte nur schreibe, um die Wünsche seiner Umgebung zu befriedigen [Fam. I, 11, 1 sq.]. Zu diesem Topos der scholastischen Lehrpraxis cf. Schönberger, Relation als Vergleich [nt. 5], 241.) Der letzte Brief des ersten Buches, Fam. I, 12, setzt sich abschließend mit dem gängigen Vorwurf an die Literatur (beziehungsweise allgemein die schönen Künste) auseinander, sie besäße(n) keinerlei gesellschaftliche Relevanz, und nach den vorhe-
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trachtet wird, wenn das schreibende Ich signalisiert, es habe (zumindest teilweise) einen Zustand der Wahrheitsteilhabe und damit transzendent rückgebundenen inneren Stabilität und Dauer erlangt. Textuell wird dies überwiegend so realisiert, daß ein weitgehend zeitenthobenes Ich auf sein mäanderndes Ich zurückblickt und seinen sukzessiven Erkenntnisfortschritt, der häufig als Konversion inszeniert ist, kommentiert 93. Die Gesamtanlage eines Textes beziehungsweise Textkonglomerats entscheidet also wesentlich darüber, ob das literarische, speziell das ,autobiographische‘ Unterfangen im herkömmlichen Sinne legitimiert ist oder nicht. Sieht man sich vor diesem Hintergrund die ,Familiares‘ an, so ist es mit einer solchen Legitimität gar nicht gut bestellt: Weniger als einen sukzessiven Erkenntnisgewinn und Ordnungszuwachs bildet die chronologische Anordnung der Briefe eher eine varietas mortifera der Seelenzustände, Stile, Themen und Bewertungshaltungen ab, die in der Einleitungsepistel auch als Poetik der Vielfalt reflektiert (cf. etwa Fam. I, 1, 19) und keineswegs zurückgenommen wird. Wenn die Sammlung durch irgendeine Form der Dauer geprägt ist, so scheint es vor allem eine Beständigkeit des Unbeständigen und der ,Zerspannung‘ in alle möglichen irdischen Einflüsse zu sein. Zyklik und Kontingenz, nicht Linearität ist offenbar das Hauptstrukturprinzip der Sammlung. Diesen Befund möchte ich abschließend etwas detaillierter belegen und eingehender untersuchen. Ich werde aufzeigen, daß eine wirkliche Änderung des Ichs nicht stattfindet, obwohl der Briefeschreiber dies an einigen Stellen behauptet (cf. etwa Fam. I, 1, 5), daß damit aber auch keine Struktur der Schwäche zum Tragen kommt, die er ebenfalls in Anschlag bringt (Fam. XXIV, 13, 15), sondern daß vielmehr die bislang entwickelten Neuerungen und Umwertungen auch noch in den Rahmenbriefen der Sammlung virulent bleiben, rückblickend affirmiert und zu einem umfassenden Lebensprogramm verdauert werden, das den moralischen Vorgaben Augustins dezidiert entgegengehalten wird. Petrarca führt damit vor, wie noch in der varietas mortifera eine bemerkenswerte Beständigkeit und Kontinuität des Ichs erlangbar ist und verfestigt so seine zuvor entwickelte Konstruktion neuer Strukturen der Dauer. Diesen Sinneffekt erreicht er durch eine doppelte Schließung: Zweimal in Folge konstruiert er einen zyklischen Zusammenschluß von Briefen und schachtelt diese Kreisstrukturen ineinander. Die Sammlung erhält hierdurch eine doppelte Rahmung. Ich beginne mit dem inneren Rahmen. 1. Fam. XXIV, 1 und Fam. I, 3: Fuga temporis und die Dauer in der Kontinuität Der Einleitungsbrief zum letzten Buch der ,Familiares‘ ist der berühmte fugatemporis-Brief. Die ganze Epistel stellt eine großangelegte Meditation über die
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rigen Ausführungen ist es nicht mehr verwunderlich, wenn Petrarca seine formulierte Apologie der Literatur mit einer subtilen Engführung von Ästhetik und Ethik begründet. So etwa in den ,Confessiones‘ Augustins oder der ,Vita Nuova‘ Dantes.
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Flüchtigkeit der Zeit dar, in der der Briefeschreiber auf Fam. I, 3 zurückblickt und seinen Erkenntnisfortschritt betont 94. Hatte er dort behauptet, trotz seiner Jugend der Flüchtigkeit der Zeit bereits gänzlich gewahr zu sein, so weist er diese zur Schau gestellte Selbstgewißheit nun als Selbstlüge und jugendliche Verblendung zurück: Nun erst, im Alter, erfahre er die Wirkungen der Zeit am eigenen Leibe, gelange durch dieses gleichsam vom eigenen Körper aufgezwungene memento temporis endlich zur Einsicht und erwache aus seinen jugendlichen Irrtümern (Fam. XXIV, 1, 12). Doch im weiteren Verlauf des Briefes wird diese Logik des Bruchs und der Selbstdifferenz umgehend in eine der Kontinuität überführt. In Fam. XXIV, 1, 20 beginnt er, einen kurzen rückblickenden Bericht seines Lebens zu skizzieren, der indessen jede Reue vermissen läßt, was angesichts der vorherigen Behauptung, seine Jugend sei ein Zustand irriger Verblendung gewesen, recht verblüffend ist. Noch verblüffender ist allerdings die Begründung, die der Schreiber für dieses Ausbleiben der Reue liefert. Sein ganzes Leben lang, so schreibt er nämlich, seien alle seine Handlungen aus dem Wissen um die Flüchtigkeit des Lebens (einem memento temporis also) erwachsen und deshalb in keiner Weise zu bereuen 95. Nachträglich gibt er also selbst zu, daß die zuvor so oft (und auch in den beiden analysierten Briefen) inszenierte und von mir hier herausgearbeitete Umwertung herkömmlicher Werte ganz bewußt (und offenbar tatsächlich als Strategie der Bewältigung der entzogenen Dauer) in Gang gesetzt und nach wie vor nicht bereut wird 96. Und ganz folgerichtig wird diese Struktur gleich noch einmal durchgespielt. So wird dieser Ausspruch zwar durchaus von einer gewissen Reue gefolgt, wenn ,Petrarca‘ in Fam. XXIV, 1, 25 schreibt: „[…] et peccatum et mores malos et me ipsum talem odi.“ Doch erneut wird diese Anwandlung reuiger Zerknirschung nicht durch eine Weltabkehr vervollständigt, sondern durch zwei Gesten, die genau die zentralen Verdauerungsverfahren der beiden analysierten Briefe positiv resümieren: nämlich durch Schreibexperimente (Fam. XXIV, 1, 26 sqq.) und durch mathematischgeographische Gedankenspiele mit der Metapher des Lebensflusses (durch eine metaphorische Isotopie der Weltvermessung also, cf. Fam. XXIV, 1, 28 sq.). Nicht nur werden die zuvor entfalteten jugendlich-,irrigen‘ Stratageme des Weltumgangs also resümiert, sondern sie werden nach wie vor angewandt. Gleichwohl macht der rückblickende Briefeschreiber eine Differenz zu seinem jugendlichen Ich aus Fam. I, 3 und damit einen Fortschritt namhaft, und 94
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Petrarca erwähnt seinen Jugendbrief bereits in Fam. XXIV, 1, 1 sq. Zum Erkenntnisfortschritt cf. Fam. XXIV, 1, 12. Auf den Zusammenschluß der beiden Briefe macht auch Moser, Buchgestützte Subjektivität (nt. 14), 613 sq. aufmerksam, allerdings zieht er hieraus etwas andere Schlußfolgerungen als ich. Fam. XXIV, 1, 22: „Hec michi cum illo qui ab initio me novit, dulce fuit recordari. Neque vero ab re ipsa longe digredi visus eram, quando michi totum hoc intellecta iam inde vite brevitas consilium dabat, in quo ipso, nisi fallor, aliquantulum vivendo provectus sum.“ Hier von einer Verblendung des Briefeschreibers auszugehen, scheint mir inadäquat, wenn man die mittelalterliche Omnipräsenz der Praxis des memento temporis berücksichtigt. Die Annahme, daß ein mittelalterlicher Mensch in dieser Hinsicht nicht bemerkt, was er tut (oder daß dies inszeniert werden könnte), beruht auf einem anachronistischen, neuzeitlichen Blick.
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erneut weist er damit in das Denkuniversum Buridans. Denn als einen wesentlichen Aspekt seiner jugendlichen Verblendung nennt er seine damalige Tendenz zur Autoritätenhörigkeit: War er, so schreibt er, als Jugendlicher allzu schnell bereit, den Aussagen der Autoritäten blind Glauben zu schenken (was allerdings nicht stimmt, doch dazu komme ich gleich), so habe er nun aufgrund seines Alters die Möglichkeit oder Fähigkeit erworben, sie durch eigene Erfahrung zu verifizieren (Fam. XXIV, I, 22 und 31). Der selbstbenannte Fortschritt liegt also in der durch die experientia gestützten Herausbildung eigener Wertkritierien und der dadurch gewonnenen Befähigung, die Aussagen der Autoritäten eigenmächtig zu überprüfen. Er liegt gewissermaßen in der Festigung des Leitgedankens Buridans. Während die Lehre Augustins nicht in der Lage ist, das Ich dauerhaft zu binden und zu ,bessern‘ (der eingeschobene Verweis auf den Psalmisten in Fam. XXIV, 1, 30 bleibt völlig erratisch und folgenlos), führt die (lebenslange) Anwendung der praxisorientierten (und von jedermann realisierbaren) Präzepte Buridans zu einer beständigen Vervollkommnung der eigenen praktischen Vernunft und zu einem Zuwachs des für das praktische Handeln nötigen Wissens. Und es wundert nun nicht mehr, wenn ,Petrarca‘ den dergestalt namhaft gemachten eigenen Fortschritt mit Kategorien begründet, die allesamt die (immanente) Empirie ins Zentrum stellen und als heimliche Exhortation zur Nachahmung aufzufassen sind: vivere, videre und observare (Fam. XXIV, 1, 31). Der Brief formuliert folglich nicht nur eine Positivbewertung des Schreibens und der Naturwissenschaften, sondern auch eine Reform herkömmlicher Didaxe. Nun scheint die oben paraphrasierte Passage aus Fam. XXIV, I, 31 auf den ersten Blick nicht über das antike Vernunftkonzept hinauszugehen: „Qua in re meo veteri iudicio nichil est additum, nisi quia, ut dixi, quod doctis viris ante credideram michi iam credo, et quod opinabar scio.“ Der Erfahrungszugewinn scheint den Briefeschreiber vor allem in die Affirmation des Tradierten zu lenken. Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, die individuelle und die kollektive Vernunft scheinen in einer entelechischen Logik antiker, näherhin aristotelischer Art zu verschmelzen 97. Doch diese Zuordnung wird gleich in den nächsten Sätzen unterlaufen und hiermit durchaus erneuernd abgewandelt: Im Rückblick auf Fam. I, 3 bestätigt der Briefeschreiber zunächst die Semantik der Kontinuität, indem er die benannte Selbständerung als das Aufblühen eines edlen Keimes bezeichnet, der sich bereits in jenem Brief angedeutet habe: „Generose sementis aliquid habebat iste animum“ (ibid.). Gleichwohl beklagt er gleich im nächsten Halbsatz, daß er diese keimhaften Anlagen nicht genügend gepflegt habe: „si eum in tempore diligentius coluisses.“ Sieht man sich I, 3 nun genauer an, so wird man schnell gewahr, 97
Zu dieser antiken Zuordnung von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung cf. vor allem A. Schmitt, Handeln in Abhängigkeit. Determination und Freiheit im Verhältnis von Gott und Mensch bei Homer, in: D. Ingenschay/H. Pfeiffer (eds.), Werk und Diskurs. Festschrift für K. Stierle zum 60. Geburtstag, München 1999, 11-32; M. Pohlenz, Griechische Freiheit. Wesen und Werden eines Lebensideals, Heidelberg 1955. Foucault äußert sich hierzu vor allem in L’usage des plaisirs (nt. 9), 37 sq. und Le souci de soi (nt. 9), c. II.
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daß der Schreiber dort keineswegs so blind autoritätengehorsam war, wie er hier anfangs behauptet, sondern vielmehr ein subtiles kritisches Spiel mit den anzitierten Autoritäten inszeniert, das noch um einiges offensiver ist als das in diesem Brief entfaltete 98. Das Edle im Ich, das er noch sehr viel mehr hätte kultivieren sollen, liegt dem rückblickenden Schreiber zufolge also, das ergibt sich logisch aus dieser Realisierung der Analogie, genau nicht im Einschwenken in das tradierte kanonische Denken, sondern durchaus in der eigenen Meinung, die sich ihre Referenzhorizonte in einem freien, selbsttätigen Akt auswählt und damit eine teilweise Abwendung von der kanonischen Tradition markiert. Petrarca deutet diesen Gedanken bereits in der Einleitung des Briefes an. Dort kommt er auf den Adressaten seines Jugendbriefes Fam. I, 3 zu sprechen, den Rechtsgelehrten Raimundus Superanus. Das Lob und die Ehrerbietung, die er diesem zollt, gelten vor allem dessen freiem Geist und dem Mut, mit dem jener auch dann an seinen Überzeugungen festhält, wenn sie mit dem päpstlichem Gesetz kollidieren und er hierdurch schmerzhafte Einbrüche seiner Laufbahn (wie etwa den Verlust seiner Ämter) zu gewärtigen hat (Fam. XXIV, 1, 2). Die praktische, natürliche Vernunft bedeutet folglich auch für den gealterten, rückblickenden Petrarca nach wie vor, das signalisiert er bereits mit dieser Einleitung, vor allem die Fähigkeit und die Courage, gegen die durch (bloße) Autorität gefestigte, stabilisierte Meinung (durch Erfahrung und Studium) eine eigene herauszubilden und diese auch dann zu vertreten, wenn hieraus mögliche persönliche Unbilden erwachsen können 99. 2. Fam. XXIV, 13 (Schlußepistel) und Fam. I, 1 (Einleitungsepistel): Die Verdauerung des Partikulären in der Umkodierung des prodesse et delectare Auch im äußeren Rahmen findet keineswegs eine finale Rückholung der Prekaritäten statt. Zwar führt der Schreiber diese Tatsache im Schlußbrief Fam. XXIV, 13 auf seine eigene moralische Schwäche zurück (cf. Fam. XXIV, 13, 5). 98
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Auch in diesem Fall steht vor allem Augustinus im Visier der subtilen Kritik des Briefeschreibers. So etwa, wenn er in Fam. I, 3, 7 schreibt: „Scimus autem magnorum autoritate hominum experimentoque rerum edocti, quoniam paucis bene loqui, bene vivere autem omnibus datum est.“ Denn zumal laut Augustinus ist die Führung eines guten, ,richtigen‘ Lebens dem Menschen aus eigener Kraft letztlich unmöglich. Der Briefeschreiber spielt bereits hier die antiken Selbstsorgelehren gegen Augustinus aus. In Fam. I, 3, 8 signalisiert er ganz ähnliches, wenn er seinen Genuß an der eigenen sprachlichen Virtuosität keineswegs problematisiert, was angesichts der augustinischen Invektiven gegen eine verselbständigte Ästhetik höchst prekär ist. Und nach den vorhergehenden Analysen kann es kaum mehr verwundern, wenn er in Fam. I, 3, 10 sodann die epikureische Logik ins Spiel bringt und hierfür ein Zitat von Vergil bemüht: „Collige, virgo, rosas dum flos novus et nova pubes, / Et memor esto evum sic properare tuum“. Mit der subtilen Kritik an den Ansichten der Autoritäten, die der Briefeschreiber in Fam. I, 3 übt, setzt er also, so wird spätestens durch diesen Rückverweis deutlich, nicht nur die Präzepte Buridans um, sondern inspiriert sich auch an der radikaleren Spielart der Kritik von Raimundus Superanus.
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Gleichwohl gibt er sich deshalb am Ende keineswegs in die Hand Gottes, sondern verweist zurück auf die Aussagen der Einleitungsepistel: „Te in finem, lector candidissime, quisquis es, obtestor atque obsecro […], ne aut varietate rerum aut verborum humilitate movearis, memor quid de hoc ipso prima operis huius in parte prefatus sim“ (Fam. XXIV, 13, 9). Dieser zyklische Zusammenschluß ist deshalb so bemerkenswert, weil in der Einleitungsepistel bei genauer Betrachtung (wie in den zuvor untersuchten Briefen) die vorgegebene Schwäche recht selbstbewußt in Renitenz überführt wird: Der Brief beginnt zunächst ganz topisch mit der Frage Petrarcas, wann er wohl endlich in den Genuß der ersehnten Seelen-quies komme. Damit wird die gesamte Briefesammlung in den Horizont der memento-temporis-Literatur gestellt. Und auch hier werden deren zentrale Diskursregeln anders realisiert als erwartet. Denn wenn Petrarca zur Selbstverdauerung sodann den Rückblick auf sein Leben und die chronologische Ordnung der verstreuten Briefe in Angriff nimmt, so geschieht dies genau nicht mit dem Ziel, im Überblick über die zeitliche Anordnung der Briefe der ordnenden Hand Gottes im eigenen Leben ansichtig zu werden, wie dies der Diskurs traditionell vorschreibt, sondern vor allem deshalb, weil das Unterfangen dem Sprecher genußvoll zu werden verspricht (Fam. I, 1, 4 sq.) und weil ihn die vorgefundene Disparatheit seines eigenen Ichs mit großer Zärtlichkeit sich selbst gegenüber erfüllt (Fam. I, 1, 7) 100. Recht nonchalant verschiebt der Briefeschreiber hier die herkömmliche Pragmatik des Schreibens über sich und weist diese Re-Pragmatisierung mit der sprachlichen Gestaltung deutlich als ironische Replik auf Augustinus aus, der im zweiten Buch seiner ,Confessiones‘ genau den Genuß und die Selbstliebe als mögliche Motivationsgrundlagen für den Lebensrückblick ausschließt 101. Für die (autobiographische) Literatur bedeutet diese Brechung der Diskursregel, daß sie auch hier noch die Gotteszuwendung als Prinzip der Seelenruhe weitgehend ersetzt. Sie wird zur Praxis einer Linderung des drängenden Zeitproblems, die ihren positiven Effekt in sich selbst, in ihren Appellen und paradoxerweise genau in 100
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Zu den zentralen Strukturmerkmalen des memento-mori-Diskurses cf. etwa R. Rudolf, Ars moriendi. Von der Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens, Köln 1957; F. v. Ingen, Vanitas und Memento mori in der deutschen Barocklyrik, Groningen 1966, vor allem 90 sqq. und 301 sqq. Aurelius Augustinus, Confessiones, in: Œuvres des Saint Augustin, vol. 13, (Bibliothe`que Augustinienne), Paris 1949, 332: „Recordari uolo transactas foeditates meas et carnales corruptiones animae meae, non quod eas amem, sed ut amem te, deus meus.“ Noch deutlicher wird der ironische Gehalt dieser Textstellen, wenn man berücksichtigt, daß Petrarca damit zugleich auf Fam. IV, 1, 20 zurückverweist, wo er zur Rechtfertigung der entfalteten Prekaritäten und unter expliziter Anspielung auf die benannte Stelle der ,Confessiones‘ angekündigt, er werde zu gegebener Zeit alle seine Briefe in eine chronologische Ordnung bringen und damit seine endlich gelungene Gotteszuwendung zementieren. Dieses gegebene Versprechen wird hier sichtlich aufgerufen und zugleich explizit nicht eingelöst. Indem Petrarca in Fam. I, 1, 7 den amor sui positiviert, spielt er im übrigen auch Platon (und Aristoteles) gegen Augustins Diffamierung der Selbstliebe aus. Denn sowohl Platon als auch Aristoteles betrachten den amor sui, insofern er in Maßen auftritt und im Rahmen der Sophrosyne verbleibt, nicht nur als erlaubte, sondern geradezu als notwendige Grundkategorie eines gelungenen und gesellschaftsstabilisierenden Selbstumgangs. Cf. hierzu U. Dierse/S. Knoche, Art. ,Selbstliebe‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 9, Darmstadt 1995, coll. 465-487, hier 465 sq.
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der Repräsentation zeitlich bedingter varietas birgt 102. Wie in Fam. I, 8 ist es also nur folgerichtig, wenn sodann stilistisch-ästhetische Fragen im Vordergrund stehen und jede Gotteszuwendung verdrängen 103. Freilich vergißt der Briefeschreiber bei alledem keineswegs, auch auf die didaktische Aufgabe des Dichters einzugehen, und auch hier ist die Argumentation höchst eigentümlich. Zunächst scheint er sich betont jeder didaktischen Pragmatik zu enthalten. Explizit macht er darauf aufmerksam, daß die Briefesammlung nur ein Konglomerat der verstreuten Erzählungen aus seinem konkreten, familiären Leben darstellt, eine - wie er selbst schreibt - deformierte varietas, die keine überzeitlich-transzendente Wahrheit vermittelt, sondern den Leser ,nur‘ über die komplizierten Wechselfälle und unbeständigen Winkelzüge seiner Seelenzustände informiert 104. Der Leser erhält also nicht mehr als ein konkretes empirisches Material, dessen chronologische Anordnung, wie bereits erwähnt, offenbar nicht jenen in die Transzendenz weisenden Effekt erbringt, den die Chronologie in den ,Confessiones‘ Augustins oder der ,Vita Nuova‘ Dantes erbracht hatte. Aber auch in diesem Fall ist die prekäre Umsetzung der varietas-Logik keineswegs nur als Verfahren der Destruktion zu lesen. Wirft man nämlich erneut einen Seitenblick zu Buridan und dessen Realisierung seiner Philosophie in seinen eigenen Schriften, so erkennt man, daß sich in Petrarcas Poetik der varietas, in deutlicher Parallele zu jenem, durchaus ein ernstzunehmendes didaktisches Programm verbirgt. Denn aus der Selbstverantwortlichkeit der natürlichen Vernunft erwächst für Buridan zuallererst die Aufgabe, die Dinge stets so differenziert wie möglich zu betrachten. Die natürliche, praktische Vernunft stellt in Buridans Philosophie vor allem eine Form der Kontext- und Situationsadäquanz, des geschulten Differenzierungsvermögens und der allgemeinen Anpassung an die Komplexität der Wirklichkeit dar. So fordert Buridan nicht nur allenthalben, man solle die Dinge magis particulariter betrachten 105, sondern er setzt dies in 102
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Diese Positivierung der varietas mortifera wird an verschiedenen Stellen des Briefes auch explizit ausformuliert. Der bereits erwähnte Genuß am eigenen Unterfangen deutet ebenso in diese Richtung wie der Hinweis, eine beständige Stilgleichheit erzeuge irgendwann unweigerlich Monotonie (Fam. I, 1, 29). Die kurze Anwandlung von Reue, die auf die Erwähnung des Genusses folgt, wird schnell in den Wind geschlagen und bleibt erneut völlig folgenlos (cf. Fam. I, 1, 7-9). Und nicht von ungefähr bringt Petrarca statt dessen etwas später eine Isotopie der Kontinuität und Dauer ins Spiel, wenn er in Fam. I, 1, 45 darauf hinweist, daß er fest entschlossen sei, jenen Weg bis zum Ende weiterzuverfolgen, den er bereits in seiner Jugend eingeschlagen habe. Daß die große Bedeutung, die Petrarca dem Stil und der Ästhetik beimißt, nicht in Opposition zu seinem ethischen Anliegen steht, habe ich bereits mehrfach angedeutet. Zur deformierten varietas cf. Fam. I, 1, 31; zur Informationsstruktur cf. Fam. I, 1, 33: „Nichil quasi aliud egi nisi ut animi mei status, vel siquid aliud nossem, notum fieret amicis.“ Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür findet sich im Prolog der ,Quaestiones ethicorum‘, wenn Buridan darauf hinweist, daß die aristotelische Definition der Tugend aufgrund ihrer mangelnden Komplexität ein unvollständiges Wissen vermittle. Quaest. Eth., prol. (ed. Paris 1513, 2rb-va; ms. BJ 664, 7va; ms. BJ 658, 2b ), zitiert nach Korolec, Philosophie morale (nt. 29), 59: „Sed diffinitio facit scire rem secundum incomplexam notitiam et est medium in demonstratione, qua res scitur notitia complexa.“ Cf. zu Buridans Konzept des magis particulariter auch R. Lambertini, Indivi-
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seiner ,e´criture‘ auch selbst um, indem er (wie bei seiner Willenslehre zumindest angedeutet) eine Fülle von Einzelfällen, Sonderfällen, Differenzierungen und Subunterscheidungen einführt (was im übrigen keineswegs mit Ockhams Ökonomieprinzip kollidiert, denn jenes bezieht sich nur auf die Anzahl überflüssiger Prämissen und Axiome und nicht auf die Differenziertheit des ,empirischen‘ Blicks) 106. Wenn Petrarca die varietas also im Verlauf des Briefes immer weiter spezifiziert und die Vielfalt der Themen und Stile auf die Variation der Schreibintentionen, des Seelenzustands, der Adressaten und der Schreibkontexte zurückführt 107, so realisiert er die varietas des Schreibens hier offenbar als eine Adäquanzsteigerung an die Mannigfaltigkeit der immanenten Welt und unterstützt damit deren Positivierung, die er zuvor bereits grundgelegt hat. Doch es verbirgt sich noch mehr dahinter: Denn da die dargebotene Vielfalt ohne eine einheitliche Bewertungsinstanz bleibt, obliegt es nun dem Leser, das ,empirisch‘ vorgefundene, geschriebene Material particulariter zu untersuchen, sich selbst eine Meinung darüber zu bilden und seine Lehren daraus zu ziehen 108. Auch der Leser wird also in der Anwendung der eigenverantwortlichen Vernunft geschult. Er wird geschult für eine ,gouvernementalite´‘ im Sinne Foucaults, die nicht
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duelle und politische Klugheit in den mittelalterlichen Ethikkommentaren (von Albert bis Buridan), in: J. A. Aertsen/A. Speer (eds.), Individuum und Individualität im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 24), Berlin-New York 1996, 464-478, hier 474 sqq. Nach seiner in der vorherigen Anmerkung zitierten Kritik an Aristoteles fährt Buridan dann auch ganz schlüssig fort (ibid.): „Item virtus habet causas determinatas, scilicet rationem distinguentem inter bonum et malum, et voluntatem eligentem bonum et refutantem malum et assuefactionem in bonis operibus secundum praedictam electionem voluntatis et iudicium rationis. Et habet virtus proprias et determinatas passiones, sicut esse cira difficilia, et moderativam passionum […].“ Zur benannten Besonderheit der Schreibweise Buridans cf. auch Schönberger, Relation als Vergleich (nt. 5), 243 sq. Letztlich läßt sich auch Buridans terministische Fassung der Suppositionslehre auf diesen Impetus der Adäquanzund Komplexitätssteigerung (in diesem Fall auf der semiotischen Mikroebene) zurückführen. Denn ein zentrales Anliegen des buridanischen Terminismus besteht darin, ein Instrumentarium an die Hand zu geben, mit dem die Bedeutungsstruktur der einzelnen Worte differenzierter und kontextsensibler als bis dato untersucht werden kann. Cf. allgemein zu Buridans Terminismus etwa M. Markowski, Johannes Buridans Kommentare zu Aristoteles’ Organon in Mitteleuropas Bibliotheken, in: The Logic of John Buridan. Acts of the 3rd European Symposium on Medieval Logic and Semantics, Copenhagen 16.-21. November 1975, Copenhagen 1978, 9-20. Cf. etwa Fam. I, 1, 19 und Fam. I, 1, 28. Letztlich soll der Leser also jene ,neue‘ Form der Textkritik anwenden, an deren Instituierung Buridan und Petrarca wesentlichen Anteil haben. Zu Buridans Rolle hierbei cf. Markowski, Wissenschaftsverständnis (nt. 8), 87 sqq. In der Forschung zur ,Entstehung‘ der Textphilologie im 14. Jahrhundert wird häufig davon ausgegangen, ein wesentlicher Aspekt des neuen Umgangs mit Texten bestünde darin, daß der Rhetorik - anders als zuvor - eine Vormachtstellung gegenüber der Logik eingeräumt werde. Der ,Fall‘ Buridan zeigt indessen, daß es nötig ist, diesen Topos auszudifferenzieren und von der dahinterstehenden Opposition Abstand zu nehmen. So dürfte deutlich geworden sein, daß die Rhetorik bei Buridan selbst eine Form der Logik ist, insofern sie ganz im Dienst der Erziehung zu einem methodisch-kritischen Denken steht, das sich sowohl auf tradiertes Autoritätenwissen als auch auf empirisch erfahrbare Sachverhalte bezieht. Dies zeigt sich auch an der bereits erwähnten Tatsache, daß Buridan in seinen theoretischen Ausführungen verschiedene Arten der Logik ausdifferenziert und in diesem Zusammenhang das Konzept der ,Morallogik‘ einführt, in dem Rhetorik und Logik verschmelzen; siehe oben, nt. 57.
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nur die Basis für eine neue Ethik, sondern auch für neue Gesellschaftsformen darstellen kann, deren Strategien der Verstetigung immer neu ausgehandelt werden müssen und können 109. Für diese neue Art der Vervollkommnung des Ichs liefern die ,Familiares‘, wie ich gezeigt habe, zahlreiche Anregungen 110. Obwohl, oder präziser: genau weil die Sammlung also Linearität durch Zyklik ersetzt, instituiert sich Petrarca hier als Vorbild für ein neues Menschenbild 111. V. Fazit In seinen ,Familiares‘ entwickelt Petrarca Strukturen der Dauer, die ihrem spätmittelalterlichen Entzug entgegengehalten werden und keineswegs nur für die ästhetische Gegenwelt der Literatur Geltung haben, sondern auch die Wissenschaft und Ethik mitbetreffen. Damit markiert er durchaus einen Umschlag von Alt zu Neu, der überdies weit weniger zwiespältig ist als häufig angenommen. Die zahlreichen Ambivalenzen beziehungsweise Inkonsistenzen, die Petrarcas Schreiben prägen, offenbaren sich vielmehr als Prinzipien eines ganz präzisen Programms der Erneuerung, das dem augustinischen (und augustinistischen) moraltheologischen Denken dezidiert entgegengehalten wird und alle möglichen Diskursbereiche von der Ethik über die Wissenschaft bis hin zur Gesellschaftspolitik umfaßt. Und Petrarca steht damit nicht alleine da. Vielmehr haben die vorangehenden Analysen Affinitäten zwischen Petrarca und Buridan (beide zu ihrer Zeit hochangesehene Persönlichkeiten mit großer Wirkkraft) enthüllt, die es notwendig machen, nicht nur das Petrarcabild sondern wohl auch die mentale ,Karte‘ des Spätmittelalters insgesamt zu überdenken 112. Wenn mein Aufsatz dazu beigetragen hat, daß in diesem Zusammenhang auch Johannes Buridans Rolle in der Geschichte gerechter gewürdigt und ihm vielleicht in naher Zukunft ein Platz in der kollektiven memoria einer breiteren Öffentlichkeit eingeräumt wird, dann wäre eines seiner zentralen Ziele erreicht. Ich hoffe, daß zudem deutlich geworden ist, wie aktuell das Studium des Mittelalters auch für die konkreten Anforderungen der heutigen Zeit sein kann. 109
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Foucault entwickelte sein Konzept der ,gouvernementalite´‘ in einer Reihe von Vorlesungen, die er in den Jahren 1978-79 in Paris hielt. Abgedruckt und übersetzt finden sich diese in M. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität, ed. M. Sennelart, Frankfurt a. M. 2006. Wobei die allenthalben an den Tag gelegte Ruhmsucht des Briefeschreibers, wie in nt. 70 dargelegt, dem ethischen Programm keinen Abbruch tut. Und erneut ließe sich zeigen, wie präzise Petrarca die einleitend konstituierte Programmatik in den darauffolgenden Briefen untermauert und ausarbeitet, was ich hier jedoch nicht mehr unternehmen kann. Auffällig ist, wie genau Petrarca darauf achtet, möglichst viele verschiedene Lebens- und Diskursbereiche anzusprechen. Besonders interessant ist Fam. I, 4, in dem er von seiner ersten Parisreise im Jahr 1333 berichtet (Fam. I, 4, 4 sqq.) und bereits damit eine Fährte zum Pariser Universitätsmilieu legt. Zu den neuesten Diskussionen um das 14. Jahrhundert cf. J. A. Aersten/M. Pickave´ (eds.), Herbst des Mittelalters? Fragen zur Neubewertung des 14. und 15. Jahrhunderts (Miscellanea Mediaevalia 31), Berlin-New York 2004.
IV. Identitäten und Kontinuitäten
Wann endet die Ewigkeit? Wortbruch, Instabilität und das Postulat der Dauer im französischen Spätmittelalter Petra Schulte (Köln) I. Woody Allen wird das Bonmot zugeschrieben, daß besonders gegen Ende die Ewigkeit lang sei. Der burgundische Herzog Johann Ohnefurcht empfand die Dauer der Ewigkeit bereits zu Beginn als unerträglich. So verstieß er im November 1407 gegen seinen Treueid und führte mit der Ermordung Ludwigs von Orle´ans den gewaltsamen Bruch der nur drei Tage zuvor erneuerten unverbrüchlichen Freundschaft herbei 1. Ewigkeit kann nur dann einen Anfang und ein Ende haben, wenn sie auf Lebenszeit gedacht wird. Sie beginnt für den Einzelnen mit einem Wort und endet mit seinem idealiter natürlichen Tod. Ewigkeit ist in diesem Fall ein zeitliches Phänomen, und zwar dasjenige, das aus der Perspektive des Menschen von der für ihn längsten Dauer ist. Zugleich, und hierauf basiert das Paradoxon Woody Allens, entspricht Ewigkeit auch der Idee der Unvergänglichkeit, der im christlichen Sinne überzeitlichen Unveränderlichkeit. Von Johann Ohnefurcht hatte man sich ein anderes Verhalten erhofft. Ein Versprechen sollte ein Leben lang Geltung besitzen 2. Wurde die unbefristete Dauer eigens hervorgehoben, geschah dies mit dem auch im religiösen Kontext verwendeten Adjektiv ,fortwährend‘. Ein entsprechendes Freundschafts- oder 1
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Dieses Ereignis ist in der Literatur vielfach behandelt worden. Cf. etwa R. Vaughan, John the Fearless. The Growth of Burgundian Power, London 1966, 29-48; R. C. Famiglietti, Royal Intrigue. Crisis at the Court of Charles VI, 1392-1420, New York 1986, 23-63; B. Guene´e, Un meurtre, une socie´te´. L’assassinat du duc d’Orle´ans, 23 novembre 1407, Paris 1992; J. Ehlers, Ludwig von Orle´ans und Johann von Burgund (1407/1419). Vom Tyrannenmord zur Rache als Staatsraison, in: A. Demandt (ed.), Das Attentat in der Geschichte, Köln-Weimar-Wien 1996, 107-121; B. Schnerb, Jean sans Peur. Le prince meurtrier, Paris 2005, 205-291. Zu den Abkommen zwischen beiden Herzögen A. Coville, Jean Petit. La question du tyrannicide au commencement du XVe sie`cle, Gene`ve 1974 [Nachdruck der Ausgabe Paris 1932], 384389. Als ein Beispiel sei die Bestätigung der Freundschaft in Compie`gne im Juni 1406 genannt. Cf. L. Doue¨t-d’Arcq (ed.), La Chronique d’Enguerran de Monstrelet en deux livres avec pie`ces justificatives 1400-1444, vol. 1, Paris 1857, I. 27, 130: „Et d’autre part, apre`s que grandes confe´de´racions furent faictes entre les ducs d’Orle´ans et de Bourgongne et qu’ilz eurent promiz l’un a` l’autre a` entretenir bonne fraternite´ et amour toute leurs vies, […].“
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Friedensbündnis hieß ,amitie´ perpetuelle‘ oder ,paix perpetuelle‘ 3. Die Wahrung des gegebenen Wortes entsprach - in bezug sowohl auf das Übereinkommen selbst als auch auf das Gemeinwesen - einem Zustand der Dauerhaftigkeit, Stabilität und Beständigkeit 4. Persönliche Tugendhaftigkeit wurde im französischen Spätmittelalter gesellschaftspolitisch betrachtet 5. Mit der Mißachtung des Treueides beging der burgundische Herzog einen Vertrauensbruch 6 und verletzte die sittliche Norm der Wahrhaftigkeit 7. Die besondere Tragweite, die die Zeitgenossen diesem Vergehen zuschrieben, wird verständlich, blickt man in das noch unedierte Werk ,Livre de la prod’ommie de l’omme‘ (1404/05), in dem Christine de Pizan die aus dem sechsten Jahrhundert stammende ,Formula de honesta vita‘ Martins von Braga übersetzt und kommentiert 8. In ihm definiert sie die Wahrhaftigkeit als eine Tugend, durch die die Dinge, die sind, waren oder sein werden, stabil und unveränderlich seien. Ohne die Wahrheit sei nichts von 3
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Cf. K. Oschema, Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund. Studien zum Spannungsfeld von Emotion und Institution (Norm und Struktur 26), Köln-Weimar-Wien 2006, 312-323. Siehe etwa die Wortwahl des Chronisten Thomas Basin in der Schilderung des Friedens von Pe´ronne (1468) zwischen dem französischen König Ludwig XI. und dem burgundischen Herzog Karl d. Kühnen (Thomas Basin, Histoire de Louis XI, vol. 1: 1461-1469, ed. C. Samaran [Les classiques de l’histoire de France au moyen aˆge 26], Paris 1963, II. 21, 302-304): „Ambo enim, rex videlicet et Burgundionum dux, super verum lignum dominice crucis jurarunt pacem perpetuam inter se, terras et subditos suos servare et amiciciam atque concordiam firmam et stabilem […]. Fuit itaque eo modo firmatum fedus et conciliata pax inter dictos principes, aput Peronam, mense octobris, anno Domini millesimo quadringentesimo sexagesimo octavo. Cujus quanta fuerit duracio, quanta stabilitas atque permanencia, paulo post in sequentibus referemus.“ Zur Ausrichtung der Tugend am Gemeinwohl cf. A. J. Vanderjagt, Qui sa vertu anoblist. The concepts of ,noblesse‘ and ,chose‘ publique in Burgundian Political Thought (Including Fifteenth Century French Translations of Giovanni Aurispa, Buonaccorso da Montemagno, and Diego da Valera), Groningen 1981. Zum Begriff des Vertrauens P. Schulte, Treue und Vertrauen im Zeichen der Ermordung Ludwigs von Orle´ans durch Johann Ohnefurcht (23. November 1407), in: Frühmittelalterliche Studien 39 (2005), 315-333; ead., Die Ethik politischer Kommunikation im französischen Spätmittelalter (Vortrag auf der Tagung zu Ehren von Hagen Keller anläßlich seines 70. Geburtstages „Zwischen Pragmatik und Performanz - Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur, Münster, 2.-4. Mai 2007“ [Organisation: Ch. Dartmann, Th. Scharff, Ch. F. Weber], in Druckvorbereitung). Zur intellektuellen Debatte, die auf die Tat folgte, Coville, Jean Petit (nt. 2). Ferner P. von Moos, Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten Anachronismus, in: G. Melville/P. von Moos (eds.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne (Norm und Struktur 10), Köln-Weimar-Wien 1998, 3-83, besonders 62-74; M. Kintzinger, Maleficium et veneficium. Gewalt und Gefahr für den Fürsten im französischen Spätmittelalter, in: id./J. Rogge (eds.), Königliche Gewalt - Gewalt gegen Könige. Macht und Mord im spätmittelalterlichen Europa (Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 33), Berlin 2004, 71-99, hier 87-95. Christine de Pizan schreibt die Schrift Seneca zu, was in dieser Zeit üblich war. Zur Überlieferung C. Reno, Le livre de prudence/livre de la prod’hommie de l’homme: Nouvelles perspectives, in: L. Dulac/B. Ribe´mont (eds.), Une femme de Lettres. E´tudes autour de Christine de Pizan (Medievalia 16, ser. E´tudes christiniennes 1), Orle´ans 1995, 25-37. Zum Inhalt der ,Formula de honesta vita‘ cf. A. Liefooghe, Les ide´es morales de Saint Martin de Braga, in: Me´langes de science religieuse 11 (1954), 133-146.
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ewiger Dauer 9. Es ist diese Eigenschaft, die die ,verite´‘ in der politischen Theorie des französischen Spätmittelalters zu einer unerläßlichen Grundlage für den Bestand des Königreiches macht. In seinem Buch ,Die zwei Körper des Königs‘ hat Ernst Kantorowicz die Bedeutung eines veränderten Zeitbewußtseins für die Entwicklung der Fiktion des Gemeinwesens als einer juristischen Person herausgearbeitet. Der augustinische Dualismus zwischen der vergänglichen, irdischen Zeit (tempus) und der statischen Ewigkeit Gottes (aeternitas) sei aufgebrochen und um eine dritte Kategorie, die ,quasi-unendliche Kontinuität‘ menschlicher Einrichtungen, erweitert worden. Das Königreich wurde zum corpus mysticum sive politicum, dessen Identität es im Wandel der Zeiten und in der Abfolge der Generationen zu gewährleisten galt 10. Der Weg dorthin führte aus dem Blickwinkel der Intellektuellen nicht nur über die Sicherung der königlichen Erbfolge und die Festigung der Ämter, sondern auch und vor allem über das wahrhafte, tugendhafte Handeln. Dieses verschaffte dem Einzelnen eine günstige Ausgangslage beim Jüngsten Gericht und garantierte bis dahin zugleich den Erhalt des irdischen Gemeinwesens für die Nachkommen. Mit Sorge konstatiert Christine de Pizan folglich, daß der Hang zur Lüge die gesamte französische Gesellschaft präge. Der Klerus gebe sich der Heuchelei hin, der Adel treffe sich - Nichtigkeiten aufblasend - auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten, die Kaufleute betrögen um des Gewinns willen, und das gemeine Volk erfinde Geschichten über die Herren und Damen, deren Situation, deren Stand und deren Moral. Und die Großen schließlich machten Versprechen und schöne Worte, ohne sich an das einmal Ausgesprochene gebunden zu fühlen 11. 9
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Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ms. Reg. Lat. 1238: Christine de Pizan, Livre de la prod’ommie de l’omme, fol. 46r: „Verite´ est une vertu par qui les choses qui se sont, ont este´ ou seront sont permanables, estables et non mue´es, ne chose n’est perpetuele senz elle.“ Der erste Teil der Definition entspricht Cicero, De inventione. De optimo genere oratorum/On invention. Best kind of orator topics, ed. H. M. Hubbell (The Loeb Classical Library 386), Cambridge (Mass.)-London 2000 [erste Aufl. 1949], II. 161, 329: „veritas, per quam immutata ea quae sunt aut ante fuerunt aut futura sunt dicuntur.“ Eine weitere Quelle für Christine de Pizan waren möglicherweise die ,Summa de vitiis‘ (um 1236) und die ,Summa de virtutibus‘ (vor 1249) des Dominikaners Guillaume Peyraut. In der letzteren findet sich das folgende Zitat, das auf den Ewigkeitscharakter der Wahrheit verweist (Guillelmus Peraldus, Summa aurea de virtutibus et viciis, Brescia: Britannicus 1494, 1. 8. 43): „Veritas manet et invalescit in eternum: et vivit et optinet in secula seculorum (III Esr. 4.38).“ E. H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, Stuttgart 1992 [engl. Princeton (NJ) 1957], 283-321, 292; A. Koschorke/S. Lüdemann/T. Frank/E. Matala de Mazza, Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt am Main 2007, 79-88. Ferner J. Barbey, La fonction royale. Essence et le´gitimite´ d’apre`s les Tractatus de Jean de Terrevermeille, Paris 1983; W. Mager, Zur Entstehung des modernen Staatsbegriffs (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 1968, 9), Wiesbaden 1968. Christine de Pizan, Livre de la prod’ommie de l’omme (nt. 9), fol. 35v: „Et elle sert entre les grans de promesses et de belles paroles et de choses ottroie´es et afferme´es que ja ne tendront, es gens d’eglise de faulz semblant et de feintise, entre les nobles de ventise, de boubans et, de vaine gloire, entre les marchans de tricherie et de cautele, ou peuple de deviser contes et avantu-
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Derjenige, der auf Erden den Verlockungen des Augenblicks zu widerstehen, dem Wandel zu trotzen und an dem einmal Gesagten festzuhalten vermag, besitzt nach Christine de Pizan die Kardinaltugend der Stärke (,force‘) sowie die ihr untergeordneten Eigenschaften der Unerschütterlichkeit (,fermete´‘) und Standhaftigkeit (,constance‘). ,Fermete´‘ entspreche einer Sache, die durch das kontinuierliche Verfolgen eines Vorhabens und das fortgesetzte Betreiben einer Tätigkeit verhärtet sei und nicht aufgeweicht werden könne. Die Eigenschaft, unter keinen Umständen etwas Bestehendes zu verletzen oder in sein Gegenteil zu verkehren, bezeichnet Christine de Pizan hingegen als ,constance‘ 12. In ande-
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res advenues ou qui advendront sur le fait des seigneurs ou des dames de leurs condicions et de leurs meurs de leur estat et comment ilz se gouvernent.“ Diese Passage findet sich übersetzt in: C. C. Willard, From the Book of Man’s Integrity ( Justice), in: ead. (ed.), The Writings of Christine de Pizan, New York 1994, 261-268, hier 267. Ausgangspunkt der Gesellschaftskritik war der folgende Satz Martins von Braga (Martini Episcopi Bracarensis opera omnia, ed. C. W. Barlow [Papers and monographs of the American Academy in Rome 12], New Haven 1950, chapter VII: Formula vitae honestae, 204-250, hier 247): „Quod etsi aliquando coarteris uti mendacio, utere non ad falsi sed ad veri custodiam, et si contigerit fidelitatem mendacio redimi, non mentieris, sed potius excusabis, quia ubi honesta causa est iustus secreta non prodet.“ Christine de Pizan diskutiert diesen Satz, hebt dabei aber vor allem den Mißbrauch der Lüge hervor. Cf. zur Beurteilung der Lüge im Früh- und Hochmittelalter H.-W. Goetz, Konzept, Bewertung und Funktion der Lüge in Theologie, Recht und Geschichtsschreibung des frühen und hohen Mittelalters, in: Das Mittelalter 9 (2004), 54-72, hier 68-71. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts faßte man die Formen des Meineids, der Lüge, der Schmähung, der Schmeichelei etc. unter den Begriff der peccata linguae. Guillelmus Peraldus, Summa aurea de virtutibus et viciis (nt. 9), II. 9. Cf. C. Casagrande/ S. Vecchio, I peccati della lingua. Disciplina ed etica della parola nella cultura medievale, Roma 1987; P. G. Schmidt, De peccatis linguae. Lügen und andere Zungensünden, in: Das Mittelalter 9 (2004), 37-43. Ferner allgemein G. Bien, Art. ,Lüge I.‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 5, Darmstadt 1980, 533-544. An dieser Stelle öffnet sich ein weites Forschungsfeld, das hier nur kurz angerissen werden kann. Christine de Pizan ergänzt das Werk Martins von Braga, das sie - wie in ihrer Zeit üblich - Seneca zuschreibt, um eine Beschreibung der Kardinaltugenden „selon l’opinion des hommes ecclesiastiques“ (Christine de Pizan, Livre de la prod’ommie de l’omme (nt. 9), fol. 41r ). Unter ,force‘ subsumiert sie (ibid., fol. 42rv ) ,magnificence‘, ,clemence‘, ,magnanimite´‘, ,fiance‘, ,seurte´‘, ,constance‘, ,fermete´‘, ,pacience‘, ,perseverence‘, ,longanimite´‘, ,humilite´‘, ,debonnairete´‘. Guillaume Peyraut (Guillelmus Peraldus, Summa aurea de virtutibus et viciis (nt. 9), 1. 7. 5) schreibt einleitend über die partes fortitudinis: „Notandum ergo quod Tullius in prima rethorica quattuor partes eius assignat: scilicet magnificentiam, fiduciam, pacientiam, perseverantiam [Cicero, De inventione (nt. 9), II. 163, 330]. Macrobius vero septem partes eius tangit: magnanimitatem, fiduciam, securitatem, magnificentiam, constantiam, tollerantiam, firmitatem. [Ambrosii Theodosii Macrobii Commentarii in somnium Scipionis, ed. J. Willis (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), 2. Auflage Stuttgart-Leipzig 1994, I. 8. 7].“ In diesem Kontext sind die Begriffe firmitas, constantia und perseverantia von besonderer Bedeutung, die alle auf die Beständigkeit des rechten Tuns zielen. Christine de Pizan definiert sie wie folgt (Christine de Pizan, Livre de la prod’ommie de l’omme [nt. 9], fol. 42v ): „perseverence est une perpetuele et ferme stabilite´ en propos bien considere´ et delibere´ par raison qui se continue en pense´e et envie“ (Cicero, De inventione [nt. 9], II. 163: „perseverantia est in ratione bene considerata stabilis et perpetua permansio“); „constance est une fermete´ qui ne se change pour chose queleconques tant soit hurte´e ne amonneste´e au contraire“; „fermete´ est une vertu qui ne peut estre vrise´e et est sicomme une chose ia endurtie par continuacion de propos et d’envie ne peut estre amollie“. Deutlicher werden die Überschneidungen und Unterschiede im Bedeutungshorizont beider Begriffe, zieht man Guillaume Peyraut
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ren Quellen findet sich die Forderung, ein Mensch habe ,estable‘ oder ,immüable‘ zu sein 13. Doch wer war schon derart charakterfest? Der Einzelne erlebte den Wortbruch in seinem Leben wahrscheinlich häufiger als den Idealfall. Trotz oder gerade wegen dieses Wissens waren die Menschen bestrebt, das Jetzt für die Ewigkeit festzulegen, seine Bewahrung zur Handlungsmaxime zu machen und die Treulosigkeit, die Veränderungen offenbar werden ließ, zu verurteilen. Den Reflexionen über die zeitliche Dimension des Wortes im französischen Spätmittelalter nachzugehen, ist das Ziel meiner folgenden Ausführungen. Es soll gezeigt werden, mit welchen Argumenten die Treue gegenüber dem eigenen Wort zum Fundament des Zusammenlebens gemacht wurde 14 und wie sich das Ideal im politischen Alltag spiegelte, das heißt, welche Vorwürfe und Rechtfertigungen die Wortbrüche des Adels beziehungsweise des Herrschers begleiteten.
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hinzu. Guillelmus Peraldus, Summa aurea de virtutibus et viciis [nt. 9], 1. 7. 13, definiert die constantia als „stabilitas animi firma et in proposito perseverans“ und beschreibt sie als Mitte zwischen der ,mutabilitas seu levitas‘ auf der einen und der ,pertinacia‘ auf der anderen Seite. Ferner ordnet er ihr die ,stabilitas intellectus‘, die „gravitas seu equanimitas in utraque fortuna“, die „stabilitas circa ea que desiderantur“, die ,stabilitas loci‘, die „firmitas contra ventos temptationum“ sowie die „stabilitas in occupatione seu operatione“ zu. Eine Übereinstimung zwischen constantia und perseverantia sieht er (ibid., 1. 7. 14) in der Idee der permanentia, wobei erste als ,permanentia in proposito‘, als Festhalten an der Absicht, und zweite als „permanentia in bono sive continuatio boni “, als ein Fortfahren im Guten, zu verstehen sei. Perseverantia bezeichnet er auch als „permanentia in bono diuturnalis finalis“, was er ausführlich erörtert. Dies weist in die Richtung von Thomas von Aquin, der einige Jahre später formuliert, daß sich die constantia gegen innere und äußere, die perseverantia gegen in der Dauer begründet liegende Widerstände wende (Thomae Aquinatis Summa Theologica, ed. J. Pecci, vol. III (= II.II), Paris 1887, q. 137, 3): „Perseverantia et constantia conveniunt quidem in fine, quia ad utrumque pertinet firmiter persistere in aliquo bono; differunt autem secundum ea quae difficultatem afferunt ad persistendum in bono; nam virtus perseverantiae proprie facit firmiter persistere hominem in bono contra difficultatem quae provenit ex ipsa diuturnitate actus; constantia autem facit firmiter persistere in bono contra difficultatem quae provenit ex quibuscumque aliis exterioribus impedimentis“. Cf. allgemein Ch. Kriele, Art. ,Beharrlichkeit‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 1, Darmstadt 1971, 814-816; K. A. Blüher, Art. ,Standhaftigkeit‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 10, Darmstadt 1998, 99-103. In den zeitgenössischen Quellen, etwa der Historiographie, werden die Begriffe der ,constance‘ und ,fermete´‘ gegenüber dem der ,perseverance‘ bevorzugt. Dies scheint der Zusammenfassung aller Bedeutungsinhalte im Begriff der ,constance‘ zu entsprechen, wie sie sich in der in den 1260er Jahren in Frankreich entstandenen Enzyklopädie des Florentiners Brunetto Latini findet (Brunetto Latini, Li Livres dou Tresor, ed. F. J. Carmody [University of California. Publications in Modern Philology 22], Berkely-Los Angeles 1948, II. 88, 270): „A ceste vertu apertienent .v. choses; l’une est la parmanablete´ de l’entendement ki se sieut remuer en diverses pensees, la seconde est uns meismes corages es biens et es maus, la tierce est fermete´s entour choses desirees, la quarte est a endurer contre les tentations, la quinte est permanance es oevres.“ Siehe etwa nt. 43, 49. Einen allgemeinen, begriffsgeschichtlichen Überblick von der Antike bis in die Neuzeit gibt T. Gloyna, Art. ,Treue‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 10, Darmstadt 1998, 1473-1478; ead. „Treue“: Zur Geschichte des Begriffs, in: Archiv für Begriffsgeschichte 41 (1999), 64-85.
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II. Guillaume Fillastre, Bischof von Tournai, Rat am burgundischen Hof und Kanzler des Ordens vom Goldenen Vlies 15, subsumiert in seinen ,Büchern vom Goldenen Vlies‘, einem unvollendeten Adelsspiegel aus der ersten Hälfte der 1470er Jahre, die Wahrhaftigkeit unter zwei Tugenden: die Stärke (,force‘) beziehungsweise den Großmut (,magnanimite´‘) und die Gerechtigkeit 16. Großmut zeige ein Menschen, der sich unabhängig von seinen Gefühlen und persönlichen Interessen eindeutig und klar ausdrücke, sich selbst gegenüber ehrlich und in seinen Worten und Taten authentisch sei sowie die Freiheit besitze, das zu sagen und zu tun, was ihm tugendhaft und richtig erscheine. In seiner Standhaftigkeit wolle er handeln, nicht gefallen 17. Die Gerechtigkeit hebt dies auf ein politisches Niveau. Nur wer wahrhaft sei, werde gerecht, und wer gerecht sei, werde wahrhaft. Und so hänge die Wahrhaftigkeit von der Gerechtigkeit ab wie die Tochter von der Mutter, weil die Gerechtigkeit niemanden täusche oder betrüge und jedem gebe, was das Seine sei 18. Die Forderung ,a chascun le sien‘ könnte umfas15
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Cf. M. Prietzel, Guillaume Fillastre der Jüngere (1400/07-1473). Kirchenfürst und herzoglichburgundischer Rat (Beihefte der Francia 51), Stuttgart 2001. Die Gleichsetzung von ,force‘ und ,magnanimite´‘ findet sich in der ,Formula de honesta vita‘ (Martin von Braga, Formula vitae honestae [nt. 11], 241: „Magnanimitas vero, quae et fortitudo dicitur, si insit animo tuo, cum magna fiducia vives liber, intrepidus, alacer “) und folglich in deren Übersetzungen durch Christine de Pizan (Christine de Pizan, Livre de la prod’ommie de l’omme [nt. 9], fol. 37r ) und Jean Courtecuisse (H. Haselbach, Seneque des IIII vertus. La formula honestae vitae de Martin de Braga (pseudo-Se´ne`que) traduite et glose´e par Jean Courtecuisse (1403) (Publicationes Universitaires Europe´ennes. Se´rie XIII: Langue et litte´rature francX aise 30), Frankfurt a. M. 1975, 399. Brüssel, Bibliothe`que royale de Belgique, Ms. 9027: Guillaume Fillastre, Le premier livre de la Thoison d’or, chap. V, fol. 32rb: „La tierce propriete´ du magnanime sy est qu’il soit homme veritable plain et ouvert non double ne couvert; et doivent ses fais et paroles estre et consister en verite´ ouverte, non palie´e, non fainte, mais manifeste et plainiere; ne pour amour, ne pour hayne ne pour priere ne pour prouffit ou dommagerie doit nyer ou mucer sa vertu. S’il voeult aussy amer ou hayr, il le doit faire ouvertement tellement que soit cogneu ce qu’il het ou ce qu’il ayme. Ceste partie proprement regarde la liberte´ et franchise que doit avoir l’omme magnanime en son cœur. Car comme dist Tulle en sa rethoricque le cœur de l’omme magnanime ne peut souffrir qu’il perde la liberte´ de faire et de dire ce que lui semble honneste, vertueux et veritable. A quoy se accorde Aristote ou quart de ethiques dessus allegue´ [Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, edd. O. Gigon / R. Nickel, Düsseldorf-Zürich 2001, IV., 1124b].“ Zum ersten ,Buch vom Goldenen Vlies‘ M. Prietzel (ed.), Guillaume Fillastre d. J. Ausgewählte Werke. Mit einer Edition der Kreuzzugsbulle Pius’ II. „Ezechielis prophete“ (Instrumenta 11), Ostfildern 2003, 44 sq., 84-93. Herrn Prof. Dr. Malte Prietzel sei an dieser Stelle herzlich für seine freundliche Kollegialität in bezug auf die ,Bücher vom Goldenen Vlies‘ gedankt. Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Archiv des Ordens vom Goldenen Vlies, Hs. 2: Guillaume Fillastre, Le second livre de la Thoison d’or, fol. 440r: „Par ce que cy dessus avons dit de verite´, nous voyons clerement que qui est veritable, il se treuve juste, et qui est juste, il sera veritable. Et si depent verite´ de justice comme la fille de la mere, car justice ne veult tromper ne decepvoir aultruy. Pour ce, fault que le juste soit veritable. Justice veult a chascun rendre ce qu’est sien.“ Zum zweiten ,Buch vom Goldenen Vlies‘ cf. Prietzel (ed.), Guillaume Fillastre d. J. Ausgewählte Werke (nt. 17), 45 sq., 93-101. Hier (315-327) findet sich auch eine Edition des Kapitels ,Über die Treue‘.
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sender nicht sein. Sie beschreibt Ansprüche und Aufgaben aller Glieder des politischen Körpers und schafft ein Band, das die Menschen jenseits der bestehenden Unterschiede zusammenhalten, Einigkeit schaffen und den Bestand des Gemeinwesens gewähren sollte 19. Deutlich faßbar wird dieser Gedanke in der ,Summa de virtutibus‘ (vor 1249) des Dominikaners Guillaume Peyraut 20, auf den sich auch Guillaume Fillastre in den entsprechenden Passagen stützt. ,Jedem das Seine‘ erscheint als Manifest einer gerechten Ordnung und bedeutet, dem Oberen zu gehorchen, dem Untergebenen eine schützende Ordnung zu bieten sowie dem Gleichrangigen in Gleichheit zu begegnen. Die Anerkennung der eigenen Würde und der sich aus ihr ergebenen Verpflichtungen wurde als wahrhaftes Handeln verstanden, das darüber jedoch noch hinausging: Unabhängig von den Rangunterschieden habe jeder Mensch dem anderen Liebe (dilectio), Wahrhaftigkeit (veritas) und Aufrichtigkeit (fides) entgegenzubringen 21. Den Zusammenhang zwischen den beiden letzten Tugenden verdeutlicht der Dominikaner mit einem Augustinuszitat: Niemand könne mit einer Lüge die fides wahren 22. Es gehört zur Geschichte der fides, daß in ihr die Vorstellungen des christlichen Glaubens, der Treue und der Übereinstimmung von Wort und Tat untrennbar miteinander verwoben wurden 23. Bei Guillaume Peyraut findet sich der Versuch, die Fäden zu entwirren 19
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Der Themenbereich wird in meiner Habilitationsschrift mit dem Titel „Gerechtigkeit und Gehorsam. Politische Bindungskonzepte im französisch-burgundischen Spätmittelalter“ untersucht. Diese Erkenntnis besitzt keine Entsprechung in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Werk, die noch in den Anfängen steckt. Zu Guillaume Peyraut cf. A. Dondaine, Guillaume Peyraut, vie et oeuvres, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 18 (1948), 162-236; M. Gerwing, Art. ,Wilhlem Peraldus‘, in: Lexikon des Mittelalters, vol. 9, München-Zürich 1998, 182 sq.; I. P. Bejczy, John of La Rochelle and William Peraldus on the Virtues and Vices, in: Archivum Franciscanum Historicum 97 (2004), 99-110. Zur Quellengattung allgemein R. Newhauser, The Treatise on Vices and Virtues in Latin and the Vernacular (Typologie des sources du moyen aˆge occidental 68), Turnhout 1993. Nützliche Hinweise bietet auch die Projektbeschreibung von A. M. Verweij, der im Rahmen des von I. P. Bejczy (Nijmegen) geleiteten Projektes „A genealogy of morals: the cardinal virtues in medieaval discourse“ eine Teiledition der ,Summa de virtutibus‘ angekündigt hat: *http://www.onderzoekinformatie.nl/en/oi/nod/onderzoek/OND1294348/ +. „The Peraldus Projekt“ ( J. Heiges Blythe, K. Emery, Jr., J. Goering, R. Newhauser, S. Wenzel) bereitet die Edition der ,Summa de vitiis‘ (nt. 9) vor: *http://www. english.upenn.edu/~swenzel/peraldus.html+. Guillelmus Peraldus, Summa aurea de virtutibus et viciis (nt. 9), 1. 8. 4: „Quidam vero iusticiam dividunt in .v. partes, scilicet in obedientiam que est respectu superioris et disciplinam que est respectu inferioris, et equitatem que est respectu paris et unitatem et fidem que pertinent ad omnes.“ Ferner: „Notandum ergo quod quedam debemus omnibus ut dilectionem, veritatem et fidem, quedam vero non omnibus et intera aliud debemus superiori, aliud inferiori, aliud pari.“ Ibid., I. 8. 43: „Et notandum quod veritatem habere debemus quantum ad omnes: nulli enim mentiri debemus ut ostendit Augusti. lib. de doctrina christiana dicens omnis qui mentitur inique facit: nemo etiam mentiens in eo quod mentitur servat fidem nam hoc utique vult, ut qui [cui] mentitur fidem sibi habeat: quam tamen mentiendo ei non servat: omnis autem fidei violator iniquus est.“ Cf. Aurelii Augustini De doctrina christiana, ed. J. Martin (Corpus Christianorum. Series Latina 32), Turnhout 1962, I. 36. Cf. nt. 14.
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und über einzelne Bedeutungsvarianten gesondert nachzudenken. Die fides, schreibt er demgemäß, ziele ebenso wie die synonym verwendete fidelitas auf die Umsetzung eines gegebenen Wortes. Nach Isidor von Sevilla heiße derjenige fidelis, der das geschehen lasse, was er sage und verspreche. Wie die Wahrhaftigkeit verhindere, daß jemand einen anderen mit Worten täusche, schütze die Aufrichtigkeit vor einem Betrug durch die Tat. Augustinus hingegen ordne der fides die Bewahrung des Menschen vor beiden Vergehen zu 24. Guillaume Fillastre hält ergänzend fest, daß die ,foy‘/,fidelite´‘, die einer dem anderen schulde, im Französischen ,loyaulte´‘ genannt werde 25. Sie ermögliche es uns, uns, unsere Güter und unsere Geschäfte einem anderen zu überlassen, und werde bei demjenigen vorausgesetzt, dem wir vertrauen 26. Nach Cicero sei jemand nur dann gerecht, wenn er das, was er zusichere, konsequent (,constant et ferme‘) umsetze. Die Aufrichtigkeit bilde in diesem Sinne die Grundlage des Gemeinwesens 27. 24
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Guillelmus Peraldus, Summa aurea de virtutibus et viciis (nt. 9), 1. 8. 45: „Equitur de fidelitate prout fides idem est, quod fidelitas et est fides virtus qua promissa complentur, unde Isidorus .x. libro ethimologiarum. Fidelis dicitur quis pro eo quod fit ab eo id, quod dicit vel promittit bonum. [Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive originum libri XX, ed. W. M. Lindsay, vol. 1 (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis), Oxford 1911, X. 98]. Et sicut veritas servat hominem ne aliquem fallat in verbis, sic fides servat hominem ne aliquis [!] fallat in factis. Fides siquandoque large sumitur: Et sic ad eam pertinet servare hominem ne fallat alium verbo vel facto. Et sic sumit Augustinus fidem in libro de doctrina christiana. Dicens. Nemo mentiens in eo quod mentitur servat fidem [Aurelii Augustini De doctrina christiana (nt. 22), I. 36].“ Guillaume Fillastre, Le second livre de la Thoison d’or (nt. 18), fol. 434rv = Prietzel (ed.), Guillaume Fillastre d. J. Ausgewählte Werke (nt. 17), 315: „Je pourroye parler de la foy ou fidelite´ que l’omme doit a dieu et de ceste qu’il doit aux hommes, et aussi de la fidelite´ que le vassal doit au seigneur, mais pour le present je ne parleray que de la foy ou fidelite´ que l’omme doit a l’aultre, que nous appellons loyaulte´. Et laisserons les aultres deux pour en parler, par le ayde de dieu, ailleurs en leurs lieux, car c’est une matere qui comprendera l’une de nos thoisons. Et yci parlerons seulement de foy et loyaulte´ en tant qu’elle tient l’omme en verite´ envers aultre, comme homme veritable doit faire.“ Op. cit., fol. 434v = Prietzel (ed.), Guillaume Fillastre d. J. Ausgewählte Werke (nt. 17), 315: „Et la foy dont nous proposons presentement parler par l’ayde de dieu est une vertu par laquele nous commettons nous, nos biens, nos affaires en la foy et loyaulte´ et preud’hommye que nous creons estre en aultruy ouquel nous nous confions.“ Ibid. = Prietzel (ed.), Guillaume Fillastre d. J. Ausgewählte Werke (nt. 17), 315 sq.: „J’entens ycy ceste vertu de foy procedant de verite´, une vertu par laquele les hommes tiennent et acomplissent ce qu’ilz promettent a aultruy. Car selon Ysidore en son livre des Ethimologies ou premier (cf. nt. 24), l’omme est dit feable et dit on foy, estre en luy quant il fait et acomplit ce que il dist ou promet a aultre en bien. Et comme verite´ conserve ung homme qu’il ne decX oipve aultre par paroles, ainsy foy ou loyaulte´ le conserve que il ne decX oipve aultruy de fait. Mais saint Augustin la prent plus generalment en son livre de la dottrine cristienne (cf. nt. 22) ou il dit que l’omme menteur, en ce en quoy il ment, il rompt la foy, car il ne la garde ne en fait ne en dit. Et l’omme feable et loyal ne decX oipt homme, car il ne ment ne en fais ne en ditz. […] Tele vertu procede de justice, mais est selon les anchiens philosophes fondement de justice. Car comme dit Tule en son livre des offices, justice veult, mais est justice que l’homme soit constant et ferme en ce qu’il dit et promet [Marcus Tullius Cicero, De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln, ed. H. Gunermann, Stuttgart 2003, I. 7 (23): „Fundamentum autem est iustitiae fides, id est dictorum conventorumque constantia et veritas“]. Et quant tele loyaulte´ est en homme, on ne peut dire qu’il ne soit juste et que justice et verite´ ne soit en luy. Pour ce dit bien saint Ambroise ou pareil
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Unter Anführung verschiedener antiker Autoren mahnt Guillaume Fillastre nachdrücklich an, Versprechen nicht leichtfertig zu geben und unbedingt einzuhalten 28. Es existieren nur wenige Ausnahmen, die seines Erachtens eine Rücknahme des Gesagten erlauben: Wenn das Zugesicherte schlecht und von Übel sei, es dem anderen keinen Vorteil bringe beziehungsweise einem selbst mehr schade als dem anderen nutze 29. In allen übrigen Fällen verliere ein Mensch, der sein Wort breche, seine Glaubwürdigkeit und damit seine soziale Bindungsfähigkeit. Ihm könne zukünftig kein Vertrauen mehr geschenkt werden. Es sei insofern besser, große Taten nicht zu geloben, sondern zu vollbringen 30.
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livre des offices que le fondement de justice, c’est a dire de soy monstrer juste, est garder la foy et ce que on promet [Ambrosii Mediolanensis De officiis, ed. M. Testard (Corpus Christianorum. Series Latina 15), Turnhout 2000, I. 29. 142: „Fundamentum ergo est iustitiae fides“]. Et ne prouffitte pas seulement ceste vertu a l’omme particulier, mais a la chose publique, car (comme dit Tule ou livre dessus allegue´) rien n’est qui plus conserve la chose publique que foy et loyaulte´ [Cicero, De officiis, II. 24 (84): „Nec enim ulla res vehementius rem publicam continet quam fides“].“ Guillaume Fillastre, Le second livre de la Thoison d’or (nt. 18), fol. 435r-436r = Prietzel (ed.), Guillaume Fillastre d. J. Ausgewählte Werke (nt. 17), 317-319. Guillaume Fillastre, Le second livre de la Thoison d’or (nt. 18), fol. 435r = Prietzel (ed.), Guillaume Fillastre d. J. Ausgewählte Werke (nt. 17), 316: „Mais pout tenir et acomplir ce que nous promettons, il faut scX avoir quele chose nous povons ou devons promettre. Saint Ambroise y respond en son livre des offices ou 3e, ou il dit que chascun se doit garder de promettre chose deshoneste. Et se il se met en ceste follye de la promettre, il est plus tollerable non garder sa promesse que pour le entretenir faire chose laide et vicieuse. [Ambrosii De officiis (nt. 27), III. 12. 76: „Purum igitur ac sincerum oportet esse adfectum ut unusquisque simplicem sermonem proferat, uas suum in sanctitate possideat nec fratrem circumscriptione verborum inducat, nihil promittat inhonestum ac si promiserit, tolerabilius est promissum non facere quam facere quod turpe sit “]. Car comme il est dessus dit, se garder sa foy est fondement de justice et faire chose deshonneste et vicieuse est contre justice, foy ne promesse ne se doit garder en ce cas affin de non grever justice. Faire aussi injustice par œuvre deshoneste n’est pas monstre´ estre feable a dieu. Et qui n’est pas feable et loyal a dieu ne peut estre loyal aux hommes. Parquoy s’ensieut que chose deshonneste ou injuste promise ne se doit entretenir ne acomplir. Ancores met Tule en son premier livre des offices une maniere en laquele homme feable et loyal ne doit tenir sa promesse, et toutesfois il ne pourra estre par ce argue´ que foy ne soit en luy. Et est quant je promez quelque chose a un homme qui luy est inutile et qui de rien ne luy sert, il n’est besoing acomplir ceste promesse. Ou se je prometz a ung chose qui me soit plus nuysable et plus prejudiciable que elle n’est prouffitable a celluy a qui je la promez, je ne suy tenu a le acomplir, car promesse se doit entendre civilement et en bonne honnestete´ et equite´. [Cicero, De officiis (nt. 27), I. 10 (32): „Potest enim accidere promissum aliquod et conventum, ut id effici sit inutile vel ei, cui promissum sit, vel ei, qui promiserit. […] Nec promissa igitur servanda sunt ea, quae sint is, quibus promiseris, inutilia, nec si plus tibi ea noceant, quam illi prosint cui promiseris“].“ Cf. zur Anwendung dieser Argumentation bei der Rücknahme von Privilegien E. Isenmann, Der römisch-deutsche König und „imperator modernus“ als „monarcha“ und „princeps“ in Traktaten und in deutschen Konsilien des 15./16. Jahrhunderts, in: O. Condorelli (ed.), „Panta rei“. Studi dedicati a Manlio Bellomo, vol. 3, Rom 2004, 15-79, hier 32. Guillaume Fillastre, Le second livre de la Thoison d’or (nt. 18), fol. 435r-436r = Prietzel (ed.), Guillaume Fillastre d. J. Ausgewählte Werke (nt. 17), 317-319.
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III. Obwohl es im 15. Jahrhundert nicht an Stimmen mangelte, die betonten, das einfache Wort müsse genügen 31, wurde ein Versprechen zumeist mit einem Eid abgesichert 32. Der Theologe Jean Gerson bezeichnet ihn in verschiedenen Reden ebenso für die Treue wie auch für das Vertrauen der Menschen als notwendig, als einziges Band der menschlichen Gesellschaft und als einzigen Garanten der Ordnung und des Friedens 33. Der Eid, so zitiert Jean Gerson aus dem Brief des Paulus an die Hebräer, bestätige das Ende einer Auseinandersetzung. Werde er gebrochen, ruiniere er das Gemeinwesen. Denn wenn es möglich sei, wider einen Eid zu handeln, gebe es keine Stabilität mehr 34. Und genau um diese Stabilität hatte Frankreich zu kämpfen. Im zweiten ,Buch vom Goldenen Vlies‘ schreibt Guillaume Fillastre, daß in Frankreich kein Fürst mehr vollständig einem anderen Fürsten, der König keinem Fürsten und kein Fürst dem König 31
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Dies gilt nach Christine de Pizan vor allem für den Herrscher, dessen Glaubwürdigkeit an seine Autorität gebunden sei. Die Lüge stelle eine Pflicht- und Ehrverletzung dar. So kommentiert sie Martins von Braga „Nihil tibi intersit an firmes an iures: de religione et fide scias agi ubicumque de veritate tractatur. Nam etsi iureiurando deus non invocetur - etiam non invocanti testis est - tamen non transies veritatem, ne iustitiae transeas legem“ (Formula vitae honestae [nt. 11], 247) mit folgenden Worten (Christine de Pizan, Livre de la prod’ommie de l’omme [nt. 9], fol. 33v-34r ): „La simple parole du prince et du justicier et ce qu’il afferme, s’il est juste, ne doit point estre differencie´ du serement fait, car il appartient a leur dignite´ qu’ilz soient creuz, dont convient il a la religion dont ilz sont qui est de dieu de crestiante´ qu’ilz dient verite´ sur toutes gens. Car quant ilz parlent et dient bon dieu qui est verite´ leur est tesmoing de ce qu’ilz afferment non obstant que en tesmoignage ne l’appellent ne il n’appartient a eulx a jurer. La cause sy est que quant un homme jure fort il suppose que sa simple parole ne fust pas creue dont tient il que son auctorite´ ne soit mie grant, sy n’est pas ainsi d’entre euex, et se ainsi ne le font ilz trespassent la loy de justice en disant faulx et font contre leur devoir et honneur.“ Anschließend betont Christine de Pizan, daß dies für alle Christen gelten solle, und kritisiert Meineid und Eidbruch: „Et n’est pas doubte que semblablement le doivent faire tous crestiens, mais ne gardent celle loy au jour d’uy les pluseurs. Car les grans tromperies et les maulz se font en appellant le nom de dieu en tesmoing par grans seremens pour plus donner foy a ce qu’ilz dient et ainsi decoivent et cueuvrent menconge de la souveraine verite´ qui est dieu.“ In englischer Übersetzung: C. C. Willard, From the Book of Man’s Integrity ( Justice) (nt. 11), 265. Cf. B. Guene´e, Non perjurabis. Serment et parjure en France sous Charles VI, in: Journal des Savants (1989), 241-257. Cf. ibid., 248, 254 sq. Das gegen Jean Petit (siehe unten nach nt. 36) gerichtete Argument lautet vollständig ( Jean Gerson, Opera omnia, vol. 5. 2: Acta Concilii Parisiensis, super caede Ducis Aurelianensis, a Duce Burgundiae perpetrata, Anno 1407. Habiti circa finem Anni 1413. Et initio Anni 1414. Et quae in Gallia insecuta sunt, ed. L. E. du Pin, Antwerpen 1706 [Nachdruck HildesheimZürich-New York 1987], 1413 XII 29, 171): „Et quoniam dicitur ultra; non obstante quocumque juramento, est erroneum: et dicit; ista Propositio, quod licitum est venire contra juramentum etc., est falsa, perturbativa politiae et destructiva, erronea et pernitiosa. Nam beatus Paulus dicit: Non sunt facienda mala ut veniant bona. Rom. III.8. dicit alibi Finis controversiae, Hebr. VI.16. scilicet, ergo venire contra juramentum hoc esset pessimum: juravi tibi solvere decem, invenio pauperem, trado sibi, facio melius tradendo indigenti, quam tibi non egenti, ergo sum absolutus a juramentis, consequens est falsum et pernitiosum, et per istum modum non erit stabilitas in mundo, nec in politia.“
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vertraue. Durch die kontinuierlichen und zu langen Streitigkeiten sei das Königreich in Bezug auf sein Volk, seine Ritterschaft, seine Hauptmänner und die ,gens de conduite‘ geschwächt und zudem verarmt. Ein Großteil des Volkes trage schäbige Kleidung und schlafe auf Stroh. Und dies erfolge nicht aufgrund einer Buße oder aus Ergebenheit gegenüber Gott, sondern weil die Menschen derart unter den ihnen auferlegten Lasten litten, daß sie sich kein Bett leisten könnten 35. In diese Aussage Guillaume Fillastres spielt das Wissen um den Wohlstand des Herzogtums Burgund und die Ermahnung mit hinein, diesen durch ein Fehlverhalten nicht aufs Spiel zu setzen. Der Hintergrund, daß die burgundischen Herzöge seit knapp siebzig Jahren eine zumeist wichtige Rolle im Drama der innerfranzösischen Konflikte einnahmen, wird ausgeblendet. Doch hatte allein der eingangs bereits erwähnte Eidbruch durch Johann Ohnefurcht im November 1407 den Verlauf der politischen französischen Geschichte über Jahrzehnte bestimmt. Daß jedes nicht gehaltene Wort das Gemeinwesen gefährdet, war für die Zeitgenossen keine abstrakte Theorie. Der Streit zwischen den Mitgliedern der königlichen Familie hatte dem Königreich nicht als ein individuelles Fehlverhalten geschadet, sondern sich bedingt durch die Ermordung Ludwigs von Orle´ans zu einem Bürgerkrieg ausgeweitet, der sich mit dem Krieg gegen England verschränkte und erst im Vertrag von Arras 1435 ein vorläufiges Ende fand. Noch im Jahr 1433 ermahnte Jean Juve´nal des Ursins, zu diesem Zeitpunkt Bischof von Beauvais, die Versammlung der Stände: „Seid einig, ohne Spaltung, vergeßt allen Stolz, allen Neid und alles Unrecht. Wenn ihr geteilt seid, ist alles verloren. Es ist das Wort Gottes: ,Jedes Reich, das in sich gespalten ist, geht zugrunde, und keine Stadt und keine Familie, die in sich gespalten ist, wird lange überdauern.‘ Ich richte dies an alle drei Stände, nicht nur an den Adel. Denn die Teilung des Adels und der Fürsten hat auch die Männer der Kirche und das Volk entzweit. Das Königreich ist zerstört, durch euren Bund kann es wieder errichtet werden. Bei Sallust heißt es, daß die Eintracht kleine Dinge wachsen lasse und der Streit große zerstöre. Es sei in euch ein Körper, ein Geist, ein Glaube, eine Hoffung, ein König, seid eins für Gott.“ 36 Die hier und an anderen Stellen der Rede explizit zum Ausdruck kom35
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Guillaume Fillastre, Le second livre de la Thoison d’or (nt. 18), fol. 401vb: „Que dirons nous oultre de France: trouvons y ung prince qui entierement se fye en l’aultre, ne le roy en eulz ne eulz en leur roy. Les veons nous point par leurs continueles et trop longues dissentions debilitez et apovris: debilitez dy Je en peuple, en chevaleryes, en cappitaines et en gens de conduite. Et apovris en chevance telement que le plus du peuple gist sur l’estrain. Et tel porte par la vile vestement honeste de iour qui en son hostel gist sur le fain non pas par penitence ne par devotion que pleut a dieu que ainsi feust, mais par ce qu’ilz n’ont point de lit.“ P. S. Lewis (ed.), E´crits politiques de Jean Juve´nal des Ursins, vol. 1, Paris 1978, Epistre faicte par Jehan, evesque et conte de Beauvays pour envoier aux trois estas qui se devoient tenir a Bloiz l’an mil CCCC XXX et trois, laquelle ne fut point envoye´, 56-91, hier 70 sq.: „Et pour Dieu, soye´s unis ensemble, sans quelque division, et oubliez tout orgueil, envie et injures; car se vous estes divise´s tout est perdu. C’est la parolle de Dieu, Math. XII capitulo: Omne regnum in se divisum desolabitur: et civitas adversum se adversa, diu non stabit; royaulme en soy divise´, ou cite´, ne durera point longuement [Mt 12,25]. Et ce je ditz a tous les troys estas, et non mie seullement
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mende Sehnsucht nach Frieden und Eintracht und damit nach Stabilität, Festigkeit und Dauerhaftigkeit war in Frankreich omnipräsent. Die Rechtfertigung des burgundischen Herzogs im März 1408 hatte letztlich nur seine Anhänger überzeugt. Ihr Autor, der Theologe Jean Petit, hatte Ludwig von Orle´ans zum Tyrannen und Majestätsverbrecher gemacht, dessen Ermordung erlaubt und sogar verdienstvoll gewesen sei. In bezug auf die zuvor beschworene beständige Freundschaft hatte Jean Petit argumentiert, daß nach den natürlichen und göttlichen Gesetzen Bündnisse, Eide und Versprechen nicht gehalten werden müßten, wenn sich die andere Partei gegen den eigenen Fürsten, dessen Kinder oder das Gemeinwesen wende oder sich herausstelle, daß das gegebene Wort von Nachteil für den eigenen engsten Familienkreis sei. Der psychisch kranke Karl VI. hatte in einem klaren Augenblick seinem Vetter Johann Ohnefurcht verziehen, wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck der starken militärischen Präsenz des burgundischen Herzogs in Paris. Die Partei Ludwigs von Orle´ans hatte vergeblich königliche Gerechtigkeit und die Verurteilung der Tat in einem Gerichtsprozeß gefordert. Der geschwächte König hatte den Bürgerkrieg nicht verhindern können 37.
IV. Daß ein friedliches Zusammenleben auf dem wahrhaften und gerechten Handeln aller beruht, nur wenige aber die erforderliche Standhaftigkeit besitzen, war keine Einsicht dieser Zeit. Spätestens seit dem 13. Jahrhundert basierte die Legitimation des Königtums auf der Fiktion, in Frühzeiten von den Menschen die Aufgaben der Jurisdiktion und Legislatur freiwillig übertragen bekommen zu haben, da die Zahl der Übeltaten unter ihnen gestiegen sei 38. Der Herrscher habe Verbrechen nicht nur zu bestrafen, sondern nach Möglichkeit von vornher-
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aux nobles; mais pour ce que la division des nobles et princes ont fait diviser les gens de l’eglise et le peuple, et que par eulx le royaulme en est destruit, se je [le] metz en la matiere des nobles: car il me semble que par vostre bonne union et concorde le royaulme se pourra restaurer. Concordia enim parve res crescunt, et discordia magne (maxumae) dilabuntur: Salustius [Bellum Iugurthinum 10. 6, in: C. Sallusti Crispi Catilina, Iugurtha, Fragmenta ampliora, ed. A. Kurfess, 3. Auflage Leipzig 1957]; par union et concorde petites choses crescent, et grandes par discordes se destruisent; tout le mal que nous avons n’est que par noz divisions. Sit in vobis unum corpus, unus spiritus, una fides, una spes, vita communis, unus dominus: ad Eph. 401; soient en vous ungs corps, ung esperit, une foy, une esperance et ung roy, et pour Dieu soyez tout ung [abgewandelt: Eph 4,4-6].“ Cf. nt. 1 und nt. 7. Zur langsamen Durchsetzung der lex regia in Frankreich Barbey, La fonction royale (nt. 10), 281. Zur Legitimierung der französischen Monarchie ausführlich Schulte, Gerechtigkeit und Gehorsam (nt. 19). Cf. auch J. Miethke, Die Legitimität der politischen Ordnung im Spätmittelalter: Theorien des frühen 14. Jahrhunderts (Aegidius Romanus, Johannes Quidort, Wilhelm von Ockham), in: B. Mojsisch/O. Pluta (eds.), Historia Philosophiae Medii Aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, vol. 2, Amsterdam-Philadelphia 1991, 643-674.
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ein zu verhindern und durch sein Beispiel das Volk zur Tugend anzuleiten 39. Wieder wurde mit Blick auf die Unvergänglichkeit argumentiert: Das funktionierende Zusammenspiel von königlicher Gerechtigkeit und notwendigem, untertänigem Gehorsam sei die Grundlage dauerhafter Königreiche. „Justice de Roy et obe´dience de pueple font les royaumes durer“ schreibt etwa Pierre Salmon um 1409 in dem Traktat ,Fragen König Karls VI.‘ 40. Um die Beständigkeit des eigenen Gemeinwesens war jedoch auch in dieser Hinsicht eher zu fürchten. Um so nachdrücklicher rekurrierten die zeitgenössischen Intellektuellen auf das Ideal 41 und thematisierten vor dem Hintergrund der Gerechtigkeit des Herrschers auch dessen eigene Wahrhaftigkeit 42. Dem König werde mehr als anderen 39
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Cf. P. Schulte, „Oh roy de France! Prenez exemple a …“ Exempla der Gerechtigkeit im Frankreich Karls VI., in: J. Süßmann/S. Scholz/G. Engel (eds.), Fallstudien: Theorie - Geschichte Methode (Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge 1), Berlin 2007, 209-224. G. A. Crapelet (ed.), Les demandes faites par le roi Charles VI, touchant l’e´tat et le gouvernement de sa personne, avec les re´ponses de son Secre´taire et Familier Pierre Salmon (Collection des anciens monuments de l’histoire et de la langue francX aise 11), Paris 1833, 30. Die Grundaussage findet sich bereits im Fürstenspiegel ,De regimine principum‘ des Aegidius Romanus, den er um 1280 für den französischen König Philipp den Schönen schrieb. Egidio Colonna (Aegidius Romanus), De regimine principum libri III, ed. F. H. Samaritanius, Rom 1607 [Nachdruck Aalen 1967], II. 1. 11, 78: „Quocunque tamen modo sumatur Iustitia, sine ea civitas vel regnum durare non potest.“ Die Folgen des Gehorsams hingegen beschreibt er mit Blick auf die Gegenwart (ibid., II. 3. 34, 547): „Consequitur autem populus (quantum ad presens spectat) tria, si cum magna diligentia obediat regibus, et principibus, et observet leges regias Ex quibus, triplici via venari possumus, quantum sit utile et expediens populo obedire Regibus et Principibus, et observare leges. Primo enim ex hoc consequitur populus virtutes, et maxima bona. Secundo ex hoc consurgit salus regni et civitatis. Tertio ex hoc oritur pax et tranquillitas civium, et abundantia exteriorum rerum.“ Die Zukunft war damit jedoch vorherbestimmt. So schreibt er für den negativen Fall (ibid., II. 1. 11, 76): „Importabila igitur esset illud regnum, et durare non possit illa civitas, cuius cives integre essent mali, et in nullo vellent implere legem, nec vellent in aliquo participare legalem Iustitiam.“ Cf. J. Blanchard, L’entre´e du poe`te dans le champs politique au XVe sie`cle, in: Annales. E´conomies - Socie´te´s - Civilisations 41 (1986), 43-61; C. Gauvard, Christine de Pizan et ses contemporains: L’engagement politique des e´crivains dans le royaume de France aux XIVe et XVe sie`cles, in: L. Dulac/B. Ribe´mont (eds.), Une femme de Lettres. E´tudes autour de Christine de Pizan (Medievalia 16, ser. E´tudes christiniennes 1), Orle´ans 1995, 105-128. Ferner allgemein J. ˆ ge (1380-1440). E´tude Krynen, Ide´al du prince et pouvoir royal en France a` la fin du Moyen A de la litte´rature politique du temps, Paris 1981; id., L’empire du roi. Ide´es et croyances politiques en France XIIIe-XVe sie`cle, Paris 1993; Barbey, La fonction royale (nt. 10); B. Guene´e, Un meurtre, une socie´te´. L’assassinat du duc d’Orle´ans, 23 novembre 1407, Paris 1992. Der Zusammenhang beider Tugenden war in der Theologie/Philosophie bereits herausgearbeitet worden. Cf. hierzu u. a. H.-G. Nissing, Sprache als Akt bei Thomas von Aquin (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 87), Leiden-Boston 2006, 471-484. Mit der Betonung der Wahrhaftigkeit des Herrschers wurde in Frankreich zugleich eine Ethik der politischen Kommunikation formuliert, deren Bedeutung erst vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung des Volkes als Referenzpunkt politischen Handelns wirklich zu verstehen ist. Cf. zu letzterem Aspekt J. Krynen, Aristote´lisme et re´forme de l’E´tat, en France, au XIVe sie`cle, in: J. Miethke unter Mitarbeit von A. Bühler (ed.), Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 21), München 1992, 225-236. Grundsätzlich zum Wort des Königs J. Le Goff, Saint Louis et la parole royale, in: Le nombre du temps, en hommage a` Paul Zumthor (Nouvelle bibliothe`que du moyen aˆge 12), Paris 1988, 127-136.
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Personen geglaubt, was er nicht ausnutzen dürfe. Zeige der Herrscher in seinen Worten keine Festigkeit, werde ihm von allen Seiten das Vertrauen entzogen. Und am Ende, so betont Christine de Pizan in ihrem 1412/1413 verfassten ,Livre de la paix‘, stünde er ohne Ehre, ohne Frieden, ohne Freunde sowie ohne Untertanen und andere dar 43. Dies entsprach den von Guillaume Peyrault im Fürstenspiegel ,De eruditione principum‘ (ca. 1265) bereits skizzierten Konsequenzen. Der König sei als Vertreter Gottes auf Erden Hüter der Wahrheit. Nur auf diese Weise bewahre er seine Glaubwürdigkeit und werde er gehört, wenn er den Menschen seinen und den Willen Gottes vermittle. Er solle sich beim Schwur ebenso wie in der einfachen Rede vor der Lüge hüten. Wenn der Herrscher in seinen alltäglichen Worten nicht wahrhaftig sei, werde auch seinem Eid kein Vertrauen geschenkt. Gleiches gelte für sein Schriftstück und sein Siegel 44. 43
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C. C. Willard (ed.), The ,livre de la paix‘ of Christine de Pisan, ’S-Gravenhage 1958, III. 31, 163: „Et treuve l’en qu’enciennement pour mort ne quelconques perte, un roy ou prince jamais ne faulsast sa parolle ne feist au contraire, et a` bon droit que ainsi doye estre fait, car comme tiltre de seigneurie et prince soit le plus hault estat qui au monde puist estre, est bien raison que cellui qui tient si magnifie´ lieu soit creu devant tous autres et adjouste´ foy a` sa parolle si que il a la prerogative, mais se tel homme estoit trouve´ de commun cours non voir disant, mencX ongier, et sa parolle et promesse non estable, ne en quelconques fermete´, qui le croiroit? A nom Dieu, nul. Et a` bon droit, comme fiance on n’y eust, et que pourroit on dire de tel prince par tous pays? A nom Dieu qu’il seroit faulsaire, fallacieux, decevant et plain de cautelles par ses belles parolles plaines de mencX onges, et ainsi autres princes ne s’y fieroient en faire a` lui accors de paix, treves ou quelconques aliances par ce que foy n’avoient que il les tenist. Et par ce, en fin demouroit sans honneur, sans paix, et sans amis, subgie´z ne autres, puis que tel le saroient, car est a` presumer et communement est tel trouve´ que homme, qui qu’il soit que habonde en vice de mentir n’est pas sans les autres crimes, et de traison doit estre souspecX onne´, comme mencX onge soit sa droite couverture.“ Im älteren ,Livre de la prod’ommie de l’omme‘ hatte Christine de Pizan ferner die Bedeutung einer klaren, eindeutigen Wortwahl hervorgehoben. (Christine de Pizan, Livre de la prod’ommie de l’omme [nt. 9], fol. 32v-33r ): „Que vueult dire ne monstrer point controversie de double voix, ne mais que le prince ou justicier ne doit feindre par mille voie, par couverture de parole le contraire de verite´ et ce qu’il sceit certainement. Et pour quoy dis je le prince ou justicier plus que autre gent. Pour ce que non obstant que a tous soit mal, seant toutes vois a eulx pour ce que plus est adiouvte´e foy a ce qu’ilz dient et qu’ilz sont plus dignes en estat par quoy plus pourroient decevoir s’ilz vouloient, et moins leur en est de besoing de tant leur seroit pas seant faintise et couverture de decevance. Car qui se aide de tele couverture eulx doivent estre clers et entendibles en tous leurs faiz et diz comme ceulx qui riens ne doivent creindre, car tele feintise semble que elle vieigne de creinte et de servitute.“ In englischer Übersetzung: C. C. Willard, From the Book of Man’s Integrity ( Justice) (nt. 11), 264. Cf. nt. 17. Guillelmi Peraldi De eruditione principum, Parma 1864 (zitiert nach *www.corpusthomisticum.org/xre7.html+), I. 7: „Deus virtutis amator veritatis voluit esse tutor: unde sui nominis assumptione veritatem voluit confirmari. Vult etiam quod princeps qui ejus locum tenet, ejus sit tutor, et Scriptura sua, et sigillo suo eam confirmet; sed cum vivae voci principis mendacis non credatur, quomodo Scripturae et sigillo ejus credetur? Mendacium ex magna parte aufert validitatem sermonis, maxime tamquam est respectu proximi. Deo enim cui omne cor patet, et omnis voluntas loquitur, non est sermo tam necessarius, sed ad hoc est sermo necessarius, ut homines per eum sibi invicem suas indicent voluntates: sed si quis mendax est, et sibi non creditur, ejus sermone voluntas alteri non manifestatur. Cum autem princeps non solum suam, sed etiam divinam sermone populo habeat indicare, multum ejus mendacium obest: qui hanc utilitatem aufert, quodammodo os Dei est, ejus voluntatem indicando, quod nefarium est mendacio inquinare. Cavere debet princeps mendacium non solum in
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Die grundsätzliche Forderung der Wahrung des eigenen Wortes war in bezug auf den Herrscher umfassend und beinhaltete neben den Zusagen einzelner politische Maßnahmen auch Urteilssprüche, Anordnungen und Gesetze sowie Freundschafts- und Friedensversprechen. Die Gratwanderung des standhaften Herrschers zwischen Wankelmut und Starrsinn wird in dem Werk ,De informacione principum‘ beschrieben. Dieses wurde um 1300 von einem unbekannten Dominikaner verfaßt, im Jahr 1379 im Auftrag Karls V. unter dem Titel ,Livre de l’informacion des roys et des princes‘ von dem Theologen Jean Golein in die französische Sprache übertragen und so oft kopiert, daß von einer großen Beliebtheit der bislang ebenfalls unedierten Abhandlung ausgegangen werden muß 45. Der Herrscher dürfe sich nicht wie ein Schilfrohr im Wasser oder wie ein Blatt am Baum im Wind hin und her bewegen. Eine Reaktion auf veränderte Umstände erscheint jedoch nicht ausgeschlossen. So wie eine geöffnete und eine zur Faust geballte Hand immer dieselbe Hand sei, habe auch der Mensch in seinen Taten immer derselbe zu bleiben. Das bedeute, daß man sich dem Wandel zwar widersetzen solle, aus Gründen der Evidenz oder der Barmherzigkeit und nach ausführlicher Beratung einen früheren Standpunkt jedoch revidieren könne. Die entsprechenden Beispiele entnimmt der unbekannte Autor des ,Livre de l’informacion des roys et princes‘ der Bibel. Verwiesen wird zum einen auf den persischen König Ahasveros, der auf Bitten seiner Frau Esther das Gesetz zur Vernichtung der Juden änderte, das er erlassen hatte, ohne die persönlichen Rachemotive seines engsten Vertrauten zu kennen. Seine Entscheidung habe er nicht leichtfertig, sondern in Anbetracht der Umstände, der Notwendigkeit und des Nutzens für das Gemeinwesen getroffen 46. Und ferner wurde Gott selbst
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his quae asserit cum juramento, sed etiam verbo simplici. Sapiens: cujus dictum non habet pondus jusjurandi, ejus jusjurandum quodlibet vile est. Multi vero principes adeo facti sunt mendaces, ut etiam juramentis eorum non credatur. Mendacitas infidelitas est, ut ostendit Augustinus in Lib. de Doct. Christi [cf. nt. 22].“ Zur Überlieferung des ,Livre de l’informacion des roys et des princes‘ cf. E´quipe Golein [S. Hakulinen e. a.], Remarques sur la traduction de Jean Golein du ,De informacione principum‘, in: Neuphilologische Mitteilungen 95 (1994), 19-30 (= *http://www.cc.jyu.fi/~merisalo/artikkeli. html+). Ferner S. Slanicˇka, Krieg der Zeichen. Die visuelle Politik Johanns ohne Furcht und der armagnakisch-burgundische Bürgerkrieg (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 182), Göttingen 2002, 184-189. Die Geringschätzung des bislang unedierten Textes durch W. Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters (Schriften des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde [Monumenta Germaniae Historica] 2), Leipzig 1938, 336-340, ist zu revidieren. Ich habe das Manuskript eingesehen, das Johann Ohnefurcht für Karl VI. anfertigen ließ und das sich heute in der Bibliothe`que royale de Belgique in Brüssel befindet. Zur Datierung cf. Slanicˇka, Krieg der Zeichen, 208 sq. Brüssel, Bibliothe`que royale de Belgique, Ms. 9475: Le livre de l’informacion des roys et des princes, I. 19 (Que le Roy doit estre constant en son operacion), fol. 22vb-23ra: „Et ne doit mye estre comme le rosel en l’eaue ne comme la fueille en l’arbre et sic de aliis. […] Aussi comme s’il voulsist dire se tu es embracie´ de prudecence tu seras tousiours un meismes en constance et selon que la variacion du temps le requiert, tu te doies aussi offrir au temps et item te dois en riens muer avis te doie ordonner ainsi comme la main laquelle est une meisme en la main estandue et estrainte ou poing clos. Dont appert il que homme ne se doit mye muer en la mutacion des temps ne pour les causes et circonstance dicellui ne sans raison bien conseillie´e il ne se doit mye muer ne estre variable en sentence ne estre dit inconstant et homme muable, se non
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genannt, der der Stadt Ninive durch den Propheten Jona zunächst die Strafe ihrer Zerstörung mitteilen ließ, seine Drohung aber angesichts der Buße der Menschen nicht ausführte. Auch König Hiskia, der durch den Propheten Jesaja von seinem Tod erfuhr, wurde aufgrund seines Gebets und seiner Tränen eine Verlängerung der Lebenszeit um 15 Jahre gewährt 47. Die nachträgliche Abänderung von Urteilen, Bestätigungen und Anordnungen bezeichnet der ,Livre de l’informacion des roys et des princes‘ als ein lasterhaftes Verhalten. Der König oder der Fürst gelte dann - einem Kind oder einer Frau gleich - als wankelmütig und instabil. Als ein Akt der Gnade konnte 48, im Falle der Unwahrheit oder Ungerechtigkeit mußte das Ausgesprochene jedoch widerrufen werden. Ein Verharren im erkannten Übel sei keine Standhaftigkeit, sondern eine hochmütige Hartnäckigkeit 49. Vorgaben wie diese zielten im Kern auf die Verhinderung der
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par raison evidente pitable qui ad ce l’encline, ainsi comme disoit le roy Assuerus qui disoit non debetis putare [Est 16,9: „nec putare debetis si diversa iubeamus ex animi nostri venire levitate sed pro qualitate et necessitate temporum ut reipublicae poscit utilitas ferre sententiam“]. Vous ne deves mye audier que ce nous commandons diverses choses que se viengne de la legierete´ de notre couraige avis, selon la qualite´ du temps et la necessite´ le requiert et l’utilite´ de la chose publique nous ferons la sentence et ordonnerons vrais jugemens.“ Dies wird unter anderem auch in dem - Ende der 1370er Jahre von E´vrart de Tre´maugon zunächst in einer lateinischen, dann in einer französischen Version verfaßten ,Somnium viridarii‘ deutlich. Da der König sein Denken und Handeln auf das Gemeinwesen zu richten habe, müsse er nach dem kanonischen Recht Privilegien, die sich als schädlich für dieses erwiesen, widerrufen. M. Schnerb-Lie`vre (ed.), Somnium viridarii, vol. 1 (Sources d’histoire me´die´vale 26), Paris 1993, I. 34. 2-4, 33 sq.: „2. Scire debetis quod quicquid rectores rei publice faciunt ad utilitatem rei publice, animum debent habere intentum quod salutem rei publice saluti proprie, quod est in principe gloriosissimum, anteponunt? unde constat eos nihil posse in posterum concedere quod rei publice valeat derogare. 3. Plane colligitur in omnibus privilegiis hoc exemplum, scilicet quod videtur indultum privilegium, quod in posterum rei publice sit nociturum, non valet. 4. Et privilegium quod incipit tendere in noxam est revocandum, c. Suggestum, extra. De decimis [X 3.30.9]; LXIII di., § Verum [D.63 c. 28 IV. Pars. Gratian.]“; ead. (ed.), Le Songe du Vergier e´dite´ d’apre`s le manuscrit royal 19 C IV de la British Library, vol. 1 (Sources d’histoire me´die´vale 20), Paris 1982, I. 34, 46. Le livre de l’informacion des roys et des princes (nt. 46), I. 19, fol. 23ra: „Car comment que dieu soit immuable essencialement si prefere il souvent sa sentence diversement et la mue piteusement. Si comme il appert de la destruction de Ninive laquelle il fist proclamer par le prophete Jonas. Mais quant les Ninivieus se mistrent en penitence, il renonca sa sentence [ Jona 3]. Ainsi fist il du Roy Ezechias que comme le prophete Ysaie lui eust devant sa mort anonce´e toute fois lui dit il apres et ordonna saute´ [ Jes. 38] de ce dit Ysodore Novit deus mutare sentenciam. Dieu sceut muer sa sentence se tu sceusses amender ton delit. [evt. Ambrosii Mediolanensis Opera, p. 4: Expositio evangelii secundum Lucam, ed. M. Adriaen (Corpus Christianorum. Series Latina 14), Turnhout 1957, II. 33: „Novit deus mutare sententiam, si tu noveris emendare delictum“].“ Zur Gnade vgl. C. Gauvard, De la the´orie a` la pratique: Justice et mise´ricorde en France pendant le re`gne de Charles VI, in: L. Dulac/J. Dufournet (eds.), Christine de Pizan (Revue des langues romanes 92, 1988, 2), Montpellier 1988, 317-325; allgemein K. Schreiner, ,strengkeit des gerichts mit sunderlichen gnaden gemildert.‘ Zur Dialektik von Recht und Gnade in der Rechtstheorie und Rechtspraxis des hohen und späten Mittelalters, in: G. Annas/M. Rothmann P. Schulte (eds.), Gerechtigkeit im politischen Diskurs des späteren Mittelalters (im Druck). Le livre de l’informacion des roys et des princes (nt. 46), fol. 23rab: „Et ainsi que pour causes raisonnables l’en peut muer son propos aucune fois et rappeler sa sentence. Mais ainsi comme se seroit chose vicieuse que s’aucuni qui voulsist perseverer en mal depuis que il se avertiroit estre decheu et congnoistroit ce estre mal. Car se ne seroit mye constance mais partinance
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Willkür des Herrschers, der sich als legibus solutus, als über den menschlichen Gesetzen stehend, verstand. „Ich bin König und darf tun und lassen, was ich will“, soll Ludwig XI. seinem Gegner Thomas Basin zufolge verkündet haben 50. Doch genau das war einzuschränken. Der König hatte der Gerechtigkeit zu dienen und dazu gehörte, daß er sich an sein Wort hielt. Denn nur dann würden sich auch die Untertanen an das seinige und das ihrige gebunden fühlen 51. Gleichzeitig erforderte die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit eine Korrektur des Gesagten und gab der Blick auf die Notwendigkeit beziehungsweise den gemeinen Nutzen dem Herrscher eine gewisse Flexibilität, ohne daß seine Standhaftigkeit angezweifelt wurde 52. Da die Menschen den Augenblick lebten, war dieses auf dem Fundament des Vertrauens errichtete Gebilde jedoch fragil. Was als Untreue und was als gerecht beziehungsweise für das Gemeinwohl erforderlich empfunden wurde, erwies sich oft als eine Frage der Sichtweise beziehungsweise der mehr oder weniger erfolgreichen Kommunikation des Königs 53. Während beispielsweise Thomas Basin die Steuerpolitik Ludwigs XI. als eine Folge von Wortbrüchen mit verheerenden Folgen für das Volk geißelt, hebt Philippe de Commynes in seinen Memoiren hervor, der König habe das Geld für das Wohl und den Schutz der Untertanen, unter anderem für die Befestigung der Städte, benötigt 54. An ande-
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obstine´e. Ainsi est ce vicieuse chose en tout homme d’estre inconstant en punicion ou faire et plus en roy ou en prince que en autre et sans cause il mue son propos ou sa sentence se elle est iuste et qu’il deffende ce qu’il commande et nye ce que il a certifie´ et qu’il nye et tolle ce qu’il a ottroie´. Car ainsi ne seroit il riens tenu ferme que il fist avis seroit tenu pour inconstant et non estable et enfance puerille et muablete´ feminine. Et pource nous enorte l’apostre disant: Fratres stabiles estote [1 Kor 15,58].“ Thomas Basin, Histoire de Louis XI (nt. 4), I. 7, 42: „Cumque, sibi suadendo, interdum a nonnullis in memoriam revocaretur qualiter pater suus sic vel sic, in variis negociis et causis, consulto et utiliter se gessisset, regnique gubernacula moderatus fuisset, illico suasorem refellebat, dicens se et regem esse, et, que liberet, efficere posse: non multum ab illa Tragici abhorrens sentencia: ,quod Jovi hoc regi [licet]‘ [Seneca’s Hercules Furens, ed. J. G. Fitch (Cornell Studies in Classical Philology 45), Ithaka-London 1987, v. 489], et item ,Quo juvat reges eant.‘ [Seneca’s Thyestes, ed. R. J. Tarrant (American Philological Association. Textbook Series 11), Atlanta (Ga.) 1985, v. 217 sq.: „Sanctitas pietas fides privata bona sunt; qua iuvat reges eant “].“ Zur Gesetzgebung des französischen Königs C. Gauvard, Ordonnance de re´forme et pouvoir le´gislatif en France au XIV sie`cle (1303-1413), in: A. Gouron/A. Rigaudie`re (eds.), Renaissance du pouvoir le´gislatif et gene`se de l’e´tat (Publications de la socie´te´ d’histoire du droit et des institutions des anciens pays de droit e´crit 3) Montpellier 1988, 89-98; A. Gouron, „De nostre certaine science …“. Remarques sur l’absolutisme le´gislatif de la monarchie me´die´vale francX aise, in: ibid., 131-144; G. Giordanengo, Le pouvoir le´gislatif du roi de France (XIe-XIIIe sie`cles): travaux re´cents et hypothe`ses de recherche, in: Bibliothe`que de l’E´cole des Chartes 147 (1989), 283-310. Zum Verhältnis von Recht und Dauer H. G. Walther, Mundus non generabitur et corrumpetur, sed dispositiones ipsius. Zum Umgang der gelehrten Juristen mit dem Problem von Vergänglichkeit und Dauer (in diesem Band). Cf. auch G. Naegle, Französische Gemeinwohldebatten im 15. Jahrhundert, in: H. Münkler/ H. Bluhm (eds.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, vol. 1, Berlin 2001, 109-127. Cf. unter anderem Thomas Basin, Histoire de Louis XI (nt. 4), I. 11, 62-71; Philippe de Commynes, Me´moires, ed. J. Calmette, vol. 2: 1474-1483 (Les classiques de l’histoire de France au
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ren Stellen wird der Drahtseilakt zwischen Moral und Staatsräson faßbar, der im 16. Jahrhundert von Nicolo` Macchiavelli reflektiert wurde 55. Obwohl er die Bedeutung der Aufrichtigkeit nicht grundsätzlich anzweifelt, erscheint ihm das Ideal von der Lebenswirklichkeit zu weit entfernt. Die Praxis lehre, daß die Stabilität der Herrschaft nicht zwangsläufig durch die Unerschütterlichkeit und Unveränderlichkeit des Fürsten gewährleistet werde. Wenn notwendig, sei eine pragmatische, rhetorisch kaschierte Untreue sinnvoller: „Ein kluger Herrscher kann und darf daher sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Nachteil gereicht und wenn die Gründe fortgefallen sind, die ihn veranlaßt hatten, sein Versprechen zu geben. Wären alle Menschen gut, wäre diese Regel schlecht; da sie aber schlecht sind und ihr Wort dir gegenüber nicht halten, brauchst auch du dein Wort ihnen gegenüber nicht zu halten.“ Und ferner: Der Fürst muß „eine Gesinnung haben, aufgrund deren er bereit ist, sich nach dem Wind des Glücks und dem Wechsel der Umstände zu drehen“ und „vom Guten so lange nicht abzulassen, wie es möglich ist, aber sich zum Bösen zu wenden, sobald es nötig ist“ 56. Jean Bodin, um den Blick wieder nach Frankreich zu wenden, teilt diese Auffassung nicht. Ein Abweichen von Freundschafts- und Friedensabkommen, anhand deren er die Thematik erörtert, sieht er nur dann als legitim an, wenn ein Unrecht beeidet worden ist. Den Schaden, den die Fürsten durch einen Wortbruch verursachen, erachtet er als größer als den, den das Gemeinwesen durch einen mißliebigen Vertrag erleidet: „Das heißt aber nicht, daß die Fürsten, die ihr Wort brechen, das sie unter dem Druck der Sieger gegeben haben, obwohl es ihnen zum Schaden gereicht, nicht eidesbrüchig wären! Manche Gelehrte, die über die Regierung eines Staates ebenso wenig Bescheid wissen wie über die antike Geschichte und die Grundlage wahrer Gerechtigkeit und die Verträge unter Fürsten genauso behandeln wie Abmachungen und Verträge unter Privatleuten, haben zwar das Gegenteil behauptet. Diese Ansicht ist jedoch von höchst gefährlicher Tragweite. Denn wie man sieht, hat diese Auffassung
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moyen aˆge 5), Paris 1925, V. 19, 220 (dt.: Philippe de Commynes, Memoiren. Europa in der Krise zwischen Mittelalter und Neuzeit, ed. F. Ernst, Stuttgart 1972, 228). Zu Philippe de Commynes mit weiteren Literaturhinweisen cf. J. Blanchard, Commynes l’Europe´en. L’invention du politique (Publications romanes et francX aises 216), Gene`ve 1996; id., Philippe de Commynes, Paris 2006. Zur Finanzpolitik in dieser Zeit H.-J. Schmidt, „Bien public“ und „raison d’E´tat“. Wirtschaftslenkung und Staatsinterventionismus bei Ludwig XI. von Frankreich?, in: J. A. Aertsen/M. Pickave´ (eds.), „Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts (Miscellanea Mediaevalia 31), Berlin-New York 2004, 187-205. Thomas Basin etwa beschreibt den Rat des Mailänder Herzogs Francesco Sforza an Ludwig XI., die Fürsten im Krieg der ,Ligue du Bien public‘ (1466) mit Versprechen zu entzweien, die er später nicht halten solle. Dieser sei vom französischen König befolgt worden (Thomas Basin, Histoire de Louis XI (nt. 4), II. 6, 204): „Hec feruntur illius ducis Mediolanensis vaffra et calida concilia, que fidem quidem dari et multa cum sacramenti religione audacter polliceri, sed minime observari, et, neglecta jurisjurandi religione, dejerare suadebant.“ Zu Niccolo` Machiavelli einführend mit weiteren Literaturhinweisen H. Münkler, Niccolo` Machiavelli (1469-1527), in: H. Maier/H. Denzer (eds.), Klassiker des politischen Denkens, vol. 1: Von Plato bis Hobbes, München 2001, 119-134 und 238-240.
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in den vergangenen 200 oder 300 Jahren so sehr Fuß gefaßt, daß kein noch so fester Pakt davor gefeit ist, gebrochen zu werden. Infolgedessen hat die Auffassung, daß ein Fürst, der unter Zwang einen ihm nachteiligen Frieden oder Vertrag schließt, sich bei gegebener Gelegenheit davon lossagen könne, fast die Kraft einer Maxime erlangt.“ Er plädiert für die Tugend - und für die Befristung von Verträgen. Die Ewigkeit sei letztlich zum Scheitern verdammt 57.
V. In diesem Beitrag wurden zwei Ebenen behandelt: die Wahrhaftigkeit beziehungsweise die Aufrichtigkeit des Menschen und die Stabilität des Gemeinwesens. Letztere beruht in der Vorstellung des späten Mittelalters auf der ersten. Die Wahrung eines gegebenen Wortes garantierte die Beständigkeit des gesellschaftlichen Miteinanders in Eintracht, Frieden und Wohlstand. Die Treue, die für den Einzelnen mit dem Tod endete, besaß eine Wirkung über diesen hinaus: Sie sicherte den Erhalt des Gemeinwesens für die Nachkommen. Dem Wandel der Zeiten sollte mit Festigkeit begegnet, Unsicherheit und die Bedrohung der Existenz auf diese Weise vermieden werden. Illoyalität führte zu Zwietracht und Instabilität. Es bedurfte aus der Sicht der Zeitgenossen eines Königs mit starker Autorität, um derartige Konfliktsituationen im besten Fall von vornherein zu verhindern, zumindest aber beizulegen. Das Ideal sah einen gerechten Herrscher vor, der selbst fest zu seinem Wort stand. Im frühmittelalterlichen Irland existierte die Vorstellung, daß ein König, der gegen die Treue und die Wahrheit verstoße, die Unfruchtbarkeit seines Volkes bewirke 58. Derart metaphysische Kausalitäten kennt das Spätmittelalter nicht mehr. Den Untergang prognostizierte es jedoch auch: Der Wankelmut des Herrschers führe zum allgemeinen Niedergang der Treue und damit zum Auseinanderbrechen des Königreiches. In den politischen Traktaten und den Fürstenspiegeln steht die Dauerhaftigkeit des Gemeinwesens durch den Anspruch, daß das Versprechen des Vaters auch vom Sohn umzusetzen sei, nicht im Vordergrund. Es bleibt zu überprüfen, welche Worte des Herrschers tatsächlich überzeitlichen Charakter hatten und welche 57
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Jean Bodin, Les six livres de la Re´publique, Aalen 1977 [Nachdruck der deuxie`me re´impression de l’e´dition Paris 1583], V. 6, 803, 828. Die Übersetzung folgt Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, vol. 2: Buch IV-VI, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von B. Wimmer, ed. P. C. Mayer-Tasch, München 1986, V. 6, 277 sq. und 300. Die Argumente, man sei bei Abschluß des Vertrags hintergangen worden, die Umstände hätten sich geändert oder das Gemeinwesen (la Re´publique) würde Schaden nehmen, entschuldigen nach Jean Bodin den Wortbruch nicht; cf. ibid., V. 6, 806 (dt. V. 6, 280). Zu Jean Bodin einführend mit weiteren Literaturhinweisen H. Denzer, Jean Bodin (1529/30-1596), in: H. Maier/H. Denzer (eds.), Klassiker des politischen Denkens, vol. 1 (nt. 56), 179-191 und 247-249. Cf. M. Blattmann, ,Ein Unglück für sein Volk‘. Der Zusammenhang zwischen Fehlverhalten des Königs und Volkswohl in Quellen des 7.-12. Jahrhunderts, in: Frühmittelalterliche Studien 30 (1996), 80-102, hier 81 mit nt. 8.
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von seinem Nachfolger zumindest zu bestätigen waren 59. Wichtiger erschien zunächst, daß zu Lebzeiten das einmal Ausgesprochene verläßliche Geltung besaß. Hier gibt es Unterschiede in der vertikalen und der horizontalen Kommunikation. Während Anordnungen, Gesetze und Zusagen, die dem Volk gegenüber gemacht wurden - im ,Livre de l’informacion des roys et princes‘ tritt dies klar hervor - vor dem Hintergrund des Unwissens des Herrschers oder mit dem Verweis auf das Gemeinwohl ohne einen Verlust an Glaubwürdigkeit zurückgenommen oder geändert werden konnten, war die Flexibilität bei Freundschaftsund Friedensversprechen bereits in der Theorie deutlich eingeschränkt. Die Zeitgenossen sahen die Umsetzung des Ideals in beiden Bereichen kritisch. Dies konnte zu einem Pragmatismus führen, letztlich aufgegeben wurde es aber nicht. Das Ringen um Stabilität und Dauer durch Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Loyalität hat zu neuen politischen Systemen, zu neuen Formen der Sicherung dieser Werte geführt 60. Aber als erfüllt betrachten wir sie heute immer noch nicht 61. Zumindest das hat überdauert.
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Ludwig XI. etwa wurde vorgeworfen, die Ämter neuzubesetzen und sich nicht an die Anordnungen seines Vaters zu halten. Thomas Basin, Histoire de Louis XI (nt. 4), I. 7, 44: „Et propterea gesta decretaque patris abolere in irritumque deducere pro viribus satagebat, cupiens, paternis officiariis atque milicie ducibus amotis aliisque suffectis, regnum novum cudere et formare.“ Zum Bemühen der Herrscher, in ihren letztwilligen Verfügungen die Nachfolger an ein bestimmtes Handeln zu binden und so eine Dauerhaftigkeit der Politik zu erreichen, cf. H.-J. Schmidt, Die Illusion der Dauer Konzepte der Herrscher für ihre Nachfolger (in diesem Band). Ihre moderne Bedeutung diskutiert C. Offe, Wie können wir unseren Mitbürgern vertrauen?, in: M. Hartmann/C. Offe (eds.), Vertrauen. Die Grundlagen des sozialen Zusammenlebens (Theorie und Gesellschaft 50), Frankfurt-New York 2001, 241-294. So kritisierte Benjamin Korn etwa in „Die Zeit“: „Auch daß Chirac in einer landesweit berühmten Fernsehsatire den Spitznamen ,Superlügner‘ trug, daß ihn der namhafte Journalist Alain Duhamel den ,gnadenlosesten Vernichter der französischen Politik‘ nannte, daß sein infamstes Bonmot lautet: ,Ein Versprechen verpflichtet nur den, der daran glaubt!‘ - all das hat Chirac nicht erledigt, sondern nur die öffentliche Empörung verbraucht. Das ist der wahre Skandal, daß die Bevölkerung gegen alle Schurkereien, Intrigen, Wortbrüche ihrer Führer apathisch geworden ist. Im Gegenteil, eine gewisse Schlitzohrigkeit gehört für einen Präsidenten offenbar dazu, um als glaubwürdig zu gelten.“ B. Korn, Bürger, schafft dieses Amt ab! Alleinherrscher im demokratischen Staat: Der französische Präsident ist unantastbar. Das Ausmaß seiner Macht ist ein Skandal, in: Die Zeit, n. 15 vom 4. April 2007, 51 sq., hier 52.
Wie lange dauert die Hölle? Ewigkeit und aevum bei Alexander von Hales Sebastian Lalla (Berlin) Im Zweifelsfalle dauert die Hölle immer zu lange. Diese Antwort wäre vermutlich die kürzest mögliche, aber sie verdeckt mehr die Problematik als daß sie eine Lösung wäre, mit der es sich anschließend leichter auskommen ließe. Das Feld, auf dem die Fragen und Antworten zu dieser Thematik angesiedelt sind, wird gleichermaßen von der Dogmatik beansprucht wie von der Exegese bestritten - und die Tatsache, hier eine eschatologische Perspektive zu gewärtigen, bei der per definitionem immer nur induktive Postulate, niemals aber deduktiv empirische Erkenntnis möglich sein soll, macht es methodologisch nicht einfacher. Zunächst erhält die Frage nach der Dauer der Hölle ihre Berechtigung daher, daß in der Entwicklung des Christentums - und die Konzeption der Hölle wird hier allein für die christliche Vorstellungswelt untersucht - mindestens zwei mögliche Antworten zur Verfügung standen: Der approbierten Auffassung, die Hölle sei ewig, stand die origenistische Position gegenüber, daß in letzter Hinsicht auch die Hölle aufgelöst werde, nämlich dann, wenn die in ihr Verbannten der letzten und endgültigen Erlösung teilhaftig geworden seien. Daß Origenes mit dieser Ansicht kirchengeschichtlichen Schiffbruch erlitten hat, hebt zwar die theologische Brisanz jenes dogmatischen Zweifels auf, nicht aber die philosophische Schattierung, die dieser Wahlmöglichkeit zwischen zwei Optionen eignet. Denn mit der Endgültigkeit, die der Hölle qua Unaufhebbarkeit attestiert wird, muß ihr kontrastiv auch die Endlosigkeit zugesprochen werden, welche dem Ewigen ansonsten gemeinhin unterstellt wird. Die solchermaßen durale Entgrenzung mit der jurisdiktionalen Verabsolutierung des letzten Urteils kombinieren zu wollen, ist allerdings nicht unproblematisch. Einige der Schwierigkeiten seien hier genannt, bevor die Untersuchung sich den Thesen Alexanders von Hales zuwendet, anhand derer die einzelnen Punkte genauer beleuchtet werden sollen. Wenn die Hölle ,ewig‘ ist, ist sie dann dennoch von Gott geschaffen? Oder existiert sie mit Gott gleichewig? Was ist möglicherweise die spezielle Existenzweise dieser ,Ewigkeit‘, wenn es denn eine eigens für die Hölle gültige gibt? Und gesetzt den Fall, man akzeptierte die Unabänderlichkeit einer so dann auch unveränderlichen Strafe - wie sollte diese exekutiert werden, wenn im Ewigen keine Veränderung statthaben soll. Wie schließlich ist die Dauer der Hölle samt ihrer Strafen in einem Erfüllungsraum ohne temporale Sukzession zu denken; wie garantieren körperliche Züchtigungen ihren beabsichtigten Schmerz, ohne angesichts der ewigen Dauer irgendwie
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zu einem in seiner Intensität akzidentellen, ohnehin immer gegenwärtigen Phänomen zu verkommen? Denn was immer da ist, kann nicht mit permanent gleicher Aufmerksamkeit als dieses und speziell dieses wahrgenommen werden. Alle diese Fragen setzen natürlich ein Bild der Hölle voraus, das sich nicht modern interpretiert verstanden möchte, sondern in den drastischen Strukturen einer Gerichtsbarkeit, wie sie später den Schilderungen Dantes oder den Gemälden Boschs entnommen werden können. Es dürfte aber zu zeigen sein, daß auch abstraktere Höllenkonzeptionen ähnlichen Schwierigkeiten unterliegen ohne gleich deshalb schon legitimiert zu sein, weil sie auf die körperlichen Torturen verzichten. Daß gerade die Überlegungen bei Alexander von Hales interessante Einsichten in die Komplexität der verschiedenen, miteinander nur schwer zu verbindenden Faktoren gewähren können, hat zwei Gründe. Zum einen stammt die philosophische Darstellung Alexanders aus einer Zeit, in der die Rezeption aristotelischer Schriften im lateinischen Westen noch nicht weit vorangeschritten war: die Auseinandersetzung gerade um die Möglichkeiten des hermeneutisch weiten Begriffes einer ,Ewigkeit‘, der dann auch für die Existenz des Geschaffenen gelten kann, ist hier gewissermaßen in einer sehr unmittelbaren und dogmatisch noch nicht festgeschriebenen Weise ausgeführt. Zum anderen, das hängt mit dem ersten zusammen, ist Alexanders Position vergleichsweise früh: die späteren, etwa von Albertus Magnus und Thomas von Aquin vertretenen Ansichten, mit denen sich die Distinktion von aeternitas und aevum in der terminologischen wie instrumentellen Argumentationsstruktur des hochscholastischen Denkens etablieren konnten, hängen an der bereits in den dreißiger Jahren des dreizehnten Jahrhunderts formulierten Erörterungen Alexanders 1. Die Diskussion über die Bedingungen der Hölle erfolgt in den Ausführungen Alexanders scheinbar en passant. Während einige der Positionen im Zusammenhang mit der Frage nach der göttlichen Allmacht dargestellt werden, finden sich die hauptsächlichen Aussagen im Kontext der Erörterung des Unterschiedes zwischen Ewigkeit, Immerheit und Zeit. Entsprechend ist die Untersuchung, die hier einer Frage nachgeht, die Alexander nur implizit aufgeworfen hat, auf 1
Für den vorliegenden Zusammenhang wird die ,Summa theologica‘ als ein Werk angesehen, das Alexander von Hales insoweit zuzurechnen ist, als es - unbeschadet der tatsächlichen Autorschaft, bei der partiell auch die ihm nahestehende Schule beteiligt war - die Gedanken Alexanders selbst wiedergibt, wie sie etwa auch in der ,Glossa in quattuor libros sententiarum‘ zu finden sind. Diese Untersuchung strebt also nicht nach einer quellengeschichtlichen Differenzierung einzelner Abschnitte der ,Summa‘, sondern nimmt das gesamte Werk Alexanders und seines Umfelds als Positionen, die retrospektiv als philosophische Ansichten des Alexander von Hales gesehen worden sind. Daß Alexander in der bisherigen Forschung weitgehend übersehen worden ist, mag auch mit der Bedeutung der dominikanischen Schule zusammenhängen, deren traditionsbildende Kraft hier die Rezeption stärker zu gewinnen vermochte. Cf. dazu W. Wieland, Art. ,Aevum‘, in: J. Ritter (ed.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 1, Basel 1971, 88 sq., in dem die philosophische Diskussion um das aevum explizit mit der dominikanischen Tradition verbunden wird: „Eine terminologische Fixierung in der philosophischen und theologischen Fachsprache findet sich jedoch erst im 13. Jh. (Albertus Magnus, Thomas von Aquino).“
Wie lange dauert die Hölle? Ewigkeit und aevum bei Alexander von Hales
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die Rekonstruktion zumindest dieser beiden Themenkomplexe angewiesen; dabei konzentriert sich die Untersuchung vor allem auf die Frage, wie ein aevum gedacht werden muß, um es distinkt und zugleich kompatibel mit der grundlegenderen Bestimmung der Ewigkeit halten zu können. I. Gibt es eine Zeit vor der Zeit? Die Hauptschwierigkeit einer Philosophie der Ewigkeit liegt darin, daß sie keine immanenten Veränderungen in der Sphäre der durch das Ewige bestimmten Wirklichkeit zulassen kann. Exemplarisch gilt das für das göttliche Sein, problematisch wird es dann, wenn die Dauer des Geschaffenen mit der Unveränderlichkeit ihrer qua Ewigkeit eigentlich nichtdauernden Existenz zusammenstößt. Alexander von Hales diskutiert diese Thematik anhand eines Einwandes, der angesichts der Veränderlichkeit der Höllenstrafen auch eine Messung der Dauer dieser Strafen durch eine eigene Maßeinheit fordert: „Item, poena inferni habet variabilitatem, quia sicut dicitur Iob 24, 19: ,Transibunt ab aquis nivium ad calorem nimium‘; ex quo relinquitur quod mensura ipsius non erit aevum. Habet etiam perpetuitatem et etiam esse, cessante motu caeli, quem non excedit tempus duratione. Mensura igitur durationis poenarum non erit tempus nec aevum; erit igitur aliqua mensura media.“ 2
Die Möglichkeit, die Höllenstrafen so zu messen, wie sie analog benannt werden, nämlich mit dem Maß der Ewigkeit, hatte Alexander eingangs der Untersuchung angedeutet, es aber in der Lösung dort bei der analogen und damit unterbestimmten Beschreibung einer semantisch variablen Interpretation des Ewigen belassen 3. Eine solche Zuschreibung ist dann, wenn man nach der Maßeinheit fragt, natürlich nicht mehr ausreichend, denn die Indifferenz des Analogen, je nach Verwendungsweise anders fokussieren zu können, trägt für die Definition einer ontischen Bezugsgröße nichts ein. Genau als diese, als eine verläßliche Meßlatte des Seienden, ist aber die analog verstandene Ewigkeit in der mensura-Problematik nicht einsetzbar. Denn hier bräuchte man eine Messung, bei der etwa die Intensität oder die Abwechslung in der Strafe auch real darstellbar sind; was bei einem vollendeten Sichgleichblei2
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Alexander de Hales, Summa theologica, Quaracchi 1924, p. I, inq. I, tr. II, q. IV, a. 2, 107. Die eschatologische Dimension der Erörterungen zur Ewigkeit - vor allem in Hinblick auf die Wesensbestimmung Gottes - macht Elisabeth Gössmann deutlich, ohne allerdings auf die problematische Struktur der Distinktion einer in sich zeitlich konzipierten Ewigkeit (aevum) einzugehen. Cf. E. Gössmann, Metaphysik und Heilsgeschichte - eine theologische Untersuchung der Summa Halensis, München 1964. Cf. dazu op. cit., p. I, inq. I, tr. II, q. IV, 56 (im folgenden nur mit Nennung der Seitenzahl): „Dicendum ergo quod aeternitas, dicta de Deo, de angelo, de poena aeterna et de tempore, dicitur analogice, scilicet secundum prius et posterius. Et in hac ratione, secundum quod aeternitas dicitur diuturnitas non habens finem, per prius ergo dicitur de diuturnitate divina […] per posterius vero dicitur de diuturnitate poenae reproborum, quae est diuturnitas non habens finem nec ex se nec ex alio, tamen habens mutabilitatem et principium.“
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ben des Ewigen schlechterdings nicht funktioniert. Allerdings steht und fällt nicht nur die Tortur der Verworfenen mit der Zuschreibung des Ewigen als Einheit der Dauer der Hölle, sondern auch die Möglichkeit der Seligen, sich an der Schau Gottes zu erfreuen. Unter anderen Vorzeichen entsteht nämlich genau das gleiche Dilemma, wenn man die Ewigkeit nicht ausschließlich als in sich unaussprechliches nunc begreifen will, sondern in ihm auch die Unabänderlichkeit als Modus seiner Perfektion ausweisen, sprich, die Dauer als Moment seiner wesentlichen Vollkommenheit betonen möchte. Dann wird entweder eine Handlung andauern oder ein Zustand, der in sich als komplex, also als miteinander agierend beschrieben werden kann - in jedem Fall aber treten Faktoren auf, die das ontologische Modell einer invariablen Permanenz prozessual aufbrechen. Konkret für den Fall der Hölle bedeutet dies: wenn die körperlichen Strafen nicht als solche zu spüren sind, sind sie keine. Um sie aber erfahren zu können, muß es einen Zustand geben, in dem sie als Strafen wirken, das heißt, aus einem weniger unangenehmen in ein unangenehmeres Stadium übergehen. Anderenfalls müßte man eine dogmatisch nicht gewünschte Gewöhnung an die Strafe annehmen 4. Nimmt man daher die Hölle als ewigen Ort ewiger Strafen, wird die faktische Ausführbarkeit dieser Strafen aporetisch - ändert man hingegen die formale Bestimmung der Dauer dieser Strafen, bricht man mit der Grundannahme, es handele sich um unveränderliche Zustände nach dem Ende der Zeit. Deshalb ist die Alternative, mit der Alexander aufwartet, naheliegend: so, wie die aeternitas sich differenzieren läßt in eine aeternitas increata und eine aeternitas creata, so kann für diejenigen Fälle, in denen Eigenschaften unterhalb der Rigidität des Ewigen ausreichend sind, die aeternitas creata, sprich: das aevum, eingebracht werden. Alexanders Strategie ist demnach zunächst transparent: die Ewigkeit ist stricte gesprochen Gott zueigen, large genommen als aevum auch auf die geschaffene Wirklichkeit anwendbar. Für dieses aevum gelten dann aber offensichtlich andere Eigenschaften als für die ihm übergeordnete Ewigkeit, obwohl es in vielerlei Hinsicht ähnliche Bestimmungen trägt und in dem entscheidenden Punkt, als solches nicht mehr beendet zu werden, mit der aeternitas identisch ist. Alexanders Antwort auf den Einwand, aufgrund der Veränderlichkeit der Höllenstrafen sei noch ein eigenes Maß der Dauer erforderlich, greift dann auch auf eine Differenzierung aus, mit der die Uneinheitlichkeit einer ontischen Bestimmung der ontologisch verschiedenen Maßpunkte berücksichtigt werden soll.
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Ein spezielles Problem ergibt sich auch daraus, daß manche Strafen ,verzehrend‘ sind, so daß sie im eigentlichen Sinne nur dann körperlich erfahrbar sind, wenn der Körper unter ihnen zerstört wird. Da dies aber nicht die Endlichkeit der Strafe befördern kann, weil sonst nach einer gewissen Dauer die Möglichkeit der unausgesetzten Verwerfung und Bestrafung aufgehoben wäre, bedarf es einer - wahrscheinlich übernatürlichen - Erhaltung der corpora reproborum, um diese Möglichkeit auszuschließen. Eine solche Erhaltung oder gegebenenfalls Restituierung des körperlichen Zustandes wäre aber nicht denkbar, wenn die Einwirkung auf ihn als unveränderlich im Sinne der ewigen Identität begriffen würde.
Wie lange dauert die Hölle? Ewigkeit und aevum bei Alexander von Hales
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„Ad illud quod obicitur de poenis inferni: dicendum quod quantum ad perpetuitatem mensurabuntur aevo, quantum vero ad variationem tempore; quod significat illa auctoritas Psalmi: ,Erit tempus illorum in saecula‘.“ 5
Was auf den ersten Blick aussieht, wie eine elegante Lösung, insofern Alexander nun in der Tat angeben kann, wie sich Dauer und interne Variabilität zueinander verhalten können - nämlich so, daß das eine mit dem anderen keinen gemeinsamen Grund mehr besitzt, auf dessen Basis sie gemeinsam dargestellt werden könnten -, ist bei näherer Betrachtung mindestens genauso problematisch wie der Ausgangspunkt. Denn an die Stelle der Unvereinbarkeit der internen Bewegung mit der extern unbewegten Ewigkeit ist nun die Unvereinbarkeit einer endlichen Zeit mit der Integration einer unendlichen Zeit in die Struktur des aevum getreten. Die nähere Bestimmung dieser Verschiebung ergibt sich aus dem Verhältnis der Zeit als Bewegungsmaß und dem Akt der Schöpfung. Hier gilt mit dem augustinischen Diktum, nach einem temporalen ,vor‘ der Tätigkeit Gottes vor der Erschaffung der Zeit könne sinnvoll nicht gefragt werden, daß auch die Zeit selbst Teil der Schöpfung ist, als die sie aus dem metaphysischen Schatten der Ewigkeit heraustritt. In der Verbindung mit der klassischen aristotelischen Ansicht, die Zeit sei das Maß der Bewegung gemäß dem Früher und Später, erhält man so eine Struktur der Zeitlichkeit, die genau deshalb an ihren Bewegungen abgelesen werden kann, weil sie mit diesen grundlegend ins Dasein gerufen wurde. Diese Verbindung löst Alexander von Hales nun auf, wenn er - unter Rückgriff auf die theologischen Ausführungen bei Beda Venerabilis und Hugo von St. Victor - nicht nur einen doppelten Ursprung der Zeit ansetzt (das entspräche auch den Vorgaben dieser theologischen Tradition), sondern daraus auch ein unterschiedenes Sein der Zeit, genauer: der Zeiten ableitet. „[…] dicendum quod tempus duplicem habet radicationem, et secundum hoc duplex esse, prout tempus dicitur mensura variationis corporalis. Una est in variatione materiae: et secundum hoc tempus est mensura indeterminata; alia vero radicatio est in motu caeli: et secundum hoc est determinata mensura secundum momentum, diem, annum et huiusmodi.“ 6
Indem eine zweifache Ursprünglichkeit der Zeit auch ein zweifaches esse mit sich bringt, stellt sich natürlich die Frage, wie diese Doppelung begründet wird. Alexander verweist hier zunächst auf die Ansicht, eine der temporalen Seinsweisen sei mit der Erschaffung der Himmelskörper am vierten Tag hervorgebracht worden, die andere, grundlegendere, bereits davor als Begleiterscheinung von Veränderung von Gott geschaffen worden. Damit ist sie aber, und das ist hier der entscheidende Punkt, auch nicht von der Existenz der himmlischen Bewegung abhängig. Denn während die Zeit als Maß der räumlichen Veränderung idealiter dargestellt am Umlauf der Himmelssphären und ihrer Planeten - ohne diese selbst keine Messung mehr repräsentieren kann, ist die unbestimmte Zeit 5 6
Op. cit., 108. Op. cit., 108.
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des einfachen sich Veränderns selbst schon die ideale Repräsentation von Zeit (als Antitypus zur aeternitas). Entsprechend kann Alexander behaupten, daß die Fortführung der Zeit auch nach dem Vergehen des Himmels kein immanenter Widerspruch ist (gleichwohl sie das sein müßte, bliebe man im aristotelischen Kontext), sondern die logische Konsequenz der doppelten Seinsweise von ,Zeit‘. „Secundum autem modum alium tempus incipit cum motu caeli et desinit. Cum motu ergo caeli protenditur tempus secundum quod est determinata mensura; secundum vero quod est indeterminata antecedit et sequitur.“ 7
Damit ist jedoch die kritische Bestimmung gegeben: wenn es eine Zeit gibt, die nicht mit dem Ende des geschaffenen Kosmos aufhört, sondern über diesen hinaus dauert, dann wird offenbar die klassische Dreiteilung in aeternitas - aevum - tempus um eine vierte Kategorie erweitert, die aber inhaltlich keine Abgrenzung zum aevum erhalten kann. Möglicherweise hat hier die Anlehnung an die aristotelische Position temporaler raison d’eˆtre als Bewegungsmessung in einer überdehnten Interpretation dazu geführt anzunehmen, daß nicht nur ohne Bewegung keine Zeit, sondern auch ohne Zeit keine Bewegung mehr möglich sei. Denn daß mit dem Ende der Himmelsbewegungen auch automatisch die Zeit ein Ende haben müsse, ist nur dann erforderlich, wenn man die Möglichkeit einer atemporalen Veränderung, etwa im Sinne einer mutatio instantanea, nicht in Betracht zieht oder sogar ablehnt. Alexander hätte also die Verdoppelung des Zeitbegriffs mitunter umgehen können, hätte er ein Konzept von variabilitas gehabt, das nicht temporal gebunden ist. Denn das von ihm entworfene Modell, das scheinbar die aristotelische ,Falle‘ einer Notwendigkeit der Zeit aufgrund der Faktizität von Veränderung dadurch außer Kraft setzt, daß es der himmelsbewegungsgebundenen Zeit eine vorgängige und immanente Schöpfungszeit beiordnet, wiederholt im Grunde genommen nur die aristotelisch vorgegebene Forderung, Veränderung mit einer Zeit begleitet denken zu müssen. Daß Alexander genau diese konzeptuelle Prämisse in seine Überlegung eingebracht hat (wahrscheinlich unbewußt), wird an der Beschreibung jener Differenz deutlich, mit der die beiden Formen der Zeit sich in ihrer apokalyptischen Erscheinungsweise unterschiedlich auswirken. „Primo modo tempus, […] coepit ante motum caeli, sicut et variatio, quae facta est ante quartam diem in materia, et erit cessante motu caeli, quemadmodum ipsa variabilitas quae contingit ex imperfectione materialitatis, quae remanebit in reprobis, sicut dicit Augustinus.“ 8
Was bedeutet dies nun für die Frage nach der Dauer der Hölle? Offensichtlich können die Ereignisse dort mit unterschiedlichem Maß gemessen werden, je nachdem, ob man den Vollzug der Strafe oder die Dauer des Prozesses insgesamt betrachtet. Doch genau darin liegt das Problem: wenn die mit der Himmelsbewegung verbundene Zeit, mit der auch Vergänglichkeit und Veränderlich7 8
Ibid. Op. cit., 108.
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keit assoziiert sind, aufhört und dennoch die Veränderlichkeit der im aevum dauernden Seienden beibehalten wird, dann ist ganz klar, daß die Zuschreibung der Vergänglichkeit an die Existenz materieller Geschaffenheit fraglich wird. Denn indem Alexander von Hales die temporale Entgrenzung - mittels der Doppelung der Zeit - ad perpetuitatem betreibt, fallen aevum und tempus extensional zusammen. Ihre intensionale Unterschiedenheit läßt sich aber in der Vermischung unterschiedlicher Seinsweisen nicht mehr formal korrekt angeben. Denn wenn die indeterminiert zeitliche Bestimmung der materiellen Unvollkommenheit der Verworfenen an der Veränderung ihrer Zustände sichtbar bleiben soll, dann sind diese Zustandsveränderungen doch ausgelöst von aevitern existenten Substanzen, namentlich den Dämonen, unter deren Aktivität die Verdammten zu leiden haben. Diese Dämonen müssen also selbst partiell temporal strukturiert sein, zumindest so, daß ihre Handlung sich zeitlich ausdrücken läßt wobei diese Zeitlichkeit eben nicht mit der Erscheinungsform in der irdischen Zeit verwechselt werden darf 9, denn diese kann es ja nach dem apokalyptischen Szenario nicht mehr geben. Daß es hinsichtlich der Frage, ob aufgrund der speziellen Dauer der Hölle die Einteilung der zeitlichen Bestimmung um eine vierte Kategorie erweitert werden müsse, als abweichende Meinung durchaus die Position gibt, ein sogenanntes saeculum anzunehmen, führt Alexander ohne Entscheidung in der Sache im Anschluß an seine Untersuchung aus 10. Mit einer solchen Erweiterung, das scheint zumindest die Unentschiedenheit Alexanders zu suggerieren, ist aber das eigentliche Problem nicht aus der Welt: die Vermittelbarkeit von einander nicht vermittelten ontologischen Zuständen kann in einer sich schrittweise vollziehenden Annäherung nicht überbrückt werden, auch wenn noch so viele Zwischenstufen eingefügt würden, die den jeweiligen charakteristischen Bestimmungen ihre exklusive Zuordnung nähmen. Denn die letztlich distinkten Faktoren sind nicht quantifizierbar: Geschaffenheit und Endlichkeit walten in genau dieser Form oder sie sind den ontologischen Existenzmodi überhaupt nicht präsent. Eine Zeit, die zwar einen Anfang aber kein Ende hat, ist demnach infolge der
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Das bedeutet auch, daß etwa die Erscheinungsweise der Engel, mit der sie im irdischen Wahrnehmungsbereich auftauchen, von einer anderen Zeit gemessen wird als ein Wirken nach dem Ende der Zeit. Entsprechend ist die Gleichung: ,Sein im aevum, Wirken in der Zeit‘ genau dann brüchig, wenn das Wirken postapokalyptisch als durch die indeterminierte Zeit gemessener Vollzug bestimmt ist, ohne daß man behaupten könnte, die aevitern existenten - und damit über der Zeit stehenden - Geschöpfe müßten sich in ihrer operativen Erscheinungsform danach richten, welche Art von ,Zeit‘ gerade noch zur Verfügung steht. Cf. op. cit., 108 sq.: „Aliquibus autem aliter visum est quod esset ponenda mensura inter aevum et tempus media, quae diceretur ,saeculum‘ a sequendo, eo quod haberet ,nunc‘ sequens ad ,nunc‘ sine continuitate motus media, sicut tempus habet ,nunc‘ sequens ad ,nunc‘ tamen cum continuitate motus media. […] Et secundum hoc dicunt talem ordinem esse durationis post aeternitatem: est primo duratio uno modo se habens, in qua nihil sequitur, et haec est ,aevum‘; consequenter est duratio, in qua aliquid consequitur, sed tamen sine continuatione, et hanc dicunt ,saeculum‘; et est iterum duratio, in qua aliquid antecedit et sequitur secundum continuitatem motus, et haec est ,tempus‘.“
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Privation ihres entscheidenden Bestimmungsmerkmals, nämlich ontologische Spiegelung der Endlichkeit zu sein, nicht mehr vom aevum unterschieden. Eine solche Differenzierung - auch ohne die Endlichkeit der Zeit - beizubehalten hieße nämlich, das Maß nicht nur logisch, sondern auch ontisch nach dem Sein des Gemessenen zu variieren. Alexander von Hales macht aber deutlich, daß eine solche Identifikation der divergierenden Maße entlang einer Gleichheit des durch sie Gemessenen ontologisch nicht legitimiert ist. Vielmehr kommt einer gleichen Bezeichnung des duralen Seinsmomentes eine je nach dem Sein des Gemessenen unterschiedene Eigentlichkeit des Seins jener duratio zu, unter der die Seienden begriffen werden 11. Diese Feststellung ist so wichtig, weil hier epistemologische mit ontologischen Momenten verwischen: wenn die ewige Dauer nur als Dauer, nicht aber als ontische Bestimmung des in ihr Dauernden ewig ist, wird der Begriff der Ewigkeit äquivok: an die Stelle einer substantialistisch verstandenen Intensität der aeternitas tritt dann die subjektivistische Phänomenologie einer ewig scheinenden, ontisch aber nicht mehr verbürgten Extension von Zeitlosigkeit. II. Gibt es eine Erlösung von den Strafen der Hölle? Exemplarisch wird diese immanente Verschiebung der Perspektive auf das Verhältnis von aeternitas und aevum bei Alexander von Hales an dem Detail der Erlösung der Verdammten sichtbar. Die einander ausschließenden Überlegungen zu diesem Punkt sind auf der einen Seite die alles überragende Gnade Gottes, der selbst die Möglichkeit einer postmortalen Restitution des Seelenheiles nicht a limine abgesprochen werden kann - anderenfalls wäre die Allmacht Gottes vor den Toren der Hölle zum Stehen gelangt. Auf der anderen Seite steht die Unbedingtheit einer in sich nicht mehr revidierbaren Endgültigkeit des letzten Gerichtes, aufgrund dessen Urteils die Hin- oder Abwendung von Gott gleichsam konstatiert wie final konstituiert wird. Um einer Vereinbarkeit beider Positionen Rechnung zu tragen, muß man eine wie auch immer motivierte Variante des Origenismus in Erwägung ziehen: sind die Engel zu Beginn in ihrer Entscheidung abgefallen und zu Dämonen geworden, dann ist aufgrund ihrer Unveränderlichkeit diese Entscheidung endgültig - und doch kann sie korrigiert werden, wenn Gott theoretisch auch die Dämonen wieder mit sich versöhnen können muß. Bei Alexander von Hales ist sehr schön zu sehen, daß beide Positionen aufrecht erhalten werden sollen und doch letzten Endes die origenistische Perspektive konzeptionell führend integriert werden muß. 11
Cf. op. cit., 109: „Propterea dicendum quod in eodem ,nunc‘ dicitur esse motus et angelus et Deus; non tamen ex hoc sequitur idem esse ,nunc‘ temporis, aevi et aeternitatis. Et in ,nunc‘ temporis dicitur esse motus et angelus et Deus, sed tamen differenter, quia in ,nunc‘ temporis est motus sicut in mensurante, et ideo in illo proprie; angelus vero et Deus sicut in concomitante: unde angelus et Deus est in ,nunc‘ temporis, id est cum ,nunc‘ temporis.“
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Zunächst ist es jeden Zweifels enthoben, daß es sich bei der Höllenstrafe um eine ewige Strafe handelt: „Tamen notandum quod infernus dicitur poena acerbissima et aeterna […].“ 12 Diese Bestimmung gibt Alexander im Zusammenhang der Diskussion zur Erlösungsmöglichkeit der Sünder, die in der Hölle sind; gleichsam als Bestätigung seiner Ewigkeitshypothese tritt diese Formulierung gegen die in der Lösung vertretene Position auf, daß eine gewisse Befreiung von den Höllenqualen sehr wohl möglich sei, wenn man die positiven Verdienste der Heiligen als Gegenrechnung der Sünden für die Strafmilderung in Anschlag bringe. „Ad illud vero quod obicit de liberatis per preces sanctorum: dicendum quod de exigentia meritorum propriorum non est possibilis liberatio, sed de exigentia meritorum Ecclesiae aliquorum possibilis fuit liberatio.“ 13
Mit diesen wenigen Worten ist das Kernproblem umrissen: wenn sowohl die Ewigkeit der Höllenstrafen festgehalten wird als auch auf den Gnadenschatz der Kirche verwiesen wird, aus deren Fülle die Schuld einzelner getilgt werden kann, dann ist entweder die Ewigkeit in sich nicht unveränderlich oder die Theorie einer noch über der aeternitas waltenden Macht Gottes kompensiert die auf der reinen ontischen Ebene unveränderliche Endgültigkeit des Ewigen durch eine neue Ordnung, gleichsam supernaturaliter - was aber nichts anderes ist als die Umschreibung des Origenismus ohne den Begriff der Apokatastasis. Nun scheint Alexander von Hales in der Tat für die Variabilität der ewigen Zustände zu optieren. So schreibt er zum Beispiel in seinem Sentenzenkommentar: „Item, poena malorum angelorum non crescit, quae provenit ex igne cruciante, sed cum descendunt ad infernum, poena interior, scilicet vermis, crescit. Unde quia mali peccaverunt ex eo quod adhaeserunt rebus materialibus, merito per illa crescit erorum poena; sed boni angeli non adhaeserunt illis: ideo non gravantur per aministrationem eorum respectu inferiorum.“ 14
Eine im Bereich des Aeviternen wachsende Strafe, gewissermaßen das Gegenteil zur befreienden Aufhebung der Strafe, ist aber nur unter der Bedingung eines mindestens doppelten Begriffs von der Ewigkeit plausibel, wenn nicht gar haltbar. Die strikte Identität der aeternitas increata mit sich selbst kann für die aeternitas creata, das aevum, nicht mehr gelten. Genauer gesprochen: ist die Hölle nur ein aeviterner Zustand und kein aeternitaler, dann ist auch die Existenz des in ihr Umfangenen nicht durch die Prädikate des Ewigen determiniert. Genau in dieser Sicht liegt auch die Erklärung Alexanders für die Befreiung der Sünder in der Hölle:
12 13 14
Op. cit., 221. Ibid. Alexander von Hales, Glossa in quatuor libros sententiarum Petri Lombardi, Quaracchi 1952, vol. 2, d. 10, p. 99.
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„[…] nullus ergo addictus poenae inferni quantum ad aeternitatem, sed addictus poenae inferni quantum ad acerbitatem tantum potest liberari, et si non meritis propriis, tamen meritis alienis, sicut accidit illis qui suscitati sunt ad preces sanctorum.“ 15
Um den Status der aeternitas creata nicht aufzulösen, darf Alexander an dem Faktor der Endlosigkeit nichts verändern. Um der Möglichkeit einer liberatio reproborum dennoch gerecht zu werden, verlagert er die Variabilität auf die intensive Bestimmung der Ewigkeit: hinsichtlich ihrer ontischen Extension ist sie unangefochten ewig. Hinsichtlich ihrer intrinsischen Qualität, etwa der Stärke der Strafe, kann sie mal so und mal so ausfallen. Das bedeutet aber nichts anderes als eine Trennung der ontologischen und epistemologischen Aspekte des Begriffes ,aeternitas‘ 16. Als Geschaffene existiert sie unter dieser Sicht wesentlich verschieden von der Ungeschaffenen, weil sie Veränderung zuläßt, wohingegen die Ewigkeit Gottes von der vollständigen Sichgleichheit geprägt ist. Wie Alexander mit dieser changierenden Definitheit des Endgültigen die parallele Gegebenheit von Zeitlosigkeit und Ewigkeit nach dem Ende der irdischen Wirklichkeit aufrechterhalten will, ist schwer zu erkennen. Denn auch für die Seligen müßte im Umkehrschluß gelten, daß - wenn sie unter den Begriff der aeternitas creata fallen - ihnen eine Schau Gottes zuteil wird, die nicht das widerspiegelt, was Gott selbst ist. Denn, die aeternitas increata innerhalb der aeternitas creata nicht nur funktional, also ihren Auswirkungen nach, abbilden zu wollen, sondern auch essentiell, muß dann in aporetische Situationen führen, wenn die konstitutiven Faktoren beider Varianten miteinander nicht mehr koordinierbar sind. Aus diesem Grund ist auch ungeklärt, welches gemeinsame Maß der Dauer der aeternitas und dem aevum zukommt, wenn irgendwann einmal die Zeit, also das Maß einer Sukzession, aufgegeben und nur durch das Maß einer immanent intensiven Daseinsdauer ersetzt worden ist. Wie sehr diese Diskrepanz zwischen einer ontologischen Hegemonie des Aeternen und einer epistemologischen Harmonie des Aeviternen in der Philosophie Alexanders selbst zum Tragen kommt, kann abschließend an der Stellungnahme zum nunc aevi verdeutlich werden. Hier zeigt sich nämlich, inwieweit dem aevum eine eigenständige Existenz zugesprochen werden kann. Aus einer solchen Existenz ließe sich ableiten, daß es - auch unbeschadet des Endes jeder Zeitlichkeit - eine extensionale Dauer im Sinne eines ,Nach‘ besitzen kann, insofern die Unabgeschlossenheit der epistemologischen Inhalte die Totalität der ontologischen Existenz als Einheit des Daseins verhinderte. 15 16
Alexander von Hales, Summa theologica (nt. 2), 221. ,Epistemologisch‘ meint hier die Bedingungen der Erfahrbarkeit im weiteren Sinne. Damit sind nicht nur die kognitiven Prozesse und Voraussetzungen angesprochen, sondern die Wahrnehmung einer nicht mit dem Ich identischen Sache schlechthin. So sind die Qualen der Höllenstrafe insofern unangenehm, als sie von einem Individuum erfahren werden. Die allgemeine Existenz der Hölle hingegen, die unter die Kategorie der ontologischen Wahrgenommenheit fiele, steht hier nicht zur Diskussion, weil in der Konzeption Alexanders die duratio offensichtlich nur vermittelt über die qualitas poenae erfahren wird.
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III. Wie existier t das ae vum? Alexanders Lösung als Loslösung der Ontologie Die Frage nach der eigenständigen Existenz des aevum, mithin die nach seiner ontologischen Valenz, läßt sich auch so umformulieren: gibt es eine irreduzible Einheit des Seienden, die zugleich Grundbestandteil des jeweiligen Seinszustandes wie auch Grenze des an ihm über sich Hinausweisenden ist? Alexander von Hales hat aus der Diskussion des Zeitbegriffes heraus ziemlich klar das nunc als eine solche Einheit vorgestellt, an dem sich gewissermaßen die duralen Ebenen überlagern. Daß das nunc phänomenologisch gesehen mehrfach auftritt, betont Alexander in seinem Sentenzenkommentar. „Respondeo: non est eadem substantia horum. Nunc tamen aeternitatis non est aliud nunc quam nunc temporis vel aevi; sed nunc temporis dupliciter sumi potest: vel stans, quod est aeternitas; vel fluens, quod proprie temporis est, et hoc dicitur instans.“ 17
Schon an dieser Stelle zeigt sich, daß die Nichtidentität der duralen instansEinheiten, die zwar substantialistisch gelesen werden kann, letztlich aber von einer Präzision des temporalen Verständnisses differenziert und legitimiert wird, nur dann haltbar ist, wenn man die Nichtidentität als ontologisches und nicht als ontisches Modell begreift. Nur dann wird ersichtlich, wie die verschiedenen Ebenen einander hierarchisch einschließen und abwärts bestimmen können, ohne die konstitutiven Charakteristika aus den oberen Kategorien qua Inexistenz der ontologisch geringerwertigen Zustände transferieren zu müssen. Denn die Gegenwart des Ewigen ist auch in der zeitlichen Erstreckung oder der aeviternen Dauer nicht ausgeschlossen, sie ist vielmehr ein Teil auch dieser untergeordneten Seinszustände. Alexander greift hier aus auf die Überzeugung, mit der Omnipräsenz des Göttlichen letztlich auch das Zeitliche und Endliche einholen zu können. Freilich, nur nach einer abbildhaften Relation verstanden und so ist auch die Weise des Enthaltenseins nur ontologisch, nicht substantiell zu verstehen. „Et cum dicitur ,quando est motus, est anima‘, ,quando‘ notat nunc aeviterni. Nunc autem aeternitatis est in tempore non sicut pars vel de substantia temporis, ut tempus ex temporibus, sed sicut eius exemplar. Sicut enim Deus in aeternitate, ita iste motus in suo tempore. In hoc autem est differentia, quia Deus est aeternitas, motus autem non est tempus.“ 18
Das Zusammenfallen der verschiedenen ,nunc‘ muß also als eine intentionale Begebenheit verstanden werden und kann nicht de facto die Identität der divergenten Formen des Dauerns bedeuten. Als Paradigma der Existenz ohne Einschränkung spielt die aeternitas gleichsam den inferioren Seinszuständen vorweg, umfaßt sie damit in der Perspektive der Vollendung und setzt sie so doch außer17 18
Alexander von Hales, Glossa (nt. 14), 116. Op. cit., 117.
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halb ihrer selbst. Alexander von Hales bereitet damit einem Verständnis des aevum den Weg, bei dem die Frage nach der Koessentialität von aeternitas und aevum auf den Aspekt der Koexistenz reduziert wird. Gleichzeitig wird die Koexistenz als eine nach außen dargestellte Präsenz des qualitativ Differenten verstanden: die Existenz wird so quasi extensionslos; an der Stelle, an der man die Parallelität zweier substantiell verschiedener Seinszustände nach dem Ende der Zeit nicht mehr kompatibel denken könnte, installiert Alexander eine intensionale Distinktion, die eine subjektivistische Parallelität nach wie vor erlaubt. Allerdings gilt diese Option nur um den Preis, daß die ontische Bestimmung des Seienden in dieser Gemeinsamkeit dem menschlichen Verständnis entzogen ist. Subjektivistisch wird eine solche Lesart der Dualität von aeternitas und aevum, wenn und insofern die Grenze zur bloßen Äquivokation der Beschreibung endlos duraler Seinszustände durch die Art und Weise markiert wird, wie das nunc, als Einheit des Ewigen, Aeviternen und Zeitlichen gleichermaßen, jeweils verstanden werden soll 19. Was bedeutet diese Erkenntnis, daß es keine ontische Identifikation von aeternitas und aevum geben kann, wenn man die Aporie einer sowohl in sich vollendeten und in sich intensional nicht abgeschlossenen Ewigkeit vermeiden möchte, nun für die Frage nach der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Höllendauer? IV. Die mehrfache Weise, aeter nitas zu verstehen und die Trennung von Sein und Dauer Was sich im Laufe der Untersuchung abgezeichnet hat, ist Alexanders Bemühen, dem aevum als eigenständiger Existenz Raum zu verleihen; gleichzeitig ist deutlich geworden, daß eine solche Abgrenzung zur aeternitas nur dann funktioniert, wenn diese selbst semantisch differenziert wird. Nominell wird das aevum somit als aeternitas creata an die übergeordnete Sphäre angebunden, um es real von dieser unterscheiden zu können. Explizit macht Alexander von Hales dies im Zuge der Diskussion um das Sabbatgebot und gibt zu erkennen, daß es drei Hauptarten gibt, aeternale Zustände zu begreifen. „[…] dicendum quod in Scriptura aeternum seu sempiternum accipitur multipliciter: proprie, communiter, secundum quid, per accidens, metaphorice. Proprie, tribus modis: minus proprie, magis proprie, 19
Cf. dazu auch Alexander von Hales, Summa theologica (nt. 2), 109: „Est enim ,nunc‘ quod multiplicatur in tempore, sicut ipsa successio motus: et hoc modo habet rationem instantis et dicitur instans, eo quod stare non potest, et multiplicatur in tempore habens rationem continuantis, in quantum est terminus praeteriti et principium futuri, et rationem dividentis, in quantum accipitur ut principium tantum, vel ut terminus tantum. Item, est ,nunc‘ quod est idem in tempore nec multiplicatur nisi secundum accidens: quemadmodum enim non movetur est unum in motu et fertur in motu unum, ita ,nunc‘ unum quod fluit et fertur in tempore. Item, est ,nunc‘ quod non fluit, quemadmodum id quod est, in quantum huiusmodi, intelligitur manens.“ Welches ,nunc‘ jedoch vorliegt, kann aus ihm selbst, ohne die Beurteilung des Intellektes, nicht benannt werden. So betrachtet ist nicht das Seiende, sondern dessen ontologische Aufarbeitung in der Interpretation die Grundlage der Unterscheidung des Seins.
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propriissime. Propriissime igitur, cuius non est principium nec finis durationis et stabilitatis; et hoc modo dicitur Deus aeternus tantum […]. Minus proprie, quod habet principium, sed non finem in duratione, quamvis finem habeat quodam modo in stabilitate, quia mutatur; quo modo dicitur poena aeterna […]. Magis proprie, quod habet principium, sed non finem in duratione vel stabilitate; quo modo dicitur vita aeterna […].“ 20
Indem die ewigen Höllenstrafen nur auf eine uneigentliche Weise ,ewig‘ genannt werden, rettet Alexander sowohl die wesentliche Ewigkeit Gottes als auch die gegenüber der Verdammnis ausgezeichnete Unabänderlichkeit der Glückseligkeit vor dem Schicksal einer semantischen Aufweichung. Geht man nun aber davon aus, daß den unterschiedlichen Weisen des Annehmens auch unterschiedliche Weisen des Seins entsprechen, dann bleiben zwei Konsequenzen: zum einen ist die Hölle zwar andauernd, aber sie wird gegebenenfalls immer leichter zu ertragen, insofern ihre Intensität auch durch Gnadenakte verringert werden kann 21. De facto ist damit der Origenismus in die Konzeption Alexanders eingebaut, auch wenn die Konsequenz, mit der er durchgeführt werden müßte, in den Ausführungen stets verborgen bleibt. Zum anderen ist mit dieser Konzeption einer aeviternen Existenz des Ewigen als nicht mehr Unveränderliches die Korrelation von Sein und Dauer aufgehoben. Denn das Seiende, das sich nach dem Ende der Zeit als Kristallisationspunkt der Bestimmbarkeit seiner Zustände durchhält, ist nicht mehr an die Identität mit seiner intrinsischen Sukzession subsistierender Qualitäten gebunden. Das Dauern einer Beschaffenheit, die nicht mehr vergänglich ist und dennoch in sich abänderlich, kann nur noch von der Hoffnung gestützt sein, es möge so bleiben, und nicht mehr von einem rationalen Grund, mit dem die Gleichheit gesichert werden kann. Denn ein Sein, das diese Dauer wesentlich ausmacht, kann nicht mehr angegeben werden, wenn die Intensität (als das einzige verbleibende Maß der Identität) extrinsisch aufgehoben werden kann. Alexander kann somit entweder angeben, was als aeternitas ist oder was in ihr dauert. Beides zugleich ist - jenseits der Prädikation des göttlichen Seins - nur noch vage zu bestimmen.
20 21
Alexander von Hales, Summa theologica (nt. 2), IV, 830. Die Möglichkeit, daß die Hölle immer schwerer zu ertragen wird, kann aus folgendem Grund keine Option sein. Wenn die Strafe dem Vergehen angemessen sein soll, so muß sie als dessen Sühne, Ausgleich oder korrespondierendes Leiden gewissermaßen passend sein. Eine erst in unbestimmter Zukunft (sit venia verbo in einer zeitlosen Existenzform) erreichte Adäquatheit verstieße gegen das Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit, weil in diesem Falle der in der Hölle gefangene Sünder über eine quasi endlos lange Dauer in einem Zustand eingeschlossen wäre, der seinem Vergehen unangemessen leicht ist. Ob eine immer schlimmer werdende Strafe der göttlichen Güte zugemutet werden kann, ist hier nicht zu entscheiden: allein der logische Widerspruch, daß in einer aeviternen Daseinsform kein Punkt angegeben werden kann, an dem mit Sicherheit davon auszugehen ist, daß die Höhe des Vergehens durch die Schärfe der Bestrafung angemessen widergespiegelt wird, macht es nötig zu denken, daß eine - wenn denn überhaupt veränderliche - Hölle immer nur von ihrer striktesten Form hin zu einem milderen Moment der Intensität gedacht werden kann.
Der Fall des Frater Albericus: Dante, Inferno, Gesang 33, und die Kontinuität von Person und Schuld Bernd Roling (Münster) I. Einleitung Die Paradoxien, die eine willkürliche Verdopplung der Person für die Identität, Kontinuität und Verantwortlichkeit eines Menschen nach sich zieht, sind nicht erst seit der Debatte um die Möglichkeit des Klonens aktuell geworden. Derek Parfit hat zahlreiche der Aporien, die sich mit der Duplizierung einer Person verbinden, in seinem Buch ,Reasons and Persons‘ anhand von Gedankenexperimenten verdeutlichen können 1. Auch das Mittelalter sah sich auf seine eigene Art und Weise mit vergleichbaren Grundfragen konfrontiert. Ein poetisches Beispiel einer Kontroverse um eine verdoppelte oder vielleicht auch nur gespaltene Persönlichkeit findet sich in Dantes ,Göttlicher Komödie‘. Welche Fragestellungen diesem poetischen Experiment Dantes aus dem Blickwinkel der mittelalterlichen Philosophie zugrundeliegen und wie seine Zeitgenossen auf sie reagiert haben, soll im folgenden vor Augen geführt werden. Gezeigt werden soll darüber hinaus, wie die philosophischen Widersprüche, auf die der Leser Dantes stieß, die Exegeten des Dichters genötigt haben, Dante umzuformulieren und neu zu interpretieren. Im neunten Kreis der Hölle, dem Eissee, trifft Dante auf die Schar der Verräter, die in dieser Region für immer festgehalten werden. An die berühmteste Episode dieses Kreises, das Gespräch, das Dante mit Ugolino della Gheradesca über dessen Schicksal im Hungerturm führt, schließt sich eine weitere markante Begegnung. Im Höllengraben, der den Namen ,Tolomea‘ trägt, erkennt Dante die Verdammten, die Verrat an ihren Tischgenossen geübt haben. Die vereisten Tränen verstopfen die Augenhöhlen dieser Unglückseligen, jedes Weinen ist ihnen unmöglich. Einer der Eingefrorenen wendet sich an Dante und ist gewillt, seine Geschichte zu erzählen, wenn Dante nur bereit ist, ihm die Augen vom
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D. Parfit, Reasons and Persons, Oxford 1984, dort besonders 199-305. Einen guten Überblick über die moderne Debatte geben z. B. M. Quante (ed.), Personale Identität, Paderborn 1999, und R. Martin/J. Barresi (eds.), Personal Identity, London 2002, und die in diesen Sammelbänden vereinigten Beiträge von S. Shoemaker, D. Wiggins, R. Nozick, D. Lewis und anderen.
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Eis zu befreien 2. Es handelt sich, erfährt Dante, um Fra Alberigo aus Faenza, einen Vertreter der Sippe der Manfredi 3. Bei einem Gastmahl hatte Alberigo seinen Vetter Manfredo und dessen Sohn hinterrücks ermorden lassen. Beide Verwandte hatten die Versöhnung mit Alberigo und das Ende der langen Familienfehde erwartet, auf den Ausruf ,Bringt das Obst‘ hatten die Diener des Gastgebers ihre Schwerter gezogen 4. Dante kann seine Verunsicherung über das Treffen mit Alberigo kaum verbergen, denn Alberigo war, wie Dante glaubte, noch am Leben. Jener klärt ihn auf. Über den Zustand seines irdischen Leibes habe er keine Erkenntnis. Schon zu Lebzeiten sei er in die Unterwelt hinabgerissen worden, noch bevor Atropos seine weitere Existenz beenden konnte. Einer Seele, so Alberigo, die einen Verrat übt von einer vergleichbaren Schwere, wird der Leib genommen. Ein Dämon lenkt fortan ihren Körper, bis dessen Zeit vollständig abgelaufen ist 5. Nicht unweit von Alberigo sieht Dante noch einen anderen Verdammten, Branca d’Oria, dem das gleiche Schicksal zuteil wurde. Auch sein Leib ißt und trinkt und trägt noch immer Kleider, wie Dante erkennen muß, während seine Seele bereits in der Unterwelt ihr Dasein fristet. Noch ehe Brancas Mordopfer sein Leben aushauchen konnte, um den gleichen Weg in die Hölle anzutreten, hatte ein Dämon den Körper Brancas übernommen und lebt an seiner Stelle weiter 6. II. Zwischen den Welten: Identität und Personalität Fra Alberig os Für den heutigen Leser bietet Dantes Alberigo-Episode wenig Grund, um Anstoß zu nehmen. Ohne Zweifel besaß Dante die poetische Freiheit, die 2
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Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie. Italienisch und Deutsch. Übersetzt von H. Gmelin. I. Teil. Die Hölle, Stuttgart 1949, Canto 33, V. 109-114: „Ed un dei tristi della fredda crosta / Grido` a noi: ,O anime crudeli, / Tanto che data v’e` l’ultima posta, / Levatemi dal viso i duri veli, / Sı` ch’io sfoghi il dolor che il cor m’impregna, / Un poco, pria che il pianto si raggeli.’“ Ibid., Inferno, Canto 33, V. 118-120: „Rispose adunque: ,Io son frate Alberigo, / I son quel della frutta del mal orto, / Che qui riprendo dattero per figo.‘“ Zu den historischen Hintergründen V. Presta, Art. ,Alberigo, Frate‘, in: Enciclopedia dantesca, vol. 1, Rom 1970, 94-95; D. Yowell, Art. ,Alberigo, Fra‘, in: The Dante Encyclopedia, New York 2000, 10. Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie (nt. 2), Inferno, Canto 33, V. 121-135: „,Oh‘ diss’io lui, ,or sei tu ancor morto?‘ / Ed egli a me: ,Come il mio corpo stea / Nel mondo su, nulla scienzia porto. / Cotal vantaggio ha questa Tolomea, / Che spesse volte l’anima ci cade / Innanzi ch’Atropo`s mossa le dea. / E perche´ tu piu` volontier mi rade / Le invetriate lagrime dal volto, / Sappi che tosta che l’anima trade, / Come fec’io, il corpo suo l’e` tolto / Da un demonio, che poscia il governa, / Mentre che il tempo suo tutto sia volto. / Ella ruina in sı` fatta cisterna; / E forse pare ancor lo corpo suso / Dell’ombra che di qua dietro mui verna.‘“ Ibid., Inferno, Canto 33, V. 136-147: „,Tu il dei saper, se tu vien pur mo giuso: / Egli e` ser Branca d’Oria, e son piu` anni / Poscia passati ch’ei fu sı` racciuso.‘ / ,Io credo‘ dissi lui ,che tu m’inganni; / Che` Branca d’Oria non morı` unquanche, / E mangia e bee e dorme e veste panni.‘ / ,Nel fosso su‘ diss’ei ,di Malebranche, / La` dove bolle la tenace pece, / Non era giunto
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Schwere der Sünde des Verrates schon zu Lebzeiten ahnden zu lassen 7. Um eine Verdammnis vor dem Tod zu erklären, greift Dante zu einer in seinen Augen rationalen Erklärung. Die Seele des Schuldigen tritt den Weg in das Inferno an und bekommt einen Schattenleib zugewiesen, wie alle Seelen vor ihrer Auferstehung 8. Der noch lebendige Körper, dessen Fortexistenz erklärt werden mußte, erhält als Lebensprinzip einen Dämon, der sich in seiner Verworfenheit dem Sünder an die Seite stellen läßt. In Wirklichkeit war das von Dante entworfene Szenario in den Augen der scholastischen Philosophen mit größeren Unstimmigkeiten behaftet, als es zunächst schien 9. Erste Bedenken ließen sich noch beiseite schieben. Die Seele des Menschen besaß die Fähigkeit, seine postmortale Identität zu garantieren. Bonaventura und nach ihm Richard von Middletown hatten in ihren Sentenzenkommentaren gezeigt, daß die einmal von der Seele formierte Materie eine natürliche Disposition besaß, die sie als materielle Potenz für die Seele auch nach dem Tod geeignet machte. Die Seele war auf ihre Materie ausgerichtet und konnte sie auf dieser Basis neu erstehen lassen 10. Thomas von Aquin war noch einen Schritt weiter gegangen. In der Verbindung von Seele und Materie lieferte die Seele als Form die alleinige Ursache der Identität des Menschen. In den ,Quodlibetales‘ hatte Thomas deutlich gemacht, daß jede beliebige Materie, sobald sie durch die Seelenform aktualisiert worden war, zur bestimmten und spezifischen Materie der Seele werden konnte. Die anima rationalis genügte also, um die Selbigkeit des Menschen über den Tod aufrechtzuerhalten 11. Sogar ein eigenes Schmerzempfinden war ihr im Höllenfeuer gegeben, wie Thomas an gleicher Stelle unterstrichen hatte 12. Auch Durandus hatte in seinem Sentenzen-
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ancora Michel Zanche, / Che questi lascio` in diavolo in sua vece / Nel corpo suo, ed un suo prossimano / Che il tradimento insieme con lui fece.‘“ Zur Position der Alberigo-Episode im sich steigernden Laster-Katalog des ,Inferno‘ A. A. Triolo, Inferno XXXIII: Fra Alberigo in Context, in: L’Alighieri 11 (1970), 39-71. Allgemein zu Dantes Schattenleibern und der mit ihnen verbundenen Physiologie z. B. K. Marti, ,Dante’s Baptism‘ and the Theology of the Body in Purgatorio 1-2, in: Traditio 45 (1989), 167-190; C. Walker Bynum, The Resurrection of the Body in Western Christianity, 200-1338, New York 1995; 298-305; M. Gragnolati, From Plurality to (Near) Unicity of Forms: Embryology in Purgatorio 25, in: T. Barolini / H. Wayne Storey (eds.), Dante for the New Millenium, New York 2003, 192-210; oder schon E. Gilson, Dante’s Notion of the Shade: Purgatorio XXV, in: Medieval Studies 29 (1967), 124-142. Zu den Fragen der postmortalen Identität und Personalität und ihrer Diskussion im Hochmittelalter H. J. Weber, Die Lehre von der Auferstehung der Toten in den Hauptraktaten der scholastischen Theologie von Alexander von Hales zu Duns Scotus, Freiburg 1973, 125-158, 217253; R. Heinzmann, Die Unsterblichkeit der Seele und die Auferstehung des Leibes. Eine problemgeschichtliche Untersuchung der frühscholastischen Sentenzen- und Summenliteratur von Anselm von Laon bis Wilhelm von Auxerre, Münster 1965, 6-146; Walker Bynum, The Resurrection (nt. 8), 229-278. Cf. Bonaventura, Commentaria in quatuor libros Sententiarum, vol. 4, Quaracchi 1889, d. 43, a. 1, q. 4, 887-890; Richardus de Mediavilla, Commentum in libros Sententiarum, vol. 4, Brixen 1591 [Nachdruck Frankfurt 1963], d. 43, a. 1, q. 2, 555-556. Thomas von Aquin, Quodlibetales, Opera omnia, vol. 15, Paris 1876, IX, q. 6, a. 6, 589-590. Ibid., II, q. 7, a. 13, 392 sq.
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kommentar gezeigt, wie die Seele zur Begründerin der Identität des auferstandenen Leibes werden konnte. Während die Materie sich in ewigem Fluß befand, sicherte die göttliche Allmacht die Kontinuität und die von der Zeit unberührte Selbigkeit des Menschen. Gott wurde zur letzten identitätsstiftenden Größe. Der Tod konnte die zeitliche Kontinuität des Menschen zwar unterbrechen, als übernatürliche und von der Zeit freie Größe stellte Gott jedoch aus der Ewigkeit heraus und auf der Grundlage der Seelenform den leibseelischen Zusammenhang des Menschen wieder her 13. Trotz der abrupten Trennung von Leib und Seele blieb Alberigo also aus der Perspektive der Mehrzahl der Philosophen in seiner Identität unangetastet. Auch wenn sein Leib ihm vorenthalten wurde, konnte die Seele die Fortexistenz des Verdammten garantieren. Gefahr drohte von anderer Seite. Seele und Personalität waren für die meisten der Denker des 13. und 14. Jahrhunderts, wie Richard Heinzmann und Hermann Weber anhand der Auferstehungsfrage gezeigt haben, nicht mehr deckungsgleich 14. Schon für Bonaventura existierte die Seele nicht mehr für sich, sondern nur in einer essentiellen Hinordnung auf den Leib. Die anima separata konnte für sich keine Person begründen. Thomas von Aquin und vor ihm in Teilen schon Albertus Magnus hatten die Verbindung von Leib und Seele für eine substantielle Verbindung gehalten. Als substantia incompleta stand die anima separata in wesentlichem Bezug zu ihrem Körper 15. Ohne Seele war der Leib nicht mehr Leib des Menschen, er war allenfalls eine Potenz, die Körper werden konnte und nur Leib im äquivoken Sinne. Wenn auch die Existenz des Menschen in der Seele zur Gänze eingeschlossen war, so war seine Essenz, damit aber auch seine Personalität, seine Vollkommenheit und sein Glück an Leib und Seele gemeinsam gebunden 16. Im Fall Alberigos hatte die erzwungene Trennung von Körper und Seele, die vor dem natürlichen Tod erfolgt war, diese Kontinuität der Person zerstört. Die Kette von Ursache und Wirkung, die Seele und Leib gemeinsam über die Zeit hinweg Freiheit und Verantwortung erlaubte, war aufgehoben worden. Gott, nicht Alberigo oder die natürliche Kausalität, hatte diese Dauer der Persönlichkeit Alberigos unterbrochen. Als verantwortlich handelnder Mensch, der für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden konnte, existierte Alberigo nicht mehr, bevor er sein Leben beendet hatte. Ihm ließen sich keine Handlungen mehr zuschreiben, die einem freien Willen entsprungen wären. Wenn die perso13
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Durandus a Sancto Porciano, In Sententias theologicas Comentariorum libri IIII, Venedig 1571 [Nachdruck Farnborough 1964] (2 voll.), vol. 2, In librum quartum, d. 44, q. 1, fol. 395r-396r. So Weber, Die Lehre von der Auferstehung (nt. 9), 142-158; Heinzmann, Die Unsterblichkeit (nt. 9), 22-24, 29-30, 42-43, 145-146. Dazu z. B. Albertus Magnus, De anima (Opera omnia 7, 1), ed. C. Stroick, Münster 1968, l. 3, t. 2, c. 12, 193. Dazu unter zahllosen möglichen Belegen z. B. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, Rom 1894, II, c. 81; Summa theologiae, Turin/London 1895 (4 voll.), I/II, q. 4, a. 5, oder Thomas von Aquin, In Aristotelis librum De anima commentarium, ed. A. M. Pirotta, Turin 1959, l. 2, lectio 1, §§ 224-225.
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nale Einheit aber nicht mehr existierte und Alberigos vormaliger Körper neben seinem Schattenleib noch immer lebte, wie konnte Alberigo, ohne sein natürliches Leben beendet zu haben und ohne daß seine Seele als forma corporis sich durch die natürliche Degeneration der Materie von ihrem Körper gelöst hatte, schon für seine Taten verurteilt werden? Hatte Gott ihm die Möglichkeit zur Buße und Umkehr durch den erzwungenen Bruch seiner personalen Einheit vorenthalten? Alberigos Anwesenheit im Inferno war ebenso gleichbedeutend mit seiner Unfreiheit wie sein natürlicher Körper seine Freiheit auf den ersten Blick zumindest nahelegte. Hatte Dante diese Unstimmigkeit nicht bedacht und war auf diese Weise zum Häretiker geworden? Der mittelalterliche Danteleser hat sich diese Fragen gestellt. III. Dante-Kommentare und Dante-Alleg orese Über einen Zeitraum von mehr als 300 Jahren sind Dante, wie Saverio Bellomo und Bruno Sandkühler verfolgt haben, mehr als 60 Glossierungen zuteil geworden 17. Nur Aristoteles und die Bibel haben noch zahlreichere Kommentare erhalten. Etwa zwei Dutzend dieser Glossierungen liegen gedruckt vor, die meisten von ihnen in Ausgaben aus dem 19. Jahrhundert 18. Vor uns liegt ein Spektrum an Texten, das in seinem Reichtum noch immer nicht ausgeschöpft wurde, das eine Fülle von philosophischen und poetischen Traditionen zur Inter17
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Als historische Überblicke und Repertorien der Kommentarliteratur S. Bellomo, Dizionario dei Commentatori danteschi. L’esegesi della Commedia da Iacopo Alighieri a Nidobeato, Florenz 2004, mit neuer Bibliographie; B. Sandkühler, Die frühen Dantekommentare und ihr Verhältnis zur mittelalterlichen Kommentartradition, München 1967; darüber hinaus A. Vallone, Storia della critica dantesca dal XIV al XX secolo (2 voll.) (Storia letteraria d’Italia 4), Padua 1981, vol. 1; und zusammenfassend B. Sandkühler, Die Kommentare zur Commedia bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Die italienische Literatur im Zeitalter Dantes und im Übergang vom Mittelalter zur Renaissance (GRLMA 10/1), Heidelberg 1987, 166-206, 238-256. Zu einem anderen Beispiel philosophischer Danteexegese des Mittelalters B. Roling, Dante und Ovid im Kommentar: Inferno, Canto 25 als Schöpfungstravestie, in: H. Krmı´cˇkova´/A. Pumprova´ (eds.), Querite primum regnum Dei. Sbornı´k prˇ´ıspeˇvku˚ k pocteˇ Jany Nechutove´ (Festschrift Jana Nechutova´), Prag 2006, 125-140. Ein großer Teil der Dante-Kommentare ist vom ,Dartmouth Dante Project‘ der Princeton University unter Leitung von R. Hollander auf Basis der alten Druckausgaben des 19. Jahrhunderts und einiger jüngerer Editionen in digitalisierter Form zur Verfügung gestellt worden *http://dante.dartmouth.edu+. Parallel hierzu ist in Italien ein von S. Bellomo und anderen Italianisten betreutes Editionsprojekt in Angriff genommen worden, die ,Edizione nazionale dei commenti danteschi‘, die im Lauf der nächsten Jahre alle Kommentare vom Mittelalter bis zum Barock in kritischer Form zur Verfügung stellen möchte. Soweit vorhanden, werden im folgenden diese Ausgaben herangezogen, andernfalls die bisherigen Fassungen in gedruckter Form, die infolge der häufig fehlenden Versangaben nach Seite zitiert werden. Nur wenn mir die basale gedruckte Edition nicht zugängig war, wird auf die digitale Version zurückgegriffen, die keine Seitenzählungen übernimmt. Vermerkt werden in diesen drei Fällen die alte Ausgabe, die als Textgrundlage gedient hat, und der Ersteller der elektronischen Version, zitiert wird dann unter Verweis auf die kommentierten Textpassagen.
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pretation heranzieht und Diskurse entwickelt, die sich über Jahrhunderte verfolgen lassen. Im Jahre 1322 macht Dantes eigener Sohn Jacopo Alighieri den Anfang 19, zwei Dekaden später folgt ihm sein Bruder, der Jurist Pietro Alighieri mit einem weiteren Kommentar 20. Schon vor Pietros umfangreichem Werk entstehen mehrere knappe lateinische und italienische Glossierungen, wie die Kommentare des Graziolo Bambagliolo 21, des Jacopo della Lana 22 oder der ,Ottimo commento‘ 23. Um 1330 schreibt der Karmeliter Guido von Pisa eine ausgreifende und enzyklopädische Glossierung des ,Inferno‘, die für die folgende Zeit den Maßstab liefert 24. Weitere knappe oder umfangreiche Werke, die entweder die ganze ,Göttliche Komödie‘ zu erklären versuchen oder nur das ,Inferno‘, entstehen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Guglielmo Maramauro 25, Francesco da Buti 26 und nicht zuletzt Giovanni Boccaccio, der seine Exegese der ersten 16 Gesänge des ,Inferno‘ in Florenz öffentlich vorträgt 27, setzen sich auf Italienisch mit dem Großgedicht Dantes auseinander, der Dominikaner Benvenuto von Imola schreibt seinen Dante-Kommentar, den umfangreichsten der ganzen Literaturgeschichte, auf Latein 28. Die Kette der Auseinandersetzung reißt auch im 15. Jahrhundert nicht ab, sondern wird in italienischer Sprache in weltlichen Kreisen mit Guinoforto Barzizza (Bargigi) fortgesetzt 29, im Lateinischen und im Ordensmilieu mit dem Kommentar des Franziskanermönches Giovanni di Serravalle 30. In Gestalt Cristoforo Landinos und seiner monumentalen Glossierung und seinen Nachfolgern Andrea Vellutello und Bernardino Daniello erreicht sie im späten 15. Jahrhundert und im 16. Jahrhundert einen letzten Höhepunkt, zugleich auch die Frühe Neuzeit 31. 19
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Cf. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 62-77; Sandkühler, Die Frühen Dantekommentare (nt. 17), 103-116; Vallone, Storia della critica (nt. 17), vol. 1, 69-72. Cf. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 78-91; Vallone, Storia della critica (nt. 17), vol. 1, 92-98. Cf. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 112-124; Sandkühler, Die Frühen Dantekommentare (nt. 17), 131-145; Vallone, Storia della critica (nt. 17), vol. 1, 72-77. Cf. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 281-303; Sandkühler, Die Frühen Dantekommentare (nt. 17), 192-206; Vallone, Storia della critica (nt. 17), vol. 1, 77-87. Cf. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 354-374; Sandkühler, Die Frühen Dantekommentare (nt. 17), 206-230; Vallone, Storia della critica (nt. 17), vol. 1, 87-92. Cf. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 268-280; Sandkühler, Die Frühen Dantekommentare (nt. 17), 155-192; Vallone, Storia della critica (nt. 17), vol. 1, 99-130. Cf. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 325-329. Cf. ibid., 246-259; Vallone, Storia della critica (nt. 17), vol. 1, 170-176. Cf. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 171-183; Vallone, Storia della critica (nt. 17), vol. 1, 133-152. Cf. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 142-162; Vallone, Storia della critica (nt. 17), vol. 1, 153-170. Cf. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 134-139. Cf. ibid., 163-170; Vallone, Storia della critica (nt. 17), vol. 1, S. 209-230. Cf. ibid., vol. 1, 357-384; und zu Landino als Kommentator z. B. P. Procaccioli, Filologia ed esegesi dantesca nel Quattrocento. L’,Inferno‘ nel ,Comento sopra la Comedia‘ di Cristoforo Landino, Florenz 1989, 143-254.
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All diese Kommentatoren bemühen sich um Realienklärung, sie identifizieren die zahllosen historischen Figuren, die Dante in seinem Universum verteilt, und klären den Leser über Hintergründe auf, zugleich versuchen sie Dantes oft anspruchsvolles Italienisch verständlich zu machen. Vor allem aus diesen Gründen werden sie auch heute noch von den Romanisten herangezogen. Spätestens seit den großen Werken Pietro Alighieris und Guido von Pisas verfolgt die Mehrzahl der Kommentatoren jedoch noch ein weiteres Ziel. Dantes ,Göttliche Komödie‘ sollte als universales philosophisches und theologisches Kompendium und als Laienenzyklopädie in poetischer Gestalt etabliert werden. Alle Aspekte des christlichen Weltbildes sollte Dante in einem großen Weltgedicht zusammenfassen. Um dieses Bild zu vermitteln, durfte Dante nicht in Widerspruch zur kirchlichen Lehrmeinung treten. Gerade Ordensleute wie Guido von Pisa oder Benvenuto von Imola waren peinlich darauf bedacht, die Rechtgläubigkeit Dantes unter Beweis zu stellen, doch auch die übrigen Kommentatoren waren bemüht, jedes häretische Potential aus dem Weg zu räumen. Wie ließ sich eine solche Reinigung der inkriminierten Passagen angesichts der Kluft, die nur zu häufig zwischen Dantes Versen und der Orthodoxie bestand, bewerkstelligen? Dante selbst gibt seinen Interpreten das Instrument in die Hand. Die ,Göttliche Komödie‘ besitzt verschiedene Bedeutungsebenen, einen äußerlichen und historischen Schriftsinn und einen inneren spirituellen, der dem historischen zugrundeliegt. Der postulierte innere Sinn läßt sich gegen die vermeintliche Oberfläche ausspielen. In der Einleitung seines kosmologischen Lehrgedichtes, dem ,Anticlaudianus‘, hatte Alain de Lille auch für säkulare Werke und für die philosophische Lehrdichtung mehrere Schriftsinne in Anspruch genommen. Sie sollten helfen, philosophische und theologische Inhalte unter dem integumentum der mythologischen Erzählung zu transportieren 32. In seinem berühmten ,Schreiben an Cangrande della Scala‘ macht sich Dante diese programmatischen Vorgaben zueigen. Wie die Heilige Schrift vier Sinnebenen unterscheidet, können auch andere Werke einen buchstäblichen Sinn besitzen und eine innere Bedeutungsebene, eine moralische, mystische oder allegorische Semantik, die für Dante in einem übergreifenden nichtliteralen Sinn zusammenfällt 33. Auf der historischen Ebene schildert die ,Göttliche Komödie‘ den Zu32
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Alain de Lille, Anticlaudianus, publie´ par R. Bossuat, Paris 1955, Prologus, 55-56. Zu diesem einflußreichen Text und seiner ebenso weitreichenden Hermeneutiktheorie zuletzt F. Bezner, Vela Veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der Intellectual History des 12. Jahrhunderts, Leiden 2005, 471-556, dort zum Prolog des ,Anticlaudianus‘ 477-488; B. Roling, Das Moderancia-Konzept des Johannes de Hauvilla. Zur Grundlegung einer neuen Ethik laikaler Lebensbewältigung im 12. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 37 (2003), 167-258, hier 175183, dort weitere Literatur. Einen wertvollen Überlick über die Idee des integumentum im 12. Jahrhundert gibt auch W. Wetherbee, Philosophy, Commentary, and Mythic Narrative in TwelfthCentury France, in: J. Whitman (ed.), Interpretation and Allegory. Antiquity to the Modern Period, Leiden 2000, 211-229. Dante Alighieri, Das Schreiben an Cangrande della Scala, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von T. Ricklin, Hamburg 1993, §§ 20-22, lateinisch und deutsch, 8-11. Noch einmal äußert sich Dante zu der Hierarchie der biblischen Schriftsinne im ,Convivio‘, Dante Alighieri, Das
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stand der Seelen nach dem Tod, auf der allegorischen Bedeutungsebene, betont Dante, beschreibt sie jedoch den Menschen, der in seiner Willensfreiheit, seinen guten und bösen Taten der göttlichen Gerechtigkeit unterworden ist 34. Im Akzessus, den Dante in seinem Schreiben seinem Werk an die Seite stellt, rechnet er die ,Göttliche Komödie‘ daher zur Gattung der Moralphilosophie 35. Ihr Ziel ist eindeutig, die Lesenden sollen durch die Lektüre aus dem Elend zum Glück geführt werden 36. In seiner Vita Dantes greift Boccaccio Dantes Überlegungen noch einmal auf und unterstreicht auf diese Weise für die späteren Exegeten die besondere Bedeutung der inneren Bedeutungsebene der ,Divina Commedia‘ 37. Vor der Geburt träumt die Mutter des Dichters einen prophetischen Traum, auch die ,Göttliche Komödie‘ erscheint ihr dabei, wie Boccaccio schildert, in einer verschlüsselten Form, in Gestalt eines Pfaus 38. In seiner Deutung überträgt Boccaccio die Eigenschaften des Pfaus auf die Aspekte der ,Göttlichen Komödie‘. Sein Gefieder hat 100 Augen und ist von engelhafter Schönheit wie die 100 Gesänge des Gedichtes. Seine Stimme ist grauenvoll wie die Qualen der Verdammten, die von Dante beschrieben werden, seine Füße sind häßlich wie das barbarische Volgare und der einfache Stil des Werkes 39. Ebenso aber wie das Fleisch des Pfaus Wohlgeruch verbreitet und nicht verwest, findet sich auch unter den Versen der ,Göttlichen Komödie‘ etwas Unvergängliches, die ewige Wahrheit der Theologie, die als innere Bedeutungsebene dem äußeren Sinn des Textes zugrundeliegt 40.
IV. Die philosophische Alleg orese der Alberig o-Episode Es sind die Maximen des ,Schreibens an Cangrande‘, die auch die Auseinandersetzung der Dante-Interpreten mit dem 33. Gesang des ,Inferno‘ geprägt
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Gastmahl (4 voll.), Übersetzt und kommentiert von T. Ricklin, Hamburg 1996, vol. 2, II, 1, §§ 2-15, lateinisch und deutsch, 8-13. Dante Alighieri, Das Schreiben an Cangrande (nt. 33), §§ 23-25, lateinisch und deutsch, 1011. Ibid., §§ 40-41, lateinisch und deutsch, 16-17. Ibid., § 39, lateinisch und deutsch, 16-17. Hierzu zum Beispiel die programmatischen Aussagen, die Filippo Villani, ein weiterer spätmittelalterlicher Kommentator, seiner Dante-Erklärung voranstellt: Filippo Villani, Expositio seu Comentum super ,Comedia‘ Dantis Allegherii, a cura di S. Bellomo, Florenz 1989, 34-37, 70-71. Zu Villani Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 386-390. Giovanni Boccaccio, Trattatello in laude di Dante, a cura di P. G. Ricci, in: Tutte le opere, vol. 3, Mailand 1974, 437-496, hier: § 208, 490. Ibid., §§ 220-227, 493-495. Ibid., § 222, 493: „Dico che il senso della nosra Comedia e` simigliante alla carne del paone, percio` che esso, o morale o teologo che tu il de`i a quale parte piu` del libro ti piace, e` semplice e immutabile verita`, la quale non solamente corruzione non puo` ricevere, ma quanto piu` si ricerca, maggiore odore della sua incorrutibile soavita` porge a’riguardanti.“
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haben. Wie in so vielen anderen Abschnitten der ,Göttlichen Komödie‘ mußte auch hier der innere Sinn der Erzählung, der moralisch-allegorische Gehalt freigelegt werden 41. Die willkürliche Sprengung der Person Alberigos, die Duplizierung seines leibseelischen Zusammenhanges, die Dante seinen Lesern in seinem Gedicht zumutete, hatte so ausgelegt zu werden, daß sich alle möglichen Konflikte mit der Orthodoxie ausräumen ließen. Die erzwungene Trennung von Leib und Seele, die Aufhebung der Willensfreiheit und die Formierung durch einen Dämon mußten neu gedeutet werden. Gesang 33 besaß also einen Sinn, der über die geschilderte Szenerie hinausgriff. Die Schwierigkeiten, die der Kasus Alberigos produzierte, sind von fast allen der 26 Kommentare, die hier eingesehen wurden, erkannt worden. Nur wenige, zumeist knapp gehaltene oder frühe Glossierungen wie der unter dem Namen ,Falso Boccaccio‘ 42 laufende Kommentar aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts oder die sogenannten ,Chiose Filippine‘ 43 ignorieren die aufkommenden Fragen zur Gänze und lösen die Schwierigkeiten, indem sie sie übergehen 44. Die übrigen Kommentatoren schenken dem Widerspruch zwischen Text und Theologie ihre Aufmerksamkeit und entwickeln eine Strategie, um ihn aufzulösen. Zunächst überwiegt die Empörung. Der ,Ottimo Commento‘, der lange Zeit Andrea Lancia zugeschrieben wurde, konstatiert wie viele andere die widersinnige Trennung von Seele und Körper. Nur die Seele entspricht der vollendenden Kraft des Leibes, Dantes Überlegungen verletzen die Ordnung der Natur daher ebenso wie das Gesetz des Glaubens 45. Guido von Pisa wird noch deutlicher. Die abrupte Unterbrechung der Willensfreiheit Alberigos ist für den christlichen Leser nicht nur untragbar, sie ist eine fictio absurda et inconveniens, sie ist ebenso absurd wie abseitig. Keinem Menschen darf die Möglichkeit zur Umkehr vor dem Tod genommen werden 46. Dantes Sohn Pietro formuliert die bekannten Schlüsse, die sich für den Interpreten aus diesem Dilemma ziehen lassen. In 41
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Zur Rezeption des ,Schreibens an Cangrande della Scala‘ in den ersten Kommentaren zur ,Göttlichen Komödie‘ L. Jenaro-MacLennan, The Trecento Commentaries on the Divina Commedia and the Epistle to Cangrande, Oxford 1974, passim. Cf. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 184-188. Cf. ibid., 218-222. Dazu Ps.-Giovanni Boccaccio, Chiose sopra Dante. Testo inedito ora per la prima volta pubblicato, ed. G. J. Warren Baron Vernon, Florenz 1846, Inferno, Canto 33, 274-275; und Chiose Filippine. MS. CF 2 16 della Bibl. Oratoriana dei Girolamini di Napoli, a cura di A. Mazzucchi (2 voll.) (Edizione nazionale dei commenti danteschi 24), Rom 2002, vol. 1, Inferno, Canto 33, 580-581. L’Ottimo Commento della Divina Commendia. Testo inedito d’un contemporaneo di Dante, a cura di A. Torri (3 voll.) Pisa 1827-29 [Nachdruck 1995], vol. 1, Inferno, Canto 33, 571: „Ma avvegna che queste cose sieno cosi scritte, non sono cosı` vere; perocche` gli e` falso, e contro natura e fede, che partita l’anima dal corpo, il corpo per alcuno modo si governi e viva. La ragione e` questa: conciosia cosa che l’anima sia regolatrice, e vivificativa, e perfezione di tutto il corpo, non si possa muovere, o vivere.“ Guido von Pisa, Expositiones et Glose super Comediam Dantis or Commentary on Dante’s Inferno, edited with notes and introduction by V. Cioffari, New York 1974, Canto 33, 704705.
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ihrer oberflächlichen Gestalt scheint Dantes Erzählung den Anschein zu erwekken, der Körper des Menschen könnte ohne das spiraculum vitae der Seele auf der Erde weiterleben, und der Mensch zugleich durch göttlichen Einfluß seine Entscheidungsfreiheit verlieren 47. Dantes Leser aber, betont Pietro, muß klug genug sein, um die äußere Rinde des Gedichtes zu entfernen und zum Mark der Erzählung vorzudringen. Die Metaphern des Textes verlangen ihre Dekodierung 48. Welcher Sinn aber liegt unter den Versen Dantes verborgen? Eine Gruppe unter den Kommentatoren entscheidet sich für den vielleicht einfachsten Weg und erkennt in der ganzen Episode nur eine tropologische Umschreibung der Sünde des Verrates. Ihre Schwere und Widernatürlichkeit hervorzuheben sei das eigentliche Anliegen Dantes gewesen. Alle Details der Episode, der Dämon, der sich des Leibes bemächtigt, die vorzeitige Verdammnis und der unwiederbringliche Verlust der Chance zur Umkehr wären unter dieser Voraussetzung nur Bilder gewesen, um einen moralischen Sinn zu transportieren, die enorme Verworfenheit, die dem Vertrauensbruch an Schutzbefohlenen, wie ihn Alberigo zu verantworten hatte, innewohnt. Graziolo Bambaglioli kommt zu einem vergleichbaren Schluß 49, ähnlich sehen es nach ihm einer der weiteren frühen lateinischen Kommentare 50, der ,Anonimo latino‘ 51, der Verfasser einer weiteren lateinischen Glossierung 52, der ,Chiose Cassinesi‘ 53, und die italienischen Glossen 54 der ,Chiose cagliaritane‘ 55. Auch Jacopo della Lana unterstellt Dante, in Gestalt einer Allegorie die Schrecknisse vor Augen zu führen, die sich mit der Sünde des Verrates verbinden. Keinem Menschen kann Gott in Wahrheit die 47
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Pietro Alighieri, Comentum super poema Comedie Dantis. A critical Edition of the Third and Final Draft of Pietro’s Alighieri’s Commentary on Dante’s The Divine Comedy, ed. M. Chiamenti, Tempe 2002, Inferno, Canto 33, 269-270. Ibid., Inferno, Canto 33, 270, und ebenso Petrus Allegherius, Super Dantis ipsius genitoris Comoediam Commentarium, ed. G. J. Warren Baron Vernon (erste Redaktion) (3 voll.), Florenz 1845, vol. 1, Inferno, Canto 33, 274. Graziolo Bambaglioli, Commento all’ ,Inferno‘ di Dante, a cura di L. C. Rossi, Pisa 1998, 212213. Es existiert neben der lateinischen Fassung Graziolos eine spätere italienische (Graziolo dei Bambaglioli sull ,Inferno‘ di Dante: una redazione inedita del commento volgarizzato, a cura di M. Seriacopi, Florenz 2005), doch wird dort der 33. Gesang nicht mehr berücksichtigt. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 102-111; Vallone, Storia della critica (nt. 17), vol. 1, 176-179. Anonymous Latin Commentary on Dante’s Commedia. Reconstructed Text, edited by V. Cioffari, Spoleto 1989, Inferno, Canto 33, Expanded Form, 137: „Nota quod licet ponatur hic animam proditoris puniri in inferno antequam moriatur corpus, non est verum; sed hic ponit autor ad denotandum quam horrendum facinus et displicibile deo sit et hominibus proditio.“ Cf. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 216-217. Codice cassinese della Divina commedia *http://dante.dartmouth.edu+, edited by R. Hollander (a cura dei monaci benedettini della badia di Monta Cassino, Monte Cassino 1865), zu Inferno, Canto 33, Vers 129. Cf. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 214-215. Chiose cagliaritane *http://dante.dartmouth.edu+, edited by F. Ferrario (scelte ed annotate da E. Carrara, Lapi 1902), zu Inferno, Canto 33, Vers 129.
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Barmherzigkeit versagen 56. Für Pietro Alighieri schließlich ist die von seinem Vater entworfene Szenenfolge eine bloße Fiktion. Die Torpedierung des wechselseitigen Vertrauens und die mutwillige Zerstörung des Bandes der Liebe, das die Menschen untereinander verknüpfen sollte, gewährt dem Menschen den sicheren Weg in die Hölle, wenn auch nicht zu Lebzeiten. Weitere Aussagen zur Freiheit des Menschen und der Rolle eines Dämons, so Pietro, hatte Dante in Wirklichkeit nicht fällen wollen 57. Durchläuft man jedoch die übrigen Kommentare, so erkennt man, daß sie die Auflösung der im 33. Gesang auftretenden Schwierigkeiten nicht so leicht genommen haben. Sie waren nicht gewillt, die ganze Episode durch die Reduzierung auf die moralische Sinnebene aufzuklären, sondern versuchten soviel wie möglich an äußerer Textgestalt, damit aber auch die von Dante beschriebenen Vorgänge selbst zu retten und als solche zu erklären. Dies konnte nur geschehen, wenn sich für die Ereignisse selbst eine mehr oder minder rationale oder zumindest mit der Theologie übereinstimmende Auslegung finden ließ. Zu diesem Zweck mußten beide Kernprobleme näher beleuchtet werden, die Inbesitznahme des Leibes durch einen Dämon und Alberigos Verlust der Willensfreiheit. 1. Ein Dämon als Beweger des Leibes Seit dem zwölften Jahrhundert hatte sich, wie Maaike van der Lugt gezeigt hat, die Philosophie des Mittelalters mit der Frage beschäftigt, ob und wie ein Dämon Herrschaft über einen Körper erlangen konnte 58. Seit dem 13. Jahrhundert bestand über die wesentlichen Aspekte dieser Fragestellung ein Konsens, der Autoren wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin ebenso einschloß wie Aegidius Romanus, Durandus und Thomas von Straßburg, Bonaventura, Richard von Middletown und Duns Scotus, und auch von späteren Kompilatoren wie Dionys den Karthäuser oder dem großen dominikanischen Dämonologen des 15. Jahrhunderts, Bartholomäus Sybilla, nicht mehr verändert wurde. Schon Alain de Lille hatte in der ,Summa quoniam homines‘ deutlich gemacht, daß Dämonen und Engel in der Lage waren, in einen Leib einzudringen. Ihre Kraft war jedoch begrenzt. Sie konnten sich zwar mit einem Körper in 56
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Jacopo della Lana, Comedia di Dante degli Allagherii col commento, a cura di L. Scarabelli (3 voll.), Bologna 1866, vol. 1, Inferno, Canto 33, 503: „Qui poetizzando tocca l’autor la mala disposizione dei detti traditori, e dice che tanto elli dispiaceno alla giustitizia di Dio, che sı` tosto com’ elli hanni commesso tal peccato, elli sono quasi in miseria in inferno e dannati; e cosı` per quelli che sono in quel luogo, sı` si vegiono e dicerneno. Questa allegorı`a non e` altro a dire se che su nel mondo, largo modo, elli si puonno giudicare dannati; vero e` che la misericordia di Dio e` anta, ed ha sı` ampio lo suo abbracciare, che d’ogni peccato si puo` tornare a penitenzia e non essere per quello perduto.“ Pietro Alighieri, Comentum (dritte Redaktion) (nt. 47), Inferno, Canto 33, 270-271. M. van der Lugt, Le ver, le de´mon et la vierge. Les the´ories me´dievales de ge´ne´ration extraordinaire, Paris 2004, 230-239.
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einer applicatio wie mit einem Gewand bekleiden, waren jedoch nicht imstande, sich mit ihm wie Form und Materie zu vereinigen 59. Auch eine Leiche konnte ein Dämon in Bewegung versetzten, doch nicht als Formprinzip erfüllen. Dem Dämon, betont Alain, fehlte der spiritus als Medium, um sich die vitalen und generativen Funktionen des Körpers zueigen zu machen. Der Zutritt zur Seele schließlich blieb ihm gänzlich versagt 60. Spätere Denker übernehmen die Vorgaben Alains und erweitern sie. Natürlich konnte ein Dämon neben der Seele im Leib eines Menschen seinen Platz einnehmen oder eine Leiche in Besitz nehmen, betonen Thomas von Aquin und Aegidius Romanus. Beide Geistwesen lassen sich aufgrund ihrer Unkörperlichkeit in ihrer operatio lokalisieren und werden nicht durch Quantitäten begrenzt 61. Während die Seele den Körper vollendet und deshalb allen sensitiven und vitalen Kräften als Formprinzip gegenübersteht, kann ein Dämon nur zum Motor des Körpers werden. Ein Dämon existiert neben vegetativen oder sinnlichen Formen, doch kann er aus diesen Kräften keinen Nutzen ziehen, er kann sich nicht fortpflanzen und bewegt die Masse des Leibes unmittelbar und ohne Rückgriff auf die virtutes naturales 62. Weder Engel noch Dämon verfügen daher aufgrund des Leibes, den sie besetzen, über sinnliche Fähigkeiten. Speisen können sie zwar zerteilen, doch nicht verdauen und zur Stärkung oder Vergrößerung des Leibes heranziehen, wie Bonaventura und nach ihm Richard von Middletown unterstreichen 63. Wenn Dämonen lachen, tun sie es in ihrem Körper, wie Durandus zeigt, frei von emotionaler Bewegung, als würde ein Mensch einen Stein werfen 64. Auch im Fall der Seele sind sich die Autoritäten nach Alain im wesentlichen einig. Ein direkter Zugriff auf den Willen des Menschen oder ein illapsus in seine Seele liegt außerhalb der Gewalt eines Dämons, sein Intellekt bleibt ihm zur Gänze verschlossen 65. Weder ist es dem Dämon möglich, betonen Albertus 59
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Alain de Lille, La Somme ,Quoniam homines‘, ed. P. Glorieux, in: Archives d’histoire doctrinale ˆ ge 20 (1953), 113-364, §§ 135-136, hier 273-275. et litte´raire du Moyen A Ibid., §§ 137-138, 275. Thomas von Aquin, Commentum in librum secundum Sententiarum, Opera omnia, vol. 8, Paris 1873, d. 8, q. 2, a. 5, 112-113; Aegidius Romanus, In secundum librum Sententiarum, vol. 2, Pars I, Venedig 1581 [Nachdruck Frankfurt 1968], d. 8, q. 2, a. 4, Resolutio, 380-381. Cf. Aegidius Romanus, In secundum librum Sententiarum (nt. 61), vol. 2, Pars I, d. 8, q. 2, a. 4, ad arg. dub. I, und resolutio dub. II, 382-383; oder z. B. Robert Kilwardby, Quaestiones in librum secundum Sententiarum, ed. G. Leibold, München 1992, q. 43, 131. Bonaventura, Commentaria in quatuor libros Sententiarum (nt. 10), vol. 2, d. 8, p. 1, a. 3, q. 1, 219-220; Richardus de Mediavilla, Commentum in libros Sententiarum (nt. 10), vol. 2, d. 8, a. 1, q. 5, 106-107; oder auch Duns Scotus, Quaestiones in librum II. Sententiarum, Opera omnia, vol. 6, 2, Lyon 1634 [Nachdruck Hildesheim 1968], d. 8, q. unica, 587. Duns Scotus will allerdings nicht ausschließen, daß Gott zumindest einen angelischen corpus assumptum schaffen könnte, dem durch die vis nutritiva eine quantitative Vermehrung zuteil wird, indem organische Bestandteile in Bestandteile des Glorienleibes verwandelt werden. Durandus a Sancto Porciano, In Sententias theologicas Comentariorum libri IIII (nt. 13), vol. 1, In secundum librum, d. 8, q. 2, fol. 147r. Hierzu neben den bereits genannten Autoritäten z. B. noch Dionysios der Karthäuser, In librum II. Sententiarum, Opera omnia, vol. 23, Tours 1903, d. 8, q. 3, 459-461.
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Magnus, Thomas und schon Wilhelm von Auxerre, dem menschlichen Verstand Gedanken einzuflößen, noch kann er den Willen des Menschen selbständig in eine bestimmte Richtung lenken. Sein Vorgehen bleibt auf das Einverständnis des Menschen angewiesen und stellt die Freiheit des Menschen nicht in Frage 66. Auch vollgültige Sakramente kann er aus diesem Grund im Leibe eines Priesters nicht spenden, wie Bartholomäus Sybilla nicht versäumt zu beantworten 67. Ein Dämon, so Aegidius oder Thomas von Straßburg, wählt einen anderen Weg, um auf den Menschen Einfluß zu nehmen. Er wird Sinnestäuschungen generieren, Körpersäfte in Wallung bringen und das Vorstellungsvermögen täuschen, der Mensch selbst wird die ihm nützlichen Gedanken hervorbringen; zugleich wird er den Willen des Menschen auf diese Weise veranlassen, falsche Gegenstände anzustreben 68. Ein Dämon kann unter dieser Voraussetzung zwar nicht die natürliche Neigung des Willens verändern, unterstreicht Aegidius, er kann den Intellekt und Willen jedoch so nachhaltig vom Bösen überzeugen, daß sich der Mensch in einem Habitus mit dauerhafter Wirkung von Gott abwendet 69. Die Kommentatoren Dantes müssen diesen beiden Vorgaben Rechnung tragen. Zum einen war zwar die Bewegung eines Körpers einem Dämon möglich, doch nicht seine Formierung, zum anderen konnte ein Dämon den Willen eines Menschen nicht ersetzen, es sei denn der Mensch gab zur Gänze sein Einverständnis. Tatsächlich sind die Kommentatoren diesen Weg gegangen. Dantes Sohn Jacopo und mit ihm der ,Ottimo commento‘ 70 und ein weiterer anonymer italienischer Kommentar 71, die ,Chiose Palatine‘ 72, erkennen drei Prinzipien, denen sich die menschliche Natur verdankt, den ,intelletto razionale‘, den ,amore‘ und mit beiden verbunden das wechselseitige Vertrauen der Menschen untereinander. Befreit sich der Mensch von einem dieser Prinzipien, wie es im Fall eines so brutalen Verrates geschieht, löst er sich zugleich von seinem Menschsein, nur der böse und sich verhärtende Wille bleibt in ihm zurück 73. Die Selbstberaubung 66
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Cf. Thomas von Aquin, Commentum in librum secundum Sententiarum (nt. 61), d. 8, q. 2, a. 5, 113; Albertus Magnus, Commentarii in II Sententiarum, Opera omnia, vol. 27, Paris 1894, d. 8, a. 7, 180-181; Wilhelm von Auxerre, Summa aurea, ed. J. Ribaillier, Paris 1982, l. 2, vol. 1, t. 5, c. 5, 112-113. Bartholomäus Sybilla, Speculum peregrinarum quaestionum, Straßburg 1499, Decad. 2, c. 8, q. 2-3, fol. CCI sq., und Decad. 3, c. 2, q. 5, fol. CCXIX. Aegidius Romanus, In secundum librum Sententiarum (nt. 61), vol. 2, p. 1, d. 8, q. 2, a. 5, Resolutio Dub. I, 388-390; Thomas von Straßburg, Commentaria in IIII libros Sententiarum, Venedig 1564 [Nachdruck Ridgewood 1965], d. 8, q. 1, fol. 148v sq.; oder z. B. Wilhelm de La Mare, Scriptum in secundum librum Sententiarum, ed. H. Kraml, München 1995, d. 8, q. 9, 125-128. Aegidius Romanus, In secundum librum Sententiarum (nt. 61), vol. 2, p. 1, d. 8, q. 2, a. 5, resolutio dub. II, 392-393. L’Ottimo Commento (nt. 45), vol. 1, Inferno, Canto 33, 571-572. Cf. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 222-225. Chiose Palatine. MS Pal. 313 della Biblioteca nazionale centrale di Firenze, a cura di R. Abardo (Edizione nazionale dei commenti danteschi 10), Rom 2005, Inferno, Canto 33, 336-337. Jacopo Alighieri, Chiose all’,Inferno‘, a cura di S. Bellomo, Padua 1990, Canto 33, 218-219: „Conciosiacosa che qui alcuno errore alla commune gente par che si mostri, fermamente l’anima
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des freien Willens, die sich mit der Hinwendung zum Bösen verbindet, öffnet dem Dämon den Zugriff auf den Körper. Der diabolus tritt in Alberigo, betonen Benvenuto von Imola und Matteo Chiromono 74, und in der Tat beginnt ein Teufel seinen Körper als Motor zu bewegen, wenn auch nicht als Lebens- und Formprinzip 75. Alberigos Leib wird fortan, stellt Guglielmo Maramauro fest, derart von dämonischen Stößen gelenkt, daß er der Seele nach bereits tot zu sein scheint. Er wird zum willenlos Getriebenen der dämonischen Gewalt 76. Gleiches gilt für den Gefährten Alberigos in der Finsternis, Branca d’Oria. In seiner Sünde wollte Branca, bemerkt der ,Anonimo fiorentino‘, ein weiterer italienischer Kommentar 77, daß der Dämon über ihn Macht gewinnt; jener übernimmt die ,signoria dell’anima‘, wenn auch neben der Seele, und es regieren die ,operazioni diaboliche‘ 78. 2. Der Verlust der Freiheit in der Sünde Es bleibt zu klären, wie sich die Dauerhaftigkeit der dämonischen Regentschaft im Körper Alberigos und damit seine Selbstverdammnis und das Ende
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dannando prima che ,l corpo sia morto, possendo per pentimento salvarsi, cosı` nel suo vero figurativamente e` da considerare che, secondo che naturalmente apparere, l’umana generazione in due principıˆ si fonda, cioe` in amore e razionale intelletto, del quale accidentalmente poi la fede ch’e` tra uomo e uomo si cria. Onde, privandosi di cota’ due principıˆ, non piu´, ma iniquo volere si considera; e dove non e` principio, pentimento di contrario non cape.“ Matteo Chiromono, Chiose alla ,Commedia‘, a cura di A. Mazzucchi (2 voll.) (Edizione nazionale dei commenti danteschi 26), Rom 2004, Inferno, Canto 33, 501-502: „Fingit enim quod in talibus proditoribus accidit persaepe quod anima cadit in infernum, et eorum corpus vivens regitur a diabolo; quod quidem verum est nec erroneum, si recte inspiciamus. Per hoc namque figuratur quod quando homo tam atrocia peccata admittit, corpus eius fit habitaculum diaboli.“ Zu Chiromono Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 232-234. Benevenutus de Rambaldis de Imola, Comentum super Dantis Aldigherii Comoediam, ed. W. Warren Baron Vernon und J. P. Lacaita (6 voll.), Florenz 1887, vol. 2, Inferno, Canto 33, 541: „Per hoc enim figurat autor, quod quando homo committit ista peccata scelerata, diabolus intrat animam eius, et anima damnatur statim ad infernum, quia scilicet ille talis in felici hora peccat, quod numquam postea poenitet, et obstinatus et impoenitens moritur.“ Einen allgemeinen Überblick über die theologischen und philosophischen Positionen Benvenutos gibt F. Quartieri, Benvenuto von Imola. Un moderno antico commentatore di Dante, Ravenna 2001, 93-128. Guglielmo Maramauro, Expositione sopra l’Inferno di Dante Alligieri, a cura di P. G. Pisoni e S. Bellomo, Padua 1998, Inferno, Canto 33, 485: „Or, per darti bene ad intendere quello che D. pone de quisti vivi nel mondo e morti quanto a l’anima, sappi che eso parla anagogicamente, idest spiritualmente, che´ la vita de quisti e` odiosa e abominata da ogni persona, e morta quanto a l’anima, e il corpo impulsato de moti diabolichi: e cossı´ viveno.“ Cf. Bellomo, Dizionario dei Commentatori (nt. 17), 97-101. Anonymus Fiorentinus, Commento alla Divina Commedia ora per la prima volta stampato a cura di P. Fanfani (3 voll.), Bologna 1866, vol. 1, Inferno, Canto 33, 697-698: „Che questi, dice l’Auttore, innanzi che Don Michele scendesse allo ’nferno, il diavolo rimase invece dell’anima nel suo corpo, cio` e` che, per l’ostinazione del peccato sı` grave quanto fu a uccidere il suocero, il diavolo prese in tutto la signoria dell’anima et del corpo di costui. Et puossi dire ch’era tanta la potenzia che avea il diavolo in lui di menarlo dove volea; et erasi messo in lui, pero` che esso
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der Willensfreiheit erklären lassen. Auch für diesen Aspekt im Gemälde der ,Göttlichen Komödie‘ finden die Kommentatoren eine angemessene Interpretation. Seit den Kirchenvätern und in systematischer Form seit dem 12. Jahrhundert kennt die christliche Moraltheologie eine besondere Sündenkategorie, die Sünde wider den Geist, das peccatum in spiritum 79. Schon für Ambrosius und Augustinus sind ihre Kennzeichen eine besondere Unbußfertigkeit und die Zurückweisung der göttlichen Gnade 80. Für Abaelard und nach ihm für Hugo von St. Viktor unterscheidet sich die Sünde wider den Geist von den übrigen durch ihre besondere Bosheit. Wer gegen den Vater sündigt, verfehlt sich in Schwäche, wer sich gegen den Sohn vergeht, in Unwissenheit, wer sich jedoch gegen den Geist wendet, sündigt, so Hugo, in voller Absicht oder getrieben von Verzweiflung gegen das Prinzip der göttlichen Liebe 81. Petrus Lombardus kennt neben der Verzweiflung und der beharrlichen Bosheit noch eine andere Form der Revolte gegen die dritte göttliche Person, den Neid auf die Gnade der anderen 82. Mit Wilhelm von Auxerre und Alexander von Hales zählt man zum Ende des 12. Jahrhunderts sechs species des peccatum in spiritum; zu den genannten treten noch die Vermessenheit, die sich gegen die göttliche Gerechtigkeit wendet, die impoenitentia, die Unbußfertigkeit, die Leugnung der anerkannten Wahrheit und schließlich die obstinatio, die besondere Freude an der Sünde, die jede Reue ausschließt 83. Jede Sünde, die sich gegen den Heiligen Geist wendet, charakterisiert dieses besondere Wohlgefallen am Bösen, so kann sich jede schwere Sünde, wird sie nur mit dem entsprechenden Böswillen vollbracht, in eine Sünde wider den Geist verwandeln 84.
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ser Branca Doria avea voluto che’l diavolo avessi potenzia in lui; o a meglio dire, l’operazioni sue erono diaboliche et non umane; si che bene era il diavolo in luogo della sua anima.“ Maßgebend und unüberholt zu diesem Thema ist noch immer A. M. Landgraf, Dogmengeschichte der Frühscholastik. Vierter Teil. Die Lehre von der Sünde und ihren Folgen, vol. 1, Regensburg 1955, 13-69, dem ich hier folge; daneben z. B. J. Jacobs, Aus bewußter Bosheit. Literarische Reflexe der Sünde wider den Heiligen Geist in der deutschen religiösen Dichtung des 11. und 12. Jahrhunderts, Frankfurt 1983, 17-23. Dazu Aurelius Augustinus, Sermo 81 (PL 38), Paris 1845, coll. 445-467, dort c. 5, 9, col. 449, c. 12, 20, coll. 455 sq., c. 13, 21-22, coll. 456-457; id., Retractationum libri II, ed. A. Mutzenbacher (CCSL 57), Turnhout 1986, I, c. 19, 7, 59; Ambrosius von Mailand, De spiritu sancto libri tres, ed. O. Faller (CSEL 79), Wien 1964, I, c. 3, 54, 37-38. Petrus Abaelardus, Ethica Scito te ipsum, ed. R. M. Ilgner (CCCM 190), Turnhout 2001, I, 63, 1-12 (62-64); Petrus Abaelardus, Problemata Heloissae (PL 178), Paris 1855 [Nachdruck Turnhout 1979], coll. 677-730, XIII, coll. 694-696; Hugo von Sankt Viktor, De amore sponsi ad sponsam (PL 176), Paris 1880, coll. 987-994, hier coll. 988-989. Petrus Lombardus, Sententiae in IV libris distinctae (2 voll.), Grottaferrata 1981, vol. 1, II, d. 43, c. unicum, 572-577, dort weitere patristische Autoritäten. Wilhelm von Auxerre, Summa aurea (nt. 66), l. 2, vol. 2, t. 24, c. 1-3, 695-704; Alexander von Hales, Glossa in libros IV Sententiarum Petri Lombardi (4 voll.), Quarachi 1951-57, vol. 2, In librum secundum, d. 43, 413-415. Hierzu auch H. P. Weber, Sünde und Gnade bei Alexander von Hales. Ein Beitrag zur Entwicklung der theologischen Anthropologie im Mittelalter, Wien 2003, 240-243. Hierzu besonders Landgraf, Dogmengeschichte der Frühscholastik (nt. 79). Vierter Teil. Die Lehre von der Sünde und ihren Folgen, vol. 1, 61-69. Zu den Sündenstufen allgemein und der
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In der ,Summa‘ und den ,Quaestiones de malo‘ gibt Thomas dem peccatum in spiritum die kanonische Gestalt. Gegen den Geist sündigt, so Thomas, wer sich nicht aus Unwissen oder Unvermögen, sondern aus Übelwollen verfehlt. Thomas nennt die sechs Spielarten dieser elementaren Verfehlung: Wer auch immer in Anmaßung oder Verzweiflung die göttliche Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit zurückweist, die Wahrheit wissentlich leugnet und den Nächsten um seine Gnade beneidet, verschuldet sich an der dritten göttlichen Person. Wer in Unbußfertigkeit verharrt, sich der Reue verweigert oder in der obstinatio, der Verhärtung des Willens, Freude an der Sünde empfindet, hat ein peccatum in spiritum begangen 85. Eine vergleichbare Sünde, betont Thomas noch einmal in den ,Quodlibetales‘, kann nicht vergeben werden, denn sie verweigert sich der Buße, der Barmherzigkeit Gottes und der göttlichen Gnade. Sie leitet direkt zur Verdammnis 86. In seinem Verrat hat sich Alberigo, wie die Dante-Kommentatoren glauben, einer solchen Sünde gegen den Geist schuldig gemacht. Die Sünde des Verrates ist so groß, unterstreicht Johannes von Serravalle, daß die Verräter in ihrer Unbußfertigkeit verharren und Satan zur Gänze ihr Herz öffnen 87. In seiner obstinatio, so sehen es Guido von Pisa, der ein Referat der Lehre der Sünde wider den Geist anschließt 88, und nach ihm Alessandro Vellutello, verdammt sich Alberigo selbst und weist die göttliche Gnade zurück 89. Zugleich erfüllt ihn die desperatio, wie die ,Chiose Ambrosiane‘, eine lateinische Glossierung des 14. Jahrhunderts 90, unterstreichen 91. Aus seiner ,mera malignita`‘ heraus revoltiert Alberigo, so Bernardino Daniello, gegen die göttliche ,carita`‘ und verschreibt sich auf diese Weise schon zu Lebzeiten der Hölle 92. Guinoforto delli Bargigi, ein Kommenta-
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Kategorie der delectatio an der Sünde darüber hinaus z. B. F. Ohly, Metaphern für die Sündenstufen und die Gegenwirkungen der Gnade, Opladen 1990, 11-27. Thomas von Aquin, Summa theologiae (nt. 16), II/II, q. 14, a. 1-3; id., Quaestiones de malo, Opera omnia, vol. 13, Paris 1875, q. 3, a. 14-15, 406-410; ebenso auch id., In secundum librum Sententiarum (nt. 61), dist. 43, q. 1, a. 1-6, 571-582. Thomas von Aquin, Quodlibetales (nt. 11), VIII, a. 15, 394-395; zur Unvergebbarkeit auch noch einmal id., In secundum librum Sententiarum (nt. 61), d. 43, a. 4, 577-579. Johannes de Serravalle, Translatio et Comentum totius libri Dantis Aldigherii, Prati 1891, Inferno, Canto 33, 407. Guido von Pisa, Expositiones et Glose super Comediam (nt. 46), Canto 33, 704-706. Dante, con l’espositioni di Cristoforo Landino, e d’Alessandro Vellutello sopra la sua Comedia dell’Inferno, del Purgatorio & del Paradiso, Venedig 1596, Inferno, Canto 33, fol. 157vb: „E per questo vuol significare, che la ostinatione del traditor e` tanta, che non si pente mai, e ben che dopo il tradimento viva molti anni, possiamo dire, che per tale ostinatione nel peccato, l’anima fia dannata, e che un Demonio, cioe`, tale ostinatione, governi il corpo in modo, che par esser huomo vivo, e nondimento e` pessimo Demonio.“ Cf. Bellomo, Dizionario dei commentatori (nt. 17), 209-211. Le Ciose Ambrosiane alla ,Commedia‘, a cura di L. C. Rossi, Pisa 1990, 91: „Et hii sunt filii diffidentie et desperationis repleti peccati et indurationis non respectu misericordie et potentie Dei, de quibus dicitur in Psalmo LIIII: ,Veniat mors super illos et descendant in infernum viventes‘.“ Bernardino Daniello da Lucca, L’espositione sopra la Comedia di Dante, edited by R. Hollander and J. Schnapp, Hannover 1989, Inferno, Canto 33, 149.
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tor aus dem 15. Jahrhundert, formuliert es noch deutlicher. Kraft seiner Verfehlung hat sich Alberigo aller Liebe, damit aber auch jeder inneren Wärme beraubt, sein Wille hat sich ohne Möglichkeit der weiteren Korrektur verhärtet und in seiner ,ostinazione‘ dauerhaft auf das Böse ausgerichtet 93. Wie ein ,diavolo‘, so der ,Anonimo Selmiano‘, eine Glossierung des 14. Jahrhunderts 94, kann Alberigo fortan nur noch zum Ursprung böser Handlungen werden 95. Die zurückgewiesene Gnade, betont vor Bargigi schon Francesco da Buti, hat Alberigo dem Dämon überantwortet und schon zu Lebzeiten der Hölle verpflichtet 96. Auch Cristoforo Landino kommt zum gleichen Schluß. In der ,obstinatione‘ Alberigos liegt die Ursache für die Herrschaft des Dämons, mit Recht kann Dante daher sagen, Alberigo erscheine auf der Welt nur mehr als kostümierter Dämon, doch seine Seele weile längst in der Hölle 97. V. Fazit Überschaut man die Kommentare, so ergibt sich ein Gesamtbild dessen, was Dante ihrer Auffassung zufolge eigentlich im 33. Gesang sagen wollte und welcher innere Sinn für die Exegeten des Florentiners plausibel gemacht werden sollte. Im Augenblick des Mordes an seinen Verwandten hatte Alberigo einen Weg ohne Wiederkehr beschritten. In seiner Sünde wandte er sich so nachdrücklich dem Bösen zu, daß er seinen Willen in einem unumkehrbaren Habitus den Mächten der Finsternis auslieferte. Natürlich blieb ihm die Seele als Lebens93
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Guinoforto delli Bargigi, Lo Inferno della Commedia di Dante Alighieri col commento con introduzione e note dell Avv. G. Zacheroni, Marseille 1838, Canto 33, 743: „Per notoizia della risposta notar dobbiamo, che l’autore, attendendo la magnitudine del peccato, che si commette in tradire amici, ammorzando nel cuor umano ogni calore di carita`, ed inducendo nella volonta` sua durezza, e quasi incorreggibilita`; in modo che chi casca in esso mai non suol ritrarsi da tradimento fare, o se pur ritiene, forse per paura, o per non piu` potere, pur non si pente di cuore, onde si puo` quasi dire, che caduto in tal ostinazione, qusi confermato il suo libero arbitrio in male, piu` non e` vivificato il corpo suo da anima umana, ma da Dimonio.“ Cf. Bellomo, Dizionario dei commentatori (nt. 17), 226-230. Anonimo Selmiano alla prima Cantica della Divina Commedia di un contemporeano del Poeta *http://dante.dartmouth.edu+, edited by M. Frankel (pubblicate da F. Selmi, Turin 1865), zu Inferno, Canto 33, Vers 129-132: „E certo, per figura si puo` fare tanto bene, che altri non dica: traditore; e nullo di lui si fida. E’l traditore sempre e` morso da la conscienza sua, tanto che si dispera, e sempre fa male come il diavolo che ha seco il consiglia.“ Francesco da Buti, Commento sopra la Divina Comedia di Dante Allighieri a cura di C. Giannini (3 voll.), Pisa 1860, vol. 1, Inferno, Canto 33, 839. Cristoforo Landino, Comento sopra la Comedia, a cura di P. Procaccioli (4 voll.) (Edizione nazionale dei commenti danteschi 28), Rom 2001, vol. 2, Inferno, Canto 33, 1010-1011: „E per questo vuol significare che l’obstinatione del traditore e` tanta che mai si pente. Il che dimostra anchora el vangelista di Iuda dicente che dopo el tradimento el diavolo entro` nel corpo di Iuda, et lui disperandosi dixe: „maius est peccatum meum quam ut veniam merear“. Il perche non obstante che viva molti anni dopo el facto tradimento possiamo dire che l’anima sia dannata, perchee´ obstinata nel peccato, et un diavolo, i. tale obstinatione, governa el corpo, in forma che pare che sia huomo vivo, ma quanto a’ costumi e` diavolo.“
Der Fall des Frater Albericus
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und Formprinzip seines Körpers erhalten. Sein Übelwollen erlaubte dem Dämon jedoch zugleich, Gewalt über seinen Leib zu erlangen. Der Dämon wurde Alberigo zum Beweger seines Leibes, zum Motor seiner äußeren Handlungen. Zugleich war seine Zurückweisung des Guten so unwiderruflich, daß ihm die Verdammnis nach dem Tode sicher war. Die Ausgangsfrage, wie sich die Schwierigkeiten, die sich durch die Verdopplung Alberigos ergeben hatten, beantworten ließen, hatten die Kommentatoren Dantes auf diese Weise gelöst. Nicht Gott hatte Alberigo als Person ausgelöscht, er selbst hatte seine Willens- und Handlungsfreiheit durch seine hartnäckige Sünde und seine Verworfenheit getilgt. Als Person existierten Alberigo und mit ihm Branca d’Oria also noch immer, wenn auch nur noch auf Abruf und als Spielball dämonischer Kräfte. Die Duplizierung des Verdammten hatte sich als poetisches Stilmittel des Dichters offenbart. Alberigos Seele weilte noch in ihrem Körper, doch erfüllte sie dort nur noch untergeordnete Funktionen und mußte ihr Reich mit einem Teufel teilen. Die personale Kontinuität war nicht unterbrochen. Das Ziel der Neuinterpretation, das Dantes Exegeten anvisiert hatten, war damit erreicht. Ein Höchstmaß der historischen Sinnebene war durch die Reformulierung der Episode gesichert, gleichzeitig waren alle Zweifel an der Orthodoxie Dantes ausgeräumt worden.
The Moral Moment Peter Godman (Rom) Dauer, in the sense of the duration of the moral moment of decision, hardly plays a role in the ethical thought of St. Augustine and his twelfth-century critic, Peter Abelard. They relegate it to the wings. Centre-stage is occupied by consensus, that mental act of assent to a recognised transgression of God’s will which determines sin. Sin, for them both, is inseparable from intellectual cognition, on the ancient premise that definite knowledge is required if a decision is to be taken or a choice made 1. The moral theory of Augustine and Abelard envisages, but fails to account for, situations in which knowledge cannot be definite and understanding of a thought or an action depends on its context. The idea that the temporal, spatial, and circumstantial factors in an ethical choice or decision may be constitutive of it is alien to them both. If they differ in the extent to which they reject contextualism, they might agree in reformulating the theme of the present volume as das Nicht-Sein der Dauer. The crucial issue, for them, is not duration but motivation, which Augustine analyzes in terms of will. Abelard, by contrast, focusses on intention. But how can will or intention be understood without reference to time, space, and circumstance - to say nothing of what Michael Lockwood calls ,actuality‘ 2? Augustine’s reluctance to consider the factor of Dauer may perhaps be traced to his aversion from temporality, voiced most forcefully in the ,Confessions‘. Abelard’s attitude, on which I shall concentrate, is harder to explain. Prepared, within limits, to recognise the claims of context, he never pondered their ethical implications. To have done so - in particular, to have regarded Dauer as germane to his concept of assent - might have forced him to think historically; and that was not Abelard’s strong point. Nor did he pay as much attention as he might have to what, in the first and second quarters of the twelfth century, was to be learnt from others. The others from whom we are told that Abelard did (or did not) learn are a familiar cast of characters: the Anselms of Laon and Canterbury, William of Champeaux, Roscelin etc. Theologians, in short, who are often introduced as foils to Abelard before he is assimilated to an Anglo-American model of analytic
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Cf. A. Dihle, The Theory of the Will in Classical Antiquity (Sather Classical Lectures 48), London 1982, 69. M. Lockwood, The Labyrinth of Time, Oxford 2006.
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philosophy 3. This manner of constructing the history of ideas seems to me almost as a-historical as Abelard’s own; and it runs the risk of positivism in following only the paths he pursued. That is why I wish to consider not only what Abelard says but also what he passes over in silence. The thinkers whom he does not mention offer significant evidence of the routes he avoided taking, although they led in the same directions in which his ethical theory headed. Guilt, modern studies agree, was one of Abelard’s chief concerns in ,Scito te ipsum‘ 4. This problem exercised twelfth-century canonists whose often sophisticated ideas on the subject were illuminated, seventy years ago, by Stephan Kuttner in his magisterial ,Kanonistische Schuldlehre‘ 5. Despite Kuttner’s observations on Abelard, I know of no more recent treatment of his ethics that considers its affinities with and differences from that of the canonists on guilt. Yet the omission is glaring, for the likenesses between Abelard’s method in ,Sic et non‘ and that of Gratian were noted long ago 6. Ecclesiastical law also provides a natural point of comparison with ,Scito te ipsum‘: we know that canonists and theologians interacted and that, in the twelfth century, their disciplines were by no means separate 7. To ignore this intellectual context, as Abelard largely (but not entirely) did, is to accept him uncritically on his own terms, one of which was an undeclared but evident hostility to legalism. The legalism which attracted Abelard’s animus was contained in the penitential literature, written partly by canonists for policemen of the conscience whose chief interest lay in the punishment of transgressions, both moral and criminal. Although interiority, rather than deeds, is the theme of ,Scito te ipsum‘, its author was not able wholly to ignore the related question of Dauer posed by the penitentials. He had been reminded of it by the second letter of Heloise, in correspondence with whom Abelard plays the part of her spiritual guide. When? Where? With whom? By whom? In which context? These are the circumstantiae which the penitentials represent as constituent of sin 8. With them a confessor, as Abelard styles himself, was expected to be familiar. Reinforced by the canonists’ attention to the setting of exteriora indicia, they might have led him to take more account of Dauer. If he made only minor allowances for it, that was because he 3 4
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Cf. J. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard, Cambridge 1997. To Marenbon, Philosophy (nt. 3), add now M. Perkams, Liebe als Zentralbegriff der Ethik nach Peter Abaelard (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters N.F. 58), Münster 2001. St. Kuttner, Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX (Studi e testi 64), Vatican 1935. Cf. F. Thauer, Abälard und das canonische Recht, Graz 1900. Cf. N. Häring, The Interaction between Canon Law and Sacramental Theology in the Twelfth Century, in: S. Kuttner (ed.), Proceedings of the Fourth International Congress of Canon Law, Vatican 1976, 483-493. Cf. J. Gründel, Die Lehre von den Umständen der menschlichen Handlung im Mittelater (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 49, 5), Münster 1963, 67 sqq.; P. Godman, The Paradoxes of Heloise II: Sincere Hypocrisy, forthcoming in the Festschrift for W. Haug.
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was not only a critic but also a pupil of the Augustine who conceived of temporality as the sphere of deception 9, which is why I now turn to an example of their dialectical relationship. Augustine implies, but does not explain, the Dauer of the moral moment of decision when, in his exegesis of the Sermon on the Mount, he outlines the phases through which the sinner passes from suggestion to pleasure and assent to wrong-doing. This is the schema, potentially temporal but effectively timeless, which Abelard adopts from him, without significant modification, in ,Scito te ipsum‘ 10. I see this as an instance of dependence, uncritical and perhaps unreflected, because Augustine’s schema fits the facts of neither of the cases treated in that work which I shall consider today. The first of them is the slave pursued by his cruel master, discussed in Book I of ,De libero arbitrio‘ and refashioned in Abelard’s ethical tract 11. Believing that he is about to be murdered or tortured, the slave kills his master. This homicide, according to Augustine, demonstrates evil will. Alert to both the moral and the legal dimensions of the problem, the saint condemns the slave on the grounds that he has failed to act on the principle that to live a life bought at the cost of another is ,better called death‘. The elegance of this paradox of moral suicide does not conceal its fragility. Inferring motivation from action, Augustine takes no account of context, the ambiguity of which raises the issue of Dauer. The heat of the moment, the urgency of the pursuit, the combination of alarm and threat suggest not only the evil will on which Augustine insists but also panic striking out in what was taken to be self-defence. About that, the saint says nothing. Instead he attributes to the slave an intellectual cognition far from plausible in the circumstances which is meant to establish his moral responsibility. But the slender evidence provided does not exclude a version of that motivated irrationality - akrası´a in the Aristotelian sense - which Augustine describes brilliantly in the eighth book of the ,Confessions‘. Eloquent there about his own loss of control, he makes no allowance for it here in the case of the slave. Augustine’s reticence on this point is all the more striking because he both provides and suppresses facts which complicate the case. A conflict between equals would have been sufficient to ground his verdict, but he has selected a hierarchical relationship, which places the slave at a double disadvantage. No law may license the murder of the master, as Augustine states, but none prevents him from killing or torturing his slave, as the saint does not. Context has more 9
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Sancti Augustini Confessionum libri XIII, ed. L. Verheijen (CCSL 27), Turnhout 1981, IX. 4. 10. Cf. K. Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historischphilosophische Studie. Text - Übersetzung - Kommentar, Frankfurt 1993, 214-215. Aurelii Augustini De sermone domini in monte libros duos, ed. A. Mutzenbecher (CCSL 35), Turnhout 1967, I, 12, 34-35; cf. Abelard, Scito te ipsum, in: D. Luscombe, Peter Abelard’s Ethics, Oxford 1971, 32, 23 sqq.; Petri Abaelardi Opera Teologica. IV Scito te ipsum (CCCM 190), ed. R. Ilgner, Turnhout 2001, 21, 3-4, 557-558. Aurelii Augustini Contra academicos … De libero arbitrio (CCSL 29), Turnhout 1970, I, iv, 25-30; cf. Abelard, Scito te ipsum (nt. 10), ed. Luscombe, 6, 24 sqq.; ed. Ilgner, 4, 5, 90 sqq.
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bearing on the issue of motivation than he cares to acknowledge: the harsh facts of ancient life may have contributed to acratic action on the part of the slave. Arguably neither bad nor good but uncontrolled, his will admits of more than one interpretation, leaving room for a judgement of involuntary homicide. Yet Augustine finds this ambiguous agent guilty of both murder and moral suicide, condemning him without right of appeal to time, place, and circumstances. That circumstances, place, and time are relevant to the assessment of crime, Abelard does not deny. The trouble is, that he, like his contemporaries, hardly distinguishes crime from sin 12. Sin, properly speaking, can be judged only by God, who knows those arcana cordis which Abelard calls intentions. Men guess at motivation on the basis of acts. This antithesis is not neutral; the sympathies expressed in ,Scito te ipsum‘ are clearly for the divine, and against the human, tribunal, such as the one which condemned its author at Soissons. But recognition of men’s imperfection need not have led Abelard to conclude that most of their thought on such issues was irrelevant; which is what he seems to do when, refashioning Augustine’s example of the slave, he ignores everything that had been written by canonists since the saint about the right of self-defence in emergency 13. This is revealing because Abelard, more than Augustine, saw the need for contextual explanation of the case. He adds to the skeletal account of ,De libero arbitrio‘ details about Dauer. The slave’s flight was long (diu) and, only after repeated attempts to escape, did he finally (tandem) capitulate to necessity and kill his master. ,Coactus et nolens‘, involuntary but intentional, as Abelard understands it (contrary to Augustine), the deed is motivated by a version of that coerced consent which he applied, in the ,Historia calamitatum‘, to Heloise’s taking the veil: „ad imperium nostrum sponte velata.“ 14 In canonical terms, this expression was paradoxical, for consent had to be given freely both to monasticism and to marriage. What Abelard means is, Heloise chose to conform her will to his. And will, despite his eagerness to distinguish it from intention, remains the issue in the case of the slave. William Mann objects that Abelard is „disingenuous […] to claim that [the slave] killed unwillingly. Since [he] agrees that the homicide was unjust, what else could its evil consist in for him if not the evil desire?“ 15 Abelard’s answer to this question is less disingenuous than confused. Having described the circumstances as an emergency and the situation as desperate, he concludes that the slave’s killing of his master was ,rashness‘ (temeritas). But what is rashness other than an error or misjudgement of the will? Temeritas imposes a value12 13 14
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Cf. Kuttner, Kanonistische Schuldlehre (nt. 5), passim. Ibid., 334 sqq. Abelard, Historia calamitatum 21, in: I. Pagani (ed.), Epistolario di Abelardo ed Eloisa, Turin 2004, 164; cf. P. Godman, The Paradoxes of Heloise I: the First Letter, in: Critica del Testo 8, 1 (2005), 29-54. W. Mann, Ethics, in: J. Brower/K. Guilfry (eds.), The Cambridge Companion to Abelard, Cambridge 2004, 283.
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judgement which reinforces the Augustinian voluntarism that Abelard wants to undermine. And in this confusion of categories, the meaning of assent is obscured. If consensus entails an act of cognition based on definite knowledge, it does not fit the facts of the case refashioned by Abelard. The slave does not know; he apprehends; and his apprehension is forced upon him by the circumstances, as coactus plainly states. The circumstantiae so inadequately sketched by Abelard tend to a plea of diminished responsibility for acratic action. He rules it out, sentencing the slave to damnation and death of the soul. Augustine’s severity is not tempered by the details added by Abelard to the account of the case in ,De libero arbitrio‘. He remains under the spell of that bewitching saint even when he wishes to differ from him, because he fails to develop the implications of the context whose relevance he admits grudgingly. Making some allowance, but not enough, for Dauer, Abelard lapses into inconsistency. His inconsistency derives from a tension, unresolved in ,Scito te ipsum‘, between the divine perspective on moral decision, which he wishes to privilege, and the human view, to which he is forced to make concessions. The second example of this tension in Abelard’s work derives from sources in which criteria of context were both paramount and familiar. The case of a mother who had smothered her baby while asleep in bed was recurrent in the libri poenitentiales up to and beyond Burchard of Worms’ ,Decretum‘ 16; and Abelard cannot have failed to recognise this as a prime instance of the doctrine of the circumstantiae. If he omits one of them which Burchard and others considered fundamental the question of the child’s baptism before death - he adds other details, none of which is contained in previous accounts 17. The mother is poor; the infantulus is suckling; moved by pity for his suffering from the cold, she takes him into her bed and covers him with rags. There, „in her weakness overcome by the force of nature“, she smothers the one she hugs with utmost love. Piling on the pathos, Abelard does not only aim to establish the blamelessness of the mother’s motivation. He also ensures that the reader’s sympathies are on her side when he argues that punishments are inflicted on works of sin rather than sin itself. The aim is to contrast ecclesiastical tribunals, which condemn inadvertent offenders in order to set an example to others, with retributive justice, which is God’s prerogative. The emotive style in which that opposition is couched has an autobiographical flavour, for it is the scapegoat of Soissons who writes 18. 16
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Cf. F. Wasserschleben, Die Bußordnungen der abendländischen Kirche, reprint Graz 1958, 172, 200, 239, 255-256, 313, 358, 380, 413, 507, 530, 558; Ivo of Chartres, Decretum XV, 164 (PL 161, col. 894A); Burchard of Worms, Decretum (PL 140, coll. 974B-975D). For context, see E. R. ˆ ge“, in: Annales. Histoire, sciences sociales 29 (1974), Coleman, L’infanticide dans le Haut Moyen A 325-335 and, especially, G. Schmitz, Schuld und Strafe. Eine unbekannte Stellungnahme das Rathramnus von Corbie zur Kindestötung, in: Deutsches Archiv 38 (1982), 363-387. Abelard, Scito te ipsum (nt. 10), ed. Luscombe, 38, 5 sqq.; ed. Ilgner, 25, 658 sqq. Cf. Abelard, Historia calamitatum 32, ed. Pagani (nt. 14), 188; P. Godman, Cain at Soissons, in: A. Hahn/G. Melville/W. Röcke (eds.), Norm und Krise von Kommunikation. Inszenierungen
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Abelard, who regarded himself as exculpated from the condemnation of 1121 on grounds of the uprightness of his intentions in writing the ,Theologia „Summi boni“‘, maintains that men are incapable of retributive justice, because they do not know the secrets of the heart. That is one of the reasons for his stress on the mother’s innocence, and it would have been consistent had he maintained the divine perspective. But he does not. Unable to let this case stand as an instance of the difference between legalism and moral equity, he worries at it further, adding: „Sometimes a punishment is reasonably inflicted on a person in whom no fault preceded (nulla culpa precessit).“ This language, patently legal, evokes the canonists’ criterion of culpa praecedens. Abelard’s deference to their authority is perhaps implied by the adverb ,reasonably‘, but neither you nor I (nor perhaps he) has any idea of what he means by it, since he has gone out of his way to make the punishment inflicted on the mother seem unreasonable, because heavy. Heavy or light, the value-judgement of reasonableness is as unargued as the previous one of rashness. Nor does Abelard think about the contrary of his assertion nulla culpa precessit: namely, that lack of foresight may represent a form of guilt 19. That guilt can be extenuated, on the evidence presented but not probed by Abelard, by linking it to the issue of Dauer. Not Dauer in the sense of the moral moment of decision - irrelevant, because the mother was asleep but in the wider context of her poverty, probably indicative of a humble background. As a factor in her sin or crime, Dauer can be construed as the longterm effects of a life of deprivation producing culpable but pitiable ignorance. Such mitigating circumstances were taken into account by the canonists and by the penitentials 20, which is why they are a valuable source of social history 21 and why ,Scito te ipsum‘ is not. The ahistorical, hasty character of Abelard’s moral imagination did not pause to ponder these factors. If, attributing reasonableness to a judge who punished heavily inadvertent offenders, he was not being ironical or sarcastic, he certainly failed to reflect on the canonists’ criterion of culpa praecedens, which he dismisses with a nod of feigned deference. Real interest in the ethical dimensions of the past and the ways in which it shapes the present is absent from ,Scito te ipsum‘. Despite the emotive style with which Abelard presents the cases we have considered, his treatment of context is perfunctory; his imposition of value-judgements is inconsistent; and his vital criterion of consensus does not take adequate account of the temporal, spatial, and circumstantial factors that shaped or constituted
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literarischer und sozialer Interaktion im Mittelalter. Festschrift Peter von Moos, Münster 2006, 329-354. Cf. Kuttner, Kanonistische Schuldlehre (nt. 5), 117, 314. Cf. P. Payer, The Humanism of the Penitentials and the Continuity of the Penitential Tradition, in: Mediaeval Studies 46 (1984), 340-351. Cf. H. Lutterbach, Sexualität im Mittelalter. Eine Kulturstudie anhand von Bußbüchern des 6. bis 12. Jahrhunderts, Cologne 1999; P. Payer, Sex and the Penitentials. The Development of a Sexual Code 550-1150, Toronto 1984.
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decisions and choices made without, or with little, intellectual cognition. What, then, does he believe to be grounds for ethical judgement? „Abelard believes that acts cannot be judged except through the intentions which inform them and that intentions cannot be judged except in relation to the acts which result from them“, writes John Marenbon 22. True enough; indeed a truism with which no twelfth-century jurist or theologian would have quarrelled. Like Abelard, they subscribed to the doctrine that God alone judges the secrets of the heart 23. Unlike him, they did not conclude from it the inadequacy of human justice. Recognising that it fell short of moral equity, they sought to assess motivation, as canonists, by taking account of exteriora indicia in their contexts or, as confessors, by considering the avowals made to them by penitents in terms of the circumstantiae. So too, in part, did Abelard, but his radical scepticism toward ecclesiastical tribunals, coloured by his experience at Soissons, prevented him from acknowledging that divine and human justice might be different in degree but not in kind. The result, in ,Scito te ipsum‘, is an alternation between them. ,Rashness‘, for example, may be a fair verdict on the slave’s homicide, if delivered from God’s tribunal, but on the humbler plane of man’s reason it is inconsistent with a denial of voluntarism. Why then does Abelard play down the will and focus on intention? In order to highlight the intellectual cognition of choice. But choice, in this instance as in others, had a temporal and spatial dimension, which needed to be clarified by factors such as Dauer. The details added to Augustine’s account evoke, but fail to establish, this criterion, because the slave’s intention is described as coerced. If coercion restricts the will but not the intention, how to tell them apart? Abelard makes that distinction unintelligible when he imposes the value-judgement of rashness, reverting to the very Augustinianism he set out to counter. ,Scito te ipsum‘, perhaps because it is not fragmentary but incomplete and unrevised, is a book by an author struggling to discard one moral vocabulary who has not yet found another. Abelard’s dependence on the authority he seeks vainly to contest is, in consequence, more salient than his much proclaimed originality. Even the saint’s triad of suggestion, pleasure, and assent is preserved, despite its manifest inadequacy in the case of the slave. There suggestion is everything, pleasure nothing, and assent remains obscure. The obscurity derives from the fact that Abelard, like Augustine, infers the immorality of the slave’s intention from his action, thereby contradicting one of his own premises, which is the ethical neutrality of deeds 24. Deeds can only be judged neutral from God’s point of view. Men have no option but to regard them as a measure of intentions. That is why it is both 22 23
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Marenbon, Philosophy (nt. 3), 256. Aurelii Augustini De sermone domini in monte (nt. 10), II, 18, 59 and 60: 155, 1369-1371; 156, 1389-1390. Cf. I. Bejczy, Deeds without Value: Exploring a Weak Spot in Abelard’s Ethics, in: Recherches de the´ologie et philosophie me´die´vales 70 (2003), 11.
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accurate and misleading to claim that: „Abelard’s morality is one of intended actions: people are neither excused nor inculpated by a state of mind alone.“ 25 The fact is that he inculpates the slave’s state of mind or intention on the basis of his action, when the logical, if implausible, inference from his theory should have been to separate them. That is why, far from maintaining the autonomy of ethics 26, the author of ,Scito te ipsum‘ continued to wander in the moral maze to which Augustine led him. The way out offered to him by the canonists’ analysis of context blocked by his hostility to their methods, Abelard was doomed to conflate sin with crime. That conflation, widespread among his contemporaries, lies behind his simultaneous denial of the mother’s guilt and approval of her heavy punishment as reasonable. The two propositions do not cohere with one another as a distinction between moral equity and legalism. For legalism, to the scapegoat of Soissons, reeked to high heaven and made him despair of retributive justice on earth. Turning instead to the God who knows those arcana cordis which he identifies with intentions, Abelard erected an ethical theory one of whose fatal weaknesses derives from having so little time for Dauer.
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Marenbon, Philosophy (nt. 3), 92 (his italic). Cf. A. Boureau, Droit naturelle et abstraction judiciare. Hypothe`ses sur la nature du droit me´die´val, in: Annales 57 (2002), 1463-1488.
V. Historische Konzeptionen und historiographische Konzepte von Dauer
Die Illusion der Dauer Konzepte der Herrscher für ihre Nachfolger Hans-Joachim Schmidt (Fribourg) Der König stirbt. Die Herrschaft indes endet nicht. Die Herrschaft war Besitz. Wie jeder Besitz konnte sie vererbt werden. Person mit Herrschaftsverfassung zu verbinden, wurde aber zu einem Problem, das sich bei jedem Herrscherwechsel neu stellte. Familie und Staat, Erbrecht und Machtausübung, dynastische Nachfolgeregelung und Berufung auf das bonum commune waren auf das engste miteinander verknüpft, denn ihre Kombination legitimierte Herrschaft. Die Dauer von Herrschaft sollte abgelöst werden von der Dauer des menschlichen Lebens. Zwei unterschiedliche Phasen mit unterschiedlichen Einschnitten waren miteinander zu verbinden, ohne daß sich in jedem Fall eine befriedigende Lösung angeboten hätte, um die der familiären Erbfolge innewohnenden Unwägbarkeiten abzumildern und sie der gewünschten Kontinuität der Herrschaft einzupassen 1. Dem mittelalterlichen Denken war von Anfang an eine skeptische Beurteilung dieser Probleme zu eigen. Der Zusammenhalt der Machtausübung verschiedener Herrscher eines Reiches war nicht selbstverständlich. Er wurde von Theologen unter Berufung auf den Kirchenvater Augustinus in Frage gestellt. Für ihn war Herrschaft nichts anderes als eine letztlich ephemere Angelegenheit. Selbst wenn es dem Herrscher gelänge, seine Macht gegen die Gewalt der Feinde zu verteidigen, würde immer spätestens mit dem Tod die Herrschaft des einzelnen enden. Zeiten und Generationen übergreifende Macht sei nichts als Trug. Hoffnung auf individuelles Weiterleben gäbe es allein dank des geheimen Waltens der civitas Dei. Jegliches Trachten nach Macht entspringe der vanitas. Dauer sei ihr vorenthalten 2. 1
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Cf. J. Goody, The Development of the Family and Marriage in Europe, Cambridge 1983; K.H. Spieß, Familie und Verwandschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters: 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 111), Stuttgart 1993; H. Wunder, Dynastie und Herrschaftssicherung: Geschlechter und Geschlecht, in: id. (ed.), Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit: Geschlechter und Geschlecht, Berlin 2002, 9-27; I. Davis (ed.), Love, Marriage and Family Ties in the later Middle Ages, Turnhout 2001; J.-M. Moeglin, Land, Territorium und Dynastie als Bezugsrahmen regionalen Bewußtseins am Beipiel Flanderns, in: M. Werner (ed.), Spätmittelalterliches Landesbewußtsein in Deutschland, Stuttgart 2005, 17-52. Cf. Sancti Augustini De civitate Dei, 2 voll., ed. B. Dombart (Corpus Christianorum. Series Latina 47-48), Turnhout 1955.
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Hans-Joachim Schmidt
Die Schilderung des sterbenden Herrschers war die Gelegenheit, die Eitelkeit von Begierde und Machtstreben darzustellen. In den letzten Stunden die künftigen Heimsuchungen des Reiches erahnend, noch vor dem Hinscheiden den Attributen der Macht entkleidet, schließlich als lebloser Körper, nackt, den Schändungen seiner einstigen Getreuen ausgeliefert, so schildert der Autor der ,Vita Hludovici‘ das Sterben Kaiser Ludwigs des Frommen, so beschreiben Ordericus Vitalis und ein weiterer, anonymer Autor mit einigen Jahrzehnten Abstand den Tod von König Wilhelm dem Eroberer 3. Gott ist es, der die Herrschaft nimmt und gibt; Elend und Trübsal stehen am Ende jedes Lebens und jeder Herrschaft. Beständigkeit kann es dort nicht geben, wo der Tod das Lebenswerk zunichte macht. An Kaiser Friedrich I. sind diese Gedanken Ottos von Freising gerichtet 4. Verachtung der Welt bleibt als Konsenqenz übrig. In der umfangreichen Literatur, die über das gesamte Mittelalter hinweg den contemptus mundi als besten Weg zur Erlangung des Seelenheils empfiehlt, wirft die Aussicht auf den Tod einen düsteren Schatten auf alles menschliche Tun, dessen Ergebnis Dauer nicht vergönnt sein kann. Das Streben nach Macht stößt auf die Unausweichlichkeit des Endes jeglichen Wollens 5. Der König, der auf vorbildliche Weise starb, hatte sich dies bewußt zu machen und dies seiner Umgebung und Nachwelt deutlich vor Augen zu führen. Suger von St. Denis beschrieb, wie König Ludwig VI. von Frankreich vor seinem Tode sich demütigte, öffentlich beichtete, vor Bischöfen, Äbten und Priestern seine Vergehen bekannte und sich anklagte, in Sünde geherrscht zu haben. Er legte seine königlichen Gewänder ab, entsagte aller herrscherlichen Würde. Von der Last seines Amtes befreit, kniete er nieder, empfing die Sakramente und legte ein Bekenntnis seines Glaubens ab 6. Die ,Grandes Chroniques de France‘ haben später am Ende des 13. Jahrhunderts - die Erinnerung an die Selbstdemütigung wachgehalten und mit zusätzlichen Details angereichert 7. Das dargestellte Geschehen gehörte zum Repertoire des nachahmenswerten Verhaltens französischer Könige 8. Auch ansonsten war die Gestalt des demütigen und büßenden Herrschers 3
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Astronomus, Vita Hludovici, ed. H. Sauppe (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 2) [Nachdruck Hannover 1986], 647; The Ecclesiastical History of Orderic Vitalis, ed. M. Chibnall, 6 voll., Oxford 1968-80, vol. 4, 78-108; L. J. Engels, De obitu Wilhelmi ducis Normannorum regisque Anglorum. Texte, mode`les, valeur et origine, in: Me´langes Christine Mohrmann, Nouveau recueil offert par ses anciens e´le`ves, Utrecht 1973, 209-255; A. Patschovsky, Tod im Mittelalter. Eine Einführung, in: A. Borst [e. a.] (eds.), Tod im Mittelalter (Konstanzer Bibliothek 20), Konstanz 1993, 9-24. Otto von Freising, Chronica sive historia de duabus civitatibus, ed. W. Lammers (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 16), Darmstadt 1960, 4-14. Cf. F. Lazzari, Il contemptus mundi nella scuola di S. Vitore, Neapel 1965; R. Gre´goire, Saeculu actibus se facere alienum. Le „me´pris du monde“ dans la litte´rature monastique latine me´die´vale, in: Revue d’asce´tique et de mystique 41 (1965), 253-287. Suger, Vie de Louis VI le Gros, ed. H. Waquet (Les classiques de l’histoire de France au Moyen ˆ ge), Paris 1964, 274-279. A Receuil des historiens des Gaules et de la France, vol. 12, nouvelle e´d. Paris 1877, 193 sq. Cf. G. Spiegel, The Chronicle Tradition of Saint-Denis. A Survey, Brookline-Leiden 1978; B. Guene´e, Les Grandes Chroniques de France, in: P. Nora (ed.), Les lieux de me´moire, vol. 2: La nation, Paris 1986, 89-214.
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Vorbild. Die letzte Beichte gab Gelegenheit, Fehler einzugestehen. Der Katalane Bernat Desclot beschrieb, daß der sterbende König Jakob I. seine Vergehen dem eigenen Sohn mitteilte: Er habe viele üble Taten begangen; statt auf die Mahnungen seines Vaters zu achten, habe er falschen Ratgebern sein Ohr geliehen; seine Herrschaft sei von Sünde überschattet. Die Erfolge seien problematisch, stets gefährdet; Aufstände drohten, Angriffe von äußeren Feinden seien zu befürchten 9. Die ,Narratio de morte Ottonis IV‘, vermutlich vom Walkenrieder Abt Friedrich aufgezeichnet, entwirft ein Szenario des sterbenden Kaisers, der sich Bußübungen auferlegte, in Demut sich seiner Würde entkleidete, sein Trachten auf das Seelenheil richtete, jeglicher Ambition - mangels eines Sohnes und nach dem Verlust der Macht ohnehin illusorisch - entsagend. Trotz großer Schwäche habe sich der Kaiser zu Boden geworfen, auf den Knien habe er um Vergebung seiner Sünden gebeten; während die um ihn versammelten Priester geistliche Lieder anstimmten, richtete er seine Blicke nach oben und verrichtete Gebete; er entblößte seinen Rücken und ließ sich geißeln; nicht genug damit er forderte die Priester auf, ihn heftiger zu schlagen. Die persönliche Sühneleistung mußte dem sterbenden Otto wichtiger als anderen Herrschern sein: Da er kinderlos verstarb, ließ sich die Schuld nicht von den Nachfahren abtragen 10. Diese Sichtweise, die allein im künftigen Heil der Seele ein lohnendes Ziel menschlichen Mühens sah, hat indes dem politischen Machtkampf nur wenig von seiner Schärfe genommen. Auch wenn König Ludwig IX., der Heilige, von Frankreich, Alfons X., der Weise, von Kastilien, König Jakob I. von Arago´n oder Kaiser Karl IV. die Nutzlosigkeit eitlen Strebens schilderten und sich in Betrachtungen der Demut vertieften, so betraf dies nie die Grundtendenz ihres Handelns, war vielmehr nur ein Moment isolierter Reflexion, eingebettet in die Darlegung ihrer Erfolge und ihrer Fähigkeiten. Als politisch Handelnde suchten die Herrscher, nicht allein Machtpositionen zu sichern, sondern sie auch künftigen Generationen zu erhalten. Die Herrschaft den leiblichen Nachkommen zu übertragen, war hierfür der sicherste Weg. Es gab die Hoffnung, die Macht über den eigenen Tod hinaus gestalten zu können. Die Familie sollte das leisten, was dem Individuum zu vollbringen nicht möglich war. Das geeignetste Verfahren, um der mit dem Tod einhergehenden Bedrohung des eigenen Lebenswerkes entgegenzuwirken, war offensichtlich die Autorität des Vaters über den Sohn und seine Nachfahren. Herrschaft als „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ - so die griffige Definition von Max Weber 11 - war am sichersten 9
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Bernat Desclot, Llibre del rei en Pere, in: Les quatre Grans Cro`niques, ed. F. Soldevila, Barcelona 1971, 403-588, hier 459 sq. Narratio de morte Ottonis IV, in: L. Weiland (ed.), Monumenta Germaniae Historica. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, vol. 2, Nachdruck Hannover 1963, 51; B. U. Hucker, Kaiser Otto IV. (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 34), Hannover 1990, 337-341, 524. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. revidierte Aufl., ed. J. Winckelmann, Tübingen 1985, 28.
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wohl im Kreis der eigenen Familie, besser noch gegenüber der eigenen Nachkommenschaft durchzusetzen. Was der Herrschaft - auch der königlichen an langfristiger Wirkung im politischen Raum fehlte, sollte durch die paternalistische Verfügungsgewalt kompensiert werden. Dem Mangel an institutioneller Handlungssicherheit war am besten durch die Berufung auf die familiäre Verbundenheit abzuhelfen. Der pater familias hoffte, erfolgversprechender als in seiner Eigenschaft als Herrscher über Getreue und Untertanen Befehle zu erteilen, um das festzulegen, was zukünftig - auch nach dem eigenen Tod - zu geschehen habe. Erfuhr somit die Herrschaftsausübung auch eine personelle Verengung, so wurde dies durch die erhoffte zeitliche Ausdehnung der Wirksamkeit wettgemacht. Der Befehl an den Nachfolger, von diesem nach dem Tod des Befehlenden auszuführen, multiplizierte seine Wirkung durch die Befehlsgewalt, die dem neuen Herrscher verliehen war. Das Vermächtnis des Herrschers war ein Auftrag an den Nachfolger. Es belastete dessen Herrschaft mit Auflagen. Es leitete den künftigen Übergang der Macht an eine andere Person vor; es verlängerte die eigene Macht desjenigen, der die Anweisungungen an den Nachfolger erließ - zumindest hoffte er sie zu verlängern. Der Gehorsam des Sohnes gegenüber dem Vater war Garant einer gerechten Herrschaft. So sah es Jakob I. von Arago´n, als er - nach der Darstellung des Bernat Desclot - seinen eigenen Ungehorsam beklagte und von seinem Nachfolger die Beachtung der väterlichen Anweisungen verlangte 12. Dem neuen Herrscher war aufgetragen, das Erbe und die Autorität seines Vorgängers zu erhalten, wie umgekehrt nur durch die Aussicht, daß die Herrschaft nicht mit dem Tod ende, die große Kraftanstrengung zu rechtfertigen war, um im Kampf um die Macht bestehen zu können. Eindringlich schilderte diese Erwartung König Alfons X. von Kastilien in seinem ersten Testament vom 8. November 1282: Er befahl, daß das, was er begonnen habe, wachsen und nicht kleiner werden solle. Das, was er als schädlich erachtete, habe er schon zu Lebzeiten zu beseitigen gesucht, um dem Nachfolger noch größere Macht zu ermöglichen. Weniger für sich selbst als für die künftigen Geschicke der Christenheit, seiner Reiche und seiner Familie habe er Erfolg erstrebt. Die Darstellung dieser Erwartungen und Handlungsimpulse nahm auch deswegen breiten Raum ein, um sie mit den Enttäuschungen zu kontrastieren, die der zweitälteste und überlebende Sohn ihm bereitet habe. Daher sollten andere Nachfahren - seine Enkel - die Nachfolge antreten, auf ihnen ruhte die Hoffnung des alternden Königs, sein Lebenswerk fortgesetzt zu sehen 13. Die Befolgung der testamentarischen Bestimmungen wurde allen Getreuen zur Aufgabe gemacht. König Alfons I. von Arago´n band in seinem Testament 12 13
Bernat Desclot, Llibre (nt. 9), 459 sq. Les testaments d’Alphonse X le Savant, ed. G. Daumet, in: Bibliothe`que de l’Ecole des Chartes 57 (1906), 70-99, besonders 77 sq.; A. Ballesteros Beretta, Alfonso X el Sabio, 2. Aufl. Barcelona 1984; R. I. Burns, Emperor of Culture. Alfonso X. the Learned of Castille and his Thirteenth-Century Renaissance, Philadelphia 1990; J. F. O’Callghan, The Learned King. The Reign of Alfonso X of Castile, Philadelphia 1993.
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von 1131 die Großen seines Reiches an ihr Gehorsamsversprechen, das der Tod nicht beende. Sie sollten seine letztwillige Verfügung so befolgen, als ob er noch lebte und unter ihnen weilte 14. Vor allem galt das Testament dem Thronfolger. Er handle vice patris, so beschrieb König Ludwig IX. von Frankreich in seinem zweiten Testament vom Juli 1270 das Verhältnis zu seinem ältesten Sohn Philipp. In den überlieferten Ermahnungen schärfte Ludwig ihm die Pflicht ein, seinem Rat zu folgen und dem Vorbild der Vorfahren nachzueifern 15. Am griffigsten formulierte die Erwartung, das eigene Lebenswerk fortgesetzt zu sehen, Kaiser Friedrich II. in seinen beiden Testamenten aus dem Jahre 1250: Sie enthielten die wortreiche Klage über das menschliche Geschick, auf dem seit dem ersten Sündenfall die Strafe Gottes laste; allen sei der Tod beschieden. Die Sehnsucht, nicht zu sterben, sei angesichts des unwiderruflichen Richterspruches Illusion. Nur die Erlösungstat Christi gebe Hoffnung, nach dem Ende aller Zeiten, nachdem Erde und Himmel vergangen sein werden, in die ewige Glückseligkeit aufgenommen zu werden. Für das diesseitige Leben gebe es indes die Abfolge der Generationen und das Nacheinander der Herrschaft. Aber dennoch, es bestehe die Aussicht, daß der Herrscher seine eigene Macht verlängern könne, daß der Tod ihr kein defintives Ende setze. „Da Wir glauben“ - hieß es in dem zweiten Testament - „daß wir persönlich in der Welt nicht mehr bestehen können, so sorgen Wir dafür, durch den Nachfolger zu leuchten und zu leben, da ihr, Unsere Söhne, gemäß der Vorschrift des römischen Rechts Unsere eigene Person in der Welt darstellt.“ Ähnliches hat Friedrich in seinem ersten Testament geschrieben: „Wir verfügen über das Imperium und unsere Königreiche, auf daß, obwohl den irdischen Dingen entrückt, Wir zu leben scheinen.“ 16 War dies nicht doch eine vergebliche Hoffnung? Selbst weniger exaltierte Erwartungen erwiesen sich als Illusion. Konnte man darauf vertrauen, daß der Nachfolger im Sinne des verstorbenen Herrschers handeln würde? Selbst wenn beide dem gleichen Geschlecht angehörten, war dies eine ausreichende Garantie, daß sie auch vom selben Geist beseelt würden? Das Problem, die Familie des Herrschers und die Herrschaft im Staat miteinander zu verbinden, war nicht gering. Erbenfülle und Erbenmangel waren gleichermaßen möglich. Todesfälle und Heiraten, Zeugungsfähigkeit und Geburten, Minderjährigkeit und Erreichung des Mannesalters waren nur schwer vorauszuschauen und zu planen. Soziales und politisches Chaos konnten daraus entstehen. Das Ankoppeln von Herrscherlegitimation an eine Dynastie, an die stirps 14
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Coleccio´n diplomatica de Alfonso I de Arago´n y Pamplona (1104-1134), ed. J. A. Lema Pueyo (Fuentes documentales medievales del Pais Vasco 27), San Sebastia´n 1990, n. 241, 356-365. Le texte primitif des enseignements de Saint Louis a` son fils, ed. H. F. Delaborde, in: Bibliothe`que de l’Ecole des Chartes 73 (1912), 73-100, 237-254. Weiland (ed.), Monumenta Germaniae Historica. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, vol. 2 (nt. 10), n. 274. Cf. G. Wolf, Die Testamente Kaiser Friedrich II. Eine Erwiderung, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 79 (1962), 341-352, hier 325-334; W. Stürner, Friedrich II., Teil: Der Kaiser 1220-1250, Darmstadt 2000, 585-593.
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regia, trug Unwägbarkeiten in sich. Dem vorzubeugen mußte die Sorge des sterbenden Kaisers oder Königs sein. Es galt, das Chaos zu bändigen. Ein Erbe war zu designieren. Er sollte erst nach dem Tod des Vorgängers in seine vollen Rechte eintreten. Aber auch dann war das Erbe in Gefahr verspielt zu werden: Durch Fehlentscheidungen der Nachfolger, durch Mißachtung der Gesetze von Kirche und Staat, durch mangelnde Einsicht in politische Konstellationen war die Macht bedroht. Auch dagegen glaubte man Vorkehrungen treffen zu können. Der Herrscher konnte seinem Nachfolger die Bahnen der künftigen Machtausübung vorzeichnen. Der Begriff ,Vermächtnis‘ spielt auf diese perspektivische Verlängerung der Macht an. Das biologische Erbe galt als nicht ausreichend; es bedurfte zu seiner Ergänzung der Übertragung einer geistigen Substanz; notwendig war eine inhaltliche Festlegung. Nur so konnte es gelingen, die Macht von den natürlichen und unwägbaren Bedingungen menschlicher Existenz wenigstens zum Teil abzulösen. Nur so war es möglich, dem Sterben des Einzelnen die Kontinuität der Herrschaft entgegenzustellen. Die Illusion einer permanenten Machtausübung über den Tod hinaus knüpfte an eine konzeptionelle Festlegung durch denjenigen, der über die Macht gebot und sie zur Bändigung des Willens seines Nachfolgers einsetzte. Das Erbe mußte wohlgeordnet zurückgelassen werden. Dies war der Anspruch, den die Kaiser und Könige zu erfüllen hatten. Es wurde von ihnen erwartet, daß sie eine Botschaft hinterließen 17. Das Alte Testament bot hierzu Vorbilder. Des Königs David letzte Worte nennen die Grundlage seiner Herrschaft: Gerechtigkeit und Gottesfurcht. Andere - nichtswürdige Leute - glichen verwehten Disteln; seine Macht, sein Haus dagegen sei beständig; es gründe auf einem ewigen Bund (2 Sam 23). „Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben“ forderte der Prophet Jesaja ( Jes 38,1). Und schließlich war die Mahnung Jesu, daß jedes Reich, das mit sich selbst uneins sei, verwüstet werde (Mt 12,25), Warnung und Aufforderung zugleich. Sie wurde im Mittelalter ernst genommen, entsprach sie doch auch der eigenen Lebenserfahrung. Thomas von Aquin verwendete die Formulierung in seinem Fürstenspiegel. In mittelalterlichen Herrschertestamenten, ebenso im Proömium der Goldenen Bulle von 1356 und in der Maiestas Carolini wurden die Worte aus dem Evangelium zitiert 18. Die Generationen übergreifende Zusammenarbeit, das Einvernehmen in 17
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Cf. H. H. Anton, Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit (Bonner Historische Forschungen 32), Bonn 1968. Thomas von Aquin, De regno ad regem Cypri, ed. H. D. Dondaine, in: Thomae de Aquino Opera omnia iussu Leonis XIII edita, t. 42, Rom 1979, 419-471, c. 1, 2; Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. 1356. Lateinischer Text mit Übersetzung, bearb. von K. Müller (Quellen zur neueren Geschichte 25), Bern 1970, 14; Maiestas Carolina, ed. H. Jirecek, in: Codex iuris Bohemici, vol. 2, 2, Prag 1870, 104; H.-D. Heimann, Hausordnung und Staatsbildung. Innerdynastische Konflikte als Wirkungsfaktoren der Herrschaftsverfestigung bei den wittelsbachischen Rheinpfalzgrafen und den Herzögen von Bayern. Ein Beitrag zum Normenwandel in der Krise des Spätmittelalters (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte NF 16), Paderborn [e. a.] 1993, 265 sqq.; J. Dunbabin, The Maccabees as Exemplars in the 10th and 11th
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der zeitlichen Kontinuität, die geordnete Abfolge von Herrschern sollten das abwenden, was das Bibelwort als Gefahr heraufbeschwor. Vorausschauendes Handeln und der Versuch, über künftige Entwicklungen zu verfügen, entsprachen also nicht nur politischer Klugheit, verfolgten nicht nur dynastische Ziele, sie gehorchten göttlichen Anweisungen. Das Wirken Gottes mit der Lenkung der Menschen zu verknüpfen, gehörte zu den Pflichten jedes christlichen Herrschers. Die sapientia des Herrschers, so schrieb Hrabanus Maurus an den jugendlichen König Ludwig ,den Deutschen‘, habe sich an den biblischen Vorbildern, darüber hinaus auch an den historiae über die Taten vergangener Herrscher in früheren Zeiten zu schulen 19. Die reiche Erfahrung der Vergangenheit war Lehrmeisterin. Die Tradition bot Beispiele richtigen Handelns. Das Erbe - nicht allein der Familie, sondern auch königlicher Herrschaft - war fortzusetzen. Den Nachfolgern ein geordnetes Haus zu hinterlassen, die Voraussetzungen für eine christlich fundierte Herrschaft zu legen, gehörte zu den Aufgaben des Herrschers. Der Tod entließ ihn nicht aus der Verantwortung. Die Gestaltungsbefugnis des Herrschers reichte weit in die posteritas. Wie Alfons X. der Weise von Kastilien schrieb, gehörte es zur Pflicht jedes guten Vaters, Ratschläge an den Sohn zu erteilen, genauso wie dies die Pflicht des Herrn gegenüber seinem Vasallen, die des Freundes gegenüber seinem Gefährten sei 20. Das Testament schien das geeignete Instrument dafür zu sein, auch noch über den eigenen Tod hinaus auf die Zukunft einzuwirken, die Nachfahren mit dem eigenen Willen zu prägen. Nach einer bekannten - überspitzt formulierten - Diktion des Rechtshistorikers Heinrich Mitteis wird „im Testament […] der Wille des Menschen unsterblich, der physische Tod wird durch die Waffe des Geistes überwunden“ 21. Für Mitteis ging es um den Erbgang. Was die letztwillige Verfügung des Herrschers darüberhinaus kennzeichnet, ist der Versuch, das künftige politische Handeln zu bestimmen. Hinkmar von Reims sah diese Handlungsweise als notwendig an. In einem Brief an den westfränkischen König Ludwig II. benannte er als Vorbild Pippin, den Vater Karls des Großen. Er habe, als er schwer erkrankte und den Tod herbeinahen fühlte, die Großen des Reiches um sich versammelt. Nach ihrem Rat verfügte er, wie nach ihm seine Söhne Karlmann und Karl das Reich ,fried-
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Centuries, in: K. Walsh/D. Wood (eds.), The Bible in the Medieval World. Essays in Memory of Beryl Smalley, London 1985, 31-42. E. Dümmler/K. Hampe (ed.), Monumenta Germaniae Historica. Epistolae, vol. 5 (Epistolae Karolini aevi 3), Nachdruck Hannover 1978, 423 sq.; K. F. Werner, Gott, Herrscher und Historiograph. Der Geschichtsschreiber als Interpret des Wirken Gottes in der Welt und Ratgeber der Könige (4. bis 12. Jahrhundert), in: E. D. Hehl [e. a. ] (eds.), Deus qui mutat tempora. Menschen und Institutionen im Wandel des Mittelalters. Festschrift für Alfons Becker, Sigmaringen 1987, 1-32, hier 22 sq. Les testaments d’Alphonse X (nt. 13), 94. H. Mitteis, Das Recht als Waffe des Individuums, in: id., Die Rechtsidee in der Geschichte. Gesammelte Abhandlungen und Vorträge, Weimar 1957, 514-520, hier 521.
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lich‘ - das heißt einträchtig miteinander - regieren sollten. Nach diesem Beispiel habe auch König Karl der Kahle gehandelt: Nachdem er keine Heilung von seiner Krankheit mehr erhoffen konnte, zögerte er nicht, seinem Sohn dem genannten Ludwig - nach dem Rat vieler kluger Männer Anweisungen zu erteilen, wie nach seinem Tod zum gemeinen Nutzen und zum Wohl des Volkes zu herrschen sei. Hinkmar sah das Vermächtnis Karls offensichtlich als nicht ausreichend an; er selbst gab Ratschläge für den jugendlichen Herrscher: Er empfahl die Einhaltung der früher beschlossenen Kapitularien, den Schutz der Kirche, den Verzicht auf ungerechte Abgaben und das Bündnis mit seinen nahen Verwandten, die in den anderen Teilen des Frankenreiches herrschten; die Einheit sei zu erhalten. Die Bereitschaft, sich mit den Großen zu beraten, sei notwendig. Hinkmar sah sich hier wohl als Interpret des väterlichen Willens, dessen mangelnde Konkretisierung er nachzuhohlen sich anbot 22. Der Sterbende verfügte über besondere Inspirationen. Seinen letzten Anweisungen zu folgen, war um so mehr bindende Verpflichtung, als sich aus ihnen eine höhere Wahrheit kundtat. Im Angesicht des Todes verfolgte den Herrscher die Sorge um das, was künftig geschehen könnte. Die Viten und Chroniken ließen den sterbenden Herrscher die Zukunft voraussagen. Die prognostische Potenz des sterbenden Herrschers verlieh den letzten Anweisungen eine gesteigerte normative Kraft. Je konkreter und umfassender die Kenntnis künftiger Gefährdungen war, desto besser ließen sich Vorkehrungen treffen und Ratschläge erteilen. Ludwig der Fromme prophezeite angeblich vor seinem Tod die künftigen Bedrängnisse des Reiches 23. Auch dem angelsächsischen König Eduard dem Bekenner werden in den erzählenden Quellen prophetische Gaben bescheinigt. In einer begnadeten Entrückung kurz vor seinem Tod sah er sowohl frohstimmende Ereignisse - es handelte sich um die Ankunft heiliger und gelehrter Männer aus der Normandie auf der Insel -, andererseits um langjährige Kriege, die siebzig Jahre andauern würden; sie seien die Bestrafung für das der Sünde verfallene England 24. Benachteiligten Söhnen konnte in visionärer Schau eine herausragende Position in Aussicht gestellt werden; die Prognose ließ sie sich mit ihrem gegenwärtigen Schicksal abfinden. Die dynastischen Zufälle, das Ableben älterer Erben und das Nachrücken der Jüngeren konnte als das gedeutet werden, was durch den Sterbenden angeblich vorausgesagt und gewollt worden war. Den sterbenden König Wilhelm den Eroberer ließen Ordericus Vitalis und Abt Robert von St. Michel die Zukunft seiner drei Söhne schauen: Dem jüngsten der dreien - Heinrich - wurde angeblich bereits die künftige Erhebung auf den englischen Königsthron vorausgesagt. Dieser wäre damit, obwohl 22
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Hincmari archiepiscopi Remensis Epistolae, in: Recueil des historiens des Gaules, Paris 1874, vol. 9, n. 1, 254-258; J. Devisse, Hincmar de Reims, arche´veˆque de Reims 845-882, 3 voll. (Travaux d’histoire ethico-politique 29), Pais 1975-76. Astronomus, Vita (nt. 3), c. 63; E. Tremp, Die letzten Worte des frommen Kaisers Ludwig, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 48 (1992), 17-36. H. R. Luard (ed.), Lives of Edward the Confessor (Rerum britannicarum medii aevi scriptores 3), London 1858, 129-134, 372 sqq., 40 sqq.
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er keinen Erbteil an der Herrschaft erhalten hätte, reichlich entschädigt worden. Der Sterbende empfahl Geduld und Gottvertrauen dem Sohn, der sich darüber beklagte, daß ihm lediglich eine hohe Geldsumme vermacht würde, daß er gegenüber anderen zurückgesetzt würde 25. Das Erbe anzutreten, verhieß aber nicht ungetrübte Genugtuung. Mochte der Kampf um die Macht sich noch so ungezügelt über moralische Barrieren hinweggesetzt haben, in Anbetracht oder gar im Angesicht des Todes galt es Vorkehrungen zu treffen, nicht allein um das eigene Seelenheil zu retten, nicht allein um sich des Beistandes von Kirchen, Klöstern und Heiligen zu versichern, sondern auch um den Nachfolger vor den Folgen eigener Verfehlungen zu bewahren. Die bedrückende Erkenntnis, daß der Herrscher durch die Herrschaftsausübung Schuld auf sich geladen haben könnte, daß diese Schuld auch die Nachfahren belasten würde, lag schwer auf dem Gewissen. Daß mit dem Besitz und mit der Herrschaft auch die Vergehen, mit deren Hilfe jene erworben worden waren, vererbt würden, gehörte zum Standardargument der christlichen Moraldidaxe 26. Die Sünden des Königs sollten nicht auch noch den Nachfolgern schaden, vielmehr sollten allein die Verdienste all derer, die in rechter elterlicher Linie vorangingen, vererbt werden. Diese Befürchtung und diese Erwartung hat König Alfons X. von Kastilien in eindringlichen Worten in seinem Testament ausgedrückt 27. Die Folgerungen aus dieser Maxime gezogen zu haben, gehörte indes zur Standardanforderung eines jeden Herrschertestaments. Dem Nachfolger sollte die Schuld des Vorgängers nicht auch noch aufgebürdet werden. Unbelastet sollte sein Anfang sein. Es galt, das Unrecht wiedergutzumachen, das der Herrscher anderen zugefügt hatte; zumindest nach dem Tod sollte um Vergebung nachgesucht, die Opfer entschädigt und mit ihnen Versöhnung erreicht werden. Genauso gehörte zu einem vorbildlichen Sterben, denjenigen zu verzeihen, die gegen den Herrscher rebelliert hatten. Die Macht erschien geradezu in ihrer höchsten Steigerung, wo die Begnadigung erfolgte. Die Wirkung dieser Handlung für die Zeit nach dem eigenen Tod hinauszuschieben, steigerte die herrscherliche Willkür. Zugleich sollte sie den Nachfolger von Konflikten entlasten. Die Chance eines Neuanfanges wurde geboten 28. Wohlgeordnet sein Erbe zu 25
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The Chronicle of Robert of Torigni, in: Rerum britannicarum medii aevi scriptores, vol. 82, 4, London 1882, 3-316, hier 86 sq.; Ecclesiastical History of Orderic Vitalis (nt. 3), vol. 4, 100103; J. Le Patourel, The Norman Succession, 996-1135, in: English Historical Review 86 (1971), 225-250; H. E. J. Cowdrey, Death-bed Testaments, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, München 16.-19. Sept. 1986 (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 33), Hannover 1988, vol. 4, 703-24. Cf. H.-J. Schmidt, Arbeit und soziale Ordnung. Zur Wertung städtischer Lebensweise bei Berthold von Regensburg, in: Archiv für Kulturgeschichte 71 (1989), 261-296. Les testaments d’Alphonse X (nt. 13), 76. Daß dies nicht allein Herrscher umtrieb, sondern auch von heiligen Männern berichtet wurde, zeigt die Beschreibung des Todes von Martin von Tours durch Sulpicius Severus, Epistolae tres (Patrologia Latina 80), Paris 1863, col. 336.
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hinterlassen, bedeutete, den Nachfolger bereits in die Herrschaft eingeführt, ihn als künftigen Herrscher kundgetan, ihn von den schädlichen Konsequenzen auch den moralischen - des früheren Herrschaftshandeln bewahrt zu haben und ihm ein möglichst von früheren Konflikten unbelastetes Handlungsumfeld zu hinterlassen. Bereits beim Tode Ludwigs des Frommen erschien das Motiv der von Sünden unbefleckten und von Konflikten bereinigten Herrschaftsübergabe. Dazu gehörte die Versöhnung mit all denen, die den Kaiser bekämpft hatten. Selbst seinem Sohn Lothar habe er die Rebellion und den Verrat verziehen. Selbstverständlich war dies aber offensichtlich nicht. In seiner engsten Umgebung habe die Furcht bestanden, daß Ludwig unversöhnlich sein Leben beenden könnte. Es bedurfte der Fürsprache des Metzer Bischofs Drogo, seines Halbbruders, ihn zu einem wahrhaft herrscherlichen Dahinscheiden zu bewegen. So stellt es sein anonymer Biograph dar 29. Als König Wilhelm der Eroberer starb, habe er die Wiedergutmachung des von ihm selbst angerichteten Unrechts angeordnet. In einer von Ordericus Vitalis dargestellten letzten Rede, habe er seine unzähligen Sünden bereut. Die von ihm zerstörten Kirchen sollten mit seinen Mitteln wiederaufgebaut werden 30. Vorbildlich war in den Augen Frutolfs, des Mönches aus Bamberg, Kaiser Heinrich III.: „An der Schwelle zum Tod befolgte er weisen Rat und erbat von allen, soweit er es konnte, Verzeihung, einigen gab er den Besitz zurück, den er ihnen abgenommen, und allen, die gegen ihn oder die Königsherrschaft strafwürdige Schuld auf sich geladen hatten, verzieh er; seinen Sohn Heinrich setzte er durch die Wahl der Großen zum König ein.“ Nachdem er solchermaßen alles ,wohlgeordnet‘ hatte, beendete er das Leben in Gott 31. Wie der König starb, wie er sein Erbe ordnete, welches Vermächtnis er seinem Nachfolger hinterließ, unterlag einer Entwicklung, die räumlich und zeitlich differierte, aber im 12. und 13. Jahrhundert im mediterranen Europa einschneidende Veränderungen erfuhr. Das Vorrecht des Geblüts als Legitimation königlicher wie auch jeder Herrschaft wurde seit dem hohen Mittelalter besonders von geistlichen Autoren in Frage gestellt. Papst Gregor VII. selbst hat in dem bekannten und vielfach in den kirchenrechtlichen Texten rezipierten Brief an Bischof Hermann von Metz die tradierten Legitimationsgrundlagen des Königtums demontiert. Nicht allein wurde die sakrale Würde der Könige verneint, nicht allein bestritten, daß die Herrscher Wunder vollbringen könnten, nicht nur die Existenz heiliger Könige als seltene Ausnahme hingestellt, noch einschneidender war der Angriff auf die 29
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Astronomus, Vita Hludovici, c. 63, in: Thegan, Die Taten Kaiser Ludwigs. Astronomus, Das Leben Kaiser Ludwigs, ed. E. Tremp (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 64), Hannover 1995. Chronicle of Robert of Torigni (nt. 25), 86 sq.; Ecclesiastical History of Orderic Vitalis (nt. 3), vol. 4, 80-95. R. Buchner (ed.), Frutolfs und Eckehards Chroniken und die anonyme Kaiserchronik (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 15), Darmstadt 1972, 72.
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legitime Abfolge der herrscherlichen Würde vom Vater auf den Sohn. Die elterliche Sorge für die Kinder und deren Verehrung für den Vater wurden als Regungen des Fleisches abgetan. Tugendhaft sei dies nicht. Das Herrschertum könne nicht allein durch Vererbung übertragen werden. Statt in jedem Fall den eigenen Sohn an die Spitze der Herde zu stellen, für die Christus sein Blut vergossen habe, sei es besser, den Geeigneteren und Nützlicheren zum Herrschen zu bestellen. Das hier erkennbare Amtsverständnis vertrug sich nicht mit einer familiär begründeten Gewalt. Die res publica verlangte andere Gesetze als die Familie. Für Gregor war die kirchliche Hierarchie das Gegenbild, in der die Bischöfe allen Menschen in Zuneigung verbunden seien, nicht auf eigene Nachkommen Rücksicht zu nehmen bräuchten und das Heil der Christenheit nicht dem Nutzen leiblicher Verwandten hintanstellen würden. Funktional begründeter Gehorsam wurde verlangt. Die an der Kurie konzipierten Ideen liefen darauf hinaus, abstrakte, von Personen unabhängige, allein über Institutionen und Amtsinhaber verwaltete Herrschaft zu begründen 32. Ähnlich haben auch andere Zeitgenossen Gregors - ebenfalls mit großer Nachwirkung - Tugend gegen Abstammung, verdienstvolles Handeln gegen Würde und Rang, das Sein gegen Namen ausgespielt. „Es ist etwas anderes, durch Verdienst heilig zu sein, als wegen eines Ranges heilig genannt zu werden“, schrieb Petrus Damiani 33. Der Nutzen, den der Herrscher und der König für die res publica erbrachte, wurde gewertet. Ein nüchternes Maßnehmen an der Amtsaufgabe wurde möglich. Die sakrale und charismatische Würde des Königtums wurde zwar damit nicht obsolet. Das Handeln des Herrschers mußte aber mehr als zuvor in den Rahmen ethischer und religiöser Normen eingebunden werden. Königlicher Name, herrscherliche Person und Abkunft aus einem ehrwürdigen Geschlecht genügten immer weniger. Das Gefüge einer institutionalisierten, sich vom Familienmodell partiell lösenden Herrschaft verlangte neue Formen der Legitimierung königlicher Stellung. Es genügte nicht - wie im normannischen Anonymus an der Wende zum 12. Jahrhundert geschehen - die Person des Königs als Garant des Heils zu thematisieren, die sakrale Würde des Königtums herauszustellen und gar den weltlichen Herrscher als Stellvertreter Christi zu deklarieren. Bezeichnenderweise blieben die Texte des normannischen Anonymus während des Mittelalters weitgehend unbekannt 34. Die Entwicklung ging andere Wege. Es waren die Päpste, die sich als vicarii Christi bezeichneten.
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Das Register Gregors VII., ed. E. Caspar, in: Monumenta Germaniae Historica. Epistolae selectae, vol. 2, 1, Berlin 1920-23, n. VIII, 21, 544-563; Corpus iuris canonici, ed. E. Friedberg, vol. 1, Leipzig 1879, col. 756. Petrus Damiani, Liber gratissimus, ed. L. de Heinemann, in: Monumenta Germaniae Historica. Libelli de lite imperatorum et pontificum, vol. 1, ed. E. Dümmler [e. a.], Hannover 1891, 1575, hier 31. Die Texte des Normannischen Anonymus, ed. K. Pellens, Wiesbaden 1966; E. Kantorowicz, „Deus per naturam, Deus per gratiam“. A Note on Medieval Political Theology, in: id., Selected Studies, Locust Valley (N.Y.) 1965, 121-137.
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Dies bedeutete indes nicht, daß die Anbindung des königlichen Amtes an Religion und Kirche gelockert worden wäre. Nur konnte der Herrscher seit den Umbrüchen des Investiturstreites eine herausgehobene Position innerhalb der Christenheit nicht mehr unangefochten kraft seines Amtes und seiner Würde beanspruchen. Der vorbildliche Herrscher hatte sich durch tugendhaftes Verhalten auszuzeichnen. Dazu war es notwendig, sich Wissen über die moralische Bewertung menschlichen Handelns anzueignen. Er mußte Kenntnisse haben, das Gewissen erforschen, seiner Umgebung durch Rat und Wort Vorbild tugendhaften Verhaltens sein. Die Erwartungen an den König waren groß. Auch der Engländer Johannes von Salisbury leugnete in seinem Hauptwerk ,Policraticus‘ - kurz vor 1159 abgeschlossen - die Selbstverständlichkeit vererbter Herrschaft. Er verlangte die Bindung an ethische Normen. Dem stünden aber die Bedingungen königlicher Existenz im Wege. Der Hof und das Gefolge des Königs seien schädliche Brutstätten moralischer Verderbnis. Ihr entgegenzuwirken, vor allem den künftigen Herrscher vor den schlimmen Einflüssen zu bewahren, erfordere den Einsatz von litterati, das heißt gebildeten Klerikern, die rechtes Tun lehren sollten 35. Die Überhöhung des Herrschertums, wie sie besonders unter Kaiser Friedrich II. zu beobachten ist, beruhte weniger auf den sakralen und priesterlichen Funktionen, als auf einer in die Zukunft weisenden Verheißung gesteigerter und heilbringender Herrschaft. Aegidius Romanus betonte zwar gegen Ende des 13. Jahrhunderts in seinem Fürstenspiegel die Gottesebenbildlichkeit des Herrschers. Der gelehrte Augustiner-Eremit führte die Figur des rex quasi semideus ein. Damit wurden aber nicht frühmittelalterliche Vorstellungen der dem Menschlichen entrückten Königswürde reaktiviert. Vielmehr wurden die Erwartungen an die Herrschaft und an die Person des Herrschers gesteigert. Sie orientierten sich an Leistung, Tugend und Kenntnis. Das Königtum war ein Amt. Um es gut auszuführen, bedurfte es der Anleitung. Die Überhöhung war in eine Unterwerfung unter Pflichten umgedeutet worden 36. Die Inszenierung königlicher oder kaiserlicher Herrschaft im Zeremoniell bedurfte immer stärker der Ergänzung durch textbezogene Reflexion und Legitimation. Der erhöhte Regelungsbedarf, die tatsächlich erhöhte Regelungsdichte, 35
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Johannes von Salesbury, Policraticus, ed. C. C. I. Webb, 2 voll., Oxford 1990; id., Entheticus maior and minor, ed. J. van Laerhoven, 3 voll. (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 17), Leiden 1987, vol. 1, 188-204; R. H./M. A. Rouse, John of Salisbury and the Doctrine of Tyrannicide, in: Speculum 42 (1967), 693-709; K. Schreiner, „Hof“ (curia) und „höfische Lebensführung“ (vita curialis) als Herausforderung an die christliche Theologie und Frömmigkeit, in: G. Kaiser/J. D. Müller, Höfische Literatur und Hofgesellschaft. Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld (3.-5. Nov. 1983) (Studia humaniora 6), Düsseldorf 1986, 67-139, besonders 90121. Aegidius Romanus, De regimine principum, ed. H. Samaritanus, Rom 1607 [Nachdruck Aalen 1967]; W. Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 2), Stuttgart 1938, 211-228; F. Merzbacher, Die Rechts-, Staatsund Kirchenauffassung des Aegidius Romanus, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 41 (1954/55), 88-97.
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die größere Kompliziertheit politischer und sozialer Vernetzungen stellten nicht allein größere Anforderungen an das Geschick des Herrschers, sie verlangten auch Stellungnahmen hinsichtlich problematischer moralischer Situationen. Die Durchdringung des alltäglichen Handelns mit christlichen Normen machte auch vor den königlichen Höfen nicht halt. Die Forderungen von Geistlichen zeigten Wirkung. Die rohe Selbstverständlichkeit herrschaftlicher Gewalt wich einem reflektierteren Verständnis der eigenen Rolle und Aufgabe. Die neuen Konzepte von Herrschaft und Gesellschaft veränderten auch die Beziehung zwischen Herrscher und präsumptivem Nachfolger. Die Idonität des Herrschers hatte sich zwar weiterhin durch militärische Tüchtigkeit kundzutun, weiterhin durch kluge Rede, durch die Gewinnung der Zuneigung der Getreuen, die Gewährung von Huld und die Darstellung herrscherlicher Würde. Das Erbrecht befähigte weiterhin zur Nachfolge. Nunmehr mußte aber auch durch geistige Arbeit, durch Reflexion, durch das Abwägen von Vor- und Nachteilen einzelner Maßnahmen und nicht zuletzt durch die Beachtung anspruchsvoller moralischer Standards bewiesen werden, daß der Herrscher zu seinem Amt geeignet sei. Neue Herausforderungen mußten beachtet werden. Der Einsatz von Geld bei der Herrschaftsausübung stellte eines der Probleme dar - sowohl für die moralische Bewertung als auch für den geschickten und planvollen Umgang mit den Finanzen. Die Entfaltung der Geldwirtschaft und die Entstehung des Steuerstaates verschärften dieses Problem. Moralität und Effizienz miteinander zu verbinden wurde zu einem Anliegen der Fürstenspiegel, die seit dem 13. Jahrhundert mehr boten als Tugendkataloge, nämlich Erziehungskonzepte. Giraldus Cambrensis schrieb ein Werk zur Erziehung des Herrschers. Darin eingeschlossen war auch das Testament, das König Heinrich II. von England erlassen habe. Es enthielt bindende Verpflichtungen für den künftigen König 37. Helinand von Froidmont verfaßte im Auftrag König Philipps II. August von Frankreich sein Werk ,De regimine principum‘. Spätere Autoren rückten die pädagogische Intention noch stärker in den Vordergrund. Im engen Zusammenhang mit dem französischen König Ludwig IX. dem Heiligen entstanden die Werke des Franziskaners Gilbert von Tournai ,De eruditione regum et principum‘ und des Dominikaners Vinzenz von Beauvais ,De eruditione filiorum regalium‘ und ,De morali principis instructione‘. Beide Autoren waren auch Ratgeber des Königs. Zur Instruktion von König und Thronfolger gehörte auch die Verfügbarmachung der Exempel der Geschichte. Ihre enzyklopädische Aufbereitung im ,Speculum historiale‘ durch Vinzenz wurde von Ludwig IX. und seinem ältesten Sohn, dem späteren König Philipp III., gefördert. Ihnen wurde das fertige Werk übergeben 38. Aegidius Romanus schrieb das bedeutendste und am 37
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Giraldus Cambrensis, De principis instructione liber, ed. G. R. Warner in: Rerum britannicarum medii aevi scriptores, vol. 21, 8, London 1891, 191 sqq. Cf. A. L. Gabriel, Vincenz von Beauvais - ein mittelalterlicher Erzieher, Frankfurt a. M. 1997; A. Fijalkowski, Puer eruditus. Idee edukacyjne Wincentego z Beauvais, Warschau 2001; R. Hale´vi ˆ ge aux Lumie`res, Paris 2002. (ed.), Le savoir du prince du Moyen A
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meisten rezipierte Werk aus der Gattung der mittelalterlichen Fürstenspiegel: ,De regimine principum‘. Die Formung des künftigen Herrschers wurde zu einer Aufgabe, von der das Schicksal des Reiches und das Wohl der Untertanen abhing. Die ,Proverbia‘ des Raimundus Lull stellen eine Spruchsammlung dar, die dazu dienten, die Administration des Herrschens effizienter und zugleich moralisch unanfechtbar zu machen: Finanzen und Wirtschaft müßten durch Berichte, Rechnungsbelege und Kontrollinstanzen geordnet, Kriege planvoll vorbereitet und durchgeführt werden, Vorräte gesammelt, die Bereitsstellung von Geldern gesichert sein. Der Text zielte auf die in den Augen des Katalanen noch nicht abgeschlossene Reconquista. Ihm ging es nicht um den innerchristlichen Machtkampf, sondern um die Niederwerfung der Muslime 39. Jakob I. von Arago´n hat sich selbst der Mühe unterzogen, einen Text zur Erziehung eines Herrschers zu schreiben. Bestimmt war die Schrift, die um 1250 angefertigt wurde, für seine Söhne. Er hat sich dabei der Hilfe gelehrter Geistlicher bedient, vermutlich von Templerbrüdern. Der kleine Traktat stellte Sentenzen aus der Bibel, den Kirchenvätern, aber auch aus Texten antiker Philosophen zusammen. Ihr Ziel war es, Wissen zu vermitteln; dies sei die Grundlage einer gerechten und zugleich erfolgreichen Herrschaft 40. Die moralische Bindung von Herrschaft an enger gezogenen Normen fand ihren Ausdruck in den Mahnschreiben der Könige an ihre Nachfolger. Indem sie die Nachfolger für die Zeit von deren Herrschaft vorzubereiten und deren Regierungshandeln zu prägen suchten, haben sie den Charakter von Vermächtnissen des Verstorbenen 41. Änderungen des Erbrechtes und das Vordringen römisch-rechtlicher Formen der Testierfreiheit förderten die Entfaltung herrscherlicher Anweisungen an die Nachfolger. Das Testament wurde zum Instrument, Handeln zu reglementieren. Der Wille des Testators wurde zum Rechtsgrund. Die Zunahme der Gestaltungsmöglichkeit drängte ältere Formen zurück, die stärker auf dem Automatismus in der Erbfolge beruhten. Für die politische Herrschaft bedeutete dies die Chance, politische Vorgaben für den Nachfolger zu formulieren. Angesichts der unterschiedlichen Verbreitung römisch-rechtlicher Praktiken in Europa und angesichts der Tatsache, daß nördlich der Alpen die Abfassung von Testamenten erst seit der Mitte des 13. Jahrhunderts üblich wurde, erwies sich auch die Formulierung der letztwilligen herrscherlichen Verfügungen abhängig vom Entwicklungsstand rechtlicher Normierung der Erbfolge. Wenn im 13. Jahrhundert in Frankreich, Sizilien, Arago´n und Kastilien die Herrscher Empfehlungen an ihre Nachfolger formulierten, stand ihnen ein Instrumentarium zur Verfügung, das differenzierte Aussagen mit rechtlicher Verbindlichkeit verband. In Deutsch39 40
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Aegidius Romanus, De regimine (nt. 36); Raimundus Lullus, Proverbia, Paris 1516. Libre de saviesa del Rey En Jacme I d’Arago´, ed. G. Llabre y Quintana (Biblioteca Catalana segle XIII 8), Santander 1908. Cf. D. Nothdurft, Studien zum Einfluß Senecas auf die Philosophie und Theologie des 12. Jahrhunderts (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 7), Paderborn [e. a.] 1963.
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land und in England lassen sich zwar auch Herrschertestamente nachweisen, ihre Aussagen hinsichtlich des künftigen politischen Verhaltens waren indes äußerst reduziert. Sie konzentrierten sich auf die Benennung des Thronfolgers, die Verteilung des Erbes, die Aussetzung von Stiftungen, die Festlegung der Grabstätte. Wie auch der Inhalt des Testaments beschaffen sein mochte, seine Abfassung verlangte in jedem Fall wohlüberlegte Entscheidungen seitens des Herrschers. Voraussetzung hierfür war, daß der Testator im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war. Die Verrechtlichung der letztwilligen Verfügung duldete nun keine visionäre Entrückung und keine seelischen Ekstasen. Glaubte man im frühen und bis ins hohe Mittelalter hinein den Worten desjenigen, der an der Schwelle des Todes stand, besondere Wahrheiten entnehmen zu können, so legte der Testator nunmehr Wert auf die Feststellung, daß er bei klarem Verstand den Text aufgesetzt habe. Hatte früher mitunter der sterbende Herrscher die Zukunft in visionärer Schau erkannt, so verlangte das schriftlich abgefaßte Testament rechtliche Sicherungen. Überzog der Vorgang des Sterbens die Rede des Herrschers zuvor mit einer außergewöhnlichen Aura, so war nunmehr die nüchtern abgefaßte Willensbekundung entscheidend 42. Neben den strukturellen Vorausetzungen zur Abfassung von Anweisungen des Herrschers an seinen Nachfolger gab es auch situative. Einen bevorstehenden - oder zumindest als bevorstehend angenommenen - Herrscherwechsel galt es vorzubereiten. Testamente waren aber nicht allein in der Befürchtung oder Ahnung eines nahen Todes abgefaßt worden, sondern auch in einer Situation gefährdeter Herrschaft. Zur Vorbereitung eines Kreuzzuges gehörte es, das Erbe geordnet zurückzulassen, den Nachfolger designiert, ihm Verhaltensmaßregeln hinterlassen zu haben. Bevor Konrad III. von Deutschland aus ins Heilige Land zog, konnte er auf einem Hoftag zu Frankfurt 1147 die Großen des Reiches dafür gewinnen, daß sie seinen Sohn Heinrich zum römischen König wählten. Konrad setzte für die Zeit seiner Abwesenheit den Mainzer Erzbischof und den Abt von Corvey als Prokuratoren für den erst zehnjährigen designierten Nachfolger ein. Von schriftlichen oder mündlichen Anweisungen, wie die Herrschaft auszuüben sei, wird indes nicht berichtet. Es lag wohl auch kein Testament vor, dessen Geltung erst nach seinem eventuellen Ableben in der Ferne beginnen sollte. Es sei Konrad allein darum gegangen - so heißt es in der Fortsetzung der Chronik von Gembloux -, daß das Reich während seiner Abwesenheit nicht ohne König sei und daß kein Aufruhr entstehe 43. Kaiser 42
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Cf. P. Bender, Die Rezeption des römischen Rechts im Urteil der deutschen Rechtswissenschaft (Rechtshistorische Reihe 8), Frankfurt a. M. 1979; W. Sellert, Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in Deutschland von den Anfängen bis zum Beginn der frühen Neuzeit, in: H. Bookmann/L. Grenzmann/B. Moeller/M. Staehelin (eds.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, 1. Teil (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Kl., 3. Folge, 228), Göttingen 1998, 115-166. Continuatio Gemblacensis anno 1136-1148, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores, vol. 6, ed. G. Pertz, Hannover 1844, 385-390, hier 389; Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I. Imperatoris, ed. G. Waitz/B. von Simson (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum
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Friedrich I. hatte lange vor seinem Aufbruch zum Kreuzzug die Nachfolge geregelt. Empfehlungen an seinen Sohn Heinrich, wie er sich verhalten solle, sobald er die selbständige Herrschaft antrete, unterblieben aber. Bindungen über den Tod hinaus gab es in diesem Fall nicht. Die Anweisungen, die er auf dem Zug ins Heilige Land seinem Sohn übermittelte, betrafen gegenwärtiges Regierungshandeln und können nicht als Vermächtnis für künftiges Tun aufgefaßt werden 44. Philipp II. von Frankreich dagegen fertigte vor dem Aufbruch ins Heilige Land im Juni 1190 das erste seiner drei überlieferten Testamente an. Es regelte nicht allein die Herrschaft nach seinem Tod; es war zugleich ein Regierungsprogramm für die Zeit bis zu seiner möglichen Wiederkehr in sein Königreich 45. König Ludwig IX. von Frankreich hat sein letztes Testament während der Überfahrt nach Tunis aufsetzen lassen. Datiert ist es im Juli des Jahres 1270, angefertigt auf seinem Schiff vor den Küsten Sardiniens 46. Die Erwartungen einer Steigerung herrscherlicher Machtfülle scheinen insgesamt die Weitergabe von Erwägungen begünstigt zu haben. Das Vermächtnis an den Nachfolger entsprang einer politischen Konstellation, die einerseits durch krisenhafte Zuspitzung, andererseits durch gesteigerte Zukunftserwartung gekennzeichnet war. Beide Momente sind unterschiedlich gewichtet. Gemeinsam war aber allen ausführlicheren Vermächtnissen die Annahme einer den Tod überdauernden Regelungskompetenz. Zugleich erlauben die Herrschertestamente auch, einen Blick zurück, auf die Vergangenheit, zu werfen. Sie boten die Gelegenheit, Rechenschaft abzulegen über das eigene Tun. Indem der Herrscher Ziele und Voraussetzungen seines Handelns seinem Nachfolger darlegte, durchdachte er zugleich die Grundlagen seiner Herrschaft. Das politische Vermächtnis ermöglichte, ein Resümee zu ziehen. Das eigene Handeln und die damit verknüpften Ziele konnten dabei kritisch reflektiert, mitunter sogar korrigiert werden. Nicht selten wurden deshalb auch Abweichungen vom bisherigen eigenen Handeln empfohlen. Es war möglich, das zu benennen, was einem selbst zu tun versagt geblieben war. Ja es wurden mitunter vom Testator sogar Fehler eingestanden, die als Sünden benannt und bekannt wurden, was zur Folge hatte, daß dem Nachfolger aufgetragen war, diese Verfehlungen zu korrigieren oder zumindest die Opfer und Benachteiligten des bisherigen Tuns zu entschädigen. Die testamentarische Anweisung, auf Teile der Herrschaft zu verzichten, stellte den Nachfolger vor besonders große Probleme. Das Bestreben, die Herrschaft zu sichern und das Erbe unangefochten anzutreten, stießen sich an den Bemühungen, die Macht möglichst weit auszudehnen. Vor diesem Dilemma
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Germanicarum in usum scholarum separatim editi 46), Hannover 1912, 63 sq.; W. Bernhardi, Jahrbücher der deutschen Geschichte. Konrad III, Teil 2, Leipzig 1883, 545 sq., 558. Monumenta Germaniae Historica. Friderici I. Diplomata (Diplomata regum et imperatorum Germaniae 10), ed. H. Appelt [e. a], vol. 5, Hannover 1990, n. 1009. Chartes et diploˆmes relatifs a` l’histoire de France. Recueil des actes de Philippe Auguste, ed. H. F. Delaborde, vol. 1, Paris 1916, 416 sqq., n. 345. Layette du tre´sor des chartes, vol. 4, ed. E. Berger, Paris 1902, 468 sqq., n. 730.
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stand König Alfons III. von Arago´n. Sein Vater, Peter III., hatte in seinem letzten Testament, am 2. November 1285 eine Woche vor seinem Tod abgefaßt, den Verzicht auf das regnum Siciliae angeordnet; es sollte mit allen Rechten der römischen Kirche restituiert werden. Die Gefangenen - unter ihnen war auch der gleichnamige Sohn und Thronfolger Karls I. von Neapel - befahl er frei zu lassen 47. König Alfons indes wie auch sein jüngerer Bruder Jakob mißachteten den väterlichen Willen. Sie hielten an der Herrschaft über Sizilien fest. Lediglich zur Befreiung des neapolitanischen Thronfolgers Karl waren sie drei Jahre später bereit, allerdings unter der Bedingung, daß mehrere Geiseln aus der königlichen Familie gestellt wurden 48. Bemerkenswert ist nun, daß das zweifelsfrei echte Testament Peters nachträglich umgeformt wurde. Der Text wurde zwar in den königlichen Registern aufgezeichnet, von späterer Hand aber durchgestrichen. Die zeitgenössische und spätere Chronistik hat die letztwillige Verfügung dann auch inhaltlich verfälscht. Bernat Desclot, der am aragonesischen Hof hohe Ämter innehatte und nicht selten aus Urkunden des Kronarchivs zitieren konnte, berichtete ausdrücklich, daß das Königreich Sizilien mit allen Rechten an den Zweitältesten, an Jakob, übertragen worden sei; falls dieser ohne Erben sterben sollte, wäre der dritte Sohn, Friedrich, als Erbe vorgesehen. Peter habe sogar noch kurz vor seinem Tod das sizilische Unternehmen gerechtfertigt 49. Vierzig Jahre nach dem Tod Peters III. weiß auch Ramon Muntaner nichts von einem Verzicht auf Sizilien. Im Gegenteil habe er Jakob dieses Königreich als Erbschaft übertragen. Noch später hat Peter IV. die Willenskundgebung des sterbenden Vorgängers an die Söhne allein auf den Auftrag reduziert, das Königreich Mallorca zu erobern, womit die eigenen Ziele Peters vorgezeichnet worden wären 50. Die Intention, den Nachfolgern den Verzicht auf die Herrschaft in Sizilien zu empfehlen und damit die Voraussetzungen für einen Ausgleich mit den Anjou-Herrschern in Neapel, mit Frankreich und vor allem mit der päpstlichen Kurie zu schaffen, ist in ihr Gegenteil verkehrt worden 51. König Alfons III. hat, als er sein Testament im Jahre 1287 abfaßte, weiterhin über Sizilien verfügt und die Nachfolge zugunsten von Angehörigen seines Hauses angeordnet. Erst durch den Vertrag von Tarascon vier Jahre später war er zu einem Verzicht bereit. Die darüber ausgestellte Urkunde wurde dann seinem eigenen Testament hinzugefügt. Gleichwohl, auch diese letztwillige Verfügung wurde erneut mißachtet, allein die Fassung des Testaments von 1287 ausgeführt, 47
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Cf. P. Koch, Die letztwilligen Verfügungen König Peters III. von Aragon und die Sizilien-Frage, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 24 (1968), 79-117; Text des Testaments ibid., 115 sq. Cf. E. G. Leonhard, Gli Angioni di Napoli, Neapel 1967, 167-257. Bernat Desclot, Llibre (nt. 9), 583-587. Cro`nica de Ramon Muntaner, in: Les quatre Grans Cro`niques (nt. 9), 665-944, hier 803 sqq.; Cro`nica de Pere el Cerimonio´s, ibid., 1001-1158, hier 1038. Cf. V. Salavert Roca, La corona de Arago´n en le mundo mediterra´neo del siglo XIX, in: VIII Congreso de Historia de la Corona de Arago´n. Valencia 1-8 oct. 1967, II: La corona de Arago´n en el siglo XIV, vol. 3, Valencia 1973, 31-64.
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erneut die Intention des Vorgängers verfälscht und der Konflikt um Sizilien weiter ausgefochten 52. Das Testament des Herrschers diente zweierlei Zielen: der Sicherung des Seelenheils und der Sicherung der Herrschaft. Schenkungen an Kirchen dienten dem ersten Ziel. Eine geordnete Nachfolge dem zweiten. Beide Absichten konnten indes in einem Herrschertestament miteinander in Konflikt geraten. Dies lag daran, daß die frommen Stiftungen, falls sie eine außergewöhnliche Größenordnung erreichten, die Substanz der materiellen Grundlagen des Königtums gefährden konnten. Als König Heinrich II. von England starb, hinterließ er seinem Erben Richard den Auftrag, an der Spitze eines Heeres zur Befreiung des Heiligen Landes zu ziehen. Der Kreuzzug als Sühneleistung für die Ermordung von Thomas Becket, des Erzbischofs von Canterbury, war vom Vater bereits versprochen worden. Zur Verteidigung der heiligen Stätten hat er in seinem Testament aus dem Jahre 1182 umfangreiche Geldsummen hinterlassen. Einzelstiftungen gingen an Templer und Johanniter. Wie in fast allen überlieferten Herrschertestamenten des 13. Jahrhunderts war die Unterstützung des Heiligen Landes ein wichtiges Anliegen. Desweiteren sah Heinrich die Rückgabe unrechten Eigentums an die Kirche vor. Schulden sollten bezahlt werden 53. In späteren Testamenten verzichteten indes die Könige Englands darauf, politische Vorgaben zu formulieren und beschränkten sich darauf, die Rückzahlung der ausstehenden Schulden anzuordnen. Heinrich III. machte dabei aber in seiner letztwilligen Verfügung von 1253 die Einschränkung, daß die Schuldentilgung nur in Höhe der Einkünfte aus den königlichen Domänen erfolgen sollte. Veräußerungen oder sonstige Entfremdungen des königlichen Besitzes schloß der König aus 54. In Deutschland war es ebenfalls nicht üblich, genaue Anweisungen an den Nachfolger zu hinterlassen, um die Opfer der moralischen Verfehlungen des sterbenden Königs beziehungsweise Kaisers nachträglich zu entschädigen. Auch die letztwilligen Verfügungen von Kaiser Otto IV. bildeten hierbei keine Ausnahme. Als Exkommunizierter scheint er zwar besondere Anstrengungen unternommen zu haben, sein eigenes Regierungshandeln als Ansammlung von Verfehlungen darzustellen. Die Gewißheit, daß ihm ein Sohn versagt geblieben war, der zum römischen König hätte erhoben werden können, darüber hinaus die aussichtslose Lage des welfischen Anhangs zur Zeit seines Todes, hielten ihn davon ab, einem Nachfolger die Wiedergutmachung zu überlassen. Die zweifelsohne bei ihm vorhandenen moralischen Skrupel mußte er selbst - durch eigene Taten - besänftigen. Nach Aussage der ,Narratio de morte Ottonis IV‘ hat er 52
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Cf. L. Klüpfel, Die äußere Politik Alfonsos III. von Aragonien (1285-1291) (Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 35), Berlin-Leipzig 1911/12, 40 sqq.; M. Riu Riu, Manual de Historia de Espan˜a, vol. 2: Edad Media, Madrid 1989, 393. Giraldus Cambrensis, De principis instructione (nt. 37), 191 sqq. Collection of all the Wills … of the Kings and Queens of England …, ed. J. Nichols, London 1780, 7-21.
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gegenüber dem Hildesheimer Bischof versprochen, der Kurie für alle Schäden Genugtuung zu leisten. Es blieb ihm aber offensichtlich nur der Ausweg, durch die Inszenierung exzessiver Bußübungen seine rechte Gesinnung zu demonstrieren 55. Sein Testament enthielt daher auch keine Regelungen zur Entschädigung, keine Anweisungen zur Schuldentilgung, keine Hinweise zum künftigen politischen Verhalten 56. Die bedrückende Erkenntnis, schuldhaft gehandelt zu haben, belastete auch andere Herrscher. Indem sie aber über Nachfolger in der eigenen Familie verfügten und über sie gebieten zu können glaubten, eröffnete sich ihnen ein Ausweg, künftige Moralität mit vergangener Opportunität zu versöhnen, freilich auf Kosten der Machtposition des Nachfolgers. Was als Schuld angehäuft worden sein mochte, hatte der Nachfolger abzutragen. Diese Pflicht wurde eingeschärft, selbst auf die Gefahr hin, die Grundlagen der königlichen Herrschaft zu schwächen. König Alfons X. orientierte sich, als er 1282 sein erstes und ein Jahr später sein zweites Testament abfaßte, an christlichen Idealvorstellungen. Der Nutzen für die christianitas sollte gemehrt werden, nicht allein der für die Hispania. Er gebot seinem Nachfolger, die Schulden an die Kaufleute zu begleichen, den Vasallen den ausstehenden Sold zu zahlen und die Steuern zurückzuzahlen, die ungerechtfertigterweise von Geistlichen eingezogen worden waren. Gefährlicher noch für die königliche Zahlungsfähigkeit war die Aufforderung, all die Kreuzzugsgelder wieder zurückzuerstatten, die nicht zu ihrem Zweck - dem Kampf gegen die Heiden und der Verteidigung des Landes gegen die Muslime - verwendet worden waren 57. Auch für Kaiser Friedrich II. stellte die Abfassung des Testaments die Gelegenheit dar, die ethischen Anforderungen des Herrscheramtes für die Nachfahren herauszustellen. Wiederum wurde das Thema der Finanzverfassung berührt. Friedrich trug seinen Erben auf, die Schulden an die Kaufleute zurückzuzahlen. Die Pflicht, außerordentliche Leistungen - collectae - an den König zu zahlen, wurde eingeschränkt. Nur noch diejenigen Abgaben seien zu entrichten, die auch schon zur Zeit König Wilhelms II. eingezogen worden seien. Sollten damit die Errungenschaften der königlichen Finanzverwaltung, die unter Friedrich eine beträchtliche Steigerung der Einnahmen erreichte, zur Disposition gestellt werden? Eine Korrektur den Nachfolgern zu empfehlen, hätte die große Finanzkraft des sizilischen Königtums empfindlich getroffen. Indes verzichtete Friedrich auf eine Präzisierung. Der Hinweis auf das alte Recht ließ sich sogar leicht als eine Legitimierung der Verfahren königlicher Finanzverwaltung verstehen. Es ging offensichtlich um eine Klarstellung: Die Besteuerung aller Untertanen bedeute keine Minderung von deren Rechtsstellung - auch nicht die des Adels. Friedrich garantierte in seinem Testament die persönliche Freiheit für jeden Bewohner des Königreiches Sizilien. Die Rechte aller Lehnsträger des Königrei55 56 57
Hucker, Kaiser Otto IV. (nt. 10), 331-341, 659-670. Narratio de morte Ottonis IV (nt. 10), 51 sqq, n. 42. Les testaments d’Alphonse X (nt. 13).
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ches Sizilien müßten von Konrad, dem designierten Nachfolger, anerkannt werden. Auch kirchliche Institutionen schienen Nutznießer der testamentarischen Verfügungen zu sein: Ihnen sollten nach dem Tod Friedrichs alle Güter zurückgegeben werden, über die der königliche Hof bis dahin widerrechtlich verfügt hatte. Besonders dem Templerorden sei Genugtuung zu leisten. Sofern königliche Dienstleute Kirchen beschädigt hätten, müßten sie sie wiederherstellen. Für die Rettung seiner Seele verfügte Friedrich die Bereitstellung einer hohen Geldsumme, die zur Verteidigung des Heiligen Landes verwendet werde sollte. Selbst der römischen Kirche, dem erbitterten Gegner Friedrichs, müßten alle Rechte zurückerstattet werden. War dies ein Angebot, die Gunst des Papsttums für die Nachfahren zu gewinnen? Wenn dies tatsächlich beabsichtigt war, dann wurde dies aber durch die Kautelen unmöglich gemacht, die der sterbende Kaiser aufstellte. Nicht allein die Rechte und der honor des Imperiums müßten gewahrt bleiben, sondern auch die seiner Erben und aller Getreuen. Vor allem aber beruhte das Angebot auf Gegenseitigkeit: Auch das Papsttum hätte alle Rechte, die dem imperium gebührten, zurückzuerstatten 58. Dennoch gehörte die Bereitschaft, Machtmittel abzutreten, auf Rechte zu verzichten, Einnahmen zu beschränken, unrecht erworbenes Gut zurückzuerstatten und den Gegnern wie Partnern seiner Herrschaft Entschädigungen und Schuldenrückzahlung anzubieten, für Friedrich zu den wesentlichen Inhalten seiner beiden Testamente. Ungeachtet der Tatsache, daß er dabei vorsichtig verfuhr, Bedingungen formulierte und Präzisierungen vermied, kam er den Erwartungen nach, die dem Herrscher ein friedvolles Hinscheiden vorschrieben und die Aussöhnung mit den Feinden geboten. Die Wiedergewinnung der Gunst der Kirche und die Begleichung der eigenen Schuld und der Schulden war den Nachfolgern aufgetragen. Es sollte ihnen erspart sein, ein problembehaftetes Erbe anzutreten. Noch stärker ausgeprägt war die Bereitschaft, in ihren letztwilligen Verfügungen Schmälerungen der Machtbasis hinzunehmen, bei den französischen Herrschern des 13. Jahrhunderts. König Philipp II. gab vor, das Wohl der Untertanen, den öffentlichen Nutzen und das Heil der Christenheit und sein eigenes Seelenheil den Erfordernissen der Machterweiterung und Machtsicherung vorzuziehen. Er gebot, daß nach seinem Tod der Bischof von Paris, der Abt von St. Victor und der königliche Thesaurar die Hälfte des Staatsschatzes nicht allein für die Unterstützung von Kirchen, welche durch vergangene Kriege zerstört worden waren, verwenden sollten, sondern auch für Zahlungen an all diejenigen, die durch die Erhebung von Zöllen durch den König geschädigt worden waren und nun in Armut leben müßten. Der König stellte eine teilweise Entschädigung in Aussicht. Indem Philipp befahl, die Folgen seines eigenen Handelns abzumildern, stellte er seiner eigenen Herrschaftspraxis ein negatives Urteil aus. Indem er aber die Maßnahme zur Entschädigung auf die Zeit nach seinem Tod verschob, blieb seine eigene Herrschaft von den Konsequenzen der Anordnung 58
Weiland (ed.), Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 2 (nt. 10), n. 274.
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verschont. Nicht anders handelte er bei dem Testament, das er kurz vor seinem Tod im September 1222 abfaßte: 50 000 Pfund Pariser Münze waren vorgesehen, damit die Testamentsexekutoren diejenigen entschädigen konnten, von denen der König zu Lebzeiten ungerechterweise Abgaben eingezogen hatte. Die in Aussicht gestellte Summe war sehr hoch. Keine andere Stiftung hat sie übertroffen. Indes hat der König ein Jahr später sein Testament korrigiert: Nunmehr stand die Finanzierung neuer Kreuzzugsunternehmungen im Zentrum seines Interesses: Die Templer und Johanniter sollten jeweils 300 000 Pariser Pfund erhalten. Von einer Entschädigung war keine Rede mehr, jedoch hätte die dem Thronfolger auferlegte Pflicht die Finanzen des Königreich gleichfalls in bedrohlicher Weise geschwächt 59. Philipps Sohn und Nachfolger Ludwig VIII. sah, als er bereits kurz nach seinem Herrschaftsantritt sein Testament abfaßte, die Rückzahlung der Schulden vor. Bemerkenswert ist auch hier, daß der König den Beginn dieser Zahlungen auf die Zeit nach seinem Tod verschob. Immerhin war ihm die Aufforderung anscheinend so wichtig, daß die dafür notwendigen Zahlungen erste Priorität besaßen. Falls die vorhandenen Gelder und beweglichen Güter nicht für alle Zahlungsaufforderungen, die das Testament vorsah, ausreichten, sollten die den Kirchen und den Armen ausgesetzten Legate geschmälert werden 60. Deutlicher noch trat die Diskrepanz zwischen Erfüllung moralischer Normen und den Erfordernissen königlicher Herrschaft bei den letztwilligen Verfügungen von König Ludwig IX. von Frankreich hervor. Das Testament des Königs vom Februar 1270 sah umfangreiche Stiftungen an Kirchen, religiöse Gemeinschaften und Arme vor. Es war dabei sogar einkalkuliert, daß die hohen Summen, die in Aussicht gestellt wurden, die Zahlungskraft des königlichen Hofes übersteigen könnten. Der Verkauf von Wäldern und von anderen Königsgütern wurde in diesem Fall angeordnet 61. Die Belehrungen an seinen ältesten Sohn vermutlich kurz vor dem Aufbruch zu seinem zweiten Kreuzzug niedergeschrieben - drangen in erster Linie auf die Erfüllung religiöser Pflichten. Machtpolitische Ziele waren weitgehend ausgeblendet. Kriege gegen Feinde innerhalb der Christenheit seien zu vermeiden. Angriffe auf die eigenen Rechte müßten - so weit dies möglich wäre - mit anderen Mitteln als mit denen der militärischen Gewalt abgewehrt werden. Ludwig schwieg sich aber aus, wie dies zu geschehen habe. Der Hinweis, daß der Thronfolger es wie der heilige Martin halten sollte, war wenig konkret. Falls ein Krieg doch nicht zu verhindern sei, müsse er so geführt werden, daß möglichst geringe Zerstörungen angerichtet würden. Vor allem das Gut der Kirchen und das Leben der Geistlichen seien zu schonen. Seinem Nachfolger legte Ludwig auf, das Gut, das er selbst oder seine Vorgänger auf unrechte Weise erworben hatten, zurückzuerstatten. Er be59 60
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Chartes (nt. 45), 416 sqq, n. 345; A. Cartellieri, Philippe II Auguste, vol. 4, Paris 1921, 653. Gesta Ludovici VIII Francorum regis, in: Recueil des historiens de la Gaule, vol. 17, Paris 1818, 302-311, hier 310 sq. Layette du tre´sor (nt. 46), 419 sqq, n. 5638.
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fahl ihm, Untersuchungskommissionen einzusetzen, die in allen Zweifelsfällen die jeweiligen Besitzrechte klären sollten. Die Testamentsexekutoren sollten über die Erfüllung der Bestimmungen wachen. Ihre Tätigkeit lag außerhalb der Kontrolle des neuen Königs. Dessen Herrschaft endete dort, wo der Wille seines verstorbenen Vorgängers ausgeführt werden sollte. Der spätere Biograph des heiliggesprochenen Königs, Jean de Joinville, ließ Ludwig gar die Anweisung erteilen, daß künftig die Steuern zu vermindern seien. Die Freiheiten der Städte und die Rechte des Adels seien zu schützen. Der Nachfolger müsse das Recht beachten, selbst wenn dies auf Kosten der königlichen Machtposition geschähe 62. Das Vorbild des heiligen Königs wurde in Frankreich für die folgende Zeit prägend. Die Nachfolger konnten sich den strengen moralischen Anforderungen des Regierungshandelns bei der Abfassung ihrer letztwilligen Verfügungen nicht entziehen. Die Verringerung der Abgabenlast, gar die Abschaffung außerordentlicher Steuern, die Entschädigung von Opfern königlicher Politik wurden in der Umgebung Ludwigs IX. und noch ausgeprägter bei seinen Nachfolgern moralisch bindende Vorgaben. Kombiniert mit den großzügigen testamentarischen Stiftungen hätte dies zu einer erheblichen Belastung der königlichen Finanzen geführt. Bereits zu Lebzeiten des Königs kritisierten Angehörige seines Hofes die umfangreichen Almosen an Arme und Kirchen. Die liberalitas sei exzessiv 63. Gleichwohl ließen die Könige nicht davon ab, durch Schenkungen und Entschädigungen die materiellen Ressourcen des Königtums zu schmälern. König Philipp IV. stellte bereits in seinem ersten Testament, das er im Jahre 1288 aufsetzte, eine Entschädigung für all diejenigen in Aussicht, die durch die bisherigen königlichen Maßnahmen geschädigt worden seien oder noch künftig unter seiner Regierung Schaden erleiden sollten. Im Testament des Jahres 1297 wurde diese Bestimmung präzisiert: die Münzverschlechterungen, die er selbst zu verantworten hatte, sollten nach seinem Tod rückgängig gemacht werden. Sein drittes Testament von 1311 sprach ein Problem an, das den Kernbestand staatlicher Existenz berührte: die Erhebung von Steuern. Alle Abgaben, die unrechtmäßig erhoben wurden, sollten eingestellt werden. Da die Kriege beendet worden seien, bestünde keine Notwendigkeit mehr, die Abgaben weiter zu erheben. Aber wiederum blieb es dem Nachfolger überlassen, diese Absicht auszuführen. Zusätzlich zu den sehr großzügigen Schenkungen an geistliche Institutionen trat die Verpflichtung für den Nachfolger, einen Kreuzzug zur Befreiung des Heiligen Landes zu leiten, der nur unter hohen Kosten zu unternehmen wäre und für den nicht einmal die Bereitstellung von Kreuzzugszehnten eine ausreichende Finanzierungsbasis geboten hätte 64. Die Einkünfte einer gan62
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Texte primitif (nt. 15), 237-54; Jean de Joinville, Histoire de Saint Louis. Texte original, Paris 1881, 300-303. Cf. J. Richard, Saint Louis. Roi d’une France fe´odale, soutien de la Terre Sainte, Paris 1983, 426 sq. Cf. F. Felten, Auseinandersetzungen um die Finanzierung eines Kreuzzuges im Pontifikat Johannes’ XXII. (1316-1334), in: M. Pacaut/D. Fatio (eds.), L’hostie et le denier. Les finances eccle´-
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zen Provinz, der Normandie, und mehrerer Senechausse´es, der von Beaucaire, Carcassone und Rouergue, waren zur Erfüllung der testamentarischen Schenkungen und Verpflichtungen vorgesehen. Allein 140 000 Tournoisen sollten die Johanniter erhalten. In Relation zu jährlichen Einkünften der königlichen Kammer von ungefähr 600 000 Tournoisen waren die vorgesehenen Summen enorm 65. Kurz vor seinem Tod ließ er den Sohn und Thronfolger Ludwig schwören, die Bestimmungen zu erfüllen 66. Irreal muten die Zahlungsverpflichtungen an. Sie sollten zwar die eigene Herrschaft nicht belasten, wie der Testator ausdrücklich wünschte, hätten aber tatsächlich eine schwere Hypothek für die seiner Nachfolger bedeutet. Indessen: Ludwig X. begann sofort nach seiner Thronbesteigung Verhandlungen mit den Testamentsexekutoren, zumeist hohen Geistlichen des Reiches, um Abmilderungen zu erreichen. Gestaffelte Zahlungsfristen wurden vereinbart. Die Geldbeträge, über die die Testamentsexekutoren verfügen konnten, wurden beschnitten. Allein die Einkünfte aus den drei genannten südfranzösischen Senechausse´es wurden ihnen zugewiesen. Von einer Rückzahlung ungerechter Steuern war nicht mehr die Rede. Als aber Ludwig X. sein eigenes Testament im Juni 1316 aufsetzte, beteuerte er Reue über die Mißachtung der letztwilligen Verfügung seines Vaters. Sie in vollem Umfang zu verwirklichen, war erneut dem künftigen Nachfolger anvertraut. Aber auch Philipp V., als er im Januar 1317 die Herrschaft antrat, sah sich außerstande, die nun doppelte Anweisung auszuführen. Sein eigenes Testament vom 26. August 1321 war erfüllt von Reue über die Mißachtung des väterlichen und brüderlichen Willens und über die ihm auferlegte aber von ihm verweigerte Wiedergutmachung. Die Lösung des Dilemmas verschob aber auch er auf die Zeit nach seinem Tod 67. Ähnlich verfuhr später König Karl V.: Er gebot auf dem Sterbebett die Abschaffung von Steuern; die Bestimmung sollte indes sein Nachfolger in Kraft setzten 68. Die Seelenqual kann als echt angenommen werden. Die mangelnde Einsicht in die komplizierten Zusammenhänge von Einkünften, Auszahlungen, Zahlungsverpflichtungen, Verpfändungen, Schulden und gehorteten Geldern verführte wohl zur Illusion, beträchtliche Geldbeträge zur freien Verfügung zu haben. Die königliche Macht hätte sich zwar in großzügigen Steuernachlässen,
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ˆ ge a` l’e´poque moderne. Actes du colloque de la Commission internasiastiques du haut Moyen A tionale d’histoire eccle´siastique compare´e, Gene`ve aouˆt 1989 (Publications de la Faculte´ de The´ologie de l’Universite´ de Gene`ve 14), Genf 1991, 79-101. Cf. J. F. Benton, The Revenue of Louis VII, in: Speculum 42 (1967), 84-91, hier 91; J. Favier, Philippe le Bel, Paris 1980; J. R. Strayer, Studies in Early French Taxation, Cambrigde (Mass.) 1939, 87 sq.; id., The Reign of Philip the Fair, Princeton 1980. Cf. E. A. R. Brown, Royal Salvation and Needs of State in Late Capetian France, in: W. C. Jordan [e. a.] (eds.), Order and Innovation in the Middle Ages. Essays in Honor of Joseph R. Strayer, Princeton (NJ) 1976, 365-383. Cf. Brown, Royal Salvation (nt. 66), 375-379. Cf. E. A. R. Brown, Taxation and Morality in the 13th and 14th Centuries: Conscience and Political Power and the Kings of France, in: French Historical Studies 8 (1973), 17-25.
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Rückerstattungen und Schenkungen manifestieren sollen. Die Probe auf die Realisierung wagten die kapetingischen Könige aber nicht. In der Tat waren die letztwilligen Bestimmungen ,frommer Wunsch‘, insofern aber nicht weniger aufschlußreich für das Selbstverständnis von Herrschaft und für ihre moralische Bewertung. Die Kosten charismatischer Herrschaft waren groß. Sie abzutragen überforderte die Leistungsfähigkeit der königlichen Einnahmen. Der Anspruch eines allerchristlichen Königs, eines rex christianissimus, diente seit Ludwig IX. der Begründung einer Vorrangstellung, die aber mehr als die des Kaisers auf Verdienste und Tugenden des Herrschaftsinhabers hinweisen mußte 69. Die Könige mußten gesteigerten individuellen Erwartungen nachkommen - wenn nicht durch die Herrschaftspraxis selber, so doch durch die Stilisierung der Herrschaft. Diesem Ziel dienten auch die Nachfolgeregelungen. Rechenhaftigkeit in der Sicherung des Seelenheils war im Rahmen jeder Heilsvorsorge üblich; beim Herrscher kollidierte sie indes mit dem Fehlen einer rechnenden Finanz- und Schuldenverwaltung 70. Die Ermahnungen und Verfügungen der Herrscher an ihre Nachfolger beschränken sich indes nicht darauf, moralische und religiöse Verpflichtungen einzuschärfen. Empfehlungen, um die Herrschaftsrechte zu sichern, und Hinweise, sie zu erweitern, gab es ebenfalls. Als König Jakob I. von Arago´n im Juli 1276 starb, gab er Hinweise zur künftigen Gestaltung der Herrschaft. In der ,Cro´nica dels feits‘ des Königs, von unbekannten Autoren nach seinem Tod fortgesetzt, wird berichtet, daß Jakob in seinen letzten Lebenstagen seine beiden Söhnen kommen ließ. Er habe lange Gespräche mit ihnen geführt. Der Sterbende gab Anweisungen zur militärischen Verteidigung des Landes. Seinem ältesten Sohn war es aufgetragen, die Rebellion der Muslime im Königreich Valencia zu unterdrücken. Dazu sollten neue Burgen gebaut und alte ausgebessert werden. Lebensmittelvorräte waren dort anzulegen. Von diesen gesicherten Plätzen aus sei der Krieg zu führen. Jakob gab die Anweisung, nach der Niederschlagung des Aufstandes alle Mauren des Landes zu verweisen. Ein Zusammenleben mit ihnen sei nunmehr unmöglich. Falls sie im Lande blieben, wären die Herrscher in Konflikte verstrickt, um sie zu bekämpfen und zu bestrafen, was dauerhaft die Macht des Königreiches schwächen und die geplanten und den Nachfolgern aufgetragenen Kreuzzugsprojekte gefährden würde. Dem Nachfolger in der Krone Arago´n wurde das Versprechen abgenom69
70
Cf. J. R. Strayer, France, The Holy Land, the Chosen People, and the Most Christian King, in: id., Medieval Statecraft and the Perspectives of History, Princeton 1971, 300-314; B. Schneidmüller, Nomen patriae. Die Entstehung Frankreichs in der politisch-geographischen Terminologie (10.-13. Jahrhundert) (Nationes 7), Sigmaringen 1987; R. Folz, Les saints rois du Moyen Aˆge en Occident (6e-13e sie`cles) (Subsidia hagiographica 68), Brüssel 1984, 137-146; J. Richard, Saint Louis (nt. 63), 417-454. L. K. Little, Religious Poverty and the Profit Economy in Medieval Europe, London 1978; J. Chiffoleau, La comptabilite´ de l’au dela`. Les hommes, la mort et la religion dans la re´gion ˆ ge (vers 1320-vers 1480) (Collection de l’Ecole FrancX aise de d’Avignon a` la fin du Moyen A Rome 47), Rom 1980.
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men, die Anweisungen auszuführen. Zusätzlich setzte Jakob selbst die Personen ein, die seine Söhne beraten sollten 71. Zwar gelang es dem neuen König Peter, nach wenigen Monaten die Herrschaft in Valencia wiederzuerringen, aber die väterlichen Anordnungen wurden mißachtet, die einheimischen Muslime, die tagarinos, behielten das Recht, in ihrer Heimat zu bleiben. Lediglich besondere Wohnbezirke und Siedlungsareale wurden ihnen zugewiesen. Als einträgliche Steuerquelle und selbst als Rekrutierungsbasis von militärischen Aufgeboten waren sie für die Königsherrschaft unverzichtbar 72. Der väterliche Wille wurde mißachtet. König Alfons X. von Kastilien hat in dem umfangreichen Testament, das er im April 1282 aufsetzte, die von ihm angeordnete Erbfolge ausführlich gerechtfertigt, die Gegnerschaft seines Sohnes Sancho eindringlich geschildert und die Unterstützung seines gleichnamigen Enkels Alfons von allen Untertanen wie auch von fast allen Monarchen Europas angefordert. Dieser war zu dieser Zeit ungefähr zehn Jahre alt. Alfons hielt es wohl auch deswegen für notwendig, ihm bindende Vorgaben zu machen. Er entwickelte ein Programm zukünftiger Politik. Das wichtigste Anliegen war die Rechtfertigung der von ihm verfügten Nachfolgeregelung. Anders als in den ,Siete Partidas‘, dem von Alfons X. verfaßten oder zumindest veranlaßten Gesetzbuch, vorgesehen, sollte nicht der Sohn, sondern der Enkel die Nachfolge antreten. Alfons befahl ihm, die gesamte Christenheit zu verteidigen. Der kastilische König sah ein enges Bündnis mit dem französischen König vor. Beide Monarchen waren Gegner von Peter III. von Arago´n - ersterer wegen dessen Einmischung in den kastilischen Thronstreit, letzterer wegen der Sizilienpolitik des Aragonesen. Die Freundschaft mit Frankreich sollte aber dauerhaft - über die Konstellationen, soweit sie absehbar waren - bestehen. Wenn die königliche Familie zu irgendeiner Zeit ohne männliche Nachkommen bleiben sollte, war sogar die Übertragung der Herrschaft an den zu dieser Zeit regierenden König von Frankreich vorgesehen. Mit vereinten Kräften könne so der Kampf gegen die Ungläubigen aufgenommen werden. Alfons X. setzte den Papst zum Garanten seines letzten Willens ein 73. Kaiser Friedrich II. hat in seinem Testament ebenfalls Empfehlungen an seine Nachfolger hinterlassen, wie sie ihre Macht erhalten und steigern konnten. Er ermahnte sie, sich vor allem auf die dem Kaiser und König bisher treu Ergebenen zu stützen und ihre Hoffnungen nicht darauf zu setzen, durch attraktive Angebote ihre Machtbasis im Adel zu verbreitern. Die eigenen Anhänger sollten begünstigt und mit Gütern und Burgen beschenkt werden. Da dabei der königliche Besitz nicht angetastet werden durfte, blieb nur die Einziehung und Weiter71 72
73
Cf. J. N. Hillgarth, The Spanish Kingdoms 1250-1516, vol. 1, Oxford 1976, 252 sq. Cro`nica de Jaume I, in: Les quatre Grans Cro`niques (nt. 9), 1-190, hier 160 sq., 188 sqq.; R. I. Burns, Islam under the Crusaders: Colonial Survival in the 13th Century Kingdom of Valencia, Princeton 1973; id., Muslims, Christians, and Jews in the Crusader Kingdom of Valencia: Societies in Symbiosis, Cambridge (Mass.) 1984. Les testaments d’Alphonse X (nt. 13).
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gabe des Besitzes der Feinde. Jegliche Chance auf Verständigung war damit ausgeschlossen. Im Gegenteil sollte die Strafgewalt des Kaisers auch nach seinem Tod weiterwirken. Keiner von den Gegnern, die aus dem Königreich Sizilien vertrieben oder ausgewiesen worden waren, dürfe zurückkehren. Die Erben müßten sich vorsehen: Noch verbliebene Verräter innerhalb des Königreiches würden sonst Verbindung mit den auswärtigen Gegnern aufnehmen. Selbst gegenüber den geistlichen Gemeinschaften und Personen sei Vorsicht angebracht. Nur wenn sie sich loyal verhielten und die Stellung der königlichen Familie anerkannten, sollte ihnen der Besitz zurückgegeben werden 74. Die ansonsten in den beiden Testamenten des Kaisers enthaltenenen Angebote zur Versöhnung mußten angesichts solcher Anweisungen ins Leere laufen. Ein besonders umfangreiches Regierungsprogramm hinterließ der französische König Philipp II. im Juni 1190. Anstoß war der Aufbruch zum Kreuzzug und die Möglichkeit, daß der König nicht mehr zurückkehren würde. Wie die negocia regni zu handhaben waren, hat er detailliert dargelegt. Ein Regentschaftsrat wurde eingesetzt, dem vor allem seine Gattin und der Erzbischof von Reims vorstanden. In den Gebieten unmittelbarer königlicher Herrschaft wurden Baillis eingesetzt. Sie sollten jeden Monat Gerichtssitzungen abhalten. Sie hatten die Aufgabe, in den Städten ihres Distriktes vier Beauftragte einzusetzen, die die kommunalen Angelegenheiten kontrollierten. Die Baillis selbst wiederum waren einer strikten Kontrolle durch die Regenten unterworfen. König Philipp hat jedoch der Königin untersagt, während seiner Abwesenheit Baillis abzuberufen oder in andere Baillage zu versetzen. Auch die geistlichen Ämter und Pfründen sollten - solange der König noch lebte und sich auf dem Kreuzzug befand möglichst nicht neu besetzt werden. Vielmehr war die Rückkehr des Königs abzuwarten. Seine Personalentscheidungen sollten während seinere Abwesenheit nicht revidiert werden. Nur bei seinem Hinscheiden gab Philipp seinem Nachfolger freie Hand bei der Stellenbesetzung. Auch hinsichtlich der Steuern und Zölle band der König die Daheimgebliebenen. Neue Abgaben zu erheben war ihnen nicht gestattet. Dem Thronfolger war die Einführung neuer Steuern nur nach dem Ableben seines Vaters erlaubt. Die Organisation der königlichen Finanzverwaltung wurde in Paris konzentriert: Dorthin sollten dreimal jährlich die Einkünfte aus dem ganzen Königreich abgeführt werden. Der Schatz des Königs war im Haus der Templer zu Paris aufzubewahren. Eine genaue Rechnungsführung wurde angemahnt. Die Regelung der Regenschaft wurde mit der Ordnung von Finanzwesen, Gerichtsbarkeit und Verwaltung kombiniert. Die Verfügung vermischt die Gestaltung königlicher Herrschaft bei Abwesenheit des Herrschers mit der Zukunftsplanung für den Erbschaftsfall 75. Als König Philipp II. im September 1222, hochbetagt und von Krankheit gezeichnet, ein weiteres Testament abfaßte, vermied er indes detaillierte Anweisungen wie noch im Jahre 1190. Das reife Alter des Thronfolgers legte dies 74 75
Weiland (ed.), Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, vol. 2 (nt. 10), n. 274. Chartes (nt. 45), 416 sqq., n. 345.
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wohl nahe. Freilich suchte er ihn darauf festzulegen, wie er die ausgewiesenen Geldbeträge zu verwenden habe: allein zur kriegerischen Verteidigung des Königreiches oder zur Finanzierung eines Kreuzzuges. Im dritten von ihm überlieferten Testament ein Jahr später setzte er hohe Summen zur Unterstützung des Heiligen Landes aus. Auch das Eingreifen des Königtums im Süden, gegen die Albigenser und gegen die Grafen von Toulouse, wurde nunmehr vorgezeichnet. Offensichtlich akzeptierte Ludwig VIII., der wenig später den Thron bestieg, nicht die Einschränkung seiner eigenen Herrschergewalt durch die väterlichen Anordnungen. Der Passus über die Verwendung von königlichen Einnahmen wurde aus der Urkunde rasiert. Die dynastische Sukzession an inhaltliche Festlegungen zu binden, wurde verworfen 76. Ludwig selbst hat dann, als er - bereits zu Beginn seiner Herrschaft, im Juni 1225 - sein Testament aufsetzte, auf eine inhaltliche Festlegung von Regierungshandeln verzichtet. Die Verfügung beschränkt sich im wesentlichen auf die Verteilung der Herrschaftsrechte an seine Söhne 77. Wenn auch die Ermahnungen Ludwigs IX. des Heiligen an seinen Nachfolger in erster Linie religiöse Themen enthielten, so boten sie doch auch im engsten Sinne politische Ratschläge. Es ging hierbei um die geordnete Verwaltung des Königsgutes. Mit ihm sollte sparsam umgegangen werden. Verfremdungen sollten unterbleiben. Vor allem legte Ludwig Wert auf das gute Funktionieren der territorialen Verwaltung im gesamten Königreich. Die lückenlose Erfassung durch Baillis und Se´ne´chaux wurde dem Sohn als Errungenschaft gepriesen, die er beibehalten müsse. Häufige Inspektionen sollten die Loyalität und Tüchtigkeit der Vertreter des Königtums in den Provinzen und des Hofpersonals überprüfen und gewährleisten. Er warnte davor, daß die königlichen Vertreter sich mit der Bevölkerung in ihren Einsatzgebieten zu eng verbünden könnten - zum Schaden der königlichen Rechte. Die inquisitio, die Ludwig selbst kurz vor dem Aufbruch zu seinem ersten Kreuzzug angeordnet hatte, sollte zur ständigen Einrichtung werden. Die Untersuchungen sollten aufdecken, ob es betrügerische Absprachen und unrechtmäßige Begünstigungen gebe. Die Auswahl des Hofpersonals erfordere große Sorgfalt, jedoch solle Philipp diejenigen, die er entlassen würde, mit Pfründen ausstatten, um sie sich nicht zu Feinden zu machen 78. Die Balance zwischen der sparsamen Verwendung königlicher Einkünfte und der notwendigen Entlohnung für geleistete Dienste war schwierig zu halten. Das Testament des König befahl, die Schulden zurückzuzahlen und die ausstehende 76
77 78
Layettes du tre´sor (nt. 46), vol. 1, 549, n. 1546. Cf. J. W. Baldwin, The Government of Philip August. Foundations of French Royal Power in the Middle Ages, Berkeley 1986; A. W. Lewis, Royal Succession in Capetian France: Studies on Familial Order and the State, Cambridge (Mass.) 1981, 81 sq., 91-94. Gesta Ludovici VIII (nt. 60), 310 sq. Cf. J. R. Strayer, The Administration of Normandy under St. Louis, Cambridge (Mass.) 1932; L. Carolus-Barre´, Les baillis de Philippe III le Hardi: recherches sur le milieu social et la carrie`re des agents du pouvoir royal dans la seconde moitie´ du XIIIe sie`cle, in: Annuaire-bulletin de la Socie´te´ de l’Histoire de France 1966-67 (1969), 102-244.
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Entlohnung der Getreuen zu begleichen. Die Zahlungsaufforderung galt für die Zeit nach dem eigenen Ableben. Um so mehr mußte sie eine schwere Last für den Nachfolger darstellen, wie das Testament auch ausdrücklich einräumte. Die Interessen des Königreiches wurden aber gleichwohl gewahrt, als allein diejenigen entlohnt und entschädigt werden sollten, die sich innerhalb der Grenzen des Königreiches aufhielten. Dem Abfluß von Edelmetall sollte auf jeden Fall vorgebeugt werden. Im Testament des Königs vom Februar desselben Jahres hatte diese Einschränkung noch gefehlt 79. Die Bindung politischen Handelns an die Anweisung und den Rat des Vaters sollte Kontinuität sichern. Über die biologische Erbfolge hinaus wurde die Tradierung von Herrschaftswissen wichtig. Die letztwilligen Verfügungen suchten zu verhindern, daß die Verfügungsgewalt des Herrschers mit seinem Tod ein Ende finde. Gleichwohl - bedrängend war die Ahnung, daß die Geltung der letztwilligen Verfügung nicht mit dem Tod beginnen werde, sondern mit ihm ende. Daß die Zukunft der eigenen Kontrolle entgleiten könne, wurde befürchtet. Gegen diese Aussicht glaubte man sich nur durch besondere Vorkehrungen sichern zu können. Die Eindringlichkeit der Mahnungen - wie etwa bei Ludwig IX. von Frankreich - appellierte an das Gewissen, stützte sich vor allem auf die väterliche Autorität. Weitere Sicherungen waren nötig. Der sterbende Herrscher ließ sich von seinen Söhnen und Nachfolgern durch Eid versprechen, daß sie seinen Willen auch künftig beachten würden 80. Falls der Eid noch nicht geleistet worden war und die Söhne bei der Testamentsabfassung nicht zugegen waren, sollte dies nachgeholt werden. So sah es Ludwig IX. vor, als er auf dem Schiff vor den Küsten Sardiniens sein schriftliches Testament aufsetzen ließ. Der englische König Heinrich II. gebot in seinem Testament seinen Söhnen, per fidem et sacramentum zu versprechen, daß sie alles, was ihr Vater verfügt hatte, einhalten würden 81. Dies genügte aber offensichtlich nicht zur Sicherung des letzten Willens. Die Verwirklichung der letztwilligen Verfügung hing entscheidend davon ab, daß sie einem möglichst großen Personenkreis bekannt war. Es genügte nicht, sie allein dem Nachfolger mitzuteilen. Daher erließ der Herrscher die mündlichen Ermahnungen häufig in Anwesenheit der Großen des Reiches. Falls ein schriftliches Testament vorlag, wurden Zeugen hinzugezogen. Der Text war im günstigsten Fall in mehreren Exemplaren verbreitet. Dies war bei dem Testament von Friedrich II. der Fall. Angehörige des Hofes haben die Urkunde Außenstehenden gezeigt. Ein Jahr nach des Kaisers Tod hat Berthold von Hohenburg, dem der sterbende Friedrich die Obhut über seinen Sohn Manfred übertragen und den König Konrad zu seinem Statthalter in Sizilien eingesetzt hatte, das Testament den Bewohnern von Salerno verkündet. Autoren erzählen79 80
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Layette du tre´sor (nt. 46), vol. 4, 419 sqq., 468 sq., n. 5638, 3730. Cf. L. Kolmer, Promissorische Eide im Mittelalter (Regensburger historische Forschungen 12), Kallmünz 1989. Collection (nt. 54), 7, 11.
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der Quellen haben die Urkunde in ihrem Text zitiert oder paraphrasiert. So im ,Breve Chronicon de rebus Siculis‘ und selbst in der ,Chronica maior‘ des Engländers Mathäus Parisiensis 82. Die Publizität sollte die letztwillige Verfügung vor Mißachtung und vor Umdeutung schützen. Mit der römisch-rechtlichen Form des schriftlichen Testaments war ein größerer Grad rechtlicher Verbindlichkeit angestrebt. Das Testament des Herrschers wurde als Urkunde abgefaßt, beglaubigt mit dem königlichen Siegel, rekogniziert durch den königlichen Notar und bestätigt durch die Hinzuziehung von Zeugen. An diese ging mitunter die Aufforderung, nicht allein durch ihre Unterschrift die Echtheit der Urkunde und damit der königlichen Willensbekundung zu beweisen, sondern auch für die Verwirklichung der Bestimmungen einzutreten. So hat Alfons X. von Kastilien seine Tochter, Gemahlin des portugiesischen Königs, den Erzbischof von Sevilla und weitere südspanische Bischöfe und Geistliche, aber auch weltliche Lehnsherren und Juristen seines Hofes mit dieser Aufgabe betraut 83. Kaiser Friedrich II. ging darüber noch hinaus. Das Testament habe er aufgrund seiner kaiserlichen Befugnis als Gesetzgeber erlassen. Es habe dadurch die Kraft der Dauer. Durch den Eid aller Getreuen sollte es zusätzlich bekräftigt werden. Alle diejenigen, die dieses Gesetz und die darin verfügten Dinge anfochten oder mißachteten, sollten als Rebellen und Verräter mit der höchstmöglichen Strafe belegt werden. Der Ungehorsam gegenüber dem, was ein verstorbener Kaiser angeordnet hatte, war nichts anderes als crimen laesis maiestatis. Hinzu trat die Gewalt des Vaters gegenüber seinen Söhnen. Sie ende nicht mit dem Tod. Bei Strafe des Verlustes des väterlichen Segens müßten die Nachfahren den testamentarischen Bestimmungen gehorchen. Ihnen drohte Friedrich ansonsten den Verlust des Erbes an 84. Alfons X. von Kastilien verfügte, daß derjenige, der seinem Testament zuwiderhandle, als Verräter zu behandeln sei. Die höchste Strafe solle ausgesprochen werden, nicht anders als bei denen, die ihren Herrn getötet hätten 85. Die sicherste Gewähr dafür, den Willen des Herrschers über die Schwelle seines Todes hinüberzuretten, bot die Einsetzung von Testamentsexekutoren. Gemäß dem römischen Recht hatten sie die Vollmacht, über die Habe des Verstorbenen in dessem Auftrag zu verfügen. Sie wiesen die Erben in ihren Besitz ein, sie verkündeten die testamentarischen Bestimmungen, sie hatten über deren Einhaltung zu wachen 86. Kaiser Friedrich II. hat die Getreuen, die er anläßlich 82
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Weiland (ed.), Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 2 (nt. 10), 384, n. 274; Breve Chronicon de rebus Siculis, in: J. L. A. Huillard-Bre´holles, Historia diplomatica Friderici II, vol. 1, Paris 1852, 891-908, 906 sqq.; Mathaeus Parisiensis, Chronica maiora, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores, vol. 28, ed. R. Pauli/F. Liebermann, Hannover 1888, 107389, hier 322. Testaments d’Alphonse X (nt. .13). Weiland (ed.), Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, vol. 2 (nt. 10), n. 274. Testaments d’Alphonse X (nt. 13). Cf. A. Gerlich, Seelenheil und Territorien. Testamentsrecht von Fürsten und Grafen im Spätmittelalter, in: A. Kraus (ed.), Land und Reich, Stamm und Nation. Probleme und Perspektiven
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der Testamentsabfassung um sich scharte und die den Text unterschrieben, als Garanten dafür eingesetzt, daß Konrad und die anderen Erben die Bestimmungen erfüllen würden. Zu den Anwesenden zählten unter anderen der Erzbischof von Palermo, Richard von Montenegro, der kaiserliche Großhofjustiziar und Johannes von Procida, der Arzt des Königs, ansonsten vor allem Hofrichter und andere Juristen 87. Die französischen und aragonesischen Könige des 13. Jahrhunderts sahen die Einsetzung von Testamentsexekutoren vor. Diese waren durchweg hohe Geistliche, in Frankreich regelmäßig Bischöfe nordfranzösischer Diözesen, die Äbte von St. Denis und von St. Victor, in Arago´n der Erzbischof von Tarragona. Den Testamentsexekutoren war eine Kompetenz zugewiesen, mittels derer sie auch über den neuen Herrscher Verfügungen treffen sollten. Die tatsächliche Machtverteilung nach dem Tod des Königs war indes eine andere. Die letztwillige Verfügung des Mächtigen hatte geringere Chancen, befolgt zu werden, als die eines städtischen Bürgers. Die Fortsetzung der königlichen Macht über den Tod hinaus stieß - trotz aller Sicherungen - an ein unüberwindliches Hindernis: die Gewalt des neuen Herrschers. Mochten die Anweisungen an den Thronfolger noch so sehr den Charakter verbindlicher Handlungsregeln besessen haben, die politische Opportunität ging andere Wege. Maßnahmen von langfristiger Zielsetzung den Nachfolgern zu überlassen, war letztlich illusionär. Der Gegensatz zwischen dem individuellen König und dem immerwährenden Königtum ließ sich auch durch eine Metaphorik nicht überbrücken, die die leibliche Einheit der aufeinanderfolgenden Herrscher herausstellte oder die die quasi präsente Wirksamkeit des Verstorbenen betonte 88. Genausowenig konnte durch inhaltliche Festlegungen ein Individuen und Generationen überbrückendes Handeln erzwungen werden. Aber ein Modell königlicher Herrschaft war verfügbar. Mochten die moralischen Anforderungen auch schwierig oder gar nicht zu erfüllen sein, sie erhöhten die königliche Würde, sie legitimierten die Herrschaft. Mochten die Anweisungen zur Mehrung des politischen Nutzens sich an den Unwägbarkeiten der politischen Peripetien stoßen, so war doch ein Modell beständiger Macht vorgegeben, die auch dann nicht aufhörte, wenn die leibliche Existenz des individuellen Königs durch den Tod endete. In den letztwilligen Verfügungen meldeten sich nicht so sehr persönliche Bekenntnisse zu Wort als Manifestationen normgebundener Herrschaftsausübung. Seit dem 13. Jahrhunderts wurden sie inhaltlich vermehrt aufgefüllt. Dabei gingen die Länder mit stärkerer antiker Traditionsbindung voraus. Die Dauer von Macht und Herrschaft war programmatisch vorgegeben. An der Realisierung fehlte es indes stets. So illusorisch auch die Anweisungen waren, die über den Tod des Herrschers
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bayerischer Geschichte. Festgabe für Max Spindler zum 90. Geburtstag, München 1984, 395414. Weiland (ed.), Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, vol. 2 (nt. 10), n. 274. Cf. E. Kantorowicz, The King’s two bodies. A Study in Medieval Political Theology, Princeton 1957.
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Politik zu gestalten vorgaben, so notwendig schienen sie gleichwohl zu sein, um die Dauer des Königtums inhaltlich zu begründen. Die Dauer der Institution wurde auf diese Weise gestützt. Die Illusion der Dauer hatte damit durchaus Auswirkungen auf die Beständigkeit politischer Verfassung.
Herrschergenealogie als Modell der Dauer des ,politischen Körpers‘ des Herrschers im mittelalterlichen Böhmen * Marie Bla´ hova´ (Prag) Zu den bedeutsamsten Legitimierungsaspekten des Rechtes sowie der Institutionen, Gemeinschaften und ihrer Repräsentanten im Mittelalter gehörte die „auf eine Dauer gestellte kulturelle Konstruktion von Identität“ - die Tradition 1. Ebenfalls in der Politik und Ideologie und in der damit verbundenen Herrscherpropaganda hatte die Dauer im Sinne eines langen Zeitlaufes, oder gar der ,Ewigkeit‘ 2, ihre spezifische Funktion. Die mittelalterlichen Staaten leiteten die Legitimität ihrer Existenz von ihrer ,Dauer‘ ab, die Herrscher begründeten ihre Stellung mit der ,Dauer‘ der Herrschermacht und des Herrschertitels, ihre Machtansprüche bewiesen sie durch die dynastische Kontinuität, das heißt durch die Länge ihrer Ahnenreihe auf dem Thron, also wieder durch die ,Dauer‘ der Herrscherwürde in ihrer Dynastie. Ihre Ideologen entwickelten die Idee der ,dauernden‘ überpersonalen Herrscherfunktion, des heiligen und mystischen, ,politischen‘ Herrscherkörpers, der im Unterschied zu seinem physischen Körper nie stirbt 3. Der rex qui nunquam moritur verkörperte die aeternitas des Königtums: einen steten lückenlosen Zusammenhang der königlichen Generationen vom Anfang des Königtums an über seine eigene Zeit bis in die Zukunft. Auf diese Art konnte die Kontinuität, das heißt das „Fortbestehen von kulturellen Schöpfungen bei einem Wechsel der Träger“ 4, im mittelalterlichen Staat verwirklicht werden.
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Diese Studie entstand an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag im Rahmen des Forschungsvorhabens MSM 0021620827: Die Böhmischen Länder inmitten Europas in der Vergangenheit und heute. A. Assmann, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln-Weimar-Wien 1999, 90. Zum Recht cf. F. Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, Darmstadt 1965. Zu den Institutionen cf. vornehmlich E. H. Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957, 273-313. Zu den verschiedenen Deutungen des einigermaßen vagen und schwer zu definierenden Terms ,Dauer‘ cf. den Artikel s. v. in: J. Ritter (ed.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, vol. 2, Basel-Stuttgart 1972, 25. Cf. vornehmlich E. H. Kantorowicz, The King’s Two Bodies (nt. 1), passim. Cf. I. Weber-Kellermann, Kontinuität und Familienstruktur. W. H. Riehl und das Problem der Geschichtlichkeit von Primärgruppen, in: H. Bausinge/W. Brückner (eds.), Kontinuität? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem, Berlin 1969, 143 (nach J. Streller, in: H. Schmidt/J. Streller, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 1951, 322).
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Eine spezifische Art der ,Herrschaftsdauer‘ wurde von den Ideologen des mittelalterlichen Römischen Reichs in der Theorie der translatio imperii entwickelt, die die Kontinuität des mittelalterlichen Reiches mit dem antiken Römischen Reich sicherte und seine Dauer vom antiken Rom abzuleiten erlaubte 5. Dieser Theorie nach war das Kaisertum von den Römern über Karl den Großen auf die Franken und über Otto den Großen auf die Deutschen übertragen worden. Dank dieser Theorie wurde die Vorstellung von einem seit der Antike einheitlichen Römischen Reich gebildet und die lange Dauer des Reiches gewährleistet 6. Eine besondere Form dieser Theorie wurde von der päpstlichen Kurie gebildet, um die Rolle des Papstes bei der Übertragung der Kaiserwürde durchzusetzen 7. Die lange Dauer der Herrschermacht und der überpersonalen Funktion des Herrschers, sowie die Dauer des vom Herrscher personifizierten Staates wurde im Mittelalter vor allem durch die Herrschergenealogie und die Schrift garantiert, und das heißt konkret: vornehmlich durch die Geschichtsschreibung 8. Die Geschichtsschreibung und Genealogie bildeten eine Tradition, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpfte und sich als mediale Form von Dauer etablierte. Die mittelalterlichen Historiker 9 haben zwar ,gewußt‘, daß die Existenz der Welt nicht unbegrenzt ist, daß sie einen festen Anfang in der Weltschöpfung hatte und daß sie auch ihr Ende - im Jüngsten Gericht - haben wird. Sie konnten jedoch ihre Dauer kaum abschätzen - diese Beurteilung scheiterte an der Unbestimmbarkeit der Dauer der letzten, sechsten aetas der Welt 10. In diesem Sinn wurden die Universalchroniken 11 konzipiert, die in ihrer vollkommen5
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Cf. vor allem W. Goetz, Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958, besonders 77-104. Zum Verständnis der Translationslehre in Frankreich cf. U. Krämer, Translatio imperii et studii. Zum Geschichts- und Kulturverständnis in der französischen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bonn 1996. Cf. H.-J. Mierau, Die Einheit des imperium Romanum in den Papst-Kaiser-Chroniken des Spätmittelalters, Historische Zeitschrift 282 (2006), 281-312, besonders 311. Zur Entwicklung und Funktion der päpstlichen Theorie der translatio imperii cf. vornehmlich P. A. van den Baar, Die kirchliche Lehre der Translatio imperii Romani bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, Rom 1956. Cf. Assmann, Zeit und Tradition (nt. 1), 90-106. Zur Existenz von ,Geschichte‘ im Mittelalter cf. B. Guene´e, Y a-t-il une historiographie me´die´ˆ ge. Recueil d’articles sur l’histoire politique vale?, in: B. Guene´e, Politique et histoire au Moyen A et l’historiographie me´die´vale (1956-1981), Paris 1981, 205-219. Zur mittelalterlichen Geschichtsschreibung cf. id., Histoire et culture historique dans l’Occident me´die´val, Paris 1981. Cf. M. Haeusler, Das Ende der Geschichte in der mittelalterlichen Weltchronistik, Köln-Wien 1980, besonders 24-32. Die grundlegende Arbeit über die Universal- bzw. Weltgeschichtsschreibung stammt von A.-D. von den Brincken, Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising, Düsseldorf 1957. Zur Bezeichnung dieser Gattung cf. A. Borst, Weltgeschichte im Mittelalter?, in: R. Koselleck/W.-D. Stempel (eds.), Geschichte - Ereignis und Erzählung, München 1973, 452-456. Unter der neueren Literatur cf. besonders K. H. Krüger, Die Universalchroniken ˆ ge occidental 16), Turnhout 1976; N. Letting, The Character (Typologie des sources du Moyen A
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sten Form die Geschichte gerade von der Weltschöpfung bis zum Jüngsten Gericht darboten, wie beispielsweise die Weltchronik Ottos von Freising 12. Anders war es bei der Staats-, Volks- und Institutionalgeschichte 13, wo das Alter, die Dauer ihrer Existenz, für ihre Rechtsansprüche, ja sogar für ihre Legitimität außerordentlich wichtig war. Die Geschichtsschreiber strebten danach, die Anfänge des Volkes, seines Staates und seiner Herrscher sowie die Gründung eines Klosters, eines Bistums, einer Stadt oder irgendeiner Institution möglichst in die älteste Zeit zu verschieben und ihre Dauer auf diese Weise zu verlängern. Die Ursprünge der Völker und ihrer Repräsentanten wurden dann in Westeuropa oft von der Eroberung Trojas abgeleitet 14. Die Helden sollten sich nach der Eroberung Trojas über Westeuropa zerstreut haben und die Dynastien, Staaten, im späten Mittelalter auch die Adelsgeschlechte, Städte und Bischofsitze
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of Late Medieval Universal Histories in the Netherlands, in: J.-Ph. Genet (ed.), L’historiographie me´die´vale en Europe, Paris 1991, 321-329. Ottonis episcopi Frisingensis Chronica sive Historia de duabus civitatibus, ed. A. Hofmeister (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 45), Hannover-Leipzig 1912. Cf. Haeusler, Das Ende (nt. 10), 33-56. Cf. besonders H. Grundmann, Geschichtsschreibung im Mittelalter. Gattungen - Epochen Eigenart, Göttingen 1965, 12-17; E. M. C. van Houts, Local and Regional Chronicles (Typoloˆ ge occidental 74), Turnhout 1995; N. Kersken, Geschichtsschreigie des sources du Moyen A bung im Europa der „nationes“. Nationalgeschichtliche Gesamtdarstellungen im Mittelalter, Köln-Weimar-Wien 1995; H. Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie, München 31990, 15 sq.; W. Goffart, The Narrators of Barbarian History (A. D. 500-800). Jordanes, Gregory of Tours and Paul the Diacon, Princeton 1988, 36 sq.; zum Typus der Staats- und Volksgeschichte cf. F.-J. Schmale, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung. Mit einem Beitrag v. H.-W. Goetz, Darmstadt 1985, 126; D. Schlochtermeyer, Bistumschroniken des Hochmittelalters. Die politische Instrumentalisierung von Geschichtsschreibung, Paderborn [e. a.] 1998; M. Müller, Die spätmittelalterliche Bistumsgeschichtsschreibung. Überlieferung und Entwicklung, Köln-Weimar-Wien 1998; J. Kastner, Historiae fundationum monasteriorum. Frühformen monastischer Institutionsgeschichtsschreibung im Mittelalter (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 18), München 1974; H. Patze, Adel und Stifterchronik I-II, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 100 (1964), 8-81 und 101 (1965), 67-128; A. Schmid, Die fundationes monasteriorum Bavariae. Entstehung - Verbreitung - Quellenwert - Funktion, in: H. Patze (ed.), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 31), Sigmaringen 1987, 581-646; H. Dienst, Regionalgeschichte und Gesellschaft im Hochmittelalter am Beispiel Österreichs (Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Ergbd. 27), Wien-Köln 1990; C. Proksch, Klosterreform und Geschichtsschreibung im Spätmittelalter (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter, NF 2), Köln-Weimar-Wien 1994. Zu dieser Problematik cf. M. Klippel, Die Darstellung der Fränkischen Trojasage in Geschichtsschreibung und Dichtung vom Mittelalter bis zur Renaissance in Frankreich, Diss. Marburg 1936; A. Grau, Der Gedanke der Herkunft in der deutschen Geschichtsschreibung des Mittelalters, Diss. Leipzig 1938; F. Graus, Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter, in: W. Erzgräber (ed.), Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter, Sigmaringen 1989, 25-43; K. Schnith, Mittelalterliche Augsburger Gründungslegenden, in: Fälschungen im Mittelalter, vol. 1: Kongreßakten und Festvorträge. Literatur und Fälschung (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 33, 1), Hannover 1988, 497-512.
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gegründet haben 15. Die Slawen bevorzugten es, ihre Anfänge in der biblischen Geschichte zu suchen, wo der gescheiterte Bau des Turms von Babel und die Sprachverwirrung den besten Ausgangspunkt boten 16. Die Tendenz, ,seine‘ trojanischen oder anderen längst vergangenen Vorfahren zu suchen, erschien überall dort, wo lange Tradition und Dauer der Existenz zur größeren Würde, zum gesellschaftlichen Prestige oder zur Durchsetzung der Rechte beitragen konnte. Mit dieser Tendenz hing auch die Beliebtheit der Genealogien zusammen 17. Sie sollten nicht nur die vornehme Herkunft, sondern auch lange dynastische Kontinuität bezeugen. Am frühesten wurde sie von den Herrscherdynastien eingesetzt, die mit Hilfe einer langen Ahnenreihe und mit der Autorität der Vorfahren ihre Stellung und Machtansprüche unterstützen konnten. Die ältesten Herrschergenealogien im europäischen Mittelalter stammen aus dem Frankenreich des 7. Jahrhunderts und sollten damals vor allem die königliche Abstammung der fränkischen Herrscher bestätigen. Diese Genealogien stellten als Urvater des merowingischen Hauses den legendären Chlodion oder seinen fiktiven Vater Faramund dar und wurden meist bis zur Zeit ihrer Entstehung geführt 18. Noch in der Merowingerzeit wurde, im Zusammenhang mit Vorstellungen über die trojanische Abstammung der Franken, die zuerst in der Chronik eines sogenannten Fredegar auftauchten, die Genealogie der Merowin15
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Cf. G. Althoff, Studien zur habsburgischen Merowingersage, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 87 (1979), 71-100; id., Genealogische und andere Fiktionen in mittelalterlicher Historiographie, in: Fälschungen im Mittelalter (nt. 14), 417-441; G. Melville, Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genealogien als dynastische Legitimation zur Herrschaft, in: P.-J. Schuler (ed.), Die Familie als sozialer und historischer Verband, Sigmaringen 1987, 203-309; D. Mertens, Die Habsburger als Nachfahren und als Vorfahren der Zähringer, in: K. Schmid (ed.), Die Zähringer, vol. 1: Eine Tradition und ihre Erforschung, Sigmaringen 1986, 151-174; M. Bla´hova´, Starocˇeska´ kronika tak rˇecˇene´ho Dalimila v kontextu latinske´ strˇedoveˇke´ historiografie a jejı´ pramenna´ hodnota (Starocˇeska´ kronika tak rˇecˇene´ho Dalimila 3), Prag 1995, 83 sq. So beispielsweise Cosmas von Prag. Cf. Cosmae Pragensis Chronica Boemorum, ed. B. Bretholz unter Mitarbeit v. W. Weinberger (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum, Nova series 2), Berlin 1923, 21955, I, 1, 4 sq. Ausführlicher: Letopis Nestora so vkljucˇeniem Poucˇenija Vladimira Monomacha, ed. I. Glazunov, St. Petersburg 1912, 1-7. Zum ,Ursprung‘ der slawischen Völker in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung cf. A. Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Stuttgart 1957-1963, vol. II. 2, 701 sq. Zur Genealogie cf. e. g. O. Lorenz, Lehrbuch der gesamten wissenschaftlichen Genealogie. Stammbaum und Ahnentafel in ihrer geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Bedeutung, Berlin 1898; W. K. von Isenburg, Historische Genealogie, Berlin 1940; id., Sippen- und Familienforschung, Heidelberg 1943; W. Ribbe/E. Hennig, Taschenbuch für Familienforschung, Neuˆ ge stadt an der Aisch 111995; L. Genicot, Les ge´ne´alogies (Typologie des sources du Moyen A occidental 15), Turnhout 1975. G. H. Pertz, Regum Merowingorum genealogia (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 2), Hannover 1829, 307. Einen Überblick der ältesten genealogischen Notizen bringt Genicot, Les ge´ne´alogie (nt. 17), 14-17; E. Freise, Genealogie, in: Lexikon des Mittelalters, vol. 4, München-Zürich 1989, 1216. Zur Entwicklung der mittelalterlichen europäischen Herrschergenealogien cf. M. Bla´hova´, Panovnicke´ genealogie a jejich politicka´ funkce ve strˇedoveˇku, in: Sbornı´k archivnı´ch pracı´ 48 (1998), 11-47.
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ger vom Trojanischen König Priamos abgeleitet 19. Die Merowingerkönige bekamen auf diese Weise vornehme Vorfahren, und die ,Dauer‘ des Herrscherhauses wurde zugleich in die Vergangenheit bedeutend verlängert. In der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts verlängerten die Karolinger ihre Familien- und Herrschertradition durch eine fiktive Verbindung ihres Hauses mit den Merowingern 20, wozu eine Merowingerin namens Blithilt erfunden wurde, angebliche Gattin des Stammvaters der Karolinger, Anspert 21. Damit wurde eine einzige stirps regia geschaffen, die die merowingische und karolingische Dynastie umfaßte. An diese Fiktion knüpften nach dem Fall des Frankenreiches einige lokale westeuropäische Herrscher an. Für die weitere Entwicklung waren besonders spekulative Genealogien der Grafen von Flandern von Bedeutung 22, die sich an die karolingische Genealogie anhängten und damit zumindest theoretische Ansprüche auf das Erbe der Karolinger begründeten. Die verwandten Adelsgeschlechter und Herrscherhäuser bewiesen später mit diesen Genealogien ihre Herrscherlegitimität und historische Tradition, die ,Dauer‘ ihres Geschlechtes. Zugleich wurden damit ihre territorialen Ansprüche begründet. 19
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Chronicarum quae dicuntur Fredegarii Scholastici libri IV cum continuationibus, ed. B. Krusch (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Merovingicarum 2), Hannover 1888, II, 4, 45; III, 2, 93; III, 3-9, 93-95. Cf. K. Hauck, Lebensnormen und Kulturmythen in germanischen Stammes- und Herrschergenealogien, in: Saeculum 6 (1955), 197-199; F. Graus, Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, Köln-Wien 1975, 83; id., Troja (nt. 14), 25-43. So Hincmar von Reims in seiner berühmten Rede bei der Krönung Karls des Kahlen in der St.-Stephans-Kathedrale in Reims am 9. September 869. Cf. Annales Bertiniani, ed. G. Waitz (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 5), Hannover 1883, 104 sq.; O. G. Oexle, Die Karolinger und die Stadt des heiligen Arnulf, I. Eine Karolingergenealogie aus Metz und die Herkunft der Karolinger im Bewusstsein des 9. Jahrhunderts, in: Frühmittelalterliche Studien 1 (1967), 271. Domus Carolingicae genealogia Nr. 3, ed. G. H. Pertz (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 2), Hannover 1829, 308-312, besonders 308; id., Regum Francorum genealogiae, ibid. 305 sq. Keine merowingische Prinzessin dieses Namens ist in den Quellen belegt. Cf. Oexle, Die Karolinger (nt. 20), 262. Der Biograph Karls des Großen, Einhard, der die Vorfahren Karls bis zu Pippin dem Älteren nannte, wußte von der genealogischen Verbindung der Karolinger zu den Merowingern gar nichts. Cf. Einhardi Vita Karoli Magni, ed. O. Holder-Egger (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 25), HannoverLeipzig 1911, c. 2, 4. Der Versuch K. A. Eckhardts, Merowingerblut 1, Die Karolinger und ihre Frauen, in: Germanenrechte N. F., Deutschrechtliches Archiv 10 (1965), die historische Kontinuität zwischen den Merowingern und Karolingern zu belegen, stützt sich nicht auf nachweisbare Quellen. Cf. E. Hlawitschka, Merowingerblut bei den Karolingern?, in: J. Fleckenstein/K. Schmid (eds.), Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern, Freiburg-Basel-Wien 1968, 66-91. Eine Genealogie der Karolinger auf Grund der historischen Quellen findet sich bei E. Hlawitschka, Die Vorfahren Karls des Großen, in: H. Beumann (ed.), Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, I. Persönlichkeit und Geschichte, Düsseldorf 31967, 51-82. Genealogiae comitum Flandriae, ed. L. C. Bethmann, in: Chronica et annales aevi Salici, ed. G. H. Pertz [e. a.] (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 9), Hannover 1851, 302-336; De genere comitum Flandrensium notae Parisienses, ed. G. Waitz, in: Supplementa tomorum IXII, pars I (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 13), Hannover 1881, 256-259. Cf. Patze, Adel und Stifterchronik I (nt. 13), 15-19.
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Die genealogische Anknüpfung an die Karolinger und Merowinger gewann an Wichtigkeit, als im Bewußtsein der politischen Repräsentanten Westeuropas die Zugehörigkeit zu den Nachfolgern Karls des Großen die Berechtigung zur Ausübung der Herrschermacht belegte 23. Die europäischen Dynastien haben die - tatsächlichen oder fiktiven - genealogischen Bindungen zu Karl dem Großen gesucht und zumeist auch gefunden. Nach und nach wurde ihre genealogische Sukzession dann auch bis zu den Merowingern zurückverfolgt und noch weiter zu den Trojanern oder gar zu den heidnischen Göttern, die seit der ältesten Zeit die mythische Funktion der Herrscher gestärkt haben. Der erste Herrscher im römisch-deutschen Reich, dessen Genealogie mit den Karolingern verbunden wurde, war wohl Heinrich II. (1002-1024). Das gleiche geschah bei seinem Nachfolger, dem salischen Kaiser Konrad II. (10241039) 24. Dieses genealogische Konstrukt wurde auch von den Staufern übernommen. Gottfried von Viterbo († 1192) leitete zuerst die Familiennachfolge der Staufer von Noah ab, und über die Trojanerkönige Priamos und Anchis führte er sie dann bis zu Karl dem Großen. Später verlängerte er sie ausdrücklich bis zum biblischen Adam; so eine Traditionsdauer konnte gewiß niemand überbieten. Von diesem ,Urahn‘ führte die Genealogie unter anderem über den ,König‘ Saturn und seinen Sohn Jupiter, über den angeblichen Begründer Trojas, Troius, und weiter über Priamos, Aeneas, Faramond, die Könige der Merowinger und Karolinger bis zu Friedrich Barbarossa und Heinrich VI. 25 Die Kapetinger hatten ursprünglich nur bescheidene Vorfahren. Erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts verbanden sie, dank der Heirat Ludwigs VII. mit Adele von Champagne im Jahre 1160, ihre Genealogie mit den Karolingern und über diese mit den Merowingern und Trojanern, denn die Grafen von Champagne gehörten zu den Geschlechtern, die ihre Herkunft auf die Karolinger und ihren Vorfahrern zurückführten. Die französische Hofpropaganda konnte so den reditus regni Francorum ad stirpem Karoli feiern. Im Spätmittelalter 23
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Cf. vor allem Guene´e, Histoire et culture (nt. 9), 348 sq.; Kantorowicz, The King’s Two Bodies (nt. 1), 333. Cf. Vita Henrici II. imperatoris auctore Adalbodo, ed. G. Waitz, in: Annales, chronica et historiae aevi Carolini et Saxonici, ed. G. H. Pertz [e. a. ] (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 4), Hannover 1841, c. 1, 684: „[…] qui genealogia computare noverat, audivimus, a Karolo Magno ex parte patris decimam septimam, ex parte matris decimam sextam lineam propagationis tenebat […]“; Wiponis Vita Chuonradi II. imperatoris, ed. G. H. Pertz, in: Historiae aevi Salici, ed. G. H. Pertz [e. a. ] (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 11), Hannover 1854, c. 2, 258; ibid., c. 4, 261: „Super hos omnes dilecta regis coniunx Gisela prudentia et consilio viguit. Cui pater erat Herimannus, dux Alamanniae; mater eius Kerbirga filia Chuonradi regis de Burgundia fuit, cuius parentes de Caroli Magni stirpe processerant.“ Cf. Schmid, De regia stirpe Waiblingensium. Bemerkungen zum Selbstverständnis der Staufer, in: Zeitschrift für Geschichte Oberrheins 124, NF 85 (1976), 64; C. Ehlers, Metropolis Germaniae. Studien zur Bedeutung Speyers für das Königtum (751-1250), Göttingen 1996, 176. Gotifredi Viterbiensis Speculum regum, ed. G. Waitz, in: Historici Germaniae saec. XII., ed. G. H. Pertz [e. a.] (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 22), 21-93. Gotifredi Viterbiensis Pantheon, Origo regum Francorum etc., ed. G. Waitz, ibid., 301.
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wurden die Genealogien der französischen Könige dann auch auf den sagenhaften Priamos zurückgeführt 26. Auch die Könige von England, die früher ihre Abstammung vom heidnischen Gott Wotan ableiteten, den sie um 950 unter die Nachfolger von Noah und Adam eingereiht hatten 27, verbanden im hohen und späten Mittelalter ihre Abstammung mit den Trojanern. Ihre Genealogie begründeten sie mit dem sagenhaften heros eponymos der Briten, Brutus, einem angeblichen Enkel des Königs von Troja, Aeneas. In die englische Historiographie wurde er von Geoffrey of Monmouth (ca 1090/1100-1150) eingeführt 28. Ein außerordentlich hohes Selbstbewußtsein verrieten die Genealogien der Herzöge von Brabant. Für den Herzog Johann I. (1267-1294) wurde kurz nach dem Jahr 1268 eine repräsentative Genealogie geschaffen, durch die sich Ansprüche auf die Regierung fast über ganz Westeuropa stützen ließen. Sie begann mit dem ,König von Frankreich‘ Priamos als Gründer des Hauses und verlief über die Merowinger und Karolinger zu den Herzogen von Lothringen und Brabant; später wurde sie bis zu den biblischen Patriarchen zurück verlängert 29. Eine komplizierte Entwicklung verzeichneten die genealogischen Spekulationen der Habsburger. Im 13. Jahrhundert bekannten sich die Habsburger zu den 26
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Zum reditus regni Francorum cf. Vincencius Bellovacensis, Speculum historiale, Duaci 1624 [Nachdr. Graz 1965], lib. 31, c. 126, 1276. Cf. J. Dhondt, Königswahl und Thronerbrecht zur Zeit der Karolinger und ersten Kapetinger, in: E. Hlawitschka (ed.), Königswahl und Thronfolge in fränkisch-karolingischer Zeit, Darmstadt 1975, 144-189; K. F. Werner, Die Legitimität der Kapetinger und die Entstehung des „Reditus regni Francorum ad stirpem Karoli“, in: Die Welt als Geschichte 12 (1952), 203-225; R. Folz, Le souvenir et la le´gende de Charlemagne dans l’Empire germanique me´die´val, Paris 1950, 279; B. Guene´e, Les ge´ne´alogies entre l’histoire et la ˆ ge, in: Annales. E´conomies. Socie´te´s. politique: La fierte´ d’eˆtre Cape´tien, en France, au Moyen A Civilisations 33 (1978), 462; Genicot, Les ge´ne´alogies (nt. 17), 16 sq., 39; G. Melville, Geschichte in graphischer Gestalt. Beobachtungen zu einer spätmittelalterlichen Darstellungsweise, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein (nt. 13), 68-82, 96. Zu den heidnischen Göttern in den germanischen Genealogien cf. Hauck, Lebensnormen (nt. 19), 186-195; F. Graus, Volk, Herrscher und Heiliger im Reich der Merowinger. Studien zur Hagiographie der Merowingerzeit, Prag 1965, 317-319; Genicot, Les ge´ne´alogies (nt. 17), 16 sq., 39; Melville, Geschichte (nt. 26), 96. Cf. Galfredi Monumetensis Historia regum Britanniae II, 1, ed. San-Marte, Halle 1854, 20. Cf. L. Johnson, Etymologies, Genealogies, and Nationalities (Again), in: S. Forde/L. Johnson/A. V. Murray (eds.), Concepts of National Identity in the Middle Ages (Leeds Texts and Monographs, N.S. 14), Leeds 1995, 124-133; Melville, Geschichte (nt. 26), 93-95; id., Vorfahren (nt. 15), 246-248. Genealogiae ducum Brabantiae, ed. J. Heller, in: Gesta saec. XIII., ed. G. Waitz (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 25), Hannover 1880, 385-404. Zu den Regierungsansprüchen auf den französischen Thron cf. Genealogiae ducum Brabantiae I, Genealogia ducum Brabantiae heredum Franciae, ed. J. Heller, ibid., 385-391, eindeutig 388: „Lotharius rex genuit Ludovicum ultimum regem huius stirpis, qui mortuus est sine herede. Cui successisse debuisset Karolus, patruus suus, dux Brabancie recta linea secundus heredes; sed Hugo Capet regnum Francorum fraudulenter intravit et posteris hereditarie suis reliquit.“ Zu den brabantischen Genealogien cf. Folz, Le souvenir (nt. 26), 377 sq., 538 sq.; A. Grunzweig, Le grand Duc de Ponant, in: Moyen Aˆge 62 (1956), 139 sq.; Melville, Vorfahren (nt. 15), 289-296. Zu den Herzogen von Brabant als Fortsetzern der stirps Karoli Magni cf. R. Schieffer, Die Karolinger, Stuttgart-Berlin-Köln 1992, 225.
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römischen Senatoren als ihren Urvätern, am Ende des Mittelalters dagegen, im Bestreben den westeuropäischen Herrscherhäusern gleichzukommen, versuchten sie ihre Abstammung ebenfalls mit der trojanischen Sage zu verbinden 30. Wie gestalteten sich nun diese Vorstellungen im mittelalterlichen Böhmen? Die erste ,Theorie‘ über die Anfänge Böhmens und die Entstehung des böhmischen Staates hat der erste böhmische Historiker, Cosmas von Prag, im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts entwickelt 31. Seiner Darstellung nach begann die Geschichte Böhmens mit der Ankunft des Volkes im böhmischen Kessel. Die Reihe der in der Cosmas-Chronik genannten mythischen Fürsten repräsentiert die Tradition, das heißt Dauer, der Herrschermacht und des böhmischen Staats. Cosmas gibt in dieser Liste keine genealogischen Zusammenhänge zwischen den mythischen Prˇemysliden an 32. In der Szene der Berufung Prˇemysls des Pflügers vom Pflug auf den Herzogsstuhl erwähnt er jedoch die Nachkommenschaft Prˇemysls, die für alle Zeiten im Lande herrschen solle 33. Diese Formulierung erlaubte also auch dort, eine Familiennachfolge zu vermuten. Eindeutig führt Cosmas den Stammbaum der historischen Prˇemysliden angefangen vom Großvater des heiligen Wenzel Borˇivoj, der der Tradition nach für den ersten christlichen Herrscher gehalten wurde, beziehungsweise von seinem Vater, Hostivı´t 34. Der Verfasser des letzten Teiles der zweiten Fortsetzung der Cosmas-Chronik 35 verstand offensichtlich die Liste der mythischen Fürsten in der Cosmas30
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Zu den Sagen vom römischen Ursprung der Habsburger cf. A. Lhotsky, Apis Colonna. Fabeln und Theorien über die Abkunft der Habsburger. Ein Exkurs zur Cronica Austrie des Thomas Ebendorfer, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 55 (1944), 171-243, 171-203; J. W. Busch, Mathias von Neuenburg, Italien und die Herkunftssage der Habsburger, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 142 (1994), 103-116. Cosmae Pragensis Chronica Boemorum (nt. 16), I, 29, 5-22. Zur Problematik der Tradierung von den Anfängen und der mythischen ,Geschichte‘ Böhmens cf. F. Graus, Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, Köln-Wien 1975, passim; jüngst: E. Clemens, Luxemburg-Böhmen, Wittelsbach-Bayern, Habsburg-Österreich und ihre genealogischen Mythen im Vergleich, Trier 2001, 3-113. Zur Problematik der ältesten Herrschergenealogien cf. Bla´hova´, Panovnicke´ genealogie (nt. 18), 29-31. Zur Entstehung des Staates bei Cosmas von Prag cf. M. Bla´hova´, Die Anfänge des böhmischen Staates in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung, in: F.-R. Erkens/H. Wolff (eds.), Von Sacerdotium und Regnum. Geistliche und weltliche Gewalt im frühen Mittelalter. Festschrift für Egon Boshof zum 65. Geburtstag, Köln-Weimar-Wien 2002, 67-76. Cosmae Pragensis Chronica Boemorum (nt. 16), 21: „[…] Primizl […] raptus est ad Cereris generum. Cui Nezamizl successit in regnum. Hunc ubi mors rapuit, Mnata principales obtiuit fasces. Quo decedente ab hac vita Voyn suscepit rerum gubernacula. Huius post fatum Vnizlau rexit ducatum. Cuius vitam dum rumpunt Parce, Crezomizl locatur sedis in arce. Hoc sublato e medio Neclan ducatus potitur solio. Hic ubi vita discessit, Gostivit throno successit […].“ Ibid. I, 5, 15: „[…] Huius proles postera hac in omni terra in eternum regnabit et ultra.“ Ibid., I, 6, 16: „[…] et tibi ac tuis nepotibus fatale regnum accipias […].“ Cf. ibid., I, 10, 22. Kosmova Letopisu cˇeske´ho pokracˇovatele´, ed. J. Emler (Fontes rerum Bohemicarum - Prameny deˇjin cˇesky´ch 2), Prag 1875, 270-370, darin: Vy´pisky z Vincencia, Gerlacha a jiny´ch starsˇ´ıch letopiscu˚ cˇesky´ch, 270-281; Letopisy cˇeske´ od roku 1196 do roku 1278, 282-303; Prˇ´ıbeˇhy kra´le Prˇemysla Otakara II., 308-335; Prˇ´ıbeˇhy kra´le Va´cslava I., 303-308; Vypravova´nı´ o zly´ch le´tech po smrti kra´le Prˇemysla Otakara II., A-B, 335-368; Za´veˇrek sbeˇratele, 368-
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Chronik oder vielmehr im offiziellen Herrscherkatalog des Prager Hofes, den er als seine Vorlage benutzte 36, als Fürstenreihe ohne irgendeine genealogische Kontinuität. Auch Heinrich von Heimburg führte am Ende des 13. Jahrhunderts in seiner einigermaßen wirren Erzählung der mythischen Geschichte Böhmens nur die Fürstennamen an, ohne irgendwelche familiären Zusammenhänge 37. Die Dauer des prˇemyslidischen Staates sowie seiner Herrscher wurde auch in der Rundkirche in Znojmo, der Burg der mährischen Teilfürsten, dargestellt. Auf ihren Wänden wurde, wahrscheinlich im Jahre 1134 38, ein Herrscherkatalog abgebildet, dessen Vorlage wohl die Cosmas-Chronik war 39. Die Szene der Berufung Prˇemysls des Pflügers präsentiert die Anfänge des Staates, die Gestalten der regierenden Prˇemysliden und der mährischen Teilfürsten zeigen seine weitere Entwicklung. Ähnliche Herrscherreihe bildeten wohl unter den Prˇemysliden ein häufiges Motiv für die Ausschmückung von sakralen und vermutlich auch profanen Bauten 40. Allmählich setzten sich jedoch auch hier genealogische Beziehungen zwischen den mythischen Fürsten durch, und die ,Dauer‘ der Dynastie, die in Cosmas’ Zeit etwa zweieinhalb Jahrhunderte betragen hatte, wurde auf diese Weise we-
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370). Zu diesem Werk cf. A. Bachmann, Über ältere böhmische Geschichtsquellen II. Die II. (Strahover) Fortsetzung des Cosmas von 1140-1196; V. Die böhmischen Annalen des 13. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Vereins für die Geschichte der Deutschen in Böhmen 5 (1901), 116-138; B. Mendl, Z prˇedzveˇstı´ cˇeske´ho humanismu: Porˇadatel letopisu˚ prazˇsky´ch, in: Sbornı´k pracı´ veˇnovany´ch J. B. Nova´kovi k sˇedesa´ty´m narozenina´m, Prag 1932, 60-85; K. Hrdina, Annales Otakariani, in: Cˇasopis Matice Moravske´ 67 (1947), 31-47; M. Bla´hova´, Druhe´ pokracˇova´nı´ Kosmovo, in: Sbornı´k historicky´ 21 (1974), 5-39. Cf. M. Bla´hova´, Strˇedoveˇke´ katalogy cˇesky´ch knı´zˇat a kra´lu˚ a jejich pramenna´ hodnota, in: S´redniowiecze polskie i powszechne 1, Kattowitz 1999, 34 sq., 47-50. Letopisove´ Jindrˇicha Heimburske´ho, ed. J. Emler (Fontes rerum Bohemicarum - Prameny deˇjin cˇesky´ch 3), Prag 1882, 306 sq. Diese an der Wand der Kirche angeführte Jahreszahl ist nicht ganz zuverlässig. Cf. A. Vidmanova´, Pozna´mky k datacˇnı´mu na´pisu v kapli sv. Katerˇiny ve Znojmeˇ, in: P. Ciprian (ed.), Znojemska´ rotunda ve sveˇtle veˇdecke´ho pozna´nı´, Znojmo 1996, 50-58. Cf. A. Merhautova´-Livorova´, Ikonografie znojemske´ho prˇemyslovske´ho cyklu, Umeˇnı´ 31 (1983), 18-26; B. Krzemien´ska, Moravsˇtı´ Prˇemyslovci ve Znojemske´ rotundeˇ, in: B. Krzemien´ska/A. Merhautova´/D. Trˇesˇtı´k, Moravsˇtı´ Prˇemyslovci ve znojemske´ rotundeˇ, Prag 2000, 13-17. In der älteren Literatur wurde dieser Herrscherkatalog irrtümlich auch als ,Genealogie‘ bezeichnet. Cf. e. g. F. Graus, St. Adalbert und St. Wenzel. Zur Funktion der mittelalterlichen Heiligenverehrung in Böhmen, in: K.-D. Grothusen et K. Zernack (eds.), Europa slavica - Europa orientalis. Festschrift für Herbert Ludat zum 70. Geburtstag, Berlin 1980, 209 sq. Cf. M. Bla´hova´, Obrazove´ deˇjiny v cˇesky´ch zemı´ch ve strˇedoveˇku, in: S. Rosik/P. Wiszewski (eds.), Imago narrat. Obraz jako komunikat w społeczen´stwach europejskich (Acta Universitatis Wratislaviensis No. 2478. Historia 161), Breslau 2002, 233. Bilderzyklen mit geschichtlicher Thematik, die ein Herrschergeschlecht im Bild darstellen, sind in Mitteleuropa bis in die Zeit der Karolinger zu verfolgen. Cf. e. g. J. Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1987, vol. 1, 157-161; E. Lanc, Kaiser Friedrich II. auf der Festung Hohensalzburg. Zu historiographischen Bilderzyklen in mittelalterlichen Residenzen, in: Z. Vsˇetecˇkova´ (ed.), Schodisˇtnı´ cykly velke´ veˇzˇe hradu Karlsˇtejna. Stav po restaurova´nı´ (Pru˚zkumy pama´tek, rocˇnı´k XIII - prˇ´ıloha), Prag 2006, 178-185.
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sentlich verlängert. Einer der Verfasser der Annalen von Hradisch-Opatowitz 41 ließ die prˇemyslidische Genealogie - zumindest in der weiblichen Linie - gar mit dem heros eponymos der Böhmen beginnen, dem Urvater Boemus, der in den Annalen als direkter Vorfahr von Prˇemysls Gattin Libusˇe angeführt wird. Die Dynastie wurde dadurch in den ersten Anfängen der Geschichte Böhmens verankert 42. Die genealogischen Beziehungen zwischen den mythischen und den ,historischen‘ Fürsten wurden dann in der alttschechischen Chronik des so genannten Dalimil 43 und in anderen Quellen, einschließlich einiger Wenzellegenden 44, ausgeführt. Als Urahn des böhmischen Herrscherhauses galt schon damals allgemein Prˇemysl der Pflüger. In Verbindung mit der Festigung des böhmischen Staats setzte sich in der prˇemyslidischen Zeit auch die ,dauernde‘, überpersonale, charismatische Funktion des Herrschers durch. Sie wurde durch den heiligen Wenzel als ,ewigen Fürsten‘ repräsentiert, der seine Macht dem regierenden Herrscher übergibt 45. Zur Änderung der genealogischen Vorstellungen der böhmischen Herrscher kam es nach der Besteigung des böhmischen Throns durch die Luxemburger im Jahre 1310. Der erste Luxemburger auf dem böhmischen Thron, Johann (1310-1346) 46, war der Sohn des Grafen von Luxemburg und des römisch41
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Letopisy Hradisˇtsko-opatovicke´, ed. J. Emler, Fontes 2 (nt. 35), 385-400. Cf. V. Novotny´, Studien zur Quellenkunde Böhmens, III: Annales Gradicenses et Opatovicenses, Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 24 (1903), 580-602; J. Zezulcˇ´ık, Ana´ly hradisˇt’sko-opatovicke´, Diss. Olmütz 1984; M. Wihoda, Ana´ly hradisˇt’sko-opatovicke´ nebo Prvnı´ moravska´ kronika? Po stopa´ch nekosmovske´ho pojetı´ cˇesky´ch deˇjin, in: J. Malı´rˇ/R. Vlcˇek (eds.), Morava a cˇeske´ na´rodnı´ veˇdomı´ od strˇedoveˇku po dnesˇek (Disputationes Moravicae 2), Brünn 2001, 25-32. Letopisy Hradisˇtsko-opatovicke´ (nt. 41), 386. Cf. Clemens, Luxemburg-Böhmen (nt. 31), 41 sq. Starocˇeska´ kronika tak ˇrecˇene´ho Dalimila. Vyda´nı´ textu a vesˇkere´ho textove´ho materia´lu, vol. 1, ed. J. Danˇhelka/K. Ha´dek/B. Havra´nek/N. Kvı´tkova´, Prag 1988, 17. Die Problematik der Chronik und ihrer Autors ist behandelt in: M. Bla´hova´, Starocˇeska´ kronika tak rˇecˇene´ho Dalimila v kontextu latinske´ strˇedoveˇke´ historiografie a jejı´ pramenna´ hodnota (Starocˇeska´ kronika tak rˇecˇene´ho Dalimila 3), Prag 1995. Zu den genealogischen Beziehungen Bla´hova´, Panovnicke´ genealogie (nt. 18), 30-31. Legenda Christiani. Vita et passio sancti Wenceslai et sancte Ludmile ave eius, ed. J. Ludvı´kovsky´, Prag 1978, 18: „[…] a supra memorato principe [Premizl] ex sobole eius rectores seu duces proposuere sibi […]“; Zˇivot sv. Ludmily, ed. J. Emler (Fontes rerum Bohemicarum - Prameny deˇjiny cˇesky´ch 1), Prag 1873, 192: „[…] Przyemyzl sibi in principem elegerunt, eum predicte pythonisse […] copulantes. Ex quorum illustri prosapia […] dux Borzywoy piissimus nascebatur […].“ Die Problematik der Wenzellegenden (mit weiterer Literatur) ist dargestellt in: J. Nechutova´, Latinska´ literatura cˇeske´ho strˇedoveˇku do roku 1400, Prag 2000, 39-49, 248-252. Cf. D. Trˇesˇtı´k, Kosmova kronika. Studie k pocˇa´tku˚m cˇeske´ho deˇjepisectvı´ a politicke´ho mysˇlenı´, Prag 1968, 183-231. Zum ersten Luxemburger auf dem böhmischen Thron cf. J. Sˇusta, Kra´l cizinec (Cˇeske´ deˇjiny II, 2), Prag 1939; J. Speˇva´cˇek, Kra´l diplomat, Jan Lucembursky´ (1296-1346), Prag 1962; id., Jan Lucembursky´ a jeho doba, 1296-1346, K prvnı´mu vstupu cˇesky´ch zemı´ do svazku se za´padnı´ Evropou, Prag 1994; M. Pauly (ed.), Johann der Blinde, Graf von Luxemburg, König von Böhmen, 1296-1346, Luxemburg 1997; J. K. Hoensch, Die Luxemburger. Eine spätmittelalterliche Dynastie gesamteuropäischer Bedeutung 1308-1347, Stuttgart 2000, 51-104; L. Bobkova´, Velke´ deˇjiny zemı´ Koruny cˇeske´ IV a 1310-1402, Prag 2003, 11-212.
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deutschen Kaisers Heinrich VII. und seiner Gattin Margarete von Brabant, der Tochter des schon erwähnten Johann I. von Brabant. Vor allem die Abstammung Margaretes war in diesem Zusammenhang sehr wichtig, da sie die Erbin einer glänzenden brabantischen genealogischen Tradition war, die in gerader Linie zu Karl dem Großen und seinen Vorgängern führte. Wie schon gesagt, begann diese Genealogie mit dem ,König von Frankreich‘ Priamos als Gründer des Hauses und führte über die Merowinger und Karolinger zu den Herzogen von Lothringen und Brabant. Weder die Regierungsführung Johanns von Luxemburg noch die Verhältnisse im Lande schufen jedoch zu diesem Zeitpunkt das Bestreben, die Stellung des neuen Königs und seine Ansprüche in Böhmen durch die Hervorhebung der Blutverwandtschaft mit der westeuropäischen stirps regia oder mit den zeitgenössischen Herrscherhäusern ideologisch zu begründen. Die Aufgabe, in der Ideologie und Politik des böhmischen Staates einen Platz für die neue Dynastie zu finden, wurde von Karl IV. (1346-1378) 47, dem Sohn Johanns und Erben der luxemburgisch-brabantischen und der prˇemyslidischen Tradition, übernommen. Die westeuropäischen und böhmischen Familientraditionen sollten seine Legitimität und sein Anrecht auf den Thron Böhmens und des Reiches bestätigen. Zugleich repräsentierte diese Tradition die lange Dauer der Herrschermacht und festigte die Herrscherlegitimität des stolzen Luxemburgers. Von dem Augenblick an, als Karl IV. die Regierung im Reich und in Böhmen antrat, verbreitete die offizielle Propaganda seines Hofes mit Selbstbewußtsein die Familienbeziehungen, die Abstammung und Dauer der Dynastie. Im Gesuch um die päpstliche Zustimmung zur Wahl Karls zum römischen König hob der Prager Erzbischof Ernst von Pardubice am 5. November 1346 in Avignon auch die Abstammung des neuen Herrschers ex alta regali et imperiali prosapia hervor: dem Vater nach sollte der gewählte König aus dem Hause der durchlauchtigen Grafen von Luxemburg und Herzöge von Brabant und Limburg stammen, der Grafen von Flandern, Hennegau und Geldern, und aus zahlreichen weiteren edlen Geschlechtern, der Mutter nach wäre er Nachkomme der glorreichen böhmischen Könige aus dem Haus des heiligen Wenzel 48. In der böhmischen Umwelt wurden die väterlichen Ahnen Karls vom Prager Augustiner Nikolaus von Louny († 26. 3. 1371) in einer Predigt vorgestellt, die dieser 47
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Von den zahlreichen Arbeiten über Karl IV. cf. besonders J. Sˇusta, Karel IV. Otec a syn (Cˇeske´ deˇjiny II, 3), Prag 1946; id., Karel IV. Za cı´sarˇskou korunou (Cˇeske´ deˇjiny II, 4), Prag 1948; F. Seibt, Karl IV. Ein Kaiser in Europa 1346-1378, München 1978; J. Speˇva´cˇek, Karel IV. Zˇivot a dı´lo (1316-1378), Prag 1979; F. Kavka, Vla´da Karla IV. za jeho cı´sarˇstvı´ (1355-1378), 2 voll., Prag 1993; id., Karl IV. Ein Kaiser in Europa 1346-1378; id., Karel IV. Historie zˇivota velke´ho vladarˇe, Prag 1998; Hoensch, Die Luxemburger (nt. 46), 105-217; Bobkova´, Velke´ deˇjiny IV a (nt. 46), 213-586. Collatio archiepiscopi Pragensis cum petitione approbationis, in: K. Zeumer/R. Salomon (eds.) (Monumenta Germaniae Historica. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 8, 1), Hannover-Leipzig 1910, 140, n. 99. Cf. J. Polc, Ernst von Pardubitz, in: F. Seibt (ed.), Lebensbilder zur Geschichte der böhmischen Länder 3, Karl IV. und sein Kreis, München-Wien 1978, 25-41; M. Bla´hova´, Panovnicke´ genealogie (nt. 18), 35.
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bei Gelegenheit der Krönung Karls am 2. September 1347 für die Geistlichkeit in der Prager Kathedralkirche hielt 49. Karls prˇemyslidische Vorfahren mußte er nicht vorstellen, sie waren dem böhmischen Klerus gut bekannt. Die Familienbeziehungen wurden von Karl IV. selbst in verschiedenen Zusammenhängen hervorgehoben 50. Vor allem wurden die genealogischen Traditionen jedoch zum Bestandteil der ideologischen Propaganda seines Hofes, die unter anderem durch die offizielle Geschichtsschreibung und durch Hofkünstler verbreitet wurde 51. Während Karl selbst in seiner Autobiographie nur seine Eltern und Großeltern nannte 52, führten die Hofhistoriker eine ganze Reihe der böhmischen Fürsten und Könige an. Die glänzende Abstammung Karls väterlicherseits wurde in Anknüpfung an die schon erwähnte Staufergenealogie Gottfrieds von Viterbo geschildert, vor allem von dem gebürtigen Florentiner Minoriten und päpstlichen Legaten, dem Bischof von Bisignano, Johann Marignola († 1358/1359), der Tischgenosse und Kaplan Karls IV. war und eine Chronik der Böhmen verfaßte 53. Karl IV. stammte nach seiner Auffassung aus dem Hause Karls des Großen und damit also von den Trojanern ab. Durch die Trojaner soll Karl unmittelbarer Nachkomme der heidnischen Götter Saturn und Jupiter gewesen sein, und zu seinen Vorfahren sollen der Sohn von Aeneas, die Tochter des 49
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J. Kadlec, Die homiletischen Werke des Prager Magisters Nikolaus von Louny, in: Augustiniana 23 (1973), 1-2, 249 sq., Edition 262-270, Genealogie 268 sq. Cf. Hemmerle, Nikolaus von Laun, Lebensbilder (nt. 48), 175-197. Zˇivot cı´sarˇe Karla IV., ed. J. Emler, Fontes 3 (nt. 37), c. 3, 339-341, 349. Cf. dazu besonders W. Eggert, … einen Sohn namens Wencelaus. Beobachtungen zur Selbstbiographie Karls IV., in: Karl IV. Politik und Ideologie im 14. Jahrhundert, ed. E.-M. Engel, Weimar 1982, 171-178; M. Bla´hova´, Litera´rnı´ cˇinnost Karla IV., in: Kroniky doby Karla IV., ed. J. Ersˇil/M. Bla´hova´/J. Zachova´, Prag 1987, 559-564, 586-588; S. Hartmann, Die ,Autobiographie‘ Karls IV. „Politische Rechtfertigungsschrift“ oder „Heiligenvita“?, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 4 (1986/87), 67-79; W. Lammers, Unwahres oder Verfälschtes in der Autobiographie Karls IV.?, in: Fälschungen im Mittelalter (nt. 14), 339-376; E. Schlotheuber, Die Autobiographie Karls IV. und die mittelalterlichen Vorstellungen vom Menschen am Scheideweg, in: Historische Zeitschrift 281 (2005), 561-591. Cf. M. Bla´hova´, Zur Fälschung und Fiktion in der offiziellen Historiographie der Zeit Karls IV., in: Fälschungen im Mittelalter (nt. 14), 377-394; ead., Offizielle Geschichtsschreibung in den mittelalterlichen böhmischen Ländern, in: Die Geschichtsschreibung in Mitteleuropa (Subsidia historiographica 1), Thorn 1999, 21-40. Zˇivot cı´sarˇe Karla IV. (nt. 50), c. 3, 339. Kronika Jana z Marignoly, ed. J. Emler, Fontes 3 (nt. 37), 492 sq., 519. Cf. Z. Kalista, ,De Janan, alia lingua Janus italico … descenderunt primi Boemi‘ (Na okraj kroniky Giovanniho de Marignolli), in: D. Gerhard/W. Weintraub (eds.), Orbis scriptus. Festschrift für D. Tschizˇevski, München 1966, 421-430. A.-D. von den Brincken, Die universalhistorischen Vorstellungen des Johann von Marignola OFM. Der einzige mittelalterliche Weltchronist mit Fernostkenntnis, in: Archiv für Kulturgeschichte 49 (1967), 297-339; W. Giese, Tradition und Empirie in den Reiseberichten der Kronika Marignolova, in: Archiv für Kulturgeschichte 56 (1974), 447-456; M. Bla´hova´, Cˇeska´ kronika Jana Marignoly, in: Kroniky doby Karla IV. (nt. 50), 580-583, 593 sq.; K. Engstova´, Marignolova kronika. Zdroj nove´ho pohledu na problematiku doby Karla IV., Diss. Prag 1999; ead., Marignolova kronika jako obraz prˇedstav o moci a postavenı´ cˇeske´ho kra´le, in: Mediaevalia historica Bohemica 6 (1999), 77-94.
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Etruskischen Fürsten Johann (richtig: Latinus), Lavinia, und Julius Caesar gehört haben. Bezüglich der böhmischen Vorfahren Karls wußte sich Marignola jedoch keinen Rat. Seinen Quellen folgend stellte er die Anfänge der Geschichte Böhmens dar und führte einen Katalog der böhmischen Herrscher, einschließlich der mythischen Prˇemysliden, an, ohne jedoch die genealogischen Zusammenhänge zu kennzeichnen 54. Der zweite Hofhistoriograph Karls IV., Prˇibı´k Pulkava von Radenı´n († 1378/ 1380) 55, präsentierte wieder die ganze ,Genealogie‘ der Prˇemysliden und damit auch die Dauer des böhmischen Herrscheramtes von Prˇemysl dem Pflüger an. Prˇibı´k Pulkava nannte folgerichtig die einzelnen mythischen Fürsten als Söhne ihrer Vorgänger, darüber hinaus gliederte er in diese prˇemyslidische Genealogie auch die mythischen Rivalen der Prˇemysliden ein 56. Ähnlich wie in älteren Staats- und Volksgeschichten Böhmens wurde die Kontinuität des böhmischen Volkes seit dem Turmbau zu Babel behauptet 57. Die historischen Traditionen, die Dauer der Herrscherdynastie sowie des kaiserlichen Amtes, die die Stellung und Ambitionen Karls IV. unterstrichen, wurden im Dienste der offiziellen Propaganda auch in der bildnerischen Gestaltung der repräsentativen Räume ausgenutzt, vor allem in den Thronsälen der Prager Burg und der Burg Karlstein. Die Ausschmückung der beiden Säle ist leider nicht im Original erhalten; beide sind nur mit Hilfe indirekter Quellen zu rekonstruieren. Die Karlsteiner Aula ist besser dokumentiert, dank der Kopien von Bildern und der Beschreibungen, die in einigen Handschriften erhalten sind 58. Diesen Quellen zufolge zierte die Wände der Karlsteiner Aula eine gemalte Genealogie der Luxemburger, die von Noah über weitere biblische Gestalten zu Saturn und 54 55
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Kronika Jana z Marignoly (nt. 53), 526. Cf. Bla´hova´, Panovnicke´ genealogie (nt. 18), 37 sq. Kronika Pulkavova, ed. J. Emler/J. Gebauer (Fontes rerum Bomicarum - Prameny deˇjin cˇesky´ch 5), Prag 1893. Cf. besonders M. Bla´hova´, Prˇibı´ka Pulkavy z Radenı´na Kronika cˇeska´, in: Kroniky doby Karla IV. (nt. 50), 572-580, 590-593; W. Ivan´czak, Horyzont geograficzny dziejopisarstwa czeskiego czaso´w Karola IV na przykładzie Kroniki Pukawy, in: A. Barciak (ed.), Z´ro´dła Kultury umysłowej w Europie S´rodkowej ze szczego´lnym uwzgle˛dnieniem Go´rnego S´la˛ska, Kattowitz 2005, 56-70. Kronika Pulkavova (nt. 55), 13. Kronika Pulkavova (nt. 55), 3 sq. Die Bilderkopien finden sich im Kodex der Österreichischen Nationalbibliothek, Ms. 8330, im sogenannten Heidelberger Kodex in der Nationalgalerie in Prag, AA 2015, und im Kodex der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, cod. 60.5 Aug. 2. Die Reproduktion des Wiener Kodex wurde herausgegeben von J. Neuwirth, Der Bildercyklus des Luxemburger Stammbaumes aus Karlstein, Prag 1897. Die Genealogie wurde aus diesem Kodex ediert u. a. von Folz, Le Souvenir (nt. 26), 441 sq.; Clemens, Luxemburg-Böhmen (nt. 31), 320 sq. Cf. auch Lhotsky, Apis Colonna (nt. 30), 243; A. Friedl, Mikula´sˇ Wurmser, mistr kra´lovsky´ch portre´tu˚ na Karlsˇtejneˇ, Prag 1956; K. Stejskal, Matousˇ Ornys a jeho Rod cı´sarˇe Karla IV., in: Umeˇnı´ 24 (1976), 13-58; id., Die Rekonstruktion des Luxemburger Stammbaums auf Karlstein, in: Umeˇnı´ 26 (1978), 535-563. Zur Datierung der Bildergalerie ibid., 554; Clemens, Luxemburg-Böhmen (nt. 31), 83-94; H. Hlava´cˇkova´, Idea dobre´ho panovnı´ka ve vy´zdobeˇ Karlsˇtejna, in: Schodisˇtnı´ cykly (nt. 40), 11-13.
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Jupiter führte, weiter zu Priamos, Faramund, den Merowingern, den Karolingern und von ihnen zu den Herzogen von Lothringen und Brabant. Johann von Luxemburg und Karl IV. wurden als Nachkommen Heinrichs VII. und Margaretes von Brabant abgebildet. In der Genealogie taucht auch Karls Mutter Elisabeth, Tochter des Königs Wenzel II., auf. Wie es in den mittelalterlichen Genealogien üblich war, wurden neben den weiblichen Heiligen nur die Frauen angeführt, die die Verbindung mit berühmten Dynastien, neue Würde oder die Macht über neue Gebiete vermittelten. Die genealogischen Verbindungen wurden regelmäßig durch das Wort , genuit ‘ unterstrichen. Der brabantische Teil der Genealogie war wohl nach der Genealogie der Herzöge von Brabant von Johann von Boendale, genannt de Klerk († 1351) abgebildet worden 59. Für den Prager Thronsaal stehen weniger Quellen zur Verfügung. Auch diesen Raum zierte eine Bildergalerie. Josef Neuwirth hat in den neunzigen Jahren des 19. Jahrhunderts eine Verbindung hergestellt zwischen einigen Texte, in einem Fall auch Bildern, die wiederum in Handschriften erhalten sind, zum Bilderzyklus des Prager Thronsaal, der die böhmischen Herrscher von Prˇemysl dem Pflüger an darstellen sollte 60. Diese Hypothese wurde allgemein akzeptiert und wird im Widerspruch zur neueren Forschung auch jetzt noch ab und zu angeführt 61. Bei der Restaurierung des Prager Thronsaales, der unter Vladislav Jagello am Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts und dann erneut nach einem Brand im Jahre 1541 umgebaut worden war, wurden kleine Überreste der Originalinschriften zu den Tafelbildern der Zeit Karls IV. gefunden 62: eine fast vollständige Inschrift, die sich auf Karl III. (den Dicken) bezieht, und einige Überreste der Inschrift zum Bild des byzantinischen Kaisers Leo IV. Eine andere Prager Inschrift hat der Editor der ältesten gedruckten Sammlung von antiken Inschriften, Petrus Appianus, im Jahre 1534 publiziert. Sie bezog sich auf die Herrscher von vier Monarchien des Altertums: Ninus als Herrscher des Ostens, Alexander den Großen als Monarch des Nordens, den Heerführer von Karthago, Tola, als Gründer der Monarchie des Südens und Romulus als Vertreter der westlichen Monarchie 63. Diesen Quellen nach zu urteilen waren die Wände
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Heller, Genealogia (nt. 29), 391-399. Der Editor der Chronik J. F. Willems, De brabantsche Yeesten of Rymkronyk van Brabant door Jan de Klerk van Antwerpen I, Brüssel 1839, ließ die Genealogie aus. Ausführlicher und mit älterer Literatur: M. Bla´hova´, Panovnicke´ genealogie (nt. 18), 24 sq.; Clemens, Luxemburg-Böhmen (nt. 31), 81-99. Österreichische Nationalbibliothek, Mss. 7304, 8491, 8043; Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, cod. 60.5. Aug. 2. Cf. J. Neuwirth, Der verlorene Cyklus böhmischer Herrscherbilder in der Prager Königsburg, Prag 1896. Zuletzt Clemens, Luxemburg-Böhmen (nt. 31), 77-80, 316-319. Die Inschriften hat Antonı´n Salacˇ am Anfang der sechzigen Jahre des vorigen Jahrhunderts identifiziert. Cf. A. Salacˇ, Zur Geschichte der Bautätigkeit Karls IV. auf der Prager Burg, in: Renaissance und Humanismus in Mittel- und Osteuropa. Eine Sammlung von Materialien II, Berlin 1962, 304-306. Cf. Salacˇ, Zur Geschichte (nt. 62), 304.
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des Prager Thronsaales mit den Tafelbildern der Weltherrscher, der römischen, byzantinischen und römisch-deutschen ,Kaiser‘ dekoriert. Diese Tatsache wird auch von einem unbekannten Besucher oder Bewohner Prags bestätigt, der in einer Handschrift der Karl IV. gewidmeten Universalchronik von Marco Battagli aus Rimini (,Marcha‘) 64 am Rande des Textes über Heinrich VI. notierte: „Usque huc imperatores in pallatio regali sunt depicti in castro Pragensi […].“ Der Schreiber machte diese Bemerkung wohl irrtümlich über Heinrich VI. statt Heinrich VII., mit dem die Reihe von Karls Vorgängern auf dem Kaiserthron höchstwahrscheinlich zu Ende ging. Die Bildergalerie begann also wohl mit Herrschern der vier Monarchien des Altertums: Ninus, Alexander dem Großen, Tola und Romulus, und lief bis zu Karls Vorfahr Heinrich VII. Karls Rivale, Ludwig der Bayer, wurde nicht berücksichtigt. Auf die Prager Bildergalerie der Zeit Karls IV. könnte sich auch eine andere Quelle beziehen, und zwar der Kaiserkatalog, den ein Augustiner-Kanoniker in Trˇebonˇ, Oldrˇich Krˇ´ızˇ aus Telcˇ (1405/14061504) 65, in tschechischer Übersetzung in eine seiner historiographischen Handschriften übertrug. Nach einer kurzen Einführung beginnt die Liste mit Gaius Iulius Caesar und führt weiter bis zu Heinrich VII. Nachträglich wurden ausführlichere Informationen über Karl IV. hinzugefügt. Die Texte über Leo IV. und Karl III. stellen wörtliche Übersetzungen der Inschriftentexte aus der Prager Burg dar 66. Während die Karlsteiner Galerie vor allem die ,Dauer‘ von Karls Ahnenreihe väterlicherseits, der luxemburgischen Dynastie, zeigte, symbolisierte also die Ausschmückung der Prager Aula die ,Dauer‘ des kaiserlichen Amtes. Mit den Übergängen von den römischen zu den byzantinischen, mit Karl dem Großen zu den fränkischen und mit Otto I. zu den deutschen Kaisern präsentierte diese Bildergalerie zugleich die Theorie der translatio imperii. Auf diese Weise brachte auch Karl IV. seine Person und seine Familie in einen geschichtlichen Zusam-
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Marcha di Marco Battagli da Rimini (AA. 1212-1354), ed. A. F. Masse`ra (Rerum Italicarum scriptores 16, 3), Citta` di Castello 1912-1913, Prohemium operis, XXXV-XLVI. Zu diesem Werk cf. M. Bla´hova´, Marco Battagli da Rimini: Marcha, in: Staletı´ objevu˚, diplomacie a va´lek, Sbornı´k k 60. narozenina´m profesora Alesˇe Skrˇivana (Acta Universitatis Carolinae, Philosophica et historica, Studia historica 55), Prag 2005, 125-136. Die angeführte Notiz kommt in allen bekannten Handschriften der Marcha (einschließlich der vierten, dem Editoren nicht bekannten Handschrift der Universitätsbibliothek Breslau, Mil II 35) vor. Cf. J. Kadlec, Oldrˇich Krˇ´ızˇ z Telcˇe, in: Listy filologicke´ 79 (1956), 91-102, 234-238; P. Spunar, Vy´voj autografu Oldrˇicha Krˇ´ızˇe z Telcˇe. Prˇ´ıspeˇvek k pozna´nı´ pı´sarˇske´ osobnosti ve strˇedoveˇku, in: Listy filologicke´ 81 (1958), 220-226. Salacˇ, Zur Geschichte (nt. 62), 305: „LXXXI. Karolus III. Grossus Gallicus cepit imperare anno dni. DCCC.LXXX. et imperavit annis XII.“ (laut: Sta´tnı´ oblastnı´ archiv Trˇebonˇ, Ms. A 7, foll. 11v12r ). Cf. J. Weber (=Kadlec), Soupis rukopisu˚ Sta´tnı´ho archivu v Trˇeboni, in: Soupis rukopisu˚ v Trˇeboni a v Cˇeske´m Krumloveˇ, Prag 1958, 63 sq.: „Karel trzety Tlusty Vlach poczal cziesarzowati leta bozieho osmsteho osmdesateho a cziesarzowal dwanadczte leth.“ Mit einem kleinen Fehler (767 anstatt 777; richtig wäre 775) auch Salacˇ, ibid.: „LXV. -- IIII ---- cepit impa¯re ano dni. DCC.LXX.VII et impa¯vit annis V. “ Trˇebonˇ, Ms. A 7: „Lew cztwrti Rzymenin poczal cziesarzowati leta bozieho sedmisteho ssedessateho (sic!) sedmeho a cziesarzowal piet leth.“
Herrschergenealogie als Modell der Dauer des ,politischen Körpers‘
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menhang mit den großen Königen der Vergangenheit 67. Beide Bildergalerien orientierten sich an der Funktion Karls IV. im römisch-deutschen Reich, und beide Bildergalerien haben damit die lange Dauer des heiligen und mystischen Körpers des römischen Kaisers in der Person Karls IV. gesichert. Durch den Katalog der Weltherrscher von Ninus, Alexander dem Großen, Tola und Romulus bis zu Heinrich VII. im Thronsaal der Prager Burg wurde die aeternitas des Kaisertums noch unterstrichen. Selbst seine böhmischen Vorfahren und die Tradition der böhmischen Herrschermacht und des böhmischen Staats ließ Karl IV. nicht aus. Gegenüber seinen böhmischen Untertanen hat Karl IV., wie schon angedeutet, seine genealogischen Beziehungen zu den Prˇemysliden und dem heiligen Fürsten Wenzel als Mitglied des Prˇemyslidenhauses und Patron des Landes betont. Seine Beziehung zum prˇemyslidischen Heiligen äußerte Karl IV. übrigens auch in seiner Wenzellegende 68. Auf der Burg Karlstein kam die prˇemyslidische Tradition in der Bildergenealogie der Aula neben dem schon erwähnten Bild von Karls Mutter Elisabeth ebenfalls vor allem in Form von Heiligenlegenden zur Geltung. Auf der Innenwand des Treppenhauses des Großen Turmes der Burg, das zur Kappelle des Heiligen Kreuz führt, wurden die Legenden der Stammesheiligen der Prˇemysliden, der heiligen Ludmila und des heiligen Wenzel, gemalt 69. Die teilweise stark beschädigten knienden Gestalten im oberen Teil des Treppenhauses wurden mit den letzten drei Generationen der böhmischen Luxemburger identifiziert: Johann von Luxemburg mit seiner Gemahlin Elisabeth und ihren Kindern, sowie Karl IV. mit seinen ersten drei Gemahlinnen und ihren Kindern 70. Die Karlsteiner Genealogie und der Prager Herrscherkatalog waren also sichtbar auf die Dauer des Reichs hin ausgerichtet. Die gleichen Bestrebungen verfolgte auch Karls Sohn, Wenzel IV. (1378-1419) 71, wenn er seine Ahnenreihe 67
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Zu diesem Bestreben der mittelalterlichen Herrscher cf. besonders Bumke, Höfische Kultur (nt. 40), vol. 1, 158. Cf. Kaiser Karls IV. Jugendleben und St.-Wenzels-Legende, ed. A. Blaschka (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit. 3. Gesamtausgabe 83), Weimar 1956; Nechutova´, Latinska´ literatura (nt. 44), 124 sq., 260 (mit Literaturangaben). Cf. Hlava´cˇkova´, Idea (nt. 58), 15-17; Z. Vsˇetecˇkova´, Schodisˇtnı´ cykly na Karlsˇtejneˇ - Legenda ´ vahy sv. Ludmily, in: Schodisˇtnı´ cykly (nt. 40), 37-49, Reproduktionen 193-203; M. Bartlova´, U o vyobrazenı´ svatova´clavske´ legendy na schodisˇti Karlsˇtejna, in: Schodisˇtnı´ cykly (nt. 40), 5057, Reproduktionen 204-230. Cf. J. Fajt/H. J. Hlava´cˇkova´, The Family of Charles IV in the Stairway of the Karlsˇtejn Great Tower, in: J. Fajt (ed.), Court Chapels of the High and Late Middle Ages and their Artistic Decoration/ Dvorske´ kaple vrcholne´ho a pozdnı´ho strˇedoveˇku a jejich umeˇlecka´ vy´zdoba, Prag 2003, 16-20; K. Kubı´nova´, Panovnicke´ postavy v za´veˇru schodisˇtnı´ch maleb, in: Schodisˇtnı´ cykly (nt. 40), 23-36, Reproduktionen 253-236. Früher wurden diese Bilder auch für die Genealogie der Prˇemysliden gehalten. Cf. V. Dvorˇa´kova´, Karlsˇtejnske´ schodisˇtnı´ cykly. K ota´zce jejich vzniku a slohove´ho zarˇazenı´, in: Umeˇnı´ 9 (1961), 128; J. Vı´tovsky´, Na´steˇnne´ malby ze XIV. stoletı´ v prazˇske´ katedra´le, in: Umeˇnı´ 24 (1976), 479-481. Reproduktionen in: Schodisˇtnı´ cykly (nt. 40), 237-240. Zu Wenzel IV. cf. besonders J. Speˇva´cˇek, Va´clav IV. 1361-1419, K prˇedpokladu˚m husitske´ revoluce, Prag 1986; Hoensch, Die Luxemburger (nt. 46), 193-233; L. Bobkova´/M. Bartlova´, Velke´ deˇjiny zemı´ Koruny cˇeske´ IV b, Prag 2003, 275-405.
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Marie Bla´hova´
in der Karlsteiner Aula dem Diplomaten des Herzogs von Brabant Edmund Dynter, der Böhmen im Jahre 1412 besuchte, mit Stolz vorführte und erklärte 72. Es ist also kein Wunder, daß die Bilderzyklen im böhmischen Milieu, wohl nach der Absetzung, spätestens aber nach dem Tode Wenzels IV. ihren Sinn verloren haben. Kaiser Sigismund von Luxemburg 73 hatte während seiner kurzen Regierung in Böhmen (1436-1437) keine Zeit, sich mit den Fragen der Herrscherpropaganda zu beschäftigen. Beim Umbau des Prager Thronsaales unter Vladislav Jagello 74 wurde der Katalog der Weltherrscher durch den Katalog der böhmischen Fürsten und Könige ersetzt. Die Dauer des böhmischen Staats und der Herrschermacht begann wieder mit Prˇemysl dem Pflüger und wurde bis zu beiden Jagellonen auf dem böhmischen Thron, Vladislav (1471-1516) und Ludwig (1516-1526), fortgeführt. Selbst diese Herrscherreihe ist jedoch nicht erhalten geblieben, sie wurde beim Brand der Prager Burg im Jahr 1541 vernichtet. Zuvor aber war sie in einer Handschrift kopiert worden, und dies ist der Bilderzyklus, der von Josef Neuwirth und einigen anderen Historikern irrtümlich für die Ausschmückung der Prager Aula zur Zeit Karls IV. gehalten wurde 75. Gehen wir jedoch zu Karl IV. zurück. Aus dem gesammelten Material geht hervor, daß die Ideologen seines Hofes die Absicht verfolgten, eine lange Ahnenreihe darzustellen, die in die tiefste Vergangenheit zurückreichte. Diese genealogische Spekulation verband zugleich den Kaiser und seine Dynastie mit den berühmtesten europäischen Herrscherdynastien. Die Herrschergalerie, die die Übertragung der Kaiserwürde von antiken und byzantinischen Kaisern auf die Karolinger und weitere mittelalterliche Herrscherdynastien darstellte, schuf zugleich die Illusion der Dauer des römisch-deutschen Reiches seit der Antike. Beide Fiktionen wurden als Teil der Hofpropaganda weit verbreitet. Die Hofgeschichtsschreibung war vornehmlich für die böhmischen, aber auch die ausländischen Intellektuellen bestimmt, denen sie die historischen Traditionen, die Dauer des böhmischen Staates sowie die des römisch-deutschen Reiches und ihrer 72
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E. Dynter, Chronica nobilissimorum ducum Lotharingiae et Brabantiae ac regum Francorum III, ed. P. F. X. de Ram (Chronique des ducs de Brabant 3), Brüssel 1857, 74. Cf. Melville, Vorfahren (nt. 15), 74 sq.; K. Hauck, Geblütsheiligkeit, in: Liber floridus. Mittellateinische Studien Paul Lehmann zum 65. Geburtstag, St. Ottilien 1950, 187-240; Speˇva´cˇek, Va´clav IV. (nt. 74), 398; Graus, Troja (nt. 14), 37; Lhotsky, Apis Colonna (nt. 30), 210, 243; Stejskal, Matousˇ Ornys (nt. 58), 21; Bla´hova´, Panovnicke´ genealogie (nt. 18), 39 sq. (zur Identifizierung der Burg ibid., 39, nt. 150). Cf. F. v. Bezold, König Sigmund und die Reichskriege gegen die Hussiten, 3 voll., München 1872-1877; W. Baum, Kaiser Sigismund. Hus, Konstanz und Türkenkriege, Graz 1993; Hoensch, Die Luxemburger (nt. 46), 234-306; V. Drsˇka, Zikmund Lucembursky´, lisˇka na tru˚neˇ, Prag 1996; F. Kavka, Poslednı´ Lucemburk na cˇeske´m tru˚neˇ. Kra´lem uprostrˇed revoluce, Prag 1998. Zu Vladislav Jagello cf. besonders J. Macek, Jagellonsky´ veˇk v cˇesky´ch zemı´ch (1471-1526), 1 Hospoda´rˇska´ za´kladna a kra´lovska´ moc, Prag 1992, 190-262. Zur Entstehung der prˇemyslidischen Galerie in der nachhussitischen Zeit cf. auch Salacˇ, Zur Geschichte (nt. 62), 306. Neuerlich Clemens, Luxemburg-Böhmen (nt. 31), 77-80, 316-319 (Die Verfasserin interpretiert auch die Bildergalerie, die den Herrscherkatalog darstellt, irrtümlich als prˇemyslidischen Stammbaum).
Herrschergenealogie als Modell der Dauer des ,politischen Körpers‘
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Herrscher zeigen sollte. Die Ausschmückung der repräsentativen Säle Karls IV. zielte vor allem auf die Besucher des Hofes, die ausländischen Diplomaten, die Reichsfürsten und Prälaten, wurde jedoch auch dem böhmischen Adel gezeigt. Auf diese Weise wurde der vornehmen Herkunft der Vorfahren und Vorgänger des römischen Kaisers und böhmischen Königs, sowie der langen Dauer der Herrscherdynastie und des Kaisersamtes sinnfällig Ausdruck verliehen.
Die Kontinuität der Kirche. Oppositionelle Konzeptionen im Hoch- und Spätmittelalter Wolf-Friedrich Sch‰ufele (Marburg) I. Die Dauer der Kirche im Spannungsfeld zwischen Dogmatik und Historiog raphie Die Dauer der Kirche kann unterschiedlich bestimmt, verstanden und ausgesagt werden - je nachdem, ob man eher die geglaubte oder eher die empirische Kirche betrachtet. Die geglaubte Kirche ist die Kirche des dritten - oder, nach mittelalterlicher Zählung, des neunten - Glaubensartikels. Seit dem 4. Jahrhundert erhielt sie, gemeinsam mit der Sündenvergebung und der Auferstehung des Fleisches, neben den Personen der göttlichen Trinität ihren Platz im Credo 1. Die Dauer der geglaubten Kirche wird mit den Mitteln der Dogmatik normativ ausgesagt. Sie war im Mittelalter unstrittig, wurde aber nur am Rande thematisiert. Überhaupt wurde bis ins Hochmittelalter die Ekklesiologie nicht in einem eigenen dogmatischen Traktat behandelt, sondern im Zusammenhang der Christologie, der Soteriologie oder der Fundamentaltheologie erörtert; daneben kamen ekklesiologische Fragen vor allem in der Kanonistik zur Sprache. Erst seit Wyclif und Hus wurde die Ekklesiologie selbständig entwickelt. Grundsätzlich galt die Dauer der geglaubten Kirche durch die biblischen Verheißungen und durch die soteriologische Funktion der Kirche als verbürgt. Christus selbst hatte versichert, daß die Pforten der Hölle seine Kirche nicht überwältigen würden (Mt 16,18). Die Kirche war der mystische Leib Christi (1 Kor 10,17; 12,27; Eph 1,23; Kol 1,24), der durch die Speisung mit dem wahren Leib Christi in der Eucharistie beständig erbaut und erhalten wurde 2. Als solcher hatte sie gleich ihrem Haupt ewige Dauer oder galt sogar als präexistent 3. Ebenso implizierten die biblischen Charakterisierungen der Kirche als Braut Christi (Eph 5,23-32) und als Tempel Gottes (Hebr 10,21; 1 Petr 2,5) ihre Dauer. Die irdische Existenz 1
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J. N. D. Kelly, Altchristliche Glaubensbekenntnisse. Geschichte und Theologie, Göttingen 1972, 152-160. Die Bezeichnung der Hostie als ,wahrer Leib Christi‘ im Unterschied zur Kirche als dem ,mystischen Leib Christi‘ ist im 9. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Etablierung einer realistischen Sakramentsauffassung aufgekommen; zuvor galt die Kirche als der ,wahre‘, die Hostie als der ,mystische‘ Leib Christi. Cf. J. Finkenzeller, Art. ,Kirche IV. Katholische Kirche‘, in: Theologische Realenzyklopädie, vol. 18, Berlin-New York 1989, 227-252, hier 229. G. May, Art. ,Kirche III. Alte Kirche‘, in: Theologische Realenzyklopädie, vol. 18, Berlin-New York 1989, 218-227, hier 219.
Die Kontinuität der Kirche
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der Kirche hatte der älteren Auffassung zufolge bereits mit Adam 4, der jüngeren, auf Augustinus zurückgehenden Auffassung zufolge mit dem gerechten Abel begonnen 5. Indem Augustinus die Kirche tendenziell mit der civitas Dei und dem Reich Gottes gleichsetzte und in ihr die Sammlung der zur Seligkeit und zum Ersatz der gefallenen Engel Erwählten sich vollziehen sah, trug auch er entscheidend zur Überzeugung von der ewigen Dauer der geglaubten Kirche bei. Von der Kirche des dritten Glaubensartikels zu unterscheiden ist die empirische Kirche - die Kirche als Institution, Rechtskörperschaft und Form sozialer Vergesellschaftung -, insofern diese nicht Gegenstand der Dogmatik, sondern der empirischen Wissenschaften ist. Die Dauer der empirischen Kirche wird deskriptiv mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft beschrieben. Ihren Niederschlag findet diese Beschreibung in den verschiedenen Gattungen der kirchlichen Historiographie. Das bedeutet freilich nicht, daß die Dauer der empirischen Kirche theologisch irrelevant wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Denn da sich das Christentum - ebenso wie das Judentum - auf geschichtliche Heilsereignisse und auf eine in der Geschichte sich ereignende Offenbarung bezieht, kann über die Wahrheit des christlichen Glaubens und Lebens letztlich nur im geschichtlichen Horizont befunden werden. Insofern ist dem Christentum ein ,historischer Legitimationsgestus‘ eingestiftet 6. In den Auseinandersetzungen um Orthodoxie und Häresie im 2. Jahrhundert erhoben die frühkatholischen Väter die Dauer der empirischen Kirche - genauer: ihre materiale, personelle und institutionelle Kontinuität mit der apostolischen Kirche - zum theologischen Legitimationskriterium. Während die Dogmatik nachwies, daß die wahre Kirche Dauer habe, folgerten sie umgekehrt, daß nur was Dauer habe beziehungsweise in historischer Kontinuität zum normativen Ursprung stehe, die wahre Kirche sei. Diese Überzeugung ist im Grundsatz bis ins 18. Jahrhundert von allen christlichen Denkern festgehalten worden. In ihrer Konsequenz mußten sich alle innerkirchlichen Auseinandersetzungen wenigstens mittelbar auch in der Kirchengeschichtsanschauung niederschlagen. Jede christlich-kirchliche Richtung mußte für sich selbst reklamieren, in der seit der ecclesia apostolica ungebrochenen historischen Kontinuität der Kirche Christi zu stehen, und dies nötigenfalls ihren Gegnern bestreiten. Auf diese Weise geriet die empirisch-historische Beschreibung der Dauer der Kirche, ja die Kirchengeschichtsanschauung und -schreibung insgesamt, ins Schlepptau der innerkirchlichen Auseinandersetzungen. Im folgenden soll demonstriert werden, in welcher Weise im Hoch- und Spätmittelalter verschiedene Auffassungen vom Wesen der Kirche die Konzeption ihrer Dauer beziehungsweise Kontinuität beeinflußt und verändert haben. Dabei 4
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1 Clem 50,3; cf. R. Schäfer, Art. ,Kirche IV. Alte Kirche bis Reformation‘, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, vierte Aufl., vol. 4, Tübingen 2001, 1004-1008, hier 1004. Cf. Y. Congar, Ecclesia ab Abel, in: M. Reding (ed.), Abhandlungen über Theologie und Kirche. Festschrift für Karl Adam, Düsseldorf 1952, 79-108. Ich habe diesen Terminus versuchsweise in meiner Habilitationsschrift vorgeschlagen: W.-F. Schäufele, Defecit Ecclesia. Studien zur Verfallsidee in der Kirchengeschichtsanschauung des Mittelalters (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte 213), Mainz 2006, 37-39.
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soll keine chronologisch-genetische Darstellung gegeben, sondern der Versuch gewagt werden, idealtypisch sechs Grundmuster zu identifizieren. Jedes dieser Grundmuster ist im wesentlichen mit einer bestimmten kirchlichen Richtung verbunden. Das bedeutet nicht, daß sich die Konzeption der jeweiligen Gruppe immer streng ausschließlich auf das idealtypische Grundmuster beschränken ließe; in der Praxis kommen manche Kombinationen und Kontaminationen vor, auf die hinzuweisen sein wird. Am höchsten ist der Abstraktions- und Idealisierungsgrad bei der einleitend skizzierten katholisch-großkirchlichen Konzeption. Denn alle nachfolgend beschriebenen oppositionellen Kontinuitätsvorstellungen - die katharische allein ausgenommen - finden sich ansatzweise auch bei großkirchlichen Denkern. Umgekehrt gibt es bedeutende oppositionelle Richtungen, denen keine spezifische eigene oder auch nur eine einheitliche Kontinuitätskonzeption zugeordnet werden kann. So haben sich etwa die Hussiten des 15. Jahrhunderts teilweise die wyclifitische und teilweise die waldensische Konzeption zu eigen gemacht. II. Die katholische Konze ption Apostolische Sukzession der Bischöfe Auch wenn die meisten kirchlichen Richtungen darin übereinstimmten, daß für die wahre Kirche eine historische Kontinuität von der Zeit Christi und der Apostel bis zur Gegenwart nachzuweisen sein müsse, gingen die Ansichten darüber auseinander, worin genau diese historische Kontinuität bestehe. Für die katholische Großkirche blieben im wesentlichen die konkreten historischen Wahrheitsnormen bestimmend, die die Väter des 2. und 3. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit dem Gnostizismus errichtet hatten. Danach wurde die Übereinstimmung der wahren Kirche mit ihrem normativen historischen Ursprung im Christusereignis beziehungsweise in der apostolischen Urkirche material durch die Verpflichtung auf die Heilige Schrift und auf die Glaubensregel gewährleistet. Denn die Heilige Schrift war von den Aposteln und ihren Schülern verfaßt, und die in immer neuen Wendungen formulierte regula fidei enthielt das Glaubenszeugnis der Apostel, nach dem die Schrift auszulegen war. In personaler Perspektive wurde die Dauer der empirischen Kirche und ihre Kontinuität mit der ecclesia apostolica durch die ununterbrochene Aufeinanderfolge der kanonisch geweihten Bischöfe von der Zeit der Apostel bis zur Gegenwart dargestellt 7. Es war diese apostolische Sukzession der Amtsträger, in der die Kontinuität der wahren Kirche historisch-praktisch vor allem in Erscheinung trat; idealtypisch verkürzend kann man die katholische Konzeption der Kontinuität der empirischen Kirche daher auf den Begriff der successio apostolica bringen. 7
Zum Folgenden C. Markschies, Art. ,Sukzession, apostolische II.1 Alte Kirche‘, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, vierte Aufl., vol. 7, Tübingen 2004, 1858 sq.; J. Wohlmuth, Art. ,Sukzession, apostolische II.2 Katholisch‘, op. cit., 1859 sq.; H. von Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten (Beiträge zur Historischen Theologie 14), Tübingen 1953.
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Der Sukzessionsgedanke begegnet bereits am Ende des 1. Jahrhunderts im Ersten Clemensbrief zur Legitimierung der Autorität der kirchlichen Amtsträger 8. Als Mittel der polemischen Zurückweisung konkurrierender Wahrheitsansprüche finden wir ihn ein Jahrhundert später bei Irenaeus von Lyon (ca. 140ca. 200). Theologisch ermöglicht wird die Darstellung und Begründung der Kontinuität der wahren Kirche mit Hilfe des in der apostolischen Sukzession stehenden Amtes durch die Bindung des Geistbesitzes - und damit der Möglichkeit der Geistverleihung und der Heilsvermittlung - an das kirchliche Amt. So hat etwa Irenaeus den Bischöfen und Presbytern als solchen ausdrücklich den Besitz des ,charisma veritatis certum‘ 9 zuerkannt. Allein das Amt, nicht die persönliche Würdigkeit oder charakterliche Qualifikation seines Trägers, verbürgte demnach die Wirksamkeit der von ihm verwalteten Heilsmittel. Die Verurteilung des Donatismus war eine notwendige Konsequenz dieses Gedankens. Der auf die Kontinuität qua apostolische Sukzession gestützte historische Wahrheitsbeweis war auf konkrete historische Fakten angewiesen. Folgerichtig hat der katholische Sukzessionsgedanke seit dem 2. Jahrhundert eigene historiographische Gattungen hervorgebracht. Am Anfang standen Bischofslisten 10, wie sie als erster um 185 Irenaeus für die Gemeinde von Rom aufzeichnete. Zu Beginn des 4. Jahrhunderts gab Eusebius von Caesarea entsprechende Aufstellungen für die Patriarchate von Antiochia, Alexandria und Jerusalem; ihnen folgten zahlreiche weitere Listen dieser Art. Eine Fortsetzung erfuhren diese Zusammenstellungen in den stärker biographisch interessierten Bischofsbüchern des Mittelalters, deren bedeutendstes der um 530 begründete römische ,Liber Pontificalis‘ war 11. Die Angaben dieser Bischofslisten und Bischofsbücher für die älteste Zeit sind ungeschichtliche Konstruktionen, setzen sie doch Ämterstrukturen voraus, die sich so erst später etabliert haben. Doch den Zeitgenossen - Katholiken wie Oppositionellen - galten sie als zuverlässige historische Aufzeichnungen. III. Die katharische Konze ption Apostolische Sukzession der Konsolier ten Anders als die meisten übrigen oppositionellen religiösen Bewegungen des Mittelalters präsentierte sich der Katharismus von Anfang an als eine regelrechte Gegenkirche zur ecclesia catholica romana. Der Grund der Gegnerschaft der Katharer zur Großkirche lag in ihrem aus dem bulgarisch-byzantinischen Bogomilis8
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1 Clem 42-44. Anders H. E. Lona, Der erste Clemensbrief (Kommentar zu den Apostolischen Vätern 2), Göttingen 1998, 458 sq. Irenaeus, Adv. haer. IV 26, 2. Cf. W. Löhr, Art. ,Bischofslisten‘, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, vierte Aufl., vol. 1, Tübingen 1998, 1625 sq.; H. von Campenhausen, Lehrerreihen und Bischofsreihen im 2. Jahrhundert, in: W. Schmauch (ed.), In memoriam E. Lohmeyer, Stuttgart 1951, 240-249; id., Kirchliches Amt (nt. 7), 172-194. L. Duchesne (ed.), Le Liber Pontificalis. Texte, introduction et commentaire (Bibliothe`que des E´coles FrancX aises d’Athe`nes et de Rome II 3), 3 voll., Paris 1886/1892/1957. Cf. H. Zimmer-
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mus übernommenen ontologischen Dualismus von Gott und Teufel, Gut und Böse, Geist und Materie, der auch in den sogenannten monoprinzipialen Systemen nur wenig gemildert erschien. Der Dualismus der Katharer schlug sich in einer eigenen Soteriologie nieder. Die kirchliche Lehre von Person und Werk Christi, die Lehren von Inkarnation, Sühnetod und leiblicher Auferstehung des Gottessohns waren für sie unannehmbar. Vielmehr war Christus ein Engel, ein Geistwesen. Zum Erlöser der Menschen wurde er durch sein Wirken als Offenbarer und Lehrer. Er weckte die Seelen der Menschen aus dem Schlaf der Unwissenheit, er erinnerte sie an ihre himmlische Heimat und eröffnete ihnen die Möglichkeit der Rückkehr aus der Leiblichkeit und der materiellen Welt in ihre himmlische Heimat. Zur Befreiung aus der materiellen Welt aber bedurfte es geistiger, nicht materieller Mittel. Die Katharer lehnten daher die sakramentalen Heilsmittel der römischen Kirche ab. An ihre Stelle trat bei ihnen ein einziges, rein geistig gedachtes Heilsmittel: die durch Handauflegung vollzogene sogenannte Geisttaufe (vgl. Mt 3,11; Mk 1,7; Lk 3,16) oder, wie die okzitanischen Katharer sagten, das consolamentum. Mit diesem Ritus wurde dem Kandidaten der Heilige Geist verliehen, und er - oder sie - wurde in den Stand versetzt, selbst andere zu konsolieren; damit ging die Verpflichtung zur konsequenten Einhaltung der strengen katharischen Ethik und Askese einher, wie sie in den Bezeichnungen der Konsolierten als perfecti beziehungsweise perfectae oder als boni homines beziehungsweise mulieres zum Ausdruck kam. An sich ohne biblischen Anhalt, wurde das consolamentum von den Katharern mit der Taufe Christi gleichgesetzt. Im Unterschied zur Wassertaufe des Johannes, die von der Großkirche in bösartiger Absicht fortgesetzt werde, sei diese eine Feuer- und Geisttaufe (Mt 3,11; Mk 1,7; Lk 3,16), die keines materiellen Elementes bedürfe. Der Empfang des consolamentum galt als unabdingbare Voraussetzung der Erlösung; denn nur dadurch empfing man den Heiligen Geist und wurde zum ,Christen‘ im eigentlichen Wortsinn. Angesichts der rigiden ethischen Anforderungen an die perfecti wurde der Empfang des consolamentum freilich nicht selten bis zur Sterbestunde aufgeschoben. Infolgedessen bildeten die perfecti und perfectae innerhalb der katharischen Kirche faktisch ein funktionales Pendant zum katholischen Klerus. Oberhalb der Ebene der perfecti entstand seit der Mitte des 12. Jahrhunderts zusätzlich eine an das großkirchliche Vorbild angelehnte Hierarchie von Bischöfen, Bischofsstellvertretern und Diakonen 12, doch blieben unbeschadet dessen die konsolierten Vollmitglieder das Rückgrat der kirchlichen Institution. Nicht die Bischöfe der Großkirche, sondern die perfecti und perfectae, die in Übernahme und Übergabe das consolamentum als das einzige wirksame Heilsmittel
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mann, Art. ,Liber pontificalis‘, in: Lexikon des Mittelalters, vol. 5, München-Zürich 1991, 1946 sq. Cf. A. Borst, Die Katharer (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 12), Stuttgart 1953, 202-213; A. Brenon, Le vrai visage du catharisme, Portet-sur-Garonne 21990, 87-91; M. Barber, Die Katharer. Ketzer des Mittelalters, Düsseldorf-Zürich 2003, 61-63.
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verwalteten, waren daher in den Augen der Katharer die Träger der Kontinuität der wahren Kirche 13. Durch Empfang und Spendung des consolamentum sahen sich die Katharer in einer eigenen, mit der großkirchlichen konkurrierenden apostolischen Sukzession mit der Urkirche verbunden. Christus selbst habe seine Jünger durch die Geisttaufe von ihren Sünden gereinigt und ihnen die Vollmacht übertragen, ihrerseits anderen Menschen diese Taufe zu spenden. Seitdem sei die von Christus gestiftete Geisttaufe in der katharischen Gemeinschaft von den boni homines ohne Unterbrechung weitergegeben worden, und diese Kontinuität werde bis ans Weltende bestehen bleiben 14. Mit der zentralen Bedeutung des consolamentum für die Kontinuität der Kirche hängt es übrigens zusammen, daß die Katharer, anders als die Großkirche, auch die geglaubte Kirche erst mit Christus beginnen ließen; die Frommen des Alten Testaments, die dem bösen Schöpfergott gehorsam gewesen waren, gehörten nicht dazu. Bei dieser Konzeption einer empirisch-historischen Kontinuitätslinie handelt es sich insoweit um einen genauen Gegenentwurf zur großkirchlichen successio apostolica. Die Träger der Kontinuität waren dabei nicht allein die Inhaber des bischöflichen Amtes, sondern alle konsolierten ,Christen‘, als Mittel der Kontinuität fungierte nicht das Weihesakrament, sondern das als Geisttaufe interpretierte consolamentum. Doch der im wesentlichen der katholischen Konzeption nachgebildete Gedanke der auf Sakrament und Amt gestützten Sukzession war bei den Katharern an einer entscheidenden Stelle mit einem fremden Einfluß kontaminiert. Denn nach ihrer Auffassung unterbrach persönliche ethische Unwürdigkeit des perfectus die Sukzessionskette, und dies auch noch rückwirkend. Machte sich ein perfectus einer Übertretung der strengen Lebensregeln schuldig, konnte er kein Geistträger und folglich auch kein Geistmittler sein; alle jemals von ihm gespendeten consolamenta mußten daher unwirksam sein. Theologiegeschichtlich gesehen handelt es sich dabei um einen donatistischen Einschluß in der katharischen Sukzessionsidee, der den Katharern aus Kreisen der abendländischen vita-apostolica-Bewegung überkommen war. Während die großkirchliche Konzeption der successio apostolica stabilisierend und legitimierend auf die kirchliche Institution wirkte, blieb die katharische Konzeption einer Sukzession der Konsolierten zweischneidig und trug das Potential zur Auflösung und Destabilisierung ganzer Bistümer in sich - ein Potential, das in innerkatharischen Auseinandersetzungen wiederholt aktiviert wurde. 13 14
Zum Folgenden cf. Schäufele, Defecit Ecclesia (nt. 6), 135-171. Provenzalisches Rituale, in: L. Cle´dat (ed.), Le Nouveau Testament, traduit au XIIIe sie`cle en langue provencX ale, suivi d’un rituel cathare, Paris 1889 [Nachdruck Genf 1968], XVII: „Aquest Sanh babtisme per loqual Sant esperit es datz a tengut la gleisa de Deu dels apostols en sa, et es vengutz de bos homes en bos homes entro aici, e o fara entro la fi del segle“; Ekklesiologischer Traktat 11, in: Th. Venckeleer (ed.), Un recueil cathare: le manuscrit A.6.10. de la collection vaudoise de Dublin. I: une apologie, in: Revue belge de philologie et d’histoire 38 (1960), 816834, hier 831: „E de mot de aotres que non eran apostol se troba que fazian aquest saint batisme aisicom ille havian receopu de la sainte gleisa: car la gleisa de Christ lo ha tengut sencX a deronpament e lo tenra entro a la fin.“ Cf. M. Roquebert, La religion cathare. Le Bien, le Mal et le Salut dans l’he´re´sie me´die´vale, Paris 2001, 271.
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IV. Die waldensische Konze ption Apostolische Sukzession der pauper es Christi Während die katharische Kontinuitätsidee im wesentlichen dem katholischen Sukzessionsgedanken nachgebildet und nur an einer, allerdings in der Praxis bedeutsamen Stelle, durch einen donatistischen Einschluß kontaminiert war, war die Kontinuitätsidee der Waldenser ganz vom latenten Donatismus der vita-apostolica-Bewegung her entworfen, der die auch hier grundsätzlich geteilte Vorstellung einer apostolischen Sukzession entscheidend umprägte. Im Unterschied zum Katharismus war das Waldensertum keineswegs als Gegenkirche, ja nicht einmal als Oppositionsbewegung angetreten. Doch indem Valdes und seine Gefährten als Laien für sich das Recht zur apostolischen Wanderpredigt beanspruchten, griffen sie in die Vollmacht des bischöflichen Amtes ein; als es darüber zum Konflikt kam, sahen sie sich unter Berufung auf Mk 16,15 und Apg 5,29b gezwungen, der bischöflichen Weisung den Gehorsam zu versagen. Es war dieser Streit um das Recht der Laienpredigt, der am Beginn der Ablösung der Waldenser von der römischen Kirche stand. Alle anderen Differenzen zwischen Waldensern und Katholiken - insbesondere der strikte waldensische Biblizismus und die Verwerfung von Lüge, Eid und Fegfeuerglauben - haben sich erst später herausgebildet. Die entscheidenden Weichenstellungen für die waldensische Konzeption von der Kontinuität der wahren Kirche erfolgten bereits im Streit um die Laienpredigt. Im Konfliktfall, davon waren und blieben die Waldenser überzeugt, gab nicht die durch die successio begründete bischöfliche Autorität, sondern die biblische Verpflichtung zur imitatio Christi et apostolorum den Ausschlag. Mit dieser Orientierung an der normativen vita apostolica, am verbindlichen Vorbild der ecclesia primitiva, knüpften die Waldenser an Tendenzen aus dem Umkreis der gregorianischen Reformbewegung an. Ähnlich wie in der Mailänder Pataria des 11. Jahrhunderts, so führte seit dem letzten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts die Ergänzung der successio durch die imitatio als Wahrheitskriterium und Legitimationsprinzip auch bei den Waldensern zum Aufkommen donatistischer Auffassungen 15. Doch die Waldenser bestritten nicht nur unwürdigen Priestern die Amtsvollmacht. Vielmehr beanspruchten sie, hierin weit über den patarenischen Donatismus hinausgehend, selbst, obwohl Laien, unter Berufung auf ihre vita apostolica die Benediktions-, Konsekrations- und Schlüsselgewalt. Dadurch aber war das Weihepriestertum und letztlich die großkirchliche Ekklesiologie insgesamt in Frage gestellt; neben das hierarchisch gestufte kirchliche Amt trat eine konkurrierende, institutionell nicht gebundene Instanz der Heilsvermittlung. Infolgedessen mußte hier auch die Kontinuität der wahren Kirche anders bestimmt werden als unter den Auspizien der großkirchlichen Sukzessionsidee.
15
K.-V. Selge, Die ersten Waldenser (Arbeiten zur Kirchengeschichte 37), Berlin 1967, vol. 1: Untersuchung und Darstellung, 166-172.
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Anders als die Katharer, die ihre Konzeption der Kontinuität der Kirche von vorneherein als Gegenfolie zur katholischen Konzeption entwickelten, haben die Waldenser erst relativ spät zu einer eigenen Kontinuitätsidee gefunden 16. Diese waldensische Kontinuitätsidee ist auch nicht etwa aus prinzipiellen ekklesiologischen und soteriologischen Überlegungen abgeleitet, sondern aus dem Bild, das sich die Waldenser vom Verfall der römischen Kirche machten. Im Zuge der Verschärfung ihres Konflikts mit der katholischen Hierarchie waren die Waldenser seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts zu der Überzeugung gelangt, daß die ecclesia romana nicht mehr die Kirche Christi, sondern zur ecclesia malignantium (vgl. Ps 25/26,5) geworden sei. Historisch brachten sie den Abfall der römischen Kirche seit dem 2. Viertel des 13. Jahrhunderts mit der angeblichen Konstantinischen Schenkung in Verbindung 17: Indem Papst Silvester I. die Schenkung des Kaisers angenommen habe, die ihn mit weltlicher Macht und Reichtum ausstattete, habe er das arme Leben Christi und der Apostel verraten. Auch wenn die kanonische Sukzession der Weiheämter in der römischen Kirche fortdauerte, stand diese daher nicht mehr in der Kontinuität der Kirche Christi einer Kontinuität nicht der Ämter, sondern der Lebensweise. Wo aber war dann in den acht Jahrhunderten seit Silvester die wahre Kirche geblieben, wie sie neuerdings wieder von den Anhängern des Valdes verkörpert wurde? War die Kontinuität der empirischen Kirche zwischen Silvester und Valdes etwa unterbrochen gewesen? Im Sinne einer reductio ad absurdum haben die Inquisitoren immer wieder versucht, die Waldenser auf diese Konsequenz festzulegen. Diese ergriffen gleichsam die Flucht nach vorn. In einer kreativen Fortschreibung der Silvesterlegende konstruierten sie eine alternative historische Sukzessionslinie, die das Intervall von Silvester bis zu ihrer Zeit überbrückte 18. Erstmals quellenmäßig bezeugt ist diese waldensische Sukzessionsidee um das Jahr 1270 durch den Passauer Anonymus. Papst Silvester, so erklärten die Waldenser, habe Gefährten gehabt, die sich der Annahme der Schenkung widersetzt und als pauperes Christi an der Armut und Demut der Apostel festgehalten hätten; vom Papst seien sie dafür gebannt und für vogelfrei erklärt worden. Diese Gefährten Silvesters hätten dann ihrerseits Nachfolger gefunden, und so sei über sie die apostolische Kontinuitätslinie im Verborgenen, gleichsam im Untergrund, fortgesetzt worden; Valdes habe keine neue Bewegung begründet, sondern nur die bereits vorhandene Bewegung der pauperes Christi erneuert. Das Waldensertum war demnach nicht eine Neugründung des Hochmittelalters, sondern die eine wahre apostolische Kirche, der seit dem 4. Jahrhundert die römische ecclesia malignantium gegenüberstand. Die vermeintlichen historischen Details dieser als 16
17 18
Zum Folgenden cf. Schäufele, Defecit Ecclesia (nt. 6), 197-247, besonders 229-247; A. de Lange, Die Ursprungsgeschichten der Waldenser in den Cottischen Alpen vor und nach der Reformation, in: G. Frank/F. Niewöhner (eds.), Reformer als Ketzer. Heterodoxe Bewegungen von Vorreformatoren (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 8), Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, 293-320. Cf. Schäufele, Defecit Ecclesia (nt. 6), 217-226. Zum Folgenden op. cit., 234-243.
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,Waldenserlegende‘ bezeichneten Kontinuitätskonstruktion wurden allmählich immer abenteuerlicher ausgesponnen. So wurde Valdes von einigen in die Zeit Silvesters zurückversetzt und schließlich sogar zum Kardinal gemacht; andere wußten zu berichten, der Gefährte Silvesters, der sich über der Konstantinischen Schenkung mit ihm entzweite, habe Leo geheißen und während der diokletianischen Verfolgung mit ihm am Berg Soracte gelebt 19. Vor allem im späteren Waldensertum wurden die historischen Kontinuitätslinien noch weiter ausgezogen. Der Anspruch, in einer ungebrochenen historischen Kontinuität mit der ecclesia apostolica zu stehen, schlug sich nun in einer alternativen Version der Waldenserlegende nieder, die die Trennung zwischen der abgefallenen römischen und der wahren, waldensischen Kirche in die apostolische Zeit hinaufdatierte. Demzufolge hätten nach der Himmelfahrt Christi nur vier der zwölf Apostel seine Bücher - vermutlich die vier Evangelien - in Ehren gehalten und das Evangelium verkündigt, die anderen acht hingegen hätten andere Bücher vorgezogen und sich dem Gartenbau und einem Leben in Wohlstand gewidmet. Eifersüchtig auf den Verkündigungserfolg der vier getreuen Apostel, hätten sie diese zuerst aus der Kirche, dann von den Straßen verdrängt und in den Untergrund getrieben. Die Nachfolger der vier Getreuen seien die Waldenser, die der acht Ungetreuen die Priester und Kleriker der römischen Kirche 20. Im Ergebnis blieb also auch bei den Waldensern der Gedanke einer auf die Apostel zurückgehenden personalen Sukzession grundlegend für die Konzeption von der Kontinuität der empirischen Kirche. Doch war hier der in der großkirchlichen Konzeption ganz ausgeschlossene und bei den Katharern nur am Rande einspielende Donatismus zur bestimmenden Größe geworden: Gegenstand der Sukzession und Träger der Kontinuität war nicht das Weiheamt oder die sakramentale Heilsvermittlung, sondern die verbindliche apostolische Lebensweise in Armut und Demut, die imitatio Christi et apostolorum. V. Die joachitische Konze ption - Aufhebung der apostolischen Sukzession der Bischöfe in einer transzendent beg r ündeten Kontinuität der Kirche Anders als die Katharer oder die Waldenser sahen Joachim von Fiore und seine Anhänger die Kontinuität der empirischen Kirche in den zwölf Jahrhunderten von Christus und den Aposteln bis auf ihre eigene Zeit ganz im Sinne der katholisch-großkirchlichen Konzeption in der apostolischen Sukzession der 19
20
Der Gründername ,Leo‘ dürfte auf eine spätere etymologische Ausdeutung des nicht mehr verstandenen Sektennamens Leonistae (= pauperes de Lugduno) zurückgehen; cf. op. cit., 240 sq. Cf. G. G. Merlo, Eretici e inquisitori nella societa` Piemontese del trecento. Con l’edizione dei processi tenuti a Giaveno dall’inquisitore Alberto de Castellario (1335) e nelle valli di Lanzo dall’inquisitore Tommaso di Casasco (1373) (Studi Storici), Torino 1977, 22-24, 220; De Lange, Ursprungsgeschichten (nt. 16), 295.
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Bischöfe verwirklicht. Doch war diese apostolische Sukzession der Bischöfe im Rahmen der eigentümlichen Geschichtsspekulation Joachims in ihrem Recht zeitlich begrenzt. Sie beschrieb nur eine Etappe, eine einzelne heilsgeschichtliche Periode und war in einer umfassenderen andersartigen Konzeption der Kontinuität der Kirche im Hegelschen Sinne ,aufgehoben‘. Den Hintergrund dieser Konzeption bildete die trinitarische Geschichtslogik der - zu seinen Lebzeiten weithin unbekannt gebliebenen - Drei-Zeiten-Lehre Joachims. Joachim verstand die Heilsgeschichte als eine fortschreitende Selbstentfaltung des dreieinigen Gottes in der Zeit. Danach mußte auf das Zeitalter Gott-Vaters und das Zeitalter Gott-Sohns noch innerhalb der irdischen Geschichte ein drittes, dem Heiligen Geist zugeordnetes Zeitalter folgen, für das allerdings anscheinend nur eine recht kurze Zeitdauer, vielleicht nicht mehr als ein Menschenleben, zu veranschlagen war. Jedem der drei Zeitalter oder status, wie Joachim sagte, war jeweils eine besondere Weise christlicher Existenz und christlicher Wahrheitserkenntnis zugeordnet. So gehörte zum ersten status der Stand der Verheirateten (ordo coniugatorum), zum zweiten der Stand der Kleriker (ordo clericorum) und zum dritten der Stand der Mönche (ordo monachorum). Im ersten status herrschte der Buchstabe des Alten Testaments, im zweiten der Buchstabe des Neuen Testaments, im dritten der intellectus spiritualis 21. Welche Folgerungen waren aus diesem geschichtstheologischen Ansatz für die Kontinuität der empirischen Kirche zu ziehen? Für das zweite Zeitalter des Sohnes, an dessen Ende Joachim seine eigene Gegenwart verortete, blieb es unbestritten bei der katholischen Konzeption von der apostolischen Sukzession der Bischöfe. Denn das zweite Zeitalter war nach Joachim das Zeitalter der Kleriker und der Papstkirche, und nichts lag ihm ferner, als diesen Zustand in Frage zu stellen. Anders würde es im dritten status, dem Geistzeitalter, aussehen. Zwar sind Joachims Aussagen darüber wenig präzise. Fest steht aber, daß sich die Kirche des dritten Zeitalters wesentlich von derjenigen des zweiten Zeitalters unterscheiden wird. Diese Kirche wird eine freie Gemeinschaft geistlicher, kontemplativer Menschen sein. Sie werden keiner Belehrung mehr bedürfen, da sich ihnen das Verständnis des Wortes Gottes unmittelbar erschließt. An die Stelle der bisherigen Sakramente werden größere und stärkere, rein geistliche treten. Dementsprechend wird die Kirche des dritten Zeitalters keinen Klerus und keine Hierarchie mehr benötigen; nur vereinzelt scheint Joachim vorauszusetzen, daß es weiterhin ein Papsttum geben wird 22. 21
22
Cf. C. U. Hahn, Geschichte der Ketzer im Mittelalter, besonders im 11., 12. und 13. Jahrhundert, vol. 3: Geschichte der Pasagier, Joachims von Floris, Amalrichs von Bena und anderer verwandter Sekten, Stuttgart 1850 [Nachdruck Aalen 1968], 110-112; E. Benz, Joachim-Studien I. Die Kategorien der religiösen Geschichtsdeutung Joachims, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 50 (1931), 24-111, hier 30-42. Cf. B. Töpfer, Das kommende Reich des Friedens. Zur Entwicklung chiliastischer Zukunftshoffnungen im Hochmittelalter (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 11), Berlin (Ost) 1964, 47 sq.; H. Grundmann, Studien über Joachim von Fiore (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 32), Leipzig-Berlin 1927 [Nachdruck Stuttgart 1966], 116.
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Mit der kirchlichen Hierarchie wird im dritten status auch die apostolische Sukzession der Bischöfe als Inbegriff der Kontinuität der Kirche dahinfallen. Statt dessen wird nun der neue ordo der unmittelbar von Gott berufenen viri spirituales zum korporativen Träger der Kontinuität werden 23. Wer genau diese viri spirituales sein würden, blieb bei Joachim in der Schwebe; vielleicht hat er im Zisterzienserorden und in seiner eigenen Gründung, dem Florenserorden, ihre Vorläufer gesehen. Gleichviel, es bleibt dabei, daß die apostolische Sukzession der Bischöfe nach Joachim zwar im gegenwärtigen zweiten Zeitalter ihr Recht behält, aber nicht, wie es der katholischen Konzeption entspricht, bis zur Wiederkunft Christi bestehen bleiben, sondern durch eine neue Sukzessionslinie ersetzt werden wird. Die apostolische Sukzession der Bischöfe im zweiten und die Sukzession der viri spirituales im dritten status sind für Joachim beide zeitlich beschränkte Ausdrucks- und Erscheinungsformen einer und derselben übergreifenden Kontinuität der Kirche - einer Kontinuität, die durch den Wechsel der die Kirche tragenden Körperschaften - vom ordo coniugatorum des ersten über den ordo clericorum des zweiten zum ordo monachorum des dritten Zeitalters - nicht beeinträchtigt wird. Zur Wahrung der Kontinuität trägt sicher auch die Tatsache bei, daß die drei Zeitalter nach Joachim nicht scharf gegeneinander abgegrenzt zu denken sind, sondern einander überlappen - dergestalt, daß das neue Zeitalter bereits innerhalb des alten beginnt und heranwächst, bis es seine volle Entfaltung erreicht und das frühere ablöst 24. Vor allem aber ist die Kontinuität des Gottesvolkes bei Joachim streng transzendent fundiert, und dies gleich in doppelter Hinsicht. Denn zum einen wurzelt die Kontinuität der Kirche beziehungsweise des Gottesvolkes im Heils- und Erziehungswillen Gottes, insofern der Wechsel der Lebensweisen und der sozialen Vergesellschaftungsformen des Gottesvolkes für Joachim ein Instrument der göttlichen Pädagogik ist 25. Zum anderen aber ist es die sich in der Heilsgeschichte entfaltende Wesenseinheit des trinitarischen Gottes selbst, die die Einheit des Gottesvolkes aller drei Zeitalter garantiert. Der Gegensatz zwischen Joachims neuer Konzeption der Kontinuität der Kirche und der herkömmlichen katholischen Auffassung war zu Lebzeiten des Abtes von Fiore verborgen geblieben. Erst von den Joachiten des 13. und 14. Jahrhunderts wurde er zur Geltung gebracht. Im franziskanischen Armutsstreit avancierte Joachims Kontinuitätsidee zur schärfsten Waffe 26. Indem die Franziskanerspiritualen Franziskus mit dem von Joachim als Bringer des Geistzeitalters gedeuteten Engel des sechsten Siegels (Offb 7,2) identifizierten, sahen sie mit ihrem Ordensgründer den dritten status bereits angebrochen. Sie selbst, die 23 24
25 26
Cf. Benz, Joachim-Studien (nt. 21), 56-59. Cf. op. cit., 74; id., Ecclesia Spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie der franziskanischen Reformation, Stuttgart 1934 [Nachdruck Darmstadt 1969], 29-31; Töpfer, Reich (nt. 22), 94. Cf. Benz, Ecclesia spiritualis (nt. 24), 12. Zum franziskanischen Joachitismus M. Reeves, The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages. A Study in Joachism, Oxford 1969.
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treuen Jünger des Franziskus, verstanden sich als die prophezeiten viri spirituales und nannten sich auch so. In ihrem Konflikt mit der Ordensleitung und der ,Kommunität‘ sowie später mit Papst Johannes XXII. (1316-1334) fochten sie ihrer Überzeugung nach den Konflikt zwischen der Kirche des zweiten und der Kirche des dritten Zeitalters, zwischen der Sukzession der Bischöfe und der Sukzession der viri spirituales aus. Die Kontinuitätsträger des vergangenen Zeitalters - Papst und Bischöfe - galten ihnen nicht mehr als Autoritäten; in Päpsten wie Bonifaz VIII. (1294-1303) oder Johannes XXII. erblickten sie sogar Antichristen. Garant der Kontinuität der wahren Kirche war ihnen vielmehr der Franziskanerorden, für dessen Reinerhaltung durch buchstäbliche Observanz der Regel und des Testaments des Franziskus sie fochten. Der Kampf der Spiritualen für die Franziskusregel war also nicht weniger als ein Kampf für die Kontinuität der wahren Kirche. VI. Die wyclifitische Konze ption Transzendent beg r ündete Kontinuität der unsichtbaren Kirche Die Katharer und Waldenser hatten an der Auffassung der Kontinuität der Kirche als einer personalen, in ununterbrochener Folge auf die Apostel zurückgehenden Sukzession der sakramentalen Heilsvermittlung und der Evangeliumsverkündigung festgehalten. Joachim von Fiore und die Joachiten bestimmten die Kontinuität der Kirche dagegen stärker transzendent, indem sie sie letztlich in die Einheit des Gottesbegriffes zurückverlegten. Diese Tendenz setzte sich fort bei John Wyclif und seinen Nachfolgern, darunter vor allem Hus und Teilen der hussitischen Bewegung. Die Kontinuität der Kirche wurde von Wyclif so konsequent transzendent begründet, daß sie empirisch-historisch strenggenommen überhaupt nicht mehr darstellbar war 27. Als ,zünftiger‘ scholastischer Theologe hat Wyclif seine Lehre von der Kirche 1378 in einem umfangreichen Traktat ,De ecclesia‘ entfaltet 28; dazu muß man eine Reihe weiterer Schriften nehmen. In Wyclifs Ekklesiologie machte sich, wie in seiner Theologie insgesamt, sein entschiedener Rückgriff auf den philosophischen Realismus 29 und die damit gesetzte Bewegung ,von oben nach unten‘ 27
28
29
Zum Folgenden H. B. Workman, John Wyclif. A Study of the English Medieval Church, 2 voll., Oxford 1926 [Nachdruck in einem vol. Hamden (Conn.) 1966], vol. 2, 6-20; M. Schmidt, John Wyclifs Kirchenbegriff. Der Christus humilis Augustins bei Wyclif. Zugleich ein Beitrag zur Frage: Wyclif und Luther, in: F. Hübner/W. Maurer/E. Kinder (eds.), Gedenkschrift für W. Elert. Beiträge zur historischen und systematischen Theologie, Berlin 1955, 72-108; G. Leff, Heresy in the Later Middle Ages. The Relation of Heterodoxy to Dissent c. 1250-c. 1450, 2 voll., Manchester-New York 1967, vol. 2, 516-520; A. Kenny, Wyclif (Past Masters), Oxford-New York 1985, 68-77. J. Wyclif, Tractatus de Ecclesia, ed. J. Loserth (Wyclif ’s Latin Works 10), London 1886 [Nachdruck New York-Frankfurt a. M. 1966]. Cf. A. Kenny, Realism and Determinism in the early Wyclif, in: A. Hudson/M. Wilks (eds.), From Ockham to Wyclif (Studies in Church History. Ecclesiastical History Society London. Subsidia 5), London 1987, 165-177.
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geltend 30. Seinen Ausgangspunkt nahm er bei der strengen Prädestinationslehre des späten Augustinus. Von da aus definierte Wyclif die Kirche als die Gesamtheit der von Gott von Ewigkeit her zur Seligkeit Prädestinierten 31. Die Gliedschaft in der Kirche Christi war also nicht auf die Teilhabe an den sakramentalen Gnadenmitteln oder auf ein christliches Leben gegründet, sondern allein auf den souveränen Ratschluß Gottes. Insofern war die wahre Kirche nach Wyclif unsichtbar. Wer ihr angehörte und wer nicht, ließ sich ohne eine ,specialis revelatio‘ nicht feststellen 32. Denn auch wenn ein Mensch jetzt erkennbar im Stande der Gnade sei, so sei damit seine Prädestination zur Seligkeit noch nicht erwiesen; denn es sei ja keineswegs ausgemacht, daß er auch in diesem Gnadenstand beharren werde. Und umgekehrt sei es durchaus möglich, daß ein Mensch, der sich jetzt erkennbar nicht im Stande der Gnade befinde, in Wahrheit von Gott erwählt sei und sich dereinst bekehren werde 33. Damit aber fielen die wahre, unsichtbare Kirche und die äußere, kirchliche Institution auseinander. Wyclif brachte dies auf die Formel, daß ein Mensch ,in ecclesia‘ sein könne, ohne ,de ecclesia‘ zu sein 34. Dies gilt auch für Priester, Bischöfe und Päpste. Damit aber wird die an das kirchliche Amt gebundene sakramentale Heilsvermittlung fragwürdig. Zwar hielt Wyclif es prinzipiell für möglich, daß auch ein praescitus, ein nicht zur Seligkeit erwählter Mensch, der noch dazu in akuter Sünde lebte, die Sakramente heilswirksam spenden könne, insofern Christus die Mängel des Priesters ausgleiche 35. Andererseits aber galt ihm jeder Prädestinierte per se als Priester, auch wenn er sich deswegen nicht die priesterlichen Amtsaufgaben anmaßen dürfe 36. Unter diesen Voraussetzungen war die Kontinuität der wahren Kirche nicht als Sukzession im bischöflichen Amt zu beschreiben. Zwar ist es nach Wyclif absolut notwendig, daß die Kirche Christi niemals aufhört. Doch außer Christus ist kein Mensch für den Bestand der Kirche absolut notwendig; freilich sind die Personen, die Gott ohne unser Wissen in souveräner Willkür erwählt, ,necessarie ex supposicione‘ 37. Keinesfalls hängt das Fortdauern der fides ecclesiae von den Prälaten ab; die ecclesia militans besteht, ohne daß man dies genau feststellen könnte, 30
31 32
33 34
35 36
37
Cf. G. A. Benrath, John Wyclif. Doctor evangelicus, in: U. Köpf (ed.), Theologen des Mittelalters. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 197-211, hier 199 sq., 205 sq. Wyclif, De ecclesia (nt. 28), 2, 25-28: „congregacio omnium predestinatorum“. J. Wyclif, Tractatus de civili Dominio liber primus, ed. R. L. Poole (Wyclif ’s Latin Works 9, 1), London 1885 [Nachdruck New York-London-Frankfurt a. M. 1966], 381, 8. Wyclif, De ecclesia (nt. 28), 75, 1-30, 139, 20-141, 31. J. Wyclif, Sermones, ed. J. Loserth (Wyclif ’s Latin Works 21), 4 voll, London 1887-90 [Nachdruck New York-London-Frankfurt a. M. 1966], vol. 2, 399, 8-12: „[…] notandum quod aliud est esse in ecclesia, et aliud esse de ecclesia, cum in ecclesia sint tam membra Christi quam membra dyaboli, sed de ecclesia sunt solum predestinati qui post iudicium sunt realiter membra Christi.“ Wyclif, De ecclesia (nt. 28), 448, 14-16, 457, 26-30; cf. Workman, Wyclif (nt. 27), vol. 2, 13. J. Wyclif, De quattuor sectis novellis, in: id., Polemical Works, ed. R. Buddensieg (Wyclif ’s Latin Works 3), London 1883 [Nachdruck New York-London-Frankfurt a. M. 1966], vol. 1, 231290, hier 259, 10-12. Wyclif, De civili Dominio (nt. 32), vol. 1, 381, 2-7.
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zuweilen vielleicht nur aus einer einzigen Frau - so wie am Karsamstag aus Maria -, zuweilen nur aus einigen wenigen Jüngern - so wie ehedem am Ostertag -, zuweilen aus einem Volk, zuweilen aus einem anderen. Und es ist gut denkbar, daß die ecclesia militans zu Zeiten auch nur aus Laien besteht 38. Indem Wyclif die Begründung der Kirche ganz in den ewigen Ratschluß Gottes verlegte, war ihre Kontinuität empirisch allenfalls zu vermuten, eigentlich aber nur noch zu glauben. Es ist unmittelbar einsichtig, daß diese Auffassung von der Kontinuität der Kirche in Spannung mit dem kirchenreformerischen Anliegen Wyclifs treten mußte. Denn wenn die empirische Kirche ganz in die geglaubte Kirche aufgelöst wurde, ließen sich praktische kirchenpolitische Ziele nicht mehr wirksam artikulieren. Wyclif hat sich daher immer wieder gezwungen gesehen, vom Grundsatz der unbedingten Unsichtbarkeit der wahren Kirche abzugehen. So hielt er es etwa für möglich, aus dem eigenen tugendhaften und demütigen Lebenswandel eine ,probabilis coniectura‘ über die eigene Prädestination zur Seligkeit anzustellen 39. Und gemäß dem biblischen Grundsatz, daß man die Menschen an ihren Früchten erkennen wird (Mt 7,16), kann man ähnlich bei anderen aufgrund ihrer Werke eine ,evidentia topica‘ über ihre Erwähltheit gewinnen 40. Auf der empirischen Ebene ließ sich der Gegensatz zwischen der aus den Prädestinierten bestehenden Kirche Christi und der aus den praesciti bestehenden Kirche des Antichrists also schließlich doch noch als Gegensatz zwischen christlichem und antichristlichem Lebenswandel, zwischen Befolgung oder Verwerfung der lex Christi abbilden. Bezeichnenderweise hat Wyclif diesen Gedanken in seiner Vorstellung über die Kontinuität der Kirche aber nur negativ geltend gemacht. Wie zahlreiche andere Kirchenkritiker des Mittelalters war Wyclif davon überzeugt, daß die römische Kirche mit der Annahme der Konstantinischen Schenkung von ihrer Berufung zur Nachfolge des armen, demütigen und leidenden Christus abgefallen war. Zahlreiche kirchliche Mißstände der Gegenwart und die der lex Christi widersprechende Gesetzgebung der Päpste waren direkte oder indirekte Folgen der mit der Schenkung Konstantins und der Begüterung der Kirche durch spätere weltliche Herren eingeleiteten Fehlentwicklung. Seitdem stand die römische Kirche nicht mehr in der Kontinuität zur Kirche der Apostel. Der Vollmachtsanspruch des Papstes, der sich gegen und über die lex Christi erhob, machte es vielmehr wahrscheinlich, daß er der größte Antichrist war 41. Trotzdem hat Wyclif - anders als etwa die Katharer und die Waldenser keine historisch explizierte Verfallsidee entwickelt. Vor allem aber hat er nicht 38 39
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Op. cit., vol. 1, 392, 10-16, 420, 10-13. J. Wyclif, Opus Evangelicum, ed. J. Loserth (Wyclif ’s Latin Works 19), 2 voll., London 189596 [Nachdruck New York-London-Frankfurt a. M. 1966], vol. 2, 197, 23-27. J. Wyclif, Trialogus cum Supplemento Trialogi, ed. G. V. Lechler, Oxford 1869, 325, Suppl. 414-416. Leff, Heresy (nt. 27), vol. 2, 520, 531, 537.
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über die Frage spekuliert, wo seit dem Abfall der römischen Kirche die wahre Kirche Christi geblieben sei. Denn seine streng transzendente Fundierung der Kirche im ewigen Ratschluß Gottes enthob ihn der Notwendigkeit, empirischhistorische Kausalnexus oder Sukzessionsreihen zu konstruieren. Wahre und falsche Kirche, die ecclesia Christi mit Christus als ihrem Haupt und der lex Christi als ihrer Grundurkunde und die ecclesia Antichristi unter dem Antichrist und seinen Gesetzen, standen einander von jeher gegenüber. Der Dualismus der beiden Kirchen war hier, im Anschluß an Augustinus, noch konsequenter entwickelt das heißt: noch konsequenter enthistorisiert - als bei den Katharern. VII. Ausblick: Die refor matorische Konze ption Exemplarische Manifestation evang elischer Wahrheitszeug en Wie für Wyclif, so war auch für die Reformatoren die Kirche ihrem eigentlichen, geistlichen Wesen nach unsichtbar 42. Und wie Wyclif, so hat Calvin seinen Kirchenbegriff von der Prädestinationslehre her entwickelt. Doch im Unterschied zu dem doctor evangelicus des 14. Jahrhunderts legten die Reformatoren zugleich großes Gewicht auf die Sichtbarkeit der Kirche. Die Frage, woran die Präsenz und die Kontinuität der wahren Kirche in der Welt zu erkennen sei, wurde in der reformatorischen Theologie seit Luther im Rahmen der Lehre von den Kennzeichen der Kirche, den notae ecclesiae, verhandelt 43. Die Kirche war für Luther das Volk Gottes, die Gemeinschaft der Gläubigen. Als solche aber wurde sie durch das Wort Gottes begründet, das den Glauben hervorbringt. Insofern konnte Luther die Kirche ein Geschöpf des Wortes (creatura verbi ) nennen 44. Das wichtigste und vornehmste Kennzeichen der Kirche und der zentrale Träger ihrer Kontinuität war daher die Verkündigung des Evangeliums; dieses war das „unicum, certissimum et nobilissimum Ecclesiae symbolum“ 45. Mit der Wortverkündigung untrennbar verbunden war die Verwaltung der beiden Sakramente Taufe und Abendmahl, die durch Gottes Wort eingesetzt und ihrem Wesen nach verbum visibile waren. Reine Verkündigung des Evangeliums und rechte, einsetzungsgemäße Verwaltung der Sakramente, das waren daher nach dem Augsburger Bekenntnis (CA 7) die beiden notae ecclesiae und die Konstanten der Kontinuität der Kirche durch die Zeiten hindurch. Diese Bestimmung bildete so etwas wie einen reformatorischen Minimalkonsens; bei Melan42
43
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Zur reformatorischen Ekklesiologie im Überblick: U. Kühn, Art. ,Kirche IV/1. Reformation und protestantische Orthodoxie‘, in: Theologische Realenzyklopädie, vol. 18, Berlin-New York 1989, 262-267; Schäfer, Kirche IV. (nt. 4), 1006 sq. Cf. G. Neebe, Art. ,Kennzeichen der Kirche (notae ecclesiae)‘, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, vierte Aufl., vol. 4, Tübingen 2001, 927-930; id., Apostolische Kirche. Grundunterscheidungen an Luthers Kirchenbegriff unter besonderer Berücksichtigung seiner Lehre von den notae ecclesiae (Theologische Bibliothek Töpelmann 82), Berlin-New York 1997. M. Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium, in: WA 6, 560, 33-561, 1. M. Luther, Ad librum … Catharini … responsio, in: WA 7, 721, 9-14.
Die Kontinuität der Kirche
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chthon konnte darüber hinaus das kirchliche Amt (ministerium Evangelii ), in der reformierten Tradition die Kirchenzucht (disciplina Ecclesiastica) zu einer weiteren nota ecclesiae avancieren. Die Kontinuität der empirischen Kirche mit dem normativen historischen Ursprung des Christentums galt hier also weder durch die successio der Amtsträger noch durch die imitatio Christi et apostolorum, aber auch nicht einfach durch den erwählenden Ratschluß Gottes als gesichert. Vielmehr war es das unverfälschte, von menschlichen Erfindungen und Zutaten freie Gotteswort des Evangeliums, das die Kontinuität der wahren Kirche garantierte. „Evangelium sol dye successio sein“, so konnte Luther pointiert formulieren 46. Im Unterschied zu Wyclif beharrten die Reformatoren darauf, daß diese evangelische Sukzession und die darauf gegründete Kontinuität der Kirche am historischen Material demonstriert werden konnte. Doch sahen sie - anders als die Katharer und die Waldenser, die in diesem Punkt der katholischen Ekklesiologie verhaftet blieben - keine Notwendigkeit, eine lückenlose historische Sukzessionskette zu postulieren. Die Einsicht in die wesenhafte Unsichtbarkeit der wahren Kirche erlaubte es ihnen vielmehr anzunehmen, daß diese wahre Kirche Christi in der Verborgenheit stets bestanden habe, auch wenn die institutionelle Kirche durch äußere und innere Mißstände verderbt war. Durch alle Jahrhunderte hindurch, so glaubten die Reformatoren, waren immer wieder treue Zeugen des Evangeliums aufgetreten, testes veritatis, wie man sie nannte. Schon früh haben protestantische Autoren wie Matthias Flacius Illyricus (1520-1575), John Bale (1495-1563), John Foxe (1516-1587) und James Ussher (1581-1656) konkret einzelne Gestalten und Bewegungen der Kirchengeschichte als solche Wahrheitszeugen und mithin als Vorläufer der Reformation reklamiert. Der bekannteste Versuch dieser Art war der ,Catalogus testium veritatis‘ (Verzeichnis der Wahrheitszeugen), den der streitbare Lutherschüler Flacius 1556 zusammenstellte 47, und der, mit Petrus beginnend, 407 einzelne Gestalten, Schriften oder Konzilien bis in die jüngste Vergangenheit verzeichnete. Mit dieser Art, die Dauer der Kirche historisch zu demonstrieren, war die Geschichte endgültig zum Arsenal der Kontroverstheologie geworden.
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Martin Luther, WA 39/2, 176, 26-177, 2: „Successio soll stehn bey dem Evangelio, quia allegati sumus ad Evangelium, non ad personas, qui docent Evangelium. Credendum est episcopo, non quia succedit episcopo huius loci, sed quia docet Evangelium. Evangelium sol dye successio sein.“ Cf. J. M. Headley, Luther’s View of Church History (Yale Publications in Religion 6), New Haven-London 1963, 101 sq. C. Frank, Untersuchungen zum Catalogus testium veritatis des Matthias Flacius Illyricus, Diss. Tübingen 1990.
Die Geltung päpstlicher Dekretalen und die ,Reform an Haupt und Gliedern‘ auf den Konzilien des 15. Jahrhunderts. Über Anspruch und Dauer päpstlicher Pfründregelungen * J¸rgen Miethke (Heidelberg) „Gespannt spähen die Ordensleute danach aus, wann wohl die Reform kommt. Doch obschon bereits seit drei Jahren erwartet, kommt sie noch immer nicht. Man hofft aber […], daß sie nun als ein Werk von Euch, hochwürdigster Vater, kommen kann. Möget Ihr, allergnädigster Vater, es mit dem Psalmisten halten und sagen: ,Weil die Elenden verstört werden und die armen‘ Ordensleute ,seufzen, will ich jetzt aufstehen‘ [Ps 12,6] zu dieser heiligen Reform, die nicht wieder verschoben werden kann ohne schwere Beleidigung Gottes und der heiligen Kirche sowie ohne Ärgernis des Volks. Hochwürdigster Vater, Ihr möget diesen Ehrgeizigen sagen, was andernorts gesagt wird: Oh blinde Habsucht und verdammter ruchloser Ehrgeiz, welche die Seelen vieler Menschen in Besitz nehmen! Sie treiben sie in solchen Frevel, daß sie das, was (wie sie wissen) nicht nur vom menschlichen sondern auch vom göttlichen Recht untersagt ist, mit ausgetüftelter List bemüht sind an sich zu bringen zur Verdammnis ihrer Seelen, um die sie sich bei solchen Geschäften wenig sorgen. Denn sie sind blind und ruchlos; sie sehen nicht und kümmern sich nicht darum zu sehen, was ihrem eigenen Heil entgegensteht. Und alle rufen, es solle eine Reform geschehen - bei anderen, keineswegs aber bei ihnen selbst; und ,darin sind sie sich‘ unzweifelhaft ,einig geworden, wider den Herrn und seinen Gesalbten‘ [Ps 2,2].“ 1 *
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Am Vortrag, wie er am 12. September 2006 in Köln gehalten wurde, habe ich nichts geändert, nur habe ich einige wenige Passagen, die dort aus Zeitgründen übergangen worden waren, wieder eingesetzt und die nötigsten Belege hinzugefügt. Guillaume Maurel, Denkschrift zur Reform auf dem Basler Konzil (7. März 1434), hier zitiert nach: J. Miethke/L. Weinrich (eds.), Quellen zur Kirchenreform im Zeitalter der großen Konzilien des 15. Jahrhunderts, Teil II: Die Konzilien von Pavia-Siena (1423/1424), Basel (1431/ 1449) und Ferrara-Florenz (1438/1445) (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe A. 38b), Darmstadt 2002, 266-277 (n. 12), hier 272-274 (mit der seitenparallelen Übersetzung von Lorenz Weinrich, der ich hier mit einigen Änderungen folge): „Spectantes spectant dicti religiosi, quando veniet ista refformatio, et adhuc licet specta per triennium non venit nec speratur, ut dictum est, quod veniat nisi per exercitium paternitatis vestre reverendissime. Faciat et dicat vestra dignissima paternitas cum Psalmista [Ps. 11,6]: Propter miseriam inopum et gemitum pauperum religiosorum nunc exsurgam ad istam sanctam refformationem, que amplius differri non potest sine gravi offensa dei et ecclesie sancte ac scandalo populi. Dicat talibus ambiciosis vestra reverendissima paternitas, quod alibi dicitur: O avaricie cecitas et dampnande ambicionis improbitas aliquorum animas occupantes, eos in illam temeritatem inpellunt, ut que sibi a iure non solum humano, sed et divino, noverunt interdicta exquisitis fraudibus usurpare conantur in eorundem animarum dampnationem, de qua in hac parte modicum curant, quia ceci sunt et improbi et non vident nec videre curant, que sunt contra propriam salutem, et omnes clamant refformationem fiendam in aliis, minime in se ipsis, et in hoc convenerunt in unum, et non dubito, quod adversus dominum et adversus Christum eius [Ps. 2,2].“
Die Geltung päpstlicher Dekretalen und die ,Reform an Haupt und Gliedern‘
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Guillaume Maurel, ein Konzilsteilnehmer aus Nıˆmes, wendet sich mit diesen schrillen Sätzen im dritten Jahr des Basler Konzils an dessen Präsidenten, Kardinal Giuliano Cesarini. Dieser hatte die Konzilsväter zuvor mehrmals dazu aufgefordert, ihm Vorschläge einzureichen, die er dann zu einer großen Denkschrift als Reformprojekt des Konzils zusammenfassen wollte 2. Maurel gibt seine Interessen dabei klar zu erkennen. Er fühlt sich insbesondere durch Kommenden beunruhigt, „jenen Pfründübertragungen […], wenn Pfründen, die dem Regularklerus vorbehalten sind, an Weltkleriker übertragen werden“ 3, wenn also etwa eine reiche Abtei einem Kardinal oder sonstigen Pfründenjägern als ,Kommende‘ übertragen wird. Bis zur Reformation sollte diese Form der Pfründvergabe nicht aufhören, und ebenso sollten die Klagen darüber nicht verstummen. Klagen wie die des Konzilsteilnehmers aus Nıˆmes sind uns heute nur allzu gut bekannt: ein Reformstau seit Jahren, der mangelnde Wille zum Eingreifen, die Beobachtung, daß jedermann eine Reform wohl verbal begrüßt, ja fordert, aber nach dem Floriansprinzip - ,Heiliger Sankt Florian, behüt’ mein Haus, zünd’ andre an!‘ - aus der Reform möglichst unbeschadet hervorgehen möchte, all das kennen wir auch heute noch. ,Reformbedürftigkeit‘ ist gewiß ein höchst subjektives Moment, das Historikern später nicht ohne weiteres ins Auge springt, geschweige denn, daß es sich objektiv messen ließe. Gleichwohl gibt es Konjunkturen von Reformbedarf oder besser: Es gibt Zeiten einer besonderen Intensität seiner Empfindung. Die Epoche des spätmittelalterlichen Schismas und der Konzilien gehört zweifelsohne zu den Hochzeiten einer dauerhaften, ja unaufhörlichen Reformerörterung und intensiver Reformsehnsucht. Wir wollen hier prüfen, was die Konzilien für reformbedürftig hielten und wie sie dem empfundenen Schaden aufhelfen wollten. Dabei werden wir dem Thema der Geltungsdauer rechtlicher Festlegungen noch begegnen. Ich gehe dabei so vor, daß ich zunächst die Reformforderungen in ihrem Verhältnis zu den Konzilien charakterisiere, dann die Reformaufgabe nach dem Urteil der Zeitgenossen zu bestimmen versuche, wobei auch der Veränderungswillen und seine Bezugsgröße zur Sprache kommen soll; schließlich ist dann nach der Dauer rechtlicher Geltung von päpstlichen Pfründverfügungen zu fragen. I. Refor m und Konzil Die Forderung nach einer Kirchenreform war im 15. Jahrhundert nicht mehr von der Tagesordnung zu verbannen. Je länger sich das ,Große Abendländische Schisma‘ hinzog, je weniger sich die beiden 1378 gewählten Päpste und ihre 2
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Zum großen Reformplan Cesarinis cf. etwa J. Miethke, Einleitung, in: Quellen zur Kirchenreform, Teil II (nt. 1), 37 sq. Maurel, Denkschrift (nt. 1), 268: „[4] […] cum ordo ecclesiasticus turbetur et difformatus videatur propter comendas, que modernis temporibus fiunt, et presertim secularibus de beneficiis et officiis regularium, que repugnant non solum iuri positivo, sed eciam naturali, divino et rationi propter magna inconveniencia […].“
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Nachfolger zusammen mit den europäischen Königreichen fähig zeigten, ein Ende der Kirchenspaltung zu erreichen, je tiefer sich die Gräben zwischen den sogenannten ,Obödienzen‘ (den Gehorsamsbereichen der Schismapäpste) ausprägten, desto dringender erschien den Zeitgenossen die Aufgabe einer gründlichen Reform der Kirche. Seit dem 13. Jahrhundert hatten die Päpste bei der Einberufung der großen allgemeinen Kirchenversammlungen immer wieder diese Aufgabe einer Reform der Kirche zumindest neben anderen Fragen (etwa neben der Glaubensreinheit und Glaubenseinheit oder anderen dringenden Problemen der Kirchenpolitik wie einem Kreuzzug) als zentrale Aufgabe der künftigen Synode benannt. Aber die eindrucksvolle Reihe von Generalsynoden des 13. Jahrhunderts, Lateran IV, Lyon I, Lyon II, Vienne, war im 14. Jahrhundert ganz abgebrochen. Nach dem Abschluß des Konzils von Vienne (1311-12) war bis zum Zusammentritt des Konzils von Pisa (1409) kein Konzil mehr einberufen worden. Die Päpste hatten sich nach den durchaus zweifelhaften Erfahrungen, die sie beim Konzil von Vienne hatten machen müssen 4, offenbar dazu entschlossen, vorerst darauf zu verzichten, den Konsens solch sperriger Versammlungen zu suchen. Matthäus von Krakau, der Rat des Römischen Königs Ruprecht von der Pfalz in Heidelberg, hat das schmerzlich schon um 1403, also etwa ein Jahrzehnt vor dem Konstanzer Konzil, bemerkt: „Vielleicht ist es Gottes gerechtes Gericht: Seit die Römische Kirche ohne den Rat der anderen Kirchen regieren will, wollen diese (anderen) ihr immer weniger Beistand leisten. […] Wer kann denn daran zweifeln, daß schon längst dieses Schisma beseitigt worden wäre, wenn, wie das früher geschah, Konzilien einberufen worden wären.“ 5
Der Pariser Theologe und Kardinal des ,Pisaner‘ Papstes Johannes XXIII., Pierre d’Ailly, geht noch weiter, wenn er dann 1416 in einer Schrift auf dem Konstanzer Konzil ganz unverblümt einen ausdrücklichen Vorwurf von Zeitgenossen wiedergibt: „Man sagt, heute sei es nicht nötig, allgemeine […] Konzilien zu berufen, wie es in der Urkirche nötig war […]: Unter Vermeidung quälender Mühsal der [einzuberufenden] 4
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Dazu einerseits T. Schmidt, Das factum Bonifatianum auf dem Konzil von Vienne (1311/12), in: K. Borchardt/E. Bünz (eds.), Forschungen zur Reichs-, Papst- und Landesgeschichte, Festschrift für Peter Herde, Teil II, Stuttgart 1998, 623-633. Andererseits wären auch die unliebsamen Erfahrungen zu nennen, die die Kurie mit den Reformforderungen etwa eines Guillelmus Duranti machen mußte; dazu C. Fasolt, Council and Hierarchy, The Political Thought of William Durant the Younger (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought IV/23), Cambridge [e. a. ] 1991, besonders 287-311. Mattheus de Cracovia, De squaloribus curie Romane, hier zitiert nach: J. Miethke/L. Weinrich (eds.), Quellen zur Kirchenreform im Zeitalter der großen Konzilien des 15. Jahrhunderts, Teil I: Die Konzilien von Pisa (1409) und Konstanz (1414-1418) (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe A. 38a), Darmstadt 1995, 60-165, hier c. 18, 142: „Et iustum forte iudicium dei est, quod ex quo Romana ecclesia sine consilio aliorum vult regere, quod et ipsi ei minus assistant. […] Quis autem dubitet quin amodo pluries sublatum esset hoc schisma, si, ut alias fiebat, congregata fuissent concilia generalia.“ Cf. auch die Literatur unten bei nt. 18.
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Prälaten bei solchen Konzilien kann [heute] ja die ,Römische Kirche‘, das heißt die päpstliche Kurie, bei auftauchenden Problemen entsprechende Maßnahmen zur Vorsorge treffen.“ 6
Zeitgenossen haben es also durchaus bemerkt, daß mit der Kurie ein bürokratischer Apparat entstanden war, der den damaligen Möglichkeiten einer Verwaltung von Großinstitutionen mit höchst erreichbarer Effizienz und dabei auch der nötigen Flexibilität angepaßt war. Dieser Apparat hatte die Kirchenregierung in zuvor ungeahnter Weise wirksam gemacht. Pierre d’Ailly läßt gleichwohl dieses Argument der Ersetzbarkeit der Konzilien durch die kuriale Bürokratie nicht gelten, er fährt nämlich fort: „Das jedoch entspricht ganz und gar nicht der Wahrheit. Einmal, weil die Erfahrung lehrt, daß wegen des Ausfalls von Konzilien - und besonders der Allgemeinen Konzilien der Gesamtkirche […] - jene Übel, die die Weltkirche angehen, so lange ungestraft blieben und nun, ungebessert, so sehr eingefleischt und eingewohnt sind, daß schließlich vieles, was ungerecht und böse ist, unter dem Vorwand, es sei Gewohnheitsrecht - doch es kann nur ein fiktives und verderbtes Gewohnheitsrecht sein! als erlaubt gilt. Viele argwöhnen, die römische Kurie habe es aus Nachlässigkeit oder gar bewußt versäumt, Konzilien zu veranstalten, um nach Gutdünken noch unbeschränkter herrschen und die Rechte der anderen Kirchen leichter für sich in Anspruch nehmen zu können. Ich will nicht behaupten, daß das wahr ist, aber weil üble Nachrede gegen sie wirkt, wäre es für sie notwendig, zu ihrer eigenen Reinigung von solchem Vorwurf für die Einberufung von […] Konzilien zu wirken.“ 7
Damit unterstellt diese Kritik den Päpsten, sie beanspruchten aus Herrschsucht die Kirchenreform ganz für sich allein. Ob die Kurie also Konzilien im eigenen Interesse verhindert hat oder nicht, das will Ailly vorsichtig lieber nicht entscheiden. Ganz unabhängig davon aber hält der Kardinal, bei allem Respekt vor der Kurie, der er ja selber angehörte, Konzilien für das wichtigste, ja vielleicht für das einzig erfolgversprechende Instrument, Auswüchse und Fehlentwicklungen in der Gesamtkirche und in den regionalen Kirchenprovinzen zu beschneiden. Allein sein Hinweis auf die ,Urkirche‘ ist ein Wink, der das eindeutig belegt. Die Urkirche ist hier Maßstab und Urbild der rechten Kirchenverfassung. Ailly belegt diese These aber auch mit dem Hinweis auf die Erfahrungen 6
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Pierre d’Ailly, De reformatione ecclesiae (Oktober 1416), hier zitiert nach: Quellen zur Kirchenreform, Teil I (nt. 5), 338-377 (mit seitenparallleler Übersetzung von Lorenz Weinrich, an die ich mich hier anlehne), hier 342: „Et si dicatur, quod hodie non est opus generalia aut provincialia concilia congregare, sicut fuit in primitiva ecclesia, et quod ad tollendum vexaciones prelatorum in huiusmodi conciliis romana ecclesia seu papalis curia potest sufficienter casibus emergentibus providere, respondetur quod […].“ Ibid.: „hoc non est utique verum. Tum primo quia experiencia docet, quod propter defectum conciliorum et maxime generalium tocius ecclesie, que sola potest audacter et intrepide omnes corrigere, ea mala, que universalem tangunt ecclesiam, diu remanserunt impunita, incorrecta, et adeo increverunt et inveterata sunt, quod tandem multa et iniusta et iniqua sub pretextu ficte et corrupte consuetudinis licita reputantur. Item multi suspicantur quod hec dissimulaverit Romana curia et super hiis concilia fieri neglexerit, ut posset ad sue voluntatis libitum plenius dominari et iura aliarum ecclesiarum liberius usurpare. Quod non assero esse verum. Sed quia contra eam huiusmodi laborat infamia, deberet ad eam purgandam super congregatione conciliorum generalium et provincialium providere.“
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des 14. Jahrhunderts. Die Kurie hat sich eben gerade als nicht geeignet erwiesen, dieser vielleicht selbst gestellten Aufgabe zu genügen. Die Reform beschreibt Ailly dabei als ein quasi landwirtschaftlich-gärtnerisches Zurückschneiden wildwuchernden Unkrauts, als Wiederherstellung der alten guten Bedingungen, als Abschaffung falscher Gewohnheiten zugunsten des richtigen Rechts. Mit solcher Auffassung steht er keineswegs allein in seiner Zeit. Wir müssen uns nur an die berühmte Formel erinnern, mit der das Konstanzer Konzil schließlich auf seiner XXXIX. Session am 9. Oktober 1417 in seinem Dekret ,Frequens‘ seinen Beschluß begründen wollte, künftig Konzilien in einem festgelegten Rhythmus abzuhalten: „Häufiges Abhalten von Allgemeinen Konzilien“, so heißt es da, „ist eine besondere Pflege des Ackers des Herrn. Es rottet die Stacheln, Dornen und Disteln der Ketzerei, der Irrlehren und Kirchenspaltungen aus, berichtigt Abweichungen, reformiert Entstelltes und führt den Weinberg des Herrn zur Ernte überreicher Fruchtbarkeit. Das stellt uns die Erinnerung an vergangene Zeiten sowie die Anschauung der Gegenwart vor Augen.“ 8
Auch hier ist die Kirche der Acker oder der Weinberg des Herrn, auch hier geht es dementsprechend bei der Reform darum, Unkraut zu beseitigen, Entstelltes zu reformieren und damit dem Boden die höchstmögliche Ernte abzuringen. Reform soll begradigen, erneuern, eingerissene Mißbräuche abschaffen und neue Regelungen finden, die zweckentsprechend wirken. Reform soll alten Vorbildern genügen, soll ganz im mittelalterlich auch sonst vorherrschenden Verständnis wieder die alte richtige Form erlangen 9. Seit dem Neuen Testament, seit den Paulinischen Briefen war aber ,Reform‘ bereits auch in den Bedeutungshorizont der Verwandlung des Menschen in die neue Wirklichkeit der geschehenen Erlösung gerückt 10. Bereits von den Kirchenvätern wurde dann mit dieser starken Akzentuierung zugleich der appellative Charakter einer Aufforderung zur ,Erneuerung‘ und Buße unterstrichen. So lagen dem Mittelalter im Begriff der ,Reform‘ von seiner Tradition her beide Assoziationen nahe, die Erneuerung des Verderbten durch Rückkehr zum alten Guten einerseits und die Erneuerung durch radikale Abkehr vom Schlimmen andererseits. Beide Akzentuierungen lassen sich auf die gemeinsame Vorstellung des von Gott gut geschaffenen und erlösten Menschen zurückführen. In der konkreten Anwendung des Begriffs jedoch ist die Unterscheidung sehr wohl zu bemerken. 8
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,Frequens‘, hier zitiert nach: Quellen zur Kirchenreform, Teil I (nt. 5), 484 (Nr. 13); auch in: Istituto per le scienze religiose (ed.), Conciliorum oecumenicorum decreta, Bologna 31973 (künftig: COD3 ), 484-487 (am Beginn): „Frequens generalium conciliorum celebracio agri dominici precipua cultura est, que vepres, spinas et tribulos heresum, errorum et scismatum extirpat, excessus corrigit, deformata reformat et vineam domini ad frugem uberrime fertilitatis adducit, illorum vero neglectus premissa disseminat atque fovet. Hec preteritorum temporum recordacio et consideracio presencium ante oculos nostros ponunt.“ Zusammenfassend (mit entsprechender Literatur) zum Begriff cf. etwa J. Miethke, Art. ,Reform, Reformation [reformare, reformatio]‘, in: Lexikon des Mittelalters, vol. 7, München 1995, coll. 543550. Vor allem Röm 12, 2: „Reformamini in sensu vestro!“
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Es ist ein Unterschied, ob die ,Reform‘ - mit oder ohne Gottes Eingreifen auf die Erneuerung des ganzen Menschen und seine Erlösung oder Heiligung ausgerichtet wird oder ob sie nur eingerissene Mißbräuche abstellen und zu einem bereits zuvor erreichten, in der Zwischenzeit jedoch verlorenen guten Zustand zurücklenken wollte. Diese Form, das Abstellen von Fehlentwicklungen, war vielfach in der monastischen Welt der werdenden Ordensvielfalt des Hoch- und Spätmittelalters erprobt worden. Ein heruntergekommenes Kloster wieder auf den rechten Weg zurückzuführen, einen ganzen Orden auch gegen Widerstand aus seiner Mitte wieder an die Reinheit seiner Ursprünge anzunähern, das war eine Aufgabe, die sich vielfach stellte. Seit dem 12. und 13. Jahrhundert hatte sich in der Alltagspraxis dafür die Formel reformatio in capite et membris (,Reform an Haupt und Gliedern‘) als vielgebrauchte Bezeichnung für eine Totalrevision eingebürgert, die auch die Führungsgruppe und Leitung des einzelnen Verbandes von einer strikten correctio und sogar Bestrafung nicht ausnehmen wollte 11. Am Anfang des 14. Jahrhunderts hat der Kanonist und Bischof von Mende Guillelmus Duranti d. J. in einer Denkschrift für das Konzil von Vienne diese Formulierung pointiert auf die Gesamtaufgabe einer Reform der gesamten Kirche übertragen und damit zugleich auch neben den Gliedern Papst und Kurie in das Visier seiner Besserungsvorschläge genommen 12. Im Laufe des 14. Jahrhunderts hat sich diese Sicht dann durchgesetzt, ja verstärkt. Die Reformaufgabe wurde mehr und mehr mit einer Gesamtlösung aller Schwierigkeiten oder doch zumindest mit der Beseitigung der Haupthindernisse eines guten Funktionierens des Gesamtsystems gleichgesetzt. Nicole Oresme († 1382), Pariser Theologe, Mitglied des königlichen Rats sowie (seit 1377) Bischof von Lisieux in der Normandie, hat auf Veranlassung des französischen Königs selbst (um 1370-74/1377) zum Zwecke einer wissenschaftlichen Grundlage königlicher Reformen in Frankreich die wichtigsten politischen Schriften des Aristoteles in die französische Volkssprache übersetzt, um sie am Hofe vor allem den ungelehrten Hochadligen zugänglich zu machen 13. In seiner
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Einzelnachweise bei K. A. Frech, Reform an Haupt und Gliedern, Untersuchung zur Entwicklung und Verwendung der Formulierung im Hoch- und Spätmittelalter (Europäische Hochschulschriften III/510), Frankfurt a. M. [e. a.] 1992. In seinen beiden Schriften, die seit der Editio princeps (Lyon 1537) als ein einziger ,Tractatus de modo generalis concilii celebrandi‘ bekannt sind. Monographisch dazu Fasolt, Council and Hierarchy (nt. 4), zur reformatio in capite et membris vor allem 129 sqq. Cf. auch etwa die Bemerkungen von J. Miethke, Konziliarismus - die neue Doktrin einer neuen Kirchenverfassung, in: I. Hlava´cˇek/A. Patschovsky (eds.), Reform von Kirche und Reich zur Zeit der Konzilien von Konstanz (1414-1418) und Basel (1431-1449), Konstanz 1996, 29-59, besonders 41-44. Eine umfängliche Bibliographie zu Oresme zuletzt bei O. Weijers, Le Le travail intellectuel a` la Faculte´ des arts de Paris, fasc. 6: Re´pertoire des noms L-M-N-O (Studia artistarum 13), Turnhout 2005, 168-191. Zu dem Reformerkreis um Charles V. und seinen Reformabsichten cf. zusammenfassend J. Krynen, L’empire du roi: ide´es et croyances politiques en France, XIIIeXVe sie`cle (Bibliothe`que des histoires), Paris 1993, 419-432.
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Übersetzung der aristotelischen ,Politik‘, die mit eingeschobenen Kommentarteilen erläutert ist, findet sich auch eine Bemerkung zu der päpstlichen Pflicht, ein Reformkonzil für die Gesamtkirche einzuberufen. „Wenn sich die Verfassung der römischen Kurie einer Oligarchie oder gar einer Tyrannei angleichen sollte, so wird von ihnen [d. h. von Papst und Kurie] gewiß eine solche Versammlung nicht einberufen werden. […] Man muß wohl im Gegenteil annehmen, so glaube ich, wenn der Heilige Apostolische Vater, dem die Einberufung einer solchen Versammlung zusteht, hinreichend darum gebeten wird oder wenn man ihm dazu rät und wenn sich dann eine Gelegenheit bietet und es förderlich erscheint, einiges zu bessern und zu reformieren, auch einiges zu bestärken und besser instand zu setzen, was schon gut ist, daß er es dann auch tun wird. Das jedenfalls wird ein heiliges Unterfangen sein!“ 14
Kurz vor dem Ausbruch des Schismas hielt also dieser gelehrte Rat des französischen Königs ein Konzil für dringend erwünscht, ja für notwendig. Als dann das Schisma betrübliche Wirklichkeit geworden war, schien vielen diese Forderung immer dringender, so sehr sich davor auch Schwierigkeiten auftürmten. Niemand hat zunächst das Schisma selbst als Ursache der Schäden in der Kirche identifiziert, aber es galt bald als sicheres und unwiderlegliches Zeichen für die Schäden, die nur durch eine gründliche Reform der Kirche beseitigt werden könnten. Eine solche Reform aber war am ehesten auf Kirchenversammlungen zu bewerkstelligen. II. Die Refor maufg abe Die Schwierigkeiten, die zunächst einem Konzil entgegenstanden, waren in der Tat beträchtlich. Das begann mit einfachen technischen Problemen, denn als das Schisma Wirklichkeit geworden war, hatte seit über zwei Menschenaltern kein Konzil mehr stattgefunden. Abgesehen von einigen gelehrten Juristen und Theologen, die die alten normativen Texte kannten, wußte man vielfach gar nicht mehr, wie im einzelnen genau ein Konzil abzuhalten und zu handhaben war. Über die Feinheiten einer konziliaren Geschäftsordnung hinaus war vor allem unklar, wer die Leitung und damit die Entscheidung über das procedere eines Konzils haben sollte, denn bisher war - seit dem 12. Jahrhundert unstrittig gewesen, daß das der Römische Bischof, der Papst sein müsse. Nun aber stand in Frage, wer der rechtmäßige Papst sei. Darum wohl verschwand 14
Nicole Oresme, Le livre de Politiques d’Aristote, ed. A. D. Menut (Transactions of the American Philosophical Society n. s. 60/6), Philadelphia 1970, 161ab: „Car se […] le princey de la court de Romme se traist a la similitude de princey olygarchique ou tyrannique […], jame´s par eulx ne seroit faicte tele assemblee […] Mes l’en doit supposer le contraire, et pour ce, se le Saint Pere apostolique auquel appartient faire tele convocation estoit de ce suffisanment requis ou avise´ et il avoit oportunite´ et ce fust expedient pour corriger ou reformer aucunes choses ou pour conforter ou mettre miex ce que bien est, je tien que il le feroit et ce seroit une sante oeuvre!“
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der alsbald nach der Sichtbarkeit des Schismas nicht zufällig an der römischen Kurie und auch in Paris ins Spiel gebrachte Gedanke eines Konzils zur Auflösung der Krise rasch wieder von der allgemeinen Tagesordnung, um erst Jahrzehnte später Erfolg zu haben. Erst die allgemeine Überzeugung von der Reformbedürftigkeit der Kirche brachte allmählich immer deutlicher die via concilii in den Vordergrund der Diskussionen über einen Ausweg aus der Krise. Ehe sich die Kardinäle beider Obödienzen auf die Berufung eines Konzils nach Pisa einigten, hatte das allgemeine Bewußtsein von der Notwendigkeit der Reform allmählich das Konzil auch für die Suche nach der Kircheneinheit attraktiv gemacht. Selbst Autoren, die keine große Sympathie für ein Konzil zeigten, waren sich doch der Dringlichkeit von Reformanstrengungen durchaus bewußt. So hat etwa Nicolas von Clamanges, der bis zu seinem Tod (1437) ein treuer Anhänger des ,avignonesischen‘ Papstes Benedikt XIII. geblieben ist, zur Zeit des Konstanzer Konzils ganz unverblümt schreiben können: „Es ist sonnenklar, daß vor einer Wiedergewinnung eines wahren und sicheren Friedens in der Kirche [d. h. vor der wiedererlangten Kircheneinheit] eine Reform des Lebens der Kirchenleute vorausgehen muß.“ 15 Schon an der Wende zum neuen Jahrhundert (Ende 1400/Anfang 1401) hatte Clamanges einen berühmten Traktat geschrieben, ,De ruina et reparatione ecclesie‘ (,Über die Trümmer der Kirche und ihren Wiederaufbau‘). Hier begegnet uns ein drastisches Bild kirchlicher Mißstände 16. In flammender Rhetorik hält Clamanges der Kirche einen schonungslosen Spiegel vor. Moralische Verworfenheit und schiere Geldgier der Prälaten, Verweltlichung von Kardinälen und Kurialen, schlimme Verderbnis von Kanonikern und Mönchen, vom Scheitel bis zur Sohle der Kirche, vom Kopf bis zu den Füßen findet der Autor kaum Erfreuliches. Mit spitzer Feder und rhetorisch frühhumanistischem Schwung wird ein Schauerbild entrollt. Der Autor kann nur wenige Hinweise auf Möglichkeiten der Besserung finden. Letzten Endes erwartet er fromm allein von Gott die Rettung. Auch die Einheit der Kirche glaubt er nur noch von Gottes Eingreifen erwarten zu können. Eine Besserung der Zustände muß jedoch bei der
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Nicolaus von Clamanges (= Nicolas Poilevillain de Clamanges), Disputacio super materia concilii generalis, in: Nicolai de Clemangiis Opera omnia, ed. Iohannes Martini Lydius, Lyon 1613 [Nachdruck Farnborough 1967], 61-79, hier 70a: „Liquet ergo aperte ante veram solidamque pacem ecclesie reformacionem morum ecclesiasticorum premitti oportere.“ Einen Lebensabriß gab neuerlich etwa N. Gorochov, Le colle`ge de Navarre de sa fondation (1305) au de´but du XVe sie`cle (1418). Histoire de l’institution, de sa vie intellectuelle et de son re´crutement (E´tudes d’histoire me´die´vale 1), Paris 1997, 616-618; zuletzt monographisch Ch. M. Bellitto, Nicolas de Clamanges. Spirituality, Personal Reform, and Pastoral Renewal on the Eve of the Reformations, Washington (DC) 2001. Cf. A. Coville (ed.), Le traite´ de la ruine de l’E´glise de Nicolas de Clamanges et la traduction francX aise de 1562, Paris 1936, Text 111-156; zur Datierung dort beonders 37. Leichter zugänglich wohl heute der ältere Druck unter dem Titel ,De corrupto ecclesiae statu‘ in: Nicolai de Clemangiis Opera omnia (nt. 15), 4-28.
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sittlichen Erneuerung aller beginnen 17. Daß Bildung nichts mehr zählt, daß die seelsorgerlichen Pflichten gegenüber den Einkünften keine Beachtung finden, daß der Verlust von 10 Schilling als schlimmer empfunden wird als das Verderben von 10 000 Seelen in der Obhut solcher Pseudohirten, das ist für ihn ein schlimmer Mißstand. Die Medizin jedoch, die der fulminante Text verordnet, bleibt letztlich in einem Bußruf aus apokalyptischer Stimmung stecken und ist damit - jenseits der erschütternden Erkenntnis über die traurigen Zustände für praktische Kirchenpolitik kaum anwendbar. In ähnlich eleganter Rhetorik, wenn auch in einem ,scholastischen‘, nicht dem an Seneca und Cicero geschulten Latein der französischen Frühhumanisten, jedoch mit ähnlich schriller Tonlage der Klage, wenngleich mit größerer Treffsicherheit in Richtung auf die ,technische‘ Seite der verderbten Praxis des kurialen Pfründenmarktes, hat wenig später (um 1403) der bereits erwähnte Matthäus von Krakau in Heidelberg eine gleichfalls weithin bekannte Schrift verfaßt, die später (seit dem Konstanzer Konzil) unter dem Namen ,De squaloribus curiae Romanae‘ (,Der Sumpf der Römischen Kurie‘) bekannt werden sollte 18. In dieser Streitschrift kehren praktisch alle die von Clamanges angeschlagenen Themen wieder, nur kennt der Autor den kurialen Betrieb aus eigener Anschauung und weiß seine Vorwürfe exakt zu belegen - anders als Clamanges, der häufig ganz im moralisch Nebulosen verharrt und sich häufig darauf beschränkt, die Laster zu benennen, statt sie beschreibend zu analysieren. Der Traktat des Heidelberger Theologen und späteren (seit 1405) Bischofs im Wittelsbachischen ,Hausbistum‘ von Worms ist zunächst anonym erschienen, aber die von dem Verfasser selbst wenig später offengelegte Redaktionsgeschichte des Textes gibt zu erkennen 19, daß dem Autor, der wie Clamanges 17
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Cf. besonders op. cit., c. 43 (Coville, 151; cf. Lydius, 26b ): „Nam quod ad reintegrandam ipsam Ecclesiam scismate hoc funesto dilaceratam attinet, frustra aliquid per nos effici posse speramus. Non hoc humanis opibus, non ulla arte magistra agendum est, altiorem plane manum res ista deposcit et necesse est, si unquam uniri debeat, idem ipse medicus sit qui vulnus intulit […]. Multa super hac re tractate sunt, multa agitate, multa conscripta, multa consulta, multe legaciones sucepte. Verum quo plura miscuimus et moliti sumus, eo res assidue implicacior et turbacior emersit […].“ Hier ist zwar nur von der Kircheneinheit die Rede, doch macht der Verfasser deutlich, daß der Kirche allein noch Buße, Umkehr und Flehen zu Gott übrig bleiben. Daher gilt das letztendlich auch für die Reformaufgabe. Cf. dazu auch etwa Nicolai de Clemangiis Epistola CII, in: Nicolai de Clemangiis Opera omnia (nt. 15), Teil II, 290-294, besonders 291b. Cf. oben nt. 5; dazu die Einleitung in Quellen zur Kirchenreform, Teil I (nt. 5), 19-21. Mit 30 erhaltenen mittelalterlichen Handschriften erzielte die Schrift einen mehr als ansehnlichen Erfolg. Zu Matthäus cf. jetzt vor allem M. Nuding, Matthäus von Krakau. Theologe, Politiker, Kirchenreformer in Krakau. Prag und Heidelberg zur Zeit des Großen Abendländischen Schismas (Spätmittelalter und Reformation NR 38), Tübingen 2007 (= Phil. Diss. Heidelberg 2003). Knapp und eindringlich auch zu seinen Reformvorstellungen cf. A. Patschovsky, Der Reformbegriff zur Zeit der Konzilien von Konstanz und Basel, in: Reform von Kirche und Reich (nt. 12), 7-28, besonders 18-22. Cf. Matthaeus von Krakau, Notificatio de Johanne Falkenberg. Der Brief ist in zwei Krakauer Handschriften überliefert. Er ist entdeckt und publiziert worden von G. Sommerfeldt, Über den Verfasser und die Entstehungszeit der Traktate De Squaloribus curiae Romanae und Speculum aureum de titulis beneficiorum, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 57 (1903), 417-433; jetzt
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,Artist‘ und Theologe war, ein valentissimus utriusque iuris doctor bei der Endredaktion des Testes kräftig geholfen hat. Wer dieser juristische Helfer war, ist heftig umstritten 20. Der juristische Ratgeber hat jedenfalls dem Text eine Fülle von Belegen aus dem ,Corpus Iuris Canonici‘ vermittelt, so daß sich in dem Traktat alle wichtigen kanonistischen Normen zur Pfründenpraxis des frühen 15. Jahrhunderts zuverlässig finden lassen. Jeder Leser kann deshalb bald erkennen, was die im Kirchenrecht gültigen Normen sagten und was die immer wieder aufgerufene Grundlage der kurialen Praxis war. Eine subtile polemische Widerlegung dieser normativen Ideologie lieferte Matthäus, indem er den kurialen Pfründenmarkt mit dem Vorwurf ketzerischer Simonie belegte: Mit dem Eifer der Kirchenreformer des Investiturstreits verdammt der Text die verderbliche Praxis der Kirchenleitung selbst und erklärt, ihretwegen setze jeder einzelne beteiligte Kuriale sein eigenes Seelenheil leichtsinnig aufs Spiel. Nicht jede Reformschrift schoß mit solch schwerem Kaliber. Reformaufrufe in Traktaten, Predigten, Memoranden und Schriftsätzen sollten jedoch auch weiterhin zuhauf erscheinen. Das Zusammentreten der Konzilien, die über Monate und Jahre, ja über ein Jahrzehnt hin beieinander blieben, begünstigte die Niederschrift und auch die Abschrift entsprechender Traktate in einem zuvor unbekannten Maß 21. Der Patentrezepte war kein Ende. Reformforderungen in offizieller, offiziöser und privater Präsentation mit mehr oder minder direktem Praxisbezug waren in aller Munde. Der Markt schien unermeßlich. Der Themenkreis, zu dem sich die Schriften äußern, wandte sich im Laufe der Zeit immer stärker den konkreten, den praktischen Fragen zu. Die Reformüberlegungen betreffen immer deutlicher jenes Feld, das von den Konzilien auch bestellt werden konnte, die Organisationsfragen der Gesamtkirche und ihrer Amtsspitze. Dabei wird zunächst das altüberlieferte Aktionsschema immer deutlicher verlassen, demgemäß die Konzilien die Problemzonen des kirchlichen Lebens benennen sollten, während dann Papst und Kurie konkret für eine Besserung zu sorgen hatten. Da Papst und Kurie umstritten oder sogar letztlich im
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auch abgedruckt bei W. Sen´ko, Mateusza z Krakowa „De praxi Romanae curiae“ (Instytut filozofii i socjologii polskiej akademii nauk, Zaklad filozofii starozytnej i s´redniowiecznej), BreslauWarschau-Krakau 1969, 69-71, sowie bei W. Sen´ko (ed.), Piotr Wysz z Radolina (*ok. 1354† 1414) i jego dzielo „Speculum aureum“ (Studia Przegladu tomistycznego 2), Warschau 1996, 183-185 (Nr. 12). Auf eine inzwischen verlorengegangene (in Erfurt beheimatete) Handschrift machte H. Boockmann, Johannes Falkenberg, der Deutsche Orden und die polnische Politik (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 45), Göttingen 1975, 135, nt. 28 aufmerksam. Der ,offene Brief‘ hat also wirklich eine gewisse Verbreitung erreicht. Zenon Kaluza hält (wie andere polnische Forscher) Petrus Wysz von Radolin, damals Bischof von Krakau (später Bischof von Posen) für diesen Berater, Hermann Heimpel glaubte (wie ich meine, mit guten Gründen) in Job Vener den valentissimus doctor identifizieren zu können. Cf. dazu J. Miethke, Eine unsichere Rekonstruktion von Textverhältnissen oder die offenen Fragen um die „Squalores“ und das „Speculum aureum“, Replik auf Zenon Kaluza, in: Pensiero politico medievale 3 (2005 [ersch. 2006]), 248-257. Cf. J. Miethke, Die Konzilien als Forum der öffentlichen Meinung im 15. Jahrhundert, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 37 (1981), 736-773.
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gesamtkirchlichen Rahmen handlungsunfähig geworden waren, konnte man von ihnen keine Antwort erwarten 22. Gleichwohl blieb der Versuch der Konzilsväter von Pisa (1409) noch ganz diesem alten Denken verpflichtet: Sie reichten dem soeben gewählten Papst eine Liste von gravamina ein, zu denen dann der Papst seine Antworten, das heißt erwartungsgemäß graduell unterschiedlich geneigte Versprechungen, notieren ließ 23. Auf dem Konstanzer Konzil sollte sich dieses Blatt dann jedoch gründlich wenden. Wegen des zunehmenden Streits des Konzils mit Papst Johannes XXIII. war dieses Verfahren nicht mehr gangbar. Nach der Krise um Flucht und Absetzung des Papstes wurde darum im Sommer 1415 ein ständiges Konzilskomitee eingerichtet, das sogenannte ,Reformatorium‘, ein ständiger Ausschuß, der abseits von Kurie und Papst seine Beratungen verfolgte 24. Gleichwohl stellte sich rasch heraus, daß die Interessen der unterschiedlichen Regionen der Christenheit sehr verschieden gelagert waren. Eine gemeinsame Linie konnte nicht gefunden werden. Deutlich wird das im sogenannten ,Kautionsdekret‘ vom 30. Oktober 1417, in dem am Tage der Wahlordnung zur Neuwahl des Papstes zuvor die Reformwünsche der Väter aufgelistet wurden. Noch „bevor das Konzil aufgelöst wird“ sollten einzeln benannte Aufgaben vom künftigen Papst erledigt werden 25. Bezeichnenderweise waren diese Wünsche aber beschränkt auf die Reform in capite et curia Romana, das heißt der Struktur und Versorgung der Kurie und der päpstlichen Kompetenzen, ohne daß mit einer einzigen Silbe auch nur angedeutet wurde, in welcher Richtung eine Lösung der schwierigen Aufträge zu suchen wäre. Allein der Hinweis auf die vorherigen Beratungen des nunmehr umzugestaltenden Reformatoriums gab eine Wegweisung, die freilich keine eindeutige Richtung benannte. Bekanntlich hat sich der fromme Wunsch der Generalversammlung in Konstanz nicht mehr realisieren lassen. Das im ,Kautionsdekret‘ erhoffte und geforderte allgemeine Reformprojekt kam in der Restzeit des Konzils am Bodensee 22
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Zur wechselnden Haltung Gersons zu einer subtractio oboedientiae cf. jetzt etwa B. P. McGuire, Jean Gerson and the Last Medieval Reformation, University Park (Pa) 2005, passim. Quellen zur Kirchenreform, Teil I (nt. 5), 166-185 (Nr. 2), dort auch die Einleitung, 22 sqq., hier besonders § 4 (S. 168): „Modos autem particulares, qui reformacioni premissorum incumbunt, non inserimus in presenti. Sed ad sanctitatis vestre iudicium et reverendissimorum dominorum cardinalium prudenciam et experienciam laudabiliter relinquamus.“ B. Hübler, Die Constanzer Reformation und die Concordate von 1418, Leipzig 1867 [Nachdruck Ann Arbor 1980], zur Einsetzung hier 8-10; cf. dazu jetzt W. Brandmüller, Das Konzil von Konstanz, 1414-1418, vol. 2, Paderborn [e. a.] 1997, 72-76; vor allem jedoch Ph. H. Stump, The Reforms of the Council of Constance (1414-1418) (Studies in the History of Christian Thought 52), Leiden-New York-Köln 1994 (mit der Ausgabe der Akten des Reformatoriums, 273-419); ein knapper Hinweis auch in: Quellen zur Kirchenreform, Teil I (nt. 5), 41 sq. (mit Textauszügen, 422-481). Sessio XL, in: Quellen zur Kirchenreform, Teil I (nt. 5), 498-500 (Nr. 14); auch COD3, 444: „Sacrosancta synodus Constanciensis statuit et decernit, quod futurus summus Romanus pontifex […] cum hoc sacro concilio vel deputandis per singulas nationes debeat reformare ecclesiam in capite et curia Romana secundum equitatem et bonum regimen ecclesie, antequam hoc concilium dissolvatur, super materiis articulorum alias per nationes in reformatoriis oblatorum, qui sequuntur […].“
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nicht mehr zustande, auch wenn der Papst noch einige Dekrete erlassen konnte. In der Hauptsache mußten die sogenannten ,Konkordate‘ mit den Konzilsnationen unterschiedliche Regelungen treffen 26. Diese eilig geschlossenen Vereinbarungen waren nur ein Notbehelf, der als vorübergehend gedacht war und deswegen auch anstandslos befristet werden konnte. Das nächste Konzil, für 1423 nach Pavia einberufen, sollte die ersehnten Reformen endgültig ins Werk setzen. Bis dahin, so konnte man sich beruhigen, würden Papst und Kurie die Reformaufgabe in ihre Obhut nehmen 27. Wegen des verunglückten Konzils in Pavia und Siena 28 haben die Konstanzer ,Konkordate‘ ihre Geltung verloren, ohne daß über eine Neuregelung oder eine Verlängerung Einigkeit erreicht worden war. Erst das Basler Konzil (1434-49) war dann nach der Meinung der Zeitgenossen dazu bestimmt, die Reformaufgabe endlich zu einem guten Ende zu bringen. Die Erwartungen waren hoch. Guter Wille und Sachkompetenz schienen auf dem Konzil vorhanden. Eine eigene ,Deputation‘, ein ständiges Arbeitskomitee, wurde für diese Aufgaben niedergesetzt, das auch in jeder anderen Frage nach der Geschäftsordnung zu hören war und seine Zustimmung zu geben hatte 29. Der Kampf zwischen Konzil und Papst um die Suprematie, die Überdehnung der Beratungszeit auf nicht weniger als achtzehn Jahre, das erneute Schisma durch die Neuwahl eines eigenen Konzilspapstes, all das ließ die Früchte der allseits dringlich erwarteten und eifrig diskutierten Reform der Kirche nicht reifen. Trotz ernstem Reformwillen, trotz mancherlei Dekreten des Konzils 30 blieb die Reformaufgabe in Basel nur mangelhaft gelöst. Die Reformation des 16. Jahrhunderts sollte dann die Fragen neu und radikal anders stellen.
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Cf. Quellen zur Kirchenreform, Teil I (nt. 5), 516-545 (Nr. 16). Zur Reformproblematik im deutschen Reich während des Pontifikats jetzt eingehend B. Studt, Papst Martin V. (1417-1431) und die Kirchenreform in Deutschland (Forschungen zur Kaiserund Papstgeschichte des Mittelalters 23), Köln 2004. Cf. W. Brandmüller, Das Konzil von Pavia-Siena 1423-1424 (Konziliengeschichte. Reihe A: Darstellungen), Paderborn [e. a.] 22002; cf. auch Quellen zur Kirchenreform, Teil II (nt. 1), 1824. Einen brillanten Forschungsbericht gab J. Helmrath, Das Basler Konzil, 1431-1449. Forschungsstand und Probleme (Kölner Historische Abhandlungen 32), Köln-Wien 1987. Seitdem ist die Literatur so reichlich, daß sie hier nicht aufgeführt werden kann, cf. etwa J. Helmrath, Reform als Thema der Konzilien des Spätmittelalters, in: G. Alberigo (ed.), Christian Unity. The Council of Ferrara-Florence, 1438/39-1989 (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium 97), Louvain 1991, 81-152; id., Theorie und Praxis der Kirchenreform im Spätmittelalter, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 11 (1992), 41-70 (gestraffte und überarbeitete Fassung von Helmrath, Reform als Thema). Zu Problemen und Ergebnissen der Basler Reformbemühungen cf. auch etwa Quellen zur Kirchenreform, Teil II (nt. 1), passim. Texte etwa in Quellen zur Kirchenreform, Teil II (nt. 1), 318-401 (Nr. 15-24).
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III. Die Geltungsdauer rechtlicher Rahmenbestimmung en in der Refor mdiskussion Im Laufe der Zeit läßt sich eine gewisse Engführung der Diskussion beobachten. Die Erörterung der Reform des kirchlichen Lebens konzentrierte sich immer stärker auf eine Reform ,des Hauptes‘, das heißt der päpstlichen Kirchenregierung und seiner Kurie. Dies drängte schließlich alle anderen Themen fast vollständig in den Hintergrund. Es dauerte nicht lange, da war unter den als dringlich geltenden Diskussionspunkten neben einer Überlegung zum kirchlichen Gerichtswesen vor allem immer wieder die Rede vom kurialen Pfründenmarkt. Diese Schrumpfung des Fokus ist verwunderlich. Andere Problemzonen der Kirche kamen nur selten und meist nur abseits der zentralen Reformdebatten zur Sprache. Die Forderungen eines John Wyclifs und seiner lollardischen Anhänger, eines Jan Hus und seiner Freunde in der Bethlehemkapelle Prags, der Taboriten und Hussiten, die Predigtkampagnen der observanten Bettelmönche, wie etwa die Bußaufrufe eines Bernhardin von Siena († 1444) in Italien oder eines Johannes von Capestrano († 1456) auf seinen weiten Reisen ins östliche Mitteleuropa, stehen jeweils auf einem eigenen Blatt. Auf den Konzilien kamen ihre Themen nicht oder doch kaum zu Wort. Gewiß gab es auch dort den individuellen moralischen Aufruf an die Kleriker, ihre Geldgier zu zügeln, ihre Konkubinen zu entlassen, den Gottesdienst würdig zu feiern, jedoch stand hier immer die ,Reform des Hauptes‘, Rechtsprechung und Pfründenpolitik von Kurie und lokalen Kollatoren im Zentrum der Überlegungen. Die ,Reform des Hauptes‘ - auch sie in dem stark eingeschränkten Sinn einer Betrachtung der päpstlichen Verfügungsgewalt über die Gesamtkirche - wurde um und um gewendet. Man wollte die päpstlichen Eingriffsmöglichkeiten in der Gesamtkirche eingrenzen, ja einschränken, ohne doch die Absicht zu haben, Papst und Kurie alle Möglichkeiten der zentralen Kirchenregierung zu nehmen 31. Der institutionell angelegte Interessenkonflikt zwischen der päpstlichen Hierarchiespitze und den dazu komplementären, jedoch immer beteiligungshungrigen Vertretern der lokalen Bischofskirchen über Verteilung und Nutzung des kirchlichen Vermögens, der Streit über amtliche Wege der Konfliktentscheidung und über Kosten und Nutzen des kirchlichen Betriebs allgemein stand auf den konziliaren Kirchenversammlungen in einer Direktheit zur Debatte, die sonst nicht üblich, ja wohl auch gar nicht möglich war. Es war freilich allen Beteiligten mehr oder weniger deutlich, daß man sich auf einem dornigen Feld bewegte. Drastisch wurden gegenseitig schrille Warnungen ausgestoßen, wenn etwa ein vorsichtiger Papalist auf dem Basler Konzil ein dort erwogenes sogenanntes ,Decretum irritans‘ bekämpfte 32, mit Hilfe dessen die Väter jede päpstliche Ent31 32
Cf. Patschovsky, Reformbegriff (nt. 18). Gute Literaturübersicht zu dieser Debatte bei Helmrath, Das Basler Konzil (nt. 29), 340 mit nt. 51 und 466 sq. mit nt. 176-180. Ohne Bezug auf die Basler Erörterungen allgemein F. Merzbacher, Zur Rechtsgeschichte der „lex irritans“, in: Ius Sacrum. Festschrift Klaus Mörsdorf,
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scheidung, die sich nicht an die Konzilsvorgaben halten würde, in Zukunft von Rechts wegen ungültig und unwirksam machen wollten. Der Spanier Juan de Palomar polemisierte gegen solche Pläne mit dem Hinweis, wenn das beschlossen würde, so ließe das den Papst nur noch als einen handlungsunfähigen ,gliederlosen Stumpf ‘ zurück 33. So unappetitlich die Metapher, so sprechend war sie doch, denn solch ein bewegungsunfähiges Kirchenhaupt wollte in Wahrheit niemand. Es ging den Reformern, von ihren eigenen Interessen geleitet, vor allem darum, eigene Kompetenzen zu stärken, eigene Kosten zu vermindern, Eingriffe der Kurie von vornherein zu beschränken. Sonst sollte sich nicht allzu viel ändern. Es ging um ein Herausputzen und Säubern, nicht um Umstrukturierung und Neuausrichtung in der Kirche. Ein solches Ziel konnte, ja mußte durch einen Rückgriff auf frühere bessere Zeiten begründet werden. Darum stellt sich die Frage, auf welche zurückliegende Vergangenheit man sich berufen wollte, wie lange diese Zeit zurücklag. Damit nähern wir uns in der Tat der damaligen Vorstellung von Dauer, der Dauer der eingerissenen Fehlentwicklungen, der abzustellenden Deformationen des richtigen Zustandes, des zeitlichen Abstands zu vorbildlichen und erstrebenswerten Zuständen. Wie lange liegt die gute Zeit schon zurück? Welche dunkle Phase der Abirrung muß man überwinden, um zum Ziele zu gelangen? War es eine graue Vorzeit, in der alles richtig und an seinem Platz gewesen ist, oder waren die Mißbräuche jüngeren, gar allerjüngsten Datums? In den Antworten, die hierauf gegeben wurden, läßt sich zu einem nicht geringen Teil das Bewußtsein der Zeit von ihrer ,Geschichtlichkeit‘ ablesen. Seit dem Beginn der Erörterungen war es nicht unbekannt geblieben, daß eine praktisch unbeschränkte Verfügungsgewalt des Papstes und der Kurie über das Kirchengut der Weltkirche keineswegs immer bestanden hatte. Man wußte genau, daß die Verhältnisse früher anders gewesen waren. Nicolas von Clamanges etwa schreibt ohne Umschweife, die Päpste hätten sich ,aus reiner Herrschsucht‘ über die anderen erhoben, und weil sie erkannt hätten, daß ihre Einkünfte aus dem patrimonium Petri nicht genügten, hätten sie durch Pfründenreservationen sich Wolle und Milch anderer Schafherden angeeignet 34. Wer meine, so heißt es ausdrücklich, daß das geschehen sei, um durch kuriale Provision Bischöfe einzusetzen, die in ihrer Lebensführung und theologischen Bildung sich vor den früheren Amtsinhabern auszeichneten, der brauche nur die gegenwär-
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München 1969, 101-110, jetzt in: F. Merzbacher, Recht - Staat - Kirche. Ausgewählte Aufsätze, edd. G. Köbler/H. Düppel/D. Willoweit (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 18), Wien-Köln-Graz 1989, 411-421. Cf. Quellen zur Kirchenreform, Teil II (nt. 1), 188-201 (Nr. 9), dazu ibid., 38-41. Den bezeichnenden Ausruf hier 196-198, wo hyperbolisch vermerkt wird: „[…] relinquamus truncum demembratum in sede [!] et apostolice sedis destituamus primatum, ut remanet solum episcopus urbis Rome!“ Zur Diskussion um das ,Decretum irritans‘ cf. auch ibid., 40 sq., sowie auch die Schrift des Juan Gonzalez, dort 250-265. De ruina, c. 4 sqq., in: Coville (ed.), Le traite´ de la ruine de l’E´glise (nt. 16), 117 sqq., auch zum folgenden.
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tige Wirklichkeit zu betrachten: unwissende und unnütze Männer, sofern sie nur mit genug Geld ausgestattet seien, würden jetzt simonistisch mit den höchsten kirchlichen Würden bedacht 35. Nachdem durch die Reservationen die Prälatenwahlen in der Kirche abgestellt worden seien, hätten Papst und Kurie durch die Verleihung von Exspektanzen auf künftig frei werdende Kirchenpfründen auch die ehemals freie Pfründenvergabe der ordentlichen Kollatoren zu ihren eigenen Gunsten und mit schlimmen Folgen beseitigt. Der Leser sieht sich darüber aufgeklärt, daß diese Unheilsgeschichte einen Anfang hatte und eine Entwicklung nahm, wenngleich ihr Zeitraum nicht näher bestimmt erscheint. Der schreckliche Zustand der Kirche jedenfalls ist hausgemacht. Umkehrbar aber ist er nach dieses Autors Meinung nicht, wenigstens nicht durch Entscheidungen menschlicher Anstrengung. Auch Matthäus von Krakau weiß, daß die Fehlentwicklung mit konkreten und identifizierbaren Schritten ins Verderben begann. Er weiß es freilich etwas genauer als sein französischer Zeitgenosse, und er charakterisiert die einzelnen Etappen, als beschreibe er für ein modernes Handbuch die Geschichte der päpstlichen Pfründverfügung. Die kurialen Praktiken sind non de iure, sed contra ius et cum iniuria eingeführt worden, da mit ihnen das Wahlrecht, die eleccio, abgeschafft wurde, obwohl es, wie Matthäus betont, „zu Anbeginn der Kirche von den heiligen Vätern erfunden und eingerichtet wurde und nach genauester Forschung in alten und bewährten neuen Rechtsbestimmungen geregelt war“ 36. Die neuen Usancen sind ansonsten Unrecht und Usurpation, richten sich gegen die Einrichtung a principio ecclesie, also die Regelungen der ,Heiligen Väter‘, die Anordnungen der apostolischen Zeit im Ursprung der Kirche. Ist dieser Vorwurf bereits hart genug, denn Schlimmeres kann man dem Papst wohl nicht vorwerfen, so belegt Matthäus seine Kritik auch noch mit einem Blick auf die Genese der päpstlichen Pfründverfügungen. Die Päpste haben diese neue Unrechtspraxis keineswegs plötzlich an sich gebracht, sondern per cautelam et astuciam (vorsichtig und arglistig), indem sie Schritt für Schritt vorgingen und nach kurialem Brauch zunächst nur bei ihrer Thronbesteigung ,Erste Bitten‘ für ihre Hausgenossen an die Bischöfe sandten und diese apostolischen Schreiben allmählich zu Mahnbriefen, dann zu Vorschriften und schließlich zu Befehlen steigerten 37. 35
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Op. cit., 118: „Sed forte Romane Sedis antistites creacionem pontificum collacionemque superiorum graduum Ecclesie idcirco, abolitis eleccionibus, ad suum revocaverunt arbitrium, ut sua provisione salubrius consuleretur ecclesiis rectoresque in illis tum vita laudabiliores, tum doctrina prestantiores cosntituerentur. Erat tunc hac de causa quis factum crederet, nisi res ipsa ex adverso reclamans doceret, postea quam hec facta sunt, ignaros inutilesque homines, dummodo pecuniosos ad gradus sublimiores Ecclesie patrocinio Simonis evectos […].“ De squaloribus, c. 3, in: Quellen zur Kirchenreform, Teil I (nt. 5), 66: „Ne autem quis credat ita esse debere, […] considerandum quo iure, racione vel modo sedes apostolica sibi ursurpaverit provisionem episcatuum, abbaciarum et aliarum dignitatum […] Et videtur quod non de iure, sed contra ius et cum iniuria omnium capitulorum tam secularium quam religiosorum, quibus competebat eleccio, que a principio ecclesie per sanctos patres inventa et instituta est et in antiquis et novis approbatis iuribus subtilissima indagine regulata […].“ Op. cit., 68: „Insuper hoc non est de iure introductum, sed per cautelam et astuciam, quia ut fertur olim in principio eleccionis vel coronacionis sue apostolici dirigebant primarias preces diocesanis pro suis familiaribus. Sic
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Diese Darstellung trifft die geschichtliche Entwicklung seit dem 12. Jahrhundert genau. Es überrascht dann jedoch etwas, daß die Konsequenzen, die Matthäus aus seiner Lageschilderung zieht, relativ bescheiden anmuten: Er will zunächst nur die Rechte der lokalen Kollatoren wieder aufleben lassen, päpstliche Provisionen abschaffen, vor allem alle Exspektanzen verbieten. Insbesondere die sogenannten Kanzleiregeln sollen künftig nicht mehr gelten. Diese legten, um hier eine moderne Definition zu gebrauchen, „im weitesten Sinne das Prozedere fest, mit dem die päpstliche Kurie die Nachfrage nach allen Arten von geistlichen Privilegien, Indulten, Benefizien und Dispensen zu stillen versuchte“ 38. Jeder Papst hat sie nach eigenem Gutdünken, aber natürlich gestützt auf die Erfahrungen der Kurie, am Beginn seines Pontifikats festgelegt. Sie sind nur intern wirksam geworden, wurden nicht veröffentlicht, waren geheimes Herrschaftswissen, das nur die Insider kannten. Wer sich freilich nicht an diese Bestimmungen hielt, hatte kaum Chancen auf die Bewilligung seiner Suppliken. Die von den Kritikern geforderte Abschaffung 39 hätte mit einem Schlag die gesamte kuriale Praxis lahmgelegt, wie sie sich seit etwa 200 Jahren herausgebildet hatte. Was sollte aber an deren Stelle treten? Dazu wird nur gesagt, es solle das ,Recht‘ in Geltung bleiben. Das aber heißt, daß das ,gemeine Recht‘, die päpstlichen Dekretalen, die in den kanonistischen Rechtssammlungen allgemein zugänglich waren, weiterhin gelten sollten. Da die Geschichte der offiziellen Dekretalensammlungen mit dem ,Liber Sextus‘ Bonifaz’ VIII. (von 1296), den ,Clementinen‘ Johannes’ XXII. (von 1317) und allenfalls noch den ,Extravaganten‘ (von 1328) an ihr Ende gelangt war, führt allein diese Forderung nicht weiter hinter die Konzilszeit zurück als etwa ein Jahrhundert. Diese Rechnung wird bestätigt, wo die Verfasser ihre Bezugszeiten ausdrücklich nennen. Der deutsche Kurialkleriker Dietrich von Nieheim († 1418) schreibt noch generalisierend, die schlimmen Forderungen der Kurie hätten mit der Niederlassung des Papstes in Avignon ihren Anfang genommen 40. Ganz ähnlich
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enim ordo et Romane curie fuit consuetudo, quod primo monitorie, secundo preceptorie, ultimo executorie littere concedebantur.“ Dazu cf. etwa die Kurzdarstellung der Entwicklung in einem klassischen Handbuch, z. B. bei H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, Weimar 31955, 302 sq. So die jüngste ersichtlich um Exaktheit bemühte Definition von A. Meyer, Die geplante neue Edition der spätmittelalterlichen päpstlichen Kanzleiregeln, in: M. Bertram (ed.), Stagnation oder Fortbildung? Aspekte des allgemeinen Kirchenrechts im 14. und 15. Jahrhundert (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 108), Tübingen 2005, 117-131, hier 118 (Andreas Meyer bereitet eine Neuedition der Kanzleiregeln vor). Auch Nicolas de Clamanges hatte übrigens gegen die Kanzleiregeln gewettert. Sie waren damals Gegenstand vielfältiger Polemik Dietrich von Niem, Dialog über Union und Reform der Kirche 1410, ed. H. Heimpel (Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 3), Leipzig 1933, 83: „He autem taxationes ecclesiarum et monasteriorum, soluciones […] et reservaciones […] in Avignonensi curia, ipsa illic manente, pro maiori parte [!] inicium habuerunt.“ Cf. auch ibid., 68, wo als Ziel der Reform herausgestellt wird: „[…] secundo quod fiat unio in moribus et sacris statutis primitive ecclesie et decretorum ac rectarum decretalium observacione.“ Anscheinend gibt es neben den rectae (den richtigen und rechtmäßigen) Rechtsverfügungen der Päpste auch solche, die diesen Anspruch nicht erheben können. Ent-
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wird es wenig später (wahrscheinlich 1414, aber noch vor dem Beginn des Konstanzer Konzils) in einem Reformmemorandum heißen, das wohl unter der Federführung des Kardinals Pierre d’Ailly entstanden ist 41: „Man beachte […], daß hier die Grenzziehungen übertreten werden, die unsere Väter lobenswert durch Allgemeine Konzilien, Dekretalen und Kirchengesetze vorsorglich gesetzt haben. Wenn sie nur richtig eingehalten würden, so würde die ganze streitende Kirche erblühen, einer Reform bedürfte es nicht und sie stünde in großer Macht da.“ 42
Der Text fährt dann mit der Forderung fort, man müsse die Konstitutionen Papst Johannes’ XXII. über die kurialen Ämter „bis aufs letzte i-Tüpfelchen“ einhalten 43, bezieht sich also auf jene Kurienreform, die der verwaltungserfahrene Juristenpapst in Avignon am Anfang des 14. Jahrhunderts erfolgreich durchgeführt hatte 44. Bezeichnend genug bezieht der Text sich wenig später ausdrücklich auf die Dekretale ,Execrabilis‘ vom 19. November 1317 45. Überhaupt läßt das Memorandum es sich angelegen sein, beruhigend darauf zu verweisen, daß die Einhaltung aller dieser gemeinrechtlichen Vorschriften des ius scriptum für Kurie und Papst keinerlei Nachteile bringen könne. Ich verzichte darauf, hier Beispiele anzuhäufen. Bis zur Jahrhundertmitte reißt die Kette derer nicht ab, die in aller Unschuld auf die jüngere Vergangenheit des papalen Pfründsystems Bezug nehmen, um die Schäden an der Kirche ihrer Gegenwart zu heilen. Das Konzil von Vienne (1311-12) wird zwar aus verständlichen Gründen auf den Konzilien des 15. Jahrhundert immer wieder genannt, war es doch das letzte Generalkonzil, an das man sich erinnern mochte 46, aber daneben erscheinen eben auch immer wieder die avignonesischen Päpste,
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scheiden dürfte nach Dietrichs Meinung wohl die Übereinstimmung mit den sacra statuta primitive ecclesie; cf. dazu die Bemerkungen des Nicolas von Clamanges. Cf. dazu J. Miethke, in: Quellen zur Kirchenreform, Teil I (nt. 5), 25-29. Capitula agendorum, hier zitiert nach: Quellen zur Kirchenreform, Teil I (nt. 5), 186-245, hier 206: „Primum quidem considerandum videtur […] quod exceduntur termini patrum nostrorum, qui per concilia generalia, decretales et constituciones laudabiles adeo providerunt, quod, si bene servarentur, tota ecclesia militans floreret, reformacione non indigeret et esset in magno potentatu.“ Op. cit., 208: „Item quod constituciones Johannes XXII circa officia Romane curie et alia statute, que scripta sunt, serventur ad unguem.“ Cf. B. Guillemain, La cour pontificale d’Avignon (1309-1376). E´tude d’une socie´te´ (Bibliothe`que des E´coles FrancX aises d’Athe`nes et de Rome 201), Paris 1962, 130-134, passim; cf. auch J. F. Weakland, Administrative and Fiscal Centralization under Pope John XXII, in: The Catholic Historical Review 54 (1968), 39-45, 285-310. Cf. Capitula agendorum, in: Quellen zur Kirchenreform, Teil I (nt. 5), 214; cf. den Text der ,Extravagantes Iohannis XXII.‘, 3.1, in: E. Friedberg (ed.), Corpus iuris canonici, vol. 2, Leipzig 1881 [Nachdruck Graz 1955], coll. 1207-1209; jetzt auch J. Tarrant (ed.), Extravagantes Iohannis XXII. (Monumenta Iuris Canonici B 6), Citta` del Vaticano 1983, 190-198 (Nr. 9). Das Konzil von Pisa (1409) hat man später als reinen Auftakt des Konstanzer Konzils verstanden, das erst in Basel endlich zu seiner Verwirklichung kommen sollte.
Die Geltung päpstlicher Dekretalen und die ,Reform an Haupt und Gliedern‘
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insbesondere Johannes XXII. 47 und Benedikt XII. 48 Wir lernen daraus, daß die Reformforderungen der Zeit des Schisma und der großen Konzilien sich dort, wo sie sich auf die Rechts- und Verfassungsfragen der Kirche bezogen, ein ,Loch‘ überbrücken wollten, das etwa ein Jahrhundert gedauert hatte. Dauer von Mißbräuchen oder doch zumindest von Deformiertem ist impliziert, wenn man Reformen für nötig hält. Andererseits durften derartige ,Auszeiten‘ einer sonst heilsamen Entwicklung auch nicht allzuweit zurückliegen, darf das ,Loch‘ nicht über die Erinnerungsgrenze hinaus aufgerissen werden, wenn ein aktives Gegenmittel gesucht wird: die magische Grenze von 100 Jahren, die auch in den Aufzeichnungen von mündlichen Zeugenaussagen in Heiligsprechungsverfahren oder sonstigen Zeugenverhören, sei es in Ketzerprozessen oder in von der Obrigkeit angeordneten Befragungen nach Rechtsgewohnheiten und dergleichen immer wieder zu beobachten ist 49. Daß sie sich auch bei den Reformbemühungen der Konzilszeit des 15. Jahrhunderts so klar zu erkennen gibt, das könnte uns zu Überlegungen über unsere eigene Gegenwart veranlassen. Ist es nötig, erneut darauf hinzuweisen, daß weder John Wyclif noch Jan Hus die Reformaufgabe zeitlich derart eingeschränkt sehen wollten? Erst recht Martin Luther wird ein Jahrhundert später tiefer schürfen. Es ging den konziliaren Kirchenreformern nicht primär um die radikale Umkehr, die ,tägliche Reue und Buße‘ des Christenmenschen, sondern um die Rückkehr von einem Weg in die falsche Richtung, den die Kirche in der jüngeren Vergangenheit eingeschlagen hatte. Insofern identifizierten die Zeitgenossen eine überschaubare Zeitdauer der Verunkrautung mit einer jüngeren Vergangenheit und konzipierten ihre gärtnerische Reform jedenfalls nicht als systemverändernd oder gar systemsprengend. Die zeitliche Begrenzung der Schäden verlangte nur nach einer begrenzten Reform - damit kommen sie einem modernen Reformverständnis doch recht nahe. 47
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Cf. etwa nt. 39. Noch 1459 wird Domenico de’ Domenichi in seinem dem Papst Pius II. vorgelegten Reformmemorandum ,De reformationibus Romanae curiae‘ sich u. a. auf Johannes XXII. zurückbeziehen. Consideratio 22 (gedruckt von F. Gaeta, Domenico Domenichi: „De reformationibus Romanae curiae“, in: Annali dell’Universita` degli Studi dell’Aquila 1 (1967), 89-123, Text 95-122, hier 120 sq.): „Vigesima secunda consideratio est circa executionem reformationum ipsorum officiorum, et quaedam alia officia, scilicet quae ad Cancellariam pertinent et Audientiam et Poenitentiariam. Omnia reformata fuerunt per pontifices praecedentes, unde non expedit nisi facere quod observentur illa quae ipsi statuerunt et ordinarunt, praesertim circa taxas et emolumenta officiorum Ioannes XXII., Gregorius XI. circa Audientiam Rotae. Unde videtur debere dari avisamentum, quod super hoc aliqua [!lies: aliqui] reverendissimi domini cardinales vel etiam alii prelati timentes deum, iusti et prudentes deputarentur, qui investigarent de omnibus illis reformationibus et constitutionibus factis, si servatur. Et si invenirent quod non, compellerent officiales praedictos eas servare per poenas in eis contentas et eas debitae executioni mandarent, qui etiam deputarentur cum potestate etiam imponendi alias poenas usque ad privationem officiorum inclusive, quia sic correctis malis vel depositis insufficientibus alii facilius se corrigerent et ad sufficientiam et idoneitatem intenderent […].“ Cf. etwa Quellen zur Kirchenreform, Teil I (nt. 5), 214, nt. 30. Zu dieser magischen Grenze der normalen Erinnerung cf. nur A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), 529-570; jetzt in: A. Esch, Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, München 1994, 39-69.
Mundus non generabitur et corrumpetur, sed dispositiones ipsius. Zum Umgang der gelehrten Juristen mit dem Problem der Vergänglichkeit und Dauer Helmut G. Walther ( Jena) Ein Blick auf die Ausführungen führender mittelalterlicher Rechtsgelehrter macht schnell deutlich, von welchen abstrakten Vorstellungen und Theorien über Zeitabhängigkeit, Dauer und Wandel die Welt der mittelalterlichen gelehrten Juristen seit dem Hochmittelalter geprägt war. Im Mittelalterbild der Allgemeinheit überwiegen dagegen noch immer die Schlagworte, die der Historiker Fritz Kern vor inzwischen fast einem Jahrhundert so populär machte 1. Kern traf wohl eine Wunschvorstellung seiner Zeit, als er dem Mittelalter ein Rechtsverständnis zusprach, das sich charakteristisch vom neuzeitlichen Prinzip der Veränderbarkeit und menschlicher Gesetzgebungskompetenz und damit auch seiner Gegenwart abhob. Dagegen habe im Mittelalter das ungesetzte und ungeschriebene ,gute alte Recht‘ als handlungsleitendes Ideal gewirkt. Je mehr freilich die Mediävistik die Bedeutung von Kanonistik und Legistik für die konkreten mittelalterlichen Lebensverhältnisse erkannte, desto mehr der Konstruktionscharakter solch älterer Deutungsschemata von mittelalterlichen Rechtsvorstellungen hervor. Gerade das 19. Jahrhundert hegte gegenüber dem Mittelalter erhebliche Wunschvorstellungen, die auch von Historikern und Juristen im 20. Jahrhundert geteilt wurden. Von einer ,Rekonstruktion‘ der mittelalterlichen Rechtswirklichkeit (soweit diese überhaupt erschließbar ist), geschweige denn von einer Entsprechung zur Vorstellungswelt der gelehrten Rechtstheoretiker und -praktiker in den mittelalterlichen Jahrhunderten kann jedenfalls nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand der Geschichtswissenschaft nicht die Rede sein 2. 1
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F. Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 120 (1919), 1-79, Nachdruck als Monografie, Darmstadt 1952 und 1965. Noch im gleichen Tenor H. Krause, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 75 (1958), 206-251. Kritisch aus der Warte der neueren Rechtsgeschichte J. Liebrecht, Das gute alte Recht in der rechtshistorischen Kritik, in: K. Kroeschell/A. Cordes (eds.), Funktion und Form. Quellen- und Methodenprobleme der mittelalterlichen Rechtsgeschichte (Schriftenreihe zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 18), Berlin 1996, 185-204; zur Problematik schon früher H.-J. Klinkenberg, Die Theorie der Veränderbarkeit des Rechtes im frühen und hohen Mittelalter, in: P. Wilpert/R. Hoffmann (eds.), Lex und Sacramentum im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 6), Berlin-New York 1969, 157-188. Cf. H. Boockmann; Ghibellinen oder Welfen, Italien- oder Ostpolitik. Wünsche des deutschen 19. Jahrhunderts an das Mittelalter, in: R. Elze/P. Schiera (eds.), Il Medioevo nell’Ottocento in
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Der zu den renommiertesten Juristen seiner Zeit zählende Baldus de Ubaldis aus peruginischem Stadtadel (1327-1400) formulierte in seinen Dekretalenkommentaren, die aus seinen Lehrveranstaltungen als Kanonist in Pavia nach 1390 hervorgingen, die Maxime: „philosophi legum imitati sunt philosophos naturae“ (ad X.1.6.16 n. 1) 3. Baldus behandelt an dieser Stelle seines Kommentars Probleme des Vertragsrechts bei pacta nuda und pacta vestita. Legisten unterschieden nämlich traditionell nach den Quellen des römischen Rechts einfache Verträge und mit speziellen Bedingungen ausgestaltete Verträge. Letztere galten auf Grund dieser Bedingungen im Unterschied zu ersteren als einklagbar 4. Entsprechend führt Baldus anhand des dem Text der päpstlichen Dekretale zugrundeliegenden Falls aus, der vom Verzicht eines Abtes auf seine Würde gegen eine bestimmte Gegenleistung eines Dritten handelt, daß hier nicht die besondere Form eines mit einem vestimentum ex rei interventione versehenen Vertrages vorliege, da die Gegenleistung für den Verzicht durch einen der Vertragspartner von einem Dritten (hier nämlich dem Papst) erbracht werden sollte. Der Vertragstext selbst konnte natürlich den Papst als unbeteiligten Dritten nicht zu dieser Leistung verpflichten. Baldus kommt zu folgendem Schluß: „So verhält es sich auch mit der Natur der kalten Kontrakte oder Innominatkontrakte, weil sie nach der zivilrechtlichen Lehre von kalter Natur sind und nur durch ein vestimentum bekleidet werden, das ihnen ähnlich einem nackten Menschen angelegt wird und damit ähnlich einem Menschen sind, der nackt geboren wird. Ebenso ähnlich sind sie einem Menschen, dessen Nerven sich vor Kälte zusammenziehen und der wegen der Kälte nicht imstande ist, etwas zu bewegen; der Körper erstarrt nämlich bei Kälte und seine Kraft erweitert sich bei Wärme. Die Gesetzesphilosophen haben aber die Naturphilosophen nachgeahmt.“ 5
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Italia e Germania/Das Mittelalter im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland (Annali dell’Istituto storico germanico-italiano in Trento. Contributi 1), Bologna-Berlin 1988, 127-150. Baldus de Ubaldis in Decretalium volumen Commentaria, Venedig 1595 [Nachdruck Turin 1971], ad X I.6.16.1 n. 1, fol. 72r. Zur Umarbeitung der Dekretalenvorlesungen zur publizierten Dekretalenlectura durch zwei Söhne des Baldus V. Colli, Collezioni d’autore di Baldo degli Ubaldi nel MS Biblioteca Apostolica Vaticana Barb. lat. 1398, in: Ius Commune 25 (1998), 323346. Zur philosophischen Fundierung der Rechtslehren des Baldus N. Horn, Philosophie in der Jurisprudenz der Kommentatoren: Baldus philosophus, in: Ius Commune 1 (1967), 104-149, hier 107, nt. 14 zum Zitat. Ausführlich M. Kriechbaum, Philosophie und Jurisprudenz bei Baldus de Ubaldis: „Philosophi legum imitati sunt philosophos naturae“, in: Ius Commune 27 (2000) (= VI Centenario della morte di Baldo degli Ubaldi), 299-343. Cf. zur legistischen Lehre der Glossatoren zusammenfassend der bolognesische Rechtslehrer Azo (vor 1220), Summa super Codice, Pavia 1506 [Nachdruck Turin 1966], ad C.2.3 n. 15 (fol. 24b). Die Lehrmeinung des Azo fand dann durch Accursius Eingang in die ,Glossa ordinaria‘ ad D.2.14.7.5 (s. v. ,quinimmo‘). Baldus de Ubaldis in Decretalium volumen Commentaria (nt. 3), ad X I.6.16.1 n. 1 (Zunächst wird der Innominatkontrakt nach D.2.14.7.5. geschildert): „Et ista est natura contractuum frigidorum sive innominatorum, quia secundum glossam iuris civilis figidae naturae sunt et non vestiuntur nisi per vestimentum appositum eis ad similitudinem hominis nudi, ut not. ff. de pact. l. iuris gen. § quinimmo [= D.2.14.7.5]. Et ad similitudinem hominis, qui nascitur nudus. Item hominis qui frigore contrahit nervos et propter frigiditatem non est aptus ad aliquid agendum, riget enim corpus propter frigiditatem et extenditur virtus eius propter
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Die Besonderheiten der mittelalterlichen Vertragstheorien sollen uns an dieser Stelle nicht näher interessieren. Wichtig erscheint hier vielmehr das von Baldus ausdrücklich zur Lösung des Vertragsrechtsproblems herangezogene Argument, daß sich die Rechtsphilosophie - oder wie er es nennt, die ,Gesetzesphilosophen‘ - in ihrer Begriffsbildung und Methodik ausdrücklich an den Lehren der Naturphilosophen orientiert hätten. Diese Behauptung des Baldus trifft nun aber zweifelsfrei nicht in dieser Allgemeinheit zu, auch nicht für die Juristen der römischen Antike. Der als einer der wenigen spätmittelalterlichen Rechtslehrer in der zeitgenössischen aristotelischen Philosophie beschlagene Baldus, den seine Zunftgenossen denn auch ehrfürchtig Baldus philosophus nannten, konnte zumindest was seine eigenen Bildungsvoraussetzungen betraf - sehr wohl bei seiner Argumentation einen Rekurs auf die aristotelisierende Naturphilosophie wagen, wie sie von den zeitgenössischen Magistern an der Artistenfakultät gepflegt wurde. Baldus konnte damit zugleich die bereits traditionellen Vorwürfe von zeitgenössischen Artisten und Theologen zu entkräften versuchen, daß die in der mittelalterlichen Gesellschaft so einflußreichen und hochbesoldeten Juristen nur eine prudentia verträten, nicht aber eine wirkliche scientia 6. Es war also auch ganz zum Nutzen seines Metiers und der Universitätsjuristen, daß Baldus bewußt die Gesetzesphilosophen den Naturphilosophen an die Seite stellt. Mit seiner Formulierung nimmt er in Anspruch, daß für seine Fachdisziplin nicht weniger als für die Artisten der Satz des Aristoteles ,ars imitatur naturam‘ als Grundlage ihrer Wissenschaft gelte, freilich in einer ganz besonderen Weise. Der Satz des Stagiriten über die Naturnachahmung durch schöpferische Tätikeit des Menschen stammt ja aus dem zweiten Buch seiner ,Physik‘ und wird von Baldus des öfteren zitiert 7. I. Ver jähr ung In seinem Kommentar zum ersten Titel des ersten Buches ,De iustitia et iure‘, des Lehrbuchs der Digesten, ordnet Baldus ausdrücklich die nostrae scientiae der Juristen in die aristotelische Ursachenlehre ein und konkret den dort vom Stagiriten behandelten Problemen von materia und forma zu. Auf dem Feld der Juris-
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caliditatem. philosophi legum imitati sunt philosophos naturae, ff. de contrahentibus empt. l. Labeo scribit si mihi [= D.18.1.50].“ Dazu H. G. Walther, Canonica sapiencia und civilis sciencia. Die Nutzung des aristotelischen Wissenschaftsbegriffs durch den Kanonisten Johannes von Legnano (1320-1383) im Kampf der Disziplinen, in: I. Craemer-Ruegenberg/A. Speer, Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter (Miscellanea Mediaevalia 22), Berlin-New York 1994, 863-876. Cf. Aristoteles, Physica II. 2 (textus 22), zitiert nach F. Bossier/J. Brams (eds.), Physica (Aristoteles Latinus 7, 1), Leiden-New York 1990, 52 sq.: „Si autem ars imitatur naturam, eiusdem scientie est cognoscere speciem et materiam usque ad hoc (ut medici sanitatem, et coleram et flegma, in quibus est sanitas; similiter autem et edificatoris est speciemque domus et materiam, quoniam lateres et ligna sunt; similiter autem in aliis), et phisice erit cognsocere utrasque naturas.“
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prudenz verwandelt sich dieses Problem für ihn in das Verhältnis von ius und iustitia: „Et nota quod omnis ars assumit sibi naturam pro materia, ut lanificus lanam, sic legista pro materia assumit sibi facta hominum.“ 8 Die lex wird ihm also zur forma der Jurisprudenz 9. Anders als es Äußerungen aus der Artistenfakultät über die Bestimmung der Jurisprudenz im Rahmen der allgemeinen Wissenschaftssystematik vermuten lassen könnten, spielt aber bei den gelehrten mittelalterlichen Juristen bei der Grundlegung ihrer Disziplin eine naturrechtliche Argumentation keine Rolle: Für sie ist keineswegs das aristotelisierende Argument maßgeblich, daß sich der menschliche Wille wie der göttliche Heilsplan auf die Verwirklichung des Guten richte. Baldus formuliert deshalb ausdrücklich, daß Gott alles zu einem guten Zweck gemacht habe, dem Menschen aber den freien Willen zur Erreichung eines besten Endziels überlassen habe. Anders als die Natur erreiche deshalb der Mensch nicht von selbst den guten Endzweck einer Sache, sondern der menschliche Wille müsse durch den Zwang der Gesetze dazu gebracht werden 10. Im Falle der Gesetzgebung sei also nur eine indirekte imitatio naturae gegeben. Die philosophi legum hielten sich deswegen nicht direkt an die Natur, sondern imitierten nur die durch die menschliche Vernunft erwachsene Erkenntnis- und Ordnungstätigkeit der Naturphilosophen. Eine der die menschliche Existenz bestimmenden Erfahrungen war zweifellos die Zeit, die menschliches Handeln den Prinzipien von Wandelbarkeit und Vergänglichkeit unterwarf. Die von den Menschen gestalteten Rechtsordnungen versuchten dagegen, dieser permanenten Veränderlichkeit durch eine Normierung des menschlichen Handelns zumindest relative Dauer zu verleihen. Auf diese Weise standen Rechtsordnung und natürlicher Wandel in einem zumindest deutlich spürbaren Spannungsverhältnis. Der Lehrer des Baldus und wohl einflußreichste Legist bis weit in die frühe Neuzeit, Bartolus von Sassoferrato (13131357), brachte diese Grundeinsicht in einem seiner Gutachten auf die Formel „omne quod fit, fit in tempore“ 11. Was sich wie eine Binsenweisheit ausnimmt, versucht aber als Parömie zu verdeutlichen, daß sich Recht nur in der Zeit, nicht aber durch die Zeit bilde. Der Zeit allein war es unmöglich, eine privilegierte Rechtsstellung zu begründen. Die ,Glossa ordinaria‘ des Bernhard von Parma zum Dekretalengesetzbuch des ,Liber Extra‘ formulierte deshalb um die Mitte des 13. Jahrhunderts eine weitere 8
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Baldus de Ubaldis in primam Digesti partem Commentaria, Venedig 1599, fol. 6vb, ad D.1.1. Rubrica n. 15. Op. cit., fol. 7ra, n. 19. Cf. das gleiche Argument ad Prooemium, s. v. ,Nomen et cognomina‘, n. 10 (op. cit., fol. 3vab ). Op. cit., fol. 6v, ad D.1.1. Rubrica n. 14: „Cum enim omnia fecit Deus ad bonum finem et liberum arbitrium ad optimum finem dederit, si quidem servet constitutum finem, bene est aliter punitur vel infringitur.“ Cf. die anschließenden Ausführungen des Baldus zu D.1.1.1.3 Ius naturale (op. cit., fol. 9v ). Bartolus de Saxoferrato, Consilia, Quaestiones et Tractatus, Lyon 1547, consilium 92, n. 9 , fol. 28ra. Cf. dazu die Bemerkungen von A. Thier, Zeit und Recht im „ius commune“ - Entwicklungsstufen des Rückwirkungsverbots in der Kanonistik, in: O. Condorelli (ed.), „Panta rei“. Studi dedicati a Manlio Bellomo, vol. 5, Rom 2004 [2005], 383-406.
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Parömie: „Quia ex solo cursu temporis non tollitur obligatio, ergo non inducitur.“ 12 Der kanonistische Großmeister dieses Jahrhunderts, Heinrich von Susa, verwies zusätzlich auf die damit übereinstimmenden Lehren der Legisten über die normative Wirksamkeit der Zeit und damit über das Verhältnis zwischen Rechtsgewohnheit und Gesetzesrecht. Wie Papst Gregor IX. in der Dekretale ,Cum tanto‘ ausdrücklich bestimmt hatte, konnte im Kirchenrecht eine consuetudo grundsätzlich eine durch ein Gesetz formulierte Norm nicht aufheben, „nisi fuerit rationabilis et legitime sit praescripta“. Das hier neben der Vernünftigkeit als notwendig aufgeführte Kriterium der eingetretenen Verjährung war nur erfüllt, wenn zumindest das schweigende Einverständnis des Gesetzgebers vorlag 13. Ein andauerndes gesetzwidriges Handeln konnte nicht schon ein Gesetz außer Kraft setzen. Nur innerhalb von Regelungskomplexen wie genauen Fristen, Bedingungen für ihr Geltendwerden, kurzum in der Form der Verjährung (praescriptio temporis), wurde die Zeit zum Gegenstand rechtlicher Regelungen. Diese Einschränkungen sicherten sowohl die Autorität des Gesetzgebers wie das Vertrauen der Gesetzesempfänger in den Fortbestand der gesetzlichen Norm gegen ständig neue Regelbildung durch Gewohnheitsrecht und boten somit den Angehörigen des Rechtskreises des Ius commune ein Stück Zukunfts- und Planungssicherheit, was aus der Warte der Systemtheorie zuletzt Niklas Luhmann als typische Aufgabe der ,Stabilisierung normativer Erwartungen‘ bei der Funktionsverteilung von Recht und Zeit bezeichnete 14. Nun beanspruchten aber die norditalienischen Kommunen seit dem 12. Jahrhundert Autonomie gegenüber der kaiserlichen Regierungsgewalt und versuchten diese wie auch die daraus abgeleitete Kompetenz zu selbständiger Statutargesetzgebung gerade aus dem Gewohnheitsrecht zu begründen. Da das spätantike römische Kaiserrecht aber aufgrund der sogenannten lex regia die alleinige Gesetzgebungskompetenz den Kaisern zubilligte, ergab sich für die Rechtslehrer in den Kommunen das Problem, die Gültigkeit der lex regia zugunsten der Kommunen aufzuheben, ohne das Verhältnis von Zeit und Recht grundsätzlich infrage zu stellen. Der bologneser Rechtslehrer Azo kam schließlich in seiner Glossensumme zum ,Codex Iustiniani‘ zu einer komplizierten Lösung. Er argumentierte seinerseits mit den erwiesenen Veränderungen der historischen Um12
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Bernardus Parmensis, Gloss. ord. ad. X 5.40.25, s. v. ,consuetudinem‘, zitiert nach Thier, Zeit und Recht (n. 11), 383. Cf. E. Friedberg (ed.), Corpus Iuris Canonici, vol. 2, Leipzig 1881, 41 (Cum tanto: X 1.4.11); zur Rezeption bei Heinrich von Susa cf. Thier, Zeit und Recht (n. 11), 383 sq. Zur Entwicklung der kanonistischen Gewohnheitsrechtslehre J. Gaudemet, La Doctrine Canonique Me´dievale (Collected Studies series 435), Aldershot 1994, 232-245 (n. 3: La coutume en droit canonique); U. Wolter, Die ,consuetudo‘ im kanonischen Recht bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, in: Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter (Schriften zur europäischen Rechtsund Verfassungsgeschichte 6), Berlin 1992, 87-116. Cf. L. Mayali, Law and Time in Medieval Jurisprudence, in: R. H. Helmholz/P. Mikat/J. Müller/M. Stolleis (eds.), Grundlagen des Rechts. Festschrift für Peter Landau, Paderborn [e. a.] 2000, 605-619 (Bezug zur gleichzeitigen legistischen Lehre). Cf. N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, 138.
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stände seit der Spätantike (olim - hodie) und der Notwendigkeit der Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung an neue Rahmenbedingungen: Die Übertragung der Gesetzgebungskompetenz des römischen Volkes an den princeps sei jedoch offenbar für lokale und regionale Teilbereiche von Regierung und Verwaltung des Imperiums mit einer Revisionsklausel versehen gewesen, wie eine schon mehrfache Anwendung in der Vergangenheit zeige. Also könnten sich nun in der Gegenwart die lombardischen Kommunen auf das Recht zu einer legitimen städtischen Statutargesetzgebung auf Gewohnheitsrechtsbasis berufen. Diese wurde dann auch erfolgreich im Kampf der norditalienischen Kommunen gegen Kaiser Friedrich Barbarossa durchgesetzt. Den Ansprüchen des Bartolus von Sassoferrato genügte die nur in einer vereinfachten Form in die Standardglosse des ,Corpus Iuris Civilis‘ übernommene Lösung der bologneser Juristen des 12. und 13. Jahrhunderts dennoch nicht. Eine bloße Berufung auf eine noch so lange Verjährungsfrist, das sogenannte tempus cuius non extat memoria, reichte ihm zur Legitimierung städtischer Unabhängigkeit von der kaiserlichen Gewalt nicht aus. Er wollte vielmehr die Autonomie der italienischen Kommunen an genaue Bedingungen und Verjährungsfristen gebunden sehen. Vor allem machte er für eine legitime kommunale Autonomie das Vorhandensein einer freien Stadtbevölkerung zur Voraussetzung. Auf diese Weise wollte er verhindern, daß in immer mehr italienischen Stadtrepubliken ein tyrannischer Signore an die Stelle des Kaisers als Stadtherrn trat 15.
II. Fictio juris Im System des spätantiken römischen Rechts hatten die Legisten Verfahren kennengelernt, mit bestimmten Kunstgriffen (artificia), Einbildungen (figmenta), Scheinhandlungen (simulacra) oder Fiktionen (fictiones) Rechtsverhältnisse in einem gewünschten Sinn zu verändern, was nach den Rechtsgrundsätzen unzulässig war, wenn es allein nach das Tatsachen ging. Der uns schon bekannte bologneser Jurist Azo Portius wies in einer Glosse zu den Digesten (ad D 4.6.19) auf die Grenzen solcher Kunstgriffe hin: „circa facta non potest fingi “ - „In Bezug auf Tatsachen läßt sich nichts fingieren.“ Die Fiktion sei allenfalls innerhalb der rein normativen Ordnungswelt des Rechts wirksam, könne aber die Wirklichkeit der Welt außerhalb der Ordnung nicht verändern. Baldus de Ubaldis setzte deshalb in seinem Kommentar zur gleichen Digestenstelle hinzu: „veritas facti non potest mutari “ - „Die Wahrheit der Tatsache kann durch das Recht nicht verän15
Cf. H. G. Walther, Das gemessene Gedächtnis. Zur politisch-argumentativen Handhabung der Verjährung durch gelehrte Juristen des Mittelalters, in: A. Zimmermann (ed.), Mensura. Maß, Zahl, Zahlensymbolik im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 16, 1), Berlin-New York 1983, 212-233, besonders 222-228 (Wiederabdruck in: H. G. Walther, Von der Veränderbarkeit der Welt. Ausgewählte Aufsätze, edd. S. Freund/K. Krüger/M. Werner, Frankfurt a. M. [e. a.] 2004, 67-91.
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dert werden.“ 16 In seinen späten Dekretalenkommentaren hebt er die in Bezug auf Rechtsfiktionen noch stringenter argumentierende kanonistische Lehre hervor: „aucctoritas legum non potest veritatem naturalem tollere et ab absentia realitatis suae eradicare“ - „Die Autorität der Gesetze kann weder die natürliche Wahrheit beseitigen noch das Fehlen einer unter den Gesetzen liegenden Wirklichkeit aufheben.“ 17 Cino da Pistoia, der Lehrer des Bartolus, formulierte in Bezug auf den Satz, daß der Princeps zwar alle Gesetze im Schrein seiner Brust habe, aber nicht die Verfügungsgewalt über die Tatsachen besitze: „Ista est quaestio facti, non iuris, quia Princeps non potest habere facta in scrinio pectoris sui, sicut habet iura.“ 18 Das zog dem Gesetzgeber deutliche Grenzen in Bezug auf die Veränderbarkeit der Welt der Tatsachen. Bezüglich des Verhältnisses zur Zeit erlaubte dies aber den Juristen durchaus, mit einer Rechtsfiktion die Zeit im Sinn ihrer Auswirkungen auf Rechtsverhältnisse zu verändern oder im Extremfall solche sogar aufzuheben; freilich konnte eine fictio juris dies nur in begrenztem Umfang bezüglich der Tatsachen der ,realen‘ Welt. Die zeitliche Abfolge von Tatsachen zog den Juristen in bezug auf die Möglichkeiten bei der fictio iuris unüberwindliche Grenzen, denn das Kausalitätsprinzip war für sie nicht fiktional hintergehbar. Dagegen war eine Veränderbarkeit des Rechts für die legistischen Kommentatoren des 14. Jahrhunderts eine ganz selbstverständliche Prämisse ihres Metiers. Dafür hatte der Jurist keine Kunstgriffe nötig. Vielmehr bedürfe es ganz bestimmter Kunstgriffe des juristischen Metiers, um die Tatsachen so zu verändern, daß deren Beschaffenheit nicht die Anwendung des Rechts verhindere. Die Grenzen wurden der juristischen Fiktion bei einer Verletzung der übergesetzlichen Gerechtigkeit gezogen: „Nota, quod fictio cessat ubi cessat aequitas.“ Der Kunstgriff des ,als ob‘, die fictio iuris, erscheint den mittelalterlichen Rechtsgelehrten also gerade deshalb nötig, um Rechtssätze auf die Wirklichkeit anwenden zu können, die sich sonst dieser Anwendung entziehen würde. Bartolus von Sassoferrato war ein besonderer Liebhaber des Mittels der juristischen Fiktion. In einem Kommentar distanzierte er sich deshalb ausdrücklich von der älteren Lehrmeinung, die noch in der ,Glossa ordinaria‘ des Accursius formuliert wurde „quod fictio postliminii non habet locum in his, quae sunt facti “. So gilt ihm: „Ideo ego dico, quod fictio universaliter fingitur super his 16
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Azo ad D 4.6.19, zitiert nach Thomas, Auctoritas (siehe unten), 7; Baldus de Ubaldis in primam Digesti partem Commentaria (nt. 8), ad D 4.6.19 (Additio), fol. 239vb: „super facto mero et abstracto a iure non ius fingit […] quia veritas facti non potest mutari “ - „Das Recht stellt über eine einfache Tatsache, die für sich genommen ist und vom Recht gelöst ist, keine Fiktion auf, da die Wahrheit der Tatsache nicht verändert werden kann.“ Cf. Y. Thomas, „Auctoritas legum non potest veritatem naturalem tollere“. Rechtsfiktion und Natur bei den Kommentatoren des Mittelalters, in: F. Kerve´gan/H. Mohnhaupt (eds.), Recht zwischen Natur und Geschichte. Le droit entre nature et histoire (Ius Commune. Sonderheft 100), Frankfurt a. M. 1997, 1-32. Baldus de Ubaldis in Decretalium volumen Commentaria (nt. 3), ad X 2.14.9, fol. 235va. Cyni Pistoriensis Commentaria in Codicem et aliquot titulos primi Pandectarum, Frankfurt a. M. 1578, Lectura ad D. 1.5.15 (Arethusa), fol. 9va, n. 11. Cf. D. Maffei, La ,Lectura super Digesto Veteri‘ di Cino da Pistoia. Studio sui mss. Savigny 22 e Urb. lat. 172 (Quaderni di ,Studi Senesi‘ 10), Milano 1963.
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quae sunt facti. Raro vel numquam super his, quae sunt iuris.“ - „Die Fiktion simuliert stets und überall in Bezug auf Tatsachen, jedoch selten oder gar nicht in bezug auf Rechtsfragen.“ 19 Sein in 72 Paragraphen gegliederter Kommentar zum Digestenabschnitt D.41.3.15 stellt wohl die umfänglichste systematische Darstellung eines mittelalterlichen Juristen zur juristischen Fiktion dar 20. Ebenfalls durch eine fictio iuris werden die juristischen Personen von menschlichen Verbänden und Vereinigungen als Rechtsträger geschaffen, die diesen menschlichen Gemeinschaften über die Vergänglichkeit und den Wechsel in der Mitgliedschaft Dauer und Kontinuität verleihen sollen. Die nach dem Modell der natürlichen Person modellierte juristische Person verliert damit sogar die dem Menschen nach dem Sündenfall charakteristisch eigentümliche Sterblichkeit: „universitas non moritur“ - „eine Korporation kann nicht sterben“ heißt das Schlagwort der Legisten und Kanonisten in gleicher Weise. Überschreitet der Mensch mit der Operation des intellectus zur Schaffung einer solchen fiktiven Persönlichkeit den Rahmen einer legitimen imitatio naturae ? Einwendungen von der Seite der Kanonisten, insbesondere durch Papst Innozenz IV. als Gesetzgeber und als kanonistischer Kommentator auf dem Feld des Straffälligwerdens von Korporationen und ihrer Bestrafungsmöglichkeit legen nahe, daß dem juristischen Spiel mit den artificia und fictiones hier theologische Schranken gezogen werden sollen 21. Bartolus wog in einem Kommentar die Vor- und Nachteile der sowohl von Kanonisten wie Legisten entwickelten juristischen Persönlichkeit ab 22: Ist eine Körperschaft (universitas) etwas anderes als die Menschen in dieser Körperschaft? Die Differenz in der Beurteilung der erlaubten Spannbreite juristischer Fiktion gegenüber der Welt der Tatsachen sah Bartolus zwischen den Legisten einerseits und den Philosophen und Kanonisten andererseits gegeben. Beide letzteren hätten die Frage anders als die Legisten mit nein beantwortet, weil für sie ausschlaggebend sei, daß in Wirklichkeit das Ganze sich nicht von seinen Teilen unter19
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Zitate: Bartolus de Saxoferrato, Commentaria, Venedig 1526 [Nachdruck Rom 1998], vol. 6, ad D.4.6.20, fol. 150ra. Op. cit., ad D.41.3.15 ,Si is qui pro emptore‘, foll. 105r-110v. Cf. die knappe Zusammenfassung des Argumentationsgangs in diesem traktathaften Kommentar bei Thomas, Auctoritas (n. 16), 9 sqq. (jedoch Ungenauigkeiten bei Textzitaten in den Anmerkungen!). Cf. ausführlich H. G. Walther, Die Konstruktion der juristischen Person durch die Kanonistik im 13. Jahrhundert, in: G. Mensching (ed.), Selbstbewußtsein und Person im Mittelalter (Contradictio 6), Würzburg 2005, 195-212, besonders 210 sqq. Bartolus, Commentaria (nt. 19), ad Dig. Nov. 48.19.16.10 ,nonnumquam‘, n. 3, fol. 216v: „Debemus videre […] an universitas sit aliud quam homines universitatis? Quidam dicunt, quod non […]. et hoc tenent omnes philosophi et canonistae, quod totum non differt realiter a suis partibus. Veritas est, si quidem loquamur realiter et proprie, ipsum dicunt verum. Nam nil aliud est universitas scholarium quam scholares; sed secundum fictionem iuris ipsi non dicunt verum. Nam universitas repraesentat unam personam, que est aliud a scholaribus seu hominibus universitatis, l. mortuo supra de fideiuss. Quod apparet quia recedentibus omnibus istis scholaribus et aliis redeuntibus eadem tamen universitas est. Item mortuis omnibus de populo et aliis subrogatis idem est populus, l. proponebatur supre de re iudicata. Et sic aliud est universitas quam personae, qui faciunt universitatem secundum iuris fictionem, quae est quadam persona repraesentata, dicto lege mortuo.“
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scheidet. Nach Meinung des Bartolus, der sich in seinem Kommentar zu diesem Problem der Tragweite der fictio juris in Bezug auf Personenverbände zum Sprachrohr der Legisten macht, ist die Aussage vom Ganzen und seinen Teilen aber nur so lange wahr, als man auf die Wirklichkeit bezogen und eigentlich (realiter et proprie) spricht. Denn selbstverständlich erkenne er an, daß eine Universität der Studenten (universitas scholarium) zunächst nichts anderes als die Studenten selbst sei. Bartolus wählt als recht anschauliches Beispiel die Korporation des italienischen Rechtsunterrichts, welche die Lebenswirklichkeit seiner akademischen Zuhörer bestimmte, denen er seinen Kommentar zu den Digesten im Hörsaal vortrug. Aber nach der juristischen Fiktion sei diese Identitätssetzung vom Ganzen und den Teilen eben nicht eine ausreichende Wahrheit. Denn die Korporation stelle zugleich eine Person dar, die etwas anderes sei als die Studenten, das heißt als die Menschen in der Korporation. Das zeige sich schon daran, daß es sich bei der Universität auch dann noch um die gleiche Korporation handle, wenn alle gegenwärtigen Studenten sie verlassen hätten und andere an ihre Stelle getreten seien. Ja, in Übertragung gelte das auch noch, wenn alle Menschen eines Volkes gestorben und durch andere ersetzt worden seien; noch immer handele es sich dann um dasselbe Volk. Und so sei eine Korporation etwas anderes als die Personen, die sie bildeten, und zwar gemäß der Fiktion des Rechtes: Sie sei eine Person, die repräsentiert werde 23. Es war gerade die von Bartolus hervorgehobene Dauerhaftigkeit einer solchen Korporation jenseits der natürlichen Fluktuation des Personenbestandes, die den von den Juristen erwünschten Effekte dieser Fiktion einer juristischen Person ausmachen sollte. Deshalb wurden von den gelehrten Juristen im Mittelalter solche Personengruppen als Rechtsverbände gerade nicht als natürliche und daher sterbliche Personen konstruiert, und man legte Wert auf den fiktiven Charakter dieser nur juristischen Zwecken dienenden Personenkonstruktionen. Wenn es ,universitas non moritur‘ hieß, bedeutete das zunächst einmal ganz konkret, daß die Rechte der Korporation durch den Mitgliederwechsel nicht in ihrer Qualität beeinträchtigt werden konnten 24.
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Walther, Konstruktion (n. 21), passim. Zur Zuweisung der Urheberschaft der Fiktionslehre in der modernen Rechtslehre an F. K. v. Savigny, unter mißverständlicher Interpretation der mittelalterlichen, cf. R. Feenstra, L’histoire des fondations a` propos de quelques e´tudes re´centes, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 24 (1956), 381-448, besonders 401-433. Zu der staatsrechtlichen Komponente dieser Fiktion cf. zuletzt H. Uhlenbrock, Der Staat als juristische Person. Dogmengeschichtliche Untersuchung zu einem Grundbegriff (Schriften zur Verfassungsgeschichte 61), Berlin 2000. Cf. W. Ullmann, The Delictal Responsibility of Medieval Corporations (1948), nachgedruckt in: id., Scholarship and Politics in the Middle Ages (Collected Studies series72), London 1978, n. 12. Wie nun Maximiliane Kriechbaum überzeugend aus dem Begriffsgebrauch nachwies, entfaltete die franziskanische Seite dafür keineswegs eine neue Konzeption subjektiver Rechte. Diese seit Jahrzehnten in der Forschung besonders in bezug auf Ockham tradierte Vorstellung versuchte zuletzt noch einmal L. Parisoli, Volontarismo e diritto soggettivo. La nascita medievale di una teoria dei diritti nella scolastica francescana (Bibliotheca seraphico-capuccina 58), Rom 1999,
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Die Konstruktion der juristischen Person erwies sich in dieser Hinsicht als überaus nützliches Instrument. Nach juristischer Theorie war die fiktive Person in der Tat gar nicht selbständig handlungsfähig und wurde deshalb wie ein Mündel behandelt, in dessen Interesse und an dessen Stelle andere, nämlich natürliche Personen, handeln mußten. Deswegen nannten die Juristen diese juristische Person auch eine persona repraesentata, also eine Person, die durch andere (reale Personen) vertreten wurde 25. Gegen Mitte des 14. Jahrhunderts resümierte der damals bedeutendste Kanonist Johannes Andreae als Ergebnis der langen kirchenrechtlichen Diskussion und der Kontroversen mit der legistischen Lehre, daß alle Namen für Korporationen, lauteten sie nun universitas, communitas, collegium, corpus oder societas, nur nomina significantia seien. Keine dieser Korporationen sei eine wahrhaftige Person, sondern nur eine, die durch andere (natürliche Personen) vertreten werden könne, eine persona repraesentata 26. Die Differenzen zwischen Kanonisten und Legisten lassen sich knapp auf den Punkt bringen, wie weit die einzelnen Juristen bereit waren, die Analogie zwischen einer natürlichen und einer juristischen Person zu treiben. Wann hörte die Operation der fictio durch den Intellekt auf ? Es zeigte sich, daß der konkrete Dollpunkt war, ob eine Korporation als ganze, das heißt als persona ficta, straffällig werden könne, und wenn ja, welche Auswirkungen dies auf die natürlichen Personen ihrer Mitglieder haben solle. Bartolus widmet sich im zweiten Teil seines Kommentars diesem Problem. Schließlich liegt ihm eine autoritative Stelle aus dem Lehrbuch der ,Digesten‘ zugrunde, in der von möglichen Strafverschärfungen - oder -minderungen - die Rede ist, wenn die Straftat von einer größe-
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besonders 189-214 zu bekräftigen. Dagegen M. Kriechbaum, Actio, ius und dominium in den Rechtslehren des 13. und 14. Jahrhunderts, Ebelsbach 1996, 38 sq. Cf. W. Ullmann, Juristic obstacles to the emergence of the concept of the State in the Middle Ages (1969), nachgedruckt in: W. Ullmann, The Church and the Law in the Earlier Middle Ages (Collected Studies series 38), London 1975, n. 12, besonders 49 sqq.; E. H. Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957, 21966, 302 sqq.; H. G. Walther, Die Gegner Ockhams: Zur Korporationslehre der mittelalterlichen Legisten, in: G. Göhler/K. Lenk/H. Münkler/M. Walther (eds.), Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch. Ideengeschichtliche Beiträge zur Theorie politischer Institutionen, Opladen 1990, 113-139. Ioannis Andreae in Sextum Decretalium librum Novella Commentaria, Venedig 1581 [Nachdruck Goldbach 1997], ad VI 5.11.5 (,Romana ecclesia. Ceterum‘), n. 8, fol. 162va: „Item universitas est plurium corporum inter se distantium uno nomine specialiter eis deputato collectio, et per hoc universitas ab exordio in uno constitui non potest, licet in uno conservari possit […]. no. 9: Ista vera nomina universitas, communitas, collegium, corpus, societas sunt quasi idem significantia. […] Et ob hoc nullum horum est vera persona, quae est reirationabilisindividua substantia; inde collegium dicitur persona non vera sed repraesentata. […] Sed universitas caret anima et baptismo; ideo hic penitus prohibetur universitas excommunicari. […] Item ibi est vera persona , hic repraesentata. Item ibi materia capax et apta ad recipiendam hanc personam licet modus non sit aptus, sed haec persona repraesentatanon est capax impressionis excommunicationis. Et ob hoc nil agit, quia secundum Philosophum actus activorum sunt in patiente bene disposito, nam si referatur ad veram personam, contingeritunius diei puerum vel absentem ligari.“ Cf. auch ibid., ad VI.3.4.16, n. 4, fol. 99ra: „Collegium autem vel universitas etsi sit persona, non tamen vera sed repraesentata, ff. de fidei l. mortuo [= D.46.1.22]; et sic haec persona cum illa non est idem in substantia, qua re sub illo relativo non continetur.“
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ren Menge begangen wurde 27. Papst Innozenz IV. rekurrierte als kanonistischer Kommentator einer eigenen Dekretale bei der Frage der Schuldfähigkeit und Bestrafung von Korporationen darauf, daß es sich bei einer juristischen Person nur um ein Konstrukt des menschlichen Intellekts handle, das also in der Realität gar nicht von sich aus handlungsfähig sei, sondern nur durch seine Mitglieder oder eine natürliche Person als dazu bestelltem Vertreter handeln könne. Am Beispiel eines Domkapitels führt er aus: „quia capitulum, quod est nomen intellectuale et res incorporabilis, nihil facere potest, nisi per membra sua.“ 28 III. Tempus cor r uptionis causa Die im ,Corpus Iuris Civilis‘ überlieferten kaiserlichen Titel des ,dominus totius mundi ‘ und ,deus in terris‘ schufen den spätmittelalterlichen Legisten erhebliche Probleme. Wenn sie das beliebte Gegensatzpaar de jure und de facto darauf anwendeten, würde das dazu führen, die gegenwärtigen Kaiser ihrer Weltherrschaft zu entkleiden und damit der Zeit die gesetzesderogierende Kraft zuzubilligen, die man ihr prinzipiell gegenüber den Rechtsnormen und der Gesetzgebung bestritt. Baldus de Ubaldis bemühte sich in einem seiner hochbezahlten Gutachten um eine realistische Lösung: Die Titel ,dominus totius mundi ‘ und ,deus in terris‘, wie sie in den ,Digesten‘ und ,Novellen‘ enthalten seien, würden zwar von der ,Historia scholastica‘ des Petrus Comestor und dem Matthäusevangelium bestätigt. Wenn die Novelle 69 Justinians dem Kaiser dann die Beherrschung aller Provinzen zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zuschreibe, so sei doch diesem älteren normativen Anspruch die andersartige Erfahrung der Gegenwart entgegenzuhalten: „Nun aber haben sich die Ordnungsgefüge der Welt verändert, wie es Aristoteles im ersten Buch seines Werks über ,Himmel und Welt‘ sagt; nicht aber in der Weise, daß die Welt neu geschaffen und dann zerrüttet würde, sondern nur ihre Ordnungsgefüge. Deshalb gibt es nichts Dauerndes unter der Sonne. Die Ursache der Zerrüttung ist von sich aus die Zeit, wie im vierten Buch der ,Physik‘ [des Aristoteles] zu lesen ist.“ 29 27
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Dazu einleitend Bartolus, Commentaria (nt. 19), ad Dig. Nov. 48.19.16.10, n. 3-5, fol. 216rb, der auch auf einen möglichen Widerspruch zwischen der Aussage der ,Glossa ordinaria‘ (Strafminderung) und des zugrunde liegenden Digestentextes (Strafverschärfung) hinweist und diskutiert. Cf. Ullmann, Delictal Responsibility (nt. 25), 85-88. Sinibaldus Fliscus (Innocentius IV) Super libros quinque Decretalium Commentaria, Frankfurt a. M. 1570 [Nachdruck Frankfurt a. M. 1968], ad X 5.39.53 s. v. ,consiliarios‘, fol. 564r. Baldus, cons. I, 328, fol. 102r-103v: „Nunc autem dispositiones mundi mutatae sunt, ut ait Aristoteles in Coeli et Mundi; nun utique mundus generabitur et corrumpetur, sed dispositiones ipsius, et nihil perpetuum sub sole: Corruptionis enim causa per se est tempus, IVo Physicorum […] Licet imperium semper sit, in Auth. ,Quomodo oporteat episcopos‘, § fin. [= Nov. 6, Epilog]. Tamen non eadem statu permanet, quia in continuo motu et perplexa tribulatione insistit. Et hoc apparet in mutatione quatuor principalium regnorum, inter quae [!] duo praeclariora constituta sunt, Assyriorum primum, Romanorum postremum, ut ait Augustinus libro X c. 8 ,De civitate Dei ‘, quod debat durare usque in finem huius saeculi, et per imperatorem regi in temporalibus, per apostolicum regi in spiritualibus.“ Zu diesem Consilium J. Canning, The Political Thought of Baldus de Ubaldis (Cambridge studies in medieval life and thought 4, 6), Cambridge 1987, 73,
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Realismus meinte für Baldus keine Relativierung des Wertes aller Institutionen, soweit sie Tatsachen der Rechtswirklichkeit waren, und es lag ihm ganz fern, ein solches Verhältnis von Zeit und Rechtsnormen gar zum Prinzip seiner politischen Theorie zu erheben. Vielmehr benutzte er die Überlegungen zur Natürlichkeit des Korrumpierungsprozesses alles Irdischen durch die Zeit, um zeigen zu können, daß das Imperium nicht allein nach den Maßstäben innerweltlich-natürlichen Geschehens zu beurteilen sei, sondern letztlich nach übernatürlichen, nach den heilsgeschichtlichen Qualitäten des Reichs. Typisch ist deshalb der interpretatorische Umgang, den er mit Justinians sechster Novelle wählt. Wird dort im Gesetzestext eine immerwährende Existenz des römischen Imperiums behauptet und als Rechtsnorm aufgestellt, so akzeptiert Baldus diese Aussage erst, nachdem er sie durch das Heranziehen heilsgeschichtlicher Begründungen ergänzt und damit überprüft hat: „Freilich mag es immer ein Imperium geben, wie der Epilog der sechsten Novelle sagt. Doch bleibt es nicht im gleichen Zustand erhalten, weil es in fortwährender Bewegung und verwirrender Bedrängnis besteht. Und das geht auch schon aus der Verwandlung der vier führenden Reiche hervor, unter denen es zwei von größerer Bedeutung gab, nämlich zuerst das der Assyrer und endlich das der Römer. Von diesem sagt Augustin im achten Kapitel des zehnten Buches von ,De civitate Dei‘, daß es bis zum Ende dieses Weltalters dauern werde und vom Kaiser in weltlichen Dingen, vom Apostelnachfolger aber in geistlichen regiert werden soll.“ 30
Die politische Theorie der spätmittelalterlichen Legisten reagierte also sehr wohl auf die gegenüber Justinians Zeiten veränderten Rahmenbedingungen für ihre juristische Tätigkeit als Kommentatoren: Schon der Bologneser Azo hatte zu Beginn des 13. Jahrhunderts die geschichtlichen Veränderungen als Beweis für die Revidierbarkeit der lex regia des Römischen Rechts und für die Legitimation der Autonomie der lombardischen Kommunen herangezogen. Die universalen Ansprüche des Princeps, die terminologisch in die Begriffe ,dominus universalis‘ beziehungsweise ,deus in terris‘ gefaßt wurden, bestritten damals schon die meisten Könige Europas zumindest in der Weise, daß für sie daraus keine praktische Konsequenzen resultierten. Den Souveränitätsanspruch ihrer Herrscher kleideten deshalb Legisten und Kanonisten in die Formel vom rex in temporalibus superiorem non recognoscens est imperator in regno suo. Die päpstliche Dekretalengesetzgebung und ihre kanonistische Kommentierung trieben den Prozeß der Entuni-
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223; K. Pennington, The Prince and the Law 1200-1600. Sovereignity and Rights in Western Legal Tradition, Berkeley 1993, 215 sqq.; id., Permanence and Change in Baldus’ Political Thought, in: Ius Commune 27 (2000) (= VI Centenario della morte di Baldo degli Ubaldi), 283-297, besonders 293 sqq. Baldus beruft sich in seinem Gutachten ausdrücklich auf Bartolus als Autorität, bevor er seine eigene ,solutio‘ anbietet (op. cit., fol. 102vab ): „Sciendum est, quod Bartolus dicit, quod si aliquis habet temporalem iurisdictionem, non requiritur consensus eius, secus si habet perpetuam, ut ipse notat in l. 1 § et fin, post operis ff. ,De no.[ve] ope.[ris] nun.[tiatione]‘ [= D. 39.1.1. u. 17].“ Cf. Bartolus a Saxoferrato, In primam partem Digesti Novi Commentaria, Venedig 1585, fol. 19rv. Cf. nt. 29.
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versalisierung der Kaisergewalt voran. Clemens V. zog im Konflikt zwischen Heinrich VII. und König Robert von Neapel die Konsequenz und reduzierte nach kanonistischem Ratschlag die Kaisergewalt sogar auf einen engen districtus imperii. Umgekehrt steigerten die Päpste den eigenen universalen Leitungsanspruch ihres Amtes, so daß sie zumindest subsidiär auch Gewalt in temporalibus zu ihrer plenitudo potestatis in spiritualibus beanspruchten. Eine Erosion der umfassenden Jurisdiktion des Kaisers bedeutete freilich bereits der Anspruch der italienischen Kommunen des 13. Jahrhunderts und dann im 14. Jahrhundert auch der neuen Signori auf ein autonomes merum et mixtum imperium. Zwar erkannte die Mehrheit der italienischen Legisten die Aufgabe des Princeps als Urheber der leges scriptae und damit als Garanten eines ius commune an, bestritt aber besonders in politischen Konflikten dem Kaiser ein direktes Weisungsrecht zumindest gegenüber denjenigen Städten, die sich (wie zum Beispiel Florenz) vom Imperium exemt erklärten und damit für sich eine ähnliche souveräne Stellung beanspruchten wie die Könige Westeuropas und Siziliens 31. Schlüsselbegriff für die politischen Vorstellungen des Baldus ist die bei Johannes Andreae fixierte Lehre von der persona repraesentata. In einzigartiger Konsequenz baut er systematisch die fictiones iuris von auf Dauer angelegter und mit Unsterblichkeit ausgestatteter juristischer Personen aus, um Herrschaft und Herrschaftsbeziehungen nicht mehr durch konkrete reale Personen, sondern durch juristische Personen zu bestimmen. Zudem bezieht er Gedanken der aristotelischen Philosophie in das juristische Konzept ein: Der Mensch könne nämlich auf dreifache Weise verstanden werden. Zunächst auf natürliche Weise als ein aus Seele und Körper zusammengesetztes Wesen, zum zweiten auch als wirtschaftlicher Körper, wie ihn der Paterfamilias und der Klosterabt darstellten; zum dritten könne er aber auch als ein corpus civile seu politicum angesehen werden. Die respublica stelle dabei das nomen intellectuale des Regnums unter korporativem Aspekt dar, also seine unsterbliche persona repraesentata. Die reale Person des Princeps oder Rex könne diese Funktion nicht übernehmen, vielmehr nur ein weiteres zu bildendes nomen intellectuale, nämlich die dignitas des Herrschers als die unsterbliche Form seiner Amtsgewalt. Auf diese Weise sei gesichert, daß beim Tod der realen Herrscherpersönlichkeit doch deren dignitas wie auch die respublica regni stets erhalten blieben. Da aber die dignitas als ein nomen intellectuale nicht selbständig handeln könne, benötige jede respublica einen Regenten, der 31
Cf. H. G. Walther, Imperiales Königtum, Konziliarismus und Volkssouveränität. Studien zu den Grenzen des mittelalterlichen Souveränitätsgedankens, München 1976; id., Die Macht der Gelehrsamkeit. Über die Meßbarkeit des Einflusses politischer Theorien gelehrter Juristen des Spätmittelalters, in: J. Canning/O. G. Oexle (eds.), Political Thought and Realities of Power in the Middle Ages. Politisches Denken und die Wirklichkeit der Macht im Mittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 147), Göttingen 1998, 241-267. Cf. J. Miethke, Politisches Denken und monarchische Theorie. Das Kaisertum als supranationale Institution im späteren Mittelalter, in: J. Ehlers (ed.), Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter (Nationes 8), Sigmaringen 1989, 121-144; Pennington, The Prince and the Law (nt. 29).
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entweder durch Wahl oder durch Erbfolge in sein Amt gelange. Die dignitas erfordere aber von der sie repräsentierenden Person die Qualität der Dauerhaftigkeit, die einer natürlichen Person abgehe. Damit kommt Baldus zum Schluß, daß jeder Herrscher noch eine zweite, eine korporative Person besitzen müsse. Auch diese werde wiederum nur durch einen intellektuellen Akt gesetzt. Nur durch diese öffentliche Person bleibe die dignitas des Herrschers auch beim Tod von dessen natürlicher Person erhalten, so daß die respublica auch weiterhin repräsentiert werden könne. Die natürliche Person handle also stets nur im Auftrag der öffentlichen Person des Herrschers, sei also deren bloßes Organ und Instrument 32. Alles Regierungshandeln erfolge durch die öffentliche, nicht die natürliche Person des Herrschers. Das Ziel von Regierungskritik könne aber nur die natürliche Herrscherpersönlichkeit sein, die nichts anderes darstelle als den Prokurator der öffentlichen Person und deshalb in ihrem Handlungsspielraum an die dignitas, aber auch an die Wahrung der Rechte des fiscus gebunden sei. Auch letzterer stelle ein nomen intellectuale dar, in diesem Falle dasjenige der materiellen Basis der respublica 33. In Baldus’ politischer Theorie wird der Herrschaftsverband letztlich nur noch auf der Ebene des Verstandes legitimiert. Er entzieht die respublica weitgehend dem Zugriff eines politisch handelnden populus. Auf der Legitimitätsebene werden nämlich alle Herrschaftsbefugnisse einer politischen Gemeinschaft nicht realen Personen zugewiesen. Die Rechte der Gemeinschaft und die Sorge um deren Fortbestand, also die Sicherung der Dauer, erfolgen bei Baldus nur in intellektuellen Operationen. Mit diesen werden die fiktiven Persönlichkeiten geschaffen, die diese Rechtsgemeinschaft unter verschiedenen Aspekten zu repräsentieren haben. Erst in einem zweiten Schritt leitet er dann konkrete Herrschaftsrechte wieder für reale Personen ab. Legitmationsgrund für die Handlungszwecke der Herrschenden bilden aber nur diese fiktiven Personen. Die abstrakten Schlüsselbegriffe von respublica, dignitas, honor regni und fiscus überdecken im Theoriegebäude des Baldus damit die ursprünglichen Intentionen, mit denen die ersten Generationen von bologneser Glossatoren versucht 32
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Cf. zusammenfassend bei Canning, Political Thought (nt. 29); Walther, Macht der Gelehrsamkeit (n. 31), 253 sqq.; H. G. Walther, Sozialdisziplinierung durch die gelehrten Rechte im Mittelalter, in: G. Mensching (ed.), Gewalt und ihre Legitimation im Mittelalter (Contradictio 1), Würzburg 2003, 26-47, besonders 43 sqq. Dazu zuletzt H. G. Walther, Die Legitimität der Herrschaftsordnung bei Bartolus von Sassoferrato und Baldus de Ubaldis, in: E. Mock/G. Wieland (eds.), Rechts- und Sozialphilosophie des Mittelalters (Salzburger Schriften zur Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie 12), Frankfurt a. M. [e. a.] 1990, 115-139, besonders 127 sqq; id., Macht der Gelehrsamkeit (n. 31), 255; id., Die Legitimation der Herrschaftsordnung durch die Rechtslehrer der italienischen Universitäten des Mittelalters, in: G. Dux/F. Welz (eds.), Moral und Recht im Diskurs der Moderne. Zur Legitimation gesellschaftlicher Ordnung (Theorie des sozialen und kulturellen Wandels 2), Opladen 2001, 175-190, besonders 188 sq.; Canning, Permanence (nt. 29), 283-297. Cf. Kantorowicz, Two Bodies (nt. 25), deutsch: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, 394 sqq. Zur kontroversen Beurteilung der Konsequenzen von
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hatten, den neuen Herrschaftsverbänden der Kommunen einen legitimen Platz im System des merum imperium und der verschiedenen Jurisdiktionsebenen des spätantiken römischen Rechts anzuweisen. Bei Baldus dominiert der Aspekt der Dauer, den er den Institutionen durch ihre Verfassung als Korporationen, das heißt als juristische Personen sichert 34. Auch die Juristen imitieren nach seiner Überzeugung mit ihrer ars die Natur, jedoch eben auf eine ihrem Metier eigene, ganz besondere Weise: Sie imitieren als philosophi legum die philosophi naturae. In seinen langen Grundsatzausführungen am Beginn des Digestenkommentars formuliert Baldus, daß jede ars sich die Natur als Material nehme. Deshalb wähle der Legist die facta hominum als seine Materie so wie der Leineweber die Leinwand. „Er interpretiert sie und so ist unser Recht auf den Akzidenzien gegründet, das heißt auf Fällen, die sich ergeben. Denn Gesetze werden aus Tatsachen geboren. Das gemeinsame Material befaßt sich nicht mit den Taten der Natur, sondern mit den Taten der Menschen.“ 35 Wenig später kommt Baldus ausdrücklich auf das Verhältnis der Gesetze zur Zeit zu sprechen: „Unsere Rechte betrachten die Zeit und erlassen in ihr ihre Gesetze. Die Zeit, die dem Menschen das Leben gibt, gibt ihm auch das Gesetz. Die Zeit umgibt uns immer. Das ist es, was uns unsere Gebräuche (mores) gibt, unser Gesetz. In ihr leben wir, ernähren uns und sind.“ - „Tempus vero quod semper accidit ad nos, illud dat nobis mores, illud dat nobis legem, illo vivimus, nutrimur et sumus.“ 36
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Baldus’ Tyrannenlehre cf. Canning, Political Thought (nt. 29), 185 sqq.; Walther, Macht der Gelehrsamkeit (n. 31), 254 sqq. Walther, Sozialdisziplinierung (nt. 32), 46 sq. Baldus de Ubaldis in primam Digesti partem Commentaria (nt. 8), ad D.1.1. rubr., fol. 6v, n. 15: „Et nota, quod omnis ars assumit sibi naturam pro materia, sicut statui fiscus assumit sibi aes pro materia et lanificus lanam. Sic legista pro materia assumit sibi facta hominum. Facta enim suam naturam habent et illa ordinat. Item ipsa interpretatur et sic ius nostrum est fundatum super accidentibus, idest super casibus emergentibus, ex quibus oritur bonum.“ Cf. ibid., n. 17: „Communis vero materia non versatur in factis naturae,sed in factis hominum et in bono et aequo, quod inde oritur.“ Cf. Walther, Konstruktion (nt. 21), 211 sq.; Canning, Permanence (nt. 29), 285, nt. 3. Zu Perpetuierungsvorstellungen und dem Versuch der Glossatoren, immerwährende Institutionen zu fingieren, schon Kantorowicz, Zwei Körper (nt. 33), 287. Baldus de Ubaldis in primam Digesti partem Commentaria (nt. 8), ad D.1.3.32 (31), fol. 22v, n. 77 sq.: „Iura nostra considerant tempus, et in tempore fundant leges suas. […] Tempus quod dat sibi [sc. homini] vitam, dat sibi legem. Tempus vero quod semper accedit ad nos, illud dat nobis mores, illud dat nobis legem, illo vivimus, nutrimur et sumus.“ Cf. Canning, Permanence (nt. 29), 285, nt. 4; id., Italian Juristic Thought and the Realities of Power in the Fourteenth Century, in: Canning/Oexle, Political Thought (nt. 31), 229-239, besonders 229 sq.
Die ,voces variae animantium‘ in der Unterrichtstradition des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 1 Adam Fija£kowski (Warschau) I. Einführ ung Schule funktionierte und funktioniert in allen ihren Bereichen - des Unterrichtsinhaltes, der Schultexte, der Methode des Lehrens, des Alltagslebens, des sozialen Empfängerkreises und der Vernetzung, sowie auch der Schulorganisation - mehr oder weniger in dem Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation 2. Hier möchte ich die Interaktion zwischen der unterrichtsinhaltlichen und der methodischen Schulpraxis am Beispiel des kleinen Textes der sogenannten ,voces variae animantium‘, besonders im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, darstellen. Ziel meiner Untersuchung ist es, ein kleines aber sehr wichtiges literarisches Motiv im Kontext der möglichen Rekonstruktion historischer Schulpraxis vorzuführen. Was sind eigentlich die ,voces variae animantium‘? Der Terminus technicus benennt verschiedene Versuche der Tierstimmenbeschreibung mit griechischen oder lateinischen Buchstaben, die man in antiken, mittelalterlichen und frühneu1
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Zur Erinnerung an den 350. Jahrestag der Veröffentlichung des ,Orbis sensualium pictus‘ von Johann Amos Comenius (1658). Der vorliegende Aufsatz ist am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin im Rahmen meines Humboldt-Stipendiums 2006 entstanden, für das Prof. Dr. Matthias Thumser mein Gastgeber war. Herrn Prof. Dr. Thomas Wünsch (Passau) und Herrn Dr. Stephan Waldhoff (Berlin/Potsdam) bin ich sehr dankbar für ihre kritischen Bemerkungen zum Text und für ihre Bemühungen. Cf. Polycarp Leyser, Historia poetarum et poematum medii aevi …, Halae Magdeb. 1721; F. A. Specht, Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland von den ältesten Zeiten bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, Stuttgart 1885, 47-57, 67-114; F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten, Leipzig 1885, 22-32; E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 4. Aufl., Bern-München 1963, 4670, besonders 58-64; G. Glauche, Schullektüre im Mittelalter, München 1970, passim. N. Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte, München 1988, passim. M. Kintzinger/ S. Lorenz/M. Walter (eds.), Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 42), Köln-Weimar-Wien 1996; K. Grubmüller (ed.), Schulliteratur im späten Mittelalter (Münstersche Mittelalter-Schriften 69), München 2000. Zum Forschungsstand auch für Ostmitteleuropa jetzt: A. Adamska, The Study of Medieval Literacy. Old Sources, New Ideas, in: A. Adamska/M. Mostert (eds.), The Development of Literate Mentalities in East Central Europe (Utrecht Studies in Medieval Literacy; 4), Turnhout 2004, 13-47. Ch. Meier (ed.), Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur (Münstersche Mittelalter-Schriften 79), München 2002.
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zeitlichen Texten gefunden hat. Den Begriff hat zuerst Polemius Silvius in seinem ,Laterculus‘ (um 449 n. Chr.) benutzt, Wilhelm Wackernagel hat ihn 1868 als Fachbegriff in die moderne Forschung eingeführt 3. Es geht hier um kurze Sentenzen, onomatopoetische Verse beziehungsweise Sprüche wie zum Beispiel: ovis balat, mus mintrit, pullus pipit, lepus vagit, canis latrat, lupus ululat, serpens sibilat, rana coaxat 4. Der Text der ,voces variae animantium‘ ist nicht geschlossen, konstant, kohärent und beständig, vielmehr variieren Form und Zahl der Sprüche. Viele Autoren haben über die Jahrhunderte die Tierstimmen auf verschiedene Art und Weise vorgestellt - zum Beispiel als ranarum [est] coaxare, ranae coaxant oder rana coaxat und schließlich auch in lautmalender Wortbildung: ,coax‘. Die Zahl der Tierstimmen ist ebenfalls nicht immer gleich: sie variiert zwischen etwa 15 und 70. Auch die Beschreibungen der verschiedenen Tierstimmen unterscheiden sich von einander, so kann der Bär zum Beispiel saevere, aber auch murmurare, die Krähe crocit, oder sie cornicatur, crochit, crocitat, grocit usw. Es wäre nicht richtig zu glauben, daß man in den verschiedenen Katalogen der ,voces variae animantium‘ nur die Stimmen von Tieren findet. Dort gibt es auch die Stimmen der Menschen (iubilant rustici, bagiunt infantes), des Windes (flant venti ) und der Dinge (bilbit amphora inaqua, cursus aquarum murmurat ) 5. Obwohl also die Bezeichnung ,voces variae animantium‘ nicht ganz genau ist, wird sie bis heute in der Fachliteratur als handliche Beschreibung gebraucht 6. Es geht hier also nicht um einen geschlossenen Text, den man in Handschriften und Drucken unter diesem Titel oder mit einem bestimmten Incipit in verschiedenen Katalogen und Datenbanken einfach finden und identifizieren könnte, sondern um einen Stoff, der variiert, um ein Motiv, das man in verschieden historischen Situationen benutzt hat. Warum sind die ,voces variae animantium‘ überhaupt, und besonders im Bereich der Bildung, so wichtig? Diese kurzen Sprüche dienen schon seit zweiundzwanzig Jahrhunderten in der europäischen Literatur als Elemente der Naturkunde, der Sprachlehre und der Schulpraxis. Die Tierstimmen wurden bereits in der 3
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Polemius Sivlius, Laterculus, in: Th. Mommsen (ed.), Chronica minora saec. IV. V. VI. VII. (Monumenta Germaniae Historica. Auctores antiquissimi 9), Berlin 1892 [Nachdruck Berlin 1959]; W. Wackernagel, Voces variae animantium, Basel 1868 (21869); G. Loewe (ed.), Glossae nominum. Accedunt eiusdem opuscula glossographica collecta a G. Goetz, Leipzig 1884, 247251. Cf. E. Tichy, Onomatopoetische Verbalbildungen des Griechischen, Wien 1983; M. Gross, Zur linguistischen Problematisierung des Onomatopoetischen, Hamburg 1988; J. F. Graham, Onomatopoetics. Theory of Language and Literature, Cambridge 1992. Alle Beispiele aus: G. Loewe (ed.), Glossae nominum, Leipzig 1884, 248-251. Cf. Ch. E. Finch, Suetonius’ Catalogue of Animal Sounds in Codex Vat. Lat. 6018, in: American Journal of Philology 90 (1969), 459-463; M. Marcovich, Voces animantium and Suetonius, in: Zˇiva antika/Antiquite´ vivante, Skoplje 21 (1971), 399-416; J. M. Ziolkowski, Talking Animals. Medieval Latin Beast Poetry 750-1150, Philadelphia 1993, 36-39, 110-116; D. Th. Benediktson, Polemius Silvius’ „Voces varie animancium“ and Related Catalogues of Animal Sounds, in: Mnemosyne 53 (2000), 71-79; id., Cambridge University Library L1 1 14, F. 46r-v: a Late Medieval Natural Scientist at Work, in: Neophilologus 86 (2002), 171-177.
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Antike als Prinzipien der Ursprache, oder - wie man sie in der moderne Psycholinguistik nennt - der ,Metasprache‘ betrachtet, die noch vor der Entstehung verschiedener Sprachen und ihrer Buchstaben als ein gemeinsamer Vordergrund, als ein ,phonocentric canon‘ unserer Kultur wirkten 7. Die ,voces variae animantium‘ können also nicht nur für Historiker, besonders Bildungs- und Literaturhistoriker, und Philologen, sondern auch für die modernen Psychologen und Psycholinguisten interessant sein. Sie unterbrechen den traditionellen Transfer des Wissens beim Lesen auf dem Niveau des Sehens und verbinden ihn mit dem Hören. Das Sehen beim Lesen ist an die Buchstaben gebunden. Die Stimmen (voces) waren noch vor den Buchstaben, ein Konkretes vor dem Abstrakten. Sie standen am Anfang der noch vorsprachlichen Kommunikation - nicht auf dem Niveau des Sehens, sondern prinzipiell des Hörens. Das Wissen kommt unmittelbar zum Empfänger, ohne die Codierung in Form von Buchstaben. Deswegen kann diese Technik eine wichtige Rolle besonders im Anfangsunterricht spielen: Man kann die Buchstaben nicht nur lesen, sondern auch hören. Diese einfache Regel haben heutige Spielzeugenhersteller pragmatisch verstanden. Kleinkinder drükken auf ein Spielzeug in Form eines Löwen, hören sein Brüllen und den Kommentar: ,Ich bin ein Löwe.‘ Sie drücken auf den Buchstaben ,A‘ und hören den Laut ,A‘. Die Kommunikation und die einfache Erkenntnis finden auf dem Niveau des Sehens und des Hörens einzelner Stimmen statt - nach der Natur, nicht unbedingt mittels Buchstaben. Kleinkinder, die im Alter von ein oder eineinhalb Jahren zu sprechen beginnen, sagen oft zuerst nicht ,Hund‘, sondern meistens ,wau, wau‘, das heißt, sie sprechen nicht das abstrakte Wort aus, sondern sie imitieren eine konkrete Tierstimme. Beobachtungen zeigen, daß die Kinder nur auf der Grundlage der konkreten sinnlichen Erkenntnis mit der Zeit auch die Abstrakta zu gebrauchen lernen. Um diesen Erkenntnisprozeß zu stimulieren, soll man die Sinne der Kindern so viel wie möglich aktivieren: das Hören, das Sehen, den Tastsinn, nach Möglichkeit auch den Geruch. Als Mittel, um die sinnliche Erkenntnis im ersten Elementarunterricht zu aktivieren und das Lernen effektiv zu gestalten, standen auch in der Vergangenheit die ,voces variae animantium‘ zur Verfügung. Es stellt sich nun die Frage, ob überhaupt und inwieweit man ein solches Instrument für die Erziehung benutzt hat und ob man in der Vergangenheit ein Gespür dafür oder ein Bewußtsein davon hatte, daß sich der Anfangsunterricht nach solch einfachen psychologischen Regeln erleichtern läßt. Die unscheinbaren Texte der ,voces variae animantium‘ können uns weiter erklären, ob und wieweit eine positive Stimulation in der Methode des Lehrens eine Rolle gespielt hat. Inwieweit wollte man die Erkenntnispotentiale 7
Cf. L. F. Scinto, Written Language and Psychological Development, Orlando 1986; id., The Acquisition of Functional Composition Strategies for Text, Hamburg 1982; R. Jakobson, On Language, Cambridge (Mass.) 1980; U. Eco, La ricerca della lingua perfetta nella cultura europea, Rom-Bari 1993, 109; G. A. Narziß, Studien zu den Frauenzimmergesprächspielen Georgs Philipp Harsdörfers. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts (Form und Geist 5), Leipzig 1928, 100-113.
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der Kinder verstehen, oder - moderner gesprochen - inwieweit erweist sich die Kultur der Zeit als ,kinderfreundlich‘? Was den didaktischen Kontext angeht, so ist zu bemerken, daß die ,voces animantium‘ erst durch Johann Amos Comenius (Komensky´, 1592-1670), also erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts, als Elemente des Lese- und Buchstabenunterrichts den jeweiligen Buchstaben zugeordnet wurden. Früher wurden sie als Beispiele der verschiedenen Stimmen (voces) nach den Tiernamen geordnet oder blieben in Form eines Sprachspiels ungeordnet. II. Der Anfang: Var ro und Sueton und ihre Nachfolg er in der römischen Antike Die ,voces variae animantium‘ gehören zur europäischen Literatur. Mit Ernst Robert Curtius kann man fragen: „Warum und seit wann?“ 8 Am Anfang der Tradition steht Marcus Terentius Varro (116-27 vor Chr.), Grammatiker, Philologe und Enzyklopädist des klassischen römischen Altertums, der sich mit der Frage nach dem Ursprung und der Vielfalt der Sprachen beschäftigte. Wie die Stoa betrachtete Varro die Sprache als naturgegeben. Weil er mit dem Lateinischen und dem Griechischen nur zwei Sprachen praktisch beherrschte, die beide aus der indoeuropäischen Sprachfamilie stammen - nur nebenbei erwähnt er zuweilen noch eine etruskische oder sabinische Vokabel 9 war seine Erklärung ,klassisch‘ einfach. In seinem grammatikalischen Werk ,De lingua latina‘ erklärt Varro, daß die ersten Menschen ihre Sprache nach dem Vorbild der Natur und ,nach dem praktischen Nutzen‘ richteten 10. Man kann vermuten, daß Varro zu diesem Schluss auch durch die Beobachtung der Kleinkindersprache gekommen ist. Daher rührt wahrscheinlich auch Varros Interesse an den Tierstimmen als einer potentiellen Ursprache, aus der die konkreten Substantive und Verben erstanden sein sollen. Er legte großes Gewicht auf den einfachen etymologischen Ursprung verschiedener lateinischen Wörter, die er zumeist aus dem Griechischen oder von Tierstimmen ableitete. Diese gehören für ihn zu den Elementen der Welt- und Sprachbeschreibung, wofür sich konkrete Beispiele in verschieden Teilen von ,De lingua latina‘ finden lassen 11. Varro hat auch die erste uns bekannt Liste der lateinischen ,voces variae animantium‘ aufgestellt. Sie befindet sich in seinen ,Saturae‘, im Fragment ,Aborigenes‘. Er hat insgesamt vier Sprüchen von ,voces animantium‘ zusammengestellt: „mugit bovis, ovis balat, equi hinniunt, gallina pipat.“ 12 8 9
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Curtius, Europäische Literatur (nt. 2), 46. A. Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, vol. 1, Stuttgart 1957, 167. M. T. Varro, De lingua latina 6, 3; 8, 7; 8, 27; 9, 46, ed. L. Spengel, Berlin 1885, 73, 166, 173, 209. A. Borst, Der Turmbau von Babel (nt. 9), 154. Varro, De lingua latina (nt. 10), Bücher 5-7, besonders 5, 11 (§ 75)-14 (§ 82). M. T. Varro, Saturarum Menippearum reliquiae, ed. A. Riese, Leipzig 1865, 93.
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Der nächste uns bekannte Autor, der die Tradition der Tierstimmen fortgesetzt hat, war der römische Historiker Sueton (70-150 nach Chr.). In seinem Werk ,Pratum‘ (bzw. ,Prata‘), im Kapitel De naturis animantium, hat er den ,voces animantium‘ viele neue Beispiele hinzugefügt 13. Sueton richtete sein Interesse stärker auf das naturkundliche Erklärungspotential der einzelnen Beispiele als auf ihre didaktische Funktion beim Sprach- beziehungsweise beim Fremdsprachenunterricht. Die ,voces animantium‘ sind im Genetiv Plural mit Infinitiv verfaßt (leonum est fremere uel rugire, tigridum rancare, pardorum felire usw.) und in insgesamt 52 Sprüchen zusammengestellt 14. Die Darstellung beginnt mit den Stimmen der größeren Tiere (Löwe, Tiger, Panther, Bär, Wolf), gefolgt von den kleineren (Schaf, Frosch, Vögel, Biene und am Ende die Heuschrecke). Diese Ordnung ist aber nicht ganz konsequent durchgeführt, da sich etwa der Elefant (elephantum barrire) fast am Ende des Kapitels befindet. Sueton gestaltet seine Liste hierarchisch: von den höheren Tieren (Löwe) zu den niederen (Insekten). In den einzelnen Sprüchen steht zuerst der Tiername und dann die Stimmenbeschreibung, etwa ranarum coaxare. Das Gewicht liegt mit den Tiernamen also auf dem naturkundlichen Aspekt. So findet man bei Sueton auch nur Tiernamen und Tierstimmen, noch keine menschlichen Laute und Geräusche unbelebter Sachen. Nach Sueton wurde die Liste vielfach modifiziert: Sie wurde ergänzt oder verkürzt beziehungsweise vereinfacht, neue Tierstimmen wurden hinzugefügt, einzelne Beispiele wurden ausgewählt und in andere Texte übernommen. Deswegen ist es schwer zu sagen, ob überhaupt ein Kanon existierte. Gleichwohl wiederholte man bestimmte Sprüche lieber als andere, besonders: ranarum coaxare, ovium balare, serpentium sibilare, equorum hinnire, canum latrare und ähnliche in verschiedenen grammatikalischen Formen. Die Beispiele wurden offensichtlich als die besten und die originellsten empfunden, vielleicht weil sie Tiere betreffen, die man öfter antrifft und deren Stimmen uns vertraut sind. Viele Jahrhunderte später wurde diese ,Gedächtnisregel‘ von Pädagogen wie J. A. Comenius und Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) wiederentdeckt. Die oben genannten ,Schlüsselbeispiele‘ zeigen auch die Weiterführung der Tradition an. Seit Sueton kann man nun zwei Traditionen der ,voces animantium‘ unterscheiden: die mehr auf den Sprachunterricht und die mehr auf die Naturkunde gerichteten Texte. Die Grenze ist jedoch nicht immer eindeutig zu ziehen. Zwölf Beispiele der ,voces animantium‘ in einer zusammenhängenden Folge wie bei Sue13
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Zur Autorschaft cf. Paulys Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft, neue Bearbeitung von G. Wissowa, Stuttgart 1931, zweite Reihe, 7. Halbband, 632-641; Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, edd. H. Cancik/H. Schneider, vol. 11, Weimar-Stuttgart 2001, 10861088; A. Wallace-Hadrill, Suetonius. The Scholar and his Caesars, London 1983, 41-42; Finch, Suetonius’ Catalogue of Animal Sounds (nt. 6); Marcovich, Voces animantium (nt. 6); M. von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, vol. 2, Bern 21994, 1105 (nt. 8 verweist auf einen ,demnächst‘ erscheinenten Beitrag zu Suetons ,Pratum‘ in ANRW II, 33, 5), 1119. C. Suetonii Tranquilli Reliquiae [De naturis rerum - Prata] 10, 161, ed. A. Reifferscheid, Leipzig 1860, 247-254.
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ton finden sich etwa in einem historiographischen Werk der Spätantike, den ,Scriptores Historiae Augustae‘ (3./4. Jh.), in der Geschichte des Antonius Geta von Aelius Spartianus, um den Ursprung des Namens Geta in Analogie zu den Tiernamen zu erklären 15. Im Fall der spätantiken lateinischen Grammatiker ist jedoch der sprachliche Kontext klar. Apuleius Madaurensis (ca. 125-190) 16, Diomedes (ca. 370/380) 17, Maximus Victorinus (4. Jh.) 18, Marius Victorinus (4. Jh.) 19, Marcus Valerius Probus 20 und schließlich Priscianus von Cäsarea 21 haben die ,voces variae animantium‘ in ihren Grammatiken benutzt; fünf bis zehn ausgewählte Sprüche spielten als Stimmenbeispiele jeweils in den Einführungskapiteln, De voce, eine Rolle, nämlich als eine Grundform der Sprache, noch vor der Einführung der Buchstaben. Hierin folgten die spätantiken Grammatiker Varro und zugleich Sueton und begründeten damit eine Tradition. Im Hochmittelalter, in der Kommentierung des Priscianus von Cäsarea, aber auch schon im scholastischen Kontext der grammatica speculativa, hat sich um 1149 Petrus Helias in seiner ,Summa super Priscianum‘ ebenfalls in einem einführenden Kapitel De voce auf zwei Sprüche der ,voces variae animantium‘ berufen: „ ,coax ‘ que est vox ranarum“ und „ ,cra‘ […] que vox corvina est “ 22. Die Benützung der voces im Schulunterricht, ist in diesem Fall wahrscheinlich. Das alles erlaubt uns zu vermuten, dass die ,voces animantium‘ in der Antike zuerst im Bereich der Grammatik und der Schule bekannt wurden. Ob bei Sueton selbst und den Autoren, die seine Beispiele im didaktischen Kontext übernommen haben, verbunden mit dem Text der Tierstimmen auch Bilder einzelner Tiere zum Einsatz kamen, ist nicht bekannt.
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Aelius Spartianus, Antonius Geta, in: E. Hohl (ed.), Scriptores Historiae Augustae, vol. 1, Leipzig 1971, 198. Apulei Platonici Madaurensis, Florida 17, in: Opera quae supersunt, vol. 2, fasc. 2, ed. R. Helm, Leipzig 1959, 17: „tautorum grauis mugitus, luporum acutus ululatus, elefantorum tristis barritus, equorum hilaris hinnitus, nec non auium instigati [cl]angores nec non leonum indignati fremores ceteraeque id genus uoces animalium.“ Diomedis artis grammaticae libri III, l. 2: De voce, in: Grammatici Latini, vol. 1, ed. H. Keil, Leipzig 1857 [Nachdruck Hildesheim 1961], 420. Maximi Victorini De arte grammatica, Kapitel: De voce, in: Grammatici Latini, vol. 6, ed. H. Keil, Leipzig 1874, 189. Maximus Victorinus verfasste auch eine Schrift ,De ratione metrorum‘. Im 7./8. Jahrhundert hat Aldhelm von Malmesbury in seinem Traktat (cf. nt. 36) die ,voces animantium‘ daraus entnommen. Marius Victorinus, Artis grammaticae libri IV, l. 1, Kapitel: De voce, in: Grammatici Latini, vol. 6 (nt. 18), 4. Probi Instituta artium, Kapitel: De voce, in: Grammatici Latini, vol. 4, ed. H. Keil, Leipzig 1864, 47. Prisciani grammatici Caesariensis Institutionum grammaticarum libri XVIII. l. 1: Kapitel: De voce, in: Grammatici Latini, vol. 2, ed. M. Hertz, Leipzig 1855, 1, 5. Petrus Helias, Summa super Priscianum, De voce (Pr. 1), in: L. A. Reilly, Petrus Helias’ „Summa super Priscianum“. An Edition and Study (Studies and Texts 113), Toronto-Ontario 1993, vol. 1, 70.
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III. Überliefer ung von der römischen Antike ins Mittelalter Noch in der Antike hat sich Boethius (um 480-524) in seinem Kommentar zu der von ihm übersetzten logischen Schrift Peri¬ e«rmhnei¬aw (,De interpretatione‘) des Aristoteles auf die ,voces animantium‘ berufen 23. Boethius hat die Natur und den Ursprung der Sprachen und der Laute im ersten, einführenden Buch seines Kommentars, im zweiten Kapitel, De nomine, im Abschnitt über nomina significativa besprochen. Nach Aristoteles und Porphyrius und ähnlich wie Sueton hat Boethius noch einmal den natürlichen Vorrang der Stimmen (voces) vor der Sprache und den Buchstaben behauptet. Wie die oben genannten lateinischen Grammatiker hat Boethius festgestellt: „Universaliter autem dicimus: omnium vocum aliae sunt quae inscribi litteris possunt, aliae vero quae non possunt.“ 24 Er hat insgesamt vier Tierstimmenbeispiele benutzt. Wie die ,voces animantium‘ innerhalb der philosophischen Tradition weiter gelebt haben, zeigt ein prominentes Beispiel, die ,Excerpta Isagogarum et Categoriarum‘ (10./11. Jh.) 25. Dort finden sich siebzehn Beispiele, unter ihnen: lupus ululat, canis latrat, mus mintrit, rana coaxat. Im Hochmittelalter haben etwa Albertus Magnus 26 und Thomas von Aquin 27 die ,voces variae animantium‘ offensichtlich gekannt und ziemlich oft in naturkundlichen und moralischen Kontexten zitiert. In einer spätmittelalterlichen Papierhandschrift, die um 1389 wahrscheinlich an der Artistenfakultät der Prager Universität geschrieben wurde, befinden sich die ,voces animantium‘ zwischen den ,Sophismata ad Aristotelem‘, der ,Quaestio in Aristotelis Analytica posteriora‘ und dem ,Commentarium in Aristotelis II libros de sophisticis elenchis‘ 28. Und obwohl hier nicht zu entscheiden ist, ob die ,voces animantium‘ zum philosophischen Lehrstoff gehörten oder eine Sprachspiel für die Pausen zwischen den Lektüren und Besprechungen seriöser Traktate war, bleibt bemerkenswert, daß sie überhaupt in diesem Kontext auftauchen. 23
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Aristoteles, De interpretatione seu Peri ermeneias translatio Boethii, ed. L. Minio-Paluello (Aristoteles latinus II, 1-2) Bruges-Paris 1965, l. 1, c. De nomine,1-38, hier 6. A. M. S. Boetii in librum Aristotelis de interpretatione libi sex, editio secunda, seu Majora commentaria, l. 1, c. 2, in: Manlii Severini Boetii Opera omnia, ed. J.-P. Migne, Patrologia Latina 64, Paris 1891, 423-424. Cf. A. M. S. Boetii commenatrii in librum Aristotelis Peri¬ e«rmhnei¬aw, ed. C. Meisner, Leipzig 1880, vol. 2: „canum latratus“ (54); „et (ut Porphyrius autumat) cicada per pectus sonitum mittit, quorum omnium nihil est nomen. […] nam quamvis vox inlitterata sit et natura significet latratus canum, dicitur tamen latratus et leonis fremitus et tauri mugitus. heac sunt nomina ipsarum vocum quae a mutis animalibus proferuntur “ (60). Excerpta Isagogarum et categoriarum 13, ed. I. d’Onofrio (CCCM 120), Turnholti 1995, 16 vgl. auch LXXXIII-LXXXVII. Albertus Magnus, Super Isaiam, 69, 11, ed. F. Siepmann (Opera omnia 19), Münster 1952, 561, 62 sqq.: „ursus rugit, rugitus leonis, cantus columbae gemitus est.“ Thomas de Aquino, Sermones, n. 6 p. 1; n. 12 p. 3, in: ed. R. Busa (Opera omnia 6), Stuttgart 1980, 38, 44: „leo rugiens, et ursus esuriens“ (nach: Spr 28,15). München, UB fol. Cod. Ms. 568a, Bl. 140rb: „puer bagit, homo clamat, asellus rudit […] ignis crepidat, cursus aquarum murmurat.“ Cf. N. Daniel/G. Schott/P. Zahn, Die lateinischen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek München: Die Handschriften aus der Folioreihe, Hälfte 2, Wiesbaden 1979, 93.
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Zu den wichtigen Texte in der Überlieferungsgeschichte der ,voces variae animantium‘ von der Antike ins Mittelalter gehören, neben den oben genannten, auch der Brief von St. Hieronymus ,Ad Eustochium‘ 29, die ,Rhetorica ad Herennium‘ 30, die zwei Enzyklopädien des Isidor von Sevilla (ca. 560-636): die ,Etymologiae‘ und die ,Differentiae‘ (,De differentiis verborum‘) sowie der ,Laterculus‘ von Polemius Silvius. Den ,Laterculus‘, einen Text aus der Mitte des 5. Jahrhunderts von einem noch römischen Autor, hat Theodor Mommsen, sein Herausgeber, als eine praktische Kompilation beziehungsweise als ein kurzes Kompendium antiken Wissens, besonders der lateinischen Grammatik, für die neuen Bewohner des Imperium Romanum verstanden. Die Tierstimmen, hier insgesamt 24 Beispiele, sind in einem eigenen Kapitel gesammelt 31. Die ,voces variae animantium‘ wurden offensichtlich als eine Sprachübung betrachtet, die, dank der einfachen Mnemotechnik, „tuto cito iucunde“ 32, viele lateinische Substantive und Verben zu erlernen geholfen haben könnte. Die didaktische Nutzung ist in diesem historischen Kontext sehr wahrscheinlich. Polemius Silvius hat die populärsten Sprüche ausgewählt - wie ovis balat, canis latrat, lupus ululat, sus grunnit, bos mugit, rana coaxat - und hat neben den Tierstimmen auch menschliche Laute und Geräusche von Sachen beigefügt - populus strepit, ignis crepitat, cursus aquae murmurat, terra stridit, aes tinnit. Isidor von Sevilla, der die ,Etymologiae‘ als ein Kompendium allen Wissens verfaßte, hat die verschiedenen Tierstimmen den Beschreibungen einzelner Tieren als Element der Tiercharakteristik, also der Naturkunde, besonders der Vogelkunde, beigefügt 33. In Isidors kleinerer Enzyklopädie, den ,Differentiae‘, sind die ,voces animantium‘ unter dem Buchstaben V, wie vagire, aufgenommen und wörtlich nach Varros ,Saturae‘ zitiert 34. Die weite Verbreitung und große Bedeutung der Briefe von St. Hieronymus, der ,Rhetorica ad Herennium‘ und der ,Etymologiae‘ des Isidor im Mittelalter haben auch die Verbreitung der ,voces animantium‘ maßgeblich gefördert. Auf diese Weise haben die ,voces variae animantium‘ ihren Weg von der Antike ins Mittelalter gefunden.
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Hieronymus, Ad Eustochium Virginem. Epitaphium Paulae matris (Epist. 108), in: Eusebii Hieronymi Stridonensis Presbyteri Opera omnia, ed. J.-P. Migne (Patrologia Latina 22), Paris 1854, 889: „ante sepulchra sanctorum ululare homines luporum vocibus, latrare canum, fremere leonum, sibilare serpentum, mugire taurorum. Rhetorica ad Herennium 4, 31, ed. F. L. Müller, Aachen 1994: „maiores rudere et mugire et murmurari et sibilare appellarunt.“ Polemius Silvius, Laterculus (nt. 3), 548, Kapitel VI: Voces varie animancium. Cf. J. F. Herbart, Umriss pädagogischer Vorlesungen, Göttingen 1841, § 57. Isidori Hispalensis Etymologiarum sive originum libri XX, ed. M. W. Lindsay, Oxford 1911 (ohne Paginierung), besonders l. 1, c. 29; l. 12, c. 7. Isidori Hispalensis Differentiae, de littera V, in: Isidori Hispalensis Episcopi Opera omnia, ed. J.-P. Migne (Patrologia Latina), Paris 1862, 83, 70.
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IV. Im Fr ühmittelalter : Toledo und Malmesbur y Im Frühmittelalter wurden die ,voces animantium‘ in einem Gedicht des Eusebius von Toledo († 657) überliefert. St. Eusebius von Toledo, einer der prominentesten Geistlichen und Gelehrten seiner Zeit, war eine Generation jünger als Isidor und gehörte zum selben Kulturkreis. In seinem ,Carmen De voce hominis absona‘ hat er, der grammatikalischen und der philosophischen Tradition folgend, insgesamt siebzehn Beispiele der ,voces animantium‘ überliefert in derselben Form wie Varro in den ,Saturae‘ und Isidor in den ,Differentiae‘ 35. In der Nachfolgegeneration hat Aldhelm von Malmesbury (um 640-708/ 9) in Britannien die ,voces variae animantium‘ benutzt 36. Aldhelm gehört zu den Begründern und den wichtigsten Vertretern der lateinischen Literatur und Kultur der Angelsachsen, der sogenannten angelsächsischen Renaissance 37. Wichtig ist hier die Tatsache, daß sich die ,voces animantium‘ in seinem Traktat über Metrik finden. Die Metrik spielte nämlich eine zentrale Rolle in seinem Bildungsprogramm. Die ,voces variae animantium‘ wurden eine Schullektüre, obwohl „haec genera vocum non ad ionicum pertinebunt, sed dicretionis gratia prolata sunt“ 38. Bei Aldhelm und seit Aldhelm wurde aber der Text sicher schon im Schulunterricht bei der Lektüre der Auctores benutzt. Aldhelm hat 76 Beispiele gesammelt, also gut zwanzig mehr als sich etwa bei Sueton finden (52 Sprüche) 39. Er ordnet die ,voces animantium‘ nach den Namen der Tiere, Sachen und Menschen in alphabetischer Reihenfolge. Der Schwerpunkt liegt also auf den Substantiven und nicht auf den Lauten. Didaktisch scheint diese Anordnung nicht befriedigend, weil in diesem Kontext die die Natur imitierenden Laute das wichtigste sind, und nicht die mit ihnen verbundenen Namen. Aldhelm dienten die ,voces animantium‘ offensichtlich als ein Element seiner praktischen Schulmnemonik, um möglichst schnell möglichst viele Vokabeln zu lehren. Man kann sich aber fragen, ob in der Praxis des Lateinunterrichts Verben wie ambizare vel bombizare (summen), clangere, cruncire, minurire usw. wirklich so wichtig waren. So darf man mit E. R. Curtius sagen: „Aldhelm war der Wegbereiter und fiel bald der Vergessenheit anheim.“ 40 Dennoch war der Lehrstoff wichtig; auch Alkuin und die Leute in seinem Milieu etwa haben die ,voces variae animantium‘ offensichtlich gekannt 41. 35
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Eusebius Toletanus, Carmina, Carmen 41: De voce hominis abbona, in: Fl. Merobaudis reliquiae. Blossii Aemilii Dracontii Carmina. Eugenii Toletani episcopi Carmina et epistulae, ed. F. Vollmer (Monumenta Germaniae Historica. Auctores antiquissimi 14), Berlin 1905, 257. Aldhelmus, De metris et enigmatibus et pedum regulis, 131, De ionico minori, in: Aldhelmi Opera, ed. R. Ehwald (Monumenta Germaniae Historica. Auctores antiquissimi 15), Berlin 1913, 179-180. Curtius, Europäische Literatur (nt. 2), 55-56. So sagt er unmittelbar nach der Liste der ,voces animantium‘, Aldhelmi Opera (nt. 36), 180. Cf. loc. cit., nt. 36: „apes ambizant vel bombizant, aquilae clangunt, anseres crinciunt […].“ Curtius, Europäische Literatur (nt. 2), 56. Alcuinus, Epist. 66, Epist. 159, in: Epistolae Karolini aevi, ed. E. Dümmler (Monumenta Germaniae Historica. Epistulae 4), 110, 257.
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V. Handschriftliche Überliefer ung von ,voces variae animantium ‘ im Hoch- und Spätmittelalter im Schul- und Literaturg ebrauch Die ,voces variae animantium‘ in der ihnen von Aldhelm gegebenen Form sind in mittelalterlichen Handschriften auch unabhängig vom Text seines Traktates überliefert. Das gilt zum Beispiel für die Handschrift der Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. lat. oct. 76, die im Hochmittelalter (12. oder 13./14. Jahrhundert) im Benediktinerkloster St. Petri in Erfurt offensichtlich als Schulhandschrift benutzt wurde 42. Der Text der ,voces animantium‘ befindet sich zwischen verschiedenen ,Grammaticalia‘, lateinischen und auch kurzen griechischen Sprachübungen mit deutschen Scholien, und einfachen logischen Texten, die wohl der Lehrer im Unterricht in der Klosterschule benutzt hat. Das kleine Format der Oktavhandschrift (ca. 13, 5 ¥ 9 cm), die volkssprachlichen Scholien und ein lesbarer Duktus haben dem Lehrer und seinen jungen Schülern, die eventuell selbst Zugang zum Buch hatten, den Unterricht erleichtert. Man nimmt zwar im allgemeinen an, die Schüler hätten im Mittelalter gar keinen Zugang zu Büchern gehabt; Frontalunterricht, Schulzucht, Routine, Auswendiglernen und Rezitieren der Texte, ohne ein Verständnis des Inhaltes, sollen die Schulpraxis geprägt haben. Ob dies zutrifft ist hier nicht zu entscheiden, man kann aber anmerken, daß Illuminationen aus dem Hochmittelalter bekannt sind, die Schüler oder Studenten mit kleinen Büchern in der Hand zeigen 43. Ob die Handschrift aus dem Kloster St. Petri in Erfurt auch von den Schülern benutzt wurde, kann daher nicht sicher entschieden werden; ausgeschlossen ist es jedoch nicht. Leider ist sie am Anfang des 19. Jahrhundert, kurz nach der Säkularisation des Klosters, von J. J. Bellermann in einen Pappendeckel eingebunden worden 44. Wir wissen daher nicht, wie dick und wie schwer die Handschrift, die jetzt aus 40 kleinen Pergamentblättern besteht, ursprünglich war 45.
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Cf. J. Theele, Die Handschriften des Benediktinerklosters S. Petri zu Erfurt. Ein bibliotheksgeschichtliches Rekonstruktionsversuch, Leipzig 1920, Nr. 58, p. 94 (Rezension: P. Lehmann, Handschriften des Erfurter Benediktinerklosters St. Petri, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens, N.F. 12 (43) (1925), 14-31, besonders 16); B. Wirtgen, Die Handschriften des Klosters St. Peter und Paul zu Erfurt bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Leipzig 1936, 90, 7-9 und 21-23; S. Krämer, Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters. Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Ergänzungsband 1, München 1989, 226; S. Lorenz, Studium Generale Erfordiense. Zum Erfurter Schulleben im 13. und 14. Jahrhundert, Stuttgart 1989, 72-73, 85, 159; G. L. Bursill-Hall, A Census of Medieval Latin Grammatical Manuscripts (Grammatica speculativa 4), Stuttgart 1981, Nr. 24.49 (Rezension: F. J. Worstbrock, in: Arbitrium 1 (1983), 15-24). Cf. A. von Hülsen-Esch, Gelehrte im Bild. Repräsentation, Darstellung und Wahrnehmung einer sozialen Gruppe im Mittelalter, Göttingen 2006, passim. Johann Joachim Bellermann (1754-1842) war Erfurter Gymnasialprofessor, Bibliothekar, Philologe, Herausgeber von Schultexten (Phaedrus, Fabulae Aesopiae, Erfurt 1806), später Universitätsprofessor in Berlin. Die letzte Lage (fol. 40v ) endet jedoch eindeutig mit einer unvermittelten Unterbrechung des Textes.
Die ,voces variae animantium‘ in der Unterrichtstradition
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Abb. 1: Staatsbibliothek Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. lat. oct. 76, fol 25v-26r: ,Voces variae animantium‘, wie bei Aldhelm von Malmesbury, De metris et enigmatibus ac pedum regulis, 131: De ionico minori (Fragment). Original ca. 13,5 ¥9 cm.
Die Berliner Handschrift aus dem Erfurter Benediktinerkloster St. Petri ist nicht die einzige, welche die ,voces variae animantium‘ überliefert. Man kann heute noch mindestens vierzig mittelalterliche Handschriften in ganz Europa (deutschsprachige Länder, Frankreich, Italien, England, Böhmen, Iberische Halbinsel) mit verschiedener Provenienz (aus verschiedenen Klöstern, Universitäten und Städten) aus dem 9. bis 15. Jahrhundert nennen, die in verschiedenen Kontexten (zwischen philosophischen Traktaten, monastischen Texten, Gedichten, am Ende von Florilegien usw.) und in verschiedenen Formen die ,voces variae animantium‘ überliefern 46. Es ist unmöglich, sie hier alle zu besprechen. Der Hin46
AUGSBURG, UB: Cod. I.2.fol. 21, fol. 175vb (H. Walther, Carmina medii aevi posterioris Latina, Göttingen 1959 sqq., 19753; G. Hägele, Lateinische mittelalterliche Handschriften in Folio der Universitätsbibliothek Augsburg, Wiesbaden 1996, 66). BASEL, UB: A. XI. 67 ( J. Werner, Lateinische Sprichwörter und Sinnsprüche des Mittelalters, 2. Aufl., Heidelberg 1966, Nr. 44, p. 67). Ibidem: B. XI. 8, fol. 41v (G. Meyer/M. Burckhard, Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Basel, Abt. B, vol. 2, Basel 1966, 888; W. Wackernagel, Voces, Basel 1869, 46). BERLIN, SBB PKB: Diez. B Sant. 28, fol. 27vab (U. Winter, Die europäischen Handschriften der Bibliothek Diez, Teil 1, Leipzig 1986, 45). CAMBRIDGE, Sidney Sussex College: 75. Delta. 4.13 (M. R. James, A Descriptive Catalogue of the Manuscripts in the Library of the
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weis mag genügen, daß die ,voces animantium‘ als mnemotechnisches Übungsmittel zum schulischen Alltagsleben der Zeit gehörten, insbesondere natürlich vor der Erfindung und Verwendung des Papiers als eines billigen Schreibstoffes (in Europa erst im 14./15. Jh.) sowie vor dem Buchdruck 47. Zudem besaßen sie eine Bedeutung für die Bildung des ästhetischen Geschmacks und als Übung für die Anfertigung eigener Dichtungen, waren also auch ein Teil der ästhetischen Erziehung.
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Sidney Sussex College Cambridge, Cambridge 1895). EICHSTÄTT, UB: Cod. st 237, Vorderspiegel (H. Hilg, Die mittelalterlichen Hanschriften der Universitätsbibliothek Eichstätt, vol. 1, Wiesbaden 1994, 182-183). FIRENZE, Bibl. Med. Laur.: S. Marco 130, fol. 26v (D. Frioli, Calatogo di manoscritti filosofici nelle biblioteche italiane, vol. 2, Firenze 1981, 42). GÖTTINGEN, SUB: oct. Philol. 115 f., fol. 33 (I. Fischer, Die Handschriften der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Wiesbaden 1968. Es handelt sich um eine humanistische Handschrift aus Oberitalien, 2 Hälfte des 15. Jh.). GRAZ, UB: Cod. 1633, fol. 63 (M. Mairold, Die Handschriften der Universitätsbibliothek Graz, Bd. 3, Wien 1967). HALLE an der Saale, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt: Qu. Cod. 102, fol. 197va ( J. Fliege, Die Handschriften der ehemaligen Stifts- und Gymnasialbibliothek Quedlinburg in Halle, Halle 1982, 133). LEIDEN, Universiteitsbibliotheek: Voss. gr. O.15, fol. 68v (K. A. De Meyier, Codices Vossiani Graeci et miscellanei, Lugduni 1955). LEIPZIG, UB: Ms. 595, fol. 22v. LONDON, Lamberth Pal.: 238, fol. 47b. LONDON, British Library: Royal ms. 15 B. xix, fol. 86v (F. G. Warner/J. P. Gilson, Catalogue of Western Manuscripts in the Old Royal and King’s Collections, vol. 2, London 1921). MÜNCHEN, BSB: clm 6292, fol. 162rv (G. Glauche, Katalog der lateinischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die Pergamenthandschriften aus dem Domkapitel Freising, vol. 1, Wiesbaden 2000; 160. W. Wackernagel, Voces, Basel 1869, 46, 103). Ibidem: clm. 14505, fol. 132; clm. 6292, fol. 162; clm. 493, fol. 61v. MÜNCHEN, UB: fol. Cod. Ms. 568a, fol. 140rb (siehe oben). NÜRNBERG, Germanisches Nationalmuseum: Hs. 1966, fol. 121v (H. Hilg, Die lateinischen mittelalterlichen Handschriften, Teil 1, Wiesbaden 1983, 30). OXFORD, Bodleian Library: Digby 53, fol. 3, 32. Ibidem: Bodl. 186, fol. 96. PARIS, BN: lat. 2796, fol. 56. Ibidem: lat. 3762. Ibidem: lat. 4221, fol. 101v. SAN GIMIGNANO, Biblioteca Comunale: Ms. 27, fol. 104v (G. Mazzatinti, Iventari die manoscritti delle biblioteche d’Italia, vol. 88, Firenze 1972). TOLEDO, Kathedralbibliothek: ms. 100.42, fol. 7-8v (eine humanistische Handschrift aus dem 16. Jahrhundert; vgl. S. Prete, Two Humanistic Anthologies, Citta´ del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana 1964, I. 7). TRIER, Stadtbibliothek: Hs. 222, fol. 59va ( J. Longe`re, Les sermons latins de Maurice de Sully, Steenbrugis 1988, 125). UPPSALA, UB: C 238 (M. Andersson-Schmitt, Mittelalterliche Handschriften der Universitätsbibliothek Uppsala, vol. 3, Stockholm 1990, 145). VATICANO, BAV: Pal. Lat. 253, fol. 61v (H. Stevenson, Codices palatini latini Bibliothecae Vaticanae, vol. 1, Rom 1886). Ibidem: Vat. lat. 819, fol. 285v. Ibidem: Reg. lat. 1007, fol. 68. VEDOME, BM: Ms. 127, fol. 68. VERDUN, BM: Ms. 36. WIEN, ÖNB: Hs. 848, fol. 19v. Ibidem: Hs. 1010, 11. Jh., fol. 90v-91. WOLFENBÜTTEL, Herzog August Bibliothek: Cod. Guelf. 542 Helmst, fol. 99v; Cod. Guelf. 10.3. Aug. qu., fol. 86 (vgl. H. Walther, Initia carminum ac versuum medii aevi posterioris Latinorum, Göttingen 1969, Nr. 1357). ZWETTL, Bibliothek des Zisterzienserstiftes: Hs. 298, fol. 136 (Ch. Ziegler, Zisterzienserstift Zwettl: Katalog der Handschriften des Mittelalters, vol. 3, München 1989). Cf. W. Wettenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter, Leipzig 1896 [Nachdruck Graz 1958], 139149; H. Hajdu, Das mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters, Budapest 1936, 38-55; B. Rang, Ars memoriae als pädagogisches Lernkonzept? Gedächtnis und Lernen vor dem Buchdruck, in: B. Dieckmann/S. Sting/J. Zirfas (eds.), Gedächtnis und Bildung. Pädagogisch-anthropologische Zusammenhänge (Pädagogische Anthropologie 6), Weinheim 1998, 257-284; M. Carruthers, The Craft of Thought. Meditation, Rhetoric, and the Making of Images 400-1200, Cambridge 1998.
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Die Erfassung der mittelalterlichen handschriftlichen Überlieferung der ,voces variae animantium‘ steht vor dem Problem, daß häufig nicht der gesamte Text, sondern nur Ausschnitte oder einzelne Sprüche aufgegriffen wurden, so in liturgischen Hymnen 48 und in anderen Carmina 49 und Proverbien 50, aber auch im Musiktraktat des Hucbald de Saint-Amand 51, in der ,Historia Hierosolymitana‘ des Foucher de Chartres (1059-1127) 52, im ,Versarius‘ des William de Montibus (um 1140-1213) 53, in der ,Dissuasio Valerii ad Ruffinum philosophum ne uxorem ducat‘ des Galterius Map 54 und in Dantes ,De vulgari eloquentia‘ 55. Im Hoch- und Spätmittelalter hat die Tradition der ,voces animantium‘ in der Poesie ihrer Zeit weitergelebt. In dem pseudoantiken Liebesgedicht ,Philomela‘ (,Carmen de Philomela‘, 10./11. Jahrhundert) 56 wurden insgesamt 52, teilweise auch neue Beispiele benutzt. Das ist der erste uns bekannte Nachweis der ,voces animantium‘ in Form eines Gedichtes. Dem anonymen Verfasser aus dem 10./ 11. Jahrhundert, der wahrscheinlich aus der Lombardei stammte 57 und der den Stil Ovids imitierte, dienten die zahlreichen Sprüche der ,voces animantium‘, die zur Liebesszene gar nicht passen wollen (besonders die Mäuse, Frösche, Hennen und Schlangen), offensichtlich zum Nachweis seiner Eloquenz und seiner Gelehrsamkeit sowie seiner Verbindung mit der klassischen literarischen Tradition 58. 48
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U. Chavalier, Repertorium hymnologicum, vol. 4, Louvain 1912, Nr. 35300: „Antiquus quando sibilat serpens […]“; ibid., vol. 2, Nr. 21096: „Vagit infans inter arcta […].“ Cf. D. Schaller/E. Könsgen, Initia carminum latinorum saeculo XI antiquiorum, Göttingen 1977, Nr. 1146: „Aspice quod grunnit loquitur quod sibilat hinnit […]“; ibid., Nr. 11446: „Ore truces ululare lupi sub nocte silenti […]“; B. Bischoff, Ostertagtexte und Intervalltafeln (Mittelalterliche Studien 2), Stuttgart 1967, 212, Nr. 82: „Austra gule fremit edulo crux blatrat ardua glinfo […]“; N. R. Ker, Medieval Manuscripts in British Libraries, vol. 5, Oxford 2002, 343: „Homo loquitur infans vagit […].“ Cf. H. Gerhard, Der Liber Proverbiorum des Godefrid von Winchester, Würzburg 1974, 73: „Bos mugit, sed balat ovis, variatio nulla […]“; G. Goetz, De glossariorum latinorum origine et fatis (Corpus glossarium latinorum 1), Leipzig-Berlin 1923, 92: „Aquilas clangere, accipitres […]“. Hucbaldus S. Amandi, De harmonica institutione, in: Reginonis Prumiensis Abbatis, Hugbaldi Monachi Elnonensis Opera omnia, ed. J.-P. Migne (Patrologia Latina 132), Paris 1880, 911. Fulcherii Carnotensis Historia Heirosolymitana, in: Godefridi Bullionii Epistolae et diplomata, ed. J.-P. Migne (Patrologia Latina 155), Paris 1880, 933. J. Goering, William de Montibus (c. 1140-1213). The Schools and the Literature of Pastoral Care (Studies and texts 108), Toronto 1992, 417-418. J. Longe`re, Les sermons latins de Maurice de Sully, e´veˆque de Paris († 1196), Steenbrugis 1988, 125: „Grues adi et vocem ululare bubonem et cetera saves que lutose pre ululatum hiemis gravitatem.“ Dante, De vulgari eloquentia I, 2, ed. S. Botterill, Cambridge 1996, 4. Ps. Ovidius, Philomena (Philomela), inc.: „Dulcis amica veni noctis solatia prestans […]“, expl.: „Seu semper sileant sive sonare queant.“ Editionen: [Ps.-] P. Ovidii Nasonis Epistolae, Pulex et Philomela, Venedig 1515, AA2. Ovidii Nasonis … Erotica et amatoria opuscula …, ed. M. Goldast, Francoforti 1610, 71 (cf. P. Leyser, Historia poetarum, Halle 1721, 2085-2086). De volucris et iumentis. De filomela, in: A. Riese (ed.), Anthologia latina sive poesis latinae suppelementum, Leipzig 1906 [Nachdruck: Amsterdam 1964], vol. I/2, 248; P. Klopsch, Carmen de philomela, in: A. Önnerfors/J. Rathofer/F. Wagner (eds.), Literatur und Sprache im Europäischen Mittelalter. Festschrift für Karl Langosch zum 70 Geburtstag, Darmstadt 1973, 173-194, Text 187-194. Cf. Leyser, Historia poetarum (nt. 56), 2086. Cf. P. Lehmann, Pseudoantike Literatur des Mittelalters, Leipzig-Berlin 1927, 3 sqq.
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Im 12./13. Jahrhundert tauchen die ,voces animantium‘ in einem Frühlings- und Liebeslied unter den ,Carmina Burana‘ wieder auf 59. Hier finden 60 in der Mehrzahl neue Sprüche Verwendung; fast das gesamte Gedicht besteht aus den gereimten Sprüchen der ,voces animantium‘. Es hinterläßt den Eindruck, der Verfasser habe einerseits seine vielleicht authentische Frühlingsfreude bezeugen, andererseits aber seine Originalität und zugleich seine Zugehörigkeit zur klassischen Tradition unter Beweis stellen wollen. Uns liefert der Text einen weiteren Nachweis dafür, daß die ,voces variae animantium‘ im Hochmittelalter unter den Litterati bekannt waren. Die ,voces animantium‘ wurden sehr wahrscheinlich in den Schulen als ein Zeugnis klassischer Tradition verbreitet. Davon überzeugt uns die Tatsache, daß die Sentenzen auch in den Schulgedichten dieser Zeit zu finden sind. Eberhard von Be´thune († um 1212) bietet in seiner lateinischen gereimten Schulgrammatik ,Graecismus‘ 24 Sprüche 60. Johannes von Garlandia (um 1195-1272) hat in sein Schulgedicht ,Cornutus‘ (,Distigium‘) auch die folgenden Verse aufgenommen: „Hinc elephas barrit, onocratulus hiccine bombit, Ast onager rudit, ranunculus inde coaxat.“ 61
Und obwohl Johannes de Garlandia nur vier und noch dazu originell modifizierte Beispiele verwendet, zeigt diese Beobachtung noch einmal, daß die ,voces animantium‘ in der Schulpraxis verankert waren und als Schultexte fungierten 62. Eine Auflistung der mittelalterlichen Schulhandschriften, welche die ,voces variae animantium‘ überliefern, ist bisher noch nicht unternommen worden.
VI. Die lateinischen Enzyklopädien des Mittelalters Die ,voces variae animantium‘ überlebten im Mittelalter auch in mehr oder weniger originellen Kompendien und Enzyklopädien. Der Text der ,voces animantium‘ in mittelalterlichen Kompendien hat seinen Ursprung meistens in der Enzyklopädie (den ,Etymologien‘) des Isidor von Sevilla und ihrer Bearbeitung durch Hrabanus Maurus (780-856), ,De rerum naturis‘. Nicht alle Tierstimmen haben dabei die gleiche Beliebtheit gewonnen. Es scheint, daß besonders die Stimmen der Frösche (ranae coaxant ), der Hunde (der Hundebuchstabe ,R‘) und der 59
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O. Schumann (ed.), Carmina Burana, vol. I/2, Heidelberg 1941, 220-223 (Burana, 132: Philippus Cancellarius: Iam vernali tempore …). Eberhardi Bethuniensis Graecismus, cap. XIX: De verbis mixtis, ed. J. Wrobel (Corpus grammaticorum medii aevi 1), Breslau 1887 [Nachdruck: Hildesheim-Zürich-New York 1987], 182: „drensat olor, clangit anser, crocitat quoque coruus […].“ Johannes de Garlandia, Cornutus (Distigium), 9, in: Der deutsche Cornutus. I. Teil: Der Cornutus des Johannes de Garlandia, ein Schulbuch des 13. Jahrhunderts, ed. E. Habel, Berlin 1908, 23-28. Cf. T. Hunt, Teaching and Learning Latin in 13th-Century England, vol. 1, Cambridge 1991, 338.
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Schlangen (serpentes sibilant ) die populärsten waren. Zu dieser Tradition gehören übrigens auch die zahlreichen, teilweise reich illuminierten Bestiaria 63. In dem alphabetisch geordneten Lexikon, dem sogenannten ,Elementarium‘ von Papias (kompiliert um 1041-1063), befinden sich 54 Sprüche der ,voces animantium‘. Sie sind unter dem Buchstaben ,V‘, bei dem Stichwort ,vox‘, also nach dem Vorbild spätantiker Grammatiker verzeichnet 64. In der größten mittelalterlichen Enzyklopädie, im ,Speculum maius‘ des Vinzenz von Beauvais (um 1194-1264) sind die ,voces variae animantium‘ im ,Speculum naturale‘ als Elemente der Sprachlehre verzeichnet, wobei Vinzenz das ,Elementarium‘ von Papias zitiert 65, sowie als Elemente der Naturkunde in den Beschreibungen einzelner Tiere 66. Dabei bezieht Vinzenz von Beauvais sein Material nicht nur von Papias, sondern auch von Aristoteles, beziehungsweise aus Boethius’ Kommentar zu ,De interpretatione‘ 67, und aus Isidors ,Etymologiae‘, die Vinzenz oft wörtlich zitiert. Auf diese Weise überlebten die ,voces variae animantium‘ in der Grammatik, Philosophie und Naturkunde, in Form von Traktaten, Kommentaren, Schultexten, Schulgedichten, pseudoantiker Poesie, Kompendien und Enzyklopädien das Mittelalter. VII. Die Schultradition der Fr ühen Neuzeit Die ersten Reformatoren der Unterrichtsmethoden, die schon in den zwanziger und dreißiger Jahren des 16. Jahrhundert die Schule als Instrument konfessioneller Propaganda entdeckten, haben die ,voces animantium‘ zuerst nicht bemerkt und nicht geschätzt, obgleich sie viele Neuigkeiten und wichtige Innovationen in den Elementarunterricht einführten, im elementaren Leseunterricht vor allem das Anschauungsprinzip und die sogenannte Lautiermethode, das heißt die phonetische Methode des synthetischen Leseunterrichts 68. Zu den wichtigsten Unterrichtsreformern zählten Valentin Ickelsamer (ca. 1534: Lautier63
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Cf. Aberdeen University Library, Hs. 24; M. R. James, Descriptive Catalogue of Manuscripts in the Library of Aberdeen University, Aberdeen 1932, 18-25; D. Hassig, Medieval Bestiaries. Text, Image, Ideology, Cambridge 1995. Papias Vocabulista, Elementarium (GW: M29306). Papias, Vocabularius, Venetiis: Philippus Pincius, 19.IV.1496. 2∞ [Nachdruck: Torino 1966], 376: „aquilas clangere, accipitres pipiare, corvos crocitare […].“ Vincentius Bellovacensis, Speculum maius [hier unter dem Titel: Bibliotheca mundi … Speculum quadruplex], vol. 1: Speculum naturale 22, 6, Duaci 1624 [Nachdruck: Graz 1964], 1609 und weiterhin: 22, 6, 1609. Op. cit., 16, 15, 1167-1168; 16, 60, 1191; 16, 61, 1192; 16, 67, 1195; 16, 89, 1209; 16, 148, 1235-1236; 16, 29, 1174; 18, 3, 1327; 19, 10, 1388; 19, 19, 1393-1394; 19, 86, 1429; 19, 127, 1453; 20, 59, 1492; 20, 125, 1531; et passim. Op. cit., 22, 4, 1608; 22, 5, 1609. Cf. zum folgenden H. Fechner, Grundriss der Geschichte der wichtigsten Leselehrarten, Berlin 1900, 22-28.
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methode) und Jacob Grüßbeutel, der Assoziationen zwischen Buchstaben und ihren Formen mit Lauten von Tier und Mensch herstellte (1534), Peter Jordan, der Bilder benutzte, die an den ersten Laut beziehungsweise an den ersten Buchstabe des betreffenden Wortes erinnern sollten (Ochs - o, Igel - i, Fisch f, usw.), Ortolph Fuchssberger, dessen Lautiermethode (1542) von Ickelsamer beeinflußt war und das anonyme Büchlein ,Haimliche und verborgene Cancellei‘ (Straßburg 1534 - die ABC-Bilder wie bei Peter Jordan) 69. Die wichtigste Neuentwicklung war gewiß die Lautiermethode, die Valentin Ickelsamer in seiner Schrift ,Teutsche Grammatica‘ so erklärte: „die büchstaben des wortes Mertz, von jm selbst nach diesem büchlin gestudiert, der hört und mercket vier verenderte tayl in disem wort, nämlich zum ersten den Küe brummer m. Danach den Gays laut e. Zum dritten den Hundbuchstaben r. Und zum letsten den spatzen oder sperling schray z. Nun wölt er auch gern dieser vier büchstaben form seyen und kennen, das ers darnach in seinem lesen und schreiben brauchen künd, So soll er die gestalt solcher büchstaben auß ainer tafel lernen, daran steyn under andern figuren ain Kü, ain Gays, ain Hundt und ain Sperling.“ 70 Das Verdienst dieser Methode war, daß die Schüler nicht erst Buchstabennamen zu lernen hatten, sondern direkt die Laute kennenlernten. Beim elementaren Leseunterricht vermied man so das Problem, die durch die klassische Buchstabiermethode erzeugten Lesefehler in langwierigen Syllabisierungsübungen korrigieren zu müssen. Es ist allerdings überraschend, daß in der Lautiermethode, in der man Tierstimmen und Laute benutzte, die ,voces variae animantium‘ direkt nicht verwendet wurden. Der einzige Hinweis, daß Valentin Ickelsamer die ,voces variae animantium‘ gekannt haben könnte, ist der Buchstabe ,R‘, den er im oben zitierten Beispiel als den Hundebuchstaben bezeichnet. Wohl seit Suetons „canum [est] latrare seu baubari“ 71, wo man den Laut ,R‘ deutlich heraushört, mindestens aber seit Persius (34-62 n. Chr.), der im Spätmittelalter als Schulautor in deutschen Landen bekannt wurde, galt der Buchstabe ,R‘ in der Literatur als littera canina 72.
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Valentin Ickelsamer, Ein Teütsche Grammatica. Daraus einer von jm selbe mag lesen …, [s. l. ca. 1534]; Jacob Grüßbeutel, Eyn Besonder Fast nützlich stymmen büchlein mit figuren, Augsburg 1534. Peter Jordan, Leyenschu˚l. Wie man Künstlich und bekhend schreyben undt lesen soll lernen …, Meyntz bey Peter Jordan, 1533. Alle nachgedruckt in: Vier seltene Schriften des sechzehnten Jahrhundert, ed. H. Fechner, Berlin 1882, ohne Paginierung. Ickelsamer auch bei: J. Müller, Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachlichen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Gotha 1882 [Nachdruck: Hildesheim 1969], 132-136. Zu Ortolph Fuchssperger, Leßkonst (1542), cf. H. Fechner, Grundriss (nt. 68), 30. Das Büchlein ,Haimliche und verborgene Cancellei‘ ist eine Rarität und befindet sich unter anderem in der Museumsbibliothek der Stiftung Stadtmuseum Berlin, wo es mir von Frau C. Gentzen zugänglich gemacht wurde. Cf. dazu: U. Götz, Die Anfänge der Grammatikschreibung in Deutschen Formularbüchern des frühen 16. Jahrhunderts, Heidelberg 1992, 80-90. Valentin Icklelsamer, Teutsche Grammatica, in: Müller, Quellenschriften (nt. 69), 135. Sueton, De naturis rerum (nt. 14), 250. Cf. Aules Persius Flaccus, Saturae I, 109, ed. N. Scivoletto, Florenz 1961.
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Doch einige der großen Humanisten griffen auf die ,voces animantium‘ zurück, beispielsweise Erasmus von Rotterdam in seiner Schrift ,De recta latini graecique sermonis pronuntiatione‘ (1528) zur Illustration der richtigen Artikulation der lateinischen Sprache 73. Und obwohl Erasmus nur wenige Beispiele aufgenommen hat, war damit der Weg für die weitere Rezeption gebahnt. Zuerst wollte man die Beispiele der ,voces animantium‘ in der Antike finden. Und nicht nur in der römischen, sondern auch in der griechischen Antike. 1502 ist in Venedig die erste neuzeitliche, gedruckte Ausgabe des griechischen Lexikons, beziehungsweise des Wörterbuches oder der Enzyklopädie von Iulius Pollux (2. Jh. nach Chr.), genannt ,Onomasticon‘, erschienen, wo sich auch die griechischen Formen der ,voces variae animantium‘ befinden 74. 1541 bearbeitete und übersetzte Rudolf Gualter (Rudolphus Gualterus, 1519-1586) das griechische ,Onomasticon‘ ins Lateinische, einschließlich 37 Beispiele der ,voces variae animantium‘ 75. Dank dieses Textes haben die ,voces variae animanium‘ dann als ein kleines Element der antiken, vor allem der lateinischen Lexik Eingang in die klassische humanistische Schule gefunden 76. Die gesellschaftliche und kulturelle Atmosphäre dieser Zeit in Europa war sehr günstig für solche Onomastica. So hat etwa in derselben Zeit Johannes Sturm in Straßburg sein Gymnasium reformiert (1538), das als Vorbild für hunderte humanistischer Gymnasien in Europa wirkte. Er empfahl 1565 in seinem ,Zweiten klassischen Brief‘ seinen Schülern, „copiam sibi atque facultatem vocabulorum, rerum earum omnium, quae in quotidiano versantur usu, quae sensibus hominum sunt explicatae“ zu lernen 77. Zum Lehrstoff von „copia verborum“ könnten bei Sturm auch die ,voces variae animanium‘ gehört haben - als die, die einerseits „in quotidiano versantur usu“, und andererseits „sensibus hominum sunt explicatae“ - allerdings nicht all die originellen Sprüche des Pollux, sondern eher populäre und einfache aus dem Alltagsleben der Schüler. Im Jahre 1552 hat in Antwerpen Petrus Apherdianus (Pieter van Afferden, 1510-1580), ein in Deventer in der Schule der Brüder vom gemeinsamen Leben 73
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Erasmus Roterodamus, De recta latini graecique sermonis pronuntiatione, ed. M. Cytowska (Opera omnia I/4), Amsterdam 1973, 14. [Iulius Pollux] Pollucis Onomasticon e codicibus ab ipso collatis, ed. E. Bethe (Lexicographi graeci 9, Fasc. 1-3), Leipzig 1900-1937. Iulii Pollucis Onomasticon, hoc est instructissimum rerum et synonymorum Dictionarium, nunc prime Latine donatum, Rudolpho Gualtero Tigurino Interprete, Basileae: apud Robertum Winter, 1541, l. 5, c. 13, 238-239: „perdices cacabare, coturnices grylissare, cycnos canere, tutrures gamere […]“ (nach dem Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, QuH 67). Cf. G. de Smet, Vorwort zu: Th. Golius, Onomasticon Latinogermanicum cum praefatione Johannis Sturmii … [Nachdruck Documenta Linguistica: Hildesheim-New York 1972], XII*; DeWitt T. Starnes, Renaissance Dictionaries: English-Latin and Latin-English, Austin (Tex.) 1954, 170 sqq. Johannes Sturmius, Classica Epistola Secunda, in: Joannes Sturm, Classicae epostolae sive scholae Argentinenses restitutae, Argentorati: Rihelius, ca. 1565 [Dedikationsschreiben vom 30. 3. 1565], l. 1, epist. 2: Henrico Schirnero nonae curiae praeposito (Inc.: „Mitto ad te Henrice epistolam quam hodie Abrahamo scripsi: propterea quod idem te velim admadvertere […]“, hier fol. Biii(v)-Biiii(r) (nach dem Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Li 8812).
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ausgebildeter Schulrektor, in Harderwijk sein ,Tyrocinium latinae linguae‘, ein lateinisch-niederländisches Schulwörterbuch, mit 48 Beispielen der ,voces variae animantium‘ publiziert 78. Das ,Tyrocinium‘ war unter anderem im Rheinland sehr verbreitet, wie Ausgaben in Köln, Speier, Gießen und Wesel zeigen 79. Das gleiche gilt vom ,Nomenclator‘ des Hadrianus Junius (1511-1575), der 1567 in Antwerpen zum ersten Mal erschien und 29 Tierstimmennamen aufführt (wie zum Beispiel hinnitus, puppismus, mugitus, balatus, rugitus) 80. Johann Sturm kannte diese Wörterbücher, und mit ihm sind die ,voces variae animantium‘ so aus der katholischen auch in die evangelische Schultradition gekommen. Die Schüler von Johannes Sturm, Adam Siber (Siberus), Schulmeister in Grimma bei Leipzig (1570), und Matthias Schenck, Rektor von Lateinschulen in Konstanz und Augsburg (1571), haben in ihren Bearbeitungen und Abkürzungen des ,Nomenclators‘ in lateinisch-deutscher Fassung für den Schulgebrauch auch die ,voces variae animantium‘ in Form von Tierstimmennamen weiter mitgeteilt und verbreitet 81. Zu der Tradition von Schulwörterbüchern nach Petrus Apherdianus und Hadrianus Junius gehört auch Nikodemus Frischlin (1547-1590) 82, ein deutscher Humanist, Dramendichter und unter anderem Rektor des Gymnasiums Martinianum in Braunschweig, der 1586 in seinem ,Nomenclator‘ insgesamt 21 Bezeichnungen von menschlichen Lauten und Tierstimmen auf Griechisch, Lateinisch und Deutsch überliefert hat 83. Den ,Nomenclator‘ des Nikodemus Frischlin hat dann im 17. Jahrhundert auch Johann Amos Comenius (1592-1670) 78
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Petrus Apherdianus, Tirocinium linguae Latinae ex optimis quibusque Auctoribus collectum, et in capita digestum …, Antverpiae: Ioannes Latius, 1552 [Nachdruck: F. De Tollenaere/F. Claes (eds.), Monumenta Lexicographica Neerlandica, series II, vol. 4, s-Gravenhage 1976), fol. 56v57r: „accipiter pipar, cornix cornicatur, bubo bubulat […].“ J. A. Comenius wiederholte die ,voces variae animantium‘ in der selben Form in seinem ,Orbis pictus‘ (1658), siehe unten. De Smet, Vorwort (nt. 76), X*-XI*. Hadrianus Iunius, Nomenclator omnium rerum, Antverpiae: Chistophorus Plantin, 1567, l. 1, c. [59], 376-379. Adamus Siberus, Nomenclatoris Hadriani Iunii Epitomae, (Dedikationsschreiben vom 15.5.1570), Leipzig 1571 [Nachdruck: Documenta Linguistica, Hildesheim-Zürich-New York 1986], pars prior, c. 24, fol. [H7r ]-[H8r ] (nach dem Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, P 1101.8⬚ Helmst. = Witebergae: haeredes Johannis Cratonis, 1579), 134-136; Matthias Schenck, Nomenclator Hadriani Junii Medici ad scholarum usum accommodatus, Augsburg 1571 [Nachdruck: Documenta Linguistica, Hildesheim-New York 1982], 166-167. Der Straßburger Professor Theophilus Golius, ein Mitarbeiter von Johannes Sturm, hat in seinem Onomasticon Latinogermanicum nur die Tiernamen, ohne die Tierstimmen überlifert; cf. Golius, Onomasticon Latinogermanicum (nt. 76), coll. 275-280. Cf. D. H. Holtz (ed.), Nicodemus Frischlin (1547-1590), poetische und prosaische Praxis unter den Bedingungen des konfessionellen Zeitalters, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999; Th. Wilhelmi, Nikodem Frischlin (1547-90): Bibliographie, Leinfelden 2004. Nicodemi Frischlini Nomenclator trilinguis Graecolationogermanicus, continens omnium rerum … Opus nova quadam methodo secundum Categorias Aristotelis, Frankfurt am Main: Johannes Spies, 1586; zweite Ausgabe unter dem selben Titel, Frankfurt am Main: Johannes Spies, 1588, c. 58, 150-151 (nach dem Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, P 1078.8⬚ Helmst.): „Suspirium, gemitus, Das Scheuffftzen/lessus, Das Klagen über einen Todten/Mugitus, Das Lühen der Kühe/Balatus, Das Blehen oder Geschrey der Schaf“, usw.
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gekannt, der die ,voces variae animantium‘ in seinem berühmten illustrierten Schulbuch ,Orbis pictus‘ (1658) benutzt. Dazu gleich mehr. In dem ersten von ihm verfaßten Schulbuch ,Janua linguarum‘ (1631) beruft er sich ausdrücklich auf Frischlin und seinen ,Nomenclator‘ 84. Um 1641 schließlich hat der Nürnberger Dichter Georg Ph. Harsdörffer (1607-1658) in seiner ,Schutzschrift für die Teutsche Spracharbeit und Derselben Beflissene‘ die ,voces animantium‘ ins Deutsche übersetzt 85. Diese Übersetzung diente Harsdörffer als Nachweis, daß die deutsche Sprache für die Poesie und die anderen schönen Künste geeignet sei. Die ,voces variae animantium‘ überlebten aber auch in der Naturkunde, zum Beispiel in den Tierbüchern des bologneser Naturforschers Ulysses Aldrovandi (1522-1605) 86. Er hat sich, wo er die Tierstimmen zitiert, vielfach auf die Texte des Vinzenz von Beauvais sowie auf das anonyme mittelalterliche Gedicht ,Philomela‘ berufen. In der selben Zeit (1649-52) hat Jan Jonston (1603-1675), ein Naturforscher und Arzt aus Leszno in Polen, die ,voces animantium‘ in der von ihm kompilierten und reich illustrierten ,Historia naturalis‘ benutzt, die er in Frankfurt am Main auf Latein veröffentlichte 87. Jonston war ein Freund von Johann Amos Comenius, der sich von 1628 bis 1656 - mit zahlreichen Unterbrechungen - in Leszno aufhielt. Comenius hat auch G. Harsdörffer aus Nürnberg kennen gelernt. So sind die ,voces animantium‘ Comenius, dem wirkmächtigen tschechischen Pädagogen, vermutlich gleich aus mehreren sprach- und naturdidaktischen Quellen zur Kenntnis gekommen. VIII. Die ,voces variae animantium ‘ bei Johann Amos Comenius (1592-1670) Johann Amos Comenius hat, wie bereits erwähnt, die ,voces variae animantium‘ in seinem berühmten Lehrbuch, dem ,Orbis sensualium pictus‘, in der Darstel84
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J. A. Comenius, Janua linguarum reserata, [Praefatio ad Lesnensem editionem principem anni 1631], [2], ed. J. Cˇervenka, Prag 1959, 3; J. A. Comenius, Opera didactica omnia [im folgenden: ODO], vol. 1, Amsterdam 1657 [Nachdruck Prag 1957], 250; Dı´lo Jana A. Komenske´ho [im folgenden: DJAK], vol. 15/I, Prag 1986, 263. Georg Philipp Harsdörffer, Schutzschrift für Die Teutsche Spracharbeit und Derselben Beflissene, im Anhang von: G. Ph. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, vol. 1, Nürnberg: bey Wolfgang Endter [wo 1658 auch der ,Orbis pictus‘ des J. A. Comenius publiziert wurde!] 1641 [Nachdruck: Tübingen 1968], 355. Ulysses Aldrovandi, Ornithologia hoc est de avibus, Francofurti: typis Wolfgangi Richteri, 1640, 6 (cornix, gracculus, anseres, anates), 212 (cuculus, cicada), 261 (bubo), 274-276 (upupa), 370 (cornix), 382 (gracculus); U. Aldrovandi, De quadrupedibus, Bononiae: apud N. Tebaldinum, 1645, 13 (leo), 122 (ursus), 148 (lupus), 354 (lepores), 418 (mus), 488 (canis), 568-569 (felis), 594 (rana), usw.; U. Aldrovandi, De insectis, Frankfurt: typis I. Hoferi, 1623, 7 (cicada). Cf. Johannes Jonstonus, Historiae naturalis de piscibus libri V, Amstelodami: apud I. Schipper, 1657, 4-5; J. Jonstonus, Historiae naturalis de avibus, Francofurti ad Moenum: Matthaeus Merian, 1650, 7: „corvus crocitat, crocit, corniculat, […] anser gratitat, glacitat, […] gracculus frigulat, […] anas teternit, […] upupa popissat, […] cumulus cuculat, bubo bubulta, […] ulula ululat […]“; J. Jonston,
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lung des Alphabets benutzt. Als erster Autor verbindet er die Tierstimmen mit Bildern, mit den konkreten Lauten und mit den lateinischen Buchstaben. Man erkennt hier die Grundstruktur des ,lebendigen Alphabets‘: das Anschauungsprinzip und die Lautiermethode kommen zusammen. Die Reihenfolge: Bild Stimme - Buchstabe, also vom Konkreten (Tier) zum Abstrakten (Buchstabe), ist hier sehr wichtig; die Didaktik des Lehrbuchs soll der Natur folgen 88. Comenius hat so die Tradition der ,voces variae animantium‘ im didaktischen Kontext vollendet und fest in sein pädagogisches System integriert 89. Niemand vor ihm hat so viele didaktische Innovationen mit dem Text der Tierstimmen verbunden. Obgleich Comenius’ Rückgriff auf die ,voces variae animantium‘ so deutlich ist, ist diese Tatsache bisher unbemerkt geblieben 90. Comenius’ originelle Beispiele beschränken sich auf os halat (H) und auriga clamat (O), aber schon im zweiten Fall läßt sich ein Einfluß des Buches von Jakob Grüßbeutel vermuten 91. Comenius hat also die ,voces variae animantium‘ offensichtlich aus den Schulwörterbüchern des 16. Jahrhunderts übernommen, vor allem aus dem ,Nomenclator‘ von Nikodemus Frischlin, aber auch aus dem ,Tyrocinium latinae linguae‘ von Petrus Apherdianus (die gleiche Form von Sprüchen). Als weitere Quellen von Comenius kommt aber auch das Lexikon des Papias in Frage, beziehungsweise die Enzyklopädie des Vinzenz von Beauvais oder das pseudo-ovidianische mittelalterliche Gedicht ,Philomela‘, das ihm vermutlich durch Vermittlung von Jonston und Harsdörffer bekannt war. Die Frage nach der direkten Quelle des lateinischen Textes des ,lebendigen Alphabets‘ im ,Orbis pictus‘ braucht hier nicht letztgültig beantwortet zu werden. Eine Verbindung von Comenius mit der humanistischen, aber auch mit der antiken und mittelalterlichen Tradition, mit der humanistischen Unterrichtsmethode und dem humanistischen Schulverbalismus, die Comenius doch oft so scharf kritisiert hat, scheint aber klar zu sein. Man sieht Comenius hier fast mehr ,auf den Schultern von Riesen‘ 92, denn als Neuerer und völlig originellen Didaktiker. Unstreitig ist jedoch, daß es Comenius war, der den lateinischen Text des lebendigen Alphabets, wie des gesamten ,Orbis pictus‘ vorbereitet hat. Der lateinische Text wurde nachher in Nürnberg wahr-
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Historiae naturalis de quadrupedibus, Francofurti ad Moenum: Matthaeus Merian, 1650, 6: „asellus uncat, […] ovis balat, […] lupus ululat, […] canis latrat, […] lepus vagit, mus mitrat, […] rana coaxat.“ J. A. Comenius, Didactica magna 16, 2, 19, in: ODO 1, col. 74; DJAK 15/1, 102; J. A. Comenius, Große Didaktik, ed. A. Flitner, Stuttgart 1992, 88. Cf. K. Schaller, Die Pädagogik des Johann Amos Comenius und die Anfänge des pädagogischen Realismus, Heidelberg 1967, 322 sqq. Eine Präsentation der gesamten kritischen Ausgabe mit kritischem Apparat, die ich schon vorbereitet habe, ist hier leider nicht möglich. Dazu ist eine Monographie in Vorbereitung. Jacob Grüßbeutel, Eyn Besonder Fast nützlich stymmen büchlein mit figuren, Augsburg 1534, Aij, in: Fechner, Vier seltene Schriften (nt. 69); auch in: A. Grömminger (ed.), Geschichte der Fibel, Frankfurt a. M. 2002, 78. Cf. A. Fijałkowski, Comenius auf den Schultern von Riesen? Zur Erstehungsgeschichte des Orbis pictus des Johann Amos Comenius im Kontext der Geschichte der Leselehrarten, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 12 (2006), 147-171.
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Abb. 2: J. A. Comenius, Orbis sensualium pictus, Norimbergae: Michael Endter, 1658, 5: Alphabetum vivum et vocale/Lebendiges und stimmbares Alphabet. Original ca. 8 ¥ 16 cm.
scheinlich von Sigismund von Birken, einem Mitglied des Nürnberger ,Pegnesischen Blumenordens‘, ins Deutsche übersetzt. 93 Der ,Orbis pictus‘ gehört zu den wichtigsten Quellen der europäischen Bildungsgeschichte. Die bedeutende Rolle dieses Schul- und Lehrbuches ist von der Forschung vielfach hervorgehoben worden - von Erziehungswissenschaftlern, Historikern und Philologen. Mit dem ,Orbis pictus‘ erwarb sich Comenius schon kurz nach der ersten Ausgabe große Bekanntheit. Bereits 1658, in dem Jahr also, in dem es in Nürnberg bei Michael Endter zum ersten Mal erschien 94, wurde 93
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Cf. H. Rosenfeld, Einführung, in: J. A. Comenius, Orbis sensualium pictus. Faksimiledruck der Ausgabe Noribergae 1658, Osnabrück 1964, [10]. Joh. Amos Comenii Orbis sensualium pictus. Hoc est omnium fundamentum in Mundo Rerum & in Vita Actionum Pictura et Nomenclatura/Die sichtbare Welt. Das ist Aller vornemsten Welt-Dinge und Lebens-Verrichtungen Vorbildung und Benahmung, Typis et Sumptibus Michaelis Endteri, Norimbergae 1658. Zu den bis heute erhaltenen Exemplaren: K. Pilz, Johann Amos Comenius. Die Ausgaben des Orbis Sensualium Pictus, Nürnberg 1967, 76-86; E. Pop-
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das Buch in der Magdeburger Schulordnung als Unterrichtsmaterial empfohlen 95. Zuerst in der lateinisch-deutschen Fassung publiziert, wurde der ,Orbis pictus‘ bald in viele Sprachen übersetzt, unter anderem ins Englische, Französische, Polnische, Ungarische, Böhmische, Italienische, später auch ins Russische und Japanische. Noch im 19. Jahrhundert kam er in veränderten Fassungen und unter verschiedenen Titeln als Schul- und Lehrbuch zum Einsatz 96. Kein anderes Schul- und Lehrbuch in der europäischen Bildungsgeschichte hat eine solche Karriere gemacht - nur die ,Ars minor‘ von Aelius Donatus kann man damit vergleichen 97. IX. Nach Comenius Mit Comenius versteinert die bis dahin lebendige Tradition der ,voces variae animantium‘, denn die Tierstimmenbeispiele wurden bis ins 19. Jahrhundert allein mit Comenius und seinem Lehrbuch in Verbindung gebracht, dank seiner Berühmtheit als eines populären Kinderbuches mit Bildern. Noch Johann Wolfgang Goethe hat den ,Orbis pictus‘ als sein Lieblingskinderbuch gepriesen. Andererseits hatte schon 1610 der deutsche Philologe Melchior Goldast (1578-1635) das Gedicht ,Philomela‘ mit seinen ,voces variae animantium‘ als ein Werk des Mittelalters eingeschätzt, eine Vermutung, die 1721 von Polycarp Leyser (1690-1728), Professor der Poetik an der Universität Helmstedt (Academia Iulia), wiederholt wurde 98. Die ,voces animantium‘ waren zum Forschungsobjekt geworden. Doch überlebten die ,voces variae animantium‘ in modifizierter Form durchaus auch im 19. Jahrhundert - in zahlreichen Kinderbüchern, Fibeln und Kinderliedern, wie zum Beispiel im Frühlingslied des August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: „Alle Vögel sind schon da …“ (1835/39) 99. Es ist sehr wahrscheinlich, daß er die ,voces variae animantium‘, vielleicht über Comenius, gekannt hat. Man kann jedoch auch nicht ausschließen, daß die Tierstimmen als Sprachspiele, Kinderlieder und gereimte Sprüche für Kinder immer wieder neu entdeckt wurden und werden. Die Tradition der ,voces variae animantium‘, die ich hier nachzu-
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penheim, Die erste Ausgabe des Orbis Pictus, Nürnberg, Michael Endter 1658, in: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft 1, 1 (1892), 57-63. Cf. Magdeburgische Schulordnung von 1658. Comenianische Schulbücher, in: R. Golz/W. Korthaase/E. Schäfer (eds.), Comenius und unsere Zeit: Geschichtliches, Bedenkenswertes und Bibliographisches, Baltmannsweiler 1996, 40. Eine vollständige Bibliographie der Ausgaben des ,Orbis pictus‘ findet sich in: K. Pilz, Johann Amos Comenius. Die Ausgaben …, Nürnberg 1967. Cf. Gesamtkatalog der Wiegendrucke, vol. 1, Leipzig 1925, hier GW 966, 3385-3387, 8399, 8400, 8674-9038. Cf. nt. 56. Zu Hoffmans Interesse an den Tierstimme cf. W. Wackernagel, Voces variae animantium, Basel 2 1869, 25. Für weitere Beispiele der ,voces animantium‘ in Kinderbüchern und Kinderliedern des 19. Jahrhundert cf. ibid., 9-13.
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zeichnen versucht habe, erweckt den bestimmten Eindruck, daß das Bedürfnis, die Natur zu imitieren und Tierstimmen zu beschreiben und aufzuzeichnen, in verschiedenen literarischen und historischen Kontexten zu den langlebigsten Elementen unserer Kultur gehört. Sie hat ihre Dauer. Sie lebt von der Antike bis zur Gegenwart.
VI. Poetologische und ästhetische Konzeptionen von Zeit und Dauer
,Zeit‘ als Moment einer poetologischen Fiktionalitäts-Reflexion im Hohen Minnesang. Zu Walthers von der Vogelweide ,Lange swıˆgen des haˆt ich gedaˆht‘ und Heinrichs von Morungen ,Mir ist geschehen als einem kindelıˆne‘ Jens Pfeiffer (Berlin) Daß das Nachdenken über ,Zeit‘ ein schwieriges und bisweilen auch frustrierendes Geschäft sein kann, ist eine Erfahrung, die die damit Befaßten bereits lange vor den richtungsweisenden Ausführungen in den ,Confessiones‘ Augustins gemacht haben dürften. Seine Nachfolger jedenfalls sind weder von den Schwierigkeiten noch von den Frustrationen verschont geblieben. Das von Augustinus beschriebene Paradox, solange man nicht gefragt werde, zu wissen, was Zeit sei, dieses vermeintliche Wissen aber augenblicklich einzubüßen, sobald es in Worte gefaßt werden solle 1, beschreibt genau die unvermeidliche Aporie im Umgang mit einem Gegenstand, der sich trotz seiner Omnipräsenz einer konzisen, allgemein zustimmungsfähigen Definition verweigert. Daß ,Zeit‘ ist und daß man sich zu ihr zu verhalten hat, war immer schon unbezweifelbar; was sie ist, bleibt Thema heterogener Diskurse. So weit aber diese Diskurse auch auseinanderlaufen mögen, so treffen sie sich doch darin, daß die Zeit offensichtlich nicht ohne ein den Bedingungen des Temporären entzogenes, ewig und unveränderlich dauerndes Gegenstück gedacht werden kann. Zeit, heißt es in Platons ,Timaios‘, sei „eine Art veränderliches Bild der Ewigkeit“ 2. Was das genau heißen soll, scheint sehr viel weniger klar zu sein, als die im platonischen Urbild-Abbild-Verhältnis stets mitgedachte Hierarchie der Komponenten. Das Ewige und Unveränderliche ist ,besser‘, das heißt einer höheren Seinsstufe angehörig als das fortlaufenden Veränderungen unterworfene Zeitliche, das an jenem auf nicht näher bestimmte Weise nur teilhat. Diese Zweiteilung hat bekanntlich unter verschiedenen Vorzeichen Karriere gemacht: Zeitlichkeit und Veränderung sind die primären Distinktionsmerkmale, die die unterschiedlichen Wertigkeiten von mundus sensibilis und mundus intelligibilis ausmachen, aber auch von sub- und supralunarer Welt und (mit Modifikationen) von Körper und Seele. Ein später (in seinen qualitativen Implikationen freilich 1
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Cf. Augustinus, Confessiones, XI, 13, 17 sqq., ed. M. Skutella, 2. verbesserte Ausgabe von H. Juergens u. W. Schaub, Stuttgart 1981, 275 sqq. Platon, Timaios, 37d, hg., übers. und mit Anmerkungen versehen von H. G. Zekl, Hamburg 1992, 47.
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neutralisierter) Nachhall dieser Tradition, welche die Zeit an die Sinnenwelt bindet, findet sich noch in der Erkenntnistheorie Kants und deren Bestimmung der ,Zeit‘ als ,Form des inneren Sinnes‘ mit der daraus abgeleiteten Aussage, daß „alle Erscheinungen überhaupt, d. i. alle Gegenstände der Sinne, […] in der Zeit [seien] und […] notwendiger Weise in Verhältnissen der Zeit“ stünden 3. Es liegt nahe, die Vorstellung, etwas könne aller Empirie zum Trotz ewig dauern und somit der Zeit enthoben sein, in ihrer Attraktivität für die verschiedenen Spielarten theologischen und philosophischen Denkens, aber auch für den vielbeschworenen gemeinen Menschenverstand auf die ,Verhältnisse der Zeit‘ zurückzuführen. Solche ,Verhältnisse‘ sind hier freilich nicht im Sinne einer Kants ,Kopernikanische Wende‘ nachvollziehenden Transzendentalphilosophie zu verstehen, sondern nach Maßgabe alltäglicher Erfahrungen, die sich all den verschiedenen theoretischen Überbauten zum Trotz in den oben nur flüchtig angedeuteten Dichotomien der antiken Philosophien und auch der ihrer christlichen Rezipienten widergespiegelt finden. Diese ,Verhältnisse der Zeit‘ sind gegenüber den in ihnen befindlichen Lebewesen und Gegenständen keineswegs neutral. Unter den Bedingungen der irdischen Existenz bedeuten Veränderungen nicht bloß indifferente Übergänge zwischen einander gleichwertigen Zuständen, sondern sind Zwischenstufen auf dem Weg zu Verfall und Tod. Darum kann die Welt für ihren menschlichen Betrachter Buch und Bild sein, und ihm, folgt man dem berühmten Gedicht des Alanus von Lille 4, den Spiegel vorhalten; deshalb ist nach weit verbreiteter Vorstellung auch das zwischen Geburt und Tod gespannte menschliche Leben seinerseits Abbild der Prozesse des Makrokosmos 5. Es liegt nahe anzunehmen, daß der Mensch als das einzige Lebewesen, das um seinen Tod weiß, eines Remediums zur Depotenzierung der Lebensangst bedarf und in der Beschwörung des der Zeit Enthobenen auch finden kann. Daß vor allem für die an Paulus anschließende christliche Tradition der Tod die Strafe für den Sündenfall war und die Geschichts-Zeit in einer von nun an gottverfluchten Welt erst mit der Vertreibung aus dem ursprünglich auf Dauer angelegten Paradies beginnt, mag den Bedarf an solchen ,Gegenbesetzungen‘ 6 verstärkt haben, ist aber wohl nicht entscheidend. „Der Mensch“, schreibt Franz Kafka, „kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörba-
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Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Ästhetik § 6, ed. W. Weischedel, Darmstadt 1975, 80 sq. (B49 sq.; A33 sq.). Alanus von Lille, Omnis mundi creatura, I, 1-3. Der Text ist leicht zugänglich in der von Paul Klopsch herausgegebenen Anthologie: Lateinische Lyrik des Mittelalters, Stuttgart 1985, 302305. P. Veyne, Geschichtsschreibung - und was sie nicht ist, Frankfurt a. M. 1990, 222, nt. 4: „Diese Vorstellung einer fertiggestellten Welt, die nur noch altern kann, ist die verbreitetste und natürlichste Geschichtsphilosophie.“ Den Ausdruck ,Gegenbesetzungen‘ entlehne ich Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: id., Gesammelte Werke, vol. 16, Frankfurt a. M. 1999, 101-246, hier 201 et passim.
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rem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können. Eine der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Verborgenbleibens ist der Glaube an einen persönlichen Gott“ 7. Nimmt man ein wenig Abstand von der Gewichtigkeit, die dem bisher Gesagten durch die Berufung auf anthropologische Grundbedingungen vielleicht zukommt, so wird offenbar, daß die Dichotomie von Zeit und Zeitlosem auch andere Ausdrucksmöglichkeiten als die eine, von Kafka ausdrücklich genannte, bereithält. Sind in der realen Welt das Verstreichen der Zeit und die damit einhergehenden Veränderungen unhintergehbare Fakten des menschlichen Lebens, so hält die Literatur, um die es im Folgenden gehen wird, doch eine Reihe von Beispielen für Versuche bereit, zumindest in den von ihr entworfenen fiktionalen Räumen jenen realiter so eindeutigen Sachverhalt zu leugnen - ihn zumindest so weit zurückzudrängen, daß er aus den vordergründig und unmittelbar geschilderten Begebenheiten herausgedrängt und gleichsam hinter den Horizont des zur Ansicht Gebrachten verdrängt wird. Allerdings neigt, wie man seit Sigmund Freuds einschlägigen Untersuchungen anzunehmen gewohnt ist, das Verdrängte zur Wiederkehr und bedroht eben jene Gegenbesetzungen, die an seine Stelle getreten waren, ohne es gänzlich verschwinden lassen zu können. Nun möchte ich keineswegs mit dem hier verwendeten Freudschen Vokabular die Literatur in die Nähe der Neurosenlehre und damit der Psychopathologie rücken. Hoher Minnesang ist keine ,ekklesiogene Kollektivneurose‘ 8, wie es ein berühmter Aufsatztitel vor etlichen Jahren formulierte, sondern literarisches Spiel. Wie aber Spiele nur dann sinnvoll sind, wenn sie ernsthaft gespielt werden, so bedient sich auch das Sprachspiel ,Hoher Minnesang‘ ,ernster‘ Themen und seriöser rhetorischer Strategien. Dabei setzen sich Lieder dieser Gattung in Opposition zueinander, modifizieren ihre Elemente, nehmen neue auf und verdrängen für obsolet erklärte. Sie arbeiten mit Um- und Gegenbesetzungen, experimentieren mit Personenkonstellationen, operieren mit Realitätspartikeln und verschiedenen Fiktionalitätsebenen. So erweist sich der ,Grand chant courtois‘ und sein deutsches Pendant, der Hohe Minnesang, als ein permanentes Sprechen über die minne, dem es nicht um die Definition seines Gegenstandes geht, sondern gerade darum, den Diskurs unabgeschlossen zu halten. Dies soll am Element der ,Zeit‘ gezeigt werden, durch deren Ausblendung oder im Gegenzug Betonung das Sprechen über Minne sich verändern und neue Komplexitätsgrade erreichen kann. So reflektieren die beiden Lieder, von denen im Folgenden die Rede sein wird, auf höchst unterschiedliche Weise den Einbruch der Zeit in einen dem Temporären enthobenen Raum: die ewige Liebe 9. 7
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Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, Frankfurt a. M. 1976, 34. Cf. U. Müller, Die Ideologie der Hohen Minne: eine ekklesiogene Kollektivneurose?, in: „Minne ist ein swaerez spil“. Neue Untersuchungen zum Minnesang und zur Geschichte der Liebe im Mittelalter, Göppingen 1986, 283-315. Während der Jahreszeitentopos in letzter Zeit relativ viel Aufmerksamkeit erfahren hat, scheint das Thema ,Zeit‘ mit der Ausnahme weniger spärlicher Bemerkungen bislang kaum Interesse
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Zur Einleitung möchte ich zunächst einen exemplarischen Dialog anführen. Er entstammt einem der Peanuts-Comics des amerikanischen Zeichners Charles M. Schulz und ist dort Snoopy 10, dem Hund Charlie Browns, zugeschrieben. Jedem Peanuts-Leser wird das in vielfältigen Varianten wiederholte Sujet vor Augen stehen: Snoopy sitzt auf dem Dach seiner Hütte und tippt auf seiner Schreibmaschine entweder literarische Texte oder aber empörte Briefe an die unverständlicherweise an diesen desinteressierten Verleger. Der folgende Dialog gehört naturgemäß zu den literarischen Texten: „Our love will last forever“, he said. ,Oh, yes, yes, yes!‘ she cried.
Der vielversprechenden Exposition folgen auf dem kürzest möglichen Weg Peripetie und Katastrophe: „Forever being a relative term, however“, he said. She hit him with a ski pole.
Es erscheint eher überflüssig zu fragen, ob die Prügel mit dem Skistock verdient waren oder nicht, und man mag sich auch keine Gedanken über den weiteren Verlauf dieser Liebe machen. Fragen sollte man allerdings nach dem Sinn jenes Satzes, der die Katastrophe einleitet: „Forever being a relative term, however.“ Aus logischer Sicht ist das natürlich falsch: ,für immer‘ ist gerade kein relativer Begriff, sondern eine für alle Zeiten gültige Aussage, die, nimmt man sie wörtlich, keinerlei Einschränkung zuläßt. Ungeachtet dessen wird der Leser gleich jener angesprochenen Dame nicht sonderlich befremdet sein. Da ,für immer‘ ein so gängiges und selbstverständliches Ingredienz der Liebessprache ist, wird ihm wahrscheinlich nicht einmal auffallen, daß er befremdet sein sollte - es sei denn, er wird wie hier darauf gestoßen. Offenkundig ist der Ausdruck nicht auf wörtliche, sondern auf uneigentliche Lektüre angelegt. Mithin bedarf er einer Übertragungsleistung - einer anderen Lesart -, die es gestattet von seiner eigentlichen Bedeutung abzusehen. Im vorliegenden Beispiel geschieht dies allerdings so selbstverständlich, daß diese Übertragung eigens bewußt gemacht werden muß, um als solche erkannt zu werden.
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gefunden zu haben. Die wenigen einschlägigen Stellen finden sich unten nt. 20. Zum Jahreszeitentopos cf. W. Adam, Die „wandelunge“. Studien zum Jahreszeitentopos in der mittelhochdeutschen Literatur, Heidelberg 1979 (Beiheft zum Euphorion 15); L. Lieb, Der Jahreszeitentopos im ,frühen‘ deutschen Minnesang. Eine Studie zur Macht des Topos und zur Institutionalisierung der höfischen Literatur, in: Th. Schirren/G. Ueding (eds.), Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, Tübingen 2000, 121-142; id., Die Eigenzeit der Minne. Zur Funktion des Jahreszeitentopos im Hohen Minnesang, in: B. Kellner/L. Lieb/P. Strohschneider (eds.), Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, Frankfurt a. M. [e. a.] 2001, 183-206. Umberto Eco hat Snoopy schon vor einger Zeit zu einer exponierten Stellung innerhalb der Literaturwissenschaft verholfen. Cf. id., Nachschrift zum Namen der Rose, München 71986, 27.
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Was aber geschieht dabei? Die Rhetorik, die bekanntlich der strengen Wahrheit weniger verpflichtet ist als die Logik, klassifiziert sprachliche Figuren wie die uns hier beschäftigende als Hyperbeln, als Übertreibungen, die, wie Heinrich Lausberg in seinem ,Handbuch der literarischen Rhetorik‘ schreibt, die „Glaubwürdigkeit zugunsten einer eindringlichen evidentia“ zurückstellen 11. Sie sind ,vertikal-graduelle Metaphern‘ 12, die nicht der wahrheitsgetreuen Prädikation eines Gegenstandes dienen, sondern der Überbietung dessen, was man von diesem realistischerweise annehmen würde. Man betont eine Eigenschaft, indem man sie ins Unglaubliche steigert. Hyperbeln gewinnen ihren Wert folgerichtig nicht aus dem, was sie wörtlich besagen, sondern aus ihrer Funktion innerhalb bestimmter Kontexte. Sie sind Elemente von Sprachspielen, die andere Ziele verfolgen als die, in strengem Sinne wahre Aussagen zu erzeugen. Dies gilt sicherlich auch für unser Beispiel. Daß von ,ewiger Liebe‘ zu sprechen schon deshalb kühn ist, weil dem Menschen nur eine begrenzte Zukunftssicht gewährt wurde, dürfte auch denen bewußt sein, die sie gleichwohl beschwören. Unter dieser Bedingung erscheint ,Ewigkeit‘ als eine allzu schwach belastbare Hypothese und müßte als solche ad acta gelegt werden. Nun beruht aber, wie schon bemerkt wurde, der Wert einer solchen hyperbolischen Formel gerade nicht auf ihrem Wahrheitsanspruch, sondern auf der durch sie erreichbaren affektiven Steigerung, die von jeder auf nachvollziehbare Tatsachen gegründeten Verifizierbarkeit absehen kann. ,Für immer‘ bezieht sich daher nicht auf eine irgendwie geartete ,realistische‘ Vorstellung von möglicher oder unmöglicher Dauer, sondern nutzt den emotionalen Gehalt solch großer Worte, um den Status der in Frage stehenden Liebesbeziehung über Menschenmaß hinaus zu erhöhen. Da ,für immer‘ den Grenzwert einer jeden zeitliche Ausdehnung betreffenden Hyperbolik bildet, hat die für immer währende Liebe an dieser Überbietung teil. Sie ist so groß, daß sie nur noch im Vergleich zu Unvorstellbarem benannt werden kann und damit ebenfalls jeder Vorstellung entzogen ist. In derselben Bewegung wird die Liebe allen normalen Prozessen enthoben und in den Rang eines unerschütterlichen, keinen Veränderungen unterworfenen Bollwerks gegen den Verlauf der Zeit versetzt. Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, daß gerade diese äußerste Stufe von Unglaubwürdigkeit doch wieder Glaubwürdigkeit hervorbringt. „Im innersten Kern der Illusion“, schreibt Roland Barthes in seinen ,Fragmenten einer Sprache der Liebe‘, „nistet sich bizarrerweise das Wahrheitsgefühl ein“, und fügt wenige Zeilen später die Bemerkung hinzu: „Verschiebung: nicht die Wahrheit ist wahr, es ist die Beziehung zur Illusion, die wahr wird.“ 13 Nun gehört es sicher zu den Bedingungen der Aufrechterhaltung eines solchen ,Wahrheitsgefühls‘, daß die von Barthes angesprochene Verschiebung vom realistischerweise Glaubwürdigen zum in seiner affektiven Steigerung Irgendwie-denn-auch-Wahren nicht 11 12 13
H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, vol. 1, 299 sq. (§§ 909-910). Op. cit., 454 sq. (§ 579). R. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a. M. 31984, 246 sq.
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rückgängig gemacht und vor allem nicht weiter hinterfragt wird. Wie jedes Spiel nur dann sinnvoll zu spielen ist, wenn sein Regelapparat akzeptiert wird und nicht jedesmal aufs neue zur Disposition steht, so funktionieren auch Sprachspiele, in denen Hyperbeln auftauchen, nur dann, wenn deren Berechtigung nicht beständig in Abrede gestellt wird - etwa mit dem Hinweis, daß baumlange Menschen eben doch nicht so groß sein könnten wie ausgewachsene Bäume, Schnee immer weißer sei als selbst die weißeste Haut, und Liebe aller Erfahrung nach eben nicht ewig währe. Die Berufung auf die Wahrheit zerstört den möglichen affektiven Mehrwert hyperbolischen Sprechens; die Dichter werden wieder zu den Lügnern, als die sie seit Platon ohnehin immer schon galten und die Rhetoren zu jenen Rabulisten, die die Wahrheit jederzeit für den schönen Schein der Wahrheit zu opfern bereit sind. Mag uns Snoopys Protagonist hierfür ein warnendes Beispiel sein. Es wird nach diesen langen Präliminarien nun Zeit, sich des Minnesangs als des eigentlichen Themas zu erinnern, der allerdings während der oben angestellten Überlegungen zur Zeit und zur Sprache der Liebe im Hintergrund stets präsent war. Was bislang über das mögliche Gelingen oder Scheitern einer mit Hyperbeln operierenden Liebessprache gesagt wurde, betrifft unmittelbar auch die immerwährende, unglückliche und zudem einseitige Liebe, die mit all ihren Folgen eines der zentralen Motive des Hohen Minnesangs ist. Beispiele für Sänger, die ihre Dame trotz deren ablehnenden Verhaltens iemer, also für alle Zeit, zu lieben und vor allem besingen zu wollen behaupten, sind Legion. Tatsächlich findet sich diese oder eine vergleichbare Aussage in den Texten so häufig, daß eine Aufzählung einschlägiger Stellen auf eine stattliche Liste von Liedern aus ,Minnesangs Frühling‘ hinausliefe. Die ständige Wiederholung hat guten Grund, ist doch die staete das Movens der Minneklage, das es verbietet, der Liebesbegierde ein anderes Objekt zuzubilligen als jene Dame, über die zu klagen Bestimmung und auch Rechtfertigung der Sängerexistenz darstellt. „Singe aber ich dur die, diu mich vröwet hie bevorn. soˆ velsche dur gor niemen mıˆne triuwe wan ich dur sanc bin ze der welte geborn.“ 14
So liest man es bei Heinrich von Morungen (MF 133, 17-19, ,Leitlıˆche blicke‘), und Reinmar (MF 163, 5-9, ,Ein wıˆser man sol niht ze vil‘) hinterläßt der Welt das vielleicht eindruckvollste Zeugnis sängerischen Selbstbewußtseins: „Des einen und dekeines meˆ wil ich ein meister sıˆn, al die wıˆle ich lebe: das lop wil ich, daz mir besteˆ und mir die kunst die werlt gemeine gebe daz nieman sıˆn leit alsoˆ schoˆne kan getragen.“ 14
Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Stuttgart 361977, im folgenden zitiert als: MF.
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Obgleich sowohl Heinrich von Morungen als auch Reinmar in ihrer poetischen und reflexiven Potenz exzeptionelle Erscheinungen sind, so gelten die hier zitierten Formulierungen mit den entsprechenden individuellen Unterschieden doch für viele andere Sänger ebenfalls. So eng wird im Hohen Minnesang (und ich betone mit Nachdruck, daß ich ausschließlich von poetischen Gattungsspezifika und nicht vom wahren Leben rede) die Verbindung zwischen Sänger und jener einen Dame dargestellt, daß mit ihrem Verlust nicht nur die Sängerexistenz, sondern auch das Weiterleben des Minnesängers gefährdet wäre. Wiederum stammt die einschlägige Formulierung von Reinmar (MF 158, 28, ,Wol ˆıme, daz er ie wart geborn‘): „ich mac wol sorgen um ir leben: stirbet sıˆ, soˆ bin ich tot! “ 15
Für zahlreiche Lieder des Hohen Minnesangs gilt eine solche vorbehaltlose staete und triuwe, das iemer minnen, das erst mit dem Tod des Sängers enden und bisweilen dann sogar noch an den Sohn weitervererbt werden wird: „Mıˆme kinde will ich erben dise noˆt / und diu klagenden leit, diu ich haˆn von ir.“ (Heinrich von Morungen, ,Het ich tugende niht so vil von ir vernommen‘, MF 124, 32, hier MF 125, 10-11). Der Vollständigkeit halber sei allerdings erwähnt, daß dieses Kind den Spieß umdrehen und aufgrund seiner Schönheit die Dame in sich verliebt machen soll und, indem er ihr Herz bricht, so den unglücklichen Vater rächt. Den Versen, mit denen das zwielichtige Erbe angekündigt wird, hört man diese Hintergedanken freilich nicht an. Nun ist eine solch überraschend grimmige Schlußpointe sicherlich nicht die Regel, wobei auch hier die beständige Liebe des Sängers zu seiner Dame trotz aller Hoffnung auf eine posthume Rächung durch den Sohn nicht wirklich betroffen ist. Die Behauptung, daß die Liebe nur zusammen mit der Auslöschung der irdischen Existenz des Sängers enden könne, hat weiterhin Bestand. Allerdings, und dies sollten die Vorbemerkungen zur ,ewigen Liebe‘ deutlich gemacht haben, ist selbst ein auf ein Menschenleben reduziertes Verständnis von ,für immer‘ überaus heikel. ,Für immer‘ impliziert einerseits das Verstreichen der Zeit, muß aber gleichzeitig leugnen, daß die nach aller Erfahrung im Lauf der Zeit zu erwartenden Veränderungen in irgendeiner Hinsicht relevant sein könnten. Das Immerwährende - ich habe es bereits gesagt - ist per definitionem der Zeit enthoben. In ihm erscheint der Augenblick in die Dauer projiziert, wie gleichzeitig die Dauer im Augenblick präsent ist. Dies ist nur dann nachzuvollziehen und kann nur dann als sinnvoll erscheinen, wenn etliche vor Augen liegende oder zumindest leicht vor Augen zu führende Aporien ausgeblendet werden. Gleichzeitig ist diese Ausblendung, die ,Zurückstellung der Glaubwürdigkeit zugunsten der affektiven Steigerung‘, um Lausbergs Beschreibung der Hyperbel noch einmal aufzugreifen, eine der grundlegenden Bedingungen für 15
Von Walthers bekanntem Widerspruch gegen diesen Vers: „sterbet sıˆ mich, so ist sıˆ tot “ (L 73, 16) wird später noch kurz die Rede sein.
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die Aufrechterhaltung des fiktionalen Raumes, innerhalb dessen sich die in den entsprechenden Minneliedern geschilderten Geschehnisse plausibel ereignen können. Die sich so ergebende paradoxe Zeitstruktur dauerhafter Augenblickhaftigkeit, oder umgekehrt: augenblickhafter Dauer, ergibt sich nicht zufällig, sondern ist ein wesentliches Moment dieser Lieder, ein nicht ohne Gefahr für das Ganze hinterfragbares Gattungsmerkmal. Betrachten wir als Beispiel kurz die ersten Verse desjenigen Liedes Heinrichs von Morungen, dem die Ankündigung, nach dem eigenen Tod die noˆt dem Kind zu vererben, entnommen ist. Das Lied beginnt mit einer Begründung dafür, wie der Sänger in die mißliche Lage geraten konnte, die er zu vererben gedenkt, selbst jedoch nicht überwinden kann: „Het ich tugende niht soˆ vil von ir vernommen und ir schoene nicht soˆ vil gesehen, wie waere sıˆ mir danne also ze herzen kommen? “ (ML 134, 32-34)
Abgesehen vom Konjunktiv, der immerhin die Denkmöglichkeit offenhält, daß es auch anders hätte kommen können, gehört das hier Gesagte zum häufig verwendeten Repertoire, das Sänger anführen, um die Entstehung ihrer Liebe zu rechtfertigen. Wer sonst könnte eine solche Liebe wecken, wenn nicht eine in den Belangen von Tugend und Schönheit außerordentliche Dame. Der Platz im Herzen ist damit an Bedingungen geknüpft, deren Plausibilität für mittelalterliche Leser oder Hörer auf der Hand liegt. Daß sich diese im Fortbestand der Liebe nicht verlieren dürfen, ist die stillschweigende Voraussetzung, unter der die beträchtliche Zeiträume überspannende Dauerhaftigkeit der minne ihrerseits legitimiert ist. Einer unveränderlichen Liebe steht ein unveränderliches Liebesobjekt gegenüber. Ein solches ist freilich unverzichtbar, um die in Minneliedern häufiger referierte spöttische Frage irgendwelcher nicht näher benannten Leute zu entkräften, ob es nach einer langen Zeit des Klagens nicht allmählich angemessen wäre, damit aufzuhören. Während also das Altern des Sängers und die mit Singen verbrachte Dauer durchaus Thema sein kann, muß die Dame jung, schön und tugendhaft bleiben, um weiterhin als Gegenstand der Minneklage glaubwürdig zu bleiben. Ich betone nachdrücklich, daß dies keinesfalls als Kritik an etwaigen dichterischen Mängeln oder gar an denkerischer Unschärfe verstanden werden soll. Poesie hat das selbstverständliche Recht, mehr noch: die unumgängliche Notwendigkeit, sich ihre je eigenen Räume und Zeiten zu schaffen und diese gegen Einreden von außen zu verteidigen. Ich möchte lediglich auf die ohnehin nicht ganz neue Erkenntnis verweisen, daß die Aufrechterhaltung der Fiktion (im übrigen jeder Fiktion) von ihren Lesern oder Hörern die Akzeptanz einer Reihe von Grundbedingungen verlangt, die sich mit der Alltagserfahrung nicht ohne weiteres (wenn überhaupt) abgleichen lassen. 16 16
Einigen Literaturwissenschaftlern hat es gefallen, dies als ,Kontrakt‘ zwischen Autor und Leser zu bezeichnen. Passender dürfte es sein, von Konventionen zu sprechen, durch die festgelegt
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Halten wir also fest, daß zu den nicht weiter hinterfragbaren Konstituentien der beschriebenen Konstellation gehört, daß der Verlauf der Zeit weder die Affektion des Sängers noch die im Wortsinn ,Liebenswürdigkeit‘ der Dame betreffen darf. Damit offenbart sich aber die Achillesverse von Minnekonzepten solcher Art und an dieser Stelle kann angreifen, wer die in den Liedern entworfene Fiktion aushebeln möchte. Unbestreitbar gäbe es auch andere Ansatzpunkte, die für diesen Zweck geeignet wären, etwa das von Walther in seinem Lied ,Herzeliebes vrouwelıˆn‘ (L 49, 25) vertretene Postulat der Höherwertigkeit der Tugend gegenüber der Schönheit, aber uns soll hier nur die ,zeitlose Zeit‘ interessieren. Die beiden meines Erachtens avanciertesten Versuche, den Minnesang mit Hilfe der Zeit in höchst unterschiedliche Spiele mit Fiktionalitätsebenen zu verwickeln, sollen daher im folgenden zur Sprache kommen: Walthers berühmtes ,Sumerlaten‘-Lied und das nicht minder berühmte ,Narziß‘-Lied Heinrichs von Morungen, das ja gar nicht ausschließlich ein Narzißlied ist 17. Bevor ich auf diese beiden Lieder eingehen werde, sei noch ein vergleichsweise vorsichtiger, in die gleiche Richtung zielender Versuch Reinmars erwähnt, der sich darüber grämt, daß ihn die liute nach dem Alter seiner Dame fragen, da er diese doch schon solange besinge und fordert, nun möge die Dame ihn für solch zuchtlose Fragen entschädigen (Reinmar, Lied XV, ,Der lange suozer kumber mıˆn‘, MF 166, 16, hier 167, 13 sqq.): „Ein rede der liute tuot mir weˆ da entkan ich niht geduldeclıˆchen zuo gebaˆren. nu tuont siz alle deste meˆ : sıˆ vragent mich ze vil von mıˆner vrowen jaˆren Und sprechent, welcher tage si sıˆ, dur daz ich ir soˆ lange bin gewesen mit triuwen bıˆ. si sprechent, daz es möhte mich verdriezen. nu laˆ daz aller beste wıˆp ir zuhteloˆse vraˆge mich geniezen.“
Hier scheint ein Bewußtsein davon auf, daß zumindest aus der Sicht der hier so etwas wie das ,Realitätsprinzip‘ vertretenden liute die Zeit auch an der Dame nicht spurlos vorbeigegangen sein dürfte. Das Lied gerät damit in durchaus gefährliche Nähe zu diesem neuralgischen Punkt, kann aber, da die despektierliche Frage von den Falschen gestellt wird, den Sänger nicht ernstlich in Bedrängnis bringen. Anders Walther von der Vogelweide, der den hier vorgezeichneten Weg sicherlich am konsequentesten zu Ende geht. Entgegen der wahrscheinlichen
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wird, was innerhalb einer Gattung als plausibel anzusehen ist und was nicht. Natürlich liegen diese Grenzen nicht ein für allemal fest. Mit geringer Übertreibung könnte man sagen, daß sie mit jedem Text neu definiert werden. Auf diesen gern übersehenen Umstand verweist schon H. Irler, Minnerollen - Rollenspiele. Fiktion und Funktion im Minnesang Heinrichs von Morungen, Frankfurt a. M. 2001, 183, nt. 433.
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Chronologie möchte ich mit dessen Lied beginnen, um dann erst einige Bemerkungen zu Morungens ,Narziß‘-Lied anzuschließen. Der Vorteil dieser Reihenfolge scheint mir zu sein, daß Walther das hier in Frage stehende Thema der ,Zeit‘ unmittelbarer und auch plakativer abhandelt als der in schwierige Reflexionen verstrickte Morungen, und sich deshalb wohl besser als dieser für den Einstieg eignet 18. Damit also zu Walthers ,Sumerlaten‘-Lied. „Lange swıˆgen des haˆt ich gedaˆht: nuˆ muoz ich aber singen alse ˆe. daˆr zuo habent mich guote liute braˆht, die mugen mir wol gebieten meˆ. Ich sol singen unde sagen, und swes si gern, daz sol ich tuon: soˆ suln si minen kumber clagen. Hœret wunder, wie mir ist geschehen von mıˆn selbes arbeit. mich enwil ein wıˆp niht an gesehen, die braˆht ich in die werdecheit, Daz ir muot soˆ hoˆhe staˆt. joˆn weiz si niht, swenne ich mıˆn singen laˆze, daz ir lop zergat? Heˆrre, waz si vlüeche lıˆden sol, swenne ich nuˆ laˆze minen sanc! alle, die nu lobent, daz weiz ich wol, die scheltent denne aˆne mıˆnen danc. Tuˆsent herzen wurden vroˆ von ir gnaˆden, des entgeltent si lihte, *scheide+ ich mich von ir alsoˆ. Soˆ mich duhte, daz si wære guot, wer was ir bezzer doˆ danne ich? dest ist ende: swaz si mir getuot, soˆ mac si wol verwaenen sich. Nimet si mich von dirre noˆt, ir leben haˆt mıˆnes lebenes ˆere, sterbet si mich, soˆ ist si toˆt. Solde ich in ir dienste werden alt, die wıˆle junget sıˆ niht vil. soˆ ist mıˆn haˆr vil lihte alsoˆ gestalt, daz si einen jungen danne wil. Soˆ helfe iu got, herre junger man, soˆ rechet mich und gaˆnt ir alten huˆt mit sumerlaten an! “ (L 72, 31) 19 18
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Vorauszuschicken ist, daß ich mir, da die Autoren wohlbekannt sein sollten, die ja ohnehin immer unsicheren biographischen Bemerkungen sparen werde. Da zudem mein Erkenntnisinteresse vornehmlich darauf zielt, wie in den Liedern das Thema ,Zeit‘ erscheint, glaube ich, auch eine Erörterung der sicherlich interessanten und wichtigen Überlieferungsfragen außer acht lassen zu können. Für weiterführende Informationen dazu verweise ich auf die in der nächsten Fußnote genannte Literatur. Zitiert nach: Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, 14. völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe K. Lachmanns hg. von Ch. Cormeau, Berlin/New York 1996, 161 sq. Die Literatur zu diesem Lied ist vergleichsweise überschaubar geblieben. Genannt seien neben den
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Die letzte Strophe ist mit ihrer drastischen Komik am besten geeignet, das bislang Gesagte zu illustrieren. Was Morungen in seinem Lied ,Het ich tugende niht soˆ vil von ir vernommen‘ erheblich zartfühlender und ohne physische Gewalt, vor allem aber ohne unmittelbaren Nutzen für den Sänger beschrieben hatte, wird hier in ein Spiel mit durchaus handfesten Interessen aller Beteiligten verkehrt. Beginnen wir sinnvollerweise mit der ersten Strophe, die denn auch tatsächlich in allen vier Handschriften (A, C, E, b) die erste Strophe ist. Der Sänger, dessen nunmehr bereits obsoletes Vorhaben, lange zu schweigen, gleich im ersten Vers thematisiert wird, wird von guoten liuten dazu gebracht, seinen Gesang wieder aufzunehmen. Warum er schweigen wollte, erfährt der Leser zu diesem Zeitpunkt noch nicht, sondern erst in der zweiten Strophe. Statt dessen treten die auf, die sich mit dem Verstummen nicht abfinden wollten: die liute, in der herkömmlichen Konstellation von Dame, Sänger und Gesellschaft eher in der Funktion von Aufpassern, Spöttern oder Konkurrenten agierend, erscheinen hier als kunstsinniges Publikum, das auf das singen unde sagen (V. 5) des Sängers nicht verzichten kann. Dieser will also das Singen wieder aufnehmen, und sie, die guoten liute, sollen ebenfalls seinen Kummer beklagen. An wen ist diese Strophe gerichtet? Offensichtlich nicht an die, die ihn zum Weitersingen bewegt haben, da über sie und nicht zu ihnen gesprochen wird. Es scheint eine wie auch immer geartete bislang unbeteiligte Instanz zu sein, der der Fall geschildert wird. Näheres ist nicht zu erfahren, und es dürfte müßig sein, über die wohl mit Absicht verschwiegenen Details zu spekulieren. Sagen kann man gleichwohl, daß es ein mit den Spielregeln des Minnesangs wohlvertrautes Publikum sein muß, das vom Sänger angesprochen wird. Zudem wird bei ihm ein gewisses Aggressionspotential gegenüber Damen vorausgesetzt, die aus Selbstüberhebung den Kunstgenuß torpedieren. Kurz, das Lied entwirft als ideales Publikum eine Zuhörerschaft, auf deren Kennerschaft und konspiratives Einverständnis der Sänger zählen zu können meint. (Bei näherer Überlegung sehr knappen Passagen in dem von H. Brunner, G. Hahn, U. Müller und F. V. Spechtler verfaßten Band Walther von der Vogelweide. Epoche - Werk - Wirkung, München 1996, vor allem 98-100 und 132-134 (der entsprechende Abschnitt stammt von G. Hahn) und der Monographie von Th. Bein, Walther von der Vogelweide, Stuttgart 1997, 156-159, folgende Titel: G. Schweikle, Steckt im Sumerlaten-Lied Walthers von der Vogelweide (L 72, 31) ein Gedicht Reimars des Alten?, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 87 (1968), 131-153; A. Groos, „Last of the Red-Hot Lovers“? Walther’s sumerlaten-Lied and the Institution of Minnesang, in: F. H. Bäuml (ed.), From Symbol to Mimesis. The Generation of Walther von der Vogelweide, Göppingen 1984, 92-117; V. Mertens, Alte Damen und junge Männer. Spiegelungen von Walthers ,sumerlaten‘-Lied, in: J.-D. Müller/F. J. Worstbrock, Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck, Stuttgart 1985, 197-215; E. Kiepe-Willms, und geˆt ir alten huˆt mit sumerlaten an. Zu Walthers Lied L72, 31, in: W. Dinkelacker/L. Grenzmann/ W. Höver (eds.), Ja muz ich sunder ruwe sin. Festschrift für Karl Stackmann, Göttingen 1995, 148154; R. Bauschke, Die ,Reinmar-Lieder‘ Walthers von der Vogelweide. Literarische Kommunikation als Form der Selbstinszenierung, Heidelberg 1999 (Germanisch-romanische Monatsschrift. Beiheft 15), 195-220.
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wird uns nichts anderes übrig bleiben, als uns selbst für die Angesprochenen zu halten.) Nach der direkten Anrede Hoeret wunder wird nun der Kummer des Sängers, den er den guoten liuten der ersten Strophe zum Mitklagen auferlegt hatte, konkretisiert. Eine Dame will ihn nicht ansehen, und das - im Hohen Minnesang sonst eher Movens für die Permanenz der Klage - hat den Sänger zum Entschluß geführt zu verstummen. Während allerdings in der Regel die Minneklage von den in solchen Fällen keineswegs ,guten Leuten‘ mißtrauisch beäugt wird, geht es hier von vornherein um eine öffentliche Veranstaltung, an der das Publikum als mindestens gleichberechtigt handelnder Part beteiligt ist. Die werdecheit der Dame ist nicht etwas, das diese schon zuvor besessen hätte und das wie die tugenden im bereits mehrfach zitierten Lied Morungens für das Entstehen und auch die Dauerhaftigkeit der Liebe des Sängers verantwortlich wäre, sondern etwas, das unmittelbar vom Singen und dessen gesellschaftlicher Wertschätzung abhängig ist. Je besser der Sänger, so könnte man das Ganze auf eine schlichte Formel bringen, desto höher das Ansehen der Dame. Allerdings vernachlässigt eine solche Formel einen entscheidenden Zusatzaspekt: den der Selbsteinschätzung der Dame. Die einschlägigen Verse aus Walthers Lied lauten: „die braht ich in die werdecheit, Daz ir muot soˆ hoˆhe stat.“
Gesellschaftliches Ansehen, soll das wohl heißen, existiert nicht nur außerhalb der dieses Ansehen genießenden Person, sondern hat auch unmittelbaren Einfluß auf deren Selbstbild. Werdecheit und hoher muot sind also komplementäre Begriffe und der Grundirrtum der Dame ist, daß sie verkennt, wem sie beides verdankt. Die tuˆsent herzen, die ehedem froh waren, können und werden ihr diese werdecheit, die eben durch nichts anderes gerechtfertig ist als dadurch, Gegenstand offenbar exzeptionell guten Singens zu sein, rasch wieder absprechen. Der hohe muot, der das innerliche Pendant zur äußerlichen werdecheit darstellt, erweist sich vor allem als Hochmut, der bekanntlich vor dem Fall kommt. Auf den ersten Blick fallen die Verschiebungen innerhalb der triadischen Konstellation von Sänger, Dame und Publikum ins Auge. Beginnen wir mit Sänger und Dame: Obwohl die Einzigkeit und Beständigkeit der Liebe des Sängers nicht bestritten wird, und das Lied somit den Boden der Minnesangtradition nicht verläßt, wird doch behauptet, daß die Dame in ihrem Tun nicht mehr frei sei: „Nimet si mich von dire noˆt, ir leben haˆt mıˆnes lebenes ˆere; sterbet si mich, soˆ ist sie tot.“
Daß diese Stelle die Travestie eines Reinmar-Verses ist, sei hier, ohne daß uns dies weiter zu interessieren bräuchte, noch einmal erwähnt. Festgehalten sei jedoch, daß der Dame nach wie vor die Macht über das Leben des Sängers zugebilligt wird. Die Machtverhältnisse haben sich zwar zugunsten des Sängers verschoben, haben sich jedoch nicht einfach umgekehrt. Nach wie vor hat sie
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Macht über sein Leben, nun jedoch um den Preis ihres eigenen. Ob dies wörtlich oder übertragen verstanden werden soll, sei dahingestellt. So oder so erscheint die Existenz der Dame abhängig vom Sänger zu sein, wie umgekehrt auch dieser von jener abhängt. Es ist ein symbiotisches Verhältnis, ein gegenseitiges Angewiesensein, das Sänger und Dame miteinander verbindet. Gleichzeitig aber bestehen Abhängigkeiten zur Gesellschaft, zu den guoten liuten und zu den tuˆsent ehedem frohen Herzen, die sich für das Verstummen des Sängers an der Dame rächen und ihr jenes Ansehen entziehen werden, die ihre werdecheit und ihren hoˆhen muot erst bedingt haben. Die statische Relation zwischen der immer gleich tugendhaften und immer gleich schönen Dame ist damit ersetzt durch ein dynamisches Verhältnis, in dem alle Parameter voneinander abhängen und sich auch gegenseitig beeinflussen. In Bezug auf die werdecheit haben wir bereits gesehen, daß diese nicht zum Wesen der Dame gehört, sondern ihr im Verlauf des Singens erst attribuiert worden ist. In einer paradoxen Formulierung könnte man sagen, daß sie erst durch das Singen zu der Dame gemacht wurde, die es wert ist, angesungen zu werden und die sie als ideales Objekt immer schon hätte sein müssen. Da diese werdecheit aber nicht zum Bestand ihrer unveränderlichen Eigenschaften zählt, kann sie ihr als temporäres Gut auch wieder entzogen werden. Dies wird, so die Prophezeiung des Sängers, auch geschehen, wenn sich die Dame nicht eines besseren besinnt und ihm nicht jenes Minimum an Zuwendung gewährt, das durch das angesehen als Antrieb des Singens ausgedrückt wird. Tatsächlich läßt sich diese Dynamik als eine Art zirkulären Güteraustauschs beschreiben: der Sänger besingt die Dame so schön, daß die liute diesen Sang nicht missen wollen und ihre Wertschätzung für den Gesang auch auf die Dame übertragen, die dadurch ihrerseits in ihrer inneren und äußeren Wertschätzung steigt. Wäre die Dame in der Lage, dies zu verstehen und sich selbst in ihrer Abhängigkeit vom Sänger zu begreifen, würde sie sich ihm zuwenden und ihn so das Singen zur Freude der Zuhörer fortsetzen lassen. An dieser Stelle ist der Kreislauf allerdings unterbrochen. Der Sänger will verstummen, weil er die Dame nicht mehr für so guot halten kann, wie dies ehedem der Fall war. (Soˆ mich duˆhte, daz si waere guot, wer was ir bezzer doˆ danne ich? ) Sicherlich gehört es zum Wesen von Minnedamen, über ethische Qualitäten zu verfügen, also guot zu sein und unter weitgehender Ausblendung ihres Verhaltens gegenüber dem Sänger auch für guot angesehen zu werden. Walthers guot allerdings benennt keinen moralischen Wert an sich, sondern wiederum eine Qualität, die weniger das Sein als das Handeln der Dame betrifft. Sie ist es, die das Postulat einer auf gegenseitiger Zuwendung beruhenden Minnebindung nicht erfüllt. Natürlich muß man, um der Versuchung zu entgehen, sich allzu leichfertig auf die Seite des Sängers zu schlagen, einwenden, daß es von einem traditionellen Standpunkt aus betrachtet eigentlich nicht die Dame ist, die aus der Rolle fällt, sondern der Sänger, der von seinem Liebesobjekt mehr bekommen will, als Minnedamen gemeinhin zu geben bereit sind. Die herkömmliche Minneklage
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lebt ja gerade von dem Paradox, ständig etwas fordern zu müssen, dessen Verweigerung erst die Grundlage für die Dauer des Singens ist. Die Permanenz der Klage findet hier ihr Pendant in der permanent ablehnenden Dame. Walthers Sänger hebt nun dieses Paradox auf, indem er darauf insistiert, in seinem Werben von der Dame ernst genommen zu werden und vor allem seine Zuneigung erwidert zu bekommen. Andernfalls soll es ihr zum Schaden gereichen, daß sie sich so verhält, wie solche Damen sich eben zu verhalten pflegen. Dame und Sänger repräsentieren somit zwei konfligierende Minnekonzepte, die mit ,statisch‘ versus ,dynamisch‘ oder ,einseitig‘ versus ,gegenseitig‘ plakativ, aber für unsere Zwecke hinreichend genau benannt seien. In der Tat zeigt das Lied ja, daß die Dame nicht einfach ist, sondern in Prozessen erst wird. Die Geschichte der Minnedame - und in Walthers Lied bekommt sie tatsächlich einmal so etwas wie eine Geschichte mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - handelt von Aufstieg und Fall. Die Zeit des Singens wird von der zyklischen Struktur permanenter Wiederholung, von der schon Platon behauptet hatte, daß diese der Ewigkeit am nächsten käme, transformiert in eine lineare Abfolge von Ereignissen. Dem mit Hoeret direkt angesprochenen Publikum wird ein Blick in die nunmehr destruierte Konstellation gestattet, von deren Funktionieren das Gelingen oder (wie im vorliegenden Fall) das Scheitern und Verstummen des Minnesangs abhängen. Gelingen könnte er unter der Bedingung einer wechselseitigen Zuneigung. Statt der Minneklage gäbe es, so liegt es zumindest nahe, das Singen über die Minne, dessen ästhetische Qualität auch der Dame gutgeschrieben würde. In der Destruktion scheint jedoch auf, was der Hohe Minnesang zumeist ausblendet: die Dame ist - daran läßt das Lied keinen Zweifel - vor allem Projektion. Sie bietet lediglich das Bild, das der Sänger ihr zuschreibt und das die liute widerspiegeln. Verstummt der Gesang, so verschwindet damit auch ihre ideale Erscheinung. Die Dame wird als vom Sänger entworfene, vom Publikum reflektierte Fiktion enthüllt. Das Selbstbild der Dame erweist sich dagegen als brüchige Illusion. Walthers Lied entwirft so einen (pseudo-)realen Erfahrungsraum von Veränderlichkeit sowohl der Einzelpersonen als auch von deren Verhältnis zueinander: Sänger und Dame werden gleichermaßen alt 20, die Dame verliert an Schönheit und Wert; der Sänger kann verstummen und sich auch von der Dame abwenden, die liute schließlich erscheinen als aktive Instanz, die in Abhängigkeit vom Sänger der Dame werdecheit attribuieren aber auch entziehen kann. Die letzte Strophe, der das Lied seine Berühmtheit verdankt, faßt all dies in einer derben Schlußpointe zusammen. Die Dame verkennt, was der Sänger seinem angesprochenen Publikum an Einblicken und Erkenntnissen gewährt: sie verwechselt ihr Bild 20
Dies hat schon Karl Bertau bemerkt, der schrieb, daß in diesem Lied „das Ewige des Minnewerbens in eine reale Zeitlichkeit heruntergeholt wird“; id., Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, München 1972, 751. Cf. auch R. Bauschke, Die Reinmar-Lieder (nt. 19), 209 und die dort nt. 69 genannte Literatur.
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mit ihrem Wesen. So scheint es ihr vorgezeichnet, alt und tugendlos die leichte Beute eines jungen Galans zu werden. Wohl wird er dazu gebracht, den Sang nicht gänzlich aufzukündigen, aber was kann nun noch dessen Gegenstand sein? Was wird aus Minnedamen, die nach all dem bisher Gesagten nicht mehr die geringsten Illusionen über ihre besonderen Qualitäten erlauben? Die letzte Strophe legt die Antwort nahe. Selbst wenn der Sänger, und hier bleibt das Lied nahe an den Konventionen des Hohen Minnesangs, den Dienst nicht aufkündigt, so ist die Dame doch so weit auf Normalmaß gestutzt, daß sie zur Karikatur der betagten, lächerlichen Männerjägerin zu werden droht, der ein Jüngerer die alte Haut gerben wird. Kommen wir damit zu Heinrichs von Morungen ,Mir ist geschehen als einem kindelıˆne‘. Es birgt ein gewisses Risiko zu versuchen, sich diesem Lied in der hier gebotenen Kürze anzunähern, und es wird keinesfalls eine Interpretation in der eigentlich notwendigen Breite und Tiefe sein können, die hier vorgestellt wird. So verweise ich für weiterführende Überlegungen auf die reiche Literatur zu diesem Lied 21. Ich werde mich also notgedrungen darauf beschränken, aus 21
Cf. R. Wisniewski, Narzißmus bei Heinrich von Morungen, in: Festschrift de Boor, Tübingen 1966, 20-32; A. Hruby, Historische Semantik in Morungens ,Narzissuslied‘, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 42 (1968), 1-22; F. Goldin, The Mirror of Narcissus in the Courtly Love Lyrics, Ithaka (NY) 1967, vor allem 151-161; H.-H. Räkel, Das Lied vom Spiegel. Traum und Quell des Heinrich von Morungen, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 7 (1977), 95-108; D. Peschel, Ich, Narziß und Echo. Zu Heinrich von Morungen: Mir ist geschehen als einem kindelıˆn, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 61 (1980), 25-40; G. Kaiser, Narzißmotiv und Spiegelraub. Eine Skizze zu Heinrich von Morungen und Neidhard von Reuental, in: K. Smits/W. Besch/V. Lange (eds.), Interpretation und Edition deutscher Texte des Mittelalters. Festschrift für John Asher zum 60. Geburtstag, Berlin 1981, 71-81; Ch. Huber, Narziß und die Geliebte. Zur Funktion des Narziß-Mythos bei Heinrich von Morungen (MF 145, 1) und anderen, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59 (1985), 587-608; E. von Reusner, Hebt die Vollendung der Minnesangkunst die Möglichkeit von Minnesang auf? Zu Morungen Ich hoˆrte auf der heide (MF XXIII; 139, 19) und Mir ist geschehen als einem kindelıˆn (MF XXXII; 145, 1), in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59 (1985), 572586; E. Schmid, Augenlust und Spiegelliebe. Der mittelalterliche Narziß, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59 (1985), 551-571; K. Speckenbach, Gattungsreflexion in Morungens Mir ist geschehen als einem kindelıˆne (MF 145, 1), in: Frühmittelalterliche Studien 20 (1986), 36-53; N. Karl Hayes, Negativizing Narcissus. Heinrich von Morungen at Julia Kristeva’s Court, in: The Journal of the Midwest Modern Language Association 22 (1989), 43-60; H. Irler, Minnerollen - Rollenspiele. Fiktion und Funktion im Minnesang Heinrichs von Morungen, Frankfurt a. M. [e. a.] 2001, 179-185; B. Kellner, Gewalt und Minne. Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 119 (1997), 33-66; Ch. Leuchter, Dichten im Uneigentlichen. Zur Metaphorik und Poetik Heinrichs von Morungen, Frankfurt a. M. 2003, 90-110; A. Stein, vntz daz sin hant den spiegel gar zebrach. Reflexionen über die Destruktion virtueller Realität in hern reymars ,Mir ist geschehen als eime kindeline‘, in: W. Frühwald/D. Peil (eds.), Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, Tübingen 1998, 147168; F. Wenzel, Die alte niuwe Klage. Reflexionen über die Folgen narzißtischer Begierde in der Minneklage Heinrichs von Morungen, in: St. Müller/G. S. Schaal/C. Tiersch (eds.), Dauer durch Wandel. Institutionelle Ordnungen zwischen Verstetigung und Transformation, Köln-Weimar-Wien 2002, 211-222; G. Wolf, Minnesang unter Narzißmusverdacht - Überlegungen zu
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dem ungemein komplexen Gefüge einige in unserem Zusammenhang relevante Versatzstücke darzustellen. Zunächst aber der Text (MF 145, 1): „Mir ist geschehen als einem kindelıˆne, daz sıˆn schoenes bilde in einem glase gesach unde greif dar naˆch sıˆn selbes schıˆne soˆ vil, biz daz es den spiegel gar zerbrach. Doˆ wart all sıˆn wunne ein leitlich ungemach. alsoˆ daˆhte ich iemer vroˆ ze sıˆne, doˆ ich gesach die lieben vrouwen mıˆne von der mir bıˆ liebe leides vil geschach Minne, diu der werelde die vröude meˆret seht, die brahte in troumes wıˆs die vrouwen mıˆn, daˆ mıˆn lıˆp an slaˆfen was gekeˆret und ersach sich an der besten wunne sıˆn. Doˆ sach ich ir liehten tugende, ir werden schıˆn, schoen und ouch vür alle wıˆp geheˆret niuwen daz ein lützel was verseˆret ir vil vröuden rıˆchez *rotes+ mündelıˆn. Groˆz angest haˆn ich des gewunnen, daz verblıˆchen süle ir mündelıˆn soˆ roˆt. des haˆn ich nu niuwer klage begunnen, sıˆt mıˆn herze sich ze sülher swaere bot, Daz ich durch mıˆn ouge schouwe sülhe noˆt sam ein kint, daz wıˆzheit unversunnen sıˆnen schatten ersach in einem brunnen und den minnen muoz unz an sıˆnen toˆt. Hoˆher wıˆp von tugenden und von sinnen, die enkan der himel niender ummevaˆn soˆ die guoten, die ich vor ungewinne vremden muoz und immer doch an ir bestaˆn. Oweˆ leider, joˆ waˆnde ichs ein ende haˆn ir vil wunnenclıˆchen werden minne. nuˆ bin ich vil kuˆme an dem beginne. des ist hin mıˆn wunne und ouch mıˆn gerender waˆn.“
Daß der Leser durchaus Schwierigkeiten haben kann, dieses Lied zu verstehen, hat weder seiner Bekanntheit noch der ihm entgegengebrachten Wertschätzung Abbruch getan. Entsprechend vielfältig sind die Versuche, dem Lied mehr oder weniger befriedigende Erklärungen zukommen zu lassen. All diesen bisweilen ins Feinste verästelten Spitzfindigkeiten kann und soll hier nicht nachgespürt werden. Statt dessen wird es lediglich darum gehen, das Lied als poetisches Zeugnis eines Erkenntnisaktes zu lesen, einer Beschreibung fortschreitenHeinrichs von Morungen „Mir ist geschehen als einem kindelıˆne“ (MF 145,1), in: K. H. Kiefer (ed.), Das Gedichtete behauptet sein Recht. Festschrift Walter Gebhard zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. 2001, 333-345.
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der Selbsterkenntnis, an deren Ende die Aufhebung der Fiktion und damit letztlich die Aufhebung des Minnesanges steht oder zumindest konsequenterweise stehen müßte. Wie man lesen kann, beginnt der Sänger jedoch - einigermaßen überraschend - die niuwe klage. Beginnen möchte ich allerdings mit der von Ovid überlieferten Vorgeschichte des Narzißmythos. Aus der Rezeption, die Narziß schließlich in den ,Götterhimmel der Psychoanalyse‘ (Hans Blumenberg) versetzt hat, ist diese beinahe noch gründlicher verschwunden als die unglückliche Echo. Dabei ist dieser Teil der von Ovid geschilderten ,Metamorphose‘ durchaus bedeutsam, gibt sie dem weiteren Verlauf des Mythos doch die Richtung vor und kann auch als eine Art Leitstern für Morungens Lied gelten. Diese Vorgeschichte, die wie so oft bei Ovid ihrerseits eine Vorgeschichte hat, lautet so: Der Weise Tiresias wird aufgefordert, zwischen Juppiter und Juno einen Streit zu schlichten. Er gibt Juppiter recht, woraufhin ihn Juno mit Blindheit schlägt. Zum Ausgleich für sein Augenlicht verleiht ihm Juppiter die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen. Während er als Seher durch die Lande zieht, begegnet ihm die Nymphe Liriope, die ihn nach der Zukunft ihres Sohnes Narziß fragt: „de quo consultus, an esset tempora maturae visurus longa senectae, fatidicus vates ,si se non noverit ‘.“ 22
„Danach gefragt, ob dieser ein hohes Alter erreichen werde, antwortet der weissagende Seher: ,Wenn er sich nicht erkennt‘.“ Was ist damit für Morungen anzufangen? Zunächst sicherlich nicht viel. Das kindelıˆne der ersten Strophe wird kaum mit Selbsterkenntnis in Einklang zu bringen sein. Auch die Verbindung zu Narziß ist zu diesem Zeitpunkt noch sehr lose geknüpft, da dieser in der literarischen Rezeption und auch in der bildenden Kunst zur Selbstbespiegelung lange auf einen Wasser-Spiegel angewiesen bleibt. Zudem ist dieses kindelıˆn offensichtlich zu jung, um sich bewußt zu sein, daß sein Gegenüber im Spiegel kein anderes Kind ist, sondern lediglich sein Spiegelbild. Der Vergleich mit der vrouwe ist einigermaßen leicht durchschaubar. Wie das Kind beim Anblick seines Spiegelbildes froh wurde, so hoffte der Sänger durch den Anblick seiner Dame immer froh zu sein. Dem Zerbrechen des Spiegels und dem anschließenden Ungemach des Kindes entspricht das Leid des Sängers, wie auch die Analogie von Kind und Sänger auf eine Gleichsetzung von Spiegelbild und Dame herausläuft. Konsequenzen aus all diesen wie auf einem Tableau sortierten Analogien zieht das Lied an dieser Stelle noch nicht, aber natürlich legen Spiegel und Spiegelbild einige Überlegungen nahe. Wenn das Spiegelbild des Kindes das Zerbrechen der Spiegeloberfläche naturgemäß nicht übersteht, was heißt das für die Dame, die ja das Analogon zum Bild des Kindes darstellt? Das Zerbrechen eines Spiegels macht deutlich, daß hinter seiner Oberfläche nichts ist, was dem Bild entspräche. Spätestens dann erweisen sich die in ihm 22
Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, ed. H. Magnus, Berlin 1914, III, 346-348.
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sichtbaren Personen, Gegenstände und Räume als imaginär. Ist die Dame also auch nur imaginiert? Ist sie, was das Kind für sein Spiegelbild nicht wissen konnte, aber Narziß dann schmerzlich erfahren muß, nur Projektion des Sängers? Erst der direkte Bezug zu Narziß in der dritten Strophe wird dieses Erkenntnismoment offenkundig machen. Wie aber kommt es zu dem Moment narzißtischer Selbsterkenntnis? Der Zeitpunkt, von dem über die vergangenen Geschehnisse berichtet wird, ist die Gegenwart des Sängers, gekennzeichnet durch seine auch grammatikalisch im Präsens gehaltene Aussage, nun vil kuˆme an dem beginne zu sein. Auf diesen Zeitpunkt bewegt sich das Geschehen - gipfelnd im Narzißvergleich - zu. Die zeitliche Strukturierung ist jedoch keineswegs eindeutig festzumachen. Traum- und Spiegelbild scheinen keine Abfolge zu illustrieren, sondern sind komplementäre Bilder desselben Sachverhalts, der im Moment der Erkenntnis endet. Auch gibt es wohl keine logische Entwicklung, die in strenger Notwendigkeit zu dieser Erkenntnis führte. Eher scheint es so zu sein, als würde Morungen Bilder sammeln, die auf das Narzißmotiv ausgerichtet sind. Der Umschlag selbst erfolgt dann jedoch unvermittelt. Dazu wird noch etwas zu sagen sein. Zuvor ist jedoch ein Blick auf die Traumstrophe zu richten. Weisen wir zunächst die Deutungsmöglichkeit ab, diese sei als Warnung vor der Anwendung körperlicher Gewalt gegenüber Minnedamen zu lesen 23. Davon, daß der Sänger seine Dame verwundet haben könnte oder träumt, es zu tun, ist nirgends die Rede. Die bemerkenswerte Disproportionalität zwischen einer ausdrücklich als lützel bezeichneten Wunde und der großen Angst des Sängers ist wohl nicht mit dessen Schuldgefühlen zu erklären. Nun ist der Mund von Minnedamen sicherlich der geeignetste Körperteil, um diese im Ganzen zu repräsentieren. Darin, daß der Mund und sein Verbleichen für die Dame und deren drohenden Tod stehen könnte, ist die Forschung denn auch in erstaunlicher Einhelligkeit zusammengekommen. Gleichwohl bleibt die genannte Disproportionalität erklärungsbedürftig. Es ist ja (nüchtern betrachtet) nicht die Dame selbst, die verletzt wurde und vielleicht sogar zu sterben droht, sondern ,nur‘ ihr Traumbild. Weiß also der Träumer, daß er träumt? Wohl nicht. Er wird später (in der Gegenwart des Liedes) wissen, geträumt zu haben, aber es wird deutlich, daß er darüber keineswegs erleichtert ist. Wenn Träume immer erst durch das Erwachen als Träume identifizierbar sein sollten, so war es diesmal ein böses Erwachen. Zunächst aber ist wichtig, daß in Analogie zu dem sich des Status seines Spiegelbildes nicht bewußten kindelıˆn auch der Träumende seinen Traum als real erlebt. So bedarf es eines distanzierenden Erkenntnismoments, um troum unde spiegelglas als die Medien imaginärer Bilder zu erkennen. Sowohl für das kindelıˆn als auch für den Träumer gibt es ein schockhaftes Ereignis, das die Zerstörung der Bilder bewirkt: wie nur das unbeschädigte Spiegelbild geeignet war, beim kindelıˆn die 23
Cf. dazu B. Kellner, Gewalt und Minne (nt. 21).
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Illusion aufrechtzuerhalten, ein reales Gegenüber zu haben, so scheint umgekehrt die Versehrtheit des Traumbilds zu genügen, das Traumbild der perfekten Minnedame zu destruieren. Der Träumer, so ist dies wohl zu lesen, weiß nun, daß er nur geträumt hat und die Dame nichts war als eine Imagination seiner selbst. Der vormals angenehme Traum ist vorbei und wird abgelöst durch jene von Narziß repräsentierte Form der Erkenntnis, nur sich selbst geliebt zu haben und lieben zu können. Ovid hat den Moment der Erkenntnis in einen bewegenden Monolog seines Protagonisten gefaßt 24: „iste ego sum: sensi, nec me mea fallit imago! uror amore mei, flammas moveo feroque. quid faciam? roger, anne rogem? quid deinde rogabo? quod cupio, mecum est: inopem me copia fecit. o utinam a nostro secedere corpore possem! votum in amante novum: vellem, quod amamus, abesset! “ 25
„Dieser bin ich selbst: ich habe es erkannt und mein Bild täuscht mich nicht mehr. Ich brenne in Liebe zu mir, ich schüre und erleide die Flammen. Was soll ich tun? Werde ich gebeten, oder bitte ich? Um was soll ich nun bitten? Was ich begehre, gehört mir: die Fülle hat mich arm gemacht. Oh, wenn ich mich von meinem Körper trennen könnte. Ein neues Gelübde für einen Liebenden: ich wünschte, daß das, was ich liebe, fort wäre.“ Morungen drängt die bei Ovid erheblich ausgedehntere Passage auf wenige Verse zusammen. Dennoch tauchen alle dort wesentlichen Elemente auch bei ihm auf: Bild, Schatten, Zerstörung, schließlich Selbsterkenntnis springen als die zentralen Momente beider Texte unmittelbar ins Auge. Wie auch der Ovid’sche Narziß vergeblich versucht, nach seinem Bild zu greifen und dabei notgedrungen den Wasserspiegel zerstört, so symbolisieren auch Spiegel, Traum und Brunnen sowohl die Illusion eines realen Liebesobjekts als auch deren Zerstörung. Für alle diese Bilder gibt es einen Punkt, an dem die Imagination zerbricht: am plakativsten bei dem kindelıˆne, nicht ganz so leicht nachzuvollziehen bei der geträumten Dame, am prägnantesten sicherlich bei Narziß, dessen Geschichte allen Episoden die Struktur vorgibt. Dieser Punkt teilt das Liedgeschehen in zwei Zeitabschnitte, die man grob als die Zeit der Illusion und die des niuwen sanges bezeichnen könnte. Anders als Walther, der eine linear verstreichende Zeit voraussetzt, operiert Morungen mit qualitativ unterschiedlichen Zeitperioden, über deren Dauer und inhaltliche Füllung wenig zu erfahren ist. 24
25
Ovid, Metamorphosen (nt. 22), III, 442-436: „credule, quid frustra simulacra fugacia captas? / quod petis, est nusquam; quod amas, avertere, perdes. / ista repercussae, quam cernis, imaginis umbra est: / nil habet ista sui; tecum venitque manetque, / tecum discedet, si tu discedere possis.“; „Leichtgläubiger, was haschest Du vergeblich nach flüchtigen Bildern? Was Du erstrebst ist nirgends; was Du liebst, wirst Du zerstören, darum weiche hinweg! Was du siehst, ist der Schatten des wiederscheinenden Bildes: nichts eigenes besitzt es; mit dir kommt und bleibt es, mit dir wird es gehen, wenn du gehen kannst.“ Op. cit., III, 463-468.
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Es liegt nahe, sich hier einer berühmten Stelle aus Paulus erstem Brief an die Korinther (13, 11-12) zu erinnern: „Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und dachte wie ein Kind; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt werde.“ Auffallend ist neben der Ähnlichkeit der Motive die vergleichbare Zeitstruktur zweier distinkter Perioden. Allerdings ist das nunc - tunc des Paulus, das den Unterschied von Kind und Mann und den Umschlag vom trüben Blick in den Spiegel und vom enigmatischen Wort in die jenseitige Klarheit verspricht, bei Morungen verkehrt von einem damals in ein nuˆ, in dem alle Verheißungen bereits aufgebraucht sind. Als letzte Erkenntnis, die der Minnesang zu bieten hat, steht die Aufhebung seiner Möglichkeit. Wohl beschreibt auch Morungen dies als Erkenntniszuwachs, läßt aber keinen Zweifel daran, daß der Preis für diesen neuen Sündenfall der Erkenntnis hoch ist. Ich möchte die Parallelen zu Paulus keineswegs übertreiben, aber gerade in Bezug auf die zugrundeliegende Vorstellung von Zeit scheinen sie mir weiterzugehen als sich auf den ersten Blick in den oben genannten Ähnlichkeiten an Personal und Staffage erkennen läßt. Die paulinische Zeitvorstellung (und zumindest während des hier in Frage stehenden Zeitraums auch noch die mittelalterliche) ist keineswegs als schlicht linear zu beschreiben, sondern birgt ein zyklisches Moment in sich. Der Augenblick des tunc bedeutet vor allem auch eine Restituierung des durch den Sündenfall verderbten Menschen. Obwohl zwischen Alpha und Omega die Zeit linear verläuft, geschieht der Umschlag doch in ictu oculi (1 Kor 15, 52). Die Geschichte wird in diesem Augenblick, wenngleich auf höherem Niveau, zu ihrem Anfang zurückgeführt. Der Eintritt der neuen Epoche ist jedoch nicht das Ergebnis einer in allen ihren Momenten nachvollziehbaren Entwicklung, sondern tritt plötzlich und unvorhersehbar ein. Zum Vergleich dazu sei das bekannte und folgenreiche Zitat aus Augustins ,De doctrina christiana‘ angeführt: „Sic in huius mortalitatis vita peregrinantes a domino, si redire in patriam volumus ubi beati esse possimus, utendum est ,hoc mundo‘ [1 Kor 7, 31], non fruendum, ut ,invisibilia dei per ea quae facta sunt intellecta‘ [Röm 1, 20] conspiciantur, hoc est, ut de corporalibus temporalibusque rebus aeterna et spiritalia capiamus.“ 26 Strukturell Vergleichbares findet sich auch bei Morungen, dessen Sänger kuˆme an dem beginne den niuwen sang anstimmen muß. Wenn sich in den einzelnen Strophen des Liedes Bilder für visuelle und nicht zuletzt auch intellektuelle Reflexion finden, so läßt sich vielleicht auch sagen, daß das Lied in seiner Gesamtheit ebenfalls eine solche Reflexionsbewegung vollzieht - hier im Sinne der von reflectere, ,zurückbiegen‘ abgeleiteten Etymologie. Die niuwe klage wird in ihrem Neuanfang den plötzlichen Erkenntnissprung berücksichtigen müssen. Sie ent26
Augustinus, De doctrina christiana, I, 4, 4 (9), ed. W. M. Green, Wien 1968, 10.
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spricht jener Phase des von Morungen ja auch so paraphrasierten Narzißmythos, in der dieser sich trotz seiner Erkenntnis bis zum Tod lieben muß. So bleibt auch Morungens Sänger keine andere Möglichkeit, als selbstbewußt weiterzusingen. Worüber soll aber ein Sänger singen, dem mit der Dame der Gegenstand seines Singens abhanden gekommen ist? Wovon könnte die niuwe klage noch handeln? Betrachtet man nur den Anfang der letzten Strophe, so sieht diese Klage nicht viel anders aus als die alte, aber man wird nach dem Verlauf des Liedes schwerlich annehmen können, daß das auch so gemeint ist. Es dürfte sinnvoll sein, sich von Helmut Tervoorens nicht wirklich geglückter Übersetzung des letzten Verses zu lösen. „des ist hin mıˆn wunne und ouch mıˆn gerender waˆn“
ist mit „Darum ist meine Freude zerronnen und auch meine sehnsüchtige, doch eitle Hoffnung“ 27 wohl doch unzureichend wiedergegeben. Nimmt man statt dessen waˆn als Ausdruck für die nunmehr zerstörte Imagination und subsumiert ihn damit unter die anderen poetischen Bilder des Imaginären, so ergibt sich als einzige Möglichkeit des Weitersingens die einer illusionslosen Reflexionspoesie, deren Gegenstand das Singen über das Singen zu sein hätte, eine Poesie, die stets von neuem Narziß beim Lieben zuschaut. „Sie kennen die Geschichte. Dennoch wollen wir sie erneut erzählen“, schreibt Andre´ Gide in seinem ,Traktat vom Narziß‘. „Alle Dinge sind bereits gesagt; aber niemand hört zu, und so muß man immer wieder von neuem beginnen.“ 28 Versuchen wir zum Schluß noch ein kurzes Resümee. Beide Lieder haben gezeigt, wie durch die Einbeziehung der Zeit das im Hohen Minnesang vielbeschworene iemer minnen in Frage gestellt werden kann. In beiden Fällen ist die Liebe nicht länger der Zeit enthoben: bei Walther, indem die reale Erfahrung des Alterns trotz des in eine ähnliche Richtung zielenden Ansatzes Reinmars ich habe es oben zitiert - in zuvor unerhörter Form thematisiert und damit die Konstellation von Dame, Sänger und Publikum in Bewegung gebracht wird. Wenn es, so wird impliziert, einerseits die Macht des Sängers ist, die Dame durch den Akt des Fingierens zum idealen, zeitenthobenen Objekt seines Sanges zu machen, so steht es auch in seiner Macht, sie wieder den ,realen‘ Bedingungen zu überantworten. Walther rekurriert dafür auf eine Zeitvorstellung, die in linearen Abläufen und Prozessen denkt. Anders verläuft der Vorgang bei Heinrich von Morungen, dessen: alsoˆ daˆhte ich iemer vroˆ ze sıˆne angesichts schockhaft eintretender Erkenntnismomente als Illusion entlarvt wird. Die narzißtische Selbsterkenntnis teilt das Lied in zwei distinkte Zeiträume: dem tunc gehört die wahnhafte Hoffnung auf dieses iemer, dem nunc der desillusionierte niuwe sanc, der gleichwohl als Neuanfang apostro27
28
Heinrich von Morungen, Lieder, Text, Übersetzung und Kommentar von H. Tervooren, Stuttgart 21996, 133. Andre´ Gide, Traktat vom Narziß, in: id., Gesammelte Werke, vol. 7, 1, Stuttgart 1991, 155167, hier 157.
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phiert wird. Im Gegensatz zu Walthers Berufung auf Prozesse denkt Morungen die Zeit eher zyklisch, wobei der Neuanfang nicht die Wiederholung des Vergangenen sein kann. Versuchte man diese Denkbewegung von Rückkehr und Fortschritt in ein Bild zu fassen, so wäre es das einer Spirale, die in der Sicht von oben als Kreis erschiene, in der Seitenansicht jedoch eine vertikale Bewegung zeigen könnte. Zeit, das zeigen beide Versuche, ist ein wichtiges Moment in der poetischen Selbstreflexion des Hohen Minnesangs. Sowohl Walther als auch Heinrich von Morungen eröffnen dem Sprachspiel ,Hoher Minnesang‘ damit neue, in so avancierter Form zuvor nicht wahrgenommene Möglichkeiten.
Die Dauer im ,Myste`re de la Passion‘ Brigitte Stark (Bonn) I. ,Livre de Conduite du Re´ gisseur‘ Im Juli 1501 fand in Mons in der Provinz Hainaut ein ,Myste`re de la Passion‘ statt, das heißt ein Passionsspiel, das mehrere Tage dauerte. Für diese Aufführung hatte man zwei Hefte hergestellt, die den Text in einer Kurzfassung (,Abregiet‘) und auch die Namen der Akteure, die Regieanweisungen, Angaben zu Kostümen und Bühnenbildern sowie die Termine der Veranstaltung enthielten. Die Hefte waren für die beiden technischen Leiter des Myste`re (die ,Superintendants du Jeu‘ oder ,Conducteurs de Secrets‘) bestimmt, und man findet in ihnen praktische und präzise Angaben zu den Auftritten der Schauspieler, dem Wechsel des Bühnenbildes, den musikalischen Zwischenspielen und dem Einsatz einer komplizierten Maschinerie. Gustave Cohen, der die ,Abregiets‘ um 1920 in den Archiven von Mons entdeckte, ging zurecht davon aus, daß der Text auf dem zu jener Zeit sehr verbreiteten ,Myste`re de la Passion‘ von Arnoul Gre´ban beruht, das mit dem Akt der Weltschöpfung beginnt und mit der Ausgießung des Heiligen Geistes endet 1. Was ihn jedoch weit mehr als die Herkunft des Textes faszinierte, war die Tatsache, daß er mit diesen vergilbten Heften, die die Überschriften ,Abregiet‘ und ,Livre de Conduite du Re´gisseur‘ trugen, eine fast einzigartige Quelle für die Vorbereitung und Realisierung eines Geistlichen Spiels in Händen hielt. Die Frage, ob die Veranstaltung tatsächlich mit der in den Heften angegebenen Besetzung, mit den Regieanweisungen und an den genannten Tagen stattgefunden hatte, wurde durch einen zweiten ungewöhnlichen Fund in den Stadtarchiven von Mons geklärt: es handelt sich um die ,Comptes de la Passion‘, einen Rechenschaftsbericht über alle Einnahmen und Ausgaben für die Aufführung. Er wurde dem Rat der Stadt von zwei Schöffen (,e´chevins‘), drei Ratsmitgliedern, zwei Architekten und dem Schatzmeister (,massard‘) vorgelegt. Die darin genannten Namen der Mitwirkenden sind identisch mit den Namen, die im ,Abregiet‘ verzeichnet sind 2. Lassen sich mit Hilfe der Regieanweisungen die 1
2
A. Gre´ban, Le Myste`re de la Passion, ed. O. Jodogne, Bruxelles, vol. 1 (Texte) 1965, vol. 2 (Observations, variantes, index et glossaire) 1983. Alle Zitate aus diesem Myste`re werden mit A. G. bezeichnet. G. Cohen hat die beiden Dokumente in einem Band zusammengefaßt: G. Cohen, Le Livre de conduite du re´gisseur et le compte des de´penses pour le Myste`re de la Passion joue´ a` Mons en 1501, Paris 1925. Vor dieser Veröffentlichung wurden bereits im 19. Jahrhundert vergleichbare
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Bewegungen und der Handlungsablauf, das heißt der dynamische Aspekt des Spiels rekonstruieren, so enthalten die ,Comptes‘ neben der Abrechnung auch statische Details wie die Lage der Bühne (,Hourt‘) und des Saals (,Parq‘) auf dem Grand Markiet von Mons 3. Von besonderem Interesse sind auch die Namen derer, die sich für die Vorbereitung, Finanzierung und die Vorstellungen engagierten. Durch sie erfährt man, daß die Schöffen von Mons die Veranstaltung geplant haben und daß die aktiven Schauspieler bis auf wenige Ausnahmen dem gehobenen Bürgertum angehörten. Konkrete Vorbereitungen begannen mit den Reisen nach Amiens im Februar 1501, wo man Manuskripte mit den Texten auslieh, und nach Chauny in der Pikardie, wo man erfahrene Bühnentechniker anwerben konnte. Man verschickte Einladungen an hochrangige Persönlichkeiten 4 und befestigte Werbeplakate an den Stadttoren. Für die einzelnen Aufführungstage war jedes Detail geplant. Dies betraf sowohl das eigentliche Schauspiel als auch die Versorgung der Mitwirkenden und der Gäste. Das ,Myste`re de la Passion‘ wurde in 48 Proben einstudiert. Angesichts der Länge des Textes von etwa 35 000 Versen und der großen Zahl von Mitwirkenden ist diese Zeitspanne erstaunlich kurz. Es ist daher anzunehmen, daß viele der Beteiligten über schauspielerische, mnemotechnische und weitere technische Erfahrungen verfügten. Auch wenn sich nicht nachweisen läßt, wann der Plan
3
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Aufzeichnungen von der Aufführung eines ,Myste`re hagiographique‘ in Romans (Droˆme) veröffentlicht: Le Myste`re des Trois Doms joue´ a` Romans en MDIX publie´ d’apre`s le manuscrit original avec le compte de sa composition, mise en sce`ne et repre´sentation et des documents relatifs aux repre´sentations the´aˆtrales en Dauphine´ du XIVe au XVIe sie`cle par Paul-Emile Giraud et Ulysse Chevalier, Lyon 1887. Von der Aufführung des ,Myste`re de Saint Martin‘, die 1496 in Seurre (Coˆte-d’Or) stattfand, ist lediglich ein Protokoll (proce`s-verbal) erhalten; cf. A. de la Vigne, Le Myste`re de Saint Martin, ed. A. Duplat, Genf-Paris 1979 (Textes litte´raires francX ais 277). In neuerer Zeit wurde ein weiteres Dokument zur Inszenierung einer Passion in Turin entdeckt: A. Vitale-Brovarone, Il quaderno dei segreti d’un regista provenzale del Medioevo, Alessandria 1984. Im ,Livre de conduite‘ ist keine Zeichnung der Bühne in Mons überliefert. G. Cohen fügt seiner Edition eine Abbildung der Bühnenkonstruktion bei, die 1547 für das Myste`re de la Passion in Valenciennes gebaut wurde. Dieser Stich wurde nach einer Miniatur von Hubert Cailleau und Jacques des Moe¨lles angefertigt. C. Cohen, Le Livre de conduite (nt. 2), Planche V, LXXXVI. Zu der Form mittelalterlicher Bühnen cf. G. Cohen, Histoire de la mise en sce`ne dans le the´aˆtre ˆ ge, Paris 1951; H. Rey-Flaud, Le cercle magique. Essai sur le religieux francX ais du Moyen A ˆ ge, Paris 1973; G. A. Runnalls, „Mansion“ and „lieu“: Two the´aˆtre en rond a` la fin du Moyen A Technical Termes in Medieval French Staging, in: French Studies (1981), 385-393; E. Koningson, L’Espace the´aˆtral me´die´val, Paris 1979. Unter den geladenen Gästen waren der Landeshauptmann (Bailli) von Hainaut mit seiner Gattin Madame de Chie`vre und der Bischof von Cordoba, der zugleich der Botschafter des spanischen Königs war. Sogar Erzherzog Philippe le Beau wäre beinahe in eigner Person erschienen. Am 3. Juli bat er die Einwohner von Mons, die Aufführung um 3-4 Wochen zu verschieben, da er gerade Vater des späteren Karl V. geworden war. Einer der Schöffen fuhr eigens nach Brüssel, und erreichte durch Verhandlungen und finanzielle Leistungen, daß der Termin beibehalten werden konnte. Ein Aufschub hätte unweigerlich zum Zusammenbruch der gesamten Planung geführt. Cf. G. Cohen, Le Livre de conduite (nt. 2), LXV.
Die Dauer im ,Myste`re de la Passion‘
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für die Veranstaltung gefaßt wurde, so lassen die Zahlen und Daten der beiden Dokumente doch den Schluß zu, daß das Projekt zügig und mit großem Engagement in die Tat umgesetzt wurde und daß eine große Zahl von Einwohnern daran beteiligt war. Das Spiel wurde an den acht Tagen vom 5. bis 12. Juli 1501 aufgeführt. Zuvor fand eine Prozession statt, die den religiösen Charakter des Festes hervorhob 5. G. Cohen geht davon aus, daß die Schauspieler in ihren prächtigen Kostümen daran teilnahmen und sich buchstäblich ,zur Schau‘ stellten 6.
II. Die Genealogie des Textes Ein Vergleich des ,Abregiet‘ mit dem ,Myste`re de la Passion‘ des Arnoul Gre´ban bestätigt eine enge Verwandtschaft der beiden Fassungen. Der Text ist stellenweise identisch, doch wurden offenbar auch andere Vorlagen verwendet. Als Gre´ban sein Werk um 1450 in Paris verfaßte, hatte er die Absicht, die Leidensgeschichte Jesu in ihrem Zusammenhang mit der Weltschöpfung und dem Sündenfall darzustellen und den Heilsplan Gottes zu erläutern. Offenbar entsprachen sowohl der Gedanke eines ,Großen Welttheaters‘ als auch der logische Aufbau der Handlung und seine Erklärung theologischer Lehrsätze den Erwartungen eines großen Publikums. Zurecht wurde dieses Myste`re von Pierre Champion mit einer „im Herzen des 15. Jahrhunderts errichteten Kathedrale“ verglichen 7. Daß dieses Myste`re mehrfach überarbeitet und auch in anderen französischen Städten aufgeführt wurde, läßt sich anhand der Textvergleiche nachweisen. Eine Reihe von Kriterien sprechen dafür, daß Gre´ban in seinem Drama auf Szenensequenzen und Argumente aus dem von Eustache Mercade´ (oder Marcade´) um 1430 in Arras verfaßten ,Myste`re de la Passion‘ zurückgreift. Mercade´ ist der erste Autor, der ein großes Passionsspiel von etwa 25 000 Versen schreibt und es als ,mistere‘ bezeichnet 8. Das Stück ist so umfangreich, daß es die Leistungsfähigkeit und die Begabungen einer ganzen Stadt in Anspruch nimmt. Es gliedert sich in vier Aufführungstage (,journe´es‘): am ersten wird im Paradies ein Prozeß um die Schuld und Erlösung des Menschen geführt, darauf folgen 5
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Noch heute finden in Belgien anläßlich von Heiligenfesten zahlreiche Prozessionen und Spiele statt. Als Beispiel kann man ein ,jeu processionnel‘ in Mons anführen, das jährlich zu Ehren des Heiligen Georg in der Festwoche der Stadtgründerin St. Waudru stattfindet. Dieses Spiel wird ,LumecX on‘ oder ,Jeu de Saint Georges‘ genannt. Es wird, sehr wahrscheinlich seit 1380, von einer Bruderschaft (der ,Confre´rie de Dieu et de Monseigneur Saint Georges‘) veranstaltet. Die Bezeichnung ,jeu processionnel‘ weist darauf hin, daß Aufführung und Prozession eng zusammengehören. G. Cohen, Le Livre de conduite (nt. 2), LXXI, weist auch darauf hin, daß 35 Jahre später vergleichbare Umzüge in Paris und Bourges stattfanden. ˆ ge, Paris 1998, 196. Zitiert nach Ch. Mazouer, Le the´aˆtre francX ais du Moyen A E. Mercade´ (ou Marcade´), Le Myste`re de la passion (texte du manuscrit 697 de la bibliothe`que d’Arras), ed. J. M. Richard, Arras 1893, Nachdruck Genf 1976.
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die Verkündigung der Geburt Jesu und seine Kindheit; der zweite Tag beginnt mit Johannes dem Täufer und endet mit dem Prozeß Jesu vor den Hohenpriestern und Pilatus; der dritte umfaßt das Ende der Leidensgeschichte bis zur Grablegung; der vierte ist dem Descensus und der Auferstehung gewidmet, er schließt mit den Taten der Apostel und dem Pfingstereignis. Das ,Myste`re de la Passion‘ von A. Gre´ban hat in seiner ursprünglichen Fassung (ebenso wie der Text des ,Abregiet‘ von Mons) 35 000 Verse und teilt sich ebenfalls in vier ,journe´es‘. Am ersten Tag werden die Schöpfungsgeschichte und die Kindheit Jesu gezeigt, am zweiten das öffentliche Wirken Jesu und seine Wunder, am dritten die Passion, am vierten die Auferstehung und die Geschichte der Apostel bis zur Ausgießung des Heiligen Geistes. Eine weitere Fassung des ,Myste`re de la Passion‘ schreibt Jean Michel im Jahr 1486 für eine Aufführung in Angers. Er übernimmt den zweiten und dritten Tag des Spiels von A. Gre´ban und entfaltet einige Episoden (zum Beispiel die Geschichten der Maria Magdalena und des Judas so wie die Passionsszenen) zu einem Umfang von etwa 30 000 Versen. Auch dieses Myste`re dauert vier Tage. Die Handlung setzt nach einem ausgedehnten Prolog mit den Predigten Johannes des Täufers ein und endet kurz nach einer sehr langen Kreuzigungsszene 9. Fast gleichzeitig beschließen die Bewohner von Troyes, die Passion von A. Gre´ban mit einigen Veränderungen mehrmals aufzuführen. In den Jahren 1500 und 1501 veranstalten die Städte Amiens und Mons jeweils ein groß angelegtes zyklisches Passionsdrama, in das der erste und vierte Tag des Myste`re von A. Gre´ban in das von J. Michel eingefügt ist. 1547 gibt man in Valenciennes ein Passionsspiel, das zwanzig Tage dauert und nicht nur den Passionszyklus, der in Mons und Amiens aufgeführt wurde, sondern auch das Myste`re von Mercade´ umfaßt 10. III. Die Gattung des ,Myste` re‘ und seine Aufführ ung 1. Der Gattungsname ,Myste`re‘ Noch bevor Eustache Mercade´ um das Jahr 1430 sein religiöses Drama ,mistere‘ nennt, findet man das Wort in dieser Bedeutung in einem Brief des Königs Charles VI., der 1402 der ,Confre´rie (Bruderschaft) de la Passion‘ in Paris die Genehmigung erteilt, als einzige Gruppe religiöse Dramen aufzuführen 11. Das alte Wort ,mistere‘ erhält die Bedeutungen ,Geistliches Spiel‘ und ,Passionsspiel‘ durch Konnotationen seiner doppelten Etymologie: es leitet sich sowohl von ,ministerium‘ (Dienst/Dienstleistung, Dienerschaft) als auch von ,mysterium‘ (Gottesdienst, Messe, Geheimnis des Glaubens) ab. Zuerst dient es zur Bezeich9 10
11
J. Michel, Le Myste`re de la passion (Angers 1486), ed. O. Jodogne, Gembloux 1959. Zu dieser Genealogie der Passionsspiele cf. Dictionnaire des Lettres francX aises. Le XVIe sie`cle, ed. G. Grente, e´dition rev. et mise a` jour Paris 2001. Dieses Privileg wurde bis zum Jahr 1547 von der Pariser Bruderschaft genutzt. Cf. Mazouer, Le the´aˆtre francX ais (nt. 7), 165.
Die Dauer im ,Myste`re de la Passion‘
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nung einfacher Pantomimen religiösen Inhalts und wird bald auf größere Dramen übertragen 12. Abgesehen von dieser speziellen hat das Substantiv noch eine Reihe weiterer Bedeutungen. In den Myste`res wird es auch im Sinne von ,Geheimnis‘, ,Geheimnis des Glaubens‘ gebraucht 13. 2. Das ,Myste`re de la Passion‘ als Massenphänomen Die mehrfache Überarbeitung und die große Zahl der Aufführungen läßt ebenso wie die große Reihe der erhaltenen Handschriften und gedruckten Texte - auf die Bedeutung des Passionsthemas für ein großes Publikum schließen. Die Attraktivität der Myste`res beruht auf den eindrucksvollen Inszenierungen mit musikalischen Zwischenspielen - A. Gre´ban komponiert selbst die Musik für sein Spiel -, den anspruchsvollen Texten und der abwechslungsreichen Szenenfolge, die sowohl die Schau- und Sensationslust als auch die Wißbegierde einer großen Volksmenge befriedigen können. Da den meisten Menschen jener Zeit die Inhalte der Evangelien nur durch die Vermittlung von Predigt und Liturgie oder aus bildlichen Darstellungen bekannt waren, schätzten sie die Myste`res als ein anschauliches Medium der Glaubensvermittlung. Aus den Besucherzahlen läßt sich auf Erfolg und Bedeutung der Passionsspiele schließen. Selbst wenn einige der von Chronisten überlieferten Angaben übertrieben erscheinen - im Jahr 1516 sollen in Autun 80 000 Zuschauer gewesen sein -, so findet man doch vertrauenswürdige Schätzungen in den Städten, in denen die Abrechnungen der Spiele erhalten sind: 1509 nahmen in Romans durchschnittlich 1800 Besucher an jedem der sechs Aufführungstage teil, 1557 in Valenciennes werden mehr als 5500 an jedem der 25 Spieltage gezählt 14. 3. Myste`res und andere religiöse Dramen Die Theaterproduktion im französischen und provenzalischen Sprachgebiet bietet ein überaus komplexes Bild und läßt die Konzentration auf überschaubare Beispiele sinnvoll erscheinen. In der folgenden globalen Übersicht werden daher zunächst die Gattungen des Dramas erwähnt, die aus der Zeit von etwa 1350 bis 1550 bekannt sind. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem 15. Jahrhundert. Nicht berücksichtigt werden die dramatischen Werke vor 1350, zum Beispiel frühe Geistliche Spiele, die zum Teil aus dem liturgischen Drama hervorgegangen sind. Diese Entwicklung ist jedoch nicht kontinuierlich nachweisbar. 12 13
14
Cf. Mazouer, Le the´aˆtre francX ais (nt. 7), 144. Zum Bedeutungsspektrum von ,mistere/mystere‘ cf. F. Godefroy, Dictionnaire de l’ancienne langue francX aise et de tous ses dialectes du IXe au XVe sie`cle, vol. 5, Paris 1888, s. v. Cf. auch vol. 2, 9. Cf. B. Faivre, Le the´aˆtre de la grand-place, in: Le the´aˆtre en France, vol. 1, ed. J. Jomaron, Paris 1988, 74. Zur Aufführung in Romans cf. nt. 2. Vergleichbare Besucherzahlen werden heute eher bei Sportveranstaltungen, Ausstellungen oder Musikfestivals erreicht.
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Ein großer Teil der dramatischen Werke des 15. Jahrhunderts ist in die Kategorie des religiösen oder erbaulichen Theaters einzuordnen: außer den Passionsspielen (,Myste`res de la Passion‘) sind dramatisierte Heiligenlegenden (,Myste`res hagiographiques‘) und dramatisierte Wundererzählungen (,Miracles‘) bekannt, dazu kommt eine große Reihe von ,Moralite´s‘, in denen allegorische Figuren religiöse und erbaulich-lehrhafte Inhalte vermitteln. Etwa seit der Mitte des 15. Jahrhunderts wird ein Gegenprogramm zu den religiösen Dramen geschaffen: in Parodien (,Parodies‘), Farcen (,Farces‘ oder ,Sotties‘) und parodierenden, karnevalesken Predigten (,Sermons joyeux‘) stehen Lachen, Komik, Respektlosigkeit und Obszönität im Vordergrund. Während diese profanen Stücke zur Erheiterung des Publikums gespielt werden, wird die Inszenierung der ernsten Geistlichen Spiele weiter gepflegt; alle diese Formen des Dramas entstehen zu gleicher Zeit und sind in manchen Städten nebeneinander zu sehen. Eine Erneuerung der Kreativität und Produktivität auf dem Gebiet des Theaters wird nicht zuletzt auf die Beruhigung der politischen Lage und das Erstarken der königlichen Macht am Ende des Hundertjährigen Krieges zurückgeführt 15. 4. Die zunehmende Dauer der Spiele Im Rahmen einer Untersuchung der Dauer ist die Textlänge der einzelnen Theaterstücke relevant, auch wenn diese nicht allein die Dauer der Aufführung bestimmt. Eine Farce hat in der Regel 300 bis 600 Verse, in Ausnahmefällen 1500 (,Maıˆtre Pierre Pathelin‘) 16. Die frühen Myste`res und die Moralite´s erreichen oft 10 000 Verse. Während das erste überlieferte Passionsspiel, die ,Passion de Palatinus‘ aus dem frühen 14. Jahrhundert nur etwa 2000 Verse hat, zählt ein ,Myste`re des Actes des Apoˆtres‘, das 1541 aufgeführt wird, mit seinen 62 000 Versen zu den extrem langen Spielen. Eine Moralite´ (,L’Homme juste et l’homme mondain‘ von Simon Bougoin) bringt es immerhin auf 30 000 Verse. Vor allem bei den ,Myste`res de la Passion‘ läßt sich eine ,Inflation der Texte‘ durch zusätzliche Bearbeitungen und folglich ein kontinuierliches Ansteigen der Aufführungsdauer feststellen 17. 5. Die Aufführungspraxis der ,Myste`res de la Passion‘ im 15. Jahrhundert Aufgrund dieser ,Tendenz zur langen Dauer‘ konzentriert sich die vorliegende Untersuchung vorwiegend auf die großen Myste`res des 15. Jahrhunderts. An15
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Cf. Mazouer, Le the´aˆtre francX ais (nt. 7), 242 sqq. und 265 sqq.; Faivre, Le the´aˆtre de la grandplace (nt. 14), 74. Maıˆtre Pierre Pathelin, farce du XVe sie`cle, ed. R. T. Holbrook (Les classiques francX ais du ˆ ge 35), Paris 21963. Moyen A Zu den genannten Beispielen und der ,Inflation des Textes‘ cf. Faivre, Le the´aˆtre de la grandplace (nt. 14), 71.
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hand von Textbeispielen soll nachgewiesen werden, daß ,Dauer‘ in ihnen mehr als ein oberflächliches Kriterium ist. Zuvor werden die wesentlichen Beobachtungen zum Entwicklungsstand und zur Aufführungspraxis dieser Werke zusammengefaßt: a. Die Aufführung eines Myste`re ist ein Ereignis, das die gesamte Bevölkerung einer Stadt und ihrer Umgebung mobilisiert. Die Realisierung und Inszenierung setzt die Infrastruktur einer relativ großen und wohlhabenden Stadt voraus. Die Initiative geht von den Bürgern aus. An der Ausführung sind in der Regel mehr Laien als Geistliche beteiligt, doch werden die Rollen von Gott Vater und Jesus von Geistlichen gespielt. Die Zuschauer kommen auch aus anderen Städten, hochrangige Gäste werden eingeladen. b. Die Wahl des Termins wird nicht vom liturgischen Kalender bestimmt. Die Passionsspiele werden nicht in der Karwoche gezeigt, sondern meist im Sommer. Bei ungünstigen Bedingungen können sie verschoben werden 18. Die Veranstaltungen finden im Abstand von mehreren Jahren statt, und das Stück wird jeweils nur einmal gespielt. c. In der Wahl des Ortes sind die Veranstalter - anders als bei den frühen liturgischen Dramen, die in oder vor einer Kirche gezeigt wurden - ebenfalls unabhängig. Die Bühne wird meistens unter freiem Himmel auf einem öffentlichen Platz im Stadtzentrum errichtet 19. d. Vorhandene und bekannte Texte werden übernommen, überarbeitet, miteinander kombiniert, und damit den jeweiligen Intentionen und Bedürfnissen angepaßt. e. Besondere Sorgfalt wird auf raffinierte technische Hilfsmittel verwendet. Die ,machineries‘ (Schwebevorrichtungen, Falltüren, Ton- und Lichteffekte usw.) werden in diesem Artikel wenig beachtet, obwohl anzunehmen ist, daß ihr Einsatz ebenfalls zu einer Verlängerung der Aufführungen beigetragen hat. IV. Zeitdimensionen im ,Myste` re de la Passion‘ von Ar noul Gre´ ban 1. Überlegungen zur Auswahl der Textbeispiele Im Verlauf meiner Untersuchung hat sich gezeigt, daß das ,Myste`re de la Passion‘ von A. Gre´ban viele Passagen bietet, in denen das Thema ,Dauer‘ reflektiert oder in Bilder umgesetzt wird. Bei der Lektüre ergaben sich weitere Gründe dafür, die Beispiele vorzugsweise aus diesem Werk auszuwählen: (a) Es hat, wie oben gesehen, späteren Myste`res vielfach als Vorbild gedient. (b) In der 18
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Im proce`s-verbal des Myste`re de Saint Martin (cf. nt. 2) erfährt man zum Beispiel, daß die Aufführung wegen einer militärischen Aktion in der Umgebung verschoben wurde. Zu den Bühnenkonstruktionen cf. nt. 3.
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Reihe der drei großen Myste`res steht es chronologisch gesehen in der Mitte. Es übernimmt bedeutende inhaltliche und strukturelle Elemente aus seiner Vorlage, dem Myste`re von E. Mercade´. Diese Elemente fehlen in dem Myste`re von J. Michel, das zuletzt verfaßt wurde. (c) In der Auswahl seiner Szenen und seiner Struktur zeigt es eine gewisse Ausgewogenheit, die bei den späteren Fassungen und ihrer Tendenz zum ,Gigantismus‘ verloren geht. (d) Es spricht die Emotionen des Publikums und auch seine kognitiven Fähigkeiten an. (e) Aufgrund der Dokumente von Mons hat man konkretere Informationen zu einer Aufführung als bei den anderen Myste`res. 2. Schöpfungsgeschichte und Passion In den frühen Myste`res setzt die Handlung mit der Verfolgung Jesu und seiner Leidensgeschichte ein. Im Prolog oder im Epilog wird erklärt, daß die Passion eine notwendige Folge des Sündenfalls sei 20. In den großen Passionsspielen dagegen wird mit der szenischen Darstellung der Schöpfung und des Ursprungs des Bösen eine neue Dimension eröffnet. Die Zerstörung der Einheit von Schöpfer und Schöpfung durch den Abfall Luzifers und den Sündenfall der ersten Menschen wird in dramatischen Dialogen und bewegten Aktionen sichtbar gemacht. A. Gre´ban ist meines Wissens der erste französische Autor, der die Geschichte Jesu mit dem Anfang der Welt- und Menschheitsgeschichte beginnen läßt. In der dramatischen Verbindung von Sündenfall und Passion veranschaulicht er Aussagen der Evangelisten und des Apostels Paulus, zum Beispiel „Et sicut in Adam omnes moriuntur, ita et in Christo omnes vivificabuntur“ (1 Kor 15,22). Die Erlösungstheorien des Anselm von Canterbury, die von Thomas von Aquin fortgeführt wurden, erläutert A. Gre´ban in mehreren Kommentaren und setzt sie in Bilder um. Anhand einiger Textbeispiele wird der Versuch gemacht, diesen Einfluß nachzuweisen. Durch die Rückschau auf den Anbeginn der Welt wird der Vergangenheit des Passionsgeschehens eine weitere Vergangenheit hinzugefügt und die Zeitperspektive wird beträchtlich erweitert. Die Dauer des Spiels wird im Vergleich zu den ersten Passionsspielen vervielfacht 21 und stellt hohe Anforderungen an die 20
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Im Prolog der ,Passion de Biard’ steht beispielsweise (La Passion d’Autun, ed. G. Frank [Publications de la Socie´te´ des anciens textes francX ais], Paris 1934, vv. 6-14): „Quar nous veullons monstret l’ystoyre / De la passion Jhesucrist, / Si comme nous trouvons en escripst. / Pour le pechier du premier homme, / De Adam qui mangea la pomme, / Fust le monde lyvrer a mort, / Mais ly (sire) pour donner confort / Naisqui de la Vierge Marie / Pour nous tourner de mort a vie.“ Die Orthographie der Zitate entspricht der Ausgabe von G. Franck. Deutsch: „Denn wir wollen die biblische Geschichte / von der Passion Jesu Christi zeigen, / so wie wir sie in der Schrift finden. / Um der Sünde des ersten Menschen willen, / der Sünde Adams, der den Apfel aß, / wurde die Welt dem Tod ausgeliefert, / aber um uns zu trösten wurde / der Herr von der Jungfrau Maria geboren, / um uns vom Tod zum Leben zu bringen.“ Diese Passion endet mit Worten, die der Gekreuzigte selbst an das Publikum richtet; cf. unten, Abschnitt 4.13. Die ,Passion de Biard’ (cf. nt. 20) hat 2117 Verse.
Die Dauer im ,Myste`re de la Passion‘
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Begeisterungs- und Aufnahmefähigkeit des Publikums. Im Rahmen des groß angelegten Dramas wird das Publikum daran erinnert, daß die Passion das zentrale Thema ist. „Nostre especı¨ale matiere est d’insister au hault mistere de Jhesus et sa passion […].“ (A. G. 13-15)
„Unser Thema ist es, das hohe Geheimnis Jesu und seiner Passion eingehend zu behandeln […].“
„Mais la cre¨acion du monde est ung mistere en quoy se fonde tout ce qui deppend en apre´s.“ (A. G. 17-19)
„Aber die Weltschöpfung ist ein Glaubensgeheimnis, auf dem alles, was danach kommt, beruht.“
Der Zuschauer soll erkennen, daß die Grenzen seiner Zeiterfahrung überschritten werden und daß das Geheimnis (,mistere‘), das ihm hier vermittelt wird, über sein Verstehen hinausgeht 22. 3. Unfälle bei der Schöpfung Zweimal tritt bei der Schöpfung ein Ereignis ein, das die ursprüngliche, von Gott gewollte Harmonie zerstört. Zweimal trennen sich Geschöpfe mutwillig von ihrem Schöpfer. Zunächst lehnen sich der Engel Luzifer und seine Anhänger kurz nach ihrer Erschaffung gegen Gottes Allmacht auf. Dies geschieht noch vor der Trennung des Lichts von der Finsternis. In der Passion des A. Gre´ban wird dieser Mythos vom Ursprung des Bösen in den Schöpfungsbericht aus der Genesis eingefügt 23. Der Aufstand der Engel findet lange vor der Erschaffung der Menschen statt und endet mit einem Sturz in die Tiefe und dem Verlust der von Gott gegebenen Schönheit. Die Bewegung des Falls und die Veränderung des Äußeren sind auf der Bühne zu beobachten. „Icy cheent et tresbuchent les mauvais anges en enfer en fourme de deables.“ (A. G., Regieanweisung nach 204) 24 22
23
24
„An dieser Stelle fallen und stolpern die bösen Engel in Gestalt von Teufeln in die Hölle.“
Zur Verwendung des Substantivs ,mistere‘, ,Mysterium‘, ,Geheimnis‘ cf. nt. 13. Vom ,Geheimnis des Glaubens‘ wird im Laufe des Spiels mehrfach die Rede sein, beispielsweise in der LonginusSzene (A. G. 26 521 sqq.). Das Mythologem vom Engelssturz findet sich nicht in den kanonischen Büchern, sondern in den Apokryphen (slavisches Henochbuch 29, 4 sqq., Vita Adae et Evae 12-16), die erst das neue Testament an zwei Stellen zitiert (Lk 10,18 und Apg 12,7-9). Zitiert bei R. Warning, Funktion und Struktur, München 1974, 135. Im ,Myste`re du Viel Testament‘ ist die Regieanweisung zu der entsprechenden Stelle noch detaillierter, darin werden besonders die Geschwindigkeit des katastrophalen Absturzes und die Schwierigkeiten der Inszenierung hervorgehoben (Le Mistere du Viel Testament, ed. J. de Rothschild/E. Picot, Paris 1878-91, 17, nach v. 439): „Adonques doivent trebucher Lucifer et ses Anges le plus soudainement qu’il sera possible, et doit avoir autant de Dyables tous pretz en l’Enfer, lesquelz en menant grande tempeste getteront feu dudit Enfer.“ „In diesem Augenblick müssen Luzifer und seine Engel so schnell wie möglich abstürzen, und es muß ebenso viele Teufel nah bei der Hölle geben, die ein großes Spektakel veranstalten und Feuer aus der Hölle werfen.“
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Die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies wird nicht als ,Fall in die Tiefe‘ dargestellt, sondern spielt sich auf derselben Ebene ab. Durch diese Raumsymbolik wird die Hoffnung erweckt, daß die Trennung von Gott und seinem Paradies nicht endgültig sei (A. G. 665-79). Im Rahmen des mehrtägigen Passionsdramas von etwa 35 000 Versen nehmen der Engelssturz und die Vertreibung aus dem Paradies nur eine kurze Zeitspanne ein. Bis zu diesem Zeitpunkt umfaßt der Text 720 Verse, folglich wird die Aufführung selbst bei feierlicher und großzügiger Inszenierung des Weltanfangs nicht länger als ein bis zwei Stunden gedauert haben. Dennoch sind die ,Prologues‘ mit der Schöpfungsgeschichte und der Biographie der ersten Menschen als Voraussetzungen für das gesamte Stück von größter Bedeutung, und dies kommt auch im Aufwand der Inszenierung zum Ausdruck 25. Die Bühnenwirksamkeit der Schöpfungsszenen ist ebenso wenig zu unterschätzen wie die Faszination des Bösen. Luzifer, Satan und ihre Genossen haben in den ,Prologues‘ bereits vier Auftritte. Nach dem Tod Abels erwarten sie dessen Seele in maßloser Vorfreude, doch ist ihnen über ihn, der ein gerechtes Leben geführt hat, geringe Macht gegeben. Anläßlich dieses ersten Todesfalles in der Menschheitsgeschichte zeigt der Autor, daß für die Seelen der Gerechten und die der Sünder von Anbeginn der Welt an unterschiedliche Orte vorgesehen sind. Bei der Ankunft Abels im Jenseits fragen die Teufel ihren ,König‘ Luzifer, wie sie mit ihm verfahren sollen (A. G. 996-1007): Belzebuth „C’est la premiere qui vint oncques si luy fault faire grosse feste.“
„Das ist die erste Seele, der hier jemals herkam, also müssen wir ihm einen großen Empfang bereiten.“
Luzifer „Belzebut, deable, reste, reste ; il ne t’en fault ja si hault bruire. Tu n’as puissance de luy nuyre, se le grant deable ne t’emporte. Elle est juste ; porte la, porte lassuz ou limbe et la la metz.“
„Beelzebub, Teufel, langsam, langsam, du darfst dich noch nicht zu sehr freuen. Du hast keine Macht, ihm zu schaden, wenn der große Teufel dich nicht holt. Sie [die Seele] ist gerecht, trage sie, trage sie nach oben in den Limbus und setze sie dahin.“
Belzebuth „De cy ne partirez jamais, meschante ame, je le suppose: la porte du ciel vous est close et a tout le lignaige humain.“
25
„Von hier wirst du - wie ich vermute - nie wieder fortgehen, du erbärmliche Seele: die Himmelstür ist dir und dem ganzen Menschengeschlecht verschlossen.“
In der Schöpfungsszene erscheinen nacheinander das Licht, das Firmament, die Erde mit ihren Bäumen und anderen Pflanzen, Sonne, Mond und Sterne, Fische, Reptilien, Vögel, Schafe, Kühe, Pferde, bevor der Mensch erschaffen wird. Cf. Cohen, Le Livre de conduite (nt. 2), 9.
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Der Befehl Luzifers, man möge Abel ,nach oben‘ in den Limbus bringen, bedeutet, daß man sich diesen Ort, an dem sich die Verstorbenen in Erwartung des Gerichts aufhalten, etwas höher gelegen vorstellt als die Hölle, den Ort der Verdammnis. Beelzebub sagt Abel eine unendliche Dauer seiner Gefangenschaft voraus. Er muß allerdings eingestehen, daß er seiner Sache nicht sicher ist. Mit der Einschränkung ,je le suppose‘ wird die Macht des Bösen relativiert und die Hoffnung auf Befreiung in Aussicht gestellt. Anders als Abel, der Gerechte, hat Adam große Schuld auf sich geladen. Seit der Vertreibung aus dem Paradies ist er sich dessen bewußt und erwartet eine harte Strafe. Dennoch hofft er auf Errettung vor der ewigen Verdammnis und glaubt, daß die Fürbitte seiner Kinder dazu beitragen kann (A. G. 1340-43): Adam „Mes enfans, soyez ententiz de prı¨er a Dieu pour mon ame si que de l’eternelle flame la preserve en temps et en lieu.“
„Meine Kinder, achtet darauf, daß ihr zu Gott betet, er möge meine Seele in Zeit und Raum vor dem Höllenfeuer bewahren.“
Nach dem Tode Adams und Evas herrscht aber zunächst Siegesstimmung in der Unterwelt, da Luzifer und alle Teufel wähnen, ihnen sei unbeschränkte Macht über die gesamte Menschheit gegeben (A. G. 1493): Luzifer „[…] le monde est tout nostre donne´.“
„[…] die Welt ist ganz in unsere Hand gegeben.“
4. Die Zeitperspektiven in den Prologen Die umfangreichen Geistlichen Spiele werden durch Retrospektiven und Vorschauen auf die jeweiligen Spieltage strukturiert. In den ausgedehnten Prologen faßt ein Sprecher die bisher gezeigten Szenen in einer recapitulatio zusammen, um die vorher behandelten Gedanken zu vertiefen. Erst danach resümiert er die Aktionen, die an dem jeweiligen Spieltag zu erwarten sind. Seine Kommentare sind häufig mit Predigten vergleichbar und stellenweise auch nachweisbar von der Homiletik beeinflußt 26. Die Lehrmeinungen der Kirche werden dabei respektiert, auch wenn es der Autor ist, der die Szenen auswählt und in den Kommentaren und Debatten eigene Schwerpunkte setzt. Man geht offenbar davon aus, daß sich das Publikum nicht allein von den optisch wahrnehmbaren Bildern der Inszenierung angezogen fühlt, sondern auch Kenntnisse über die biblische Geschichte, ihre Interpretation und ihre Bedeutung für das Heil des 26
Der Paradiesprozeß (A. G., 9 sq.) beispielsweise ist ein Topos mittelalterlicher Homiletik, der auf eine Predigt Bernhards von Clairvaux zu Mariae Verkündigung zurückgeht; cf. Warning, Funktion und Struktur (nt. 23), 65.
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einzelnen Gläubigen erwerben will. Das didaktische Prinzip der repetitio hat wie auch in der Liturgie und in der Predigt - eine große Bedeutung bei der Vermittlung des ,cate´chisme dramatique‘. 5. Die Dauer der Bestrafung Der erste Tag des Passionsspiels beginnt nach dem Tod der ersten Menschen und mit ihrem Aufenthalt in der Vorhölle. Man erwartet, daß nun die unabsehbare Dauer ihres Elends auf der Bühne sichtbar wird. Doch zuvor hält es der Autor für unumgänglich, die beiden Ebenen des Geschehens, das heißt das Drama der Menschen und den Konflikt, in dem sich Gott durch die notwendige Verurteilung seiner Geschöpfe befindet, theoretisch zu erläutern. Er beginnt mit der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen der ,langen Dauer‘ der Bestrafung und der Ewigkeit Gottes (A. G. 1525-39): „Long temps fu humaine nature soubmise a trop dure poincture depuis celluy transgre´s commis, car l’essance, qui tousjours dure et en qui n’est fin ne mesure, avoit cest edict ainsi mis que mesmes ces meilleurs amis en tenebres feussent soubmis, sans terme de gloire conclurre, et fust tel discorde entremis qu’il ne pouoit estre desmis par ange n’autre cre¨ature. Quant a ce discord subvenir, remede n’y pouoit venir sinon de Dieu tant seulement.“
„Lange Zeit war das Menschengeschlecht einer zu harten Behandlung ausgesetzt seit dieser Übertretung, denn das Wesen, das ewig währt, das unendlich und unermeßlich ist, hatte die Verordnung erlassen, daß selbst seine besten Freunde der Finsternis unterworfen und ohne Ende von der Herrlichkeit ausgeschlossen seien. Und es entstand zwischen ihnen ein so großer Zwist, daß er nicht überwunden werden konnte, weder von einem Engel, noch von einem anderen Geschöpf. Was die Beilegung dieses Streits anbetrifft, so konnte eine Heilung nur von Gott allein kommen.“
Der Autor resümiert hier mehrere Prinzipien der Glaubenslehre: die Unendlichkeit des göttlichen Wesens; den mangelnden Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot, der eine unbegrenzte Strafe selbst für die ,besten Freunde‘ Gottes nach sich ziehen muß; die Unmöglichkeit der Erlösung durch ein Geschöpf, ja selbst durch einen Engel 27. Er verbindet den Begriff essentia mit dem der ,ewigen Dauer‘, um die Größe und Einmaligkeit Gottes hervorzuheben, und nimmt Bezug auf die Argumentation, mit der Anselm von Canterbury zu einer rationalen Begründung der Passion als ,Loskauf‘ der Menschheit gelangt 28. Durch eine 27
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Die Formulierung „l’essance qui toujours dure“ ist möglicherweise nach einer Definition Anselms gebildet. Libri Sancti Anselmi „Cur Deus homo ?“ prima forma inedita, ed. E. Druwe´, Rom 1933, c. 39, 37: „Summum bonum et summa essentia deus est, a quo omne bonum et omnis essentia.“ Dieses Argument findet man auch in den von Gre´ban zitierten Thomas-Sentenzen, Thomas von Aquin, Summa theologiae III, q. 46, a. 1: „Humanum enim genus non liberari poterat nisi a Deo.“
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Reihe von juristischen Termini (,transgre´s‘, ,edict‘, ,sans terme‘, ,conclurre‘, ,discorde‘) erreicht er einen hohen Abstraktionsgrad. Daneben findet man auch konkret vorstellbare Ausdrücke wie ,long temps‘, ,poincture‘, ,ne fin ne mesure‘, ,ses meilleurs amis‘, ,tenebres‘, die die Dauer und Intensität des Leidens unterstreichen. Diese Wirkung wird durch das Spiel mit den homophonen und stammverwandten Worten ,durer‘ (dauern) und ,dur/dure‘ (hart) akustisch hervorgehoben. Dieses Wortspiel wird in den Passionsszenen und Kommentaren mehrfach wiederholt und abgewandelt. In der Feststellung, daß weder Mensch noch Engel eine Heilung (,remede‘) des Konflikts bewirken kann, folgt der Kommentar noch einmal der Argumentation Anselms: der Mensch sei aufgrund seines Ungehorsams unwürdig, die Erlösung zu bewirken, der Engel hingegen sei unwürdig, da er sich überschätzt und sich die Unendlichkeit Gottes angemaßt habe (A. G. 1540-48). Obwohl sich A. Gre´ban hier ausführlich auf Anselms Erlösungstheorie bezieht, nennt er nicht dessen Namen, sondern beruft sich namentlich auf Thomas von Aquin. Dieser begründet im dritten Buch der Sentenzen, warum Gott Sohn und nicht Gott Vater auf die Welt kommen und die Passion erleiden mußte 29: „[…] et pourquoy ce divin mistere appartient au Filz plus qu’au Pere ou au Saint Esperit de nom. S’argurons que sy et que non comme saint Thomas l’a traictie´ soubtillement en son traictie´ sur le tiers livre des Sentences.“
„[…] und warum dieses göttliche Geheimnis mehr zum Sohn als zum Vater gehört oder dem Namen nach zum Heiligen Geist. Und wir werden das Für und Wider erörtern wie der Heilige Thomas es scharfsinnig in seinem dritten Buch der Sentenzen behandelt hat.“
Durch den Sündenfall der Geschöpfe ist der Schöpfer in einen Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit geraten. Diese Eigenschaften Gottes werden - so kündet es der Kommentator an - als sichtbare allegorische Figuren auftreten und in einer disputiatio über die Erlösungsmöglichkeiten für die Menschheit streiten. Justice (Gerechtigkeit) und Misericorde (Barmherzigkeit) komme in der Auseinandersetzung eine bedeutende Rolle zu. Gerechtigkeit habe die Versöhnung von Gott und seiner Schöpfung verhindert. Durch ihre unnachgiebige Härte sei aus der gestörten Harmonie (,discord‘) notwendigerweise ein Krieg (,guerre‘) entstanden. Bisher habe Barmherzigkeit, die Gegenspielerin der Gerechtigkeit, versagt, und jede aufkeimende Hoffnung sei durch Gerechtigkeit schnell zunichte gemacht worden (cf. unten, Punkt IV. 7.). An dieser Stelle wird die Aufmerksamkeit der Zuhörer noch einmal auf die lange Dauer der Bestrafung gelenkt, die wie ein Leitmotiv immer wieder im Prolog erscheint.
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Zitiert nach: Thomas von Aquin, Des Menschensohn Leiden und Erhöhung, ed. A. Hoffmann (Die deutsche Thomas-Ausgabe 28), Heidelberg-Graz 1956. A.G. 1689-1695. Cf. Thomae Aquinatis Scriptum super sententiis magistri Petri Lombardi, ed. M. F. Moos, vol. 3, Paris 1933, 3: „Ideo et Filius missus est, et non Pater, quia congruentius mitti debebat qui est ab alio quam qui est a nullo. Filius enim a Patre est, Pater vero a nullo est.“ Thomas beruft sich bei dieser Erklärung auf Augustinus, De Trinitate IV (op. cit., 4): „Non habet de quo sit. Sicut ergo Pater genuit, Filius genitus est; ita congrue Pater misit, Filius missus est.“
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Endlich spricht der Kommentator vom Tag der Erlösung, an dem die Gebete der Menschen erhört, ,ihrem Gesuch nachgekommen‘ und ,ihre Schuld beglichen wurde‘ (A. G. 1603-8). Durch diese Wortwahl definiert A. Gre´ban die Erlösung durch den Messias als einen juristischen Akt der Wiedergutmachung. Die Notwendigkeit eines so umfangreichen theoretischen Kommentars läßt sich möglicherweise dadurch erklären, daß der Autor die Grenzen einer szenischen Darstellung des Heilsplans erkennt. 6. Aktion und Agieren auf mehreren Ebenen Der erste Teil des Prologs schließt mit einem Ave Maria, das traditionsgemäß von allen Anwesenden gesprochen wird. Das darauf folgende Gebet der Patriarchen im Limbus endet mit den Worten (A. G. 1655 sq.): „[…] viens icy pour nous delivrer par ta puissance precellente.“
„[…] komm her, um uns zu erlösen durch deine unendliche Macht.“
Diese Bitte können die Zuschauer des Myste`re auch auf ihre persönliche Situation und auf aktuelle Mißstände beziehen. Sie ist nicht zeitgebunden und hebt die Grenze zwischen dem Spiel und seinem Publikum auf. Während sich das Publikum mit den Schauspielern in einem Gebet vereint, nimmt der Sprecher oder Kommentator eine Vermittlerrolle ein: er ist Akteur im Passionsspiel und dennoch keine biblische Gestalt. Auf diese Weise wird eine Verbindung zwischen der Zeitebene des Evangeliums und der Gegenwart der Zuschauer hergestellt. Das Agieren auf verschiedenen Ebenen ist ein Prinzip des Myste`re, das nicht nur die Zeiterfahrung betrifft. Auch die Gattungsgrenze zwischen dramatischer und narrativer Darstellung erweist sich vielfach als fließend. Die Predigten und Gleichnisse Jesu erscheinen als eigene Textsorte, ebenso die theologischen und philosophischen Streitgespräche mit den Schriftgelehrten. Bemerkenswert ist die Verwendung lyrischer Formen - vor allem des ,Rondeau dramatique‘ - in Hymnen, Gebeten, Lob- und Klageliedern, die Gre´ban an zentralen Stellen als strukturierende Elemente einsetzt 30. 7. Der Prozeß von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Aus seiner Vorlage, dem Myste`re von Eustache Mercade´, übernimmt Gre´ban den Gedanken, daß der Freispruch des schuldigen Menschen zunächst im Rahmen eines Prozesses beschlossen wird. 30
Warning, Funktion und Struktur (nt. 23), 192-193, weist daraufhin, daß das Rondeau, das ursprünglich ein Tanzlied war, im 14. Jahrhundert in den ,Miracles de Notre-Dame‘ zum erstenmal in einem Geistlichen Spiel verwendet wird.
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Dieser Prozeß, der sich vor Gottes Angesicht im Paradies abspielt, ist der oben genannte Streit, den Justice und Misericorde um die Rechtfertigung des Menschen führen. Der Terminus ,proce`s‘ bedeutet zugleich Entwicklung oder Fortschreiten auf ein Ziel hin. Dieses Ziel, den Freispruch der Menschheit von dem Unrecht, das die ersten Menschen an Gott begangen haben, will Misericorde erreichen. Zu den Streitenden gesellen sich bei Gre´ban drei weitere ,Töchter Gottes‘ Sapı¨ence, Verite´ und Paix (Weisheit, Wahrheit und Frieden) und greifen als Beraterinnen und Schlichterinnen in die Debatte ein. Gemeinsam entwickeln sie in diskursiver Rede und Gegenrede den Heilsplan, den das Spiel zeigen wird (A. G. 1667-77): „Illec vouldrons laisser l’istoire par moyen d’interlocutoire et moralisier ung petit pour contenter vostre appetit. S’introduirons cinq personnaiges de cinq dames haultes et saiges, esquelles Paix sera propice, Misericorde avec Justice Verite´ et, puis, Sapı¨ence, et ce pour jugier de l’offense d’Adam qui fust le premier homme.“
„Hier werden wir die biblische Geschichte verlassen, um einen Exkurs zu machen und um eurem Wunsch entgegenzukommen ein wenig in der Form einer Allegorie sprechen. Also führen wir fünf Personen ein, weise Frauen von hohem Rang. Unter ihnen wird der glückbringende Frieden sein, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, Wahrheit und auch Weisheit. Dies geschieht, damit sie über die Schuld Adams, des ersten Menschen, zu Gericht sitzen.“
Der Autor erklärt, daß er an dieser Stelle vom sensus litteralis beziehungsweise von der historia (,istoire‘) der biblischen Botschaft absieht und sich auf den allegorischen Sinn konzentrieren will. Er geht davon aus, daß seine Zuhörer diesen Wechsel der Deutungsebene zu schätzen wissen. Den beliebten allegorischen Gestalten, die schon im Myste`re von E. Mercade´ auftreten 31, hat Gre´ban eine entscheidende Funktion zugedacht (es geht also nicht nur um einen ,kleinen Exkurs‘): sie personifizieren als Attribute Gottes den Widerstreit, in den der Schöpfer angesichts der gefallenen Geschöpfe geraten ist. Die gewichtigen Auftritte der ,Töchter Gottes‘ setzen den Heilsprozeß in Gang und bilden einen eigenständigen Rahmen, ein Vor- und Zwischenspiel neben den Prologen und Epilogen: im Paradiesprozeß geben sie den Anstoß zu der weiteren Handlung des Dramas; auf dem Höhepunkt der Passion - während Jesus in Gethsemane betet - beraten sie, ob er sein Leiden bis zum Ende ertragen muß; im ,Prologue final‘ feiern sie mit der Dreieinigkeit den triumphalen Sieg über das Böse 32.
31
32
Zur Herkunft des Topos cf. nt. 26. J. de Rothschild, Le Mistere du viel Testament (nt. 24), LX, vertritt die Ansicht, daß der Prozeß seinen Ursprung in der Midraschliteratur hat, und zitiert als Beleg die Textstellen aus ,Genesis Rabbah‘ 12 und 21: „Als Gott den Menschen schuf, tat er dies mit Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, und als er ihn aus dem Paradies vertrieb, geschah dies ebenfalls mit Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.“ Rothschild nimmt an, daß die Christen diese Allegorie mit Legenden vom Kommen des Messias verknüpften. In der ,Moralite´ finale‘, A. G. 33 940-34 365.
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8. Der Sieg über den Tod: Die Erweckung des Lazarus Die Überwindung des Todes durch den Messias bestärkt die Hoffnung der Christen auf Erlösung und Auferstehung. In den großen Myste`res wird die Auferweckung des Lazarus als sichtbare Begründung für diese Hoffnung auf der Bühne dargestellt. Schon im Johannesevangelium überzeugt diese Wundertat die Anhänger Jesu davon, daß er Gottes Sohn ist und bringt seine Feinde heftiger gegen ihn auf. Zugleich wird der unerhörte Vorgang, der unmittelbar vor der Passionsgeschichte berichtet wird, als Präfiguration der Auferstehung Christi gedeutet. A. Gre´ban hält sich an den Ablauf des dialog- und spannungsreichen Textes im Evangelium, doch gelingt es ihm, die beklemmende Zeiterfahrung beim Warten auf die Hilfe Jesu noch zu steigern, indem er den Text und die Aktion wesentlich verlängert. Wie im Text des Evangeliums läßt sich Jesus viel Zeit, ehe er zu Lazarus kommt, da er weiß, daß dieser seine Krankheit „nicht zum Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes“ erleidet ( Joh 11,4). Auf der Bühne wird ein Augenblick der höchsten Not gezeigt: der jammervolle Anblick des Kranken, die Hilflosigkeit seiner Schwestern Martha und Magdalena, die sich mit Bett und Kissen, den Requisiten eines Krankenzimmers, zu schaffen machen. Beim Tod des Lazarus scheint es, als komme Jesus zu spät und jede Hoffnung sei vergeblich. Dieser Eindruck wird in der Aufführung von Mons dadurch verstärkt, daß der Spielleiter eine mehrstündige Pause zwischen den Tod des Lazarus und die Ankunft Jesu legt. Im Textbuch von A. Gre´ban gewinnt die gesamte Episode beträchtlich an Länge, einmal durch eine amplificatio der Dialoge und zum anderen durch die Individualisierung von Personen, die bei Johannes anonym erwähnt werden. Beispielsweise gerät bei Gre´ban die Feststellung ,tulerunt ergo lapidem‘ ( Joh 11,41) zu einer bewegungs- und wortreichen Aktion, an der vier Freunde des Lazarus, Abacut, Celı¨us, Tubal und Gide¨on beteiligt sind. Auch die Wiederkehr des Verstorbenen wird bei A. Gre´ban anders interpretiert. Der Evangelist spricht von einer stummen, unheimlichen Erscheinung, die aus der Grabstätte heraustritt, der Autor des Passionsspiels dagegen läßt Lazarus wortreich die Macht Gottes und die Barmherzigkeit seines Sohnes preisen. Die Schwestern empfinden ,vollkommene Freude‘ (A. G. 15 045, 15 051) über die Rückkehr des Bruders und achten nicht auf dessen Ankündigung, daß er von schrecklichen Erfahrungen zu berichten weiß (A. G. 15 049 sqq.). Lazarus’ Erzählung schließt hier nicht unmittelbar an. Der Autor zeigt zuerst in einer Art Spiegel die Wirkung der Wundertat Jesu auf die Beteiligten. Die Reaktionen spielen sich vermutlich auf mehreren Bühnenebenen ab, welche zugleich verschiedene Realitätsebenen andeuten: in der Hölle herrscht Aufruhr und Empörung über Lazarus’ Befreiung; unter den Freunden Jesu setzt sich die Überzeugung durch, daß er tatsächlich Gottes Sohn ist; unter den jüdischen Priestern zeigt sich steigende Unruhe, da sie den Verlust ihrer religiösen und politischen Macht befürchten; Maria leidet unter der Angst, ihren Sohn zu verlieren. Nach diesen vier Szenen, die etwa 650 Verse umfassen, kann Lazarus sein
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Gespräch mit den Schwestern fortsetzen und ihnen erklären, warum er sich seines wiedergewonnenen Lebens nicht freuen kann (A. G. 15 719-21): „[…] j’ay veu mainte chose cruelle; par quoy, quant en ce pensser suis, de riens esjoy¨r ne me puis.“
„[…] ich habe manch grausame Sache gesehen; daher kann ich mich, wenn ich darüber nachgrübele, über nichts freuen.“
Auf Marthas ausdrückliche Bitten hin beschreibt er seine Erfahrungen aus den vier Teilen der Unterwelt: Zuerst habe er den Limbus der Patriarchen gesehen, wo die Hoffnung (,espoir‘/,esperance‘) auf einen gerechten Prozeß nicht aufgegeben werde und die Wartenden vor allem unter der Abwesenheit Gottes litten (A. G. 15 762-75): „Et en la plus haulte partie qui le limbe des peres est, sont de prophetes grant partie et d’autres a qui moult desplaist que l’en differe leur procest, eulx qui sont de gloire actentifz; mais espoir repaist les chetifz.
„In dem höchsten Bereich, dem Limbus der Väter, sind eine große Reihe von Propheten und anderen, die sehr darunter leiden, daß man ihren Prozeß aufschiebt, da sie zu Recht den himmlischen Ruhm erwarten; doch Hoffnung stärkt diese Elenden.
Vient Esperance la prudente qui ung bien petit les esjoye; puis ung vent de trop longue actente vient ferir, qui par pou les noye; et lors, Dieu scet s’il leur ennoye qu’ainsi sont prive´ de leur bien, car qui n’a son Dieu, il n’a rien.
Manchmal kommt die vorausschauende Hoffnung, und heitert sie ein wenig auf; dann schlägt ihnen hart der Wind des allzu langen Wartens entgegen und erstickt sie beinahe; und dann macht es ihnen weiß Gott Kummer, daß sie ihres Wohles beraubt sind, denn wer seinen Gott nicht hat, hat nichts.
Die zweite Stufe sei das Fegefeuer (,purgatoire‘), in dem die Seelen von ihren Fehlern gereinigt werden: „nul mal ne demeure impugny“ - „keine schlechte Tat bleibt ungestraft“ (A. G. 15 782). Darunter liege der finstere Ort, an dem die tot geborenen Kinder auf ewig für die Schuld anderer Menschen büßen müssen. An der tiefsten Stelle befinde sich der Abgrund, in dem die Verdammten ohne Hoffnung der ewigen Verzweiflung ausgeliefert sind (A. G. 15 797803): „Au plus bas, est le hideux gouffre tout de desesperance taint ou, sans fin, art l’eternel souffre de feu qui jamais n’est estaint ; la sont les maleureux contraint porter pardurable tempeste : ou espoir fault, la mort est preste.“
„Zuunterst ist der gräßliche Abgrund, der ganz von Verzweiflung erfüllt ist und wo auf ewig das Schwefelfeuer brennt, das niemals verlöscht; dort sind die Unglücklichen gezwungen, ein immerwährendes Unwetter zu ertragen: wo Hoffnung fehlt, ist der Tod nah.“
Lazarus tritt hier als Augenzeuge auf und ergänzt durch seine persönliche Beobachtung die Aussagen des Kommentators. Erst die Ankunft Jesu zu einem Essen mit den Freunden gibt dem ins Leben Zurückgerufenen auch die Freude
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am Leben zurück. Für den Zuhörer ist es offenkundig, daß Lazarus’ Worte nicht nur auf die augenblickliche Situation zu beziehen sind (A. G. 15 832 sq.): „Vostre venue prouffitable a ce deuil en joye tourne´.“
„Eure erwünschte Ankunft hat diese Trauer in Freude verwandelt.“
Die Einteilung des Jenseits in vier untereinander liegende Bereiche mit differenzierten Strafen entspricht dem Bedürfnis nach einer Vergeltung, die nach menschlichem Ermessen möglichst gerecht sein soll. Während die Seelen der Gerechten und derer, die im Fegefeuer geläutert werden, sich in einem Wartezustand befinden, gibt es für die tot geborenen Kinder und die ,sehr bösen‘ Sünder keine Hoffnung. Die Vorstellung, daß diese unmittelbar nach ihrem Tod auf ewig verdammt werden, wird bei den Kirchenvätern selten präzisiert. Ebenso herrschen über die Klassifizierung und Zahl der Straforte unterschiedliche Auffassungen 33. 9. Retardierende Momente in der Passion Die Anziehungskraft von Passionsszenen ist für den modernen Betrachter schwer nachvollziehbar, da die scheinbar endlose Folge von Demütigungen und physischer Folter schon beim Lesen des Textes die Grenze des Erträglichen überschreitet. Ihre anschauliche Aktualisierung auf der Bühne und die Präsenz einer großen Menschenmenge ruft mit Sicherheit heftige und widersprüchliche Reaktionen hervor, die von tiefstem Mitleid bis zu grausamer Komplizität reichen. Das Publikum des Myste`re ist jedoch vom Anfang des Schauspiels an auf die Qualen und Demütigungen gefaßt und erkennt Sinn und Notwendigkeit des Leidensprozesses, der durch den Prozeß im Paradies in Gang gesetzt wurde. Die Protagonisten des Spiels erfassen zuweilen intuitiv das Geheimnis der Passion, noch ehe sie begonnen hat. So äußert in der ,Passion de Biard‘ der Besitzer des Hauses, in dem Jesus mit den Jüngern das Abendmahl halten will: „Je croy bien que tu est le syre qui pour nous souffrera martire, et tous ceulx qui tiendront ta voye arons de paradis la joye.“ 34
„Ich glaube wohl, daß du der Herr bist, der für uns das Martyrium erleiden wird. Und alle diejenigen, die von deinem Weg nicht abweichen, werden die Freude des Paradieses genießen.“
Das Bewußtsein, daß Jesus die ungerechte Verurteilung freiwillig erträgt, läßt auch die Zuschauer den grausamen Anblick und die Dauer der Leiden ertragen: „Christus propria voluntate est passus.“ 35 Zur Entspannung der Zuschauer erfindet 33
34 35
Bernhard von Clairvaux spricht zum Beispiel in seinem dritten Sermo zum Allerheiligenfest von drei Aufenthaltsorten der Seelen, darunter ist auch ein paradiesähnlicher. Cf. Bernardi Opera, vol. 5: Sermones 2, edd. J. Leclercq/H. M. Rochais, Rom 1968, 349, l. 4. La Passion d’Autun (nt. 20), vv. 80-83. Thomas von Aquin, Summa theologiae III, q. 46, a. 1 (nt. 28), 4.
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der Autor immer wieder Momente, die Grauen und Mitleid für kurze Zeit aufheben. Selbst komische Elemente sind in diesem ernsten Kontext nicht tabu. Die Überzeugung, daß Jesus selbst den Verlauf der Ereignisse bestimmt und seine Gegner letztlich die Opfer sind, wird bei der Gefangennahme in ein Bild umgesetzt, das im wörtlichen Sinn ,umwerfend‘ ist. Als die Gerichtsdiener Jesus pakken wollen, fallen sie zusammen mit Judas wie von einer unsichtbaren Hand gestoßen auf den Rücken. Dreimal wird die Frage „Quel dyable nous a aterre´ ?“, „Welcher Teufel hat uns auf die Erde geworfen?“, von einem der Männer wiederholt (A. G. 19 059, 19 061, 19 067). Die repetitio wirkt an dieser Stelle der Passion eindeutig komisch und hat eine entlastende Funktion. Sie läßt die schwermütige Stimmung für einen Augenblick ins Lächerliche abgleiten, zumal der Zuschauer als der besser Informierte weiß, daß Gott und nicht der Teufel ,im Spiel‘ ist. Während des Prozesses scheint die Zeit stellenweise still zu stehen. Mit zunehmendem Grauen verfolgt man die Beratungen, Vorbereitungen und Verzögerungen, die sich durch die amplificatio der Evangelientexte und die Wiederholung von Gesten und Bewegungen scheinbar unendlich in die Länge ziehen. Da das Ende des Prozesses allen Anwesenden bekannt ist, herrscht eine fatalistische Ruhe. Einige Szenen sind heftig und bewegt, in anderen überwiegt der Eindruck des Statischen, da sie wie lebende Bilder einer Prozession aufgebaut sind und den Zuschauer an vertraute Bildwerke oder Skulpturen seiner Zeit wie Ecce homo, die Pieta` oder die Kreuzesabnahme erinnern 36.
10. Der Sieg über die Hölle: Jesu Abstieg in das Reich des Todes Die Auferstehung Christi wird im Myste`re entsprechend den Evangelientexten dargestellt: die Wächter am Grab schlafen wie betäubt, Jesus erscheint zuerst Maria Magdalena, dann den Jüngern. Der Abstieg in das Reich des Todes dagegen beruht auf der Überlieferung des apokryphen Nikodemusevangeliums, deren Bedeutung aus den Worten des apostolischen Glaubensbekenntnisses allen Gläubigen vertraut ist: ,descendit ad inferos‘. Zwischen Tod und Auferstehung des Messias wird der Abstieg ausdrücklich genannt. In der Passion des A. Gre´ban wird diese Stelle nur sehr knapp dargestellt. Das zentrale Ereignis, der Tod Jesu, wird zunächst - ähnlich wie die Auferweckung des Lazarus - in den Reaktionen der Zeugen, der Anhänger und Gegenspieler gespiegelt. Es sind sieben kurze Szenen, die den Lauf der Ereignisse unterbrechen, aber nicht aufhalten können. Die erste zeigt die Verunsicherung Satans, der nicht weiß, wo sich die Seele Jesu befindet und fürchtet, daß dieser das Höllentor aufbrechen wird. Die folgenden Episoden spielen sich unter dem Kreuz oder in der Nähe ab: die Ohnmacht Marias; die Furcht der 36
Zu dieser Passage cf. J. P. Bordier, Le Jeu de la Passion, Paris 1998, 761.
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Wachsoldaten, die in den Naturereignissen wie dem Erdbeben und den Gräbern, die sich öffnen, ein Zeichen für die ungerechte Verurteilung Jesu sehen; das Gespräch der Philosophen Dionysius (Saint Denys d’Athe`nes) und Empedocle´s, die aufgrund der Abweichung von den aristotelischen Naturgesetzen den Weltuntergang voraussehen. Die beiden letzten Szenen erlauben einen Blick ins Paradies und in die Unterwelt: Gott Vater äußert sein Mitgefühl mit dem Sohn und läßt die Engel Klagelieder anstimmen, er schickt Gabriel zu Maria, um sie zu trösten. An der Höllenpforte sind Luzifer, Satan und ihr Gefolge in Alarmbereitschaft. In diesem Augenblick fordert der Geist Jesu Einlaß. (Über die äußere Erscheinung Jesu in dieser Szene findet man im ,Abregiet‘ und in den Textbüchern keine Angaben). Er spricht die Worte „Attollite portas principes vestras et elevamini portae aeternales et introibit rex gloriae“, die Seelen antworten „Quis est iste rex glorie? “, und der Geist Jesu antwortet „Dominus virtutum ipse est rex glorie“ (Ps 23,7-10). Insgesamt wird ,Attollite portas‘ dreimal ausgesprochen, dann schlägt Jesus mit dem Kreuz gegen die Höllentore, und diese fallen in sich zusammen. Die Wiederholung der Formel und das Schlagen mit dem Kreuz gehen auf die Osterliturgie zurück und haben einen rituellen Charakter 37. Bevor Jesus die Seelen aus dem Limbus herausführt, wendet er sich an den ,falschen Teufel‘ und rühmt sich seines Sieges über das Prinzip des Bösen (A. G. 26 117 sq.): „La confusion en rapportes et j’ay la victoire obtenue.“
„Du wirst vernichtet, ich aber habe den Sieg davongetragen.“
Er spricht ebenfalls von dem hohen Preis, mit dem er die Menschen freigekauft hat (A. G. 26 123 sq.): „Le pris m’est vendu assez chier ; j’en ay dure mort enduree.“
„Der Preis war für mich sehr hoch; ich habe dafür einen bitteren Tod erduldet.“
und erklärt seine Passion damit auf zweifache Weise: einerseits hat der dem ,Machtmißbrauch‘ des Teufels durch den Sieg über den Tod ein Ende bereitet, andererseits ist seine Passion das Lösegeld, das er für die Menschen, die sich freiwillig dem Teufel ergeben haben, gezahlt hat 38. In seinen Worten an Luzifer wird die lange Dauer der Gefangenschaft der Menschheit in ähnlicher Formulierung wie nach dem Sündenfall deutlich gemacht (A. G. 26 119-22): „Long temps as icy retenue humaine lignee enfermee qui, pas moy, sera deffermee, maugre´ toy, sans riens empecher.“
37
38
„Lange Zeit hast du hier das Menschengeschlecht gefangen gehalten. Durch mich wird es befreit sein, dir zum Trotz, der du es nicht verhindern kannst.“
Die Elemente dieser Szene werden ausführlich analysiert bei Warning, Funktion und Struktur (nt. 23), 172. Die Erlösungstheorie vom Sieg über Satan, der seine Macht mißbraucht, geht auf Augustinus und Leo den Großen zurück, die ,Lösegeldtheorie‘ auf Origines und Gregor von Nyssa. Cf. Thomas von Aquin, Des Menschensohn Leiden und Erhöhung (nt. 28), 406.
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Mit dem Herausführen der Gerechten aus dem Limbus schließt sich ein großer Zyklus des Erlösungsprozesses, und die Hoffnung, die die Wartenden so lange aufrecht erhalten hat, erfüllt sich (cf. Abschnitt IV.8.). Von der Hoffnung der Väter spricht auch Thomas in dem von Gre´ban zitierten Sentenzenbuch. Während bei Gre´ban nur von der Hoffnung die Rede ist, nimmt Thomas an, daß die Verbindung von Glauben und Hoffnung die Erlösung bewirkt: „De antiquis vero patribus qui apud inferos usque ad passionem tenebantur, non incongrue dici potest quod fidem et spem-virtutem habuerint, quia credebant et sperabant se visuros Deum per speciem qualiter eum tunc non videbant; quia eis non patuit cognitio Dei per speciem ante passionem Christi; qua consumata a fide transierunt ad speciem.“ 39
Die erhoffte Gegenwart Gottes, die Thomas hier vor Augen führt, wird im Myste`re nicht gezeigt. Die Regieanweisungen lassen die Frage offen, ob sich der Wartezustand in einer angenehmeren Umgebung fortsetzt. In der ursprünglichen Fassung von A. Gre´ban führt der Geist Jesu die Seelen der Gerechten ,en lieu de´termine´‘ (an einen vorbestimmten Ort) 40. In den Anweisungen von Mons liest man: „Lors ilz wident le Limbe, et s’en vont que on ne les wid plus.“ 41
„Nun leeren sie den Limbus und gehen davon, so daß man sie nicht mehr sieht.“
Anders als in den deutschen Osterspielen ist es nicht der von den Toten Auferstandene, sondern der Geist Jesu, der sich nach seinem Tod und vor der Auferstehung in die Hölle begibt. Mit dieser Anordnung der Ereignisse gestaltet der Autor den Sieg über das Böse relativ zurückhaltend und widmet dem Descensus auffallend wenig Raum (nur etwa 100 Verse) im Verlauf des Passionsgeschehens. So widersteht er der Versuchung, einen dramaturgisch eindrucksvollen Kampf zu inszenieren und hält sich an die dogmatische Forderung, daß der Kreuzestod das entscheidende Ereignis in der Erlösungsgeschichte sei und nicht der Höllensieg.
11. Warten auf die Auferstehung Bei A. Gre´ban kommt die lange Ungewißheit des Wartens auf die Auferstehung auch im Zeitplan der Inszenierung zum Ausdruck: nach der Grablegung endet der dritte Aufführungstag, und der vierte Tag beginnt - wie die übrigen Tage - mit der Retrospektive und der Vorschau. Vor der sichtbaren Erscheinung des auferstandenen Messias sind der Prozeß und die Gefangennahme des Joseph von Arimathia, die Klagen der Apostel, eine lange Höllen- und eine kurze Paradiesesszene eingeschoben. Durch dieses retardierende Moment wird 39 40 41
Thomae Aquinatis Scriptum super sententiis (nt. 29), d. 26, 812. A.G., nach v. 26 194. Cohen, Le Livre de conduite (nt. 2), 384.
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die Zeitangabe des Glaubensbekenntnisses ,tertio die ressurrexit ‘ in gewisser Weise nachgespielt und der Zuschauer fühlt sich - wie es häufig in diesem Drama geschieht - in einen Wartezustand versetzt. 12. Der Gekreuzigte spricht zu seinem Volk In der Zeit zwischen Tod und Auferstehung läßt der Kommentator des Prologs zum vierten Tag den Gekreuzigten selbst zu Wort kommen (A. G. 27 41826 und 27 433-40): „,Mon peuple, j’ay pour toy souffert, pour toy me suis en croix ouffert, pour toy ay la mort enduree, mon ame du corps separee, mon coste´ perse´ et fendu. Quand tu l’aras bien entendu et voulu en ton cueur fermer, tu es tenu de moy amer sur toutes les choses mondaines.‘“
„ ,Mein Volk, ich habe für dich gelitten, für dich habe ich mich am Kreuz geopfert, für dich habe ich den Tod erduldet, meine Seele vom Leib getrennt, meine Seite durchstochen und zerrissen. Wenn du es wohl verstanden hast und in deinem Herzen bewahren wolltest, dann bist du verpflichtet, mich mehr als alle weltlichen Dinge zu lieben.‘ “
„J’ay fait plus fort: Exurrexi et primus dormiancium vivo et adhuc sum tecum. Or viens a l’exposicion. Apre´s la dure passion que j’ay enduree sur moy, j’ay fait ma ressureccion et encor suis avecques toy‘ […]“
„ ,Ich habe noch mehr getan: Ich bin auferstanden und als erster von den Schlafenden lebe ich und bin bei dir. Nun kann ich es öffentlich erklären. Nach der harten Leidenszeit, die ich durchgestanden habe, bin ich auferstanden und bin immer noch bei dir‘ […]“
In diesen Worten wird die gesamte Zeit der Passion, der Auferstehung und des Weiterlebens Jesu verdeutlicht. Jesus berichtet von seiner Auferstehung, als sei sie bereits vollendet. Zugleich nimmt er zu den Menschen, die nach ihm kommen werden, eine innige Beziehung auf und verpflichtet sie, ihm sein Opfer mit Dankbarkeit und Liebe zu vergelten. Der ganze Passus stellt eine recapitulatio dar, nicht im rhetorischen sondern im theologischen Sinne: alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignisse sind in der Person Jesu zusammengefaßt und in der Gestalt des Gekreuzigten anschaubar. Gre´ban schaltet hier den Kommentator als Vermittler ein und läßt diese Worte nicht von dem Gekreuzigten selbst sprechen, wie es am Ende der ,Passion de Biard‘ geschieht 42. Die Zeiterfahrung dieser Szenen könnte den paulinischen Begriff der plenitudo temporum (Eph 1,10) verdeutlichen, die sich in Christus vollendet. Noch enger bezieht sie sich auf die augustinische Anschauung vom Glauben, der sich auf das Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige richtet: „Est enim fides et praeterita42
In der ,Passion de Biard‘ (cf. nt. 20), vv. 2012-2117, spricht und klagt der Gekreuzigte in zwei langen Passagen, die das Stück abschließen.
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rum rerum et praesentium et futurarum. Credimus enim mortuum Christum, quod iam praeteriit; credimus sedere ad dexteram patris, quod nunc est; credimus venturum ad iudicandum, quod futurum est.“ 43 Die Zukunftsperspektive wird im ,Myste`re‘ nicht angesprochen, doch wird die sehr persönliche Botschaft Jesu an die gegenwärtigen Menschen einen starken Eindruck hinterlassen.
V. Passion, compassion und pacı¨ ence Beim Anschauen des Gekreuzigten soll sich der Gläubige in die vergangene Passion versenken und sie als gegenwärtig erleben. Zu dieser meditativen Übung, die das Mitleiden (,compassion‘) mit dem menschgewordenen Schöpfer und allen Geschöpfen weckt, wird der Zuschauer in vielen Szenen des ,Myste`re de la Passion‘ aufgefordert (A. G. 19 906-11): „Pour continuer la matiere qui est prouffitable et entiere a cueurs plains de compassion laquelle traicte par maniere la haulte passion planiere qui fit nostre redempcion.“
„Wir wollen mit unserem Thema fortfahren, das allumfassend ist und mitleidigen Herzen viel Nutzen bringt. Es behandelt gewissermaßen die erhabene und vollkommene Passion, die unsere Erlösung bewirkt hat.“
Mit diesen Worten beginnt der Prolog zum dritten Tag, an dem die Fortsetzung der Passion Christi gezeigt wird. Das exemplum Jesu, Marias und der Apostel soll auch bei den Zuschauern die Bereitschaft stärken, das eigene Leiden in der Gegenwart und in der Zukunft anzunehmen. Diese Haltung wird von A. Gre´ban häufig mit Geduld (,pacı¨ence‘) gleichgesetzt, einer Tugend oder Eigenschaft, die in den mittelalterlichen Tugendkatalogen einen festen Platz hat, auch wenn sie nicht zu den antiken oder den paulinischen Kardinaltugenden gehört 44. Zwischen den Substantiven ,passion‘ und ,pacı¨ence‘ stellt Gre´ban eine offenkundige Beziehung her, wobei er eventuell voraussetzen kann, daß die Zuhörer aufgrund der Klangähnlichkeit einen Zusammenhang erkennen 45..,Pacı¨ence‘ wird beispielsweise im Paradies-Prozeß unter den Tugenden genannt, um derentwillen der Sohn Gottes mit der Erlösungstat beauftragt wird (A. G. 3144-47): Sapı¨ence:
Weisheit:
„[…] car il denote obeı¨ssance, humilite´ et pacı¨ence comme filz plain de charite´, et en son pere autorite´.“
„[…] denn er zeichnet sich durch Gehorsam, Demut und Geduld aus wie ein liebevoller Sohn, sein Vater dagegen hat die Autorität.
43
44 45
Aurelius Augustinus, Enchiridion de fide spe et caritate (II, 8). Handbüchlein über Glaube, Hoffnung und Liebe, Text und Übersetzung mit Einleitung und Kommentar von J. Barbel, Düsseldorf 1960, 30. Cf. Lexikon der christlichen Ikonographie, vol. 4, Rom [e. a.] 1972, col. 368. Die beiden Abstrakta leiten sich aus dem Verb pati (leiden) ab.
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Die qualitative Unterscheidung von Vater und Sohn hebt - nach der Erklärung von Sapı¨ence - die Einheit der Trinität nicht auf. Die gleichen Eigenschaften werden auch nach dem Tod Jesu gerühmt (A. G. 27 282-88): Prologue finable
Letzter Prolog
„[…] entendu le fait opportun de la parfaicte obedı¨ence que Jhesus tint en la presence de son pere, quant mort souffry, mirez vous en la pacı¨ence a laquelle, pour nostre offence, sa precı¨euse char ouffry.“
„[…] angesichts des vollkommenen Gehorsams, an den sich Jesus in der Gegenwart seines Vaters hielt, als er den Tod erlitt, betrachtet die Geduld, mit der er für unser Vergehen seinen kostbaren Leib opferte.“
An dieser Stelle geht der Kommentator noch einmal auf die Unteilbarkeit der Trinität ein; doch bleibt das Bild unvollständig, da er - im Gegensatz zu Thomas im dritten Buch der ,Sentenzen‘ - den Heiligen Geist nicht erwähnt 46. Pacı¨ence ist auch die Eigenschaft, die die Menschen beim Warten auf die Erlösung benötigen; „n’argüe point d’impacı¨ence“, „Suche keine ungeduldigen Argumente“, ermahnt Gott Vater die Menschheit, nachdem der Plan für die Erlösung gefaßt ist: „Le don de mercy t’est ouvert“, „Die Vergebung ist dir geschenkt“ (A. G. 3286 und 3289). Durch aufmerksames Anhören der biblischen Botschaft wird Geduld im Ertragen von Widrigkeiten erworben; dieses Versprechen gilt auch für das Publikum, das an den langen Aufführungen des Myste`re teilnimmt (A. G. 19 932-37): „Qui bien l’escoute et bien l’entend, a nul mal faire ne pretend, mais juge tout plaisir mondain mauvais, decepvable et soubdain, et n’est adversite´ si forte que tout pacı¨anment ne porte.“
„Für den, der aufmerksam und gut zuhört, nicht die Absicht hat, etwas Unrechtes zu tun, und jedes weltliche Vergnügen als schlecht, enttäuschend und vergänglich ansieht, gibt es kein noch so widriges Schicksal, das er nicht in Geduld ertragen kann.“
VI. Die Dauer der Myste` res Während die frühen und anonymen französischen Passionsspiele sich auf die Leiden Christi und seinen Tod konzentrieren und kurze Episoden auf der Bühne zeigen, die mit ,lebenden Andachtsbildern‘ vergleichbar sind, wird das Geschehen in den beiden ersten großen ,Myste`res de la Passion‘ von E. Mercade´ und A. Gre´ban in den weiten Kontext einer vergangenen und gegenwärtigen Weltund Heilsgeschichte eingeordnet. Die Hoffnung auf das Versprechen Gottes, seine in Sünde gefallene Schöpfung zu erneuern, wird zum zentralen Thema in einer von Krieg, Verrat und Katastrophen heimgesuchten Epoche. Gleichwohl 46
Thomae Aquinatis Scriptum super sententiis, d. 1, no. 6 (nt. 29), 4: „[…] dicimus quia nihil operatur Filius sine Patre et Spiritu sancto, sed una est horum trium operatio indivisa et indissimilis.“
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ist in diesem Zeitsystem eine gewisse Asymmetrie zu erkennen, da das zukünftige Geschick der Christenheit und das Jüngste Gericht in den hier behandelten großen ,Myste`res de la Passion‘ nicht thematisiert werden 47. Daß sich der Blick - anders als in den frühen Passionen - nicht mehr ausschließlich auf das Leiden des Gottessohnes, sondern auch auf das irdische Elend der Menschen richtet, läßt auf eine neue Bewertung des Heilsgeschehens schließen. Von dem verzweifelten Warten der Verstorbenen auf Erlösung ist ausführlich berichtet worden; doch auch das Leben auf der Erde nach der Vertreibung aus dem Paradies, die Krankheit des Lazarus, die Verirrungen der Maria Magdalena und die Verzweiflung des Judas werden realistisch in zahlreichen und langen Szenen dargestellt, die in dieser Arbeit nicht gleichermaßen berücksichtigt werden konnten. Ein lohnendes Thema wäre eine Untersuchung des Augenblicks der Bekehrung als ,Kairo´s‘ bei Maria Magdalena und anderen Freunden Jesu 48. Die Autoren E. Mercade´, A. Gre´ban und auch Jean Michel, der Verfasser des dritten großen Myste`re, sind bestrebt, ein möglichst vollständiges Bild der biblischen Botschaft und des christlichen Glaubens zu vermitteln. Ihr Ziel, durch viele gute Argumente zahlreiche Menschen zu überzeugen, führt zu einer beträchtlichen amplificatio der Texte. So findet man im Werk von A. Gre´ban eine Fülle von disputationes, die im Dienste der persuasio geführt werden. VII. Ende und Verbot der Myste` res In dem umfassenden Bestreben, ,alles zu sagen und alles zu zeigen‘, verbinden die Autoren des Myste`re metaphysische Spekulation mit großen Effekten, moralische Reflexion mit burlesken Einlagen. Diese Form des geistlichen Dramas ist nach Ansicht von Bernard Faivre „der letzte gemeinsame Nenner, auf dem sich die intellektualisierte Religion der Theologen und die instinktive Religiosität des Volkes treffen“ 49. Am Beispiel des Myste`re als einer Literatur- und Theatergattung des späten ,Mittelalters‘ wird die Problematik einer exakten Grenzziehung zwischen den Epochen erkennbar. In derselben Zeit, in der Leonardo da Vinci in Frankreich an seinen naturwissenschaftlichen Forschungen und technischen Projekten arbeitet, wird die mittelalterliche Tradition des Geistlichen Spiels weitergeführt. Gleichwohl kommt das Verbot von 1548, das den Myste`res offiziell ein Ende setzt, nicht unerwartet 50. Die Gründe, die das Parlament von Paris zu diesem Schritt bewogen haben, werden höchst unterschiedlich beurteilt. Pierre Bordier, 47
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Das Jüngste Gericht wird beispielsweise in Le Jugement dernier (Lo Jutgamen General) drame provencX al du XVe sie`cle, ed. M. Lazar, Paris 1971, thematisiert. Cf. G. Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt 2006, 82: „Es ist klar, daß die messianische ,Heilung‘ im kairo´s stattfindet.“ Faivre, Le the´aˆtre de la grand-place (nt. 14), 83. Der Text des arreˆt von 1548 ist abgedruckt bei Faivre, Le the´aˆtre de la grand-place (nt. 14), 84-85.
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Brigitte Stark
der die inhaltlichen Qualitäten der Spiele sehr hoch einschätzt, betont, daß man das Urteil zum Schutz der öffentlichen Ordnung und nicht aus theologischen Erwägungen erlassen habe 51. Dagegen vermutet Bernard Faivre, daß die Myste`res mit dem Beginn der religiösen Auseinandersetzungen ihre Grundvoraussetzung, nämlich den gemeinsamen Glauben der Gesellschaft verloren hätten 52. Für die Protestanten seien die apokryphen und profanen Elemente der Stücke ein Ärgernis, die Katholiken hingegen sähen in der Kritik der Protestanten einen Anlaß zu größter Wachsamkeit. Aus diesem Grund seien die Aufführungen fortan inakzeptabel. Diese Beurteilung mag für die großen Städte zutreffen, in den Provinzen überlebt das Myste`re nicht nur die imaginäre Grenze zwischen Mittelalter und Renaissance, es erfreut sich - wie Ch. Chocheyras am Beispiel von Dauphine´ und Savoyen nachweist - bis weit ins 18. Jahrhundert hinein großer Beliebtheit 53. „Personne ne croit plus que l’arreˆt de 1548 ait tue´ les myste`res : ils ont continue´ d’eˆtre joue´s et d’eˆtre imprime´s.“ - „Niemand glaubt mehr, daß die Verordnung von 1548 die Myste`res umgebracht hat: sie sind weiter gespielt und gedruckt worden.“ 54
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Bordier, Le Jeu de la Passion (nt. 36), 752 sqq. Faivre, Le the´aˆtre de la grand-place (nt. 14), 83. J. Chocheyras, Le The´aˆtre Religieux en Savoie au XVIe sie`cle, Gene`ve 1971, XV-XVI; id., Le The´aˆtre Religieux en Dauphine´, Gene`ve 1975. R. Lebe`gue, La trage´die religieuse en France, the`se de doctorat, Paris 1929. Der Frage, ob es heute - wieder - Myste`res in Frankreich gibt, konnte ich aus Zeitgründen bisher nicht nachgehen. Die Passionsspiele, die im Internet aufgeführt sind, finden in Deutschland, Österreich und Spanien statt. Bisher habe ich nur einen einzigen Hinweis aus Frankreich gefunden: Die Passionsspiele in Masevaux (Haut-Rhin), die seit 60 Jahren an den fünf Fastensonntagen vor Ostern auf deutsch (!) gespielt werden. Sie wurden 1930 von Abbe´ Schmidlin verfaßt und gelten als ,Monumentalwerk in 12 Akten‘, da sie nahezu fünf Stunden dauern. Informationen zu den Aufführungen findet man unter *http://www.volkstanz.com/ag/rundbrief/rb87blickzaun2. html+. Ob die modernen Stücke von Intention und Inhalt her den französischen Myste`res entsprechen, ist fraglich, doch ist das Thema der Passion offensichtlich von langer Dauer.
„como falcone che per paicX a mosso sia“: Gleichnishafte Zeitdarstellung in ,De arte saltandi et choreas ducendi‘ von Domenico da Piacenza * Patrizia Procopio (Berlin) Mit dem ,De arte saltandi et choreas ducendi‘ von Domenico da Piacenza, der um die Mitte des 15. Jahrhunderts als Tanzmeister und -theoretiker sowie Komponist am Hofe der Este in Ferrara tätig war, realisiert sich der erste Versuch der theoretischen Systematisierung der Tanzkunst 1. Erstmals wird hier die Bewegung des Körpers einer rationalen Untersuchung unterzogen und das tänzerische Geschehen als etwas betrachtet, das eher dem intellektiven denn dem körperlichen Bereich angehört. Damit wird die Phase der theoretischen Überlegung zu einer notwendigen Bedingung der praktischen Erfahrung. Diese Geisteshaltung spiegelt sich im Aufbau des Traktates wider, in dem auf einen theoretischen Abschnitt, in dem Prinzipien und Normen der Tanzkunst dargelegt werden, ein zweiter Abschnitt folgt, der praktischen Zwecken gewidmet ist und die Beschreibung von 22 Tänzen enthält, die zumeist von Domenico mit eigener Musik unterlegt sind 2. *
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Die deutsche Fassung des vorliegenden Textes wurde mit Hilfe von Carola Grossmann und Thomas Gilbhard aus dem Italienischen übersetzt und von der Autorin nachfolgend revidiert. Der ,De arte saltandi et choreas ducendi‘ oder ,De la arte di ballare et danzare‘ (im folgenden ,De arte saltandi‘) wird als codex unicus in Paris, Bibliothe`que nationale, fond. it. 972, aufbewahrt. Zur Provenienz cf. G. Mazzatinti, Inventario dei Manoscritti italiani delle biblioteche di Francia, I: Manoscritti italiani della Biblioteca Nazionale di Parigi, Roma 1886, insbesondere LXV-LXVI. Die Literatur über Domenico da Piacenza und den ,De arte saltandi‘ ist vergleichsweise beschränkt. Für biographische Notizen zu Domenico und seinen Beziehungen zum Hofe der Este mag hier ein Hinweis auf den Eintrag s. v. von A. Ascarelli in: Dizionario Biografico degli Italiani, vol. 40, Rom 1991, 654-656, genügen. Für die handschriftliche Überlieferungsgeschichte der frühen Tanztraktatliteratur bildet der Aufsatz von F. A. Gallo, Il „ballare lombardo“ (circa 1435-1475): i balli e le basse danze di Domenico da Piacenza e di Guglielmo da Pesaro, in: Studi Musicali 8 (1979), 61-84, noch immer den unverzichtbaren Ausgangspunkt. Von ,De arte saltandi‘ liegen drei moderne Editionen vor: D. Bianchi, Un trattato inedito di Domenico da Piacenza, in: La Bibliofilia 65 (1963), 109-149; D. R. Wilson, Domenico da Piacenza (Paris, Bibliothe`que Nationale, MS ital. 972), Cambridge 1988 [Typoskript]; A. W. Smith, Fifteenth-Century Dance and Music. Twelve Transcribed Italian Treatises and Collections in the Tradition of Domenico da Piacenza, Stuyvesant-New York 1995, vol. 1, 5-67. Der Nutzen dieser bisherigen Editionen wird freilich durch nicht wenige paläographische und linguistische Mißverständnisse beeinträchtigt. Eine neue kommentierte Edition wird unterdessen von der Autorin des vorliegenden Beitrags vorbereitet. In seinem strukturellen Aufbau folgt der ,De arte saltandi‘ somit durchaus den mittelalterlichen Musiktraktaten, deren Zweiteilung gemäß einem aristotelischen Ansatz seine Rechtfertigung fin-
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Wie der Autor eingangs erklärt, ist es seine Absicht, „tractare del moto corporeo“ 3, das heißt, von der körperlichen Bewegung zu handeln. Die Untersuchung der Bewegung des Körpers, die neben einem Regelwerk eher technischer Natur abgehandelt wird, weist zwei wesentliche Momente auf: Gegenstand der Untersuchung ist in erster Linie die körperliche Bewegung an sich in ihrer expressiven Modalität - eine Lehre von der Bewegung, die mit stilistischen Implikationen versehen ist. In einem zweiten Moment richtet sich die Untersuchung dagegen auf die Bewegung des Körpers in ihrem Bezug auf etwas, genauer gesagt auf die Interaktion der körperlichen Bewegung mit einer qualitativ anderen Art der Bewegung: jener des Klanges der Instrumente. Es handelt sich hierbei um einen Einsatz des Körpers rein technischer Art, um eine Art der Zusammenarbeit in der Ausführung komplexer rhythmischer Kombinationen, an denen der Tänzer sich beteiligt, indem er seinen Körper nicht anders einsetzt als der Musiker, der eine Stimme in einem polyphonen Gewebe ausführt 4. Als Voraussetzung jeder Reflexion wird mit einer explizit zitierten Aristotelesstelle im Traktat das Bewußtsein bestimmt, daß „tutte le cosse se corompono e guastase se le sono conducte e menate indivise, cioe` per le operatione extreme: e la mezanitade conserva“ 5, was heißt, daß alle Dinge zugrunde gehen und sich schädigen, wenn sie ins Extrem geführt werden, und nur das Mittelmaß bewahrt werden muß. Aus der Übernahme dieses Konzeptes durch Domenico kann abgeleitet werden, daß die Tanzkunst nicht an sich negativ ist, sondern wie alle Dinge negative Formen annehmen kann, wenn sie nicht tugendhaft ausgeführt wird, sich also von den Grenzen entfernt, die der gesunde Menschenverstand setzt. In diesem Sinne rät Domenico, daß auch diese besondere Tugend dem Mittelmaß entsprechend praktiziert werden soll. Wie auch aus anderen Stellen des Traktates hervorgeht, ist die aristotelische Lehre ein grundlegender Bezugs-
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det. Cf. e. g. Johannes de Muris, Notitia artis musicae, ed. U. Michels (Corpus Scriptorum de Musica 17), Roma 1972, 48: „Quoniam tamen ars est universalium, experimentum vero singularium, universalia praesupponunt singularia, igitur ars experimentiam praesupponit […] Igitur necessarium est in una quaque arte habere primo theoricam, practicam convenienter, ut illud, quod scitum est in universali, ad singulare valeat applicari […].“ De arte saltandi, fol. 1r. Ein ähnliches Verfahren, das auf der Überlagerung differierender rhythmischer Modelle der einzelnen Stimmen basiert, findet sich bereits in der im 13. Jahrhundert entwickelten Modalrhythmik. Cf. G. A. Anderson, Johannes de Garlandia and the Simultaneous Use of Mixed Rhytmic Modes, in: Miscellanea musicologica 8 (1975), 11-31. Wenngleich in anderer Weise, nämlich durch die Alternanz von Mensurzeichen statt durch combinationes modorum sich vollziehend, findet die Überlagerung der diversen Mensuren in den unterschiedlichen Stimmen in der Musik des 14. und 15. Jahrhunderts statt; eine Praxis, welche im Laufe der Zeit zu immer komplexeren Formen tendierte. Domenico da Piacenza hatte jedenfalls ausreichend Vorbilder in der Musikpraxis, bei denen er Anregung finden konnte und welche sich aufgrund des gemeinsamen Ausgangsmateriales, nämlich der Dauer, ohne Schwierigkeiten auf die choreutische Technik übertragen ließen. De arte saltandi, fol. 1r. Es handelt sich, wie Domenico selbst an dieser Stelle sagt, um „lo 2º del Heticha“, genauer gesagt um eine Paraphrase von Nikomachische Ethik II, 1106b11-12.
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punkt für das entstehende System der Tanzkunst 6. Insbesondere ist es der Begriff des ,Maßes‘ (mexura), der im Zentrum der Abhandlung steht und der somit die theoretische Reflexion über die Kunst des Tanzes von innen heraus belebt 7. Von den diversen Anwendungen, die der Begriff der mexura im ,De arte saltandi‘ erfährt, soll nun im folgenden insbesondere der stilistische Aspekt der theoretischen Regel unter dem Gesichtspunkt ihrer praktischen Umsetzung berücksichtigt werden. Es geht dabei - um einen Ausdruck aus der Rhetorik zu entlehnen, der im Rahmen einer Diskussion über die Expressivität des Körpers jedoch einschlägig ist - um das Gebiet der rhetorischen actio; und wie Cicero dazu weiter ausführt: „est enim actio quasi sermo corporis.“ 8 Zwei für die Untersuchung der Bewegung besonders aufschlußreiche Beispiele seien hierfür angeführt. Domenico da Piacenza wählt für die Erklärung einiger Eigenschaften der Bewegung des Körpers innerhalb der choreutischen Ausführung exemplarische Bilder: Zum einen eine ruhige, wellenartige Bewegung, die ihm dazu dient, Regelmäßigkeit und Kontinuität darzustellen, zum anderen, auf einen teils mythologischen Bilderschatz zurückgreifend, eine plötzliche Immobilität, Resultat des versteinernden Anblickes des Medusenhauptes; darauf folgt antithetisch der ebenso plötzliche Flug eines Falken, der im Begriff ist, sich auf seine Beute zu stürzen. Diese beiden letzten Bilder - Erstarrung und Falkenflug - bringen auf exzellente Weise die Dynamik der Unterbrechung eines rhythmischen Flusses und seine plötzliche Wiederaufnahme zum Ausdruck. Beide Beispiele erscheinen auf unterschiedliche Weise besonders bezeichnend: Zum einen das Bild der Wellenbewegung dadurch, daß es als Träger eines eher technischen Wertes die Wiederholung in der Zeit vereint mit der Opposition von Hebung und Senkung und somit die beiden grundlegenden Prinzipien der rhythmischen Signifikanz erkennen läßt 9. Dagegen ist das andere reich an ex6
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Der Rekurs auf aristotelisches Gedankengut als auctoritas zieht sich wiederholt durch den Traktat, sowohl anhand expliziter Zitate wie auch impliziter Bezugnahmen. Die expliziten Zitate beziehen sich allesamt auf die ,Ethik‘, insbesondere das erste, zweite und zehnte Buch (cf. De arte saltandi, fol. 1rv, 2rv ); außerdem sind nicht unerhebliche Bezugnahmen auf die ,Physik‘, insbesondere deren viertes Buch (fol. 2v ), sowie auf das dritte Buch von ,De anima‘ (fol. 2r ) auszumachen. Für eine detailliertere Auseinandersetzung hinsichtlich des Gebrauchs und der Bedeutungsnuancen, die das Konzept der ,mexura‘ hier erfährt, verweisen wir auf unseren Artikel Alcune considerazioni sul concetto di misura nel De arte saltandi et choreas ducendi di Domenico da Piacenza, in: Schifanoia. Notizie dell’Istituto di Studi Rinascimentali di Ferrara (im Druck). Cicero, De oratore III, 59, 222. Für eine Definition des Rhythmus, die sich aus der antiken Theorie des Aristoxenus herleitet, cf. R. Westphal, Aristoxenos von Tarent, Melik und Rhythmik des classischen Hellenentums, Hildesheim 1965 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1883), vol. 1, 5: „Ist eine unserem Sinne wahrnehmbare Bewegung eine derartige, dass die Zeit, welche von derselben ausgefüllt wird, nach irgend einer bestimmten erkennbaren Ordnung sich in einzelne kleinere Abschnitte zerlegt, so nennen wir das einen Rhythmus“. Im Rahmen einer sprachgeschichtlichen Betrachtungsweise zum Terminus r«yqmo¬w ist zudem bemerkenswert, daß die Studien größtenteils zu der Annahme neigen, im Suffix -qmo¬w sei das Prinzip der regelmäßigen Wiederholung implizit, so wie das Fließen (aus r«e¬v) für den Terminus r«yqmo¬w im ganzen kennzeichnend sei. Cf. E. Wolf, Zur Etymologie von r«yqmo¬w und seiner Bedeutung in der älteren griechischen Literatur, in: Wiener
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pressiven Konnotationen, die mit der Beredsamkeit des Körpers verbunden sind, und steht daher einem rhetorisch-stilistischen Kontext gedanklich näher. Domenico da Piacenza war von der Absicht geleitet, einige der wichtigsten rhythmisch-stilistischen Aspekte der choreutischen Kunst mit größter Klarheit darzulegen, um ihre Übertragung in den Bereich der praktischen Erfahrung zu erleichtern. Beim Einsatz des rhetorischen Kunstgriffs der similitudo waren insbesondere zwei Elemente förderlich: Zum einen die dem Rhythmus eigene Besonderheit, dem Bereich des Raumes und dem der Zeit zugehörig zu sein; zum anderen die expressive Kraft des Bildes, das durch die Beschreibung evoziert und durch das kommunikative Mittel der Ähnlichkeit verstärkt wird, wobei sich die Figur der Ähnlichkeit wie eine deskriptive Pause in die verbindende Textur der theoretischen Weisung einfügt. Was das erste Beispiel betrifft, dasjenige der Wellenbewegung, fungiert der auf der Ähnlichkeitsbeziehung basierende Vergleich als visuelle Unterstützung bei der Erklärung eines stilistischen Merkmals, welches in dem Ausdruck „azilitade e mainera corporea“ 10 bereits angelegt ist. „E nota che […] e` bisogno avere una grandissima e zentile azilitade e mainera corporea. E nota che questa agilitade e mainera per niuno modo vole esser adoperata per li estremi, ma tenire el mezo del tuo movimento che non sia ni tropo ni poco, ma cum tanta suavitade che pari una gondola che da dui rimi spinta sia per quelle undicelle quando el mare fa quieta segondo sua natura, alcX ando le dicte undicelle cum tardeza e asbasandosse cum presteza, sempre operando el fondamento de la causa cioe` mexura, la qualle e` tardeza ricoperada cum presteza.“ 11
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Studien 68 (1955), 99-119. Nach Wolf bezeichnet r«yqmo¬w „mit deutlicher Beziehung auf die Welle das gleichmäßige Auf und Ab“ (107). Ohnehin scheint das Bild von der Wellenbewegung von alters her gerade mit der Tanzkunst verbunden. Wie Wolf mit Bezug auf die platonischen Nomoi II, 653e ausführt, wird der r«yqmo¬w im Zusammenhang mit den chorischen Kunstwerken „öfters in einem Sinn verwendet, der die Tanzbewegungen einzuschließen scheint“ (op. cit., 115). Aus einigen sprachlichen Beobachtungen kann Wolf folglich schließen: „Diese untrennbare Gemeinschaft von hörbarem Takt [ a«rmoni¬a ] und sichtbaren Tanzbewegungen liegt nun eben dem urprünglichen Sinn von r«yqmo¬w viel näher und ist wohl auch der Ursprung der Metapher“ [scil. der Chorbewegung als Wellenbewegung], so daß man „bei den Figuren des Chortanzes an Wellenbewegungen denken konnte“ (op. cit., 116). Ein solcher Vergleich zwischen Wellenbewegung einerseits und Chorbewegung/Körperbewegung andererseits würde durchaus noch weitere Ausführungen verdienen; hier sei nur angefügt, daß in der griechischen Literatur die Welle häufig als Metapher der Bewegung fungiert, wie aus einer Untersuchung von Bruno Gentili über die Schiffs- und Meeresmetapher hervorgeht (B. Gentili, Pragmatica dell’allegoria della nave, in: id., Poesia e pubblico nella grecia antica, Rom-Bari 1984, 257-283, insbesondere 260): „L’onda metaforizza il movimento […] nell’Iliade (15, 381 sq.) i Troiani che si abbattono sul muro sono come una grossa ondata (me¬ga ky˜ ma) che s’abbatte sulla murata di una nave […] nei Sette a Tebe di Eschilo […] il coro delle vergini descrive la sciagura della guerra che s’abbatte sui Tebani (v. 758 sq.): ,un mare di mali sospinge l’onda (cioe` l’onda dei guerrieri), l’una ricade, l’altra solleva la triplice cresta […]‘.“ Hier wird also erneut das Heben und das Senken der Welle betont. Mit dem schwer zu übersetzenden Ausdruck ,mainera corporea‘ als einer stilistischen Kategorie ist das Körperverhalten gemeint. De arte saltandi, fol. 1v.
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„Und merke, daß man eine sehr große und liebenswürdige Gewandtheit und körperliche Manier haben soll. Und diese Agilität und körperliche Manier soll auf keinen Fall ins Extrem gebracht werden, sondern man soll die Mitte der Bewegung halten, damit es weder zuviel noch zuwenig sei, sondern mit soviel Anmut, daß es wie eine Gondel erscheint, die von zwei Rudern angestoßen durch jene kleinen Wellen gleitet, wenn das Meer seiner Natur gemäß ruhig ist, wobei die besagten Wellen sich mit Langsamkeit anheben und mit Geschwindigkeit sich wieder niedersenken, dabei immer die Grundlage der Ursache verwirklichend, das heißt das Maß, welches Langsamkeit mit nachgeholter Geschwindigkeit ist.“
Domenico schien das Gleiten einer Gondel, die sacht von einer sanften Wellenbewegung geschaukelt wird, wenn das Meer seiner Natur gemäß ruhig ist, aus gutem Grund das angemessene Bild, um die Idee einer gleichmäßigen Kontinuität zu vermitteln 12. Bemerkenswert ist jedoch an dieser Stelle nicht so sehr die Dringlichkeit einer Untersuchung der ,mexura‘ innerhalb der Bewegung im allgemeinen. Vielmehr interessiert hier jenes Detail der Modalität, durch die sich jene ,mexura‘ ereignet; sie besteht im Verhältnis zwischen der ,tardeza‘, das heißt der Langsamkeit des sich Hebens der Wellen, und der ,presteza‘, das heißt der Schnelligkeit ihres darauf folgenden Sinkens: eine Dynamik also, die schließlich im Ausgleich aufgeht. Dieses Verfahren verweist auf den Bereich der rhythmisch-metrischen Disziplin, insofern die Variation der Dynamik der körperlichen Bewegung alle Erfordernisse zu erfüllen scheint, um als ein räumliches Analogon jenes partikulären stilistischen Aspektes der klassischen Theorie der Rhythmik (beziehungsweise der Metrik) zu gelten, welche sich durch eine dynamische Variation der Diktion anhand von Verzögerung und Beschleunigung der Diktionszeit auszeichnet. Dies betrifft beispielsweise die Variation in der Ausführungszeit des Teils eines Versfußes, bei der die Zugehörigkeit zu einem Genus bewahrt bleibt, wozu Aristides Quintilianus in seinem Traktat ,De musica‘ ausführt: „Rhythmische ,Fortschreitung‘ bzw. Zeitmaß [ aœgvgh¬ ] ist die Schnelligkeit oder Langsamkeit der Zeiteinheiten (-werte). Z. B. wenn wir die Verhältnisse, in denen die Senkungen zu den Hebungen stehen, zwar unverändert aufrecht erhalten, aber die Größenwerte jeder einzelnen Zeiteinheit verschieden vortragen.“ 13 Entsprechend dem Maß, das durch den Versfuß gegeben wird, ist das, worauf es ankommt, der Erhalt des festgelegten Verhältnisses zwischen dem ansteigenden Moment der Arsis und der entgegengesetzten Bewegung des Abstiegs, der Thesis, und nicht die Dauer der einzelnen Teile des 12
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Man erinnere sich hier auch an die exemplarische Bedeutung, die Platon den geordneten und gleichmäßigen Bewegungen beimißt (e. g. in Nomoi VII, 790c-791a; Timaios 80a-b) sowie an die unter dem Namen des Aristoteles überlieferten Problemata, XIX, 38. Aristides Quintilianus, De musica I, 19, ed. R. P. Winnington-Ingram (Bibliotheca Teubneriana), Leipzig 1963, 39; der deutsche Wortlaut folgt der Ausgabe Aristeides Quintilianus, Von der Musik, eingeleitet, übersetzt und erläutert von R. Schäfke, Berlin 1937, 226. Zu diesem Thema ist grundlegend: L. E. Rossi, Metrica e critica stilistica. Il termine ,ciclico’ e l’aœgvgh¬ ritmica, Rom 1963, insbesondere 55-63: L’a«gvgh¬ ritmica, und 77-88: App. I (Dizione e tempo di dizione), mit umfangreich kommentierten bibliographischen Hinweisen.
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Versfußes, die dagegen einer gewissen Flexibilität unterliegen. Das sich Heben mit Langsamkeit und das sich Senken mit Schnelligkeit, von der im zitierten Passus des ,De arte saltandi‘ gehandelt wird, also die beiden Bewegungsrichtungen des Tänzers ,nach oben‘ und ,nach unten‘, vollziehen sich offensichtlich in einem Kontext von vorherbestimmten Zeitmaßen, von denen nicht abgewichen werden darf. Von daher erklärt sich die notwendige Anpassung. Ebenso bleibt in dem Beispiel des Aristides Quintilianus das Verhältnis von Arsis und Thesis unverändert, unabhängig von der jeweiligen Kürze oder Länge der Zeiteinheiten 14. Es handelt sich in beiden Fällen um ein ähnliches Verfahren der Handhabung der Dauer innerhalb einer Dauer. Eine weitere Erwägung führt zur Betrachtung des Verhältnisses von festem Maß und der Dynamik von Hebung und Senkung, in der sich zwei Elemente gegenüberstehen: ein festes Element, durch das vorgegebene Maß bestimmt, welches es einzuhalten gilt, und ein bewegliches, welches sich durch die Anpassung der Geschwindigkeit von Hebung und Senkung ausdrückt. In dieser zusammenführenden Gegenüberstellung beider Elemente kann man ein grundlegendes Prinzip der musikalischen Theorie des Aristoxenos wiedererkennen, gemäß welcher die Musik aus dem Verständnis zugleich bleibender und beweglicher Elemente besteht 15. Es fällt also dem Ausgleich zwischen Hebung und Senkung zu, das Einhalten des Maßes zu garantieren, wobei das Stabile ebenso wie das Mobile für das Verständnis der Musik unerläßlich sind. Das zweite Beispiel läßt sich insbesondere mit der bereits erwähnten ,Beredsamkeit des Körpers‘ verbinden. „Chi del mestiero vole imparare“ - so fängt dieses zweite Gleichnis an - „bisogna danzare per fantasmata“, „Wer diese Kunst erlernen will, muß per fantasmata tanzen“: „e nota che fantasmata e` una presteza corporalle la quale e` mossa cum lo intelecto dela mexura […] facendo requia a cadauno tempo che pari haver veduto lo capo di meduxa, como dice el poeta, cioe` che facto el motto sii tutto di piedra in quello instante et in instante mitti ale como falcone che per paicX a mosso sia.“ 16 „und merke, daß fantasmata eine körperliche Schnelligkeit ist, die unter Beachtung des Maßes geschieht. Dabei macht man während einer jeden Zeiteinheit einen Halt, als habe man, wie der Dichter sagt, das Haupt der Medusa gesehen: das heißt, nachdem man eine Bewegung gemacht hat, sei man in diesem Augenblick wie zu Stein erstarrt, und im nächsten Augenblick hebe man die Flügel wie ein Falke, der von einer Beute in Bewegung gesetzt wird.“
Zu Stein erstarren und plötzlicher Falkenflug sind also die beiden Gleichnisse, die Domenico wählt, um die Dialektik von Anhalten und Fortsetzung der Bewegung darzustellen. Dabei stellt das ,danzare per fantasmata‘ gerade das genaue 14
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Von der Notwendigkeit eines Ausgleichs innerhalb der Metrik spricht auch M. F. Quintilianus, Institutio oratoria IX, 4, 84-86. Aristoxeni Elementa Harmonica II 33, rec. Rosetta da Rios (Scriptores Graeci et Latini Consilio Academiae Lynceorum Editi), Rom 1954, 43. De arte saltandi, fol. 2r.
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Gegenteil des vorhergehenden Bildes dar: In einem dynamischen Gegensatz wird dem beruhigenden Bild der Wellenbewegung ein Gleichnis entgegengestellt, welches die Überwindung oder Durchbrechung der Regelmäßigkeit veranschaulicht. Im Bestreben, Unbestimmtheit zu vermeiden, betont Domenico, daß die körperliche Schnelligkeit „cum lo intelecto dela mexura“, das heißt „durch das Erkennen des Maßes“ erfolgen soll. Nicht nur die Regelmäßigkeit, sondern auch die dialektisch sich durch plötzliches Anhalten und Fortsetzen der Bewegung vollziehende Unregelmäßigkeit sind Frucht einer maßvollen Tätigkeit des Intellektes. Das Tanzen ,per fantasmata‘ ist nur anscheinend Frucht eines emotionalen Ereignisses: Der gemessene Ablauf, welcher Träger einer präzisen expressiven Bedeutung ist, stellt vor allem einen Seinsmodus der körperlichen Bewegung dar, einer Bewegung, die zudem derartig eng mit der diesbezüglichen musikalischen Mensur verbunden ist, der „bassadanza“, daß Antonio Cornazano, Schüler Domenicos, humanistischer Hofmann und selbst Autor eines Tanztraktates, zu der Äußerung veranlaßt wurde: „Die Lehrmeister solcher Bagatellen und Fußstampfer mögen also schweigen, denn nur diese Art [i. e. ,danzare per fantasmata‘] ist edel, und zieht man von dieser die Bassadanza ab, so verfällt man in gemeine Bewegungen, und der Tanz verliert seine natürliche Beschaffenheit.“ 17 In der rhetorischen actio galt es vor allem im erhabenen Stil (stilus gravis) als äußerst effektiv, die Uniformität der Diktion zugunsten einer Redeweise zu brechen, in der die einzelnen Elemente der Sprache durch wahrnehmbare Zeitintervalle getrennt wurden: Die Unterbrechung wurde dabei eher durch die Regeln der Kunst auferlegt als durch die Natur, die Sätze eher durch die Logik des Rhythmus als durch den Zufall des Atems gemessen 18. Die Unterbrechung erfolgte an einem präzisen und wohl überlegten Punkt der sprachlichen Darstellung: der Rhythmus des Diskurses sollte nicht gleich einem Fluß ununterbrochen strömen, sondern durch expressive Pausen alterniert werden 19. Zu dieser bewußten Handhabung des Redeflusses, der von Fall zu Fall den jeweiligen Umständen angepaßt werden muß 20, gesellt sich eine Beredsamkeit, die in der Lage 17
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Antonio Cornazano, Libro dell’arte del danzare, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Cod. Capponiano 203, fol. 7v: „Tacciano adonche gli mastri di baghatelle et frappatori di pedi che sol questa maniera e` signorile et extracta la bassadancX a di questa una, si cambia in vili movimenti et perde la proprieta` sua naturale.“ Es gibt noch ein Detail, das die ethische Bewertung der Bassadanza betrifft, denn diese ist das Bezugsmaß des Tanzens ,per fantasmata‘ und stellt daher - am Gipfel der Hierarchie des choreutischen Mensuralsystem als ,de le mexure regina‘, als ,Königin der Mensuren‘ - das choreutische Äquivalent des erhabenen Rednerstils dar. Cf. Cicero, De oratore III, 49, 190; idem, Orator 56, 187 und 68, 228; M. F. Quintilianus, Institutio oratoria IX, 4, 61. Cf. Cicero, De oratore III, 48, 186: „Numerus autem in continuatione nullus est; distinctio et aequalium aut saepe variorum intervallorum percussio numerum conficit; quem in cadentibus guttis, quod intervallis distinguuntur, notare possumus, in amni praecipitante non possumus.“ Cf. op. cit., III, 45, 177; ibid. 55, 210-227; M. F. Quintilianus, Institutio oratoria XI, 3, 6167: „Iam enim tempus est dicendi, quae sit apta pronuntiatio: quae certe ea est, quae his, de quibus dicimus, adcommodatur […].“
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ist, die Affekte zu erregen, weswegen die rhetorische Lehre rät, auf visiones zu rekurrieren, auf das, was „fantasi¬aw Graeci vocant […], per quas imagines rerum absentium ita repraesentantur animo, ut eas cernere oculis ac praesentes habere videamur, has quisquis bene conceperit, is erit in adfectibus potentissimus“ 21. Die Hervorbringung von Bildern seitens des Vorstellungsvermögens (womit der Terminus fantasi¬a verbunden ist) sowie das Verhalten, das auch emotional auf diese Produkte der Imagination reagiert, so als wäre das Abgebildete wirklich gegenwärtig, sind hinreichend bekannte Themen, die Aristoteles in seiner Schrift ,De anima‘ erörtert. Im dritten Buch heißt es: „Die Denkkraft denkt die Formen an Hand von Vorstellungsbildern, und da ihr in diesen das zu Erstrebende und zu Meidende beschlossen ist, so wird sie auch ohne Wahrnehmung, wenn sie bei den Vorstellungsbildern weilt, in Bewegung versetzt.“ 22 Indem also das Tanzen als ein ,rhetorischer Akt‘ begriffen werden kann, bewegt sich die Tanzkunst nach den Richtlinien der Redekunst, so daß die Beredsamkeit des Körpers mehr der Tätigkeit des Intellektes statt der Zufälligkeit bloßer Bewegung anvertraut wird; eine Eloquenz mithin, die in dem ,danzare per fantasmata‘, also in dem Rekurs auf Vorstellungsbilder (visiones respektive fantasi¬aw), ihre vollkommenste actio findet. Gleichwohl verlangt das bisherige Panorama der Deutung noch nach einiger Ergänzung. Wie sich gezeigt hat, stellt die aristotelische Erkenntnistheorie einen obligatorischen Zugang für jeden dar, der sich mit dem Tanzen ,per fantasmata‘ des ,De arte saltandi‘ beschäftigt 23, aber diese stilistische Besonderheit des Traktates von Domenico da Piacenza ist als Teil eines komplexeren Systems zu betrachten und vor allem nicht dem ihr zugehörigen Kontext zu entreißen. Es 21 22
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M. F. Quintilianus, Institutio oratoria VI, 2, 29-30. Aristoteles, De anima III. 7, 431b2-5. Das Zitat folgt der Ausgabe Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, ed. H. Flashar, vol. 13: Über die Seele, übersetzt von W. Theiler, Berlin 7 1986, 62. Der Passus lautet in lateinischer Übersetzung: „Species quidem igitur intellectiuum in fantasmatibus intelligit, et sicut in illis determinatum est ipsi imitabile et fugiendum, et extra sensum cum in fantasmatibus fuerit, mouetur “ (zitiert nach Thomae de Aquino Opera omnia iussu Leonis XIII edita, t. 45, 1: Sentencia libri de anima, Rom-Paris 1984, 229). Hinsichtlich der Beziehung dieser aristotelischen Schrift zur Musikgeschichte cf. im allgemeinen M. Wittmann, Vox atque sonus. Studien zur Rezeption der Aristotelischen Schrift „De anima“ und ihre Bedeutung für die Musiktheorie (Musikwissenschaftliche Studien 4), Pfaffenweiler 1987, 2 voll. Ein interessanter Beitrag zur Deutung des ,danzare per fantasmata‘ im Lichte der aristotelischen Erkenntnis- und Gedächtnistheorie stammt jüngst von G. Agamben, Nymphae, in: aut aut 321/ 322 (2004), 53-67 (eine deutsche Übersetzung ist nun auch zugänglich in: id., Nymphae, hg. und übers. von A. Hiepko, Berlin 2005, 10-28). Cf. außerdem S. Klotz, Matte Idealität. Beobachtung zu Schrift- und Verhaltensformen im Quattrocento-Tanz, in: J.-D. Müller (ed.), ,Aufführung‘ und ,Schrift‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit (Germanistische Symposien Berichtsbände 17), Stuttgart-Weimar 1996, 429-454. Des weiteren sind zu erwähnen die Arbeiten von I. Brainard, Die Choreographie der Hoftänze in Burgund, Frankreich und Italien im 15. Jahrhundert, Diss. Göttingen 1956, insbesondere 285-292, und R. zur Lippe, Naturbeherrschung am Menschen, vol. 1, Frankfurt am Main 1974, insbesondere Teil 2: Die Möglichkeit einer Einheit von Metrik und Mimesis, 159-227, welche die zentrale Rolle der ,posa‘ innerhalb der Dialektik von Anhalten und Bewegung des ,danzare per fantasmata‘ betonen.
Gleichnishafte Zeitdarstellung in ,De arte saltandi et choreas ducendi‘
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ist zu bedenken, daß die allererst entstehende Disziplin einer Tanzkunst an einem Mangel an Theorie litt. Diese Situation dürfte Domenico, der ja ebenso Komponist wie Tanztheoretiker war, zu einer natürlichen Übertragung von Methoden und Verfahrensweisen aus der bereits seit einigen Jahrhunderten bestehenden Musiktheorie veranlaßt haben, die ja bekanntlich wiederum ihrerseits Methoden und Verfahrensweisen aus der klassischen Rhetorik entlehnt hatte 24. Die Musiktheorie erweist sich also nicht nur als das grundlegende theoretische Bezugssystem des ,De arte saltandi‘, sondern mag zugleich eine bedeutsame Rolle in der Vermittlung und Aneignung der klassischen Kultur gespielt haben. Es sei hier auf einen Traktat zur Musiktheorie verwiesen, der genau zur gleichen Zeit in Ferrara niedergeschrieben wurde, als auch Domenico am dortigen Hofe der Este weilte. Es handelt sich um die ,Declaratio musicae disciplinae‘ von Ugolino da Orvieto, welche als eines der anspruchsvollsten Werke der Musiktheorie jener Zeit gelten darf 25. Das Proemium zum fünften Buch enthält Ausführungen mit deutlichen Anleihen aus der aristotelischen Erkenntnistheorie, die Domenico als direkte Anregung gedient haben mögen. Innerhalb einer Erörterung über die intellektive Tätigkeit der Seele wird die Funktion der fantasi¬a nachdrücklich betont. Ugolino exponiert hier mit Bezug auf das dritte Buch des aristotelischen ,De anima‘ die Theorie des intellectus agens und intellectus possibilis und kommt dabei auch auf die fanta¬smata zu sprechen. Der Übergang von dem Erkennbaren in potentia zum Erkennbaren in actu seitens des Intellektes geschieht „per specierum a fantasmate abstractionem“ 26. Indem sich also das Proemium zum fünften Buch der ,Declaratio musicae disciplinae‘ derart dem Thema der 24
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Zu der Beziehung von Musiktheorie und Rhetorik cf. W. Gurlitt, Musik und Rhetorik. Hinweise auf ihre geschichtliche Grundlageneinheit, in: Helicon 5 (1944), 67-86, nachgedruckt in: id., Musikgeschichte und Gegenwart. Eine Aufsatzfolge (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 1), Wiesbaden 1966, 62-81; von den zahlreichen Beiträgen von F. A. Gallo zu diesem Thema seien hier folgende genannt: F. A. Gallo, Pronuntiatio. Ricerche sulla storia di un termine retorico-musicale, in: Acta Musicologica 35 (1963), 38-46; id., Beziehungen zwischen grammatischer, rhetorischer und musikalischer Terminologie im Mittelalter, in: D. Heartz/B. Wade (eds.), International Musicological Society, Report of the Twelfth Congress Berkeley 1977, KasselBasel-London 1981, 787-790; id., La polifonia nel Medioevo (Storia della musica a cura della Societa` Italiana di Musicologia 3), Turin 21991 (engl. Übers.: Music of the Middle Ages II, Cambridge 1985). Cf. L. Lockwood, Music in Renaissance Ferrara 1400-1505, Cambridge (Mass.) 1984, 81: „Not only is the Declaratio one of the most ambitious and important efforts of the century to formulate knowledge of music comprehensively, but it is the only major work in music theory produced at Ferrara throughout the Middle Ages and the Renaissance“. Die Datierung der ,Declaratio musicae disciplinae‘ von Ugolino da Orvieto, der ab 1431 als Erzpriester an der Kathedrale von Ferrara wirkte, kann nur ungefähr auf die dreißiger und vierziger Jahre angesetzt werden. Cf. neben Lockwood, loc. cit., die Arbeiten von A. Seay, Ugolino of Orvieto, Theorist and Composer, in: Musica Disciplina 9 (1955), 111-166, und id., The Declaratio Musicae Disciplinae of Ugolino of Orvieto, in: Musica Disciplina 11 (1957), 126-133. Ugolini Urbevetani Declaratio musicae disciplinae, vol. 3, ed. A. Seay (Corpus Scriptorum de Musica 7), Rom 1962, 85: „Et sic intelligere nostrum est quoddam pati, quia intellectus noster prius est in potentia ad intelligendum intelligibilia quam sit in actu intelligendi, qui actus fit per specierum a fantasmate abstractionem“. Cf. auch ibid., 86.
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Patrizia Procopio
Tätigkeit des Intellektes widmet, dürfte dieses Werk des Ugolino da Orvieto eine nicht unbedeutende Anregung für Domenico dargestellt und zu der Ausarbeitung des Konzepts eines ,danzare per fantasmata‘ beigetragen haben, des wohl anspruchvollsten Aspektes in der Theoretisierung des Tanzes, den diese Kunsttheorie hervorgebracht hat. Der Versuch einer Rekonstruktion der Quellen und des historischen Kontextes des ,danzare per fantasmata‘ hat zu der Bestimmung von einigen Punkten geführt und erlaubt, einige Entwicklungslinien festzuhalten, wobei in der aristotelischen Theorie, wie sie nicht zuletzt in der ,Declaratio‘ des Ugolino da Orvieto übermittelt wird, der theoretische Bezugspunkt für die Kodifikation des ,danzare per fantasmata‘ ausgemacht werden konnte. Die klassische Rhetorik stellte ihrerseits durch die Lehre von der actio und ihren stilistischen Implikationen den Grund für eine adäquate Applikation dieses Theorems bereit, was auf der praktischen Ebene mit Hilfe der exemplarischen Bilder oder der gleichnishaften Redeweise von Medusenhaupt und Falkenflug umgesetzt wurde.
The Pictorial Representation of Timeless Reality in the Mozarabic Illuminations of the Beatus Commentary to the Apocalypse in Spain (ca. AD 900-1100) Antonina Sahaydachny (New York) I. Introduction The subject of this paper is the pictorial representation of visions of eternity - timeless reality - as revealed to the Seer, author of the Apocalypse, the sacred text also known as the ,Book of Revelation‘. The representations discussed below which date to between ca. 10th and 12th centuries are seen in illuminated copies of the late 8th century commentary to the Apocalypse ,Commentarius in Apocalypsin‘ (ca. 786) known as the ,Beatus‘ after its author Abbot Beatus of Lie´bana in Spain 1. Of the thirty-three extant copies of the Beatus, twenty-six copies are illuminated 2. Each manuscript is illustrated with numerous detailed images set between the biblical text and the accompanying commentaries. Approximately nine of these illuminated Beatus manuscripts are Mozarabic in style 3. This paper considers images from the Morgan Beatus, the Girona Beatus, and the Silos Beatus which date to between ca. 945 and 1109. 1
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The commentary has been edited: H. A. Sanders (ed.), Beati in Apocalipsin libri duodecim, Rome 1930; E. Romero Pose (ed.), Sancti Beati a Liebana Commentarius in Apocalypsin, Rome 1985, 2 voll.; E. Flo´rez, Sancti Beati Presbyteri Hispani Liebanensis in Apocalypsin, Madrid 1770. Quotations in English from the Apocalypse/Revelation which identify the subject of the images in this paper are from The New Jerusalem Bible, London 1985. The entire corpus of extant illuminated Beatus manuscripts has been published in: J. Williams, The Illustrated Beatus: A Corpus of the Illustrations of the Commentary on the Apocalypse, 5 voll., London 1991. The Mozarabic provenance of the authors, influences, and style of the Beatus manuscripts is the subject of debate because the origin and provenance of the term itself is not settled. Cf. E. Cabrera, Reflexiones sobre la cuestio´n moza´rabe, in: Actas del I Congresso Nacional de Cultura Moza´rabe, Co´rdoba 1996, 11-26. ,Mozarab‘ may derive from the Arabic word ,musta¤rab‘ for ,Arabized‘ but the reference is not found in contemporary sources. Historians use the term ,Mozarab‘ to describe individuals who remained Christian and observed the old Visigothic rite of the Church in the regions of Spain occupied by the Moors. Cf. F. Cabrol, Mozarabe (La liturgie), in: F. Cabrol/H. Leclercq (eds.), Dictionnaire d’arche´ologie chre´tienne et de liturgie, vol. 12, Paris 1935, 390 sqq. ,Mozarabic‘ was first applied in an art historical context in the early 20th century to Christian architecture dating to the 9th-11th centuries in southern Spain and in the repopulated North. Cf. M. Go´mez-Moreno, Igle´sias moza´rabes, Madrid 1919 [Reprint Granada 1998], 355-364 passim. See also: M. Go´mez-Moreno, Arte Moza´rabe, in: Ars Hispaniae 3 (1951), 394-406. His qualified use of the term ,moza´rabe‘ in the Beatus context raised many
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The word ,apocalypse‘ means ,revelation‘ or ,unveiling‘. The Apocalypse (ca. AD 92-96) - which is attributed to a Seer who was probably not the apostle and evangelist John - is part of the biblical tradition of visionary accounts of divine rescue during times of tribulation 4. The Lord directs the Seer to write to the faithful: „I will keep you safe in the time of trial“ (Rev. 3:10). This biblical tradition of visionary accounts includes, most notably, the Book of Daniel with which the Apocalypse is closely associated. In fact, a number of the surviving Beatus manuscripts contain a commentary on the Book of Daniel by St. Jerome entitled ,Commentarii in Danielem‘ (ca. AD 400) 5. The focus of the Apocalypse is a series of ,theophanies‘ or ,manifestations‘ of the Divine Presence which the Seer is told to record for the faithful throughout the world who await the Divine Coming. The faithful are represented by the seven churches of Asia which - the Seer learns in the vision - have been assigned seven messenger angels. The message conveyed in the visions is unsettling from a human standpoint because it portends the end of time and the beginning of eternity. The announcement that this omnipresent and omniscient Divinity is the Alpha and the Omega who comes for the Day of Judgment (Rev. 1:8) presents a prospect which the Seer and the reader contemplate with apprehension. The Seer is also made privy to the worship of this awesome Divinity by all creation. This eternal, heavenly worship of the Divine Presence resonates in the earthly liturgy. In describing the liturgy which connects heaven and earth, the Seer describes a vision of heaven on earth which is awe-inspiring, but also reassuring. In fact, the Seer is able to ,recognize‘ the Divine Presence precisely because of the liturgical character of the vision. It is the liturgical symbols that enable him to describe the vision successfully to the reader. Thus the theme of the Apocalypse is the existential connection between time and eternity as manifested in contacts between the Divine Presence and its creation. When the Seer enters the vision he transcends the realm of time and space and bridges heaven and earth by simultaneously inhabiting both realms. „Look, I [the Lord] am standing at the door, knocking“, relates the Seer, „If
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issues. Cf. M. Churruca, Influjo oriental en los temas iconogra´ficos de la miniatura espan˜ola, Siglos X al XII, Madrid 1939. See also: H. Schlunk, Observaciones en torno al problema de la miniatura visigoda, in: Archivo Espan˜ol de Arte 67 (1945), 241-265. More recent contributions on this point of Beatus terminology include: M. Mentre´, La peinture „mozarabe“, Paris 1984, 3 sqq.; J. Yarza Luaces, ¿Existio´ una miniatura moza´rabe?, in: Actas del I Congreso Nacional de Cultura Moza´rabe (see above), 53-71; I. G. Bango Torviso, El arte moza´rabe, in: ibid., 37-52. The use of the term ,Mozarabic‘ in this paper is limited to a consideration of distinct liturgy, color, costumes, and musical instruments as represented in the Beatus manuscripts. The majority of scholars do not believe that the author of the Apocalypse can justifiably be said to be a member of the Johannine School of writers responsible for the Gospel and Epistle of John. For a concise discussion, see: R. Brown, An Introduction to the New Testament, New York 1997, 802-805. Hieronymi Presbyteri Opera. Pars I. Opera exegetica 5: Commentariorum in Danielem libri III (Corpus Christianorum. Series Latina 75A), Turnhout 1991.
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any one of you hears me calling and opens the door, I will come in to share a meal at that person’s side“ (Rev. 3:20). From an earthly perspective, the Seer’s position is immediate yet distant and his visionary account is cryptic. Since the visions of the Seer transcend everyday human experience, they can only be represented in symbolic settings containing cultural idioms that ,suggest‘ a timeless, invisible reality. These cultural idioms link the eternal with the temporal and illuminate the relationship between the human and the divine. They symbolize the unity between humanity on the one hand, tied to time and culture; and divinity on the other hand, revealed in the mystical vision to the Seer. The artists who illustrated Beatus’ Commentary therefore faced the enormous challenge of representing invisible otherworldliness visually, in a form recognizable to their audience in 10th and 11th century Spain. They developed a visual language to communicate the vision of the Seer to the reader. To do this, they represented the Seer’s journey between time and eternity using native idioms of Visigothic and Mozarabic Spain, a multicultural society. They also used colors as prescribed for sacred themes by Isidore of Seville 6; traditional Romano-Visigothic costumes with historical connotations; the latest styles from Co´rdoba; luxurious textiles and patterns from Toledo; and exotic musical instruments from North Africa and beyond. The artists clearly labeled every important element in the painting which corresponded with the sacred text. Most importantly, they used the sacred symbols of their common liturgy, the Visigothic Mozarabic rite of Spain. For nearly three hundred years until the suppression of the Mozarabic rite 7, the liturgical representation of the Seer’s visionary account, by transcending time and space, enabled the Beatus artists to assist their contemporaries through the difficult pilgrimage of life on earth toward their eternal destination. In this manner the theme of this volume - The Being of Duration - is a concept which illuminates the temporal perspective of people in 10th and 11th 6
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The distinctive use of color in the Beatus is a subject of interest to specialists in many fields. Cf. M. Mentre´, La Peinture ,mozarabe‘, Paris 1984. See also: id., Le proble`me de la couleur dans la peinture mozarabe, in: Bulletin de la Societe´ nationale des antiquaires de France (1986), 60-66; H. Jantzen, Über Prinzipien der Farbengebung in der Malerei, in: H. Jantzen (ed.), Über den gotischen Kirchenraum und andere Aufsätze, Berlin 1951, 61-67. The Visigothic Mozarabic liturgy flourished in Spain for five centuries until it was suppressed beginning in 1071 with the introduction of the Roman rite in the monastery of San Juan de la Pen˜a on 22 March of that year. For an introduction to the Mozarabic liturgy, see: Cabrol, Mozarabe (La liturgie) (nt. 3), 390-491. See also: M. Fe´rotin, Liber Ordinum en usage dans l’e´glise wisigothique et mozarabe d’Espagne, Paris 1904. For a reconstruction of certain aspects of the Mozarabic liturgy, particularly during the Triduum in Holy Week, see: M. McGrory, Wolfram v. Eschenbach and Mozarabic Spain, Dissertation Columbia University (1969) [Mozarabic Rite]. For a study in manuscript texts and images of the transition from the Mozarabic liturgy „as it was practiced“ to the Roman liturgy „in the form in which it was introduced“, see: R. Walker, Views of Transition: Liturgy and Illumination in Medieval Spain, TorontoBuffalo 1998, 21-38, 103-120. See also: A. Ubieto Arteta, La Introduccio´n del rito romano en Arago´n y Navarra, in: Hispania Sacra 1 (1948), 299-324.
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century Spain. „Each time the spirit promises things to come,“ Beatus states, „he also relates the past and warns that what will occur in the future has [already] taken place in the Church“ 8. The Beatus Apocalypse captures the imagination of the reader who can fully appreciate the vision recorded in the sacred text through the eyes of the Seer 9. Thus the text of the Apocalypse and the artistic representation of the Seer’s vision, as combined in the Beatus, reflect parallel themes which preoccupied the artists and their contemporaries - life and death and the beginning and end of time. Among the Beatus illuminations two pictorial themes are especially striking and recur many times: the ,veiled theophany‘ and the ,unveiled theophany‘ 10. These two kinds of divine manifestation represent the twofold mystery of the Lord who descends from eternity in order to lift the time-bound world into eternity. They are the two ,moments‘ of divinity which establish the liturgical link between heaven and earth in the Apocalypse. The unveiled theophany the coming of the Lord in Majesty - is called Maiestas Domini. It is represented in the Beatus manuscripts as the Lord seated on the throne of judgment. The veiled theophany - Maiestas Agni - is the appearance of the Paschal lamb, symbol of the risen Christ. This image is usually represented as a lamb with a cross symbolizing the triumph over death and a book signifying that Christ is the Word of God. This paper will consider selected images of Maiestas Domini and Maiestas Agni from the Beatus manuscripts. In these representations of unveiled and veiled theophany, the artists portray the vision of timeless reality as a paradoxical connection between a distant, unapproachable Divinity and a Divinity which approaches the Seer in order to reveal itself. The Seer refers to this paradox when he states the following: „I saw that in the right hand of the One sitting on the throne there was a scroll […] sealed with seven seals […] But there was no one, in heaven, or on the earth, or under the earth, who was able to open the scroll and read it. I wept bitterly […] Then I saw a Lamb standing […] worthy to take the scroll and break its seals“ (Rev. 5:1, 3, 9). An examination of liturgical symbols in the Beatus Apocalypse and their connection to the Visigothic Mozarabic rite will shed light on this dichotomy. 8
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Sancti Beati a Liebana Commentarius in Apocalypsin, ed. Pose (nt. 1), 105: „Quotiens spiritus futura promittit, et praeterita narrat, et id futurum in ecclesia quod factum est praemonet.“ For a discussion of Beatus’ perspective on the Incarnation of Christ and the Second Coming as „overlapping of past, present, and future“, see: A. Scafi, Mapping Paradise. A History of Heaven on Earth, Chicago 2006, 106 sqq. Cf. A. Baloira Be´rtolo, El Prefacio del Comenta´rio al Apocalipsis de Beato de Lie´bana, in: Archivos Leoneses 71 (1982), 7-25. Cf. Brown, Introduction (nt. 4), 779: „Beyond the question of the writer’s intent the symbolism of apocalyptic compels imaginative participation on the part of the hearers/readers“. See also: J. Fried, Endzeiterwartung um die Jahrtausendwende, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 45 (1989), 281-473. For a comprehensive monograph on the subject of ,veiled‘ and ,unveiled‘ apocalyptic theophanies, see: F. van der Meer, Maiestas Domini. The´ophanies de l’Apocalypse dans l’art chre´tien, Citta` del Vaticano 1938.
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II. Beatus of Lie´ bana and His Commentar y to the Apocalypse The Apocalypse was an influential work in Spain. The 4th Council of Toledo officially declared in 633 that the Apocalypse was a canonical book of the New Testament text. Under the direction of St. Isidore of Seville, the council took the extraordinary step of decreeing the mandatory reading of the Apocalypse as part of the solemn liturgy at Easter 11. Accordingly, the Apocalypse was closely associated with the Visigothic Mozarabic liturgy. The Beatus artists incorporated the symbolism of apocalyptic representations into the traditional liturgy of Spain. This symbolism conveyed the timeless message of the Apocalypse to the monastic congregation who were acquainted with the significance of the Eucharistic liturgy, namely the reenactment of the mystery of the death and resurrection of Christ 12. In the monastery, copying and illuminating, as well as contemplation and reading of sacred texts - lectio divina - were devotional acts. While illuminating manuscripts, the artists developed a systematic vocabulary of color, image, spatial orientation, and chronology to bring the sacred text to life, to focus the reader on the message of revelation, and to inspire contemplation of the individual’s journey towards eternity. Maius, the master illuminator, writes: „As part of the adornment I have painted a series of pictures for the wonderful words of its stories so that the wise may fear the coming of the future judgment of the world’s end.“ 13 Sources suggest that Beatus was a monk, possibly an abbot, in the Benedictine monastery of San Martı´n de Turieno (later Santo Toribio), located in the valley of Lie´bana in the westernmost part of Cantabria 14. The location is isolated and few details of Beatus’ life are extant. It is not known whether he was one of the many Mozarabic monks who migrated North from the south of Spain which had been conquered in the late seventh century. However, it is known that 11
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Cf. J. Vives (ed.), Concilios visigo´ticos e hispano-romanos, Barcelona 1963, Concilio de Toledo IV. XVII. 14. See also: G. Martı´nez Dı´ez/F. Rodriguez, Coleccio´n Canonica Hispana 4. Concilios Galos Concilios Hispanos 1, Madrid 1984; R. Sabane´s i Ferna´ndez, Los Concilios Ilerdenses de la Provı´ncia Eclesia´stica Tarraconense en la Edad Media (a. 546-1460), Salamanca 2000; J. Ferna´ndez Alonso, La cura pastoral en la Espan˜a romano-visigo´tica, Rome 1955, 241-253. The Beatus manuscripts were usually commissioned for monasteries. Most Beatus manuscripts, including the three examined here, were created for a monastic congregation. Once produced, their precise function in the monastic setting remains unknown. There is no doubt they were treasured. The production of a Beatus with its many illustrations was a major undertaking which required rare talent and precious resources. Aside from being read in text and image, the many beautiful representations in a Beatus volume were sacred images to match the sacred text. As such, they had a visionary quality which must have transported the reader into another world. „Inter eius decus verba mirifica storiarumque depinxi per seriem. Ut scientibus terreant iudicii future aduentui.“ Transcription and translation by J. Williams in: Maius, A Spanish Apocalypse. The Morgan Beatus Manuscript, New York 1991, 12 and 25. For the life of Beatus, see: J. Yarza Luaces, Beato de Lie´bana. Manuscritos iluminados, Barcelona 2005, 39-45. See also: Williams, Illustrated (nt. 2), vol. 1.
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Beatus was a protagonist in important religious issues of his day in Spain which may have inspired him later in life to turn his attention to the Apocalypse and to the Commentary for which he is best known. When Adosinda, the widow of King Silo 15 of Astu´rias entered the convent in 785, Beatus was in attendance. Beatus is reputed to have written the first hymn alluding to St. James as the patron saint of Spain. This formal acknowledgment of the saint’s special status anticipated by some thirty years the ,proof‘ of Spain’s special connection to the Apostle known as ,Santiago‘. In 814 the tomb of St. James was ,discovered‘ to be in Spain. Beatus contributed to the Adoptionist controversy, an important theological dispute at the time. In the course of the dispute, Archbishop Elipandus of the powerful see of Toledo attacked Beatus as a disciple of the Antichrist. Beatus responded to this attack in ,Adversus Elipandum‘ in which he defended the theological position that Christ was equally the divine Son of God in his human nature and the Son of God in his divine nature - a central feature of the doctrine of divine redemption 16. After the year 800, contemporaneous sources do not reference Beatus. Beatus divided the Apocalypse for his commentary entitled ,In Apocalypsin‘ into seventy storiae using a North African edition of the Apocalypse instead of the commonly used Vulgate edition. A commentary or explanatio follows each storia. Beatus compiled these commentaries from the writings of Church Fathers, especially from the North African Tyconius, who wrote a late 4th century commentary to the Apocalypse 17. Occasionally, Beatus supplemented this compilation of patristic texts with his own commentary. Beatus‘ original manuscripts are lost. There was probably more than one version of his commentary during Beatus‘ lifetime. It is thought that the first version appeared ca. 776 and was followed by two more versions ca. 784 and 786 respectively 18. The later two versions were almost certainly illuminated. The reconstruction of the lost Beatus original is largely based on the analysis of later copies 19. Although most scholars 20 agree that there was an illustrated 15
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For the reign of King Silo and Adosinda, see the entry in: El texto de las cro´nicas de Alfonso III y Albeldense sobre los reyes en Santianes, in: J. Rodrı´guez Mun˜oz, Coleccio´n de textos y documentos para la historia de Asturias, vol. 1, Gijon 1990, 59. Elipandus claimed that Christ as man was the son of God by adoption rather than by nature. This position challenged the teaching that God had truly come to earth in the person of Christ. Cf. B. A. Watson Al-Hamdani, Beatus of Lie´bana versus Elipandus of Toledo. Beatus’s Commentary on the Apocalypse, in: Andalucı´a medieval (1978), 153-163. For Tyconius see: K.B. Steinhauser, The Apocalypse Commentary of Tyconius (Europäische Hochschulschriften. Reihe 13, Theologie 301), Frankfurt am Main-New York 1987. This chronology was proposed by Sanders (ed.), Beati in Apocalipsin (nt. 1), XV. Sanders also proposed that in the 3rd version in 786 Beatus included Jerome’s ,Commentarii in Danielem‘ and the Genealogical Tables that are contained in some extant Beatus copies. For a detailed discussion of the various proposals concerning versions of the original Beatus, see: Williams, Illustrated (nt. 2), vol. 1, 26. Cf. Williams, op. cit., 20. Studies of the illuminated Beatus, its origins and tradition, include the following: J. Domı´nguez Bordon˜a, Spanish Illumination, 2 voll., New York 1930; Churruca, Influjo (nt. 3); W. Neuss,
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prototype for the original Beatus, they disagree about the prototype. Two main contenders for this prototype are an illuminated Apocalypse from North Africa, a region which had close links with early Christian Visigothic Spain 21, and a fully illuminated North African copy of Tyconius’ commentary which found its way to Spain 22. This second prototype could explain why Beatus used a North African edition of the Apocalypse and not the Vulgate which was in common use in Spain. It also explains why Beatus closely followed Tyconius’ model when organizing the Apocalypse text for his commentary. Since uncertainty about the prototype of the original Beatus is compounded by the lack of any original Beatus manuscripts, there are also many theories about the model for the extant 10th and 11th century Beatus copies 23. The following four hypotheses have been proposed about 10th and 11th century manuscript copies of the Beatus in Northern Spain: (1) The Beatus illustrations are a corruption of a model which was based on a North African prototype dating to 4th-6th centuries 24; (2a) 10th and 11th century Beatus manuscripts represent stages of artistic development based on more than one 8th century original by Beatus and (2b) a ,new‘ style of Beatus illumination in the 10th century is attributable to a scribe other than Maius 25, the principal scribe of the oldest preserved copy; (3) An artistic renaissance in the Beatus tradition can be traced to the introduction of a ,new‘ style of Beatus illustration in early 10th century Northern Spain 26; and (4) The self-proclaimed ,new‘ style which rekindled the Beatus tradition in the early 10th century actually combined a traditional style with an innovative style of illustrating sacred texts such as the Beatus 27.
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Die Apokalypse des Hl. Johannes in der altspanischen und altchristlichen Bibel-Illustration. Das Problem der Beatus Handschriften, Münster 1931; P. Klein, Der ältere Beatus-Kodex Vitr. 142 der Biblioteca Nacional zu Madrid. Studien zur Beatus-Illustration und der spanischen Buchmalerei des 10. Jahrhunderts, Hildesheim-New York 1976, 2 voll.; and J. Williams, The Beatus Commentaries and Spanish Book Illustration, in: Actas del Simposio para el Estudio de los co´dices del „Commentario al Apocalipsis“ de Beato de Lie`bana, Madrid 1980, vol. 1. Neuss, Die Apokalypse des Hl. Johannes (nt. 20), 238 sqq. Neuss argues that the same texts would have circulated quite naturally between Latin North Africa and the Spanish peninsula. Cf. J. Williams, The History of the Morgan Beatus Manuscript, in: Maius, A Spanish Apocalypse (nt. 13), 19. Williams is of the opinion that a richly illustrated Tyconian prototype is a virtual certainty. Art historians since Neuss describe the Beatus manuscript tradition in terms of a ,family tree‘ divided into two stemmata or branches. Both stemmata are thought to have descended from an illuminated prototype. Cf. Neuss, Die Apokalypse des Hl. Johannes (nt. 20), 237 sqq. More recently, Klein proposed that Branch II is a revision of the earlier, less developed Branch I family. See Klein, Der ältere Beatus-Kodex (nt. 20), 298 sq. Williams is of the opinion that Maius himself is „a worthy candidate“ for this transformation of the Beatus tradition. He proposes that the Morgan Beatus may not have been Maius’ first Beatus, even as it was not his last. Cf. J. Williams, Illustrated (nt. 2), vol. 1, 20. Neuss, Die Apokalypse des Hl. Johannes (nt. 20), 243 sqq. Klein, Der ältere Beatus-Kodex (nt. 20), 298 sqq. Williams in: Maius, A Spanish Apocalypse (nt. 13), 20. Cf. E. Go´mez Moreno, Las miniaturas de la Biblia visigo´tica de San Isidoro de Leo´n, in: Archivos Leoneses 15 (1961), 77-85. She states (80): „Maius se jacta de haber inventado un estilo
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III. T he Beatus Manuscripts With the exception of a single folio from a lost copy of the Beatus 28, there is no extant record of Beatus manuscripts during the 150 years between the first appearance of the original Beatus ca. 776 and the appearance of the oldest extant Beatus in ca. 945. The earliest extant Beatus manuscript is the luminous Morgan Beatus 29. It dates to around the middle of the 10th century and is in the collection of the Pierpont Morgan Library (M.644) in New York City which acquired it in 1919 30. The painter and principal scribe of this Morgan Beatus, the master illuminator known as Maius, recorded his authorship on three occasions in the manuscript and left a detailed account of the circumstances surrounding its production in a colophon 31. According to his account, this Beatus was commissioned in about 940 by Abbot Victor of the monastery of San Miguel - probably the monastery of San Miguel de Escalada in the Leo´n region. San Miguel de Escalada was re-established in the early 10th century by Mozarabic monks from Co´rdoba who memorialized their arrival, reconstruction, and the consecration of the ancient sanctuary of San Miguel in a stone inscription over the door of the church 32. The Morgan Beatus is the only Beatus manuscript associated with this important monastery which apparently did not have its own scriptorium 33. The Morgan Beatus culminates in the richly illustrated ,Commentarii in Danielem‘ of St. Jerome. The lavishly illustrated Girona Beatus was produced ca. 975 in the kingdom of Leo´n, probably in the scriptorium of the monastery of Ta´bara in Astu´rias 34. The principal illustrator of the Girona Beatus is identified as ,En depintrix‘. This label indicates that the female artist whose name has been abbreviated as En was a recognized illuminator 35. The chief scribe, identified as Senior 36, collabo-
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para las ilustraciones del Apocalipsis […] Maius crea, en efecto, un arte novisimo y viejo a un tiempo.“ Silos, Biblioteca del Monasterio de Santo Domingo, frag. 4 (Silos fragment). Cf. Williams, Illustrated (nt. 2), vol. 1, 41. Cf. Maius, A Spanish Apocalypse (nt. 13), 12 sq. This volume also contains color plates of the entire codex. The images from the Morgan Beatus M.644 have been digitalized in their entirety by the Morgan Library. These images can be viewed on their website *www.morganlibrary.org+. On the subject of the Morgan Beatus dates, see: Klein, Der ältere Beatus-Kodex (nt. 20), 280 sqq. Maius signed the codex on three separate occasions. The epitaph ,Maius memento‘ appears on fol. 233. A colophon detailing the commission, execution, and purpose of Maius‘ illustrations appears on fol. 293. For a discussion of Maius and the production of the Morgan Beatus, cf. Williams in: Maius, A Spanish Apocalypse (nt. 13), 12-22. The inscription is now lost. Cf. M. Go´mez-Moreno, Igle´sias (nt. 3), 141-162 [San Miguel de Escalada]. Cf. Williams in: Maius, A Spanish Apocalypse (nt. 13), 15. Girona, Museu de la Catedral, Num. Inv. 7 (11), here referred to as Girona Beatus. Girona Beatus, fol. 284. Senior may be a reference to the scribe by his title in Minor Orders. In the Mozarabic rite, the minor ordination to custos librorum carried with it the appointment senior scribarum. Cf. H. Jenner,
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rated with a presbyter named Emeterius, a pupil of Maius 37. Unlike En, about whom we can only speculate, Emeterius left an ample record of himself and of the scriptorium at Ta´bara 38. He left a detailed illustration of the tower of the Ta´bara scriptorium in the Ta´bara monastery. In this painting Emeterius also painted a picture of himself at the writing table, with the inscription ,Emeterius [...] fatigatus‘ 39. It is known that the Girona Beatus was commissioned by Abbot Domingo; but it is not known to which monastery he belonged. Like the Morgan Beatus, the Girona volume also includes Jerome’s ,In Danielem‘ 40. The Silos Beatus 41 was jointly produced by the following three presbyters: Munnius, to whom all the titles and some of the ornaments can be attributed; Dominico who, together with Munnius, copied the manuscript in 1091; and Petrus, who then painted the miniatures with meticulous attention to iconographic detail. Petrus records that he completed the illustrations in 1109. This date was eighteen years after the completion of the text and is indicative of a delay in the figurative illustration of the text. This delay may be connected to uncertainty about textual illustration, in wake of the suppression of the Mozarabic liturgy 42 which has been characterized as „a period of monastic and liturgical upheaval in Spain“ 43. The manuscript of this Beatus probably originated in the scriptorium of the Silos monastery 44 which was then known as San Sebastia´n
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Mozarabic Rite, in: C. G. Herbermann [e. a.] (eds.), The Catholic Encyclopedia, vol. 10, New York 1911, 622. Emeterius identified himself as Maius’ pupil in a colophon in the Ta´bara Beatus. See Williams, Illustrated (nt. 3), vol. 1, 78, and vol. 2, 43 sqq. Madrid, Archivo Histo´rico Nacional, Cod. 1097B, fol. 168. Cf. Williams, Illustrated (nt. 2), vol. 1, 15-16, and vol. 2, passim. Ta´bara Beatus, fol. 167r. Iconographic and stylistic analysis of every illustration and ornament in the Girona Beatus is contained in the commentary volume to the Facsimile Edition: [Girona, Museo Diocesano, nu´m. Inv. 7 (11)] Beato de Lie`bana de Girona, M. Moleiro (ed.), Barcelona 2005. Cf. C. Miranda Garcı´a-Tejedor, An Iconographic and Stylistic Analysis of the Girona Beatus, in: Beatus of Lie´bana Codex of Gerona, M. Moleiro (ed.), Barcelona 2004, 19-248. London, British Library, Add. MS 11695, hereinafter referred to as the Silos Beatus. A detailed analysis of the Silos Beatus is contained in the commentary volume to the Facsimile Edition: [London, British Library, Add. MS 11695] Beato de Lie´bana. Codice del Monasterio de Santo Domingo de Silos, M. Moleiro (ed.), Barcelona 2004. Cf. M.C. Vivancos, Historical and Codicological Aspects of the Silos Beatus, in: Beatus of Lie´bana, Codex of Santo Domingo de Silos Monastery, M. Moleiro (ed.), 13-69. For an analysis of each illustration and ornament, see ´ . Franco, The Illustrations in the Santo Domingo de Silos Beatus. Authors, Style, and there: A Chronology, 71-235. See also: Williams, Illustrated (nt. 2). For an exposition of this possibility in light of the fact that only non-figurative decorations were included in the text as completed in 1091, and in the context of related manuscripts in the Silos library, see: Walker, Views of Transition (nt. 7), 128. R. Walker, The Wall Paintings in the Panteo´n de los Reyes at Leo´n. A Cycle of Intercession, in: The Art Bulletin 82 (2000), 200. For the Silos scriptorium, see: A. Boylan, Manuscript Illumination at Santo Domingo de Silos (Xth to XIIth Centuries), UMI Dissertation 1992. See also: Boylan, The Library at Santo Domingo de Silos and its Catalogues (Xth to XVIIIth Centuries), in: Re´vue Mabillon, nouvelle se´rie
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de Silos and which was subsequently renamed in the 12th century after the renowned Abbot San Domingo de Silos. The Silos Beatus was housed for centuries in the monastery after which it is named, until it was removed from Spain in the 19th century. It is now in the British Library (Add. Ms. 11695). IV. T he Pictorial Re presentation of the Apocalypse The challenge for Beatus artists was to represent the abstract theme of the Seer’s journey to eternity in such a way as to draw the reader into the apocalyptic visions and thereby into eternity itself. „I saw a door open in heaven,“ the Seer relates, „and a voice speaking […], ,Come up here and I will show you what is to take place in the future‘ “(Rev. 4:1). In the Girona Beatus the representation of ,St. John Entrusted with Writing Revelation‘ (Rev. 1:10-20) occupies two folios (Fig. 1), an indication of the importance the artist attached to this subject of the Seer’s journey between heaven and earth. In this image, the left panel represents earth. The slightly elevated right panel represents heaven. The image of the Seer between the two panels, is „a rhetorical link known as transitio“ 45. Accordingly, the Seer is dressed in the traditional short Visigothic cloak of a wayfarer, described by St. Isidore as ,mantum hispani ‘ 46. With one hand, the Seer points to heaven on his left; and with the other hand he points to earth on his right. As he stands with one foot on earth and steps up to heaven with the other foot, the Seer bridges the distance between heaven and earth. Following the sacred text, the reader first follows the Seer’s gaze as he hears the voice of the Lord which draws him into the vision of heaven in the folio at right (Rev. 1:10). Here, the Seer is seen lying prostrate before the Lord who is seated on a throne. In keeping with the solemnity of the heavenly setting, the prostrate Seer is dressed in a long formal tunic of the time. His halo resembles a turban which was often worn with this formal style of Mozarabic dress 47. The Lord reaches out to touch the Seer’s head with his right hand; in his left hand, he holds the key to life and death. An angel stands formally in attendance behind the throne, as the Seer is commanded to write an account of the vision for the seven churches of Asia Minor. From his position in transitio, the Seer points to the vision of the veiled altar on earth in the folio at left. Here, the seven churches are represented in a richly decorated architectural setting which contains seven horseshoe arches on two
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3, 64 (1992), 59-102. For a history of the Silos monastery, see: M. Fe´rotin, Histoire de l’Abbaye de Silos, Paris 1897. Garcı´a-Tejedor, Iconographic and stylistic analysis (nt. 40), 80. Cf. C. Bernis Madrazo, Indumentaria medieval espan˜ola, Madrid 1956, 59 (Etimologiae, 19, 24.15): „,Mantum hispani‘ vocant quod manus togat tantum, est enim breve amictum.“ For headwear worn with this Mozarabic style of dress, see: Bernis-Madrazo, Indumentaria medieval espan˜ola (nt. 46), 61 passim.
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levels. Four arches are on the lower level and three arches are on the upper level. Behind each arch, a heavy, colored drape parts to reveal a golden T-shaped altar. Over each one of the seven altars is inscribed the name of one of the seven churches in Asia Minor. These liturgical references were familiar to the monastic congregations who read the Beatus. The veiled T-shaped altars identify the Mozarabic liturgical context. The split level architecture with multiple altars establishes the chapel as Mozarabic; so also the apse in this image 48. It is believed that access to the upper level of Mozarabic chapels attached to monasteries was probably restricted to the monks and that part of the lower level of the chapel by the entrance might have functioned as a shelter for wayfaring pilgrims. In this representation, the lower position of the left panel of earth could be a reference to the ground level of a chapel. When the Seer ,steps up‘ to the heavenly panel at right, the familiar gesture would have symbolic significance to the monks who ministered to the faithful on the lower level of the chapel and themselves worshipped on the upper level. This important representation of the Seer’s vision at the beginning of the Girona Beatus establishes the liturgically expressed symmetry between heaven and earth which is a recurring theme in the Apocalypse. On earth, the seven churches are symbolically represented as timeless sacred spaces. In the heavenly scene, a dome rises as if in a church over the prostrate Seer, the Lord, and the attending angel. From this heavenly dome seven glowing candelabra are suspended. These candelabra, reminiscent of upside down arches, mirror the arches over the altars of the seven churches on earth. Seven stars represent seven messenger angels who convey the Seer’s account of the revelation to the earthly realm (Rev. 1:20). In this representation, the artist has unequivocally conveyed the message of the sacred text: the portals which open to reveal the mysteries of eternity to the Seer also open to reveal the mysteries of the liturgy to the reader. Using these portals, the Seer observes the timeless heavenly liturgy performed in the eternal realm. Conversely, the Divine Presence traverses these same portals communicating with the Seer - and the reader - through the celebration of the heavenly liturgy on earth. Thus the visionary journey of the Seer to heaven and back to earth is liturgically recreated for the reader. V. Unveiled T heophany: Ascending Horizons and the Descending Mandorla Among the most distinctive features of the Beatus representations are broad horizontal bands of vivid color that define the many horizons of time and space 48
Cf. A. Rodrı´guez G. de Ceballos, El Reflejo de la liturgia visigo´tico-moza´rabe en el arte espan˜ol de los siglos VII al X, in: Miscelanea Comillas 43 (1965), 309-314 passim.
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described in the Apocalypse. In the representations of theophany, these vibrant and broad layered bands are in stark contrast to the recessed space in the mandorla. In the Beatus manuscripts, the mandorla is usually a darkened or contrasting space, which reveals a luminous Divine Presence bordered by stars. In the Silos Beatus, Petrus’ representation of the Seer’s ,Vision of God before the opening of the Seven Seals‘, features six such horizontal bands (Fig. 2). The bands ascend from the bottom register - a bright orange band in which the Seer, labeled John, lies asleep or in ecstasy. The same vivid color is seen above the reclining Seer in the fifth register where the orange band contains seven lit lanterns, signifying the seven righteous spirits of God whose deeds shine like a light. Descending through these horizontal bands in a mandorla is the Divine Presence seated on a throne 49. The enthroned figure holds the Book of Judgment with his left hand and extends his right hand in a gesture of blessing. Also enclosed within the sacred space of the mandorla is a dove signifying the presence of the Holy Spirit - the font of divine wisdom and courage for souls. The mandorla is encircled by stars and its descent is marked by radiating sparks. A fine thread winds its way through the horizontal bands, linking the dove in the mandorla with the reclining figure of the Seer in the bottom register. The bands of color symbolize time ascending beyond the horizon through the starry skies into eternity. The thread from the dove, which touches the Seer’s mouth, symbolizes the divine inspiration behind the account of the Seer and establishes a link between the unveiled Divine Presence in the mandorla and the earthly realm of the Seer. Like the sacred enclosure of the mandorla, the cloud is an ancient symbol of theophany 50. The sacred text states „He is coming in the clouds. Everyone will see him“ (Rev. 1:7). Two contrasting representations of this scene from the Apocalypse portray the cloud as a mandorla. They highlight the inherent challenge in depicting the contact between heaven and earth at the moment of the Divine Coming. In the Morgan Beatus Christ appears in an undulating cloud with the Book of Judgment in his hand, descending to earth through a background of brightly colored bands (Fig. 3). The rapturous crowd awaiting the Divine Presence in this representation reaches out to touch the cloud. The crowd wearing Visigothic Mozarabic street garb - knee length garments and draped capes - parts as the cloud descends and they receive the vision directly into their midst. It is a moment of intimacy characterized by the spontaneous gestures and expressions of the individuals in the crowd. 49
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For a discussion of the vertical symbolism of ascent and descent, see: G. de Champeaux/ S. Sterckx, Introduction au monde des symboles (Introduction a` la nuit des temps 3), St.-Le´gerVauban 1966, 161-207. See also: van der Meer, Maiestas (nt. 10), 315-397. For a study of the symbolism of clouds in the apocalyptic setting, see: van der Meer, Maiestas (nt. 10), 178-198.
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By comparison, the same scene in the Silos Beatus (Fig. 4) is hierarchical and conservatively expressed. Here, the Divine Presence descends in a mandorla which is a symmetrical, ornate, and stylized cloud flanked by an array of six angels radiating outward from around the cloud. Waiting for this manifestation of the Divine Presence is a large crowd symmetrically arranged in rows. In this representation, the crowd does not look at the vision or at the cloud. Instead, all individuals in the crowd face the reader with fixed expressions, as the Divine figure descends over them and comes towards the reader. In this image, the moment of Divine Coming is solemn and awesome, as the crowd appears to hold their breath.
The Divine Presence in the Circle of Eternity Circular bands of contrasting colors occasionally appear in the Beatus in representations of the heavenly sphere where they distinguish discrete levels of the celestial hierarchy and frame the mandorla containing the Divine Presence. The two page illustration of heaven at the beginning of the Girona Beatus consists of such concentric circular bands of color, arranged to portray the hierarchy of the heavens (Fig. 5). At the center, in an orange colored space surrounded by a circle of luminous stars which are set against a dark blue sky, the Lord sits on a throne. In either hand, he holds a lance and a shield. He is flanked by the sun and the moon. The remaining concentric bands in this representation of heaven show shining stars, worshipping angels, flying spirits, and other beings engaged in acts of worship. These beings and their heavenly roles are identified in the inscriptions which circle each hierarchical band of color 51. Winged beasts holding books are placed close to the circle of divinity. Their celestial ring is inscribed thusly, „spiritus volant et altisimo adorant “, and „spiritus volant et sedenti in trono magnificant “. Radiating from the center of the Divine Presence are six vertical lines containing biblical passages. Each line radiates through the circles and points to a man of particular virtue described in the passage. The outermost heavenly circle, where winged angels gesture, appears to spin, as one angelic arm points toward the heavenly sphere while the other arm is extended outward. In this way, the angels in this outermost circle bridge the activity in heaven with the unseen space beyond the heavenly sphere. Once again, this representation reinforces the twofold apocalyptic theme: the Divine descent from heaven which raises all creation in an ascent to heaven.
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The descriptive inscriptions read, respectively: „spiritus volant/spiritus volant/spiritus volant […]“ and „lumen stelle/lumen stelle/lumen stelle […]“ and „legiones angelorum, legiones angelorum, legiones angelorum […]“. Cf. Garcı´a-Tejedor, Iconographic and stylistic analysis (nt. 40), 31.
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Angels From ancient times, angels attended every encounter of human beings with the Creator 52. Some angels were messengers between God and humanity - the angelic connection between earth and heaven and between time and eternity. Others angels, like Cherubim and Seraphim, could actually approach the Divine Presence 53. For the reader of the period for whom these representations of the Seer’s journey were created, it was not possible to imagine a pilgrimage in heaven or on earth without an angelic guide for the journey. Nor was it possible to imagine heaven without a host of angels „thousands upon thousands“ (Dan. 7:2-10). In the Beatus, the circle of angels is a compass for the Seer on his visionary journey. For, in the Apocalypse, the presence of worshipping angels indicates to the Seer that he is in the Divine presence. Angels show him how to respond to what he sees in the unknown eternal realm. An angel is present when the Seer is told to record the visions 54. An angel makes the announcement calling for the scroll of revelation to be unsealed, as the Seer weeps 55. An angel tells the Seer that his account of the visions is true and accompanies him as he receives his reward 56. An angel re-directs the Seer’s gaze to the Divine Presence when he mistakenly begins to worship the angel 57. Two Beatus representations describe such angelic activity by representing the relationship of angels to the Seer and the relationship of angels to all creation. These representations depict the role of angels worshipping the unapproachable Divine Presence and the role of angels as personal guides and messengers ministering to individuals destined for eternity. The first image from the Girona Beatus - ,The Vision of the Ancient of Days‘ - from the Book of Daniel spans two pages (Fig. 6). Here bands of color are replaced by a yellow light which illuminates the central circle of heaven and the flat field representing earth. This image of heaven shows a vast angelic assembly dressed in richly colored dark robes which circles the Divine Presence in opposite directions as indicated by many alternately fluctuating wings. Through chant and movement, the vision 52
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For the theology of angels and its historical significance in the ancient liturgy, especially the Mozarabic and Gallican rites, see: E. Peterson, Das Buch von den Engeln. Stellung und Bedeutung der heiligen Engel im Kultus, München 1955. For this reason, Cherubim and Seraphim are traditionally represented with six wings: two wings to shield their eyes; two wings to cover their feet; and two wings with which to fly. The additional wings shield them in the face of the awesome Divine Presence. „He sent an angel to make it [revelation] known to his servant John“ (Rev. 1:1). „Then I saw a powerful angel who called with a loud voice ,Who is worthy to open the scroll and break its seals?‘ “ (Rev. 5:2). „The Angel said to me, ,All that you have written is sure and will come true […]‘ “ (Rev. 22:6). „I knelt at the feet of the angel […] but he said to me ,Do no such thing […] God alone you must worship.‘ “ (Rev. 22:8-9).
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focuses the reader on the stillness of the centrally placed sphere where the Divine Presence emerges from darkness holding the Book of Judgment. Here, angels are eclipsed by the divine sphere. This vision is described in the following biblical citation around the mandorla: „[he] sits in judgment and the books are opened and thousands upon thousands minister to him“ (Dan. 7:2-10). One angel in particular wears a conical hat or helmet - a mark of leadership or command - indicating that he is probably the Archangel Michael 58. He is located in close proximity to the reader in the outer circle of heaven. His position in the angelic hierarchy - symbolized by his headdress and his prominence among the angels - is highlighted by an opening in the angelic formation over which he presides. This visual detail suggests he protects the just souls who struggle to enter heaven where he stands 59. Outside the heavenly circle, located at the four corners of earth are four angel-like figures placed on wheels signifying the chariot which, according to the prophet Ezekiel, would bring the Messiah (Ez. 1:4-12). These figures blow trumpets in four directions to symbolize the four corners of the earth. ,Ventus‘ is written over each figure symbolizing the four winds which blow from each of the four trumpets. Beside each of these angels is one of four beasts representing the empires of Babylon, Alexander, Persia, and Rome, a reference to once powerful empires described in scripture. These images highlight the paradox of the Divine Coming where the heavenly and earthly realms intersect. The four beasts are scattered in four directions as they try to return to the center of the image. The four flying ,ventus‘ figures on wheels are turned toward earth as they blow trumpets towards heaven. This scene represents the Divine Coming into human history in the form of the Messiah and its transformative role illuminating all creation. The Divine Presence, be it in heaven or coming to earth, is rarely depicted in the Beatus without a company of heavenly beings. So too, the Seer is always accompanied by an angel to guide him on the journey. In the Morgan Beatus, for example, the Seer is accompanied by an angel to guide and instruct him at the conclusion of his spiritual journey, as he accepts the divine reward for writing his account (Fig. 7). The vision is depicted against bright bands of contrasting color which emphasize the many levels of time and space which he has traversed on his apocalyptic journey. Centered at the top of the representation is the Maiestas Domini set in a circular mandorla of bright orange background surrounded by a starlit dark circle. Presenting the divine mandorla are two angels symbolizing Cherubim and Seraphim. The Lord is enthroned and in his left hand he holds a book to which he points with his right hand. This scene brings
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This cap is reminiscent of the distinctive, ,exotic‘ cap which is found in some mozarabic depictions of royalty during this period. Cf. Bernis Madrazo, Indumentaria medieval espan˜ola (nt. 46), 59. Yarza Luaces, Beato de Lie´bana. Manuscritos (nt. 14), 141.
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to mind the Mozarabic chant at Easter which uses the images of Seraphim and Cherubim in a similar context. Beneath the mandorla is a contrasting band of green. The Seer lies prostrate before the angel and touches the angel’s feet in a gesture typical of a worshipper. The Seer’s account reads, „I knelt at the feet of the angel who had shown them [the visions] to me, to worship him; but he said, ,Do no such thing: I am your fellow servant and the fellow servant of your brothers the prophets and those who keep the message of this book. God alone you must worship‘ “ (Rev. 22:8-9). The angel gently lifts the Seer as if to direct him to the mandorla directly in back of him. Beneath this heavenly scene, the artist shows the Seer on earth, holding the book he has just written. Beside the Seer are the arches of the seven churches. Like the representation of the seven churches in the transitio scene at the beginning of the Girona Beatus, discussed above (Fig. 1), the seven arches are on two levels in which a base of four arches supports three arches. Once again, the artist reminds the reader of the great distance between heaven and earth and of the close relationship between Creator and creature. VI. Veiled T heophany: Maiestas Agni The Liturgy of the Lamb in Heaven The Paschal Lamb appears for the first time in the Apocalypse when the vision reveals that the Lamb alone can open the scroll of the seven seals containing the mystery of revelation (Rev. 5). The Seer describes a fantastic vision which is the symbolic enactment of the mystery of the death and resurrection of Christ celebrated in the liturgy of the Mass. In this vision, the Lord enthroned in Majesty holds the scroll of the seven seals which no creature can open. The Seer weeps because the mystery cannot be revealed. The Paschal Lamb - the symbol of Christ - then appears with seven horns and seven eyes symbolizing the seven spirits that the Lord has sent over the earth. Ancients inform the Seer that only the Lamb can open the scroll. The lamb appears - Maiestas Agni and takes the scroll. He is worshipped by four living creatures - a man, a lion, a bull, and an eagle - symbolizing the four evangelists, Matthew, Mark, Luke, and John. The creatures prostrate themselves in worship before the lamb (Rev. 5:8). This vision is depicted in the Morgan Beatus in a dome-like circle ringed by twenty-four stars (Fig. 8). It is presented to the reader by four open-winged angels at the edges of the dome. Two of these four angels are labeled ,Cherubin‘ and ,Serafin‘. They have wings made up of six discrete sections, possibly a variation on the six wings traditionally identifying these angels who may approach the Divine Presence. The pictorial image is best understood when the reader imagines the circle to be suspended in the air like a dome over the earth and reads accordingly
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from the center outward. At the center of the dome is the mandorla in which the Lamb is depicted in ritual pose as it rises on its hindquarters, raises its right front leg forward, and places its left leg back to support a mounted cross. This is an iconic depiction of the Paschal Lamb - the liturgical symbol of the risen Christ in triumph over death 60. The reader on earth ,looking up‘ to the heavenly dome sees the four winged creatures (quatuor animalia) prostrate before the mandorla of the lamb in the form of a cross. Each of the creatures is mounted on a wheel of Ezekiel symbolizing the chariot of the Messiah. At the foot of each of the winged creatures lies the figure of an ancient who is prostrate in adoration of the lamb. Four pairs of ancients dressed in the tunic and short cloak of Visigothic royalty are symmetrically arranged among the four winged creatures 61. One individual in each pair of ancients sits and the other individual stands. As the labels indicate, some ancients hold vials, some swing thuribles of incense, and others play musical instruments. The musical instruments are the harps described in the sacred text. The lute-like instruments, also represented here, are known to have been used in the Mozarabic liturgy, especially in the absence of an organ 62. They are possibly of North African origin, although a Persian or Arab provenance is possible 63. Beyond the dome are two inscriptions placed respectively between each of the two pairs of angels supporting, or presenting, the heavenly dome. The first inscription - ,angeli tronum tenentes‘ - describes the scene as represented from the sacred text. The second inscription - ,tronum‘ - is not accompanied by an image of the throne. Instead, the inscription which stands alone suggests that the throne is beyond view deep within the heavenly dome, veiled by the vision of the Lamb in the mandorla (Rev. 5:1) 64. The Liturgy of the Lamb on the Mount The Paschal Lamb - symbolizing the mystery of death and resurrection which is celebrated in the liturgy - is most explicitly represented by the image of the Lamb on Mt. Zion (Rev. 14) in the Girona Beatus (Fig. 9). This image 60
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For the iconography of the lamb in Christian art of the Apocalypse, see: van der Meer, Maiestas (nt. 10), 29-174. Bernis Madrazo, Indumentaria medieval espan˜ola (nt. 46), 59 passim. On this point, see: McGrory, Wolfram v. Eschenbach and Mozarabic Spain (nt. 7), 132. For one perspective on the possible provenance of an instrument such as the lute pictured here, see: C. Bouterse, Reconstructing the Medieval Arabic Lute, in: The Galpin Society Journal 32 (1979), 2-9. This interpretation is supported by the representation of this text in the Silos Beatus which depicts the enthroned Maiestas Domini; British Library Add. Ms 1165, fol. 86v. In the Silos, the composition has lost much of its dome-like quality. Accordingly, an image of Maiestas Domini actually appears in the place which is inscribed ,tronum‘ in the Morgan Beatus.
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which spans two folios is joined at the center of the mount, on which the Lamb appears in a mandorla 65. There are many pictorial elements in this unusual composition which enable the reader to visualize this apocalyptic theophany. The first element is color 66. The representation of this scene is presented against a striking background of horizontal bands of varied width. The colors alternate as follows: orange, deep green, yellow, orange, and rose. At the center of this representation is a mauve-colored triangular mount around which the entire composition is organized. This mount is elaborately constructed of delicate leaves or discs of stylized motif. Traces of vermilion, yellow, and gold hint at how this image must have scintillated when it was first painted. The arrangement of fan-shaped leaves creates the illusion that the mount is cascading from above or that the discs are unfolding, as in a screen. This illusion of ascending and descending movement is enhanced by the introduction of a partially visible heavenly sphere in the uppermost register of the image. This register consists of a narrow orange band and a wide rose colored band on which is superimposed the heavenly sphere in the form of a darkened star-rimmed semicircle. This ,glimpse‘ into a cross section of the heavenly sphere reveals four winged creatures symbolizing the Evangelists moving along the rim of the sphere which appears to rotate. Each of these symbolic creatures holds a book of the gospel as they gesture to each other animatedly. In the yellow band directly beneath the heavenly sphere, the lamb in a mandorla rests on the mount. The two circles - the mandorla and the heavenly sphere - intersect. In this way, the artist relates the worship of the lamb on the mount - the veiled theophany - with the worship of the Divine Presence in the heavenly sphere beyond the view of the reader - the unveiled theophany. The mandorla of the lamb is bordered by a circle of protruding points, possibly signifying the crown of thorns associated with the passion of Christ. Inside the mandorla, the pate´ cross can be seen behind the lamb, signifying the resurrection. A lance, symbolizing the sacrifice of the lamb protrudes into the foreground. The image of the lamb is somewhat truncated. The hindquarters stretch backward and the lamb appears to be tied for slaughter - a symbol of the sacrificial lamb. Assembled on three levels in the colored bands on either side of the lamb on the mount is a congregation representing the 144,000 worshippers described in the Seer’s account. They have been saved by the sacrificial lamb and follow the lamb through eternity with endless praise and song (Rev. 14:1-5). In the wide orange band at the base of the mountain and in the wide yellow band 65
66
With the exception of its copy, the Turin Beatus, the Girona Beatus is the only manuscript to devote two folios to this subject. In the matter of color in the Beatus, see: Mentre´, Peinture (nt. 3), 160-163. See also: M. Mentre´, L’utilization de couleurs dans la miniature mozarabe, in: Espan˜a entre el Mediterraneo y el Atla´ntico (Actas del XXIII Congreso Internacional de Historia del Arte 1), Granada-Hospital Real 1973, 417-425.
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above them are four groups of worshippers holding musical instruments including exotic lyres and zithers 67. The loud sound of the music which the Seer hears is represented by the dark green band of ocean between the two levels of saved worshippers. As the Seer states, „I heard a sound coming out of heaven like the sound of the ocean or the roar of thunder; it was like the sound of harpists playing their harps. There before the throne they were singing a new hymn […]“ (Rev. 14:2). A worshipper standing apart from the crowd and closest to the lamb holds a chalice which he elevates toward the lamb. This ritual gesture represents the holiest moment in the Eucharistic liturgy - the elevation of the consecrated bread and wine. In its entirety, this representation of the lamb on Mt. Zion contains the solemn elements of sacred readings, processions of worshippers, loud music and chant, and silent adoration which marked the celebration of the paschal mystery as described in the Apocalypse and as reenacted in the Mozarabic rite. VII. Conclusion The Paschal Lamb portrayed in this ritual setting between heaven and earth illustrates the veiled theophany which is the essential representation of timeless reality in Mozarabic Beatus manuscripts. The lamb symbolizes the paschal mystery, the mystery of the death and resurrection of Christ celebrated in the Eucharistic liturgy. The theme of the Apocalypse - the mystery of divine descent and ascent - is the ,timeless reality‘ which the Beatus artists portrayed alternately in proximity and then in awe-inspiring distance from human experience. In illustrating the Seer’s account of the Apocalyptic vision, the Beatus artists developed an array of visual symbols steeped in Mozarabic culture and linked by a common liturgy. Through the distinctive juxtaposition of vivid bands of colors; extraordinary spatial arrangements; processions of other-worldly figures; the visual suggestion of profound stillness and loud chant; ascending and descending optical illusions representing interaction between heaven and earth; and, most importantly, through the recurring use of universally recognizable liturgical symbols, the artists of the Beatus created a reenactment of the visionary text for their fellow-readers. In an age when the idea of pilgrimage was a metaphor for life on earth, the artists of the Beatus used their experience of dislocation to focus the reader’s attention on the ,New Jerusalem‘ of the Apocalyptic vision - that place of timeless reality they envisioned as most closely resembling the ancient home of their cherished Mozarabic tradition. 67
Garcı´a-Tejedor identifies the instruments variously as „a gigue or Byzantine lyre characterized by its pear-shaped box extending into the neck and a pegbox conceived as a slightly wider part of the neck“, and instruments he thinks may resemble a „Cretan variety of Greek lyre“ although the absence of a bow may indicate 10th century Islamic influences; Garcı´a-Tejedor, Iconographic and stylistic analysis (nt. 40), 153.
Fig. 1: St. John entrusted with writing Revelation. Girona, Museu de la Catedral, Num. Inv. 7 (11), foll. 36v-37r.
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Fig. 2: Vision before the opening of the seven seals. Silos Beatus: London, British Library, Add. MS 11695, fol. 83r.
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Fig. 3: The appearance of Christ in the cloud. New York, Pierpont Morgan Library, M.644, fol. 26r.
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Fig. 4: The appearance of Christ in the cloud. Silos Beatus: London, British Library, Add. MS 11695, fol. 21r.
Fig. 5: Heaven. Girona, Museu de la Catedral, Num. Inv. 7 (11), foll. 3v-4r.
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Fig. 6: Vision of the Ancient of Days. Girona, Museu de la Catedral, Num. Inv. 7 (11), foll. 258v-259r.
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Fig. 7: Christ promising his reward. New York, Pierpont Morgan Library, M.644, fol. 231v.
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Fig. 8: Adoration of the Lamb. New York, Pierpont Morgan Library, M.644, fol. 87r.
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Fig. 9: The Lamb upon Mount Zion. Girona, Museu de la Catedral, Num. Inv. 7 (11), foll. 189v-190r.
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Verzeichnis der Handschriften Aberdeen, University Library Ms. 24: 461
Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek Oct. Philol. 115 f.: 458
Augsburg, Universitätsbibliothek Cod. I.2.fol. 21: 457
Graz, Universitätsbibliothek Cod. 1633: 458
Basel, Universitätsbibliothek A. XI. 67: 457
Halle a. d. Saale, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt Qu. Cod. 102: 458
Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Diez. B Sant. 28: 457 Lat. Oct. 76: 456, 457 Phill. 1833: 171, 175-180, 182-192, 194
Krakau, Biblioteka Instytutu Teologicznego Ksiezy Misjonarzy Ms. 171: 272
Bologna, Biblioteca Universitaria Cod. 921: 139
Krakau, Biblioteka Jagiellonska Ms. 644: 261 Ms. 658: 260, 261, 263, 271, 281 Ms. 664: 260, 263, 271, 281 Ms. 1945: 112, 116, 118 Ms. 2017: 115 Ms. 2461: 112-117, 120-122
Breslau, Universitätsbibliothek Mil II 35: 394
Leiden, Universitätsbibliothek Voss. gr. O.15: 458
Brüssel, Bibliothe`que royale de Belgique Ms. 9027: 292 Ms. 9475: 301, 302
Leipzig, Universitätsbibliothek Ms. 595: 458
Cambridge, Sidney Sussex College 75. Delta. 4.13: 457
London, British Library Add. Ms. 1165: 547 Add. Ms. 11695: 540, 551, 553 Royal 15: 458
Bern, Burgerbibliothek Ms. 306: 175, 181-183
Eichstätt, Universitätsbibliothek Cod. st. 237: 458 Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana S. Marco 130: 458
München, Bayerische Staatsbibliothek Clm 6292: 458 München, Universitätsbibliothek Fol. Cod. 568a: 453, 458
Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale II. IV. 553: 123, 125
New York, Columbia University Library Plimpton 171: 139
Genua, Biblioteca Berio CF 53: 237, 238
New York, Pierpont Morgan Library M.644: 538, 552, 556, 557
Girona, Museu de la Catedral Num. Inv. 7 (11): 538, 550, 554, 555, 558
Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum Ms. 966: 458
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Verzeichnis der Frühdrucke Trˇebonˇ, Sta´tnı´ oblastnı´ archiv A 7: 394
Oxford, Bodleian Library Bodl. 186: 458 Canon Misc. 177: 139 Canon Misc. 506: 139 Digby 53: 458 Paris, Bibliothe`que de l’Arsenal Lat. 522: 129 Paris, Bibliothe`que nationale de France Fond. it. 972: 521-524, 526 Ms. lat. 2796: 458 Ms. lat. 3762: 458 Ms. lat. 4221: 458 Ms. lat. 6752: 238 Prag, Nationalgalerie AA 2015: 392 Salamanca, Biblioteca Universitaria Ms. 156: 154 Ms. 1352: 163 San Gimignano, Biblioteca Comunale Ms. 27: 458 Silos, Biblioteca del Monasterio de Santo Domingo Frag. 4: 538
Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Cod. Capponiano 203: 527 Pal. lat. 253: 458 Pal. lat. 949: 272 Reg. lat. 1007: 458 Reg. lat. 1238: 289, 290, 292, 296, 300 Vat. lat. 819: 458 Vedome, Bibliothe`que municipale Ms. 127: 458 Verdun, Bibliothe`que municipale Ms. 36: 458 Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Archiv des Ordens vom Goldenen Vlies, Ms. 2: 292, 294, 295, 297 Wien, Österreichische Nationalbibliothek Ms. 848: 458 Ms. 1010: 458 Ms. 7304: 393 Ms. 8043: 393 Ms. 8330: 392 Ms. 8491: 393
Toledo, Kathedralbibliothek Ms. 100.42: 458
Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek Cod. 60.5 Aug. 2: 392, 393 Cod. Guelf. 10.3 Aug. qu.: 548 Cod. Guelf. 542 Helmst: 548
Trier, Stadtbibliothek Ms. 222: 458
Zwettl, Bibliothek des Zisterzienserstiftes 298: 458
Verzeichnis der Frühdrucke Alcala´ de Henares 1698 Ignatius Franciscus Peinadus, Disputationes in III libros Aristotelis de anima. Opus posthumum: 163
Antwerpen 1552 Petrus Apherdianus, Tirocinium linguae Latinae ex optimis quibusque Auctoribus collectum, et in capita digestum: 464
Amsterdam 1657 Johann Amos Comenius, Opera didactica omnia: 465, 466
Antwerpen 1567 (Chistophorus Plantin) Hadrianus Iunius, Nomenclator omnium rerum: 464
Amsterdam 1657 (I. Schipper) Johannes Jonstonus, Historiae naturalis de piscibus libri V: 465
Antwerpen 1632 Rodericus de Arriaga, Cursus philosophicus: 152
Verzeichnis der Frühdrucke Antwerpen 1649 Thomas Compton-Carleton, Philosophia universa: 163 Augsburg 1537 Jacob Grüßbeutel, Eyn Besonder Fast nützlich stymmen büchlein mit figuren: 466 Augsburg 1571 Matthias Schenck, Nomenclator Hadriani Junii Medici ad scholarum usum accommodatus: 464 Basel 1541 (Robertus Winter) Iulii Pollucis Onomasticon, hoc est instructissimum rerum et synonymorum Dictionarum, nunc prime Latine donatum, Rudolpho Gualtero Tigurino Interprete: apud: 463 Bologna 1645 (N. Tebaldinus) Ulysses Aldrovandi, De quadrupedibus: 465 Brixen 1591 Richardus de Mediavilla, Commentum in libros Sententiarum: 322, 331 Cremona 1618 Ioannes Baconthorpe, In II Sententiarum: 84 Duaci 1624 Vincencius Bellovacensis, Speculum historiale: 386 Duaci 1624 Vincencius Bellovacensis, Speculum maius: 461 Frankfurt a. M. 1570 Sinibaldus Fliscus [Innocentius IV], Super libros quinque Decretalium Commentaria: 442 Frankfurt a. M. 1578 Cyni Pistoriensis, Commentaria in Codicem et aliquot titulos primi Pandectarum: 438 Frankfurt a. M. 1586 und 2. Aufl. 1588 (Johannes Spies) Nicodemi Frischlini Nomenclator trilinguis Graecolationogermanicus, continens omnium rerum … Opus nova quadam methodo secundum Categorias Aristotelis: 464
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Frankfurt a. M. 1610 Ovidii Nasonis, Pelignensis Erotica et amatoria opuscula, de amoribus, arte, et modis amandi, & qua ratione quis amoris compos fieri debeat, ed. M. Goldast: 459 Frankfurt a. M. 1623 (I. Hofer) Ulysses Aldrovandi, De insectis: 465 Frankfurt a. M. 1640 (Wolfgang Richter) Ulysses Aldrovandi, Ornithologia hoc est de avibus: 465 Frankfurt a. M. 1650 (Matthaeus Merian) Johannes Jonstonus, Historiae naturalis de avibus libri VI: 465 Frankfurt a. M. 1650 (Matthaeus Merian) Johannes Jonstonus, Historiae naturalis de quadrupedibus libri: 466 Köln 1486 Gerardus de Harderwijk, Commentum libri primi Hermensias Aristotelis: 160 Leipzig 1506 Johannes Glogoviensis, Donati minoris de octo partibus orationis declaratio: 112-121 London 1618 Thomas Bradwardinus, De causa Dei, contra pelagium: 156, 161 Lyon 1508 Johannes Marcili Inguen super octo libros physicorum: 235 Lyon 1547 Bartolus de Saxoferrato, Consilia, Quaestiones et Tractatus: 435 Lyon 1609 Gregorius de Valencia, Commentariorum theologicorum: 160 Lyon 1613 Nicolaus de Clemangiis, Opera Omnia, ed. Iohannes Martini Lydius: 421 Lyon 1617 Petrus Hurtadus de Mendoza, Disputationes de universa philsophia: 155, 163, 164
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Verzeichnis der Frühdrucke
Lyon 1634 Ioannes Duns Scotus, Quaestiones in librum II Sententiarum, in: Opera Omnia: 331
Paris 1516 Johannes Buridanus, Quaestiones super tres libros De anima Aristotelis: 264
Lyon 1639 Ioannes Duns Scotus, Ordinatio IV, in: Opera omnia: 155, 156
Paris 1518 Henricus de Gandavo, Quodlibet V: 83, 84
Lyon 1644 Rodericus de Arriaga, Cursus philosophicus: 163 Lyon 1662 Bernardus de Aldrete, Commentariorum ac Disputationum in primam partem D. Thomae: 163 Lyon 1666 Antonius Bernaldus de Quiros, Opus philosophicum: 151 Lyon 1669 Rodericus de Arriaga, Disputationum theologicarum in primam partem D. Thomae: 163 Lyon 1695 Sebastia´n Izquierdo, Pharus Scientiarum: 160 Neapel 1618 Ioannes de Neapoli, Quaestiones variae Parisiis disputatae: 84 Nürnberg 1641 (Wolfgang Endter) Georg Philipp Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele: 465
Paris 1588 Johannes Buridanus, Quaestiones in Metaphysicam Aristotelis: 275 Paris 1647 Hervaeus Natalis, In quatuor libros Sententiarum Commentaria: 85 Pavia 1506 Azo Porcius, Summa super Codice: 433 Rom 1605 Petrus Aureoli, In II Sententiarum: 154, 156 Rom 1607 Aegidius Romanus, De regimine principum, ed. H. Samaratinus: 360 Rom 1656 Antonius Perez, In primam partem D. Thomae tractatus: 162 Rom 1670 Silvester Maurus, Quaestionum Philosophicarum liber II continens secundam partem Logicae: 162 Salamanca 1611 Petrus de Ledesma, Tractatus de divinae gratiae auxiliis: 159
Nürnberg 1658 (Michael Endter) Johann Amos Comenius, Orbis sensualium pictus: 467
Salamanca 1701 Ioannes Bolivar, Salamantinae lecturae: 161
Paris 1502 Albertus de Saxonia, Sophismata: 105, 106
Strassburg 1491 Ioannes Versor, Commentum super Donatum: 113, 116, 117, 120, 121
Paris 1513 Johannes Buridanus, Quaestiones super decem libros ethicorum Aristotelis ad nicomachum: 259-265, 274, 281
Strassburg 1501 Marsilis de Inghen Quaestiones super IV libros Sententiarum: 159
Paris 1514 Andreas de Novo Castro, Primum scriptum Sententiarum: 159, 161
Strassburg [ca. 1565] Joannes Sturm, Classicae epostolae sive scholae Argentinenses restitutae: 463
Verzeichnis der Frühdrucke Strassburg 1579 Theophilius Golius, Onomasticon Latinogermanicum cum praefatione Johannis Sturmis: 463, 464 Venedig 1409 Paulus Venetus, Expositio physicorum: 127, 128 Venedig 1472 Paulus Venetus, Logica parva: 126 Venedig 1493 Paulus Venetus, Sophysmata: 126 Venedig 1493 Paulus Venetus, Opus aureum de quadratura sive dubia: 126 Venedig 1494 William Heytesbury, Regule solvendi sophismata: 145 Venedig 1496 Gualterus Burlaeus, De intensione et remissione formarum: 127 Venedig 1496 (Philippus Pincius) Papias, Vocabularius: 461 Venedig 1497 Gualterus Burlaeus, Super artem veterem: 157 Venedig 1497 Albertus de Saxonia, Quaestiones subtilissimae super libros Posteriorum: 164
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Venedig 1506 Albertus Magnus, Opera ad Logicam pertinentia, ed. Bernardinus Plumatius: 154 Venedig 1508 Johannes de Sancto Amando, Antidotarium Nicolai: 233 Venedig 1513 Hervaeus Natalis, Quodlibet II: 85 Venedig 1515 [Ps.-] P. Ovidii Nasonis Epistola, Pulex et Philomela: 459 Venedig 1520 Franciscus de Maironis, Conflatus: 155 Venedig 1526 Bartolus de Saxoferrato, Commentaria: 439, 442 Venedig 1551 Ioannes de Ianduno, Quaestiones super VIII libros Physicorum IV: 78 Venedig 1562 Aristotelis Opera cum Averrois commentariis: 64 Venedig 1564 Thomas v. Straßburg, Commentaria in IIII libros Sententiarum: 332 Venedig 1571 Durandus de Sancto Porciano, In II Sententiarum: 85
Venedig 1500 Baptista de Fabriano, Expositio de sensu composito et diviso: 144
Venedig 1571 Durandus de Sancto Porciano, In Sententias theologicas Comentariorum libri IIII: 323, 331
Venedig 1501 Gualterus Burlaeus, In physicam Aristotelis expositio et quaestiones: 126
Venedig 1581 Aegidius Romanus, In secundum librum Sententiarum: 163, 331, 332
Venedig 1503 Paulus Venetus, Summa philosophie naturalis: 123, 135
Venedig 1581 Ioannis Andreae in Sextum Decretalium librum Novella Commentaria: 441
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Verzeichnis der Frühdrucke
Venedig 1583 Petrus Tartaretus, Lucidissima commentaria sive (ut vocant) Reportata in quartum librum Sententiarum Ioannis Duns Scoti: 155 Venedig 1585 Bartolus de Saxoferrato, In primam partem Digesti Novi Commentaria: 443 Venedig 1588 Paulus Soncinas, Quaestiones metaphysicales: 161 Venedig 1589 Gualterius Burlaeus, Super Aristotelis libros de physica auscultatione lucidissima commentaria: 65
Venedig 1590 Dante Alighieri, con l’espositioni di Cristoforo Landino, e d’Alessandro Vellutello sopra la sua Comedia dell’Inferno, del Purgatorio & del Paradiso: 335 Venedig 1595 Baldus de Ubaldis, In Decretalium volumen Commentaria: 433, 438 Venedig 1599 Baldus de Ubaldis, In primam Digesti partem Commentaria: 435, 438: 446 Venedig 1720 Ioannes Marin, Theologia speculativa et moralis: 161, 163
Namenregister Abardo, R. 332 Abbo v. Fleury 171-195 Abel, bibl. 399, 504, 505 Abel, G. 165 Abulafia, D. 28, 29 Accursius, Franciscus Senior 438 Achilleus, myth. 203 Achilles de Malvitiis 144, 150 Adam, bibl. 385, 386, 399, 504, 505 Adam, W. 476 Adam de la Halle 51 Adamska, A. 447 Adelard v. Bath 173 Adele v. Champagne 385 Adosinda, Königin v. Asturien 536 Adriaen, M. 302 Aegidius Romanus 163, 299, 330-332, 360362 Aeneas, myth. 385, 386, 391 Aertsen, J. A. 282, 283, 304 Agamben, G. 519, 528 Alain de Lille cf. Alanus ab Insulis Alanus ab Insulis 197, 326, 330, 331, 474 Alberigo, G. 28, 425 Albert v. Sachsen cf. Albertus de Saxonia Albertus de Saxonia 105-107, 109, 110, 139, 164 Albertus Magnus 79, 117, 154, 156, 230-232, 237, 240, 255, 308, 323, 330-332, 453 Albrecht, M. von 451 Alcuinus, Flaccus 455 Aldhelm v. Malmesbury 452, 455, 457 Aldrete, B. de 163 Aldrovandi, Ulisse 465 Alertz, U. 225 Alexander III., König v. Makedonien 393395, 545 Alexander IV., Papst 32, 33 Alexander Aphrodisiensis 255 Alexander d. Große cf. Alexander III., König v. Makedonien Alexander Neckam 237 Alexander Sermoneta 145 Alexander v. Hales 307-319, 334 Alfons, Enkel v. Alfons X. 373 Alfons III., König v. Aragonien 365
Alfons III., König v. Leon 29 Alfons VI., König v. Leon 32 Alfons VIII., König v. Kastilien 32 Alfons X., König v. Kastilien 351, 352, 355, 357, 367, 373, 377 Alfonsus Vargas Toletanus 158 Alighieri, Jacopo 325, 332 Alighieri, Pietro 325-327, 329, 330 Allen, W. 287 Alliney, G. 77 Althoff, G. 14, 383 Amalvi, Ch. 13 Ambros, A. W. 43, 44, 46, 50-52, 55, 56 Ambrosius Mediolanensis 186, 294, 295, 302, 334 Ammonius Hermiae 153 Anaxagoras 241, 243 Anderson, A. 522 Andersson-Schmitt, M. 458 Andreas de Novo Castro 159 Angenendt, A. 17, 18 Annas, G. 293, 302 Anselm v. Canterbury 159, 338, 502, 506, 507 Anselm v. Laon 338 Anspert, Karolinger 384 Anton, H. H. 354 Antonius Geta 452 Apherdianus, Petrus 463, 464, 466 Apian, Petrus 393 Appelt, H. 364 Apuleius Madaurensis 200, 201, 206-208, 452 Arbel, B. 40 Archelaus Philosophus 240 Ariotti, P. 87 Aris, M.-A. 211-223 Aristides Quintilianus 525, 526 Aristoteles 12, 63, 64, 77-79, 80, 81, 85, 86, 90-92, 94, 95, 101, 102, 104, 105, 107109, 111, 118, 120, 126, 127, 135, 142, 146, 148, 149, 151, 156, 180, 224, 227, 228, 230-233, 235, 237-240, 253, 257, 262, 263, 265, 266, 268, 270, 272, 273, 280, 434, 442, 453, 461, 522, 523, 525, 528 Aristoxenos 523 Arnauld, A. 87
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Namenregister
Arriaga, R. de 163 Ascarelli, A. 521 Asclepius cf. Apuleius Madaurensis Assmann, A. 380, 381 Assmann, J. 21, 22 Augustinus 81, 153, 156-158, 161, 180, 186, 201, 251, 254, 255, 258, 259-262, 265, 266, 270, 275, 276, 278-281, 293, 294, 312, 334, 338, 340-342, 344, 345, 349, 399, 410, 412, 443, 473, 492, 507, 514, 517 Auroux, S. 111 Averroes 79, 231 Azo Porcius 433, 436-438, 443 Baar, A. van den 381 Bachmann, A. 388 Bacon, Rogerus 78, 229, 232, 233, 236 Baker, P. S. 179 Bale, John 413 Baldus de Ubaldis 433-435, 437, 438, 442446 Baldwin, J. W. 375 Ballesteros Beretta, A. 352 Balmer, H. 229, 233 Baloira Be´rtolo, A. 534 Bambaglioli, Graziolo 325, 329 Bango, Torviso, I. G. Baptista de Fabriano 144 Barbel, J. 517 Barber, M. 402 Barbey, J. 289, 298, 299 Barciak, A. 392 Barlow, C. W. 290 Barnes, J. 79 Barolini, T. 322 Barrelmeyer, U. 7 Barresi, J. 320 Barthes, R. 477 Bartholomaeus Anglicus 238 Bartholomaeus Sybilla 330, 332 Bartlova´, M. 395 Bartolus de Saxoferrato 435, 437-443 Basin, Thomas 288, 289, 303-305 Battaglia, Marcus de 394 Baum, W. 396 Baumgartner, H. M. 153, 166 Bäuml, F. H. 483 Bauschke, R. 483, 486 Bausinge, H. 380 Beatus Liebanensis 531-558 Bechmann, R. 229 Becker, H. 248 Beckett, S. 59-72 Beckmann, J. P. 272
Beda Venerabilis 173, 174, 182, 185, 311 Bein, Th. 483 Bejczy, I. P. 293, 344 Be´la IV., König v. Ungarn 29-31, 33 Belgioioso, G. 87 Bell, J. 111 Bellaguet, L. F. 235 Bellermann, J. J. 456 Bellitto, Ch. M. 421 Bellomo, S. 324, 325, 327-329, 332, 333, 335, 336 Beltra´n, E. 236-238 Belzebuth, bibl. 504 Bender, P. 363 Benedictus de Nursia 177, 182, 185, 187-189, 191 Benedictus Hesse 119 Benedikt XII., Papst 431 Benedikt XIII., Papst 421 Benediktson, D. Th. 448 Benrath, G. A. 410 Benson, R. L. 172 Benton, J. F. 371 Benvenuto dei Rambaldi da Imola 61, 325, 326, 333 Benz, E. 407, 408 Berchorius, Petrus 239 Berend, N. 27-40 Bergengruen, W. 24 Berger, E. 364 Berges, W. 252, 360 Berkeley, G. 71 Bernaldus de Quiros, A. 151 Bernard Silvestre 196-210 Bernardinus Petrus de Senis 144 Bernardinus Plumatius 154 Bernardinus v. Siena 426 Bernardus Claraevallensis 62, 63, 219, 505, 512 Bernardus Parmensis 435, 436 Bernhard v. Clairvaux cf. Bernardus Claraevallensis Bernhardi, W. 364 Bernis Madrazo, C. 540, 545, 547 Bertalot, L. 65 Bertau, K. 486 Berthold v. Hohenburg 376 Bertram, M. 429 Berveglieri, R. 226 Besch, W. 487 Bessmertnyj, J. L. 26 Bethmann, L. C. 384 Beumann, H. 384 Bezner, F. 326
Namenregister Bezold, F. Von 396 Bianchi, D. 521 Bien, G. 290 Billanovich, G. 250, 270 Birken, S. von 467 Bischoff, B. 459 Bismarck, O. von 23 Bla´hova´, M. 380-397 Blanchard, J. 299, 304 Blaschka, A. 395 Blattmann, M. 305 Blithilt, Merowingerin 384 Blüher, K. A. 291 Bluhm, H. 303 Blumenberg, H. 245, 253, 489 Bobkova´, L. 389, 390, 395 Boccaccio, Giovanni 197, 325, 327 Bodewig, M. 217 Bodin, Jean 304, 305 Boehner, Ph. 94 Boethius 54, 111, 153, 196, 197, 199, 208, 209, 214, 453, 461 Boethius de Dacia 114-116, 120, 154, 155 Bojcov, M. A. 14, 20, 25, 26 Bolivar, I. 161, 163 Bonaventura 63, 83, 158, 322, 323, 330, 331 Bonifatius VIII., Papst 409, 429 Bonifatius IX., Papst 225 Bookmann, H. 363, 423, 432 Borchardt, K. 416 Bordier, J. P. 513, 519, 520 Borgnet, A. 154 Borˇivoj, Herzog v. Böhmen 387 Bormann, C. 214 Borst, A. 174, 175, 350, 381, 402, 450 Bos, E. P. 255, 260 Bosch, Hieronymus 308 Bossier, F. 77-79, 434 Bossuat, R. 326 Botterill. S. 459 Bottin, F. 124-126, 144 Bouelles, Ch. de 67, 68, 69, 71 Bouissou, G. 201 Boureau, A. 345 Bouterse, C. 547 Boydston, J. A. 165 Boylan, A. 539 Braakhuis, H. A. G. 92 Bradwardine, Thomas 95, 103, 107, 156, 161 Bragard, R. 53 Brainard, I. 528 Brams, J. 77-79, 434 Brandmüller, W. 424, 425 Brands, H. 91
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Breidert, W. 224, 232 Bre´joux, J. 198 Brendel, F. 50, 55, 56, 57 Brenon, A. 402 Bretholz, B. 383 Brewer, J. S. 229 Brincken, A.-D. von den 174, 381, 391 Broadie, A. 126, 157 Brower, J. 341 Brown, E. A. R. 371 Brown, M. A. 144 Brown, R. 532, 534 Brown, S. 86, 94 Brückner, W. 380 Bruguera, J. 33 Brunner, H. 483 Brunner, O. 47 Bruno, Giordano 59 Brutus v. Britannien 386 Buchner, R. 358 Buck, A. 266 Buddensieg, R. 410 Buderer, H.-J. 20 Bühler, A. 299 Bumke, J. 388, 395 Bünz, E. 416 Burchard v. Worms 342 Burckhard, M. 457 Burckhardt, J. 15, 17, 50, 244, 250, 251 Burlaeus, Gualterus 65, 94, 123-150, 157 Burns, R. I. 352, 373 Bursill-Hall, G. L. 114, 115, 456 Busa, R. 453 Busch, J. W. 387 Bushart, M. 18 Bussi, Giovanni Andrea dei cf. Johannes Andreas Caballero Sa´nchez, S. 85 Cabrera, E. 531 Cabrol, F. 531, 533 Caesar, Gaius Iulius 392, 394 Cailleau, Hubert 496 Cajetan, Thomas 156, 158, 162 Calmette, J. 304 Calvin, Johannes 4, 412 Campenhausen, H. von 400, 401 Cancik, H. 451 Canning, J. 26, 442, 444-446 Capasso, R. 77 Carbone, Ludovico 139 Carmody, F. J. 291 Carolus Bovillus cf. Bouelles, Ch. de Carolus-Barre´, L. 375
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Namenregister
Caroti, S. 81, 253 Carque´, B. 11, 12, 14, 20 Carrara, E. 329 Carrie`re, M. 44 Carruthers, M. 458 Cartellieri, A. 369 Casagrande, C. 290 Caspar, E. 359 Cassirer, E. 67, 69 Ceballos, G. De 541 Cˇervenka, J. 465 Chalcidius 197-201, 206-209 Champeaux, G. de 542 Champion, P. 497 Charlie Brown 476 Chartier, R. 13 Chavalier, U. 459, 496 Chenu, M.-D. 172 Chiamenti, M. 329 Chibnall, M. 350 Chiffoleau, J. 372 Chirac, J. 306 Chiromono, Matteo 333 Chladenius, M. 41 Chlodion Merowech v. Franken 383 Chocheyras, Ch. 520 Christine de Pisan 288-290, 292, 296, 300 Chrysippus Solensis 158 Churruca, M. 532, 536 Cicero, Marcus Tullius 154, 158, 197, 202, 203, 289, 290, 294, 295, 422, 523, 527 Cinus de Pistorio 438 Cioffari, V. 328, 329 Ciprian, P. 388 Claes, F. 464 Clagett, M. 232 Classen, P. 173 Claudianus, Claudius 197 Cle´dat, L. 403 Clemens, E. 387, 389, 392, 393 Clemens V., Papst 444 Clemens de Gambycze 112, 116, 118, 119, 122 Codrus, König v. Athen 203 Cohen, G. 495-497, 504, 515 Coleman, E. R. 342 Colli, V. 433 Comenius, Johann Amos 447, 450, 451, 464466, 468 Commynes, Phillippe de 303, 304 Compton-Carleton, Th. 163 Condorelli, O. 295, 435 Congar, Y. 399 Constable, G. 172 Constantinus Africanus 197
Cordes, A. 19, 432 Cordoliani, A. 175, 177, 190 Corish, D. 79 Cormeau, Ch. 482 Cornazzano, Antonio 527 Cosmas v. Prag 387 Courtenay, W. J. 139, 245, 251, 254 Cova, L. 77 Coville, A. 287, 288, 421, 422, 427 Cowdrey, H. E. J. 357 Craemer-Ruegenberg, I. 247, 272, 434 Craig, W. L. 158 Crapalet, G. A. 299 Crescas, H ø asdai 101 Csernus, S. 37 Curtius, E. R. 59, 197, 198, 447, 450, 455 Cytowska, M. 463 Dales, R. C. 232 Dalimil 389 Damasus Trapp, A. 157 Danˇhelka, J. 389 Daniel, N. 453 Daniello, Bernardino 325, 335 Dante Alighieri 59-61, 64, 65, 67, 68, 71, 72, 197, 252, 276, 281, 308, 320-337, 459 DaRios, R. 526 Dartmann, Ch. 288 Daumet, G. 352 Davis, I. 349 Decker, B. 214 Declercq, G. 174 Delaborde, H. F. 353, 364 Delorme, F. M. 78 Delsol, C. 37 Demandt, A. 287 De Meyier, K. A. 458 Democritus Abderita 240 Demony, A. 234 Denzer, H. 304 De Ram, P. F. X. 396 De Rijk, L. M. 92, 93, 95, 98, 99, 255, 272 Descartes, R. 67, 87, 89 Desclot, Bernat 351, 352, 365 De Smet, G. 463, 464 Deucalion, myth. 203 Devisse, J. 356 Dewey, J. 165 Dhondt, J. 386 Dick, A. 204 Didot, A. F. 231 Dieckmann, B. 458 Dienst, H. 382 Dierse, U. 280
Namenregister Dietrich v. Nieheim 429, 430 Dihle, A. 338 Di Liscia, D. A. 123-150 Diner, D. 22 Dinkelacker, W. 483 Diogenes Sinopensis 241 Diomedes Grammaticus 452 Dionysius Areopagita 514 Dionysius de Burgo Sancti Sepulchri 250, 256, 268, 269 Dionysius d. Karthäuser 330, 331 Dionysius Exiguus 173-178, 183, 185, 187190, 192, 193 Diwald, H. 165 Dix, O. 20 Dohrn van Rossum, G. 229 Dombart, B. 349 Domenico da Piacenza 521-530 Domingo, Abt 539 Domingo de Silos, Abt 540 Domı´nguez Bordon˜a, J. 536 Dominico, Presbyter 539 Dominicus de Dominicis 431 Dominicus de Florentia 225 Dommer, A. von 51, 52, 55, 56, 57 Donati, S. 219, 233, 238 Donatus, Aelius 111, 112, 118, 119, 468 Dondaine, A. 293 Dondaine, H. D. 354 D’Onofrio, I. 453 Dotti, U. 250, 256 Doue¨t-d’Arcq, L. 287 Drebbel. C. 237 Dreyer, M. 173 Drogo v. Metz, Erzbischof 358 Dronke, P. 196, 203, 204, 207-210 Droysen, J. G. 6-8, 21, 23, 42, 164, 165 Drsˇka, V. 396 Druwe´, E. 506 Duby, G. 13 Duchesne, L. 401 Dufay, G. 50 Dufour, A. 179 Dufournet, J. 302 Duelmen, R. van 16, 17, 247, 248 Duhamel, A. 306 Dulac, L. 288, 299, 302 Dummet, M. 165 Dümmler, E. 355, 359, 455 Dunbabin, J. 275, 354 Duns Scotus, Johannes 84, 86, 155, 156, 161, 212, 249, 254, 255, 330, 331 Du Pin, L. E. 296 Duplat, A. 496
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Düppel, H. 427 Durandus de Sancto Porciano 85, 322, 323, 330, 331 Durantis, Guilelmus 416 Durantis, Guilelmus Iunior 419 Durling, R. M. 251 Dux, G. 445 Dvorˇa´kova´, V. 395 Dynter, Edmundus de 396 Ebbersmeyer, S. 138 Ebbesen, S. 102, 131 Eberhard v. Be´thune 460 Eckhardt, K. A. 384 Eco, U. 449, 476 Eduard d. Bekenner 356 Eggert, W. 391 Ehlers, C. 385 Ehlers, J. 287, 444 Ehwald, R. 455 Einhardus 384 Eisenberg, P. 108 Ekkehard IV., Abt v. St. Gallen 47 Elamrani-Jamal, A. 255 El Cid 39 Elipandus , Erzbischof v. Toledo 536 Elisabeth Prˇemyslovna, Königin v. Böhmen 393, 395 Elze, R. 432 Emery, K. jr. 293 Emeterius 539 Emler, J. 387-389, 391, 392 Empedocles 241, 514 Endter, M. 467 Engel, E.-M. 391 Engel, G. 299 Engelhardt, W. von 10 Engels, L. J. 350 Engstova´, K. 391 Enzensberger, C. 62 Epicurus 273, 274 Erasmus v. Rotterdam 463 Erkens, F.-R. 387 Erlande-Brandenburg, A. 229 Ernst v. Pardubitz 390 Ernst, F. 304 Ersˇil, J. 391 Erzgräber, W. 382 Esch, A. 431 Eugenius IV., Papst 35 Euler, W. A. 213, 217, 220 Eusebius Caesariensis 189, 401 Eusebius v. Toldeo 455
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Namenregister
Eustache Mercade´ 497, 498, 502, 508, 509, 518, 519 Eva, bibl. 504, 505 Ezechiel, bibl. 545, 547 Faivre, B. 499, 500, 519, 520 Fajt, J. 395 Faller, O. 334 Famiglietti, R. C. 287 Fanfani, P. 333 Faral, E. 248, 257, 262, 267 Faramund 383, 385, 393 Fasolt, C. 416, 419 Fatio, D. 370 Favier, J. 371 Fechner, H. 461, 462, 466 Feenstra, R. 440 Feine, H. E. 429 Felten, F. 370 Feltrin, P. 130, 134 Ferna´ndez Alonso, J. 535 Fernando III., König v. Kastilien 31, 32 Fe´rotin, M. 533, 540 Ferrario, F. 329 Festugie`re, A.-J. 200 Fichte, J. G. 164 Fijałkowski, A. 361, 447-469 Fillastre, Guilelmus 292-297 Finch, Ch. E. 448, 451 Finkenzeller, J. 398 Firmicus Maternus, Iulius 197 Fischer, I. 458 Fitch, J. G. 303 Flacius, Matthias 413 Flasch, K. 151, 213, 340 Flashar, H. 528 Fleckenstein, J. 384 Fletcher, J. 62 Fletcher, R. A. 29 Fliege, J. 458 Flo´rez, E. 531 Folz, R. 372, 386, 392 Forde, S. 386 Fornet-Betancourt, R. 248 Foucault, M. 75, 247, 278, 282, 283 Foucher de Chartres 459 Fournials, J. B. 160 Foxe, John 413 Francesco di Bartolo da Buti 325, 336 Francesco Sforza 304 Franciscus Assisias 407, 408 Franciscus de Maironis 155 ´ . 539 Franco, A Franco de Colonia 55
FrancX ois, E. 23 Frank, C. 413 Frank, G. 405, 502 Frank, P. 42 Frank, T. 289 Frankel, M. 336 Franzen, E. 70 Frati, L. 139 Frech, K. A. 419 Freise, E. 383 Freud, S. 474, 475 Freund, S. 437 Fried, J. 5, 17, 534 Friedberg, E. 359, 430, 436 Frioli, D. 458 Fredborg, K. M. 102 Fredegarius Scholasticus 383 Friedl, A. 392 Friedlin, G. 54 Friedman, R. L. 159 Friedrich I., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 350, 364, 385, 437 Friedrich II., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 353, 360, 367, 373, 376, 377 Friedrich III., König v. Sizilien 365 Friedrich Barbarossa cf. Friedrich I., Kaiser Römisch-Deutsches Reich Friedrich v. Walkenried, Abt 351 Frischlin, Nicodemus 464, 466 Frobenius, W. 54 Frühwald, W. 487 Frutolf v. Bamberg, Mönch 358 Fryde, N. 14, 20, 25 Fuchssberger, Ortolph 462 Fuhrmann, M. 257 Gabriel, bibl. 514 Gabriel, A. L. 361 Gabriel, G. 94, 102 Gaeta, F. 431 Gaetanus de Thienis 144, 145 Ga´l. G. 94, 156 Galilei, Galileo 233 Galonnier, A. 255 Gallo, F. A. 521, 529 Galluzzi, P. 228 Gaskin, R. 159 Gaudemet, J. 436 Gauthier, R. A. 265 Gauvard, C. 77, 299, 302, 303 Gawlick, G. 10 Gebauer, J. 392 Geldsetzer, L. 165 Gelmi, J. 215
Namenregister Genet, J.-Ph. 382 Genicot, L. 383, 386 Gensler, M. 111 Gentili, B. 524 Gentzen, C. 462 Geoffroy v. Monmouth 386 Georgius Castriota 33-35, 39, 40 Gerardus de Brussel 232 Gerardus Cambrensis 361 Gerardus Odonis 101, 160, 255 Gerbert, M. 45 Gerhard, D. 391 Gerhard, H. 459 Gerhardt, V. 10 Gerlich, A. 377 Germann, N. 171-195 Gerson, Johannes 296 Gerwing, M. 293 Gesner, J. M. 154 Geyer, Ch. 5 Giannini, C. 336 Gide, A. 493 Giese, W. 391 Gilbert v. Tournai 361 Gilbhard, Th. 521 Gilson, E´. 197, 245, 246, 253, 322 Gilson, J. P. 458 Ginsberg, W. 171 Giordanengno, G. 303 Giovanni di Serravalle 325 Giraud, P.-E. 496 Giuliano Caesarini 415 Gjon Castrioti 33, 34 Glauche, G. 447, 458 Glorieux, P. 331 Gloyna, T. 291 Gmelin, H. 321 Godefroy, F. 499 Godman, P. 338-345 Goering, J. 293, 459 Goertz, H.-J. 16 Goethe, J. W. von 468 Goetz, G. 459 Goetz, H.-W. 3, 290 Goetz, W. 381 Goffart, W. 382 Göhler, G. 441 Goldast, M. 468 Goldin, F. 487 Goldstein, J. 6 Golein, Jean 301 Golius, Theophilius 463, 464 Golz, R. 468 Go´mez-Moreno, M. 531, 537, 538
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Gomez-Muller, A. 248 Gonzalez, J. 31 Gonza´lez a Santalla, Th. 163 Goody, J. 349 Gorochov, N. 421 Gössmann, E. 44, 309 Gottfried v. Viterbo 385, 391 Götz, U. 462 Gould, S. J. 151 Gouron, A. 303 Grabmann, M. 233, 237 Graevenitz, G. von 245 Gragnolati, M. 322 Graham, J. F. 448 Grant, E. 234 Gratianus de Clusio 339 Grau, A. 382 Graus, F. 382, 384, 386-388, 396 Gre´ban, Arnoul 495, 497-499, 501-503, 506-510, 513, 516-519 Green-Pederson, N. J. 157 Gregor v. Nyssa 514 Gregor v. Tour 185 Gregorius I., Papst 186 Gregor VII., Papst 22, 358, 359 Gregor IX., Papst 436 Gregorius de Arimino 157 Grente, G. 498 Grenzmann, L. 363, 483 Grillparzer, F. 165 Grimm, R. R. 12 Grömminger, A. 466 Groos, A. 483 Gross, M. 448 Grosseteste, Robertus 232 Grossmann, C. 521 Groß-Morgen, S. 222 Grothusen, K.-D. 388 Grubmüller, K. 447 Gründel, J. 339 Gründer, K. 91, 94, 102 Grundmann, H. 382, 407 Grunzweig, A. 386 Grüßbeutel, Jacob 462, 466 Gualterus, Rudolphus 463 Guene´e, B. 287, 296, 299, 350, 381, 385, 386 Guerreau, A. 18 Guido v. Arezzo 56 Guido v. Pisa 325-327, 335 Guilelmus Peraldus 289, 291, 293, 294, 300 Guilfry, K. 341 Guillaume Maurel 414, 415 Guillemain, B. 430 Guinifortus Barzizius 325, 335, 336
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Namenregister
Gumbert-Hepp, M. 160 Gumbrecht, H. U. 223 Gunermann, H. 294 Gurjewitsch, A. J. 17 Gurlitt, W. 529 Haas, M. 54 Habel, E. 460 Ha´dek, K. 389 Haefele, H. F. 47 Haeusler, M. 381, 382 Hägele, G. 457 Hahn, A. 342 Hahn, C. U. 407 Hahn, G. 483 Hahnloser, H. R. 229 Hajdu, H. 458 Hakulinen, S. 301 Hale´vi, R. 361 Hall, J. B. 199 Hallauer, H. J. 215, 217 Hamesse, J. 64 Hamilton, W. 164 Hampe, K. 355 Hanke, E. 19 Hardenberg, Friedrich von (Novalis) 18 Harderwijk, Gerardus de 160 Hardtwig, W. 6 Häring, N. 200, 339 Harms, W. 270 Harsdörffer, G. Ph. 465, 466 Hartmann, M. 306 Hartmann, W. 44 Haselbach, H. 292 Hasenohr, G. 239 Haskins, Ch. H. 172 Hassig, D. 461 Hauck, K. 384, 386, 396 Haubst, R. 213, 217, 220 Haverkamp, A. 173 Havra´nek, B. 398 Hay, D. 40 Headley, J. M. 413 Heartz, D. 529 Heeren, A. 11 Hehl, E. D. 355 Heiges Blythe, J. 293 Heimann, H.-D. 354 Heimpel, H. 423, 429 Hein, D. 21 Heinemann, L. de 359 Heinrich I., König v. England 356 Heinrich II., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 385
Heinrich II., König v. England 361, 366, 376 Heinrich III., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 358, 366 Heinrich III., König v. England 366 Heinrich VI., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 364, 385, 394 Heinrich VI. Berengar, König Römisch-Deutsches Reich 363 Heinrich VII., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 390, 393, 395, 444 Heinrich v. Gent cf. Henricus de Gandavo Heinrich v. Heimburg 388 Heinrich v. Morungen 473-494 Heinrich v. Susa 436 Heinzle, J. 3 Heinzmann, R. 322, 323 Heiter, B. 248 Held, W. 60, 62 He´linant v. Froidmont 361 Heller, J. 386, 393 Helm, R. 452 Helmholtz, H. von 7 Helmholtz, R. H. 436 Helmrath, J. 425, 426 Hempfer, K. W. 245, 267 Henkel, N. 447 Hennig, E. 383 Henricus de Gandavo 83, 84, 86, 92, 166 Hentschel, F. 41-58 Heraclitus Ephesius 241 Herakles 202, 203 Herbart, J. F. 454 Herbermann, C. G. 539 Hermann v. Metz 358 Hermann v. Reichenau 195 Herold, V. 156 Herolt, Johannes 219 Hertz, M. 452 Hertz, W. G. 60, 119 Hervaeus Natalis 85 Hesse, H. 18, 24 Heston, Ch. 39 Heytesbury, William 107, 124, 126, 127, 129, Hiepko, A. 528 Hieronymus, Sophronius Eusebius 186, 189, 454, 532, 536, 538, 539 Hildebrand, K. 21 Hilg, H. 458 Hillgarth, J. N. 373 Hinkmar v. Reims 355, 356, 384 Hippocrates 241 Hippolytus Romanus 203 Hissette, R. 80, 81 Hitler, A. 18
Namenregister Hlava´cˇek, I. 419 Hlava´cˇkova´, H. 392, 395 Hlawitschka, E. 384, 386 Hock, S. 165 Hodgkinson, H. 34, 35 Hoenen, M. J. F. M. 159, 247, 255 Hoensch, J. K. 389, 390, 395, 396 Höffe, O. 10, 101 Hoffmann, A. 507 Hoffmann, R. 432 Hoffmann von Fallersleben, A. H. 468 Hofmeister, A. 382 Hohl, E. 452 Holbrook, R. T. 500 Holder-Egger, O. 384 Hollander, R. 324, 329, 335 Hölscher, L. 154 Holtz, D. H. 464 Holz, H. H. 10 Ho´man, B. 38 Honorius III., Papst 29 Horatius Flaccus, Quintus 197, 273, 274 Horn, N. 433 Horodyski, A. 36 Hoßfeld, P. 79, 230, 231 Hostivit v. Böhmen 387 Housley, N. 40 Houts, E. M. C. van 382 Hrabanus Maurus 355, 460 Hrdina, K. 388 Hruby, A. 487 Hubbell, H. M. 289 Hubble, E. 164 Huber, Ch. 487 Hübler, B. 424 Hübner, F. 409 Hübner, R. 165 Hucbaldus de Sancto Amando 52, 55, 56, 459 Hucker, B. U. 351, 367 Hudson, A. 409 Hugo, V. 25 Hugo de Sancto Victore 202, 311, 334 Hugo Ripelin v. Straßburg 63 Huillard-Bre´holles, J. L. A. 377 Hülsen-Esch, A. von 24, 456 Hunt, T. 460 Hurtadus de Mendoza, Petrus 155 Hus, Jan 398, 409, 426, 431 Huysmans, J.-K. 25 Hyginus Mythographus 197 Ickelsamer, Valentin 461, 462 Ilgner, R. M. 334, 340 Imbach, R. 76, 256
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Ineichen, G. 226 Ingen, F. van 280 Ingenschay, D. 278 Innocentius IV., Papst 28, 439, 442 Irenaeus v. Lyon 401 Irler, H. 481, 487 Isenmann, E. 295 Isidorus Hispalensis 59, 163, 197, 294, 454, 455, 460, 461, 533, 535, 540 Isidor v. Sevilla cf. Isidorus Hispalensis Iuvenalis, Decimus Iunius 197 Ivan´czak, W. 392 Ivo v. Chartres 342 Izquierdo, S. 160 Jacobs, J. 334 Jacobus de Sancto Martino 143 Jacobus de Venetiis 240 Jacobus Magnus cf. Legrand, Jacques Jacobus Pentius de Leuco 144 Jacobus v. Lüttich 53, 54 Jacopo della Lana 325, 329, 330 Jagello, Vladislav 393, 396 Jakob I., König v. Aragonien 31, 33, 351, 352, 362, 372, 373 Jakob I., König v. England 237, 351 Jakob II., König v. Aragonien 365 Jakobson, R. 449 Jakobus d. Ältere, bibl. 536 James, M. R. 457, 461 James, W. 105 Jantzen, H. 533 Jarnut, J. 3 Jean Bourgogne, Herzog 287, 297, 298, 301 Jean Courtecuisse 292 Jean de Joinville 370 Jean de Meung 197 Jean Michel 498, 502, 519 Jeck, U. R. 77, 79, 166 Jenaro-MacLennan, L. 328 Jenks, St. 235 Jenner, H. 538 Jensen, P. J. 115 Jerome, Heiliger cf. Hieronymus, Sophronius Eusebius Jesus Christus 60, 152, 172-177, 181-185, 187-189, 191, 192, 202, 203, 211, 216221, 353, 354, 359, 398-400, 402-406, 408, 410-413, 497, 498, 501-503, 508518, 534, 536, 542, 546-548 Jirecek, H. 354 Joachim v. Fiore 406-409 Jodogne, O. 495, 498 Johann I., Herzog v. Brabant 386, 390
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Namenregister
Johann, König v. Böhmen 389, 390, 393, 395 Johann v. Boendale 393 Johann v. Luxemburg cf. Johann, König v. Böhmen Johann v. Marignola.391 Johannes, Evangelist 510, 532, 540, 542, 544, 546 Johannes XXII., Papst 409, 429-431 Johannes XXIII., Papst 416, 424 Johannes Andreae 441, 444 Johannes Andreas 213 Johannes a Sancto Thoma 164 Johannes Baco 84 Johannes Boen 54 Johannes Buridanus 112, 244-283 Johannes de Fontana 226-229, 236 Johannes de Ianduno 78 Johannes de Lugo 160 Johannes de Muris 53, 54, 522 Johannes de Nova Domo 273 Johannes de Regina de Neapoli 84 Johannes de Sancto Amando 233 Johannes d. Täufer 498 Johannes Diaconus 47 Johannes Glogoviensis 112-120, 122 Johannes Guallensis 239, 240 Johannes Palomar 427 Johannes Parisiensis 233 Johannes Qui Dort cf. Johannes Parisiensis Johannes Scotus Eriugena 101, 102, 197 Johannes Tinctoris 57 Johannes Venator Anglicus 94 Johannes Versor 113, 116-118, 120-122 Johannes Vitalis a Furno 156 Johannes v. Capestrano 426 Johannes v. Garlandia 460 Johannes v. Procida 378 Johannes v. Salisbury 199, 360 Johannes v. Serravalle 335 Johann Ohnefurcht cf. Jean Bourgogne, Herzog John Baconthorpe cf. Johannes Baco John of Naples cf. Johannes de Regina de Neapoli Johnson, L. 386 Jomaron, J. 499 Jones, Ch. W. 176 Jonston, J. 465, 466 Jordan, Peter 462 Jordan, W. C. 371 Joseph v. Arimathäa 515 Josephus, Flavius 216 Joyce, J. 59 Juan Gonzalez 427
Judas, bibl. 513, 519 Judt, T. 22 Juergens, H. 473 Junius, Hadrianus 464 Juno, myth. 489 Jupiter, myth. 489 Justinian I., Kaiser Byzantinisches Reich 442, 443 Juve´nal DesUrsins, Jean 297 Kablitz, A. 245, 246, 250, 251, 253, 258, 270 Kadlec, J. 391, 394 Kafka, F. 474, 475 Kaiser, G. 360, 487 Kalista, Z. 391 Kaluza, Z. 254, 423 Kann, Ch. 89-110, 157 Kant, I. 7, 10, 11, 152, 153, 474 Kantorowicz, E. H. 289, 359, 378, 380, 385, 441, 445, 446 Karcher, E. 20 Karl I., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 355, 380, 384, 385, 390, 391, 394 Karl I., König v. Neapel 365 Karl II., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 356, 384 Karl II., König v. Neapel 365 Karl III., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 393, 394 Karl IV., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 351, 390-397 Karl V., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 496 Karl V., König v. Frankreich 301, 371, 419 Karl VI., König v. Frankreich 235, 237, 298, 301, 498 Karl VIII., König v. Frankreich 4 Karl d. Große cf. Karl I., Kaiser RömischDeutsches Reich Karl d. Jüngere, König v. Neustrien 355 Karl d. Kahle cf. Karl II., Kaiser RömischDeutsches Reich Karl d. Kühne, Herzog v. Burgund 288 Karl Hayes, N. 487 Karlmann, Sohn Karls d. Großen cf. Pippin, König v. Italien Kastner, J. 382 Kavka, F. 390, 396 Kazimierz III., König v. Polen 31 Keil, H. 90, 119, 155, 452 Kellner, B. 476, 487, 490 Kelly, J. N. D. 398 Kelly, L. G. 111-114, 117, 118, 120, 122, 224 Kenny, A. 90, 91, 124, 247, 275, 409 Kepler, Johannes 233
Namenregister Ker, N. R. 459 Kern, F. 380, 432 Kersken, N. 382 Kerve´gan, F. 438 Keßler, E. 138, 245, 246 Keussen, H. 225 Kiefer, K. H. 488 Kiepe-Willms, E. 483 Kiesewetter, R. G. 42, 43, 45, 52, 55, 56 Kiesow, R. M. 5 Kilwardby, Robertus 331 Kinder, E. 409 Kintzinger, M. 288, 447 Kirchhoff, R. 92, 93, 107, 110 Kirschner, S. 100, 101, 105 Klein, P. 537, 538 Kleinert, A. 227, 229 Klemm, F. 227 Klibansky, R. 67, 69 Klinkenberg, H.-J. 432 Klippel, M. 382 Klopsch, P. 459, 474 Klotho, myth. 206 Klotz, S. 528 Klüpfel, L. 366 Kluxen, W. 173, 260, 272 Knebel, S. K. 151-167 Knobloch, E. 124 Knoche, S. 280 Knoll, P. W. 31, 365 Knowlson, J. 60 Köbler, G. 427 Koch, A. F. 101 Koch, R. 27 Kocyba, H. 248 Kolmer, L. 376 Koningson, E. 496 Konrad II., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 385 Konrad III., König Römisch-Deutsches Reich 363, 368 Konrad IV., König Römisch-Deutsches Reich 376, 378 Konrad Gruter v. Werden 224-229, 236 Könsgen, E. 459 Köpf, U. 410 Korn, B. 306 Korolec, J. B. 249, 252, 255, 260, 261, 263, 271, 281 Kortenkamp, G. 221, 222 Korthaase, W. 468 Koschorke, A. 289 Koselleck, R. 8, 9, 12, 55, 154, 222, 381 Krämer, S. 456
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Krämer, U. 381 Kraml, H. 332 Kranz, H. 226-228 Kraus, A. 377 Krause, H. 432 Krause, K. Ch. F. 44 Krauze-Błachowicz, K. 111-122 Kretzmann, N. 81, 90-94, 97, 98, 110, 124, 131, 133, 224, 247, 275 Kriechbaum, M. 433, 440, 441 Krieger, G. 253, 260, 263 Kriele, Ch. 291 Krˇ´ızˇ, Oldrˇich 394 Krmı´cˇkova´, H. 324 Kroeschell, K. 432 Kroisos, König v. Lydien 203 Kronauer, R. 196 Krop, H. A. 255, 260 Krüger, K. H. 381, 437 Krusch, B. 384 Krynen, J. 299, 419 Krzemien´ska, B. 388 Kubı´nova´, K. 395 Kühn, U. 412 Kühnel, B. 172 Küpper, J. 245, 246, 253 Kuras´, S. 28, 31, 33 Kurfess, A. 298 Kuttner, St. 339, 341, 343 Kvı´tkova´, N. 389 Kylmington, Richard 124 Kytzler, B. 274 Laaths, E. 62 Labory, G. 179 Lacaita, J. P. 333 Lachmann, K. 482 Lactantius, Lucius Caecilius Firmianus 197, 220 Laerhoven, J. van 360 Lalla, S. 307-319 Lamacchia, A. 87 Lambertini, R. 281 Lammers, W. 350, 391 Lanc, E. 388 Lancia, Andrea 328 Landgraf, A. M. 334 Landinus, Christophorus 325, 336 Lang, F. 24 Lange, A. de 405, 406 Lange, V. 487 Lantink-Ferguson, A. 226, 228, 236 Lapidge, M. 179 Latini, Brunetto 291
576 Latinus 392 Lausberg, H. 477, 479 LaVigne, A. de 496 Lavinia, Tochter des Latinus 392 Lazarus, bibl. 510-513, 519 Lazzari, F. 350 Lebe´gue, R. 520 Lechler, G. V. 411 Leclerq, H. 531 Leclerq, J. 219, 512, Lecq, R. van der 255, 272, 275 Lefe`vre, S. 239 Leff, G. 409, 411 Le Fort, G. von 24 Le Goff, J. 3, 13, 75, 76, 86, 299 Legrand, Jacques 236-243 Lehmann, H. 19 Lehmann, P. 456, 459 Leibniz, G. W. 10, 67 Leibold, G. 100, 331 Lema Pueyo, J. A. 353 Lemoine, M. 196-210 Lenk, K. 441 Leo I., Papst 514 Leo IV., Kaiser v. Byzanz 393, 394 Leonardo da Vinci 226-228, 519 Leonhard, E. G. 365 Le Patourel, J. 357 Lepsius, O. 16 Letting, N. 381 Leuchter, Ch. 487 Leucippus 240 Lewis, A. W. 375 Lewis, C. S. 197 Lewis, D. 320 Lewis, P. S. 297 Leyh, P. 7, 42 Leyser, P. 447, 459, 468 Lhotsky, A. 387, 396 Libera, A. de 77, 81, 131, 255 Libusˇe, Gattin v. Prˇemysl 389 Lieb, L. 476 Liebermann, F. 377 Liefooghe, A. 288 Lindsay, W. M. 59, 294, 454 Linehan, P. 29, 31, 33, 38 Liriope 489 Little, L. K. 372 Livius, Titus 250, 256, 259, 267 Llabre y Quintana, G. 362 Locke, J. 10 Lockwood, L. 529 Loewe, G. 448 Löffler, W. 100
Namenregister Lohr, Ch. H. 124, 142 Löhr, W. 401 Lohrmann, D. 224-243 Lona, H. E. 401 Longe`re, J. 458, 459 Lorenz, S. 447, 456 Loserth, J. 409-411 Lothar I., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 358 Luard, H. R. 356 Lucretius Carus, Titus 166 Lüdemann, S. 289 Ludmila, Heilige 395 Ludvı´kovsky´, J. 389 Ludwig I., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 350, 356, 358 Ludwig II., König Ostfränkisches Reich 355, 356 Ludwig II., König v. Böhmen u. Ungarn 395 Ludwig IV., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 394 Ludwig VI., König v. Frankreich 350 Ludwig VII., König v. Frankreich 385 Ludwig VIII., König v. Frankreich 369, 375 Ludwig IX., König v. Frankreich 351, 353, 361, 364, 369, 370, 372, 375, 376 Ludwig X., König v. Frankreich 371 Ludwig XI., König v. Frankreich 288, 303, 304, 306 Ludwig XII., König v. Frankreich 287, 297, 298 Ludwig d. Bayer cf. Ludwig IV., Kaiser Römisch-Deutsches Reich Ludwig d. Deutsche cf. Ludwig II., König Ostfränkisches Reich Ludwig d. Fromme cf. Ludwig I., Kaiser Römisch-Deutsches Reich Ludwig d. Heilige cf. Ludwig IX., König v. Frankreich Ludwig v. Orle´ans cf. Ludwig XII., König v. Frankreich Luhmann, N. 153, 436 Lukas, Evangelist 546 Lullus, Raimundus 362 Luscombe, D. 340, 342 Luther, Martin 4, 211-213, 412, 413, 431 Lutterbach, H. 343 Luzifer, bibl. 502-505, 514 Maccagnolo, E. 200, 201, 208 McCord Adams, M. 155 Macer Floridus 197 Machiavelli, Niccolo` 304 Machamer, P. K. 81, 94, 131
Namenregister Macek, J. 396 McGrory, M. 533, 547 McGuire, B. P. 424 MacKay, A. 29 Macrobius, Ambrosius Theodosius 197, 199, 207, 209 McTaggart, J. M. E. 152 Maffei, D. 438 Mager, W. 289 Maggio`lo, P. M. 64, 78, 79 Magliabechi, A. 142 Magnus, H. 489 Maier, A. 77, 79, 86, 87, 127, 143, 264 Maier, H. 304, 305 Maieru`, A. 139 Mairold, M. 458 Maius 535, 537-539 Major, John 123 Malı´rˇ, J. 389 Mandonnet, P. 80 Mandrella, I. 214, 215, 219 Manfred, König v. Sizilien 376 Manilius, Marcus 197 Mann, Th. 24, 153 Mann, W. 341 Mansilla, D. 29, 32 Mansion, A. 77 Map, Walter 459 Maramauro, Guglielmo 325, 333 Marchis, V. 228 Marcolino, V. 157 Marcovich, M. 448, 451 Marenbon, J. 339, 344 Margarete v. Brabant 390, 393 Maria, bibl. 411, 510, 513, 514, 517 Maria Magdalena, bibl. 510, 513, 519 Marin, I. 161 Maritain, J. 25 Marius Victorinus Grammaticus 452 Markowski, M. 112, 247, 249, 263, 265, 282 Markschies, C. 400 Markus, Evangelist 546 Marpurg, F. W. 46 Marquard, O. 245 Marsilius de Ingen 161, 235 Marta v. Bethanien 510, 511 Martelli, M. 251 Marti, K. 322 Martialis, Marcus Valerius 197 Martianus Capella 196, 197, 204, 205 Martin, J. 293 Martin, R. 320 Martin v. Braga cf. Martinus Bracarensis Martin v. Tour 177, 182, 187, 188, 357
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Martı´nez Dı´ez, G. 535 Martini, Francesco di Giorgio 228 Martinus Bracarensis 288, 290, 292, 296 Martinus de Dacia 114 Marx, J. 221 Maslowski, M. 37 Masse`ra, A. F. 394 Matala de Mazza, E. 289 Mathilde v. Tuszien, Markgräfin 22 Matthaeus Parisiensis 377 Matthäus, Evangelist 546 Matthäus v. Krakau 416, 422, 423, 428, 429 Matthiesen, M. 16 Maurer, W. 409 Maurus, S. 162 Maximianus Etruscus 197 May, G. 398 Mayali, L. 436 Mayer-Tasch, P. C. 305 Mazouer, Ch. 497-500 Mazzatinti, G. 142, 458, 521 Mazzucchi, A. 328, 333 Meer, F. van der 534, 542, 547 Meier, Ch. 19, 447 Meier-Oeser, S. 91, 92 Meirinhos, J. F. 91 Meisner, C. 453 Melanchton, Philipp 412 Mellor, D. H. 160 Melville, G. 288, 342, 383, 386, 396 Mendl, B. 388 Mene´ndez Pidal, R. 32 Mensching, G. 6, 246, 439, 445 Mentre´, M. 532, 533, 548 Menut, A. 234 Menut, A. D. 420 Merhautova´-Livorova´, A. 388 Merlo, G. G. 406 Mertens, D. 383 Mertens, V. 483 Merzbacher, F. 360, 426, 427 Meuthen, E. 215, 217 Meyer, A. 429 Meyer, G. 457 Michael, bibl. 545 Michael, B. 248, 249, 252, 253, 257, 259, 267 Michael de Marbasio 116, 119-122 Michel de Cre´ney 237 Michelet, J. 244 Michels, U. 53, 522 Middeldorf-Kosegarten, A. 11 Mierau, H.-J. 381 Mies van der Rohe, L. 20, 21 Miethke, J. 14, 275, 298, 299, 414-431, 444
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Namenregister
Miglio, M. 213 Migne, J.-P. 47, 453, 454, 459 Mikat, P. 436 Millais, J. E. 20 Minio-Paluello, L. 453 Miranda Garcı´a-Tejedor, C. 539, 540, 543, 549 Mitre Fernandez, E. 38 Mitteis, H. 355 Mock, E. 445 Moeglin, J.-M. 349 Moeller, B. 363 Moe¨lles, Jacques de 496 Mohammed, Prophet 217 Mohnhaupt, H. 438 Mojsisch, B. 298 Moleiro, M. 539 Molina, L. 87 Mommsen, Th. 454 Mommsen, W. J. 19 Monahan, E. J. 249 Monnet, P. 14, 25 Montesquieu, Ch. 10, 11, 13 Moody, E. A. 249 Moos, M. F. 507 Moos, P. von 3, 288 Moraw, P. 4 Moreschini, C. 201, 214 Morris, W. 20 Moser, Ch. 250, 258, 267, 277 Mostert, M. 447 Muhlack, U. 6, 12, 16 Müller, F. L. 454 Müller, J. 436, 462 Müller, J.-D. 270, 360, 483, 528 Müller, K. 354 Müller, M. 382 Müller, St. 487 Müller, U. 475, 483 Münkler, H. 303, 304, 441 Munnius, Presbyter 539 Muntaner, Ramo´n 365 Murdoch, J. E. 94, 95, 107, 129, 224, 230 Murray, A. V. 386 Mußgnug, R. 275 Mutzenbecher, A. 334, 340 Myron 203 Naegle, G. 303 Nardi, B. 124 Narziss, myth. 489-491, 493 Narziß, G. A. 449 Nechutova´, J. 389, 395 Neebe, G. 412 Nemesius Emesenus 197
Nero, Kaiser Römisches Reich 202, 203 Neuss, W. 536, 537 Neuwirth, J. 392, 393, 395 Newhauser, R. 293 Newton, I. 87, 101, 233 Nicholas V., Papst 35 Nichols, J. 366 Nicolaus Caritellus 139, 140-142, 144, 150 Nicolaus de Clemangiis 421, 422, 427, 430 Nicolaus de Cusa 211-223 Nicolaus Parisiensis 91-93, 117 Nicolaus Oresmius 100, 101, 105, 107, 233236, 419, 420 Nielsen, L. O. 94, 95, 98, 102, 103, 129 Nietzsche, F. 5, 72 Niewöhner, F. 405 Nikomachos v. Gerasa 54 Ninus 393-395 Nissing, H.-G. 299 Noah, bibl. 385, 386, 392 Nock, A. D. 200 Noethlichs, K.-L. 238 Nora, P. 13, 350 Normore, C. G. 133 Nothdurft, D. 362 Novalis cf. Hardenberg, Friedrich von Novotny´, V. 389 Nowicki, J. 37 Nozick, R. 320 Nuding, M. 422 Obermann, H. A. 254 Obrist, B. 179 Odo v. Glanfeuil 185, 186 Odysseus, myth. 203 O’Callghan, J. F. 352 O’Donnel, J. R. 107 Oexle, O. G. 3-26, 222, 384, 444, 446 Offe, C. 306 Ohly, F. 335 Øhrstrøm, P. 136 Olivi, Petrus Johannes 101 Önnerfors, A. 459 Ordericus Vitalis 350, 356. 358 Origines 514 Ortalli, G. 40 Oschema, K. 288 Otto I., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 381, 394 Otto IV., Kaiser Römisch-Deutsches Reich 351, 366 Otto d. Große cf. Otto I., Kaiser RömischDeutsches Reich Otto v. Freising 350, 382
Namenregister Oue´draogo, J. M. 19 Ovidius Naso, Publius 197, 459, 489, 491 Owen, G. E. L. 79 Pacau, M. 370 Pacheco, M. C. 91 Pagani, I. 341, 342 Paolo de Pergula cf. Paulus Pergulensis Papias 461, 466 Paque´, R. 254 Paravicini, W. 4 Paravicini Bagliani, A. 40 Parfit, D. 320 Paris, myth. 203 Parisoli, L. 440 Parodi, M. 130, 134 Pascal, B. 10 Patschovsky, A. 350, 419, 422, 426 Patze, H. 382, 384 Paul, J. 152 Pauli, R. 377 Paulsen, F. 447 Paulus, Apostel 474, 492, 502 Paulus Diaconus 185, 188 Paulus Pergulensis 143, 145 Paulus Venetus 103, 123-150 Pauly, M. 389 Pavlova, A. 25 Payer, P. 343 Pearson, J. 247 Pecci, J. 291 Peden, A. M. 184 Pe´guy, Ch. 25 Peil, D. 487 Peinadus, I. F. 163 Pellens, K. 359 Pennington, K. 443, 444 Perez, A. 162 Perkams, M. 339 Perler, D. 6 Perotinus Magnus 54 Persius Flaccus, Aulus 462 Pertz, G. H. 47, 363, 384, 385 Peschel, D. 487 Pestalozzi, J. H. 451 Petau, D. 151 Petavius, Dionysius cf. Petau, D. Peter III., König v. Aragonien 365, 373 Peter IV., König v. Aragonien 365 Peterson, E. 544 Petit, Jean 296, 298 Petneki, A. 12 Petrarca, Francesco 244-283 Petrus, Presbyter 539, 542
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Petrus Abaelard 93, 334, 338-345 Petrus Aureoli 64, 131, 154, 156 Petrus Comestor 442 Petrus Damiani 359 Petrus de Alvernia cf. Petrus Aureoli Petrus de Ledesma 158 Petrus Helias 452 Petrus Hispanus 92, 95-99, 101-103, 105, 107, 110 Petrus Lombardus 334 Petrus Peregrinus 227-229, 232, 233, 236 Petrus Wysz de Radolin 423 Peyraut, Guillaume cf. Guilelmus Peraldus Pfeiffer, H. 278 Pfeiffer, J. 473-494 Phaethon, myth. 202, 203 Philipp I., König v. Kastilien 496 Philipp II., König v. Frankreich 361, 364, 368, 369, 374, 375 Philipp II., König v. Makedonien 256 Philipp III., König v. Frankreich 353, 361 Philipp IV., König v. Frankreich 32, 299, 370 Philipp V., König v. Frankreich 371 Philippe le Beau cf. Philipp I., König v. Kastilien Phöbus, myth. 204 Phoron 203 Piccari, P. 77 Pickave´, M. 255, 304 Picot, E. 503 Piekosin´ski, F. 31 Pierre Bressuire cf. Berchorius, Petrus Pierre d’Ailly 416-418, 430 Pierre de Maricourt cf. Petrus Peregrinus Pilatus, Pontius 498 Pilz, K. 467, 468 Pinborg, J. 90, 91, 115, 124, 224, 247, 275 Pinder, W. 18 Pippin, König v. Italien 355 Pippin III., Fränkischer König 355 Pippin d. Ältere 384 Pirotta, A. M. 64, 232, 323 Pisoni, P. G. 333 Pitz, E. 3 Pius II., Papst 431 Platon 200-203, 207, 210, 237, 241, 273, 280, 473, 486, 524, 525 Pluta, O. 249, 255, 263, 273, 274, 298 Pohlenz, M. 278 Polc, J. 390 Polemius Silvius 448, 454 Pollux, myth. 203 Pollux, Iulius 463 Poole, R. L. 410
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Namenregister
Poppenheim, E. 468 Poppi, A. 124 Porphyrius 453 Porro, P. 75-88, 102, 159 Pre´aux, J. 204 Prˇemysl d. Pflüger 387-389, 392, 393, 395 Presta, V. 321 Prete, S. 458 Priamos, König v. Troja 203, 384, 385, 386, 390, 393 Price, D. J. de Solla 229 Prietzel, M. 292, 294, 295 Priscianus Caesariensis 90, 111, 119, 155, 166, 452 Probus, Marcus Valerius 452 Procaccioli, P. 325, 336 Proclus 153 Procopio, P. 521-530 Proksch, C. 382 Pseudo-Odo 44, 45 Ptas´nik, J. 31 Ptolemaeus, Claudius 215 Puigcerver Zano´n, A. 85 Pulkava Prˇibı´k z Radenı´na 392 Pumprova´, A. 324 Pythagoras 240 Quante, M. Quartieri, F. 333 Quintilianus, Marcus Fabius 526-528 Ra´bade Romeo, S. 85 Radulfus Strodus 139, 145 Raimundus Superanus 279 Räkel, H.-H. 487 Rang, B. 458 Ranke, L. von 6, 7, 11, 13 Raphael, L. 13 Rathofer, J. 459 Rauner, E. 239 Rauschenbach, S. 16 Reckow, F. 55 Reding, M. 399 Reeves, M. 408 Regn, G. 266, 267 Reid, Th. 164 Reifferscheid, A. 451 Reilly, L. A. 452 Reinhardt, K. 217, 220 Reinmar d. Alte 479, 481, 484, 493 Reißmann, A. 47, 55 Reno, C. 288 Reti, L. 226, 228 Reusner, E. von 487
Reuter, U. 248 Rey-Flaud, H. 496 Ribaillier, J. 332 Ribbe, W. 383 Ribe´mont, B. 288, 299 Ricci, P. G. 327 Richard I., König v. England 366 Richard, J. 370, 372 Richard, J.-M. 497 Richardus de Lavingham 136 Richard de Mediavilla 322, 330, 331 Richardus Rufus 232, 233 Richardus Sophista 95 Richard v. Montenegro 378 Ricklin, T. 326, 327 Riemann, H. D. 214, 215 Riese, A. 450, 458 Rigaudie`re, A. 303 Riu Riu, M. 366 Ritter, J. 91, 94, 101, 102, 251, 380 Rivain, C. 248 Robert I., König v. Neapel 444 Roberto de Nardi 256 Roberts, L. D. 95, 129 Robertus Bacon 91, 92 Robertus de Sabilone 54 Robert v. Cambray 63 Robert v. Saint-Michel 356 Rochais, H. M. 219, 512 Röcke, W. 342 Rodericus de Arriaga 152 Rodrigo Diaz de Vivar cf. El Cid Rodrı´guez, A. 541 Rodriguez, F. 535 Rodrı´guez Mun˜oz, J. 536 Rodriguez de Lama, I. 32 Rodriguez Lopez, A. 33 Rogge, J. 288 Roling, B. 320-337 Romero Pose, E. 531 Romulus, myth. 393-395 Roos, H. 115 Roquebert, M. 403 Roscelinus 338 Rosenfeld, H. 467 Rosik, S. 388 Rossi. L. C. 329, 335 Rossi, L. E. 525 Rossi, P. 8, 151 Rothmann, M. 293, 302 Rothschild, J. de 503, 509 Rouse, M. A. 360 Rouse, R. H. 360 Rückert, J. 6, 19
Namenregister Rudavsky, T. 246 Rudolf, R. 280 Ruggiu, L. 77 Ruiz, T. 39 Runnalls, G. A. 496 Ruprecht, König Römisch-Deutsches Reich 416 Rüsen, J. 153, 166 Ryle, G. 108-110 Saarinen, R. 260-262 Sabane´s i Ferna´ndez, R. 535 Sahaydachny, A. 531-558 Salacˇ, A. 393, 394, 396 Salavert Roca, V. 365 Sallustius Crispus, Gaius 297, 298 Salmon, Pierre 299 Salomon, R. 390 Samaritanius, F. H. 299 Sancho IV., König v. Kastilien 373 Sandkühler, B. 324, 325 Sanders, H. A. 531, 536 Santagata, M. 252 Sauppe, H. 350 Savigny, F. K. von 440 Scanderberg cf. Georgius Castriota Scafi, A. 534 Scarabelli, L. 330 Schaal, G. S. 487 Schabel, Ch. 154, 158-160 Schäfer, E. 468 Schäfer, R. 399, 412 Schäfke, R. 525 Schaller, D. 459, 466 Scharff, Th. 288 Schaub, W. 473 Schäufele, W.-F. 398-413 Scheler, M. 166 Schelling, F. W. J. 153, 164, 166 Schenck, Matthias 464 Schieffer, R. 4, 386 Schiera, P. 432 Schilling, G. 43, 49, 50, 51, 55 Schiöler, T. 228 Schirren, Th. 476 Schlieben, B. 12 Schlochtermeyer, D. 382 Schlotheuber, E. 391 Schlunk, H. 532 Schmale, F.-J. 382 Schmauch, W. 401 Schmeller, H. 228 Schmid, A. 382 Schmid, E. 487
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Schmid, K. 383, 384, 385 Schmidlin, A. 520 Schmidt, H. 380 Schmidt, H.-J. 222, 304, 306, 349-379 Schmidt, M. 409 Schmidt, P. G. 290 Schmidt, T. 416 Schmitt, A. 278 Schmitt, J.-C. 13, 26 Schmitz, G. 342 Schmutz. J. 159, 161 Schnapp, J. 335 Schnarr, H. 214 Schneider. H. 451 Schneider, J. 155 Schneidmüller, B. 372 Schnerb, B. 287 Schnerb-Lie`vre, M. 302 Schnith, K. 382 Schofield, M. 79 Scholz, S. 299 Schönberger, R. 246, 248, 249, 253-255, 257, 262-264, 272, 275, 282 Schott, G. 453 Schreiner, K. 14, 302, 360 Schröter, M. 166 Schuler, P.-J. 383 Schulte, P. 287-306 Schulthess, P. 256 Schulz, A. 21 Schulz, Ch. M. 476 Schulze, H. 23 Schulze, R. 19 Schumann, O. 460 Schwaetzer, H. 213 Schweikle, G. 483 Schweizer, S. 5, 12, 14, 24 Scinto, L. F. 449 Scivoletto, N. 462 Seay, A. 57, 529 Segl, P. 12, 24 Segre, M. 124 Selge, K.-V. 404 Seibt, F. 390 Sellert, W. 363 Selmi, F. 336 Seneca, Lucius Annaeus 200, 238, 255, 270, 273, 288, 290, 422 Senger, H. G. 213, 216, 218 Sen´ko, W. 166, 237, 423 Sennelart, M. 283 Seriacopi, M. 329 Sextus Empiricus 153 Sezgin, F. 228
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Namenregister
Shapiro, Ch. 127, 130, 132, 133, 144 Shapiro, H. 127, 130, 132, 133, 144 Shoemaker, S. 320 Siber, Adam 464 Sienkiewicz, K. 37 Siepmann, F. 453 Sigerus de Cortraco 154 Sigismund, Kaiser Römisch-Deutsches Reich 396 Silo, König v. Asturien 536 Silvester I., Papst 405 Simon Bougoin 500 Simon, D. 5 Simson, B. von 363 Skutella, M. 201, 473 Slanicˇka, S. 301 Smith, A. W. 521 Smith, Ch. 27 Smith, T. 143 Smits, K. 487 Smits van Waesberghe, J. 56 Snoopy 476, 478 Soldevila, F. 351 Sommerfeldt, G. 422 Soncinas, Paulus 161 Sorabji, R. 79 Sorbelli, A. 139 Soto, Domingo de 124 Souffrin, P. 253 Spade, P. V. 91, 128, 131, 132 Spartianus, Aelius 452 Specht, F. A. 447 Specht, R. 10 Spechtler, F. V. 483 Speckenbach, K. 487 Speer, A. 49, 152, 172, 173, 246, 247, 253, 264, 272, 282, 283, 434 Spengel, L. 450 Speˇva´cˇek, J. 389, 390, 395, 396 Spiazzi, R. 64 Spiegel, G. 350 Spieß, K.-H. 349 Spinoza, B. de 66 Spruyt, J. 95 Spunar, P. 394 Stabenow, J. 5 Staehelin, M. 363 Stanislaus de Znoyma 156, 162 Stark, B. 495-520 Starnes, D. T. 463 Staub, M. 16 Steele, R. 78 Stefan Dusˇan, König v. Serbien 34 Stegemann, V. 216
Stegmüller, W. 162 Stein, A. 487 Steinhauser, K. B. 536 Stejskal, K. 392, 396 Stempel, W.-D. 381 Sterckx, S. 542 Stern W. 166 Stettberger, H. 108 Stevenson, H. 458 Stiegemann, Ch. 22 Stierle, K. 250, 267 Sting, S. 458 Stolleis, M. 5, 436 Strayer, J. R. 371, 372 Streller, J. 380 Strobach, N. 96, 100, 103, 104 Strohschneider, P. 476 Stroick, C. 240, 323 Studt, B. 424 Stump, Ph. H. 424 Sturlese, L. 233 Sturm, Johannes 463, 464 Stürner, W. 353 Sua´rez, F. 85, 87, 160-162 Suarez-Nani, T. 76 Suetonius Tranquillus, Gaius 450, 451-453, 455, 462 Suger v. St. Denis 350 Sułkowska-Kuras´, I. 28, 31, 33 Sullivan, D. D. 216 Sulpicius Severus 357 Sünderhauf, E. S. 12 Süßmann, J. 299 Sˇusta, J. 389, 390 Sylla, E. D. 124, 127 Szekfu˝, Gy. 38 Tabarroni, A. 131 Tarrant, J. 430 Tarrant, R. J. 303 Tartaretus, Petrus 155 Tazbir, J. 35, 37 Tempier, Bischof cf. Temperius, Stephanus Temperius, Stephanus 80 Tervooren, H. 493 Thales Milesius 202, 203, 240 Thauer, F. 339 Theele, J. 456 Theganus Treverensis 358 Theiner, A. 28, 29, 31, 33 Thier, A. 435, 436 Thierry de Chartres 200, 207 Thomas, Y. 438, 439 Thomas Becket 366
Namenregister Thomas de Cantiprato 238 Thomas de Sutona 155 Thomas de Wylton 127, 166 Thomas Hybernicus 62 Thomas v. Aquin 63, 64, 78, 79, 81, 83, 85, 101, 143, 153-155, 158, 159, 164, 166, 231, 232, 240, 255, 270, 291, 308, 322, 323, 330-332, 335, 354, 453, 502, 506, 507, 512, 514, 515, 518, 528 Thomas v. Erfurt 112-116, 118, 119, 122, 157 Thomas v. Straßburg 330, 332 Thomson, R. B. 233 Thorndike, L. 229, 233, 235-237, 253 Thumser, M. 447 Tichy, E. 448 Tiersch, C. 487 Timur 34 Tiphys 203 Tiresias, myth. 489 Titus Tatius 203 Tola 393-395 Tollenaere, F. de 464 Tönnies, F. 15 Töpfer, B. 407, 408 Tophoven, E. 59, 60, 65 Torri, A. 328 Torro´, J. 39 Tre´horel, E. 201 Tre´maugon, E´vrart de 302 Tremp, E. 356, 358 Trˇesˇtı´k, D. 388, 389 Trifogli, C. 127, 130, 232 Trinkaus, Ch. 254 Triolo, A. A. 322 Troius, myth. 385 Truci, I. 142 Turnbull, R. G. 81, 94, 131 Turnus 203 Tyconius Afer 536, 537 Ubieto Arteta, A. 533 Ueding, G. 476 Ugolino da Orvieto 529, 530 Uhlenbrock, H. 440 Ullmann, W. 440-442 Urban II., Papst 29, 32 Ussher, James 413 Valdes 404-406 Valencia, Gregorius de 159 Valerius Flaccus 240 Valerius Maximus 240 Valin, Jean 238
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Valin, Rene´ 238 Vallone, A. 324, 325, 329 Vanderjagt, A. J. 288 Van der Lugt, M. 330 Varin, M. P. 190 Varro, Marcus Terentius 450, 452, 454, 455 Vaughan, R. 287 Vecchio, S. 290 Vellutello, Alessandro 335 Vellutello, Andrea 325 Venckeleer, Th. 403 Vener, Job 423 Ventarola, B. 244-283 Verbist, P. 174, 175, 177, 183, 185, 190, 191 Vergilius Maro, Publius 143, 197, 202, 203, 274, 279 Vernet, A. 196, 203, 206 Verwej, A. M. 293 Veyne, P. 76, 474 Vico, G. 59 Victor, Abt v. San Miguel 538 Victor de Capua 185, 188 Victorius Aquitanus 184 Vidmanova´, A. 388 Vignaux, P. 254 Villani, Filippo 327 Villard de Honnecourt 228, 229, 236 Vincencius Bellovacensis 238-240, 361, 386, 461, 465, 466 Vincenz v. Beauvais cf. Vincencius Bellovacensis Virchow, R. von 7 Vitale-Brovarone, A. 496 Vı´tovsky´, J. 395 Vivancos, M. C. 539 Vives, J. 535 Vives, Juan Luis 138 Vlcˇek, R. 389 Vollmer, F. 455 Vos, A. 255, 260, 262 Voss, J. 9 Vossler, K. 59 Vsˇetecˇkova´, Z. 388, 395 Wadding, Lucas 154 Wade, B. 529 Wackernagel, W. 448, 457, 458, 468 Wagner, F. 459 Wagner, R. 24 Waitz, G. 363, 384-386 Waldhoff, St. 447 Walker, R. 533, 539 Walker Bynum, C. 322 Wallace-Hadrill, A. 451
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Namenregister
Wallerand, G. 154 Wallis, F. 171, 183 Walsh, J. J. 255, 261, 262 Walsh, K. 355 Walter Burley cf. Burlaeus, Gualterus Walter, M. 447 Walther, H. 457, 458 Walther, H. G. 24, 303, 432-446 Walther, M. 441 Walther v. d. Vogelweide 473-494 Wapnewski, P. 12 Waquet, H. 350 Warner, F. G. 458 Warner, G. R. 361 Warning, R. 503, 505, 508, 514 Warren Baron Vernon, G. J. 328, 329, 333 Wassermann, J. 162 Wasserschleben, F. 342 Waszink, J. H. 198 Watson Al-Hamdani, B. A. 536 Wayne Storey, H. 322 Weakland, J. F. 430 Webb, C. C. I. 360 Weber, Ch. F. 288 Weber, H. J. 322, 323 Weber, H. P. 334 Weber, M. 19, 351 Weber-Kellermann, I. 380 Wegman, R. C. 57 Wehle, W. 270 Weijers, O. 160, 419 Weinberger, W. 383 Weinrich, L. 414, 416, 417 Weintraub, W. 391 Weiland, L. 351, 353, 368, 374, 377, 378 Weimar, P. 172, 173 Weischedel, W. 474 Weisheipl, J. 126, 139 Wels, H. 59-72 Welz, F. 445 Wemhoff, M. 22 Wenzel II., König v. Böhmen 393 Wenzel IV, König v. Böhmen 395, 396 Wenzel d. Heilige 387, 389, 390, 395 Wenzel, F. 487 Wenzel, S. 293 Werner, J. 457 Werner, K. F. 47, 355, 386 Werner, M. 349, 437 Westermann, H. 94 Wetherbee, W. 206, 326 Westphal, R. 523 Wettenbach, W. 458 Whitman, J. 326
Wiclif, I. 160 Wieacker, F. 17 Wieland, G. 172, 173, 445 Wieland, W. 101, 104, 308 Wielgus, S. 119 Wiggins, D. 320 Wihoda, M. 389 Wilhelm II., König v. Sizilien 367 Wilhelm de la Mare 332 Wilhelm de Montibus 459 Wilhelm d. Eroberer 350, 356, 358 Wilhelm v. Auxerre 332, 334 Wilhelm v. Champeaux 338 Wilhelm v. Conches 91 Wilhelm v. Moerbeke 240 Wilhelm v. Ockham 6, 76, 86, 87, 94, 100, 102-110, 156, 157, 245, 249, 254, 255, 272, 282, 440 Wilhelm v. Sherwood 91-94, 107-109 Wilhelmi, Th. 464 Wilks, M. 409 Willard, C. C. 290, 296, 300 Willems, J. F. 393 Williams, J. 531, 535-537, 539 Willis, J. 290, 199 Willoweit, D. 427 Wilpert, P. 214, 432 Wilson, C. 94, 98, 103, 105, 124 Wilson, D. R. 521 Wimmer, B. 305 Winckelmann, J. 351 Winnington-Ingram, R. P. 525 Winter, U. 457 Wirtgen, B. 456 Wisniewski, R. 487 Wiszewski, P. 388 Wittmann, M. 528 Wiwjorra, I. 47 Własdysław I., König v. Polen 31 Wohlmuth, J. 400 Wolf, E. 523, 524 Wolf, G. 353, 487 Wolff, Ch. 153 Wolff, H. 387 Wolfram, H. 382 Wolfstetter, L. 248 Wolter, A. B. 155 Wolter, U. 436 Wood, D. 355 Wood, R. 127, 156, 232 Workman, H. B. 409, 410 Worstbrock, F. J. 456, 483 Wrobel, J. 460 Wunder, H. 349
Namenregister Wünsch, Th. 447 Wünsche, A. 44 Wyclif, Johannes 398, 409-413, 426, 431 Yarza Luaces, J. 532, 535, 545 Yowell, D. 321 Zacheroni, G. 336 Zachova´, J. 391 Zahn, P. 453 Zakrzewski, I. 31 Zehbe, J. 11 Zekl, H. G. 63, 473 Zernack, K. 388
Zeumer, K. 390 Zezulcˇ´ık, J. 389 Ziegler, Ch. 458 Zimmermann, A. 44, 49, 78, 249, 254, 437 Zimmermann, H. 402 Zimmermann, M. 58 Zink, M. 77, 239 Ziolkowski, J. M. 448 Zirfas, J. 458 Zoozmann, R. 62 Zur Lippe, R. 528 Zwiercan, M. 112, 113 Zycho, J. 81 Zygner, L. 12
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