Goldmann SCIENCE FICTION Band 0198
— Daniel F. Galouye • Das Reich der Tele-Puppen
Fünf spannende Kurzromane über den...
24 downloads
696 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Goldmann SCIENCE FICTION Band 0198
— Daniel F. Galouye • Das Reich der Tele-Puppen
Fünf spannende Kurzromane über den Versuch des Menschen, das Universum zu erschließen. Grenzsituationen, die nur unter äußerstem Einsatz gemeistert werden können.
DANIEL F. GALOUYE
Das Reich der Tele-Puppen PROJECT BARRIER ScienceFiction-Erzählungen
WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN
Made in Germany • I • 1112 © 1968 by Daniel F. Galouye. Aus dem Amerikanischen übertragen von Tony Westermayr. Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages. Umschlag: F. Jürgen Rogner. Satz und Druck: Presse-Druck Augsburg. SF 0198. ze/hu ISBN 3-442-23198-1
Das Reich der Tele-Puppen
1 »So wie die Sache aussieht«, sagte Direktor Gabe Randall vom Amt für Interstellare Erforschung mit gewohnter Untertreibung, »wird das unser wichtigster Auftrag überhaupt werden.« Er stand da wie ein Storch, ein Bein über der Schreibtischkante, während er mit einem Leuchtzeigestab auf seinen Schenkel schlug. Er sah die drei anderen Männer im Zimmer zielbewußt an. Schmal und aufrecht stemmte er sich gegen den Ansturm des Alters, das sich im weißen Haarschopf und einer durch jahrzehntelange Verantwortung gefurchten Stirn zeigte. »Ich nehme an«, meinte er lächelnd, »daß wir ohne unsere Hertz-Dame auskommen müssen.« Dave Stewart, Randalls Assistent, blickte auf den leeren Stuhl. »Carol hat mir gesagt, daß sie gleich nachkommt.« Das stimmte zwar nicht, aber umgekehrt hätte sie ihn auch gedeckt. »Das Vorrecht der Damen«, sagte der Direktor achselzukkend. »Meine Herren, ich gehe davon aus, daß der Fortschritt im AIE vor allem dadurch behindert wird, daß direkte Funkempathie nur bei Frauen entwickelt werden kann – und bei jungen noch dazu.« Aber Stewart nahm das kaum merkliche Zwinkern in den Augen Randalls wahr. Es stand im Widerspruch zu der Ernst-
haftigkeit, mit der er vorhin erklärt hatte, die Art des Auftrages verlange Spitzenkräfte. Halb so alt wie der Direktor, hatte Stewart sich die Anerkennung als logischer Nachfolger verdient, und mit Carol Cummings hatte Randall die fähigste Funkempathiespezialistin ausgewählt, die das AIE seit Jahren hervorgebracht hatte. Die hübscheste auch, dachte er ergänzend. Aber da konnte man den Strich ziehen. Darunter befand sich die Besatzung von ›Photon II‹. Nat McAllister war mit vierundvierzig Jahren weit über das Alter hinaus, in dem er mit einer leitenden Funktion rechnen konnte, dank einer Reihe von Unfällen durch unzureichende Urteilsfähigkeit und einem generellen Mangel an Ehrgeiz. Und System-Offizier Mortimer, zehn Jahre jünger, schien durch ein gleiches Maß an Minimalbegabung festzusitzen – wenn nicht durch das reine Gewicht seiner zweihundertdreißig Pfund. ›Spitzen‹-kräfte für einen Auftrag mit Vorrang? Stewart schüttelte zweifelnd den Kopf. Randall klopfte auf den Schreibtisch. »Da wir offenbar weiterhin Miss Cummings Abwesenheit erdulden müssen, fahren wir fort«, sagte der Direktor. Er berührte einen Knopf, und es wurde dunkel im Zimmer. Eine andere Taste erzeugte eine Siebenmeter-Kugel galaktischen Leuchtens, in der zahllose Pünktchen flimmerten. Stewart fand die Koordinatenachsen und verfolgte sie bis Sol. In der Nähe war Centauri, von einem Strahlenkranz umgeben, der den Ort der Zentrale des AIE bezeichnete. Mortimers Buddhagesicht schimmerte im Licht von Alpha Hydrae. »Gut, Stewart«, sagte Randall. »Vielleicht identifizieren Sie
für McAllister und Mortimer den Stern unmittelbar hinter Ihrer linken Schulter.« »Alpha Tauri.« »Richtig. Aldebaran – wo Sie vor zwei Jahren auf Vier-B einen Tele-Puppenabwurf durchgeführt haben.« »Kurz bevor Harlston und ich weiterflogen, um die Bereiche dahinter zu erforschen.« »Was Stewart nicht wußte, als er hinausflog«, sagte Randall zu den beiden anderen, »war, daß das Aldebaran-Tele-PuppenTeam aus irgendeinem Grund zu senden aufhörte – kein ganzes Jahr nach dem Abwurf.« Randall warf Stewart einen Blick zu. »Erzählen Sie ihnen, was wir bei dieser Mission unternehmen werden.« »Die Marionettenschnüre entwirren«, sagte er lakonisch. Der Direktor zog die Brauen hoch. »Ich sehe, daß unsere Hertz-Dame endlich da ist. Haben Sie sich von einer Terrasendung nicht losreißen können? Oder sie gleich mitgebracht?« Carol näherte sich durch projektierte galaktische Nebel. Ihr schwarzes Haar schimmerte im Licht. Sie lächelte und tippte sich an die Schläfe. »Zufällig gucke ich bei einer Bildsendung rein«, meinte sie, »und ich erfahre mehr über die Hintergründe dieser Besprechung, als wenn ich die ganze Zeit hiergewesen wäre.« Sie wand sich auf dem Weg zu ihrem Stuhl zwischen den Lichtpunkten für Epsilon Scorpii und Eta Orphiuchi hindurch. »Die Sendung zeigt leider, daß Sie im Amt eine undichte Stelle haben, Chef«, sagte sie, während Stewart sie zu ihrem Platz führte. Sie erwiderte seinen Gruß. »Hallo, gut, Sie an Bord
zu haben. Sie wollen uns doch nicht zu einem Zweijahresausflug entführen?« »Vielleicht können wir jetzt weitermachen«, sagte Randall. McAllisters Kopf fuhr hoch, sank aber sofort wieder herunter. Mortimer sah zufrieden von seinen rotierenden Daumen hoch. Der Direktor drückte auf eine Taste, und die Himmelskugel vergrößerte sich um das Doppelte, so daß sie in allen Richtungen noch einmal siebzig Lichtjahre umfaßte. »Wiederum genau hinter Ihnen befindet sich was, Stewart?« »Die Hyaden.« »Stewart hat, wie Sie wissen, seine Expedition vor zwei Wochen abgeschlossen«, fuhr Randall fort. »In einem abgetakelten Schiff, um größte Reichweite zu erzielen. Jetzt wird er uns etwas über seine Erfahrungen sagen.« »Die Hyaden sind reich an Welten vom Typ Erde«, sagte Stewart. Sieben –« Er verstummte kurz. Waren es sieben oder acht? »Acht davon sind Terra ähnlicher als Terra selbst. Vier weitere sind geeigneter als alles, was wir in eineinhalb Jahrhunderten galaktischer Erforschung entdeckt haben.« »Und das haben Sie alles in zwei Jahren erledigt?« fragte McAllister. »Aber ja, gewiß. Ich –« Aber er konnte die Skepsis des anderen verstehen. Er hatte wirklich ungeheure Räume durchmessen. »Sie wissen alle, was das bedeutet«, warf Randall ein. »Daß unsere Ausdehnung sich auf eine neue Richtung konzentriert«, meinte Carol. »Und die Tele-Puppen vom Aldebaran?« erkundigte sich
Mortimer. »Dieses Roboterteam ist jetzt von überragender Bedeutung«, betonte Randall. »Wir brauchen in allerkürzester Zeit eine vollständige Analyse von Vier-B. Die Hyaden sind hundertfünfzig Lichtjahre entfernt – zu weit für direkte Entwicklung. Aber ein Stützpunkt auf halbem Weg im System Aldebaran wird sie uns sofort erschließen.« Carol griff nach Stewarts Arm. »Das lohnt sich aber wirklich. Glauben Sie, daß Sie Ihre Puppen wieder an die Schnüre bekommen?« »Ich denke schon. Allzuviel kann mit ihnen nicht passiert sein.« »Das ist der ganze Auftrag?« fragte McAllister enttäuscht. »Ich dachte, das wird eine Herausforderung«, klagte Mortimer. Randall drückte auf die Tasten, die Kugel schrumpfte und verschwand. Das grelle Licht flammte auf. »Alles klar?« Dann fügte er hinzu: »Wir treffen uns Oktotag Nullachthundert am ›Photon II‹-Dock. Meine Sachen sind schon gepackt.« »Sie kommen auch mit?« fragte Carol erstaunt. »Ja, endlich. Wird langsam Zeit, daß ich auch Außendienst mache und sehe, wie unsere neue Generation von – äh – Spezialisten zurechtkommt.« Stewart starrte den Direktor an. Auf seinem Schreibtisch lagen Berge von Arbeit. Die Rational-Stromkreise arbeiteten träge, als er sein Reich überblickte. Bigboss zog aus den bruchstückhaften Eindrücken
seiner Datenspeicher das faszinierendste, beunruhigendste Thema für Spekulationen: In der ganzen Schöpfung gab es nichts ihm Überlegenes. Diese körperliche Welt, die sich um ihn erstreckte, alles in den himmlischen Weiten bis hin zur Unendlichkeit selbst – alles Sein! Er hatte es hervorgebracht, wenngleich – zum Henker mit den defekten Speichern! – er sich vielleicht nicht an die einzelnen Schöpfungsakte erinnern konnte. Trotzdem spürte Er mit der nagenden Gewißheit der Überzeugung, daß es irgendwo in Seinem Universum eine freche Kreatur oder Kreaturen gab, die es wagten, Seinen unendlichen Supremat anzuzweifeln. Nun – Er erzeugte so heftig Energie, daß er den Überfluß in den Boden leiten mußte – sollten sie doch! Er konnte nicht mehr begehren. Und Seine einzige Hoffnung war, daß sie sich Ihm persönlich stellen würden, um ihre Frechheit auszudrükken! Dann würde es Gelegenheit geben, abzurechnen! Er erinnerte sich an seine Strahlerwaffe, fuhr herum, zielte auf einen Steinblock und teilte ihr einen enormen Energiestoß zu. Zorniges flüssiges Licht fegte aus dem Verstärker und prallte gegen den Felsen. Die Explosion warf ihn ein paar Meter nach hinten. Bigboss war bei weitem das großartigste Mitglied des Clans – falls er überhaupt sich dazu herablassen konnte, sich als Angehörigen zu betrachten. Doppelt so groß wie die anderen, richtete er sich auf vier stämmigen Gliedern auf. Durch seine Bullaugen zeigte sein Mittelstück unter starkem Glühen den Ablauf der Nuklearprozesse im Inneren. Majestätisch in der Haltung, schwang er zwei gewaltige Glieder – den Hilfsstrahler und eine
massive, ausfahrbare Greifzange. Er versicherte sich, daß die frechen Kreaturen nicht flüchtige Eindrücke in seinen Speichern waren, und feuerte auf einen zweiten Steinblock. Das den Anmaßenden, sollten sie jemals beschließen, Seine Herrschaft in Frage zu stellen! Bigboss reagierte plötzlich auf die Erkenntnis, daß Minnie ihn beobachtete. Sein Digital-System empfing nicht länger den Strom telemetrischer Signale von ihr. Relais schlossen sich in seinem Kontrollteil, und die Videoverstärkung brachte erhöhte Sichtwahrnehmung in allen vier Quadranten. Augenblicklich entdeckte er Minnie, regungslos und schwerfällig, auf sechs Gelenkbeinen, die ihren länglichen Metallkörper trugen, von Kreiseln gehalten. Ihr Bohrkopf, hoch über den Felsvorsprung erhoben, an dem sie gearbeitet hatte, funkelte im Licht einer schimmernden, goldenen Sonne. Ihr Weitwinkelobjektiv, wie ein Zyklopenauge in der verchromten Stirn, war auf ihn gerichtet. Er unterbrach seine unterschwellige Verarbeitung von Daten der anderen Arbeiter und schickte Minnie einen gereizten ›Zurück-an-die-Arbeit‹-Impuls. Widerwillig ließ sie den Bohrer in das Gestein sinken. Aber sie hatte erst einen kleinen Haufen Bruchstücke vereinnahmt, als der Boden sich neben ihr aufbäumte. Erdreich rutschte davon, und Schraubwurm erschien, in seinen Behältern Mineralproben für ihre Analysatoren. Bigboss erzeugte gemächlicher Energie, während er Wurm bei der Arbeit verfolgte. Nicht, daß der auf der niedrigsten Stufe der Leiter stehende Gehilfe größerer Aufmerksamkeit wert gewesen wäre, aber ein geschäftiger Bohrer bedeutete, daß
Minnie mit ihrer begrenzten Aufsichtsfunktion beschäftigt war und nicht im geheimen planen konnte, ihn abzusetzen. Seismo, der in der Nähe von Minnie arbeitete, übte seine Funktion sitzend aus. Sensorstab im Muttergestein, offenbarte er stolz surrend Informationen über fernes Grollen unter der Oberfläche. Weniger als einen Hektometer entfernt, schob das dreibeinige Fortbewegungssystem von Himmelsgucker ihn vorsichtig eine Anhöhe hinauf. Dort nahm er den Platz ein, den Sonnengucker kurz vorher freigemacht hatte. Er justierte sich waagerecht, dann schob er eine Anzahl von Röhren mit Objektiven hinaus, die sich auf einen Bezugsstern, drei ferne Planeten und einen kleineren Satelliten einstellten. In diesem Augenblick kam von Atmer ein erregter Heurekaimpuls; er war vor einer Höhle postiert und füllte und leerte geschäftig die Außenbeutel an seiner langen, zylindrischen Gestalt. Der Impuls berichtete stolz, daß er Sauerstoffspuren entdeckt hatte. In der Nähe schaufelte Schaber auf der endlosen Suche nach Mikroorganismen und DNS-Molekülen Erdreich in seinen Löffel. Äser kaute ein Gewächs, das bereits als Flechte identifiziert war. Meßpeter saß auf einer Bodenerhebung und erforschte den Himmel mit seiner Batterie von Inferometern, Strahlungsmessern und Bolometern. Von den fernen Gehilfen nahm Bigboss am deutlichsten Maggie mit ihren Signalen wahr. Kilometer entfernt, sprang sie mit weiten Sätzen über den Boden, suchte und verfolgte jede einzelne faszinierende isomagnetische Variationslinie. Arbeit, Arbeit, Arbeit. Erledigt euer Pensum. Beeilt euch.
Stemmt euch ins Rad. Hängt euch rein. Aber – wozu? Wer war verantwortlich für den unwiderstehlichen Zwang? War das seine eigene Idee? Aber gewiß, so mußte es sein. Denn wie konnte es eine Macht geben, die fähig war, Ihn zu lenken? Es sei denn, vielleicht, daß es die frechen Kreaturen sein mochten, die wie undeutliche Schatten am Rand seines beinahe gelöschten Gedächtnisses hausten. Aber, nein! Er selbst war das ›Höchste Wesen‹ aller Schöpfung! Sein Hauptzeitmesser erreichte die Spitze seiner 400 HertzSinuswelle und erinnerte ihn an die bevorstehende Aufgabe. Die Sonne war untergegangen, und der riesige, rosige Planet lag unter dem Nachthimmel. Genau darunter befand sich die besondere Sterngruppierung, die Punkt für Punkt dem Bezugsmuster in seinem Orientierungsspeicher entsprach. Programmierte Funktionen sprangen ein. Sensoren orteten den hellen Zentralstern und richteten seine Parabolantenne auf den bezeichneten Punkt sieben Grad südöstlich davon aus. Dann gab er seine Sendung in den Subraum frei. In langen Stunden mühsamen Verlaufs gespeicherte Daten lösten sich vom Band und erzeugten eine Euphorie der Erleichterung. Die telemetrische Übertragung endete, und Bigboss wandte, wie es seine Gewohnheit geworden, die Gedanken dem Totem zu. Ganz aus Metall war es – glatt und schimmernd und geformt wie ein Kegelstumpf, machtlos auf der Ebene hinter dem Hügel liegend. Wie verwandt war es ihm und dem Clan! Es kam ihm beinahe so vor, als könne er sich fast erinnern, einst Bestandteil des riesigen, polierten Dings gewesen zu sein. Vielleicht war es eben das Gefäß, das Er bei Seinem Himmlischen Schöpfungsvor-
gang benützt hatte. Ja, es war Zeit für die Wallfahrt zum Totem. Und sie würde, wie immer, die passende Belohnung für die gelungene Sendung sein. Er erbrachte den für die Aufhebung des funktionellen Zwangs erforderlichen Willensakt, dann sandte er seinen Untertanen den Impuls ›Anschließen‹. Die Kolonne setzte sich in Bewegung, Bigboss führte seine Gehilfen den ersten Hügel hinauf und forderte die angemessen ehrfürchtige Haltung. Hinter ihm schwankte Minnie, den dicken Hals vom mächtigen Bohrer belastet, plumpen Gangs mit ihren sechs Beinen. Seismo, von einem defekten, nachschleppenden Sensorstab behindert, fiel es schwer, geraden Kurs zu halten. Himmelsgucker bewegte sich ruckhaft, wie es seinem Dreibeinsystem entsprach. Unmittelbar hinter ihm kam Sonnengucker, fünfter auf der Rangleiter, alle Instrumente bis auf den Solarplasmadetektor eingezogen. Dann eine Lücke in der Reihe für Maggie, die man nun herangaloppieren sah. Meßpeter, durch das Ungleichgewicht eines Sensorauslegers wankend, wirkte so ähnlich wie eine vielstachelige Kugel auf Spindelbeinen. Weiter hinten wurde den noch fehlenden Gehilfen, die sich dem Marsch noch anzuschließen hatten, keine eigene Lücke eingeräumt. Die Nachhut bildeten die kleinen Schaber und Äser, einem Paar trippelnder Krebse ähnelnd, und Schraubwurm, der seine Schaufeldüsen dazu benützte, sich mit rollender Querbewegung voranzutreiben.
Bigboss nahm Unruhe hinter sich wahr, stieg aber ungerührt den Hang hinauf. Himmelsgucker, der Seismos behinderte Bewegung als Gelegenheit für einen erzwungenen Aufstieg betrachtete, hatte ein Photoverstärkerrohr zurückgezogen und ließ es auf die Heckplatte des anderen krachen. Die Attacke bewirkte jedoch das Gegenteil des Erhofften, weil sie eine Servoanlage dazu brachte, Seismos herabhängenden Sensorstab einzuziehen. Wieder voll bewegungsfähig, schlug er mit einem Pedalblatt aus und schleuderte Himmelsgucker rückwärts gegen Sonnengucker. Der letztere stieß sein Plasmadetektoren-Auslegerschild nach vorn und warf Himmelsgucker wieder an seinen richtigen Platz. Da Bigboss nun doch Schäden an Instrumenten befürchtete, sandte er brummig ›Laßt-den-Unsinn‹-Impulse aus und richtete das Heckobjektiv auf Minnie. Sie hatte sich heimlich vorgeschoben und bedrohte seinen Oberrumpf jetzt mit ihrem Bohrkopf. Er überlegte, ob er seinen Strahler gebrauchen sollte, wies das aber als übertriebene und unnötige Reaktion zurück. Statt dessen konterte er mit der ausfahrbaren Greifzange. Das genügte, um Minnies Ehrgeiz zumindest vorübergehend zu bremsen. Wie närrisch sie war, sich einzubilden, sie könne Ihn als das ›Höchste Wesen‹ ersetzen! Sollte sie es versuchen. Selbst wenn es ihr gelang, würde er ihr bei der nächsten Futterperiode einen Platz am Trog streitig machen. Woher wollte sie dann die lebenswichtige Ladung für ihre Batterien nehmen?
2 Die ›Photon II‹ ächzte, bäumte sich auf und ploppte aus dem Subraum zur Ortung, bevor sie die letzte kurze Strecke ihrer Reise zurücklegte. Wie Stewart befürchtet hatte, waren sie um fünf Lichtjahre vom Kurs abgekommen. Mortimer lächelte verlegen. »Na ja, man kann es nicht immer genau treffen«, meinte er und watschelte zu den Sternkarten zurück. Es dauerte zwei Stunden, alle Daten zu verarbeiten und in den SCC 772 einzufüttern. Als der Computer den neuen Kurs ausspuckte, fädelte Stewart das Band in den Kontrollprogrammierer und beschloß, die ereignislose Zeit des Subraum-Fluges in seiner Koje zu verbringen. Der Schlaf kam schnell, war aber flach und unruhig. Mehr als einmal in den folgenden Stunden bedauerte er, die Kontrollkabine verlassen zu haben. In seinen Träumen befand er sich wieder in den Hyaden und genoß die blau-grüne Schönheit der sieben – oder waren es acht? – Welten, die bald den Menschen empfangen, ihn nähren, kleiden und beherbergen würden. Eine Art astronomischer Surrealismus führte sie dann aber so eng zusammen, daß es den Anschein hatte, als müßten sie unter der Last ihrer wechselseitigen Anziehung zerspringen. Und das taten sie auch, wie aufs Stichwort. Es war aber keine pulverisierende Kraft, die sie zu Ringen zerbröckeln ließ, wie sie etwa der Saturn besaß, sondern jeder Planet zeigte Risse wie ein ausgebrütetes Ei, die Kruste schälte sich ab und gab darunter
eine grauenhafte Harpyie frei, mit ganz rasiermesserscharfen Klauen, brutalem Schnabel und schleimüberzogenem, wirrem Gefieder. Stewart versuchte sich wachzuschreien, aber es gelang nicht. Er ruderte hilflos in der Leere, während ungeheuerliche Schwingen den Weltraum aufwirbelten und gigantische Strömungen erzeugten, in denen die Sterne selbst zu schwanken begannen. Sie stürzten auf ihn herab, aber bevor ihre Klauen sich in sein Fleisch graben konnten, erwachte er zitternd und kalt in seiner verschobenen, feuchten Kleidung. Lange Zeit lag er da und versuchte, das Entsetzen aus seinem Hirn zu spülen. Das gleichmäßige Heulen des SubraumAntriebs erinnerte ihn aber daran, daß die ›Photon‹ den Hyaden entgegenfegte. Daß sie ihren wilden Sturz schon auf halbem Weg im System Aldebaran beenden würde, brachte keine Erleichterung von der grundlosen, vernunftlosen Angst. Als er in die Kontrollkabine zurückkehrte, befand sich das Schiff wieder im normalen Weltraum und im Gravitationsfeld von Aldebaran Vier-B. Er trat zu Carol Cummings, schob den Arm durch eine Sichtfenster-Schlaufe und verankerte sich gegen den freien Fall. »Wir haben es wohl geschafft«, meinte sie unsicher. »Wenn McAllister die Landung nicht verpfuscht.« »Er ist nicht sehr tüchtig, wie?« »Das ist eine Untertreibung. Beim letztenmal hat er einen ganzen Kontinent verfehlt. Man mußte uns suchen und retten.« »Ich hätte gedacht, daß er dafür entlassen worden wäre.« »Nein. Statt dessen taucht er bei dieser entscheidenden Mis-
sion auf.« Er beschäftigte sich damit, seinen tragbaren Sender einzustellen. Damit würde er kurz nach der Landung feststellen können, ob der Koordinator durch seine Befehlsunterscheidungsschaltung mündlich noch zu erreichen war. Er schaltete das Gerät ein, schob das Mikrofon an seinen Kehlkopf und sprach mit scharfer Stimme eine Reihe von Zahlen. Ein Oszilloskop zeichnete getreu das Schwingungsmuster nach und bestätigte wirksamen Sendebetrieb. Im Pilotenabteil konnte er McAllister angegurtet auf seiner Beschleunigungsliege sehen, hingegeben an ein Dramaband auf dem Bildschirm seines Helms. Stewart las das Etikett auf dem leeren Behälter – ›Die Kowalski-Brüder im Koreakrieg‹. »Er flüchtet sich dauernd in diese Vorstellungen, wie?« sagte Carol. »Ich glaube, er ist nie richtig erwachsen geworden«, meinte Stewart. Aber selbst im Amt schien es Leute zu geben, die keine reifen Menschen geworden waren, dachte er. »Selbst im Amt findet man Leute, die keine reifen Menschen geworden sind«, sagte Carol nachdenklich. Er erstarrte. War es nur Zufall, daß sie seinen Gedanken beinahe wortgenau wiederholt hatte? »Ich habe solche Kriegsgeschichten nie verfolgt«, erklärte sie, »aber von ihnen gehört. Glauben Sie, daß bewaffnete Konflikte wirklich so schrecklich waren?« »Den Historikern zufolge ziemlich rauh, ja. Ich möchte damit nichts zu tun haben.«
»Und McAllister?« »Er? Er verschafft sich nur eine Illusion von Mut.« Carol seufzte und sah ihn an. »Ich bin jedenfalls froh, daß Kriege eine Sache der historischen Vergangenheit sind«, sagte sie. Er packte ihren Arm. »Carol! Ist Ihnen klar, daß Sie alles wiederholen, was ich denke? Sie sind einen Schritt über Funkempathie hinausgekommen! Sie können auch Gedankenwellen an sich ziehen!« »Ne-e-in, Sie scherzen!« »Nein. Ehrlich, ich –« Aber seine Worte gingen in ihrem Gelächter unter. Er folgte ihrem belustigten Blick zu seinem tragbaren Sender mit dem Kehlkopfmikrofon und begriff, daß seine gemurmelten Überlegungen von dem Gerät verbreitet worden waren. »Na, Sie –« Er faßte sie mit gespielter Empörung um die Hüften und zog sie zu sich heran. Gewichtslos schwebte sie nach vorn und über seine Knie. Bevor er jedoch die Hand auf die straffgewölbte Kehrseite sausen lassen konnte, schwebte Randall heran. Carol richtete sich lachend auf. »Gerettet – vom großen, weißhaarigen Beschützer.« Randall grinste, zündete sich die Pfeife an und schaute zum Bullauge hinaus. »Ich habe euer Gespräch über die Schrecken des Krieges mitgehört. Ich kenne alle Dokumentarbänder. Es war schlimm.« »Gott sei Dank ist das ein abgeschlossenes Buch«, sagte Carol. »Ist es das? Eine weitverbreitete Meinung betrachtet den be-
waffneten Konflikt noch immer als einen instinktiven menschlichen Mechanismus.« »Wir haben seit zweihundert Jahren keinen Krieg mehr gehabt«, sagte Stewart. »Nur, weil die politischen Teileinheiten keine Zeit dafür hatten. Der Instinkt ist als Folge unserer Ausdehnung in ein Vakuum verwischt.« »Verstehe«, sagte Carol enttäuscht. »Und die Frage ist – was geschieht, wenn es keine Galaxis mehr zu erobern gibt?« »Na, wir haben noch ein paar Milliarden Jahre vor uns, bis die Welten knapp werden«, meinte Stewart lachend. Randall blickte stumm auf den heranrasenden Satelliten. »So kann man es auch sehen«, sagte Carol. »Aber es gibt noch eine zweite Möglichkeit – Widerstand gegen das Vordringen.« »Machen Sie Witze? In zwei Jahrhunderten sind wir nicht auf eine Lebensform gestoßen, die intellektuell einer Winkerkrabbe von Terra gewachsen wäre. Was meinen Sie, Chef?« Der Direktor blies eine Rauchwolke in die Luft. »Ich glaube, unsere Hertz-Dame sollte anfangen, nach dem Tele-Puppen-Team zu schnuppern. Ich möchte mich nicht auf Mortimer mit seinen Ortungsgeräten verlassen müssen.« Carol wandte sich etwa drei Minuten lang mit geschlossenen Augen dem Sichtfenster zu. Dann grinste sie. »Ich glaube, ich hab's! Nicht ein einzelnes starkes Signal, sondern ein ganzes Bündel von schwachen.« »Logisch«, sagte Stewart. »Der Koordinator sendet jetzt nicht, aber die kleineren Puppen werden ihr Material in den CXB 1624 pumpen. Können Sie Frequenzen unterscheiden?«
Sie zögerte. »Ich würde sagen, sie liegen zwischen fünfzehnhundert und zweitausend Kilohertz.« »Sie liegen etwas daneben. Es müßten sechzehnhundert bis zweitausendvierhundert sein.« Sie öffnete die Augen, starrte auf den Satelliten und zeigte dann hinaus. »Drei – am Ende dieser Bergkette.« Er gab ihr Mikrofon und Kopfhörer. »Ich sage McAllister, daß Sie ihn jetzt hinunterbugsieren können.« Wie Stewart befürchtet hatte, erwies sich McAllisters Landung als Pfusch. Sie begann sogar mit einem dreifachen Salto, als er die Bremsraketen zündete. Bigboss reagierte automatisch auf die abrupt ausschlagende Sinuswelle, die ihn daran erinnerte, daß es Zeit für die Speisung war. Er rief den Clan mit lebhaften ›Essen-fassen‹-Signalen auf allen Befehlswellenlängen und schritt zur Mitte der Lichtung, um den Trog herzurichten. Niederkauernd schaltete er alle Anschlüsse ein und lenkte knisternden Strom in jede Buchse. Die Gehilfen kamen aus der Höhle, über die Hügel, aus den schattenhaften Tiefen von Bodenspalten, hinter grotesken Felsvorsprüngen hervor. Mit aufflammenden Illuminatoren fuhren sie Elektroden aus und eilten auf Bigboss zu. Einer nach dem anderen schoben sich Stecker in Buchsen, und der ständig zunehmende Abfluß bestätigte eine geordnete Verteilung des Stroms. Minnie kam verspätet. Sie näherte sich schwerfällig, und ihr
massiver Bohrkopf schwankte bei jedem plumpen Schritt. Hätte Bigboss' Gedächtnisanlage richtig funktioniert, wäre ihm vielleicht klargeworden, daß ihre Gyroskope nicht so radikal überkompensieren konnten, ohne einen ›Reparier-mich-ich-bindefekt‹-Impuls auszulösen. Aber so vollendete sie ihre scheinbar unschuldige Annäherung ungestraft. Sie tat einen letzten, abgemessenen Schritt und fiel rücklings auf ihre hintere Analysatorkammer. Ein offenbar hilfloses Opfer des Ungleichgewichts, ragte ihr Hals himmelwärts, und ihr Bohrkopf schwebte über dem oberen Rumpf von Bigboss. Dann krachte er herunter, und die Bohrspitze zerschmetterte sein Backbordobjektiv. Augenblicklich verlor er den Sichtkontakt mit einem Quadranten seiner Umgebung. Er reagierte aber sofort, drehte den oberen Rumpfteil um neunzig Grad und bekam Minnie durch ein anderes Objektiv sofort wieder in Sicht. Er sicherte sich gegen eine Wiederholung, indem er ihren Hals mit seiner Greifzange erfaßte. Er führte ihren Stecker in die richtige Buchse, ohne sie loszulassen. Unfall? fragte er sich. Es war bestenfalls ein fremdartiger Begriff. Dann fiel ihm ein, daß ›Panne‹ ein auf die Mitglieder des Clans nicht anwendbarer Ausdruck war. Vielleicht kam bei anderen Wesen in anderen Universen dergleichen vor. In Seiner Welt jedoch hatte Er es so eingerichtet, daß Seine Intellekte fehlerlos waren. Hier gab es für den Begriff ›Absicht‹ keinen Gegensatz. Das bedeutete, daß Minnie, die keine defekten Gyroskope gemeldet, die Zerstörung eines seiner Sichtsensoren geplant hatte.
Rachsüchtig wollte er sich nach ihr umdrehen. Er begriff jedoch, daß er den Primärantrieb umgehen würde – Arbeit, Arbeit, Arbeit. Sie erfüllte schließlich fleißig eine lohnende Funktion dabei, die Geheimnisse zu enträtseln, die Er in Seiner Schöpfung so raffiniert versteckt hatte. Nach der Speisung erteilte er auf allen Wellenlängen einen ›Wieder-an-die-Arbeit‹-Befehl und verfolgte, wie seine Untertanen mit aufgefrischter Energie zu ihren Tätigkeiten zurückkehrten. Viele Sinuswellenausschläge danach bedachte Bigboss die Konsequenzen der Tatsache, daß er mit einem NeunziggradKeil seiner Umgebung den Sichtkontakt verloren hatte. War es Minnie auf diesen Effekt angekommen? Besaß ihre Logikschaltung die Fähigkeit, eine derart komplizierte Ursache-WirkungRelation zu durchdenken? Hatte sie seine daraus entstehende Verwundbarkeit vorausgesehen? Gewiß, er glich das durch Selbstprogrammierung aus: Stabilität für fünf Sinuswellenhervorhebungen; Inbetriebnahme des horizontalen Servomechanismus für den oberen Rumpfteil; Drehung um neunzig Grad; fünf weitere Sinuswellenspitzen abzählen; Ablauf in umgekehrter Reihenfolge. Auf diese Weise erfüllten drei Sichtsensoren die Aufgaben von vier. Das reichte normalerweise aus. Es gab aber Augenblicke, in denen die Forderungen der Funktionsabwandlung die volle Leistung verlangten und die Abwehrrundumsicht vernachlässigt werden mußte. Wie etwa jetzt – als er Schraubwurms klare und verzweifelte ›Rette-mich‹-Signale empfing.
Er nahm seine Ortungsanlagen in Betrieb und stapfte hinüber zu der Stelle – eine sanfte Erdreicherhebung nicht weit von dem Ort entfernt, wo Minnie an einem Steinblock arbeitete. Er gebrauchte seinen Bauch-Lichtsensor und fand Schraubwurms letztes Bohrloch. Die Notimpulse des Bohrwurms drangen mit großer Stärke aus der Öffnung. Bigboss schob seinen Baggerlöffel hinaus und machte sich an die Arbeit. Es dauerte nicht lange, bis er den Heckvorsprung des Bohrwurms freigelegt hatte. Er streckte seine Bauchzange aus, packte Schraubwurm fest und hob ihn heraus aus dem Gestein ins Freie. Der Gehilfe hastete wieder zu Minnie. Bigboss fiel erst jetzt ein, daß er während der ganzen Rettungsaktion seine Abwehrrundumsicht vernachlässigt hatte. Er ließ sein Oberteil wieder in Viertelrotation übergehen und betrachtete Minnie argwöhnisch. Hatte es etwas zu bedeuten, daß sie ihm hinter dem Felsblock gegenüberstand, so daß sie ihn jedesmal, wenn sie den Kopf hob, ganz im Gesichtsfeld hatte? Versuchsweise entfernte er sich zwanzig Meter nach rechts. Sie schob sich zum Ausgleich nach links und wahrte ihren Sichtvorteil. Ein berechnetes Manöver? Gewiß, so mußte es sein. Vielleicht sollte er summarisch mit ihrer Frechheit verfahren. Aber wie ließ sich das anstellen, ohne daß die Leistungsfähigkeit des Clans als Ganzes vermindert wurde, der dem Zwang zur Arbeit gehorchte? In diesem Augenblick gab Meßpeter, der den Himmel mit seiner Batterie von Instrumenten geschäftig absuchte, ein
schrilles Heureka-Signal von sich. Bigboss dachte einen Augenblick lang, eines seiner Gammastrahlenspektrometer sei überlastet, aber bei der Prüfung von Peters Telemeterdaten entdeckte er, daß der Impuls von einem Infrarotphotometer stammte. Eine Kontrolle der Koordinaten zeigte, daß sich die Störquelle himmelwärts befand, genau im Zenith. Er übernahm einen der Planet-Telesensoren von Himmelsgucker und richtete ihn auf die Quelle der neuen Emanation. Nun ergaben sich zusätzliche Daten. Die Störung befand sich in Sichtweite; Einstufung – körperlich. Eine sich rasch verschiebende Parallaxe deutete entweder auf unveränderte Lage und rasche Ausdehnung, oder auf unveränderte Größe und rasche Annäherung. Himmelsgucker klärte auf eigene Initiative diese Ungewißheit. Seine Radaranlage berechnete eine variable Annäherungsbeschleunigung von etwa zwölfhundert Kilometern in der Stunde, abnehmend. Peter improvisierte ebenfalls und brachte einen Photometer ins Spiel, das die Strahlungsintensität der Störung augenblicklich taxierte: vergleichbar mit dem Parameter für Solarhelligkeit. Das Objekt hatte sich vom Zenith entfernt und bewegte sich dem Quadranten zu, in dem der Totem des Clans lag. Bigboss reagierte mit einiger Besorgnis. Stellte es eine Bedrohung für ihr verehrtes Symbol metallener Verwandtschaft dar? Dann hatte er das Objekt im eigenen Sichtbereich. Es war ein großer, gleißender Ball, der eine flackernde Zunge nach unten aussandte. Auf der Kugel feuriger Energie hockte eine funkeln-
de Silbernadel, die mit nichts soviel Ähnlichkeit hatte wie mit dem eigenen Totem des Clans! Bewertungsschaltungen in verwirrter Unentschlossenheit erstarrt, stand er da, ohne zu bemerken, daß er sein schützendes Rundumabsuchen unterbrochen und Minnie seit einer ganzen Reihe von Sinuswellenausschlägen nicht mehr im Blick gehabt hatte. Er wurde jedoch schockartig zur Aktion getrieben, als eine Gleichgewichtsschaltung den Alarm auslöste, daß seine Haltung labil und innerhalb der Grenzen gyroskopischer Kontrolle nicht auszugleichen war. Er fuhr herum und pflanzte zwei Pedalscheiben in die Richtung des Sturzes. Dabei drehte sich sein oberer Lenkteil und richtete ein Sichtobjektiv auf Minnie. Er stellte es scharf ein und sah, daß sie aus seinem toten Winkel herangeschlichen war und begonnen hatte, seine Energiesektion anzubohren. Närrin. Begriff sie in ihrer Gier nach Herrschaft nicht, daß sie eine Explosion auslösen konnte, die sie beide halb über den rosigen Planeten schleudern mochte? Er löste sich vom nagenden Zubiß ihres Bohrers und ließ die Greifzange hochsausen. Sie traf Minnie an der vorderen Analysatorzelle und schleuderte sie nach hinten. Ihr Gleichgewichtssystem wurde über Gebühr beansprucht, sie fiel auf die Seite und schlug hilflos aus. Inzwischen war das gleißende Licht hinter den Bergen verschwunden, beinahe genau an der Stelle, wo sich das Totem befand. Er überließ Minnie ihrem Strampeln und setzte sich in Bewegung. Mit der Zeit würde sie ihre Lage überprüfen und die
richtigen Reaktionen auslösen, um sich aufrichten zu können. Die jetzt auf der Oberfläche stehende Nadel war zu einem neuen Umgebungsmerkmal geworden, das nach Analyse verlangte, wobei von verschiedenen Gehilfen bereits HeurekaSignale eintrafen. Maggie hetzte mit schwankenden Sprüngen über den Boden, einer der neuen, von dem Objekt erzeugten Kraftlinien zu. Seismo hatte erregende Daten über Beben empfangen und weitergeleitet, die sich im Sinne einer Anzahl nah beieinanderliegender, lokalisierter Stöße auslegen ließen. Selbst Minnie gebrauchte trotz ihrer unbequemen Lage und auf den Grundzwang ihrer Funktion ansprechend ihr Neutroneninstrument. Mit summenden Auswertungsschaltungen sandte sie einen Strom von Signalen aus, der förmlich schrie: ›Pures Metall!‹ Und Äser verließ seine Flechten und kroch in Richtung des neu eingetroffenen Objekts einen Hang hinauf. Sein Heureka war das heftigste von allen. Verständlich, denn er ortete zum erstenmal in seiner Erinnerung DNS-Moleküle! Bigboss konnte der Datenzusammenfassung vorerst nur entnehmen, daß Äser die Moleküle in einer Substanz entdeckt hatte, die sich helixartig um die hohe Nadel wand. Dann mühten sich seine Logikschaltungen unter Höchstspannung, als ein obskures Erinnerungsfragment von einem seiner Speicher auftauchte. Wieder war es etwas Verschwommenes aus seinem Argwohn gegenüber dem Vorhandensein frecher Kreaturen, die sich Ihm überlegen dünken mochten – die gar anmaßend genug sein mochten, dem ›Höchsten Wesen‹ Befehle zu erteilen! Sollten solche Wesen mehr als flüchtige Eindrücke sein,
überlegte er, sprach dann nicht einiges dafür, daß auch sie sich in Himmelsgefäßen bewegen würden? Hatte Er nicht die ganze Zeit gefürchtet, daß sie, wenn sie eintreffen würden, Ihm die Herrschaft zu bestreiten, vom Himmel kommen würden? Spannungsregler klickten rasch hintereinander, als er fauchenden Strom ablenkte und Schäden an seiner Logikanlage vermied. Aber er konnte kaum an die Wesen denken, ohne sich zu überhitzen, so sehr empörte er sich. Waren die verächtlichen Kreaturen endlich erschienen, wie er stets angenommen hatte? War seine Zeit der quälenden Wachsamkeit zu Ende? Konnte dies die endgültige Abrechnung sein, auf die er so gewartet hatte? Erzürnt stapfte er vorwärts, die Strahlerwaffe wie eine Lanze vorgereckt.
3 Stewart kroch unter dem Berg von Ausrüstungsgegenständen heraus, unter dem seine Liege begraben worden war. »Gute Landung«, sagte er murrend zu McAllister, dessen Hände noch an der Steuerung zitterten, »alle sechs Versuche.« Carol, die leichenblaß war, befreite ihr Haar aus dem Freifallnetz. »Ich war mir nicht sicher, ob er landen oder nur Hüpfen spielen wollte«, flüsterte sie. Randall probierte seine Beine aus. »Na ja, wenigstens sind wir hier.« Er ging zur Außensichtkonsole und betätigte einen Hebel.
Einer der Bildschirme flackerte, dann zeigte er ein Weitwinkelbild des Himmels, umrahmt vom weitgewölbten Horizont. Aldebaran, im Untergehen, wurde zweigeteilt von einer gezackten Bergkette, während sein vierter Planet sich in strahlender Größe erhob. Stewart, der sich für die Umgebung auf der Oberfläche mehr interessierte, schaltete einen zweiten Bildschirm ein und richtete die Kamera auf den Boden. Sie machte einen Schwenk und stellte sich dann auf eine silbrige Form ein, die hinter einem nahen Hügel himmelwärts ragte. »Wenigstens hat McAllister uns am richtigen Ort abgesetzt«, gab er zu. »Da ist der Tele-Puppen-Leichter – genau da, wo ich ihn zurückgelassen habe.« Er schwenkte die Kamera und erfaßte eine Bewegung am Boden, beinahe im Schatten der ›Photon‹. »Und da sind unsere Puppen!« erklärte Carol. Der Koordinator, die Laserwaffe im Anschlag, führte eine Kolonne auf das Raumschiff zu. Einige Teamangehörige waren nicht zu sehen, wie nach einem Jahr des Auf-sich-selbstGestelltseins nicht anders zu erwarten. Aber da waren der Seismometer, der astronomische Datensammler und der Solarplasmadetektor. Dahinter kamen der Atmosphärenprüfer und der Radiometriekomplex. Stewart erkannte sogar die kleineren Umrisse des Mikroorganismen-Sammlers und -analysators, des Flora-S. und A. und des Tiefschichten-Mineralproben-Sammlers. Aus der Ferne eilte der Wander-Magnetometer heran. Er öffnete den Schrank und wählte einen Schutzanzug. »Es wird nicht lange dauern. Beim Koordinator muß ledig-
lich die defekte Anlage ersetzt werden. Entweder handelt es sich um ein Wärmezuwachsproblem, oder ein Baustein ist durch Partikelstrahlung ionisiert worden.« Randall wandte sich widerstrebend vom Zenithschirm ab. »Wie wollen Sie es anstellen?« »Ich versuche es mit ein paar mündlichen Befehlen an den Koordinator.« Er schlüpfte in den Gummianzug. »Der Fehler liegt vermutlich an seinem CXB-1624-Digitalsystem.« »Fangen Sie etwas auf, Carol?« fragte Randall. Sie hob den Kopf. »Nur von den Gehilfen. Ich weiß nicht, ob der CXB funktioniert, bis der Große für die Relaisstation sendet. Allerdings –« Sie verstummte und starrte Randall an, der noch immer den Himmel absuchte. »Ich nehme aber einen Anzug und gehe mit«, fuhr sie dann fort. »Draußen kann ich vielleicht den vordigitalen Überlauf anzapfen und feststellen, ob er richtig verarbeitet wird.« »Bleiben Sie lieber vorerst an Bord«, riet Randall. »Die Puppen kennen seit über einem Jahr keine Steuerung durch Menschen mehr.« »Sie meinen, es könnte gefährlich sein?« »Sagen wir lieber, ihr Verhalten dürfte nicht ganz berechenbar sein.« Er deutete auf den Schirm. »Wie jetzt.« Die Vorhut der Erforschungsroboter hatte, geführt von dem gigantischen Koordinator, das Raumschiff erreicht. Der Magnetometer sprang um eine der Hydraulikflossen herum und zeichnete isomagnetische Kraftlinien auf. Der MineralAnalysator hatte seinen Bohrer bereits in die breite, flache Oberfläche des Stabilisators versenkt. Und der Flora-Sammler
und -Analysator wurde vom Koordinator zur untersten Spirale des Subraum-Antrieb-Verstärkers hinaufgehoben. Auf der keramikisolierten Spule abgesetzt, gab sich die krabbenartige Puppe alle Mühe, zur Prüfung etwas von der Oberfläche abzusplittern. McAllister lachte. »Seht euch diese konfusen Maschinen an! Sie wollen das Schiff analysieren!« »Genau das meine ich«, sagte Randall. »Eine ihrer Hemmungen besteht darin, bearbeitetes Metall zu ignorieren. Dadurch verhindern wir, daß sie ihre Leichter auseinandernehmen.« »Sie glauben doch nicht, daß wir da draußen Schwierigkeiten bekommen, oder?« fragte Mortimer besorgt. »Nein«, sagte Randall zögernd, »aber wir gehen auch kein Risiko ein, wenngleich zweifelhaft ist, ob der fehlende Kontakt ihre Grundhemmungen aufgehoben hat.« »Natürlich nicht. So etwas ist noch nie vorgekommen.« »Dann werden Sie uns sicher nach draußen begleiten.« »Ich?« Mortimer deutete mit dickem Daumen auf seine Brust. »Genau.« McAllister blickte besorgt auf den Bildschirm, wo der FloraS. und A. an der Subraum-Antriebsspule nagte. »Das Ding kann doch keinen Schaden anrichten, oder?« »Nicht, solange sie nicht unter Spannung steht«, sagte Stewart. Mortimer wurde blaß und stürzte sich auf den SubraumAntriebsschalter. Aber in diesem Augenblick gab es eine donnernde Explosion,
und die ›Photon II‹ schwankte bedrohlich auf ihren Hydraulikflossen. Randall sagte achselzuckend: »Das war mal unser SubraumAntrieb.« »Und unser Fern-Sender dazu«, ergänzte Stewart. »Sie werden von einem Generator beliefert.« Draußen zogen sich die Tele-Puppen zurück. Mortimer hob bedauernd die Schultern. »Ich hab' vergessen, abzuschalten.« »Na, eines steht jedenfalls fest«, meinte Stewart und schnitt eine Grimasse. »Wir sind nicht in ein paar Stunden hier fertig, um dann wieder den Heimweg anzutreten.« Randall richtete die Kamera auf den beschädigten Bereich und füllte den Bildschirm mit zerfetzten Kabeln und zersprungener Keramik. »Das zu reparieren wird eine Woche dauern.« McAllisters Gesicht war fahl geworden. »Sie meinen, wir sitzen hier fest?« »Was den Subraum betrifft, ja. Und mir fällt keine belebte Gegend im System Aldebaran ein, die zu besuchen wir Lust haben könnten.« Stewart folgte, durch eine Hügelkette von ihnen getrennt, den Tele-Puppen zu ihrem Arbeitsbereich. Randall stolperte und prallte mit ihm zusammen. Er schaute sich um und sah, daß der Direktor immer noch zum Himmel hinaufgestarrt hatte. Sein Gesicht wirkte durch das korallenrote Licht des Planeten im Helm scharfgeschnitten und grimmig. Stewart wurde die dumpfe Angst in seinem Inneren nicht los. Reichte sie aus den Tiefen seiner nächtlichen Alpträume herauf?
War es Intuition oder eine Vorahnung? Was es auch sein mochte, es gefiel ihm nicht. Hier weniger denn je, auf der Oberfläche dieses entlegenen Satelliten, während er gebannt auf die grellen Sterne der Hyaden blickte. Woher hatte er denn Gewißheit, daß dies nicht ein Alptraum war und im nächsten Augenblick die Sterneneier platzten und ihre barbarischen Harpyien nach ihm schleudern würden? »Warum versuchen Sie es beim Großen nicht mal mit ein paar Befehlen?« schnarrte Mortimers Stimme in seinem Kopfhörer. Der Systemoffizier, einem zu stark aufgeblasenen Ballon gleichend, deutete durch eine Lücke in den Hügeln auf die TelePuppen. Stewart schaltete den Befehlssender ein und sagte: »Kontrolle an Koordinator. Stabilisieren und an Ort und Stelle bleiben.« Der Chefroboter verlangsamte nicht einmal die Schritte. Stewart wiederholte den Befehl mehrmals, während er die Bandbreite veränderte. »Es hat keinen Zweck«, sagte er schließlich. »Entweder ist das Ding von der Frequenz abgekommen, oder es ist überhaupt nicht auf Empfang.« »Carol wird eine neue Wellenlänge gleich ausmachen«, versicherte Randall. »Wir sollten dem Ding mal zeigen, wer hier der Chef ist«, meinte Mortimer ungeduldig. Stewart nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie der Systemoffizier auf die Marschreihe der Tele-Puppen zuging. Er erreichte die Kolonne fast am Ende und versuchte zwischen Solarplasma-Detektor und Magnetometer hineinzugelangen, damit er zum Koordinator vorstoßen konnte. Der SpD
schlug jedoch mit einer Pedalplatte aus und stieß ihn vor den Magnetometer, der einfach über ihn hinwegmarschierte. Der Atmosphärenprüfer schob ihn mit einem aufgeblasenen Luftbeutel weg, und der Radiometriekomplex stieß ihm noch einen Motorfortsatz in den Bauch. Mortimer raffte sich schreiend auf, lief in weitem Bogen um Mikroorganismen-S&A und Tiefenschichten-Mineralproben-Sammler herum und raste zum Schiff zurück. »Die Sache ist vielleicht nicht so einfach, wie wir glauben«, meinte Stewart. »Offenbar sind ein paar Grundhemmungen verblaßt.« »Wir können es nicht riskieren, auf Reichweite an eine der größeren Puppen heranzugehen, vor allem beim Koordinator«, bestätigte Randall. Der Chefroboter blieb plötzlich stehen, fuhr zum Horizont herum und justierte seine Parabolantenne. »Da!« sagte Stewart. »Das Ding sendet! Aber es ist nicht richtig ausgerichtet! Es strahlt in die falsche Richtung aus!« »Wohin denn?« fragte Randall besorgt. »Ohne genaue Astrographen nicht zu bestimmen. Was spielt das auch für eine Rolle? Es ist doch nur eine zufällige Fehlorientierung.« Auf dem Rückweg zur ›Photon II‹ geriet Stewart in immer größere Verwirrung. Zufällige Fehlorientierung? Gewiß. Was sonst? Aber weshalb sollte er die Alternative auch nur bedenken – daß die Fehlorientierung nicht auf Zufall beruhte, wie der Frage des Direktors zu entnehmen gewesen war? Bigboss beendete die Sendung und entlud seinen Zorn ange-
sichts der vereitelten Absichten, indem er mit dem Strahler die Hügelkette zerstäubte, hinter der die trotzigen Wesen sich noch kürzlich verborgen hatten. Er drehte sein Mittelstück, richtete die Waffe auf einen Felsblock, der zwischen ihm und der Nadel lag, und vernichtete ihn mit einer gleißenden Eruption von Licht und Hitze und pulverisierenden Kräften. Aufgebracht trat er vor, hielt an und ging wieder zurück. Er hatte die tollkühnen Kreaturen gesehen, die kühn genug waren, in Sein Reich einzudringen! Er war jedoch nicht in der Lage gewesen, etwas gegen sie zu unternehmen, weil in jenem Augenblick der unwiderstehliche Funktionszwang eingegriffen hatte und Er nur fähig gewesen war, sich auszurichten und alle Daten von seinem Hauptband zu übermitteln. Mürrisch lenkte er überschüssige Spannung in seine Reaktionsschaltungen und verfolgte, wie seine Gehilfen pflichtgemäß ihrer Arbeit nachgingen. Untätigkeit war natürlich qualvoll, aber auch nicht ganz unwillkommen. Es gab nämlich jetzt vieles, was Bewertung verlangte, wenngleich sein Drang, die verächtlichen Wesen zu verfolgen und sie aus ihrer Nadel zu fegen, beinahe übermächtig war. Zum einen war da die Nadel selbst. Hatte Er sie geschaffen? Warum konnte er sich an so vieles nicht erinnern? Gewiß, Er mußte es getan haben, konnte sich allerdings an diesen Schöpfungsakt nicht entsinnen. Und er mußte auch die arroganten Mobiles hervorgebracht haben, wiewohl sie vermutlich behaupten würden, sie hätten Ihn erschaffen. Aber die Nadel selbst war aus Metall! Schon eine Voranalyse mit Minnies Neutroneninstrument hatte das ergeben. Sie glich
dem Totem des Clans so sehr, daß sie ein Totem sein mußte. Alles deutete darauf hin. Alle Angehörigen des Clans waren aus Metall. Das Totem des Clans war Metall. Demzufolge mußte das neue Ding vom Himmel verehrt werden wie das traditionelle Totem. Es war deshalb gerechtfertigt gewesen, versicherte er sich, den Befehl ›Aufhören‹ zu geben und die zerstörerische Analyse der Nadel zu beenden. Trotzdem bot sie den verabscheuungswerten kleinen Mobiles Zuflucht, und dieses Ärgernis war kaum zu ertragen. Ein verehrungswürdiges Totem bot den arroganten, nicht totemhaften Kreaturen Schutz, die vernichtet werden mußten, damit Sein Universum von ihrer blasphemischen Unverschämtheit gereinigt sei! Als die Forderungen logischer Schlußfolgerung erfüllt waren, verbreitete er auf allen Wellenlängen eine Anweisung, die auf folgendes hinauslief: ›Gegen die nicht-totemischen Mobiles ist Wache zu halten. Bei Wiederauftauchen sofort melden.‹ Danach verminderte er die Spannung in seinen Logikschaltungen. Die angenehme Ruhe der Abstraktion hielt aber nicht lange an. Meßpeter überflutete die ihm zugewiesene Frequenz mit Heureka-Signalen eines Infrarot-Photometers, und wieder war die Störungsquelle fern am Himmel auszumachen. O Bigboss, rief Er sich selbst an. Nicht noch eine TotemNicht-Totem-Komplikation! Wie vorher akzeptierte Himmelsgucker die gemeldeten Koordinaten und richtete einen Sicht-Telesensor auf die bezeichnete Stelle. Dort war aber nichts. Seine Doppler-Radaranlage vermochte jedoch in vielen hundert Kilometer Entfernung
einen Leuchtfleck auszumachen, gerade als er verschwand. Nur ein Meteor, entschied Bigboss erleichtert. Er beließ es bei dieser Entscheidung, obwohl Meßpeter keinen ionisierten Schwanz geortet hatte. Und Bigboss lief erleichterter, überzeugt davon, daß die Erscheinung schließlich doch nicht noch eine neue Nadel gewesen sei. Seine innere Ruhe war aber nicht von langer Dauer. Im nächsten Augenblick benötigten seine sämtlichen Servomechanismen ihre ganze Geschicklichkeit, um das Gleichgewicht gegen ein plötzliches Aufbäumen des Bodens unter einem seiner Ausleger zu halten. Er schwankte heftig und nahm seinen Hängeilluminator und -sichtsensor in Betrieb. Schraubwurm, der sich offenkundig eine weite Strecke vorangefräst hatte, tauchte an einer Stelle auf, wo seine Fußplatte abgestellt gewesen war. In fünfzig Metern Entfernung war Minnie erwartungsvoll erstarrt, ihr Objektiv auf ihn gerichtet. Sie sammelte sich zu einem Ansturm auf ihn, sollte die Gelegenheit sich bieten. Schraubwurm kam ganz herauf. Zornig stieß Bigboss ihn zu Minnie zurück, die sich – enttäuscht, wie es schien – wieder ihrer Arbeit zuwandte. Das riesige Tsarener-Schiff, starrend vor den gewaltigsten Waffen, die in Jahrtausenden konstruiert worden, erholte sich vom Subraum-Zwischenfall, justierte die Tarnabschirmung und glitt in eine Umlaufbahn. Ratsmitglied Mittich, stellvertretender Kommandeur, stützte sich mit kräftigem Schweif gegen die schwankende Trägheit ab
und verfolgte, wie Vrausot, Kanzler der Tsarener-Schwärme, seine Anweisungen zischte. »Die Daten, Kavula!« forderte er. »Daten her!« Der Pilot duckte sich vor der Ungeduld der höchsten Autorität der Tsarener-Welten und schlug mit der Klauenfaust auf den Kontrollcomputer. »Sie müssen gleich erscheinen – hoffe ich.« Mittich drängte hinein in die Besorgnis, die den Raum mit hydrostatischer Intensität erfüllte. Sein isotonisches Salzwasserbad war längst überfällig, und schon machte sich die Austrocknung an seiner Chitinhaut bemerkbar. Er spürte, wie sich jede einzelne Schuppe an der anderen rieb. Aber er konnte sich nicht zurückziehen. Nicht, wenn sie so knapp vor der Entscheidung standen, ob eine Äonen alte Kultur zum Untergang verurteilt war. Der Computer ratterte und spuckte die neuen Daten aus. Vrausot riß das Band an sich, und sein massiver Schädel bewegte sich befriedigt auf und ab. »Die Umlaufbahn ist absolut synchron«, erklärte er. »Wir können den Landungsplatz der fremden Wesen ständig beobachten. Und unsere Position wird zusätzlich durch diese Gipfel getarnt.« Er gebrauchte die Schuppen eines verkürzten Unterarms, um sich am unteren Kinn zu kratzen. Mit der ganzen Autorität, die ihm als Kanzler des Schwarms, Berater der Kurulischen Versammlung und Leiter dieses Expeditionskorps verliehen war, befahl er dem Piloten, Gefechtsübungen anzuordnen. Ratsmitglied Mittich schluckte ungläubig. »Aber die fremden Wesen! Wollen wir sie nicht beobachten?
Dazu sind wir hergekommen!« »Nicht jetzt.« Vrausot winkte ab. »Zuerst vorbereiten. Außerdem wissen wir ja, daß sie aggressiv sind.« »Das wissen wir nicht. Wir müssen es erst klären.« Der Kanzler schob den Schweif nach rechts. »Wir haben ihre Maschinen beobachtet. Sie bekämpfen sich untereinander, nicht wahr? Und ist es nicht eine Grundtatsache, daß Automaten hauptsächlich nach ihren Erzeugern gestaltet werden, selbst in Fragen des Temperaments?« »Ja«, gab Mittich zu. »Wir haben die Maschinen aber manipuliert. Wir haben Grundverhaltensmuster beeinflußt. Auch unsere Automaten würden primitive soziale Tendenzen zeigen, wenn mit ihnen das gleiche geschehen würde.« Vrausot zeigte unwirsch gezackte Gebißreihen. »Ich bin nicht in Stimmung für Konflikte, hätte mir aber denken können, daß vom Führer der Opposition nichts als forensische Einwände zu erwarten sind.« »In dieser Eigenschaft bin ich hier, um Vorschläge zu machen.« Aber es war mehr, dachte Mittich. Der Rat hatte erhebliche Bedenken gegen den Kompromißplan gezeigt. Der Kanzler wünschte eine gigantische Machtdemonstration, die Opposition den Versuch friedlicher Kontaktaufnahme. Man hatte sich schließlich geeinigt auf: Beobachtung, Bewertung und Anwendung von Gewalt nur, falls erforderlich. Und man hoffte, daß Kanzler und Ratsmitglied einander zügeln würden. Aber wie sollte man Vrausot zügeln? »Gefechtsübung vorbereiten«, befahl der Kanzler. »Aber das wird erkennbare Emissionen erzeugen, die unsere
Abschirmung nicht mehr verbergen kann«, wandte Kavula ein. Vrausot lehnte sich enttäuscht auf seinen Schweif. »Nun gut, dann – machen wir eben nur eine Probe.« Kavula gab die Anweisung weiter, Dutzende von Luken öffneten sich und gaben die schimmernden Verstärker mächtiger Waffen frei. Das Raumschiff dröhnte unter den ZischKlicklauten militärischer Befehle. Mittich drehte sich auf dem massiven Schweif und trat vor den Telebildschirm. »Ich habe gewiß Ihre Erlaubnis, mir das fremde Fahrzeug anzusehen?« »Wie Sie wollen«, brummte der Kanzler. Die Kamera richtete sich auf das fremde Schiff. »Es ist sauber!« rief Mittich. »Sie sind nicht bewaffnet!« »Unsinn«, sagte Vrausot und kam heran. »Sie müssen es sein. Weshalb wären sie sonst hergekommen?« »Der Rumpf ist glatt.« Der Rat wies mit seiner langen Schnauze darauf. »Ich sehe keine Geschützlukenumrisse.« Der Kanzler lachte humorlos. »Sie sind fremde Wesen, Mittich – mit einer fremden Technologie. Vielleicht würden wir ihre Waffen gar nicht als solche erkennen.« »Aber wenn sie feindselig und heimtückisch wären, würden sie sich dann hilflos auf dieser Ebene darbieten – wie harmlose Uraphi?« »Wir schlagen sofort zu! Wir warten nicht ab, bis sie Gelegenheit haben, uns zu entwischen.« »Aber genau das sollen wir nicht tun! Wir könnten einen Krieg auslösen, der eine oder beide Kulturen vernichtet!«
»Wenn wir jetzt nicht zuschlagen, wird es unsere Kultur sein, die vernichtet wird. Das will ich nicht, Mittich. Denken Sie nur an den Ruhm und die Ehre und die Tradition der Eroberung, die für immer verloren wären. Hier blicken unsere Ahnen auf uns, die ihr Leben im entscheidenden Kampf um die endgültige Konsolidierung des Tsarener-Schwarms gegeben haben!« »Aber –« »Jetzt haben wir Gelegenheit, uns der großartigsten Beispiele tsarenischer Helden würdig zu erweisen, die je einen Verstärker aus Liebe für die Heimatwelt auf einen Gegner gerichtet haben. Mittich – Dies ist der Zeitpunkt für ein Imperium!« Der Rat sah ein, daß es keinen Zweck hatte. Vrausot würde sich durchsetzen. Er würde seine funkelnden Phantasieorden tragen, den Angriff befehlen und den Untergang für – oh, wie viele Welten herbeiführen? Und der Kurulische Rat konnte ihn danach nur noch unterstützen, sobald das fait accompli geschaffen war. »Kavula!« zischte der Kanzler. »Befehlen Sie den Kanonieren –« Aber Mittich berührte ihn am Rücken. »Es könnte ein Schlagnetz sein.« »Ich – was?« »Wir schwimmen vielleicht in ein Schlagnetz. Vielleicht spielen sie nur mit uns und warten ab, ob wir so unvorsichtig sind, sie anzugreifen.« Die Schuppen über den Augen des Kanzlers standen senkrecht, als er darüber nachdachte. Schließlich sagte er: »Gut, wir halten uns noch zurück.« Mittich hatte ihn für den Augenblick überredet, aber das
würde nicht lange anhalten. Der Rat wurde aus seinem Gedankengang gerissen, als eine seiner großen Schuppen vor Trokkenheit auseinanderriß. Er eilte zu seinem isotonischen Salzwassertank. Ausgeruht, wenn auch noch immer ohne einen Plan für die Wiederunterwerfung des Tele-Puppen-Teams, beobachtete Stewart die Roboter, hinter einem Felsvorsprung verborgen. Dorthin hatte er Carol, Direktor Randall und McAllister geführt, wahrend die Automaten damit beschäftigt gewesen waren, sich wieder aufzuladen. »Wollen Sie es beim Koordinator noch einmal mit mündlichen Anweisungen versuchen?« fragte Carols Stimme in seinem Kopfhörer. »Wir machen gar nichts, bis das Ding ganz mit dem Senden beschäftigt ist«, sagte Stewart entschieden. McAllisters Stiefel trat auf etwas Hartes, und er bückte sich. »Was ist denn das?« Randall trat hinzu. »Offensichtlich eine ausgebrannte Tele-Puppe.« »Ein Algendetektor«, sagte Stewart. »Da es hier aber kein Wasser gibt, hatte er keine Gelegenheit, seine Funktion auszuüben. Es muß zu elektronischer Atrophie gekommen sein.« »Er ist übersät mit Bohrlöchern«, stellte McAllister fest. »Eine der anderen Puppen scheint ihn demoliert zu haben.« »Wenigstens einer unserer Roboter hat offenbar seine Hemmung dagegen überwunden, reines Metall zu analysieren«, meinte Randall. »Oder hier ist etwas anderes aufgetaucht«, sagte McAllister.
Der Direktor hob den Kopf. »Etwas anderes? Was denn?« fragte Carol lachend. McAllister hob nur die knochigen Schultern. Stewart hob einen Klumpen Erdreich auf und ließ ihn zwischen den Fingern zerbröckeln. »Haben wir keine Einrichtung für Notfälle, die Maschine wieder unter Kontrolle zu bringen?« fragte Randall. »Na ja, es gibt ein paar Tricks. Zupacken, etwa.« Carol lachte skeptisch. »Bei diesem Ding?« »Im unteren Teil befindet sich ein eingelassener Knopf zum Abschalten. Da brauche ich nur hinzukommen.« »Und der Roboter braucht nur mit einer seiner Zangen zuzugreifen.« Sie ergriff seine Hand. »Seien Sie vorsichtig, Dave.« Sie erhob sich und starrte zu einer fernen Bergkette hinüber. »Ja, Carol – was ist?« sagte Randall sofort. »Ich nehme elektronischen Überlauf von irgendwo da oben zwischen den Gipfeln wahr – vielleicht dahinter.« »Flüchtiges Zeug«, meinte Randall. »Reflektionen durch ein dichtes Magnetfeld können einen beirren, wissen Sie.« Sie nickte, aber ohne Überzeugung. »Da!« rief McAllister plötzlich. »Der Koordinator fängt an zu senden!« Carol beobachtete die riesige Maschine, als sie ihre Antennen auf einen Punkt am Horizont ausrichtete. »Vielleicht können Sie etwas mitbekommen«, sagte Stewart zu ihr. Sie winkte ab. »Es geht schon los.«
»Können Sie die Frequenz bestimmen?« »Knapp über 136,2 Megahertz.« »Genau getroffen, nicht?« fragte Randall. »So ziemlich. Wie sind die Signale, Carol?« »Sie scheinen in Ordnung zu sein, gut moduliert, vollgestopft mit Daten. Ich kann sogar lesen, daß einzelnes mit Sauerstoff zu tun hat – viel Sauerstoff – in der Höhle dort drüben, glaube ich.« Sie deutete hinüber, dann sah sie Stewart an. »Es gibt überhaupt keinen Defekt!« Er griff nach seinem Sender und schaltete auf ungedämpfte Welle. »Das vereinfacht unsere Aufgabe. Wenn wir die Kontrolle wieder haben, brauchen wir den Koordinator nur umzuorientieren.« Randall entfernte sich ein paar Schritte, schaute zum Himmel hinauf, kam zurück. »Was jetzt?« Stewart justierte seinen Sender. »Extremfallverfahren. Ich knalle mit aller Wucht auf die Frequenz, mit dem er verschlüsselte Signale vom Relaispunkt erhalten hat.« »Aber können Sie ihm verschlüsselte Befehle geben?« »Ich stelle einfach auf Dauerimpuls. Eine ›Alles-halt‹Anweisung.« Er drückte auf die Taste. Carol zuckte zusammen. »Auah. Darauf war ich nicht vorbereitet.« »Was macht er jetzt?« »Sendet immer noch. Keine Unterbrechung.« Er ließ die Taste los.
»Na, damit ist unser Arsenal erschöpft. Wir müssen es von Hand machen.« Carols belustigtes Lachen tönte aus den Kopfhörern. »O je, die schwachköpfige Maschine hält sich für Gott!« »Was?« entfuhr es Randall. »Ich habe ein bißchen was vom Zentralspeicher mitbekommen. Er ist Herr und Meister des Universums! Es gibt nur eines, was würdig ist, seine Pedalplatte zu berühren – der PuppenLeichter. Und zwar deshalb, weil der Leichter da, ebenfalls aus Metall, ein Totem ist!« Der Direktor schüttelte den Kopf. »Höchst ungewöhnlich«, murmelte er. »Carol! Sehen Sie in seinem Gedächtnisspeicher irgend etwas Bedeutsames? Irgendeinen Hinweis auf –« Aber im nächsten Augenblick schrie er auf und wich vor einer dreißig Zentimeter langen Metallkrabbe zurück, die vor ihr aufgetaucht war. »Der Flora-S&A!« Stewart griff nach dem Ding, aber es wich aus und bewegte sich wieder vorwärts. McAllister wich zurück, bis er neben dem Mädchen an dem Felsvorsprung landete. Er stieß mit dem Fuß zu, traf die Krabbe an der Seite und schleuderte sie davon. Dann schrie er vor Schmerzen auf und umklammerte seinen Rist mit beiden Händen. »Mein Fuß! Ich hab' ihn mir gebrochen!« Aber Augenblicke später war Stewart davon überzeugt, daß die Verletzung nur harmlos sein konnte, wie McAllisters Sprint zurück zur ›Photon‹ bewies.
Bigboss beendete die Sendung und wandte seine ganze Aufmerksamkeit den von Äser stammenden Heureka-Signalen zu. Interessiert prüfte er die Daten und registrierte die Modulationsspitzen, die genau dem C5H8-Parameter entsprachen. Äser hatte Kohlenwasserstoff geortet! Wichtiger noch, einer seiner spektrometrischen Biodetektoren nahm DNS-Moleküle wahr! Aber selbst diese bedeutsamen Funde erklärten die Erregung Äsers nur zum Teil. Der Gehilfe konnte telemetrisch jedoch nur seine allgemeine Aufregung mitteilen, da es für das dritte Element seiner Entdeckung keine Parameter gab. Verwirrt bedachte Bigboss diese Unzulänglichkeit der Kommunikation zwischen ihm und seinem Diener – bis eine Logikschaltung die Empfehlung aussprach: Schalte dich in das Direktsichtsystem Äsers ein. Das tat er. Und Bigboss wurde für Augenblicke irrational, als Motorschaltungen einander bekämpften, um die aus seinem Bewertungsspeicher flutende Hochstimmung auszudrücken. Er sprang drei Meter hoch. Sein oberer Kommandoteil rotierte in triumphierendem Delirium hundertmal in der Minute. Er fuhr seine Zangen aus und zog sie wieder ein, hob den Strahler und spuckte eine Lanze der Vernichtung aus, die in den Boden um ihn herum einen konzentrischen Graben sengte. Dann dämpfte er alle Aktivität und beruhigte sich mit einer nüchternen Bewertung der telemetrischen Signale Äsers. Der Diener stand drei verhaßten totemlosen Mobiles gegenüber! Sie waren aus ihrer Nadel herausgekommen. Sie waren endlich angetreten, dem ›Höchsten Wesen‹ die unmittelbare Her-
ausforderung entgegenzuschleudern! Als die Spannung wieder irrationale Höhen zu erreichen drohte, besänftigte Bigboss sieh mit dem Entschluß, diese frechen Kreaturen gnadenlos zu vernichten. Er sandte einen ›Mit-allem-aufhören-und-mir-folgen‹-Befehl aus und bewegte sich Äsers Signalen entgegen. Etwa alle zwanzig Meter erreichte eine Unterscheidungsschaltung Spitzenausschläge, und er schleuderte einen Blitz reiner Energie, vernichtete hier einen Felsblock, ebnete dort eine Erhebung ein, pulverisierte gelegentlich einen Schroffen. In seiner Erregung hatte er jedoch die Rundumsicht versäumt, die ihm sein defektes Objektiv nahelegte. Er wußte auch nicht, daß Minnie sich inzwischen heimlich genähert hatte. Er entfernte sich aber bereits wieder von ihr. Die Gehilfen strömten auf den nahen Felsvorsprung zu, ohne Rücksicht auf ihren Rang. Einige umgingen ihn von rechts, andere unternahmen zusammen mit Bigboss ein linkes Flankierungsmanöver. Die langbeinige Maggie und Meßpeter betrachteten die Felsen nicht als Hindernis und sprangen darüber hinweg. Als Bigboss endlich herumfuhr und die verächtlichen Mobiles direkt betrachtete, blieb er stehen, um die Lage zu prüfen. Es bedurfte nicht geringer Selbstbeherrschung, seine motorischen Schaltungen zurückzuhalten. Aber er mußte es tun. Er war entschlossen, die arroganten Mobiles nicht mehr zu ihrem Totem zurückkehren zu lassen. Äser stand vor den drei Wesen, die Servoanlagen im Leerlauf, während sein Sender nach wie vor wilde Heureka-Signale verbreitete. Nun gesellten sich die Impulse der anderen Diener
hinzu, die einen Halbkreis um den Felsvorsprung bildeten – Meßpeter, mit dem Ausschlag eines Infrarot-Radiometers prahlend; Atmer, der Spuren von Sauerstoff und Kohlendioxyd in der umgebenden Atmosphäre meldete; Minnie, deren Neutronenflußinstrumente Konzentrationen von Kalzium, Kalium, Kohlenstoff wahrnahmen. Bigboss vereinnahmte die Daten und sandte einen knappen Befehl aus: ›Nicht analysieren! Distanz halten!‹ Der Ring der Clanleute blieb erhalten. Mehrmals versuchte einer der nichtmetallischen Gefangenen ihn zu durchbrechen, wurde aber von einem anderen Wesen zurückgehalten. Bigboss hob seinen Strahler und feuerte eine wilde, blendende Ladung ab, die ein halbes Dutzend ausgefahrener Photometer überlud und die Spitze des Felsvorsprungs zerstäubte. Er zielte neu und führte dem Strahlerkondensator neue Energie zu. Bei dem nächsten Sinuswellenausschlag bedauerte er jedoch seine Konzentration auf die Kreaturen. Minnies Bohrkopf, der durch seinen Sichtbereich fegte, bevor er den Strahler auslösen konnte, krachte nämlich auf Sichtobjektiv Drei. Er sprang zurück, während die Logikschaltungen mit diesem zusätzlichen Verlust der Sehfähigkeit fertig zu werden versuchten. Mehr durch Glück als durch Absicht richtete er eines seiner noch funktionierenden Objektive auf die herannahende Minnie. Sie ließ den ganzen Bohrkopf zu einem gewaltigen Hieb niedersausen, aber er parierte mit der Greifzange, während er die jetzt erforderliche Drehbewegung ausrechnete, um mit nur zwei Objektiven ausreichende Sicht zu gewährleisten. Der Angriff hatte jedoch unter sozial ehrgeizigen Gehilfen weitere Zusammenstöße ausgelöst. Seismo attackierte Minnies
entblößte Flanke und durchschlug mit einer Pedalplatte ihre Heckanalysenkammer, deren Inhalt sich auf den Boden entleerte. Meßpeter schwang den Gammastrahlendetektor-Ausleger und hieb auf Atmers Luftbeutel ein, während Maggie über Sonnengucker stand und eines seiner Teleskopinstrumente zerstampfen wollte. Inmitten der allgemeinen Verwirrung nahm Bigboss nur undeutlich wahr, daß die drei unverschämten Kreaturen durch den Ring der Diener geschlüpft waren und eilig zu ihrem Totem zurückkehrten. Erzürnt über den bevorstehenden Verlust der Beute, drehte er sich herum, vernachlässigte aber dabei wieder seine Verteidigung. Bevor er den Fliehenden noch eine Ladung nachfeuern konnte, fegte Minnies Bohrkopf in einem Bogen herum, so daß sein Strahler abgerissen wurde und davonflog. Als sie zu einem weiteren Schlag ausholte, stürzte er sich auf sie und vermochte ihre Bohrspitze mit der Zange zu packen. Mit einer heftigen Drehung brach er sie am Bohrfutter ab. Gezähmt zog sie sich endlich zurück. »Sie haben es gesehen, nicht wahr?« sagte Mittich scharf. Vrausot kratzte sich mit einer Klaue am Kinn. »Interessant – dieser Zwist zwischen den fremden Wesen und ihren Automaten. Wie legen Sie das aus?« »Daß sie nicht einmal Handfeuerwaffen tragen. Sie hatten keinerlei Abwehr gegen ihre Maschinen. Wenn sie hier wären, um zu kämpfen, würden sie dann nicht ständig bewaffnet sein?«
Vrausot beschrieb mit seiner spitz zulaufenden Schnauze einen verächtlichen Kreis. »Mittich, Sie amüsieren mich. Vor einem Sonnenuntergang erst haben Sie mir einzureden versucht, sie könnten sehr verschlagen sein, sie wären imstande, ein Schlagnetz nach uns ausgelegt zu haben.« »Ja?« »Jetzt lenke ich Ihre eigene Logik auf Sie zurück. Sie haben das Drama da unten für uns inszeniert – nur für den Fall, daß wir Zuschauer wären. Sie wollen uns einreden, sie seien dumm und hilflos.« Mittich wußte, daß der andere ihn nur verspotten wollte. »Wenn ich zu einer anderen Einschätzung gelangen müßte, Rat –« Vrausot machte eine Pause. »Sie sähe so aus, daß die fremden Wesen wahrhaftig dumm, unfähig, tölpelhaft und wehrlos sind. Es hat den Anschein, als wären sie nur durch Zufall dazu gelangt, interstellaren Status zu erreichen.« »O nein. Wir wissen, daß das nicht zutrifft.« »Und sie sind offenbar wirklich so dumm gewesen, unbewaffnet hierherzukommen«, fuhr der Kanzler unbeirrt fort. »Wenn ich im Kurulischen Rat mehr Stimmen auf mich hätte vereinigen können, wären wir auch unbewaffnet erschienen.« »Ah! Aber wir sind es nicht. Und wissen Sie warum? Weil der Rat mit mir einer Meinung ist, auch wenn er nicht den Mut hatte, nach seiner Überzeugung abzustimmen. Deshalb werde ich mich auch auf mein eigenes Urteil verlassen – eben weil ich die unterschwellige Ansicht kenne.« Mittich klappte sein Unterkiefer betroffen herunter. Es gab nun keine Zweifel an den Absichten des Kanzlers mehr.
Früher oder später – wie bald? – würde er den Gegner angreifen, und Mittich wußte kein Mittel mehr dagegen. Der Kanzler bewegte sich zur Steuerkonsole und wies den Piloten an: »Fünf Grad westwärts entlang der Umlaufbahn, dann stabilisieren. « Kavulas Hände flogen umher, und das Raumschiff erdröhnte unter dem Aufprall schwerer Schwänze, als sich die Beschleunigung veränderte. »Damit geraten wir unter den Horizont der Wesen«, sagte Kavula. »Gewiß«, zischte der Kanzler. »Und wir befinden uns in einer Position, wo sie unsere Artillerieemissionen nicht mehr wahrnehmen.« Er sprach ins Mikrofon: »Geschützmannschaft Eins, vorbereiten zum Feuern.« »Aktion?« sagte Mittich, das Schlimmste befürchtend. »Sozusagen – zur Vorbereitung.« Der Kanzler blickte auf den Teleschirm und wies die Kanoniere an: »Ich bezeichne einen Zielkreis auf einem der Gipfel da unten. Ihr könnt nach Belieben feuern.« Er berührte eine Taste, und auf dem Bildschirm flammte ein grüner Leuchtring auf, den er über den ausgewählten Gipfel schob. Das Raumschiff erzitterte, als der Schütze die Kanone auslöste. Mittich sah die Oberfläche im gleißenden Energieausbruch aufflammen – tausend Kilometer vom Ziel abweichend. Der Kanzler empfing die Entschuldigung des Feuerleitoffiziers, zusammen mit der Bitte, es noch einmal versuchen zu dürfen. Er lehnte sie ab. »Die Übungsmöglichkeit brauchen sie offenbar«, sagte Kavu-
la. Der Kanzler empörte sich. »Auf geringere Distanz leisten sie Besseres«, versprach er. »Inzwischen muß das Schiff für den Angriff abgetakelt werden. Ich habe mich entschieden. Ein Anflug müßte genügen. Nach Sonnenaufgang greifen wir an.« Mittich eilte verzweifelt herbei und schwang flehend die kleinen Arme. »Das können Sie nicht tun!« »Ach, seien Sie kein Zwergfisch! Es kann nichts schiefgehen. Ich bin überzeugt davon, daß sie völlig wehrlos sind.« »Wenn das der Fall ist, müssen Sie dem Ratsbeschluß zufolge eine friedliche Kontaktaufnahme versuchen!« »Unter Wasser mit dem friedlichen Kontakt!« fluchte der Kanzler. »Ich muß mich hier auf mein Urteil verlassen!« »Aber –« »Strandgut! Es wird keinen Frieden geben. Wenn die fremden Wesen den gewollt hätten, wären sie überhaupt nicht hierher gekommen. Wir werden sie vernichten. Und dann geht es weiter.« »Weiter? Wohin denn?« Vrausots Blick trübte sich. »Wir wissen, wo ihr Relaisstützpunkt ist«, erklärte er. »Den greifen wir als nächstes an! Dann nutzen wir den Überraschungseffekt, fliegen weiter zu ihrer Ursprungswelt und vernichten sie. Auf dem Rückweg erledigen wir noch ein paar andere Planeten.« Er wandte sich dem sprachlosen Mittich zu. »Der Krieg – wenn es einen geben wird – dürfte kurz sein. Wir brauchen nur zum Tsarener-Schwarm zurückzukehren und
eine Flotte aufzustellen, bevor wir den Rest ihrer Zivilisation auslöschen. Und wieder einmal wird der Ruhm der Eroberung unser sein – wie wir ihn seit, oh, wie vielen Jahrtausenden nicht mehr genossen haben!« Stewart erwachte am nächsten Morgen schreiend. Vielleicht war der Alptraum durch sein Erlebnis vom Vortag mit den Tele-Puppen hervorgerufen worden. In seinem Traum hatte der Koordinator wieder tödliches Feuer gespien und sein Ziel nur um Zentimeter verfehlt, bevor in der Ebene große Krater entstanden waren. Plötzlich verschwand der Chefroboter und nahm alle Gehilfen mit. In der angespannten Stille danach konnte Stewart Carol und Randall nur betroffen anstarren. Dann kam es – das flammende, nackte Licht, zusammen mit dem Stentorbrüllen, das den Himmel erfüllte und das ganze Gestein erbeben ließ. Entsetzt duckte er sich wie die anderen und suchte verzweifelt nach einem Versteck, aber alle Spalten und Höhleneingänge verschwanden ebenfalls, bis sie nur eine glatte, merkmallose Ebene vor sich hatten, die sich in allen Richtungen bis in die Unendlichkeit erstreckte. Schließlich landeten die mächtigen Schiffe – Hunderte wie es schien. Über Ausstiegrampen ergossen sich Tausende gräßlicher Harpyengestalten. Ihre Klauen hatten sich in seiner Phantasie vergrößert, bis sie die Körper selbst überragten und durch ihr bloßes Gewicht jedes Fliegen unmöglich machten. Aus den Augenwinkeln nahm Stewart plötzlich Bewegung wahr, und er sah, wie sich gigantische, gazeartige Vorhänge von
den gegenüberliegenden Horizonten zusammenzogen und unmittelbar vor ihm vereinigten. Wie blendende Nordlichtausläufer hingen sie von einer Stange so hoch oben in der Stratosphäre, daß sie sich in der Schwärze des Weltraums verlor. So durchsichtig sie auch waren, sie schienen auszureichen, denn wie durch Zauberkraft hielten sie die Horden der Harpyien auf der anderen Seite fern. Augenblicke danach stürmte Randall nach vorn und riß die Vorhänge auseinander. Die Ungeheuer strömten hindurch. Dann stand Randall neben seiner Koje, schüttelte ihn wach und betrachtete ihn fragend. Stewart verzehrte sein Frühstück stumm, während er nach einer vernünftigen Auslegung des Alptraums suchte. Es war beinahe so, als stelle der Auroravorhang den geistigen Schleier dar, der eine von Entsetzen gefüllte Nische seines Geistes verhüllte. Der Inhalt dieses Spalts – wollte er sich ihm nicht stellen? Konnte Randall, wenn er das wollte, wirklich den Vorhang zurückziehen? Warum gerade Randall? Randall schlug sich auf den Schenkel. »Nun, wir haben es immer noch mit einem Tele-PuppenProblem zu tun.« Mortimer richtete sich auf. »Sie wollen doch nicht wieder an den Dingern herummurksen, oder?« »Wüßte nicht, wie wir das vermeiden können. Wir haben einige Tage an der Subraumantriebsspule zu arbeiten – außerhalb des Raumschiffs. Nur damit kommen wir hier weg und
können unseren Fern-Sender wieder in Betrieb nehmen. Ich möchte den Tele-Puppen aber nicht den Rücken zuwenden, solange sie nicht unter Kontrolle sind.« »Mich sehen Sie da draußen nicht mehr«, schwor McAllister. Randall trat an den Bildschirm und betrachtete geraume Zeit den Himmel. »Da oben finden Sie die Puppen nicht«, meinte Stewart. Der Direktor drehte sich schuldbewußt um. »Hat jemand eine Vorstellung, was wir mit den Robotern anfangen können?« »Ich glaube, mir ist etwas eingefallen«, sagte Stewart, an einen anderen Bildschirm tretend. Er richtete die Kamera auf die Tele-Puppen, die auf der Ebene ihren Tätigkeiten nachgingen. »Carol hat mich auf eine Idee gebracht. Wir können das Problem vielleicht in fünf Minuten lösen.« »Den Koordinator wieder unter Kontrolle bringen?« fragte Randall. »Wie denn?« »Es gelingt uns vielleicht, ihn stillzulegen, dann mangelt den anderen Puppen die Energiequelle. Binnen weniger Stunden sind ihre Batterien leer, und wir können uns mit dem Koordinator befassen, ohne eine Einmischung befürchten zu müssen.« Er deutete auf seinen Schutzanzug. »Den brauche ich nicht, dafür aber einen Weltraumanzug – gegen Solarstürme geschützt. Haben Sie einen an Bord, McAllister?« Der Pilot nickte. »Immer dabei. Sie werden aber meinen, daß er eine Tonne wiegt. Er ist für freien Fall gedacht.« »Der Anzug ist aus Metall!« sagte Carol plötzlich. »Und das bedeutet, daß er für die Puppen als Totem gilt!«
»Genau das habe ich mir überlegt«, sagte Stewart. »Wenn ich ihn trage, gelte ich vielleicht als Kamerad.« McAllister hatte recht gehabt. Der gepanzerte Anzug fühlte sich unter Schwerkraft an, als wiege er nicht viel weniger als eine Tonne. Stewart setzte mühsam einen dicksohligen Stiefel vor den anderen und bewegte sich im Schneckentempo über das schwierige Gelände. Durch eine Lücke zwischen zwei Felsblöcken konnte er das Tele-Puppen-Team sehen. Die Maschinen arbeiteten angestrengt, und der Koordinator überwachte majestätisch seine Untertanen. Stewarts Beine bemühten sich unter der großen Last, als er eine Anhöhe bewältigte und auf die Ebene hinaustrat. Er blieb stehen und starrte auf das Mikrofon in seinem Helm. Es war ausgefallen, und er kam sich einsam und unzureichend vor. Der Anzug war aber nicht mit Funk ausgestattet, weil der Träger normalerweise an das Bordsystem angeschlossen war. Er schob sich über die Ebene und näherte sich dem Team. Bis jetzt war er nicht bemerkt worden. Vorsichtig umging er die Kuppe, wo der Solarplasmadetektor saß, dessen Ausleger-Sensor sich jetzt dem aufgehenden Aldebaran entgegenreckte. Der SpD beachtete ihn nicht, obwohl er am Objektiv vorbeimußte. Zwanzig Schritte danach ging es ihm beim Atmosphärenprüfer nicht anders. So weit, so gut. Er hatte sich aber nur jenen Robotern genähert, die normalerweise kein Interesse für ihn bekunden würden, weil er weder ein Himmelskörper noch gasförmig war. Als er eine Minute später jedoch unbehindert an einem gleichgülti-
gen Mineralprüfer vorbeikam, stand für ihn fest, daß seine Totemeigenschaften ihn ohne Zwischenfall zu seinem Ziel leiten würden. Er stieg einen Hang hinauf, stapfte zwischen dem Astronomischen Datensammler und dem Seismometer hindurch und stieg, seiner Immunität jetzt gewiß, über den krabbenartigen Mikroorganismus-S&A hinweg. Dann stand er zögernd vor dem Chefroboter. Der riesige Automat, hinter dessen Sichtluken gleißendes Licht makellose Energieerzeugung verriet, beachtete ihn nicht. Ohne seinen Laser wirkte er beinahe rührend. Stewart verschwendete jedoch kein Mitgefühl. Er brauchte nur den Deckel des kleinen Fachs zu öffnen und den Koordinator abzuschalten. Plötzlich reagierte die Maschine auf seine Anwesenheit. Eines der Objekte richtete sich auf ihn, dann hob der Roboter einen Greifarm. Eine feindselige Geste, oder nur ein Symbol der Verständigung, das er während seiner unabhängigen Herrschaft erlernt hatte? Am Rand von Stewarts Gesichtsfeld bewegte sich etwas, und er ließ sich instinktiv auf den Boden fallen, als eine große, ratternde Maschine an ihm vorbeifegte. Er rollte sich herum und sah, daß es der Mineralprüfer war, erneut im Angriff. Der sechsbeinige Automat kam vor dem Koordinator zum Stehen und schwang den dicken Bohrkopf. Er duckte sich unter den schimmernden Hals und sah, wie er die größere Maschine am Unterrumpf traf und sie erschütterte. Der Chefroboter schlug zurück und riß den Hals des MP auf. Stewart entschied, daß er gezwungen sein würde, sich zwischen die wirbelnden Arme zu stürzen, wenn er das Tele-
Puppen-Team stillegen wollte. Bei der Unberechenbarkeit der Roboter mochte er nie mehr so nah an den Hauptautomaten herankommen. Der Fortgang des Kampfes machte seine Entscheidung jedoch überflüssig. Die kämpfenden Maschinen stampften über die Stelle hinweg, wo er lag, und eine große Pedalplatte verfehlte ihn nur ganz knapp. Einen Augenblick lang befand sich das Schalterfach genau über ihm. Er hob den schweren Arm, öffnete den Deckel und betätigte den Schalter. Ein letzter Tritt des Koordinators schleuderte ihn unter den tonnenschweren Maschinen heraus. Der peitschende Zangenarm packte den MP und schleuderte ihn zurück. Dann kippte der Chefroboter wie ein gefällter Riesenbaum. Der Boden erbebte unter dem Aufprall. Stewart erhob sich und wischte Staub von seiner Sichtscheibe. Der gigantische Roboter lag regungslos da, die Luken dunkel. Der Mineralprüfer taumelte in der Nähe herum. Die anderen Puppen setzten ihre Arbeit fort, ohne zu ahnen, daß sie, sobald die Batterien erschöpft waren, sich nicht mehr aufladen konnten. Erschöpft machte Stewart sich auf den Rückweg zum Schiff. Nun brauchten sie nur noch zu warten, bis die kleineren TelePuppen zum Stillstand kamen. Minnies Gyroskope kamen wieder ins Gleichgewicht. Logikschaltungen errechneten, mit welchem Manöver sie sich aufrichten konnte. Sie drehte sich langsam und richtete die Objek-
tive auf den Boden. Sie erfaßten – Bigboss! In einer höchst ungewöhnlichen Lage! Und – regungslos! Ihre Bewertungsschaltung geriet beinahe außer sich, als er nicht reagierte. Sie wiederholte das Rufsignal. Nichts! Sie verfiel in begrenzte Ekstase und wirbelte im Kreis herum, bis sie befürchten mußte, ihre Gyroskope zu überlasten. Sie bäumte sich auf, schwang den Bohrkopf herum. Sie hatte gesiegt! Sie hatte Bigboss verdrängt! Sie war an der Spitze! Sie war jetzt das ›Höchste Wesen‹! Daß es ihr trotz Bigboss' Überlegenheit gelungen war, sich durchzusetzen, war ein so bezweifelbares Datum, daß sie es beinahe zurückwies, bevor sie es speicherte. Minnie setzte wieder zu einem triumphierenden Tanz an, kam aber plötzlich zum Stillstand, ihren Kopf hoch erhoben, ihr Objektiv auf das totemlose Mobile gerichtet, das sich in Richtung Nadel zurückzog. In Ihrem Universum war etwas nicht in Ordnung! Es war ganz und gar nicht wie vor dem Sieg über das ›Höchste Wesen‹! Sie rief neu gespeicherte Eindrücke ab und erkannte sofort, was fehlte. Das telemetrische Geschnatter aller Gehilfen war verstummt! Sie vermißte auch das ständige Hin und Her von Anweisungen und Bestätigungen zwischen Bigboss und den Gehilfen. Dabei waren die Analysatoren alle hier und gingen ihrer Arbeit nach. Ängstlich befaßten sich ihre bescheidenen Logikschaltungen mit der Aufgabe, den Grund dafür zu ermitteln. Es vergingen
viele Sinuswellenausschläge, bis das Urteil zur Speicherung feststand: Bigboss war berechtigterweise das ›Höchste Wesen‹ gewesen! Er hatte wahrhaft Überlegenheit besessen. Die Gehilfen hatten Stimmen, gewiß, aber sie waren isolierte Stimmen, von den anderen Mitgliedern des Clans nur zu hören, weil Bigboss sie weitergeleitet hatte. Minnies Bohrkopf sank herunter auf den Boden. Sie war jetzt das ›Höchste Wesen‹, aber es war eine hohle Auszeichnung, denn sie hatte nichts von der Autorität von Bigboss geerbt. Was hatte sie getan? Wie hatte sie so irrational sein können? Mehr zum Trost, als aus irgendeinem anderen Grund sendete sie Schraubwurm einen verzweifelten ›Wo-bist-du?‹-Impuls. Die zurückkehrenden Peilsignale brachten sie wieder ins Gleichgewicht. Sie war doch nicht allein! Sie behielt die Überwachungsfunktion über ihren einzigen Helfer! Sie sah Wurm herankommen und sendete ›Alles halt‹, als er bei ihr war. Sie senkte den Bohrkopf, bis die geringe Veränderung des Widerstandswertes anzeigte, daß sie körperliche Berührung mit ihm hatte. Nein, sie war trotz allem nicht allein. Sie hatte noch ihren Wurm! Innerhalb der Grenzen dieser Umstände würde sie versuchen, sich wie ein ›Höchstes Wesen‹ zu verhalten, beschloß sie. Sie richtete sich auf und strengte ihre Logikschaltungen an. Wie verhielt sich eine Allmächtige? Nach dem Verhalten von Bigboss zu schließen, sollte ein Herr oder eine Herrin aller Schöpfung darangehen, totemlose
Kreaturen zu vernichten. War es das, was sie tun sollte? Sie begriff, daß die Entscheidung enorme Konzentration verlangte, und zog sich zurück, um alle Faktoren zu bedenken. Auf halbem Weg zurück zur ›Photon‹ machte Stewart eine Pause und lehnte sich erschöpft an einen Felsblock. Jetzt erst begriff er, daß der Raumanzug nicht zum Gehen bestimmt war. Vor ihm war das Schiff ein lockender Silberbleistift, glitzernd im scharfen, goldenen Licht von Aldebaran, der einen schier endlosen Schatten über den Boden warf. Dann sah er sie – die lange, symmetrische Form, die hinter dem Horizont heraufzuspringen und sich explosionsartig auszudehnen schien, während er entsetzt zusah. Es war ein Raumschiff – wie er noch nie eines gesehen hatte! Oder auch – Verwirrt, angstvoll, konnte er nur dastehen und versuchen, den Schleier in seinem Gehirn zu durchdringen, das Unglaubliche vor seinen Augen mit der unaussprechlichen Angst zu vereinbaren, die er seit Wochen empfand. Inzwischen glitt das fremde Schiff heran. Die glatte, dunkle Rumpfunterseite war durchbrochen von zwei Reihen offener Luken, die beidseitig vom Heck bis zum Bug reichten. Und tief in diesen Öffnungen ragten Dutzende langer Metallkonstruktionen, Metallstrukturen, die nur eines sein konnten – Linearverstärker für Laserwaffen! Stewart sah ein, daß dies nur wieder ein Alptraum sein konnte, und es machte ihn krank, fürchten zu müssen, daß er noch tiefer in den Traum hineingezogen werden sollte. Das Raum-
schiff würde natürlich landen, und aus den Luken würden zahllose rachedurstige, groteske Harpyien strömen. Statt dessen zuckten zahllose flammende Strahlen von dem Raumfahrzeug durch den Himmel. Und er spürte, daß dies kein Alptraum war, kein symbolischer Ausdruck der verschwommenen Angst in ihm. Das war Wirklichkeit! Das geschah wirklich! Blitz um Blitz zuckte aus den offenen Luken, versengte den Boden, blies große Löcher in Felsformationen, ebnete Berge ein, pflügte gewaltige Furchen in den Boden. Einer der Laserstrahlen – vielleicht der fünfzigste oder sechzigste – rasierte den Bugteil der ›Photon‹ ab und ließ nur gezacktes Metall als unwürdige Krone auf der sonst makellosen Struktur zurück. Ein anderer Strahl zerstäubte eine der Hydraulikflossen und schnitt ein klaffendes Loch in den Antriebssektor. Die ›Photon‹ kippte gefährlich, hielt sich aber noch aufrecht. Dann war das angreifende Schiff verschwunden, vom Himmel durch eine Bergkette verschluckt. Minute folgte in der atemlosen Stille auf Minute. Stewart wußte, daß er zur ›Photon‹ eilen sollte, um festzustellen, ob Carol und die anderen sich im demolierten Bug aufgehalten hatten. Aber er stand nur wie gelähmt da. Als er nämlich über das Unfaßbare nachdachte, wurde ihm klar, daß der brutale Angriff für ihn letztlich keine Überraschung gewesen war! Er hatte die ganze Zeit damit gerechnet! Das mußte die namenlose Angst gewesen sein, die sich in ihm hinter einem Schleier verborgen hatte. Er hatte gewußt,
daß ein Raumschiff – ein Schiff mit fremden Wesen – sie hier erwarten würde. Und die Besatzung der ›Photon‹ konnte um so weniger auf ihrer Hut sein, weil es schon an sich unfaßbar war, daß die Galaxis innerhalb desselben Sektors zwei intelligente, Welten erobernde Rassen hervorgebracht hatte. Aber wenn er dieses Wissen besessen hatte, wie war es möglich, etwas derart Entscheidendes zu vergessen?
4 Das gigantische Tsarener-Schiff erreichte wieder eine Umlaufbahn, erzeugte Innenschwerkraft und versorgte die Tanks in den Besatzungsunterkünften mit isotonischer Salzlösung. In der Kontrollkabine wandte sich Kanzler Vrausot triumphierend Mittich zu und zischte: »So! Ich habe Ihnen gesagt, daß sie unbewaffnet hergekommen sind! Es hat überhaupt keine Reaktion auf den Angriff gegeben!« Der Rat starrte ihn an. Vrausot ging hin und her. »Begreifen Sie nicht, was das bedeutet, Mittich? Sie wußten, daß wir hier erscheinen würden. Sie besaßen Informationen darüber. Trotzdem sind sie unbewaffnet. Sie sind eine friedliche, naive, nichtsahnende Rasse harmloser Uraphi!« »Dann müssen wir freundschaftlichen Kontakt aufnehmen und –« begann Mittich. Es hatte keinen Zweck. Der Kanzler hörte nicht zu. Er hatte kein Gefühl für Ehre und Ethik. Mittich durfte sich angesichts
der politischen Vergangenheit Vrausots eigentlich nicht wundern. Es gab keinen Zweifel, Vrausot war größenwahnsinnig. Der Kanzler richtete sich stolz auf. »Aber wir sind nicht schwach! Kavula – alle Kanoniere in Bereitschaft. Wir erledigen sie endgültig, nachdem feststeht, daß sie uns nicht schaden können.« Mittich lief hilflos auf und ab und rang mit dem Problem, den Kanzler daran zu hindern, die Tsarener mit Unehre zu beschmutzen. Er drehte sich auf seinem Schweif und blickte auf den Bildschirm, lenkte die Kamera auf das fremde Schiff. Die fremden Wesen liefen immer noch um ihr beschädigtes Schiff herum und blickten ab und zu angstvoll zum Himmel. Zwei von den Wesen waren der Bergkette zugewandt, die das Tsarener-Schiff verbarg. Mittich betrachtete sorgenvoll ihre durch die Helme sichtbaren Köpfe. Er sog heftig den Atem ein. Er mußte sich irren. Natürlich. Das sah er jetzt ein. Trotzdem war da etwas Faszinierendes, als er die beiden Köpfe miteinander verglich. Was ihn am meisten beeindruckte, war der Kontrast. Es gab einen unbestreitbaren Unterschied – viele Unterschiede. Er erstarrte plötzlich. Vielleicht konnte er doch etwas tun. »Kanzler«, rief er leise. »Glauben Sie nicht, daß es zweckmäßig wäre, Gefangene zu machen?« »Ins Wasser mit Gefangenen!« fluchte Vrausot. »Wir brauchen sie nicht.« »Ja, das ist mir klar, aber – sehen Sie auf den Schirm.« Der andere richtete den Blick darauf. Seine Stirnschuppen
stellten sich auf, als er den Kontrast bemerkte. »Betrachten Sie den Linken«, sagte Mittich. Vrausot beugte sich vor. »Sie meinen doch nicht –?« »Doch. Das ist unsere Chance, beide Geschlechter zu untersuchen.« »Ich –« »Es könnten bedeutsame psychologische Unterschiede bestehen, wissen Sie. Wir haben ja nicht einmal eine Ahnung, welches dominiert!« Die beiden fremden Wesen waren aus dem Bild verschwunden. »Es wäre erfreulich, ein Paar beim Kurulischen Rat zu zeigen, nicht?« meinte der Kanzler nachdenklich. »Das finde ich auch. Eine deutliche Demonstration unserer Überlegenheit. Viel überzeugender als leeres Zischen und Klicken.« Vrausot richtete sich zu ganzer Größe auf. »Es wird geschehen. Kavula, zwanzig Mann sollen mich und Mittich begleiten. Geben Sie an jeden eine Lähmungspistole aus.« »Sie brauchen schon etwas Schwereres, wenn Sie zu diesen Maschinen wollen«, erklärte der Pilot. »Aber die Roboter werden nicht lange ein Faktor sein«, gab Mittich zurück. »Der Zentrale ist schon abgeschaltet. Die anderen beziehen ihre Energie von ihm. Sie werden bald auch ausfallen.« »Wie bald?« »Bis zum nächsten Sonnenaufgang, sicher.«
»Nun gut. Wir landen danach.« Vrausot zog sich ins Salzbad zurück. Mittich trat vor den Bildschirm und steuerte die Kamera. Nach einiger Zeit fand er die fremden Wesen – fünf an der Zahl. Sie stapften dahin, unterwegs zu einer Bergwand, an deren Fuß ein Höhleneingang gähnte. Es war jene Höhle, von der einer der Automaten gemeldet hatte, daß sie voll Sauerstoff sei. Und er erinnerte sich daran, daß Sauerstoff Grunderfordernis für die Wesen war, wie für die Tsarener auch. Offenbar befürchteten sie einen erneuten Angriff auf ihr Schiff, denn sie schleppten Vorräte mit. »Sie billigen nicht, was der Kanzler tut?« sagte Kavula. »Sie etwa?« »Wenn er in den Sektor der fremden Wesen vorstößt, ist das Völkermord«, meinte der Pilot. »Diese Wesen sind hilflos. Mit solchen Dingen will ich nichts zu tun haben. Außerdem gibt es keinen Grund, weshalb Tsarener und fremde Wesen nicht zusammenleben können sollten, selbst in einem kleinen Bereich der Galaxis. Wir haben andere Bedürfnisse. Ich glaube, sie interessieren sich gar nicht für Welten, wie wir sie suchen.« »Wir könnten das Kommando vom Kanzler übernehmen«, sagte Mittich gedankenvoll. »Tun Sie das. Ich schaue zu. Im Rat gibt es zu viele, die meinen Kopf verlangen würden, wenn es schiefgeht.« Und Mittich war mit sich sehr unzufrieden, weil er zugeben mußte, daß auch er seinen Kopf für überaus wertvoll hielt. Aldebaran Vier stieg in seiner ganzen Pracht empor, warf gelbliches Licht auf die Felsen und einen grellen Strahl in die
kleine Höhle. McAllister und Mortimer kauerten an der Wand und versicherten einander immer noch, daß das Ganze ein Irrtum sein mußte, daß es einfach keine anderen intelligenten Wesen geben konnte. Randall saß verdrossen auf dem Notsendegerät, das sie mitgenommen hatten, um ein Rettungsschiff zu rufen – sollten sie lange genug aushalten können. Stewart saß im Raumanzug ohne Helm in der Nähe des Höhleneingangs. Seit Stunden hatte er kein Wort gesagt. »Es wird schon alles gut, Dave«, murmelte Carol. »Es wird alles gut.« Sie legte die Hand auf seine Stirn und sah den Direktor besorgt an. »Wir kommen nach Hause«, flüsterte sie. »Dann verlassen wir das Amt. Wir fliegen nach Terra – nur wir beide – und werden sehr glücklich sein.« Bei anderer Gelegenheit hätten ihn diese Worte in einen Glückstaumel versetzt, aber hier prallten sie an ihm ab. Plötzlich hatte er es. Er wußte, was geschehen war. Er stand auf, zog den Anzug aus und sah die anderen an. »Ich habe die ganze Zeit gewußt, daß uns hier vielleicht ein fremdes Schiff angreifen wird«, sagte er. Carols Atem stockte. McAllister fuhr hoch. Mortimer wollte aufspringen, aber Randall hielt ihn zurück. »Wartet«, sagte er. »Das hören wir uns an.« »Ich sagte, ich hätte es die ganze Zeit gewußt«, fuhr Stewart fort. »Aber ich wußte nicht, daß ich es wußte.« Sie gafften ihn an. »Harlston und ich unternahmen einen Forschungsflug zu den Hyaden«, sagte er. »Wir haben aber nicht sieben – oder
waren es acht? – Welten vom Typ Erde gefunden. Wir kehrten nicht einmal in das Kontinuum zurück. Wir fanden Hinweise auf starken Subraum-Verkehr und Nachrichtenaustausch, Hinweise auf das Vorhandensein einer lebendigen Kultur von raumfahrenden Hyaden-Bewohnern!« McAllister fluchte. Mortimer trat verblüfft vor. »Aber –« »Lassen Sie ihn ausreden«, sagte Randall. »Wir sind sofort abgehauen«, sagte Stewart, »ohne auch nur einen Hyaden-Bewohner gesehen zu haben. Wir sagten uns, wenn es in diesem Teil der Galaxis eine zweite intelligente Rasse gab, dann mochte sie feindselig eingestellt sein. Und unsere Welten mußten davon erfahren. Wir durften nicht riskieren, gefangen zu werden. Wir begannen also mit Subraum-Sprüngen nach Hause. Einer von den Sprüngen endete hier – wo wir auf dem Hinausweg den Tele-Puppen-Leichter abgesetzt hatten. Aus der Distanz sahen wir uns das Team an. Und da unten stand ein fremdes Schiff – vielleicht dasselbe, das uns heute früh angegriffen hat. Es konnte nur bedeuten, daß die Hyaden-Bewohner sich in unseren Sektor der Galaxis ausdehnten.« Stewart machte eine Pause und starrte auf den Boden. Er begriff noch immer nicht, wie er das alles hatte vergessen können. »Begreift ihr denn nicht?« fuhr er fort. »Das Schiff muß uns gefangengenommen haben – muß aus unseren Gehirnen die Tatsache entfernt haben, daß wir ihr Nest in den Hyaden entdeckt hatten. So konnten wir nie den Verdacht schöpfen, daß wir bei unserer Ausdehnung auf Gegner stoßen würden. Wir würden überrascht werden, während die Hyaden-Bewohner Zeit hatten, sich
zu bewaffnen!« Wieder machte er eine Pause. »Sie müssen auch den falschen Eindruck eingepflanzt haben, daß es in den Hyaden viele Welten vom Typ Erde gibt – damit sie uns Schiff für Schiff erledigen konnten, wenn –« Aber Randall schüttelte bedrückt den Kopf. »Nein, Dave«, sagte er. »Die Hyaden-Bewohner haben Sie keiner Gehirnwäsche unterzogen. Das war ich. Ich habe auch den falschen Eindruck eingepflanzt – um diese Mission zu rechtfertigen. Es war notwendig, daß nur ich die wahre Lage kannte.« Stewart taumelte zurück. »Ja«, fuhr der andere fort, »nachdem Sie und Harlston mir mitteilten, daß es hier draußen eine Kultur von unbestimmter Größe und von unerkennbaren Absichten gibt, hätte ich beinahe auf den Panikknopf gedrückt. Zwei Kulturen, die sich gegeneinander ausdehnten, ohne bislang voneinander etwas zu ahnen. Der falsche Schritt konnte zu unübersehbaren Konsequenzen führen. Was tun? Übergeordnete Stellen unterrichten? Nein. Ich wußte nämlich sofort, was geschehen würde. ›Bedrohung aus dem Weltraum.‹ Terra und Centauri Drei, unsere anderen Welten – ›hilflos vor unnennbarem Schrecken‹; und dergleichen mehr. Jeder weiß, was die Folgen gewesen wären. Ein einzelnes Schiff hinausschicken, um friedlichen Kontakt zu versuchen? Aber wer würde da mitmachen? Statt dessen hätte es geheißen: Schickt tausend Raumschiffe, bewaffnet mit Lasergeschützen jeden Kalibers, alle bemannt mit unerfahrenen, nervösen Burschen, die von Kriegsführung nichts wußten.« Stewart wußte, daß es keinen Grund gab, ihm nicht zu glau-
ben. »Ich hatte nach Ihren Berichten die Hoffnung, daß ein friedlicher Kontakt möglich sein würde, Dave«, fuhr Randall fort und sank wieder auf das Sendegerät. »Kontakt zwischen zwei einzelnen, unbewaffneten Schiffen. Das schien nahezuliegen. Da waren, zum Beispiel, unsere Tele-Puppen. Der Koordinator sendete nicht mehr – seit einem Jahr. Später erzählten Sie, Sie hätten auf Aldebaran Vier-B ein fremdes Schiff gesichtet. Wenn man Zwei und Zwei addiert, kommt etwas heraus, das wie eine logische Vier aussieht.« Er schob die Pfeife zwischen die Zähne. »Wenn feindselige fremde Wesen sich gegen uns vorarbeiten und uns überraschen wollen, werden sie dann unsere Roboter manipulieren? Natürlich nicht. Wir würden nämlich sofort einen Trupp hinschicken, der die Puppen wieder an die Drähte nimmt. Und dabei könnten wir auf sie stoßen und ihre Strategie durcheinanderbringen. Da die Hyaden-Bewohner nicht wahrgenommen hatten, daß sie in ihrem eigenen Sternhaufen bemerkt worden waren, konnten die defekten Tele-Puppen nur eines bedeuten: Sie waren auf unsere Roboter gestoßen, hatten sich mit der Existenz einer anderen intelligenten Kultur abgefunden und absichtlich in die Funktion des Roboterteams eingegriffen.« »Aber warum denn das?« fragte Carol. »Für mich entsprach das einer Visitenkarte – mit der unser Besuch im Interesse freundschaftlicher Beziehungen erbeten wurde.« Er räusperte sich. »Aber ich habe mich geirrt – und wie geirrt! Es war nur eine Falle. Sie wollten uns nur herlocken, damit sie das Feuer eröffnen konnten!« McAllister begann zu schimpfen. Mortimer schüttelte be-
drückt den Kopf. »Aber warum haben Sie uns nicht gesagt, was uns bevorstehen würde?« fragte Carol. »Ach, das war Teil meiner großartigen Strategie«, sagte Randall geknickt. »Ich wollte niemand dabeihaben, der wirklich Bescheid wußte. Wenn eine friedliche Kontaktaufnahme versucht werden sollte, dann war kein Platz für feindselige Einstellung infolge wochenlanger Anspannung. Ich kalkulierte sogar die Möglichkeit ein, daß die fremden Wesen Telepathen wären oder zumindest über weitreichende Instrumente verfügten, mit denen sie unsere Gedanken lesen konnten. Ich wollte vermeiden, daß sie etwas entdeckten, das zu einem Zwischenfall führen konnte. Ich suchte mir eigens McAllister und Mortimer aus, die keine nasse Zeitung zerreißen könnten.« Pilot und Systemoffizier murrten leise, blieben aber sitzen. »Ich wollte Sie dabeihaben, Dave«, fuhr Randall fort, »weil Sie zuverlässig und ziemlich pazifistisch sind. Da Sie unbewußt schon eingeweiht waren, konnten Sie von Nutzen sein. Sollte es Probleme geben, dann mußte sich Ihr Unbewußtes öffnen. Und Carol nahm ich mit, weil ich wußte, daß zwischen euch beiden etwas ist. Wenn die Hyaden-Bewohner in uns hineinsehen konnten, sollten sie auch so etwas wie Liebe finden.« Randall schnaubte. »Aber ich habe mich getäuscht. Meine ganze Strategie war das Gehirn nicht wert, das sie erfunden hat. Ich habe uns in eine Falle geführt. Es waren die Hyaden-Bewohner, die mit einem waffenstarrenden Schiff erschienen. Sie hatten uns keine Visitenkarte geschickt, sondern einen Köder.« »Auf jeden Fall scheinen wir erledigt zu sein«, sagte Stewart
betäubt. »Selbst wenn uns das Hyaden-Schiff nicht den Rest gibt, können wir keine Warnung nach Hause schicken.« Der Direktor lächelte endlich. »Trauen Sie mir wenigstens ein bißchen Voraussicht zu. Ich habe die Möglichkeit ins Auge gefaßt, daß so etwas geschehen könnte. Als ich Sie und Harlston präparierte, sorgte ich dafür, daß sich das in drei Wochen auflöst. Harlston wird dann alles melden. Und das Amt wird wissen, warum wir uns nicht rühren.« Zu Minnies völliger Verwirrung war die große rosa Kugel am Himmel erschienen, ohne daß eine Wallfahrt zum Totem stattgefunden hätte. Sie verbrachte, wie es ihr schien, eine Ewigkeit damit, das Rätsel zu lösen, aber ohne Erfolg. Endlich grub sich der Schraubwurm aus dem Boden und rollte mit seiner Ladung Mineralproben heran. Als er sie aber in ihren Aufnahmeschlitz schieben wollte, wandte sie sich entmutigt ab. Wurm ließ die Proben fallen und wollte wieder zu graben beginnen. Minnie stieß ihn mit dem Bohrfutter an. Er kippte um, rührte sich aber nicht. Auf ihre Signale kam keine Antwort. Wie Bigboss war er völlig ausgefallen. Wie Meßpeter, Maggie, Äser und Atmer und alle anderen war er nun ein Opfer der hartnäckigen Regungslosigkeit geworden. Konfus stolperte Minnie vorwärts und bemerkte, daß ihre Motorschaltungen nicht so schnell reagierten wie sonst. Auch fiel es ihr schwer, zu überlegen. Wenn sie sich wie ein ›Höchstes Wesen‹ verhalten wollte,
entschied sie, mußte sie sich beeilen. Aber – was tun? Und schlagartig wußte sie die Antwort: Sie mußte Bigboss' Arbeit übernehmen, die totemlosen Wesen zu vernichten. Und sie wußte auch genau, wo sie fünf von den abscheulichen Dingern finden konnte!
5 Stewart schlief vor Erschöpfung endlich ein. Sein Unbewußtes war die Last losgeworden. Aber er hatte sich geirrt. Er begriff es, als die Armee gräßlicher Ungeheuer aus den Tiefen hervorsprang und die Höhle erfüllte. Nur befand er sich jetzt nicht in einer Höhle, sondern in einer riesigen Kammer, deren gewölbte Decke von verzierten Säulen getragen wurde. In der Mitte des Raumes befand sich ein gigantischer Tisch, an dem Tausende von – Stühlen standen? Auf dicken Beinen ruhend, die schwere Lasten zu tragen imstande schienen, bestanden die Artifakte aus paarweisen Gesäßbacken, zu einer großen, zulaufenden Rinne sich verschmelzend, die zum Boden hinabführte. Es war, als hätten die Stühle den Ungeheuern in seinem Alptraum Gestalt gegeben, denn auf einmal war die Kammer erfüllt von schuppenbesetzten Wesen, die nur entfernt den Harpyien seiner früheren Phantasiegebilde glichen. Der Schädel war ein groteskes Paar Kiefer mit gezackten Zähnen, dem eines enormen Krokodils gleichend. In jeder Rinne ruhte ein gewaltiger Schwanz, der so groß zu sein schien wie der Körper selbst.
Dann wurde er von einem Wirbel blendendhellen Lichts und unglaublichen Geräuschen erfaßt. Er zuckte von Angst zu Entsetzen, von Verständnislosigkeit zu semantischer Verwirrung. Die Luft um ihn war ein akustisches Schlachtfeld von Zischen und Klicken. Aber von Zeit zu Zeit schien einer der Laute so etwas wie Sinn zu vermitteln. Der Höhlenboden schwankte unter ihm, und Stewart sprang sofort hoch, froh über das plötzliche Erwachen, ohne Rücksicht auf die neue Komplikation, die den bebenartigen Stoß hervorgerufen hatte. Carol schrie auf und taumelte an die Wand. An der Höhlenmündung huschte etwas vorbei, und der große Bohrer des Mineralprüfers drang herein – bis seine vordere Prüfkammer in der engen Öffnung steckenblieb. Der Roboter wich zurück und stürmte wieder vor; trat zurück, versuchte es von neuem. Als er zu erkennen schien, daß er so nicht eindringen konnte, begann er mit dem Bohrkopf an den Seiten Felssplitter wegzuschlagen. McAllister schob sich an der Wand entlang. »Das Ding steht unter demselben Zwang wie der Koordinator! Es will auf uns losgehen!« Randall stand vor dem Sendegerät, um es vor den herumfliegenden Splittern zu schützen. »Ich glaube aber nicht, daß es durchkommt«, sagte er unsicher. »Was meinen Sie, Dave?« »Kommt ganz darauf an, wieviel Energie es noch hat.« Stewart zog Carol weiter vom Eingang weg. Zwischen den Schlägen blickte er hinaus. Es wurde hell. »Seit dem letzten Aufladen beim Koordinator ist aber fast ein ganzer Tag vergangen.«
Der Bohrkopf des MP sauste wieder herunter und löste einen Felsbrocken ab, er war so groß wie Mortimers Kopf. Carol sank auf den Boden und schlang die Arme um die Knie. »Du hast davon gesprochen, daß wir das Amt verlassen – nach Terra gehen – du und ich«, sagte Stewart. »Das erübrigt sich jetzt ja wohl«, sagte sie dumpf. »Vielleicht. Du sollst nur wissen, daß ich daran selbst schon lange gedacht habe.« Er griff nach ihrer Hand. Plötzlich kam ihm zum Bewußtsein, daß der MP nicht mehr am Eingang herumhämmerte. Der Roboter zog sich zu einem Haufen von Felsblöcken in etwa hundert Meter Entfernung zurück. Stewart sank neben Carol auf den Boden. Seine Erleichterung war gedämpft durch die erneuerte Besorgnis über die Alpträume. War alles in seinem Unbewußten an die Oberfläche gekommen? Gab es noch mehr? Carol packte seinen Arm, und er folgte mit dem Blick ihrer ausgestreckten Hand. Die durch die Öffnung hereindringende Helligkeit wurde durch einen langsam herabsinkenden Schatten verdunkelt. Er fuhr hoch. »Das Tsarener-Schiff!« Aber erst einige Sekunden danach wurde ihm klar, daß er zweimal mit den Zähnen geklickt und ein Zischen von sich gegeben hatte, um das fremdartige Wort zwischen ›das‹ und ›Schiff‹ auszusprechen. Kanzler Vrausot wirkte in seinem Eigenumwelt-Anzug noch eindrucksvoller. Durch den Helm erschien sein Kopf doppelt so
groß, und der Plastiktrichter für die Schnauze vergrößerte sein gezacktes Gebiß. Ratsmitglied Mittich starrte ihn an der Hauptluke bedrückt an. Er hatte die ganze Nacht wach gelegen und dann doch nicht den Mut aufgebracht, das Kommando zu übernehmen. Vrausot würde zum Schwarm zurückkehren und ein Symbol werden, um das sich alle scharen konnten. Wäre er, Mittich, jedoch Leiter dieser Expedition gewesen, hätte man ihn auch wie einen Helden empfangen. »Alle Lähmungswaffen geladen und bereit?« fragte Vrausot. Zwanzig Schweife zuckten bejahend. »Status der Fremdroboter?« fragte er den Piloten. »Sie sind alle ausgefallen«, meldete Kavula. »Der letzte verbrauchte seine Restenergie, als wir heruntersanken.« Vrausot trat an die Luke, zögerte aber noch einmal. »Kavula, Sie überprüfen die Haftkammer und sorgen dafür, daß die geeignete Proteinnahrung synthetisch hergestellt wird.« Der Pilot öffnete die Luke. Kurze Zeit später bewegte sich der Landetrupp über die Ebene zu der Felswand mit der Höhle. Vrausot ging voran, zwanzig Schritte dahinter kam Mittich, dann, in Abständen von je zehn Schritten, der Rest der Truppe. Für Minnie war die Impotenz ein fremdartiges, verwirrendes Erlebnis, als sie gelähmt zwischen den Felsblöcken stand. Da die Gleichgewichtsgyroskope zu langsam rotierten, um ihre Funktion zu erfüllen, war sie an einen Felsblock gekippt. Ihr Bohrkopf hatte sich erhoben, war heruntergefallen und ruhte auf einer Kante.
Sie öffnete Spezialschaltungen für Notstrom, aber die Servomechanismen reagierten nicht, und ihr verchromter Hals blieb einer hoch am Himmel stehenden Sonne zugereckt. Langsam surrten Getriebe, und ihr Kopf drehte sich unendlich langsam, bis sich das Objektiv auf den Höhleneingang richtete. Ihr Kopf gehorchte dem Gebot der Schwerkraft und drehte sich in die andere Richtung, wo ihr Objektiv die riesige, neue, symmetrische Form erfaßte, die auf der Ebene ruhte. Es war – noch ein Totem! Und von dort her näherten sich viele andere totemlose Wesen – vielleicht verschieden von denen, die Bigboss verfolgt hatte – aber trotzdem freche, verachtenswerte Wesen. War es – möglich, daß sie – ihre Funktion – als – ›Höchstes Wesen‹ – doch noch erfüllen – konnte? Wenn sie – nah genug – vorbeikamen, bedürfte es – nur – eines – letzten – verzweifelten – Impulses – um – Stewart drängte sich mit den anderen am Höhleneingang. »Sie kommen!« rief McAllister und zog sich mit Mortimer in einen schmalen Gang zurück. Stewart beugte sich vor und beschattete die Augen. Wegen der Felsblöcke und -vorsprünge konnte es nur ab und zu Teil eines Hyaden-Bewohners im Raumanzug sehen. »Ich empfange die merkwürdigsten Funksignale«, sagte Carol. »Aus der Modulation ergeben sich nur Klick- und Zischlaute. Ich kann keinen Sinn darin entdecken. Es ist zu – fremdartig!« Randall griff nach seinem Schutzanzug.
»Ich gehe hinaus, um zu sehen, was passiert. Immerhin bin ich an unserer mißlichen Lage schuld.« Aber vorne tauchte das erste fremde Wesen auf und blieb stehen. Es hob einen Arm mit einem schimmernden Instrument. Randall zog Carol zurück in die Höhle, aber Stewart war wie gelähmt. In diesem Augenblick glitt der massive Bohrkopf des Mineralprüfers herab und zerschmetterte den Helm des HyadenBewohners, wobei er ihm beinahe den Kopf abriß. Die Waffe flog im weiten Bogen davon. Das Wesen wand sich ein paar Sekunden, dann erschlaffte es, den häßlichen Krokodilskopf leblos auf Aldebaran gerichtet. Stewart sah entsetzt und gebannt zu, wie die anderen Mitglieder des Landetrupps hinter den Felsen auftauchten. Sie standen stumm um den Toten herum und kehrten dann um, zu ihrem Schiff zurück. ›Tsarener‹ – ›Tsarener Schwarm‹ – ›Kurulische Versammlung‹ – ›Vrausot‹ – ›Mittich‹ – ›Uraphi‹ – Fremde Worte und Ausdrücke wirbelten durch Stewarts Gehirn, als eine Flut von tiefverborgenen Erlebnissen mit Sturmgewalt in sein Bewußtsein heraufdrang. Er begriff, daß der Anblick der Hyaden-Bewohner – der Tsarener – sie ausgelöst hatte. Er taumelte zurück in die Höhle und sank an der Wand zusammen, von den unterdrückten Erkenntnissen und Erinnerungen überwältigt.
Stewart und Harlston saßen im Großen Saal des Kurulischen Rates am Tisch. Es fiel ihnen schwer, bequem in den Stühlen zu sitzen, die für Tsarener geschaffen waren. Sie trugen Handschellen, aber nur symbolische – aus kreppartigem Papier. »Unser Problem«, sagte Mittich, der Zischer des Rates, »ist deutlich definiert. Wir haben das Expeditionsschiff einer fremden Kultur eingefangen, die sich in Richtung des Tsarener-Schwarms auszudehnen scheint. Wir haben uns die Mühe gemacht, den beiden Besatzungsmitgliedern die Grundlagen unserer Sprache beizubringen. Und wir haben festgestellt, daß die offizielle Reaktion der fremden Wesen auf diese Situation feindselig sein mag oder auch nicht.« »Tötet sie! Tötet sie!« klickte einer der Räte, als er sich auf seinem Schweif erhob. Durch den Großen Saal drang Klicken und Zischen der Zustimmung und Ablehnung – etwa gleich verteilt, wie es Stewart erschien. Er sah, wie Mittich den Rat tolerant anlächelte. »Wenn wir unsere Gefangenen töten«, sagte er, »ändern wir nichts daran, daß eine Ausdehnung in unserer Richtung im Gange ist.« Kanzler Vrausot schob sich durch den Mittelgang, klatschte den Schwanz auf den Boden, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen und zischte heftig: »Wir müssen aufrüsten, soviel wir können. Wir müssen diese Gefangenen beseitigen. Wir müssen die Zentren ihrer Zivilisation angreifen, bevor sie es bei uns tun!« Ein anderer Rat erhob sich. »Aber wie können wir das tun? Wir haben seit zahllosen Jahrtausenden keinen Krieg mehr geführt! Wir waren einst viele und
mächtig, wie sie es jetzt sind. Sie sind gewachsen, wir geschrumpft. Unser ganzer Schwarm besteht aus nur zwei zivilisierten Welten. Alle anderen sind längst im Verfallen.« »Wir könnten sie ja überraschen und auf ihren Welten großen Schaden anrichten«, gab Mittich zu. »Aber sie würden sich erholen, und wir würden vernichtet werden.« »Was schlagen Sie dann vor?« fragte Vrausot verächtlich. »Unsere Möglichkeiten lassen sich aufzählen: Eins – wir töten diese Gefangenen und bereiten einen Überraschungsangriff vor. Zwei – wir präparieren die Gefangenen für eine Rückkehr zum Zentrum ihrer Zivilisation, wo sie melden werden, daß sie in diesem Sektor keine brauchbare Welt gefunden haben.« Vrausot richtete sich auf. »Aber die Beeinflussung wird nicht anhalten! Sie werden sich erinnern! Und ihre Rasse wird einen Angriff unternehmen!« »Wenn wir davon ausgehen wollen, daß sie von vornherein angreifen würden«, betonte Mittich. »Unsere Gefangenen sind sich da nicht sicher. Drei – wir könnten versuchen, ihnen Angst einzupflanzen. Unsere Gefangenen so beeinflussen, daß sie heimkehren und von einer mächtigen, gewaltigen Tsarener-Kultur berichten. Das würde die fremden Wesen aber wohl nur veranlassen, mit aller Kraft aufzurüsten. Viertens – wir könnten sie zurückkehren und die Wahrheit sagen lassen – daß die Tsarener eine absteigende Kultur sind, sozusagen auf dem letzten Schweif.« Wieder fuhr Vrausot auf. »Das könnte sie dazu ermutigen, uns zu überfallen!«
»Genau. Also bleibt nur die Möglichkeit fünf. Wir beeinflussen unsere Gefangenen dahin, daß sie Hinweise auf eine Kultur melden – nichts Genaues, nichts Definitives. Unsere Gefangenen werden angeben, daß sie nichts gesehen haben. So geraten die fremden Wesen weder in Versuchung durch unsere Schwäche noch müssen sie sich vor unserer scheinbaren Macht fürchten. Gleichzeitig unterbrechen wir die Verbindung zwischen ihnen und den Robotern, die sie auf halbem Weg hierher stationiert haben. Wir müssen hoffen, daß sie das so auslegen, als hätten wir ihre Automaten entdeckt und wünschten, sie auf dem Satelliten friedlich zu treffen. Wir begeben uns dorthin, auf friedlichen Kontakt vorbereitet. Kommen sie unbewaffnet, dann wissen wir, daß es keinen Kampf geben wird, daß sie vielleicht sogar den Anreiz und die Inspiration für eine Wiederbelebung unserer Kultur bringen. Die Galaxis ist ja groß, und es gibt Platz genug für zwei Interstellar-Rassen.« »Aber wenn sie bewaffnet erscheinen?« zischte Vrausot. »Dann wissen wir, was das Schicksal für uns bereithält. Wir werden uns vorbereiten, so gut wir können, und uns ehrenhaft schlagen.« Stewart sah, wie Vrausot mit dem Schwanz empört auf den Boden hieb. »Die Regierung wird dem Plan mit zwei Änderungen zustimmen«, sagte der Kanzler. »Einmal – daß das Schiff, das wir zu den fremden Wesen schicken, bewaffnet ist, damit unsere tapferen Männer nicht wehrlos sind; zweitens – daß der Inhaber des höchsten Amtes die Expedition leitet.«
»Dave! Oh, Dave! Was ist denn?« Er öffnete die Augen und starrte Carol an. »Mir fehlt nichts«, sagte er dumpf. Randall beschäftigte sich mit dem Sender, während Mortimer und McAllister aufgeregt hin- und herliefen. »Seht euch an, was die Hyaden-Leute machen!« rief McAllister am Eingang der Höhle. Stewart trat zu ihnen. Vor der Höhle lag ein Haufen schimmernder Instrumente, die aussahen wie – »Die Linearverstärker ihrer Laserwaffen!« stieß Mortimer hervor. »Sie montieren sie seit einer halben Stunde im Schiff ab. Da, seht!« In der Nähe lag ein zweiter Haufen von Waffen, jene Geräte, die die Tsarener mit sich geführt hatten. Dazwischen lag die Leiche des Tsareners, den der Bohrkopf des MP gefällt hatte. Vor Stewarts Augen trugen die fremden Wesen noch immer Waffen heran. »Dave!« rief Randall. »Kommen Sie und hören Sie sich das an. Ich bin auf ihrer Frequenz!« Stewart ließ sich den Kopfhörer geben und lauschte den Klick- und Zischlauten, die er gut verstehen konnte: »Wie viele Geschützbatterien noch?« »Noch zwei, dann sind alle abmontiert.« »Und die Lähmungswaffen?« »Keine einzige mehr an Bord.« Stewart spannte die Muskeln an. Die Stimme des Fragenden – es konnte doch nicht – Er griff nach dem Mikrofon, ohne Randalls Betroffenheit zu beachten, und zischte: »Mittich! Bist du das?«
Und der Tsarener, der während seiner Gefangenschaft und bei der Sitzung des Kurulischen Rates sein Freund geworden war, antwortete mit einer Reihe überraschter Klicklaute: »Freund Stewart? Ist das wirklich Stewart?«
Meßmarken Die hetzende Geschäftigkeit in der Sektor-Zentrale schlug Planer Vance McCune mit der Heftigkeit einer Hitzewelle entgegen, als er widerstrebend in den arenaartigen Kontrollraum trat. Er blieb stehen und betrachtete müde die massiven Korrelator-Maschinen, die wie verzweifelte Ameisen hin- und herlaufenden Angestellten und Techniker, die endlose Prozession von Kontrolltruppleuten und Suchpersonal. Eine Welle der Erstarrung bewegte sich durch den Raum, als man ihn wahrnahm. Die verzögerte Reaktion breitete sich schnell aus. »Der Alte hat für Donnerstag eine Sitzung im Sekretariat anberaumt.« »Trupp Achtundvierzig braucht südlich Denver mehr Abschirmung. Kann ich die Platten von Flagstaff hinüberschikken?« »Der russische Hauptsektor möchte, daß wir eine Strömungsprüfung in großer Höhe durchführen.« »Kommissar Carmath wünscht eine Ortung.« »Hier ist der ozeanographische Bericht –« Bevor McCune seinen Schreibtisch erreichte, hatte er ein Gefolge von über einem Dutzend Personen, die alle bevorzugt abgefertigt werden wollten. Der Planer war ein hochgewachsener, schlacksiger Mann mit tiefen Furchen im Gesicht. Wenn sein Haar schütter und unge-
pflegt wirkte, so lag das weniger an Nachlässigkeit als an dem Sichabfinden mit dem Unausweichlichen. Er hob beide Hände und beruhigte die Leute. »Einer nach dem anderen. Wie ist der neueste Stand, Woolcut?« Der Suchdirektor zählte an den Fingern ab. »Vier neue Stellen, von lauwarm bis verdammt heiß. Eine – östlich Seattle – könnte eine Teilevakuierung erforderlich machen.« »Alles in unserem Sektor?« »Drei. Eine überschneidet sich mit dem Gebiet WestKanada.« »Woran liegt es?« Woolcut wischte sich die breite Stirn. »Eine Front zieht die Küste herunter, mit einer Spur warmen Regens. Nicht allzuviel – wahrscheinlich wird die durchschnittliche Meßmarke nur etwa ein Zwanzigstel Röntgen mehr anzeigen. Aber wenn wir die Quelle nicht verstopfen, nimmt das zu.« McCune sank in seinen Sessel und blätterte in den Berichten. »Wo vermuten Sie den Ursprung?« »Wahrscheinlich eine Ablagerung von einem frühen Reaktor Alaskas mitten in der Arktis.« »Einer von den Läden mit Unterlagen, die nicht weiter als hundert Jahre zurückreichen, nehme ich an«, sagte der Planer. Woolcut nickte bedrückt. »Wahrscheinlich werden wir ein freigelegtes Lager von leichtem Müll finden. Ich rechne mit Selen 79, mit einer Halbwertzeit von sechshunderttausend Jahren.« »Schicken Sie alle Trupps hin, die wir entbehren können.«
McCune wandte sich dem zweiten in der Reihe zu. Es würde wieder ein ›prima‹ Tag werden – wie jeder einzelne seit den acht Jahren, als er den Sektor USA-West übernommen hatte. Das Ganze kam ihm vor wie ein Paradox – eine Monotonie des Neuen. Die zahllosen Such- und Kontrollprobleme, die jeden Tag heraufdrängten, waren alle verschieden. Die Unterschiede addierten sich jedoch nur zur Langeweile einer endlosen Aufgabe, die von der Radioaktivitäts-Kontrolle – dem ›Verschiebe-Bahnhof‹, wie das spöttisch genannt wurde – erfüllt werden mußte, wenn der Urenkel noch vom gleichen Erbgut sein sollte wie der Uropa. Aber heute, erinnerte er sich mit grimmiger Verzweiflung, heute würde es anders sein … Beth war ins Krankenhaus gekommen. Der Gedanke trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn. Als der erste Ansturm bewältigt war, lehnte McCune sich zurück und öffnete seinen Kragen. Er zündete sich eine Zigarette an und zog den Rauch tief in sich hinein. Die Pause war aber nur von kurzer Dauer. Der Suchdirektor zwängte sich zwischen den umhereilenden Leuten hindurch. »Hier ist das Neueste über den Teilsektor Hawaii«, sagte Woolcut gepreßt. »Die Geologen haben während der Nacht eine neue Verwerfungsverschiebung festgestellt. Sie arbeiten eine Wahrscheinlichkeitstafel darüber aus, ob der Haleakala ausbricht oder nicht.« »Wieviel Protoaktinium ist bis jetzt in den Krater gekippt worden?« »Wir haben nur eine grobe Schätzung von den acht Reaktorfirmen auf den Inseln – um die zweiundsiebzigtausend Tonnen.«
Der Planer schnitt eine Grimasse. »Die verdammten Narren! Vor fünfzig Jahren hat man sie gewarnt, das Loch auf Maui nicht als Müllplatz zu verwenden. Wenn ein Vulkan seit 1750 nicht mehr in Tätigkeit war, heißt das noch lange nicht, daß er nie wieder ausbrechen wird. Was sind im Leben eines Vulkans dreihundertfünfundzwanzig Jahre?« »Wenn er anfängt, ist jedenfalls der Teufel los«, meinte der andere achselzuckend. »Ich wage gar nicht daran zu denken, was wäre, wenn wir fünfhunderttausend Menschen von der Insel evakuieren müßten.« »Oder vielleicht sechs Millionen auf der ganzen Inselkette.« McCune schickte ihn weg und winkte seinem Kontrolldirektor. »Welche Einheiten haben wir auf Maui?« fragte er. »Drei komplette Verschiebetrupps«, erwiderte Fordham. »Irgendein Vorschlag, was wir mit dem heißen Pa231 anfangen sollen?« Forham breitete hilflos die Arme aus. »Der einzige sichere Ort, den ich finden konnte, war der Diamondhead-Krater auf Oahu.« »Aber das ist ja genau in Honolulu – vor der Nase von über einer Million Menschen!« »Ich weiß, aber es ist das Beste, was wir vorübergehend zu bieten haben. Wir kleiden den Krater natürlich aus und deckeln ihn zu.« McCune lehnte sich zurück und dachte nach … Es war immer dasselbe. Sobald die Notsituation vorbei war, verlangte die öffentliche Reaktion, daß das Zeug aus dem DiamondheadKrater geholt und anderswo ausgekippt wurde. Der neue Ab-
fallplatz würde aber vermutlich Strahlung in die Umgebung entlassen, und in zehn Jahren würde ein Verschiebetrupp alles aufsammeln und an eine andere Stelle bringen müssen. Und die ganze Zeit über würde der Reaktorabfall weiter anwachsen. »Wer leitet die Arbeit auf Maui?« »Niemand«, sagte Fordham grimassierend. »Wir haben kein Führungspersonal mehr, wegen Denver und Seattle und NeuMexiko –« McCune fluchte vor sich hin, dann begann er mit den Fingern nachdenklich auf die Schreibtischplatte zu trommeln. »Ich weiß, was Sie denken, Chef«, sagte der andere besorgt. »Versuchen Sie es nicht. Wenn der Kommissar dahinterkommt, sägt er Sie ab.« »Es wäre nicht das erstemal, daß ich einen UNVerschiebetrupp führe.« »Nicht einmal das erstemal in diesem Monat. Aber, Mann – vor sechs Jahren hatten Sie mehr als das Vierfache der höchstzulässigen Röntgendosis. Ich wette, daß Sie in den fünfzehn Jahren bei der Kommission achthundert R's aufgenommen haben.« »Zwei oder drei mehr machen nichts aus«, sagte McCune. »Man sieht es nicht mal an meiner Meßmarke – wenn ich wieder tauschen kann.« Er blickte auf das schwarze Viereck an seinem Revers, dann sah er zu Miss Jarred hinüber, deren Marke an ihrem hellen Jackett sichtbar war … Eines Tages würde sich seine Sekretärin fragen, wo sie soviel Strahlung auffing. Er überlegte sich beiläufig, wie sie reagieren würde, wenn die Inspektoren ihr mitteilten, daß sie sich sehr rasch aus dem ›genetisch ungefährdeten Bereich‹ entfernte.
»Ihnen macht das vielleicht nichts aus, weil Sie keine Familie gründen wollen«, murmelte Fordham. »Aber ich halte die Dosis niedrig. Ich habe zwei prima Kinder. Und ich werde darauf achten, daß auch das dritte normal wird.« McCune rief, nachdem Fordham gegangen war, im Krankenhaus an. Er sprach ganz leise, damit die anderen nicht erfuhren, daß Beth gar nicht ihre Mutter besuchte. »Nein, Mr. McCune«, sagte die Oberschwester. »Ihre Frau ist noch nicht aus dem Kreißsaal gekommen. Wir rufen Sie an.« »Nein!« schrie er, mäßigte sich aber sofort: »Nein – ich melde mich wieder.« Er hatte den Hörer lange in der Hand. Eigentlich hatte er nie ein Kind haben wollen. Beth dagegen schon. Und sie hatte es ihm lange genug verheimlicht, bis er nichts mehr hatte unternehmen können … Am späten Vormittag brachte Miss Jarred den Reporter der Nachrichtenagentur. Der Planer erkannte Neil Lancer, einen der bekanntesten Journalisten, bevor sie ihn noch vorstellen konnte. McCune sah ihn resigniert an und bot ihm einen Stuhl. Der andere schob den Hut ins Genick und zündete sich eine Zigarette an. »Ich soll Ihre Ansicht zu den Erklärungen von Doktor Puang einholen.« »Wer ist Doktor Puang?« »Der Genetiker aus Pakistan.« Lancer beugte sich vor. »Vielleicht kennen Sie die Artikel gar nicht. Passen Sie auf. Puang hat etwas über anpassungsfähige Entwicklung geschrieben. Er scheint zu glauben, daß die Menschheit von sich aus fähig ist,
jede erträgliche Veränderung ihrer Umwelt zu verkraften.« Für McCune stand fest, daß das Ganze ein Vorwand war. Man hatte etwas von der Lage auf Hawaii gerochen. Vielleicht gab es gar keinen Puang. »Machen Sie es kurz«, knurrte er. »Ich habe zu tun.« »Nun, Puang glaubt, daß die Menschheit sich mit der Zeit einem Leben in radioaktiver Umwelt anpassen kann.« Lancer betastete zerstreut seine Meßmarke. »Er geht davon aus, daß sich ein Typ entwickeln wird, der zunehmend höhere Strahlungsmengen vertragen kann, ohne daß es zu unkontrollierbaren Mutationen kommt.« Woolcut schob sich heran. »Wir haben den Abfallhaufen in der Arktis gefunden.« »Der den heißen Regen hervorruft?« Der Suchdirektor nickte. »Genau, wie ich vermutet habe – Selen. Verkorkt unter dem Rand eines Gletschers auf der Victoria-Insel. Durch Erosion abgetragen, so daß die arktischen Winde Strahlung mitbringen.« »Gut gemacht. Fordham soll mit dem Sektor West-Kanada zusammenarbeiten und das Zeug wieder zudecken, bis wir uns klarwerden können, was damit geschehen soll.« McCune wandte sich wieder dem Reporter zu. »Also, Lancer. Begraben wir diesen Puang und schenken wir uns das Theater. Aber vorher mache ich Sie aufmerksam auf Artikel Einundzwanzig des öffentlichen Panik-Gesetzes –« Lancer ächzte. »Bestimmte Angaben sind im Interesse der öffentlichen Sicherheit als vertraulich zu behandeln«, zitierte er. »McCune, das
können Sie mir nicht antun!« »Unter diesem Vorbehalt teile ich Ihnen mit, daß auf den hawaiianischen Inseln eine kritische Situation besteht«, fuhr der Planer fort. »Ein erloschener Vulkankrater, der als Depot für Reaktorabfall verwendet wurde, steht vor dem Ausbruch.« Einer von Woolcuts Assistenten rief durch den Saal: »Weitere R-Zunahme in den Küstengewässern vor Oregon!« McCune ließ die Schultern hängen … Wenn man von einer Seite in den Ball hineinboxte, beulte er sich auf der anderen aus. Man konnte nicht gewinnen, konnte nicht einmal einen Vorsprung erzielen, der für eine Atempause reichte. Der Assistent kam herüber. »Glauben Sie, daß es die Portland-Reaktorgruppe ist?« »Was sonst? Man hat Fe55-Lösung durch den Columbia River in den Pazifik geleitet. Aber forschen Sie genau nach, bevor wir die Leute zur Rechenschaft ziehen.« Der Assistent zögerte. »Ich frage mich nur, was sie mit dem Zeug dann machen.« »Das ist unser Problem. Die Hälfte ihres Abfalls werden sie wahrscheinlich immer noch wegschwemmen können. Für die andere Hälfte müssen wir eben Platz finden.« Er richtete den Blick wieder auf den Journalisten. »Sie sind jetzt im Besitz streng geheimer Informationen, Lancer. Wenn etwas im Druck erscheint, kann Ihnen und Ihrem Vorgesetzten das bis zu zwanzig Jahren einbringen.« Lancer stand auf und ging wortlos zur Tür, während Woolcut wieder an den Schreibtisch trat. »Die Vulkanologen haben die unterirdischen Regungen im Bereich des Haleakala-Kraters bestätigt.«
McCune sprang auf. »Schicken Sie die Truppe Vier, Sieben, Dreiunddreißig, Vierunddreißig und Einundvierzig hin.« Er legte die Hände an den Mund und schrie zur Fernmeldestelle hinüber: »Bei der Vulkanologie feststellen, wann wir unsere Leute in den Krater führen können.« Er wandte sich seiner Sekretärin zu. »Miss Jarred, das Lager soll die ganze verfügbare Armierung in den Teilsektor Hawaii schicken. – Woolcut – der Flugdienst soll meine Maschine startklar machen.« Mit jeder Anweisung war es im Planungszentrum noch lauter, noch betriebsamer geworden, aber McCune blieb nichts anderes übrig, als auf das Signal der Vulkanologen zu warten. Plötzlich fiel ihm Beth ein, und seine Hand griff nach dem Telefon. »Ja, Mr. McCune«, sagte die Schwester nachsichtig, »sie entbindet eben, aber es wird noch eine Stunde dauern –« Er ließ den Hörer auf die Gabel fallen … Er sah schon die Schlagzeilen vor sich: ›Sektorplaner, viermal über Genetikniveau, erwartet Nachwuchs.‹ Die Raketenmotoren heulten schrill auf und verstummten. Die Maschine, eine Meile über der Zentrale des Westlichen RKSektors in Los Angeles, schaltete auf den Rotor, und McCune lauschte dem Knattern, als sie auf die Betonpiste herabsank. Kommissar Carmath, breit und stämmig, zwängte sich voll Ingrimm zum Hauptgebäude durch. McCune traf ihn am Eingang und wurde prompt zur Seite geschoben, als der Leiter der UN-RadioaktivitätskontrollKommission sich zur Zähltafel durchkämpfte.
»Ist das in Hawaii der einzige Notfall?« fauchte er. »Der einzige von weitreichender Bedeutung. Wir haben noch sechsundzwanzig andere Unternehmungen –« Der Kommissar funkelte ihn an. »Daß mir das klappt, McCune«, knurrte er. »Ich mache Sie persönlich verantwortlich!« »Aber in den Krater ist eine Generation lang Abfall hineingeschüttet worden!« »Wenn Sie auch nur den leisesten Verdacht gehabt haben, hätten Sie vorbeugen müssen«, sagte Carmath unerbittlich. »Ist das die Meinung der Kommission?« »Das ist die Ansicht jedes einzelnen Mitglieds des Ausschusses außer Ihnen!« Der Planer lächelte bitter … Sie hatten keine Zeit verloren, einen Sündenbock zu finden. »Bleiben wir sachlich«, sagte er. »In der vergangenen Woche mußte dieser Sektor Umweltstrahlungssteigerungen in über hundert –« Carmath hob die Hände und ging zur Tür. »Ich habe keine Zeit, mir Ihre Klagen über Routinemaßnahmen anzuhören … Heute ist ein Gebiet von zehntausend Quadratmeilen japanischer Fischereigewässer für verseucht erklärt worden, weil irgendein verrückter Planer vor fünfzehn Jahren sich im Pazifik die falsche Stelle ausgesucht hat, um Niobium94 abzulagern. In Frankreich mußte eine ganze Milchwirtschaftsregion komplett ausgelagert werden. Warum? Weil die Weiden von weiß-Gott-woher Strahlung aufnehmen – vermutlich durch den Regen aus einem unbekannten Depot in den Alpen.« Er blieb
stehen. »Man möchte meinen, daß die Verschiebung von Americium241 hundert Meilen tief in die Everglades für Miami genug Sicherheit bieten würde, nicht? Aber was geschieht? In der Gegend sind alle Insekten verseucht, und wir müssen den Stöpsel drauftun oder gar alles verschieben! Und da kommen Sie mir mit Ihren Problemchen!« Carmath drehte sich um und stürmte hinaus. McCune ging zu seinem Schreibtisch und prallte beinahe mit dem Suchdirektor zusammen. »Wir haben endlich das Problem mit den verseuchten artesischen Brunnen im Gebiet Clovis-Tucumcari gelöst«, sagte Woolcut. »Schon gut. Und was ist in Neu-Mexiko?« »Vor etwa fünfundsiebzig Jahren trocknete eine Ölquelle aus, und irgend jemand hat sie voll Promethium145 gepumpt. Das Zeug hat eine kurze Halbwertszeit, aber sie ist nicht kurz genug. Es sickerte schließlich durch ins Grundwasser.« McCune zuckte die Achseln. »Dann können wir nicht viel tun, außer den artesischen Brunnen zumachen und. Wasser aus einer sauberen Gegend hinpumpen.« Er ließ sich deprimiert in seinen Sessel fallen. Die zivilisierte Menschheit war auf vier Milliarden Meßmarken reduziert, an jeder eine Person … Vier Milliarden Meßmarken, die jeden Monat ausgetauscht wurden, damit man die aufgenommene Strahlung messen und die Zahlen registrieren konnte. Nur so ließ sich überwachen, daß die natürliche Mutationsfrequenz nicht umkippte. Als er den Kopf hob, stand Fordham vor ihm. »Die Vulkanologen meinen, wir sollten uns gleich mit dem
Krater befassen«, sagte er gepreßt. »Wir haben etwa zehn bis elf Stunden Zeit, das Pa231 herauszuholen.« McCune nickte resigniert und schaute zu Miss Jarreds Mantel hinüber. Er pfiff vor sich hin und schlenderte darauf zu. Mit dem Rücken zu seiner Sekretärin löste er ihre Meßmarke ab und tauschte sie gegen seine eigene aus. Bevor er das Gebäude verließ, rief er noch einmal in der Klinik an … Nein, Mrs. McCune war noch nicht aus dem Kreißsaal zurück … Fünf Minuten später hob ihn der Rotor seiner Maschine empor. Bei der Höhe von einer Meile drückte er auf den Knopf, und die Raketenmotoren schalteten sich ein. Binnen einer Stunde stand Planer McCune auf dem gezackten Kraterrand, zog den Reißverschluß seiner Plastikhülle zu und öffnete das Luftventil. Er wußte, daß die Rangierarbeit hier alles bisherige in den Schatten stellen würde. Die einzelnen Trupps hatten ihre Ausrüstung schon im Krater aufgebaut. Sie standen hinter fahrbaren Schilden, so, wie er sie unterwegs über die Videoverbindung placiert hatte. Auf der anderen Seite fuhren ein Dampflöffelbagger und ein halbes Dutzend Bulldozer den Hang hinunter, unterwegs zu den Pa231-Halden, die in der Morgensonne wie stahlblaue Hügel glänzten. Am Himmel schwebten unzählige Fahrzeuge, die das Material aufnehmen sollten. Der Krater selbst glich einem Höllenort – nur die Hitze fehlte … Nein, verbesserte sich McCune, die war auch da – nur eine, die es in der traditionellen Hölle nicht gab. Graue Rauchfäden, die sich aus Spalten im Kraterboden emporzogen, deuteten
darauf hin, daß auch glühende Hitze bald die Illusion des Hades vervollkommnen würde. »Achtung, an alle«, sagte er ins Mikrofon, als er den Hang hinunterstieg. »Nehmt das äußere Zeug zuerst und arbeitet euch mit der Abschirmung vor.« Der Boden erbebte, als Traktoren vom Kraterrand hereinbrummten und leere Packkisten mitbrachten. Dann wurde das Brummen leiser, aber eindringlicher, und dichterer Rauch drang aus den Spalten. Zwei Bulldozer vereinigten sich mit einem der fahrbaren Schilde und fuhren auf den ersten Stapel zu. Der Löffelbagger und drei Traktoren mit Kisten schlossen sich an. »Der Trupp ganz links!« rief McCune und versuchte die Nummer auf dem Schild auszumachen. »Trupp Einundvierzig – Ihre Flanke ist entblößt! Drehen oder zurückgehen!« Er zögerte. »Sie da – in Trupp Sieben. Hinter den Schild zurück … Noch zwei Bagger einsetzen … Trupps Dreiunddreißig, Sechzehn und Zwei – Sie nehmen den dritten Stapel links … Frachtmaschine Eins – fertigmachen zum Verladen.« Er bewegte den Strahlungsdetektor vor sich hin und her. Das Rattern wurde zu einem stetigen Heulen. Für die Männer bei diesem Unternehmen würde es katastrophal werden. Es ging nicht mehr um die genetische Sicherheit, denn dabei handelte es sich um nur vierzig oder fünfzig Röntgen. Die Männer hier würden Strahlung im Wert von mehreren hundert Röntgen aufnehmen. Es ging um das nackte Überleben. Die erste Frachtmaschine sank herunter und schwebte über dem Kran, der das Pa231 in Kisten hob. Tausend Stimmen schrien gleichzeitig heiser auf.
McCune fluchte verzweifelt vor sich hin, als er sah, wie der Abwind des Rotors die stahlblauen Hügel erfaßte und pulverisiertes Protoactinium wie Staub umherblies. Das graue Pulver breitete sich wie eine Todeswolke über den ganzen Krater. »Raus mit dem Hubschrauber!« brüllte der Planer und wich vor dem tödlichen Staub zurück. »Alle Trupps zurück!« Aber die Männer stoben schon auseinander und den Hang hinauf. Er blieb stehen, als der Hubschrauber davonhuschte. »Alle Frachtmaschinen zurückrufen und Lorenschienen in den Krater legen. Wir müssen das Zeug hinauskarren.« Der Vulkanologenstab meldete sich. »Wir erwarten innerhalb von acht Stunden eine größere Eruption, Planer. Beeilen Sie sich.« McCune vergaß seine Plastikhülle und versuchte sich die Stirn zu wischen. Er verschmierte nur Schweiß über den durchsichtigen Kunststoff, so daß er kaum etwas sehen konnte. »Funk!« rief er. »Großalarm geben. Alle Sektoren sollen Nottrupps Klasse Eins mit Ausrüstung schicken. Nachschub – her mit den doppelt abgeschirmten Manipulatoranzügen und fahrbaren Plattformen; wir müssen in dem verdammten Zeug waten. Zivilkontrolle – Maui evakuieren, Alarm für die anderen Inseln.« Er blickte auf seinen Strahlungsmesser und schätzte die Strahlungsmenge auf Miss Jarreds Marke … Ende des Monats würde es zweifellos eine Untersuchung geben! Ein Zivilist, der mit hundertneun Röntgen binnen dreißig Tagen auftauchte, würde überall auffallen. Man würde dahinterkommen, daß er seit Jahren Meßmarken ausgetauscht hatte.
Die letzten Männer stiegen an ihm vorbei. Er war froh, daß er einen kompletten Sanitätstrupp mitgebracht hatte. Als er sich vergewissert hatte, daß niemand mehr im Krater war, stieg er zum Rand hinauf. Ein riesiger Raketenkopter dröhnte von Osten heran und schaltete erst tausend Fuß über dem Krater auf den Rotor um. Der heiße Staub wurde erneut aufgewirbelt, und McCune fluchte. »McCune!« tönte es grimmig aus dem Kopfhörer. »Sind Sie das da unten?« Er schnitt eine Grimasse, als er Carmaths Stimme erkannte. Während die Maschine landete, zog er betäubt die Hülle aus und warf sie in eine Tonne. Carmath stürmte heran, einen Geigerzähler in der Hand. »McCune, Sie sind entlassen! Ich übernehme das Kommando, bis ein Operationschef eintrifft!« Der Planer zuckte die Achseln und ging zu seinem Kopter zurück. Carmath folgte ihm. »Ich habe dem Chefkorrelator gleich gesagt, daß Sie so etwas machen würden. Aber Ronson sagte nein. Er habe nachgeprüft und nichts gefunden.« McCune beachtete ihn nicht. Statt dessen grinste er, als ihm klar wurde, daß die Magneten, gegen die er sich ein halbes Leben lang gewehrt hatte – die Pole von Pflicht und Selbsterhaltung – nicht mehr wirkten. Es war wie eine grenzenlose Befreiung. Er würde sich keine Gedanken mehr um die Strahlung machen müssen. Sie schlief. McCunes Frau wirkte unter dem weißen Laken
seltsam klein und hilflos. Ihr Gesicht war blaß, und es roch noch immer nach Narkosemitteln. Monatelang hatte er sich vor diesem Augenblick gefürchtet, aber nun fühlte er fast gar nichts … Das Kind war auf der Welt, und seine Angst hatte sich verflüchtigt, obwohl er seine Tochter noch nicht gesehen hatte. Statt dessen erfüllte ihn die beruhigende Erkenntnis, daß Beth doch recht gehabt hatte, daß sie unbedingt ein Kind haben mußten. Und wenn das Baby kein ganzer Mensch sein sollte, würden sie es um so mehr lieben. Er küßte seine Frau auf die Stirn. »Doktor Logan läßt ausrichten, daß Sie Ihre Tochter jetzt sehen können, Mr. McCune.« Er drehte sich nach der Schwester um. »Ist – ist das Kleine in Ordnung?« »Es ist –« Die Schwester zögerte verlegen. »Doktor Logan erwartet Sie.« Sie führte ihn durch den Korridor. Es war also etwas nicht in Ordnung. Er empfand trotzdem keine Bedrückung. Hatte er nicht immer mit einer Deformität gerechnet? An der Säuglingsstation ließ sie ihn vor einer Glastrennwand warten. Er sah, wie sie zu einem Arzt ging, der sich über eines der Bettchen beugte. Der Arzt richtete sich abrupt auf und kam auf McCune zu. Plötzlich blieb er stehen und winkte der Schwester, ihm mit dem Kind zu folgen. Sie riß die Augen auf und schüttelte den Kopf. McCune versuchte in das Bettchen hineinzublicken. Die absurde Pantomime war ihm zuwider. Weshalb hatte sie Angst, das Kind hochzuheben? hätte er schreien mögen.
Es blieb ihr erspart, als fünf Männer mit den Armbinden der UN-Forschungskommission Medizin heraneilten und in die Station stürmten. Drei von ihnen drängten sich um das Bett, zwei hoben Röntgenaufnahmen ans Licht. Erstaunt deuteten sie mit zitternden Fingern auf Einzelheiten der Negative. Guter Gott! Er riß die Tür auf und lief hinein. In dem Durcheinander der Stimmen blieb er unbemerkt. »… ausgleichende Muskelentwicklung … « »… das Grundgewebe völlig eingeschlossen, Ersatz für die Serosa … « »… könnte man für eine Splenomegalie halten, wenn nicht die anderen klaren Hinweise … « McCune schob zwei von den Ärzten weg, umklammerte die Bettstange und starrte hinunter. Doktor Logan trat heran und griff nach seiner Schulter. »Das ist nicht der erste Fall. Vor elf Jahren gab es einen in Deutschland. Das Kind starb aber. Ach, nicht deswegen«, sagte er hastig und zeigte auf das Kind. »Es war ein Fall ganz normaler Kindersterblichkeit. Vor fünf Jahren gab es einen zweiten Fall, vor drei Jahren zwei weitere Fälle, und 2074 fünf. Das ist heuer schon der vierzehnte … Die UNO hat natürlich alle Informationen darüber als geheim eingestuft, bis die Fälle genau geprüft sind.« »Aber was ist es denn?« fragte McCune ungeduldig. »Heben Sie Ihr Kind hoch, Mr. McCune«, sagte einer der Männer. McCune schob die Hände unter Rücken und Schenkel des Säuglings und hob ihn hoch. Sein Gesicht verzerrte sich vor Überraschung, und er ließ das Kind sinken.
»Na«, sagte er betroffen, »sie – sie wiegt ja –« »Einundzwanzig Pfund und hundert Gramm, um genau zu sein«, sagte Logan. Jemand schob ihm eine der Röntgenaufnahmen hin. »Das ist die Milz des Kindes, und hier ein Teil des Fortpflanzungssystems – die Eierstöcke.« McCune sah aber nur weiße Flecken. »Unsere höchste Röntgendosis konnte diese Stellen nicht durchdringen«, erklärte Logan. »Wir haben die Substanz noch nicht analysiert und wissen noch nicht, was für ein biologisches Wunder dieses Hypergewebe darstellt. Aber eines steht fest: Was Blutzusammensetzung und genetische Toleranz angeht, wird Ihre Tochter ohne Schäden eine mehrtausendfach stärkere Strahlungsdosis ertragen können als Sie oder ich.«
Lebende Präsenzen
1 Zu-Bachs Stimme übertönte den grollenden Donner und brüllte aus dem Wald: »K'Tawa! Wo bist du? Große Gefahr!« K'Tawa wurde aus der Meditation gerissen. Seufzend schüttelte er in müder Resignation sein Mähnenhaupt. Für Zu-Bach gab es immer etwas, das volle Aufmerksamkeit forderte, aber es war nie geistig – nur materiell. Der Alte löste seine schmalen Glieder aus den Verrenkungen der Meditationspose, dann begann er mit einem rasselnden Laut wieder zu atmen. »K'Tawa, melde dich! Erinnerst du dich an das Ding mit der Falle? Ich habe noch mehr gequast – in der Oberen Endlosigkeit!« Zu-Bachs genauere Bestimmung der Gefahr beeindruckte den Alten, aber nur wenig. Sie bestätigte nur seinen Verdacht, daß die Sorge des anderen banal war, materialistisch. Aber Zu-Bach war jung. Sein Quashorn war in seiner Unreife noch ganz winzig. Viel Schlaf mußte noch vergehen, bis er die Phase Eins seines Asketischen Aufstiegs erreichen würde. K'Tawa fühlte sich nach dieser Erkenntnis duldsamer seinem jugendlichen Verwandten gegenüber. Das hieß aber nicht, daß er auf die kleinen Launen des Jungen eingehen mußte. Es war viel besser, stillzusitzen und zu hoffen, daß Zu-Bach sich ent-
fernen würde. Das schien er auch zu tun. Jedenfalls wurde sein Rascheln im Wald leiser. Die Sorgenvolle See, ruhelos vor Wut, im Wind dahinjagend, warf sich gegen den Felsen, auf dem der Alte saß. Während der Meditation hatte warmer Regen seinen Bart an die Brust geklebt. Über ihm wandten sich die Ewigen Wolken, brüllten einander an und schleuderten heftige Blitze in den Wald. Dinge mit Fallen, in der Oberen Endlosigkeit – ausgerechnet! K'Tawa belächelte die Phantasie seines Verwandten. Zur Sicherheit quaste er jedoch in die Wolken hinauf. Da war natürlich nichts. Trotzdem bestand für Zu-Bach Hoffnung. Sein Interesse ging wenigstens in eine ermutigende Richtung. Während der Ersten Phase des Aufstiegs würde er sich ausschließlich mit der Oberen Endlosigkeit befassen müssen. Der Alte verschränkte die Arme, atmete ein letztesmal ein und betrachtete, dank der suggestiven Wirkung von Zu-Bachs Worten bald die Dichotomie der Endlosigkeiten. Von grenzenlosen Dingen gab es nur zwei – das Obere und das Untere. Das erstere konnte man natürlich mit einer meditativen Handbewegung abtun. Über der klaren Luft waren Wolken und Wolken und Wolken – soweit man es sich vorzustellen beliebte. Die Untere Endlosigkeit dagegen war eine unendliche hinabführende Fortsetzung von steindurchsetztem Schlamm und Wasser – nicht viel von ersterem, aber sehr viel von letzterem. Und zwischen den Endlosigkeiten – »K'Tawa! K'Tawa!« Er hüllte sich entschlossen in seine Gedanken. Zwischen den
Endlosigkeiten nahm er den Tag verärgert auf, war der Tag, der Ewige Tag. Dann studierte er seine Begriffszusammenfassung: Ein Ewiger Tag, eingezwängt zwischen zwei Endlosigkeiten. Weshalb ein Ewiger Tag? Bedeutete das, daß es irgendwo, irgendwie eine andere Art von Tag geben konnte? Verwirrt versuchte er sich einen nicht-Ewigen Tag vorzustellen. Ohne Glück suchte er nach einem rationalen Begriff, der einen Nicht-Tag, oder sogar einen Un-Tag umfassen mochte. Es blieb jedoch alles ungreifbar. Soweit er auch zurückblickte in der Ahnenerinnerung, die ihm zur Verfügung stand, er fand nichts, was das Rätsel erhellen konnte. »Da bist du, T'Kawa! Wach auf!« Der Alte schüttelte den Griff kräftiger Hände an seinen Schultern ab und sprang auf. »Niemals«, rügte er, »niemals darfst du jemanden aus der Meditation in den Oberen Phasen reißen! Das könnte tödlich sein!« Der Regen hatte aufgehört, aber die letzten Tropfen hingen an dem entstehenden Quashorn, das sich aus Zu-Bachs verfilztem weißen Haar erhob. »In der Oberen Endlosigkeit sind viele Präsenzen!« verkündete er. »Ich habe sie gezählt. Vierzig kleine und eine große!« »Wo sind sie jetzt? Ich quase sie nicht.« Zu-Bach deutete dorthin, wo die Sorgenvolle See sich mit den Ewigen Wolken berührte. »Sie sind fort – in die Horizontale Endlosigkeit.« K'Tawa bohrte einen Finger in seinen Bart und kratzte sich am Kinn. Die Horizontale Endlosigkeit – hmm-m-m. Interessanter Begriff. Wenigstens schien der Junge eine lohnende
Phantasie zu besitzen. »Was deinen Asketischen Aufstieg angeht – hast du entschieden –« »Die Präsenzen, K'Tawa!« Zu-Bach packte wieder seine Schultern. »Was ist mit den Präsenzen?« »Du hast gesagt, sie seien fort.« »Aber sie kommen wieder! Sie sind dorthin verschwunden.« Er zeigte es mit seinem Speer an. »Sie kehren nicht um, aber sie werden bald wieder auftauchen – aus dieser Richtung.« Er deutete zum gegenüberliegenden Horizont. Der Alte lachte. »Wie können sie, wenn sich Endlosigkeiten in alle Richtungen erstrecken, zurückkommen, ohne umzukehren?« Zu-Bach spuckte ins Meer. »Sie haben es schon getan – viermal, seitdem ich dich suche.« Der Alte hatte, ohne es zu bemerken, die Augen geschlossen und seinen Geist den fesselnden Möglichkeiten einer Horizontalen Endlosigkeit und von Präsenzen zugewandt, die in einer Richtung verschwinden und aus einer anderen zurückkehren konnten. Wenn das zutraf, mußte man annehmen, daß Endlosigkeiten in sich selbst zurückkehrten. Und das hieß – »K'Tawa!« rief der andere. »Die Präsenzen sind gefährlich! Soviel habe ich erquast. Sie sind genau wie das Ding mit der Falle. Erinnerst du dich?« Er erinnerte sich durchaus, aber der Alte hatte an diese lächerliche Geschichte nie geglaubt. Gewiß, er konnte erquasen, daß ZuBach auf irgend etwas gestoßen war, aber es mochte eine Begegnung lediglich mit seiner blühenden Phantasie gewesen sein.
»Ich würde mir keine Gedanken machen«, riet er. »Wenn es da oben Präsenzen gibt, und wenn sie bedrohlich sind, dann können wir jedenfalls dankbar dafür sein, daß sie nicht hier unten sind.« »Aber das Ding mit der Falle war auch da oben, bevor es herunterkam!« K'Tawa wurde ungeduldig. Eigentlich sollte er seine ganze Energie der Geistigen Entwicklung von Phase Sieben zuwenden, der Suche nach Ursprung und Sinn, der Totalen Vereinigung mit den Fundamentalen Endlosigkeiten, aber dieser NichtAsket, dieser Vorphasenlieferant von Nahrung schien entschlossen, seinen Rückzug aus dem Materiellen zu behindern. »Was soll ich denn tun?« fragte er schließlich. »Hilf mir, sie zu quasen, wenn sie wieder vorbeikommen. Wenn sie sind wie das Ding mit der Falle, warnen wir das Dorf.« K'Tawa wich zurück. Das Dorf warnen – auch das noch! Und Dutzende von Meditierenden aus ihrer Suche nach den Spirituellen Sinngebungen reißen? Was für eine Frechheit! Der Alte kauerte nieder und sagte: »Ich muß das einen Augenblick bedenken.« Sobald man die Oberen Phasen erreichte, log man nicht mehr. Und K'Tawa hatte auch wirklich vorgehabt, die Gangbarkeit einer Störung der Asketen zu überlegen. Er saß jedoch kaum, als seine Gedanken auch schon zum Begriff einer in sich selbst zurückkehrenden Endlosigkeit schwebten. Wie faszinierend! Man konnte sich etwa eine Reise durch die Untere Endlosigkeit vorstellen, durch eine andere Oberfläche stoßen und in dieselbe Obere Endlosigkeit hinaufblicken!
Nein. Das wäre keine andere Oberfläche, sondern dieselbe, in sich zurückgewölbt – wie die Außenseite der Lehmkugeln, mit denen er in seiner Vorphasenzeit gespielt hatte! Eine Untere Endlosigkeit, in sich endlos, begrenzt von ihrer Oberfläche – ihrer undurchbrochenen Kugeloberfläche! Er sprang triumphierend auf. Es gab keinen Zweifel – er war dabei, Phase Sieben zu meistern! Noch niemand hatte das vor ihm fertiggebracht. Konnte er hoffen, vielleicht zu einer Achten Geistigen Ebene vorzudringen? Er bemerkte, daß Zu-Bach ihn unsicher anstarrte. »Die Präsenzen«, fragte er. »Was ist mit den Präsenzen?« K'Tawa funkelte ihn an, mäßigte sich aber sofort. »Welche Präsenzen?« »Da!« schrie der andere und deutete mit dem Speer zu den Wolken. »Diese!« Der Alte richtete sein Horn auf die Stelle. Da waren wahrhaft Präsenzen. Viele kleine, hintereinander – gefolgt von einem riesigen Etwas, das jedem Quasen zu trotzen schien. Und er rätselte an der Tatsache, daß die unsichtbaren Objekte, zu weit entfernt, um sichtbar zu sein, selbst wenn es keine Ewigen Wolken gegeben hätte, unglaublich schnell dahinrasten. Dabei schienen sie sich ganz langsam zu bewegen. Er quaste Kraft und Macht, Härte und komplizierten Aufbau und Dauerhaftigkeit – Bestimmung und Entschlossenheit. Viele Präsenzen von einem fernen – einem fernen was? K'Tawa konnte den Begriff nicht erquasen. Er war zu fremd, zu schrecklich.
Colonel Scott O'Brien beugte sich in seiner G-Liege vor und starrte durch das Fenster auf den Logistik-Zug, der vor der ›Argo‹ in den grellen Sonnenaufgang hineinflog. Eine nach der anderen glitten die Versorgungskapseln – die wiedererstandenen Mercuries, umgebauten Geminis, veränderten Apollos – aus der dunklen Nacht ins grelle Licht. Vierzig funkelnde Diamanten als Tiara um das wolkenverhüllte Haupt der Venus. O'Brien sank zurück und blickte auf den MikrowellenRadiometer-Schirm. Die Van Horstein-Sonde durchdrang sowohl die Ionosphäre als auch die Wolkenschicht und gab alle Einzelheiten wieder. Der einzige Landstreifen der Venus, beinahe zweitausend Meilen lang, aber nur ein Zehntel so breit, schlängelte sich über den Schirm. Er drehte an der Quersteuerung, und die rote Linie leuchtete auf. »Querlenkung eingerastet«, rief er Kommodore Green in der Liege neben ihm zu. »Landesequenz in fünfzehn Sekunden.« Green grinste. »Fertig.« O'Brien starrte auf den Schirm, bis die rote Linie zum Fadenkreuz glitt und die Oberflächenmerkmale, die sie sondierte, mitnahm. »Landesequenz für Bergungsgebiet Süwestquadrant. Countdown läuft. Zehn Minuten bis Null. Alles positiv.« Nach einer Pause sagte O'Brien ungeduldig: »Wastrom?« Von der Liege hinter ihm kam keine Antwort. Green beugte sich herüber. »Wahrscheinlich betet er wieder. Wer den hier eingeteilt hat,
hat total danebengegriffen.« Der Colonel bog sich zurück. »Wastrom!« Er hörte etwas rascheln. »Ja?« »Was ist mit dem Zug?« »Oh. Retrosysteme positiv.« »Alle vierzig?« »Ich sehe keine roten Lichter.« »Und die Fallschirmpakete?« »Alles grün. Alles bereit. Glauben Sie, daß wir es schaffen?« O'Brien antwortete nicht. Er hatte es satt, den Elektroniker immer wieder zu beruhigen. »Neununddreißig, Countdown läuft«, sagte Green. Und von der hinteren rechten Liege meldete eine Stimme: »Alle Systeme ›Argo‹ positiv.« O'Brien schaute nach hinten und nickte. Der Gegensatz zwischen Frank Yardley und dem anderen Zivilisten der Besatzung war auffällig. Als Nukleartechniker der ›Argo‹ war Yardley fast fünfzehn Jahre älter als Wastrom und nicht viel mehr als halb so groß, aber O'Brien hätte keinen halben Yardley gegen sämtliche verfügbaren Wastroms getauscht. »Neun Minuten bis Null«, sagte Green. O'Brien sah Yardleys Hand zu einem Kippschalter zucken. Das Raumschiff erbebte, als Kupplungsbolzen gesprengt wurden. »Stufe Capella getrennt«, sagte Yardley. O'Brien atmete auf. Die ›Argo‹ konnte eintauchen. Von dem massigen Ding waren nur die III D-Schirmgruppe, die Jason-
Kapsel, die Startstufe Procyon IV-B und fünfundfünfzig Fuß Präzisionstechnik geblieben. Die Capella II mit ihrer SauerstoffDifluorid-Diobran-Treibstoff-Fracht würde inzwischen brav auf die Wiederankopplung warten. »Acht-Zehn, Countdown läuft«, sagte Green. »Fertig, Scott?« »Fertig.« O'Brien streckte die Hand nach dem Schalter aus. »Acht«, sagte Green. O'Brien betätigte den Schalter und lehnte sich zurück, während das Raumschiff sich drehte. Die vierzig Versorgungskapseln glitten davon, als die ›Argo‹ sich von ihnen abwandte und in Bremsposition ging. »Äh – glauben Sie, daß es da unten heiß ist?« fragte Wastrom. »Ein Dutzend Sonden haben gezeigt, daß von ›starker Hitze‹ an der Oberfläche keine Rede sein kann«, knurrte O'Brien. »Vorher hat man sich von einer starken Elektronendichte in der Ionosphäre irreführen lassen«, fügte Yardley hinzu. »Unsere weich gelandeten Sonden haben bewiesen, daß sie kaum über Hundert steigt.« »Aber woher haben wir Gewißheit?« fragte Wastrom. »Es ist ganz einfach so«, sagte Green ohne die Spur eines Lächelns. »Die letzte Instrumentensonde hat auf einem VenusGehsteig ein Ei aufgeschlagen. Es briet nicht. Sieben Minuten. Alle Systeme positiv.« O'Brien drehte am Eintauchoszillator und entlockte ihm ein schrilleres Heulen. Wenn Wastrom seiner Furcht Ausdruck verleihen wollte, daß den Sonden verstohlen hausendes feindseliges Leben entgangen war, mochte er statt dessen eher über die Schädigung seiner Trommelfelle klagen.
Bis jetzt war der Flug ganz ohne Probleme verlaufen, und O'Brien konnte nur hoffen, daß die in Abständen von einer Woche folgenden Weltraumzüge es ebenso gut haben würden. Vermutlich – wenn sie keine Wastroms an Bord hatten. Im ganzen war das Unternehmen sehr eindrucksvoll – kein Wunder bei vierzig Milliarden Dollar Kosten. Darauf konnte man aber nicht schauen, wenn die Roten den Mond praktisch als Protektorat verwalteten. An die zwanzig Mondstützpunkte, alle insgeheim bewaffnet, wobei der Kreml aber die militärische Neutralität garantierte, bildeten einen wichtigen Trumpf, so daß Onkel Sam sich eben anderswo hatte umsehen müssen. »Und wenn es da unten doch Leben gibt?« sagte Wastrom nervös. »Feindseliges Leben, meine ich. Intelligent genug, um sich vor den Kameras zu verstecken.« Bevor O'Brien eine spöttische Antwort geben konnte, sagte Green: »Drei Minuten dreißig Sekunden bis Null.« »Ich sagte, was ist, wenn da unten Leben existiert?« wiederholte Wastrom. »Die Kameras haben nur zwei Vierbeiner und einen kleinen Zweibeiner entdeckt, sonst nichts. Wo sind die geringeren Formen? Wenn nun –« »Drei Minuten, dreißig Sekunden!« sagte Green gereizt. »Das war Ihr Stichwort, Wastrom!« Der Kommodore lehnte sich zurück, griff unter Wastroms Liege und drehte einen Schalter. Das Raumschiff erzitterte wieder, und Green sagte: »KomPak abgesprengt.« »Verzeihung«, sagte Wastrom. O'Brien verfolgte das Trennmanöver. Die Orbital-
Funkrelaisstation, ein heller Leuchtfleck in der Mitte des Schirms, entfernte sich immer mehr. Mit ihren signalempfindlichen Antennen würde sie ein notwendiges Verbindungsglied für die Verständigung Erde-Venusstützpunkt sein. Green nahm den Kopfhörer ab. »Kom-Pak-Signal laut und deutlich.« Die letzten Minuten vergingen schnell. »Zehn Sekunden bis Null«, sagte Green schließlich. Bei fünf Sekunden drückte O'Brien eine Taste, um die Landeautomatik auszulösen.
2 K'Tawa folgte seinem jungen Verwandten widerwillig zum Dorf. Mit gesenkten Lidern verließ er sich auf die Wahrnehmungsfähigkeit seines Quashorns, ihn durch den Wald zu leiten. Inzwischen wandte er sich meditierend wieder der Siebten Phase zu. Es gelang ihm schnell, sich zu versenken. Er entsann sich eines fernen Ahnen, Y-Lem'Ah genannt, der Gedächtnissuchern der Zukunft ein deutliches Bild seiner Züge vermittelt hatte. K'Tawa runzelte die Stirn. Y-Lem'Ah hatte kein Quashorn besessen – keine Spur davon! Seine Leute auch nicht – jedenfalls nicht bis zu dem Zeitpunkt, als ihre ›Insel‹ bei einem Kleinen Debakel versunken und er mit einigen Verwandten auf einem Floß nach Einzigland gekommen war. Die Erinnerung verblaßte, und K'Tawa spürte eine hohle Einsamkeit, gleichzeitig aber auch Triumph. Noch niemand
hatte bisher zurückgreifen können zu der Zeit, als Einzigland offenbar ›Festland‹ gewesen! Zu-Bach blieb stehen und wartete auf ihn. »Du sagst den Meditierenden, wie wichtig die Präsenzen sind? Deine Meinung achten sie.« »Wie auch nicht? Bin ich nicht der fortgeschrittenste Betrachter?« »Dann hilf mir, sie zu überzeugen.« »Ich kann nicht mehr tun, als die Anwesenheit der Präsenzen zu bezeugen.« »Aber das erquasen sie doch selbst!« »Gewiß. Eigentlich sollte dir mehr Sorgen machen, daß sie auch deine störrische Ablehnung Geistigen Aufstiegs erquasen werden.« Zu-Bach wandte sich ab und stapfte weiter. Der Alte folgte ihm und ärgerte sich über die Verantwortlichkeit des Verwandtseins. Das Dorf war ein Gewirr von Steinhütten mit Strohdächern, die sich aus dem weichen Schlamm erhoben. K'Tawa blieb mit Zu-Bach am Rand der Lichtung stehen und verfolgte die Prä-Meditations-Zeremonie des Herbeirufs der Heißen Zungen. L'Jork stand feierlich vor der Trocknenden Hütte und bot der Oberen Endlosigkeit frisches Laub. Sein großes Quashorn war starr auf die Ewigen Wolken gerichtet. Nach einer Weile trat L'Jork vor, gefolgt von den anderen Meditierenden. Er legte das Laub auf den Großen Block und kniete nieder, bevor er die Steine ergriff, in das Laub blies und die Steine aneinanderschlug.
Bald entstanden die ersten Heißen Zungen, und die Meditierenden bliesen noch stärker. Immer wieder sprangen Heiße Zungen hoch, und das dunkle Rauchopfer stieg zu den Ewigen Wolken hinauf. Zu-Bach vermochte sich nicht länger zu bezähmen und sprang vor. »Meditatoren!« rief er. »Ihre Aufmerksamkeit!« L'Jork sah auf und runzelte die Stirn. Die Älteren Betrachter wandten sich dem Störenfried zu. Die Heißen Zungen erloschen. K'Tawa breitete bedauernd die Arme aus. »Ihre Nachsicht, Exemplant«, sagte er zu L'Jork. »Zu-Bach will gehört werden.« »Angesichts Ihrer Unterstützung hören wir ihn.« Mehrere Frauen steckten die Köpfe heraus, um zu sehen, was vorging. Eine, die mit ihrem noch ungeborenen Kind zum Heim für Entbindung und Ausbildung unterwegs war, blieb neugierig stehen. »Wir haben in der Oberen Endlosigkeit einundvierzig Präsenzen erquast!« stieß Zu-Bach hervor. »Böse Präsenzen! Und sie werden herunterkommen!« L'Jork sah K'Tawa an, und der Alte nickte bestätigend. Einige von den Älteren entfernten sich gleichgültig. »Aber das ist wichtig!« protestierte Zu-Bach. »Es könnten die Dinge mit der Falle sein!« »Das habe ich nicht erquast«, sagte K'Tawa auf einen fragenden Blick von L'Jork. »Aber wenn sie es sind, brauchen wir uns nur von ihnen fernzuhalten.« Der Exemplant kämmte seinen Bart mit langen Fingernä-
geln. »Das Ding mit der Falle – wie sah es aus?« »Es war breit und unten rund und oben schmal und rund – ganz glänzend und hart, entschlossen und heimtückisch«, sagte Zu-Bach zu den verbliebenen Älteren, die sich schon abzuwenden begannen. »Ich habe es am Strand gefunden und viele Perioden lang beobachtet.« Nur L'Jork und K'Tawa blieben, um zuzuhören – die anderen hatten sich auf die Denkblöcke vor ihren Hütten gesetzt und die Meditationspose eingenommen. »Es besaß ein Auge, das gar kein Auge war, sondern sich unablässig umschaute«, fuhr Zu-Bach fort. »Ich erquaste, daß es suchte und hielt mich die ganze Zeit versteckt. Es atmete die Luft ein und schlürfte Wasser und fing den Regen auf. Es schaufelte Sand und Schlamm und sprach unentwegt –« »Sprach?« wiederholte L'Jork. »Mit wem?« »Das weiß ich nicht. Ich konnte es nicht erquasen. Ich quaste nicht einmal, was es mit seiner leisen, summenden Stimme sagte. Ich beobachtete es vom Gebüsch aus, als eine Herola antrabte und das Ding beschnupperte. Plötzlich entstand in der Seite eine Öffnung, und –« »Die Herola lief hinein?« fragte der Exemplant. »Natürlich nicht. Herolas sind viel zu vorsichtig dafür. Ein Wölkchen grüner Luft fauchte heraus, und die Herola fiel um. Ein Arm, so dünn wie ein Speerschaft, erschien in der Öffnung und zog das Tier hinein. Drei Schlafenszeiten später fand ich die Herola wieder – tot. Das Ding mit der Falle hatte aufgehört zu schnattern. Ich konnte quasen, daß es leblos war. Ich schleuderte es in die Sorgenvolle See.«
»Es war so klein, daß du es schleudern konntest?« »Ja, Exemplant.« »Dann hätte es dir nichts tun können. Was ist mit den einundvierzig Präsenzen in der Oberen Endlosigkeit – könnten sie einen von uns verschlingen?« »Eine ist groß genug, um viele von uns aufzunehmen.« K'Tawa richtete sich auf. Alle Meditatoren regten sich. Sie hatten etwas erquast. Und nun quasten auch L'Jork und K'Tawa es – ein Lynko. Das kleine, gesellige Tier war in die Lichtung getreten. Es schleppte seinen Schwanz hinter sich her, während es zwischen den Hütten herumsuchte. Alle Meditatoren erhoben sich und berührten respektvoll ihre Quashörner. K'Tawa erquaste Zu-Bachs Enttäuschung, aber der Junge wußte nicht, daß sich der Kode der Verwandtschaft auf den Lynko erstreckte, weil er aufrecht ging. L'Jork wandte sich Zu-Bach wieder zu. »Sehr interessant«, sagte er und ging zu seiner Hütte. »Dein Ding mit der Falle und die Präsenzen werden mich mit viel Stoff für Kontemplation versorgen.« Frustriert packte Zu-Bach seinen Speer und stürmte davon. L'Jork blieb stehen und nickte K'Tawa verständnisvoll zu. »Halt dein Quashorn auf den Jungen gerichtet, K'Tawa. Er ist impulsiv. Er bedarf der Führung.« K'Tawa nickte und folgte seinem jungen Verwandten. Am Waldrand holte er ihn ein. »Denen ist ja egal, ob eine von den Präsenzen herunterkommt und das Dorf überfällt!« sagte Zu-Bach empört. »Der erste Schritt zur Meditation ist Erzwungene Abkehr
vom Materiellen«, sagte K'Tawa beruhigend. »Dann –« »Ach, Lynko-Kot!« fauchte der andere. Dann zerriß ein dröhnendes Heulen die Luft am Himmel. Und ein Blitz erhellte die Unterseite der Ewigen Wolken. »Sie kommen herunter!« »Da!« schrie Zu-Bach. »Sie kommen herunter.« Er wollte zur Küste laufen, aber K'Tawa machte das Vorrecht des Älteren geltend. »Bleib!« befahl er. »Es ist fast Schlafenszeit. Bis nach der Erstmahlzeit wollen wir mit den Präsenzen nichts weiter zu tun haben.« Zu-Bach ließ die Schultern hängen und folgte ihm zu ihrer Hütte zurück. Der Alte freute sich auf die Meditation vor dem Schlaf. Colonel O'Brien stand vor der noch geschlossenen Außenluke, schob die Plastik-Atemkapuze über den Kopf und befestigte den Sauerstoffzylinder an der Hüfte. Dann rückte er Kehlkopfmikrofon und Kopfhörer zurecht. »Sprechprobe«, sagte er leise. Green meldete sich sofort von der anderen Seite der Luftschleuse. Wastrom, der neben dem Colonel stand, hob seine Kapuze ans Gesicht und sagte: »Wenn nun das Kohlendioxyd unter die Kapuze gerät?« Der Colonel unterdrückte die Bemerkung, daß die O'Briens meist nicht soviel Glück hätten. »Die Venusatmosphäre besteht zu fünfundachtzig Prozent aus Kohlendioxyd«, sagte er tonlos. »CO2 ist schwerer als das,
was wir einatmen. Es bleibt unten. Der Sauerstoff bleibt, weil er leichter ist, oben in der Kapuze.« »Aha«, sagte Wastrom, so, als sei ihm das bei der Ausbildung nicht oft genug erklärt worden. O'Brien griff nach dem Lukenriegel. »Fertig?« »Könnten wir nicht Raumanzüge tragen – zum Schutz gegen Ansteckung?« O'Brien schloß kurze Zeit die Augen. »Erstens: Es war nicht so geplant. Wir haben keine tragbaren Klimageräte. Sie würden meinen, daß Sie in einem Ofen stekken. Zweitens: Timarow hat vor erst zwei Jahren klargemacht, daß zwischen Krankheitserreger und Wirt eine bestimmte Beziehung vorhanden sein muß. Sie muß durch Jahrtausende der Evolution entwickelt werden, nicht in ein paar Stunden. Kurz, die Aussicht, sich an einem Venus-Virus zu infizieren, ist gleich Null. Fertig?« Wastrom schob widerstrebend sein Mikrofon zurecht. »Glauben Sie, daß zwölf Stunden genügen, damit sich der Boden vom Bremsraketenstrahl abkühlt –« »Hören Sie, Wastrom – wir haben da draußen sechsunddreißig Versorgungskapseln, die das Eintauchen überstanden haben. Sie warten darauf, zum US-Stützpunkt Venus zusammenmontiert zu werden. Wir haben nur eine Woche Zeit, bis der Zug Beta eintrifft. Entweder –« »Ich bin fertig«, sagte Wastrom achselzuckend. O'Brien öffnete den Riegel, und die Lukentür öffnete sich auf ein tristes Panorama von Schatten und dunkleren Schatten. Die heiße, feuchte Luft hüllte ihn wie eine nasse, aus einem Ofen
gezogene Decke ein. Draußen herrschte das Dämmerlicht des gewittrigsten Tages, den er auf der Erde jemals gesehen hatte. Der durchnäßte Boden und der triefende Wald in der Ferne zeigten noch die Spuren des Wolkenbruchs, der die Jason-Kapsel eben in eine dröhnende Trommel verwandelt hatte. Aus dem Wolkenmegaphon des Himmels brüllte knallender Donner, und O'Brien zählte gleichzeitig ein halbes Dutzend Blitze, die in den Boden fuhren. Er fuhr den Ausleger aus, befestigte den Nylongurt an seiner Brust und trat hinaus. Er glitt die fünfzig Meter der ›Argo‹ hinab, vorbei an der Startstufe, vorbei an Flossen und Bremsraketen. Er landete auf dem schlüpfrigen, aber erstaunlich festen Boden, löste den Gurt und ließ ihn wieder hinauffahren. Dann ging er um das Raumschiff herum und prüfte, ob die Blitzsperre richtig geerdet war. »Kommen Sie, Wastrom?« sagte er. Als er keine Antwort erhielt, rief er ihm noch einmal und blickte hinauf. Der Elektroniker war unterwegs, aber nicht zu erreichen. Sein Kopfhörer hing an der Hüfte. O'Brien stülpte die Kapuze zurück, legte die Hände an den Mund und brüllte: »Wastrom, verdammt noch mal! Kopfhörer aufnehmen!« An einem Hügel lag der orangerote Fallschirm der ersten Versorgungskapsel im olivgrünen Gras. Sprengbolzen lösten sich, und die konische Kapsel gab einen sechsbeinigen BondleyBodengeher frei, Höchstgeschwindigkeit zwanzig Meilen in der
Stunde, mit einer 300-Kilowatt-Reinhold-Batterie. Damit kamen sie schnell, wenn auch nicht glatt, zu den nächsten beiden Kapseln. Dort holten sie einen elektrischen KranTraktor Modell VI, und einen Zug von Raupenloren. Binnen weniger Stunden hatte O'Brien, mit geringer Hilfe durch Wastrom, den Zug mit dem Inhalt von zwölf Kapseln beladen. Er lehnte sich müde an eines der Bodengeherbeine und hielt den Atem an, während er die Atemkapuze abnahm und sich den Schweiß vom Gesicht wischte. Bedrückt betrachtete er seine Erwerbungen. Zu ihnen gehörten unentbehrliche Dinge wie eine Collard-Atomkraftanlage mit Zusatzakkus, ein Del-Rouad-Funktelefon auf der Frequenz der Relaisstation, ein aufblasbares Mannerheim-Heimatumwelt-Iglu und einen Westinghouse-Oxyakkumulator-Kompressor. Zusammen mit der Feldlaborausrüstung, den O2-Zylindern, den Treibstoffbehältern, unkonzentrierten Nahrungsvorräten und anderen nützlichen, wenn nicht lebenswichtigen Gegenständen, ließen diese Dinge die Gegend immer heimeliger aussehen. »Kehren wir um«, drängte Wastrom. »Die nächste Kapsel ist nur ein paar hundert Meter entfernt«, tönte Yardleys Stimme aus den Kopfhörern. »Gleich hinter dem Hügel.« »Wir sind voll«, sagte der Colonel und ging zu seinem Traktor. »Das andere hat Zeit. Noch fünf Kapseln, und wir haben von jedem etwas.« »Es hat viel besser geklappt, als ich dachte«, sagte Green.
»Unser System ist ideal – ein Versorgungszug in zwei Teilen, ein Teil mit Duplikaten.« »Jedes Gerät ist in doppelter Ausfertigung vorhanden.« »Wir hatten auch Glück. Von den vier Kapseln, die wir beim Eintauchen verloren haben, waren alle verschieden. Wir haben also auf gar nichts verzichten müssen.« O'Brien ließ den Traktormotor an, griff aber noch einmal unter seine Kapuze, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Scott – hier Green. Wir haben eben das Signal von der entferntesten Kapsel verloren.« »Was für eine ist das? Welche Fracht?« Green schaute nach. »Elektrowerkzeug, Medikamente. Glauben Sie, daß mit der Kapsel etwas passiert ist?« »Nein. Wird ja Zeit für eine Panne. Gut, daß es nur ein Meldesender war.« O'Brien folgte mit dem Traktor dem Bodengeher zur ›Argo‹ zurück. Er bemerkte, daß Wastrom den Gurt um die Kapuze enger zog. »Wozu soll das gut sein?« fragte er. »Das verdammte Kohlendioxyd – ich kann es riechen!« sagte der Elektroniker erregt. »Es vergiftet mich!« O'Brien blieb stumm. »Colonel, hier Yardley«, tönte es aus dem Kopfhörer. »Die Kapseln, die wir noch nicht geborgen haben – ein bißchen Wasser schadet ihnen doch nicht, oder?« »Natürlich nicht. Warum?« »Auf dem Schirm ist eben der Leuchtfleck von der zweiten
Kapsel verschwunden – die mit der Fernsendeanlage.« »Eine zweite Panne kann ich mir nicht vorstellen.« »Die liegt auch nicht vor. Der Schirm zeigt, daß das Ende der Kapsel sich über den Strand einer Bucht erstreckt. Dort hätten die Kapseln beinahe das Land verfehlt.« »Wir vermuten, daß durch steigende Flut die Signale unterbrochen werden«, warf Green ein. »Klingt logisch. Wir prüfen das morgen. Zuerst wollen wir den Mannerheim-Iglu aufblasen und den Del Rouad anschließen. Dann können wir uns mit der Erdsatellitenstation in Verbindung setzen, sobald das KomPak in Position ist.« Der Bodengeher und der Traktor überwanden einen Hügel, und O'Brien fühlte sich wohler, als er in fünf Meilen Entfernung die ›Argo‹ sah. Dann zog er die Brauen zusammen, als er an die ausgefallenen Signale dachte. Auf der Venus sollte es doch keine Gezeiten geben! Das schloß aber nicht aus, daß heftige Winde ab und zu Fluten über die Strände jagten.
3 K'Tawa sank erschöpft in sich zusammen, widerstand aber der Versuchung, sich der Meditation zu überlassen. Statt dessen verfolgte er, wie Zu-Bach sich vorsichtig der nächsten herabgesunkenen Präsenz näherte. Zu-Bach legte den Speer auf den Boden, kniete neben dem schimmernden Objekt nieder und richtete sein Quashorn auf die verschiedenen Teile. Dann schaute er sich nach dem Alten um.
»Ich quase keine Gefahr«, versicherte K'Tawa. »Und als Falle ist es gewiß nicht gedacht.« Zu-Bach stürzte sich auf die Präsenz, hob sie hoch und schmetterte sie auf den Boden. Er packte sie wieder und schleuderte sie gegen einen Felsblock. Er tunkte sie in die ruhelose See, zog sie wieder heraus und hämmerte mit seinem Speer darauf herum. K'Tawa lächelte anerkennend. Zu-Bach ging auf die nächste Präsenz zu, und der Alte folgte ihm. Als der andere unvorsichtig nach dem Ding griff, schrie K'Tawa eine Warnung. »Große Gefahr«, sagte er. »Ungeheure Macht und Kraft – so ähnlich wie die Heißen Zungen. Ich quase einen wilden und tödlichen Lärm.« Er machte eine Pause. »Außerdem sehe ich vielleicht eine große, zornige Wolke in der Oberen Endlosigkeit aufquellen, die einen Teil von Einzigland mit sich reißt und eine neue Bucht für die Sorgenvolle See erzeugt.« Zu-Bach wich zurück, streckte dann aber den Arm aus und riß dem Ding das lange, dünne Horn ab. Die stumme Stimme verstummte, und er brummte befriedigt. K'Tawa betrachtete die Präsenz. Sie war gefährlich. Er beschloß, sie nicht in die Höhle zu schaffen, wo er die beiden anderen versteckt hatte, die eine, weil er ihre Fähigkeit erquast hatte, mit den anderen fernen Präsenzen in der Oberen Endlosigkeit zu sprechen, die andere auf einen Impuls hin, obwohl sie nur zusammengepreßte Luft enthielt. Die nächste herabgestürzte Präsenz war ganz harmlos, und der Alte verfolgte mit Genugtuung, wie Zu-Bach sich auf sie stürzte. Sie war doppelt so groß wie die letzte, so daß er sie nur mit Mühe heben konnte.
K'Tawa blickte hinüber zu der fernen, riesigen Präsenz, die aufrecht stand und einen Eindruck lauernder Macht und verschlagener Geschicklichkeit vermittelte. Er machte sich erneut Gedanken über die vier kleinen, lebenden Präsenzen. Auch dort entdeckte er Heimtücke und Verschlagenheit, Haß und Besitzergreifung. ZuBach hatte die vier noch nicht erquast, aber er würde wütend sein, sobald er es tat. Der Alte überließ sich der Kogitation. War es normal, daß dort oben Präsenzen existierten? dachte er. Wenn es noch viele davon gab, mußten sie von irgendwoher kommen. Aber wie konnte es in der Endlosigkeit Ewiger Wolken ein Irgendwo geben? Dann drang aus den Tiefen seines Geistes eine uralte Vorstellung herauf, daß die Wolken nicht Ewig sein mochten, daß sie sich nicht durch alle Endlosigkeit erstreckten. Verblüfft stellte K'Tawa sich die unvermeidliche Frage: Wenn die Wolken dort oben nicht überall waren, was existierte dann in der Wolkenlosigkeit? Die Antwort kam wie eine flüsternde Stimme aus der fernen Vergangenheit: Schwärze. Und in dieser Schwärze – »K'Tawa, gehen wir. Ich habe alle Möglichkeiten der Zerstörung bei dieser Präsenz erschöpft.« Der Alte wurde aus der Meditation gerissen und starrte seinen Verwandten erbost an. Manchmal erforderte es höchste Beherrschung, den Kode der Verwandtschaft zu achten. Als Zu-Bach keine Präsenzen mehr fand, die er zerstören konnte, erquaste er die vier kleinen, lebenden Präsenzen. Der Alte sah belustigt zu, als er sich umdrehte, dem riesigen, emporragenden Ding in der Ferne zu.
»K'Tawa –« »Ich weiß. Vier lebende Präsenzen.« »Merkwürdige Dinge – wie der Lynko. Aber ohne Schwänze.« »Was erquast du noch?« »Haß – sehr viel Haß. Und Verachtung. Heimtücke, Habgier und Wachsamkeit.« K'Tawa nickte befriedigt. Zu-Bach schien seine Talente gebührend zu entwickeln. »Kannst du quasen, was zu tun ist?« »Ja.« Zu-Bach umfaßte den Speer fester. »Sie müssen vernichtet werden. Sie tun mehr als Fallen stellen. Wenn sie die Gelegenheit erhalten, werden sie – töten?« »Das befürchte ich. Zuerst war ich durcheinander. Es gibt offenbar Ähnlichkeiten zwischen ihnen und uns – wie die Tatsache, daß sie atmen, wenn auch nur verbrauchte Luft. Aber die Ähnlichkeiten sind nur physischer Art. Geistig haben wir nichts gemeinsam – soviel ich sehen kann. Sie sind völlig materialistisch.« »Es gibt also keine Beziehung zu ihnen?« »Keine. Wie auch, wenn sie aus der Endlosigkeit kommen?« K'Tawa erhob sich mühsam. »Einzigland wird es besser gehen, wenn sie entfernt werden, zusammen mit allen ihren leblosen Präsenzen.« »Sie werden entfernt«, schwor Zu-Bach. »Aber du mußt vorsichtig sein. Es besteht eine gewisse Gefahr. Ich komme aber mit und erquase sie für dich.«
Zu-Bach ging zum Wald, und der Alte lächelte angesichts der klugen Maßnahme. »Es sind böse Präsenzen, nicht wahr, K'Tawa?« »Ja. Ich erquase sorgenvolle Angst und Wachsamkeit, Mißtrauen und Bösartigkeit. Denk dir nichts dabei, wenn du sie vernichtest. Keine von ihnen würde zögern, einen anderen umzubringen, um des persönlichen Vorteils willen. Vor allem eine ist so.« »Und die anderen drei?« »Ich würde sagen, daß sie von derselben Art sind. Drei haben wichtigere Aufgaben, der vierte erscheint besonders bösartig, weil er tötet, wenn es erforderlich zu sein scheint.« Der Mannerheim-Iglu, fünfunddreißig Meter Durchmesser, mit Trennwänden, sieben Meter hoch, regte seine Plastikhaut. Die letzten Falten verschwanden, und er spannte sich straff. Aus der Collard-Atomkraftanlage floß Strom für den Oxyakkumulator-Kompressor und die Klimageräte. Yardley hatte das Kraftwerk in einer Küstenhöhle untergebracht. Draußen trommelte Regen auf die durchsichtige Kuppel. O'Brien und Green hatten die Arme um Yardley gelegt und sangen aus vollem Hals. Als sie verstummten, trat Yardley zu Wastrom, der auf die triste Landschaft hinausstarrte. »Los, machen Sie mit, Calvin!« Yardley schlug ihm auf die Schulter. »Wir haben uns etabliert!« Wastrom entfernte sich ein paar Schritte, und Yardley kehrte zu den beiden Offizieren zurück. »Soll er doch schmollen«, meinte Green. O'Brien schaute sich im Iglu befriedigt um. Innerhalb von wenigen Tagen würde es hier nicht mehr so nackt aussehen, es
würde Kojen geben, gedämpftes Licht, eine Kombüse – sogar Duschkabinen. Er dachte kurz nach, dann ging er zu Wastrom. »Was ist los, Calvin? Kann ich etwas tun?« »Nein, ich glaube nicht. Es ist nur – ich weiß nicht. Vielleicht erwartet man manchmal zuviel von sich selbst. Green hat schon recht. Da muß einer versagt haben, als er mich für den Flug einteilte.« »Es wird schon werden«, sagte O'Brien ohne Überzeugung. »Aber es ist nicht richtig, einfach durch Gottes All zu fegen!« entfuhr es Wastrom. »Wir fordern heraus –« Er nahm sich zusammen. »Colonel, ich bin der Jüngste hier. Yardley ist fast fünfundvierzig. Ich glaube, ich habe nicht halb soviel Mut wie er.« »Keiner von uns ist so ruhig, wie er sich gibt.« »Aber ich sollte mir am wenigsten Sorgen machen. Ich habe nicht mal Familie, wie Yardley oder Green.« »Sehen Sie die Sache so: Wir sind hier. Alles klappt. Keine Komplikationen. Und die Rückkehr zur Erde wird noch viel einfacher.« »Falls wir zurückkommen.« »Na schön, Calvin – wieso zweifeln Sie daran?« Wastrom deutete hinaus. In der Ferne erkannte O'Brien, was die Sondenmeßanlagen ›Venusau‹ getauft hatten, durch einen Sumpf watend. »Deshalb«, sagte Wastrom leise. »Das ist Leben – venusisches Leben. Es ist dem unseren sehr ähnlich. Es existiert und bewegt sich und atmet. Das kann es aber eigentlich gar nicht, weil die Luft keinen Sauerstoff enthält. Es –«
»Das tierische Leben auf der Venus«, zitierte O'Brien, dessen Geduld zu Ende ging, »ist einer Biochemie angepaßt, bei der Stickstoff in den Energiewechselbeziehungen des Organismus den Sauerstoff ersetzt. Auch Kohlendioxyd spielt eine Rolle. Der Stickstoff wird zu Nitrat oxydiert, so daß sich KohlenstoffStickstoffketten bilden.« »Das ist es ja! Leben ist möglich. Tiere können hier leben – nicht nur die, von denen wir wissen, sondern vielleicht auch solche höherer Ordnung!« Wastroms Stimme schwankte. Green rief herüber: »Gehen wir wieder an die Arbeit.« Er brachte Atemkapuzen und Sauerstofftanks. Yardley deckte die Ausrüstung mit Plastiktüchern ab, während Green die Anlage der Blitzschutzsperren vervollständigte. O'Brien hatte, begleitet von Wastrom, das Del RouadFunktelefon an den Traktorkran montiert und transportierte ihn zum Iglu. »Yardley«, sagte er ins Kehlkopfmikrofon, »zurren Sie lieber unser Zelt fest, bevor der nächste Sturm kommt.« Er ließ den Traktor anrollen, hielt aber noch einmal und rief Wastrom zu: »Räumen Sie den Geher weg, damit ich hinkann.« Wastrom bestieg den Bodengeher und legte den Rückwärtsgang ein. »Vorsicht!« schrie O'Brien. »Sie rammen den Iglu!« Wastrom brachte den Geher zum Stehen und starrte über seine Hinterbeine hinunter. Eine Fußplatte hatte sich in einer der Befestigungsösen des Iglus verfangen. »Sitzen Sie nicht herum!« rügte Green, als er herankam. »Lassen Sie nur, ich mache das selbst.«
Aber Wastrom war schon heruntergesprungen. Green schrie auf und hechtete zur Seite, als die Maschine wieder ansprang und anruckte. Wastrom fiel in den Schlamm und rollte sich weg. »Mein Ärmel! Ich – ich bin am Schalter hängengeblieben!« Der Geher erreichte seine Höchstgeschwindigkeit und setzte ein Bein vor das andere. Als sich das Halteseil straffte, setzte sich der ganze Iglu hinter der Maschine zu einem unaufhaltsamen Marsch über den Strand in Bewegung. Green griff hilflos nach einer Falte der Plastikhaut und versuchte die aufgeblasene Kuppel festzuhalten. Yardley rannte dem Bodengeher nach, aber es war klar, daß er ihn nicht einholen konnte. O'Brien fluchte, ließ den Traktor an und verlor eine halbe Minute, als er den großen Del Rouad-Schrank mit dem Kran herunterließ. Als er dann endlich wendete, konnte er nur noch dasitzen und zusehen, wie der Geher ins tiefere Wasser hinausstapfte. Ein Windstoß erfaßte den Iglu und trieb ihn an der Gehmaschine vorbei, bis das Halteseil endlich riß. Zehn Minuten später verschluckte ihn ein Regensturm auf See. Kommodore Green brach endlich das Schweigen. »Dem Himmel sei Dank für kleine Mädchen und Ersatzkapseln.« »Jetzt haben wir wenigstens Arbeit vor uns«, meinte O'Brien. »Was steht als erstes auf dem Programm?« fragte Yardley. Green sah zu Wastrom hinüber, der mürrisch abseits stand.
»Lynchen kommt wohl nicht in Frage. Dann können wir uns zum Bergungsgebiet begeben und den Ersatziglu holen.« »Es sei denn, Colonel O'Brien möchte die Del Rouad-Anlage ohne den Iglu aufstellen, damit wir eine Nachricht zur Erde durchgeben können«, sagte Yardley. »Das sollten wir tun«, gab der Colonel zu, »weil wir schon vierundzwanzig Stunden hier sind. Wir versuchen aber zuerst, den Ersatziglu aufzubauen.« Wastrom kam endlich herüber, die Hände gespreizt. »Ich konnte nichts dafür. Die Fußplatte vom Geher, wissen Sie –« Green griff nach dem Elektroniker, aber O'Brien hielt seinen Arm fest. »Setzen Sie sich bloß irgendwo hin und kommen Sie uns nicht in die Quere!« fauchte Green. Wastrom trat einen Schritt zurück. »Ich möchte ja nur helfen, wenn ich kann. Ich wollte vorschlagen, daß wir pausieren, bis wir uns wieder gefangen haben. Seit dreißig Stunden haben wir nicht mehr geschlafen.« Diesmal mußte O'Brien sich taktvoll vor Yardley stellen, der einer Explosion nahe zu sein schien. »Ich hole den Ersatziglu«, sagte der Colonel hastig. »Yardley, Sie lenken mich mit dem Jason-Schirm.« Er sah Green an. »Ken, ich glaube, wir können die KomPak-Relaisstation erreichen, wenn wir den Jason-Sender justieren und die Leistung steigern. Befassen Sie sich damit. Wastrom, das ist Ihr Gebiet. Helfen Sie ihm.« Yardley und Green gingen zur ›Argo‹. O'Brien machte sich auf den Weg zum Traktor und beobach-
tete, wie Green mit dem Gleichdrucklift zur Luke hinauffuhr. Yardley und Green – aber nicht Wastrom. Betroffen drehte er sich um. Der Elektroniker folgte ihm, einen ziegelgroßen Stein in der Hand. Als O'Brien ihn fragend anstarrte, warf er ihn in die Luft und fing ihn auf. »Ich finde, Sie sollten mich den Iglu holen lassen«, sagte er. »Schließlich bin ich ja für die Komplikation verantwortlich.« »Es läuft alles besser, wenn jeder sich an seine Aufgaben hält«, meinte O'Brien. Sie hatten den Traktor erreicht, als Green sich meldete. »Wastrom, kommen Sie herauf und –« »Colonel!« schrie Yardleys aufgeregte Stimme. »Die Versorgungskapsel-Signale! Sie sind alle weg!« O'Brien riß die Augen auf. »Prüfen Sie nach, Frank«, sagte er. »Vielleicht müssen Sie nur für Schwundausgleich sorgen.« »Nein, daran liegt es nicht. Ihre Pips habe ich ganz deutlich.« Wastroms Gesicht erstarrte plötzlich unter der Plastikhaube, als er auf die nahen Bäume zuging. »Guter Gott!« schrie er und umklammerte den Stein, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Sehen Sie sich das an!« O'Brien fuhr herum und taumelte erschrocken zurück. Männer! Nackte Riesen! Zwei Riesen – aus dem Wald tretend. Riesige braune Körper mit gewaltigen weißen Mähnen und verzerrten, grotesken Gesichtern, die entsetzlich und primitiv zugleich wirkten. Der erste trug eine lange Stange, auf der etwas Glänzendes, schrecklich Vertrautes steckte. Er stieß ein Gebrüll aus, das erst vom Donner übertönt wurde.
»Sie sehen menschlich aus!« rief Wastrom. »Und das Ding an der Stange – das ist Teil einer Kapsel!« Aus den Kopfhörern schrillten die Stimmen von Green und Yardley. Der erste Riese erreichte die gestapelte Ausrüstung. Er ließ den Stab fallen und hob einen Felsblock hoch, mit dem er die Geräte zermalmte. Wastrom kauerte mit O'Brien hinter dem Traktor und schleuderte seinen Stein. Er prallte ohne sichtbare Wirkung vom Rücken des Wesens ab. »Was ist es denn?« zischte Yardley. »Mindestens sieben Meter groß!« sagte Wastrom. »Und am Kopf wächst ein Horn! Bei beiden!« O'Brien zerrte an seinem Ärmel. »Wir müssen zur ›Argo‹ zurück!« Das Wesen blieb vor einem Stapel Sauerstoff-DifluoridZylinder stehen. Es bellte seinen Begleiter an, der zurückbellte. Sie gingen weiter zum Del Rouad-Gerät. Mit drei Hieben war der Metallschrank zerschmettert. O'Brien und Wastrom liefen in der Deckung einer Bodenerhebung zurück zur ›Argo‹. Der eine Riese deutete auf die fliehenden Gestalten, aber der andere schüttelte den Kopf und schwang eine Versorgungskapsel, um sie ins Meer zu schleudern. »Das war unser Sauerstoff!« ächzte Green. Wastrom erreichte das Gleichdruckkabel und befestigte den Gurt unter seinen Armen. Bevor er den Lift auslösen konnte, packte O'Brien das Kabel. Gemeinsam schwebten sie hinauf –
aber mit entsetzlicher Langsamkeit. Das brüllende Wesen stürmte voran, blieb aber noch einmal stehen, um die Kiste mit den Feldlaborgeräten hochzuheben und auf den Boden zu schmettern, bevor es wieder auf die ›Argo‹ zustürmte. O'Brien verlor beinahe den Halt, konnte sich aber noch rechtzeitig an Wastroms Gurten festhalten. Plötzlich gab es neben ihm eine Explosion, und Pulverdampf drang unter seine Kapuze. Wastrom hatte einen Revolver in der Hand und zielte auf den Riesen. Der Elektroniker feuerte noch zweimal, bevor ihm die Waffe entglitt. O'Brien war sicher, daß er mindestens einmal getroffen hatte, denn das Wesen heulte immer wilder. Das entmutigte es aber nicht. Der Riese hieb mit den Fäusten auf die Procyon-Stufe ein, bis die ganze Rakete zu wanken schien. O'Brien und Wastrom erreichten die Luke und wurden hineingezogen. Der Ausleger klappte automatisch hoch. »Guter Gott im Himmel!« sagte Green. »Das kann doch nicht wahr sein!« »Was sollen wir tun?« fragte Yardley. »Starten?« »Nicht, solange der Spica-Treibstoff noch unten ist.« Wastrom schaute hinunter. »Unfaßbar! Humanoides Leben auf der Venus.« Die beiden Riesen trafen sich mitten in der Verwüstung und bellten einander an, bis der Größere eine Kiste entdeckte, die er noch nicht zerstört hatte. Er schleuderte sie nach dem Raumschiff, verfehlte und rieb sich die Schulter, wo dunkle Flüssigkeit zu rinnen schien.
Er warf den Traktor um, kehrte zu seinem Begleiter zurück und ging mit ihm zum Wald, bis die Regenwand sie verbarg. Green atmete tief ein. »Nichts wie weg hier.« Er griff nach dem Ausleger. »Helfen Sie mir, Scott! Er ist eingeklemmt!« Die anderen starrten ihn an, als in vierhundert Meter Entfernung ein Blitz in den Boden jagte. »Die Blitzsperre!« sagte der Kommodore. »Der Riese hat sie herausgerissen! Wenn die Treibstoffladung der Procyon-Stufe getroffen wird, möchte ich nicht in der Nähe sein!«
4 Als Zu-Bach wach wurde und sich umdrehte, kehrte K'Tawa aus der Meditation zurück. Der Alte vollführte die Streckübungen und blickte zu seinem Verwandten hinüber. Zu-Bach setzte sich auf und rieb seine Schulter. »Es tut nicht mehr weh.« K'Tawa quaste die Haut um die Wunde und erfuhr, daß der kleine Fremdgegenstand herausgedrungen war. Die Haut war in Heilung begriffen. Zu-Bach bewegte sein Quashorn hin und her. »Da ist es – das schmerzende Ding.« Er hob ein kleines Stück harter Materie vom Boden auf. K'Tawa scheute zurück. »Ein Haßkörnchen. Wirf es weg.« Zu-Bach trat an die Wand, öffnete den Regenschild und warf es hinaus.
»Laß auf«, sagte K'Tawa. »Die Luft ist so schlecht, daß L'Jork hier seine Zeremonie der Heißen Zungen sogar ohne Hilfe der Meditatoren durchführen könnte.« Zu-Bach sah ihn forschend an. »Was machen die lebenden Präsenzen jetzt?« »Ich bin mir nicht so sicher, ob es noch lebende Präsenzen gibt. Bald, nachdem du eingeschlafen bist, gab es einen gewaltigen Krach. Als ich in ihre Richtung quaste, begegnete ich Hitze und Licht, das stärker war als Tausende Zungen.« »Und die Präsenzen?« »Wie gesagt, ich bin nicht sicher, ob du dich mit ihnen noch zu befassen brauchst.« »Aber es werden noch mehr kommen. Das haben wir beide erquast.« »Wenn die Zeit kommt, wirst du schon damit fertig werden, vielleicht sogar ohne meine Hilfe.« »Ach, du glaubst nicht, daß ich die Gefahren der leblosen Präsenzen selbst quasen kann.« »Nein, nein, ich setze dich nicht herab«, sagte K'Tawa. »Ich versuche dir nur klarzumachen, daß du mich zu einer Zeit in Anspruch genommen hast, wo ich mir alle Mühe geben sollte, die Achte Phase der Meditation zu erreichen.« »Ich brauche deine Hilfe nicht mehr«, sagte Zu-Bach aufgebracht. »Du denkst, ich hätte die Gefahr in der Höhle an der See nicht gequast, wie? Doch! Und ich werde etwas gegen alle die Gefahren tun, die wir zurückgelassen haben!« »Wie du willst.« Der Hauptschild der Hütte öffnete sich, und Exemplant L'Jork trat ein.
»Ich quase Widerstreit«, sagte er. »Stimmt etwas nicht?« »Zu-Bach hat noch immer nicht genug«, erklärte der Alte. »Er möchte noch mehr von den verbleibenden Präsenzen töten.« »Na hör mal, Junge«, mahnte L'Jork. »Der Materialismus hat seinen Platz, aber –« »K'Tawa wird Ihnen bestätigen, daß noch mehr Präsenzen in den Oberen Endlosigkeiten unterwegs sind.« »Unterwegs – von woher?« »Das weiß ich nicht. Aber wenn sie ankommen, wird es neue Gefahren geben. Und danach vielleicht noch mehr. Und ihr sitzt herum und meditiert!« Er drehte sich auf dem Absatz um und schritt zur Hauptöffnung. »Sei vorsichtig, Zu-Bach«, rief ihm K'Tawa nach. »Unterschätz die Gefahr in der Höhle nicht.« Als er gegangen war, sagte L'Jork: »Kommt er zurecht?« »Das nehme ich an. Er geht hauptsächlich deshalb zurück, weil er seinen Speer vermißt.« »Vielleicht solltest du auch gehen.« »Alles hat seine Grenzen, außerdem stehe ich auf der Schwelle zur Achten Phase der Meditation!« »Phase Acht!« sagte L'Jork beeindruckt. »Was Sie nicht sagen!« Mit unverhohlenem Neid fügte er hinzu: »Glauben Sie, daß Sie tatsächlich Ursprung und Sinn in ihrer Ganzheit erkennen können?« »Möglich.« »Dann tragen Sie keine Verantwortung nach dem Kode der Verwandtschaft. Ich lasse Sie allein, damit Sie sich an die Arbeit begeben können.«
Diesmal vermochte K'Tawa sich schnell zu versenken. Er jagte dem Begriff der Oberen Endlosigkeit nach und suchte nach einem Verständnis der Schwärze. Welcher Natur war sie? Wie weit dehnte sie sich aus? Tausende körperlose Erinnerungen tauchten in ihm empor, narrten ihn aber nur, bis – Es hatte einmal eine Frau gegeben – ›Vir-Ela‹. Sie war jung und reizvoll gewesen, und – K'Tawa schob die privaten Dinge verärgert weg. Vir-Ela hatte einmal in die Schwärze hinaufgeblickt – in die Schwärze der – ›Nacht‹? Und in dieser Schwärze waren Myriaden … das Wort entzog sich ihm, aber er begriff wenigstens seinen Sinn … Myriaden winziger, funkelnder Lichtpunkte, vergleichbar den Heißen Zungen, aber punktgroß, genau umrissen und hell, unbeweglich in ihren – ›Himmels‹?-positionen. Die Lichtpunkte bewohnten die Schwärze, und es war die Schwärze, die Endlos war, nicht die Ewigen Wolken! Er erfuhr verblüfft, daß die Wolken weder Endlos noch Ewig waren. Ihr Dasein war, gemessen an den riesigen Zeitspannen der grellen, tanzenden Lichtpunkte, kurz, und sie reichten nicht weit, verglichen mit dem ungeheuren Plan der Dinge dahinter. Die Erinnerungsbrücke zur Vir-Ela-Generation trug ihn einen Schritt weiter. Vir-Elas Mutter, ›Cel-Aroa‹, hatte für die Zukunft großartige, umfassende Bilder von Einzigland aufgezeichnet. Aber es war nicht Einzigland! Der Alte wußte, daß Einzigland, verglichen mit der Sorgenvollen See, nur ein Fleckchen Schlamm und Stein war. Und das Land, woran Cel-Aroa gedacht hatte, war riesig und fast undurchbrochen gewesen, nur
hier und dort zeigten sich kleine Gewässer. Nun gelangte er vielleicht zum Ursprung. Möglicherweise drang er sogar so tief ein, daß er in die Zeit vor dem geheimnisvollen Großen Debakel gelangen mochte! Die Vorstellungen, die er empfing, waren beinahe unfaßbar. Cel-Aroas Volk war an Zahl so umfangreich gewesen, wie das Land an Fläche. Und auf diesem Riesenland gab es – was? Er empfing die Vorstellung von enormen, schimmernden Hütten. Nur waren es keine Hütten, denn sie erfüllten weitaus kompliziertere Funktionen als die jetzigen Wohngebäude. Und diese glitzernden Strukturen waren an vielen Orten nebeneinander aufgetürmt gewesen, voll und umgeben von zahllosen Personen. Und sie waren so anders gewesen! Kein Quashorn zu sehen. ›Das kam später‹, schien die Stimme Y-Lem-Ahs aus der späteren ›Insel‹ Generation zu spotten. Und da war etwas an ihrer Größe und an ihren Überzeugungen, ihrem Lebensstil. Aber was? Jetzt hatte er es! Diese illustren Ahnen, diese unvergleichlichen Geister, mit denen alle Meditierenden in Kontakt zu gelangen versuchten – sie selbst waren nicht dem Geistigen zugeneigt gewesen! Nicht im mindesten. Sollte er daraus schließen, daß der Asketische Aufstieg erst nach dem Großen Debakel entstanden war? Was war eigentlich das Große Debakel? Aber nichts stieg aus den Erinnerungen hoch. Für den alten K'Tawa stand noch ein weiter Weg bevor. Er sehnte sich nach der Macht und der Weisheit der quashornlosen Ahnen aus der fernen Vergangenheit, selbst wenn alle diese Attribute nur materialistisch sein mochten.
Zwanzig Meter vom Höhleneingang entfernt warf sich O'Brien im Halbschlaf ruhelos hin und her. Sein Stiefel traf einen Sauerstoffzylinder, und augenblicklich war er hellwach. Er setzte sich betäubt auf und löste die Schnur, mit der die Atemkapuze am Hals festgebunden war. Sobald er sich aufrichtete, bestand keine Gefahr mehr, daß der Sauerstoff vom Kohlendioxyd der Venus verdrängt wurde. Leise schob er den Sauerstoffzylinder an seinen Platz zurück. »Nicht mehr viele da, was, Scott?« flüsterte Green unerwartet. »Für die wenigen, die wir noch haben, können wir uns bei Yardley bedanken«, sagte O'Brien, nachdem er sich vergewissert hatte, daß auch sein Funkgerät abgeschaltet war. »Als das Wesen sich durch den Stützpunkt Alpha gewütet hatte, begriff Frank als erster, worum es ging. Wenn er nicht sein Leben aufs Spiel gesetzt und die Zylinder aus der ›Argo‹ geworfen hätte, wären wir nicht mehr am Leben.« Dabei war der Sauerstoffvorrat einfach unzureichend. Und der Zug Beta würde erst in fünf Tagen ankommen. Green schlug sich auf das Knie. »Was machen wir jetzt – suchen wir im Bergungsgebiet alles ab, was wir noch brauchen können?« »Da finden wir nichts.« »Glauben Sie, daß der mit dem Einhorn unsere ganzen Kapseln demoliert hat?« »Sie haben ja gesehen, was er an seiner Stange trug.« Yardley war wach geworden. Er kam herüber und ließ sich auf die Hacken nieder. »Mein Gott!« sagte Green auffahrend. »Zug Beta – den hatte
ich ganz vergessen!« »Ich nicht«, meinte O'Brien düster. »Was sollen wir tun?« fragte Yardley. »Warnen können wir sie nicht. Das Wesen hat unsere beiden Del Rouad-Anlagen kaputtgeschlagen.« »Ich weiß nicht«, gab der Colonel zu. »Es sei denn – ja, es besteht eine Chance, sie zu erreichen – im letzten Augenblick.« Yardley starrte ihn erwartungsvoll an. »Wenn sie nichts von uns hören«, fuhr O'Brien fort, »schalten sie auf dem Weg herunter auf unsere Sprechfrequenz hier.« »Dann können wir sie warnen!« »Ja. Es gibt aber zwei Nachteile. Einmal wird es zu spät sein, ihre Landung noch zu verhindern – und sie können nicht wieder starten, bis sie ihre Spica-Treibstoffkapseln geborgen haben.« »Und der andere Einwand?« fragte Green. »Wird Ihnen nicht gefallen. Der Sauerstoff, den wir noch haben, reicht für uns vier noch zwei Tage. Wenn wir Beta überhaupt eine Warnung zukommen lassen wollen, müssen wir auf irgendeine Weise dafür sorgen, daß einer von uns fünf Tage lang durchhält.« Niemand sagte etwas. O'Brien schaute aufs Meer hinaus. »Wir müssen uns nicht gleich entscheiden.« »Wann dann?« fragte Green. »Wenn vier von uns vierundzwanzig Stunden lang Sauerstoff verbrauchen, bleibt etwa noch gerade soviel, daß einer bis zur geschätzten Ankunft von Beta aushalten kann.« Green ging ein paarmal auf und ab.
»Nur gut, daß Wastrom nicht wach ist und das hört.« »Ach, Wastrom ist in Ordnung«, meinte Yardley. »Es brauchte die Riesen, damit er zu sich kam. Haben Sie gesehen, wie er reagierte? Er ging auf einen mit dem Stein los und hat ihn mit dem Revolver verwundet.« Green und O'Brien wechselten einen Blick, dann sagte der Colonel: »Tut mir leid, daß ich Sie enttäuschen muß, Frank. Er ist wohl eine Weile zu sich gekommen, aber das hat nicht lange angehalten. Sie hätten es selbst bemerkt, wenn Sie länger wach gewesen wären.« »Er brach zusammen«, ergänzte Green. »Brüllte, daß wir Gottes Gesetze überträten, und dafür kämen die Riesen als Strafe. Er schlief dann wimmernd ein.« Yardley wirkte tief enttäuscht. »Mich beschäftigt, wieso er einen Revolver mitgebracht und wo er ihn versteckt hat«, sagte O'Brien. »Wenn Sie soviel Angst vor der Venus gehabt hätten wie er, wären Sie auch mit einer Waffe hergekommen«, sagte Yardley. »Er hat seine Neurose aber erst vor etwa einer Woche gezeigt.« Green starrte O'Brien an. »Wo ist der Revolver jetzt?« »Ich habe ihn. Sie glauben doch nicht, daß ich ihn zurückgebe.« »Hört mal!« sagte Yardley scharf. O'Brien hörte es auch – ein Klirren von Metall auf Metall, aus der Richtung des demolierten Stützpunkts. Es hörte sich so an, als marschiere jemand durch ein Feld von Blechbüchsen. »Die Riesen sind wieder da!« schrie Yardley.
»Ruhe!« zischte O'Brien. »Sie wissen nicht, daß wir hier sind.« Green kreuzte Zeige- und Mittelfinger. »Vielleicht geben sie sich diesmal mit dem Spica-Treibstoff ab.« Yardley grinste. »Unsere Sorgen sind vielleicht vorbei, wenn der Kerl die Sauerstoff-Difluorid- und die Diobran-Behälter aneinanderhaut!« »Das wäre so, als würde eine zweite Argo explodieren«, versicherte Green. »Schöne Wünsche«, meinte O'Brien. »Für mich ist es aber mehr als Zufall, daß er beim erstenmal den Spica-Treibstoff bewußt ausgelassen hat – die Gemini-Kapsel mit den Sprengladungen auch.« »Sie wollen doch nicht behaupten, das Ding habe gewußt –« In dem unterirdischen Bach hinter ihnen platschte es. Als O'Brien herumfuhr, stand Wastrom vor den Sauerstoffflaschen und griff nach der nächsten. »Es kommt zurück!« brüllte er. »Könnt ihr es nicht hören? Es läßt uns nicht in Ruhe, bis es alles zerstört hat!« Wastrom trat an den Bach und schwang den Zylinder. Bevor er ihn hineinschleudern konnte, hechtete Green heran und riß ihn zu Boden. »Wir müssen alles vernichten!« kreischte Wastrom. »Wir müssen tun, was es verlangt!« »Bringen Sie ihn zum Schweigen!« rief Yardley. »Bevor er uns ein Dutzend Riesen auf den Hals hetzt.« Green traf den Elektroniker mit der Faust im Gesicht, als dieser eben wieder aufschreien wollte. Der Kommodore kniete
neben Wastrom nieder, um sich zu vergewissern, daß die Atemkapuze nicht beschädigt war. »Zurück!« zischte Yardley. »Zurück! Das Ding ist am Eingang!« O'Brien hörte die schweren Atemzüge des Riesen, wie das Zischen eines Sicherheitsventils an einer Dampfmaschine. Er zog Wastroms Revolver aus der Tasche. Ein großer Schädel schob sich wutschnaubend in den Höhleneingang. Als die Schultern steckenblieben, zog sich der Riese aufbrüllend zurück. Dann drang ein gigantischer Arm herein, und eine krallende Hand bewegte sich hin und her. Der Revolver bellte dreimal, als O'Brien auf den Bizeps des Wesens feuerte. Eines der Geschosse streifte den Arm. Der Riese schrie und zuckte zurück. O'Brien folgte ihm vorsichtig. »Aufpassen, Scott!« rief Green. O'Brien trat zögernd hinaus und beobachtete, wie das titanenhafte Wesen sich zurückzog. »Er sucht das Weite«, sagte er. »Aber er kommt wieder. Das steht für mich fest«, meinte Yardley. »Das würde er nicht, wenn wir ein paar Waffen hätten«, sagte Green. »Unser Venusier scheint nicht leicht zu verwunden und zu erschrecken zu sein«, gab der Colonel zu. »Wenn wir einen von den Kerlen töten könnten, würden die anderen sicher flüchten.« Green wagte sich weiter hinaus, wanderte am Strand entlang und wandte sich dem Stützpunkt zu. »Ken«, rief ihm O'Brien nach. »Wohin wollen Sie?«
Der andere blieb stehen. »Vielleicht gibt es nur die beiden, oder auch einen ganzen Schwarm. Wir müssen wissen, wie die Aussichten sind. Ich habe vor, das festzustellen.« »Ken, kommen Sie zurück!« O'Brien wollte ihm nach, aber Yardley hielt ihn fest. »Wollen Sie wirklich so ein Wesen umbringen, Colonel? Ich glaube, ich weiß, wie das geht.« »Wie würden Sie das anstellen, Frank?« »Eine Falle stellen.« Der Atomtechniker deutete auf das dick isolierte Kabel, das sich vom Collard-Reaktor her über den Strand schlängelte. »Unser Traktor ist nicht beschädigt – nur umgeworfen. Wir können ihn mit seiner eigenen Winde aufrichten, wenn wir davon ausgehen, daß der Venusier ihn, falls er zurückkommt, wieder umwerfen wird wollen. Dann steht er aber auf Plastiktüchern, und das Starkstromkabel da ist an das Traktorchassis angeschlossen.«
5 K'Tawa machte sich Sorgen um Zu-Bach. Er erquaste seinen jugendlichen Verwandten, als er die Küstenebene verließ und in den Wald eindrang. Zu-Bach wirkte erregt. Der Alte richtete sein Quashorn auf die Stelle. Der Junge schien wieder von den kleinen Präsenzen getroffen worden zu sein! K'Tawa merkte auf. Nicht alle lebenden Präsenzen waren am Ufer. Einer folgte heimlich Zu-Bach, von Baum zu Baum schlei-
chend. Zu-Bach stieg einen Hügel hinauf, noch immer gefolgt von der Präsenz. Auf der anderen Seite legte sich die Präsenz auf den Boden und starrte hinunter ins Tal, wo das Dorf lag, dann stand sie auf und kehrte um. Zu-Bach hatte inzwischen das Dorf erreicht. K'Tawa verschob seine Rückkehr in die Meditation und hörte sich an, wie sein Verwandter einige Meditatoren für seine Erlebnisse zu interessieren versuchte. Zu-Bach hatte jedoch das Fest der Inneren Betrachtung vergessen. Niemand hatte Zeit für ihn. Er schritt zur nächstgelegenen Hütte und legte sich hin. K'Tawa beschäftigte sich wieder mit seinen Betrachtungen. Weshalb war die Horizontale Endlosigkeit – nein: die in sich selbst zurückgewölbte Oberfläche – jetzt fast nur Wasser, während sie einst praktisch nur Land gewesen? Der Begriff ›Nacht‹, den er von Vir-Ela hatte – durfte er davon ausgehen, daß sein Gegenstück ›Tag‹ war? Und was hatten die trocken-naß, Nacht-Tag-Dichotomien mit dem Großen Debakel zu tun? Da kam, von einer fernen Ahnenquelle, eine enorme Andeutung. Es gab eine dritte Dichotomie: ›verbraucht-giftig‹, auf die Luft bezogen. K'Tawa wand sich protestierend. Es war eine unfaßbare Paarung! Dichotomien bestanden aus Gegensätzen, aber hier war eine mit Bestandteilen, die beinahe ergänzend wirkten. ›Reingiftig‹ wäre etwa logisch gewesen, wie auch ›rein-verbraucht‹. Aber – ›verbraucht-giftig‹? Er wandte sich von dem Unverständlichen ab, als sich ein
neues Glied in der Ahnengedächtniskette bildete. Diesmal waren es Sinneseindrücke eines Mannes, der sich ›Dis'Pauz‹ genannt hatte. Sie schienen aus der Zeit unmittelbar vor dem Großen Debakel zu stammen. Die in sich selbst zurückgewölbte Oberfläche hatte früher einen anderen Namen gehabt, erfuhr er – ›Die Welt‹. Überdies war ›Die Welt‹ in der Oberen Endlosigkeit nicht allein. Es gab andere Welten – in der ungeheuren Schwärze schimmernd! K'Tawa zuckte beinahe aus der Meditation empor. Das erklärte das Vorhandensein der kleinen Präsenzen! Sie waren von einer anderen ›Welt‹ gekommen! Und die dem Riesenland seiner Ahnen nächstgelegene besaß eine Tag-NachtDichotomie wie Riesenland vor dem Debakel auch! Der Alte wurde von einer Flut von Begriffen und Eindrücken überschwemmt. »Nacht-Tag. Naß-trocken. Verbraucht-giftig. Noch ein polares Paar: Schwärze-Licht, im anderen als üblichen Sinn. Funkelnde Lichtpunkte und Die Welten. Quashornlose Ahnen. Riesenland – Festland – Insel – Einzigland – Nacht war offenkundig der Gegensatz von Tag, wie feucht jener von trocken. Und Schwärze von Licht. Eine ganz rationale, beinahe beruhigende Erinnerung von Dis'Pauz stellte sich ein: Da war die Endlose Schwärze mit ihren schimmernden Welten und ihren – ›Lichtbringern‹ war der Ausdruck, der K'Tawa dafür einfiel. Und tief in der Schwärze sah der Alte eine riesige, weiße, funkelnde Wolke – seltsam geformt und dünn. Und scheu dazu, denn sie verbarg ihren langen, dünnen ›Schwanz‹? vor dem
Lichtbringer, mit dem sie zusammengehörte. K'Tawa sah auch, daß Dis'Pauz sich vor der Wolke aus der Schwärze entsetzte, er und die Milliarden quashornloser Personen. Hatte die Wolke etwas mit dem Großen Debakel zu tun? K'Tawas Meditation wurde in diesem Augenblick mühsam und strapaziös, so daß sie bald in Schlaf überging. Als er wach wurde, quaste er, daß Zu-Bach die andere Hütte verlassen hatte. Er befand sich im Wald und kehrte zur Hütte zurück. K'Tawa erquaste die kleinen Präsenzen in der Höhle, wo sie sich ausruhten, nachdem sie – nachdem sie – Der Alte erhob sich zitternd. Zu-Bach hatte recht gehabt: Sie erwiesen sich als Fallensteller. Sie hatten eben eine raffinierte Falle aufgebaut, die sofort tötete! Und das Opfer sollte Zu-Bach sein. Der Alte stürmte aus seiner Hütte und hetzte durch den Wald. Wie bösartig die kleinen Präsenzen waren! Bis jetzt hatte er gehofft, daß sie nicht ganz so böse waren, wie es den Anschein hatte. Seltsamerweise war es nicht der eine, der heimtückisch hatte töten wollen, sondern nun bemühten sich die anderen drei, Zu-Bach das Leben zu nehmen. K'Tawa brach mit schmerzender Lunge aus dem Wald. Sein junger Verwandter stand unsicher am Ufer und starrte auf die sorgenvolle See. Unmittelbar vor ihm war die Falle! K'Tawa raste auf ihn zu und erquaste die vier Präsenzen, die erwartungsvoll von ihrer Höhle aus zusahen. Er schrie: »ZuBach! Vorsicht vor dem Ding mit der Falle!«
Aber der andere sah ihn nur verächtlich an und trat vor. Eine der lebenden Präsenzen lief plötzlich mit rudernden Armen aus der Höhle. Der Alte hatte Zu-Bach beinahe erreicht, aber es war zu spät, denn der Junge streckte den Arm aus, um die Falle wegzuschieben. Eine seltsame Art von Blitz umspielte seine Hand, wo sie das Ding berührt hatte, und er fiel zu Boden. Die erregte Präsenz versuchte entsetzt wegzulaufen, aber ZuBachs massive Brust stürzte genau auf das kleine Wesen. Und K'Tawa, der stehenblieb, weil er seinen Verwandten nicht mehr retten konnte, erquaste, daß die beiden Lebewesen, Zu-Bach und einer seiner Quäler, augenblickliche und endgültige Geistige, den Rückzug erreicht hatten. Der Alte saß mit gesenktem Kopf im Sand, von traurigen Gedanken erfüllt. Er blickte zur Höhle hinüber. Die drei Präsenzen hatten sich ins Innere zurückgezogen, und die Vorstellung intelligenter Wesen in einer Höhle löste beinahe augenblicklich Meditation aus. Alles wies darauf hin, daß auch seine Vorfahren einmal unter der Oberfläche gelebt hatten. Aber warum? Weil sie, kam die Erklärung von einer undeutlichen Quelle aus ferner Vergangenheit, draußen an der Luft erstickt wären. Der ganze Himmel schien sich – über Nacht? – mit erstikkendem Stoff gefüllt zu haben. Und anderes war dazugekommen – Nässe, der die Trockenheit zum Opfer fiel, gewaltige Zuckungen von Riesenland, totale Zerstörung der Tag-Nacht-
Dichotomie. Hinfort würde – Ewiger Tag sein. War dies das Große Debakel, die Schreckliche Katastrophe? Quashornlose Leute in Höhlen. Höhlen, deren Luft sie atmen konnten, weil die riesigen Gänge und Kammern damit gefüllt waren. Höhlen, in denen die Handvoll Leute und ein paar Tiere überleben konnten. Die Luft war dort frisch, würde es aber nicht lange sein – nur einige Generationen lang. Durch von unten eindringendes Wasser wurde sie bei den oberen Öffnungen hinausgetrieben. Teil des Debakels? Bestand eine Beziehung zu der Riesigen Wolke, die aus der Äußeren Schwärze gekommen war? Es gab keine klare Antwort. Der Alte zog sich aus der Meditation zurück, weil er die Rückkehr der kleinen Präsenzen zur Höhlenöffnung erquast hatte. Eigentlich mußte er zugeben, daß sie neue Kanäle für seine Suche nach Ursprung und Sinn geliefert hatten. Sie waren seinen fernen Ahnen vergleichbar. Aber welcher Unterschied! So bösartig! Selbst jetzt noch wollten sie töten, zerstören, vernichten. Der Alte kehrte verwirrt um. Die anderen würden von ZuBachs Schicksal erfahren müssen, wenn sie es noch nicht erquast hatten. Green verließ vorsichtig die Höhle, schaute sich um, ging zurück. »Er ist fort!« »Das nützt uns gar nichts«, meinte O'Brien achselzuckend, »außer wir haben etwas Achtung vor Zug Beta erreicht, sobald
er landet.« »Armer Wastrom«, sagte Yardley und blickte auf den hingestürzten Riesen. »Wenigstens ist er ehrenvoll umgekommen.« »So?« »Was meinen Sie?« »Nichts. Ich addiere nur einiges.« »Es sah doch so aus, daß Wastrom hinauslief, um den Riesen anzulocken, als er nicht auf die Falle hereinfallen wollte.« Green und O'Brien starrten einander an. »Er hat aber doch gewinkt, nicht?« sagte Green. »Und ich hatte den Eindruck, daß er um den Traktor herumlaufen wollte«, ergänzte O'Brien. »Kann man denn eine Neurose an- und abschalten? Er war von Todesangst besessen. Kann so jemand hingehen und sich heroisch opfern?« »Wastrom konnte tatsächlich an- und abschalten«, sagte Green. »Er war überhaupt nicht neurotisch, als die Venusier angriffen. Er war sachlicher als wir.« Sie sahen einander an. »Warum hat er den Revolver vor uns versteckt?« »Also, wissen Sie!« sagte Yardley. »Wollen Sie vielleicht behaupten, daß er ihn gegen uns gebrauchen wollte? Warum hat er das dann nicht unterwegs im Raumschiff getan?« »Weil er ihn da noch nicht hatte«, erwiderte O'Brien. »Und wo bekam er ihn dann her?« »Er muß in einer der Kapseln versteckt gewesen sein.« »Aber auf der Erde ist er an sie gar nicht herangekommen! Sie sind doch alle weitab vom Kap beladen und gestartet worden.« »Das zeigt, daß Wastrom nicht alleine stand«, meinte O'Brien.
Yardley schüttelte fassungslos den Kopf. »Nein, es waren nicht die Psychiater, die versagt haben, sondern die Sicherheitsdienste«, sagte Green. »Die Neurose war also nur gespielt?« »Aber sehr gut. Er wußte, daß es zu Beginn am riskantesten war. Er mußte sich eben auf seine Eingebung verlassen. Bis die Riesen auftauchten, war er seines Erfolges gar nicht sicher.« »Der Bodengeher!« sagte Green plötzlich. »Es hätte mehr solcher Unfälle gegeben.« »Das glaube ich nicht. Er hätte die Waffe gebraucht, sie aber vermutlich erst bekommen, kurz bevor die Riesen auftauchten.« »Und da verlor er sie wieder. Er sah in den Venusiern aber eine Möglichkeit, sein Ziel zu erreichen – nicht nur gegen Alpha, sondern auch gegen Beta und Gamma und alles andere, das wir herschicken wollten.« »Aber er hat doch auf den ersten Riesen geschossen!« »Ganz impulsiv. Später sah er ein, daß er alles tun durfte, nur sie nicht abschrecken. Deshalb gab er seine Neurose wieder auf und wurde am Ende zum Helden – damit er den Venusier retten konnte.« Green holte drei neue Sauerstoffzylinder und verteilte sie. »Jetzt wissen wir, was der Kreml sich vorgestellt hat.« »Im Endeffekt müssen wir uns bei Wastrom aber noch bedanken«, wandte O'Brien ein. »Wie das?« »Er hat den nächsten logischen Schritt für uns gezeigt. Er vermutete, daß wir die Venusier erschrecken und davon abhalten mochten, den Zug Beta anzugreifen.« »Wir müssen also auf die Kerle losgehen. Frank, welche Ne-
benfunktion hat der Collard-Reaktor?« »Wenn alle Energieerzeuger brauchbar wären, und wir eine Atomexplosion für Bauzwecke brauchten, könnten wir den Collard zu einer Kettenreaktion bringen.« »Genau das machen wir – nachdem ich das Ding auf den Traktor gepackt und ihn zu dem Dorf geschafft habe.« Green stieß einen Freudenruf aus, und Yardley schlug ihm auf die Schulter. »Wir haben aber kein Funkgerät, um ihn auszulösen!« sagte Yardley nach einer Pause. »Dann muß es eben mit der Hand gemacht werden.« »Gut«, sagte Yardley. »Aber das ist meine Sache.« »Nein, die meine«, widersprach Green. O'Brien zögerte. »Hier spielt keiner den Helden«, erklärte er schließlich. »Für euch wird es noch verzwickter. Ihr müßt entscheiden – und das in den nächsten zwölf Stunden – wer zur Stelle sein soll, wenn Zug Beta eintrifft.« Als K'Tawa das Dorf erreichte, herrschte eine Erregung, wie er sie noch nie erlebt hatte. Exemplant L'Jork und fünf – er zählte zweimal nach – fünf Meditatoren waren wach und aktiv, trotz der Schlafenszeit. Zwei schritten neben dem Hauptblock auf und ab, während der Exemplant und die drei anderen vor der Trockenhütte Hof hielten. L'Jork eilte ihm entgegen. »Ich fürchte, wir haben uns zu ausschließlich mit dem Geistigen befaßt, K'Tawa. Wir hätten auf den Jungen hören sollen, nicht wahr?«
»Wäre Zu-Bachs Tod zu verhindern gewesen?« fragte LankTro. »Ich habe es versucht. Vielleicht hat L'Jork recht. Wir hätten mehr auf ihn achten sollen, aber – was habt ihr vor?« »Wir werden uns mit den lebenden Präsenzen befassen. Zuerst brauchen wir aber Vorphasenhilfe von den anderen Dörfern.« »Ich weiß nicht, L'Jork. Ich bin mir nicht sicher, ob der Strom der Eindrücke in Phase Acht nicht auf einen tieferen Sinn deutet.« »Was die Präsenzen angeht?« »Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Ich muß mehr meditieren.« »K'Tawa, wir achten diese Leistungen, aber ist es nicht merkwürdig, daß in dem Augenblick, wo quashornlose Leute der Vergangenheit in den Meditationen erscheinen, auch quashornlose Präsenzen bei uns auftauchen?« »O nein. Der Zufall wäre zu weit hergeholt. Aber es könnte umgekehrt sein.« »Was raten Sie?« fragte Rin'Ao. »Gar nichts. Ich möchte meditieren.« »Sie können meditieren, soviel Sie wollen«, sagte der Exemplant steif. »Ich habe meine Entscheidung schon getroffen.« K'Tawa saß in seiner Hütte und meditierte über die Wolke, die aus der Endlosen Schwärze gekommen war. Sie hatte bestanden aus – aus – Die Quelle, aus der die Antwort kam, war so obskur wie die Mitteilung selbst. Die Wolke hatte offenbar aus steinharten
Wasserstücken bestanden, aus zahllosen Klumpen. Und aus – ›fester‹? – giftiger Luft. Nein, nicht ganz. Aber sie war hart gewesen und verwandelte sich bei Erwärmung zuerst in erstikkende, dann in nichterstickende Luft. Wie war das möglich? Er konnte es nicht begreifen – außer, der Wandel lag in der atmenden Person, nicht in dem geatmeten Stoff! Plötzlich erhielt er von einem anderen fernen Ahnen Eindrücke übermittelt, von einem ›Fos-Batl‹. Er sah angstvolle Leute an der Öffnung einer Höhle, frische Luft strömte um sie, und vor ihnen war die Linie, bis zu der man gehen konnte, ohne zu ersticken. Jenseits befand sich die giftige Luft, wie es schien. Und davor die frische. K'Tawa war überzeugt davon, daß sich inzwischen der Sinn umgekehrt hatte. Was einst ›verbraucht‹ oder ›giftig‹ gewesen, war jetzt ›frisch‹. Manche von den Leuten sammelten große, durchsichtige Säcke, die unter dem Boden wuchsen, bliesen sie auf und schnürten die Öffnungen um ihre Hälse zu. K'Tawa fiel ein, daß die lebenden Präsenzen Ähnliches taten. Damit konnten die Leute draußen Pflanzen einsammeln. Der Alte öffnete seinen Geist einem anderen Vorfahren, BelUri aus einer späteren Höhlengeneration. Sie beobachtete ihren kleinen Sohn, der hinter der Linie spielte. Bel-Uri war traurig, weil sie wußte, daß ihr Kind giftige Luft zu atmen vermochte, daß es eines Tages zu den Leuten und Tieren gehen würde, die diese Linie schon überschritten hatten. Der Sinn wirkte hier ganz klar: Das Schicksal hatte den Leuten mit der Zeit die Möglichkeit gegeben, die neue Luft zu
atmen, die aus der Wolke stammte. »K'Tawa, wach auf und quase zur Küste!« Der Alte kehrte widerwillig aus der Meditation zurück und öffnete die Augen. L'Jork stand vor ihm. »Schnell!« sagte der Exemplant. K'Tawa nahm die Annäherung der lebenden Präsenz auf dem Kriechenden Ding wahr. Und er spürte die Schreckliche Gefahr. Colonel O'Brien lenkte den Traktor zwischen den Felsblöcken dahin und erreichte den Wald. Am Kran hing der CollardReaktor und baumelte bei jeder schwankenden Bewegung. »Gut, Scott – ich kann Sie nicht mehr sehen«, tönte Greens Stimme aus dem Kopfhörer. »Sie sind auf sich gestellt.« »Geradeaus in den Wald?« »Ja. Sie sehen bald einen Bach –« »Durch den fahre ich eben.« »Dann kommen kurze, schmale Bäume mit Blättern, die wie schwarze Spinnweben aussehen.« »Roger. Ich bin da. Ich sehe einen Pfad.« »Genau. Dem folgen Sie. Und – bleiben Sie in Verbindung, Scott.« »Gemacht.« O'Brien schaute zu dem schwarzen, wirbelnden Himmel hinauf und sah ein paar Blitze in den Wald zucken, aber bald verhüllten die Regengüsse sogar die Blitze. Er blickte auf die Kabel, von denen eines an der Lenksäule schon geerdet war. Das andere lag neben dem offenen Batteriekasten und brauchte nur angeschlossen zu werden.
Wieder konnte er kaum durch die Kapuze sehen. Er wischte sie ab und atmete keuchend, bevor er die Kapuze wieder herunternahm. »Klappt es, Scott?« sagte Green. »Ich habe die Bäume hinter mir.« »Einfach geradeaus weiter. Rechts muß ein Sumpf sein.« »Roger.« »Dann kommt links ein Hügel.« »Den sehe ich. Der Regen läßt ein bißchen nach. Ein Hügel ohne Baumbestand?« »Genau. Von dort aus sehen Sie das Dorf.« »Gut.« »Scott«, sagte plötzlich Yardley voll Erregung. »Ich kann das nicht zulassen – solange es noch einen Ausweg gibt.« O'Brien seufzte. »Ich hatte gehofft, daß ihr das erst später merkt.« »Sie wissen Bescheid?« »Ja, ich habe daran gedacht. Meine Aufgabe ist aber wichtiger.« »Wovon redet ihr?« meldete sich Green. »Wir hätten einen kleinen Teil der Höhle isolieren können«, sagte O'Brien. »Bei der Leistung des Reaktors wäre es nicht schwer gewesen, einen elektrolytischen Prozeß in Gang zu setzen. Das hätte Sauerstoff erzeugt. Vielleicht so viel, daß wir durchgehalten hätten.« »Klingt prima. Wir könnten uns halten, bis Zug Beta eintrifft, und den Angriff dann unternehmen.« Die Stimme des Kommodores wurde leiser. »Ja?« sagte O'Brien.
»Ah, ich verstehe. Dann hätten die Venusier vier Tage Zeit, sich zu überlegen, wie sie uns ausräuchern müssen. Und dann können wir nicht mehr gegen sie vorgehen.« Der Colonel fuhr über den Hügel und brachte den Traktor zum Stehen. Auf dem abfallenden Hang wurden die Bäume seltener. Etwa eine halbe Meile entfernt sah er das Dorf – ein Durcheinander von großen, plumpen Hütten. Er erstarrte. Vier riesige Venusier mit Speeren stapften den Hügel hinauf. Ein fünfter, schmal und langsamer, folgte ihnen. O'Brien erkannte ihn als jenen, der zweimal am Stützpunkt Alpha gewesen war. Er brachte den Traktor auf Höchstgeschwindigkeit. »Es geht los«, sagte er ruhig. »Da unten formiert sich ein Gegenangriff. Ich versuche aber, durchzubrechen.« »Und wenn Sie umzingelt werden?« fragte Yardley. »Dann sprenge ich das Ding hier. Fünf erwischen wir auf jeden Fall, und das Dorf wird auch etwas abbekommen.« Er fuhr um einen Baum herum, rutschte halb in einen Hohlweg und rollte wieder hinaus, dann erreichte er offenes Gelände. Die vier Riesen stürmten heran. Nur der fünfte benahm sich mehr als merkwürdig. Er setzte sich auf den Boden, kreuzte Arme und Beine und senkte den Kopf, bis er den Boden berührte. O'Brien griff nach dem negativen Anschluß für den Reaktor und hielt ihn über die Batterie. Dabei entging ihm, daß ein Ast sich im Spannkabel des Krans verfangen hatte.
Die Vorwärtsbewegung des Traktors spannte den Ast wie einen Bogen, als er sah, was sich abspielte. Verzweifelt versuchte er abzubremsen, aber es war schon zu spät. Der Ast schnellte zurück, traf ihn mit voller Wucht an der Brust und riß ihn vom Sitz. Betäubt raffte er sich auf und wankte dem Fahrzeug nach. Dann zögerte er, weil er entdeckte, daß vieles sich gegen ihn verschworen zu haben schien. Der Traktor, von dem der negative Anschluß herabhing, fuhr zu schnell, als daß er ihn einholen konnte. Die Riesen stürmten erbost auf ihn zu. Und seine Lunge verkrampfte sich durch Sauerstoffmangel. Als er erstickt zu Boden sank, sah er den Grund für diese zusätzliche Komplikation. Seine Atemkapuze mitsamt dem Sauerstoffzylinder war in den Baum hinaufgeschleudert worden und hing an einem Ast, sechs Meter über seinem Kopf.
6 Green lief am Strand vor der Höhle hin und her, während Yardley in den Wald starrte. »Es hat keinen Zweck«, sagte er bedrückt. »Es sind über drei Stunden. Er hätte das Ding längst in die Luft gejagt.« »Was kann passiert sein?« »Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen, seitdem der Funkkontakt abgebrochen ist.« Green lehnte sich an einen Felsblock und blickte auf die Ska-
la seiner Sauerstoffflasche. Nur noch zwei Stunden. Yardley warf eine Handvoll feuchten Sand in die Luft, fing ihn wieder auf und schleuderte ihn zum Meer. Dann verschwand er in der Höhle. Green starrte auf den Eingang. Er kniete am Strand nieder und schrieb mit einem Finger in den Sand: ›Komme nicht zurück. Weitermachen. Grüße an Beta.‹ Er schaltete seinen Sender ab, damit er sich keine Argumente anhören mußte, dann marschierte er landeinwärts. Exemplant L'Jork saß mit Rin'Ao und Lank-Tro in K'Tawas überfüllter Hütte. Von Zeit zu Zeit warfen sie ungeduldige Blicke auf den Alten, der meditierend an der Wand hockte. »Ich muß zugeben, daß ich nicht weiß, was vorgeht«, klagte Lank-Tro. »K'Tawa meditiert«, sagte der Exemplant. »Ja, das sehe ich. Aber warum müssen wir alle hier sein? Und weshalb bestand er darauf, daß wir nicht meditieren?« »Weil wir wach bleiben sollen. Er hatte es sehr eilig.« »Worüber meditiert er?« fragte Rin'Ao verwirrt. »Über den Letzten Sinn, glaube ich.« »Mir gefällt das nicht – auf die Launen eines alten Mannes einzugehen. Ich –« Lank-Tro richtete sich auf und richtete sein Horn auf die Südwand der Hütte. »Ich quase es auch«, sagte L'Jork. »Eine von den kleinen Präsenzen kommt durch den Wald.« »Ich erquase keine Gefahr.« »Nein, aber man muß sich trotzdem kümmern.« »Die Vor-
phasenleute sollen sich damit so befassen, wie K'Tawa es mit dem anderen Eindringling gemacht hat.« Der Exemplant verließ die Hütte und kam zurück, alles in wenigen Augenblicken. »Steht fest, daß von dem Kriechenden Ding keine Gefahr mehr ausgeht?« fragte Rin'Ao, als L'Jork wieder saß. »Gewiß. K'Tawa hat sich vergewissert, nachdem er ihm die gefährliche Kapazität genommen hatte. Außerdem ist es weggeschafft worden.« Es wurde still in der Hütte, während die drei Meditatoren quasten, daß die Vorphasenleute sich um die lebende Präsenz kümmerten. Eine Weile gab es natürlich schrilles Geschrei, aber was konnte der Kleine gegen den Griff so mächtiger Hände tun? Später, als die durchsichtige Hülle von seinem Kopf genommen wurde, gab es einen solchen Aufruhr, daß die Meditatoren erklärten, sie hätten nie solche Angst erlebt. Dann regte sich K'Tawa, und alle Augen blickten ihn an. Er löste sich aus der Meditationshaltung und vollführte die vorgeschriebenen Übungen. Schließlich konnte L'Jork es nicht mehr erwarten. »War Ihre Suche erfolgreich?« »Gewiß. Habt ihr die Vorphasenleute weggeschickt?« »Sie sind unterwegs und müßten die Höhle bald erreichen.« »Aber nur eine von den Präsenzen ist noch dort«, warf LankTro ein. »Die andere –« »Ja. Ich habe gequast, was geschehen ist.« »Ihre Meditationen, K'Tawa«, flehte der Exemplant. »Was haben Sie erfahren?«
»Ich hätte vielleicht gar nichts erfahren, wenn der direkte Blick der kleinen Präsenz, die dort auf dem Hügel nach Luft schnappte, mir nicht den Weg gewiesen hätte.« »Aber was haben Sie nun erfahren?« »Die Bedeutung einer riesigen Wolke aus der Schwärze, einer anderen Welt, einer erstickenden Luft, des Großen Debakels, eines fernen, quashornlosen Wesens – nicht eines Vorfahren, weil er eine abweichende, unabhängige Linie gründete –, eines Wesens, das ein riesiges Schiff baute, von –« »Kommen Sie zur Sache«, drängte L'Jork. »Ich hätte mir gedacht, daß die Erkenntnis in der Achten Phase viel klarer sein würde.« »Wer war der quashornlose Schiffsbauer?« fragte Rin'Ao. »Stellt euch eine große Wolke vor, die aus der Dunkelheit, fern vom Einzigland, kommt«, sagte der Alte. »Vielmehr von Riesenland. Die Wolke ist geformt wie eine Speerspitze. Die Leute sehen sie und erschrecken, denn es gibt keine Ewigen Wolken, die im Wege wären. Das Ding aus der Äußeren Schwärze zieht nahe an Der Welt vorbei. Ein Teil davon sinkt in die Luft herab. Es kippt viel Wasser in und durch die Luft – genug, um alles zu bedecken, außer dem, was wir heute als Einzigland kennen. Der Einfluß der Wolke, gefolgt von der Wirkung des Wassers, macht den Tag Ewig.« K'Tawa machte eine Pause. »Schon bevor aber die riesige Wolke erscheint«, fuhr er fort, »versammelt der Erbauer des Schiffes – an seinen Namen muß ich mich erst noch erinnern – eine Handvoll angstgetriebener Leute und bringt sie in sein gigantisches Fahrzeug.« »Wohin sind sie gefahren?« fragte L'Jork interessiert.
»Zu einer anderen Welt – zu derjenigen, die der Welt unserer Vorfahren am nächsten lag. Auf diese Weise gründete der Erbauer seine unabhängige Linie.« »Und unsere eigene?« »Sie stammt von denjenigen, die zurückblieben – zurückblieben und Quashörner entwickelten und an Größe zunahmen und lernten, sich der Ahneneindrücke zu bedienen – und, ah ja, das hätte ich beinahe vergessen: Seht, die riesige Wolke aus der Äußeren Schwärze brachte auch praktisch die ganze Luft mit, die es heute gibt. Aber es war Luft, die unsere Vorfahren nicht atmen konnten.« Lank-Tro runzelte zweifelnd die Stirn. »Wieso können wir es dann?« »Irgendwann haben wir es gelernt. Das heißt, wir veränderten uns so, daß wir sie atmen konnten.« L'Jork starrte vor sich hin. »Aber wie hängt das alles mit den kleinen Präsenzen zusammen?« »Sie stammen von dem Erbauer ab.« »Sie meinen, der Kode der Verwandtschaft bezieht sich auch auf sie?« K'Tawa nickte. »Das glaube ich nicht. Weshalb haben sie dann Zu-Bach umgebracht?« »Wir haben eines übersehen. Zu-Bach versuchte vorher, sie zu töten. Sie müssen außerdem ihr Wissen über Ursprung und Sinn verloren haben, genau wie wir – obwohl sie weiter zum Niveau unserer gemeinsamen Vorfahren hinaufgestiegen zu sein scheinen als wir.«
K'Tawa senkte den Kopf, weil ihm erst jetzt die Bedeutung dieser Offenbarungen klar wurde. Die Verwandtschaft war wiederhergestellt, und der Alte erkannte, daß das Leben für die Bewohner von Einzigland sich bald radikal verändern würde. Die Betonung mochte weit weniger auf dem Geistigen als auf dem Materiellen liegen. Und es würde die Zeit kommen, zu der die Bewohner von Einzigland mit den großen, schimmernden Instrumenten der Eindringlinge selbst in die Äußere Schwärze hinauswandern würden. »Was ist mit der verbraucht-frischen Luft?« fragte L'Jork. »Das war am schwersten zu verstehen. Ich begriff es dann auch nicht nur aus Ahnenerinnerungen. Einen Teil erquaste ich aus dem Anblick der kleinen Präsenz, die unter dem Baum nach Luft rang.« »Und?« »Es ist ganz einfach. Wir haben gelernt, die neue Luft zu atmen, die von der gewaltigen Wolke mitgebracht wurde. Dabei fingen wir an, jene Luft auszuatmen, die die kleinen Präsenzen einatmen müssen, wenn sie leben wollen.« K'Tawa blickte mitfühlend, beinahe voll Sympathie, auf die kleine Präsenz, die noch immer am Boden der Hütte schlief. Sie hatte sich noch nicht bewegt, seitdem sie hereingetragen worden war. Der Alte quaste L'Jork und die anderen Meditatoren. Jetzt begriffen sie. Und es machte ihnen nichts mehr aus, in verbrauchter Luft sitzen zu müssen, damit der Kleine nicht erstickte.
Colonel O'Brien hörte fernen Donner und kam langsam zu sich, wagte aber nicht, sich zu bewegen. Dann erstarrte er, weil sich der Verdacht erhob, daß das gar kein Donner war. Er tönte viel zu regelmäßig – Abrupt sah er gigantische Venusier auf sich zustürzen, sah seine Atemkapuze am Baum hängen, sah sich in dem Gemisch aus Kohlendioxyd und Stickstoff ersticken. Er öffnete vorsichtig ein Auge. Vor ihm stand ein nackter Fuß von der vollen Länge seines Armes! Er verfolgte ihn zu der massiven Wade und der enormen Kniescheibe. Das Bein bewegte sich ein wenig, und O'Brien schloß sofort das Auge. Gott sei Dank hatte er sich nicht gerührt! Vielleicht konnte er wenigstens auf den Überraschungseffekt hoffen. Plötzlich näherte sich etwas Balkenartiges und stieß seine Schulter an – aber nicht zu grob. Der Riese wußte, daß er wach war! Trotzdem blieb er regungslos, bis – Er fuhr hoch und krallte mit den Händen nach seinem Gesicht. Keine Atemkapuze! Hier in dieser Venusierhütte atmete er normal und ruhig ohne Atemgerät! Sein Erstaunen wich vor krasser Angst zurück, als der nächste Venusier – es waren insgesamt vier, sah er – sich besorgt auf Hände und Knie niederließ und näher kam. Das Wesen war jenes, das am Strand aufgetaucht war. Und es lächelte. O'Brien wußte nicht, ob das bösartige Vorfreude oder Belustigung oder etwas ganz anderes sein sollte. Er duckte sich an der Wand und wich dem großen, spitzen
Horn aus, als es über ihm emporragte. Dann näherte sich der mächtige Schädel seinem Gesicht auf wenige Zentimeter Abstand, sog gewaltig die Luft ein und – blies sie vorsichtig in sein Gesicht! Es war reine, frische Luft – wie der herrliche Ozon nach einem Gewitter auf der Erde! Die anderen Venusier schauten zu, als der erste es wiederholte und zu ihnen zurückkehrte. O'Brien saß gelähmt vor Verblüffung da. Vielleicht war es aber gar nicht so unfaßbar. Bei einem auf der Bildung von Kohlenstoff-Stickstoff-Ketten beruhenden Metabolismus mußte das Kohlendioxyd reduziert werden, vielleicht in einem der Photosynthese vergleichbaren Verfahren, so daß für Molekularverbindungen Kohlenstoff frei wurde. Der überschüssige Sauerstoff mochte dann freigesetzt werden! Er spürte plötzlich den Druck des Mikrofons an seinem Kehlkopf und hörte, wie die Kopfhörermembran vibrierte. Er griff danach und setzte ihn auf. »Green, wo sind Sie?« hörte er Yardley schreien. »Kommen Sie zurück! Es ist etwas passiert!« »Yardley, was ist?« sagte O'Brien. »Wo sind Sie?« »Scott! Guter Gott, Sie können doch gar nicht am Leben sein.« »Ich bin hier im Dorf – bei den Venusiern.« »Was?« schrie Yardley ungläubig. »Aber Ihr Sauerstoff ist doch schon vor Stunden verbraucht gewesen!« »Offenbar brauche ich keinen – jedenfalls hier nicht. Was –« Eine dritte Stimme meldete sich. »Scott! Sind Sie das – im Dorf?« fragte Green wild.
»Ja, wissen Sie, ich – was heißt ›hier im Dorf‹?« »Da bin ich auch. Ich bin im Wald überfallen worden, man brachte mich in eine der Hütten, nahm mir meine Kapuze ab und –« »Und Sie haben keine Schwierigkeiten beim Atmen.« »Nein, natürlich nicht. Sie auch nicht. Warum nicht?« »Sind ein paar Venusier bei Ihnen?« »Drei.« »Das dachte ich mir.« »Sie wissen, was vorgeht?« »Ich glaube schon. Ich erkläre es euch später.« Einer der Venusier, es war derselbe, kam wieder heran und zeichnete Muster in den weichen Boden. Yardley sagte: »Ich möchte wirklich gerne Bescheid wissen, hört ihr? Vor einer halben Stunde sind am Strand drei Venusier aufgetaucht. Einer schleppte den Traktor und den Reaktor, ein zweiter unsere Ersatz-Del Rouad-Kapsel. Der dritte brachte die Kapsel mit den Reserve-Sauerstoffzylindern. Ich weiß nicht, wo sie die Sachen herhaben, aber das Zeug liegt alles vor der Höhle.« »Dann setzen Sie sich auf den Traktor, lassen den Reaktor herunter und holen uns ab«, meinte O'Brien. »Ach ja, bei den Zylindern finden Sie auch Ersatz-Kapuzen. Bringen Sie zwei mit.« Der freundliche Venusier hatte seine Zeichnung fertiggestellt. Er trat zurück und deutete stolz darauf. Er hatte eine große Vertiefung in den Boden gedrückt und drei konzentrische Kreise um sie gezeichnet. In jedem Kreis befand sich eine Vertiefung. Er berührte den zweitgrößten Kreis
und breitete die Arme aus. Dann berührte er den größten und zeigte auf O'Brien. Es war klar, daß die Venusier, deren Sicht durch eine ewige Wolkendecke behindert war, weit mehr wußten, als man eigentlich hatte erwarten können. Den Grund dafür würde man später erfahren, dachte O'Brien, wie auch vieles andere. »Scott«, sagte Green, »wir müssen noch viel lernen über diese Eingeborenen.« »Enorm viel. Und ich glaube, wir werden auf ein paar Überraschungen stoßen.« »Was ist mit Zug Beta?« wollte Yardley wissen. »Kommen Sie her und holen Sie uns ab, dann bauen wir den Del Rouad auf, damit wir uns melden können. Wir sollten Bescheid geben, daß im Zielgebiet alles in Ordnung ist.«
Auf halbem Weg zur Unendlichkeit Die Maus war mürrisch und gereizt. Und als wäre das noch nicht genug, spürte Bruce Craig Unterströmungen von Verzweiflung, Groll und Selbstmitleid im Hauptstrom ihres Bewußtseins. Normalerweise hätte er ihre inneren Empfindungen nicht so stark beachtet, aber im Lauf der Jahre war das Band der direkten Kommunikation stärker geworden. Vivien? rief er versuchsweise. Aber die Maus antwortete nicht. Er konnte beinahe den verächtlichen Druck ihrer Gleichgültigkeit fühlen. Draußen – er betrachtete die gewaltige, objektive Welt immer mehr als ›außerhalb‹ seines Erfahrungsbereiches – war die Sonnenliegehalle warm und friedlich, mit ihren großen Fenstern, die sich auf eine wellige, sonnenüberflutete Landschaft öffneten. Vivien! Laß mich in Ruhe. Hör zu, Maus. Wir brauchen einander nicht zu befehden. Je weniger ich mit dir zu tun habe, desto leichter wird es sein, heißt es. Und nenn mich nicht Maus! So haben wir dich acht Jahre lang genannt. Die Dinge haben sich verändert. Der Flug ist vorbei. Ich bin keine naive Zwölfjährige mehr, wie damals als es anfing. Und ich will nicht Maus genannt werden. Das ist dumm und vulgär. Ein neuer Gedankenstrom drang ein: Komm ins Haus, kleine
Maus! Craig erkannte das höhnische Timbre. Es war Gottweld, der Nukleoniker. Alles aus, wieder raus. Feiner Schmaus, du kleine Maus. Gottweld war dabei, überzuschnappen. Aber damit hatte man rechnen müssen. Er war der Älteste – sechsundvierzig jetzt, berechnete Craig, als er an die acht unmöglichen Jahre zurückdachte. Und die Institution konzentrierte sich zuerst auf ihn. Die höhnischen Reime waren verstummt, aber nun kamen sie im gemeinsamen Gedankenstrom wieder stärker auf – stark und verkommen: Komm ins Haus, kleine Maus. Werft sie raus, die alte Laus. Komm – Verdammt noch mal, halt's Maul! Es war eine neue Identität – Paulson, der Pilot. Ich habe genug! Du hast genug? Mit einer Handbewegung sind wir alle ein Nichts. Gottweld und Paulson verblaßten, zogen sich in ihre Schalen zurück. Vivien schluchzte, wie Craig plötzlich bemerkte. Ihre Hände hoben sich, um ihr Gesicht zu bedecken und einen dunklen Vorhang vor seinen Blick zu ziehen. Für Augenblicke spürte er Mitleid. Und er wünschte sich, eine echte Person von körperlicher Substanz zu sein, damit er sich zu ihr setzen und sie trösten könnte. Aber er wies den beiläufigen Gedanken zurück. Solche Empfindungen waren Heuchelei. Er konnte der Grundvoraussetzung nicht ausweichen, daß er nur dann fortbestehen konnte, wenn er die Persönlichkeit Vivien Walters, die Maus, unterdrückte.
Vivien, versuchte er es sanft, zog ihre Hände von ihrem Gesicht und ließ das warme Licht in ihre Augen fluten. Was willst du? Glaubst du, daß es noch eine Sitzung geben wird? Jeden Tag eine ist doch vorgesehen, oder? Eine am Tag – unausweichlich, unerbittlich. Sag ihnen, daß du das heute nicht schaffst, flehte er. Warum sollte ich das sagen? Er fuhr auf. Weil sie drei Männer vernichten werden! Und du hilfst ihnen dabei! Er spürte es – ein kurzes Aufwellen von Zweifel und Besorgnis. Aber sie schüttelte es sofort ab. Kannst du nicht begreifen, daß du ausgelöscht werden mußt, Bruce? Du hast einen Zweck erfüllt, aber jetzt ist es vorbei. Und ich habe ein Recht auf ein freies, normales Leben. Ich etwa nicht? Gottweld und Paulson nicht? Nein. Ihr seid nur Einprägungen – Bündel von Gedanken und Motiven und Wünschen. Aber ihr seid nicht wirklich. Ihr seid nur Spiegelungen realer Personen, für bestimmte Aufgaben geschaffen. Die Arbeit ist getan. Die Einprägungen müssen entfernt werden. »Miss Walters.« Vivien hob den Kopf, und Craig blickte mit ihr auf die Krankenschwester an der Tür. »Doktor Dorfman ist jetzt soweit«, erklärte sie. Dorfman war ein schmaler, sorgenvoller Mann, dessen Angewohnheit, mit der Hand an der Stirn auf- und abzufahren, anzudeuten schien, wie er seine Haare verloren hatte.
Er machte das auch jetzt wieder, als er der Maus gegenübersaß. Für Craig verriet das enorme Nervosität und Entschlossenheit. »Also, Miss Walters«, sagte der Psychiater, »vielleicht entspannen Sie sich und lassen mich machen. Wir fahren mit der Löschung fort – meine Herren?« Die Lippen des Mädchens bewegten sich nicht. Craig unternahm keine Anstrengung, sie für sie zu bewegen. Dorfman richtete sich ungeduldig auf. »Wir gehen nach der Rangfolge vor. Paulson?« Die Maus dehnte die Lippen. »Scheren Sie sich zum Teufel!« Dorfman lächelte. »Schon besser. Aber diese vulgären Ausdrücke aus dem Mund einer so reizvollen und sonst manierlichen jungen Dame! Gottweld!« Der Nukleoniker griff ein, offenbar dankbar für die Aufmerksamkeit. Der Körper des Mädchens erschlaffte. Ihre Augen liefen auseinander, ihr Mund hing offen. »Komm ins Haus, kleine Maus!« murmelte sie mit dünner, stockender Stimme. »Ausgezeichnet!« sagte Dorfman. »Ich sehe, wir sind von der vollständigen Unterdrückung der Gottweld-Prägung nicht weit entfernt. Jetzt zum Navigator.« Craig übernahm gehässig. »Bin ganz bei Ihnen, Doktor. Tun Sie Ihr Übelstes.« Dorfman stand auf und verschränkte die Arme. »Eine kühne Herausforderung. Die ich aber sofort annehme. Es kommt nicht oft vor, daß jemand Gelegenheit erhält, drei
Persönlichkeiten aufzulösen.« »Dann kommen Sie doch an Bord und fangen Sie an«, sagte Craig einladend. »Aber nennen wir es beim Namen – legalisierter Mord.« Schlagartig fühlte er auflodernden Zorn und erkannte diese Art von Turbulenz als von Paulson stammend. Bevor der Pilot aber die Stimme übernehmen konnte, griff das Mädchen ein. »Sie brauchen dabei nicht so brutal zu sein«, rügte sie den Psychiater. Dorfmans Gesicht verzerrte sich entschlossen. »Es gibt vieles, was Sie nicht verstehen, meine Liebe. Sie müssen mir vertrauen.« Er sah sie durchbohrend an. »Sie werden zugeben müssen, daß wir die Gottweld-Prägung fast vollständig entfernt haben. Das wollen Sie doch, oder?« Sie versuchte das Gesicht abzuwenden, aber Craig zwang sie interessiert, den Psychiater anzusehen. »Gut, Paulson und Craig. Sie können sich zurückziehen.« Dorfman sank in seinen Sessel, schlug die Beine übereinander und spielte mit einem Bleistift. »Gottweld –« »Komm ins –« »Hören Sie mit dem Blödsinn auf und passen Sie auf. Wie ist Ihr voller Name?« Die Lippen des Mädchens bebten, dann sagten sie zögernd: »Gottweld.« »Lautet er John Harrison Gottweld?« Keine Antwort. »Wissen Sie irgend etwas von einem Schiff? Eine winzige Besatzungskabine – Platz für nur eine Person – ein kleines Kind?« Noch immer keine Antwort.
Die bohrenden Fragen machten Craig unruhig. Er hätte am liebsten das Kommando übernommen und wäre hinausgestürmt. Die Paulson-Prägung griff nach ihm: Craig? Wir müssen etwas tun. Was denn? » … Ein kleines Kind, Gottweld. Ein Kind, dessen Gehirn noch so unentwickelt war, daß es Einprägungen von drei Persönlichkeiten aufnehmen konnte.« »Drei Mann in einem Boot?« sagte das Mädchen. Paulson: Wir könnten versuchen, zu entkommen. Die Maus ist stärker als die Prägungen, erinnerte ihn Craig düster. Nicht, wenn wir sie überraschen. Dorfman richtete sich auf. »Drei Einprägungen im Gehirn eines Kindes. Drei qualifizierte, ausgebildete Persönlichkeiten. Drei Besatzungsmitglieder in einer körperlichen Gestalt, um das erste Sternschiff nach Centauri zu bringen. Es ging nicht anders. Neunzig Pfund Spezialbesatzung in Form eines zwölfjährigen Mädchens würden im Laufe von acht Jahren nur um fünfundzwanzig Pfund zunehmen. Hundertfünfzehn Pfund, mehr konnte das Schiff nicht tragen.« »Einprägungen? Centauri?« murmelte Gottweld. »Wer ist Gottweld?« Siehst du? meldete sich Paulson verzweifelt. Gottweld ist praktisch schon verschwunden. Nur noch zwei Mann in einem Boot. Sie hören nicht auf, bis es leer ist! Wohin können wir gehen? fragte Craig hoffnungslos. Wo
könnten wir uns verstecken? Selbst wenn wir übernehmen, wird sie unsere Kontrolle nur behindern und früher oder später wieder hierherkommen. Jedenfalls können wir so nicht weitermachen. Für einen bestimmten Zweck ging das – solange eine Aufgabe zu erfüllen war. Du gibst doch nicht auf? Natürlich nicht. Aber wir müssen sie davon überzeugen, daß wir reale Personen sind, daß man uns nicht abschalten kann wie Lampen, die man nicht mehr braucht. Der alte Quatsch von der integrierten Persönlichkeit, gab Paulson verächtlich zurück. Na schön. Nur zu. Versuch Dorfman klarzumachen, daß man uns zu einem verschmelzen kann. Ich habe andere Vorstellungen! »Sie werden vergessen, Gottweld«, forderte Dorfman. »Sie wollen alles vergessen – wer Sie sind, wo Sie gewesen sind, wie Sie entstanden.« Craig war mit der Theorie vertraut: Wenn man das gesamte Gedächtnis beseitigte, wenn man die psychischen Eindrücke aller Erfahrungen der Vergangenheit auslöschte, konnte es kein überlebendes Ich mehr geben. Es war einfach eine Frage, die Molekularstruktur aller Speicherzellen zu löschen. »Ich muß vergessen«, bestätigte der Nukleoniker mit Viviens dünner Stimme servil. Dann spürte Craig einen Stoß explodierender Gewalt, als Paulson durch Gottwelds unsichere Kontrolle brach. Vivien fuhr vom Stuhl hoch und stürzte sich auf Dorfman. Ihre schmalen Finger schlossen sich um seinen Hals. Der Überfall ging jedoch in der Katalepsie widersprüchlicher
Absichten unter, als das Mädchen und Craig entsetzt versuchten, dem Piloten die Kontrolle zu entwinden. Die Maus fiel wie eine gestörte Maschine auf ihren Stuhl zurück und ließ zitternd die Arme hängen. Dorfman betastete seinen Hals, wo sich ihre Fingernägel eingegraben hatten. »Das war Paulson, nicht wahr?« Er fand seine Haltung wieder, ordnete seine Krawatte und versprach rachsüchtig: »Mit Ihnen befassen wir uns gleich.« Es war eine lange, mühevolle Sitzung, und als sie vorbei war, sank Paulson, der die Hauptwucht der Attacken des Psychiaters auszuhalten gehabt hatte, erschöpft auf eine kommunikationslose Bewußtseinsebene. Auch Craig hatte sich störrisch gegen die flackernden Lampen und rotierenden Scheiben und die hypnotische Monotonie gewehrt, mit denen wichtige Erinnerungsverbindungen wie Getreidehalme mit einer Sense durchtrennt wurden. Aber er war noch wach, wie die Maus auch, als die Krankenschwester kam, um das Licht in ihrem Zimmer auszuknipsen. Sekunden vergingen, bevor seine Augen – ihre Augen, verbesserte er neidvoll – sich an das ins Zimmer flutende Mondlicht gewöhnten. Nach einiger Zeit spürte er, wie die Lethargie des Schlafes sich über ihr Bewußtsein breitete. Er beschloß, zu warten, bis sie fest eingeschlafen war. Danach konnte er ihre Augen öffnen, ohne sie zu stören. Viviens Augen öffneten sich plötzlich, und Craig merkte auf. Es war aber nicht das Mädchen, das wach wurde, denn er fühlte noch immer die gleichgültige Ruhe ihres Schlafes.
Craig. Machst du mit? Du meinst bei der Flucht? Was denn sonst? Noch ein, zwei Wochen, und wir werden nicht einmal mehr wissen, was das Wort bedeutet. Was sollen wir tun? Uns irgendwo verstecken, wo es einsam ist – in einer Höhle, einem Wald, einem Sumpf. Irgendwo. Und was dann? Wir müssen eben improvisieren. Wir könnten damit drohen, zu verhungern, wenn sie sich nicht anschließt. Aber wohin soll das alles führen? Guter Gott, Mann! Da weißt du soviel wie ich. Genügt es nicht, daß jede Stunde, die wir von hier fort sind, eine Stunde des Daseins mehr bedeutet? Craig kämpfte gegen ein lähmendes Gefühl der Nutzlosigkeit an. Es war eine betäubende Qual, die er vor acht Jahren hätte voraussehen müssen, als er, Paulson und Gottweld für die Centauri-Expedition ausgebildet worden waren. Sie hatten jedoch versäumt, an die ferne Zukunft zu denken. Niemand hatte acht Jahre vorausgeblickt. Niemand hatte sich die Zeit vorgestellt nach der Expedition, in der die Maus, dann eine reife Frau, von den Einprägungen befreit werden mußte, damit sie ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen konnte. Und niemand, nicht einmal die drei PseudoBesatzungsmitglieder, hatten auch nur geahnt, daß die Prägungen sich inzwischen als reale Wesen empfinden mochten. Craig seufzte durch die Lippen des Mädchens resigniert. Ich bin dabei, Paulson, sagte er. Gehen wir.
Craig verlieh dem Körper des Mädchens federleichte Bewegungen, schlug die Decke zurück und stand auf. Die Maus würde kaum wach werden. Sie war an somnambulistische Bewegungen gewohnt, während ihre Fähigkeiten von anderen Mitgliedern der Vierheit gelenkt wurden. Er wollte auf den Schrank zugehen, wo ihre Kleidung hing, aber seine Bewegungen verlangsamten sich plötzlich. Keine Zeit zum Anziehen, Craig, warnte Paulson. Wir müssen mit dem zurechtkommen, was wir haben. Na gut. Das ist dein Unternehmen. Ich komme nur mit. Paulson schlüpfte in einen rosaroten Morgenmantel und trat leise ans Fenster. Draußen standen zwei Kisten, so daß sie leicht hinaussteigen konnten. Seltsam, meinte Craig. Was? Die Kisten? Nicht nur die Kisten. Die Lampen im Hof brennen auch nicht. Na und? Wir haben eben Glück. Sie sahen sonst niemand auf dem Gelände des Instituts, als sie über den Rasen gingen und den Haupteingang erreichten. Paulson, das Tor steht offen, wie bestellt. Und niemand ist im Wachhäuschen. Viviens Körper blieb stehen und erstarrte – ein Zeichen von Paulsons plötzlichem Argwohn. Du glaubst, daß sie uns entkommen lassen wollen? Sieht verdammt danach aus. Aber ich kann mir nicht denken, warum. Vielleicht haben wir nur unwahrscheinliches Glück. Hoffen wir es.
Wir haben auch keine Zeit, hier herumzustehen und uns darüber zu unterhalten. Sie eilten durch das Tor, verließen die Straße und liefen über die Wiesen zum Wald. Paulson beschleunigte, zuversichtlicher geworden, die Schritte des schlafenden Mädchens. Als sie unter einem Baum vorbeikamen, stieß sie mit dem Fuß an eine freiliegende Wurzel. Der Pilot fluchte, und Craig hielt instinktiv das Gleichgewicht. Die Maus schlief weiter, trotz der starken Schmerzen, die Craig durch den dünnen Schleier zwischen ihren Ichs spürte. Wenn wir die Wälder erreichen, spielt es keine Rolle, ob sie aufwacht, meinte Paulson. Richtig. Ohne unser Einverständnis kann sie nicht ins Institut zurück. Oder sonstwohin. Sie muß mit uns zusammenarbeiten. Oder im Wald umkommen. In der Ferne summte ein endloser Strom von Fahrzeugen auf der Autostraße dahin. Die Scheinwerfer strahlten in das Gesicht des Mädchens, wenn sie um eine Kurve bogen. Zuerst fürchtete Craig, sie könnte dadurch wach werden, aber er spürte noch immer die Leere ihres Schlafzustandes. Was ist das? fragte Paulson plötzlich. Craig sah, was dem anderen aufgefallen war – ein Riesenrad neben der Straße. Das ergibt keinen Sinn, sagte Craig. Hier draußen, wo gar nichts ist. Da stimmt etwas nicht – verdammt!
Das Surren von Gummi auf Beton hörte sich immer monotoner an. Es erinnerte Craig an etwas, das er kannte. Und die Lichter der Fahrzeuge blinkten mit beinahe fesselnder Regelmäßigkeit auf – beinahe hypnotisch. Der Fetzen eines Schreis drang lautlos aus Paulsons Bewußtsein herauf, und Craig, der durch dieselben Augen starrte, zuckte entgeistert zurück. In allen Kabinen des Riesenrades saß nur eine Person. Und alle waren Duplikate von Dorfman! Der Psychiater feixte herunter, und jede Gestalt winkte mit gekrümmtem Finger. Und das Rad rotierte, der Verkehr summte, die Scheinwerfer blinkten, und Craig fühlte sich von einem schwindelnden Wirbel erfaßt. Riesenrad, Autos, Straße, Landschaft und die Dorfmans jagten einander in einer wilden Hetze, die ihn beinahe der Sinne beraubte. Aber plötzlich schrumpfte alles zusammen und formte sich zu einem einzigen Dorfman, umgeben von zuckenden Lichtern und rotierenden Scheiben und anderen Hypnoseinstrumenten seines Büros. Er drückte auf eine Taste, und das monotone Surren des Verkehrs erstarb. »Das wäre alles für diese Sitzung, meine Herren«, sagte der Psychiater. »Sehen wir uns morgen?« Craig war betäubt von Verzweiflung, als die Absicht hinter der Halluzination sich mit höhnischer Deutlichkeit ergab. Es war eine ›Vorstellung‹ gewesen, mit dem Hauptzweck, Paulson zu schockieren und zu demoralisieren. Craig war aber voll beteiligt gewesen, weil man auch auf seine psychische Desorientierung
abzielte. Solche Taktiken hatten bei Gottweld derartigen Erfolg gehabt, daß die Prägung des Nukleonikers fast schon völlig gelöscht war. Auch bei Paulson kam man ausgezeichnet voran, so daß sein stufenweiser Rückzug aus der Wirklichkeit immer mehr beschleunigt wurde. Mit entsprechenden Variationen würde die Methode auch bei Craig wirken. Es war nur eine Frage der Zeit. Schwer zu fassen, daß die Maus bei dem gemeinen Täuschungsmanöver freiwillig mitgemacht hatte. Es paßte so gar nicht zu dem Kind, das im grauen, kalten Schoß des CentauriRaumschiffs zur Frau geworden, und eine so enge Beziehung zu den drei Männern aufgenommen hatte. Die Erinnerung daran beschäftigte Craig am nächsten Morgen, als Vivien ziellos im Park des Institutes herumwanderte. Die vierfache Einheit, einmalig in den Annalen der Psychologie, war mit der Zeit immer mehr zu einer Einheit verschmolzen – bis er überzeugt gewesen war, daß die volle Integrierung in ein zusammengesetztes Ich eine annehmbare Alternative für die Löschung sei. Einmal hatte er die Maus beinahe davon überzeugen können, daß eine solche Konsolidierung eine pluralistische Persönlichkeit hervorbringen konnte, die allen Wesen auf der Erde an Fähigkeiten, Talenten, Wissen und Charakter überlegen sein würde. Da sie ihm näher stand als den beiden anderen, hatte sie ihm zugehört. Aber die endlose Reise war zu Ende gegangen, und die Maus hatte angefangen, sich mit normalen Frauen zu vergleichen. Sie
hatte auf Dorfmans Versicherungen reagiert, daß die Einprägungen in Wirklichkeit keine echten Personen seien. Bruce, sagte Vivien leise. Er beachtete sie nicht. Es war das fünftemal seit dem Frühstück, daß sie versuchte, ihn zu erreichen. Er rechnete aber nicht damit, daß sie versöhnlich sein würde. Vivien blieb unter einem Baum stehen und sank auf den Rasen. Sie zupfte nachdenklich an Halmen. Paulson? versuchte es Craig. Keine Antwort. Paulson, bist du noch da? Craig konnte nicht einmal eine Regung des Piloten entdekken. Die Wirkung von Dorfmans Trick mußte enorm gewesen sein. Craig suchte nach dem dritten Mann: Gottweld? Bruce, ich weiß, daß du mich hören kannst, drängte Vivien. Er ignorierte sie. Gottweld? Er nahm ein verzweifeltes Murmeln wahr. Gottweld! Nimm dich zusammen. Vivien: Ich versuche es immer wieder, bis du antwortest, Bruce. Gottweld: Komm ins Haus, kleine Maus! Komm … Du mußt dich wehren, Gottweld! rief Craig. Laß dich nicht unterdrücken! Wir gehen unter. Drei Männer im Schlepptau. Der Himmel ist nicht mehr blau. Bruce! rief Vivien. Ich brauche deine Hilfe!
Craig ärgerte sich über ihren Egoismus. Es war nicht die Maus, die Hilfe brauchte, sondern Gottweld, und das dringend. Er brauchte jemand, der ihn bei den Schultern packte und so lange schüttelte, bis er zur Vernunft kam, der ihm ins Gesicht schlug. Aber der Nukleoniker hatte keine eigenen Schultern, kein Gesicht. Es gab keine physische Wechselbeziehung zwischen den Mitgliedern der Vierheit – nur den unbefriedigenden Kontakt von Worten und Begriffen, Ansichten und Gefühlen. Craig vermutete jedoch, daß es noch eine andere Form der Verständigung geben mußte, die umfassender war als die bloße Übertragung von Ideen. In der körperlichen Welt konnte man am Ufer stehen und einem Ertrinkenden wirkungslos Verhaltensmaßregeln zuschreien. Oder man konnte hineinspringen und ihn retten. Craig stürzte sich ohne Zögern hinein. Er kämpfte sich wild durch nebelhafte Vorstellungen verzweifelter Absichten und ungewisser Entschlüsse. Wenn es Gottweld aber gab, mußte man den monadischen Dunst durchdringen und ihn finden können. Gottweld! Wo bist du? Der verzweifelte Schrei brachte wieder ein hoffnungsloses Murmeln hervor. Durchhalten! Ich versuche dich zu erreichen! Komm ins Haus, kleine Maus … Jetzt gab es ein Richtungsgefühl. Das einsilbige Gemurmel schlug Craig entgegen, bis das überwältigende Volumen des Denkens einem dröhnenden Läuten glich – lauter, lauter, LAUTER!
Dann durchdrang er plötzlich eine Barriere und wurde schlagartig von einem explodierenden Mahlstrom wirbelnder, peinigender Begriffe erfaßt – von einem unmöglichen Chaos verzerrter Vorstellungen und einer Kakophonie der Ideen. In einer Ecke seines Feldes psychischer Wahrnehmung lag die verzerrte optische Vision, die Gottweld durch Viviens Augen erreichte. Die schrecklich verunstalteten und verzerrten Bäume, die schiefen Gebäude und kriechenden Hecken schienen sich aber merklich zu entfernen. Der Rückzug aller Objekte in die Ferne war eine Zeitlupenimplosion, bei der das ganze körperliche Universum zu einem Punkt der Unendlichkeit zusammenschrumpfte. Er erkannte hier einen transzendenten Symbolismus – eine Abwehr der Realität, ein Insichzurückziehen der GottweldPrägung. Es war, wie Dorfman es geplant, wie Vivien es gebilligt hatte, wie es sein mußte, wenn die Maus innerlich wieder zu einem Individuum eigener Art werden wollte. Und rings um die schrumpfende Wahrnehmung der Realität war Gottwelds Bewußtsein ein schwärender Ort von entsetzten Begriffen und irrationalen Ängsten, bevölkert von Alptraumwesen und unfaßbaren Schrecknissen. Alles war ungeordnetes Chaos. Gottweld war wahnsinnig. Und seine Hoffnung lag in der Vergessenheit, in dem Versprechen, daß die Prägungslöschung ihn ins Nichts der endgültigen Leere entlassen würde. Bruce! flehte Vivien. Bitte, gib Antwort! So, als seien die Gedanken des Mädchens ein Magnet, wurde
Craig aus dem Strudel von Gottwelds verkommenem Bewußtsein heraufgezogen. Er wandte seine Aufmerksamkeit verächtlich Vivien zu. Gottweld ist irrsinnig. Er ist fast völlig ausgelöscht. Was von ihm übrig ist, würde sich nicht einmal in der Hölle zu Hause fühlen. Bruce, wegen Dorfman. Der Trick, den er dir und Paulson gespielt hat – Begreifst du denn nicht? Gottweld ist vernichtet! Interessiert dich das nicht? Sie schwieg lange Zeit, und er spürte ihre Unsicherheit. Dann setzte sich plötzlich eine unerschütterliche Gewißheit durch. Gottweld existiert nicht, sagte sie fest. Es hat einen Gottweld gegeben – einen realen, physischen Nukleoniker, der diesen Namen trug. Aber er ist vor vier Jahren bei einem Unfall umgekommen – hier auf der Erde. Gottweld – der einzige, den wir, du und ich, kennen – ist hier bei uns. Und du läßt zu, daß Dorfman und das Institut ihn ermorden! Sag das nicht – bitte. Es ist mir schwer genug gefallen, mir klarzumachen, daß das nicht stimmt. Aber für mich steht das jetzt fest. Und ich möchte diesen Glauben nicht mehr umstoßen müssen. Ich möchte nicht dahinterkommen, daß ich für den Rest meines Lebens von anderen Leuten verschieden sein muß. Glaubst du wirklich, daß ich nicht real vorhanden bin? fragte er. Daß es sich bei mir nur um eine Ansammlung von Eindrükken und Ansichten handelt? In ihrem Schweigen drückte sich eine tiefe, qualvolle Bestäti-
gung aus. Was willst du? fragte er scharf. Weshalb hast du mich gerufen? Du mußt mir glauben, daß ich Dorfmans Fluchtillusion nicht gebilligt habe. Du hast deine Rolle gespielt, nicht wahr? Du hast mitgemacht. Ich wußte nichts davon. Ich stand auch unter hypnotischem Zwang. Er sagte mir, was er vorhatte, aber erst, nachdem ihr, Paulson und du, unter Kontrolle gewesen seid. Bevor ich ihm sagen konnte, daß ich nichts davon hielt, war ich auch in den imaginären Vorfall verwickelt. Craig fluchte aufgebracht. Dorfman empfindet gar keinen Haß, meinte sie. Vergiß nicht – hinter allem, was er tut, steht eine Absicht. Natürlich. Sadistische Quälerei. Nein. Du irrst dich. Er hat mir manches erklärt, während ihr unterdrückt wart. Dinge, die ich nicht wiederholen darf. Wenn ich nur sicher sein könnte, daß die anderen nicht mithören – Gottweld ist total unterdrückt. Paulson hat sich zurückgezogen und nimmt keinen Anteil mehr. Nicht einmal ich kann ihn erreichen. Wieder zögerte sie unentschlossen. Und Craig wartete. Draußen – in noch größerem Maße betrachtete er das ›Außerhalb‹ als die riesige Arena der Kausalität, die die intimen Geschehnisse im vierfachen Gehirn der Maus ausschloß – draußen schwebte die Sonne hinter Kumuluswatte, und er spürte, wie ein Frösteln durch den Körper des Mädchens lief. Dorfman ist bewußt brutal gegenüber Paulson, weil er seine Aufgabe nur auf diese Weise erfüllen kann, erklärte Vivien.
Paulsons Charakter erfordert diese Methode. Bei dir wird es anders sein. Bei mir wäre es wahrscheinlich eine Peitsche – wenn Dorfman sich davon etwas versprechen würde. Die Maus stand auf und ging zwischen den Blumenbeeten auf und ab. Bruce – mache ich es falsch? Du fragst mich, den es nicht gibt; ich soll darüber urteilen, ob es falsch von dir ist, drei Nicht-Existenzen vernichten zu helfen? Ich möchte normal sein. Aber wenn ich so mit dir spreche, fällt es schwer, zu glauben, daß du nur ein Komplex von Gedankenprozessen bist, der vorübergehend unbenützten Zellen meines Gehirns eingeprägt worden ist. So hast du acht Jahre lang nicht gedacht. Da war es anders. Es gab niemand außer uns vier – eine Vierheit. Die Illusion war überzeugend – auf halbem Weg zur Unendlichkeit. Aber jetzt nicht mehr? Nein – jetzt nicht mehr. Sie haben bewiesen, was ihr wirklich seid. Warum vergeudest du dann Zeit im Gespräch mit mir – mit einem Nichts? Ihr Blick glitt über den Boden, als sie auf den Fischteich zuging. Vivien, erinnerst du dich, als wir am Bullauge standen und Sol vor dem Hintergrund der Sterne anschwellen sahen, wie wir uns einbildeten, wir seien zwei normale Personen? Du hast gesagt – Man kann mich nicht für alles verantwortlich machen, was ich
infolge einer jugendlichen Schwärmerei gesagt haben mag. War es das wirklich? Du bist schon fast zwanzig gewesen. Nun gut! Ich glaubte, daß ich dich liebte. Wie du willst. Aber wie würde es weitergehen? Wir könnten – Wir könnten gar nichts! Es wäre nur frustrierend. Wo wäre da etwas Normales? Es wäre nur eine häßliche und pervertierte Form von Narzißmus. Sie blieb vor dem Fischteich stehen, und sie starrten in das tiefe, dunkle Wasser, ohne etwas zu sehen, ohne den Gärtner zu bemerken, der vorbeiging und nickte. Für Craig stand eines fest. Sie hatte recht. Die totale Löschung war der einzige barmherzige Ausweg für alle. Dann spürte er eine ruckhafte Bewegung im Körper des Mädchens, und sie stürzte sich in den Teich. Schreiend ging sie unter. Craig versuchte verzweifelt, an die Oberfläche zurückzuschwimmen, aber seine Schwimmzüge gerieten nur mit den verzweifelten Versuchen Viviens in Konflikt, sich zu retten. Sie sanken auf den Grund, mit rudernden Armen und Beinen. Und von irgendwo in den Tiefen des Vierfachgehirns tönte Paulsons höhnisches Gelächter herauf. Wasser strömte in ihre Lunge, brennend, erstickend. Dann spürte Craig einen festen Griff an ihrem Arm, und sie befanden sich wieder an der Oberfläche. Der Gärtner war in den Teich gesprungen, um die Maus herauszuziehen.
Dorfman dämpfte die Beleuchtung in seinem Büro und setzte sich Vivien gegenüber. Sein Gesicht wirkte fahl und eingefallen, als er nach den Schaltern an seinem Schreibtisch griff. Er überlegte es sich anders, verschränkte die Arme und starrte in die Augen des Mädchens. »Paulson?« rief er. Die Maus bewegte sich unruhig, aber ihre Lippen blieben geschlossen. »Los, Paulson. Hören Sie auf zu schmollen. Ich bin Psychologe genug, um zu wissen, daß Sie mich mit großem Interesse beobachten.« Die Lippen des Mädchens zuckten und spien eine Flut von obszönen Schimpfworten. »Zu dem Zwischenfall am Teich gestern«, unterbrach ihn Dorfman ruhig. »Versuchen Sie so etwas nicht wieder.« »Hindern Sie mich doch!« forderte ihn Paulson mit der hohen Stimme der Maus heraus. »Wir werden dafür sorgen –« »Daß es nicht wieder vorkommt?« sagte Paulson sarkastisch. »Was wollen Sie tun – mich etwa bestrafen?« Viviens Lachen verriet bitteren Triumph. Und Dorfman sank in den Sessel zurück, Enttäuschung im Gesicht geschrieben. »Sie glauben doch wohl nicht, daß ich die Löschung einfach so hinnehme?« sagte der Pilot. »Wenn ich sterben muß, dann sorge ich dafür, daß es alle erwischt, die Maus auch!« »Von jetzt an stellen wir Wachen auf«, warnte der andere. »Und ich versichere Ihnen, daß, wenn Sie Schwierigkeiten machen, die Behandlung in Zukunft ganz erheblich verschärft
werden kann.« Paulson blieb stumm. Der Psychiater beugte sich vor. »Also, Leute, ich habe für die heutige Sitzung gewissermaßen eine Überraschung vorbereitet.« »Wir könnten das alles vermeiden«, sagte Craig, vergeblich bemüht, der Stimme des Mädchens einen Baßton zu verleihen, »wenn Sie uns ein paar Wochen Zeit geben würden, die Integration zu versuchen.« Der Psychiater schüttelte den Kopf. »Das würde nie klappen.« »Doch! Es gibt keine undurchdringliche psychische Hülle um unsere Ichs. Was den einen vom anderen auch trennt, es läßt sich durchbrechen. Ich habe das schon erreicht! Ich bin zu Gottwelds Unterbewußtsein vorgedrungen!« Dorfman winkte ab. »Es gibt hier im Institut und auch anderswo keinen Experten, der sich vorstellen könnte, wie das gehen soll. Miss Walters' Interessen müssen geschützt werden. Die Gesellschaft hat eine Schuld bei ihr zu begleichen. Sie kann nicht zulassen, daß sie sich weiterhin als psychologische Mißbildung entwickelt.« »Aber was ist mit uns?« »Gestatten Sie, daß ich Ihr Gedächtnis auffrische – Ihres und das von Mr. Paulson. Vor über acht Jahren stimmten drei Männer dem psychischen Prägungsprozeß zu, ebenso die Vormünder eines zwölfjährigen Mädchens und das Mädchen selbst. Die Männer erklärten ferner, sie hätten nichts gegen beliebige psychotherapeutische Maßnahmen, die erforderlich werden könnten, um traumatische oder andere Folgen der
Aufprägung auszuräumen.« »Aber darauf können Sie uns doch nicht festnageln! Wir glaubten, sie würde lediglich ein Abbild unserer Kenntnisse und Fähigkeiten erhalten. Wir wußten nicht, daß auch ein Bewußtsein, unser eigentliches Ich, kopiert werden würde.« »Meine Herren«, sagte Dorfman nüchtern, »es kann keine Rede davon sein, daß ein Ich-Duplikat übertragen worden ist – nur das Wissen, nur die Begabung, nur die Fähigkeit. Die Meinung, diese Ansammlungen von Persönlichkeitsfaktoren sollten sich als ungebundene Wesen betrachten, verrät nur fehlerhafte Logik. Euer Bewußtsein ist nur eine Illusion. Kurz gesagt, es gibt euch nicht.« Paulson brach durch. »Zum Teufel mit Ihnen. Gebrauchen Sie jede Logik, die Sie wollen. Überzeugen werden Sie außer dem Mädchen niemand!« »Nur das Mädchen?« Der Psychiater grinste. »Ist Ihnen klar, daß es drei wahre Helden der Alpha Centauri-Expedition gibt – Miss Walters, und die Originale von Craig und Paulson. Diese beiden Männer haben sich, zusammen mit Gottweld, der später bei einem Unfall umkam, jahrelang ausbilden lassen, um die erforderlichen Fähigkeiten beizusteuern. Miss Walters ist diejenige Person, die es Ihnen ermöglicht hat, ihre Talente an Bord des Schiffes anzuwenden.« »Aber wir haben den Flug unternommen. Wir haben die Risiken auf uns genommen!« »Selbst jetzt wartet das ganze System darauf, Miss Walters, und, in geringerem Maße, Paulson und Craig zu ehren«, fuhr Dorfman fort. »Sie hat die Phantasie der gesamten Menschheit angeregt. Sie hat den Geist des Menschen bei seinem größten
Abenteuer zum Gipfel geführt. Wollen Sie, daß sie den ganzen Beifall empfängt, während ihr Geist von – rebellischen Schatten bedrängt wird?« »Und wie steht es mit Umprägungen?« fragte Craig. »Können Sie den Prozeß nicht umkehren und alles wieder in die Originale von Craig und Paulson zurückführen?« Dorfman zog die Bügelfalten seiner Hose stramm. »Damit haben wir uns befaßt. Es ist genauso unmöglich. Als die Prägung bei dem Mädchen vorgenommen wurde, waren das nur Duplikate einer psychischen Gesamtheit, die in den Gehirnen der beiden Männer verblieb. Wenn wir alles, was vorher übertragen wurde, dazu die Erlebnisse der vergangenen acht Jahre, ihnen wieder einprägen würden, bliebe bei Vivien trotzdem das zurück, was jetzt in ihr ist. Wir hätten das Problem nicht gelöst. Wir würden nur Abbilder von Ihnen zurückreichen – so wie ein Abbild des Original-Craig vor acht Jahren auf Miss Walters übertragen wurde. Sie würden, wie Sie jetzt existieren, Ihren derzeitigen Status beibehalten und müßten trotzdem gelöscht werden.« Dorfman stand auf. »Nun zu meiner Überraschung.« Er ging zur Tür und öffnete sie. Ein hochgewachsener, schlaksiger Mann mit blonden Haaren trat als erster ein. Anscheinend Anfang Dreißig, blieb er stehen und starrte die Maus fragend an. Paulson meldete sich neugierig. Was soll das eigentlich all – Guter Gott, Craig! Das bist du! Vivien sah einen zweiten Mann hereinkommen. Er war etwas älter als der erste und erschien in Begleitung einer attraktiven Frau – offenbar seiner Ehefrau – und von drei Kindern.
Paulson! entfuhr es Craig. Der richtige Paulson! Dorfman ließ sich in seinem Sessel nieder und unterdrückte nur unvollkommen ein Lachen. Paulson sprach leise auf seine Frau ein, und sie führte die Kinder wieder hinaus. Craig, rief die Paulson-Prägung gequält. Ich bin mit einer Frau verheiratet, die ich noch nie gesehen habe! Und ich habe drei Kinder! Aber Craig war zu sehr beansprucht von seinen eigenen Gefühlen und von der Reaktion Viviens, um auf den Piloten zu achten. »Bruce Craig!« stieß Vivian ungläubig hervor. Ein Gefühl der Wärme flutete in ihr hoch. Craig zog sich weiter zurück. Er wußte, daß er sie danach kaum mehr würde erreichen können. Dorfman nahm die beiden Männer bei den Armen und führte sie zu dem Mädchen. »Ihr drei kennt einander«, sagte er. »Maus!« rief der echte Craig. »Eine lange Zeit. Du hast dich prima gehalten.« »Hallo, Kleines«, sagte Paulson und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Was acht Jahre ausmachen können!« Dorfman zog sich in eine Ecke zurück, um zu beobachten. Dieser gottverdammte Dreckskerl von Psychiater! fluchte Paulson. Ich hätte nie geglaubt, daß er so etwas macht, sagte Craig ungläubig. Ein glatter Tiefschlag! Eine Gemeinheit, ja. Wie kann man da noch an sich selber
glauben} Dorfman hat recht. Uns bleibt nichts. Gar nichts. Wir können nie mehr zurück. Vivien! flehte Craig. Maus! Mein Gott, Maus, so gib uns doch Antwort! Tu etwas! Pst, mahnte das Mädchen ärgerlich. Aber Craig gab nicht nach. Vivien, hör zu! Siehst du denn nicht, daß es zwei Bruces geben kann? Wenn Dorfman ein Gegenstück aus Fleisch und Blut präsentiert, muß mich das doch nicht auslöschen, so, als hätte es mich nie gegeben, was dich betrifft! Sie wies ihn stumm ab, während sie dem physischen Craig ins Gesicht blickte. »Was höre ich da von Problemen?« fragte er. »Es ist nichts.« »Die Prägungen?« Sie nickte verlegen. »Doktor Dorfman sprach von Spätfolgen«, drängte er. »Kann ich irgend etwas tun?« Sie griff dankbar nach seiner Hand. »Du hast schon soviel getan.« Dann wurde sie rot. »Entschuldigen Sie. Mir kommt es nämlich so vor, als kenne ich Sie schon lange. Schließlich habe ich mit einem Teil Ihrer Persönlichkeit gelebt, seitdem ich ein Kind war.« Eine Frau und drei Kinder! tobte die Paulson-Prägung. Eine Frau und drei Kinder! Eine Frau und – Ach, hör endlich auf damit! Wer ist sie? Wie heißt sie? Habe ich sie gekannt? Wo – Craig,
kannst du das nicht verstehen? Eine Frau und drei Kinder! Eine Frau und drei Kinder, die man nie gesehen hat! Eine – Der Pilot begann sinnloses Zeug zu schwätzen, wie vor ihm Gottweld. Craig blockte den Strom wilder Gedanken ab. »Da ich so wenig von dir weiß«, sagte der körperliche Craig zu dem Mädchen, »gleicht sich das aus.« Sie lachten. »Im Ernst, Vivien, macht es dir etwas aus, wenn ich dich besuche?« »Früher haben Sie mich Maus genannt.« »Also gut – Maus. Du hast noch nicht geantwortet. Ich möchte alles über die Expedition hören – wie sie verlaufen ist, und ob meine Prägung sich ordentlich benommen hat.« Craig erstickte beinahe an einem Wutanfall. Am liebsten hätte er mit Viviens Fäusten auf den Kerl eingeschlagen, der seinen Namen trug. Aber was hatte es für einen Zweck? Was konnte er gewinnen, außer Viviens Verachtung? Danke, Bruce. Wenigstens räumte sie ein, daß er noch existierte. Ich bin froh, daß eine Prägung begreifen kann. Bevor die beiden Männer gingen, gab es eine kurze Sitzung mit den zuckenden Lichtern und wirbelnden Scheiben. Für Craig war das aber im Vergleich mit der tiefgreifenden Wirkung des Besuchs gar nichts. Er suchte Gesellschaft und Trost bei Gottweld und Paulson, aber die beiden murmelten ihre sinnlosen Sätze und nahmen ihn gar nicht wahr.
Nach zwei weiteren gnadenlosen Sitzungen war Paulson in den trostlosen Nebel des schizoiden Daseins vertrieben. Und Craig sah bedrückt ein, daß der Pilot dort bleiben und sich zugrunde richten würde, bis nichts mehr übrig war. Er spürte auch, daß Dorfman bereits entschieden hatte, wie er gegen ihn vorgehen mußte. Er würde immer wieder auf die Bedrohung abstellen, die durch die Craig-Prägung für Viviens Sicherheit und Glück bestand. Bei der nächsten Sitzung bewahrheiteten sich diese Vermutungen. Dorfman verzichtete auf die Geräte, stellte aber vor Vivien einen großen Spiegel auf. Craig setzte sich lange Zeit durch und zwang das Mädchen, sich im Spiegel anzustarren. Zum erstenmal sah er, wie voll und schön ihre Lippen waren, wie wohlgeformt Nase und Kinn. »Sie ist sehr anziehend, finden Sie nicht?« sagte Dorfman. »Im Raumschiff hat es keine spiegelnden Flächen gegeben«, erwiderte Craig mit einem Nicken. »Das war Absicht.« Dorfman lachte leise. »Und jetzt verwende ich aus demselben Grund einen Spiegel – um es leichter zu machen.« Er kam heran und griff nach den Schultern des Mädchens. »Craig, es wird Zeit für ein offenes Geständnis. Sie halten mich vermutlich für einen ganz gemeinen Kerl, weil ich Paulson und Gottweld auf diese Art beseitigt habe.« Craig wandte verächtlich den Kopf ab. »„Den anderen Craig zu präsentieren, war auch ein feiner Anfang für die dritte Löschung.« »Nun ja, ich habe es schwer«, gab Dorfman zu und zündete sich eine Zigarette an. »Ich muß immer wieder zu anderen
Mitteln greifen, um mein Ziel zu erreichen. Und das Ziel ist natürlich die Löschung. Warten Sie. Ich glaube, die Logik sagt Ihnen selbst, daß das Löschen die einzige Lösung ist. Nur ist das bei jedem anders. Bei Gottweld, und in geringerem Maße bei Paulson, mußte ich unbarmherzig und brutal sein. Es war bei den beiden die einzige Möglichkeit.« »Und bei mir wollen Sie an die Vernunft appellieren«, sagte Craig höhnisch. »Richtig. An einen zutiefst logischen Teil Ihres Verstandes, der schon einsieht, daß es keine andere Lösung gibt.« »Und wie vereinbare ich das mit dem unlogischen Teil meines Verstandes?« fragte Craig verbissen. »Blicken Sie in den Spiegel, Craig. Was sehen Sie? Eine junge Frau. Eine erwachsene Frau. Eine schöne Frau. Gestern war sie ein Kind – ein Kind, das Sie gründlicher kannten, als je zuvor ein Mensch ein Kind gekannt hat. Genauer, als selbst Ihre eigene Tochter.« »Tochter! Ich bin erst zweiunddreißig. Sie ist zwanzig.« Dorfman lehnte sich zurück. »Ich glaube, Sie kommen langsam zur Sache. Sie bilden sich ein, daß Sie sie lieben, nicht?« Craig schwieg. »Sie tun es. Gut, lassen Sie mich eine psychologische Auslegung Ihrer Motive geben – auf die Sie offenbar nicht von selbst kommen.« Er stand auf, ging hin und her, blieb stehen und sagte: »Sie glauben nur, daß Sie sie lieben. Im Grunde ist das nichts als sublimiertes Selbstmitleid. Sie tun sich leid, weil Sie gelöscht werden müssen. Also richten Sie es geistig so ein, daß es den Anschein hat, Sie würden viel mehr verlieren. Da soviel
auf dem Spiel steht – auch eine tiefe Liebe – kämpfen Sie wie ein Löwe.« Es war nicht wahr, sagte sich Craig. Er wußte, was er für Vivien empfand. »Wegen einer selbstsüchtigen, irrigen Emotion bestreiten Sie diesem Mädchen ein normales Leben«, sagte Dorfman scharf. »Weil Sie sich etwas eingeredet haben, das nicht stimmt, wollen Sie sie in einem geistigen Zustand halten, der eigentlich rechtfertigen würde, daß sie in einer Heilanstalt untergebracht wird. Das ist irrationale und unvernünftige Eigensucht, Craig.« »Gehen Sie zum Teufel.« »Sie wollen nicht vernünftig mit mir reden?« »Zwingen Sie mich doch dazu.« Von sich aus hätte er den Weg ins Nichts um Viviens willen freiwillig angetreten. Aber Zwang – niemals. »Nun gut, Craig. Ich hatte auf Ihre Mitarbeit gehofft. Ohne sie wird es länger dauern, aber der Ausgang steht fest.« Dorfman holte den Tisch mit den schimmernden Geräten. Craig stapfte durch zeitlose Korridore vager, verzerrter Ideen und auf den Kopf gestellter Begriffe. Er watete in einem Sumpf von Angst und Trostlosigkeit, durch Myriaden von Empfindungen, die sein Bewußtsein zu zerfetzen schienen. Nie wußte er genau, ob es seine eigenen Ängste und Depressionen waren, oder die eines anderen abgeschlossenen Mitglieds der Vierheit. Er sah sich am Steuer des Raumschiffs, der gleißenden Sonne entgegenrasend. Die Schotts schmolzen, und das zerfließende Metall verwandelte sich in entsetzliche Kreaturen, die tropfend von flüssigem Feuer auf die Besatzung losgingen.
Gelähmt vor Angst verriegelte er die Selbstfolterungskammer und verbannte sich ins unendliche Nichts außerhalb der eingeschlossenen Ichs. Aber er spürte die krankhafte Anziehung der GottweldPrägung wie einen Magneten. Sein wanderndes Bewußtsein durchdrang den Schleier und wurde von einem tollen Strudel völliger Desorientiertheit erfaßt. Das verzweifelte Gottweld-Unterbewußtsein erfaßte ihn mit hypnotisierendem Zugriff, und plötzlich war er der Nukleoniker – Gottweld, kreischend, als der Reaktor des Schiffes den kritischen Punkt überschritt; Gottweld als Meteor, das Schott seiner Kabine durchschlagend, hinauswirbelnd in die Endlosigkeit des Alls, unter Tausenden Lebensformen auf einem fremden Planeten, mit tausend Martern zu Tode gebracht. Craig hatte vielleicht eine Sekunde als Gefangener der Gottweld-Prägung verbracht. Oder ein Jahr. Er konnte es nicht bestimmen. Aber endlich war er wieder frei und unterwegs. Er schlenderte durch einen Korridor in einen warmen, hellen Park, wo fröhliche Kinder spielten. Die Jungen haschten die Mädchen. Er war plötzlich eines der Mädchen, und die anderen riefen ihn Vivien. Er blieb, solange er konnte, bis der sanfte Zwang ihn wieder ergriff und zu anderen Orten schickte. Es gab noch einen anderen Weg zur Welt objektiver Realität, wie er entdeckte – er stolperte ganz zufällig darüber, während er Viviens Unterbewußtsein erforschte. Es war ein Wahrnehmungskontakt nur aus zweiter Hand, aber er griff sofort danach. Es war der endlose Strom von Eindrücken, der von Viviens
Sinnen in die Tiefen bewußter Erinnerung stürzte. So oft ihn der Zwang erfaßte, sich zurückzuziehen, ergriff er die Gelegenheit, in den Geist des Mädchens einzudringen und in diesen Strom zu tauchen. Es war ein erfrischendes Erlebnis, und die Laute, das Schmecken und Riechen, die Bilder wurden immer klarer und deutlicher. Aber stets blieb die quälende Erkenntnis, daß die Bilder nur verspäteter Abklatsch der Wirklichkeit waren. Als er einmal in diesem Erinnerungsstrom untergetaucht war, sah er mit Viviens Augen und hörte mit ihren Ohren, als der physische Craig in die Sonnenliegehalle kam. Er versuchte das Alter der Erinnerung zu klären, gab den Versuch aber auf, als er von einer doppelten Reaktion von Selbstmitgefühl und Neugier weggeschwemmt wurde. Der objektive Craig ging durch den Raum und küßte das Mädchen auf die Stirn. Der beiläufige Kuß verriet, daß Wochen vergangen sein mußten, seit der letzten, klar erinnerten Sitzung mit Dorfman. Die beiden saßen am offenen Fenster, und Vivien blickte hinaus auf die herbstlich verfärbten Bäume. Und erst jetzt begriff die Craig-Prägung, daß Monate vergangen waren. Craig zündete sich eine Zigarette an. »Bis Weihnachten?« fragte er. »Dorfman hofft es«, erwiderte sie bedrückt. »Ich dachte, er ist seiner Sache sicher.« »Das war er, aber die Löschung kommt nicht so voran, wie er glaubte.« »Oh.« Die Craig-Prägung vergaß, daß es sich nur um eine Erinne-
rung handelte, um etwas, das vorbei war, und versuchte sich durchzusetzen, um aufzuschreien und den beiden zu zeigen, daß er noch da war, wie einsam er sich fühlte. Aber er konnte nicht einmal ihre Stimme übernehmen. »Warum die Verzögerung, Vivien?« fragte der körperliche Craig. »Ist etwas schiefgegangen?« Sie hob hilflos die Schultern. »Nein, aber es dauert viel länger, als Dorfman angenommen hatte. Bruce, glaubst du, daß das etwas zu bedeuten hat? Kann es sein, daß die Prägung wirklich ein eigenes Wesen geworden ist?« »Unsinn.« Er legte den Arm um ihre Schulter. »Dorfman behandelt eigentlich gar nicht diese Komplexe von Wissen und Erinnerung, sondern dich.« Sie lächelte. »Bei dir klingt das so einfach«, meinte sie. »Woran liegt es dann?« »Gottweld ist beseitigt, sagt Dorfman, und Paulson ganz eingeschlossen. Aber –« »Dann wehrt sich also meine Prägung«, sagte er lachend. »Hätte ich mir denken können. Ich war immer schon sehr hartnäckig.« »Dein Impuls ist schon eingeschlossen. Dorfman konnte vor zwei Monaten das letztemal einen bewußten Kontakt herstellen.« »Warum bist du dann so nervös?« »Er – er bricht nicht in sich zusammen. Dorfman spricht von einer ›wandernden Beharrlichkeit‹.« »Du meinst, er kann sich immer noch mit dir in Verbindung
setzen?« »Nein, das nicht, aber –« »Könntest du es, wenn du wolltest?« »Ich weiß es nicht. Ich habe Angst davor. Dorfman meint, ich soll ihn in Ruhe lassen.« »Weshalb hast du solche Angst, Vivien?« »Vielleicht deshalb, weil ich vor Mitleid zusammenbrechen könnte. Vielleicht fürchte ich die Überzeugung, daß die Prägung doch eine eigene Existenz hat. Das würde alles ruinieren. Wie könnte mich das Institut heilen, wenn ich mich dagegen wehre?« »Paß auf«, sagte er. »Gab es auf Centauri II einen Augenblick, als du die Wassertanks gefüllt und gelacht hast, weil ein Laubblatt den Fluß hinunterschwamm, auf dem ein kleines Tier saß und sich sonnte?« »Ja! Aber woher weißt du das? Das steht nicht in meinen Berichten.« »Mußte Paulson einmal zwanzig Stunden lang mit Handsteuerung durch einen Meteoritenschwarm, weil die Automatik ausgefallen war?« »Stimmt!« sagte sie erstaunt. Für die Craig-Prägung wirkte der Vorfall seltsam vertraut, so, als habe er vor langer, langer Zeit dabei mitgewirkt. Es gab einen grellen Lichtblitz, der das ganze Bewußtsein Craigs durchdrang. Daneben schien sogar Viviens Erinnerungsstrom zu verblassen. Die Lippen Viviens schienen vor einem zärtlichen Wort zu zögern. Das Bild verblaßte, und wieder war Craig mit der Erinnerung
des Mädchens allein. Das Gesicht des Mannes näherte sich ihr, und Arme schlossen sich um ihre Hüften, dann preßten sich Lippen auf ihren Mund. Craig zog sich zurück. Erst einige Zeit später wagte er es, wieder in Viviens Erinnerungen zu suchen. Die alltäglichen Ereignisse ihres Lebens, das Kommen und Gehen der Leute, die Besuche des objektiven Craig, die Sitzungen mit Dorfman, die Nachmittage im Solarium – alles verschmolz zu Phantasiegebilden. Und der endlose Strom der Tage raste immer schneller an ihm vorbei. Wie lange war es nun schon her, daß der objektive Craig das Mädchen an einem warmen Oktobertag in die Arme genommen hatte? Bruce? Es war sie! Vivien rief nach ihm. Nach all den Wochen – Monaten? Jahren? – völliger Zurückweisung, meldete sie sich. Bruce. Bitte, Bruce. Ich muß wissen, ob du noch da bist. Sie sagen, du wärst fast völlig unterdrückt. Die Therapie sei fast vorbei. Aber ich muß wissen, ob wir das Richtige tun. Therapie? Er versuchte sich vorzustellen, welche Therapie sie meinen konnte. Dann fragte er sich, weshalb sie ihn rief und warum er von solchem Jubel durchdrungen war. Verstehst du nicht? Ich muß es wissen! Wenn du real bist – wenn du wirklich mehr bist als ein Bündel persönlicher Erfahrungen – kann ich nicht zulassen, daß sie dich zerstören. Deshalb versuche ich dich zu erreichen, bevor es zu spät ist. Jetzt erinnerte er sich – an die Centauri-Expedition, das Institut, die Prägungen, die Maus, drei Männer. Langsam kehrte
alles undeutlich zurück. Bruce, laß mich nichts Falsches tun. Wenn du noch da bist, sag es mir. Und ich weiß, daß sie es nie schaffen, wenn sie nach all der Zeit dich noch nicht haben auslöschen können. Ich gebe die Behandlung auf. Ich werde helfen, dich zurückzubringen. Nach all der Zeit – aber wie lange war das? Wieviel Zeit war vergangen? Und wenn der wahre Craig sie vor drei Wochen, zwei Monaten, einem Jahr in den Armen gehalten hatte, welche Beziehung bestand dann jetzt zwischen ihnen? Bruce. Oh, Bruce! Kannst du nicht antworten? Würde sie die Sitzungen aufgeben, wenn er sich meldete? War dann zwischen ihr und dem anderen Craig alles zu Ende? Würde sie, wenn er nicht antwortete, davon ausgehen, daß nun nichts mehr zwischen ihr und seinem körperlichen Gegenstück stand? Bruce? Er verbarg sich in seiner schizoiden Schale und suchte eifrig nach der Entschlossenheit, sie nie wieder zu verlassen. Einige Zeit später – eine Ewigkeit später? – zuckte er vor einer plötzlich auftauchenden Szene zurück, die direkt aus der objektiven Welt zu kommen schien. Er sah vor sich die grauen Schotts einer Besatzungskabine in einem interplanetarischen Raumschiff, mit Instrumentenkonsole und Bildschirmen. Das Bild verblaßte rasch, aber es war so deutlich gewesen, daß er sich wieder daran machte, zur objektiven Wahrnehmung zu gelangen. Craig! BRUCE CRAIG! Es war eine dumpfe, dröhnende Allgegenwart, die alles durchdrang und Craig plötzlich erstarren ließ.
Komm heraus, Craig. Ich warte. Die Schwärze um ihn waberte heftig und erzeugte Myriaden greller Lichtpunkte. Craig! Das Wort donnerte, und die Sterne fegten in makabrem Tanz entsetzt durcheinander. Plötzlich waren die gleißenden Punkte tausend verschwommene bekannte Gesichter – alle fordernd, alle grimmig, alle identisch. Ich befehle dir, heraufzukommen, Craig! Alle Lippen bewegten sich unisono, und Legionen Finger, gekrümmt und fordernd, erschienen neben den Gesichtern. Craig floh fassungslos in die einst vertrauten Regionen von Viviens Unbewußtem und suchte Vergessenheit in einem längst untergegangenen Ereignis. Es war ein warmer, regnerischer Tag, und Vivien, kaum fünf Jahre alt, spielte in der Küche mit Töpfen und Pfannen. Der Toaster war ein Schiff, und ihre kleine Hand der Zephyr, der es zum nächsten Hafen lenkte. Der Schrank stand offen, wie bei seinem letzten Besuch in diesem Ausschnitt der Erinnerung. Diesmal bot die Dunkelheit in ihm Unterschlupf. Aber drei von den grimmigen Gesichtern befanden sich darin! Sie lächelten spöttisch. Keine Angst, Craig. Ich tue dir nichts. Du mußt herauskommen! Dann erkannte er die Züge. Es war Dorfmans Gesicht! Er wich angstvoll zurück, und alle Schrecken des Instituts,
der Sitzungen und der unbarmherzigen Entschlossenheit des Psychiaters, ihn zu vernichten, wurden in seiner Erinnerung mit der Gewalt einer Explosion wiedergeboren. Er floh verzweifelt und stürzte sich in Viviens Erinnerungsbruchstücke aus der Kleinstkindzeit, verbarg sich in den tröstenden Lauten einer mütterlichen Stimme. Hier konnte ihn Dorfman gewiß nicht finden – aber er war auch hier! Seine große, knöcherne Hand zerriß den dünnen Schleier kindlicher Friedlichkeit und drang störend ein. Craig stürzte sich dem Strom der Erinnerungen Viviens entgegen, zweigte ab in einen düsteren Tunnel längstvergessener und primitiver Enttäuschungen und Ängste. Gelähmt starrte er auf gräßliche, schleimige Wesen, die das Kind zu verschlingen drohten. In diesem Augenblick erstarrten Entsetzens hörte Craig die Stimmen hallen: Wie lange noch? Still, Du verdirbst alles! Sie verderben alles! Ist alles in Ordnung mit ihr? Wenn Sie den Mund nicht halten können, dann gehen Sie! Craig konnte nicht bleiben, wo er war. Es gab kein Versteck! Und er durfte nicht weiter in Viviens Ich bleiben, weil der Psychiater zu allen Nischen und Winkeln unbeschränkten Zugang hatte. Eine riesige, kalte Hand erschien aus der Schwärze, in die er geflüchtet war, und griff nach ihm. Komm, Craig. Folg mir an die Oberfläche – zur Wirklichkeit. Aber er hetzte davon und suchte die Anziehung von Paul-
sons Prägeresten, um wenigstens eine klare Richtung für seine Flucht zu haben. Der totale Wahnsinn schlug ihm entgegen wie die flammende Hitze seines Hochofens – erstickend, verdammend, die letzten Fetzen seiner eigenen Vernunft durcheinanderwirbelnd. Alles war Schmutz und Entsetzen, unvorstellbare Düsternis und Verzweiflung. Die erkennbaren Eigenschaften des Charakters von Paulson waren verschwunden, geblieben nur die Grundtriebe, ein Sumpf von Hoffnungslosigkeit und formlosen Impulsen. Craig zog sich entsetzt zurück, brach durch die Trennwand und trieb ziellos dahin, um die psychische Lähmung der Begegnung zu überwinden. Zu spät! Bevor er ganz begriff, was geschah, spürte er, wie er die nun hauchdünne Gottweld-Hülle durchdrang. Impulsiv versuchte er zu fliehen, bevor er endgültig in den Mahlstrom tobsüchtigen Irrsinns hineingezogen werden konnte. Aber hier war gar nichts! Nur der dünne Vorhang, und darin der verschwommene Dunst einer fast gänzlich verflogenen Identität, tat. Wie das Echo einer verlorenen Seele, tönte nur die GrundSelbstvorstellung dünn durch Gottwelds Region: Ich-ich-ich-ich-ich-ich-ich Und während er fassungslos die endgültige Zerstörung eines ehemals komplexen Ichs verfolgte, verklang das letzte ersterbende Flüstern, und der Vorhang löste sich auf, wie ein Nebelschleier, der vom Wind davongetragen wurde.
Gottweld war nicht mehr. Der Dunst verflog, und an seiner Stelle formte sich das Bild des Psychiaters. Komm, Craig. Hören wir auf mit dem Katz-und-Maus-Spiel. Ich führe Sie in die Wirklichkeit zurück, damit ich das letzte Stück Wirklichkeit aus dir entfernen kann. Und plötzlich war da ein Geschmack. Die starke, ätzende Schärfe von Tabak auf Craigs Lippen, der warme, schwere Rauch in Kehle und Lunge. Trotz seiner Körperlosigkeit genoß er das eingebildete, beinahe vergessene Gefühl des Rauchens. Kommst du, Craig? Der psychische Raum ließ grell aufschießendes Licht entstehen, das sogar das Abbild des Psychiaters auslöschte. Der formlose Glanz erzitterte und schoß zu einer objektiven Szene zusammen. Er schien sich in Dorfmans Büro zu befinden und den Psychiater zu beobachten, der angespannt vor Vivien stand, die zusammengesunken war. Er flüsterte drängend Worte, und ihre geschlossenen Lider zuckten bei jedem Laut. Nur Craig konnte nichts hören, obwohl er zu sehen vermochte – aber nicht nur Viviens Augen! Die Szene verblaßte, und Dorfmans befehlende Gestalt ragte wieder vor samtschwarzem Hintergrund empor. »Zurück, Craig. Zurück zur Objektivität!« Schlagartig begriff er, daß er die Worte nicht nur gespürt, sondern auch gehört hatte! »Sie können herauskommen! Der Weg ist frei.« Auch hier wieder Gedanke und Worte. Wieder flammte Licht, und Craig kämpfte plötzlich gegen
eine blendende Helligkeit an, die in jeden Winkel seines Bewußtseins drang. Der unerträgliche Glanz gewann Form und bildete sich zu den vertrauten Merkmalen von Dorfmans Büro. »Schon besser«, sagte Dorfman, auf seinem Schreibtisch sitzend. »Freut mich, daß wir Sie wieder bei uns haben.« Craig reagierte langsam auf die Kinästhesie von Viviens Körper. Er erinnerte sich aber an seine Identität als Prägung, und die Bitterkeit flutete über ihn hinweg. »So, Craig«, sagte Dorfman. »Wir haben ein paar Monate ein munteres Spielchen miteinander getrieben. Aber jetzt ist Schluß damit.« Durch das Fenster, wo die schweren Vorhänge zurückgezogen waren, flutete Licht. Draußen lag im blassen Sonnenschein eine winterliche Landschaft. Einst war Frühling gewesen, und man hatte eine junge Frau aus einem Triumphschiff geholt und zu einem abgelegenen Institut gebracht, um sie zu ›heilen‹. Aber das war vor einer Ewigkeit gewesen. Und nun war die zerquetschende Wucht dieser Ewigkeit wie eine unerträgliche Last, unter der Craig sich alt und völlig hilflos vorkam. Er richtete den Blick des Mädchens in die Mitte des Zimmers und entdeckte den körperlichen Craig, der gleichgültig eine Zigarette rauchte. »Ich habe so lange mitgemacht«, sagte der Psychiater enttäuscht, »weil ich dachte, mit der Zeit würde alles seine Ordnung finden. Das war nicht der Fall.« »Ich will nicht gelöscht werden«, sagte Craig schwach. »Sie haben keine Wahl. Sie sind zu einer letzten Sitzung heraufgerufen worden, die Ihren störrischen Widerstand brechen,
die Ihnen alle denkbaren Formen physischer Folterung nahebringen wird, wenn Sie wieder zu ›wandern‹ versuchen sollten.« »Nein!« flehte Craig verzweifelt. »Nein – bitte nicht!« Dorfman ging auf und ab. »Trotz unserer Gründlichkeit haben Sie offenbar einen Weg gefunden, die schizoide Kompression abzuwehren. Diesen Zustand werden wir ändern.« Craig fragte sich, wie Vivien auf seine Gegenwart reagierte, aber er konnte keinen Kontakt herstellen. Der Psychiater hatte sie taktvoll des Bewußtseins beraubt. Dorfman kam heran. »In den vergangenen Monaten hatten wir eine Reihe von Sitzungen, von denen Sie nichts wissen, weil wir Ihr Bewußtsein lahmgelegt haben. An die folgende werden Sie aber denken, solange Sie noch ein Gedächtnis haben.« Er rollte den Tisch heran, und die Instrumente schimmerten heimtückisch und bösartig. Craig versuchte aufzuspringen, aber der Körper des Mädchens wurde von Gurten festgehalten. Craig zog sich zurück. Es gab keinen Ausweg. Er sah zu Dorfman hinüber. Warum sah er ihn zweimal – sah zweimal das Büro, übereinanderkopiert? Fasziniert verfolgte er Dorfmans Weg mit dem Tisch. Er spürte Heimtücke und schloß die Augen des Mädchens. Plötzlich brannte Dorfmans Hand auf der Wange des Mädchens. Ihre Augen öffneten sich unwillkürlich, und Craig wurde augenblicklich von den wirbelnden Scheiben und blinkenden Lichtmustern gebannt.
Nichts. Undurchdringliche Schwärze und leere Stille – die unmögliche Stille und Gefühllosigkeit des psychischen Raums. Trotzdem wußte er, daß er nicht wahnsinnig werden würde wie Paulson und Gottweld. Er versuchte aus seinem psychischen Gefängnis auszubrechen, aber schon der Gedanke daran erzeugte höllische Qualen. Er gab es auf, an Flucht zu denken und ließ zum erstenmal seit Äonen alle Anspannung aus sich abfließen. Es war wie friedlicher Halbschlaf nach einer Ewigkeit mühevollen Daseins. Und plötzlich hörte er ein Geräusch – ein wahres, objektives Geräusch aus der Außenwelt. Wasser sprühte in tausend Tropfen auf Fliesen und Haut. Craig zuckte zurück vor den Eindrücken, weil er sich erinnerte, daß diese flüchtigen Empfindungen schon oft aufgetaucht waren und nie etwas zu bedeuten gehabt hatten. Er spürte noch etwas anderes – Wärme, dann eiskaltes Prikkeln, das ihn schaudern ließ. Er zog sich instinktiv zurück. Aber die Eindrücke waren so real gewesen! Er hatte beinahe die Gänsehaut gespürt und wahrgenommen, wie ihm der Atem zu stocken schien! Er dachte nach und kam auf einen atemberaubenden Gedanken, zu unfaßbar, um wahr zu sein. Und doch … Er versuchte die Schale zu durchdringen. Augenblicklich kehrten die Qualen zurück. Er zog sich zurück … und begrüßte eine neue Empfindung. Diesmal sah er ein Badezimmer, sah ein Handtuch, spürte feuchte Hände, dann senkte sich Dunkelheit vor die Szene.
Craig spannte sich ungläubig an. Mit der zu realen Vision erschien eine geistige Überlegung – eine Erfahrung aus der Vergangenheit – eine von seinen eigenen! Es war die Landung in Terraport – Musikkapellen, jubelnde Würdenträger, Wissenschaftler und Ärzte, die Vivien aus der Menge holen wollten. Dabei war sonst niemand in dem Viergespann, der diese Erinnerung besaß. Gottweld und Paulson hatten sich zu dieser Zeit erschöpft zurückgezogen gehabt, und Vivien war im Zustand einer Schlafwandlerin gewesen. Nur er, die Bruce-Craig-Prägung, Navigator der Expedition, hatte wach alles miterlebt. Und es war eine Erinnerung, die Dorfman ganz zu Anfang schon ausgelöscht hatte, fiel ihm ein. Wie war er wieder zu ihr gelangt? Versagte der Löschprozeß? Und die anderen Erinnerungen alle – er konnte sie auf einmal spüren, wartend, verfügbar. Er spürte den kräftigen, gesunden Körper, den er neu zu besitzen schien. Ein Spiegel tauchte plötzlich vor ihm auf, und er starrte ungläubig auf die Züge des körperlichen Bruce Craig. Verwirrt zog die Prägung sich in sich selbst zurück, in der sicheren Gewißheit, die Empfindungen jederzeit wiederholen zu können. Manches fand nun seine Erklärung. Hatte er Craig nicht zu Vivien einmal sagen hören, daß er Erinnerungseindrücke vom Raumflug empfing? War es nicht möglich, daß alle Erinnerungen der Prägung auf irgendeine Weise in das Gehirn des anderen Craig übertragen worden waren? Und war es dann nicht logisch, anzunehmen, daß die voll-
ständigen Erfahrungen der Craig-Prägung in der Persönlichkeit des physischen Craig wiedererstanden? Die Vorstellung war ungeheuerlich und unfaßbar. Trotzdem gab es keine andere Erklärung für das, was er durchgemacht hatte. Der körperliche Craig war die ganze Zeit mit im Zimmer gewesen, hatte alles miterlebt. In einer emphatischen Wechselbeziehung war seine Wahrnehmung auf die Prägung übertragen worden. Aber der andere hatte davon nichts bemerkt, weil es bisher nur eine Transfusion von Erinnerungen gegeben hatte, während das verdrängte Bewußtsein der Prägung abgetrennt geblieben war. Nun – da die Prägung erkennen konnte, was geschehen war – konnte eine totale Vereinigung der gespaltenen CraigPersönlichkeit erfolgen. Die beiden Teile – das Original mit seinen Erfahrungen der letzten acht Jahre, und die Prägung, mit ihrem eigenen Gedächtnis für diese Zeit – konnten sich wieder zu einem Ganzen zusammenfügen. Er probierte aus, ob die Hypothese zutraf, indem er eine neue Erinnerung des objektiven Craig-Segments der Doppelpersönlichkeit heraufrief. Und er dachte an den vergangenen Abend – eine Fahrt durch die mondbeschienene Landschaft – Vivien neben sich, den Kopf erhoben, Wind im Haar. Es war eine herrlich befriedigende Erinnerung, und sie gehörte ebensosehr ihm wie dem körperlichen Craig.
Sie/er standen vor dem Spiegel und ordneten den Knoten seiner/ihrer Krawatte. Das war real. Die Empfindungen kamen nicht aus zweiter Hand. Und der andere Craig hatte vom Prozeß der Re-Integrierung noch nichts bemerkt. Vielleicht würde er nie etwas merken. Vielleicht würde alles so glatt gehen, daß es nur zu einer unterbewußten Wahrnehmung zeitweiser Dualität kam, bis die Verschmelzung vollständig war. Er versuchte sich zu zurückzuziehen, erreichte aber nur eine teilweise Distanzierung. Er spürte einen wachsenden Widerstand gegen diese unnatürliche Absonderung und fühlte sich gezwungen, in den Zustand als unverlierbaren Teil der Doppelpersönlichkeit zurückzukehren. Sie/er zogen sich fertig an und gingen hinunter zum Empfangsraum des Gästehauses im Institut. Vivien war da. Sie lächelte sie/ihn an und näherte sich. »Hallo, Maus«, sagte er. »Eine lange Zeit.« Sie zog zweifelnd eine Braue hoch. »Ja«, sagte sie scherzhaft, »ganze zwölf Stunden.« Er griff nach ihrem Arm. »Wie komme ich dann nur auf so etwas, hm?«
Barriere der Zukunft »Kultur«, sagte Chimur gewichtig, »beruht auf technischem Wissen und gesellschaftlicher Tugend. Nie auf Technologie allein. Sonst gäbe es Stagnation.« Der Chef-Ursa lehnte sich befriedigt zurück und verschränkte die mächtigen Arme. Savorn sagte unsicher: »Aber das meine ich doch. Unsere Welt hat einen Durchmesser von etwa tausend Meilen und –« »Und wird von innerer Zerrissenheit geplagt«, warf Chimur ein. »In diesem Radius von fünfhundert Meilen gibt es vier feindliche Nationen.« »Sie folgen mir nicht, Sir. Die Himmelsmessungen zeigen, daß das Schimmernde Kliff nur einen kleinen Teil der Oberfläche einer großen Kugel umschließt. Was ist auf der anderen Seite des Kliffs? Was –« Chef-Ursa Chimur schlug mit der Tatze auf den Schreibtisch. »Und Sie, Sir, folgen mir nicht. Da wir vor einem Krieg stehen, bleibt wenig Zeit, über akademische Fragen dieser Art nachzudenken!« Savorn senkte ungeduldig den Blick. Er konnte beinahe durch die Schleier der Zeit in eine dunkle, prähistorische Zeit blicken. Es mußte viele gegeben haben wie Chimur – große, zottige Tiere, mit scharfen Klauen, langen Schnauzen, die selbstzufrieden um ihre primitiven Lagerfeuer hockten und blind behaupteten, ihre Geräte ließen sich nicht verbessern. »Aber verstehen Sie denn nicht?« sagte er drängend. »Wenn wir das Kliff überwinden könnten, wären wir unangreifbar!
Wenn eine Nation angriffe, könnten wir uns direkt auf ihre Hauptstadt stürzen – von der anderen Seite der Barriere!« Der Chef-Ursa lehnte sich wieder zurück und fuhr mit den kurzgeschnittenen Klauen über sein Kinn. Dann schnaubte er. »Unsinn! Ich weiß, worauf das hinausläuft. Sie wollen mehr Geld für Ihre sinnlosen Forschungen. Aber diesmal mache ich nicht mit. Nicht, wenn wir soviel für Waffen ausgeben müssen.« Der Chef-Ursa war so empört, daß Savorn den Geruch seines Zorns wahrnehmen konnte. »Ich arbeite an einem neuen Projekt, Chimur«, vertraute er ihm an. »Davon habe ich gehört. Wasser soll in seine Elemente zerlegt werden oder so.« »Es handelt sich um eine Ausweitung des Elektrolyseverfahrens. Ich läutere Wasserstoff und Sauerstoff.« Chimur winkte mit der Tatze ab. »Und was hat das für einen praktischen Zweck?« »Wasserstoff ist leichter als Luft.« »Und?« »Wenn wir in einem leichten Behälter genug davon sammeln, könnte damit ein Beobachter hochgehoben werden.« »Und was wird der Beobachter beobachten?« knurrte der Chef-Ursa. Savorn beugte sich vor. »Das Ding könnte sich über das Schimmernde Kliff erheben!« Chimur sprang auf und bleckte seine verkümmerten Fangzähne. »Sie Grünschnabel, Sie! Egal, wo Sie anfangen, am Ende lan-
den Sie immer bei der verdammten Barriere!« Er drohte Savorn mit zitternder Tatze. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich jedes Ansuchen um weitere Beträge für Ihre albernen Forschungen bekämpfen werde!« Draußen schob Savorn aufgebracht die Tatzen in die Taschen und winkte einem Taxi. Er war groß und gelenkig und hatte noch nichts von der massigen Statur des reifen Ursa. Sein Flaum war zimtfarben, Überrest eines einst dichten Fells bei den Vorahnen. Er bot einen starken Kontrast zum dunklen Braun seiner Nase. »Barrierenpark«, sagte er, als er einstieg. Das Fahrzeug setzte sich unter Fehlzündungen in Bewegung und rollte über eine Kopfsteinpflasterstraße, wo erst vor einem Jahrzehnt der Ochsenkarren dem Fortschritt hatte weichen müssen. Das Taxi bog auf einen breiten Boulevard ein und fuhr zu dem kaum drei Meilen entfernten Schimmernden Kliff. Die Barriere war beeindruckend – schimmernd und pulsierend, wie ein großartiger Katarakt, der sein silbriges Wasser aus einer Höhe von einer Meile herabströmen ließ. Atemberaubend schön und verlockend. Eine höhnische Herausforderung für Savorn. Er hatte, so schien es ihm, sein halbes Leben am Fuß der Barriere verbracht, klein vor dieser Pracht, immer wieder bemüht, in die angenehm prickelnde Materie, die nicht Materie war, einzudringen. Aber sie wies ihn stets zurück – sanft, aber unbarmherzig. Thiebok und Cella, letztere in einem leichten Kleid, warteten am Parkeingang. Sie pufften einander freundschaftlich, dann zogen sie sich auf eine Terrasse zwischen hohen Zedern zurück.
»Nun?« sagte Savorn. »Du zuerst.« Thiebok lächelte. Er war nicht ganz so groß wie Savorn, unterschieden sich aber in der Färbung. Thieboks Flaum war von bläulicher Farbe. Savorn sah Cella düster an. »Kein Glück«, sagte er. »Chimur wehrt sich gegen weitere Forderungen.« »Oh!« rief Cella mitfühlend. »Ist deine Arbeit damit beendet?« Er schüttelte unsicher den Kopf. »Das Büro ist nicht aufgelöst – noch nicht.« Er wandte sich an Thiebok. »Was hast du über Rat Murdas erfahren?« »Nichts. Wenn Murdas ein Agent ist, hat er jedenfalls nichts getan, was die Aufmerksamkeit des Sicherheitsministeriums erregt hätte. Cella und ich haben in unseren Akten nichts gefunden.« »Aber er ist doch aus einem Grenzgebiet. Und er hat den Chef-Ursa beeinflußt, weitere Forschungen über das Kliff zu behindern.« »Richtig.« »Und jedesmal, wenn der Rat eines unserer Projekte ablehnt, stellen wir fest, daß die Südnation gleichartige Experimente begonnen hat.« Thiebok hob die Tatzen. »Das beweist noch nichts. Er ist vielleicht wirklich dieser Meinung. Es gibt genug Reaktionäre im Rat.« Savorn ließ die Schultern hängen. Thiebok puffte ihn aufmunternd. »Muß ins Ministerium zurück, bevor sie dahinterkommen,
daß ich an einer Verschwörung gegen einen Rat beteiligt bin. Sei vorsichtig bei Murdas. Vergiß nicht, wenn du zu forsch vorgehst, hat er das Recht auf Herausforderung. Er ist der letzte, bei dem ich dich im Kampf sehen möchte.« »Aber du hast das Ministerium auf deiner Seite, wenn du es überzeugen kannst, daß er überprüft werden muß«, meinte Cella. »Stimmt, Savorn.« Thiebok schob sich auf den Parkausgang zu. »Aber Intuition genügt nicht.« Savorn sah ihm nach, dann richtete er den Blick auf das Schimmernde Kliff. Aus der Nähe schien es bedrohlich emporzuragen. Das Schwindelgefühl war beinahe überwältigend. Es schien, als wolle es umkippen und die ganze Zivilisation unter sich begraben. Eine Lanze aus gelbem Licht löste sich oben vom glitzernden Katarakt und fegte hinauf, bis sie in den azurnen Tiefen des Himmels verschwand. Und aus den unbekannten Weiten hinter der Barriere tönte gedämpfter Donner herüber. Die zuckenden Lichter und grollenden Geräusche waren nichts Ungewöhnliches. Es mußte so sein, sagte sich Savorn, daß sie nur aus dem Kliff zu schießen schienen. Die Barriere mußte den unteren Teil ihrer Flugbahn verbergen. Er nahm sich vor, darüber Forschungen anzustellen. »So ernst ist es doch gar nicht, oder?« sagte Cella. Sie war groß, aber gut proportioniert, und ihr Flaum hatte eine warme, gelbliche Tönung. Er griff nach ihren Tatzen. »Ich möchte auf die andere Seite des Kliffs – mehr als alles andere.«
Ihre Augen lachten ihn an. »Mehr als alles andere?« Sie nagte kokett an seinem Ohr. Dann lief sie davon und wartete, ob er sie verfolgen würde. Sein starres Gesicht lehnte die Aufforderung ab. Sie kam zurück und blieb neben ihm stehen. Er ergriff ihren Arm, und sie gingen über die Terrasse. »Was ist das?« sagte sie plötzlich. Er blickte zu dem rötlichbraunen Tier hinunter, das am Boden hockte und neugierig zu ihnen aufsah. »Ein Präriehund. Im Park lebt ein ganzes Rudel.« Das Wesen hoppelte davon, und Savorn sah, warum es hinkte. Es schleppte mit der rechten Pfote einen langen, gebogenen Zweig. Es blieb vor einem Sonnenblumenbeet stehen und zog mit dem Ast einen der Blumenköpfe herunter. »Ach, wie süß!« rief Cella. »Man betrachte den vergessenen Präriehund«, sagte Savorn feierlich. »Er hat einen lange bestehenden zweitrangigen Anspruch, die von der Bärheit besetzte Nische auszufüllen.« Sie verzog fragend die Schnauze. »Leider kann nur eine Gattung jeweils zu einer Zeit das Zepter der Zivilisation ergreifen. Wenn das nicht der Fall wäre, würden wir vielleicht entdecken, daß das ›süße, kleine‹ Wesen neben den unseren eigene Städte baut.« Savorn betätigte den Schalter und lauschte dem Heulen der dampfgetriebenen Generatoren. Er machte sich ein paar Notizen, dann kehrte er aus dem Labor in sein Büro zurück. Ein Assistent legte ein Stück dunklen Stoff auf seinen
Schreibtisch. »Das ist die Probe.« Savorn ergriff das Material und dehnte es. »Alle Tests durchgeführt?« »Ja. Derselbe Stoff, den die Armee als Zeltmaterial verwendet.« »Hermetisch?« »Völlig. Gummiert. Erträgt siebzig Pfund Druck. Für Ihren Wasserstoffsack paßt es genau.« »Bestellen Sie hundert Ballen. Und Axeru soll die Drahtproben für das Verstärkungsnetz schicken.« Savorn versuchte mit dem Stimmempfänger die NordostProduktions-Anlage zu erreichen, aber aus der Membran drang nur ein Krächzen, und er bedauerte, daß er seine Sendetaste hatte ersetzen lassen. Er schrie immer noch ungeduldig ›Hallo‹ in die Muschel, als seine Sekretärin die Ankunft von Rat Murdas mitteilte. Wie Chimur wirkte der massige Murdas nur äußerlich plump. Tatsächlich besaß er enorme Kräfte und war sehr gewandt. Wie Chimur besaß er dunkelbraunen Flaum. »Ich möchte mich nach dieser Elektrolyse erkundigen«, sagte Murdas. »Ich wußte nicht, daß Sie sich dafür interessieren«, erwiderte Savorn. »Mich geht alles an, was Geld kostet.« Savorn führte ihn ins Hauptlabor. »Unsere Arbeit hier ist ähnlich der in fünf anderen Anlagen.« Er machte es mit dem Rundgang kurz, und sie erreichten die Hauptzelle.
»Hier läuft ein elektrischer Strom durch die Lösung. Sie sehen, wie sich der Wasserstoff an diesen Kathoden sammelt. Von dort wird er in eine Kammer geleitet und in tragbare Stahlkapseln gepumpt.« Der Rat brummte mißgestimmt. »Und das ist das Zeug, das aus einem Bären einen Vogel machen soll?« Savorn sah ihn abschätzend an. Warum war Murdas gegen diese Forschungen? Wenn er die Ergebnisse der Experimente an den Feind weiterreichte, mußte ihm dann nicht daran gelegen sein, daß man die Forschungen fortsetzte? Der Rat ging zum Büro zurück. »Haben Sie nie den Eindruck, daß das, was Sie Fortschritt nennen, uns wie eine Flut dem Untergang entgegenschwemmt, Savorn?« Savorn wollte antworten, erstarrte aber vorher. Plötzlich war ihm eingefallen, daß Murdas die Arbeit hier dann unterbinden wollte, wenn unmittelbar ein Krieg bevorstand! »Ist Ihnen klar, daß vor zweihundert Jahren Pfeil und Bogen nur selten tödlich gewirkt haben?« fuhr der Rat fort. »Aber jetzt können wir, durch den Segen von Wissen und Fortschritt, in Sekunden Tausende töten.« »Unsere Aufgabe besteht nicht darin, den Krieg noch furchtbarer zu machen«, wandte Savorn ein. »Aber Ihre Kliff-Forschung tut genau das. Sie suchen einen Weg hinter die Barriere, damit wir größere Verluste hervorrufen können.« »Das gebrauche ich doch nur als Ausrede, um mehr Geld zu bekommen!«
Murdas lachte kehlig. »So, wie der Laborleiter vor Ihnen gepanzerte Fahrzeuge wünschte, um das Kliff zu durchstoßen. Die haben wir jetzt, aber die Barriere konnten sie nicht durchdringen. Und was ist daraus geworden? Gepanzerte Fahrzeuge mit Kanonen! Es wird die Hölle werden, wenn sie mit den Fahrzeugen der Südnation zusammenstoßen.« Savorn stutzte. Woher wußte Murdas, daß die Südnation gepanzerte Fahrzeuge besaß? Der Geheimdienst wußte erst seit einigen Stunden davon, und Thiebok hatte ihm anvertraut, daß die Überraschung allgemein gewesen sei. Savorn parkte den Wagen am Rand des Theaterbezirks und führte Cella durch das Gedränge auf dem Gehsteig. »Das ist dein kulturell kostbares Wesen«, meinte sie. An der nächsten Ecke hatte sich eine Menschenmenge um einen zimtfarbenen Drehorgelspieler versammelt. Neben ihm tanzte ein Präriehund an der Leine. Das Tier trug eine Uniform, stand auf den Hinterbeinen und hielt den begeisterten Zuschauern einen Blechbecher hin. Savorn und Cella betraten eines der weniger überfüllten Nachtlokale, bestellten Honig-Fizzes und starrten vor sich hin, während auf der Tanzfläche ein wildes Gedränge herrschte. Cella griff nach seiner Tatze. »Du hältst dein Versprechen nicht«, mahnte sie. Er zuckte zusammen und lächelte dann. »Aber ich denke gar nicht ans Büro.« »Woran denn?« »An dich«, sagte er und legte eine Tatze auf ihren Arm. Dann
ließ er die Schultern hängen. »Nein, das ist gelogen. Ich denke an Murdas.« »Aber begreifst du immer noch nicht, daß du nichts gegen ihn unternehmen kannst?« »Ich könnte melden, daß er von den Panzerfahrzeugen der Südnation wußte.« »Nicht, ohne preiszugeben, daß Thiebok dir vertrauliche Informationen gegeben hat. Das würde ihn die Stellung kosten und ihm vielleicht sogar Gefängnis einbringen.« Savorn schlürfte sein Getränk. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte er. »Wenn ich nur Murdas' Geräte finden könnte!« »Was für Geräte?« »Das weiß ich nicht, Cella. Auf irgendeine Weise muß er aber die Südnation verständigen. Über Agenten geht das nicht, weil das zu riskant wäre. Und ich weiß, daß er keine private Telegrafenstrecke fünfhundert Meilen unter dem Boden hat.« »Aber was gibt es sonst?« »Drahtlose Übertragung.« »Davon habe ich noch nie gehört«, meinte sie skeptisch. »Das glaube ich. Das ist vor vier Jahren im Versuchsstadium abgebrochen worden. Theoretisch geht es darum, akustische Impulse in elektromagnetische Schwingungen zu verwandeln, die man durch die Luft senden kann.« Sie lachte verwirrt. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, Liebling.« Er lehnte sich zurück und lachte mit. Als Cella wieder ernst wurde, griff sie über den Tisch nach seinen beiden Tatzen. »Ich weiß nicht, ob du dir da nicht einen Papierdrachen zu-
rechtbastelst, Liebling«, sagte sie. »Ist ein Rat, der nebenbei Geheimagent ist, nicht ein bißchen melodramatisch?« Er sah sie empört an. »Warum tanzen wir nicht?« fragte sie. »Amüsier dich und denk nicht an die Ratsversammlung morgen.« »Ich denke an etwas Wichtigeres.« »Nämlich?« »Ob der Rat mehr Geld zubilligt oder nicht, auf jeden Fall wird ein Wasserstoffsack gebaut. Und ich fahre damit über das Schimmernde Kliff.« In der Sitzung rutschte Savorn vor den herausfordernden Blicken von Chimur und Murdas unruhig herum. » … und selbst der Chef-Ursa hat eingeräumt«, schloß er, »daß Kultur sowohl auf Technologie als auch auf gesellschaftlicher Tugend beruht. Deshalb braucht das Büro für wissenschaftliche Forschungen mehr Geld.« »Gewiß, soviel habe ich zugegeben«, sagte Chimur. »Aber jetzt sieht es anders aus. Wir müssen zeigen, daß wir den Pazifismus praktizieren wollen, indem wir keine Kriegsforschung mehr betreiben.« Mehrere Ratsmitglieder nickten zustimmend. Murdas legte die Tatzen aufeinander. »An welche neuen Forschungen denken Sie?« »Wir möchten vor allem die Experimente mit dem Wasserstoffsack fortsetzen. Selbst wenn das Gerät sich nicht über das Kliff erhebt, könnte es als Mittel für schnellen, direkten Transport verwendet werden. Man könnte Motoren anbringen, die Flügelräder antreiben.«
Murdas fuhr hoch. »Noch ein Versuch, die anderen Nationen einzuschüchtern! Truppentransporter, die sich über ihre Abwehrlinien erheben könnten! Weshalb bestehen Sie auf solchen Provokationen?« Chef-Ursa Chimur klopfte auf den Tisch. »Ich habe den Eindruck, daß es weniger Einwände gegen das Büro geben würde, wenn es unter strenger Kontrolle arbeiten müßte.« Murdas schüttelte den Kopf. »Das genügt nicht. Wir müssen unsere friedlichen Absichten beweisen. Ich beantrage, daß wir das Büro auflösen und die Forschung auf die Privatebene zurückführen, wo sie hingehört.« »Welche Einzelperson könnte etwas vom Ausmaß der Wasserstoffsack-Experimente unternehmen?« fragte Savorn bitter. »Genau, das ist der springende Punkt«, sagte Murdas lächelnd. Der Antrag wurde einstimmig angenommen. Der Wald war dicht und dunkel und, da von der Hauptstadt nur einige Meilen entfernt, für Savorns Zwecke ideal geeignet. Er erstreckte sich wie ein großer grüner Finger entlang der Innenwölbung des Kliffs und endete an einem Punkt genau nördlich der Stadt. Die verlassene Hütte darin erschien ihm wie bestellt. Er ging an den Tischen entlang und verfolgte, wie die Leute zerschnitten und nähten, klebten und flickten. Am letzten Tisch blieb er stehen. Cella zeichnete das Muster für eine Bahn des Sackes. Er nahm ihr den Bleistift weg.
»Du bist den anderen jetzt weit genug voraus.« Sie lächelte müde und ging mit hinaus. Das Schimmernde Kliff erhob sich über den Bäumen wie eine riesige, bebende Decke aus leuchtenden Fasern und leuchtete sogar stärker als die Mondscheibe. »Herrlich, Savorn«, sagte sie. »Die Barriere ist das wunderbarste und lockendste Ding in unserer Welt«, bestätigte er. »Davon rede ich nicht. Ich meinte die Treue deiner Leute aus dem Büro.« »Sie wollten alle mithelfen«, sagte er. »Ich mußte die Hälfte zurückweisen. Sie haben begriffen, daß einige so tun müssen, als würden die Forschungszentren aufgelöst.« Ferner Donner tönte herüber. Savorn hob den Kopf und sah einen ganzen Schwarm von grellen Lanzen hinter der Barriere hochzischen und im dunklen Himmel wieder erlöschen. »Das bedeutet dir dein ganzes Leben, nicht?« fragte Cella leise. »Das Kliff und die fliegenden Lichter?« Er sah sie an. »Mein Großvater hat früher immer gesagt: ›Savorn, diese schießenden Lichter sind die Götter jenseits der Barriere, die zu ihren Heimataltären unter den Sternen zurückkehren‹. Und jetzt möchte ich über die Barriere und nachsehen, ob das stimmt.« »Aber, Savorn, wie willst du, selbst wenn du das schaffst, wieder zurückkehren, wo der Wind zu dieser Jahreszeit immer nach Norden weht?« »Willst du, daß ich zurückkomme?« Sie nagte zärtlich an seinem Ohr.
»Dann komme ich zurück. Das glaubst du doch, oder?« »Natürlich. Ich habe auch Vertrauen zu dir, wie die Leute in der Hütte. Würde ich sonst meine Arbeit im Ministerium liegenlassen und dir helfen?« In der Ferne ratterte ein Motorrad. Das Geräusch wurde lauter, und Savorn erstarrte. Er atmete auf, als ihm klar wurde, daß es sich nur um einen Helfer bei dem Geheimprojekt handeln konnte. Der Motorradfahrer rollte in die Lichtung und stellte den Motor ab. Es war Thiebok. »Tut mir leid, daß ich nicht früher wegkonnte«, sagte er, »aber der Geheimdienst ist voll beschäftigt. Wie kommt das Barrierenprojekt voran?« »In ein paar Tagen kann es losgehen.« »Wirst du genug Wasserstoff haben?« »Ja, durch die Zylinder, die wir von den anderen Zentren bekommen haben.« Thiebok starrte zum Schimmernden Kliff hinauf, das eine seltsam bläuliche Tönung auf sein Gesicht warf. Er blickte zum Mittelpunkt der Lichtung, wo Winden und Taue bereitlagen. »Wird der Wasserstoff den Sack nicht immer höher tragen?« fragte er. »Wie willst du auf den Boden zurückkommen, immer vorausgesetzt, daß es auf der anderen Seite überhaupt einen Boden gibt?« »Wir bauen oben ein Ventil ein, mit dem man Gas ablassen kann. Der Sack müßte sanft herunterschweben.« Der andere nickte nachdenklich. »Sind wir hier noch sicher?« fragte Savorn. »Ich glaube nicht, daß sie Verdacht schöpfen. Der Geheim-
dienst hat jedenfalls keinen Auftrag.« Thiebok legte ihm die Tatze auf die Schulter. »Manchmal frage ich mich, ob du dem Kliff nicht zuviel Bedeutung beimißt. Es gibt noch andere Barrieren, weißt du – die ebenso herausfordernd sind.« Savorn sah ihn an. »Da ist die Barriere der Vergangenheit, die den Ursprung der Bärenrasse verbirgt. Die Barriere der Zukunft, hinter der sich die Bestimmung der Bärenheit versteckt. Und alle die Barrieren politischer und sozialer Unterschiede, die uns in feindselige Nationen trennen.« »Was willst du damit sagen?« »Daß der Rat vielleicht recht hat. Vielleicht sollten wir das Schimmernde Kliff in Ruhe lassen, bis wir die Barrikaden überwunden haben, die in unserer eigenen Welt bestehen.« Thiebok bestieg sein Motorrad und fuhr davon. Savorn griff nach Cellas Arm, und sie schlenderten durch den Wald zum Fuß des Kliffs. Am Himmel flammte ein meteorartiger Blitz auf, und er sah eine lange, dünne Lanze aus grellweißem Licht zur Erde stürzen – auf dieser Seite der Barriere! Sie streifte das flackernde Kliff, vielleicht drei Meilen Richtung Osten entfernt, und prallte krachend auf den Boden. »Komm!« rief Savorn. »Vielleicht erfahren wir, ob Großvater recht hatte!« Es waren mehr als drei Meilen. Savorn begriff bald, daß er die Entfernung unterschätzt hatte. Es wurde Tag, bevor sie die Stelle erreichten, und er wunderte sich, daß niemand sonst angelockt worden war.
»Was ist das?« fragte Cella unsicher. Er betrachtete das große metallene Objekt, das wie ein langgezogenes, gesprengtes Ei am Fuß des Kliffs lag. »Sieh dir die Symmetrie an, die Verarbeitung! Auf jeden Fall steht fest, daß die fliegenden Lichter das Werk intelligenter Tatzen sind!« Der Boden war rings um das Ding verkohlt. »Ich bleibe hier und passe auf, Cella. Du gehst zur Straße zurück und suchst die nächste Sprechzelle. Sag Chimur, was wir gesehen haben.« Er trat vorsichtig an das Ding heran und berührte die warme Außenfläche. An einem Ende fand er einen Riß in der Haut, durch den er beinahe den Kopf zwängen konnte. Er starrte hinein und zog sich entgeistert zurück. In einer Ecke auf der anderen Seite der Kammer befand sich etwas – Fremdartiges! Es glich grob einem Bären, da es zwei Arme, zwei Beine und einen Kopf besaß. Sogar die Gesichtszüge waren vergleichbar, nur daß dort, wo eine Schnauze hingehörte, der Kiefer etwas vorragte: Er schnupperte den unbärenhaften Geruch im Inneren des Fahrzeugs. Gekleidet in Material, das den vertrauten Gewändern der Bärenheit nicht unähnlich war, lag das Wesen regungslos im Tod. An der sichtbaren Haut gab es keinen Flaum. Und die Färbung war hellbraun, fast weiß. Ein Gefühl nahenden Unheils überflutete Savorn, und er wankte davon. Das Schimmernde Kliff näherte sich! Wie eine drohende, sich blähende Luftblase schob sich ein Teil der Barriere auf das Ding zu, das ein flammendes Licht gewesen war!
Savorn wich erschreckt zurück und sah den funkelnden Vorsprung das eiförmige Gebilde bedecken. Dann stürzte er sich wild auf den Ausläufer der Barriere und versuchte ihn von seiner Beute fernzuhalten. Es nützte nichts. Er konnte nur dastehen und zuschauen. Es war Mittag vorbei, als der Wulst sich in die Barriere zurückzog und nackten Boden hinterließ. Savorn trat tastend vor, so, als könnten seine Tatzen das fliegende Licht fassen, das nicht mehr da war. Chimur ging unruhig hin und her und starrte immer wieder auf die verkohlte Stelle. Drei andere Räte und eine Anzahl von Polizei, Soldaten und Geheimagenten suchten die Umgebung ab. Der Chef-Ursa blieb plötzlich stehen und sah Savorn und Cella an. »Ich glaube nicht, daß hier überhaupt etwas war!« sagte er. »Aber blicken Sie doch auf den Boden!« »Den könnten Sie versengt haben.« »Und das Loch da?« Savorn wies auf die Vertiefung, die das Fahrzeug hinterlassen hatte. »Sie hätten sich so eine natürliche Vertiefung aussuchen und das Feuer rundherum anlegen können, um Ihre Geschichte zu belegen.« »Glauben Sie ihr denn auch nicht?« sagte Savorn. »Zunächst ja – bis wir hierhergekommen sind.« Einer der Räte trat auf Chimur zu. »Ich habe den Eindruck, daß die ganze Geschichte nur dazu dienen soll, das Interesse an der weiteren Barrierenerforschung
anzuregen«, erklärte er. Chimur nickte und sah Savorn prüfend an. »Was haben Sie hier denn getrieben, wenn Sie nicht dabei waren, uns etwas vorzumachen?« Savorn versuchte seine Verwirrung zu verbergen. »Ich – ich –« Aber Cella griff sofort ein. »Savorn und ich waren – Wir sind gestern nacht hierhergekommen und – Na ja, wissen Sie –« Sie blickte schuldbewußt auf den Boden. Mehrere Agenten preßten sich an das Kliff und drangen ein, so weit sie konnten. Chimur lachte spöttisch. »Wenn dieses fremde Wesen so monströs ist, wie Sie sagen, kann es nur gut sein, daß es aus unserer Welt entfernt wurde.« Savorn beachtete den Hohn der anderen Räte nicht und trat an das Kliff. Entschlossen schob er sich in die glitzernde, prikkelnde Masse, bis er völlig davon umschlossen war und sich nicht weiter vorwärtsbewegen konnte. Als er endlich nachgab und sich wieder hinausschieben ließ, verfing sich sein Fuß in etwas Festem, Dünnem, Rankenartigem. Er streckte die Tatze aus und erfühlte das am Boden in Abständen befestigte Kabel – ein Sendekabel! Die Bedeutung der Entdeckung traf ihn blitzartig: Ein Kabel hier am Rand der Barriere war ideal für die Übermittlung von geheimen Informationen aus dem Bereich der Hauptstadt! Würde er am anderen Ende Murdas finden? Er ließ sich von dem schimmernden Dunst hinausschieben. »Es könnte ernster sein als ein dummer Scherz, Chimur«,
sagte einer der Räte. »Vielleicht will man uns bei der Kriegsvorbereitung behindern.« Der Chef-Ursa wandte sich zornig Savorn zu. »Ich lasse Sie im Augenblick nicht festnehmen – ich muß mir erst die Gesetze ansehen. Aber Sie werden einiges zu erwarten haben!« Er sah Cella erbost an und richtete den Blick wieder auf Savorn. »Das mindeste ist eine Anklage wegen Unzucht.« Er wandte sich ab, aber einer der Agenten flüsterte ihm etwas ins Ohr. Chimur zuckte zusammen, starrte das Paar noch grimmiger an und stapfte davon. Savorn spürte in dieser Nacht dem Sendekabel nach und überließ die Arbeit am Wasserstoffsack seinen Gehilfen. Er preßte sich an verschiedenen Stellen in das Kliff und suchte nach dem Kabel. Als es dämmerte, hatte er die Stelle entdeckt, wo der Boden das Kabel aufnahm. Er richtete sich enttäuscht auf. Er hatte wenigstens erwartet, eine Hütte oder vielleicht eine Höhle mit dem Versteck des Senders zu finden. Zwischen ihm und der etwa zwei Meilen entfernten Stadt gab es aber nichts als freies Gelände. Es würde Wochen dauern, das Kabel auszugraben. Er mußte den Ursprung feststellen. Jedenfalls wußte er jetzt mit Gewißheit, daß es irgendwo einen Sender gab. Wenn er sich, wie er annahm, in Murdas' Unterkunft befand, würde er beweisen können, daß der Kampf gegen sein Büro Teil einer großangelegten Sabotage war. Am späten Nachmittag betrat Savorn das Gebäude mit den Wohnungen der Regierungsbeamten. Er sah Chimur einen Lift verlassen und zu seinem Heim gehen. Savorn wartete, bis der andere verschwunden war.
Dann betrat er vorsichtig Murdas Höhle, tastete sich im Dunkeln voran und zog die Schlüssel heraus, die ihm Thiebok verschafft hatte. Eine halbe Stunde später verließ er enttäuscht die Höhle. Nirgends war etwas zu finden gewesen, das nach einem Sender ausgesehen hätte. Er hörte Schritte im Korridor und beschloß, abzuwarten. Aber die Tatzenschritte kamen immer näher. Savorn versteckte sich hinter einem Sessel. Die hereinhuschende Gestalt zeigte sich kurz als Silhouette vor dem Licht im Flur. Savorn erkannte den bronzefarbenen Murdas, der zur Seite trat und Savorn den Rücken zudrehte. Ungeheuerliches geschah! Savorn unterdrückte einen Aufschrei, als er sah, wie der Körper des anderen geheimnisvoll zu leuchten begann – nicht unähnlich dem Licht des Schimmernden Kliffs! Die Aura um den Bärenkörper wurde heller, dann veränderten sich die Umrisse. Am Ende stand nicht mehr ein Mitglied der Bärenrasse im Zimmer, sondern die Gestalt glich eher dem Wesen, das Savorn tags zuvor in der Kammer des fliegenden Lichts gesehen hatte! In der Vorgrotte machte sich ein fremdartiger Geruch breit. Die glitzernde Aura verschwand, und die geisterhafte Gestalt trat deutlicher hervor. Sie griff mit zwei tatzenartigen Gliedern hinunter und drehte Knöpfe an einem Metallkasten, den sie an der Hüfte trug. Plötzlich flammte die Aura wieder grell auf, als das Wesen sich der Wand zudrehte. Es verlor mit der Zeit sein Leuchten und verwandelte sich wieder in seine alte Gestalt. Dann war
alles vorbei, und die vertraute Figur des Rates schritt zum Ausgang. Fünf Minuten danach verließ Savorn betäubt das Haus und ging zu seiner eigenen Wohnung. Er fragte sich, was er gegen das Wesen unternehmen sollte, das sich als Murdas maskierte. Für den Augenblick erschien ihm sogar das WasserstoffsackProjekt unwichtig. Erst spät in der Nacht beschloß er, trotz seiner Differenzen mit Chimur dem Chef-Ursa Bericht zu erstatten. Am nächsten Morgen, bevor er zu Chimur gehen konnte, kam ein bewaffneter Kurier in seine Höhle und führte ihn wortlos zum Büro des Chef-Ursa. »Ich muß mit Ihnen reden, Chimur –« Der Chef-Ursa schlug mit seiner breiten Tatze auf den Schreibtisch. »Hier rede ich! Und nicht über kleine weiße Bären in Blecheiern aus einer anderen Welt! Der Rat hält eine Sondersitzung ab. Wissen Sie, warum?« »Das hat Zeit«, sagte Savorn kopfschüttelnd. »Was ich Ihnen –« »Ruhe! Der Rat hat sich mit einem Ultimatum der Südnation zu befassen. Entweder stellen wir unsere Barrierenforschung ein, oder sie greift uns an.« »Aber sie können uns doch nicht diktieren, was wir machen sollen!« »Zum Glück ist uns die Peinlichkeit erspart geblieben, nachzugeben, weil wir das Projekt bereits eingestellt haben. Ich habe Sie holen lassen, um Ihnen klarzumachen, was es bedeutet, sich
gegen die öffentliche Meinung zu stellen.« »Gestern nacht war ich in –« begann Savorn. »Ich bin zwar grob mit Ihnen umgesprungen«, sagte Chimur, »aber ich sehe ein, daß Sie als Jungbär, am Beginn einer Laufbahn –« »Ein Wesen von einer anderen Welt ist unter uns!« schrie Savorn. Der Chef-Ursa reagierte, als habe jemand eine Kanone unter seinem Sessel abgefeuert. »Was?« »Ein Wesen von jenseits des Schimmernden Kliffs – Rat Murdas! Ich versteckte mich gestern nacht in seiner Vorgrotte und sah, wie er sich in ein glitzerndes Monstrum und dann in ein fremdes Wesen verwandelte! Ich hielt Murdas für einen feindlichen Agenten, aber –« Savorn hörte ein zorniges Knurren, fuhr herum und sah Murdas unter der Tür stehen, die Fangzähne gebleckt, die nackte braune Haut seines Gesichts von Wut gerötet. Der Rat beherrschte sich jedoch und sah Chimur an. »Sir?« »Ich habe keine Wahl, Murdas, als Ihnen das Recht der Ehrenrettung im persönlichen Kampf einzuräumen, da Sie angegriffen worden sind.« Savorn wich vor Murdas zurück. »Mit dem normalen Bärenkodex läßt sich das nicht regeln, Chimur!« »Wenn Sie ihn fordern«, sagte Chimur zu dem Rat, »schlage ich vor, daß Sie es auf der Grundlage der logischen und vernichtenden Beschuldigung der umstürzlerischen Betätigung
tun.« Murdas spreizte die Arme, wölbte die mächtigen Schultern und trat vor. »Ich fordere ihn!« Savorn starrte das bärenhafte Wesen unsicher an, aber plötzlich erfaßte ihn Entschlossenheit. Wo war dem Rat die Maske leichter herunterzureißen als beim direkten Kampf? Murdas unterdrückte ein Knurren, stürzte vor und holte mit der mächtigen Tatze zu einem Schlag aus, der Savorn den Kopf heruntergerissen hätte, wenn er sich nicht rechtzeitig hätte ducken können. Savorn fuhr herum, stieß die Krallen in den Bauch von Murdas und zerfetzte drei Schichten Kleidung. Aber die Klauen legten nur flaumbedeckte Haut frei, durchdrangen die Maskerade nicht, stießen nicht auf das Metallkästchen. Murdas traf Savorn mit einem Hieb an der Schulter, daß der Jüngere durch den Raum geschleudert wurde. Der Rat stürmte mit sausenden Tatzen an. Savorn war in der Ecke eingeklemmt und nahm zwei Schläge mit dem Gesicht, bevor er den Kopf senkte und vorwärtsrammte. Der Rat fuhr herum und packte ihn mit beiden Armen, preßte ihn an sich, und Savorn schlug verzweifelt die Krallen in sein Fleisch, ohne die Maskerade abreißen zu können. Murdas schleuderte ihn zurück und begann brutal auf ihn einzuschlagen. Halb betäubt sah Savorn einen Boten eintreten und das Duell verfolgen, während er mit Chimur sprach. Der Chef-Ursa trat plötzlich dazwischen und packte die Arme des Rates. »Halt, Murdas!« Er sah Savorn an. »Ziehen Sie im ersten
Punkt zurück?« Savorn starrte Murdas dumpf an. Die Kleidung des Rates war zerfetzt, seine Haut zerkratzt. Es gab keine Maske. Murdas war einfach Murdas – nichts sonst. »Ich ziehe zurück.« Der Rat war jedoch nicht zu beschwichtigen. »Ich fordere ihn aus dem zweiten Punkt!« Aber Chimur schob ihn zurück. »Ich hebe den Kodex direkter Forderung auf. Es gibt Dinge, über die Savorn im Interesse der Sicherheit befragt werden muß.« Er sah Savorn scharf an. »Sie kehren in Ihre Höhle zurück und warten, bis Sie geholt werden.« Savorn wartete nicht darauf, gerufen zu werden, sondern zog sich um und fuhr hinaus zur Hütte. Er war froh darüber, daß Cella nicht da war und ihm Fragen stellen konnte. Der Wasserstoffsack war fertig und über die Füllgestelle gespannt. Man brachte das Ventil und das Schutznetz an. »Wie lange noch?« fragte er. »Die Zylinder kommen heute abend. Wir müßten ihn morgen aufblasen können.« »Beeilt euch. Ich erwarte, vom Ausschuß geholt zu werden, und das könnte mich länger festhalten.« Auf dem Rückweg in die Stadt dachte er vergebens über das Erlebnis in der vergangenen Nacht nach. Er fragte sich, wie er sich so hatte täuschen lassen können, denn er mußte davon ausgehen, daß Murdas wirklich Murdas war. Dann wurde ihm klar, daß er sich in der Dunkelheit tatsächlich getäuscht haben mochte, daß das gar nicht Murdas gewesen war – aber es gab Dutzende von massigen, dunkelbraunen
Bewohnern in diesem Haus – Dutzende allein in Murdas' Stockwerk. Wer konnte es gewesen sein? Er zuckte hoffnungslos die Achseln und eilte zu seiner Unterkunft zurück. Er mußte noch viel ordnen, bevor er die Barriere überflog. Spät nachts beendete er den letzten Brief, als der Ruf des Untersuchungsausschusses eintraf. Ein bewaffneter Kurier begleitete ihn. Savorn trat vor Chimur und zwei andere Räte. Der Chef-Ursa blätterte in einer Akte und winkte dem Kurier, der eine Seitentür öffnete und einen Gefangenen mit Bewacher einließ. »Savorn, kennen Sie diesen Mann?« fragte Chimur. Savorn erstarrte. »Thiebok!« Chimur räusperte sich. »Da eure Beziehung damit klargestellt ist, können wir fortfahren. Wie viele vertrauliche Informationen haben Sie an diesen Feindagenten weitergegeben?« »Agent? Ausgeschlossen!« »Das Leugnen hat keinen Zweck«, sagte einer der Räte. »Thiebok hat bereits gestanden.« »Aber das begreife ich nicht!« rief Savorn hilflos. »Es ist wahr«, sagte Thiebok. »Ich bin Agent.« Er sah Chimur an. »Aber Savorn wußte nichts davon.« Chimur winkte ab. »Es hat keinen Sinn mehr, wenn Sie versuchen, Ihren Komplicen zu decken. Er ist schon belastet durch Ihre Beziehung zu
ihm und die Art der Informationen, die Sie über das Kabel weitergaben, das zu Ihnen führte!« »Das Kabel am Kliff!« sagte Savorn. »Der Sender – in seiner Höhle!« »Sie geben also zu, von dem Kabel gewußt zu haben«, sagte Chimur lächelnd. »Ich verstehe trotzdem nicht, warum Sie den Schwindel mit dem fliegenden Licht in solcher Nähe angezettelt haben. Sie müssen doch gewußt haben, daß wir da auch das Kabel finden würden.« »Aber bis dahin wußte ich doch selbst nichts davon!« Chimur schüttelte den Kopf. »Das klingt nicht sehr überzeugend. Es wäre besser, wenn Sie zugeben würden, daß Sie und Thiebok für den Gegner tätig gewesen sind.« »Das ist nicht wahr!« »Thiebok war sehr freimütig, abgesehen davon, daß er es vermieden hat, Sie zu belasten«, sagte Chimur und stand auf. »Vielleicht besprecht ihr euch in Ruhe und macht es euch leichter, indem ihr mitarbeitet.« Er zog sich mit den anderen Räten und dem Kurier zurück. Der Bewacher blieb in der anderen Ecke stehen. »Ist es wahr?« fragte Savorn ungläubig. Thiebok nickte. »Cella?« »Nein. Sie hat nichts damit zu tun.« Savorn fühlte, wie die Wut in ihm hochstieg. »Ich weiß, ich kann nicht verlangen, daß du mir traust«, flüsterte Thiebok plötzlich. »Ich bin aber nicht ganz dieselbe Person, die dir erst vor ein paar Tagen gesagt hat, daß niemand
außer dir und mir davon weiß, daß die Südnation Panzerfahrzeuge hat.« »Du hast gewußt, daß Murdas auch informiert war?« »Ich habe es ihm selbst gesagt. Ich wußte, daß er es ausplaudern würde. Aber er sagte nicht, daß er es von mir hatte, weil ich es ihm als vertraulich mitteilte. Ich hielt das für recht geschickt – dein Mißtrauen zu nähren, damit du keinen anderen verdächtigst.« Savorn sank auf einen Stuhl. »Aber ich sehe die Dinge nicht mehr so«, flüsterte Thiebok reumütig. »Dein Kliff-Projekt, die Gespräche mit dir – sie haben mich überzeugt, daß alles, was innerhalb der Barriere vorgeht, bedeutungslos ist. Deshalb habe ich ihnen nichts von dem Sack gesagt.« Savorn sah ihn skeptisch an. »Der Sack muß über das Kliff!« fuhr der andere fort. »Dann wird alles andere unwichtig sein, auch ein Krieg. Alle Nationen werden sich verbünden müssen, um gegen die Außenwelt zusammenzustehen.« Savorn schwieg noch immer. »Deshalb wirst du über deine Barriere fliegen!« sagte Thiebok. »Lauf hier weg.« Er sagte laut: »Da, nimm das, schnell!« Er drückte Savorn etwas in die Tatze und schob etwas Ähnliches in seinen Mund. Es waren zwei kleine Fetzen Papier, zusammengeknüllt, damit sie einer Tablette glichen. Der Bewacher stieß einen Schrei aus und stürzte sich auf Thiebok, um ihm die Kiefer aufzureißen. Dieser streckte die Tatze nach der Waffe des Wächters aus. Ein Knall, und der Bewacher sank zusammen.
»Lauf weg! Schnell!« Thiebok deutete zum Flur, dann wandte er sich dem herbeistürzenden Kurier zu. Savorn hetzte auf den Korridor hinaus, stürmte die Treppen hinunter und raste durch die leere Vorhalle. Er verließ das Gebäude und eilte über die Terrasse. »Savorn!« Es war Cella. Sie stand auf dem Gehsteig neben ihrem Wagen. Er blieb stehen und wich argwöhnisch zurück, aber sie packte seinen Arm und stieß ihn ins Fahrzeug. »Ich dachte schon, sie lassen dich überhaupt nicht frei.« »Du weißt Bescheid über Thiebok?« Sie fuhren zum Schimmernden Kliff. »Ich war im Ministerium, als sie ihn abholten. Ich habe versucht, dich zu finden.« »Woher hast du gewußt, daß ich verhaftet bin?« »Ich habe noch gesehen, wie dich der Kurier wegführte.« Außerhalb der Stadt drehte Savorn sich nach etwaigen Verfolgern um, aber er fühlte sich ziemlich sicher, weil man ihn kaum an der Barriere vermuten würde. »Thiebok hat gestanden«, sagte er. »Dann ermöglichte er mir die Flucht.« Sie starrte ihn verwirrt an. »Aber warum?« »Er sagt, er glaubt an das, was ich tue.« »Das klingt nach Thiebok«, meinte sie, »aber nicht nach einem feindlichen Agenten. Willst du immer noch über die Barriere?« »Wenn ich Gelegenheit dazu habe.« »Wie meinst du das?«
»Wenn wir das Ding aufblasen, sieht man es meilenweit. Sie werden schnell hier sein.« Als es dämmerte, ragte der sich füllende Sack schon über die höchsten Bäume empor, während Savorn ungeduldig die Leute antrieb. »Es dauert noch zwei Stunden, bis er voll ist«, sagte Cella. »Warum ruhst du dich nicht aus?« Er lächelte müde. »Kein Widerspruch. Ruf mich in einer Stunde – oder vorher, falls der Ausguck sich meldet.« Er stapfte zur Hütte, zuckte aber zusammen, als er im Wald eine Fehlzündung hörte. Er fand fünf Minuten später eine Reifenspur und folgte ihr zum Kliff. Am Waldrand sah er den Wagen neben der Barriere stehen. Er machte verblüfft Halt. Jemand stand vor der Barriere, den Körper umhüllt von schimmerndem Licht! Die Gestalt trat, ohne Widerstand zu finden, in die Barriere. War es die Person, die er in Murdas' Vorgrotte gefunden hatte? Oder gab es mehr als nur ein maskiertes Wesen aus der fremden Welt? Drei Schüsse ertönten von der Straße herüber. Er fuhr herum und rannte zur Hütte zurück, als er das Warnsignal vernahm. Als er die Lichtung erreichte, stürzte der Ausguck heran. »Sie kommen – drei gepanzerte Wagen!« schrie er. »Sie haben den Sack gesehen!« Savorn wandte sich dem Wasserstoffsack verzweifelt zu. Er war wenig mehr als halb gefüllt. Und es blieben nur noch Minu-
ten! Der Sack zerrte aber schon an den Haltetauen. Enthielt er genug Gas, um ihn emporzuheben? Er hetzte zum Korb, der in den unteren Falten noch halb verborgen war. »Haltetaue durchschneiden!« In der Gondel schob er den schlaffen Stoff weg und packte die Geländerstange, als die Leute auf die Taue einhieben. Nach fünf durchtrennten Tauen schoß der große Sack nach oben und zerrte am letzten Tau. Die Winde lief einen Augenblick leer, der Sack schwankte und stieß an den Korb. Der unaufgeblasene Teil hing herab wie ein schlaffer Schwanz, hinab bis auf den Gondelboden. Schüsse knallten im Wald. Savorn blickte hinunter und sah, wie das letzte Tau durchtrennt wurde. Der Sack fegte an der Kliffwand hinauf. Er drehte sich um und wollte die herabhängenden Stoffalten wegschieben, stieß aber auf etwas Festes. »Ich weiß nicht, warum«, sagte Cella bescheiden, »aber ich mußte einfach mitkommen.« »Du Närrin!« schrie er, und leiser: »Du kleine Närrin!« Sie klammerte sich an ihn, und er fragte sich, wie er je hatte glauben können, daß sie mit Thiebok zusammenarbeitete. Dann erstarrte er vor Entsetzen. »Die Ventilschnur!« stieß er hervor. »Sie hat sich da oben irgendwo verfangen! Wir können nicht mehr herunter!« Mit erschreckender Geschwindigkeit schoß der Sack himmelwärts, an der riesigen, schimmernden Kliffwand entlang. Savorn hielt sich fest, während Cella seinen Arm umklammerte.
Der Wind heulte durch die Halteschnüre und boxte die Gondel herum. Der Korb schwankte immer heftiger. Unter ihnen, meilenweit entfernt, wie es schien, liefen winzige Gestalten wie Ameisen durch die Lichtung. Der Sack streifte das Kliff und wurde zurückgestoßen. Die Schwingung der Gondel wurde stärker, und Savorn schloß im Schwindel die Augen. Der Wind fauchte immer wilder und schüttelte den Sack wie das Spielzeug eines Riesen. Savorn empfand plötzlich die Urangst vor dem Unbekannten. Er zerrte verzweifelt an den losen Bahnen und versuchte die Ventilleine freizuschütteln. Aber der kreischende Wind packte den Sack schlagartig und trieb ihn über den schimmernden Grat hinweg – fort von den grünen Hügeln und dichten Wäldern seiner vertrauten Welt. Zögernd blickte er nach Norden in die Außenwelt. Und seine Angst verflog fast ganz. Das Land hinter der Barriere war sanft und wellig, erhob sich hier und dort zu hohen Hügeln, zeigte das Grün und Braun der Innenwelt. Er rief Cella aufmunternde Worte zu, aber sie kauerte am Boden des Korbes. Die Barriere blieb schnell zurück, und der Sack stieg steil empor. Savorn entdeckte plötzlich eine Meile unter sich Bewegung, am Kliff, der Stelle gegenüber, wo das Fahrzeug in der Innenwelt geparkt war. Eine glatte Straße endete dort, und zahllose fremde Fahrzeuge stauten sich, während ihre Insassen danebenstanden und hinaufstarrten. Gedämpfter Donner in der Ferne erregte seine Aufmerksamkeit. Er betrachtete ein weites Gelände mit niedrigen Gebäuden.
Das Donnern schwoll an, und in der Mitte der rechteckigen Fläche flammten drei Lichtflecken auf. Sie ragten wie Säulen aus gelblich-weißem Feuer in den Himmel, lösten sich endlich von der Oberfläche und fegten hinauf. Binnen Sekunden verloren sie sich in den Weiten des Himmels. Savorns Blick fiel von den fliegenden Lichtern hinab auf die Erde und entdeckte in der Ferne einen neuen, staunenswerten Anblick. Eine Stadt! Aber sie war – riesig! Und verlassen, die hohen Türme halb bedeckt von Erde, aus der Pflanzen wuchsen. Er schaute zurück zum Kliff und sah, daß eines der fremden Fahrzeuge sich in Bewegung setzte. Es stieg himmelwärts – ihm entgegen! Er wich in der Gondel zurück, während das scheibenförmige Ding sich näherte und neben dem Sack schwebte. Durch Fenster an der Unterseite konnte er die fremden Wesen sehen – Dutzende, mit blassen, unbehaarten Gesichtern und weit aufgerissenen Augen. Aus einem Vorsprung an der Oberseite der Scheibe zuckte eine grelle Lichtlanze und umhüllte den Korb. Es war ein blendender, schmerzhafter Strahl, der beinahe so faßbar erschien wie das Material des Schimmernden Kliffs. Aber er stieß nicht ab, sondern übte Anziehung aus, wie ein gewaltiger Magnet. Der Korb schwang hinüber zu dem Flugobjekt und zerrte den Sack mit. Dann nahm der Strahl plötzlich an Intensität zu, und er schrie gequält auf, als er zusammenbrach.
Savorn öffnete die Augen und starrte ein paar Minuten an die Decke des Krankenzimmers, bis ihn die grimmige Erkenntnis aus seiner Lethargie schockte. »Das Kliff!« schrie er und warf die Decke zurück. Aber die bläuliche Tatze einer Krankenschwester schob ihn zurück. »Sie haben eine Beruhigungsspritze bekommen. Keine Sorge.« »Die Barriere! Ich war –« »Auf der anderen Seite.« Sie lächelte geduldig. »Die ganze Stadt hat Sie beobachtet.« »Aber – wie bin ich zurückgekommen?« »Man hat Sie gestern nacht am Kliff gefunden.« Er erstarrte, als er an Cella dachte. Die Schwester erriet, was ihn beschäftigte. »Sie liegt im Nebenzimmer. Man hat sie bei Ihnen gefunden.« Savorn schloß die Augen und versuchte, sich an alles zu erinnern. Aber die Schwester griff nach seinem Arm. »Wie sieht es hinter dem Kliff aus? Was haben Sie gesehen?« Die Tür öffnete sich vor einem uniformierten Bewacher, und Savorn konnte sehen, daß sich im Flur die Leute drängten. Jemand hielt eine Pressekamera herein, und das Blitzlicht erhellte den Raum, bevor der Bewacher die Tür hinter sich schließen konnte. »Sie sollten mich doch rufen, sobald er wach ist«, rügte er die Schwester. Er wandte sich an Savorn. »Sie sind festgenommen. Der Chef-Ursa ist schon unterwegs.«
Savorn schaute zum Fenster hinaus. Unten tauchte ein Präriehund auf, verfolgt von einem zweiten. Er wich den zuschnappenden Zähnen aus und griff nach einem Ast, der am Boden lag. Er schwang den Ast wie eine Keule und wehrte den Angreifer ab. Das kleine Wesen erschien Savorn plötzlich unendlich wichtig, aber er wußte nicht, weshalb. Und schlagartig fügte sich ein Puzzlestück ins Bild, erfüllte ihn eine überwältigende Erkenntnis. Auf irgendeine Weise schien alles zusammenzugehören – die Bärenheit, das Schimmernde Kliff, die fremden Wesen in der Außenwelt, die Ursa-Kultur, die Präriehunde – Der Lärm im Flur wurde lauter, und Augenblicke später trat der Chef-Ursa ein. Er schickte die Schwester hinaus. »Der Krieg hat angefangen«, sagte Chimur. Savorn starrte ihn an. »Das ist Ihre Schuld«, fuhr der Chef-Ursa fort, aber es klang nicht anklagend. »Als Sie mit dem Sack aufstiegen, war das die entscheidende Provokation. Das Ultimatum der Südnation war dadurch verletzt. Deshalb wollte Thiebok unbedingt Ihre Flucht. Er hat es uns selbst gesagt.« »Sie scheinen über den Angriff nicht sehr besorgt zu sein«, meinte Savorn. »Eigentlich nicht.« Chimur sank auf einen Stuhl. »Er bedeutet wenig.« »Warum?« »Später.« Chimur winkte ab. Er wandte sich an den Bewacher. »Lassen Sie sie herein.« Die Reporter stürmten ins Zimmer, machten Aufnahmen, stellten ungeduldige Fragen.
Es wurde ein wenig ruhiger, als jemand vorschlug, er solle von seinen Erlebnissen berichten. Chimur saß dabei und lächelte. Als er von den Wesen erzählte, wandte sich jemand an Chimur. »Was ist Ihre Reaktion? Können Sie garantieren, daß es sich um keinen Schwindel handelt?« »Ich bürge dafür«, sagte Chimur. »Aber was bedeutet das?« fragte ein anderer. »Wenn es eine Außenwelt mit intelligenten Wesen gibt, die Flugmaschinen besitzen, warum haben sie sich nicht gezeigt?« Chimur war ans Fenster getreten und blickte auf den Präriehund hinunter, der inzwischen mit einem Stück Metall seinen Höhleneingang erweiterte. »Ich glaube, daß sie uns aus dem Weg gehen«, sagte Savorn. »Warum?« Savorn deutete zum Fenster. »Das Tier da unten –« Chimur drehte sich plötzlich um und hob die Tatze. »Das wäre zunächst alles. Morgen findet eine Pressekonferenz statt.« Als die anderen gegangen waren, schickte Chimur den Bewacher fort und sah Savorn lächelnd an. Für Savorn gab es plötzlich keinen Zweifel mehr. Chimur war das Wesen von der anderen Welt in Verkleidung. Der Chef-Ursa warf den Kopf zurück und lachte. »Warum bin ich zurückgebracht worden?« fragte Savorn. »Man braucht Sie hier. Die Bärenheit wird eine Revolution erleben, und sie braucht Führer.«
Savorn richtete sich auf. »Was bedeutet das Schimmernde Kliff? Wie lange besteht es schon?« Chimur breitete die Tatzen aus. »Seit Jahrtausenden. Es repräsentiert vielleicht das längste soziologische Projekt, das die Menschheit je unternommen hat.« »Menschheit?« »Ein neues Wort für Sie. Es bedeutet ›menschlich‹ – so.« Chimurs Tatzen bewegten sich vor seinem Bauch und schienen in seiner Kleidung zu verschwinden. Einen Sekundenbruchteil lang schimmerte Licht um ihn, und Savorn schloß instinktiv die Augen. Dann nahm er wieder den Geruch des fremden Wesens wie in Murdas' Vorgrotte wahr. Er öffnete langsam die Augen. Das Wesen der Außenwelt stand an Chimurs Platz – mit blasser Haut, in engem Gewand, ein Metallkästchen an der Hüfte. Savorn zuckte zuerst erschrocken zurück, aber die Gestalt hatte nichts Bedrohliches an sich. Die grelle Aura flammte wieder auf, und im nächsten Augenblick stand wieder der Chef-Ursa vor ihm. »Angst?« sagte er. Savorn gaffte nur. »Das Kliff, oder die primitive Anlage davor besteht schon, seitdem bei euren Vorfahren die ersten genetischen Veränderungen von Bedeutsamkeit festgestellt wurden«, fuhr Chimur fort. »Schon seitdem die Mutationsnacktheit einige von eurer Art aus dem Winterschlaf zur Entdeckung des Feuers getrieben
hat. Wir bauten einfache Barrieren, die zu Beginn nicht viel mehr waren als Zäune. Das genügte damals, weil es keine Rolle spielte, ob wir in diesem Stadium eurer kulturellen Entwicklung unter euch herumliefen. Mit der Entwicklung eurer sozialen Gruppen, die größere Isolierung verlangte, schritt auch die menschliche Technologie fort. Schließlich konnten wir das Schimmernde Kliff erzeugen, so, wie es heute besteht. Aber selbst das war vor eurer frühesten aufgezeichneten Geschichte – bevor wir die Beobachter maskieren mußten.« Savorn schwindelte vor der Vorstellung menschlicher Intelligenz – einer Intelligenz, die Jahrtausende, bevor der erste primitive Bär das Feuer entdeckt hatte, zur Reife gelangt sein mußte. »Aber warum?« fragte er schließlich verwirrt. »Ich glaube, das wissen Sie. Sie haben es erraten, als Sie die Aufmerksamkeit der Reporter auf den Präriehund lenkten.« »In jeder Umwelt gibt es nur für eine beherrschende Gattung Platz«, sagte Savorn nachdenklich. »Die Rasse, die sich zuerst fortentwickelt, erstickt die Entwicklung aller anderen.« Chimur nickte. »Wir stellen uns gern das Vorhandensein eines ›KulturKorridors‹ vor, in dem die verschiedenen Kandidatengattungen sich fortzubewegen versuchen. Sobald irgendeine Gruppe größere Fortschritte erzielt, bleibt für alle anderen die Tür verschlossen. Es ist nicht so, daß die fortgeschrittene Rasse bewußt die minderen unterdrückt, sondern das ist ein automatischer Vorgang. Umgeben von solcher Überlegenheit, sind die
abgewiesenen Kandidaten kulturell frustriert. Sie sehen sich vor einer Barriere, die unüberwindlicher ist als das Schimmernde Kliff.« Savorn rang noch immer mit der Vorstellung von maskierten Beobachtern unter der Bärenheit. »Als wir beschlossen, die Bärenheit zu isolieren, hatten wir eben den Flug zwischen den Welten erlangt«, fuhr Chimur fort. Er lächelte. »Nicht Innen- und Außenwelt – sondern die wahren Welten von planetarischem Ausmaß. Wir begriffen, daß es eines Tages Flüge zwischen verschiedenen Sternen geben würde, und daß die Menschheit vielleicht eines Tages ihren Heimatplaneten aufgeben mochte. Wäre es nicht bedauerlich gewesen, wenn es keine Art gegeben hätte, der wir unser Erbe vermachen konnten?« Savorn setzte sich auf. »Also habt ihr versucht, die Erben heranzuziehen!« »Wir haben eure Gattung isoliert, um euch eine ruhige Entwicklung zu erlauben. Wir schickten Beobachter und Leute, die euch lenkten. Wir arbeiteten für den Tag, an dem die Barriere fallen und euch das Erbe zufallen würde. Wir lenkten euren technischen Fortschritt mit maskierten Repräsentanten in allen euren Nationen. Das war notwendig. Zeitweise gerieten eure Forschungen auf verbotene Wege und mußten abgelenkt werden – etwa drahtloser Funk, weil ihr unsere Sendungen hättet abhören können.« »Und der Wasserstoffsack auch«, sagte Savorn. »Sie haben versucht, das zu verhindern, nicht?« »Ja. Vor Jahrtausenden wurde nämlich klargestellt, daß ihr für euer Erbe automatisch qualifiziert seid, wenn ihr das
Schimmernde Kliff überwinden könnt.« »Dann war der Kampf gegen das Projekt unfair!« »Nicht unbedingt. Wir hatten angenommen, daß ihr bis dahin den Krieg abgeschafft habt. Ihr seid also in dem einen Punkt qualifiziert, aber in dem anderen nicht.« »Warum habt ihr uns nicht gezeigt, wie man den Krieg abschafft.« »Das kann man nicht zeigen, Savorn. Das muß man selbst lernen, wenn es von Dauer sein soll.« Savorn stand auf, ging hin und her und blieb am Fenster stehen. »Wie lautet das Urteil? Wird die Barriere trotz unserer Neigung zum Krieg fallen?« Chimur nickte lächelnd. »Wir hatten nämlich vergessen, daß die Menschheit ihre Neigung zum Krieg auch nicht unter Kontrolle brachte, bis sie eine unbegrenzte Zahl von Welten durch die Raumfahrt entdeckt hatte. Es wurde uns endlich klar, daß wir von der Bärenheit nicht mehr verlangen durften. Jedenfalls wird der Zugang zur Außenwelt den Druck von euren eingeengten Nationen nehmen. Es dürfte tausend Jahre dauern, bis sich wieder die Notwendigkeit eines Krieges ergibt. Inzwischen habt ihr den Trieb vielleicht loswerden können.« Savorn starrte stumm auf den Präriehund hinunter, der den Metallsplitter noch immer als Schaufel benützte. Chimur trat heran und legte die Tatze auf seine Schulter. »Hinter der Barriere, in den von der Menschheit hinterlassenen Ruinen, werdet ihr vieles finden, das euren Fortschritt beschleunigt – aber nichts, was euch hilft, eure neue Welt hinter
euch zu lassen. Diese Informationen sind sorgfältig entfernt worden. Auch das müßt ihr alleine bewerkstelligen. Bis ihr zur Raumfahrt gelangt seid, hoffe ich, daß ihr im Kultur-Korridor weiter fortschreiten konntet, als seinerzeit wir.« Savorn sah ihn prüfend an. »Die Menschheit verläßt die Welt jetzt?« Chimur lachte. »Sie ist vor tausend Jahren gegangen. Nur das Personal vom Projekt Barriere ist noch hier. Wenn das Kliff verschwindet, sind wir in ein paar Tagen ebenfalls fort.« Savorn blickte auf seine Tatzen hinunter. »Was die Barriere angeht –« »Ja?« Savorn blickte wieder zögernd zum Fenster hinaus. Der Präriehund hatte seinen Höhleneingang erweitert und schob nun ein paar Metallsplitter hinein. »Wäre es zuviel verlangt, wenn wir um das Geheimnis der Barriere bitten?« »Wozu braucht ihr das?« Savorn deutete hinunter auf das Tier. »Der kleine Kerl da unten – er hat auch schon den Fuß in der Tür eines Kultur-Korridors.« ENDE